Herrschaftspraktiken und Lebensweisen im Wandel: Die Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert [1 ed.] 9783205210511, 9783205210498

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Herrschaftspraktiken und Lebensweisen im Wandel: Die Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert [1 ed.]
 9783205210511, 9783205210498

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DAS ACHTZEHNTE JAHRHUNDERT UND ÖSTERREICH

Administrative und kulturelle Veränderungen im 18. Jahrhundert prägten das Bild der Habsburgermonarchie nachhaltig. Neuerungen in den Herrschaftspraktiken gingen dabei Hand in Hand mit sich ändernden Lebensweisen der Untertanen. Grenzbeschreibungen, mit denen der formierende Staat seine Hoheitsgewalt demonstrierte, sind hier ebenso zu nennen, wie neuere Usancen im Umgang mit dem Osmanischen Reich oder das von verschiedenen Herrschaftsträgern forcierte Sammeln von Information für verschiedene Planungs- und Gestaltungszwecke. Der gesellschaftliche Wandel manifestierte sich auch in Buchauktionen von Privatbibliotheken, die in Zusammenhang mit der Herausbildung einer kritischen Leserschaft stehen. Andere Entwicklungen, wie die progressiven Verfassungsentwürfe in der Toskana oder die Diskussion um Sprachreformen in Ungarn deuten hingegen bereits Konfliktfelder des 19. Jahrhunderts an.

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STEFAN SEITSCHEK, ELISABETH LOBENWEIN, JOSEF LÖFFLER (HG.)

Herrschaftspraktiken und Lebensweisen im Wandel Die Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert

Changing Government Practices and Ways of Living The Habsburg Monarchy in the Eighteenth Century

Pratiques du pouvoir et modes de vie en mutation La Monarchie des Habsbourg au XVIIIe siècle

SEITSCHEK, LOBENWEIN, LÖFFLER (HG.)

230

Trimmed: (230H × 326.9W) Untrimmed: (240H × 336.9W) mm

Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts

2020

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Herrschaftspraktiken und Lebensweisen im Wandel Die Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert

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978-3-205-21049-8_Seitschek.indd Alle Seiten

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Das Achtzehnte Jahrhundert und Österreich. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur ­Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts Band 35

Stefan Seitschek, Elisabeth Lobenwein, Josef Löffler (Hg.)

Herrschaftspraktiken und Lebensweisen im Wandel Die Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert

Changing Government Practices and Ways of Living The Habsburg Monarchy in the Eighteenth Century

Pratiques du pouvoir et modes de vie en mutation La Monarchie des Habsbourg au XVIIIe siècle

unter Mitarbeit von Sandra Hertel

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Das Jahrbuch wird von Vorstand und Beirat der OGE18 herausgegeben. Die Geschäftsführung liegt beim Obmann.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar. 1. Auflage 2020 © 2020 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Zeltgasse 1/6a, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: [Joseph KROPATSCHEK (Hg.),] Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph II. für die K.K. Erbländer ergangenen Gesetze in einer Sistematischen Verbindung, 18. Bde. Wien 1785, hier Bd. 4, Kupfertitel. Umschlag: Michael Haderer, Wien Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21051-1

Inhalt

Elisabeth Lobenwein, Josef Löffler, Stefan Seitschek Einleitung .......................................................................................

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Aufsätze Attila Magyar Grenzen schreiben. Komitatsabgrenzungen in Südungarn zu Beginn des 18. Jahrhunderts .............................................................. 17 Hüseyin Onur Ercan „Tyrk will frid“. Der Friede von Passarowitz aus osmanischer Sicht .......... 45 Lilijana Urlep Kirchenvisitationen und Visitationsberichte des Lavanter Fürstbischofs Joseph Oswald von Attems (1724–1744) .......................... 67 Julian Lahner Von der symbolischen Herrschaftsübernahme zur Emanzipation regionaler Eliten. Die Reise der Familie Leopolds II. durch Tirol anlässlich des Herrschaftswechsels im Jahr 1790 ........................................................................................ 91 Ellinor Forster Ein unbekannter Verfassungsentwurf eines unbekannten Fürsten? Toskana, anno 1793 ............................................................. 109 Stefan Benz Wiener Buchauktionen – Wiener Privatbibliotheken 1743–1772............. 137 Daniela Haarmann Linguae Patriae usum Civi Hungari esse omnio necessarium. Sprachreformen im Königreich Ungarn (1790–1806) ............................ 161

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Inhalt

Miszelle Josef Löffler Die Erforschung der theresianischen Reformen im ländlichen Raum. Konzeptionelle Überlegungen zu einem Forschungsprojekt über Normimplementation in der Praxis .................. 189 Tagungsberichte Philipp Ferrara Kirche in Bedrängnis. Diskurse, Strukturen und Akteure der Reformen in der Habsburgermonarchie 1740–1792 .............................. 207 Andreas Golob Perzeption und Konzepte von Zeitgeschehen und Zeit in frühneuzeitlichen Zeitungen ............................................................. 213 Janka Kovács Sciences between Tradition and Innovation – Historical Perspectives ...... 217 Rezensionen Michael Hochedlinger / Petr Maťa / Thomas Winkelbauer (Hg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit. Band 1/ 1−2: Hof und Dynastie, Kaiser und Reich, Zentralverwaltungen, Kriegswesen und landesfürstliches Finanzwesen (Stefan Seitschek).................................. 223 Anton M. Matytsin / Dan Edelstein (Hg.), Let There Be Enlightenment. The Religious and Mystical Sources of Rationality (Thomas Wallnig). ........................................................... 226 Wolfgang Schmale / Marion Romberg / Josef Köstlbauer (Hg.), The Language of Continent Allegories in Baroque Central Europa (Muriel González Athenas) ......................................... 227 Gerhard Ammerer / Christoph Brandhuber, Schwert und Galgen. Geschichte der Todesstrafe in Salzburg (Nikolaus Reisinger) ...... 230

Inhalt

Klaus Graf, Ein politischer Kopf aus Oberschwaben. Johann Gottfried Pahl (1768–1839). Pfarrer und Publizist (Thomas Wallnig) ...... 234 Karin Feuerstein-Praßer, „Ich bleibe zurück wie eine Gefangene“. Elisabeth Christine und Friedrich der Große (Harald Heppner) ............................................................................ 236 Ferdinand Kramer / Ernst Schütz (Bearb.), Bayern im Umbruch. Die Korrespondenz der Salzburger Vertreter in München mit Fürsterzbischof Hieronymus von Colloredo und Hofkanzler Franz Anton von Kürsinger zu Beginn der Bayerischen Erbfolgekrise (Gerald Hirtner). ........................................ 237 Zusammenfassungen und Abstracts ................................................... 241 Autor*innenverzeichnis .................................................................... 247

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Elisabeth Lobenwein, Josef Löffler, Stefan Seitschek

Einleitung Der Begriff des Wandels ist ein verbreitetes Attribut für das 18. Jahrhundert.1 Für den Fortschritts- und Planungsoptimismus der Aufklärung war der Wandel im Gegensatz zur tradierten Sichtweise, die dem alten Herkommen einen ideellen Vorrang einräumte, in hohem Maß positiv konnotiert. Das aus einem Kupferstich aus der Josephinischen Gesetzessammlung („Sammlung Kropatschek“)2 übernommene Titelbild des vorliegenden Bandes zeigt eine ikonografische Darstellung verschiedener Normen Kaiser Josephs II., der als Inbegriff für den Modernisierungsanspruch durch gesetzlich verordneten Wandel gelten kann. Dargestellt ist eine Münzprägevorrichtung, um die herum Objekte angeordnet sind, die unterschiedliche Reformmaßnahmen darstellen. Das Stoßwerk steht zusammen mit den abgebildeten Münzen für die Reform des Münzwesens,3 während das Erz im Vordergrund eine neue Berggerichtsordnung repräsentiert.4 Die am linken Bildrand abgebildeten Hirsche und der dahinter liegende Wald versinnbildlichen neue Regelungen im Jagd- und Forstwesen,5 der Reiter am rechten Bildrand symbolisiert hingegen Reformen bei der Post.6 Der Postreiter mit dem Posthorn nicht zuletzt als Friedensbote steht in dieser Rolle durchaus auch symbolisch für Veränderungen und Wandel, wenn man etwa an die prominente Positionierung in Darstellungen auf Flugblättern zum Westfälischen Frieden denkt. Abgebildet ist auch ein sogenannter Judenhut, der die Toleranzgesetzgebung gegenüber den Juden, insbesondere wohl die Aufhebung der Verpflichtung zum Tragen jüdischer Tracht, darstellt.7 Das vorliegende 35. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts widmet sich dem Wandel im Sinne einer Veränderung von Herrschaft und Lebensweisen im langen 18. Jahrhundert in 1 Vgl. das Kapitel „Das Jahrhundert des großen gesellschaftlichen Wandels“ bei Karl Vocelka, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat. Österreichische Geschichte 1699–1815. Wien 2001, 281–322. 2 [Joseph Kropatschek (Hg.),] Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph II. für die K.K. Erbländer ergangenen Gesetze in einer Sistematischen Verbindung, 18. Bde. Wien 1785, hier Bd. 4, Kupfertitel. 3 Ebd., 3–18. 4 Ebd., 19–36. 5 Ebd., 55–61. 6 Ebd., 37–54. 7 Ebd., 62–85.

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Zentraleuropa. Der Begriff des Wandels wird dabei möglichst offen verstanden, es soll auch nicht einer naiven Modernisierungsideologie gehuldigt werden, sondern die einzelnen Beiträge benennen auch rückläufige oder stagnierende Entwicklungen. Sie referieren dabei die mit unterschiedlichen methodischen Zugängen gewonnenen Ergebnisse mehrjähriger Forschungsarbeiten. Die Habsburgermonarchie wandelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht, die administrativen und kulturellen Veränderungen dieser Zeit prägten ihr Bild nachhaltig. Zum einen erreichte das Herrschaftskonglomerat der Habsburger durch die Zuwächse in den Kriegen gegen das Osmanische Reich und im Zuge der Auseinandersetzung um das spanische Erbe ihre größte Ausdehnung. Die nicht zuletzt in Friedensschlüssen wie Passarowitz neu gewonnenen Territorien mussten in den Länderkomplex integriert werden. Zum anderen führte der durch die Konflikte ausgelöste Druck um die Rolle innerhalb Europas zu administrativen Reformen, die die Bereitstellung der notwendigen Mittel zum primären Ziel hatten. Erzwungene Veränderungen der Machtverhältnisse in Europa lösten eine rege diplomatische Aktivität aus und gingen Hand in Hand mit Neuerungen in den Herrschaftspraktiken, sei es durch Grenzbeschreibungen, mit denen der sich formierende Staat seine Hoheitsgewalt demonstrierte, oder durch das von verschiedenen Herrschaftsträgern im Wege von Visitationen und tabellarischen Beschreibungen vorangetriebene Sammeln von Information für verschiedene Planungs- und Gestaltungszwecke. In engem Zusammenhang mit der Aggregation von Wissen in standardisierter Form stehen kulturelle Vereinheitlichungstendenzen, wie sie beispielsweise im Bereich der Schul- oder der Sprachreformen zum Ausdruck kommen. Auf grundlegenden Wandel zielten auch die Ideen zur Wirtschaftsprogrammatik oder zur politischen Verfasstheit des Staatsgebildes, die entworfen und diskutiert, z. T. auch umgesetzt wurden. Richtet man den Blick auf die Lebensweisen der Untertanen, so ist auf die zunehmende Herausbildung eines interessierten Publikums hinzuweisen, das mit in der Zahl wachsenden Druckwerken nicht selten in mehrfachen Auflagen versorgt wurde. Zeitungen oder Übersichten zu den historischen Ereignissen des Jahres in den einzelnen Territorien und in den fürstlichen Familien erlebten eine Blüte und fehlten in keiner Bibliothek. Auch begann man sich in Wien über die Ausbildung der Bevölkerung Gedanken zu machen, da man in der Vermittlung von Grundkenntnissen für alle wirtschaftliche Vorteile, nicht zuletzt durch künftige Innovationen, erhoffte. Die Beiträge des vorliegenden Bandes beschäftigen sich mit den genannten Aspekten und greifen somit Facetten des angesprochenen Wandels auf. Dem Beitrag von Attila Magyar liegen umfangreiche Forschungen zu seinem Dissertationsvorhaben zugrunde, in dem er sich mit der Formulierung von Grenzen in Südungarn Anfang des 18. Jahrhunderts beschäftigt. In diesen

Einleitung

durch die Konflikte mit den Osmanen schwierigen Zeiten waren nicht nur die Grenzveränderungen zum Gegner im Osten von großer Bedeutung, sondern auch die Festlegung von Komitatsgebieten. Diese erfolgten im Zusammenspiel zwischen Wiener und ungarischen Verwaltungsstellen und dem darauf Einfluss nehmenden ungarischen Adel. Bei diesem Abgrenzungsprozess der in dem Beitrag untersuchten Komitate Bács und Bodrog griff man nicht zuletzt auf historische Argumente und Archive zurück. Aktenzusammenführungen dienen dem Autor als wesentliche Hinweise zur Nachvollziehung des Aushandlungsprozesses und des damit verbundenen Wandels der Grenzverläufe, kurz des Schreibens von Grenzen. Die Untersuchung liefert somit einen wichtigen Beitrag zur habsburgischen Herrschaftspraxis und verdeutlicht nicht zuletzt die Wichtigkeit der Archive im Aktenzeitalter und Erkenntnismöglichkeiten durch aktenkundliche Beobachtungen. Hüseyin Onur Ercan beschäftigt sich mit dem Frieden von Passarowitz, der aufgrund des 300-jährigen Jubiläums seines Abschlusses in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erfahren hat. Dem in diesem Band vorgelegten Beitrag liegen die Forschungen des Autors zu seiner Dissertation zugrunde, in dem er die Entwicklungen, die zum Friedensschluss führten, anhand der osmanischen und habsburgischen Quellen nachzeichnet. Dabei betont er, dass sich aufgrund der politischen Lage der Wille zum Friedensschluss auch auf osmanischer Seite verstärkte und sich schließlich die den Frieden befürwortende Gruppe am Sultanshof durchsetzen konnte. Die Überlegungen lassen sich in das weite Feld einer Kulturgeschichte der Diplomatie und damit zusammenhängend der interkulturellen Kommunikation einordnen, etwa wenn man die geschilderten Formen des Zusammentreffens und der Verhandlungen betrachtet. Ercans Überlegungen ergänzen das Bild zu Passarowitz um weitere wichtige osmanische Quellen. Liljana Urlep widmet sich in ihrem Beitrag den Kirchenvisitationen des Fürstbischofs Joseph Oswald von Attems (1679–1744) anhand der erhaltenen Visitationsberichte und der Dekrete des Bischofs. Gleich bei Amtsantritt verfasste dieser am 8. Juni 1724 einen Hirtenbrief, der neben den Fragenkatalogen für die Visitationen im Jahr 1724, als der Fürstbischof seine Diözese auch persönlich bereiste, bzw. in den Jahren 1732/33 sowie den umfangreich erhaltenen Visitationsakten als Grundlage ihrer Überlegungen dient. Dabei entsteht ein Bild, das der Geistlichkeit und letztlich auch der Bevölkerung bei wenigen Kritikpunkten und gewissen Reibereien in der praktischen Umsetzung ein aus kirchlicher Sicht gutes Zeugnis ausstellt. Die Ergebnisse ihrer Archivforschungen hat Lilijana Urlep im Rahmen eines Workshops des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung („Visitationsakten als Quelle für Kirchen-, Sozial- und Baugeschichte in der Neuzeit“, Wien, 1. Juli 2019, Konzept: Martin Scheutz, Peter G. Tropper) vorgestellt, die nun im Jahrbuch ihren schriftlichen

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Elisabeth Lobenwein, Josef Löffler, Stefan Seitschek

Niederschlag gefunden haben. Der Beitrag liefert nicht zuletzt einen Einblick in die Herrschaftspraxis kirchlicher Autoritäten. Julian Lahner befasst sich, basierend auf seiner Dissertation über die Erbhuldigung in Tirol des Jahres 1790, dem Herrschaftsantritt Leopolds II. Dabei richtet er seinen Fokus auf die Legitimierung und Stabilisierung der landesfürstlichen Herrschaft sowie die regionale Elite in Tirol, indem er den Adventus der Herrscherfamilie in den Tiroler Städten Rovereto, Bozen und Bruneck genauer untersucht. Die Einzüge in den genannten Städten wirkten herrschaftsstabilisierend und verdeutlichen gleichzeitig, welch wichtige Rolle Leopold II. der Dynastie zumaß. Lahner verweist zudem auf die teilweise durchaus demonstrative Teilhabe der regionalen Führungsschicht, etwa der Bozener Kaufherren, an diesen Ereignissen. Er betont, dass sich diese dadurch symbolisch vom Herrscherhaus Habsburg-Lothringen emanzipierten und den Betrachtern ihre Partizipation an der landesfürstlichen Herrschaft zeigen wollten. Ellinor Forster widmet sich Überlegungen zur Herrschaftsausübung anhand eines Verfassungsentwurfes, konkret jenen Ubaldo Maggis für die Toskana von 1793/94, und zieht die Verfassungsprojekte von Großherzog Peter Leopold aus den 1780er Jahren und den „Entwurf einer Proklamation über die Gewährung einer Verfassung für die Länder der Habsburger Monarchie“ des toskanischen Prinzenerziehers Andreas Riedel von 1791 als Vergleich heran. Sie nimmt dabei verschiedene Aspekte wie beispielsweise Herrscherlegitimation, „Volks“-Souveränität, Repräsentation unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, Gewaltenteilung u. v. m. in den Blick. Im Gegensatz zu ähnlichen Entwürfen räumte Maggi der Gesellschaft bzw. deren Vertretern durchaus souveräne Aufgaben ein, etwa im Bereich der Legislatur. Dabei stützte er sich nicht zuletzt auf physiokratische Traditionen und teilte die Bevölkerung in verschiedene „natürliche“ Klassen der Gesellschaft. Die Aufgabe des Fürsten selbst sah er v. a. aufgrund der Erblichkeit in der Herstellung einer Kontinuität in der Regierung. Forsters Beitrag zeigt – unabhängig von der Umsetzbarkeit der drei Verfassungsentwürfe – eindrücklich, „was zum jeweiligen Zeitpunkt gewünscht und denkmöglich war“ (S. 135). Stefan Benz setzt sich in seinem Beitrag mit Wiener Privatbibliotheken und deren Zusammensetzung anhand von Auktionskatalogen im Zeitraum von 1743 bis zum Jahr 1772 auseinander. Bei der zeitlichen Eingrenzung des Forschungsthemas wurde das Wirken Gerard van Swietens als Präfekt der Hofbibliothek und seine Ankaufpolitik berücksichtigt. Im Fokus stehen dabei etwa die Druckorte, die Inhalte und die Sprache(n) der Werke in Relation zu deren Besitzern. Religiösen und theologischen Themen kam weniger Bedeutung zu, Werke zum Recht und zu zeitgenössischen historischen Ereignissen dominieren die Auktionskataloge. Bei kleineren Beständen wird zudem deren Rolle als Gebrauchsbibliotheken der ehemaligen Besitzer offenbar. Eine wichtige Quelle

Einleitung

für die Eruierung und Rekonstruktion solcher Auktionen stellt nicht zuletzt das Wiennerische Diarium dar, dessen Wert für die vielfältigsten Forschungsfragen mit vorliegendem Beitrag erneut verdeutlicht wird. Das Jahrbuch wird abgerundet durch einen Aufsatz von Daniela Haarmann. Sie setzt sich mit den Sprachreformen im Königreich Ungarn Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts auseinander. Über die Frage, welche der rund ein Dutzend gesprochenen Sprachen als Landessprache dienen sollte, hatte man während des gesamten 18. Jahrhunderts heftig debattiert, wobei lediglich Latein, Deutsch oder Ungarisch ernsthaft in Betracht gezogen wurden. Die politischen Diskurse und Reformen, die die Einführung des Ungarischen als Verwaltungs- und Bildungssprache in dieser Phase, die als Vorläufer der magyarischen Sprachenbewegung der 1830er und 1840er Jahre angesehen wird, begleiteten, stehen im Mittelpunkt von Haarmanns Untersuchung. Das vorliegende Jahrbuch hat in seiner Konzeption letztlich mehrere Ziele verfolgt: Zum einen will es eine Plattform für aktuelle Forschungsergebnisse der Mitglieder unserer Gesellschaft bieten, zum anderen aber auch internationale Forschung zur Habsburgermonarchie aufnehmen. Dabei liegen gerade den in diesem Band versammelten Beiträgen intensive Forschungen in verschiedensten Archiven zugrunde bzw. sind Ergebnisse von Arbeiten in den Archiven selbst. Den Beitragenden gilt genauso wie den Förderern dieser Publikation (Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien; Kulturwissenschaftliche Fakultät der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Schloß Schönbrunn Kultur- und Betriebsges.m.b.H.; Kulturabteilung der Stadt Wien) unser besonderer Dank.

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Aufsätze

Attila Magyar

Grenzen schreiben Komitatsabgrenzungen in Südungarn zu Beginn des 18. Jahrhunderts

Im Fond des Komitats Bács-Bodrog im Archiv der Vojvodina1 wird ein Band aufbewahrt, über den im Bestandsinventar die folgenden Angaben erfasst wurden: Protokolle der Gerichtsverhandlungen zwischen dem Bácser und Bodroger Komitat.2 Der Band beinhaltet mehrere Schriftbündel, die sich anhand der Papierqualität und der abweichenden Papierformate klar voneinander unterscheiden lassen. Dem ersten, etwa 80 nummerierte Seiten umfassenden Bündel ist eine Titelseite vorangestellt, die eine genauere Auskunft über den Inhalt des Schriftstücks liefert. Es handelt sich um das „Protokollbuch des hochgebietenden Komitats Bodrog, welches am 25. März 1715 bei der ersten feierlichen Amtseinführung angesetzt und unter der Aufsicht des hochwohlgeborenen Grafen Paul Nádasdy, Obergespanen des erwähnten hochgebietenden Bodroger Komitats weitergeführt wurde“.3 Das in lateinischer Sprache verfasste Schriftstück ist eine von geübter Schreiberhand angefertigte Kopie eines Dokuments, das im Zeitraum zwischen 1715 und 1721 das Wirken des Komitats Bodrog belegt. Auf den ersten, nicht nummerierten Seiten befindet sich eine Urkundenabschrift. Laut dieser Urkunde hat Kaiser Karl VI. (als ungarischer König Karl III.) am 18. Januar 1715 dem wiedererrichteten Komitat Bodrog ein neues Wappen verliehen.4 Der Urkundenabschrift folgend setzt das eigentliche 1 Arhiv Vojvodine (AV), Novi Sad, Serbien. Die dem Aufsatz zugrunde liegenden Archivforschungen konnten durch die Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der Tempus Stiftung und des Domus Programms der Ungarischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt werden. 2 AV, Fond 2 – Bačko-Bodroška županija (F 2), Knjiga broj (Knj. br.) 104: Zapisnici sudske parnice između Bačke i Bodroške županije [Archiv der Vojvodina, Fond 2 – Komitat BácsBodrog, Buch Nr. 104: Protokolle des Gerichtsprozesses zwischen dem Komitat Bács und Bodrog]. 3 „Prothocollum Inclyti Comitatus Bodrogiensis Die 25 Mensis Martii Anno Milesimo Septingentesimo Decimo quinto a tempore Installationis primo Soleniter peractæ Captum, et Continuatum sub Auspiciis Illustrissimi Comitis Domini Domini Pauli de Nadasd […] Inclyti prænominati Comitatus Bodrogiensis Supremi Comitis […].“ AV, F 2, Knj. br. 104, s. p. 4 In der beschriebenen Abschrift wurde der Platz für das Wappenbild ausgespart, die Stelle blieb aber leer. Die Originalurkunde befindet sich heute in der Urkundensammlung des Landesarchivs des Ungarischen Nationalarchivs in Budapest. Laut einer rückseitigen Notiz gelangte die Urkunde im Jahr 1818 als Schenkung des Titularbischofs von Novi, Michael Anton Paintner, in

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Attila Magyar

Protokollbuch des Komitats an. In einer chronologischen Abfolge wurden hier in jährlichen Abschnitten neben den Sitzungsprotokollen der Komitatsversammlungen auch die Namen und die Besoldung der gewählten Würdenträger des Komitats festgehalten sowie die an das Komitat gerichtete Befehle und Schreiben der Hofstellen, anderer Komitate oder einzelner Würdenträger registriert. Die Zahl der Einträge nimmt in den aufeinander folgenden Jahren tendenziell zu, bis das Protokoll mitten im Jahr 1721 mit der Anmerkung „Finis Prothocolli“ abbricht.5 Warum wurde eine Abschrift vom Protokollbuch des Bodroger Komitats angefertigt? Wie ist diese erhalten geblieben im Gegensatz zu dem restlichen Schriftgut des Bodroger Komitats? Warum wurde diese Abschrift als Protokoll des Rechtsstreits zwischen dem Bácser und dem Bodroger Komitat betitelt? Warum befindet sich diese Protokollabschrift im Archiv des Bácser Komitats, wenn dieses mit Bodrog in einen Rechtsstreit verwickelt war? Die Fragen und Unstimmigkeiten um die Entstehung, Inhalt und Aufbewahrungsort dieses Schriftstücks häufen sich, wenn man es im Kontext der lokalen Archivüberlieferung betrachtet. Nach dem Friedensschluss von Karlowitz 1699 wurden im südlichen Gebiet zwischen der Donau und der Theiß zwei Komitate (deutsch Gespanschaften) formiert. Mit der königlichen Ernennung eines Bácser und eines Bodroger Obergespans sollte dieses Gebiet als ein Territorium der ungarischen Krone in den Herrschaftsbereich der Habsburger eingegliedert werden. Die so (wieder) entstandenen Einheiten der adligen Selbstverwaltung wurden durch das noch vorhandene Wissen von ihrer Existenz in der Zeit vor der osmanischen Eroberung legitimiert. Eine genaue territoriale Bestimmung oder Abgrenzung der beiden Komitate erfolgte aber bei dieser Wiedererrichtung nicht. Dieser Umstand führte zu einem Prozess, dem wir die Überlieferung der vorhin beschriebenen Protokollabschrift verdanken können. Die Kopie des Bodroger Protokollbuchs diente als Beweismaterial im Abgrenzungsprozess der beiden Komitate und wurde, zusammen mit anderen Kopien von Prozessakten, im Archiv des Bácser Komitats hinterlegt.6 Das Bodroger Komitat, die Sammlung. Magyar Nemzeti Levéltár (MNL), Országos Levéltár (OL), 1526 utáni gyűjtemény, Hazai címereslevelek és nemesi iratok (R 64) [Ungarisches Nationalarchiv, Landesarchiv, Sammlung nach 1526, Inländische Wappenbriefe und Adelsschriften], 1. tétel, No. 709. 5 Dieser Abbruch hängt sehr wahrscheinlich mit dem Tod des Bodroger Obergespans, Paul Nádasdy, im Juni 1721 zusammen. Sein Tod wird jedoch im Protokoll nicht erwähnt. 6 Obwohl das Komitat Bodrog 1802 endgültig mit dem Bácser Komitat gesetzlich vereinigt wurde, befindet sich keine Originalüberlieferung aus der eigenständigen Registratur des Bodroger Komitats im Archiv der Vojvodina, wo die Hinterlassenschaften des Bácser Komitats und sein früheres Archiv heute aufbewahrt werden. Siehe dazu: Лајчо Матковић, Бачко-Bодрошка жупанија. Каталог одабраних садржаја докумената (1688–1728) [Komitat Bács-Bodrog.

Grenzen schreiben

das nach wenigen Jahren eigenständiger Existenz schon in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts in der Verwaltung des Bácser Komitats aufging, hinterließ seine Spuren nicht nur im früheren Bácser Komitatsarchiv. Die Akten des Rechtsstreits zwischen den beiden Komitaten befinden sich in zahlreichen anderen Archiven der Hofbehörden des Königreichs Ungarn, der Wiener Hofstellen sowie in den Familienarchiven der unterschiedlichsten Würdenträger, die durch ihr Wirken an den Abgrenzungsprozessen der beiden Komitate beteiligt waren. In all diesen unterschiedlichen Archiven sind zahlreiche Dokumente vorhanden, die auf den territorialen Abgrenzungsprozess der Komitate hinweisen oder in diesem Prozess entstanden sind. Ansuchen, Bittbriefe, Anweisungen, Prozessakten, Aktenlisten, Aktenkopien, Aktensammlungen bildeten ein weitverzweigtes Netz, in dem Akten geschrieben, verbreitet, kopiert, bearbeitet, neu verfasst und archiviert wurden. Diese Akten7 beschreiben den Wandel der Grenzen der Komitate Bács und Bodrog an verschiedenen Ebenen der gerichtlichen Verhandlungen und bei den Beratungen der zahlreichen Kommissionen. Gleichzeitig verwandeln sie sich selbst durch Bearbeitung, Umformulierung und Abschreibprozesse. Die in Schriftform hervorgebrachten Beweise bildeten die Grundlagen für die Entscheidungen in den lang geführten Grenzstreitigkeiten. Die Schriftstücke wurden von den beteiligten Parteien geschrieben, kopiert und eingereicht, von den Untersuchungskommissionen verfasst, von den Entscheidungsträgern in Auftrag gegeben. In seiner Studie über das französische Verfassungsgericht (Conseil d’Ètat) analysiert Bruno Latour aus ethnologischer Perspektive unter anderem auch die Rolle der Schriftstücke bzw. Akten, deren Entstehung, Bewegung und Vernetzung.8 Der vorliegende Beitrag greift diesen Zugang Latours auf und versucht, neben den inhaltlichen Bezügen zwischen den analysierten Akten und den von ihnen gebauten Aktennetzen auch die materiellen Bewegungen und (Um-) Wandlungen der Akten zu verfolgen. Im Folgenden soll analysiert werden, wie

Katalog ausgewählter Dokumenteninhalte (1688–1728)]. Нови Сад 1999, 3. Teile des Komitatsarchivs wurden in der Revolution 1849 stark beschädigt. Insbesondere die älteren Akten fielen Brandstiftungen zum Opfer, die sich nach der österreichisch-serbischen Eroberung des damaligen Komitatssitzes Zombor (serb. Sombor) ereigneten. Vgl. Gyula Dudás, Bács-Bodrog vármegye régi levéltáráról [Über das alte Archiv des Komitats Bács-Bodrog]. In: A Bács-Bodrog Vármegyei Történelmi Társulat Évkönyve 27 (1911), 3, 79–84, 83–84. 7 Eine generelle Charakterisierung einer typischen Form der Akten ist im Kontext der hier untersuchten vielfältigen Archivlandschaft nicht möglich. Als Akten werden hier sowohl einzelne Schriftstücke als auch ihre vielen Verbindungsformen verstanden. Dazu vgl.: Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt am Main 2000, 9; Michael Hochedlinger, Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. Wien 2009, 37–40. 8 Bruno Latour, Die Rechtsfabrik. Eine Ethnographie des Conseil d’État. Paderborn 2016, 89–105.

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Attila Magyar

der Grenzziehungsprozess in den Akten und durch die Akten geführt wurde, wie Akten tradiert wurden, wie Kopien entstanden sind und wie diese an verschiedenen Stellen in Archiven abgelegt wurden. In unterschiedlichen Registraturen und Archiven wurden die Akten über die Grenzstreitigkeit nicht nur gesammelt, sondern bei Wiederaufnahmen von Prozessen auch immer wieder neu gesucht und gefunden, wieder gelesen, kopiert und neu sortiert. Der Prozess der Grenzfindung und territorialen Bestimmung der beiden untersuchten Komitate kann als eine durchgehende Archivrecherche betrachtet werden, im Zuge dessen Grenzen und Territorien gefunden oder umgewandelt wurden. Die Akten werden in der Untersuchung dadurch zu aktiven Gestaltern in den Abgrenzungsprozessen, sie (be-)schreiben und verwandeln die Grenzen. Die Grenzen sind oft nur in diesen Akten vorhanden. Aus der Bearbeitung, Lektüre und Deutung der Akten entstanden die Komitatsgrenzen. Diese konnten mithilfe von anderen Akten wieder geändert, umgeformt und verlegt werden. Die Beweiskraft der Akten bestimmte den Abgrenzungsprozess und somit auch den Verlauf der Komitatsgrenzen. Diese wurden nicht auf einer Karte gezogen oder mit Vermessungsmethoden festgestellt.9 Nur die vorhandenen (alten) Akten sowie deren Auffindbarkeit und Zusammenstellung entschieden über ihren Verlauf. Die Schriftüberlieferung über den Abgrenzungsprozess zeigt kein einheitliches Bild. Akten, die mit dem Prozess und so auch miteinander verbunden sind, sind in unterschiedlichen Beständen in vielen verschiedenen Aktenzusammenhängen in variierendem Umfang überliefert. Die Verbindung zwischen diesen Akten ist nicht nur der inhaltliche Bezug auf die Abgrenzung zweier Komitate Bács und Bodrog, sondern vielmehr die äußere, physischmaterielle Verknüpfung. Diese manifestieren sich in Mehrfachüberlieferungen an unterschiedlichsten Stellen, die durch erhaltene Konzepte und Reinschriften, behaltene Originale und verschickte Kopien, erstellte Aktenverzeichnisse und Aktensammlungen nachgewiesen werden können. Wie diese einzelnen Aktenüberlieferungen entstanden sind, in welcher Verbindung sie mit dem Aktenmaterial aus anderen Archiven standen, welche Aktennetze sie bildeten, wie sie weitergereicht und vervielfältigt wurden, sind die Fragen, denen in der Untersuchung nachgegangen wird.10 Einerseits wird analysiert, wie die Akten im Prozess die Entscheidungen über die (sich wandelnden) Grenzen festhalten und 9 Zum Wandel der Grenzziehungsprozesse durch die Verwendung neuer Vermessungsmethoden wie die Triangulation im zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts siehe: Achim Landwehr, Der Raum als ‚genähte‘ Einheit. Venezianische Grenzen im 18. Jahrhundert. In: Lars Behrisch (Hg.), Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main – New York 2006, 45–64. 10 Zu der Analyse des Wirkens einer Abgrenzungskommission in dem Prozess zwischen dem Bácser und dem Bodroger Komitat siehe: Attila Magyar, Territorien, Grenzen und Grenzzie-

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die Entscheidungen überhaupt möglich machen. Andererseits wird untersucht, wie die Akten selbst die Entscheidungen erzwingen bzw. hervorbringen oder zumindest als überlieferte Aktenkonglomerate eine getroffene Entscheidung suggerieren.11 Dafür werden einzelne größere zusammenhängende Aktenkonglomerate aus dem Archiv der Ungarischen Hofkanzlei, aus dem Archiv des Palatins, aus dem Komitatsarchiv des Bács-Bodroger Komitats und aus den Archiven der Wiener Hofkammer und der Ungarischen Kammer analysiert, ihre Entstehung, Zusammensetzung und Überlieferungsformen untersucht. Der Prozess Die schon erwähnten ersten Versuche der Wiedererrichtung der Komitate Bács und Bodrog im Jahr 1699 brachten wenig Erfolg. Schon vier Jahre später, 1703, brach der Aufstand des Fürsten Franz (ung. Ferenc) Rákóczi (1676–1735) gegen die Habsburger aus. Die südungarischen Gebiete waren schwer umkämpft, der Aufbau der neuen Komitatsverwaltungen wurde unterbrochen. Erst nach dem Ende des Aufstandes 1711 konnten die Bestrebungen für die Wiedererrichtung der zwei südungarischen Komitate neu aufgenommen werden. Die erneute Einwilligung des Wiener Hofes sollte als Versöhnungsgeste des Kaisers gegenüber dem ungarischen Adel betrachtet werden. Der Hof suchte Kompromisse, der Wunsch des Adels nach der Wiederherstellung der ungarischen Verwaltungseinheiten sollte erfüllt werden.12 Am 2. Juni 1712 stellte Karl VI. die neue Gründungsurkunde für das Komitat Bács aus. Das Komitat wurde in der Generalversammlung am 1. Dezember 1712 in Kalocsa unter der Leitung des neuernannten Obergespans Emmerich (ung. Imre) Csáky (1672–1732) wieder errichtet.13 Nach dem Antrag der Ungarihungen in den südungarischen Komitaten Bács und Bodrog am Anfang des 18. Jahrhunderts. In: Geschichte und Region / Storia e regione 27 (2017), 1, 15–41. 11 Zu der Frage, wie Akten in den einzelnen Entscheidungsphasen der modernen Rechtsprechung verwendet, geändert und (um-)geformt und wie sie nach der Urteilsfindung durch die Archivierung im Umfang und Inhalt reduziert und in das Rechtssystem eingegliedert werden, siehe: Latour, Rechtsfabrik, wie Anm. 8, 122–126. 12 Über die Gründe und Folgen der Kompromissbereitschaft des Wiener Hofes siehe die sehr prägnante und gründliche Zusammenfassung von Győző Ember in: Győző Ember / Gusztáv Heckenast (Hg.), Magyarország története. 1686–1790 [Geschichte Ungarns. 1686–1790]. Budapest 1989, 353–356. 13 Vgl. Gyula Dudás (Hg.), Bács-Bodrogh vármegye egyetemes monografiája I. [Allgemeine Monographie des Komitats Bács-Bodrogh I.]. Zombor 1896, 402. Bemerkenswert ist, dass die erste Versammlung des Komitats im erzbischöflichen Sitz des Obergespans, der der Erzbischof von Kalocsa war, gehalten wurde, obwohl dieser Ort nie zum Gebiet des Bácser Komitats gehörte.

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schen Hofkanzlei bewilligte Karl VI. am 15. Oktober 1714 auch die Ernennung Paul (ung. Pál) Nádasdys (1686?–1721) zum Obergespan des Bodroger Komitats,14 drei Monate später erfolgte die anfangs erwähnte Wappenverleihung und im März 1715 die erste Generalversammlung in der Peterwardeiner Schanz.15 Keine von den hier aufgezählten Urkunden erwähnte aber, wo genau das Territorium der widergegründeten Komitaten lag. Ohne einen definierten Zuständigkeitsbereich konnte aber eine Verwaltungseinheit nicht funktionieren. Dies führte zum schon mehrmals erwähnten Rechtsstreit zwischen den Komitaten Bács und Bodrog, die beide das beinahe gleiche Gebiet zwischen der Donau und der Theiß für sich beanspruchten, dessen Zugehörigkeit sie aber kaum beweisen konnten. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über den Prozess und über den Wandel der zwischen den Komitaten gezogenen Grenze gegeben werden.16 In der Zeit als die Auseinandersetzung mit der Lage der Komitate Bács und Bodrog und mit ihrer Abgrenzung voneinander intensiv geführt wurde (zwischen 1717 und 1721) hat der Palatin17 des Königreichs Ungarn, Nikolaus (ung. Miklós) Pálffy (1657–1732) insgesamt fünf Kommissionen ernannt, um diese Aufgabe zu erledigen. Drei Kommissionen haben ihre Arbeit tatsächlich aufgenommen und mit Einbeziehung der betroffenen Parteien (die Vertreter der beiden Komitate) die Lage vor Ort untersucht, Beweismaterialien gesichtet und bewertet. Zum ersten Kommissionsleiter wurde der bosnische Bischof Georgius Patachich (?–1716) ernannt.18 Die Ergebnisse der Arbeit dieser Kommission wurden am 21. Januar 1716 verkündet. Es wurde festgestellt, dass sich das Komitat Bodrog zwischen der Donau und der Theiß befinde und an die Komitate Szerém, Csanád, Temes und Bács grenze. Seinen Namen habe das Komitat nach der Burg Bodrog bekommen, deren Lage aber nicht zu bestimmen gewesen sei. Die Ortschaften Szabadka und Zombor befänden sich im Komitat Bodrog.19 14 MNL, OL, Magyar kancelláriai levéltár, Libri Regii [Archiv der Ungarischen Kanzlei. Libri Regii] (A 57), 30. kötet, 410. 15 AV, F 2, Knj. br. 104, 1. Die gegenüber der Festung Peterwardein (ung. Pétervárad, serb. Petrovaradin) neu entstandene Siedlung Peterwardeiner Schanz wurde 1748 zur königlichen Freistadt erhoben und erhielt den Namen Neoplanta (deutsch Neusatz, ung. Újvidék, serb. Novi Sad). 16 István Iványi hat in einer Kleinmonographie über den Bodroger Komitat den Rechtsstreit zwischen den Komitaten Bács und Bodrog bearbeitet. Er verwendete für seine Untersuchung Materialien aus dem Archiv des Komitats Bács-Bodrog (dies wurde damals noch im Komitatshaus in Zombor aufbewahrt) und aus dem Wiener Kriegsarchiv. Vgl. István Iványi, Az új Bodrog vármegye [Das neue Komitat Bodrog]. Budapest 1887. 17 Über die Funktion und Person des Palatins siehe weiter unten. 18 Vgl. Iványi, Bodrog, wie Anm. 16, 16–17. 19 Vgl. AV, F 2, Knj. br. 221, 10; Iványi, Bodrog, wie Anm. 16, 17.

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Schon diese wortkargen und unpräzisen Feststellungen zeigen, welche großen Schwierigkeiten die Kommission mit der Bestimmung des Territoriums des Bodroger bzw. Bácser Komitats hatte. Wegen Schnee und großer Kälte konnte man die zu trennenden Territorien nicht in Augenschein nehmen und begehen. Entschieden wurde auf der Grundlage der von den beiden Komitatsvertretern präsentierten alten Urkunden und Akten. Aus diesem Grund wurde das Urteil an den Palatin zur Überprüfung weitergeschickt. In dieser Phase konnte aber das Komitat Bács, das mit dem Urteil unzufrieden war, erreichen, dass der ganze Fall erneut verhandelt wurde.20 Die zweite Kommission wurde am Anfang des darauffolgenden Jahres eingerichtet, an ihrer Spitze stand als Beauftragter des Palatins der Kaposfőer Propst und Fünfkircher (ung. Pécs) Domherr, Sebastian Glavinich. Von den Sitzungen dieser Kommission sind mehrere Ergebnisprotokolle überliefert. In diesen wurden die Beweismaterialien aufgezählt, die die beiden Komitate vor der Kommission über die Zugehörigkeit einzelner Ortschaften und Territorien vorbrachten.21 Die Glavinich-Kommission traf schon eindeutigere Entscheidungen über die Lage der Komitate, als ihre Vorgängerin. Trotz zahlreicher Unsicherheiten und Unstimmigkeiten22 trennte die Kommission die beiden Komitate mit einer vergleichsweise klar definierten Grenze ab. Bodrog bekam das Gebiet im südöstlichen Teil des strittigen Raumes an der Donau und an der Theiß. Das Bácser Komitat wurde im nordwestlichen Teil bestätigt.23 Im Vergleich zu den mittlerweile vorhandenen Rekonstruktionen der mittelalterlichen Komitatsgebiete fällt auf, dass die Kommission die Lage der Komitate vertauscht hatte. Bács hatte nach diesen modernen Rekonstruktionen im südlichen und Bodrog in nördlichen Teil des Gebiets sein Territorium.24 Wegen zahlreichen Unsicherheiten kam der Prozess mit dieser Entscheidung der Glavinich-Kommission tatsächlich nicht zum Ende. Das Bácser Komitat, das grundsätzlich mit dem Urteil unzufrieden war,25 sammelte ständig neue 20 Vgl. Iványi, Bodrog, wie Anm. 16, 17. Die Unzufriedenheit des Bácser Komitats auch mit diesem wenig sagenden Urteil ließe schon darauf schließen, dass es für ihn in erster Linie um die Verhinderung der Etablierung des Bodroger Komitats ging. 21 Zu einer detaillierten Analyse der Arbeit der Kommission und der untersuchten Akten und Urkunden siehe: Magyar, Territorien, wie Anm. 10, 27–34. 22 Z. B. die vermuteten Ruinen der Burg Bodrog, die als Namensgeber des Komitats Bodrog identifiziert worden waren, wurden dem Bácser Komitat zugesprochen. Vgl. ebd., 35. 23 AV, F 2, Knj. br. 221, 73–74; Iványi, Bodrog, wie Anm. 16, 21. 24 Görgy Györffy rekonstruierte die Lage der Komitate anhand zahlreicher mittelalterlicher Urkunden in seiner historischen Geographie Ungarns in der Zeit der Árpáden. Vgl. György Györffy, Az Árpád-kori Magyarország történeti földrajza I. [Historische Geographie Ungarns in der Zeit der Árpáden I.]. Budapest 1963, 204, 698. 25 Der Fiskal des Bácser Komitats, Joannes (ung. János) Kelemen, der im Prozess auch beteiligt war, zog sogar sein Schwert aus, um die Verkündung des Urteils zu verhindern: „Egr[egius]

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Beweise, um den Prozess wieder aufnehmen und das Urteil ändern zu können. Nach mehreren gescheiterten Versuchen kam es im Jahr 1720 zur erneuten Aufnahme des Abgrenzungsprozesses. Das Komitat Bács verlangte vom Herrscher, dass er den Palatin erneut als Richter einsetzen sollte, damit das Komitat seine neuen Beweise über die Zugehörigkeit der Ortschaften einreichen könne.26 Zum Leiter der nächsten Kommission ernannte der Palatin Andreas Berkes (? –1729) den Dompropst von Waitzen (ung. Vác). Der neue Prozess fing am 2. September 1720 an, das Urteil wurde am 14. September verkündet. Dieses verschob die bis dahin geltende Grenze wesentlich: Die Komitate sollten ihre Territorien tauschen. Bács konnte sein Recht an den Ortschaften im Süden durch vorgelegte Akten und Urkunden beweisen. Das Bodroger Komitat wurde in den nördlichen Teil des umstrittenen Territoriums verlegt, ihm wurden die Ortschaften am linken Donauufer und rechten Theißufer zugesprochen. Der neue Rechtsspruch war historisch deutlich besser verankert als die früheren Entscheidungen der Kommissionen, die Vertreter der beiden Parteien waren damit jedoch überaus unzufrieden.27 Das Bácser Komitat erwirkte darauf eine erneute Wiederaufnahme des Prozesses und eine Urteilsrevision. Mit einer juristischen Drehung wurde beschlossen, dass die Berkes-Kommission nur über die eingereichten Beweisakten des Bácser Komitats urteilen sollte. Dieses konnte sich dadurch im südlichen Teil des Gebietes behaupten. Die Eingaben der Gegenpartei, also des Bodroger Komitats, sollten nicht beachtet werden. Obwohl das Bodroger Komitat beweisen konnte, dass ihm die Ortschaften im Norden gehören, war dieses Gebiet kein Gegenstand der Neuaufnahme des Prozesses. Somit durfte das Anrecht des Bácser Komitats an die dortigen Ortschaften nicht in Frage gestellt werden.28 Trotz zahlreicher Beschwerden des Bodroger Komitats und seines Obergespans Paul Nádasdy wurde dieses Urteil des Palatins nicht mehr geändert, das Territorium des Bodroger Komitats blieb auf einige Ortschaften am rechten Theißufer beschränkt und war damit praktisch verschwunden: Dieses Gebiet wurde schon der Theißer Militärgrenze zugesprochen und unterstand direkt dem Wiener Hofkriegsrat. Juristisch wurde das Bodroger Komitat aber nicht abgeschafft, nur blieb es ohne eigentliches Territorium und sollte vom Bácser Komitat weiter verwaltet werden.29 Dieser Umstand führte aber dazu, dass im Zusammenhang mit der

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Joannes Kelemen supra nominatus Fiscalis Comitatus Bacsien[sis] in conspectum procederendo, extracti sui gladii vibratione, præmissam Deliberationem, & Decisionem nostram jud[icar]iam, irritam, invigorosamque fore attentaverat.“ AV, F 2, Knj. br. 221, 74. Vgl. Iványi, Bodrog, wie Anm. 16, 30. Vgl. ebd., 31–32. Vgl. ebd., 37–38. Vgl. ebd., 38; Dudás, Bács, wie Anm. 13, 411.

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Auflösung der Theißer Militärgrenze am Anfang der Regierungszeit Maria Theresias die Frage der Existenz und der Grenzen des Bodroger Komitats erneut aktuell wurde. Das Archiv der Ungarischen Hofkanzlei Die Akte war schon mehr als ein Monat alt, als sie Maria Theresia mit den eigenhändig geschriebenen Worten am 11. September 1746 erledigte: „nomino Leopoldum Drascovitsch.“30 Somit fand der Vortrag des von Kanzleipräsidenten Leopold (ung. Lipót) Nádasdy (?–1785) geführten Rats der Ungarischen Hofkanzlei die Bestätigung der Herrscherin: Das Bodroger Komitat sollte einen neuen Obergespan bekommen und wieder vom Bácser Komitat getrennt werden. Die Trennung hätte von einem weltlichen Obergespan durchgeführt werden können, dessen Ernennung der Rat der Königin empfohlen hatte.31 Die neuen Umstände, die durch die 1743 begonnene Auflösung der Militärgrenze an der Theiß und am Marosch mit dem Entschluss über die Entmilitarisierung einzelner Ortschaften entstanden waren, verlangten weitere Entscheidungen über die Eingliederung dieser Ortschaften in das Komitatssystem. Das sich in diesem Zusammenhang formierende Komitat Csongrád wollte seine Ansprüche auch auf den mit Marktfleckenprivilegien ausgestatteten Ort Szabadka ausdehnen, das im Zuge der Entmilitarisierung in Szent-Mária32 unbenannt wurde. Sowohl der Ungarische Statthaltereirat als auch die Ungarische Hofkanzlei beschäftigte sich mit diesem Fall. Beide Ämter konnten nach einer Untersuchung mit königlicher Bestätigung feststellen, dass sich der Marktflecken Szent-Mária im Bodroger Komitat befand.33 In diesem Kontext stellte sich die Frage der Notwendigkeit einer erneuten Trennung des Bodroger Komitats von der Bácser Gespanschaft, mit der es seit dem Tod des Bodroger Obergespans Markus Czobor im Jahr 1729 und mangels zugehörigem, nicht militärisch verwalteten 30 MNL, OL, Magyar kancelláriai levéltár, Originales referadae (A 1), 1746, No. 109. 31 Vgl. ebd. 32 Bei der Erlangung des Titels einer „königlichen Freistadt“ bekam der Name des Ortes einen noch deutlicheren Bezug zu der Königin Maria Theresia und wurde in Maria-Theresiopolis umbenannt. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird wieder der alte Name Szabadka (ungarisch) und auch Subotica (serbisch-kroatisch) verwendet. Vgl. István Iványi, Szabadka szabad királyi város története [Die Geschichte der königlichen Freistadt Szabadka]. Szabadka 1886, 5–10. 33 MNL, OL, A 1, 1743, No. 82. Über diesen Versuch des entstehenden Csongráder Komitats und die Einverleibung des Marktfleckens Szent-Mária berichtet auch István Iványi, erwähnt die Vorträge und den Meinungswechsel der Hofkanzlei aber nicht: István Iványi, A Tiszai Határőrvidék 1686–1750 [Die Theißer Militärgrenze 1686–1750]. Budapest 1885, 100–102; Ders., Szabadka, wie Anm. 32, 134; Ders., Bodrog, wie Anm. 16, 41.

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Gebiets, stillschweigend zusammengelegt worden war. Die 1743 noch nicht weiterverfolgte Ausgliederung des Bodroger Komitats wurde drei Jahre später, in Erwartung territorialer Zuwächse durch die Entmilitarisierung der Ortschaften entlang des rechten Theißufers, sowohl vom Statthaltereirat als auch von der Ungarischen Hofkanzlei befürwortet.34 Der Ernennungsbescheid der Königin brachte den seit mehr als zehn Jahren ruhenden Abgrenzungsprozess zwischen dem Bodroger und dem Bácser Komitat erneut ins Rollen. Schon ein Monat nach dem königlichen Ernennungsbeschluss, am 9. Oktober 1746, wurde die offizielle Ernennungsurkunde in der Ungarischen Hofkanzlei für den neuen Bodroger Obergespan, Leopold Draskovichs de Trakostyán (1704–1759)35 ausgestellt.36 Draskovich erfüllte die ihm gegenüber in der Hofkanzlei gestellten Erwartungen und fing an, nach der genauen Lage des Gebietes seines Komitats zu suchen und dessen Abgrenzung vom Bácser Komitat zu verlangen. Ein Ansuchen (humillima instantia) von Draskovich ging am 28. November 1746 bei der Ungarischen Hofkanzlei ein, in dem der neue Bodroger Obergespan unter anderem um Hilfe der Kanzlei bat, Dokumente für die Abtrennung seines Komitats zu suchen, damit er in den laufenden Prozess um die Zugehörigkeit des Marktfleckens Szent-Mária einsteigen könnte.37 Draskovich bezog sich hier auf die Akten, die im Archiv der Ungarischen Hofkanzlei bezüglich der Trennung des Bodroger vom Bácser Komitat vorhanden waren und für die Weiterführung des Prozesses seinerseits notwendig gewesen wären.38 Als Reaktion auf dieses Ansuchen des neuernannten Obergespans ergingen schon am darauffolgenden Tag, am 29. November 1746,39 zwei Befehle 34 35 36 37

MNL, OL, A 1, 1743, No. 82. Ung.: Trakostyáni Draskovich Lipót, kro.: Leopold Drašković Trakošćanski. MNL, OL, A 57, 40. kötet, 417–418. MNL, OL, Magyar kancelláriai levéltár, Conceptus expeditionum (A 35), 1746. November, No. 78. Eine Kopie des Ansuchens wurde auch an den ungarischen Palatin Johannes Pálffy weitergeschickt. Dies befindet sich aber zwischen den Schriften des Palatins Nikolaus Pálffy: MNL, OL, Regnicolaris levéltár, Archivum palatinale, Archivum palatinale comitis Nicolai Palffy (N 9), Ladula (Lad.) 33, Fasciculus (F.) 8NB, No. 69. Über die Gründe dieser Verschiebung detaillierter im Folgenden. 38 „et assumpta quacunque demum quoad Bodroghiensis Comitatus metas decisione in Archivo Excelsae Majestatis Vestrae Sacratissimae Regiae Hungarico-Aulicae Cancellariae praehabita.“ MNL, OL, A 35, 1746. November, No. 78. 39 Bei der Präsentation des Ansuchens von Draskovichs wurde sehr wahrscheinlich schon das Erledigungskonzept vom Kanzleireferenten vorbereitet. Die Arbeitsverläufe der Ungarischen Hofkanzlei im 18. Jahrhundert sind bisher kaum erforscht worden. Einige Hinweise über die Aktenläufe in der Kanzlei gibt István Fazekas, Die Ungarische Hofkanzlei. In: Michael Hochedlinger / Petr Maťa / Thomas Winkelbauer (Hg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Hof und Dynastie, Kaiser und Reich, Zentralverwaltungen, Kriegswesen und landesfürstliches Finanzwesen. Wien 2019, 489–503,

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im Namen der Königin aus der Hofkanzlei an den Palatin Johannes (ung. János) Pálffy (1664–1751)40 und an den Königlich-Ungarischen Statthaltereirat,41 dessen Vorsitzender auch der Palatin Pálffy war. Einerseits wurde der Palatin veranlasst, den Prozess um die Zugehörigkeit des Marktfleckens Szent-Mária so lange zu unterbrechen, bis der neue Bodroger Obergespan in seine Würde eingeführt worden sei. Andrerseits wurde verlangt, den Abgrenzungsprozess zwischen dem Bácser und dem Bodroger Komitat wieder aufzunehmen und die dazu nötigen Beweise und Akten zu sammeln und zur Verfügung zu stellen: Damit wurde „erwehnten Consilio [dem Statthaltereirat] zu gleich anbefohlen, erwehnten Grafen Draskovich in untersuchung deren schriften, und documenten, so zu Restaurirung dises [Bodroger] Comitats fürdersambst notwendig seyen, alle beyhilf zu leisten“.42 Die Schriften und Dokumente rückten damit in den Mittelpunkt. Der Prozess sollte neu aufgerollt, alte Akten sollten gesammelt und kopiert werden. Um die neue Grenzziehung und die Zugehörigkeit der einzelnen Ortschaften bestimmen zu können, mussten den Beteiligten die Akten zur Verfügung stehen. Im Archiv der Ungarischen Hofkanzlei wird eine Liste aufbewahrt, die mit dem folgenden Satz überschrieben ist: „Aufbewahrte Akten die Trennungsverhandlungen des Bácser und des Bodroger Komitats betreffend.“43 Die „acta particularia“ genannte Aktensammlung des Kanzleiarchivs war eine wichtige Sammelstelle für alle Akten, die bei der Vorbereitung von Erledigungen und Entscheidungen verwendet und gesammelt wurden.44 Nach der Praxis der Kanzlei wurden alle Dokumententypen in getrennten Reihen abgelegt.45 Das

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494, 498.; István Fazekas, A Magyar Udvari Kancellária és hivatalnokai a 16–18. században. Hivatalnoki karrierlehetőségek a kora újkori Magyarországon [Die Ungarische Hofkanzlei und ihre Beamten im 16.–18. Jahrhundert. Karrierechancen der Beamten in Ungarn in der Frühen Neuzeit]. In: Századok 148 (2014), 5, 1131–1155. MNL, OL, N 9, Lad. 33, F. 8NB, No. 69. MNL, OL, A 35, 1746. November, No. 80. Ebd. „Acta negotium separationis comitatuum Bacs et Bodrogh respicientia.“ MNL, OL, Magyar kancelláriai levéltár, Acta particularia (A 93), No. 32. Vilmos Bélay, Magyar Kancelláriai Levéltár. Repertórium [Das Archiv der Ungarischen Kanzlei. Repertorium]. Budapest 1973, 123. Diese Praxis, nach der die Erledigungskonzepte und alle in der Kanzlei selbst entstandenen Schriftstücke von den dazu gehörigen anderen Akten (vor allem Mitteilungen – insinuata und Berichten – litterae) getrennt abgelegt wurden, war für alle ungarischen Hofstellen und ständischen Verwaltungsträger charakteristisch. Die Akten der Ungarischen Hofkammer und des Statthaltereirates sind nach dem gleichen Prinzip geordnet. Vgl. Károly Tagányi, A Magyar Udvari Kanczelláriai Levéltár [Das Archiv der Ungarischen Hofkanzlei]. In: Századok 31 (1897), 939–947, 939. Sogar in der Ofener (Budaer) Kameraladministration wurde diese Praxis angewendet, obwohl die Administration direkt unter die Wiener Hofkammer gestellt

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Ordnungsprinzip war meistens chronologisch, in einigen Reihen auch themen-, personen- oder ortsgebunden. Die Verknüpfung zwischen den einzelnen Erledigungskonzepten und den dazugehörigen anderen Akten, Mitteilungen und Berichten46 kann nicht immer eindeutig festgestellt werden, weil das auf den Akten oft nicht vermerkt wurde. Die Kanzleibediensteten haben sich dafür der chronologisch angelegten Protokollbücher und der dazu angefertigten Indexbücher bedienen müssen, diese wurden aber nicht für alle Reihen fertiggestellt.47 Im Zuge der Anfertigung der Beschlussvorlage für die Herrscherin bei der Ernennung des neuen Bodroger Obergespans und für die erneute Aufnahme des Trennungsprozesses mussten die Referenten der Hofkanzlei einerseits die Rechtmäßigkeit der Ansprüche des neuen Obergespans Draskovich auf die Bestimmung der Zugehörigkeit einzelner Orte zu den einzelnen Komitaten und den damit verbundenen Zugang zu den Akten überprüfen. Andererseits mussten sie sich selbst in die Materie einarbeiten und die dazugehörigen Akten aus der Registratur heraussuchen. Wahrscheinlich entstand bei dieser, von mehreren Referenten durchgeführten Arbeit die anfangs erwähnte zweiseitige Liste. Diese zählt Akten auf, die mit dem Trennungsprozess der beiden Komitate Bács und Bodrog im Zusammenhang stehen. Zusammen mit einer kurzen Notiz zur Beschlussvorlage wurde diese Liste unter der Nummer 32 in der Beilagenreihe (acta particularia) des Kanzleiarchivs archiviert.48 Die Liste setzt im Jahr 1716 ein und zählt bis zum Jahr 1747 insgesamt 48 unterschiedliche Akten auf. Die Einträge bestehen nur aus sehr kurz gehaltenen Aktensignaturen, die meistens nur eine Nummer, eine Monatsbezeichnung und eine Jahreszahl beinhalten. Die Aneinanderreihung der Aktensignaturen wurde nur an zwei Stellen unterbrochen, um die Lücke in der Chronologie war, bei welcher die zu einem Fall gehörigen Akten zusammen mit den Erledigungskonzepten archiviert wurden. 46 Als insinuata (Mitteilungen) wurden die Schreiben der gleichgestellten Hofstellen bezeichnet. Die Schreiben von untergeordneten Stellen und Personen wurden in der Ungarischen Hofkanzlei unter der Bezeichnung litterae ((Bitt-)Schriften) zusammengefasst. Vgl. Tagányi, Levéltár, wie Anm. 45, 941. Zu den deutschen Bezeichnungen siehe: Hochedlinger, Aktenkunde, wie Anm. 7, 171. 47 Bei der heutigen Erforschung dieser Archive sind die Forscher meistens weiterhin auf diese Hilfsmittel angewiesen. 48 MNL, OL, A 93, No. 32. Eine eindeutige Zuordnung zu einem Erledigungskonzept (conceptus expeditionum bzw. conceptus referadarum) oder zu einer Beschlussvorlage (originales referadae) ist nicht möglich, weil auf der Liste kein Bezug vermerkt wurde. Aus dem Inhalt der Liste und aus der dazugehörigen Notiz kann darauf geschlossen werden, dass es im erwähnten Zusammenhang der Ernennung des neuen Bodroger Obergespans und der geplanten Neuaufnahme des Prozesses zur Abtrennung der Bodroger und Bácser Komitate angefertigt wurde.

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(auf das Jahr 1723 folgt 1730) zu erklären. Dazwischen wurde vermerkt, dass nach dem Tod des Bodroger Obergespans Paul Nádasdy die Verhandlungen wieder von vorne angefangen und dazu die folgenden Akten gefunden worden seien.49 Nach der Aufzählung von zehn Aktensignaturen aus den Jahren 1730 bis 1733 folgt die zweite Unterbrechung mit dem folgenden Hinweis: „Schließlich begann im Jahr 1746 erneut die Verhandlung über die Trennung und bisher ist die folgende Vorlage gemacht worden.“50 Abschließend werden zehn weitere Aktensignaturen bis zum April 1747 aufgezählt. Dieser Listenabschnitt wurde mit einer, von den vorherigen abweichenden Handschrift verfasst. Auch die verwendeten Signaturabkürzungen zeigen kleine Abweichungen. Entweder ist die Liste in mehreren Recherchephasen, von verschiedenen Kanzleireferenten erstellt worden, oder eine schon vorhandene Liste ist bei der Vorbereitung einer Beschlussvorlage um 1746/47 wieder verwendet und weitergeführt worden. Die Aufzählung wurde auf das Notwendigste reduziert, es wurden keine inhaltlichen Angaben zu den Akten notiert. Für eine eindeutige Zuordnung der Signaturen zu den einzelnen Reihen der Kanzleiregistratur waren gute Kenntnisse der Kanzleiabläufe und der Archivierungspraxis unentbehrlich. Insgesamt haben die Kanzleireferenten acht Aktenreihen der Kanzleiregistratur in einem Zeitraum von 30 Jahren durchsucht. Wenn sie systematisch vorgegangen sind, konnten sie sich der laufend angelegten Registratur- und Findbücher bedienen, von denen sie ca. 20 verschiedene durchsuchen mussten, um die Eintragungen über den Verlauf des Grenzziehungsprozesses zu finden. Eine den Querverweisen folgende Suche wäre aufgrund der Struktur des Hofkanzleiarchivs und oft fehlender Verknüpfungsvermerke auf den einzelnen, getrennt abgelegten Akten kaum möglich gewesen.51 Der Prozess musste so aus einzelnen, an unterschiedlichen Orten abgelegten Akten rekonstruiert werden. Ob die zuständigen Referenten bei der Erstellung der Aktenliste die Akten aus den einzelnen Reihen tatsächlich herausgeholt und nach einer chronologischen Sortierung zu einem Aktenbündel zusammengeführt haben, kann man nicht mehr feststellen. Für die Anfertigung der vorliegenden Liste war eine akribische chronologische Sortierarbeit nötig, die entweder ‚physisch‘, mit den ausgesuchten Akten erfolgen musste, oder ‚virtuell‘, mithilfe von Notizen durchgeführt wurde, die bei der Suche in den einzelnen 49 „Mortuo Comite Paulo de Nadasd, Supremo Comitatus Bodrogiensis Comite, negotium iterum ad primordia redivit, quare inspicienda sunt sequentia.“ MNL, OL, A 93, No. 32. 50 „Demum in Anno 1746 iterum incepit agitari negotium separationis, et facta est eatenus referada sub No.:.“ MNL, OL, A 93, No. 32. 51 Eine Reduzierung des Aufwandes hätte der Referent nur so erreichen können, wenn er die Jahre, die auf der Liste auch ausdrücklich als für den Prozess wenig ergiebig angegeben wurden, tatsächlich aus der Suche ausgespart hätte. Dafür hätte er aber über genauere Vorkenntnisse über den Ablauf des Prozesses verfügen müssen.

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Aktenreihen angefertigt worden waren. Die meisten der auf der Liste erwähnten Akten befinden sich heute weiterhin an den entsprechenden Stellen, auf die die angegebenen Signaturen hinweisen. Eine kleine Zahl der aufgelisteten Akten (vor allem die von den Komitaten eingereichten Ansuchen), sind jedoch an den vermerkten Stellen nicht mehr aufzufinden. Ob die gelisteten Akten des Kanzleiarchivs jemals zu einem Aktenbündel zusammengefügt wurden und somit auch physisch einen zu bearbeitenden Aktenfall bildeten, ob sie in voller Länge oder in Auszügen auf Notizzettel eines Kanzleireferenten kopiert wurden, kann nicht genauer bestimmt werden. Die vorhandene Liste zeugt aber von einer strukturierenden, systematisierenden Arbeit der Referenten, die bemüht waren, im Kanzleiarchiv vorhandene Akten in einen Zusammenhang zu setzen, der ermöglichen sollte, die Grenze zwischen zwei Komitaten festzulegen, einen Grenzziehungsprozess bzw. einen Rechtsstreit zu rekonstruieren, Zugehörigkeiten und Zuständigkeiten zu vereindeutigen. Diese Zuständigkeitsgrenzen konnten nur aus den Akten hervorgehen. Neben der Aktenliste im Faszikel befindet sich ein Notizzettel, auf dem wahrscheinlich ein Kanzleireferent einige wichtige Punkte in Bezug auf den Rechtsstreit zwischen dem Bácser und Bodroger Komitat notiert hat. Die Notizen, die mit großer Wahrscheinlichkeit bei der Vorbereitung des Beschlusses zur Ernennung Draskovichs zum Obergespan angefertigt wurden, beziehen sich auf den Artikel 36 des ungarischen Landtags aus dem Jahr 1542. Darin wurde folgendes festgestellt: „Wenn ein Komitat einem benachbarten Komitat ein Ort mit Gewalt weggenommen hatte, soll der Obergespan des beschädigten Komitats diesen Ort, unter Androhung des Verlustes seines Amtes, zurückholen.“52 Damit wäre die Notwendigkeit der Ernennung eines neuen Obergespans in Bodrog begründet, wenn man die Zugehörigkeit von Szent-Mária zum Csongráder Komitat bestreiten wollte und derentwegen die erneute Trennung des Komitats Bodrog von Bács beabsichtigte. Eine weitere Notiz verweist auf den Artikel 19 des Landtags aus dem Jahr 1635, dessen zweiter Paragraf folgendes festschrieb: „Die Stände haben befunden, dass der Herr Palatin des Landes oder seine Kommissare die Marken von solchen Dörfern, an denen zwei Komitate aufeinander treffen, nach dem Artikel 71 des Jahres 1618 baldmöglichst untersuchen und ausgleichen sollen.“53 So wurde auch der Brief des neuernannten Obergespans Draskovich bezüglich der Trennung der Komitate an den Palatin 52 „Possessiones item, quæ per hos annos a corpore comitatus cujuspiam per potentiam avulsæ sunt, et distractæ; et alicui comitatui illis viciniori annexæ, comites talium comitatuum, sub amissione officiorum suorum, restituere teneantur.“ Dezső Márkus (Hg.), Corpus juris Hungarici – Magyar törvénytár. 1526 – 1608. évi törvényczikkek. Budapest 1899, 94. 53 „Visum est statibus, et ordinibus; ut talium possessionum metæ, ubi nimirum duorum comitatuum limites concurrunt, juxta art. 71. anni 1618. quantocyus per dominum regni palatinum,

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weitergeleitet. Der amtierende Palatin Johannes Pálffy wurde aufgefordert, den Trennungsprozess wieder aufzunehmen und seinerseits die zugehörigen Akten zu suchen.54 Das Palatinalarchiv Ein zentraler Akteur in dem Lokalisierungs- und Abgrenzungsprozess der zwei südungarischen Komitate war der Palatin. Die ungarischen Palatine waren die Stellvertreter des Königs im Königreich Ungarn, in der Frühen Neuzeit wurden sie meistens auch zum Statthalter ernannt. Nach der Aufstellung des Königlich Ungarischen Statthaltereirates (consilium regium locumtenentiale Hungaricum) 1724 waren die Palatine die Vorsitzenden dieser königlichen Regierungsinstitution.55 Der Palatin war der erste Richter des Landes, in Abwesenheit des Königs führte er die Sitzungen des Landtages und leitete alle Befehle des Herrschers an die Komitate weiter. Im Grenzprozess erscheint er genau in dieser Funktion: Von ihm gingen die Befehle und Aufträge aus, an ihn adressierten die Parteien ihre Bitten und Beschwerden. Obwohl die oben erwähnten Gesetzesartikel das persönliche Vorgehen des Palatins vorsahen, erlaubten sie auch die Formierung von Kommissionen, die im Namen des Palatins die Fälle untersuchen sollten.56 Diese reichten ihre Berichte, Gutachten und Entscheidungsprotokolle beim

vel ipsius commissarios revideantur et complanentur.“ Dezső Márkus (Hg.), Corpus juris Hungarici – Magyar törvénytár. 1608 – 1657. évi törvényczikkek. Budapest 1900, 320. 54 MNL, OL, N 9, Lad. 33, F. 8NB, No. 69. Über das Verhältnis und die Kommunikation zwischen der Ungarischen Hofkanzlei und dem höchsten ständischen Würdenträger im Königreich Ungarn, dem Palatin siehe: István Fazekas, A Magyar (Udvari) Kancellária és hivatalnokai 1527–1690 között [Die Ungarische (Hof-)Kanzlei und ihre Beamten zwischen 1527 und 1690]. Akadémiai doktori értekezés [Dissertation zur Erlangung der Doktorwüde der Akademie]. Budapest 2018, 96–98. 55 Zu den Funktionen des Palatins und des Statthalters und zu den Schwierigkeiten der juristischen Trennung ihrer Funktionen siehe: Győző Ember, Az újkori magyar közigazgatás története. Mohácstól a török kiűzéséig [Geschichte der ungarischen Verwaltung in der Neuzeit. Ab Mohács bis zur Vertreibung der Türken]. Budapest 1946, 112, 518–520. Zum Wirken des Statthaltereirates siehe Ders., Magyarország közigazgatása 1711–1765 [Verwaltung Ungarns 1711–1765]. In: Levéltári Közlemények 54 (1983), 3–100, hier 17–19. 56 Im Gesetzesartikel 1635: 20 wird das Vorgehen bei Grenzstreitigkeiten zwischen Komitaten genauer bestimmt: „Qualiter differentiæ, ratione metarum intra eundem comitatum, sint componendæ, et discriminandæ?“ Márkus, Corpus, wie Anm. 53, 320. Emma Iványi gibt in ihrem Buch über die Verwaltungstätigkeit des Palatins Pál Esterházy an, dass ein solcher Fall, in dem der Palatin persönlich vor Ort über Grenzstreitigkeiten entschieden hätte, überhaupt nicht bekannt ist. Vgl. Emma Iványi, Esterházy Pál nádor közigazgatási tevékenysége (1681–1713) [Verwaltungstätigkeit des Palatins Pál Esterházy (1681–1713)]. Budapest 1991, 272.

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Palatin ein, der über die neuen Komitatsgrenzen oder über die weiteren Beschwerden der Parteien entschied. Als Leopold Draskovich seine Beschwerde einreichte, folgte er der üblichen Praxis, die sich in zahlreichen Streitigkeiten zwischen Komitaten etabliert hatte.57 Er hatte sich bei dem Herrscher beschwert, worauf dieser (in diesem Fall die Königin Maria Theresia), über die Ungarische Hofkanzlei dem Palatin und dem seit 1724 zwischengeschalteten Statthaltereirat die Erledigung befahl. Der vom Landtag im Jahr 1741 zum Palatin gewählte Johannes Pálffy wurde dadurch zum ersten Mal mit der Grenzstreitigkeit des Bácser und Bodroger Komitats konfrontiert. Der Prozess ruhte damals bereits seit mehr als zehn Jahren. In seiner eigenen Kanzleiregistratur befanden sich demzufolge keine Akten zu dem Fall. Die Suche nach diesen Akten musste im Archiv der früheren Palatine erfolgen. Das sogenannte Archiv des Königreichs (Archivum Regni) entstand nach einem Landtagsbeschluss von 1723 erst in der Zeit von Pálffys Nachfolger, Palatin Ludwig (ung. Lajos) Batthyány (1696–1765) in den 1750er Jahren.58 Bis dahin bestand kein institutionalisiertes Palatinalarchiv. Die Kanzleiregistratur eines amtierenden Palatins wurde nach seinem Tod einer sich erst im 18. Jahrhundert etablierenden Praxis folgend, zusammen mit der sogenannten Truhe des Königreichs (cista regni)59 , an seinen Nachfolger weitergegeben. Um dem Auftrag der Königin nachgehen zu können, musste Johannes Pálffy die Akten bezüglich der Komitatsabgrenzung in der Registratur seines Bruders, des Palatins Nikolaus Pálffy, suchen lassen. In seine Amtszeit (1714–1732) fiel ein Großteil der Versuche, den Bácser und den Bodroger Komitat voneinander abzugrenzen. Kurz nach dem Tod von Nikolaus Pálffy wurde seine Aktenregistratur von einer Landeskommission und den Vertretern der Familie Pálffy inventarisiert.60 Die Schriften, die seine Tätigkeit als Palatin betreffen, wurden von den restlichen Schriften abgesondert und an seinen Amtsnachfolger 57 Emma Iványi stellte in Bezug auf den Palatin Paul Esterházy fest, dass jedes Mal, als der Palatin vom König (d. h. aus der Ungarischen Hofkanzlei) einen Befehl zur Erledigung einer Grenzstreitigkeit zwischen Komitaten erhielt, dieser sich immer auf die erwähnten Gesetzesartikel 1542: 36, 1618: 71 und 1635:19 bezog. Iványi, Esterházy, wie Anm. 56, 267–268. 58 Béla Bottló, Regnicolaris levéltár [Regnicolararchiv]. Budapest 1953, 4. 59 In der „Truhe des Königreichs“, die erst ab dem 17. Jahrhundert tatsächlich als eine schwarze Eisentruhe beschrieben wurde – aus dem 16. Jahrhundert sind noch Verweise auf Säcke (capsae) bekannt – wurden Urkunden von landesweiter Bedeutung aufbewahrt. Diese wurden bei jeder Übergabe von einer Kommission inventarisiert und somit getrennt von der laufenden Registratur der Kanzlei des Palatins behandelt. Vgl. Alfréd Czobor, Országos levéltár felállításának terve 1701-ben és az ország iratainak korábbi megőrzése [Der Plan für die Gründung eines Landesarchivs aus dem Jahr 1701 und die Aufbewahrung der Schriften des Landes davor]. In: Levéltári Közlemények 3 (1925), 1–41, hier 16–17. 60 Die Inventarisierung erfolgte am 13. August 1732, unter Anwesenheit von Georgius (ung. György) Esterházy und Carolus (ung. Károly) Zichy, beide Räte des Statthaltereirates und der

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weitergegeben.61 Das Archiv von Nikolaus Pálffy befand sich somit 1746 sehr wahrscheinlich schon in der Kanzlei des neuen Palatins, Johannes Pálffy, die angeordnete Aktensuche konnte so problemlos durchgeführt werden. Im Kontext dieser Aktensuche steht ein Aktenbündel, das heute im Archiv des Palatins Nikolaus Pálffy als Bündel (fasciculus) 8NB, im Kasten (ladula) Nummer 33 aufbewahrt wird.62 Auf der Innenseite der Aktenhülle wurde der Inhalt des Bündels folgendermaßen zusammengefasst: „Akten die Trennung des Bácser und des Bodroger Komitats betreffend, welche im Zusammenhang des Grenzprozesses des Csongráder Komitats gegen dem Bácser Komitat bezüglich des Rechtsfalls über den Marktflecken Szabatka oder Szent Maria im Jahr 1746 zusammengestellt wurden.“63 Der Bündel beinhaltet chronologisch geordnete, nummerierte Akten. Die mit der Nummer 69 versehene letzte Akte ist der schon erwähnte, am 1. Dezember 1746 empfangene, mit der eigenhändigen Unterschrift Maria Theresias versehene, von dem ungarischen Kanzler Leopold Nádasdy (ca. 1700–1758) gegengezeichnete Befehl an den Palatin Johannes Pálffy. In diesem wird er aufgefordert, dem beigefügten Ansuchen des neuernannten Bodroger Obergespans Draskovich zu folgen und die Abtrennung des Bodroger Komitats zu unterstützen.64 Alle anderen Schriftstücke stammen aus der Kanzlei des Palatins Nikolaus Pálffy und decken einen Zeitraum zwischen 1716 und 1728 ab. Die Chronologie der Akten weist mehrere Lücken auf, was darauf schließen lässt, dass die Schriftstücke nicht als Ergebnis einer einzigen Aktensuche zusammengestellt wurden, sondern dass das Bündel bei neuen Prozessaufnahmen immer wieder verwendet und mit weiteren Stücken ergänzt wurde. Davon zeugt auch das mit

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Bevollmächtigten der Erben von Nikolaus Pálffy, Paul Jeszenák und Gaspar Farkas. MNL, OL, N 9, 50. csomó, Lad. 41, Litterae A. Die ausgewählten Akten wurden in die Kanzlei des Statthaltereirats transportiert, wo Stephanus (ung. István) Dragschics am 25. Oktober 1732 ein Verzeichnis des übernommenen Schriftguts erstellte. Dieses Verzeichnis listet unter der laufenden Nummer 23 auch die Akten des Abgrenzungsprozesses zwischen dem Bácser und Bodroger Komitats im Faszikel „N“ auf. Der genaue Inhalt des Faszikels wurde nicht spezifiziert. MNL, OL, N 9, 50. csomó, Lad. 41, Litterae A. Zwischen der Amtszeit der beiden Pálffy Brüder wurde zwar kein Palatin gewählt, Franz Stephan von Lothringen, der spätere Kaiser Franz I., amtierte aber zwischen 1732 und 1739 als königlicher Statthalter. Seine Kanzlei hat die Registratur von Nikolaus Pálffy im Jahr 1732 übernommen. Siehe auch: Béla Bottló / Miklós Veres, Regnicolaris Levéltár. Repertórium [Regnicolararchiv. Repertorium]. Budapest 1968, 20. MNL, OL, N 9, Lad. 33, F. 8NB. „Acta Separationem Comitatus Bachiensis a Bodrogiensi concerentia, quibus immixtus propter nexum rei Processus metalis Comitatus Csongradiensis contra Bachiensem respectu controversiæ oppidi Szabatka alias Szent Maria de anno 1746.“ MNL, OL, N 9, Lad. 33, F. 8NB. MNL, OL, N 9, Lad. 33, F. 8NB, No. 69, 316–319.

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der Nummer 70 versehene Verzeichnis.65 Dort sind insgesamt 32 Schriftstücke aufgelistet.66 Die vorhandenen Kurzbeschreibungen stimmen mit den ersten 26 Dokumenten des Bündels überein. Die mit der Nummer 27 markierte Beschreibung der Liste weist auf den schon mehrmals erwähnten Befehl Maria Theresias an Palatin Johannes Pálffy aus dem Jahr 1746 hin.67 Danach werden zahlreiche Bearbeitungsspuren, Streichungen und ergänzte Nummern im Verzeichnis sichtbar, die mit der heute vorhandenen Aktenlage nicht deckungsgleich sind. An zahlreichen Akten sind auch Korrekturen in der Nummerierung vorgenommen worden. Das Aktenbündel ist in mehreren Phasen entstanden und wurde immer wieder mit weiteren Schreiben ergänzt. Die Akten schrieben somit den Prozess fort, ihre Neuordnung markierte die immer wieder erfolgten Neuaufnahmen des Abgrenzungsprozesses. Das Aktenbündel beinhaltet überwiegend an den Palatin adressierte Originalschreiben, ergänzt durch Konzepte und Zweitausfertigungen von Reinschriften, die ebenfalls aus der Kanzlei des Palatins stammen. Im ersten Teil des Bündels befinden sich auch zahlreiche beglaubigte Kopien aus dem Archiv der Ungarischen Hofkanzlei, die bei der Erstellung des Aktenbündels meistens neben die in der Registratur des Palatins ebenfalls vorhandenen Ausfertigungen gestellt wurden.68 Die Aktenreihe setzt mit dem Bericht (relatio) der ersten Grenzkommission unter der Leitung von Georgius Patachich aus dem Jahr 1716 ein und beinhaltet die Berichte der später eingesetzten Kommissionen von Sebastian Glavinich, Andreas Berkes, Gabriel Kapy, bis zur vorläufigen

65 Das Verzeichnis ist mit dem folgenden Titel überschrieben: „Aktenreihe, die die Trennung des Bodroger Komitats vom Bácser Komitat betreffen und für den Vizegespan des Pester Komitats neulich herausgegeben worden sind“ („Series Actorum Separationem Comitatus Bodroghiensis a Bacsiensi tangentium per D[ominum] Vice Comitem Comitatus Pestiensis recenter submissorum“). Die Würdenträger der Nachbarkomitate, so auch des Pester Komitats, fungierten regelmäßig als Kommissionsmitglieder im Abgrenzungsprozess. Daraus lässt sich somit nicht genauer bestimmen, wann die Aktenliste bzw. der Aktenbündel entstanden ist. Vgl. MNL, OL, N 9, Lad. 33, F. 8NB, No. 71, 320. 66 Als erster, mit der Nummerierung nicht erfasster Eintrag des Verzeichnisses wird das in der Einleitung beschriebene Protokollbuch der Komitatsversammlungen des Bodroger Komitats erwähnt. Dies ist aber nicht Teil des heute vorhandenen Aktenbündels. Vgl. MNL, OL, N 9, Lad. 33, F. 8NB, No. 71, 320. 67 Dieses Schriftstück trägt die Nummer 69, die aber eine spätere, mit anderer Tinte erfolgte Überschreibung der ursprünglichen Nummer 27 ist. Vgl. MNL, OL, N 9, Lad. 33, F. 8NB, No. 69, 316. 68 Am 16. November 1717 erstellte und beglaubigte (vidimierte) der Registrator der Ungarischen Hofkanzlei, János Tarnózcy von Alsó Lelócz zahlreiche Kopien von Originalen aus der Registratur der Hofkanzlei. Diese Akteneinforderung von der Palatinalkanzlei geschah wahrscheinlich im Zusammenhang mit einem von zahlreichen Neuaufnahmen des Abgrenzungsprozesses. Vgl. MNL, OL, N 9, Lad. 33, F. 8NB, No. 1, No. 4, No. 5.

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Beendigung der Auseinandersetzung im Jahr 1728 und schließlich bis zum erneuten Wiederaufnahmeversuch 1746. Die zahlreichen, an den Palatin gerichteten königlichen Befehle (rescriptum) übertrugen in Aufträgen (mandatum) die Prozessführung an den Palatin. Die Originalberichte der Kommissionen (relatio in originali), ihre Entscheidungszusammenfassungen (extractus finalis decisionis) führten durch die verschiedenen Phasen der Grenzziehung. Konzepte von Berichten des Palatins an den König (conceptus repraesentationis) über die (vorläufigen) Entscheidungen markierten die wichtigen Stationen des Prozesses. Die zahlreichen Beschwerdebriefe und Ansuchen (litterae) der betroffenen Komitate und ihrer Obergespane zwangen zur Weiterführung und erneuten Wiederaufnahme der Verhandlungen. Die Grenzen und die Territorien wurden in den Akten beschrieben, was aber auch umgekehrt galt: Die Akten schrieben die Grenze und die den Komitaten zugewiesenen Territorien entstanden in diesen Akten. Die ständig wandelnde Grenze visualisierte sich auch in einer Karte, die dem Aktenbündel beigefügt wurde.69 Diese wurde wahrscheinlich in den verschiedenen Phasen des Grenzprozesses immer wieder verwendet. Die sich oft wesentlich verändernden territorialen Zuweisungen und Grenzen wurden auf der Karte mit Farbgebungen, eingezeichneten Grenzlinien und diese überschreibenden neuen Grenzzeichen immer wieder neu markiert und verändert.70 Nicht nur die Akten wurden durch Verschickung, Zuordnung, Sammlung, Sortierung und Bündelung bewegt, sondern gerade diese Prozesse der Aktenbewegungen, die Suche, Auswahl, Nacheinanderreihung veränderte und bestimmte die Grenze zwischen den Komitaten. Die Archive der Parteien Die Komitate als Verwaltungsorgane des lokalen Adels repräsentierten die Gesamtheit des Adels in einem Gebiet. Diese Adelskollektive bildeten die wichtigste Organisationseinheit der ungarischen Stände. Die Zugehörigkeit zu einem Komitat spielte für die Mitglieder des Adels eine wichtige Rolle: Auf den Komitatsversammlungen wurden die lokalen politischen Entscheidungen getroffen, die Adelstitel verkündet, die Kontribution auf einzelne Gebiete aufgeteilt, aber auch die Gesandten für den Landtag wurden in den Komitaten gewählt.71 Die 69 „Mappa designans metas inter Comitatus Bács et Bodrog.“ MNL, OL, N 9, Lad. 33, F. 8NB, No. 68, 314. 70 Zu einer detaillierteren Analyse der Karte siehe: Magyar, Territorien, wie Anm. 10, 36–38. 71 Über die Funktionen der Komitate und die Ämter des Komitatsadels siehe: András Forgó, Die Verwaltungsstruktur des Königreichs Ungarn und die Raumbildung der ständischen

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räumliche Ausdehnung und die genaue Abgrenzung der Jurisdiktionsgebiete einzelner Komitate war deswegen eine sehr wichtige Frage. Im Rechtsstreit zwischen den zwei südungarischen Komitaten Bács und Bodrog waren die Parteien demnach eigentlich die Adelsverbände. Weil das Territorium der Komitate noch nicht festgelegt wurde, war die Zugehörigkeit einiger Adliger zu einem bestimmten Komitat nicht immer eindeutig. Die territoriale Ausformung eines Komitats stand im direkten Zusammenhang mit der räumlichen Ordnung des Adels. Änderte sich das Territorium, sollte sich auch die Körperschaft des zugehörigen Adels ändern. Wie groß die Unsicherheit in dieser Hinsicht war, zeigt die Tatsache, dass bestimmte Personen, die bei der Gründung des Bácser Komitats in bestimmte Ämter gewählt wurden, auch auf der Gründungsversammlung des Bodroger Komitats ähnliche Funktionen bekamen.72 Weitere wichtige Akteure im Grenzstreit waren die Obergespane der Komitate. Im Gegensatz zu den anderen Komitatswürdenträgern, die von den Komitatsversammlungen gewählt wurden, wurden die Obergespane vom König ernannt. Aus diesen unterschiedlichen Machtpositionen folgt, dass im Abgrenzungsprozess sowohl die Obergespane als auch die „Adelsuniversität“73 des Komitats als Parteivertreter aufgetreten sind. Im Abgrenzungsprozess der Komitate Bács und Bodrog versuchten die beiden Parteien ihr Anrecht auf einzelne Ortschaften mit Dokumenten zu beweisen, die aus der Zeit vor der osmanischen Herrschaft stammten und bestimmte Orte im Zusammenhang mit dem einen oder dem anderen Komitat in Verbindung setzten. Wenn der Name eines der Komitate in einer neu entdeckten Urkunde oder in einer neu erlangten Kopie von einem „glaubwürdigen Ort“74 gefunden wurde, eröffnete dies erneut Möglichkeiten, um das eigene Territorium zu definieren oder einzelne Ortschaften der gegnerischen Partei strittig zu machen. So schrieb Paul Nádasdy, der Obergespan des Bodroger Komitats, Politik – im Vergleich zu den deutschen Reichskreisen. In: Wolfgang Wüst / Michael Müller (Hg.), Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa. Horizonte und Grenzen im spatial turn. Frankfurt am Main 2011, 173–193, 175–176; András Vári / Judit Pál / Stefan Brakensiek, Herrschaft an der Grenze. Mikrogeschichte der Macht im östlichen Ungarn im 18. Jahrhundert. Köln – Weimar – Wien 2014, 51–57. 72 Vgl. MNL, OL, Magyar kincstári levéltárak, Magyar Kamara Archivuma, Urbaria et conscriptiones (E 156), Regestrata (a), Fasc. 98, No. 82, 121; Iványi, Bodrog, wie Anm. 16, 16. 73 Die vollständige Bezeichnung lautete: „Universitas Dominorum Praelatorum, Baronum, Magnatum, ac Nobilium.“ 74 Die glaubwürdigen Orte (ung. hiteleshely, lat. locus credibilis) waren ein seit dem 13. Jahrhundert existierendes System von Institutionen (meistens im Rahmen von kirchlichen Einrichtungen, Domkapiteln oder Klöstern), die notarielle Tätigkeiten ausübten, Urkunden und Zeugnisse ausstellten, kopierten und aufbewahrten. Zur Entstehung und zum Wirken siehe: Franz Eckhart, Die glaubwürdigen Orte Ungarns im Mittelalter. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsbd. 9 (1915), 395–558.

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in einem Brief vom 17. Januar 1720 an den Palatin Nikolaus Pálffy, dass, wie er erfahren habe, der Bácser Komitat im Besitz von Dokumenten gelangt sei, mit denen eine Wiederaufnahme des Prozesses verlangt werden könne. Er versicherte dem Palatin, dass auch er über weitere Dokumente verfügen würde, die Beweise von Bodroger Zugehörigkeit solcher Dörfer liefern würden, die bis dahin dem Bácser Komitat zugesprochen gewesen seien.75 Die Sammlung der alten Schriftstücke und ihre Vorlage als Beweismaterial war eine der wichtigsten Praktiken der Parteien bei der Prozessführung. Schon bei der Gründungsversammlung des Bodroger Komitats am 25. März 1715 wurde der neugewählte Notar Emericus (ung. Imre) Osztroziczky zum Wiener Hof geschickt, um die Komitatsinteressen dort zu vertreten.76 Das Ergebnis dieses Auftrags war die Anwerbung des Notars der Ungarischen Hofkanzlei Peter Végh. In den Akten des Bodroger Komitats taucht Végh als Agent des Komitats bei der Kanzlei auf. Er wurde für seine Dienste auch bezahlt.77 Végh informierte Osztroziczky regelmäßig über den Stand und die Lage des Abgrenzungsprozesses78 und übermittelte auch Kopien von Akten aus der Ungarischen Hofkanzlei.79 75 „So vil ich de Adversa Parte von ihren Documentis nachricht habe, sollen sie von der Familia Tassi gewisse Donation bekommen haben, in welher Donation gewise Dörfer sollen specificiert seyn, die Ich würklich in meinem Comitat im Possess habe; herentgegen habe ich auch in meinem Documentis ex parte familiæ Csuzianæ, wo gewise Dörfer benennet seyn, welche würklich die herren Bacher possidiren, und der verstorbene herr Judex Glavoniz mir nit adiudicirt hat.“ MNL, OL, N 9, Lad. 33, F. 8NB, No. 12, 101. 76 Vgl. AV, F 2, Knj. br. 104, 2. 77 Am 31. Juli 1717 wurden ihm 200 Gulden als Sold für zwei Jahre übermittelt. Vgl. AV, F 2, Knj. br. 104, 6. István Fazekas stellt fest, dass die Geschäftsordnung der Ungarischen Hofkanzlei aus dem Jahr 1690 den Kanzleibediensteten den direkten Kontakt mit den Parteien verboten hat. Sie hätten die Dienste von gesondert ausgebildeten Agenten in Anspruch nehmen sollen. In einem Fall, in dem diese Regelung nicht eingehalten wurde, nennt Fazekas gerade Peter Végh, der auch für László Ebergényi als Agent tätig gewesen sei. Vgl. Fazekas, Kancellária, wie Anm. 39, 1134. 78 Eine Sammlung von 17 Briefen ist im Bácser Komitatsarchiv erhalten: AV, F 2, 110/1716. Die Briefe wurden von Károly Trencsény ediert: Károly Trencsény, Adatok Bács és Bodrog vármegyék peréhez [Daten zum Prozess zwischen den Komitaten Bács und Bodrog]. In: BácsBodrogh Vármegyei Történelmi Társulat Évkönyve 21 (1905), 2, 46–59; Ders., Adatok Bács és Bodorg vármegyék peréhez [Daten zum Prozess zwischen den Komitaten Bács und Bodrog]. In: Bács-Bodrogh Vármegyei Történelmi Társulat Évkönyve 22 (1906), 2, 59–72. 79 „Comet [bei Trencsény fälschlich Comes] Uramra penig már, a minth meg irtam, expedialtatot, melynek vidimalt Copiaját […] kiszerzem […]“ (An Herrn Comet, wie ich schon geschrieben habe, wurde bereits expediert, eine vidimierte Kopie dessen werde ich beschaffen). AV, F 2, 110/1716, 379. Auch im Protokollbuch des Bodroger Komitats wurde ein Brief Véghs vom 27. August 1717 diesbezüglich registriert, in dem er darüber berichtete, dass aus der Ungarischen Hofkanzlei an Joseph Comet (Kameralprovisor in Szeged) geschrieben wurde, dass er die Trennung der Komitate nicht verhindern solle. AV, F 2, Knj. br. 104, 6.

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Im heute noch erhaltenen Archiv des Bácser Komitats ist keine zusammenhängende Aktenüberlieferung über den Abgrenzungsprozess vorhanden. Die noch erhaltenen, den Prozess betreffenden Akten befinden sich zerstreut in der chronologischen Ordnung des Archivs.80 Neben dem anfangs erwähnten Bodroger Protokollbuch sind im Komitatsarchiv zwei weitere Bände erhalten, die von der Sammlung von Akten zeugen, die im Grenzstreit als Beweise dienen konnten.81 Einer dieser Bände trägt den Titel „Verzeichnis der Akten über die Teilung des Bács-Bodroger Komitats“.82 Im Gegensatz zu dieser Bezeichnung beinhaltet der Band keine Listen, sondern zusammengebundene Akten. Diese betreffen den Abgrenzungsprozess der Komitate Bács und Bodrog aus den Jahren 1716 und 1717. Alle Akten im Bündel sind Kopien, mit nachgeahmten Unterschriften und mit den typischen Stempelandeutungen in Form von in einem Kreis stehenden LS-Zeichen (locum sigilli)83 . Die einzelnen Schriftstücke des Bandes wurden auf Bögen unterschiedlicher Größe und Qualität und von unterschiedlichen Schreibern angefertigt. Auf der Rückseite jedes Schriftstückes wurden das Datum und eine Nummer vermerkt. An einigen Akten ist auch eine Beglaubigungsschrift vorhanden, die aber auch nur mitkopiert wurde. Bei diesem Aktenband handelt es sich um eine Abschrift der schon besprochenen Aktensammlung aus dem Palatinalarchiv.84 Die einzelnen Kopien wurden wahrscheinlich noch in der Registratur des Palatins angefertigt. Wenn

80 Das Komitat führte im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts keine gesonderte Registratur. Die Anweisungen, Berichte und Mitteilungen wurden in den Komitatsversammlungen (congregatio) erledigt und nur in den Versammlungsprotokollen (zusammen mit eventuellen Erledigungen) vermerkt. Die eingelaufenen Schriftstücke wurden nach den Kongregationssitzungen (dem Provenienzprinzip folgend) archiviert. Die Protokollbücher sind für den Anfang des 18. Jahrhunderts nicht erhalten. Vgl. Матковић, Жупанија, wie Anm. 6, 6–7. Bei der Ordnung des Fonds des Komitats Bács-Bodrog im Archiv der Vojvodina ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden die Dokumente aus dem 17. und 18. Jahrhundert in eine chronologische Ordnung gebracht. Vgl. Fondbeschreibung: Ф 2 – Бачко-Бодрошка жупанија [F 2 – Komitat Bács-Bodrog], online verfügbar unter: https://arhivvojvodine.org.rs/index. php/sr/fondovi-i-zbirke/fondovi-i-zbirke-arhiva-vojvodine/830-rs-002-f-2 (letzter Zugriff: 20.02.2020). 81 Vgl. AV, F 2, Knj. br. 220; AV, F 2, Knjiga br. 221. Bei dem Band mit der Archivsignatur 220 handelt es sich auch um zusammengebundene Aktenlisten mit Kurzbeschreibungen über den Inhalt von einzelnen Akten (elenchus). Sie beziehen sich auf Akten, die im Archiv der Ungarischen Hofkanzlei gesucht und gefunden worden sind. Die Listen sind wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem letzten Versuch um eine Wiederaufnahme des Grenzprozesses in den 1760er Jahren entstanden. Vgl. Iványi, Bodrog, wie Anm. 16, 40–41. 82 „Spisak akata o deobi Bačko-Bodroške županije“ [Liste der Akten über die Trennung des Komitats Bács-Bodrog], AV, F 2, Knj. br. 221. 83 Vgl. Hochedlinger, Aktenkunde, wie Anm. 7, 48. 84 MNL, OL, N 9, Lad. 33, F. 8NB.

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im Archiv des Palatins eine Akte nur als Abschrift vorhanden war, wurden sowohl die Präsentationsvermerke der Palatinalkanzlei abgeschrieben als auch die Beglaubigungen mitkopiert. Dies weist darauf hin, dass die Kopien von schon registrierten bzw. archivierten Akten angefertigt und nicht unmittelbar im Lauf des Prozesses aus der Palatinalkanzlei an das Komitat weitergeleitet wurden. Das Aktenbündel des Komitats beinhaltet nur die ersten zehn nummerierten Aktenstücke aus dem Palatinalarchiv.85 Die Aktenreihung folgt nicht der des Palatinalarchivs, trotz der vorhandenen Nummerierung auf der Rückseite, die mit der Nummerierung des Originalbündels übereinstimmt. Die Akten konnten in dem neuen Kontext bei der streitenden Partei eine andere Bedeutung bekommen haben. Es wurde mit den erlangten Abschriften weiter gearbeitet. Bei den Vorbereitungen auf die neuen Phasen des Grenzprozesses sollten die Akten nach der Prozessführungslogik einer der beteiligten Parteien neu sortiert werden.86 Die Suche nach den sich wandelnden Grenzen manifestierte sich hier ebenfalls in der abgeänderten Reihenfolge der Akten. Die kopierten Akten verwandelten sich hier von archivierten Schriftstücken wieder in Beweismaterialien und wurden den jeweiligen Grenzkommissionen als solche vorgelegt. Die Entscheidungen der Kommissionen wurden anhand dieser vorgelegten Schriftstücke getroffen, auch dann, wenn die in den Akten erwähnten Ortschaften nicht mehr auffindbar waren. Die in den Akten beschriebenen Räume stimmten mit bei den einzelnen Grenzbegehungen vorgefundenen Ortschaften oft nicht überein.87 Die Komitatsgrenzen wurden aber trotzdem nicht bei Ortsbegehungen gezogen und nachträglich schriftlich festgehalten. Die Grenzziehung folgte einer anderen Logik: Die Grenzen sollten in den Akten gefunden werden. Die so von den Akten bestimmten, von den Akten gezogenen Grenzen wurden in einem physischen Raum nicht eindeutig implementiert. Die Akten der Kommissionsentscheidungen dienten meistens als Grundlage für weitere Prozesse, in denen sie Teil der neuangelegten Aktensammlungen für die neuen Grenzziehungsversuche geworden sind. Sie erwachten in den weiteren Phasen des Prozesses zu neuem Leben, bewegten sich innerhalb der Aktenbündel und schließlich sollten sie auch zur Bewegung der Komitatsgrenzen beitragen.

85 Eine Erklärung für die Unvollständigkeit der Kopiensammlung könnte wiederum ein früher Anfertigungszeitpunkt sein, zu dem noch keine weiteren gesammelten Akten in der Registratur der Palatinalkanzlei vorlagen. 86 Es kann selbstverständlich nicht ausgeschlossen werden, dass die neue Reihenfolge rein zufällig, z. B. bei der Einbindung der Akten, entstanden ist. 87 Vgl. Magyar, Territorien, wie Anm. 10, 30–32.

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Das Archiv der Ungarischen Kammer Johann Adam Thau, der Kameralprefekt von Szegedin (ung. Szeged)88 schrieb in seinem Bericht über den Stand des Abgrenzungsprozesses zwischen dem Bácser und dem Bodroger Komitat am 10. März 1721 an die Wiener Hofkammer, dass er über „die höchst schädliche Separation zwischen beeden Comitaten Bács und Bodrog“ schon früher berichtet habe. Er merkte an, dass ausgenommen der Güter um den Ort Bács, die dem Erzbischof Csáky gehören, des Dominiums in Futak und zwei kleiner Einöden Legyen und Borsod, die dem Grafen Ludwig von Buttler gehörten, das ganze restliche Gebiet über den sich die beiden Komitate streiten würden, fiskalische Güter ausmachten. Dort würden aber die Untertanen von dem Rechtsstreit der beiden Komitate „solcher gestalt enervirt ausgesaugt, und mit einem worth zusagen, geschuntten“, schrieb Thau, dass er Angst habe, sie würden aus dem Gebiet wegziehen.89 Die Hofkammer hat mit diesen von Thau angegebenen Argumenten mehrmals versucht, bei der Ungarischen Hofkanzlei die Aussetzung des Prozesses zu erwirken. Demnach sollte den Parteien die Möglichkeit auf erneute Wiederaufnahme des Prozesses zur Einreichung neuer Dokumente untersagt werden,90 oder zumindest sollte die Weiterführung der Abgrenzung „auf gluckseeligere Zeiten“ verschoben werden.91 Die Ungarische Hofkanzlei bezog sich aber in ihrem Antwortschreiben auf die ungarischen Gesetze und Landtagsbeschlüsse, die eine Weiterführung eines Prozesses, im Fall wenn neue Beweisdokumente bekannt werden, ausdrücklich erlauben würden. Somit hätte das Ansuchen der Komitate auf einer Wiederaufnahme des Prozesses nicht gänzlich abgewiesen werden können.92 Obwohl die Hofkammer durch ihre Präfekturen die meisten Güter in dem strittigen Gebiet selbst verwaltete, konnte sie die Organisation der Komitate in Südungarn nicht steuern. Diese gehörten in den Zuständigkeitsbereich der Ungarischen Hofkanzlei. Die Administration der Kameralgüter verlangte

88 Johann Adam Thau war der Nachfolger des schon erwähnten Joseph Comets in der Szegediner Präfektur. Die Präfektur Szegedin, zu der auch das Gebiet der streitenden Komitate Bács und Bodrog gehörte, blieb nach der Auflösung der Ofener (ung. Buda) Kameraladministration 1709 direkt der Wiener Hofkammer unterstellt und gehörte weiterhin nicht unter die Zuständigkeit der Ungarischen Kammer in Preßburg. 89 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Finanz- und Hofkammerarchiv (FHKA), Alte Hofkammer (AHK), Hoffinanz Ungarn (HFU), Karton (Kart.) 1201, fol. 1239r –1239v (31.03.1721). 90 Ebd., fol. 1238r –1238v (31.03.1721). 91 Ebd., Kart. 1202, fol. 146r –146v , 149r –149v (09.04.1721), sowie MNL, OL, Magyar kancelláriai levéltár, Insinuata Camerae Aulicae (A 10), 1721.04.21. 92 ÖStA, FHKA, AHK, HFU, Kart. 1202, fol. 147r (09.04.1721).

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aber nach genauen Informationen über die Lage vor Ort. Diese holte die Kammer meistens von ihren vor Ort tätigen Bediensteten ein, ersuchte aber um Mitteilungen sowohl bei der Ungarischen Hofkanzlei als auch bei dem Palatin. Im Archiv der Ungarischen Kammer befindet sich in einer Sammlung verschiedener Prozessakten ein Kopialbuch über den Prozesses des Bácser Komitats gegen das Bodroger Komitat.93 Das Archiv der Ungarischen Kammer wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei der Ungarischen Kammer in Preßburg angelegt. Im Archiv wurden die Akten gesammelt, die nicht aus der Registratur der Kammer stammten, aber eine Bedeutung für die Kameralverwaltung und für die Wahrung fiskalischer Rechte hatten. Hier wurden auch diejenigen Akten aufbewahrt, die die Kammer von anderen Institutionen, ausgestorbenen Familien, aufgelösten Klöstern, aber auch von der Wiener Hofkammer übernommen hatte.94 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden auch die restlichen, noch der Wiener Hofkammer unterstehenden Kammergüter in Ungarn der Ungarischen Kammer unterstellt. Das Schriftgut, das diese Güter betraf, sollte für die Ungarische Kammer erreichbar sein. Das Kammerarchiv übernahm in dieser Zeit einerseits originale Akten, ließ aber andererseits auch Kopien von Prozessakten anfertigen.95 Wo, in wessen Auftrag und von wem das erwähnte Kopialbuch über den Abgrenzungsprozess entstanden ist, lässt sich aus den vorhandenen Hinweisen nicht bestimmen.96 Das Archiv der Ungarischen Kammer wurde seit dem 18. Jahrhundert nach den archivalischen Prinzipen der Zeit aufgearbeitet und geordnet. Aus den vorhandenen zahlreichen Prozessakten wurden mehrere Sammlungen angelegt. Die für die Kammer als wichtig erachteten Prozesse wurden in den Fonds „Neo-regestrati processus“ eingefügt, diejenigen, die die Archivare als nicht registrierwürdig einstuften, kamen in die Sammlung „Varii processus“. Das in die Sammlung der „verschiedenen Prozesse“ eingeordnete Kopialbuch über die Komitate Bács und Bodrog wurde auf seiner Titelseite als eine Serie der Schriften (Untersuchungen, Urteile, Ausführungen und Berichte)97 des Prozesses des Bácser Komitats gegen den Bodroger Komitat bezeichnet. Es beinhaltet insgesamt 352 nummerierte Seiten. Alle diese Seiten sind durchgehend beschrieben. Der Text präsentiert sich in einer fließenden Form, er wird mit 93 MNL, OL, Magyar kincstári levéltárak, Magyar Kamara archívuma, Varii processus [Ungarische Kammerarchive, Archiv der Ungarischen Kammer, Varii processus] (E 164), No. 84. 94 Vgl. Ferenc Maksay, A Magyar Kamara archívuma [Das Archiv der Ungarischen Kammer]. Budapest 1992, 7–8. 95 Vgl. ebd., 94, 80–81. 96 Die auf den Buchdeckel geklebte Betitelung stammt wahrscheinlich aus der Zeit der archivalischen Erfassung im Archiv der Ungarischen Kammer und stimmt nicht überein mit der eigentlichen Titelseite des Buches. 97 „Serie Literæ Adjudicatoriæ, Sententionales, Executoriaæ, Relatoriæ.“ MNL, OL, E 164, No. 84.

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keinen Leerzeilen oder Absätzen unterbrochen. Nur durch genaues Lesen wird erkennbar, dass es sich hier nicht um einen tatsächlich zusammenhängenden Text handelt, sondern einzelne Akten, mit allen ihren Bestandteilen in das Buch hineinkopiert wurden. So wurden auch die Unterschriften, Beglaubigungen und Stempelzeichen Teil des Fließtextes, der Einheit vermittelt, mit der ersten Seite ansetzt und mit der 352. Seite aufhört. Die mehrmals vorhandenen Wechsel zwischen der lateinischen und der ungarischen Sprache werden aufgrund der gleichen Schrift nur bei genauem Lesen bemerkbar. Eine schnelle Orientierung, die Erkennung der einzelnen Akten, die Bestimmung der Chronologie, gar eine Analyse ist kaum möglich. Die Akten des Prozesses sind zusammengewoben worden in eine Textur, in einen Textkörper, der nur durch kontinuierliches Lesen erschließbar wurde. Der lange Abgrenzungsprozess präsentiert sich hier wie ein einheitlicher Lesestoff, der nicht auseinandergenommen, in Einzelteile zerlegt werden kann. Die sich bewegende, im Laufe des Prozesses sich wandelnde Grenze wurde hier in einem Schriftstück zusammengefasst. Der Abgrenzungsprozess, der in den bisher besprochenen Fällen in einer mehr oder weniger fest aufeinander folgenden Aktenreihe beschrieben wurde, war hier in eine einzige Akte umgewandelt. Diese gibt den ganzen Prozess der Grenzfindung vom 1715 bis 173098 in der Form eines Textgewebes wieder und macht den Prozess und damit auch die Grenze unveränderbar, nicht mehr verwandelbar und verhandelbar. Der Prozess ist in das Archiv gelangt. Schlussbetrachtungen Nachdem der neuernannte Bodroger Obergespan Leopold Draskovich die Akten des Abgrenzungsprozesses seines Komitats gesichtet hatte, gab er seinem Unmut freien Lauf. Der Statthaltereirat folgte der schon erwähnten Anweisung der Ungarischen Hofkanzlei, und händigte am 9. Dezember 1746 die den Prozess betreffenden Akten an Draskovich aus.99 Dieser schrieb danach einen Brief an die Kommission, die vom Statthaltereirat zur Auslotung der Trennungsmodalitäten und zur Durchsicht der vorhandenen Akten ernannt worden war. Draskovich fasste die für ihn kaum lösbar erscheinenden Probleme, die er in den Akten vorgefunden hatte, zusammen, indem er von der Erschütterung 98 Die erste in das Kopialbuch aufgenommene Akte ist zwar die für Andreas Berkes vom Palatin Nikolaus Pálffy erteilte Mandat zur Neuaufnahme des Prozesses vom 2. Mai 1720, es sind aber die Akten der früheren Entscheidungen auch auffindbar. Vgl. MNL, OL, E 164, No. 84, 3–7. 99 In einer Reverskopie wird unter anderem die Aushändigung des schon analysierten Protokollbuchs des Bodroger Komitats im Original erwähnt. MNL, OL, Magyar kancelláriai levéltár, Litterae Consilii Regii Locumtenentialis Hungarici (A 23), 1747, No. 259, 2.

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der zugestandenen Rechte, Trennung alter Grenzen und die Verwandlung von alten Namen der Güter und Orte schrieb.100 In diesem von Draskovich geschilderten (Akten-)Zustand, konnte man sich kaum auf etwas Festes, Kodifiziertes beziehen. Das Recht, die Grenzen, das Territorium war in Entstehung, Bewegung und Verwandlung. Bezug nehmen auf schon Vorgebrachtes konnte man nur, indem man dieses vollständig zitiert, als vorhandene Akte im Original oder als Kopie weitergegeben hatte. In diesem Zusammenhang musste die Autorität der Schrift bzw. der Akte nicht unbedingt in ihrem Inhalt gesucht werden. Dieser war unbeständig, verwandelbar, je nach Zusammenstellung anders interpretierbar. Die Akte, das schriftliche Dokument, die (beglaubigte) Urkunde blieb aber das wichtigste Beweismittel, die Aktensammlung und die Aktenstudie bildeten den Kern der Grenzziehung und des Abgrenzungsprozesses. Dabei war das physische Vorhandensein der Akten maßgebend. Die Formen reichten von Signaturlisten mit Verweisen auf archivierte Schriftstücke in der Hofkanzlei, über gesammelte, in Aktenbündeln zusammengefasste Originalschreiben in der Registratur des Palatins und zusammengebundene, einzelne Aktenkopien im Komitatsarchiv, bis zu einem Kopialbuch im Archiv der Ungarischen Kammer. Die Akten wurden gesammelt und miteinander verbunden. Ihre Verbindungen, die Aktennetze, führten durch zahlreiche Institutionen, in denen die Akten konzipiert, registriert, kopiert und verschickt wurden. Hier wurde über die Grenze, über den zu lösenden Fall der Abgrenzung des Bodroger von dem Bácser Komitat, der in den Akten festgeschrieben war, diskutiert und entschieden. Die Grenze wurde in Akten transferiert und die Akten verwandelten, bewegten die Grenze. Am Ende des ganzen textuellen Verwandlungsprozesses stand der Fall in einer verrechtlichten Form. Die Akten, die gruppiert, verschoben, gelesen, interpretiert und vor allem verwaltet wurden (registriert, beraten, konzipiert, herausgegeben, verschlagwortet, archiviert, in den Archiven gesucht und gefunden), verwandelten sich in einen Rechtsfall, der nach der Ablage, nach der Archivierung als solches registriert wurde. Die Verbindungsfäden flossen im Kopialbuch der Ungarischen Hofkammer am Ende des Prozesses zusammen, der Fall bekam eine vorerst feste Textur und wurde im Archivregal abgelegt.101

100 „convulsionem legalium Jurium, avulsionem Avitorum Limitum, metamorphosem nominum antiquarum Possessionum & Praediorum.“ MNL, OL, A 23, 1747, No. 259, 3. 101 Zum Umlauf und Abschluss von Akten vgl. Stefan Nellen, Die Akte der Verwaltung. Zu den administrativen Grundlagen des Rechts. In: Marcus Twellmann (Hg.), Wissen, wie Recht ist. Bruno Latours empirische Philosophie einer Existenzweise. Konstanz 2016, 65–91, hier 81. Den physischen Unterschied zwischen Akten und gedruckten, autorisierten Texten zeigt auch Latour: Latour, Rechtsfabrik, wie Anm. 8, 104. Als Beispiel aus der frühneuzeitlichen Verwaltung können die zur Aktenarchivierung parallel geführten sogenannten Gedenkbü-

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Der Wandel, der den Prozess bewegte, die Verschiebung, Ergänzung, Umstrukturierung der Akten war nicht mehr möglich. Die Akten wurden fest zusammengewoben, ihre Verbindungsfäden führten nicht mehr unmittelbar zu den Orten, von denen sie abstammten, zu den Kommissionen und Kanzleien, die sie erstellt und kopiert hatten. Am 28. November 1765, fünf Jahre nach dem Tod von Leopold Draskovich, ernannte Maria Theresia den Grafen Anton (ung. Antal) Grassalkovich (1734–1794) zum Obergespan des Bodroger Komitats. Die Lage seines Komitats war unklar. Der Stoff musste wieder entfaltet werden. Die Akten mussten die Archivregale erneut verlassen.102

cher in der Wiener Hofkammer angesehen werden. In diese wurden einzelne als wichtig erachtete Akten im vollen Wortlaut hineinkopiert: ÖStA, FHKA, AHK, Gedenkbücher. 102 Der Abgrenzungsprozess beider Komitate wurde endgültig erst mit dem 8. Artikel des ungarischen Landtags aus dem Jahr 1802 erledigt: Die Komitate Bács und Bodrog wurden, weil sie sowieso schon lange zusammen verwaltet worden waren, rechtmäßig vereinigt. „Bodroghiensi comitatu cum Bacsiensi a longiore tempore conjunctim administrato: comitatus ejusdem Bodroghiensis cum Bacsiensi unio articulariter declaratur.“ Dezső Márkus (Hg.), Corpus juris Hungarici – Magyar törvénytár. 1740–1835. évi törvényczikkek. Budapest 1901, 284.

Hüseyin Onur Ercan

„Tyrk will frid“ Der Friede von Passarowitz aus osmanischer Sicht

Während des militärischen Konflikts zwischen den Osmanen und Habsburgern von 1716 bis 1718 erlitten die Osmanen in Peterwardein, Temesvár und Belgrad unerwartete Niederlagen gegen die habsburgischen Truppen unter dem Oberbefehl von Prinz Eugen. Diese Rückschläge verursachten am osmanischen Hof Unruhe, worauf sich die osmanische Staatsspitze Anfang September 1717 zu einem Bemühen um einen Waffenstillstand oder Frieden durchrang. Es war kein Versuch, den Gegner hinzuhalten oder zu betrügen, sondern man war bereit, die Aufforderung des Wiener Hofs, einen Frieden nach dem Grundsatz „uti possidetis“ zu schließen und zu akzeptieren. Tatsächlich entsprach der Eintrag Kaiser Karls VI. in seinem Tagebuch vom 16. September 1717 den osmanischen Intentionen: „Tyrk will frid“. Der Aufsatz versucht im Rahmen der erhaltenen osmanischen Chroniken und archivalischen Quellen die Reflexion der Friedensverhandlungen und letztendlich des Passarowitzer Friedens aus osmanischer Sicht zusammenzufassen. Zudem sollen die jeweiligen Akteure und deren Einflussmöglichkeiten im Fokus stehen. Einleitung Nachdem die Hohe Pforte der Republik Venedig im Dezember 1714 mit dem Vorwurf, Venedig habe eine Reihe von Friedensbedingungen von 1699 gebrochen, den Krieg erklärt und im Laufe des Jahres 1715 mit ihren überlegenen Flottenverbänden und Landstreitkräften die Halbinsel Morea (Peloponnes), die sie durch den Frieden von Karlowitz (serbisch Sremski Karlovci) verloren hatte, endgültig den Venezianern entrissen hatte, gestaltete sich die Situation für die Dogen-Republik kritisch. Im September wurde die venezianische Position in Griechenland unhaltbar, nur die Insel Korfu verblieb Venedig. Zudem erneuerte Kaiser Karl VI. aufgrund politischer Erwägungen zum künftigen Bedrohungspotential der eigenen Länder und durch Papst Clemens XI. moralisch gedrängt und finanziell unterstützt am 13. April 1716 die Heilige Allianz mit

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der Serenissima.1 Das Eingreifen der Habsburger, welches die Osmanen bereits durch ein freundschaftliches Schreiben Großwesir Ali Paschas (1667–1716) an Prinz Eugen, das ihm der Gesandte Ibrahim Müteferrika (um 1670–1745) am 13. Mai 1715 übermittelt hatte, vermeiden wollten,2 brachte einen raschen Umschwung der Kampagne. Obwohl die Osmanen, wie die amtliche und zeitgenössische osmanische Geschichtsschreibung nahe legt, ursprünglich keinen Krieg gegen die Habsburger anstrebten, erschien dieser nun unvermeidlich.3 In dem folgenden militärischen Konflikt, mit dessen Ausweitung die Pforte nicht gerechnet hatte, erlitt das osmanische Heer in Peterwardein (5. August 1716) und Temesvár (13. September 1716) unerwartete Niederlagen gegen die habsburgischen Truppen unter dem Oberbefehl von Prinz Eugen von Savoyen. Diese wiesen auf dem Papier eine Stärke von 86.000 Mann auf.4 Der Verlauf des Venezianisch-Österreichischen Türkenkriegs (1714/16–1718, auch der Sechste Österreichische Türkenkrieg genannt), der von der Geschichtsschreibung bereits detailliert erforscht und bearbeitet wurde,5 braucht hier nicht wiederholt zu werden. Der Aufsatz konzentriert sich auf die Frage, wie

1 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Kriegsarchiv, Hofkriegsrat, Protokoll 507 (Exp. 1717), September Nr. 266. S. Ludwig Bittner, Chronologisches Verzeichnis der Österreichischen Staatsverträge, Bd. 1: Die Österreichischen Staatsverträge von 1526 bis 1763. Wien 1903, 132 Nr. 699. 2 Cumhurbaşkanlığı Devlet Arşivleri Başkanlığı Osmanlı Arşivi [Osmanisches Archiv] (BOA), Nâme-i Hümâyûn Defterleri (A.DVNS.NMH.d), Nr. 6, 313–340. 3 Mehmed Râşid, Târih-i Râşid ve Zeyli [Die Geschichte von Raşid], II, hg. von Abdülkadir Özcan u. a. İstanbul 2013, 983. 4 Max Braubach, Prinz Eugen von Savoyen, Bd. 3: Zum Gipfel des Ruhmes. Wien 1964, 302–330; Michael Hochedlinger, Austria’s War of Emergence. War, State and Society in the Habsburg Monarchy 1683–1797. London 2003, 194. 5 Als Beispiele siehe Ludwig Matuschka, Feldzüge des Prinzen Eugen von Savoyen. Nach den Feld-Acten und anderen authentischen Quellen. Der Türken-Krieg 1716–18. Feldzug 1717/18. II. Serie – VIII. Band. Wien 1891; Charles Ingrao / Nikola Samardžić / Jovan Pešalj (Hg.), The Peace of Passarowitz, 1718. Indiana 2011; Braubach, Prinz Eugen, wie Anm. 4; Hakan Karagöz, Pasarofça Barışı’na Giden Süreçte Osmanlı-Habsburg Rekabeti [Die Rivalität zwischen den Osmanen und Habsburgern während des Verlaufes der zum Frieden von Passarowitz führt] (1716–1717). In: Gültekin Yildiz (Hg.), Harp ve Sulh. 300. Yılında Pasarofça Antlaşması Sempozyumu Bildirileri. İstanbul 2019, 55–84. Zu einer der älteren deutschsprachigen und wichtigen Literatur bezüglich dieses Krieges und des Passarowitzer Abkommens ist u. a. zu nennen Joseph von Hammer-Purgstall, Geschichte des Osmanischen Reiches. Großentheils aus bisher unbenützten Handschriften und Archiven (GOR). Bd. VII: Vom Carlowiczer bis zum Belgrader Frieden, 1699–1739. Pest 1831, 203–237, bzw. Johann Wilhelm Zinkeisen, Geschichte des Osmanischen Reiches in Europa, Bd. 5: Fortschreitendes Sinken des Reiches vorzüglich unter dem Einflusse der wachsenden Macht Rußlands, vom Ausgang des Krieges mit Venedig im Jahre 1669 bis zum Frieden zu Kutschuk-Kainardsche im J. 1774. Hamburg 1857, 461–575.

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die Friedensverhandlungen, die von osmanischer Seite erstmals am 5. September 1717 eingeleitet wurden und mittels der Bevollmächtigten des Kaisers und des Sultans offiziell am 5. Juni 1718 in Passarowitz (serbisch Požarevac) begannen, und letztlich der Passarowitzer Frieden selbst aus osmanischer Sicht wahrgenommen wurden. Diese Frage soll im Folgenden anhand der erhaltenen osmanischen Chroniken und archivalischen Quellen beantwortet werden. Vorab soll eine Zusammenfassung der Friedensvorschläge vor diesem Datum erfolgen. Nach dem Tod des Großwesirs Ali Pascha in Peterwardein folgte ihm der Kommandant der Festung von Belgrad, Halil Pascha (gest. 1733), am 22. August 1716 nach.6 Er war, wie sein Vorgänger, dem Krieg zugeneigt und suchte durchaus den Waffengang mit der kaiserlichen Armee. In der Zwischenzeit erbat sich der als Gefangene des Sultans angesehene und von 1711 bis 1716 als kaiserlicher Resident im Osmanischen Reich verbliebene Franz Anselm von Fleischmann am 28. September 1716 während einer Unterredung mit türkischen Offizieren die Erlaubnis, Friedensverhandlungen einzuleiten, unter der Bedingung, dass man ihn freilasse und ihm die Möglichkeit gewähre, die Verhandlungen mit den maßgebenden Personen selbst zu führen. Der neue Großwesir schickte Ende September den damaligen Dragoman der Hohen Pforte (1709–1717) und Hospodar des Fürstentums Walachei (1716–1719), Johann Maurocordato7 (in den osmanischen Quellen Yenaki Bey), zum Zweck weiterer Verhandlungen nach Belgrad. Er traf am 1. Oktober mit Fleischmann zusammen und betonte die Friedensbereitschaft des Sultans Ahmed III. (1703–1730)8 und ersuchte ihn, einen Kurier an Prinz Eugen zu senden, um vor allem einen Waffenstillstand zu vermitteln, in den jedoch Temesvár nicht einbezogen sein sollte. Eugen vermutete, dass sich Fleischmann ohne jegliche kaiserliche Vollmacht in solche Besprechungen eingelassen hatte, um sich der türkischen Haft zu entledigen, und verlangte daher die sofortige Freistellung des Residenten. Erst dann sollte dieser die Friedensvorschläge der Pforte befördern, denen gegenüber der Prinz nicht prinzipiell abgeneigt war. Am 30. Oktober 1716 wurde Fleischmann in der Tat in Banowitz freigelassen und durch den Obristleutnant Freiherr von Löffelholz übernommen, jedoch war damit noch kein Frieden in Aussicht. Vermittlungsanträge seitens der Seemächte Großbritannien und der Generalstaaten von September 1716 bis Juni 1717, einen Ausgleich zwischen den beiden kriegführenden Mächten herbeizuführen, hatten keinen Erfolg. Diese diplomatischen Bemühungen 6 Abdülkadir Özcan, Arnavut Halil Paşa. In: Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Ansiklopedisi [Diyanet-Stiftung Türkei, Enzyklopädie des Islam] (TDVIA) 38 (2010), 323. 7 Alexandre A. C. Sturdza, L’Europe Orientale et le Role Historique des Maurocordato 1660–1830. Paris 1913, 38, 91. 8 Münir Aktepe, Ahmed III. In: TDVIA, wie Anm. 6, 2 (1989), 34–38.

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wurden durchaus als Einmischungsversuche der Seemächte vor allem für ihre eigenen Zwecke wahrgenommen und daher vom kaiserlichen Hof als nachteilig abgewiesen.9 Der Wiener Hof hoffte auf eine bilaterale Verständigung mit dem osmanischen Hof, allerdings ohne Vermittlung. Aufgrund der Entwicklungen gelang vorerst keine Einigung, dazu musste noch mehr als ein Jahr vergehen. Zwei beinahe am gleichen Tag stattfindende militärische Geschehnisse bestimmten den weiteren Gang der Dinge, sodass nun beide Höfe das Einverständnis für einen Waffenstillstand und einen Friedensvertrag, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, anstrebten. Am 18. August 1717 kapitulierte, für die Osmanen unerwartet, Belgrad,10 eine der zentralen, strategisch und geopolitisch wichtigsten Festungen des Balkans, die seit Juni von einem stattlichen, von einer Donauflotte verstärkten kaiserlichen Heer eingeschlossen war. Feldmarschall Prinz Eugen konnte nach Zurückdrängen eines osmanischen Entsatzheeres unter dem Oberbefehl von Halil Pascha am 22. August 1717 in die Stadt einziehen.11 Am selben Tag landeten – dieses Mal auf kaiserlicher Seite unerwartet – die Truppen des bourbonischen Spanien in der Nähe von Cagliari, der Hauptstadt von Sardinien.12 Diese Wendepunkte der zweiten Hälfte des Jahres 1717 beschleunigten und verstärkten einerseits die Friedensneigung und die Kompromissbereitschaft der Osmanen und andererseits den Wunsch auf rasche Beendigung des Türkenkriegs in Wien.13

9 Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, 2–5; Braubach, Prinz Eugen, wie Anm. 4, 337–339. 10 Silâhdar Fındıklılı Mehmed Ağa, Nusretnâme [Die Geschichte von Silâhdar Fındıklılı Mehmed Aga], Tahlil ve Metin (1106–1133/1695–1721), hg. von Mehmet Topal. Diss. İstanbul 2001, 826. 11 Zur Schlacht um Belgrad Braubach, Prinz Eugen, wie Anm. 4, 344–358; Peter Broucek, Die Feldzüge Prinz Eugens. In: Karl Gutkas (Hg.), Prinz Eugen und das barocke Österreich. Salzburg – Wien 1985, 111–124, hier 119–121; Oswald Redlich, Das Werden einer Großmacht. Österreich 1700–1740. Wien 1962, 156–172; Karl Vocelka, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat. Wien 2001, 107f. 12 Ludwig Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. Mit Benutzung des päpstlichen Geheim-Archives und vieler anderer Archive. Freiburg in Breisgau 1930, 105. Genauere Erläuterung bei Mario Döberl, Das Königreich Sardinien 1708–1717. Eine Mittelmeerinsel an der Peripherie des habsburgischen Herrschaftssystems. Diss. Wien 2006. 13 „Schon in seinem Glückwunschschreiben vom 19. August hat der Kaiser den Prinzen daran erinnert, dass er doch keine Gelegenheit außer Acht lassen möge, noch im Felde allein Frieden zu schließen“ (Braubach, Prinz Eugen, wie Anm. 4, 364). Auch durch mehrere Sultansschreiben kann erfasst werden, dass Ahmed III. den Frieden begehrte. Vgl. Erhan Afyoncu, Sultan III. Ahmed’in Gözünden Pasarofça Barışı [Der Friede von Passarowitzaus der Sicht des Sultan Ahmeds III]. In: Gültekin Yildiz (Hg.), Harp ve Sulh. 300. Yılında Pasarofça Antlaşması Sempozyumu Bildirileri. İstanbul 2019, 8.

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Die Anbahnung des Friedens Als erster Friedensantrag der Osmanen gilt der Brief Mustafa Paschas, des früheren Kommandanten der Festung Belgrad, der in Nisch (Niš) am 5. September 1717 verfasst und am 10. September im Feldlager von Semlin Prinz Eugen erreichte.14 Dieses Ansuchen zur Friedensherstellung hatte die Billigung der osmanischen Staatsspitze.15 Das Schreiben beinhaltete territoriale Zugeständnisse (z. B. Belgrad, Grenzbestimmungen von Bosnien). Zudem sah der Friedensplan vor, dass der Fluss Morava von seiner Einmündung in die Donau bis zur Morava-Brücke die Grenze bilden sollte. Prinz Eugen äußerte sich in seinem Bericht an den Kaiser vom 12. September skeptisch über den Brief Mustafa Paschas. Er vermutete, dass der Kommandant zu seinem Angebot wohl kaum offiziell ermächtigt worden war und das Ganze nur einen Versuch darstellte, Gespräche einzuleiten.16 Trotz seines Misstrauens antwortete er dem Pascha noch am 12. September nicht abgeneigt und machte seine Gesprächsbereitschaft deutlich.17 Vier Tage später erfuhr der Kaiser von diesem Angebot und notierte in seinem Tagebuch am 16. September 1717 „Tyrk will frid“,18 eine Einschätzung, die tatsächlich die wahre Absicht der Osmanen wiederspiegelte. 14 Für die Edition und Übersetzung siehe Herbert W. Duda, Die Ersten Friedensfühler der Pforte nach der Eroberung von Belgrad im Jahre 1717. In: Documenta Islamica Inedita (1952), 263–273. Ungeachtet dessen wurde der Krieg im September in Bosnien, das von Kommandeur Köprülüzade Numan Pascha verteidigt wurde, fortgeführt. Prinz Eugen beauftragte seine Grenzkommandanten, unter dem Befehl von Generalfeldwachtmeister Freiherr von Petrasch, auf Bihač zu dringen und Novi und Zwornik einzunehmen. Doch misslangen die Unternehmungen und die geplante Postierung in Bosnien wurde daher unmöglich, weshalb viele Offiziere und einige hundert Mann den Tod fanden oder in Gefangenschaft gerieten. Das ganze Grenzkorps zerstreute sich. Schließlich entschied sich der Prinz, dass man erst im nächsten Jahr wieder daran denken könne, dort zu operieren. Vgl. Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, 207–210, 226f. Numan Pascha wurde vom Sultan für seine erfolgreichen Verdienste mit einem mit Edelsteinen versehenen Schwert und einem Zobelpelz belohnt. Vgl. Tayyib Gökbilgin, Köprülüler. In: M.E.B. İslâm Ansiklopedisi 6 (1977), 907. 15 Mustafa Pascha hatte sich hierbei dem Großwesir als Vermittler angeboten. Hierauf hatte der Großwesir mithilfe seines Stellvertreters (Sadâret Kaymakamı) und des Vertrauten sowie Schwiegersohn (Damad) des Sultans Ibrahim Pascha dem Sultan über die Sachlage Bericht erstattet, demzufolge dieser die Erlaubnis zur Einleitung von Verhandlungen gab. „Devlet-i Aliyye tarafından dahi matlûb-ı a‘dâ-yı dîn olan tecdîd-i sulha meyl ü müsâ‘ade var mıdır? deyü, suâl eyledükden sonra, başvekil tarafına sulh-ı matlûb için Devlet-i Aliyye indinde dahi müsâ‘ade ve kabul mergub olduğunu tercemânları vesâtatıyla murahhas u me‘zûn olduğu üzre inhâ vü i‘lâm eyledi“, Râşid, Târih-i Râşid, wie Anm. 3, 1072, 1075, 1101. 16 Duda, Friedensfühler, wie Anm. 14, 269–271. 17 Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, Supplement-Heft, 169f. Zu den Friedensbemühungen seitens des kaiserlichen Hofs s. allg. Braubach, Prinz Eugen, wie Anm. 4, 364–379. 18 „Tyrk will frid, gleich conf[erenz] inst[allieren]“, ÖStA, Haus-, Hof-, und Staatsarchiv (HHStA), Hausarchiv, Sammelbände 2, Tagebuch Kaiser Karl VI., Heft 10, 15v . Ich bin Herrn Kollegen

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Die Geheime Konferenz, die sich gemäß der Anordnung des Kaisers am 19. September versammelte, einigte sich darauf, den Friedensantrag anzunehmen und den Prinzen zu ermächtigen, über den Frieden ohne anderwärtige Vermittlung zu verhandeln und denselben abzuschließen.19 Diese Vorschläge wurden vom Kaiser gebilligt.20 Das aufgrund der erlittenen Rückschläge sowohl militärisch als auch finanziell erschöpfte Osmanische Reich21 wollte nun den Krieg beenden, bevor sich die Lage noch ungünstiger gestalten würde. Großwesir Halil Pascha, der mit seinem Entsatzheer nicht schlagkräftig genug agiert hatte und daher die Einnahme Belgrads nicht verhindern konnte, wurde für die Niederlage verantwortlich gemacht und am 26. August 1717 durch den Nişancı22 (Nischandschi) Mehmed Pascha, der sich bezüglich des Krieges nicht anders als sein Vorgänger verhielt, ersetzt.23 Sultan Ahmed III., der nach der Nachricht des Verlustes von Belgrad wieder nach Edirne (Adrianopel) zurückkehrte (15. Oktober), befahl Mehmed Pascha als Vorsichtsmaßnahme, sich mit dem Rest des Heeres noch einige Zeit in Niš aufzuhalten. Dieser folgte dem Sultan erst am 28. November.24 Am 29. September verfasste der Großwesir ein Schreiben an den Prinzen, worin er den Wunsch nach einem Waffenstillstand oder Frieden äußerte, um weiteres unnötiges Blutvergießen zu vermeiden.25 Außerdem kündigte er die Vermittlung durch den britischen Botschafter Edward Wortley-Montagu (1678–1761)26 an und bemühte sich um eine Festlegung des Verhandlungsortes. Damit war gerade das geschehen, was man von kaiserlicher Seite verhindern hatte wollen, nämlich die Einschaltung einer anderen Macht anstatt eines raschen und gleichzeitig zufriedenstellenden Ausgleichs. Das Schreiben wurde von Kozbekçi Musta-

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Dr. Stefan Seitschek, der mir großzügige Hilfe bei der Transkription des Tagebuches geleistet hat, zu herzlichem Dank verpflichtet. ÖStA, HHStA, Staatskanzlei (StK), Vorträge 22, Konferenzprotokolle und Referate (KR) (1717–1718), Konv. 3, 1r –2r . „Eine Vollmacht wurde ihm am 23. September, eine ausführliche Instruction jedoch erst am 13. Oktober 1717, nach Belgrad zugesendet.“ Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, 195. Münir Aktepe, Patrona İsyanı [Der Aufstand des Patronas] (1730). Istanbul 1958, 72. Der Nişancı oder Tevkīî, gehörte zu den hohen Beamten der osmanischen Staatsverwaltung. Es war seine Aufgabe, den großherrlichen Namenszug (Tuğra) auf die Staatsurkunden zu setzen. Özcan, Arnavut, wie Anm. 6, 323; Râşid, Târih-i Râşid, wie Anm. 3, 1072. Silâhdar, Nusretnâme, wie Anm. 10, 884–887. ÖStA, HHStA, Staatenabteilungen (StAbt), Türkei V, Passarowitz 1, 41–43. Isobel Grundy, Lady Mary Wortley Montagu. In: The Oxford Dictionary of National Biography: From the Earliest Times to the Year 2000 (Oxford DNB) 38 (2004), 754.

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fa Aga, der später als außerordentlicher Botschafter nach Schweden entsandt wurde (1727/28),27 nach Semlin, wo sich Prinz Eugen aufhielt, übermittelt.28 Der Prinz formulierte am 12. November in Wien eine Antwort, die am 11. Dezember 1717 in Edirne einlangte. Der wichtigste Punkt war der Anspruch, wie es in Karlowitz der Fall gewesen war,29 einen Frieden nach dem Grundsatz „uti possidetis“ oder „status quo post bellum“ (in den osmanischen Quellen „alâ hâlihî“), mit anderen Worten, „das zu behaupten, was man erobert hat“, abzuschließen. Der Grenzverlauf wurde von der Donaumündung des Timok bis Sabatsch (Šabac) und Belgrad entlang der Save festgelegt. Das bedeutete folglich, dass das Temesvárer Banat und Belgrad mitsamt der dazugehörigen Provinz Novi sowie auf der anderen Seite der Donau Orsova und in der Walachei die jenseits des Flusses Alt (Aluta) liegenden fünf Distrikte (auch Kleine Walachei oder Oltenien) in den Besitz der Habsburger fallen würden. In Edirne musste man sich mit diesen Forderungen nun auseinandersetzen. Der Diwan (höchste Ratsversammlung des Osmanischen Reichs), der in der Woche von 11. bis 17. Dezember 1717 (Hidschra 7–13 Muharrem 1130) stattfand, besprach dieses heikle Thema. Die osmanische Staatsspitze war in zwei Parteien gespalten, einerseits die Gruppe um den Großwesir Mehmed Pascha und die Offiziere, die den Krieg weiterführen wollten,30 andererseits die zum Frieden geneigten Ulemas (islamische Rechts- und Religionsgelehrte), der Şehyülislâm (höchster Gesetzeswürdenträger im Osmanischen Reich) Ebûishak İsmâil Efendi und Damad Ibrahim Pascha (1662–1730).31 Nach heftigen Diskussionen gelang es der Friedenspartei mit ihren Argumenten die Opponenten umzustimmen. Eine kurzfristige Stärkung der Armee war aufgrund der Rahmenbedingungen nicht möglich. Man kam zur Einigung, den Weg des Kompromisses und damit eines Friedens einzuschlagen; jedoch musste vom Kaiser die Wahl der Mediationsmächte berücksichtigt werden. Sultan Ahmed III. und seine namhaften Ratgeber erkannten aufgrund der wachsenden militärischen und finanziellen Probleme zunehmend die zwingende Notwendigkeit, mit den Habsburgern einen Friedensschluss einzugehen, da dieser in vielerlei Hinsicht günstiger war als ein weiterführender Krieg.32 27 Vgl. Theodor Westerin, Ett år i Stockholm. Samtida anteckningar om turkiska sändebudet Mustafa agas vistelse i Sverige 1727–1728. Stockholm 1904. 28 Esnâ-yı Musâlahada Tevârüd Eden Mekâtîb [Der Schriftwechsel während des Zeitpunktes des Friedens]. Suyolcuzâde Mehmed Necib (Autor). Topkapı Sarayı Müzesi Kütüphanesi [Bibliothek des Topkapi Palast Museums]. Revan Köşkü Nr. 1953, 59a–b . Eine Untersuchung sowie die Edition der Handschrift wird meinerseits vorbereitet. 29 Vgl. Rifa’at Ali Abou-El-Haj, Ottoman Diplomacy at Karlowitz. In: Journal of the American Oriental Society 87 (1967), 4, 498–512. 30 Silâhdar, Nusretnâme, wie Anm. 10, 895. 31 Münir Aktepe, Damad İbrâhim Paşa, Nevşehirli. In: TDVIA, wie Anm. 6, 8 (1993), 441–443. 32 Râşid, Târih-i Râşid, wie Anm. 3, 1082f.

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Nach der Genehmigung des Sultans wurden in der Woche vom 24. Dezember 1717 (Hidschra Evâhir-i Muharrem 1130) Silâhdar (Schwertknappe des Sultans) Ibrahim Efendi und Tophâne-i Âmire Nâzırı (Artillerieoberst) Çelebi Mehmed Efendi, der später als außerordentlicher Botschafter nach Paris geschickt wurde (1720–1721),33 zu Delegierten gewählt und aus diesem Anlass zum zweiten und dritten Defterdâr (Schatzmeister) ernannt.34 Des Weiteren wurde der in Bukarest weilende Johann Maurocordato beauftragt, der osmanischen Delegation als Dolmetscher beizustehen. Für die Zeit seiner Abwesenheit sollte er einen Vertrauensmann als Vertretung benennen.35 Der von der Hohen Pforte als „Anfang des Friedens“ („sulhun fâtihası“) bezeichnete und gelobte frühere Kommandant der Festung Belgrad, Mustafa Pascha, wurde ebenfalls im Nachhinein mit den Friedensverhandlungen beauftragt. Er übernahm die Verantwortung als erste Anlaufstelle und ortsnaheste Person. Er sollte sich in Nisch aufhalten, um die Korrespondenz mit den Delegierten zu leiten und diese während der Verhandlungen mit den nötigen Instruktionen zu versorgen. Ibrahim und Mehmed Efendi sollten sich, gemäß dem Befehl des Sultans, strikt an seine Anweisungen halten.36 Folglich wurde Wien am 27. Januar 1718 mit dem Schreiben des Großwesirs Mehmed Pascha vom 17. Dezember 1717 (Hidschra 13 Muharrem 1130) über die Delegation informiert und es wurde mitgeteilt, dass der letztgewesene Gouverneur zu Belgrad, Mustafa Pascha, seine Vorschläge ohne Vollmacht vorgebracht hatte. Man zielte nunmehr hauptsächlich auf das Wiedererlangen der Festung Belgrad ab – ein Anliegen, das keineswegs in Erfüllung gehen konnte. Ferner strebte man einen kurzen Waffenstillstand von ungefähr drei, vier oder fünf Jahren an. Zur Mediation boten sich Großbritannien und die Niederlande an, die auf einen raschen Kongress drängten, ohne sich im Vorhinein auf ein Präliminare bzw. diplomatische Vorverhandlungen oder eine ohne 33 Vgl. Gilles Veinstein, Meh. med Yirmisekiz. In: The Encyclopaedia of Islam 6 (1991), 1004–1006. 34 BOA, Divân-ı Hümâyûn Mühimme Defterleri (A.DVN.MHM.d), Nr. 126, 268, hüküm [Befehl] 1053. Der Originaltext dieses Befehls und dessen Transkription mit Übersetzung befindet sich im Anhang, Abb. 1. Vgl. dazu die Behauptung, dass die Pforte ihre Delegation nicht vor Februar 1718 benannt hat, Karl A. Roider, Austria’s Eastern Question 1700–1790. New Jersey 1982, 55. Laut Edward Wortley-Montagus Bericht, der am 23. Dezember 1717 von Tatarpazarcığı (Pasardschik) – vier Stunden entfernt von Plovdiv – an London abgeschickt wurde, sollte die Delegation ursprünglich aus Reisülküttâb (Außenminister) Ârifi Ahmed Efendi und Johann Maurocordato bestehen. Siehe The National Archives at Kew Gardens (TNA), State Papers Foreign, Turkey (SP97), 24 Part 1, 150v . 35 Für den Denominationsbefehl des Hospodars Johann Maurocordato für die Friedensverhandlungen zu Passarowitz siehe BOA, A.DVN.MHM.d, wie Anm. 34, Nr. 126, 181, hüküm [Befehl] 715. 36 BOA, A.DVN.MHM.d, wie Anm. 34, Nr. 127, 66, hüküm [Befehl] 269.

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Vermittlung durch den kaiserlichen Bevollmächtigten Michael von Talman, Hofkriegsrat und von 1703 bis 1713 habsburgischer Gesandter in Istanbul, versuchte Verständigung einzulassen.37 Prinz Eugen sprach sich trotz der geringen Erfolgsaussicht, die das hochmütige und ausschweifende Verhalten des Großwesirs für die Verhandlungen bot, dennoch dafür aus, den Kongress durchzuführen. Er begründete dies in seinem Referat an den Kaiser vom 4. Februar 1718 mit der außenpolitischen Lage (z. B. die spanische Invasion Sardiniens und der Vermittlungsversuch eines Bündnisses durch den Fürsten Ferenc Rákóczi II. (1676–1735)38 zwischen Philipp von Anjou (1683–1746) und dem Sultan), die ihm Sorgen bereitete. Er wünschte zudem, die Annäherung zwischen dem Zaren Peter dem Großen und dem Sultan zu verhindern, die durch den Verdacht auf weitreichende Pläne des Kaisers im Orient drohte. Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Zeitpunkt und Ort des Friedens mit den Osmanen nun allein vom Kaiser abhängig war.39 Dass die Kriegsrüstungen der Pforte anhielten, konnte aus habsburgischer Sicht als weiterer Grund für den Eintritt in Friedensverhandlungen angesehen werden, denn der Sultan befahl seinem Großwesir Mehmed Pascha aufgrund der andauernden Operationen und Feindseligkeiten der Habsburger, die Armee bis Frühling 1718 auf den bestmöglichen Stand zu bringen, bevor ein hinzukommender Feldzug das Osmanische Reich weiter belasten könnte.40 Ahmed III. vermutete, dass sich der Wiener Hof weitere Gebiete am Balkan aneignen wolle, sodass ein Frieden zudem nicht absehbar wäre.41 Der in Wien weilende britische Botschafter Robert Sutton (1671/72–1746)42 berichtete in seinem am

37 An den Kaiser am 12. Februar 1718, Wien siehe Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, Supplement-Heft, 222f. Vgl. Braubach, Prinz Eugen, wie Anm. 4, 367–370. 38 Sándor Papp, Ottoman Accounts of the Hungarian Movements against the Habsburgs at the Turn of the 17th and the 18th Centuries. In: Colin Imber / Keiko Kiyotaki (Hg.), Frontiers of Ottoman Studies II. London – New York 2005, 41–43. 39 ÖStA, HHStA, StAbt, Türkei I, Turcica Kr. 182 (1718), Konv. 1, 46r –59v . 40 Afyoncu, Pasarofça, wie Anm. 13, 5. 41 „Benim vezîrim, keyfiyet bi’l-cümle ma‘lûmum oldu. Kış içinde mümkün mertebe tedârük görülüp evvel-bahârda üzerine varılmadan gayrı çâre yokdur. Mecmû‘unu almadıkça sulh etmez ve bundan sonra gayrı yerleri taleb eylemek dahi akıldan ba‘îd değildir. Hemen esbâbına şürû‘ olunup tedârük görülmelüdür“ [„Mein Wesir, der Umstand ist mir völlig bekannt. Es gibt keine andere Lösung als im Winter sich so viel wie möglich auszurüsten und im Frühling den Feldzug zu führen. Bevor man alle Länder erobert, kommt kein Frieden und von nun an andere Orte zu verlangen ist in Gedanken nicht fernliegend. Man soll gleich mit den zur Verfügung stehenden Mittel anfangen, sich vorzubereiten“], Topkapı Sarayı Müzesi Arşivi [Archiv des Topkapi Palast Museums], Nr. E 801-10/1. 42 Jeremy Black, Sir Robert Sutton. In: Oxford DNB, wie Anm. 26, 53 (2004), 405.

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15. Januar verfassten Brief nach London, dass „[d]ieser Hof befürchtet, dass sie [die Osmanen] die Gedanken des Friedens für diesen Winter abgelegt haben“.43 Die Unabwendbarkeit des Friedens Schon in den ersten Monaten des Jahres 1718 wurde offensichtlich, dass für den Frieden von beiden Seiten eine kompromissbereite Haltung nötig sein würde. Die Erzrivalen hatten jedenfalls genügend Gründe, die zu einer Erhöhung ihrer Friedensbereitschaft führten. Neben der für beide Höfe schwierigen pekuniären Lage insbesondere aufgrund der hohen Schulden,44 kann für die Osmanen auf die schweren Verluste und für die Habsburger auf die spanische Invasion in Italien sowie die stete bedrohenden Ereignisse des Großen Nordischen Krieges (1701–1721) hingewiesen werden. Weder Wien noch Edirne hätten diese Umstände ignorieren können. Letztendlich war ein baldiger Frieden unabwendbar. Prinz Eugen bestimmte mit der Bestätigung des Kaisers am 12. Februar, als die Osmanen bereits ihre Delegierten nominiert und die Habsburger davon in Kenntnis gesetzt hatten,45 den niederrheinischen Adligen Grafen Hugo Damian von Virmont (1666–1722),46 damals außerordentlicher Gesandter am polnischen Königshofe zu Warschau, als ersten Bevollmächtigten.47 Zum zweiten Delegierten wurde der Hofkriegsrat Michael von Talman ernannt, der sich bis zum Eintreffen Virmonts in Wien und anschließend am Verhandlungsort als erster Ansprechpartner für die Friedensangelegenheiten in Belgrad aufhalten und die Unterhandlungen führen sollte.48 Die beiden kaiserlichen Friedensbe-

43 „T[h]is [court] feared that they [Ottomans] have laid aside the thoughts of peace for this winter”, siehe TNA, SP 97/24, wie Anm. 34, Part 2, 149r . Siehe zu den militärischen Anstrengungen Wiens und die damit verbundene Skepsis bzgl. des kaiserlichen Friedenswillens beim englischen Vertreter in Wien Saint-Saphorin Braubach, Prinz Eugen, wie Anm. 4, 373–378. 44 Der sechste Türkenkrieg bedeutete für die Hofkammer eine Belastung von ca. 61 Millionen Gulden. Vgl. Karl-Norbert Chlubna, Militär- und Kriegskosten unter Kaiser Karl VI. im Türkenkrieg 1715–1718. Unter besonderer Berücksichtigung des Fürstentums Siebenbürgen und des Königreiches Ungarn. Saarbrücken 2008, 51. Auch war die von der Wiener Stadtbank zur Verfügung gestellte Summe nicht ausreichend, sämtliche militärisch benötigte Kosten abzudecken. Vgl. Franz Freiherr von Mensi, Die Finanzen Oesterreichs von 1701–1740. Nach archivalischen Quellen dargestellt. Wien 1890, 530f. 45 Am 24. Januar 1718 war die Antwort des Großwesirs auf das Schreiben des Prinzen vom 12. November 1717 in der kaiserlichen Residenzstadt eingetroffen. Vgl. ÖStA, HHStA, StAbt, Türkei V, Passarowitz 1, 197. 46 August Heldmann, Virmont. In: Allgemeine Deutsche Biographie 55 (1910), 332–341. 47 Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, Supplement-Heft, 222–226. 48 ÖStA, HHStA, StK, Vorträge 22, KR (1717–1718), Konv. 4, 32r–v .

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vollmächtigten wurden mit einer ausführlichen Instruktion versehen, die als Grundlage der Verhandlungen den damaligen Besitzstand vorsah.49 Als die Hohe Pforte mit dem Schreiben vom 24. Januar einen Kongress zur Friedensverhandlung unter Vermittlung Englands und der Generalstaaten beantragte und sich bereit erklärte, ihn zu beschicken,50 bestand Wien darauf, dass man auch der Republik Venedig eine entsprechende Genugtuung („conditio justae satisfactionis“) verschaffen müsse.51 Obwohl die Osmanen ausschließlich mit den kaiserlichen Vertretern verhandeln wollten, akzeptierten sie diese Bedingung widerwillig „dem kaiserlichen Staat zuliebe“.52 Die venezianische Delegation, in der sich als Sekretär Vendramino Bianchi (1667–1738)53 und Giran Alberto Colombo, Hauptdolmetscher Rinaldo Carli und der zweite Dolmetscher Alvise Fortis befanden, wurde von Carlo Ruzzini (1653–1735),54 dem 49 Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, 440–462. 50 Bezüglich der Gesandten der vermittelnden Seemächte war es dem Wiener Hof Ende 1717 gelungen, die englische Regierung zur Abberufung ihres damaligen, ganz im Interesse der Pforte wirkenden Vertreters, Edward Wortley-Montagu zu bewegen und stattdessen Robert Sutton zu berufen. Vgl. TNA, SP 97/24, wie Anm. 34, Part 1, 95r . Es sollte jedoch der erfahrene Diplomat Jacob Graf Colyer, der bei der Pforte akkreditiert war, die niederländischen Generalstaaten auf dem zukünftigen Friedenskongress, wie bereits bei Karlowitz, repräsentieren, obwohl sich Prinz Eugen den in Wien befindlichen Vertreter Hamel Bruyninx gewünscht hätte. Vgl. Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, 343. 51 Das Ansinnen, die Republik in die Friedensverhandlungen miteinzubeziehen, wurde schon bei den ersten Bemühungen zur Aushandlung eines Friedens im September 1717 angesprochen. Vgl. Anm. 17. 52 „[…] beyân kılınmış musâlaha vü müsâleme mücerred Devlet-i Çâsâriyye ile olup anın gibi Cumhûrun musâlahası mukaddemâ elçi-i mûmâ-ileyh ile söyleşdiğiniz sözlerde yoğidi. Ve bu husûsa rızâ ve müsâ‘ade gösterilmek münâsib görülmez idi. Lâkin çünkü Devlet-i Çâsâriyyeye dâhil ve ilticâ’ ve anlar dahi bu husûsu iltimâs etmiş olalar. Re‘âyâ-yı hâtır-ı vükelâyı çâsâriyyeye ve gerek Felemenk elçisi dostumuzun hâtırıyçün bu husûsu dahi mübârek Rikâbı hümâyûn-ı cihândârîye envâ‘ huşû‘ ile rûy-ı çeşm tazarru’u sây’ide kalarak arz u beyân ve sûreti tereddüde me’zûn ve ruhsat-yâb olunmuşdur […]“ [„der mitgeteilte Friedensschluss und die Eintracht ist allein mit dem Staat des Kaisers zulässig und wie mit ihm, wurde der Frieden mit Venedig im vorherigen Gespräch mit dem Gesandten nicht besprochen. Und diesbezüglich sah man eine Zustimmung nicht angemessen. Weil sie [Venedig] beim Staat des Kaisers Zuflucht gesucht hat, wurde sie begünstigt. Aufgrund des Ansehen des Kaisers Untertanen und Vornehmen und auch des Ansehens unserer Freunde der niederländischen Gesandten, wurde in dieser Angelegenheit der gesegnete interimistische Großwesir mit verschiedener Ehrfurcht und Anstrengung angefleht und daraufhin wurde man berechtigt und genehmigt, den Frieden auch mit Venedig zu schließen“], Esnâ-yı Musâlahada, wie Anm. 28, 101a . 53 Gian Franco Torcellan, Bianchi, Vendramino. In: Dizionario Biografico degli Italiani 10 (1968), http://www.treccani.it/enciclopedia/vendramino-bianchi/ (letzter Zugriff: 11.2019). 54 Giuseppe Gullino, Ruzzini, Carlo. In: Dizionario Biografico degli Italiani 89 (2017), http:// www.treccani.it/enciclopedia/carlo-ruzzini_%28Dizionario-Biografico%29/ (letzter Zugriff: 11.2019).

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Prokurator von S. Marco, der schon beim Karlowitzer Frieden im Namen Venedigs verhandelt hatte, angeführt.55 Ein aus der Sicht Prinz Eugens wichtiger Punkt war, „dass sich die Pforte über einige Präliminarien nicht erklären, sondern alles auf die Haupthandlung ausgestellt lassen wolle“.56 Infolgedessen kam man in Wien zum Entschluss, in der Antwort an den Großwesir vom 15. Februar 1718 ausdrücklich festzustellen, dass man „nicht zum förmlichen Congresse schreite, bevor die übliche Grundlage des Friedens ,uti possidetis‘ nicht genau und gesichert festgestellt, für die erlauchte Republik Venedig ein gleichfalls gerechter Friedensschluss im Voraus zugesagt und die übrigen Vorarbeiten nicht vollendet wären“.57 Die Pforte reagierte auf die insistierende Haltung keineswegs überrascht. Der Diwan, der sich am Mittwoch, den 16. März 1718 (Hidschra 8 Rebîülâhir 1130) im Palast zu Edirne (Edirne Sarayı) versammelte, vertrat die Meinung, dass man sich nun zu einzelnen Zugeständnissen bequemen und schnellstmöglich eine positive Antwort an den Prinzen schreiben sollte, denn ein Frieden sei für beide Seiten am günstigsten.58 Die Antwort wurde schließlich am 24. März mittels dem Defter Emîni (Intendant der Kammer), Hüseyin Efendi, Richtung Belgrad verschickt.59 Auch die Geheime Konferenz, die nach der Ankunft des Schreibens des Großwesirs am 8. April vom Prinzen präsidiert ihre Sitzung abhielt, empfahl, den Krieg gegen die Türken aufgrund bestehender Risiken endgültig zu beenden.60 Als Anfang des Monats April der Ort Passarowitz, ein etwa 60 Kilometer südöstlich von Belgrad und sechs Kilometer vom rechten Morava-Ufer entferntes und damals kleines serbisches Dorf, als Verhandlungsort bestimmt wurde, ritten die kaiserlichen und osmanischen Kommissare – Baron von Hennings und Mustafa Aga – die Gegend ab und legten die Quartiere für die Delegationen sowie geeignete Lagerplätze fest. Während des Monats Mai trafen fast alle Beteiligten mit entsprechendem Pomp ein. Den Osmanen bereiteten jedoch die für sie vorgesehenen Quartiere Schwierigkeiten. Die Frischwasserquellen 55 56 57 58

Vendramino Bianchi, Istorica Relazione della Pace di Posaroviz. Padova 1719, 31. Vgl. Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, Supplement-Heft, 222. Ebd., 227. Râşid, Târih-i Râşid, wie Anm. 3, 1107. Die Bedingungen ähnelten weitgehend den Anfang des Jahres 1698, also kurz vor dem Karlowitzer Frieden, vorgeschlagenen. Damals akzeptierte auch der Großwesir Amcazâde Hüseyin Pascha den gleichen Grundsatz und beauftragte die Seemächte zur Vermittlung. Vgl. Alfred C. Wood, A History of the Levant Company. London 1964, 252. 59 Vgl. Esnâ-yı Musâlahada, wie Anm. 28, 80a –81a , 93b ; ÖStA, HHStA, StAbt Türkei V, Passarowitz 1, 737–739. 60 „Bellum cum Turcis ob summa instantia periculum finire decretum“, ÖStA, HHStA, StK, Vorträge 22, KR (1717–1718), Konv. 4, 92r –94r .

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waren sowohl für sie als auch die Pferde zu weit entfernt. Ibrahim und Mehmed Efendi zeigten sich unzufrieden, die Gesandten der Seemächte mussten beschwichtigen. Zu guter Letzt begnügten sie sich mit einer Verlegung des Lagerplatzes unweit des Wassers.61 Gemäß zeitgenössischen Aussagen kann festgestellt werden, dass die diplomatischen Verhandlungen in Passarowitz zu keinem angenehmen Zeitpunkt stattfanden. Demnach war „aus Ursache unbeschreiblich starken, ohne Regen anhaltenden Hitze“ das Leben „sowohl für Mann als Pferd“62 beschwerlich. Gleichermaßen sei laut dem englischen Vermittler Robert Sutton dieses Territorium ein „Wüstenland“, in welchem sie „Unannehmlichkeiten ohne Hilfe erleiden“63 mussten. Darüber hinaus berichtet das Wienerische Diarium zum 21. April von einem Einfall eines großen Mückenschwarms, der unter dem Vieh immensen Schaden angerichtet haben soll: Durch Stiche wären etliche Pferde, Ochsen, Kühe oder Schafe getötet und demzufolge der Raum verseucht worden.64 Trotz dieser unbequemen Atmosphäre erwog man keine Verlegung der Verhandlungen. Ende Mai wurde die für den Friedenskongress vorübergehend neutralisierte Zone vom Ingenieur-Hauptmann von Oebschelwitz abgesteckt bzw. mittels Grenzsteinen, Erdhaufen und Bäumen etc. genau markiert.65 Ebenfalls im Mai ereignete sich eine wichtige, zugleich dem Frieden förderliche Veränderung bei den osmanischen Amtsinhabern. Damad Ibrahim Pascha nahm das Angebot, an Stelle Mehmeds als neuer Großwesir zu amtieren, an (9. Mai 1718).66 Die Friedenspartei hatte sich unter seiner Führung endgültig durchgesetzt. Gleich am selben Tag schickte er ein Schreiben an die osmanischen Bevollmächtigten in Passarowitz, worin er sie über sein neues Amt informierte und mit folgenden Worten betonte, wie sehr er zum Frieden geneigt sei: „Zeigt, was ihr leisten könnt! Handelt klug und bedacht im Rahmen eurer Mission, um den Vertrag – je eher desto besser – geschwind abzuschließen; dient fleißig, vorsichtig und in der Weise, wie wir es zu schätzen mögen, damit dieses glückverheißende Werk zustande kommt.“67 Desgleichen erreichte Prinz 61 BOA, Bâb-ı Âsafî Düvel-i Ecnebiyye Belgeleri (A.DVNS.DVE), dosya [Akte] Nr. 753, vesika [Folio] Nr. 59. 62 Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, Supplement-Heft, 258. 63 „The inconceniency we suffer here in a desert country without help“, TNA, SP 97/24, wie Anm. 34, Part 2, 221v . 64 Wienerisches Diarium, Nr. 1540, 4.–6. Mai 1718. 65 Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, 348f. 66 Aktepe, Damad İbrâhim, wie Anm. 31, 441. 67 „Hemân göreyim sizi! Her emirde âkılâne ve müdebbirâne hareket ile me‘mûr olduğunuz emri müsta‘cel bir sâ‘at mukaddem pezîrâ-yı husûlüne; bir hayırlu maslahatın itmâm ü tekmîline sa‘y u dikkat ve hidemât-ı pesendîde vücûda getürmeğe bezl ü sa’y u kudret eyleyesiz“, siehe Esnâ-yı Musâlahada, wie Anm. 28, 101b –102a .

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Eugen am 11. Juni im Semliner Feldlager ein Brief,68 in dem sich Ibrahim Pascha als Assekurant des Friedens darstellte. Er fügte hinzu: „Es müsse erreicht werden, dass der Frieden sicher werde und dass keinerlei Anlässe für neue Unruhe verblieben.“69 Der Friedenskongress Die erste Sitzung des Friedenskongresses begann in einem Zelt, das zwischen den Lagern der beiden Vermittler nach symmetrischer Inszenierung aufgeschlagen wurde, offiziell am Sonntag, den 5. Juni 1718 um 11.00 Uhr mit einer Eröffnungsansprache von Robert Sutton in Anwesenheit der Bevollmächtigten des Kaisers und des Sultans sowie deren Sekretären und Dolmetschern.70 Obwohl die Osmanen bereit waren, den Verhandlungen über die territorialen Entscheidungen die Formel des „uti possidetis“ zugrunde zu legen – damit war die wichtigste kaiserliche Forderung ohnehin erfüllt – kam es zwischen den Bevollmächtigten immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen. Prinz Eugen und Karl VI. waren einer Meinung, sich nicht „mit überflüssigen oder gar zu harten Begehren“ aufzuhalten und dadurch die osmanische Delegation in „Despiration“ zu bringen, sodass man den dringend nötigen Abschluss keinen Augenblick „wegen etwas mehr oder weniger offenen Landes“71 aufhalten dürfte. Unter anderem wurden diese Überlegungen von Eugen am 15. Juni während eines Treffens mit Virmont und Talman an der Donaubrücke von Kubin persönlich mitgeteilt.72 Die Tatsache, dass die politische Situation den Frieden erstrebenswert machte, war den kaiserlichen Bevollmächtigten wohlbekannt. Es ging nur darum, wie weit sie bei den Verhandlungen gehen konnten,73 um 68 Martin Meyer, Theatrum Europaeum 21 (1738), 50. 69 Esnâ-yı Musâlahada, wie Anm. 28, 106a . 70 Nähere Schilderung des Zeremoniells und Einzugs der Beteiligten in: Der vollkommene Adlers-Sieg, Welchen Ihr. Röm. Kayserl. und Königl. Cathol. Majestät, Carl der VI Durch die zu Posarowitz, bei Anfang des dritten Feld-Zugs 1718 mit der Ottomannischen Pforte gepflogen- und errichtete Friedens-Tractaten glorreichst erhalten […], Pax una triumphis innumeris potior. o. O. 1718, 6f. 71 Karl VI. an die kaiserlichen Vermittler, 28. Mai 1718, ÖStA, HHStA, StAbt Türkei V, Passarowitz 2, 132–146; Eugen an den Kaiser, 10. Juni 1718. Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, Supplement-Heft, 234f. 72 Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, Supplement-Heft, 236–241. S. auch Braubach, Prinz Eugen, wie Anm. 4, 375f. 73 Eine Beschwerde über das Streben der kaiserlichen Bevollmächtigten, weitere Gewinne zu erzielen (diese Aufforderungen überschritten weitgehend die Akzeptanz der Osmanen), wurde am 11. Juni durch Mehmed Aga, welchen der Großwesir mit einem eigenhändigen Briefe an den Prinzen nach Belgrad gesendet hatte, mit der Nachfrage der osmanischen Delegierten

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die aufgrund der Kriegserfolge berechtigten Forderungen nicht zu verspielen. Die osmanischen Bevollmächtigten andererseits hatten vom Großwesir Ibrahim Pascha mehrmals die strikte Instruktion erhalten, sich nicht bereit zu erklären „einen Hauch mehr als die von den Habsburgern tatsächlich besetzten Gebiete“74 aufzugeben. Für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern und man gezwungen sein sollte, die Friedensangebote zurückzuziehen oder zu überarbeiten, traf Feldmarschall Prinz Eugen am 8. Juni in Belgrad ein.75 Im Juni 1718 war selbst der im Wesentlichen den Frieden befürwortende Großwesir mit seinen Streitkräften auf Befehl des Sultans bis nach Sofia vorgedrungen, um sein militärisches Hauptquartier einzurichten.76 Die Friedensverhandlungen verliefen nunmehr im Schatten der beiden Armeen, doch verpflichteten sich die Habsburger und die Osmanen zu einem Waffenstillstand während der Verhandlungen. Die Intention, diese Vereinbarung zu brechen, bestand vorläufig nicht. Ibrahim und Mehmed Efendi, Virmont und Talman hielten bis zum Dienstag, den 12. Juli, insgesamt neun Sitzungen ab.77 Die Kommunikation zwischen den Bevollmächtigten während der Verhandlungen wurde ausschließlich mithilfe von Dolmetschern geführt. Die Osmanen hatten als Hauptverantwortlichen Johann Maurocordato; von kaiserlicher Seite war Johann Andreas Schmid, der Hofdolmetsch mit exzellenten türkischen Sprachkenntnissen,78 anwesend. Es ist nicht möglich, in diesem kurzen Beitrag über den Verlauf des Kongresses alle Informationen, die während der Sitzungen eingebracht wurden, alle Wendungen sowie die Verhandlungsbemühungen der Vermittler detailliert zu beschreiben. Angesichts der für beide Seiten bestehenden politischen und finanziellen Lage, die den Beteiligten bewusst war, schien ein Übereinkommen für beide Seiten vorteilhaft. Letztendlich, nachdem alle Hindernisse aus dem Weg geräumt waren, wurde der 20 Artikel umfassende Friedensvertrag

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an den Prinzen weitergeleitet. Man wünschte sich – zum Zweck des Abschließens eines Abkommens –, dass der Prinz seine Bevollmächtigten daran erinnere, unbedingt im Rahmen des gebilligten Grundsatzes zu bleiben. Vgl. Esnâ-yı Musâlahada, wie Anm. 28, 144b . Esnâ-yı Musâlahada, wie Anm. 28, 143b –145a . ÖStA, HHStA, StAbt Türkei V, Passarowitz 2, 175f. BOA, A.DVNS.DVE, wie Anm. 61, dosya [Akte] Nr. 757, vesika [Folio] Nr. 49. Auch wenn in der Geschichte von Hammer-Purgstall die Sitzungen mit Daten und deren laufender Zahl geschildert werden, wurde nach der achten Sitzung vom 10. Juli 1718 die neunte Sitzung am 12. Juli 1718 versehentlich wieder als achte Konferenz angezeigt (vgl. Hammer-Purgstall, Geschichte, wie Anm. 5, 233–234). Doch es ist gewiss, dass die kaiserlichen Bevollmächtigten am 12. Juli 1718 die neunte und letzte Sitzung mit der osmanischen Delegation durchgeführt haben, siehe ÖStA, HHStA, StAbt, Türkei V, Passarowitz 2, 872–880; Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, 375. Für eine von zahlreichen seiner Abschriften der osmanischen Dokumente, die seine Kompetenz beweist, siehe ÖStA, HHStA, StAbt, Türkei V, Passarowitz 1, 737.

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von Passarowitz am 21. Juli 1718 von den beiderseitigen Delegierten und den Friedensvermittlern unterzeichnet.79 Nach Austausch der Verträge folgte ein Friedenskuss (osculo pacis), während die kaiserliche und osmanische Kavallerie und Infanterie dreimal eine Salve abgab. Nach der gebräuchlichen Danksagung der Mediationsminister und gegeneinander geübter anderer höflicher Komplementierung trennte man sich und kehrte in die jeweiligen Quartiere und Lager zurück.80 Der osmanische Delegierte Ibrahim Efendi teilte dem Großwesir Ibrahim Pascha sogleich mittels Relation den Abschluss des Passarowitzer Vertrages mit. Der in Edirne auf ein baldiges Abkommen wartende Sultan Ahmed III., der das Drängen seiner Untertanen zunehmend spürte,81 erhielt die erwünschte und entlastende Nachricht durch seinen Vertrauten Ibrahim Pascha und antwortete ihm eigenhändig folgendermaßen: „Mein Wesir, werde wohlhabend! Ich bin höchst zufrieden und erfreut. Durch diesen heilbringenden Frieden kann nun alles vollbracht werden. Das war das größte Werk. Es ist mühelos vollendet. Nun können andere Angelegenheiten zweifellos mit Leichtigkeit abgewickelt werden.“82 Die Worte des Kaisers bezüglich des Friedens, die er eigenhändig am 28. Juli 1718 an den Prinzen verfasste, lauteten ähnlich: „Gottlob, dass dieser Friede einmal geendet ist, mit welchem man die Hand nun frei hat und besser allen, die sich an uns werden reiben wollen, wird die Zähne zeigen können. […]. Denn alles scheint willens, auf uns zu fallen.“83 Gleichfalls wurde am 21. Juli zwischen Venedig und dem Osmanischen Reich ein Friedensvertrag mit 26 Artikeln geschlossen.84 Eine Woche später, am

79 Friedensvertrag von Passarowitz. In: Martin Meyer, Theatrum Europaeum 21 (1738), 53–58. 80 Generalrelation der kaiserlichen Delegation über das Zeremoniell während der Friedensverhandlungen. Wien, 20. Oktober 1718. Vgl. ÖStA, HHStA, StAbt, Türkei I, Turcica Kr. 183 (1718/19), Konv. 1, 249v . 81 Der Krieg erhöhte die Preise, die wirtschaftlichen Bedingungen wurden für die Untertanen unerträglich; nur die Kleinhändler profitierten von diesem Umstand. Diesbezügliche Beschwerden waren weithin hörbar und wurden umfangreicher. Vgl. Ahmed Refik, Pasarofça Musâlahası Akd Edilirken [Während des Passarowitzer Friedens]. In: Yeni Mecmua 35 (1918), 169. 82 „Benim vezîrim berhûrdâr ol! Ziyâde memnûn ve mesrûr oldum. Bu hayırlı sulhun şevki ile her iş vücûda gelür. Umûr-ı mu‘azzam bu idi. Suhûlet ile ihtitâm buldu. Gayrı sâir işlerin bitmesine kolaylık emr-i mukarrerdir“, vgl. Afyoncu, Pasarofça, wie Anm. 13, 13. 83 Matuschka, Feldzüge, wie Anm. 5, 385. 84 Bianchi, Istorica, wie Anm. 56, 190–204; The Instrument of the Peace Made and Sign’d at Passarowitz in Servia, the 21st of July 1718, between the Republick of Venice, and the Ottoman Porte. In: Stephan Whatley (Hg.), General Collection of Treatys of Peace and Commerce, Manifestos, Declarations of War, and other Publick Papers, from the End of the Reign of Queen Anne to the Year 1731. London 1732, 401–428.

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27. Juli, wurde ein für die Habsburgermonarchie günstiger Handels- und Schifffahrtsvertrag85 von den Bevollmächtigten Franz Anselm von Fleischmann und Seyfullah Efendi86 abgeschlossen, der, wie der Friedensvertrag, 20 Artikel umfasste. Dieser kam jedoch ohne Einschluss der Seemächte, die gegen eine Konkurrenz im mitteleuropäischen Handelsraum opponiert hätten, zustande. Der Handelsvertrag von Passarowitz war das zweite von zwei separaten Handelsabkommen zwischen dem Osmanischen Reich und Österreich. Das erste, das am 28. November 1617 unterzeichnet wurde, war relativ umfangreich und bestand aus 47 Artikeln. Er bekräftigte die für den Handel relevanten Artikel des Friedensvertrags von 1615, der den ersten offiziellen Abschluss zwischen den beiden Mächten darstellte, aber umfassender war und die volle Handelsfreiheit sowohl auf dem Land- als auch auf dem Wasserweg einführte.87 Mit dem Handels- und Schifffahrtsvertrag vom 27. Juli 1718 wurde den Untertanen des Kaisers auf dem Gebiet des Osmanischen Reichs alle Rechte zugebilligt, die bis dahin nur französische und holländische Kaufleute genossen hatten.88 Die Ratifikation des Vertrages vollzog sich ohne Schwierigkeiten. Die jeweils vom Sultan und vom Kaiser unterschriebenen Friedensverträge wurden am 21. August89 und am 26. August 171890 durch die in Passarowitz zurückgebliebenen Botschafter der vermittelnden Seemächten überprüft und ausgewechselt. Infolge des Passarowitzer Friedens gewannen die Habsburger nicht nur das Banat von Temesvár und Syrmien, sondern auch die Kleine Walachei und Ge85 Osmanische Urkunde des Handels- und Schifffahrtsvertrages, Ratifikation Sultan Ahmeds III. im Anhang, Abb. 3. Zur Rolle von Handelsverträgen mit Blick auf die Habsburgermonarchie allg. Christine Lebeau, Negotiating a Trade Treaty in the Imperial Context: The Habsburg Monarchy in the Eighteenth Century. In: Antonella Alimento / Koen Stapelbroek (Hg.), The Politics of Commercial Treaties in the Eighteenth Century. Balance of Power, Balance of Trade. Paris 2016, 349–369. 86 Diesbezüglich wurde Fleischmann am 2. Mai (vgl. ÖStA, HHStA, StAbt, Türkei I, Turcica Kr. 182 (1718), Konv. 2, 109r –124v ) und Seyfullah am 24. Juni (vgl. Esnâ-yı Musâlahada, wie Anm. 28, 157b ) beauftragt. Fleischmann kam am 29. Mai (vgl. Wienerisches Diarium, Nr. 1550, 8.–10.06.1718) und Seyfullah erst im Juli in Passarowitz an. 87 Numan Elibol / A. Mesud Küçükkalay, Implementation of the Commercial Treaty of Passarowitz and the Austrian Merchants, 1720–1750. In: Ingrao / Samardžić / Pešalj (Hg.), Passarowitz, wie Anm. 5, 160. 88 Der Handels- und Schifffahrtsvertrag befindet sich in in ÖStA, HHStA, Urkundenreihen, Siegelabguß- und Typarsammlungen, Staatsverträge Abschriften und Drucke, Türkische Urkunden, 29.06.–07.08.1718 (Hidschra Evâil-i Ramazan 1130), Adrianopel. Nähere Erläuterung bei Ernst D. Petritsch, Die internationalen Beziehungen zur Zeit des Vertragswerkes von Passarowitz. In: Bettina Habsburg-Lothringen / Harald Heppner (Hg.), Wir und Passarowitz. 300 Jahre Auswirkungen auf Europa. Graz 2018, 24–37. 89 „Yesterday after noon we made the Exchanges.“ Der Brief von Robert Sutton an Sekretär James Craggs ist vom 22. August 1718 datiert, siehe TNA, SP 97/24, wie Anm. 34, Part 3, 273r–v . 90 ÖStA, HHStA, StAbt Türkei V, Passarowitz 1, 1126–1127.

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biete in Serbien bzw. Belgrad und seines Hinterlandes. Österreich erreichte damit die am weitesten gegen das Osmanische Reich vorgeschobene Grenze, die allerdings nur wenige Jahre Bestand hatte, nämlich bis zum Zweiten Türkenkrieg Karls VI. (1737–1739).91 Ergebnisse Wie diese Untersuchung zeigt, haben beide Erzrivalen den Passarowitzer Frieden, der letztlich für beide Seiten erstrebenswert war, möglichst ohne Verzögerung schließen wollen. Dennoch kam es zuerst zwischen den Höfen des Kaisers und Sultans sowie nachfolgend zwischen den Repräsentanten der Höfe zu häufigen Unstimmigkeiten, die aber letzten Endes keine dauerhafte Blockierung des Friedenswerkes bewirkten. Beobachtet wurde ansonsten, wie gegenseitig aufgestellte Forderungen zunehmend abgebaut wurden, um die Differenzen und Feindseligkeiten zu bewältigen und sich einigen zu können. Darüber hinaus war bei den Verhandlungen „Gleichrangigkeit“ ein Schlüsselbegriff, was auch in der wechselseitigen Entsendung der Großbotschaft im Jahr 1719/20 gemäß des Passarowitzer Vertrags zu beobachten ist.92 Auffallend ist auch, dass die entscheidenden Verhandlungen – wie im Falle der Utrechter Konferenz von 1712/13 – nicht vor dem eigentlichen Friedenskongress stattfanden, sondern von den Bevollmächtigten beider Seiten, die während des Kongresses von ihrem jeweiligen Befehlshaber – Großwesir Ibrahim Pascha und Feldmarschall Prinz Eugen – durchgehend angeleitet wurden. Aus dem osmanischen und habsburgischen Quellenkorpus geht hervor, dass die wesentlichen Akteure des Friedens, also die beiderseitigen Bevollmächtigten, Ibrahim und Mehmed Efendi einerseits und Virmont und Talman andererseits, ihre Handlungsmöglichkeiten nutzten, um zu einem baldigen Abschluss zu kommen. Auch die Friedensvermittler Robert Sutton und Jacob Colyer 91 Eine umfangreiche Untersuchung dazu bei Hakan Karagöz, 1737–1739 Osmanlı-Avusturya Harbi ve Belgrad’ın Geri Alınması [Der Osmanisch-Habsburgische Krieg und die Rückeroberung von Belgrad]. Diss. Isparta 2008; Hochedlinger, Austria’s War, wie Anm. 4, 212–218. 92 Die symbolisch-rituelle Darstellung des Friedens bei Arno Strohmeyer, Die Theatralität interkulturellen Friedens. Damian Hugo von Virmont als kaiserlicher Großbotschafter an der Hohen Pforte (1719/20). In: Guido Braun / Arno Strohmeyer (Hg.), Frieden und Friedenssicherung in der Frühen Neuzeit. Das Heilige Römische Reich und Europa. Münster 2013, 413–438. Allg. zum Frieden bzw. Friedensverhandlungen Franz Bosbach, Friedensverhandlungen. In. Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit 4 (2006), Sp. 34–41; Christoph Kampmann, Friede. In: ebd., Sp. 1–21. Zu europäischen Bündnissen jedoch für das frühe 18. Jahrhundert ohne Einschluss des Osmanischen Reiches Katja Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? Das Bündnis in Europa 1714–1914. München 2010.

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hatten dabei eine wichtige Rolle. Themen und Probleme, die als „harte Friedensfragen“ bezeichnet wurden und somit zu Auseinandersetzungen führten, wurden von den Bevollmächtigten des Sultans und des Kaisers zunächst an ihre Oberbefehlshaber bzw. an den Großwesir Ibrahim Pascha sowie an den Feldmarschall und Hofkriegsratspräsidenten Prinz Eugen gerichtet. In den Fällen, in denen ein behandelter Artikel den Umfang der im Voraus bestimmten Instruktionen sprengte, wurde dieser auch zur Genehmigung des jeweiligen Hofs weitergereicht. Dieser Ablauf wurde in der 47-tägigen Friedensverhandlungsphase eingehalten. Abschließend ist zu bemerken, dass der mit Hilfe der Seemächte England und den Generalstaaten wieder hergestellte Konsens zwischen Wien und der Hohen Pforte auf der diplomatischen Ebene die Erfahrung der Osmanen erhöhte. Damit war der Passarowitzer Friede – nach dem Karlowitzer Frieden – eine neuerliche Weiterentwicklung der osmanischen Diplomatie und der Außenbeziehungen in westlicher Form, sei es durch die Beschäftigung mit der Anwendung von Taktiken in den internationalen Beziehungen oder durch den gezielten Einsatz der kohärenten Kooperation mit den Friedensvermittlern.93 Der Denominationsbefehl Hazîne-i âmiremin Şıkk-ı Sânî Defterdârı İbrâhim dâme ulüvvühû ve Şıkk-ı Sâlis Defterdârı Mehmed zîde ulüvvühûya hüküm ki Bundan akdem Devlet-i Aliyye-i ebed-peyvendimle Nemçe çâsârı beyninde mün‘akid olan musâlaha vü muvâda‘anın merâsimi tarafeynden alınup verilen ahidnâmelerin şerâiti üzerine kemâ-yenbağî mürâ‘ât ve kadîmî dostluk merâsimi icrâ olunurken bi-irâdeti’llâhi te‘âlâ ba‘zı avârız ve esbâb-ı tahallülü ile bir-iki seneden berü mâ-beynde ceng ü cidâl ve hilâf ü şikāk zuhûr edüp re‘âyâ vü berâyâ-yı tarafeyn-i müşettetü’l-bâl ve muzdaribü’l-ahvâl olmalarıyla mâbeynde zuhûr iden adâvet ü bağzâ mürtefi ve re‘âyâ ve berâyâ-yı tarafeyn emîn ve müsterîh olmak için mefâhirü’l-ümerâi’l-izâmi’l-Îseviyye İngiltere ve ana tâbi‘ vilâyetlerin kıralı Görgiyos ve Nederlande estâtı ceneralleri hutimet avâkıbuhu 93 Allg. zum diplomatischen Zeremoniell Gunda Barth-Scalmani / Harriet Rudolph / Christian Steppan (Hg.), Politische Kommunikation zwischen Imperien. Der diplomatische Aktionsraum Südost- und Osteuropa. Innsbruck 2013; Ralph Kauz / Giorgio Rota / Jan Paul Niederkorn (Hg.), Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der frühen Neuzeit. Wien 2009 (darin auch mehrere Beiträge zum diplomatischen Umgang zwischen Kaiserhof und Pforte bzw. Friedenskongressen). Zur Rolle der Pforte in Europa explizit auch Arno Strohmeyer, Das Osmanische Reich – ein Teil des europäischen Staatensystems der Frühen Neuzeit? In: Marlene Kurz / Martin Scheutz / Karl Vocelka u. a. (Hg.), Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Wien – München 2005, 149–164.

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Abb. 1 Der Denominationsbefehl des osmanischen Bevollmächtigten Ibrahim und Mehmed Efendi für den Frieden zu Passarowitz, 24. Dezember 1717–3. Januar 1718. Quelle: BOA, Divân-ı Hümâyûn Mühimme Defterleri, Nr. 126, 268, hüküm [Befehl] 1053; Esnâ-yı Musâlahada Tevârüd Eden Mekâtîb. Topkapı Sarayı Müzesi Kütüphanesi. Revan Köşkü Nr. 1953, 68b.

bi’l-hayr-ve’r-reşâd tavassut ve istirzâ itmeleriyle müşârun-ileyh İngiltere kıralı ve Nederlande estâtı cenerallerinin tavassutları ve hüsn-i sa‘ylarıyla Devlet-i Aliyye’nin ırz ve şânına lâyık olduğu vech üzre muvâda‘a ve mütârekeye izn-i hümâyûnun erzân kılınup ve siz ki mûmaileyhâsız; siz Saltanat-ı seniyyemin mu‘temedânı ve mahrem-i esrârı olduğunuz ecilden Devlet-i Aliyyemin ırz ve şânına lâyık olduğu vech-i vecîh üzerine çâsâr-ı müşârun-ileyhin mükâlemeye tâ‘yîn olan murahhaslarıyla mükâleme ve akd-i mevâdd-ı muvâda‘a ve mütâreke etmek üzere izn ü ruhsat-ı kâmile ile me’zûn ve murahhas olmuşsuzdur. İmdi; işbu emr-i şerîf-i vâcibü’l-imtisâlim mûcebince me’zûn ve murahhas olduğunuz üzre vakt ü zamânıyla varup Nemçe çâsârının mükâlemeye me’zûn olan murahhaslarıyla bi’l-ittifâk münâsib görülen mahalde akd-i meclis edüb müşârun-ileyh İngiltere kıralı ve Nederlande estâtı cenerallerinin taraflarından tâ‘yîn olunan elçileri vesâtetleriyle ve hüsn-i sa‘ylarıyla söyleşüp Devlet-i Aliyyemin ırz ve şânına lâyık ve âmme-i re‘âyâ vü berâyâya ve kâffe-i ibâdullâha nâfi‘ olduğu vech-i vecîh üzere bir sûret-i mergūbeye ifrâğ edüb temessükleşmeniz bâbında fermân-ı âlî-şânım sâdır olmuşdur buyurdum ki94

94 Die Fortsetzung des Befehls befindet sich in anderen osmanischen Dokumenten. Siehe u. a. Esnâ-yı Musâlahada, wie Anm. 28, 68b .

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Vusûl buldukda, bu bâbda vech-i meşrûh üzre şeref-yâfte-i sudûr olan fermân-ı vâcibü’l-ittibâ‘ ve lâzimü’l-imtisâlimin mazmûn-ı tâ‘at-makrûnu ile amel olup hilâfından tevakkî eyleyesiz, şöyle bilesiz, alâmet-i şerîfe i‘timâd kılasız tahrîren fi evâhiri Muharrem sene selâsîn ve mi’e ve elf. Be-makām-ı Edrene. Übersetzung des Denominationsbefehls95 Der Befehl an den Defterdar der zweiten Abteilung meines großherrlichen Schatzes, Schatzmeister Ibrahim, währen möge seine Würde, und den Defterdar der dritten Abteilung Schatzmeister Mehmed, mehren möge sich seine Würde, meiner Schatzkammer ist folgender: Die Konditionen des früher zwischen dem Osmanischen Reich, von ewiger Abstammung, und dem Kaiser geschlossenen Friedens und der Abmachung [von Karlowitz] wurde gemäß den Bedingungen der darauf ausgewechselten schriftlichen Verpflichtungen beachtet, wie es sich gehört, und die Bedingungen der alten Freundschaft dauerten an. Dennoch entstanden durch Gottes Willen auf Grund verschiedener Gründe und Ursachen von Auflösung seit ein bis zwei Jahren Krieg und Kampf sowie Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten zwischen [den beiden Staaten]. Deswegen sind die Untertanen beider Seiten fassungslos und verdrossen. Damit die entstandenen Feindseligkeiten zwischen [den beiden Staaten] beseitigt werden und die Untertanen beider Seiten in Sicherheit und Ruhe sein mögen, und da der König von England und der ihm angehörigen Staaten, Georg, sowie die Generalstaaten der Niederlande, möge ihr Leben im Guten und in Rechtleitung enden, vermittelt und um Zustimmung gebeten haben, wurde daher auf Grund der Vermittlung und Bemühungen der Erwähnten, des Königs von England und der Generalstaaten der Niederlande, die großherrliche Erlaubnis zu einem Vertrag und einem Abkommen gegeben, wie es der Ehre und des Ruhmes des Osmanischen Reiches würdig ist. Ihr, die Ihr die beiden Erwähnten seid, seid verlässliche Beamte und Geheimnisbewahrer für mein erhabenes Sultanat. Daher wird Euch die Erlaubnis und Vollmacht erteilt, in der Ehre und des Ruhms des Osmanischen Reiches würdiger Weise mit den kaiserlicherseits ernannten Bevollmächtigten zu verhandeln und die Artikel eines Vertrags und Abkommens abzuschließen. Nun ist mein erhabener Ferman folgenderweise erlassen worden: Ihr sollt, wie es Euch gemäß diesem meinem Ferman, dem gehorcht werden muss, erlaubt ist und Ihr bevollmächtigt seid, pünktlich gehen und an dem mit den kaiserlicherseits ernannten Bevollmächtigten gemeinsam als passend erachteten Ort eine Sitzung abhalten. Ihr sollt durch die Vermittlung und die Bemühungen der vom erwähnten König von England und den [genannten] Generalstaaten der Niederlande ernannten Gesandten verhandeln und gemäß der Ehre und dem 95 Ich bin Frau Prof. Dr. Claudia Römer, die mir großzügige Hilfe und Unterstützung bei der Übersetzung des Denominationsbefehls geleistet hat, zu herzlichem Dank verpflichtet.

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Abb. 2 Anonym, Kupferstich der Friedensverhandlung, um 1719. Quelle: Der vollkommene Adlers-Sieg, welchen Ihr. Röm. Kayserl. und Königl. Cathol. Majestät, Carl der VI durch die zu Posarowitz, bei Anfang des dritten Feld-Zugs 1718 mit der Ottomannischen Pforte gepflogen- und errichtete Friedens-Tractaten glorreichst erhalten […], Pax una triumphis innumeris potior. o. O. 1718 (online: http://dl.ub.unifreiburg.de/diglit/karl1718/0018)

Ruhm meines Osmanischen Reiches und dem Vorteil aller meiner Untertanen und der Diener Gottes in gewünschter Weise ein Dokument verfassen. Ich befehle: Handelt, sobald [dieser Ferman] ankommt, gemäß dem Gehorsam gebietenden Inhalt meines in dieser Angelegenheit in der erwähnten Weise ehrenvoll erlassenen Befehl, dem zu gehorchen ist und der zu befolgen ist und meidet jegliches Zuwiderhandeln. So sollt Ihr es wissen. Ihr sollt dem erhabenen Zeichen Vertrauen schenken. Geschrieben in der letzten Dekade des Monats Muharrem im Jahre 1130 (24. Dezember 1717–3. Januar 1718) in der Residenz Adrianopel.

Lilijana Urlep

Kirchenvisitationen und Visitationsberichte des Lavanter Fürstbischofs Joseph Oswald von Attems (1724–1744) Einleitung Das Salzburger Eigenbistum Lavant, aus dem die heutige Erzdiözese Maribor hervorgegangen ist, umfasste bis zur Regulierung der innerösterreichischen Diözesangrenzen durch Kaiser Joseph II. ein bescheidenes Gebiet an der Grenze zwischen den damaligen Herzogtümern Steiermark und Kärnten, das sich heute in den Republiken Österreich und Slowenien befindet. Gemäß den Beschlüssen des Konzils von Trient haben die Lavanter Bischöfe, unter anderem auch Joseph Oswald Reichsgraf von Attems (1679–1744), im 17. und 18. Jahrhundert ihre Diözese regelmäßig visitiert oder visitieren lassen. Die dabei entstandenen Visitationsakten, die die kirchlichen, kunsthistorischen und kulturellen Umstände und das religiöse Leben im Kontext des einst gemeinsamen und heute geteilten innerösterreichischen Raumes veranschaulichen, sind eine ausgezeichnete Quelle für die Kirchen-, Kunst- und Regionalgeschichte. Bischof Attems, den man als einen engagierten und leidenschaftlichen Seelsorger und Oberhirten charakterisieren kann, hat seine Diözese zweimal, nämlich im Jahr 1724 und in den Jahren 1732/1733, visitiert. Aus den Visitationen von Bischof Attems gingen historiographische Quellen von besonderer Bedeutung hervor, weil sie die ältesten vollständig erhaltenen Visitationsakten sind, die das gesamte Gebiet der Diözese abdecken und die inhaltlich sowohl die Realien als auch die Personalien behandeln. Die umfangreichen Unterlagen, die während der Visitationen entstanden, sind in der Forschung kaum bekannt und wurden bisher auch keiner qualitativen, quellenkritischen Analyse unterzogen. Das Ziel dieses Beitrages, der auf historischer Quellenkritik basiert, besteht darin, anhand der Visitationsakten die politisch-religiösen und pastoralen Dimensionen des Bistums Lavant im Geiste der pastoralen Ideen des Bischofs Attems darzustellen, insbesondere hinsichtlich des pastoralen Programms aus dem Hirtenbrief von 1724. Der Beitrag wird auch versuchen, der praktischen Umsetzung des Programms nachzugehen. Im Einführungsteil wird die Geschichte des Lavanter Bistums bis zur Neuzeit und das Leben und Wirken von Bischof Attems vorgestellt, womit die historischen Rahmenbedingungen verdeutlicht werden sollen. Der Hauptteil des Textes befasst sich mit dem Verlauf der Visitationen und der Darstellung der

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politisch-religiösen und pastoralen Verhältnisse im Bistum Lavant im Geiste der pastoralen Ideen und Pläne von Bischof Attems. Die Beschreibung bezieht sich auf die Kirchen und ihre Ausstattung, die rechtlichen Verhältnisse im Bistum, die Lebens- und Amtsführung der Geistlichen und das religiöse und moralische Leben der Gläubigen. Aufgrund des großen Umfangs der Informationen wird auf die Analyse der wirtschaftlichen Verhältnisse verzichtet. Die Errichtung und Geschichte des Eigenbistums Lavant bis zur Neuzeit Das Lavanter Eigenbistum mit Sitz in St. Andrä in Kärnten wurde im Jahr 1228 vom Salzburger Erzbischof Eberhard II. von Regensburg (1200–1246) gegründet. Dieser hatte zuvor mit dem Bistum Chiemsee in Bayern im Jahr 1215 und dem Bistum Seckau in der Steiermark im Jahr 1218 bereits zwei Eigenbistümer errichtet. Schon im 11. Jahrhundert hatte sein Vorgänger, Erzbischof Gebhard (1060–1088), das Bistum Gurk in Kärnten gestiftet. Alle vier Salzburger Eigenbistümer besaßen eine besondere reichs-, kirchenund landesrechtliche Stellung. Sie wurden vom Salzburger Erzbischof auf Salzburger Territorium errichtet und mit Gütern des Erzstiftes ausgestattet. Den Salzburger Metropoliten stand das Recht zu, alle vier Eigenbistümer frei zu verleihen. Die Bischöfe der Eigenbistümer waren fast vollständig von den Salzburger Metropoliten abhängig, ihre Beziehung kann mit der von Vasallen zu ihren Feudalherren verglichen werden. So mussten sie dem Salzburger Erzbischof Treue und Gehorsam schwören; auch die Verleihung der Temporalien lag in dessen Händen.1 Den neu gegründeten Bistümern war zu Beginn nicht einmal eine eigene Diözese zugeordnet, so wurde das Bistum Gurk erst im Jahr 1131 und das Bistum Lavant erst im Jahr 1244 entsprechend ausgestaltet. Im Gegensatz zu den anderen damaligen Bistümern erlangten diese nicht den Status der Reichsunmittelbarkeit, dennoch konnten die Bischöfe Ende des Mittelalters 1 Karl Friedrich Herrmann, Kirchliches Leben. In: Heinz Dopsch / Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land. Bd. 1/2. Salzburg 1984, 983–1001, hier 994–995; Wilhelmine Seidenschnur, Die Salzburger Eigenbistümer in ihrer reichs- und kirchenrechtlichen Stellung. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 40, Kanonistische Abt. 9 (1919), 177–287, hier 182–183; Nikolaus Grass, Das Salzburger Privileg der freien Verleihung der Eigenbistümer unter besonderer Berücksichtigung des Kampfes um die Erhaltung dieses Privilegs. Ein Beitrag zur Geschichte der Reichskirche. Paderborn 1988, 1–9. Nur das Bistum Gurk besaß eine etwas andere Position. Seit 1535 fiel das Präsentationsrecht für die Ernennung des Gurker Bischofs zweimal dem Kaiser und einmal dem Salzburger Erzbischof zu. Die Konfirmation verblieb in den Händen des Salzburger Metropoliten. Peter Tropper, Vom Missionsgebiet zum Landesbistum. Organisation und Administration der katholischen Kirche in Kärnten von Chorbischof Modestus bis zu Bischof Köstner. Klagenfurt 1996, 84.

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den Fürstentitel erwerben.2 Die Bischöfe der Eigenbistümer können anstatt als Ordinarien eher als Generalvikare der Salzburger Erzbischöfe charakterisiert werden, die Frage ihrer vollen Jurisdiktion bleibt jedoch offen.3 Das Bistum Lavant wurde als viertes Salzburger Eigenbistum gegründet. Am 10. Mai 1228 stellte Erzbischof Eberhard II. in Salzburg eine Gründungsurkunde aus, in der er die Abhängigkeit des Lavanter Bischofs vom Salzburger Metropoliten deutlich betonte. Der Erzbischof behielt sich und seinen Nachfolgern das Recht der freien Verleihung des Bistums vor. Das Domkapitel und der Domprobst in St. Andrä durften nicht an der Wahl bzw. der Ernennung des Bischofs teilnehmen. Die Lavanter Bischöfe hatten nicht das Recht, sich an der Wahl des Salzburger Erzbischofs zu beteiligen, es sei denn, sie waren auch Mitglieder des Salzburger Domkapitels und ihr Wahlrecht entsprang dieser Funktion. Sie durften ohne besondere Befugnisse auch keine Pontifikalien im Salzburger Dom oder außerhalb der Grenzen ihrer Diözese wahrnehmen.4 Weder das Einkommen des Bistums noch die Grenzen des Bistumssprengels werden in der Gründungsurkunde erwähnt. Das kleine Diözesangebiet, das bis zur Regulierung der innerösterreichischen Diözesangrenzen durch Kaiser Joseph II. unverändert blieb, wurde erst durch eine Urkunde Erzbischof Eberhards II. im Jahr 1244 in Friesach festgelegt. Demnach wurden dem Bistum vom Erzbischof die folgenden Pfarren bzw. Kirchen verliehen: die Pfarre/Kirche St. Andrä im Lavanttal mit Filialen, die Pfarre/Kirche Lavamünd mit Filialen, die Pfarre/Kirche Remschnig, die Pfarre/Kirche St. Florian an der Laßnitz (Groß St. Florian) mit Filialen, die Filiale/Kapelle St. Peter am Lindenberg (St. Peter im Sulmtal), die Filiale/Kapelle St. Martin (St. Martin im Sulmtal) und die Filiale/Kapelle [St. Andrä] im Sulzthal südwestlich von Leibnitz.5 Das Bistum umfasste das Gebiet um Golitz an der Grenze zwischen den Herzogtümern Steiermark und Kärnten, das Untere Lavanttal, das Drautal nördlich der Drau von Unterdrauburg bis St. Oswald an der Drau und das Gebiet um Groß St. Florian in der Weststeiermark.

2 Seidenschnur, Die Salzburger Eigenbistümer, wie Anm. 1, 209, 233–234; Grass, Das Salzburger Privileg, wie Anm. 1, 2. 3 France M. Dolinar, Die Errichtung des Lavanter Bistums. In: Studia Historica Slovenica: časopis za humanistične in družboslovne študije = humanities and social studies review 10 (2010), 2/3, 287–300, hier 287 und 292. 4 Die ursprüngliche Errichtungsurkunde ist nicht erhalten, die Abschrift aber befindet sich im Kopialbuch Codex Henrici. Erzdiözesanarchiv Maribor (NŠAM), Manuskriptensammlung, Codex Henrici, fol. 33v . 5 Die Abschrift der Urkunde befindet sich in Kopialbuch Codex Henrici. NŠAM, Manuskriptensammlung, Codex Henrici, fol. 34r . Vgl. Karlmann Tangl, Reihe der Bischöfe von Lavant. Klagenfurt 1841, 58–59.

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Da das Bistum klein und unzureichend dotiert war6 und die Bischöfe sich in Bezug auf die Metropoliten in einer untergeordneten Position befanden, erfüllten sie sowohl im Mittelalter als auch in der Neuzeit verschiedene andere Funktionen und Dienste für kirchliche und weltliche Würdenträger. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts waren sie im Gegensatz zu vorherigen Perioden meist im Dienst der Salzburger Erzbischöfe. Sie leisteten ab dieser Zeit den sehr wichtigen Dienst des Salzburger Generalvikars für den Salzburger Teil von Kärnten am linken Drauufer, das ab Anfang des 9. Jahrhunderts die Grenze zwischen dem Patriarchat von Aquileia und der Salzburger Metropolie darstellte. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde der Lavanter Bischofssitz hauptsächlich mit Salzburger Domherren besetzt. Alle Bischöfe dieser Zeit entstammten alten Adelsfamilien wie den Kuenburg, Schrattenbach, Firmian, Attems und Auersperg. Das Lavanter Bischofsamt diente, ähnlich wie jenes in Seckau und jenes in Gurk,7 oft als Karrieresprungbrett. So besetzten die Bischöfe Maximilian Gandolf von Kuenburg (1654–1665) und Leopold I. Anton Eleutherius Baron von Firmian (1718–1724) später den Salzburger Metropolitansitz, die Bischöfe Sebastian Graf von Pötting (1665–1673) und Joseph II. Franz Anton Graf/Fürst von Auersperg (1763–1772) führte der Weg zum Bischofssitz in Passau. Die Karrieren von Maximilian Gandolf von Kuenburg und Joseph II. Franz Anton von Auersperg wurden sogar mit einem Kardinalshut gekrönt. Im 18. Jahrhundert beendeten nur vier von 13 Bischöfen, darunter Bischof Josef Oswald von Attems, ihre Karriere als Bischöfe von Lavant, was hauptsächlich auf deren schlechte Gesundheit bzw. Krankheiten zurückzuführen ist. Zu tiefgreifenden Veränderungen des Bistums Lavant kam es vor allem in der Zeit der josephinischen Kirchenreformen. Nach Abschluss der Regulierung der innerösterreichischen Diözesangrenzen erwarb das Lavanter Bistum den Kreis Cilli in der heutigen slowenischen Steiermark und den Kreis Völkermarkt in Kärnten, die ursprünglichen steirischen Gebiete am linken Drauufer musste es hingegen dem Seckauer Bistum überlassen. Weitere Veränderungen traten im 19. Jahrhundert ein, als der heute selig gesprochene Bischof Anton Martin Slomšek (1846–1862) den Sitz des Bistums Lavant nach Maribor verlegte, und nach dem Ersten Weltkrieg, als Papst Pius XI. im Jahr 1924 das Bistum aus der Salzburger Kirchenprovinz herauslöste, womit die fast 700-jährige Herrschaft der Salzburger Erzbischöfe über die Diözese endete.

6 France M. Dolinar, Lavant. In: Erwin Gatz (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198 bis 1448. Ein Biographisches Lexikon. Berlin 2001, 332. 7 Tropper, Missionsgebiet, wie Anm. 1, 208.

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Fürstbischof Joseph Oswald Reichsgraf von Attems Einer der Bischöfe, die im 18. Jahrhundert auf dem Lavanter Bischofssitz saßen, war Joseph Oswald Reichsgraf von Attems. Dieser wurde 1679 in Görz als Sohn von Julius Anton Graf von Attems und Maria Anna Gräfin von Kuenburg geboren. Obwohl er sich ursprünglich dem Militärdienst gewidmet hatte, entschied er sich später für eine kirchliche Laufbahn. Er studierte in Rom und wurde 1702 in Aquileia zum Priester geweiht. Seine ersten pastoralen Erfahrungen sammelte er in der Pfarre Biljana in Goriška Brda auf slowenischem Boden, wo er, wie die Kirchenbücher belegen, ungefähr zwischen 1703 und 1706 Priester war.8 1708 wurde er zum Domherr des Salzburger Domkapitels und 1713 zum Salzburger Konsistorialrat ernannt. Später wurde er Hofratspräsident und Probst des Kollegiatskapitels ad Nives zu Salzburg.9 Der Lebensweg des jungen Joseph Oswald von Attems veränderte sich 1724 grundlegend, als der damalige Lavanter Bischof Firmian das Bistum resignierte und seinen Bischofssitz mit jenem von Seckau tauschte. Der Salzburger Erzbischof Franz Anton Fürst von Harrach (1709–1727) ernannte den damals 45-Jährigen am 20. Februar zum neuen Lavanter Bischof, die Konfirmation erfolgte am 24. Februar. Gleichzeitig wurde er zum Salzburger Generalvikar in Kärnten ernannt. Zudem fungierte er auch als Vizedom bzw. Verwalter des Salzburger Guts in Kärnten. Das Amt des Salzburger Generalvikars in Kärnten war neben dem Bischofsdienst seine wichtigste Funktion. Als Generalvikar beteiligte er sich am Kampf gegen den Geheimprotestantismus, der in Kärnten damals noch sehr präsent war. In dieser Funktion war er auch Mitglied des Kärntner Religionskonsesses, der sich mit der Verfolgung bzw. „Ausrottung“ des Protestantismus befasste.10 In seinem Vikariatssprengel traten auch regelmäßig Fälle von „Häresie“ auf, während zur Zeit seines Bischofsdienstes auf dem Boden des Bistums Lavant nur vereinzelt derartige Verdachtsfälle vorkamen, die in der Regel nicht Einheimische, sondern Fremde oder von anderswo Zugezogene betrafen.11

8 Diözesanarchiv Koper, Kirchenbücher Biljana. 9 Tangl, Reihe, wie Anm. 5, 316–317; France M. Dolinar, Joseph Oswald Attems. In: Erwin Gatz (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1803. Ein Biographisches Lexikon. Berlin 1990, 16–17. 10 Erzdiözesanarchiv Maribor (NŠAM), Konsistorialkanzlei, F 2 – Spiritualien, Kart. 4–7; Christine Tropper, Glut unter der Asche und offene Flamme. Der Kärntner Geheimprotestantismus und seine Bekämpfung 1731–1738. Wien – München 2001, 54–55. 11 So enthielt z. B. der Pfarrer von Deutschlandsberg im Jahre 1736 von Bischof Attems die Erlaubnis, einem Soldaten eines Calvinischen Regiments die Absolution von der Häresie zu erteilen. NŠAM, Konsistorialprotokolle, Protokoll 1734–1737, 17. 10. 1736.

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In vielerlei Hinsicht scheint er ein typischer Bischof seiner Zeit gewesen zu sein. Er war adeliger Herkunft und bekam eine gute Ausbildung. Mit einigen Einschränkungen kann er als ein Bischof charakterisiert werden, der der Pastoraltätigkeit, insbesondere der Verbesserung der Seelsorge, ergeben war, und der sich um eine Intensivierung und Vertiefung des katholischen Glaubens und Lebens bemühte. Ähnlich wie vielen anderen hohen kirchlichen Würdenträgern, auch den Vorgängerbischöfen von Lavant, könnte man ihm die Vernachlässigung der Residenzpflicht und eine Pfründen-Kumulation12 vorwerfen.13 Der Grund dafür liegt auf der Hand: seine Domherrnstelle in Salzburg und die Funktion als Generalvikar für Kärnten bedingten seine Präsenz, infolgedessen hielt er sich regelmäßig sowohl in Salzburg als auch in der Landeshauptstadt Klagenfurt auf. Wie schon erwähnt, war er auch in seiner Pastoraltätigkeit sehr aktiv, was sich besonders auf der theoretischen Ebene und etwas weniger in der Praxis zeigte. Insbesondere galt dies für den Beginn seines bischöflichen Dienstes. Später behinderten ihn dabei sowohl gesundheitliche als auch finanzielle Schwierigkeiten, darüber hinaus auch die jährlichen Aufenthalte in Salzburg. Unmittelbar nach Antritt des Bischofsamtes fand in der Kathedralkirche in St. Andrä eine Diözesansynode statt, für die die Teilnehmer vom Papst einen vollständigen Ablass erhielten.14 Am 8. Juni 1724 erließ Attems einen Hirtenbrief,15 der als sein Pastoralplan angesehen werden kann. In diesem auch gedruckt vorliegenden Hirtenbrief wies er die Priester an, ihren Lehrdienst auszuüben und sich um die geistigen und körperlichen Bedürfnisse ihrer Gläubigen zu kümmern. Es riet den Priestern auch, sich ihrem Stand angemessen zu benehmen und zu kleiden. Außerdem sollten sie das Kirchenvermögen gewissenhaft verwalten und sie sollten sich um die Sauberkeit in den Kirchen und um die Spende der Sakramente kümmern. Gegenüber den weltlichen Herren und Obrigkeiten sollten sie sich höflich betragen und auf alle mögliche Weise Einigkeit mit ihnen halten. In seinem Pastoralprogramm zeigt sich – im Einklang mit den Ideen der Konfessionalisierung16 – sowohl das Bemühen um eine Vertiefung 12 Als Bischof durfte er sein Salzburger Kanonikat beibehalten. 13 Peter Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. 2 Bde. Freiburg – Basel – Wien 2006, 297. 14 NŠAM, Urkundensammlung, Nr. 242. 15 NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 57 – Stollordnung, Kart. 3; Tangl, Reihe, wie Anm. 5, 317–318. 16 Vgl. zur Konfessionalisierung Wolfgang Reinhard, Konfession und Konfessionalisierung in Europa. In: ders. (Hg.), Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang. München 1981, 165–189; Heinz Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe. Gütersloh 1981; Heinrich Richard Schmidt, Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungs-

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des katholischen Glaubens als auch das Prinzip der Trennung von Sakralem und Profanem und insbesondere die Sorge um die Kirchengebäude und deren Ausstattung. Bischof Attems starb nach einer 20-jährigen Amtszeit am 4. Mai 1744 in St. Andrä und wurde in der dortigen Loreto-Kirche zwischen dem HauptKreuzaltar und den Kapellen begraben.17 Das Bistum Lavant: Allgemeine Informationen Als Attems die Leitung des Bistums Lavant übernahm, wurde dieses in zwei Teile geteilt: das Archidiakonat St. Andrä in Kärnten/Niederkärnten und das Kommissariat Groß St. Florian in der Weststeiermark, die in mancher Hinsicht sehr unterschiedlich waren. Zu dem Niederkärntner Archidiakonat zählten neben den sieben Pfarren im heutigen österreichischen Kärnten (Dompfarre St. Andrä im Lavanttal mit inkorporierten Pfarren, Maria Rojach, Lavamünd, St. Martin im Granitztal, Pustritz, St. Georgen unter Stein/St. Georgen im Lavanttal, Brückl) auch sechs Pfarren auf heute slowenischem Gebiet (Unterdrauburg, Mahrenberg, Hohenmauten, Pernitzen, Fresen, Remschnig), was sich durch den Prozess des Aufbaus des Pfarrnetzes und die Nichtübereinstimmung der Kirchen- und Landesgrenzen erklären lässt. Das Kommissariat Groß St. Florian umfasste elf Pfarren: Groß St. Florian, Schwanberg, Gams/Bad Gams, Maria Osterwitz, St. Peter im Sulmtal, Deutschlandsberg, St. Veit in Altenmarkt, St. Andrä im Sausal, St. Jakob in Freiland, Gleinstätten und Hollenegg. Dass es sich um eine relativ kleine Diözese handelte, wird auch durch die Angaben aus den Visitationsprotokollen belegt, die beweisen, dass im Gebiet der Diözese rund 34.500 Kommunikant*innen lebten, woraus wir schlussfolgern können, dass die Gesamtzahl aller Einwohner*innen ungefähr zwischen 45.000 und 50.000 betrug. Die Pfarren im Kommissariat wurden ausschließlich von Weltpriestern verwaltet, im Archidiakonat standen einige Pfarren unter der Obhut von den Ordensgeistlichen des Benediktinerklosters in St. Paul, während die Kirchen in der Umgebung von St. Andrä in Lavanttal der Dompfarre inkorporiert waren. forschung. In: Historische Zeitschrift 265 (1997), 639–682. Für die Habsburgermonarchie Martin Scheutz, Konfessionalisierung von unten und oben sowie der administrative Umgang mit Geheimprotestantismus in den österreichischen Erbländern. In: Rudolf Leeb (Hg.), Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert). Wien – München 2009, 25–39. Allg. mit weiterführender Literatur Thomas Kaufmann, Konfessionalisierung. In: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit 6 (2007), Sp. 1053–1070. 17 NŠAM, Konsistorialprotokolle, Protokoll 1741–1746, Mai 1744.

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Visitationen und Visitationsakten des Bischofs Attems Da sich Attems gemäß den Beschlüssen des Konzils von Trient so schnell wie möglich mit der Situation in seinem Bistum vertraut machen wollte, erließ er bereits am 1. Juli 1724, kurz nach der Installation zum Bischof, ein Dekret, in dem er die Visitation der ihm anvertrauten Diözese ankündigte.18 Diese begann am 12. Juli,19 als der Bischof die Marienkirche in Rojach in Kärnten besuchte und sich mit den Geistlichen und dem Hilfspersonal traf. Einen Tag später war er in Unterdrauburg, wo er den Kaplan in Lavamünd und den Vikar in Unterdrauburg zur Visitation der dortigen Filialkirchen delegierte. Noch am selben Tag konnte man ihn in Hohenmauten antreffen, wo er die Pfarrkirche St. Margarethen visitierte. An den nächsten Tagen besuchte er die Pfarren Mahrenberg und Altenmarkt mit der Pfarrkirche Sankt Veit. Besonders festlich war es am 16. Juli, als er in Anwesenheit der meisten Pfarrer aus dem Kommissariat die Pfarrkirche St. Andrä im Sausal konsekrierte. Die nächsten drei Tage verbrachte der Bischof in der Pfarre Groß St. Florian, wo er unter anderem 595 Menschen das Sakrament der heiligen Firmung spendete. Am 20. Juli befand er sich in der Pfarre Gams, wo auch die Vertreter der Pfarre Maria Osterwitz eintrafen. Der Besuch in der dortigen Pfarrei war auch deshalb besonders, weil er zumindest teilweise der Visitation von Laien bzw. dem moralischen Leben der Laien und deren Disziplinierung gewidmet war.20 Hier verhörte er nämlich die junge 30-jährige Witwe Susanna Reinischin aus der Pfarre St. Jakob in Freiland, die beschuldigt wurde, „in einem blutschänderischen Verhältnis“ ihre Tochter Elisabeth empfangen und zur Welt gebracht zu haben. Am 21. Juli bereiste der Bischof die Pfarrkirche in Deutschlandsberg, wo er über das Schicksal der genannten Witwe entschied. Diese wurde zusätzlich zu einer bereits zuvor ausgesprochenen Geldstrafe mit dem Stehen am Pranger bestraft.21 Am Ende seiner Visitationsreise besuchte er auch die Pfarren Hollenegg, Schwanberg, St. Peter im Sulmtal und Gleinstätten.

18 NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 61 – Visitationen, Kart. 2/1. 19 Die Beschreibung der Visitation wird auf der Grundlage der Visitationsakten und des Protokolls der Konsistorialkanzlei 1724–1727 erstellt, das auch Aufzeichnungen über die Ordinationen und Konsekrationen des Bischofs von Attems für den Zeitraum 1724–1730 bzw. 1724–1725 enthält. NŠAM, Konsistorialprotokolle, Protokoll 1724–1727. 20 Vgl. Arthur Stögmann, Kirchliche Visitationen und landesfürstliche „Reformationskommissionen“ im 16. und 17. Jahrhundert am Beispiel von Niederösterreich. In: Josef Pauser / Martin Scheutz / Thomas Winkelbauer (Hg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie. Ein exemplarisches Handbuch. Wien – München 2004, 675–685, hier 679. 21 Vgl. Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. München 2010, 62–81.

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Während der Visitation inspizierte der Bischof nur Pfarrkirchen bzw. Pfarren, für die Visitation der Filialkirchen bevollmächtigte er hingegen die Pfarrer oder Kapläne. Auf seiner Visitationsreise spendete er auch mehrfach das Weihesakrament und die Firmung. Letztere erteilte er im Jahr 1724 an insgesamt 2.667 Personen. Während des Besuchs sprach er mit Priestern, Kirchenpröpsten, Mesnern und Schulmeistern. Die Protokolle dieser Gespräche sind erhalten, wobei die Schrift teilweise schwer lesbar ist. Es ist auch zu bemerken, dass nicht die gesamte Diözese visitiert wurde, es fehlten die Dompfarre in St. Andrä samt ihrer inkorporierten Pfarren sowie die Pfarren in deren Umgebung. Nach der Visitation erließ der Bischof neben partikulären Dekreten für einzelne Pfarren auch ein Generaldekret sowie allgemeine Verordnungen für alle Priester und Pfarren, durch welche die bei der Visitation festgestellten Mängel und Missstände beseitigt werden sollten. Im Generaldekret, das acht Artikel enthält, wurden die Priester auf die Sorge um die Kirchengebäude und Kirchenausstattung, auf Ordnung und Ruhe während des Gottesdienstes, auf die Führung der Kirchenbücher und Kirchenrechnungen, auf das Lesen von Stiftungsmessen und auf andere Verpflichtungen hingewiesen. Was die Strafen anbelangt, sollten die kanonischen Strafen den Geldstrafen vorgezogen werden. Die Gläubigen hatten in der Osterzeit die Beichte abzulegen und anschließend die Kommunion einzunehmen.22 Im Generaldekret lassen sich ähnliche Tendenzen wie im Pastoralbrief erkennen: Verbesserung der Seelsorge und Vertiefung des Glaubens. Nach dieser Antrittsvisitation wurde das Bistum erneut von Oktober 1732 bis Mai 1733 visitiert. Diesmal machte sich Bischof Attems nicht alleine auf den Weg, sondern er setzte delegierte Visitatoren ein, zeitweise hielt er sich während der Visitation sogar in Salzburg auf. Die Arbeit wurde in seinem Namen von Franciscus Antonius Cerroni, dem Unterdrauburger Probst, einem damals 62-jährigen Doktor der Theologie, geboren in Ljubljana in Krain, und von Bartholomeus Schmutz, dem Lavanter Konsistorialrat, erledigt. Neben diesen wurden noch einige andere Priester subdelegiert, die auch als Subvisitatoren fungierten. Die Rolle der delegierten Visitatoren endete nicht nur mit der Visitation, sondern diese schrieben auch Dekrete für einzelne Pfarren und bereiteten Vorschläge für die Zusammensetzung des Generaldekrets vor. Die Visitation begann am 13. Oktober in Groß St. Florian; bis zum 20. Oktober wurde das gesamte Kommissariat visitiert. Nach einer kurzen Pause wurde die Visitation am 27. Oktober mit den Pfarren im Drautal auf heutigem slowenischen Boden weitergeführt: Fresen, Remschnig, Mahrenberg, Hohenmauten, Pernitzen. Im April und Mai 1733 wurden noch die Pfarren in Kärnten visitiert: Unterdrauburg, Brückl, Lavamünd, Rojach, Pustritz, St. Martin im 22 NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 61 – Visitationen, Kart. 2/1, 24. September 1724.

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Abb. 1 Verlauf der Visitation des Bischofs Attems im Jahre 1724. Quelle: NŠAM, Konsistorialprotokolle, Protokoll 1724–1727.

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Granitztal, St. Georgen im Lavanttal, und die Dompfarre mit inkorporierten Kirchen. Für die Befragungen durch die Visitatoren wurde ein umfangreicher Fragenkatalog vorbereitet. Dieser bestand aus 160 Fragen,23 die in neun Kapiteln bzw. Themenkomplexe aufgeteilt waren: Kirche, Altäre, Tabernakel, Taufbecken/Taufstein, Sakristei, Bruderschaften, Friedhof, Priester/Kapläne, Kirchenpröpste/Mesner.24 Der Fragebogen oder das Interrogatorium aus dem Jahr 1732 ist umfangreicher als der Fragebogen aus dem Jahr 1724, der nur 64 Fragen beinhaltete. Aus den erhaltenen Protokollen und Berichten, die auf Basis dieses Fragenkatalogs erstellt wurden, lassen sich verschiedene Information zu den Zuständen der Kirchengebäude, zur Kirchenausstattung, zu den kirchenrechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, zur Amtsführung der Geistlichkeit und zum religiös-sittlichen Zustand der Gemeinde herauslesen, wobei die letzten zwei nicht besonders aussagekräftig dargestellt werden. Statistisch gesehen enthalten die umfangreichen Berichte am häufigsten Informationen über die Kirchen- und Nebengebäude und deren Ausstattung (die Realia), an zweiter Stelle stehen Angaben über den Klerus (die Personalia) und an der dritten die Angaben über die wirtschaftlichen bzw. finanziellen Angelegenheiten. Über ein Drittel der Fragen bezieht sich auf die Realia (36,5 %), während 22,4 % der Fragen die Geistlichkeit betreffen. Es überwiegen die Daten zu Kirchengebäuden und deren Ausstattung und nicht so sehr über das religiöse und moralische Leben von Priestern und Gläubigen,25 obwohl diese natürlich auch vorhanden sind. Das stimmt überein mit der Beobachtung von Peter Thaddäus Lang, wonach die katholischen Kirchenvisitationen im 18. Jahrhundert größtenteils der Datensammlung über die baulichen und finanziellen Gegebenheiten der Pfarren dienten, während im 16. Jahrhundert noch die Kontrolle von Amts- und Lebensführung der Priester im Vordergrund stand.26 Ähnlich wie nach der Visitation im Jahr 1724 erließ Bischof Attems auch nach dem Abschluss der Visitation im Jahr 1733 ein Generaldekret für alle Pfarren und Priester, das allerdings umfangreicher als das erste Dekret ausfiel. Es beinhaltete 29 Artikel, in denen der Bischof die Priester auf die Pflege von Kirchen und Kirchenausstattung (Altäre, Tabernakeln, Beichtstühle, liturgisches Gerät), 23 Neben dem oben angeführten wurde auch ein noch umfassender Fragebogen aufgestellt, der u. a. auch Fragen über den Ehestand und das eheliche Leben beinhaltete, den die Visitatoren aber nicht anwendeten. NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 61 – Visitationen, Kart. 3/3. 24 Vgl. Peter Thaddäus Lang, Die katholischen Kirchenvisitationen des 18. Jahrhunderts. Der Wandel vom Disziplinierungs- zum Datensammlungsinstrument. In: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 83 (1988), 265–295. 25 Vgl. Ernst Walter Zeeden, Visitationsforschung und Geschichtsschreibung. In: Theologische Revenue 87 (1991), 353–366. 26 Lang, Kirchenvisitationen, wie Anm. 24, 274.

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auf das Ordnen der Friedhöfe, die Erfüllung pastoraler Pflichten (Gottesdienst und Spenden der Sakramente, Christenlehre, Schulfürsorge) sowie auf ein dem Klerikerstand angemessenes Leben hinwies.27 Die Visitationsakten, die im Zuge der Visitationen unter Bischof Attems zwischen den Jahren 1732 und 1733 entstanden, sind die ältesten vollständig erhaltenen Quellen für die gesamte Diözese Lavant. Wichtig ist nicht nur, dass dieses Material den Bereich der gesamten Diözese Lavant abdeckt, sondern auch, dass der Bestand die gesamten Akten, die vor der Visitation (Korrespondenz bezüglich der Visitation, Ankündigung der Visitation, Fragebogen), während (Visitationsprotokolle) und nach der Visitation (Korrespondenz nach der Visitation, Ergebnisse, Berichte, Dekrete für einzelne Pfarreien, Normalien) erstellt wurden,28 enthält. Natürlich fanden vor der Zeit von Attems auch bereits Visitationen in der Diözese Lavant statt, die letzten waren beispielsweise in den Jahren 1720 und 1721, jedoch sind diese nicht vollständig erhalten bzw. sind sie inhaltlich mangelhaft. Interessant sind die Visitationen von Bischof Franz Kaspar von Stadion (1673–1704), da auf deren Grundlage 1702 eine Beschreibung der Diözese namens Relatio Moderni Status Episcopatus Lavantini bzw. Descriptio Dio(e)cesis Lavantinae 170229 entstand, jedoch fehlen hier Informationen zur Geistlichkeit bzw. die Personalia. Was die Interpretation der Quellen angeht, muss man berücksichtigen, dass die Visitationsakten, vor allem die Protokolle und Berichte, die während und unmittelbar nach der Visitation entstanden, nicht immer die reale, sondern manchmal wohl die gewünschte Situation wiedergeben, insbesondere wenn es um die Amts- und Lebensführung der Klerus sowie um das religiöse und sittliche Leben der Gemeinden ging. Es gab für die befragten Priester viele Gründe, die Situation zu verschönern und sich und die Gläubigen in einem möglichst günstigen Licht darzustellen,30 weshalb bei der Interpretation Vorsicht geboten ist. Um ein klareres Bild zu bekommen, muss man auch verschiedene andere Quellen zur Hilfe heranziehen.

27 NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 8 – Römische Akten etc., Kart. 4. 28 Vgl. Peter Thaddäus Lang, Visitationsakten. In: Christian Keitel (Hg.), Serielle Quellen in südwestdeutschen Archiven. Stuttgart 2005, 127–136. 29 Lilijana Urlep, Škof Franc I. Gašpar pl. Stadion in njegov opis lavantinske škofije [Bischof Franz I. Kaspar von Stadion und seine Beschreibung des Lavanter Bistums]. In: Arhivi: glasilo Arhivskega društva in arhivov Slovenije [Zeitschrift des Archivvereins und der Archive Sloweniens] 34 (2011), 2, 465–476. 30 Vgl. Stögmann, Visitationen, wie Anm. 20, 679.

Kirchenvisitationen und Visitationsberichte des Lavanter Fürstbischofs

Abb. 2 Visitation der Filialkirche Hl. Nikolaus in Trahütten, 20. Oktober 1732. Quelle: NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 61 – Visitationen, Kart. 3/3, bifol. 38.

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Überblick über die politisch-religiösen und pastoralen Dimensionen der Diözese Lavant im Geiste der pastoralen Pläne und Ideen von Bischof Attems Kirchenrechtliche Verhältnisse und Verhältnisse zur weltlichen Obrigkeit Bischof Attems war um gute Beziehungen zu den weltlichen Obrigkeiten sowie anderen weltlichen und geistlichen Würdenträgern bemüht. So wies er in seinem Hirtenbrief aus dem Jahr 1724 die Priester an, sich gegenüber den weltlichen Obrigkeiten höflich zu verhalten und nach Einheit bzw. Eintracht zu streben.31 Während der Visitationen traf der Bischof entweder direkt oder indirekt mit vielen geistlichen und weltlichen Würdenträgern und Obrigkeiten zusammen. Mit der Landesobrigkeit kam der Bischof vor allem während der Ankündigung von Visitationen in Kontakt, zudem auch bei der Visitation der Pfarre Schwanberg, die im Besitz des Landesfürsten war, weshalb der vom Landesfürsten ernannte Kommissar grundsätzlich das Recht hatte, die Visitationen der Temporalien vorzunehmen.32 Im Jahre 1732 scheiterten sogar die Vereinbarungen für eine Visitation der Pfarrkirche, sodass bei dieser Gelegenheit die Pfarrkirche in Schwanberg überhaupt nicht visitiert wurde.33 Im Geiste einer guten Zusammenarbeit mit den Obrigkeiten und im Sinne der Stärkung des Konfessionsstaates befahl Attems im Hirtenbrief auch, dass die Priester zusammen mit den Gläubigen einen Rosenkranz beten sollten, damit dem Kaiserpaar34 ein männlicher Erbe geboren werde. Solche Gebete für die kaiserliche Familie fanden sehr häufig statt.35 Zudem wies der Bischof die Priester im Geiste der Konfessionalisierung bzw. des Kampfes gegen den Geheimprotestantismus an, über die Häresie und das Lesen verbotener Bücher zu wachen.36 Ob der Bischof jemals in der Diözese Lavant auf verbotene Bücher gestoßen ist, wurde bisher nicht festgestellt, auf jeden Fall war er als Generalvikar – zumindest indirekt – mit diesem Problem konfrontiert. 31 Hirtenbrief 1724, wie Anm. 15, Artikel 5. 32 Vgl. Johannes Mühlsteiger, Der Kampf der Salzburger Kirche um das Einweisungsrecht in die Temporalien. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 89, Kanonistische Abt. 58 (1972), 198–234, hier 216. 33 NŠAM, Konsistorialprotokolle, Protokoll 1731–1734, 20. November 1732. 34 Kaiser Karl VI. und seine Ehegattin Kaiserin Elisabeth Christine, Eltern von Kaiserin Maria Theresia. 35 NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 57 – Stollordnung, Kart. 2 und 3. Vgl. Peter Tropper, Die Berichte der Pastoralvisitationen des Görzer Erzbischofs Karl Michael von Attems in Kärnten von 1751 bis 1762. Wien 1993, XXXIV. 36 Hirtenbrief 1724, wie Anm. 15, Artikel 8. Vgl. Geschichte der Kirche 3. Reformation und Gegenreformation (1500–1715). Ljubljana 1994, 157; Tropper, Glut, wie Anm. 10, 105.

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Bei Visitationen traten auch die Beziehungen zu anderen weltlichen und geistlichen Würdenträgern, die bei einzelnen Kirchen Patronatsrechte oder ähnliche Rechte innehatten, in den Vordergrund. Das Patronat und die damit verbundenen Präsentationsrechte über die Pfarrkirchen im Bistum übten sowohl weltliche als auch kirchliche Herren aus: der Abt des Benediktinerklosters St. Paul in Lavanttal, der Abt des Benediktinerklosters Admont, der Landesfürst, der Besitzer des Schlosses Hollenegg etc. Einige Pfarren waren anderen Klöstern einverleibt, der häufigste Zweck der Inkorporierung war die Verbesserung des finanziellen Zustands der Institution bzw. des Klosters. In den Beziehungen zwischen den Bischöfen und den verschiedenen Rechtsinhabern kam es immer wieder auch zu Streitigkeiten. Im Vordergrund standen dabei vor allem Kompetenzfragen über die Visitationszuständigkeit und wirtschaftliche Angelegenheiten.37 Im Jahr 1724 verbot der Abt von Admont dem Pfarrer und den Kirchenpröpsten, Fragen über das Kirchenvermögen zu beantworten, und in den Jahren 1732/33 trat das Bistum Lavant sehr scharf gegen die Weihe der Portatilen (Tragaltäre) seitens des Admonter Abtes auf.38 Die Beziehungen zwischen den Lavanter Bischöfen und den Äbten von St. Paul waren größtenteils gut, dennoch war der Vikar in Fräsen, Pater Placidus Pilpach, nach Anweisung des Abtes von St. Paul im Jahr 1732 nicht bereit, dem Visitator den Besuch des Pfarrhauses zu erlauben.39 Damit war der Visitator nicht einverstanden, da er mit seinem Eintritt keines der Rechte des Klosters von St. Paul verletze. Zu Konflikten und Meinungsverschiedenheiten kam es auch wegen Privatoratorien und Kapellen in den Pfarreien. Dabei stand häufig die Frage des Visitationsrechts des Bischofs im Vordergrund. Es kam auch zu Streitigkeiten wegen der Gottesdienste, die regelmäßig in diesen Einrichtungen stattfanden und an denen auch Gemeindemitglieder teilnahmen. So besuchten die Pfarrmitglieder von Pernitzen den Gottesdienst in der Kapelle bei der Glashütte in Soboth, die nicht einmal eine Messelizenz hatte, und vernachlässigten dabei den Gottesdienst in ihren Kirchen.40 Um dieses Problem zu lösen, rieten die Visitatoren zur Ausstellung einer Messelizenz, die ohnehin bereits im Gange war. Zu ähnlichen Problemen kam es vielerorts. In solchen Fällen versuchten die Pfarrer bzw. der Bischof normalerweise, den Gläubigen die Teilnahme am Gottesdient in den privaten Oratorien zu verbieten.41 Hintergrund des Problems war unter anderem die aus dem Mittelalter stammende Einteilung der 37 38 39 40 41

Vgl. Mühlsteiger, Kampf, wie Anm. 32, 198–234. NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 61 – Visitationen, Kart. 2/5, bifol. (= Doppelblatt) 7. Ebd., bifol. 8. NŠAM, Konsistorialkanzlei, D XVI – Mahrenberg, Kart. 20, Visitation 1732/33, Pernitzen. Jože Mlinarič, Die Pfarren in der slowenischen Steiermark in den Visitationsprotokollen des Archidiakonats zwischen Drau und Mur 1656–1774. Ljubljana 1987, 34.

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Pfarren, erst ein halbes Jahrhundert später kam es im Rahmen der Neuregulierung der Pfarrgemeinden unter Kaiser Joseph II. zur Neugründung von Pfarren, die den zurückzulegenden Fußweg der Gläubigen zur nächstgelegenen Pfarre verkürzten. Die Beziehungen zu den Klöstern und Klostergemeinschaften, die sich auf dem Boden der Diözese befanden, waren größtenteils gut. Zu Reibungen kam es nur, weil die Gemeindemitglieder ihre Osterpflichten im Kloster und nicht in ihrer Pfarre verrichteten. Als der Pfarrer in Hollenegg bei der Visitation 1732 angab, dass sich viele Pfarrmitglieder zu Ostern an andere Orte begaben, insbesondere zu den Kapuzinern in Schwanberg,42 wies ihn der Visitator darauf hin, dass die Pfarrmitglieder ihren Osterpflichten bei ihrem Pfarrer nachzukommen hätten.43 Zustand der Kirchen und ihre Ausstattung Die Informationen zu den Kirchengebäuden offenbaren die großen Veränderungen, die diese im 17. und 18. Jahrhundert erfahren hatten: zahlreiche Gebäude waren nämlich im damals herrschen Barockstil umgebaut oder neu errichtet worden. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert, also auch schon unter den Vorgängern des Bischof Attems, herrschte im Lavanter Bistum eine emsige Bautätigkeit, die im steirischen Teil des Bistums bzw. im Kommissariat Groß St. Florian besonders ausgeprägt war. Neue Kirchen wurden gebaut, alte Gebäude umgebaut oder erweitert und mit neuen Altären und anderen Einrichtungsgegenständen ausgestattet. Obwohl Attems den Bau neuer Kirchen unterstützte, betonte er im Hirtenbrief aus dem Jahr 1724, dass niemand ohne seine Erlaubnis eine Kirche oder Kapelle errichten dürfe.44 Dieses Verbot ist wohl im Kontext der Bemühungen, Profanes und Heiliges zu trennen, einzuordnen. Wie manche seiner Vorgänger betonte Attems die Sorge um die Kirchengebäude sowie die Kirchenausstattung und Sauberkeit in den Kirchen. In seinem Hirtenbrief aus dem Jahr 1724 wies er die Priester an, sich um die Reinheit in der Kirche zu kümmern, was sich auch auf die Angemessenheit der Ausstattung bezog; diesem Thema widmete er nicht zuletzt in den beiden Generaldekreten aus den Jahren 1724 und 1733 große Aufmerksamkeit. Im Generaldekret von 1724 gab er im ersten Artikel den Priestern den Auftrag, alle Kirchen und Kapellen vor Beschädigungen und Baufälligkeit zu schützen.45 In ähnlicher Weise erhielten die Priester im Generaldekret von 1733 den Auftrag, dass alle Kirchen 42 43 44 45

NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 61 – Visitationen, Kart. 3/3, bifol. 31. Ebd., Kart. 2/5, bifol. 6. Hirtenbrief 1724, wie Anm. 15, Artikel 13. Generaldekret 1724, wie Anm. 22, Artikel 1.

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angemessen geschmückt und alle möglichen einsetzenden Baufälligkeiten sofort beseitigt werden sollten.46 Hintergrund dieser Sorge war die Beachtung der liturgischen Normen. Dabei befolgten Attems und andere Visitatoren sowohl die Beschlüsse des Konzils von Trient als auch die daraus folgenden Anordnungen wie z. B. die Instructiones Fabricae et supellectilis Ecclesiasticus des Hl. Karl Borromäus.47 Die wichtigsten Vorschriften, die die Sakralarchitektur, den Zustand und die Raumordnung der Gotteshäuser und die Ausstattung der Kirchen beeinflussten, waren die Normen über den Gottesdienst und die Sakramente, besonders über Eucharistie und Liturgie.48 Darüber hinaus zeigte sich bei der Sorge um Kirchengebäude und deren Ausstattung sowohl die Trennung von Profanem und Sakralem als auch eine neue Ästhetik des Kirchenschmucks.49 Das Gotteshaus sollte frei sein von all dem, was nun als profan identifiziert wurde. Das Kirchengebäude sollte gemäß den Anordnungen des Konzils von Trient nur rein sakralen Zwecken dienen, aus dem alles Profane ausgeschlossen war. Die strikte Trennung von Sakralem und Profanem sollte sich auch auf die kirchlichen Nebengebäude und Friedhofe beziehen.50 Attems und seine subdelegierten Visitatoren passten jedenfalls sorgfältig darauf auf, dass es in den Kirchen keine Dinge gab, die dort nicht hingehörten. In der Kirche St. Andreas auf der Gretschitz am Johannserberg wurden in der Vorhalle Holzbehälter für die Zubereitung und Lagerung von Bier aufbewahrt. Der Visitator verbot dies streng, mit dem Argument, es handle sich um eine Profanierung des Gottesdienstraumes.51 Bischof Attems achtete auch sehr auf die Innenausstattung der Kirchen, besonders von Altären, Tabernakeln, Taufbecken und Beichtstühlen einerseits und Paramenten, liturgischen Geräten und Messbüchern andererseits, all dies sollte dem Sakralen dienen und scharf vom Säkularen getrennt sein.52 Er und seine delegierten Visitatoren legten ein besonderes Augenmerk auf den Zustand und die Ausstattung der Altäre und deren Weihe. War ein Altar nicht geweiht, mussten in diesen geweihte tragbare Altäre oder Portatilen eingelegt werden, um eine Messe feiern zu dürfen. Im Generaldekret von 1733 wies er die Priester auf die Bedeutung der Altarweihe 46 Generaldekret 1733, wie Anm. 27, Artikel 3. 47 Vgl. Susanne Mayer-Himmelheber, Bischöfliche Kunstpolitik nach dem Tridentinum. Der Secunda-Roma-Anspruch Carlo Borromeos und die mailändischen Verordnungen zu Bau und Ausstattung von Kirchen. München 1984. 48 Vgl. Robert B. Vitte, Das katholische Gotteshaus. Sein Aufbau, seien Ausstattung, seine Pflege im Geiste der Liturgie, der Tradition und Vorschrift der Kirche. Mainz 1939. 49 Werner Freitag, Die Kirche im Dorf. In: Johannes Burkhardt (Hg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit. München 2005, 147–158, hier 149. 50 Ebd.; Hersche, Muße, wie Anm. 13, 703. 51 NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 61 – Visitationen, Kart. 2/5, bifol. 9. 52 Freitag, Kirche, wie Anm. 49, 150.

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und das richtige Aussehen der Altäre hin.53 Im Geist der posttridentinischen Erneuerung wurde auch den Beichtstühlen, in denen die Gläubigen im Rahmen der Beichte die Vergebung der Sünden erhielten, und besonders dem Sakrament der Buße große Aufmerksamkeit geschenkt. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren nämlich noch nicht alle Kirchen im Bistum Lavant mit Beichtstühlen ausgestattet. Wenn es einen solchen nicht gab, fand die Beichte in anderen Räumlichkeiten der Kirche oder im Pfarrhaus statt. Im allgemeinen Dekret aus dem Jahr 1733 wurde angewiesen, dass alle Kirchen mit einem Beichtstuhl auszustatten seien,54 was im Laufe des 18. Jahrhundert umgesetzt wurde. Was die Paramente, Messgewänder und liturgisches Gerät angeht, konnte festgestellt werden, dass die Kirchen im Lavanter Bistum ziemlich gut mit diesen erforderlichen Utensilien versorgt waren. Die Pfarrkirchen schnitten dabei besser ab, während Mängel an der Ausstattung meist bei den Filialkirchen, z. B. bei den Kirchen St. Magdalena in Fresslitzen, St. Lorenzen am Johannserberg und St. Gertrude in Pölling, die zur Pfarrei Brückl gehörten, festgestellt wurden. Friedhöfe Dass Bischof Attems der angemessenen Regelung der Friedhöfe und der würdigen Durchführung des Bestattungsrituals, auch im Geiste einer scharfen Trennung zwischen Profanem und Sakralem, große Bedeutung schenkte, zeigt die Tatsache, dass im Generaldekret von 1733 gleich vier Artikel diesem Thema gewidmet sind.55 So wird im Artikel 16 nachdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Priester bei der Bestattung anwesend sein müsse und dass das Ritual in keinem Fall von Verwandten oder von kirchlichen Mitarbeitern wie Kirchenpröpsten oder Mesner durchgeführt werden dürfe. Solche Praktiken und Missbräuche kamen nämlich im Archidiakonat St. Andrä häufig vor. Attems und andere Visitatoren waren strikt gegen diese Praxis und verboten diese auch.56 Verantwortlich dafür waren sowohl die Geistlichen, die die Bezahlung von Stolgebühren verlangten, als auch die Laien, die gewohnt waren, die Beisetzung allein durchzuführen. Klerus und Gläubige Die Priester mussten für das Wohlergehen der ihnen anvertrauten Seelen sorgen. Sie mussten die Messe lesen, predigen, die Beichte abnehmen, Sakramente spenden, die Christenlehre halten usw. Außerdem mussten sie ihren Pflichten sorgfältig nachkommen und sich ihrem Stand angemessen verhalten. Im Geiste 53 54 55 56

Generaldekret 1733, wie Anm. 27, Artikel 8. Ebd., Artikel 4. Ebd., Artikel 15–18. NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 61 – Visitationen, Kart. 2/5, bifol. 10.

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der Konfessionalisierung wies Bischof Attems sowohl im Hirtenbrief aus dem Jahr 1724 als auch bei beiden Visitationen immer wieder auf die Bedeutung der Intensivierung des katholischen Glaubensunterrichtes hin. Dabei beschränkte er sich zumindest im Hirtenbrief nicht nur auf die Kinder- und Christenlehre, sondern auch auf die Hauskatechesen, die einer der wichtigsten Faktoren bei der Konfessionalisierung bzw. im Kampf gegen den Geheimprotestantismus waren.57 Aus verschiedenen Visitationsberichten geht hervor, dass Priester an einigen Orten, insbesondere in Filialkirchen, das Unterrichten der Christenlehre vernachlässigten. Auf die regelmäßige Abhaltung der Kinder- und Christenlehre wurde etwa bei der Visitation 1732/33 des Priesters in Fresen, der die Christenlehre nur in der Fasten-, nicht aber in der Adventzeit unterrichtete,58 und des Priesters in Pustritz hingewiesen.59 Daraus kann man schließen, dass die Ideen des Bischofs, seiner Vorgänger und anderer Gleichgesinnter in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht endgültig in die Praxis umgesetzt wurden. Die Sorge des Bischofs um die Kenntnisse der Christenlehre zeigte sich auch bei Jungvermählten. So betonte er im Hirtenbrief aus dem Jahr 1724, dass Priester das Brautpaar über ihr Wissen der Christenlehre befragen müssen.60 Die Bestimmung sollte verhindern, dass diese ohne religiöse Grundkenntnisse eine Ehe eingingen.61 Neben der Katechese waren zur Vertiefung des religiösen Wissens die Schulen wichtig. Die Priester hatten die Aufgabe die Schule regelmäßig zu besuchen. Diese Verpflichtung, die ihnen auch das Generaldekret von 1733 auferlegte,62 wurde jedoch von manchen nicht ausgeführt oder sie wurde dem Kaplan übertragen. In Bezug auf die Ausbildung der Priester selbst, die als Voraussetzung für die Vertiefung des Glaubens dienen sollte, setzte Attems keine besonderen Initiativen. Während der Visitation wurden die Priester zwar gefragt, ob sie Bücher hätten und ob sie diese regelmäßig lesen würden, andere zusätzlichen Bestimmungen konnten allerdings nicht gefunden werden. Aus den erhaltenen Visitationsprotokollen geht hervor, dass die meisten Priester eine angemessene oder ausreichend gute theologische Ausbildung hatten, viele von ihnen absolvierten philosophische und/oder theologische Studien an der Grazer oder anderen Universitäten. Beispielsweise amtierte im Jahre 1732 in Hollenegg der Pfarrer Simon Ziegler, ein Steirer aus der Pfarre St. Andrä im Sausal, der an der Universität Graz den Titel Magister der Philosophie erworben hatte und 57 58 59 60 61 62

Tropper, Glut, wie Anm. 10, 110–112. NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 61 – Visitationen, Kart. 3/3, bifol. 46. Ebd., Kart. 2/5, bifol. 11. Hirtenbrief 1724, wie Anm. 15, Artikel 11. Vgl. Stögmann, Visitationen, wie Anm. 20, 680. Generaldekret 1733, wie Anm. 27, Artikel 24.

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anschließend dort spekulative Theologie studierte. In Bezug auf pädagogische und pastorale Erfahrungen ragt Joseph Hasenfraß (auch Hasenfratz), Kaplan in Gleinstätten, im Jahr 1732 negativ hervor. Der Priester, der vom Visitator als ein Schwabe aus Löffingen beschrieben wurde, war mangelhaft gebildet. Bevor er im Bereich des Kommissariats zu arbeiten begann, hatte er weder Kontakt zur Moraltheologie noch ein Philosophiestudium abgeschlossen.63 In Bezug auf die Haltung gegenüber den Gläubigen riet Bischof Attems den Priestern bereits in seinem Hirtenbrief aus dem Jahr 1724, dass sie die Liebe und den Respekt der Gläubigen erlangen und sich um deren religiöse und körperliche Bedürfnisse kümmern sollten.64 Der Trennung des Profanen vom Sakralen diente die Bestimmung, dass Priester nicht auf die Jagd gehen durften, dass sie angemessen gekleidet sein und die Tonsurpflicht respektieren sollten, womit sie sich von den Laien unterschieden.65 Bezüglich der Amts- und Lebensführung des Klerus kann festgehalten werden, dass die meisten Priester ihre Aufgaben sorgfältig erfüllten und sich untereinander und gegenüber dem Volk größtenteils vorbildlich verhielten. Es gab aber auch Ausnahmen. So hatte sich der Pfarrer in Remschnig, Philip Aschnig, über das angeblich unmoralische und unangemessene Benehmen seines Kaplans beschwert,66 jedoch riet der Visitator zur Zurückhaltung. Die meisten Unregelmäßigkeiten tauchten bei der Kinder- und Christenlehre und beim Gottesdienst auf. Der Gottesdienst wurde in den Pfarrkirchen regelmäßig gefeiert, aber bei den Filialkirchen beschwerten sich die Leute, dass die Priester die Messen nicht immer zur gleichen festgesetzten Zeit abhielten. Neben diesen Unregelmäßigkeiten hatten einige Priester Probleme, die Residenzpflicht einzuhalten.67 Zwar residierten die meisten Priester entsprechend der Vorgaben des Konzils von Trient in ihrer Pfarre, allerdings sah die Situation in jenen Pfarren und Kirchen, die dem Domkapitel inkorporiert waren, anders aus. So wohnte der Pfarrer Franz Sigismund de Kristalinitz, der auch Domherr im Domkapitel in St. Andrä war, nicht in Pölling, sondern in St. Andrä; in Pölling lebte nur der Kaplan. Der Visitator wies den Pfarrer an, seine Pfarre regelmäßig zu besuchen und dort Gottesdienste zu verrichten.68 In Bezug auf das religiöse Leben der Gläubigen achtete Bischof Attems auf den Gottesdienstbesuch und die Sakramentsspendung, wobei er insbesondere 63 64 65 66 67

NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 61 – Visitationen, Kart. 3/3, bifol. 14. Hirtenbrief 1724, wie Anm. 15, Artikel 2 und 3. Ebd., Artikel 6 und 13. NŠAM, Konsistorialkanzlei, D XVI – Mahrenberg, Kart. 20, Visitation 1732/33. Im Konzil von Trient wurden sowohl Bischöfe als auch die Priester verpflichtet in dem Bistum bzw. in der Pfarre zu wohnen. Hubert Jedin, Geschichte des Konzils von Trient. Bd. 4/1: Dritte Tagungsperiode und Abschluss. Freiburg – Basel – Wien 1975, 237–243. 68 NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 61 – Visitationen, Kart. 3/3, bifol. 109; Ebd., Kart. 2/5, bifol. 11.

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die Pflicht zum Empfang der Ostersakramente betonte. Die Gläubigen hatten in der Osterzeit die Beichte abzulegen und anschließend die Kommunion zu empfangen, was die meisten Pfarrmitglieder mit wenigen Ausnahmen auch befolgten. Die Ablegung der Beichte bezeugte der Beichtzettel, den die Gläubigen ihrem Pfarrer zu überreichen hatten, was Bischof Attems – ähnlich wie viele seiner Zeitgenossen – sowohl in seinem ersten Hirtenbrief69 als auch im Generaldekret von 172470 unterstrich. In beiden Dokumenten betonte er auch, dass Priester dem Ordinariat jene Gläubige melden müssten, die keine Osterbeichte ablegten. Um die Menschen auf die Beichte vorzubereiten und sie dazu zu ermutigen, riet er den Priestern, Predigten über die Hölle zu halten.71 Im Zeitalter des konfessionellen Absolutismus und im Sinne der engen Verbindung zwischen der katholischen Kirche und dem habsburgischen Staat, wurden die Ablegung der Osterbeichte und der Empfang der Kommunion im 18. Jahrhundert nicht nur als Pflicht der Gläubigen, sondern auch als Untertanenpflicht betrachtet.72 Bischof Attems trieb auch die soziale Disziplinierung in Hinblick auf das religiöse und das moralische Leben voran. So wies er im Generaldekret aus dem Jahr 1724 auf die allgemeine Ordnung und das Schweigegebot während des Gottesdienstes hin,73 womit die Aufmerksamkeit im Gottesdienst und eine vertiefte persönlichen Frömmigkeit gefördert werden sollten.74 Bei der Bestrafung von Gläubigen, die gegen religiöse, moralische oder andere Gebote verstießen, gab der Bischof den religiösen Strafen vor den Geldstrafen Vorrang.75 Die öffentliche Buße bzw. Bestrafung sollte nämlich auch der Disziplinierung und Warnung anderer Gemeinschaftsmitglieder dienen.76 Bei der Durchsetzung religiöser und moralischer Normen verließ er sich auf die weltlichen Obrigkeiten.77 Das religiöse und moralische Leben der Gläubigen wurde in den Visitationen während der Regierungszeit des Bischof Attems nicht übermäßig getadelt. Nach den Berichten erfüllten die Gläubigen meist ihre religiösen Pflichten, insbesondere die Osterbeichte, moralische Fehler wurden hauptsächlich im Eheleben 69 70 71 72 73 74 75 76 77

Hirtenbrief 1724, wie Anm. 15, Artikel 15. Generaldekret 1724, wie Anm. 22, Artikel 3. Generaldekret 1733, wie Anm. 27, Artikel 25. Eduard Winter, Barock, Absolutismus und Aufklärung in der Donaumonarchie. Wien 1971, 9–10 und 17–18; Tropper, Berichte, wie Anm. 35, XXXIV. Generaldekret 1724, wie Anm. 22, Artikel 4. Freitag, Kirche, wie Anm. 49, 152. Generaldekret 1724, wie Anm. 22, Artikel 5; Generaldekret 1733, wie Anm. 27, Artikel 22. Van Dülmen, Theater, wie Anm. 21, 62–81. NŠAM, Konsistorialkanzlei, F 61 – Visitationen, Kart. 2/5, bifol. 10–11; Vgl. Tropper, Glut, wie Anm. 10, 55.

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und bei der Geburt unehelicher Kinder bemängelt. Bei den Visitationen wurden keine Fälle von Häresie festgestellt. Dass man diesbezüglichen Angaben in den Visitationsprotokollen und Berichten mit einer gewissen Skepsis begegnen sollte, zeigt beispielsweise wenig später eine Begebenheit aus dem Jahr 1738, als eine Familie aus der Pfarre Remschnig in den Verdacht der Häresie geriet. Am Ende des nachfolgenden Verfahrens stellte sich allerdings heraus, dass es nicht um Häresie, sondern nur um religiöse Unwissenheit handelte.78 Aber trotzdem wirft diese Geschichte einen gewissen Schatten auf die Zuverlässigkeit der Visitationsberichte als auch auf die ordnungsgemäße Haltung des Religionsunterrichts bzw. der Christenlehre. Schluss Der Lavanter Fürstbischof Joseph Oswald Reichsgraf von Attems (1724–1744) widmete der Pastoraltätigkeit viel Aufmerksamkeit. Dies schlug sich allerdings hauptsächlich im theoretischen Bereich nieder. In der Praxis war er hingegen aufgrund schlechter materieller Bedingungen, seines angeschlagenen Gesundheitszustandes sowie aufgrund verschiedener weiterer Verpflichtungen weniger aktiv. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt im Jahr 1724 erließ er einen Hirtenbrief, der auf die Vertiefung des Glaubenswissens und der katholischen Lebensführung abzielte und als sein Pastoralprogramm bezeichnet werden kann. In seiner Pastoraltätigkeit spielten auch die Visitationen eine wichtige Rolle. Das erste Mal visitierte Bischof Attems die Diözese Lavant unmittelbar nach seinem Dienstantritt, das zweite Mal in den Jahren 1732/33. Im Jahr 1724 war er selbst unterwegs, das zweite Mal bediente er sich des Systems der delegierten Visitatoren. Die Visitationsakten enthalten zahlreiche Informationen über den Zustand der Kirchengebäude und deren Ausstattung, zur Amts- und Lebensführung des Klerus, zu den wirtschaftlichen und kirchenrechtlichen Verhältnissen und so weiter. In den Visitationen spiegeln sich deutlich seine pastoralen Pläne und Ideen wider, insbesondere in den Dekreten, die nach Ende der Visitation erlassen wurden und die den gewünschten Zustand darlegen. Über die Visitationen kann man nachvollziehen, ob und wie das Pastoralprogramm des Bischofs aus dem Jahr 1724 in die Praxis umgesetzt wurde. In der Amtszeit Bischofs Attems war das Lavanter Bistum in das Archidiakonat St. Andrä im Lavanttal und das Kommissariat Groß St. Florian unterteilt. Aus den erhaltenen Visitationsprotokollen und Berichten geht hervor, dass sich die Umstände im Gebiet des Kommissariats von jenen im Archidiakonat etwas 78 NŠAM, Konsistorialprotokolle, Protokoll 1737–1741, 15. Februar 1738.

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unterschieden. Die Differenzen zeigten sich vor allem in der unterschiedlichen Intensität der Bautätigkeit und teilweise in der Durchführung pastoraler Tätigkeiten. Auch einige unzulässige Praktiken und Missbräuche kamen im Archidiakonat St. Andrä häufiger vor. Diese Unterschiede lassen sich durch die Geschichte des Bistums, die Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen (historischen) Ländern und die unterschiedliche Seelsorge durch Welt- bzw. Ordenspriester erklären. Wie die Visitationsprotokolle und Berichte zeigen, verrichteten die Priester, die im Bistum tätig waren, ihre pastoralen Pflichten meistens den Vorgaben entsprechend, an Verstößen werden vor allem Unregelmäßigkeiten bei der Durchführung von Gottesdiensten und dem Halten der Christenlehre sowie eine Vernachlässigung der Schulen genannt. Ihr Benehmen gegenüber den Mitbrüdern und Gläubigen wird kaum kritisiert und es gab auch nicht viele Disziplinarvorstöße. Dasselbe gilt auch für die Gemeinden. Aus den Protokollen und Berichte kann man schlussfolgern, dass das religiöse und moralische Leben der Gläubigen im Wesentlichen den kirchlichen Vorstellungen entsprach. Diesbezügliche Angaben sind dennoch mit Vorsicht und Skepsis zu betrachten. Was die Umsetzung des Pastoralplans von Bischof Attems angeht, konnte festgestellt werden, dass sich dieser um gute Beziehungen mit den weltlichen Obrigkeiten bemüht hat, obwohl es in der Praxis nicht immer ohne Reibereien abging. Im religiösen und moralischen Bereich strebte er nach einer Hebung der Qualität der Seelsorge, einer Vertiefung des katholischen Glaubenswissens und der Lebensführung sowie einer Verbesserung des moralischen Lebens. Gleichzeitig setzte er wie auch seine Nachfolger auf eine gute Zusammenarbeit mit den weltlichen Obrigkeiten. Zu seinen wichtigsten pastoralen Innovationen gehörte die Idee eines vertieften Religionsunterrichts in Form von Kinderund Christenlehre sowie Hauskatechesen, die bis zu seiner Visitation in den Jahren 1732/33 noch nicht vollkommen in die Praxis umgesetzt wurde. Im Allgemeinen zeigt sich, dass seine pastoralen Ideen und Pläne dem Geist der vorherrschenden Konfessionalisierung und sozialen Disziplinierung der Bevölkerung bzw. der Gläubigen, entsprachen.

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Von der symbolischen Herrschaftsübernahme zur Emanzipation regionaler Eliten Die Reise der Familie Leopolds II. durch Tirol anlässlich des Herrschaftswechsels im Jahr 1790

„Uiberhaupt herrscht in Tyrol und besonders im Etsch Viertel grosse Gährung.“1 Diese besorgniserregenden Informationen musste der designierte Herrscher der Habsburgermonarchie, der toskanische Großherzog Peter Leopold (1747–1792), auf dem Weg von Florenz nach Wien im März 1790 in Bozen vernehmen. Doch nicht nur aus Tirol, sondern aus fast allen habsburgischen Ländern drangen solche beunruhigenden Nachrichten zum angehenden Herrscher vor. Viele habsburgische Herrschaftsantritte gestalteten sich schwierig und prekär, so auch jener Leopolds II. im Jahr 1790. Nach dem Tod des kinderlosen Joseph II. (*1741) am 20. Februar des gleichen Jahres drohte die Monarchie aufgrund zahlreicher außen- und innenpolitischer Krisen auseinanderzubrechen. Die Österreichischen Niederlande erhoben sich in der Brabanter Revolution im Jahr 1789 gegen die habsburgische Herrschaft und verselbstständigten sich.2 Im Königreich Ungarn rebellierten einige Komitate,3 während in Inneröster-

1 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), Kaiser-FranzAkten (KFA), alt 4/neu 3, Nr. 1: „Doglianze Generali, e principali sul Sistema del Governo ritrovate nelle diverse provincie in occasione della venuta in Vienna di Sua Maestá nel marzo 1790“, fol. 15r . 2 Grundlegend: Johannes Koll, „Die belgische Nation“. Patriotismus und Nationalbewußtsein in den Südlichen Niederlanden im späten 18. Jahrhundert. Münster 2003. 3 Vgl. Antal Szántay, Regionalpolitik im alten Europa. Die Verwaltungsreformen Josephs II. in Ungarn, in der Lombardei und in den österreichischen Niederlanden, 1785–1790. Budapest 2005; Jean Bérenger, Joseph II. d’Autriche: serviteur de l’Ètat. Paris 2007, 333–354; Horst Haselsteiner, Joseph II. und die Komitate Ungarns. Herrscherrecht und ständischer Konstitutionalismus. Wien 1983.

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reich,4 Böhmen, Mähren, Galizien5 und Niederösterreich6 Bauernerhebungen aufflammten. Die Beteiligung der Habsburgermonarchie am Krieg gegen die Türken seit dem Jahr 1788 und die allgemeine europäische Wirtschaftskrise, bedingt durch die extreme Witterung der Jahre 1788/89, hatten die Lebensumstände der Bevölkerung binnen weniger Monate erheblich verschlechtert. Diese Faktoren und der Ausbruch der Französischen Revolution im Jahr 17897 erhöhten die Angst der Wiener Regierung vor flächendeckenden Erhebungen, welche die Herrschaft der jungen Dynastie Habsburg-Lothringen ernsthaft bedroht hätten.8 Auch die Stimmungs- und Gefühlslage innerhalb Tirols war zwiegespalten: Der seit 1787 amtierende josephinische Gouverneur und Landeshauptmann Wenzel Kajetan Graf von Sauer (1742–1799) ging beharrlich gegen persönliche ökonomische Profilierung, Korruption, Patronage, Ämterverflechtung und -akkumulation vor. Damit brachte er zugleich die regionale Elite, die Bozner Kaufherren, als die Hauptprofiteure dieser jahrzehntelang ausgeübten Verwaltungspraxis gegen sich und in Folge auch gegen das Herrscherhaus auf.9 Das Handelskapital hatte schließlich den Merkantilmagistrat von Bozen vollständig unterwandert. Aufgrund der günstigen Lage zwischen dem süddeutschen und norditalienischem Raum „verkörperte [der Merkantilmagistrat,

4 Zuletzt: Philip Steiner, Die Landstände in Steiermark, Kärnten und Krain und die josephinischen Reformen. Bedrohungskommunikation angesichts konkurrierender Ordnungsvorstellungen (1789–1792). Münster 2017, 277–331. 5 Vgl. Derek Beales, Joseph II. Against the World 1780–1790, Bd. 2. Cambridge 2009, 593–603; Helmut Reinalter, Soziale Unruhen in Österreich im Einflußfeld der Französischen Revolution. In: Helmut Berding (Hg.), Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution. Göttingen 1988, 189–201, hier 189–199. 6 Vgl. Kurt Vösenhuber, Die Folgen der Aufhebung der josephinischen Steuer- und Agrarreform in Niederösterreich. Diplomarbeit Salzburg 1992; Roman Rozdolski, Die große Steuer- und Agrarreform Josefs II. Ein Kapitel zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte. Warszawa 1961, 123–175. 7 Zur Verbreitung und Rezeption der Französischen Revolution in Tirol: Julian Lahner, Stände und landesfürstliche Herrschaft in Tirol, 1756–1790. Diss. Innsbruck 2019, 183–235. 8 Die Berichte des Landeshauptmannes und Gouverneurs von Tirol, Wenzel Kajetan Grafen von Sauer, aus dem Jahr 1790 gaben berechtigten Anlass zur Sorge. ÖStA, Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Inneres, Hofkanzlei, Allgemeine Reihe, Akten, Karton 848, Landtage Postulate, Exzesse Tirol (1550–1848), alte Sign. IV. H 3 Tirol, Pos. 226 ex Majo 1790, Wenzel Kajetan Graf von Sauer an Leopold Grafen von Kolowrat-Krakowsky, 6. Januar 1790, fol. 24r –49r ; ÖStA, HHStA, KFA, alt 9/neu 7, Pos. 2: Tirol, Nr. 5: Wenzel Kajetan Graf von Sauer an Leopold II., 1. August 1790. 9 Vgl. Lahner, Stände, wie Anm. 7, 81–91, 97–153.

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J.L.] als wichtiger Koordinator der zentraleuropäischen Handelsinteressen die Mittler- und Brückenfunktion des Landes“.10 Leopold II. trat seine Herrschaft aufgrund der Gefahr eines Zusammenbruchs der Monarchie bzw. der Sezession weiterer Länder nicht mit einer Krönung oder Erbhuldigung an, sondern mit der Reise durch Tirol. Am 12. Februar 1790 berichtete er seiner Schwester Marie-Christine: „En attendant, on ne fait pas la paix avec les Turcs, on se tire sur les bras une guerre avec le Roi de Prusse et tout en voulant contenter le Tyrol et les Hongrois qui font de bruit. On [Joseph II., J.L.] s’y prend si mal qu’on ne fera que les encourager de même que les autres provinces à faire pis, puisque ne faisant que les choses à demi et de mauvaise grâce, avec des sens entortillés.“11 Seine Befürchtungen bewegten Leopold II. dazu, im März 1790 auf der Reise von Florenz nach Wien das Herzogtum Mailand, das Erbland Tirol und die innerösterreichischen Länder Kärnten und Steiermark zu passieren. Auf den fünf Reisen in die kaiserliche Residenzstadt zwischen 1765 und 1790 war er dagegen nie durch Tirol gereist.12 Die Reiseroute durch den vermeintlichen Krisenherd Tirol war demnach wohlüberlegt; der neue Landesherr instrumentalisierte die Reise als bewusste Inszenierung des Herrschaftswechsels und konzipierte sie als Visitationsreise, die der Herrschaftslegitimierung und -sicherung diente.13 Einerseits bot sie dem neuen Herrscher die Möglichkeit der Informationsbeschaffung und der Inspektion seiner Ländereien, besonders solcher, die als Krisenherde wahrgenommen

10 Hans Heiss, Die ökonomische Schattenregierung Tirols. Zur Rolle des Bozner Merkantilmagistrates vom 17. bis ins frühe 19. Jh. In: Geschichte und Region / Storia e regione 1 (1992), 1, 66–87, hier 67. 11 Übersetzung: „Einstweilen haben wir mit den Türken noch keinen Frieden geschlossen, führen einen Krieg mit dem König von Preußen und das alles während wir die lärmenden Länder Tirol und Ungarn zufrieden stellen wollen. Wir machen es so schlecht, dass wir sie und die anderen Provinzen nur dazu ermutigen werden, es genauso schlimm zu machen, denn die Sachen nur halbherzig und im verdrehten Sinne widerwillig zu machen, gibt ihnen die Gelegenheit zu vermuten, dass wir nicht in guten Glauben handeln.“ Peter Leopold an Marie Christine, 12. Februar 1790, zit. nach: Adam Wolf (Hg.), Leopold II. und Marie-Christine. Ihr Briefwechsel (1781–1792). Wien 1867, 95. 12 Adam Wandruszka, Leopold II., die „Welschen Confinen“ und die Stände Tirols. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 31 (1978), 154–160, hier 155. Es scheint plausibel, dass Peter Leopold zwischen 1765 und 1790 die Reiseroute durch Tirol bewusst nie ausgewählt hatte, um nicht an den unerwarteten Tod seines Vaters Franz Stephan (*1708) während seiner eigenen Hochzeit 1765 in Innsbruck erinnert zu werden. Maria Theresia hatte von ihren Kindern eingefordert, auf den Reisen durch Tirol das Sterbezimmer des verstorbenen Kaisers zu besuchen, das zu einer Totenkapelle umgebaut wurde. Vgl. Tiroler Landesarchiv (TLA), Archiv des Damenstifts Innsbruck, Karton 3, Pos. II/2, Maria Theresia an Sophie Clara Freiin von Enzenberg, 2. Mai 1768, fol. 40r . und 8. April 1775, fol. 71r . 13 Zur Reise durch Tirol: Lahner, Stände, wie Anm. 7, 239–243.

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wurden, andererseits sollte die Reise die Autorität des designierten Landesherrn in der Region stärken. Anders als seine beiden Vorgänger Maria Theresia (1717–1780) und Joseph II., die auf die symbolische Herrschaftseinsetzung durch den Adventus14 und die Erbhuldigung verzichtet hatten,15 zeigte das dynastische Oberhaupt im Jahr 1790 nach dem Herrschaftswechsel in Tirol persönliche Präsenz.16 Im Folgenden steht nicht die unmittelbare Reaktion Leopolds II. auf den politisch-sozialen Umbruch in den Jahren 1789/90 im Mittelpunkt, sondern die Reise der Familie des Großherzogs durch Tirol als Fortsetzung seiner Herrschaftsübernahme. Anhand der Beschreibung und Analyse der Durchreise sollen herrschaftsstabilisierende und -legitimierende Strategien und Momente herausgearbeitet werden. Die in der Geschichtswissenschaft vorherrschende Perspektive auf herrschaftszentrierte Darstellungen von Regierungswechseln17 wird so bewusst vermieden. Stattdessen wird in der Folge der Blick auf die Rolle der Großfamilie im Gefüge herrschaftlicher Repräsentation verschoben. Das vorrangige Augenmerk liegt dabei auf der Symbolik und dem Zeremoniell.18 Eine zentrale These des Beitrags ist, dass die Verfügungsgewalt und die Dominanz über das Symbolische einen realen „Machtfaktor“ darstellten. Die detaillierte Schilderung des Verhaltens der regionalen Elite vor und während des Einzugs der neuen Landesherrin und ihrer Töchter am 9. Mai 1790 in Bozen soll diese These untermauern. Einteilung in drei Reisegruppen Leopold II. hatte Anfang März 1790 die Toskana verlassen. Bis zur Abreise seiner Gattin und den zehn in Florenz zurückgebliebenen Kindern am 5. Mai 14 Vgl. Peter Lampen / Peter Johanek (Hg.), Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt. Köln – Weimar – Wien 2009. 15 Zu den Hintergründen: Lahner, Stände, wie Anm. 7, 286–291. 16 Vgl. Ferdinand Opll, Herrschaft durch Präsenz. Gedanken und Bemerkungen zur Itinerarforschung. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 117 (2009), 12–22. 17 Einführend: Helga Schnabel-Schüle, Herrschaftswechsel – zum Potential einer Forschungskategorie. In: dies. / Andreas Gestrich (Hg.), Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusionsund Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa. Frankfurt am Main – Wien 2006, 5–20. 18 Für das Konzept der symbolischen Kommunikation in der Frühneuzeitforschung grundlegend: Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen. In: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), 489–527; dies. / Tim Neu / Christina Bauer (Hg.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation. Wien – Köln – Weimar 2013.

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1790 sollten noch zwei Monate vergehen.19 Die Einteilung der Familie in drei voneinander getrennten Reisegruppen erfolgte nicht aus einem logistischen Vorteil, sondern einzig aus dynastischem Kalkül. Die Absicht dahinter war, den Kinderreichtum der regierenden landesfürstlichen Familie gebührend in Szene zu setzen. Joseph II. konnte auf keine derart große Kinderschar zurückgreifen; seine erste Tochter Maria Theresia (1762–1770) verstarb im Kindesalter, die zweite Tochter Marie Christine (†1763) am Tag ihrer Geburt. Mit einem zeitlichen Abstand von je einem Tag sollten die drei Reisegruppen aus Florenz abreisen und drei voneinander unabhängige feierliche Einzüge in den Städten Rovereto, Bozen und Bruneck, wo sie auch übernachteten, begehen. So sollte das Ranggefüge ständischer und gesellschaftlicher Hierarchie den neuen Untergebenen jeweils dreifach vergegenwärtigt werden.20 Am 5. Mai machten sich zuerst die drei älteren Söhne des neuen Herrschers, die Erzherzöge Carl (1771–1847), Alexander Leopold (1772–1795) und Joseph Anton (1776–1847), auf den Weg. Die fünf jüngeren Erzherzöge Anton Victor (1779–1835), Johann Baptist (1782–1859), Rainer (1783–1853), Ludwig (1784–1864) und Rudolf (1788–1831) folgten einen Tag später im Beisein des Hofarztes Johann Georg Hasenörl von Langusius (1729–1796). Zuletzt verließen am 7. Mai die Großherzogin Maria Ludovica, die Töchter Anna (1770–1809) und Maria Clementina (1777–1801) sowie das Kortege die Stadt Florenz.21 Während die älteren Erzherzöge nach zwei Tagen, am 7. Mai, in Rovereto ankamen, benötigte die zuletzt abgefahrene Gruppe um die Großherzogin und ihre Töchter für diesen Wegabschnitt nur einen Tag und traf bereits am darauffolgenden Tag, dem 8. Mai, in der Kreishauptstadt der Welschen Konfinen ein. Zuletzt kam der Tross der jüngeren Erzherzöge am 10. Mai in Rovereto an. Am 9. Mai reisten zuerst die Großherzogin und ihre Töchter nach Bozen weiter, am 10. Mai folgten dann die älteren Erzherzöge und am 11. Mai schließlich die jüngeren Erzherzöge.22 19 Die Bayreuther Zeitung berichtete am 26. April 1790 von einer nicht stattgefundenen Verzögerung des Reiseantritts: „Gestern ist von Florenz die Nachricht eingelangt, daß sich Ihro Majestät die Königin wegen Ihrer Schwangerschaft nicht wohlauf befinde, höchstdieselbe Ihre Anheroreise [nach Wien, J. L.] bis auf den 16. May verschoben hätten; Ein Theil der jungen Herrschaft aber werde den 5. und der übrige den 10. von Florenz aufbrechen. Die Nachricht ist ganz zuverläßlich.“ Anhang zu Nr. 50 der Bayreuther Zeitung, 26. April 1790. 20 Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichtags. In: Johannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. Berlin 1997, 91–132, hier 95. 21 Anhang zu Nr. 53 der Bayreuther Zeitung, 3. Mai 1790; Wiener Zeitung, Nr. 39, 15. Mai 1790, 1271; Wiener Zeitung, Nr. 40, 19. Mai 1790, 1303. 22 TLA, Jüngeres Gubernium (Jg. Gub.), Präsidiale (Präs.), Faszikel (Fasz.) 3456, Konvolut vom 2. Mai 1790, Nr. 637: Oberösterreichisches Landesgubernium an Joseph Phillip Grafen von Spaur und Peter Michael Vigil von Thun und Hohenstein, 15. April 1790.

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An den Grenzübergängen der drei zu durchquerenden Kreise Welsche Konfinen, An der Etsch und Pustertal sollte die Reisenden der „geschickteste und verläßlichste Kreisbeamte“23 erwarten, der die Verantwortung dafür trug, sie sicher durch den Kreis zu geleiten.24 Ausgehend von der Gemeinde Lavis eskortierte ein Kreisbeamter der Welschen Konfinen die Ankommenden zunächst nach Klausen, dann begleitete sie ein Beamter des Kreises An der Etsch von Klausen nach Niederdorf und schließlich brachte sie ein Pustertaler Kreisadjunkt von Niederdorf über Lienz an die Grenze zu Kärnten.25 Am Eingang des „Etsch Viertels“, dem Kreis An der Etsch mit Verwaltungssitz in der Stadt Bozen, begrüßten am 9., 10. und 11. Mai sogar drei verschiedene landesfürstliche Amtsträger die Ankömmlinge, was auf den Konflikt zwischen dem Grafen von Sauer und der regionalen Elite zurückzuführen ist.26 Die Großherzogin als direkte Stellvertreterin des dynastischen Oberhauptes erwartete der im Etschland umstrittene Landeshauptmann und Gouverneur persönlich, da er den lokalen Beamten, die größtenteils mit den Boznern kooperierten, misstraute. Die zweite Entourage um die älteren Erzherzöge hieß der Freiherr von Ingram willkommen und die dritte Reisegruppe um die jüngeren Erzherzöge ein Kreisadjunkt namens Zoller.27

23 TLA, Jg. Gub., Präs. Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai, Nr. 636: Oberösterreichisches Landesgubernium an Johann Maria von Lutterotti, Franz Ehrenreich von Laicharding und den Kreishauptmann von Pustertal (Posten vakant), 15. April 1790. 24 Allerdings ließen sich durch die Begleitung eines Kreisbeamten Unfälle nicht verhindern. So ereignete sich in der Gemeinde Sillian im Kreis Pustertal ein Unglücksfall: Der zweite Wagen der ersten Division mit den Erzherzögen Alexander Leopold und Joseph Anton kippte „auf einer unbedeutenden Straße“ um und landete auf einem Zaun, der den Sturz dämmte. Das Sattelpferd war samt dem Kutscher gestürzt. Die Stangenpferde allein konnten auf dem steilen Weg das Gewicht der Kutsche nicht länger halten und das hintere Handpferd gab dem Druck der sich schwenkenden Kutsche schließlich nach, woraufhin diese umkippte. Das schaulustige Volk eilte zu Hilfe und half den beiden Erzherzögen unverletzt aus der Kutsche. TLA, Jg. Gub., Kasse und Buchhaltung, Fasz. 1008, Nr. 9182: Vinzenz von Anderlan an Wenzel Kajetan Grafen von Sauer, 21. Mai 1790. 25 TLA, Jg. Gub., Präs., Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai 1790, Nr. 643: Vinzenz von Anderlan an Wenzel Kajetan Grafen von Sauer, 19. April 1790. 26 Während der Empfangsvorbereitungen hatte der Bozner Kreishauptmann Johann Maria von Lutterotti nachgefragt, was eigentlich der Unterschied zwischen einem geschickten und einem verlässlichen Kreisbeamten wäre. Sauer antwortete ihm: „Für den geschicktesten sich solchen hohen Personen mit äusserlichen Anstand vorzustellen därfte man den Freyherren von Ingram erachten, hingegen scheint Er in der bescheidenen Ordnung und Leitung der Sachen eben nicht der verläßlichste zu seyn.“ TLA, Jg. Gub., Präs., Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai 1790: Wenzel Kajetan Graf von Sauer an Johann Maria von Lutterotti, 26. April 1790. 27 TLA, Jg. Gub., Präs., Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai 1790, Nr. 647: Johann Maria von Lutterotti an Wenzel Kajetan Grafen von Sauer, 22. April 1790.

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Unterkunft und feierlicher Empfang in Rovereto Die Suche nach geeigneten Übernachtungsmöglichkeiten in Rovereto, Bozen und Bruneck überließ das oberösterreichische Landesgubernium den städtischen Behörden. Aus ungenannter Quelle wusste das „Magistrato Civico della cittá di Rovereto“, dem diesbezüglich keine Vorgaben gemacht wurden, von einer von den oberen Verwaltungsbehörden nicht mitgeteilten, dennoch einzuhaltenden Richtlinie für Habsburgerreisen im späten 18. Jahrhundert: „Diese Veranstaltung nicht ungnädig aufnehmen möchten, das man bisher nur weiß, daß höchstdieselben überall blos in Wirtshäusern einzukehren gewohnt sind; folglich ausdrücklich verlangen dürften in einem würklichen Wirtshaus abzusteigen.“28 Demnach wurde inoffiziell die Einquartierung der Landesfürstin und ihrer Kinder in einfache Gasthäuser gefordert, sofern vor Ort nicht königliche oder landesfürstliche Residenzen wie die Hofburg in der Landeshauptstadt Innsbruck zur Verfügung standen. Dies diente der Zurschaustellung eines neuen Sparsamkeitsideals, das im Josephinismus aufgekommen war und unter der Regierung Leopolds II. von 1790 bis 1792 von den Mitgliedern der Dynastie zumindest während der Reisen demonstriert werden musste.29 Ein ebenso tragender Grund für die Übernachtung in einfacheren Unterkünften ohne größere Distanz zu den Untertanen war, dass Mitglieder des Herrscherhauses ein realistischeres Bild von den lokalen Lebensbedingungen und -zuständen erhalten sollten und sie dadurch nahe an der Bevölkerung dynastische Präsenz vermitteln konnten. Die Beherbergung der Familie Leopolds II. in der Kreishauptstadt Rovereto wurde von den Einheimischen als Prestige empfunden. Der Schankwirt Carlo Papilaro wollte den Durchreisenden seine geräumige Stadtwohnung zur Verfügung stellen, die laut ihm eine standesgemäße Unterbringung von Mitgliedern des regierenden landesfürstlichen Geschlechts dargestellt hätte.30 Andererseits bot der oberösterreichische Regierungsrat und stellvertretende Grenzkommissar der Welschen Konfinen, Horatio Freiherr von Pizzini, seine Villa mit 20 separaten Schlafzimmern an, die sehr zentral auf dem neuen Platz in Ro-

28 TLA, Jg. Gub., Präs., Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai 1790, Nr. 641: Franz Ehrenreich von Laicharding an Wenzel Kajetan Grafen von Sauer, 22. April 1790. 29 Zu den Reiseunterkünften Leopolds II. und seiner Schwester Maria Elisabeth, Äbtissin des Adeligen Damenstifts in Innsbruck, im Jahr 1790: Eva Holz, Die Habsburger in Krain. In: Renate Zedinger / Marlies Raffler / Harald Heppner (Hg.), Habsburger unterwegs. Vom barocken Pomp bis zur smarten Businesstour. Graz 2017, 31–43, hier 40. 30 TLA, Jg. Gub., Präs., Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai 1790, Nr. 641: Franz Ehrenreich von Laicharding an Wenzel Kajetan Grafen von Sauer, 22. April 1790.

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vereto lag.31 Der Stadtmagistrat hielt sich an das geheime Regulativ und wies beide Angebote ab. Stattdessen wurden die Mitglieder des Herrscherhauses im „Wirthshauß alle Rose“ des Wirtes Gerola untergebracht. Die Bedenken Pizzinis, der Gasthof Gerolas sei „sowohl wegen Unbequemlichkeit des allzu kleinen Quartiers, als auch wegen der Lage des Hauses, welche in einer der engsten Gassen stehet,“32 nicht geeignet, wurden nicht erwidert. Ebenso blieb sein Argument von den lokalen Behörden unkommentiert, dass schon Maria Carolina von Savoyen (1764–1782), die Prinzessin von Sardinien, im Jahr 1781 und Papst Pius VI. (1717–1799) im Folgejahr in seinem Haus untergekommen waren.33 Abgesehen von der schlichten Unterkunft hielten sich auch die Feierlichkeiten anlässlich der Ankunft der drei Reisegruppen in Rovereto in Grenzen. Die Empfänge gestalteten sich einheitlich, ihr Verlauf kann aus einem Bericht des Landeshauptmannschaftsverwalters über die Ankunft Maria Ludovicas in Rovereto an die Landschaft nachvollzogen werden. Am 8. Mai 1790 war der Großherzogin eine Bürgermiliz entgegenmarschiert, die sie bis zum großen Platz vor dem Rathaus eskortierte. Vom illuminierten Rathausplatz her ertönten Vivatrufe. „Jenseits der St. Thomaßer Brücke ward ein Triumphbogen mit passenden Innschriften errichtet“34 worden, dokumentierte ein Augenzeuge. Mit Hilfe derartiger symbolischer Inszenierungen brachten die Roveretaner ihre Verehrung für die Herrscherdynastie zum Ausdruck.35 Am nächsten Tag zelebrierten die Abreisenden noch den öffentlichen Morgengottesdienst, womit man sich auf die maria-theresianischen Frömmigkeitsformen zurückbesann. Die regelmäßigen Gottesdienstbesuche der Monarchin mit Familie und Kortege waren tief verwurzelt im barocken Zeremoniell des Wiener Hofes; so nahm der Hof laut den Zeremonialprotokollen im Jahr 1758 an 120 Tagen an kirchlichen Feiern teil.36 Während Joseph II. im Jahr 1781 die Gottesdienstbesuche fast vollständig aus dem Hofzeremoniell verbannte,37 führte man neun Jahre später dem 31 TLA, Jg. Gub., Präs., Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai 1790, Nr. 645: Horatio Freiherr von Pizzini an Franz Ehrenreich von Laicharding, 18. April 1790; TLA, Bibliothek-Nr. 5238/1806: Schematismus von 1806, 68. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 TLA, Landschaftliches Archiv (LA), Jüngere Provinciale (Jg. Prov.), Schuber Bd. 31 (1790), Nr. 808: Paris Graf von Wolkenstein-Rodenegg an die Tiroler Landschaft, 29. Mai 1790. 35 André Holenstein, Huldigung und Herrschaftszeremoniell im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung. In: Klaus Gerteis (Hg.), Zum Wandel von Zeremoniell und Gesellschaftsritualen in der Zeit der Aufklärung. Hamburg 1992, 24–46, hier 25. 36 Peter Wiesflecker, Kirchen, Klöster und Klausur. Geistliche Niederlassungen als Stationen höfischer Reisen. In: Zedinger / Raffler / Heppner (Hg.), Habsburger unterwegs, wie Anm. 29, 87–109, hier 89. 37 Helmut Reinalter, Joseph II. Reformer auf dem Kaiserthron. München 2011, 57–58.

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Untertanenverband durch die täglichen Messen den Kinderreichtum der großherzoglichen Familie vor Augen. Ein weiteres Indiz für die Bedeutung dieser Gottesdienste für das regierende landesfürstliche Geschlecht ist das Heranziehen von Markus Egle (†1820), dem Abt des Prämonstratenser-Chorherrnstiftes Wilten, zur Leitung der Messe in der Stadtpfarrkirche zu St. Marco. Die Präzedenz gebührte der höchsten klerikalen Dignität des Landes, die der Abt als Erb-, Hof- und Hauskaplan Tirols einnahm. Nach dem Gottesdienst sagte Maria Ludovica dem Volk, dass sie mit dem Verlauf der bisherigen Reise mehr als zufrieden sei: „Beym Ausgehen verweilten Ihro Mayestät, noch einige Zeit auf den Stufen der Pfarrkirche, wo höchstselbe dem Volke mehrmal die huldreichsten Zeichen der Zufriedenheit zu erkennen gab und sodann die weitere Reiße unter tausend Segen antrat.“38 Vorbereitung und Durchführung ostentativer Ehrenbezeugungen in Bozen Das bescheidene Empfangszeremoniell in Rovereto war von den lokalen Behörden eigentlich nicht in dieser Form geplant. Der Grad der Verehrung ließ sich besonders am Umfang und Aufwand von Festen ablesen, weshalb der Stadtmagistrat von Rovereto ursprünglich intendierte, eine Huldigung abzuhalten und eine eigens einstudierte Oper aufzuführen oder zumindest eine Lobeshymne auf das regierende Geschlecht öffentlich rezitieren zu lassen. Der Kreishauptmann der Welschen Konfinen, Franz Ehrenreich Laicharding von Eichberg und Lützlgnad, verwarf die Vorschläge des Stadtmagistrats mit der Begründung, „daß dieselben gänzlich unterbleiben solle, indem sie der tiefen Trauer [um Joseph II., J.L.] wegen nicht wohl schicklich seyn dürfte“.39 Der Zeitraum der Hof- und Landestrauer für den jüngst verstorbenen Kaiser betrug sechs Monate, währenddessen die Wiener Regierung den mittleren und niederen Verwaltungsbehörden alle Feierlichkeiten wie pompöse Empfänge untersagt hatte.40 Allerdings wusste Leopold II. um die herrschaftslegitimierende und -stabilisierende Wirkkraft von feierlichen Einzügen nach Herrschaftswechseln. Er verließ sich also auf seine Erfahrung, wonach sich die Untertanen in dieser Situation nicht an solche Verbote hielten. So waren am 13. Dezember 38 TLA, LA, Jg. Prov., Schuber Bd. 31 (1790), Nr. 808: Paris Graf von Wolkenstein-Rodenegg an die Tiroler Landschaft, 29. Mai 1790. 39 TLA, Jg. Gub., Präs., Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai 1790, Nr. 641: Franz Ehrenreich von Laicharding an Wenzel Kajetan Graf von Sauer, 22. April 1790. 40 TLA, Jg. Gub., Präs. Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai, Nr. 636: Oberösterreichisches Landesgubernium an Johann Maria von Lutterotti, Franz Ehrenreich von Laicharding und den Kreishauptmann von Pustertal (Posten war vakant), 15. April 1790.

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1765 in Florenz, der Haupt- und Residenzstadt des Großherzogtums Toskana, anlässlich seines Einzuges als neuer Großherzog tausende Menschen zusammengekommen, um dem neuen Herrscherpaar zuzujubeln, ungeachtet der Tatsache, dass derlei Feste angesichts der Landestrauer für den verstorbenen Großherzog Franz Stephan verboten waren.41 Aus einer Hofverordnung vom 24. April 1790 gehen die eigentlichen Gründe für das Verbot von Feiern nach dem Tod Josephs II. hervor: „So haben Seine Majestät der Königin anzustellen gesonnene Feierlichkeiten aus diesen Ursachen verboten, weil höchstdieselbe diese Unkosten gerne ersparet wissen wollten, und weil weder die Zeit der Reise, weder die Stazionen, welche Se. Majestät die Königin halten werden, bis izt bestimmt sind.“42 Obgleich diese Verbote nun ausgesprochen wurden, zeitigten sie in Rovereto, wo man die Feierlichkeiten auf ein Minimum reduzierte, nur begrenzte, in Bozen hingegen gar keine Wirkung. Im Unterschied zum Kreis der Welschen Konfinen vermieden es die Beamten im Kreis An der Etsch in die Agenden der Handelsstadt Bozen einzugreifen. Der Kreishauptmann Johann Maria Lutterotti von Gazzolis und Langenthal machte gegenüber dem Gouverneur die Anmerkung, dass eine Einmischung von landesfürstlicher Seite in die Empfangsvorbereitungen des Bozner Merkantilmagistrats nicht infrage kommen würde, „als ansonsten alle widrigen Folgen auf mich zurückgewälzet werden könnten“.43 In Bozen unterstand die Stadtverwaltung der Kontrolle der regionalen Elite, den Kaufherren,44 mit denen sich Lutterotti nicht anzulegen wagte. Franz von Gummer (1731–1794), der nach außen als Sprecher dieser Gruppierung, der sogenannten Bozner Partei, auftrat, organisierte die „Freudbezeigung“ zum Empfang der Familie Leopolds II., die „öffentlich am Tage zulegen“45 wäre. Gemeinsam mit zwei weiteren Kaufherren aus Bozen hatte er 1783 die Ausgliederung Tirols aus der habsburgischen Zollunion, in die das Erbland 1780

41 Daniela Bähr, Il viaggio di Pietro Leopoldo per „Condurre e stabilire a Vienna l’arciduca Francesco“. Die tagebuchähnlichen Aufzeichnungen Großherzogs Peter Leopolds von Toskana über seine Reise nach Wien im Jahr 1784. Diplomarbeit Salzburg 2009, 8–9. Die italienischsprachigen Tagebuchaufzeichnungen Peter Leopolds von 1784 wurden ediert und ins Deutsche übersetzt: dies., Reise und Wienaufenthalt Großherzog Peter Leopolds von Toskana im Jahre 1784. Edition und Übersetzung seiner Reiserelation. Diss. Salzburg 2017. 42 TLA, Jg. Gub., Präs., Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai 1790, Nr. 652: Wenzel Kajetan Graf von Sauer an Johann Maria von Lutterotti und Franz Ehrenreich von Laicharding, 28. April 1790. 43 TLA, Jg. Gub., Präs., Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai 1790, Nr. 647: Johann Maria von Lutterotti an Wenzel Kajetan Grafen von Sauer, 22. April 1790. 44 Heiss, Schattenregierung, wie Anm. 10, 76–79. 45 TLA, Jg. Gub., Präs., Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai 1790, Nr. 647: Johann Maria von Lutterotti an Wenzel Kajetan Grafen von Sauer, 22. April 1790.

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eingegliedert worden war und wodurch sich ökonomische und finanzielle Nachteile für die örtlichen Kaufleute ergeben hatten, erwirkt.46 Unabhängig vom Verbot konnte Gummer durch Bestechung von Amtsträgern am Wiener Hof, die sich seine Familie von 1780 bis 1794 zwischen 80.000 und 90.000 Gulden kosten ließ,47 binnen wenigen Tagen in Erfahrung bringen, „ob einige, und allenfals welche Feyerlichkeitsbegnehmungen bei dieser Gelegenheit von Seiner Majestät dem Monarchen Beifall erhalten därften“.48 Der feierliche Einzug in Bozen, den Gummer nach seinen individuellen Vorstellungen konzipiert hatte, geschah demnach mit dem Wissen und dem inoffiziellen Einverständnis des neuen Landesherrn. Am 9. Mai trafen Maria Ludovica und ihr Gefolge an der Grenze des Kreises An der Etsch, der Klause zu Leifers, ein. Zwischen 24 und 30 Gardisten aus den bedeutendsten Kaufmannsgeschlechtern Bozens und eine Schützenkompagnie begrüßten sie am Grenzübergang und eskortierten sie in die Stadt. Am Ufer der Eisackbrücke hatten die Bozner eine Triumphpforte errichtet, die mit einem üppigen Blumendekor dekoriert war, über dem das Wappen der seit 1740 regierenden Dynastie Habsburg-Lothringen gespannt war.49 Das Fehlen städtischer Embleme zeigt die symbolische Unterordnung der Bozner unter die habsburgische Landesherrschaft, die durch das Wappen versinnbildlicht wurde. Während der Überfahrt machte der sechsspännige Kutschwagen mit der Großherzogin und den beiden Erzherzoginnen plötzlich auf der Mitte der Brücke Halt. Rechts und links entlang des Flusses paradierten zwischen 300 und 500 Bauernschützen mit Gewehren. Im Hintergrund ertönte „türkische Musik“, eine damals gängige Form der Militärmusik. Zwölf weißgekleidete Mädchen liefen währenddessen auf der einen, zwölf junge Burschen auf der anderen Fensterseite der Kutsche entgegen und hießen die Reisenden abwechselnd in italienischer und deutscher Sprache willkommen. Als Maria Ludovica realisiert hatte, dass die Pferde inmitten der Brücke abgespannt wurden, erschrak sie. Ein Franziskaner aus Bozen beobachtete ihre Reaktion: „Als Sie es wahrnahmme, erschracke und erblassete Selbe, nicht wissen, was es bedeite; man versichert Sie aber alsogleich, es bedeite […] daß sie verlangen höchstdieselbe zu ihrem bestimmten Quartier zu ziechen.“50 Die Großherzogin gab sich gerührt, sodass 46 Dazu im Detail: Reinhard Stauber, Der Zentralstaat an seinen Grenzen. Administrative Integration, Herrschaftswechsel und politische Kultur im südlichen Alpenraum 1750–1820. Göttingen 2001, 156–162. 47 Lahner, Stände, wie Anm. 7, 104. 48 TLA, Jg. Gub., Präs., Fasz. 3456, Konvolut vom 2. Mai 1790, Nr. 647: Johann Maria von Lutterotti an Wenzel Kajetan Grafen von Sauer, 22. April 1790. 49 Wiener Zeitung, Nr. 41, 22. Mai 1790, 1344. 50 Auszug aus der Chronik des Bozner Franziskanerklosters, Eintrag vom 9. März 1790, zit. nach: Andreas Simeoner, Die Stadt Bozen. Bozen 1890, 545.

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Abb. 1 Josef Anton Cusetti, Empfang der Großherzogin Maria Luisa in der Kapuzinergasse in Bozen am 9. Mai 1790. Foto: wie Fußnote 56

„ihr die Zecher51 auß den Augen fließeten.“52 An der Vorderseite des Kutschenwagens wurde an einem eisernen Ring ein Seil zum Ziehen der Kutsche befestigt, an dem rechts und links vier lange Stangen eingewoben waren. An den Eisenstangen zogen jeweils vier Bauern unter Beobachtung und Anleitung weiterer Beteiligter, wie derselbe Franziskaner in der Chronik des Klosters notierte: „dero Deyxel aber dirigireten 4 starke Hausknecht; und damit alles sicher ginge, war bei einem jeden Rad zur genauen Aufsicht ein RädermacherMeister; mithin 4 Rädermachermeister, 4 Hausknecht und 32 Bauern machen zusammen 40 Personen, welche bey dieser Gutschen beschäftigt waren.“53 Der Einzug in die Stadt bildete den wichtigsten Bestandteil bei der Fortsetzung der Herrschaftsübernahme durch die Familie Leopolds II., zumal der Landesherr selbst auf den Adventus verzichtet hatte. Durch das Zeremoniell wurden den Zuschauern die regionalen Herrschafts- und Rangkonstellationen der zivilen Verwaltung, des Militärs und der gesellschaftlichen Hierarchie vergegenwärtigt.54 Besonders stark war dieses Ranggefüge in der symbolischen Ordnung des Festzuges nach Bozen eingeschrieben. Darin offenbart sich auch eine symbolische Emanzipierung der regionalen Elite von der regierenden lan-

51 Zecher: Tränen. 52 Auszug aus der Chronik des Bozner Franziskanerklosters, Eintrag vom 9. März 1790, zit. nach: Simeoner, Bozen, wie Anm. 50, 545. 53 Ebd. 54 Julian Lahner, Repräsentation und Herrschaftswechsel in Tirol und Salzburg, 1806–1816. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 126 (2018), 2, 275–301, hier 292.

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Abb. 2 Josef Anton Cusetti, Aufführung des Bindertanzes am Obstplatz in Bozen vor Maria Ludovica, 1790. Foto: wie Fußnote 61.

desfürstlichen Dynastie, wodurch die Bozner Kaufherren den Etschländern ihre Vorrangstellung bei der Ausübung regionaler Herrschaft veranschaulichten: Voran ritt der bedeutendste Kaufmann der Stadt Bozen, vermutlich der Organisator Franz von Gummer, gefolgt von den restlichen Bozner Kaufleuten, an denen sich die Knaben und die Mädchen von der Brücke einreihten, dahinter ordneten sich die Musiker, dann die von Bauern handgezogene Kutsche der Großherzogin ein und am Ende des Zuges marschierten die Standschützen auf.55 Die beschriebene Ranghierarchie hielt der im Kloster Grieß als Marmorund Fassmaler tätige Josef Anton Cusetti (1750–1793) in einem Ölgemälde für die Nachwelt fest (Abbildung 1).56 Ins Auge sticht sofort der vorausreitende Kaufherr auf einem weißen Ross, gefolgt von den übrigen Handelsleuten auf schwarzen Rössern, danach reihen sich Scharfschützen und Bauern, die gerade die Kutsche Maria Ludovicas durch eine hölzerne Triumphpforte ziehen, ein. In der Kapuzinergasse in Bozen drängten die vom Josephinismus als unbedeutendste Glieder der Gesellschaft etikettierten Personen zur Straße vor; es waren Kapuziner und Franziskaner, die von dort den vorbeiziehenden Zug verfolgten, der sich am Obstplatz auflöste. Der Gasthof An der Sonne, wo die Herrscherfamilie nächtigte, lag vis-a-vis.57 „Bey dem Einzuge wurden alle Glocken geläutet, alle Kehlen ruften voll Entzücken: Es lebe die Königinn,

55 Wiener Zeitung, Nr. 41, 22. Mai 1790, 1344. 56 Erich Egg (Hg.), Die Tirolische Nation 1790–1820. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum 6. Juni–14. Oktober 1984. Innsbruck 2 1984, 387, Kat.-Nr. 13.44. 57 Simeoner, Bozen, wie Anm. 50, 543.

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unsere Mutter; es lebe der König!“58 Die Ovation bekräftigte die Verehrung und Fügsamkeit des Publikums. Auf dem Platz wurde die Herrscherfamilie zuerst von den Amtsträgern der zivilen Verwaltung und dann vom Klerus begrüßt. „Die Mannschaft vom Kaufmannstande und vom Bauernstande genoß die Gnade Ihre Majestät als Ehrenwache zu dienen.“59 Im Hintergrund paradierten Scheibenschützen und vom Bozner Hausberg Virgl feuerte man Kanonen ab. Während der Mittagszeit musizierte das Volk am Obstplatz. Am Abend erleuchtete der gesamte Platz, an dem die ortsansässigen Fassbinder mit Fackeln den „Fassbindertanz“ aufführten. Diese Form des Reifentanzes in Bozen wurde in der Frühen Neuzeit exklusiv bei Anwesenheit des Landesherrn und/oder eines Mitgliedes des regierenden Hauses aufgeführt.60 Er stellte eine einzigartige Form lokaler Ehrenbezeugung dar, dem Cusetti ein eigenes Porträt widmete (Abbildung 2); auf dem Ölgemälde werden die tanzenden Fassbinder von Scharfschützen umschlossen, während auf der rechten Seite die Kaufmänner auf schwarzen Rössern den Blick auf sich ziehen.61 Auftraggeber der beiden Porträts dürfte der Stadtmagistrat, indirekt die Kaufmannselite, gewesen sein,62 schließlich wird darin ihre Selbstwahrnehmung als herrschaftsteilhabende Akteure in der Region sichtbar. Auch eine paritätische Delegation der vier Tiroler Landstände ordnete sich dem Herrscherhaus in der Handelsstadt Bozen symbolisch unter. Ihre Zusammensetzung ist erneut Ausdruck der Zurschaustellung der regionalen Elite an der Partizipation regionaler Herrschaft und ihrer bestehenden Kooperation mit den Landständen. Beim Engeren Ausschusskongress am 28. April 1790 in Innsbruck wurden Franz Xaver Delmann aus Bozen, der Viertelsvertreter an der Etsch, und der Bozner Joseph Alois von Giovanelli, der Vertreter des Herrenund Ritterstandes des südlichen Landesteils sowie ständischer Filialkassier in der Handelsstadt einstimmig zu ständischen Abgeordneten gewählt, um der Familie des Landesherrn die „Aufwartung zu machen“.63 Diese ständische Delegation, der der neue Landeshauptmannschaftsverwalter Paris Graf von Wolkenstein-Rodenegg (1740–1814) vorstand, wurde durch Augustin Nagele,

58 Wiener Zeitung, Nr. 41, 22. Mai 1790, 1344. 59 Ebd. 60 Institut für Tiroler Musikforschung, Musik und Tanz der Handwerker, http://musikgeschichten.musikland-tirol.at/content/musikintirol/musikderbuerger/musik-und-tanz.html (letzter Zugriff: 11.08.2019). 61 Egg, Nation, wie Anm. 56, 387, Kat.- Nr. 13.45. 62 Vgl. Stadtmuseum Bozen, Inventar-Nr. C 213 und C 214. 63 TLA, Jg. Prov., Schub. Bd. 30 (1790), Nr. 762: Protokoll des Engeren Ausschusskongresses vom 28. April 1790.

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dem Kommendeabt der Zisterzienserabtei in Stams, und Anton Simon Ißer, dem Bürgermeister der Stadt Meran, vervollständigt.64 Der Verlauf der symbolischen Unterordnung durch die Landstände im Rahmen des Herrschaftswechsels von 1790 lässt darauf schließen, dass Leopold II. seine Ehegattin in der symbolischen Praxis landesfürstlicher Herrschaft als gleichrangig anerkannte. Am 7. Mai trafen zuerst die älteren Erzherzöge in Rovereto ein, die der Graf von Wolkenstein-Rodenegg um Audienz ersuchte. „Sie eröffneten mir aber“, schrieb der Vorsitzende der landständischen Delegation, „daß sie Deputazionen zu empfangen keine Erlaubniß hätten“.65 Einer Audienz stimmte erst Maria Ludovica am 9. Mai in Bozen zu, die auf der Reise nach Wien als einzige aus dem reisenden Herrschergeschlecht dazu berechtigt war. Schließlich war die Gattin Leopolds II. gleichzeitig Landesherrin. In gebückter Haltung betraten die Landstände das Wohnzimmer des Gasthofes „An der Sonne“ und ordneten sich so ihrer Landesherrin unter. Daraufhin hielt der Landeshauptmannschaftsverwalter eine kurze der „empfindenden Freyde passende Anrede“66 in deutscher Sprache. Da Maria Ludovica aber kein Deutsch verstand, rekapitulierte Graf von Wolkenstein-Rodenegg seine Worte auf Französisch. Die Gattin Leopolds II. rechtfertigte sich, sie habe „seit 25 Jahren nicht mehr Deutsch gesprochen, somit solches gänzlich vergessen […], sie wäre also ausser Stande Deutsch zu erwidern, man möchte es net übl nehmen, sie wolle in französischer Sprache vor die erweisende Attention danken“.67 Als Dank versprach sie den Landständen, „daß ihr Gemahl alles thun werde, was zum Besten des Landes abziehlen, und dessen Wohlfahrt befördern wird“.68 Die Weiterreise führte die drei Reisegruppen durch Bruneck. In der Stadt erwartete sie seit 5. Mai die Erzherzogin Maria Elisabeth (1743–1808), eine Schwester des alten und neuen Landesfürsten, die eigens aus Innsbruck angereist war, um in ihrer Repräsentationsfunktion als dynastische Vertreterin des Landesherrn im Erbland Tirol ihre Schwägerin, Neffen und Nichten als nun konstitutiven Bestandteil des regierenden Hauses willkommen zu heißen.69

64 TLA, Jg. Prov., Schub. Bd. 31 (1790), Nr. 808: Paris Graf von Wolkenstein-Rodenegg an die Tiroler Landschaft, 14. Mai 1790. 65 TLA, Jg. Prov., Schub. Bd. 31 (1790), Nr. 808: Paris Graf von Wolkenstein-Rodenegg an die Tiroler Landschaft, 29. Mai 1790. 66 TLA, Jg. Prov., Schub. Bd. 31 (1790), Nr. 808: Paris Graf von Wolkenstein-Rodenegg an die Tiroler Landschaft, 14. Mai 1790. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Anhang zu Nr. 59 der Bayreuther Zeitung, 17. Mai 1790; Stadtarchiv Innsbruck, Codex 1316/2: „Chronik von und für Innsbruck von Johann Pusch, k. k. Hofportier, vom Jahr 1781 bis Ende 1806“, 59.

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Maria Ludovica traf schließlich am 12. Mai in Klagenfurt ein, begab sich gemeinsam mit ihrem ältesten Sohn, dem Erzherzog Franz (1768–1835), am nächsten Morgen Richtung Bruck an der Mur und von dort über Laxenburg nach Wien. Leopold II. persönlich begrüßte sie am 15. Mai 1790 vor den Toren der Stadt.70 Fazit Der Herrschaftsantritt Leopolds II. in Tirol im Jahr 1790 vollzog sich in drei Etappen: Aus Sorge vor dem Ausbruch flächendeckender Unruhen, die auf andere Länder überschwappen hätten können, schlug der neue Herrscher, erstens, auf dem Weg von Florenz nach Wien eine wesentlich längere Reiseroute ein und passierte im März 1790 die Tiroler Städte Rovereto, Bozen und Bruneck. Angekommen vor Ort, verzichtete er bewusst auf symbolische Gesten der Unterordnung, stattdessen nahm er die Sorgen seiner neuen Untertanen ernst und machte sich durch persönliche Gespräche ein eigenes Bild der regionalen Stimmungslage.71 Die Aufgabe der symbolischen Herrschaftsübernahme übertrug er, zweitens, seiner in Florenz zurückgebliebenen Großfamilie, die Anfang Mai an drei aufeinanderfolgenden Tagen in drei aufgeteilten Reisegruppen die Toskana verließ. Unter Rückgriff auf die familienpolitischen Strategien Maria Theresias, die Barbara Stollberg-Rilinger jüngst in ihrer Maria-Theresia-Biographie beschrieb,72 sollte der Kinderreichtum der großherzoglichen Familie als das zukunftsweisende Kapital der Dynastie gebührend inszeniert werden. Die drei jeweiligen Einzüge und Empfänge der drei Reisegruppen in den Städten Rovereto, Bozen und Bruneck wirkten herrschaftsstabilisierend und -legitimierend zugleich; durch Kanonenschüsse, Glockengeläute und Vivat-Rufe etwa drückte die lokale Bevölkerung Gehorsam, Verehrung und Treue zum Herrscherhaus aus. Die Tiroler wurden zwar als aufmüpfig beurteilt, dennoch ordneten sie sich symbolisch den österreichischen Habsburgern unter. Die symbolische Unterordnung bildete die realen Herrschaftsverhältnisse ab und bestätigte sie. Bei der Erbhuldigung in Innsbruck am 27. Juli 1790 übertrug Leopold II. erneut eine zentrale Herrschaftsaufgabe auf ein Mitglied der Dynastie. Seine Schwester führte, drittens, in seiner Vertretung die Erbhuldigung durch, das heißt sie 70 Bayreuther Zeitung, Nr. 57, 11. Mai 1790; Anhang zu Nr. 59 der Bayreuther Zeitung, 17. Mai 1790; Bayreuther Zeitung, Nr. 61, 20. Mai 1790; Bayreuther Zeitung, Nr. 63, 22. Mai 1790; Wiener Zeitung, Nr. 38, 12. Mai 1790, 1239; Wiener Zeitung, Nr. 40, 19. Mai 1790, 1303; Wiener Zeitung, Nr. 41, 22. Mai 1790, 1344–1345. 71 Vgl. Lahner, Stände, wie Anm. 7, 235–243. 72 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie. München 2017, 461–515.

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nahm den Treueschwur der Landstände entgegen.73 Leopold II. dynastisches Konzept band alle Familienmitglieder gleichermaßen ein, denn sie alle vergegenwärtigten und verkörperten die Realpräsenz des dynastischen Oberhauptes, ja der gesamten Dynastie, für die sie stets Verbindlichkeit stifteten.74 Die Vorbereitungen und der Vollzug des feierlichen Einzugs der Familie Leopolds II. in Bozen illustrieren, dass die Bozner Kaufherren als regionale Elite in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die eigentliche Deutungshoheit über das Symbolische in der Stadt besaßen. Durch das Zeremoniell und den zeremoniellen Ablauf präsentierten sie sich nach Außen und nach Innen als stabile soziale Gruppierung, die die Herrschaftsordnung von „Oben“ zwar akzeptierte und sich dieser unterordnete, in der Region aber gaben de facto sie den Ton an.

73 Vgl. Lahner, Stände, wie Anm. 7, 235–243. 74 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Herstellung und Darstellung politischer Repräsentation im 18. Jahrhundert, in: Matthias Schwengelbeck / Jan Andres / Alexa Geisthövel (Hg.), Die Sinnlichkeit der Macht. Herrschaft und Repräsentation seit der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2005, 73–92.

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Ein unbekannter Verfassungsentwurf eines unbekannten Fürsten? Toskana, anno 1793 „Im Zuge der unter dem Eindruck der Französischen Revolution einsetzenden Gegenreaktion der Regierungen konnte schließlich ein weiterer toskanischer Verfassungsentwurf, der unter Großherzog Ferdinand III. vom Richter Ubaldo Maggi ausgearbeitet wurde, erst recht keine Umsetzung mehr erfahren“, schreibt Werner Daum in seinem Überblick über die konstitutionelle Entwicklung der italienischen Länder vor 1800.1 Das überrascht im Kontext der deutschsprachigen historischen Toskanarezeption, da hierzulande eigentlich nur die Verfassungsentwürfe von Ferdinandos Vater, Pietro Leopoldo, von 1782 und 1787 bekannt sind. Das – vor allem österreichische – historiografische Interesse folgte Pietro Leopoldo nach seiner 25-jährigen Regierungszeit in der Toskana anschließend auf seinem Weg zum Regenten der habsburgischen Länder und zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs als Leopold II. und wandte sich damit von der Toskana ab.2 Von der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft wurden seine Reformunternehmungen in der Toskana in den letzten Jahren erneut aufgegriffen und in den Kontext der europäischen Aufklärung gesetzt, aber auch nicht auf die Zeit danach geblickt.3 1 Werner Daum, Italien. In: Peter Brandt / Martin Kirsch / Arthur Schlegelmilch (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel. Bd. 1: Um 1800. Bonn 2006, 336–424, hier 347. 2 Geprägt ist die österreichische Geschichtsschreibung zu Leopold II. immer noch sehr durch Adam Wandruszka, Leopold II. Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser. 2 Bde. Wien 1965. Für aktuelle Studien zu Teilaspekten vgl. z. B. Christoph Gnant, „La nascita della Toscana moderna“. Staats- und Rechtsreformen Pietro Leopoldos als Großherzog der Toskana. In: Renate Zedinger (Hg.), Innsbruck 1765. Prunkvolle Hochzeit, fröhliche Feste, tragischer Ausklang. Bochum 2015, 299–310; ders., „Bei Parität der Abstimmungen beruhet das Monitum auf sich“. Die Wahlkapitulation Kaiser Leopolds II. 1790. Diss. Wien 2017. 3 Vgl. z. B. Christine Lebeau, Vom Raum der Verwaltung zum Raum des Gelehrten: Il Governo della Toscana sotto il Regno di Sua Maestà il Re Leopoldo II (1790). In: Lars Behrisch (Hg.), Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2006, 131–149; Frank Jung, „Die Staatsverfassung von Toskana, unter der Regierung Peter Leopold des Zweiten, andern Staatsverfassungen zum Muster vorgestellt.“ Der toskanische Getreidefreihandel und die Konstruktion eines ‚Modellstaates‘ in der deutschen Aufklärung. In: Andreas Bauer / Karl H. L. Welker (Hg.), Europa und seine Regionen. 2000 Jahre Rechtsgeschichte. Köln 2007, 389–424; ders., Die Gleichheit vor dem Gesetz. Cesare

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Hinsichtlich der Verfassungsentwürfe der 1780er Jahre stand immer wieder die Frage im Raum, warum diese keine Umsetzung gefunden hatten. Bis zur Edition und Publikation des Verfassungsentwurfes von 1787 durch Gerda Graf im Jahr 19984 waren Historiker und Historikerinnen davon ausgegangen, dass die letzte Überarbeitung des Entwurfs 1782 durchgeführt worden sei.5 Die nicht erfolgte Inkraftsetzung zu oder nach diesem Zeitpunkt wurde durch das Veto Josephs in Wien erklärt, der eine verfassungsrechtliche Umgestaltung der Toskana nicht zugelassen habe, weil er vielmehr die Toskana direkt an den habsburgischen Länderkomplex anschließen wollte.6 Der Fund der späteren Überarbeitung im Nationalarchiv in Prag zeigte jedoch, dass Pietro Leopoldo die Intention einer Umsetzung nicht aufgegeben hatte. Neuerlich stellte sich die Frage, warum er, wenn er es schon nicht mehr selbst Ende der 1780er Jahre ausgeführt hatte, diese Aufgabe nicht seinem Nachfolger, Ferdinando III., übertrug. In den ausführlichen Instruktionen, die Pietro Leopoldo für ihn geschrieben hatte, ist von der Verfassung keine Rede.7 In einem Brief von Francesco Maria Gianni, desjenigen hohen Beamten, mit dem Pietro Leopoldo bei der Ausarbeitung der Entwürfe eng zusammengearbeitet hatte,8 von 1805 findet sich ein Hinweis darauf, dass die Überreichung des letzten Entwurfes an Ferdinando anlässlich der Amtsübergabe schon beschlossen gewesen sei, jedoch Widerstände in Wien das verhindert hätten.9 Gerda Graf vermutet diese Widerstände in der Sorge Leopolds, dass damit in den – zu dieser Zeit unruhigen – Ländern der Habsburgermonarchie Forderungen nach einer ähnlichen Verfassung geweckt worden wären.10 Völlig schlüssig ist diese Erklärung nicht,

Beccaria, das toskanische Strafgesetzbuch von 1786 und die leopoldinischen Verfassungsentwürfe. In: Anette Baumann / Alexander Jendorff (Hg.), Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa. München 2014, 141–160. 4 Gerda Graf, Der Verfassungsentwurf aus dem Jahr 1787 des Granduca Pietro Leopoldo di Toscana. Edition & Übersetzung – Das Verfassungsprojekt. Berlin 1998. Der Entwurf befindet sich auf den Seiten 17–75 und wird im Folgenden als Pietro Leopoldo, Proemio, Costituzione bzw. Ordinazioni consecutive zitiert. 5 Erstmals vollständig ediert wurde der Entwurf von Joachim Zimmermann, Das Verfassungsprojekt des Großherzogs Peter Leopold von Toscana. Heidelberg 1901. 6 Wandruszka, Leopold II., wie Anm. 2, Bd. 1: 1747–1780, 370. 7 Arnaldo Salvestrini (Hg.), Pietro Leopoldo – Relazioni sul governo della Toscana. Firenze 1969–1971. 8 Zu Francesco Maria Gianni (1728–1821) vgl. Furio Diaz, Francesco Maria Gianni. Dalla burocrazia alla politica sotto Pietro Leopoldo di Toscana. Milano – Napoli 1966. 9 Brief Franceso Maria Gianni an Giovanni Fabbroni, Genua, 21. Dezember 1805. In: Francesco Maria Gianni, Scritti di pubblica economia storico-economici e storico-politici. Bd. 2. Firenze 1849, 381. Der Hinweis findet sich bei Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 273. 10 Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 273, Anm. 82.

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denn vieles deutet darauf hin, dass Leopold auch in den habsburgischen Ländern entsprechende Reformen durchführen wollte. Die offenen Landtage, die Leopold 1790 einberufen ließ, sollten dazu dienen, alle Gravamina aufzunehmen11 und die Ergebnisse gegebenenfalls in eine Verfassung zu überführen. Das klingt zumindest beim Verfassungsentwurf von Andreas Riedel von 1791 an,12 der im Auftrag Leopolds einen entsprechenden Text ausarbeitete. Riedel hatte ab 1779 am toskanischen Hof die großherzoglichen Söhne in Mathematik unterrichtet und war 1790 mit Pietro Leopoldo nach Wien zurückgekehrt. Er stand den Ideen der Französischen Revolution sehr nahe und setzte sich zunehmend stärker für deren Umsetzung auch in den deutschsprachigen Ländern ein.13 Dass weder der toskanische Verfassungsentwurf von 1787 noch jener für die habsburgischen Länder von 1791 Geltung erlangten, lag vermutlich eher an der zunehmend schwierigen politischen innen- und außenpolitischen Situation, die einen verfassungsrechtlichen Umbau nicht erlaubt hätte und von der Bevölkerung nicht angenommen worden wäre. In der Toskana hatte es nach der Abreise Pietro Leopoldos 1790 eine Reihe von Aufständen gegeben, die die Rücknahme der bisherigen Reformen forderten14 und ab 1791 dynamisierten sich die Vorgänge in der Reaktion auf die innerfranzösischen Ereignisse rund um die Flucht und Gefangennahme des französischen Königspaars, der Suche nach Bündnissen und angemessen erscheinenden Reaktionen.15

11 Barbara Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches. Berlin 1999; für das Beispiel eines Landes Julian Lahner, Stände und landesfürstliche Herrschaft in Tirol, 1756–1790. Diss. Innsbruck 2019, 246–250. 12 Die im Haus-, Hof- und Staatsarchiv aufbewahrten und auf 1791 datierbaren Texte „Entwurf einer Proklamation über die Gewährung einer Verfassung für die Länder der Habsburger Monarchie. Versuch einer Ankündigung“ und „Entwurf einer Wahlordnung für die Länder der Habsburger Monarchie“ sind vollständig abgedruckt bei Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815. München 1951, 455–463 (Versuch), 463–490 (Entwurf). Im Folgenden zitiert als Riedel, Versuch bzw. Entwurf. 13 Zu Andreas Riedel (1748–1837) vgl. Alfred Körner, Andreas Riedel. Ein politisches Schicksal im Zeitalter der Französischen Revolution. Köln 1969; Helmut Reinalter, Riedel, Andreas Freiherr von. In: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), 566. 14 Franz Pesendorfer, Ein Kampf um die Toskana. Großherzog Ferdinand III. 1790–1824. Wien 1984; Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 275f. 15 Wandruska, Leopold II., wie Anm. 2, Bd. 1, 353–383.

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Der „unbekannte“ Fürst – Ferdinando III. Die Geschichtsschreibung zum toskanischen Verfassungsentwurf endet meist mit der Charakterisierung des Nachfolgers Ferdinando, dessen ihm zugeschriebenen Fähigkeiten ein Weiterbetreiben der Verfassung nicht zugelassen hätten. Laut Graf sei Ferdinando „aber nicht der Mann“ gewesen, „in einer ohnehin schon angespannten politischen Situation die absolute Monarchie in eine konstitutionelle umzuwandeln“.16 Dabei bezog sie sich auf Franz Pesendorfer, der sich in seinen Studien zu den Habsburgern in der Toskana als einer der wenigen auch explizit mit der Zeit nach 1790 beschäftigt hatte. Gestützt auf die „Geschichte Toscana’s“ von Alfred Reumont von 1877, der ohne Quellennachweis eine entsprechende Aussage Pietro Leopoldos anführte,17 kam er zum Schluss, dass „[k]raftvolle Entscheidungen“ die Sache von Ferdinando nicht gewesen seien, „er ließ lieber vieles auf sich zukommen, um es dann aber so lange wie möglich vor sich her zu schieben, in der Hoffnung, die Probleme würden sich von selbst lösen“. Deshalb sei er „niemals eifrig hinter möglichen Reformen her“ gewesen, wie er es vom Vater vorgeführt bekommen habe. Ihm sei „die Lust am Verändern der Lage zum besseren weitgehend“ abgegangen.18 Diese Einschätzung traf sich mit der Charakterisierung, die auch Alfred Wendehorst 1961 aus der würzburgischen Perspektive vorgenommen hatte.19 Dabei wurde jedoch nicht berücksichtigt, dass Ferdinando, der 1799 im Kontext der napoleonischen Eroberungen und Politik auf der italienischen Halbinsel die Toskana hatte verlassen müssen, zunächst 1803 mit dem ehemaligen Erzstift Salzburg, 16 Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 277. 17 Alfred von Reumont, Geschichte Toscana’s unter dem Hause Lothringen-Habsburg. J. 1737–1859. Gotha 1877, 244. Dort findet sich die entsprechende Charakterisierung: „Ferdinand war schwerlich der Mann, die unvermeidlichen und schon begonnenen Conflicte zu bemeistern, aber er war ebenso wenig in Gefahr neue hervorzurufen.“ 18 Pesendorfer, Kampf, wie Anm. 14, 60. Zusätzlich zieht er einen Hinweis aus einem Brief von Maria Carolina von Neapel-Sizilien heran, den er ihrer Biographie von Egon Caesar Conte Corti (Ders., Ich, eine Tochter Maria Theresias. Ein Lebensbild der Königin Marie Karoline von Neapel. München 1950, 176) entnimmt. Sie hielt von ihrem Neffen und neuen Schwiegersohn – als Ehemann ihrer Tochter Maria Luisa – tatsächlich nicht viel, sondern charakterisierte ihn als passives Wesen, der sich immer von anderen lenken lassen würde. Zugleich hielt sie ihm aber auch vor, dass er zu wenig Ehrfurcht vor seinem Vater zeige. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie Ferdinando im Alter von 21 Jahren für einige Monate kennengelernt, die sie zusammen in Wien und auf der Reise zurück in ihre Länder zusammen verbracht hatten. Später sollte sie sich immer über ihn beklagen, dass er und ihre Tochter ihren Anweisungen nicht Folge leisten würden und sich zu wenig oft bei ihr melden würden. Maria Carolinas Urteil als Momentaufnahme stellt eine interessante Quelle dar, ist allerdings in den Kontext ihrer sehr rasch gefällten und freimütigen Äußerungen zu stellen. Der Originalbrief liegt in Wien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), Hausarchiv, Sammelbände, Nr. 20, 3. Mai 1791. 19 Alfred Wendehorst, Ferdinand III. In: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), 96.

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erweitert um einige weitere kleine Gebiete, entschädigt worden war und 1806 mit dem ehemaligen Hochstift Würzburg ein Territorium übernahm, das nach drei Jahren Zugehörigkeit zu Bayern bereits eine grundlegende Umformung erfahren hatte. Anders gestaltet sich der Blick auf ihn, wenn man auf seine Reformtätigkeit in Salzburg schaut, wo er derjenige war, der die Administration der Behörden auf ganz neuen Grundlagen aufbaute.20 Kurzum, eine nähere Beschäftigung mit Ferdinando und seinen möglichen Überlegungen für eine Verfassung schien für die wenigsten lohnend.21 Von einem neuen Verfassungsentwurf der 1790er Jahre war bei den deutschsprachigen Autoren und Autorinnen daher nirgends die Rede. Im Gegensatz zur deutschsprachigen Forschung fand der Verfassungsentwurf von Ubaldo Maggi jedoch in der italienischsprachigen Literatur sehr früh Erwähnung. Renato Mori beschrieb seinen Fund im Aufsatz „Aspirazioni costituzionali nel pensiero politico toscano del settecento“22 von 1943 nach seinen Überlegungen zu Pietro Leopoldos Entwurf nicht nur, sondern edierte ihn auch im Anhang. Wie stark die Charakterisierung als eines für Reformen angeblich unfähigen Ferdinandos in der deutschsprachigen Forschung wirkte, zeigt sich insbesondere darin, dass Gerda Graf für ihre Forschung diesen Aufsatz von Renato Mori zwar herangezogen hat, ihn aber offensichtlich nur in seinem ersten Teil rezipierte, in dem es um den leopoldinischen Verfassungsentwurf ging. Dem zweiten Teil über Ubaldo Maggis Entwurf schenkte sie kein Augenmerk.23 Der „unbekannte“ Verfassungsentwurf – von Ubaldo Maggi Renato Mori hatte den Text von Ubaldo Maggi mit dem Titel „Prospetto d’istituzione organica nel governo di una vasta nazione“ im Archivio di Stato di Firenze in den Dokumenten von Matteo Biffi Tolomei24 inmitten einer Reihe 20 Zur Charakterisierung Ferdinandos in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung vgl. Ellinor Forster, Die Konstruktion eines „schwachen Fürsten“. Biografische Überlegungen zu Ferdinand III. von Toskana. In: Ernst Bruckmüller / David Wineroither (Hg.), Biografie und Gesellschaft. Über das Persönliche in Geschichte und Literatur, Wissenschaft und Politik. Wien 2013, 47–63. 21 Dieter Schäfer, Ferdinand von Österreich. Großherzog zu Würzburg, Kurfürst von Salzburg, Großherzog der Toskana. Köln – Graz – Wien 1988. Pesendorfer beschränkte sich in seiner Analyse der 1790er Jahre in der Toskana vor allem auf die außenpolitischen Herausforderungen und ging kaum auf innenpolitische Vorgänge ein. Pesendorfer, Kampf, wie Anm. 14. 22 Renato Mori, Aspirazioni costituzionali nel pensiero politico toscano del settecento. In: Archivio Storico Italiano (1943), 31–61. 23 Z. B. Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 276. 24 Matteo Biffi Tolomei (1730–1808) war unter anderem Mitglied der Accademia dei Georgofili, in der – insbesondere physiokratische – Ideen der Aufklärung diskutiert wurden. Furio Diaz, Biffi

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von Zeitungsauszügen, Abhandlungen und Notizen zur Französischen Revolution gefunden,25 die dessen Interesse an den Vorgängen in Frankreich dokumentieren. Über den Verfasser Ubaldo Maggi – Richter an der Rota Fiorentina – ist nur wenig bekannt. Er lebte von 1748 bis 1806, gehörte zum neuen Adel der Provinz und genoss einen guten Ruf als Richter. Über den weiteren Verwendungszweck dieses Verfassungsentwurfes lässt sich wenig sagen, Renato Mori misst ihm aus dem Umstand, dass er sich in den genannten Akten befand und demnach offensichtlich für Biffi Tolomei wichtig war, Bedeutung zu. Zudem handelte es sich dabei nicht nur um einzelne Überlegungen, sondern um ein ausführliches und systematisches Schema einer Verfassung, das die Grundlage einer zukünftigen Verfassung hätte bilden können. Der Entwurf selbst ist nicht datiert. Aufgrund der chronologischen Ordnung im genannten Faszikel nahm Mori an, dass er zwischen 1793 und 1794 geschrieben wurde.26 Der Text entstand und zirkulierte damit in einer Gruppe von Autoren aufgeklärter Ideen rund um Francesco Maria Gianni, die sich gegen die Rücknahme der leopoldinischen Reformen nach 1790 stellten und die innerfranzösischen politischen Entwicklungen mit großem Interesse verfolgten und diskutierten.27 1958 wurde der Entwurf in die Edition „Le Costituzioni italiane“ aufgenommen28 und fand sich auch in der Neuauflage von 1993 wieder29 – jeweils mit Bezug auf den Aufsatz von Renato Mori. Über dessen Arbeiten und den Abdruck des Entwurfs hinaus scheint jedoch auch das Interesse der italienischsprachigen Forschung daran nicht viel größer gewesen zu sein als jenes der deutschsprachigen. Im italienischen Kontext wurde nach den umfassenden von Franco Venturi initiierten und betriebenen Arbeiten zur italienischen Aufklärung in den 1950er und 1960er Jahren30 die Reformtätigkeit in der Toskana erst wieder zum 200-jährigen Gedenken an die Französische Revolution Gegenstand von Tagungen und Publikationen – ausschließlich jedoch mit Blick

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Tolomei, Matteo. In: Dizionario Biografico degli Italiani 10 (1968). Auf: Treccani, http://www. treccani.it/enciclopedia/matteo-biffi-tolomei_%28Dizionario-Biografico%29/ (18.12.2019). Signatur Carte Biffi Tolomei, filza 190, ins. 2. Mori, Aspirazioni, wie Anm. 22, 43. Der Entwurf wird im Folgenden als Maggi, Prospetto. Della Legislazione, Della rappresentanza sociale amministratrice bzw. Della rappresentanza sociale conservatrice zitiert. Mori, Aspirazioni, wie Anm. 22, 43f. Ebd., 39–42; Diaz, Gianni, wie Anm. 8, 339–398. Alberto Aquarone / Mario d’Addio / Guglielmo Negri (Hg.), Le Costituzioni italiane. Milano 1958, 711–714. Mario d’Addio / Carlo Ghisalberti / Guglielmo Negri u. a. (Hg.), Le Costituzioni italiane. Roma 1993, 393–398. Vgl. z. B. Franco Venturi u. a. (Hg.), Illuministi italiani. 7 Bde. Mailand – Neapel 1958–1965. Besonderes Interesse galt im Folgenden vor allem den Philosophen im Kontext der mailändischen Zeitschrift „Il Cafè“, herausgegeben von Pietro Verri. Vgl. z. B. Carlo Capra (Hg.), Pietro Verri e il suo tempo (Milano 9–11 ottobre 1997). Bologna 1999.

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auf die Zeit Pietro Leopoldos.31 Giulio M. Manetti edierte den leopoldinischen Verfassungsentwurf von 1782 auf Italienisch – mit einem Vorwort von Adam Wandruszka.32 Werner Daum hatte seine Informationen über Ubaldo Maggis Verfassungsentwurf aus der Edition der italienischen Verfassungen von 1993 genommen.33 Mit seiner hier eingangs wiedergegebenen Formulierung, dass der Entwurf unter „Ferdinand III.“ entstanden sei, legt er die Möglichkeit einer Auftragserteilung oder des Wissens von Seiten Ferdinandos nahe oder lässt sie zumindest offen. Diesen möglichen Zusammenhang hatte Renato Mori nicht hergestellt, sondern das Projekt im Kreis der genannten Autoren verortet. Tatsächlich deutet auch beispielsweise in Ferdinandos Korrespondenz mit seinem Bruder Franz, zu diesem Zeitpunkt bereits Kaiser, nichts auf solche Pläne hin,34 was er aber aus ähnlichen Gründen wie Pietro Leopoldo im Jahrzehnt davor verschwiegen haben könnte. Diese Frage nach dem Anteil Ferdinandos muss also einstweilen noch offenbleiben. Nichtsdestotrotz ist es lohnenswert, den Verfassungsentwurf von 1793 – über die erste grobe Einordnung durch Renato Mori hinaus – einer genaueren Analyse zu unterziehen. Dazu wird er im Folgenden naheliegender Weise zum einen mit jenem von Pietro Leopoldo von 1787 verglichen. Zwischen diese beiden Texte reiht sich zeitlich zum anderen der erwähnte Entwurf von Andreas Riedel von 1791 für die habsburgischen Länder ein. Riedels Präsenz am toskanischen Hof während seiner Lehrtätigkeit, die ganz offensichtliche Kenntnis 31 Vgl. z. B. Aldo Fratoianni / Marcello Verga (Hg.), Pompeo Neri. Atti del colloquio di studi di Castelfiorentino, 6–7 maggio 1988, organizzato dall’Istituto “Federigo Enriques”. Castelfiorentino 1992; Bernardo Sordi, L’Amministrazione illuminata. Riforma delle comunità e progettti di costituzione nella Toscana leopoldina. Mailand 1991; Atti del Congresso. L’Ordina di Santo Stefano e la Nobilità toscana nelle riforme municipali settecentesche (Pisa, 12–13 maggio 1995). Pisa 1995. Auch neuere Arbeiten konzentrieren sich auf diese frühe Zeit, wie etwa Vieri Becagli, The Georgofili of Florence, 1753–1783: From ‘Perfect Anarchy’ to Royal Academy. In: Koen Stapelbroek / Jani Marjanen (Hg.), The Rise of Economic Societies in the Eighteenth Century. Patriotic Reform in Europe and North America. Basingstoke Hampshire 2012, 96–129. Das Interesse an Cesare Beccaria und seinen Strafrechtsüberlegungen blieb hingegen über die Jahrzehnte hinweg sehr intensiv. Vgl. als Überblick Vincenzo Ferrone / Gianni Francioni (Hg.), Cesare Beccaria. La pratica dei lumi. IV. Giornata Luigi Firpo, Atti del convegno, 4 marzo 1997. Florenz 2000. 32 Giulio M. Manetti, La costituzione inattuata – Pietro Leopoldo Granduca di Toscana: dalla Riforma comunitativa al progretto di costituzione. Firenze 1991. Er hatte sich jedoch schon seit Beginn der 1980er Jahre damit beschäftigt. Ders., Dalla riforma comunitativa al progetto di costituzione sotto Pietro Leopoldo, Granduca di Toscana (1765–1790). In: Rassegna Storica Toscana 28 (1982), 185–217; ders., Una costituzione liberale. Il progetto costituzionale di Pietro Leopoldo. In: Rassegna storica toscana 30 (1984), 149–264. 33 Daum, Italien, wie Anm. 1, 347. 34 HHStA, Hausarchiv, Sammelbände, Nr. 29/5, 30/3, 31/2, 31a/1, 1790–1793.

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des toskanischen Entwurfs von 1787 und der Umstand, dass diese Verfassung vom selben Regenten erlassen werden sollte wie jene von 1787, wenn auch nicht mehr als Großherzog der Toskana, sondern nunmehr als König gedacht, machen die Frage nach den Ähnlichkeiten und Abänderungen interessant.35 Zugleich lassen sich in Riedels Entwurfs auch deutliche Einflüsse der französischen verfassungsrechtlichen Überlegungen und Entwicklungen der Jahre nach 1789 erkennen, was wiederum einen Vergleich mit Maggis Entwurf spannend erscheinen lässt. Vermessung der Legitimierung und Souveränität zwischen Gott, dem Großherzog bzw. König und den Mitgliedern der Gesellschaft Die Erwähnung der göttlichen Legitimierung von Herrschaftsgewalt im toskanischen Entwurf von 1787, der im Wesentlichen ja schon 1782 fertiggestellt war, überrascht kaum. So weit gingen Pietro Leopoldos Vorstellungen von Aufklärung nicht, dass er dies in Frage gestellt hätte. Der „Divina Provvidenza“ habe es gefallen, zu gestatten, dass er „alla Sovranità del GranDucato di Toscana“ aufgestiegen sei.36 Das diente ihm als Ausgangsbasis für die Legitimationskette, die von Gott zum Monarchen reichte und diesen daher berechtigte, mittels Verfassung der Bevölkerung Rechte zu übertragen. Im Verfassungstext von Riedel aus dem Jahr 1791 hätte man aufgrund des rezipierten Hintergrunds der Französischen Revolution und den Verfassungsarbeiten in der französischen Nationalversammlung vielleicht eine andere Einleitung erwarten können. Doch der Entwurf – für die habsburgischen Länder – lehnte sich in der Einleitung sehr stark an den toskanischen von 1787 an. Auch hier wurde zunächst die „göttliche Vorsehung“ bemüht, die den Regenten „auf den Thron dieser Monarchie“ berufen habe.37 Daran anschließend machten sich allerdings doch der französische Einfluss und die entsprechenden Diskussionen bemerkbar – und

35 Ein erster Vergleich der Verfassungsentwürfe von Pietro Leopoldo und Andreas Riedel findet sich bei Ellinor Forster, Gesellschaftliche Neuordnung am Ende des 18. Jahrhunderts? Österreichische und toskanische Rechtsentwürfe im Vergleich. In: Neues Recht/Diritto nuovo. Geschichte und Region/Storia e regione 20/2 (2011) [2013], 15–39. Die üblicherweise ins Feld geführten Einflüsse der amerikanischen Verfassungen auf den Entwurf Pietro Leopoldos werden hier nicht berücksichtigt, weil diese bereits häufig untersucht wurden. Vgl. Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 278–290. Auf einige Ähnlichkeiten des Entwurfs von Maggi mit den französischen Verfassungen hat Mori bereits hingewiesen. Vgl. Mori, Aspirazioni, wie Anm. 22, 45. 36 Pietro Leopoldo, Proemio, wie Anm. 4, Nr. 1, S. 20. 37 Riedel, Versuch, wie Anm. 12, Nr. 1, S. 455.

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zwar auf zweierlei Weise. Zum einen fühlte sich Riedel offensichtlich dazu bemüßigt, das Vorhandensein eines Monarchen – im Kontext der habsburgischen Verhältnisse als König benannt – zunächst einmal rechtfertigen zu müssen. Gott habe den Völkern die Könige gegeben, „damit sie unermüdbar dem Geschäfte obliegen, derselben Glückseligkeit auf einen standhaften Fuß zu setzen und damit sie die Beförderung dieses Endzweckes aus allen Kräften und, wenn es nötig ist, sogar mit Hintansetzung ihrer persönlichen Glückseligkeit, beschleunigen“ würden.38 Die Selbstverständlichkeit der Legitimität war also verloren gegangen. Zum anderen schwächte Riedel den göttlichen Einfluss auch gleich noch ab und positionierte die Machtfülle des Monarchen fast auf derselben Stufe oder sogar fast unabhängig von der göttlichen Macht. Der „göttlichen Vorsicht“ sei der Monarch „zwar den Zoll unserer Dankbarkeit schuldig, öffentlich, doch ohne Ruhmredigkeit und nur allein zur Ehre Gottes, zu bekennen, daß wir einen genugsamen Vorrath eigener und entlehnter Weisheit haben, um für die ganze Reyhe der Staatgebrechen angemessene Heilungsmittel aufzubringen und mit einer mehr als hinreichenden Macht versehen sind, allen Hindernissen zum Trotz unseren Verordnungen Kraft und Erfüllung zu geben.“39 Sowohl Pietro Leopoldo als auch Riedel nutzten die Struktur einer vorgeschalteten Vorrede dafür, ausführlich die Absichten und Qualitäten des Monarchen darzustellen und die neue Regierungsart zugleich von der bisherigen Situation abzugrenzen. Das fiel im Verfassungsentwurf von 1787 leicht, indem Pietro Leopoldo die Entwicklungen unter der Vorgängerherrschaft der Medici entsprechend negativ und als seinen Vorstellungen zuwiderlaufend darstellen konnte.40 Im habsburgischen Kontext war dies in der gleichen Form nicht möglich, da dies eine Negativzeichnung von Leopolds Bruder Joseph II. bedeutet hätte. Stattdessen schlug Riedel den Weg ein, Mängel einzelner gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen – etwa der Beamten, Geistlichen oder des Heeres – anzuprangern.41 Zwei Jahre später in der Toskana war von einem Monarchen am Beginn des Verfassungsentwurfes nichts mehr zu lesen. Maggi ließ seinen Text von 1793/94 völlig anders beginnen – nämlich mit dem einzelnen Menschen in der Gesellschaft und dessen Rechten. Allen kämen gleiche Rechte zu, daher könne auch niemand ein besonderes Recht innehaben. Das gerechteste soziale System sei in der Folge jenes, in dem diese Gleichheit – als universales Recht der Gesellschaft – am genauesten erfüllt werde.42 Damit knüpfte er an die 38 39 40 41 42

Ebd., Nr. 2, S. 455. Ebd., Nr. 18, S. 458. Pietro Leopoldo, Proemio, wie Anm. 4, Nr. 2–4, S. 20–22. Riedel, Versuch, wie Anm. 12, Nr. 1–17 u. 27, S. 455–458, 461. Maggi, Prospetto, wie Anm. 25, 55.

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Ideen Jean Jacques Rousseaus an,43 auch wenn er etwas später im Entwurf doch auch ein repräsentatives Amt definierte. Aus den Erfordernissen der Exekutive leitete er die logisch dargestellte Forderung ab, dass sich die administrative Repräsentation in einer Person konzentrieren müsse. Mit dem rhetorischen Kniff der notwendigen Kontinuität wurde das Amt dieser Person als nicht wählbar, sondern als erblich erklärt.44 Ohne dass also Maggi das Wort Monarch oder Großherzog in die Feder nahm, war damit der Ort und die Funktion für den bisherigen Fürsten der Toskana gefunden. Die Souveränität verortete er jedoch eindeutig bei der Gesellschaft, von göttlicher Legitimation war keine Rede mehr. Abgeleitet von den Rechten der Einzelnen schien es für Maggi selbstverständlich, dass diese auch Gewalten im Staat, vor allem die Legislative und die Kontrolle der Exekutive, übernahmen.45 Auch die Entwürfe von 1787 und 1791 bezogen die Bevölkerung mit ein, schrieben ihr jedoch erst nach und nach Kompetenz zu. Zunächst wurde die Bevölkerung als Untertanen definiert und damit in ein klar hierarchisches Verhältnis zum Monarchen gestellt. Pietro Leopoldo habe es, so der Entwurf von 1787, als seine vordringlichste Pflicht betrachtet, „il far sperimentare ai nostri amatissimi Suditti un governo“, das ihnen in Bezug auf die katholische Religion und geleitet von der wahren und christlichen Lehre „la possibile umana felicità“ gewährleisten solle.46 Die Überlegung zu einer Verfassung sei seinem zutiefst vorhandenen Glauben daran entsprungen, dass ein Staat weder glücklich bestehen, noch gerecht regiert werden könne „senza una Legge primitiva, e fondamentale solennemente accettata dalla Nazione medesima.“ Mit diesem „uranfänglichen Grundgesetz“ war allerdings nicht Rousseaus Gesellschaftsvertrag gemeint, sondern vielmehr die von Pietro Leopoldo entworfene Verfassung, denn ein Gesellschaftsvertrag hätte von der Bevölkerung nicht angenommen werden müssen, sondern galt als zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft abgeschlossen. Die Initiative lag damit also bei Pietro Leopoldo und nicht bei der Gesellschaft, die ihn nicht von sich aus mit der Vertretung beauftragte. Zweck dieses Gesetzes, so der Entwurf weiter, sei, dass der „Sovrano“ – und damit wird deutlich, dass er sich nach wie vor selbst als Souverän sah – mit rechtmäßiger Macht ausgestattet und zugleich aber auch in deren Gebrauch 43 Zur Einordnung des „Contrat social“ (1762) von Jean Jacques Rousseau in die französischen, englischen und deutschen Vorstellungen von Souveränität vgl. Diethelm Klippel, VIII. Der neuzeitliche Souveränitätsbegriff bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6. Stuttgart 1990, 107–128, hier 126. 44 Maggi, Prospetto, wie Anm. 25, 58. 45 Ebd., 56. 46 Pietro Leopoldo, Proemio, wie Anm. 4, Nr. 1, S. 20.

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und Ausübung begrenzt werde. Zu den dann thematisierten Rechten der Gesellschaft, auf die sie, selbst wenn sie wollte, nicht verzichten könne, gehöre, frei vorzuschlagen, was der Allgemeinheit zum Vorteil gereichen könne und alles zu verwerfen, was sie als schädlich für diese erachte und dabei dem Souverän zur freien Ausübung die höchste Exekutivgewalt zu überlassen.47 Erst in diesem Nachsatz zeigte sich also auch bei Pietro Leopoldo der Bezug auf Rousseau, dass der Gesellschaft unverzichtbare Rechte zukamen, die sie in dieser Ausführung teils selbst wahrnahm und teils – als Exekutive – dem Monarchen überließ. Demgegenüber maß Riedel 1791 der Bevölkerung zunächst etwas zögerlicher grundsätzliche Rechte zu. Sie kam für ihn als Ergänzung und Behebung eines möglichen Mangels ins Spiel, denn so wohltätig eine Gesetzgebung und so würdig ein Gesetzgeber auch sein mochten, die „Allgewalt des Staates“ in den Händen zu halten, „so ist uns doch allemal bey selbiger ein Mangel aufgestossen, der uns zu wichtig scheint, und der für die Dauer der Glückseeligkeit des Staates zu verderblich ist, um nicht unser Augenmerk mit der äussersten Sorgfalt auf selben zu wenden.“ Dieses „Ungemach“ sah er in der Sterblichkeit des Gesetzgebers begründet. Aus diesem Grund liege also dem gutthätigen Gesetzgeber sowohl als dem Volke daran, der Nazion einen unsterblichen Gesetzgeber zu verschaffen, den wir nirgends anderst als in der allerhöchsten Majestät des Volkes anzutreffen wissen, das ist in dem vereinigten Körper der ganzen Nazion, welche nie zu jung oder zu alt seyn kann, um die Anstalten nicht zu verfehlen, die ihr eigenes Wohl erheischet, die keinen Krankheiten unterliegen und nie von dem Schauplatz ihres eigenen Daseyns abtreten

könne. Erst durch den skizzierten Mangel der Unsterblichkeit ließ Riedel die Aufgabe der Gesetzgebung vom Monarchen auf die Bevölkerung übergehen und sprach ihr damit im Nachgang mit der Bezeichnung der „Majestät“ die Souveränität zu.48 Im Vergleich zu Pietro Leopoldo verwendete Riedel die Bezeichnung „Untertanen“ am Beginn nur selten49 und stattdessen viel öfter „Volk“. Hinzu kam als der Begriff der „Nazion“, der immer öfter „Volk“ ersetzte. Der Terminus der Nation findet sich auch in den anderen Entwürfen – bei Pietro Leopoldo jedoch erst, nachdem er den „Sudditi“ die Wahrnehmung ihrer Rechte übertragen hatte. Er ließ den Untertanenbegriff auch nicht gänzlich fallen, sondern die Bezeichnung Nation kam hinzu. Gedacht war diese im neuen Sinn für die Gesamtbevölkerung, also damit in ähnlicher Weise wie später in Frankreich

47 Ebd., Nr. 3, S. 57. 48 Riedel, Versuch, wie Anm. 12, Nr. 19–25, S. 459f. 49 Ebd., Nr. 7, S. 456.

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1789, als sich der Dritte Stand zur Nation(alversammlung) erklärte.50 Im Text von Riedel kommt die Bezeichnung der Nation in zweierlei Weise vor, in den meisten Fällen, wie erwähnt, als Synonym für das „Volk“ an sich, aber daneben auch noch im alten Sinn zur Bezeichnung der geografischen, vielleicht auch schon ethnisch gedachten Herkunft, etwa wenn er von den Männern für die gedachte Versammlung sprach, die von „allen Gegenden des Reiches“ und aus „allen Nazionen desselben“ zusammenkommen sollten.51 Maggi verwendete hingegen von Beginn an die Bezeichnung der nazione, abwechselnd und gleichbedeutend mit dem Begriff der società. So weist er etwa schon im Titel seines Entwurfs den Geltungsbereich der Verfassung für „una vasta nazione“ aus. In gedachte Praxis gegossene Partizipation der Bevölkerung – und die Frage nach deren „Gleichheit“ So lange man sich in allgemeinen, die Gesamtheit umfassenden Bezeichnungen bewegte, ließen sich gleiche Rechte für alle gut artikulieren und fordern. In all diesen Gesamtbezeichnungen wurde jedoch nicht darauf eingegangen, wer nun konkret damit gemeint war und ob es sich tatsächlich um eine Gemeinschaft von Gleichen handelte. Dies musste spätestens dann näher bestimmt werden, wenn es darum ging, wie diese nun festzuschreibende Beteiligung der Bevölkerung an den Staatsbelangen praktisch umgesetzt werden konnte. Festschreibung alter und neuer gesellschaftlicher Hierarchien Die Frage der Einbeziehung der Bevölkerung stellte sich zum einen in geografisch-administrativer Hinsicht, zum anderen in Bezug auf die soziale Herkunft – und zum dritten hinsichtlich der Kategorie Geschlecht. Alle drei Entwürfe sahen eine Entsendung von Abgeordneten von der Bevölkerung zu Versammlungen vor, die an einem zentralen Ort stattfinden sollten. Riedel fasste die Bedeutung der geografisch breiten Einbeziehung der Bevölkerung in Worte. Damit würde die Versammlung die Summe aller Kenntnisse und Einsichten, die zum Wohlstand der gesamten Gesellschaft nötig seien, in sich vereinigen und da jedes Glied auf die Unterstützung derjenigen zählen könne, die ihm ihr Vertrauen geschenkt hatten, so würden „alle Glieder zusammen nicht weniger als die Macht des ganzen Staates für sich“ haben.52 50 Bernd Schönemann, Volk, Nation. IX. Vom Westfälischen Frieden bis zum Wiener Kongreß. In: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7. Stuttgart 1992, 302–337. 51 Riedel, Versuch, wie Anm. 12, Nr. 23, S. 459. 52 Ebd., Nr. 23, S. 460.

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Die Entscheidung für die administrativen Einheiten der untersten Ebene stellte die erste Vorauswahl dar. Sowohl in der Toskana als auch in der Habsburgermonarchie bedeutete das zunächst aber die Frage, ob das gesamte Gebiet berücksichtigt werden konnte oder Teile mit starkem eigenen Rechtsstatus ausgenommen werden sollten. Riedel sah beispielsweise zwei Varianten vor, je nachdem, ob die „ganze hungarische Nazion“ weiter mit ihren bisherigen Rechten und Privilegien leben wollte oder ein Teil sich zugunsten der neuen Verfassung dagegen entschied.53 Hinsichtlich der Toskana hatte Gianni vorgeschlagen, das Gebiet des Stato di Siena nicht in die Verfassung miteinzuschließen.54 Die Entscheidung fiel jedoch zugunsten der intendierten Vereinheitlichung für die gesamte Toskana aus und mündete in die Einteilung von 19 Provinzen. Diese Reihung der Provinzen lässt sich als Zuschreibung von Bedeutung und Rücksichtnahme auf erhaltene besondere Rechte innerhalb des Gesamtgefüges lesen. Sie beginnt mit Florenz und setzt mit Siena, Pisa, Pistoia, Arezzo und Volterra fort.55 Die Einteilung wird dabei als Entscheidung des Großherzogs präsentiert – „secondo la situazione locale, e più comoda agli interessi degli abitanti medesimi.“56 Allerdings war dieser Zusatz im Entwurf von 1782 noch nicht enthalten gewesen, sondern erst 1787 hinzugefügt worden.57 Es scheint also eine Erklärung notwendig geworden zu sein für diese „von oben“ angeordnete Einteilung. Die Aufzählung der Provinzen war zugleich mit der vorgesehenen Anzahl von Deputierten versehen worden und am Ende findet sich der Hinweis, wie diese – falls die vorgenommene Zuweisung akzeptiert werde – zu wählen seien.58 Damit deutete Pietro Leopoldo zumindest die Möglichkeit für die Bevölkerung an, bei dieser Einteilung auch noch mitreden zu können. Deutlicher wurde das in den beiden anderen Entwürfen formuliert. Zwar griff auch Riedel 1791 zunächst auf die habsburgischen Länder als Einheiten – und innerhalb derer auf die historische Einteilung in Viertel – zurück, stellte jedoch in den Raum, dass dies nur eine erstmalige Vorkehrung sei, bei der es darum gehe, den Entsendungsvorgang in Gang zu setzen. Die „Zertheilung des Reichs in Distrikte und Auftheilung der Representanten“ könne erst in der Versammlung selbst zum „nöthigen Grad der Vollkommenheit“ gebracht werden. Wovon er trotz dieser an die historische Entwicklung anknüpfenden Einteilung jedoch absah, war die Nennung der bisherigen Titel der Länder. Es war also nirgends die Rede von 53 54 55 56 57

Ebd., Nr. 29, S. 461. Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 174. Pietro Leopoldo, Ordinazioni consecutive, wie Anm. 4, Nr. 65, S. 38–45. Pietro Leopoldo, Proemio, wie Anm. 4, Nr. 13, S. 24. Das lässt sich aus der Kursivsetzung in der Bearbeitung der Edition von Gerda Graf ersehen. Sie hat die hinzugefügten Formulierungen kursiv gesetzt und in der Fußnote mit „(…)“ gekennzeichnet. Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 18. 58 Pietro Leopoldo, Ordinazioni consecutive, wie Anm. 4, Nr. 65, S. 42.

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einem Königreich, Erzherzogtum, Herzogtum oder einer Grafschaft, sondern er deklarierte sie als rein administrative Einheiten, bezeichnet als Provinzen eines gemeinsamen Staates, dessen Oberhaupt der König sei.59 Pietro Leopoldo hatte ursprünglich eine größere Gleichheit unter den Provinzen angestrebt, indem er jeder Provinz zwei Abgeordnete zusprechen wollte,60 doch fiel die Entscheidung letztlich entsprechend der jeweils zugeschriebenen Bedeutung und wohl auch Größe aus. Die ehemaligen Stadtrepubliken bekamen zwei Deputiertenstellen – je eine für die Stadt und eine für das umliegende Gebiet, die kleineren Provinzen nur je eine zugeordnet.61 Riedel ging in seiner Auflistung der Provinzen und Zuordnung von Abgeordneten anders vor. Er reihte offensichtlich strikt nach der Größe und versah diese mit einer entsprechend abfallenden Zahl vorgesehener Deputierter – so begann er nach den skizzierten zwei Möglichkeiten, wie mit Ungarn zu verfahren sei, mit Böhmen, Galizien und dann erst folgte Österreich.62 Die am konsequentesten neue mögliche Ordnung präsentierte Maggi, indem er sich diesbezüglich nicht festlegte und verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl angab. Um eine proportionale Gleichverteilung in der Bevölkerung zu erzielen, müsse sich „ciascuna suddivisione delle Popolazione Nazionale, sia questa Comunità, Distretto, Dipartimento, Sezione, o altra, che già esista“ versammeln und Abgeordnete wählen.63 Diese Einteilung hatte nicht nur administrative Bedeutung, sondern konnte auch das Element einer weiterreichenden Hierarchisierung in sich tragen. Das wird im Entwurf von 1787 deutlich, der hinsichtlich aller Durchführungsbestimmungen am weitesten ausgearbeitet war. Wenn es nämlich darum ging, in welcher Reihenfolge die Inhalte bei den Versammlungen vorgetragen werden konnten, dann sollte entlang der Liste der angeführten Provinzen vorgegangen werden. Damit begann wiederum Florenz als erstgenannte und es folgten die anderen in der vorgegebenen Rangfolge. Auch die Sitzordnung wurde nach diesem Schema festgelegt.64 Die räumliche Hierarchisierung setzte sich in der Festlegung der Versammlungsorte fort. Waren es im Entwurf von 1787 auf Provinzialebene die Hauptorte der Provinzen und für die Generalversammlung die Hauptstadt Florenz, so brachen sowohl Riedel als auch Maggi mit dieser herkömmlichen Favorisierung der historischen Zentren. Als Versammlungsort setzte Riedel das unterderennsische Stein fest. Das begründete er mit der „Ruhe und der Versammlung 59 60 61 62 63 64

Riedel, Versuch, wie Anm. 12, Nr. 29, S. 461f.; Entwurf, V., wie Anm. 12, 488. Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 174. Pietro Leopoldo, Ordinazioni consecutive, wie Anm. 4, Nr. 65, S. 38–45. Riedel, Versuch, wie Anm. 12, Nr. 29, S. 461f. Maggi, Prospetto. Della Legislazione, wie Anm. 25, 56. Pietro Leopoldo, Ordinazioni, wie Anm. 4, Nr. 115, S. 58.

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des Geistes“ sowie der wirtschaftlichen Unterstützung, die durch den vorgesehenen Wechsel des Versammlungsortes alle drei Jahre jeweils einem anderen Ort zugutekommen sollte.65 Noch ausdrücklicher von der bisherigen Bedeutung der Hauptstadt Florenz setzte Maggi seinen Entwurf ab. Er legte keinen Ort fest, wo sich die Abgeordneten treffen sollten – aber er hielt ausdrücklich fest, dass es sich dabei keinesfalls um die Hauptstadt handeln dürfe.66 Stärker noch als in der administrativen Gliederung stellte sich die Frage der Hierarchisierung im Gegensatz zu einer Gleichheit der Bevölkerung hinsichtlich der konkreten Personen und Personengruppen, die diese Vertreter wählen konnten bzw. die selbst gewählt werden konnten. Schon in seiner „Idea sopra il progretto della creazione dei stati“ von 1779 hatte sich Pietro Leopoldo explizit – also deutlicher als im Verfassungsentwurf – auf den Gesellschaftsvertrag berufen und dass durch diesen eine Gleichheit der Staatsbürger konstituiert werde.67 Diese Gleichheit wurde im Strafgesetzbuch von 1786 auch tatsächlich gesetzlich verankert. Entsprechender Weise sah Pietro Leopoldo im Verfassungsentwurf keine Unterteilung in Stände – etwa Adel, Geistlichkeit und Städte – vor. Das hätte auch nicht zu den toskanischen Verhältnissen gepasst. Das Patriziat – der Stadtadel – definierte sich auch noch zur Mitte des 18. Jahrhunderts in erster Linie über das Bürgerrecht. Die Familien im toskanischen Patriziat hatten ihren Reichtum häufig im Handel oder durch Manufakturen erworben und ihn erst dann mit dem Erwerb von Land konsolidiert und ausgeweitet. Aufgrund des Zensus erlaubte der Landbesitz Zugang zu den höchsten städtischen Magistraten.68 Ein weiterer Schritt zur Gleichheit findet sich im Entwurf von 1787 in der Betonung, dass es für die Wählbarkeit keinen Unterschied mache dürfe, ob es sich dabei um Laien oder Geistlichen handle.69 Die Unterteilung der Gesellschaft, die Pietro Leopoldo jedoch vornahm, war jene in die Klassen der Besitzenden und Nichtbesitzenden,70 wie sie etwa auch schon Denis Diderot formuliert hatte.71 Für den Verfassungsentwurf bedeutete das in der Folge, dass Partizipation nur über die Steuerleistung möglich war.72 Während Gianni diese Auffassung Pietro Leopoldos geteilt hatte, kam in dem nach der Fertigstellung des ersten Entwurfs hinzugezogenen Beraterkreis durchaus Kritik daran 65 Riedel, Versuch, wie Anm. 12, Nr. 30, S. 462. 66 Maggi, Prospetto. Della Legislazione, wie Anm. 25, 57. 67 Pietro Leopoldo, Idea sopra la creazione dei stati (1779), zit. nach: Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 234f. 68 Jung, Gleichheit, wie Anm. 3, 157–159. 69 Pietro Leopoldo, Ordinazioni consecutive, wie Anm. 4, Nr. 93, S. 52. 70 Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 172f. 71 Rudolf Walter, Stand, Klasse. IX. Klassenbegriffe im 18. Jahrhundert. In: Brunner / Conze / Koselleck (Hg.), Grundbegriffe, wie Anm. 43, 220–230, 72 Pietro Leopoldo, Ordinazioni consecutive, 67 21 , 68 12 , wie Anm. 4, 45f.

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auf. Der Leiter des Finanzdepartements Ludwig von Schmidweiler wandte in seinem Gutachten 1782 ein, dass wenn die Interessen der Allgemeinheit nur von den Besitzenden als Repräsentanten vertreten werden sollten, diese nicht unbedingt auch die Interessen der Allgemeinheit darstellten, sich die Repräsentativkörperschaft daher also nicht „Corpo di tutta la Nazione“ nennen könne. Die Nichtbesitzenden würden hingegen genauso wie die Besitzenden ein Recht auf Schutz und Gunst der Regierung haben.73 Dieser Einwand änderte zwar nichts am Text, aber Pietro Leopoldo hatte seinerseits schon zuvor im Text Schritte vorgesehen, die breitere Bevölkerung miteinzubeziehen. Zum einen wurde festgehalten, dass die gewählten Vertreter auch die Interessen der Nichtbesitzenden vertreten sollten. Zum anderen war vorgesehen, dass die gesamte Bevölkerung auf den Versammlungen Anliegen zur Diskussion einbringen können sollte, was unten noch ausführlicher zur Sprache kommen wird. Andreas Riedel und Ubaldo Maggi führten andere Kriterien der Auswahl an. Riedel wollte, dass man dabei „dem Beyspiele unserer Nachbarn folge“, das darin bestehe, dass die Nation durch „eine freye Wahl, die Besten und Weisesten aus ihrem Mittel aushebt, Männer, die ihr Vertrauen verdienen und fähig sind, mit Nutzen das Werkzeug abzugeben, mittels welchen Sie ihren Willen an den Tag legt“.74 Konkreter wurde er, wenn es um das Wahlprozedere ging. „Alle Layen männlichen Geschlechtes, die den völligen Gebrauch ihrer gesunden Vernunft haben, bey reifem Alter sind, oder bey denen der Verstand den Jahren zuvorgekommen“ sei und sofern sie „in der Gegend beyläufig ein Jahr lang bekannt waren“ konnten sogenannte Wahlherren auf eine „Gemeinliste“ setzen lassen. Aus diesen Listen wurden mittels Losverfahren, dies wahrscheinlich inspiriert von der Toskana, wo auch Pietro Leopoldo an das dort seit 1328 eingeführte Losverfahren angeknüpft hatte,75 Repräsentanten ausgewählt.76 Von einer vorausgesetzten Steuerleistung, die zu einer unterschiedlichen Beteiligung der Bevölkerung geführt hätte, war also keine Rede, allerdings hatten die Votierenden einen „Wahlpfennig“ in der Höhe von zwei österreichischen Groschen zu entrichten. Das Geld war für die Ausgaben bei der Versammlung bestimmt.77

73 Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 179, Anm. 87. 74 Riedel, Versuch, wie Anm. 12, Nr. 22, S. 459. Allerdings hatte die französische Verfassung vom Herbst 1791 schließlich doch das Zensuswahlrecht aufgenommen. 75 Pietro Leopoldo, Ordinazioni consecutive, 67 12 , 68 12 , wie Anm. 4, 45f.; Ulrich Meier, „Nichts wollten sie tun ohne die Zustimmung ihrer Bürger“. Symbolische und technische Formen politischer Verfahren im spätmittelalterlichen Florenz. In: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Vormoderne politische Verfahren. Berlin 2001, 175–206, hier 184. 76 Riedel, Entwurf. F. Von den Votierenden, wie Anm. 12, Nr. 1, S. 468. 77 Riedel, Entwurf. G. vom Votieren, wie Anm. 12, Nr. 5, S. 469.

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Maggi ging in seiner Vorstellung von Gesellschaft einen anderen Weg. Er teilte die „Nazione“ entsprechend „la sua divisione naturale in quattro classi principali“ ein. Diese Klassen sah er in den „agricoltori“ oder „raccoglitori“, die für die Produktion der Güter verantwortlich seien, in jener der „artefici“ oder „manifattori“, zuständig für die Verarbeitung der Güter, jener der „commercianti“ und „dispensatori“, die sich um die Verteilung der Güter kümmerten, und schließlich in jener der „amministratori pubblici“. Dieser letzten Gruppe wies er Personen zu, die unterschiedliche Dienste versahen. Namentlich führte er an, dass sie sich um das „Ministero di istruzione, di persuasione, e di forza per il Regime di Società“ kümmern würden.78 Mit diesen Überlegungen knüpfte er offensichtlich an die Mailänder Vertreter der politischen Ökonomie zu Beginn der 1770er Jahre an. Pietro Verri etwa hatte sich dabei am meisten davon entfernt, Grundeigentümern von vornherein den größten Nutzen in der Gesellschaft zuzusprechen. Er hatte 1771 die drei Klassen der „riproduttori“, wie etwa Bauern und Handwerker, „mediatori“ – damit waren vor allem Kaufleute, aber auch Bedienstete im Transportwesen gemeint – und schließlich „consumatori“ unterschieden. Während Gian Rinaldo Carli 1772 in Absetzung von Verris Modell eine Einteilung in „produttori“, „proprietarj“ und Beschäftigte vorgeschlagen hatte, die weder das eine noch das andere seien – „industriosi non produttori, nè proprietarj“, kommt die Unterscheidung nach Klassen von einem dritten Vertreter, Agostino Paradisi, jener später von Maggi gewählten am nächsten, auch wenn dieser nicht genau dieselben Begriffe verwendete. Ähnlich wie in den Modellen von Verri und Carli bauten sowohl Paradisi wie auch Maggi die Gesellschaftsstruktur von unten nach oben auf. Paradisi hatte von 1772 bis 1780 an der Universität Modena Wirtschaft gelehrt und dabei 1773 die „Lezioni di economia civile“ verfasst. Zwar ging er in früheren Schriften auch von der grundsätzlichen Unterscheidung in Eigentümer und Nichteigentümer aus, differenzierte aber nun genauer einzelne Klassen, in denen er die eigentlichen Produzenten – die „produttori“, die aus der Natur Erzeugnisse hervorbrachten – von den „modificatori“ unterschied. Damit meinte er Manufakturarbeiter, die die von den „produttori“ zur Verfügung gestellten Rohstoffe durch ihre Arbeit veränderten. Darüber hinaus seien Staat und Wirtschaft auch auf Berufe außerhalb der Produktion angewiesen – nämlich auf „mercanti“ und schließlich auf unterschiedliche Dienste in der Verwaltung, im BildungsGesundheits-, Rechte- und Militärwesen.79 Einige Reflexe dieser diskutierten ökonomischen Gesellschaftsmodelle finden sich auch in späteren – tatsächlich realisierten – Verfassungen auf der italienischen Halbinsel, wie etwa in der 78 Maggi, Prospetto. Della Legislazione, wie Anm. 25, 56. 79 Wolfgang Rother, La maggiore felicità possibile. Untersuchungen zur Philosophie der Aufklärung in Nord- und Mittelitalien. Basel 2005, 320–323.

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Republik Lucca 1801 und in der Ligurischen Republik 1802. Diese unterschieden drei Kollegien, denen Partizipationsrechte eingeräumt wurden, nämlich Besitzende, Kaufleute und Gelehrte. Ganz offensichtlich nahmen dabei jedoch wieder die Eigentümer einen zentralen Platz ein.80 Indem Maggi seine Einteilung in die praktische Überlegung umsetzen musste, wie diese vier Klassen am Staatsgeschehen beteiligt werden sollten, wird deutlich, dass auch bei ihm in der ersten Gruppe der „agricoltori“ und „raccoglitori“ wohl alle Grundbesitzer mitgedacht waren, jedoch maß er ihnen weniger Gewicht als der zweiten Gruppe zu. Gemessen an den Quantitätsverhältnissen der Gesellschaft belaufe sich die erste Klasse laut Maggi auf drei Zehntel der Nation, die zweite Klasse der „artefici“ oder „manifattori“ hingegen auf vier Zehntel. Die letzten beiden Klassen wurden kleiner angesetzt – die „commercianti“ und „dispensatori“ mit zwei Zehntel und die „amminstratori pubblici“ mit einem Zehntel. Damit sah er eine der Verteilung entsprechende soziale Ordnung der Gesellschaft gewährleistet. In den letztlich festgesetzten administrativen Einheiten sollten sich diese Gruppen separat versammeln und entsprechend ihrem Verhältnisanteil Abgeordnete wählen. Diese jeweils zehn pro Einheit hatten unter sich einen Abgeordneten zu bestimmen, der in der Folge einen Teil der sich versammelnden „Camera di Legislazione“ bildete.81 Über die konkreten Voraussetzungen zur Wahl und zum Wahlprozedere findet sich im Entwurf Maggis nichts. Es mag sein, dass er sich dabei auf die eingeführten und praktizierten Regelungen in der Toskana verlassen wollte, allerdings hätten diese – aufgrund der Voraussetzung von Grundbesitz für die Wählbarkeit in den Gemeinden – nicht auf alle vier Gruppen angewendet werden können. Was das Geschlecht betraf, so blieb Maggi sehr vage – er sprach vor allem von „deputati“, die ein „Soggetto“ wählten. In einigen toskanischen Gemeinden – in den Städten Florenz und Siena, der „Provincia inferiore senese“ und der „Provincia pisana“ – konnten Frauen aufgrund des Steuerzensus in den Generalrat der Kommunen gewählt werden, auch wenn sie sich im Fall der Wahl vertreten lassen mussten.82 Der Status von Frauen war auch schon in den 1760er Jahren von der Mailänder Aufklärung diskutiert worden. Dabei zeigt sich, dass 80 Daum, Italien, wie Anm. 1, 360. Peter Brandt, Martin Kirsch, Arthur Schlegelmilch und Werner Daum bezeichnen diese Einteilung in verschiedene Wahlklassen – Grundeigentümer („possedenti“), Kaufleute und Fabrikanten („commercianti“), Gelehrte („dotti“) – als das italienische Modell. Peter Brandt / Martin Kirsch / Arthur Schlegelmilch u. a., Einleitung. In: Brandt / Kirsch / Schlegelmilch (Hg.), Handbuch, wie Anm. 1, 7–118, hier 54. 81 Maggi, Prospetto. Della Legislazione, wie Anm. 25, 56. 82 Annamaria Galoppini, Le riforme municipali toscane e la condizione femminile. In: Atti del Convegno. wie Anm. 31, 197–205. Der Hinweis darauf findet sich auch bei Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 153. Genauer zum rechtlichen Status von Frauen in der Toskana bei Forster, Gesellschaftliche Neuordnung, wie Anm. 35, 15–39.

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die Verinnerlichung der Geschlechtscharaktere noch nicht festgelegt war und die später zugeschriebenen Eigenschaften, wie etwa Bescheidenheit, Zurückhaltung, Scheu oder feine Empfindsamkeit noch nicht als im Charakter von Frauen liegend, sondern aus der sozialen Bedingtheit, aus den fehlenden Möglichkeiten zu einer weiterführenden Bildung resultierend gesehen wurden.83 Pietro Leopoldo und Gianni waren sich jedoch einig gewesen, dass Frauen trotz der Wählbarkeit für ein kommunales Gremium nicht Abgeordnete für die Provinzialversammlung sein könnten. Im Austausch der Vorschläge und der jeweiligen Kommentierung hatte Gianni angeführt, dass Frauen aufgrund der hohen Bedeutung der zu besprechenden und beschließenden Angelegenheiten von dieser Repräsentativkörperschaft auszuschließen seien. Dem stimmte Pietro Leopoldo ohne jede weitere Bemerkung zu.84 Riedel ließ entsprechende Überlegungen nicht erkennen, sondern er sprach, wie oben ausgeführt, konsequent von Männern in den jeweiligen Funktionen. Es ist auch nicht anzunehmen, dass Maggi – insbesondere, wenn er nicht die Steuerleistung als Kriterium heranzog – Frauen in seinem Entwurf mitdachte. Potenzial zur Angleichung der sozialen Gruppen – Ausweitung der Mitsprache Mit der Steuerleistung als Voraussetzung der Partizipation fand sich im Entwurf von 1787 die engste Beschränkung. Zugleich formulierte Pietro Leopoldo allerdings sehr ausführlich, wie über diese begrenzte Anzahl von Männern hinaus die breitere Bevölkerung einbezogen werden sollte. Wie oben schon kurz angedeutet, findet sich im Entwurf der Hinweis, dass auch die Anliegen der übrigen Bevölkerung aufgenommen werden sollten. Alle Gemeindeangehörigen jeden Ranges oder Herkommens sollten Vorschläge, Beschwerden oder Entwürfe als „Petizione Popolare“ einbringen können. Daher konnten sie bei den Abstimmungen sowohl auf Kommunal- als auch Provinzialebene dabei sein. Zwar kam ihnen kein Stimmrecht zu, aber sie sollten zu jedem diskutierten Gegenstand Ratschläge und eigene Gedanken einbringen können.85 Dafür war es allerdings notwendig, dass die Sitzungen an Orten stattfanden, die genügend Platz für alle boten, und dass Tag, Stunde und Ort der Sitzungen auch früh genug – mindestens einen Monat im Voraus – bekanntgegeben wurden.86 Damit war nicht nur die Mitsprache ausgeweitet, sondern auch eine sehr breite 83 Insbesondere Pietro Verri, Sebastiano Franci und Carlo Denina publizierten zu diesen Überlegungen, eng verbunden mit Empfehlungen für die Bildung von Frauen. Rother, Felicità, wie Anm. 79, 101–107. 84 Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 175. 85 Pietro Leopoldo, Ordinazioni consecutive, wie Anm. 4, Nr. 100 21 , S. 55. 86 Ebd., Nr. 75, 77, 81–82, 84, 86, S. 48–51.

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Öffentlichkeit und Transparenz der diskutierten Anliegen vorgesehen. 1787 wurde – im Gegensatz zu 1782 – zudem auch mitreflektiert, dass nicht alle lesen konnten, was vielleicht verschiedene sozialen Gruppen und nicht nur Eliten auf den Versammlungen mitdachte. Zur Behebung dieses Mangels musste jedes Anliegen der Gemeinde auf der Provinzialversammlung öffentlich vom jeweiligen Abgeordneten verlesen werden und falls dieser nicht selbst lesen könne, sollte es von anderen gelesen werden, damit alle Versammelten die Inhalte voll und ganz verstehen könnten.87 Weder Riedel noch Maggi dachten solche Erweiterungen der Versammlungen mit. Allerdings sah Maggi eine viel intensivere Rücksprache der Abgeordneten in der „Camera di Legislazione“ mit der Bevölkerung, die sie entsandt hatte, vor und band auf diese Weise eine sehr breite Bevölkerungsgruppe ein. Sobald in der „Camera di Legislazione“ alle Inhalte diskutiert waren und darüber abgestimmt worden war, mussten die Ergebnisse gedruckt und jedem Abgeordneten zwei Exemplare ausgehändigt werden. Es sollte der gesamten Nazione möglich sein, die beschlossenen Inhalte zu sehen, zu prüfen und die eigenen Anmerkungen den Abgeordneten kundzutun – sei es ebenfalls im Druck oder in Manuskriptform. Dafür mussten sechs Monate Zeit gegeben werden. Nach Ablauf dieser Frist war eine weitere Zeitspanne von sechs Monaten vorgesehen, innerhalb derer die Abgeordneten die Rückmeldungen zu diskutieren und entsprechend einzufügen hatten. Zwei korrigierte Exemplare mussten daraufhin wiederum gedruckt der jeweiligen administrativen Einheit übergeben werden, die dort von allen Gewählten unterschrieben und eine Version anschließend wieder zurück an die „Camera di Legislazione“ übergeben werden sollte. Zudem blieb der Gruppe der Gewählten in den unterschiedlichen Klassen auch die Möglichkeit offen, neuerlich gegen verschiedene beschlossene Artikel Einspruch zu erheben und der „Camera di Legislazione“ Veränderungen vorzuschlagen.88 Pietro Leopoldo wie auch Riedel dachten, wahrscheinlich in Anlehnung an den toskanischen Entwurf, zudem an mögliche Schwierigkeiten, wenn in den Versammlungen Abgeordnete unterschiedlicher sozialer Herkunft nebeneinander zu sitzen kamen. Diese Ungleichheit sollte durch eine gemeinsame Kleidung aufgehoben werden. Pietro Leopoldo sah dazu vor, dass sich die Abgeordneten auf der Provinzialversammlung schon zum Gottesdienst vor Beginn der Sitzungen „in abito di Lucco nero, e non altrimenti“ begeben sollten. Auch auf der Ebene der Generalversammlung sollten sie einen schwarzen Talar tragen, nur für den Statthalter als Vorsitzenden war ein roter vorgesehen. Die Sitzordnung erfolgte, wie oben erwähnt, entlang der Reihung der Provinzen, jedoch mit 87 Ebd., Nr. 100, S. 55. 88 Maggi, Prospetto. Della Legislazione, wie Anm. 25, 57f.

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dem erklärenden Zusatz, dass dies zur Vermeidung jeglicher Rangstreitigkeiten geschehe und ohne dass daraus „tale distinzione […] per occasione ò titolo qualunque indursene proprietà, dignità, rango ò qualità onorifica di sorte alcuna nè personale“ entstehen sollten, denn alle seien dem Staat in gleicher Weise wichtig „senza veruna differenza ò distinzione“.89 Riedel beschrieb das „feyerliche Kleid“ der Abgeordneten mit einem weißen, seidenen Band, „zwey Wiener Ellen lang, und eine achtel Elle breit. Beyde Ende desselben werden zusammengenähet, dass es wie ein glatter Reif ist ohne alle weitere Zierde. Es soll über eines jedweden beliebige Kleidung auf der linken Achsel liegend und an die rechte Seite hängend getragen werden, so daß die Worte: Volk, Gesetz, König, über die Brust zu liegen kömmen.“ Diese zentralen Begriffe sollten mit schwarzer Seide in der Höhe eines Zolls aufgestickt werden und zwar so, dass sie von den Betrachtenden zu lesen waren. Das Wort „Volk“ hatte dabei „zu oberst gegen den linken Achsel zu liegen“ zu kommen. Im Versammlungssaal gab Riedel gar keine Sitzordnung vor, sondern betonte, dass die Abgeordneten dort „gar keinen Rang“ hätten, sondern „einander vollkommen gleich“ seien. Sollte es jedoch notwendig werden, „sie in eine Ordnung zu reyhen, so wird diese durch das Loos bestimmt.“90 Eine weitere Angleichungsmöglichkeit der sozialen Gruppen war 1787 negativ als Strafandrohung formuliert. Falls jemand die Ämter der Vorsitzenden auf den Versammlungen ohne berechtigten Grund nicht annehmen sollte, konnte er Ehrentitel des Adels oder das Bürgerrecht und damit auch die Ehren und das Recht zur Übernahme eines Gemeindeamtes wie ebenso einen Doktortitel oder das Recht auf das Amt eines Notars verlieren. Dies bestätigte die Verschiedenheit der sozialen Gruppen und wollte sie nicht angleichen, aber ordnete sie zumindest dem gemeinsamen – und damit wieder gleichen – Zweck unter, nämlich dass jeder gute Bürger verpflichtet sei, sich für den Dienst an dem Staat, dem er angehöre, einzusetzen.91 Dass eine vorhandene soziale Ungleichheit – abgesehen von der Einteilung in die vier verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen – von Maggi nicht thematisiert und daher auch nicht versucht wurde, sie anzugleichen, liegt wohl daran, dass sein Entwurf bereits von einer Gleichheit ausging, die allen Mitgliedern der Gesellschaft zukomme und er hinter diese Behauptung nicht zurückgehen wollte. Verhandelte Inhalte und die Verteilung der Gewalten Die Benennung der Abgeordneten für die verschiedenen Versammlungen in den unterschiedlichen Entwürfen gibt ersten Aufschluss darüber, welche kon89 Pietro Leopoldo, Ordinazioni consecutive, wie Anm. 4, Nr. 90f., 115, S. 51f., 58. 90 Riedel, Entwurf. P. Verrichtungen der Representanten, wie Anm. 12, Nr. 11, 15, S. 481f. 91 Pietro Leopoldo, Ordinazioni consecutive, wie Anm. 4, Nr. 97, 97 21 , S. 53f.

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kreten Funktionen und welche Gewalten im Staat diesen zukommen sollten. Pietro Leopoldo, der als einziger mit der Wahl zur Provinzialversammlung und von dort zur Generalversammlung auf ein zweistufiges Verfahren setzte, griff auf die Bezeichnung des „oratore“ zurück für jene, die sich auf Provinzialebene treffen sollten. Der Begriff war schon zuvor für diplomatische Vertreter genutzt worden, ließ sich aber auch allgemeiner für einen Gesandten oder Vorsprecher verwenden.92 Auf der Ebene der Provinz sollten anschließend Repräsentanten für die Generalversammlung gewählt werden.93 Im Vorfeld von Pietro Leopoldos Entwurf hatte sich Gianni für eine rein beratende Funktion der Repräsentativkörperschaft ausgesprochen.94 Der tatsächliche Entwurf ging jedoch deutlich weiter. Ausformulierter Grundgedanke war zunächst, dass die Stimme der Öffentlichkeit und der Wille des Souveräns gemeinsam die nützlichsten Beschlüsse fassen würden, um eine weise und gerechte Regierung zu bilden, ohne dass das eine ohne das andere gültig sein könne.95 Pietro Leopoldo war also bereit, sich in einer Reihe von Aspekten an den „consenso dello Stato“ zu binden, allerdings stellten das alles Bereiche dar, die er zuvor reformiert bzw. eingeführt hatte. Daher wirkt die Auflistung wie eine Absicherung seines Reformwerks, das er auch für die Zukunft garantieren wollte. Dazu sah er vor, dass jeder neue Großherzog den Eid auf die Verfassung ablegen musste. Konkret handelte sich dabei um folgende Bereiche: Ohne Zustimmung der Generalversammlung sollte ein Souverän keine Veränderungen oder finanzielle Belastungen des Herrschaftsgebiets vornehmen, die Neutralität aufgeben, den Krieg erklären, Festungen bauen, ausländische Truppen aufnehmen oder die den einzelnen Teilen der Toskana verliehenen Privilegien zurücknehmen. Auch in Zivilsachen sei der Souverän an den Wortlaut des Gesetzes gebunden, in die Strafgerichtsbarkeit dürfe er nicht eingreifen. Ganz offensichtlich war Pietro Leopoldo auch wichtig, dass die von ihm reformierte Kommunalordnung nicht verändert werden durfte. Ein sehr großes Thema machte die intendierte Offenlegung der Finanzen aus, womit er dem französischen Beispiel des „Compte rendu au Roi“ von Jacques Necker von 1781 folgte. Solche vermeintliche Transparenz diente vor allem der gezielten Information und Lenkung der öffentlichen Meinung.96 Schließlich fand auch jener Punkt Erwähnung, der Pietro Leopoldo unter den europäischen Physiokraten Anerkennung gebracht hatte: Ohne die Zustimmung der Bevölkerung dürfe auch der Freihandel des Getreides nicht 92 Daniel Legutke, Diplomatie als soziale Institution. Brandenburgische, sächsische und kaiserliche Gesandte in Den Haag 1648–1720. Münster 2010, 86f.; Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 181. 93 Pietro Leopoldo, Costituzione, wie Anm. 4, Nr. 51 12 , S. 34 94 Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 173. 95 Pietro Leopoldo, Proemio, wie Anm. 4, Nr. 13, S. 24. 96 Lebeau, Raum, wie Anm. 3, 138.

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wieder aufgegeben werden.97 Über diese Mitsprache, die jedoch eigentlich als Garantie seiner Reformen gemeint war, hinaus sah Pietro Leopoldo die Aufgabe der Repräsentativversammlung als „leggitimi Consiglieri del Sovranno“, die alles an ihn herantrug, was sie als Ziel einer guten Regierung für angebracht und passend hielt. Das konnten Berichte über Fehlentwicklungen, vorgeschlagene Gesetze oder Belohnungen sowie Unterstützungen für einzelne Personen sein, die sich im öffentlichen Dienst verdient gemacht hatten.98 Das waren also jene Bereiche, die von der Bevölkerung diskutiert und über die Deputierten in die Provinzial- bzw. Generalversammlung getragen werden sollten. Die Bezeichnung „Volksrat“, den Riedel für seine Versammlung wählte, täuscht auf den ersten Blick etwas über die Funktion hinweg, die er diesem Gremium tatsächlich geben wollte. Sobald eine genügend große Anzahl von Volksräten am vorgesehenen Ort eingetroffen sei, sollte der König benachrichtigt werden, der – ähnlich wie auch im toskanischen Entwurf von 1787 – die Versammlung durch eine „feyerliche Handlung“ anerkennen wollte. Danach, so dem König in die Feder gelegt, wolle er „Unseren Ruhm darinnen suchen“, von „unserem Throne gleichsam herabzusteigen und ihn nicht anderst mehr zu besetzen als mit denjenigen Rechten, Eigenschaften und Vermögen angetan, so die Nazion für gut finden wird, der königlichen Würde einzuräumen“. Das wäre ein sehr großer Schritt in die Offenheit und zugleich Unsicherheit gewesen. Aus diesem Grund beschworen die nachfolgenden Punkte die Volksräte, dass sie nichts übereilten und sich nicht von Parteilichkeit leiten ließen.99 Vor allem aber wurde in Riedels gesamter Konstruktion des Volksrates mitgedacht, dass immer auch eine Vertretung des Königs dabei sein sollte, der sogenannte „Volksfreund“ – bestehend aus insgesamt drei Personen, denen zwar kein Stimmrecht zukam, die aber mitdiskutieren und Informationen in beide Richtungen vermitteln konnten.100 Maggi ging in der Rolle, die er seinen Repräsentativversammlungen zumaß, noch einen deutlichen Schritt weiter. Als erste und wichtigste Aufgabe der „Camera di Legislazione“ sah er vor, wie der Name bereits besagte, die Grundgesetze des Staates überhaupt erst einmal zu schaffen, also nicht wie bei Pietro Leopoldo an den schon bestehenden festzuhalten. Er führte an, welche Materien das betraf, nämlich das Alter der Volljährigkeit, die öffentliche Erziehung, den verschiedenen Status von Personen und wie dieser erworben werden solle, das Erbrecht und die Möglichkeit zu testieren, Fideikommisse, die innere und äußere Handelsfreiheit, die Frage, ob der Landwirtschaft oder dem 97 Pietro Leopoldo, Costituzione, wie Anm. 4, Nr. 17–40, S. 25–32. 98 Ebd., Nr. 55 21 –63, S. 35–37. 99 Riedel, Versuch, wie Anm. 12, Nr. 31–33, S. 462f. 100 Riedel, Entwurf. Q. Vom Representanten des Königs, wie Anm. 12, 482–484.

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Handwerk mehr Gewicht zukommen sollte, die Festlegung der Höchststrafe und „altri simili oggetti di controversa determinazione, che di mano in mano s’incontrassero nel piano di legislazione.“ Zugleich gab er den „legislatori“ auch Richtlinien an die Hand, wie Gesetze ausformuliert sein sollten – so knapp wie möglich. Voranzustellen seien grundlegende, systematische Bestimmungen, aus denen die aktiven und passiven Gesetze der Menschen in der Gesellschaft erwachsen könnten. Daran sollten sich speziellere Bestimmungen wie ebenso Anhänge der genannten Regelungen anschließen, die nach Möglichkeit als Verbote formuliert waren. Damit müsse dann alles, was nicht untersagt sei, erlaubt sein, ohne dass dies extra zu erwähnen sei. Als leitender Grundsatz jeglicher gesetzlichen Bestimmung gelte jedoch immer, das gleiche Recht aller Menschen im Auge zu behalten.101 Nachdem diese Gesetze, wie oben geschildert, zurück an die Bevölkerung gebunden und die Veränderungen neu diskutiert worden waren, konnten sie endgültig fixiert werden. Über diese legislative Gewalt, die völlig ohne Mitbestimmung des Großherzogs auskam, hinaus sah Maggi jedoch noch zwei weitere Gewalten vor. Denn, so die Argumentation, damit die Verfassung und die beschlossenen Gesetze auch eingehalten wurden, brauche die Gesellschaft weitere Einrichtungen – eine „rappresentanza sociale amministrativa“ und eine „rappresentanza sociale conservativa“. Die „administrative Repräsentation“ war als exekutive Gewalt für die Ausführung der Gesetze nach den vorgesehenen Grundsätzen zuständig. Hier kam Maggi auf den oben erwähnten „sol punto“ zu sprechen, an dem sich diese Repräsentanz letztlich konzentriere. Diese sollte nicht unterbrochen und daher als erbliches und nicht gewähltes Amt definiert werden. Als „primo rappresentante della nazione“ drücke diese Person die Würde und den Glanz der gesamten Nation aus. Daher gebühre ihr in gleicher Weise wie der Nation Ehre, Achtung und Respekt. Zur konkreten Ausübung dieses Amtes brauche es eine Reihe untergeordneter „amministratori“ – und zwar für jeden Zweig der Verwaltung. Die Verantwortung dieser Personen müsse jedoch eine zweifache sein – sowohl gegenüber dem „amministratore rappresentante“ als auch gegenüber der Gesellschaft.102 Damit wurde die Ministerverantwortlichkeit auch gegenüber der Gesellschaft definiert. In den alleinigen Aufgaben und Zuständigkeiten, die Maggi dem „amministratore rappresentante“ zuschrieb, unterschied er sich nur wenig vom Entwurf Pietro Leopoldos. Bei Maggi kam diesem bei der Auswahl der „amministratori subalterna di qualunque sorta“ volle Autorität zu – und zwar für die Bereiche der Kirchen-, Militär-, Zivil- und Wirtschaftsverwaltung. In diesen Bereichen leitete er – entlang der beschlossenen Gesetze – die Verwaltung und er führte 101 Maggi, Prospetto. Della Legislazione, wie Anm. 25, 57. 102 Maggi, Prospetto. Della rappresentanza sociale amministratrice, wie Anm. 25, 58.

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die Truppen an, wenn es um die Verteidigung des Landes und der Gesellschaft gegen Angriffe von außen oder von innen ging. Ihm komme freie Hand bei der Herstellung des Friedens und seiner Bedingungen zu. Ebenso könne er die nötigen Gelder für diese gesamte Verwaltung einschließlich seines eigenen Unterhalts und jenen seiner Familie einfordern.103 Pietro Leopoldo hatte als Vorrechte des Großherzogs in ähnlicher Weise den Oberbefehl über das Heer, die Auswahl aller Amtsträger im Militär, der Richter, die Auswahl aller Minister, Behördenleiter, Besetzung aller Erzbistümer und Bistümer des Staates – mit den jeweiligen Mitarbeitern und Bediensteten in den Behörden bzw. Gerichten – vorgesehen.104 Von einer Ministerverantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft war jedoch keine Rede. Über Maggi hinaus finden sich bei Pietro Leopoldo noch die Rechte hinsichtlich der Angelegenheiten der Universität, die Verleihung der Adelsdiplome und der Bürgerrechte, wenn sie ehrenhalber gewährt werden sollten, sowie die Ausübung aller Rechte hinsichtlich seiner Funktion als Großmeister des Ordens von S. Stefano.105 Diese Erhaltung und Weiterbetreibung ungleicher Rechte hinsichtlich des Adels sollte offensichtlich in Maggis Vorstellung von einer gleichen Gesellschaft keine Rolle spielen. In Richtung Gewaltenteilung legte Pietro Leopoldo Wert darauf, dass es keine Überschneidung von Ämtern geben dürfe. Wer in irgendeiner Form Bezüge aus dem Staatsdienst bekam oder im Dienst eines Gerichtes stand, war vom Amt eines „oratore“ ausgeschlossen.106 Was die Kontrolle betraf, hatte er für seine „Assemblea Generale“ nur einen Aspekt ausdrücklich definiert, nämlich die Prüfung der „Conti dell’Erario Pubblico“,107 was der neuen Tendenz zur Offenlegung der Finanzen entsprach. Maggi hingegen sah dafür eigene Körperschaften vor. Um sicher zu gehen, dass sich die „amministratori“ nicht von der Verfassung und den beschlossenen Gesetzen entfernten, brachte er die „Camera di Conservatori“ ins Spiel. Die „conservatori“ rekrutierten sich nach Ablauf der Gesetzgebungsperiode aus der „Camera di Legislazione“. Damit sah er die Kontrolle nicht als eigene Gewalt, wohl aber als wesentlichen Aspekt im Aufgabenbereich der Bevölkerung vor. Betont wurde, dass die kontrollierenden „conservatori“ keinesfalls aus den Reihen der „amministratori“ kommen durften, sondern davon völlig unabhängige Autorität und Gewalt haben müssten. Die Gesamtgruppe wurde in „conservatori reclamanti“ und „conservatori deliberanti“ unterteilt. Sowohl das „ufficio di reclamante“ als auch jenes der 103 104 105 106 107

Ebd., 58f. Pietro Leopoldo, Costituzione, wie Anm. 4, Nr. 41–48, S. 32f. Ebd., Nr. 48–50, S. 33. Pietro Leopoldo, Ordinazioni consecutive, wie Anm. 4, Nr. 68 41 , 70, 83, 96, S. 46–53. Pietro Leopoldo, Costituzione, wie Anm. 4, Nr. 58, S. 36; Graf, Verfassungsentwurf, wie Anm. 4, 172.

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„deliberanti“ war für die Dauer von fünf Jahren angelegt. Damit jedoch nicht alle gleichzeitig wechselten und damit wichtiges Wissen verloren ging, sollte alle fünf Jahre ein Drittel ausgewechselt werden. Gewählt wurden die neuen „conservatori“ wie schon zuvor die „legislatori“ durch die verschiedenen Klassen in den administrativen Einheiten. Diese konnten auch jederzeit „conservatori“, die sie gewählt hatten, abberufen und jemand anderen an dessen Stelle setzen.108 Jeder der „reclamanti“ hatte eine Verwaltungsabteilung zu kontrollieren. Bei Beanstandungen wurde ein entsprechendes Gesuch in die Gruppe der beschlussfassenden „conservatori“ getragen, die sich regelmäßig trafen, darüber berieten und bei einer Mindestanwesenheit von zwei Drittel mittels Geheimvoten darüber abstimmten. Aufgrund der Änderungsbeschlüsse der „conservatori“ konnte es auch zu Gesetzesänderungen kommen, die jedoch wiederum zuvor der Bevölkerung zur Einsichtnahme und Möglichkeit von Anmerkungen vorgelegt werden mussten. Zudem kam den „conservatori“ die Möglichkeit zu, jeden Vorgang und jede Verfügung der „amministratori“ sowie auch des „primo rappresentante“ für sechs Monate zu suspendieren. Nach einer dreifachen aufeinanderfolgenden Suspension müsse diese Verfügung außer Kraft gesetzt werden und könne auch nicht nochmals ohne ausdrückliche Erlaubnis der „conservatori“ vorgeschlagen werden. Soweit, dass die „conservatori“ auch den „rappresentante primario“ kontrollieren konnten, ging die Vorstellung Maggis jedoch nicht. Das war nur bei den untergeordneten „amministratori“ möglich.109 Damit war zwar keine Judikative als dritte Gewalt angesprochen, aber über die Möglichkeit, die Richter zu kontrollieren, indirekt vorgesehen. Schlussbemerkungen Der Verfassungsentwurf von Ubaldo Maggi aus dem Jahr 1793/94 fand bisher wenig Beachtung. Auch wenn sich die italienischsprachige Forschung darin von der deutschsprachigen etwas unterscheidet, so wurde dem Text auch in italienischen Publikationen abgesehen vom Abdruck in Verfassungseditionen kein großes Interesse entgegengebracht. Gegenüber dem Entwurf von Pietro Leopoldo schien er zu wenig nachweisbar mit dem großen Reformwerk eines Fürsten verbunden, gegenüber den im Kontext der späteren italienischen Republiken realisierten Verfassungen trat er aufgrund des Entwurf gebliebenen Charakters in den Hintergrund. Vergleicht man ihn jedoch mit Denkentwürfen der Zeit, so treten spannende Züge zutage. Hier wurde als Kontrastfolie nicht nur der toskanische 108 Maggi, Prospetto. Della rappresentanza sociale conservatrice, wie Anm. 25, 59. 109 Ebd., 60.

Ein unbekannter Verfassungsentwurf

Verfassungsentwurf von 1787 gewählt, sondern auch die entsprechenden Überlegungen von Andreas Riedel für die Habsburgermonarchie von 1791, der aufgrund seiner Lehrtätigkeit am toskanischen Hof eng mit den dortigen Verhältnissen sowie aufgrund seines Interesses an der Französischen Revolution auch mit deren Überlegungen für eine Verfassung vertraut war. Alle drei Autoren waren in der Theorie von einer Gleichheit der Gesellschaft überzeugt, die bei genauerem Hinsehen jedoch in unterschiedliche Partizipation umgesetzt wurde. Riedel schöpfte für seinen Text sowohl aus dem toskanischen Verfassungsentwurf als auch aus den französischen Diskussionen in Frankreich, soweit sie ihm im Frühjahr und Sommer 1791 zugänglich waren. Sowohl bei Pietro Leopoldo als auch bei Maggi standen im Hintergrund die physiokratischen Überlegungen vom Nutzen, der für den Staat erbracht wurde – was sich beim einen im Kriterium der Steuerleistung, beim anderen aber physiokratischen Überlegungen folgend in einer Einteilung in verschiedene „natürliche“ Klassen der Gesellschaft niederschlug. Gegenüber dem in der Forschung als modern wahrgenommenen Verfassungsexperiment Pietro Leopoldos nimmt sich Maggis Entwurf viel radikaler aus – hinsichtlich der konsequent der Bevölkerung zugeteilten Gewalten der Gesetzgebung und der Kontrolle. Im Gegensatz zur 1787 gedachten Funktion der Verfassung als Absicherung des Reformwerks Pietro Leopoldos sollten die gewählten Abgeordneten bei Maggi die gesamte Gesetzgebung grundsätzlich neu aufstellen, sie sehr breit über den Konsens der Bevölkerung absichern und dann über deren Einhaltung wachen – mit allen Möglichkeiten zur Veränderung und Anpassung. Andreas Riedel hatte für seinen Volksrat zunächst eine noch weitgehendere Funktion vorgesehen – nämlich die grundsätzliche Festlegung des Systems, nach dem regiert und verwaltet werden sollte inklusive der möglichen Machtbegrenzung des Königs, doch versuchte er, diese umfassende Möglichkeit durch die Einrichtung einer königlichen Repräsentation im Volksrat wieder einzuhegen. Unabhängig von den Realisierungschancen der drei Entwürfe ist es vor allem spannend zu sehen, was zum jeweiligen Zeitpunkt gewünscht und denkmöglich war.

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Wiener Buchauktionen – Wiener Privatbibliotheken 1743–1772 Als Heinrich Wilhelm Lawätz (1748–1825), königlich dänischer Justizrat, in den 1780er Jahren sein „Handbuch für Bücherfreunde und Bibliothekare“ zusammenstellte, bediente er damit eine sterbende Gattung, die systematische Universalbibliographie: Epochen, Disziplinen, Gegenstände und die Topographie gliederten das vielbändige Werk, das nicht zu den übersichtlichsten seiner Art zählt. Im ersten Teil des zweiten Bandes, der immerhin schon bei der Gelehrsamkeit überhaupt angekommen war, stellte er auch die gedruckten Kataloge der ihm bekannten Privatbibliotheken1 in alphabetischer Folge der Besitzernamen zusammen (S. 704–749). Schon der Buchstabe A mit 20 Einträgen zählt elf Einträge niederländischer Gelehrter. Die übrigen stammen aus Bologna (2), Leipzig (2), Hamburg, Nürnberg, Göttingen und Celle.2 Ausgangslage der Forschung Gewiss ein zufälliger Befund, aber die historiographische Marginalität des deutschsprachigen Südens muss trotzdem auffallen. Das Werk von Lawätz wertete später die momentan aktuelle Bibliographie der historischen Auktionskataloge aus, die Gerhard Loh zusammengestellt hat.3 Dessen Verzeichnung nach Orten ermöglicht es, den ersten Befund zu präzisieren. Die Bände 2 und 3 (1999 und 2003), die den Zeitraum von 1731 bis 1780 verzeichnen, belegen 1 Der schon zeitgenössisch genutzte Begriff soll hier nicht weiter problematisiert werden, ebenso wenig andere Vertriebswege wie Bücherlotterien. Zur Forschungslage István Monok, Les bibliothèques privées et la lecture à l’époque moderne. Un aperçu des orientations de la recherche en Europe 1958–2008. In: Dominique Varry (Hg.), 50 ans d’histoire du livre. Villeurbanne 2014, 140–156. Im laufenden Text einmalig genannte Titel werden in den Anmerkungen nicht wiederholt. 2 Ein Katalog bleibt unbestimmt, einer aus Bologna wurde ob seiner Seltenheit ins Lateinische übersetzt und in Hamburg herausgegeben. 3 Gerhard Loh, Verzeichnis der Kataloge von Buchauktionen und Privatbibliotheken aus dem deutschsprachigen Raum. Leipzig ab 1995 (bis 2017 acht Bände erschienen). Bernhard Wendt, Der Versteigerungs- und Antiquariatskatalog im Wandel von vier Jahrhunderten. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 9 (1967–1969), Sp. 1–87 (zuerst 1937). Zum Auktionswesen zuletzt zusammenfassend Julia Bangert, Buchhandelssystem und Wissensraum in der Frühen Neuzeit. Berlin – Boston 2019, 256–262.

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eine große Zahl an Verkäufen in aller Regel privater Bibliotheken für Leipzig, Hamburg, Dresden und Wittenberg. Nürnberg einschließlich Altdorf kommt auf wenigstens 55. In der katholischen Buchmetropole Augsburg sind nur rund 20 Verkäufe sicher, was nur knapp von Wien mit 22 übertroffen wird. Scheint es im süddeutschen Raum kaum private Bibliotheken zu verkaufen gegeben zu haben, spitzt sich diese Einschätzung für katholische Orte nochmals zu. Die Universitätsstadt Ingolstadt zählt zwei, ebenso Freising, wo es vielleicht liberaler zuging als im nahen München (1), Köln acht, Würzburg nur eine – und diese hat es nicht im angegebenen Zeitraum gegeben.4 Da es im Süden offensichtlich nicht wenige(r) Bücher gab,5 fragt man sich, welches Schicksal dort Privatbibliotheken und privaten Buchbesitz allgemein traf. Über diesen gibt es gerade für das Wien gewiss vergleichbare Prag einige interessante Aufschlüsse, aber auch für andere Orte liegen Analysen vor.6 Hier 4 Loh, Verzeichnis, wie Anm. 3, Bd. 2, 21 (statt 1733 muss es 1793 heißen). Ein Beleg anderer Vertriebswege: Die fürstbischöfliche Kanzlei Würzburg verkaufte Bücher aus dem Nachlass Johann Georg von Eckharts (gest. 1730), wozu sich ein gedruckter Katalog erhalten hat (Stadtarchiv Würzburg Mappe Eckhart). 5 Immer noch eindrucksvoll: Anton Mayer, Wiens Buchdrucker-Geschichte 1482–1882. 2 Bde. Wien 1883–1887. Überblick: Anton d. J. Durstmüller, 500 Jahre Druck in Österreich. Bd. 1. Wien [1982]. Zu den Verlagen im Detail: Peter R. Frank / Johannes Frimmel, Buchwesen in Wien 1750–1850. Kommentiertes Verzeichnis der Buchdrucker, Buchhändler und Verleger. Wiesbaden 2008: Lemmatisiert die einzelnen Firmen und kann stets weiterführend benutzt werden. Forschung: Christian Gastgeber / Elisabeth Klecker (Hg.), Geschichte der Buchkultur. Bd. 7: Barock. Graz 2015; Johannes Frimmel, History of Books. In: Thomas Wallnig / Johannes Frimmel / Werner Telesko (Hg.), 18th Century Studies in Austria 1945–2010. Bochum 2011, 227–244. Hier zu spät einsetzend: Georg Hupfer, Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien. Diplomarbeit Wien 2003. Für Antiquare gab es wenigstens seit 1771 eine Ordnung, die von Kaiser Franz am 18. März 1806 erneuert wurde. 6 Christine Paschen, Buchproduktion und Buchbesitz in der frühen Neuzeit. Amberg in der Oberpfalz. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 43 (1995), 1–201; Michael Wögerbauer / Jiří Pokorný, Barocke Buchkultur in den böhmischen Ländern. In: Gastgeber / Klecker (Hg.), Geschichte, wie Anm. 5, 383–426; Jiři Pokorný, Die Lektüre von Prager Bürgern im 18. Jahrhundert. In: Ernst Bruckmüller u. a. (Hg.), Bürgertum in der Habsburgermonarchie. Wien – Köln 1990, 149–161; Jiři Pokorný, Die Literaturproduktion in Böhmen im 18. Jahrhundert und die Stellung der tschechischen Literatur in den Bibliotheken Prager Bürger. In: Johannes Frimmel / Michael Wögerbauer (Hg.), Kommunikation und Information im 18. Jahrhundert. Das Beispiel der Habsburgermonarchie. Wiesbaden 2009, 131–139; Iris Bunte, Bildung, Bekenntnis und Prestige. Studien zum Buchbesitz einer sozial mobilen Bevölkerungsschicht im „katholischen Teutschland“ der Frühen Neuzeit. Die Bibliotheken der Werler Erbsälzer. Berlin 2013; Protestantisch: István Monok / Péter Ötvös / Attila Verók (Hg.), Lesestoffe der Siebenbürger Sachsen 1575–1750. Budapest 2004; Viliam Čičaj, Les bibliothèques privées en milieu urbain et la censure du XVIe siècle au XVIIIe siècle dans les régions de la Slovaquie actuelle. In: Marie-Elizabeth Ducreux / Martin Svatoš (Hg.), Libri prohibiti. La censure dans l’espace habsbourgeois 1650–1850. Leipzig 2005, 117–127; Petra

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soll es jedoch nicht um den breiten, über Inventare nachgewiesenen Buchbesitz gehen. Hierzu liegt eine mustergültige Untersuchung von Norbert Furrer für Zürich vor, deren präzise entwickelten Kategorien gleichwohl in die folgenden Analysen integriert wurden.7 Vielmehr sollen eben jene Sammlungen privaten Buchbesitzes betrachtet werden, die Lawätz verzeichnete und die mit ihren gedruckten Katalogen Höhepunkte ihrer Gattung darstellten; zumindest im Norden wurden diese, so will es scheinen, nicht selten verauktioniert. Ohne zu weit von der eigentlichen Bibliotheksgeschichte in die Konfessionskultur8 abzuschweifen, ist auf die zumindest in der Forschung bis in die jüngste Zeit als überragend wahrgenommene Rolle der Klosterbibliotheken im katholischen, deutschsprachigen Raum hinzuweisen, deren Bedeutung nicht zuletzt deren vielfach beachtete Architektur unterstreicht.9 Haben diese oft kontinuierlich mit Erwerbungsmitteln ausgestatteten und gepflegten Bibliotheken die bürgerlichen Bibliotheken aufgesogen wie ein Schwamm das Wasser? Manches scheint darauf hinzudeuten. Aus der Geschichtsschreibung über das Wiener Servitenkloster ist zum Beispiel bekannt, dass zur Gründungsausstattung die Bibliothek des Wiener Gelehrten Elias Schiller gehörte (gest. 1655), Prinzenerzieher am Hof Kaiser Ferdinands II. und vermuteter Verfasser des Fürstenspiegels „Princeps in compendio“, auf jeden Fall aber katholischer Kontroversist.10 In der mittlerweile in das Servitenkloster Maria Waldrast (Tirol) verbrachten Bibliothek lassen sich bis heute unschwer Bände mit dem Besitzeintrag und Erwerbungsvermerken Schillers nachweisen, der seine Bibliothek stiftete.11 Ein anderes Beispiel liefert der Jurist Johann Carl Seyringer (gest. 1729), dessen mit über 3.000 Werken angegebene, juristische Fachbibliothek an das Kapuzinerkloster in Urfahr beziehungsweise an die Stiftsbibliothek St. Florian gelangte.12 Die Fachbibliothek des Juristen Christoph Besold (gest. 1638) bildete wiederum einen Grundstock der Salzburger Universitätsbibliothek, die diese den Benediktinerinnen von Hohenwart abkaufte. Die Bücher hatte das Kloster Schad, Buchbesitz im Herzogtum Württemberg im 18. Jahrhundert am Beispiel der Amtsstadt Wildberg und des Dorfes Bissingen/Enz. Stuttgart 2002. 7 Norbert Furrer, Des Burgers Buch. Stadtberner Privatbibliotheken im 18. Jahrhundert. Zürich 2012. 8 Michael Maurer, Konfessionskulturen. Paderborn 2019. 9 Hier sei nur auf Gastgeber / Klecker, Geschichte, wie Anm. 5, verwiesen. 10 Claudia Ullrike Lavicka, Geschichte der P. P. Serviten in der Rossau in Wien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Diss. Wien 1971, 34; Renate Schreiber, Ein „neuer Seneca“. Elias Schiller, Praeceptor der Söhne von Kaiser Ferdinand II. In: Frühneuzeit-Info 24 (2013), 61–67, hier 64f. 11 Für Auskünfte und Scans danke ich Herrn Oskar Dünser (Maria Waldrast) sehr herzlich. 12 Gernot Barnreiter / Beatrix Emperer-Raab, Dr. Johann Carl Seyringer. Ein Rechtsgelehrter der Frühen Neuzeit. In: Frühneuzeit-Info 24 (2013), 5–18, hier 8.

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von der Witwe des Gelehrten und seiner Tochter geerbt, die beide 1648 in das Benediktinerinnenkloster eingetreten waren.13 Auch die Wiener Hofbibliothek wurde durch Erwerbungen von privaten Büchersammlungen en bloc entschieden entwickelt. Es muss nur an die aus der Bibliotheksgeschichte hinlänglich bekannten Erwerbungen der Bibliotheken Prinz Eugens und Georg Wilhelm von Hohendorfs (gest. 1719), Generaladjutant des Prinzen, über dessen Bibliothek sogar ein zeitgenössisch gedruckter Katalog vorliegt, erinnert werden.14 Beide sind reich an Zimelien und dementsprechend aufmerksam dokumentiert worden. Einen echten Markt für private Bibliotheken schien es also nicht gegeben zu haben. Neue Quellen Ein anderes Bild ergab sich plötzlich, als der Verfasser die Erwerbungspraxis der Hofbibliothek, der heutigen Österreichischen Nationalbibliothek, während der Präfektur des Mediziners Gerard van Swieten (1743–1772) untersuchte.15 Ergänzend zur bisherigen Zimelienlese der klassischen Bibliotheksgeschichte ermöglichten die reichlicher fließenden Quellen, die alltägliche Erwerbungspraxis zu skizzieren. Hilfreich für deren Strukturierung und eine kontinuierliche Beschreibung war insbesondere das von van Swieten persönlich geführte Kassabuch, das die Jahr für Jahr getätigten Ausgaben notiert und bilanziert.16 Verblüffend war, dass wenigstens 31 Buchauktionen für den Ankauf genutzt wurden und 28 dieser Verkäufe in Wien stattfanden. Insgesamt rund 3.100 Gulden gab die Hofbibliothek dafür in den knapp 30 Jahren aus, was exakt einem budgetmäßigen Jahresetat entsprach. Die Ankäufe und damit die Bibliotheken müssen also bedeutend gewesen sein. Einen Fingerzeig in diese Richtung hätte auch schon vor Jahrzehnten ein Blick in die ungarische Buchforschung geben können.17 13 Max Strobl, Kloster Hohenwart. In: Kollectaneen-Blatt für die Geschichte Bayerns, insbesondere des ehemaligen Herzogtums Neuburg 35 (1869), 62–134, 108. 14 Otto Mazal / Konstanze Mitteldorfer, Österreichische Nationalbibliothek Wien. Inkunabelkatalog. Bd. 1. München 2005, XVIII. 15 Der Beitrag „Alltagsgeschäft. Die Buchakquise der Hofbibliothek während der Präfektur Gerard van Swietens“ erscheint in dem von Katharina Kaska und Christoph Egger betreuten Tagungsband „Was wäre die Bibliothek ohne Bibliothekare?“ (Wien 2021). 16 ÖNB Handschrift SN 4215. Kursorisch ausgewertet von Frank T. Brechka, Gerard van Swieten and His World 1700–1772. Den Haag 1970, 120–122. 17 Gabriella Somkuti, Ráday Gedeon bécsi könyvbeszerzője (Nagy Sámuel 1730–1802). In: Magyar Könyvszemle 2 (1968), 148–170; jüngst Victor Segesvary, The History of a Private Library in 18th Century Hungary. The Library of Pál and Gedeon Ráday. Budapest 2007; zuletzt Ilona Pavercsik, Über den Buchdruck und Buchhandel in Ungarn in der Josephinischen Ära.

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Auf der Suche nach weiteren komplementären Quellen wies mich die Historikerin Mona Garloff auf das Wienerische Diarium hin, das eine Vielzahl an buchhändlerischen Nachrichten und Anzeigen enthält und mittlerweile über das Portal ANNO der ÖNB digital durchsucht werden kann.18 Suchbegriff ist nicht Auktion oder auction, sondern „Lic“ in Varianten für licitando (Verb: licitiren). Das ist der am meisten verwendete Begriff für eine öffentliche, freiwillige Versteigerung. Die unfreiwillige heißt meist Verganterung und verweist auf den Privatkonkurs des Eigentümers (bekanntlich nicht unbedingt Lesers). So ließen sich unschwer eine Vielzahl von Treffern bislang unbekannter Auktionen in Wien feststellen, obwohl das digitale Suchinstrument aufgrund der Schriftart der Vorlage und der Qualität des Zeitungsdrucks sicherlich eine hohe Dunkelziffer offen lässt.19 Dies zeigte sich, als einer der beiden nicht digitalisierten Jahrgänge (1757) mühsam an einem schwer lesbaren Film überprüft wurde. In diesem Jahr fanden allein 14 größere20 Buchverkäufe statt; insgesamt zählt die Ära van Swieten rund 70 – Loh kennt für diesen Zeitraum nur 14. Allein 1757 dokumentierten zwölf der Verkäufe gedruckte Auktionskataloge, von denen in elf Fällen vermerkt wurde, dass er gratis zu haben gewesen sei (nicht am 12. Oktober, eine von der „Regierung“ angeordnete Versteigerung). Diese werbende Maßnahme erwähnen Zeitgenossen als typisch und allgemein üblich.21 Ohne Katalog wird ein Verkauf jüdischer Bücher für den 19. Februar und am 20. August eine Bücher-Auktion angekündigt, die theologische Bücher der „k. k. adeligen Militärakademie“ umfasste, die dort offenbar als entbehrlich angesehen wurden und nicht wertvoll oder gefragt genug waren, als dass sich ein Katalog gelohnt hätte. Dem Verkaufsort auf der Laimgrube nach zu schließen, handelt es sich um die mit der Chaos’schen Ingenieurschule vereinigte Ingenieur-Akademie, die 1746 und 1755/56 umorganisiert worden war.

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In: András Forgó / Krisztina Kulcsár (Hg.), Die habsburgische Variante des aufgeklärten Absolutismus. Wien 2018, 337–364, hier 353. Österreichische Nationalbibliothek, ANNO – AustriaN Newspapers Online, online unter: http://anno.onb.ac.at/ (letzter Zugriff: 08.03.2020). Hier zeigen sich die Grenzen mancher Digitalisierungen. Deswegen wird auf eine Auflistung aller Auktionen verzichtet. Eine solche haben Frank / Frimmel, Buchwesen, wie Anm. 5, angekündigt. Bei Verlassenschaftsverkäufen ist anzunehmen, dass sich unter den Mobilien auch Bücher befunden haben. Gelegentlich werden sie ausdrücklich erwähnt (z. B. Wienerisches Diarium, 30. April 1757; 4. Mai 1757). Joseph Richter, Bildergalerie weltlicher Missbräuche. Frankfurt/Main – Leipzig 1785, 155 Anm.

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Ihre Bücherbestände wurden 1739 explizit in einer werbenden Schulschrift erwähnt.22 Das Wiener Auktionsjahr 1757 im Wienerischen Diarium als Medium Angesichts dieser Dichte bei gleichzeitiger Unabhängigkeit der Ergebnisse von digitalen Unwägbarkeiten kann das Jahr 1757 etwas näher betrachtet werden, um eine Vorstellung von der Bewegung des Marks zu erhalten, die in Wien existierte. Noch war zudem der gerade ausgebrochene, später als Siebenjähriger Krieg bezeichnete, gewaltvolle Konflikt fern, befeuerte aber das Interesse an Büchern zum Thema Schlesien. Zum Jahreswechsel (1. Jänner 1757)23 lief immer noch die am 25. Oktober 1756 angekündigte Versteigerung der Schmerling’schen Bibliothek.24 Der Besitzer war Kammerrat bei der niederösterreichischen Regierung gewesen, hatte sich aber offenbar beim Erwerb der geschätzt 8.000 Bücher und vielen tausend Kupferstiche verhoben, da der Verkauf als Verganterung bezeichnet wird. Zuletzt gingen die Büchermöbel weg (5. Jänner, 23. Februar und öfter). Für Februar folgte die Petenegg’sche, ehemals Pentenrieder’sche Bibliothek (22. und 29. Jänner, 9. und 12. Februar). Als Vorbesitzer wäre an Christoph Pentenrieder von Adelshausen, Reichshofrat und Diplomat Kaiser Karls VI., gestorben 1728, zu denken. Ziemlich sicher handelt es sich ebenfalls um eine „Beamtenbibliothek“, was auch für die Fuchs von Freyenberg’sche gelten mag, da sie besonders juristische und historische Bücher enthielt (5. März). Eine Nummer größer wird die am 19. Februar angezeigte Verauktionierung der gräflich Stella’schen Mobilien gewesen sein, die das Landmarschall’sche Gericht anordnete. Zum Verkauf gelangten auch Gemälde 22 Actus publicus oder Öffentliche Übungen aus denen militärischen Wissenschaften welche [...] von denen an dem Freyherrl. Chaosischen Stift sich befindenden Ingenieurs-Scholaren […]. Wien 1739, f. A2v , B, Bv . 23 Tagesdaten beziehen sich auf die entsprechende Nummer des Wienerischen Diariums. 24 Das Merckwürdige Wien, Januar 1727, 44–46, erwähnt k. k. Hofkammerrat Johann Albert von Schmerling als Besitzer einer großen Bibliothek. Zur Besitzerrecherche: Wie schon meine Vorgänger (Anm. 17) habe ich mich bemüht, die Namen sozial zu konkretisieren. Folgende Werke (Register) und Datenbanken wurden regelmäßig genutzt: World Biographical Information System Online (WBIS); Friedrich von Haan, Genealogische Auszüge aus den beim bestehenden niederösterreichischen Landmarschall’schen Gerichte publicierten Testamenten. In: Jahrbuch Adler N. F. 10 (1900), als Sonderdruck 1–241, hier 197, 199; Irene KubiskaScharl / Michael Pölzl, Die Karrieren des Wiener Hofpersonals 1711–1765. Innsbruck – Wien – Bozen 2013; Stefan Seitschek, Die Tagebücher Kaiser Karls VI., Horn – Wien 2018; Curiositäten- und Memorabilien-Lexicon von Wien. 2 Bde. Wien 1846; Wien Geschichte Wiki, online unter: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Wien_Geschichte_Wiki (letzter Zugriff: 08.03.2020).

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und Silber. Vielleicht war Rocco Graf di Stella ihr Eigentümer gewesen, der allerdings schon 1720 gestorben war. Er zählte zum engsten Kreis um Karl VI.25 Namentlich genannt ist ferner Baron Locher,26 dessen kostbare Bücher am 26. Oktober als zur Versteigerung anstehend im Diarium annonciert wurden. Häufiger sind Auktionen, bei denen kein ehemaliger Eigentümer genannt wird. Am 16. März wurde angekündigt, dass am 28. März „auctionando“ medizinische, chirurgische, theologische und historische Bücher verkauft würden, am 18. Juli gute und nützliche (Aviso ab dem 9. Juli), am 11. August solche verschiedener Sprachen.27 Die Ankündigung erfolgte einmal erst am Tag davor, was ungeplant wirkt: Wie soll man in solcher Kürze den Katalog durchsehen? Hier rechnete man offenbar nicht mit professionellen Käufern. In diesem Fall gab es den Katalog beim Hausmeister (des Küffenpfennig’schen Hauses). Dies ist zugleich der einzige nachgewiesene Verkauf, bei dem ein Buchhändler zumindest nicht sichtbar ist. Alle anderen Auktionen 1757 verantwortete die Buchhandlung zum Goldenen Vließ auf der hohen Brücke, gegründet von dem Kölner Johann Carl Neven (von Nevenstein, gest. 1767). Auffällig ist, dass bei nahezu allen Bibliotheken, die Sachgebiete nennen, der Bereich „Geschichte“ als vertreten genannt wird. Mindestens zwei Bibliotheken enthielten bemerkenswerte Anteile medizinischer Bücher (28. März, 23. November). Versteigert wurde ferner der Nachlass des kaiserlichen Mathematikers (Johann Jakob) Marinoni (18. Mai), von dem wir aber nicht wissen, ob er Bücher enthielt.28 In dessen Haus war 1717 die Ingenieur-Akademie gegründet worden. Die Auktionslokale wechselten, was nahelegt, dass tatsächlich in der Regel Privatbibliotheken vor Ort bibliographisch für die Kataloge erfasst und dann versteigert wurden. Man darf aber nicht daraus schließen, dass der Hausname, der stets angegeben und oft von genauen Angaben von Stockwerk, Hoflage und Ähnlichem begleitet wird, auf den Eigentümer verwiese (zum Beispiel Kappler’sches Haus bei Unser Lieben Frauen Stiegen oder Churfeld’sches Haus auf dem alten Fleischmarkt im ersten Stock (26. Oktober). Nur einmal wird mit dem Lokal wohl der Büchereigentümer genannt: Die jüdischen Bücher gab es (ohne Katalog, 16. Februar) in der Abraham Jud-Sinzheim’schen Wohnung (Breunerstraße).29 Daher kann man fast sicher annehmen, dass es sich 25 von Haan, Auszüge, wie Anm. 24, 153f., 156; Seitschek, Tagebücher, wie Anm. 24, 240–242. 26 von Haan, Auszüge, wie Anm. 24, 124: wohl Adam von Locher und Lindenheim, gest. 1757. 27 Weitere anonyme: 24. September. und öfter, 12. Oktober, 5. November, 23. November, 3. Dezember (hier meistens französische Bücher). 28 Bei Kubiska-Scharl / Pölzl, Karrieren, wie Anm. 24, bis 1740 als Edelknabenprofessor genannt. 29 Abraham Sinzheim war schon 1754 verstorben: Israel Taglicht, Nachlässe der Wiener Juden im 17. und 18. Jahrhundert. Wien – Leipzig 1917, 87–94, hier 90f. Dank für den Hinweis an Georg Gaugusch.

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in allen Fällen wirklich um geschlossene Privatbibliotheken handelte. Denn der Auktionator, immer zugleich Buchhändler in den mir bekannten Wiener Fällen, wird kaum seinen Lagerbestand durch die halbe Stadt transportiert haben, um noch einige Ladenhüter loszuschlagen. Die moderne Auktion mit mehreren Einlieferern dürfte einer späteren Epoche des Auktionsbuchhandels angehören.30 Mehrfach (22. Jänner, 16. März) und auch in anderen Jahren kommt der (große) Passauer Hof als Lokal vor. Gelegentlich mit dem Attribut „hochfürstlich“ belegt, könnte dies darauf hindeuten, dass dort eine gewisse Immunität für die Geschäfte gesucht wurde, sollte der Hof dem Passauer Fürstbischof unterstehen. Dies verweist auf das prekäre Verhältnis der Buchauktion zur Zensur als staatlicher Instanz: Die Erlaubnis zum Besitz eigentlich verbotener Bücher richtete sich nach dem Eigentümer und erlosch auf jeden Fall mit dessen Tode. Nun hätte eigentlich die Zensur tätig werden müssen.31 So besaß der königlich preußische Resident Johann Friedrich Edler von Gräve (15. April 1752) sicherlich Bücher, die einem gutkatholischen Untertanen eigentlich nicht zumutbar gewesen waren: Da in Wien allein schon beim Reichshofrat und den zahlreichen Diplomaten akatholische Bibliotheksbesitzer vorauszusetzen sind, waren die Behörden sicher in einem Ausmaß gefordert, das zu bewältigen unmöglich war. Bisher war meist von Privatbibliotheken die Rede. Wer Buchauktionen behandelt, kommt nicht umhin, die Verkäufe von Institutionen zu erwähnen, die Doubletten oder Unbrauchbares, meist nach Bibliotheksübernahmen, so ist anzunehmen, versteigern ließen. 1757 war es die schon genannte Militärakademie (20. August). 1777 ließ die im Aufbau befindliche (neue) Wiener Universitätsbibliothek Doubletten versteigern.32 Diese beiden Fälle belegen, dass der Bestand der zahlreichen öffentlichen oder institutionellen Bibliotheken gelegentlich im Umbau war – was heute wiederum erschwert, anhand des Erhaltenen auf die Quantität ehemalig integrierter privater oder institutioneller Bibliotheken zu schließen, und die Bedeutung erhaltener Auktionskataloge steigert.33 30 Vgl. anders Roland Folter, Deutsche Dichter- und Germanistenbibliotheken. Stuttgart 1975, 6, 8f. 31 Dazu mein in Anm. 15 genannter Aufsatz. Zu einer möglichen Gattung jetzt Johannes Frimmel / Christine Haug / Helga Meise (Hg.), „in Wollust betäubt“. Unzüchtige Bücher im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden 2018. 32 Catalogus Librorum quorum in Bibliotheca Cæs. Regia Universitatis Vindobonensis plura exempla extiterunt, online unter: https://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/content/titleinfo/1482709 (letzter Zugriff: 08.03.2020); Torsten Sander, Die Auktion der Dubletten der kurfürstlichen Bibliothek Dresden 1775 bis 1777. Dresden 2006. 33 Walpurga Oppeker, Zur wechselvollen Geschichte der Bibliotheca Windhagiana. In: Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 69/71 (2013/15),

Wiener Buchauktionen – Wiener Privatbibliotheken

Die Annoncen selbst sind nüchtern, gehören im Diarium gewissermaßen zum Ressort Wirtschaft und Anzeigen: Neben Verlassenschaftssachen, Privatkonkursen, öffentlichen Ankündigungen und Verkaufsanzeigen finden sich vor allem Angebote der Wiener Buchhändler für neue Bücher. Einmal mindestens ist die Annonce ausführlicher: Vor der Auktion der Windischgraetziana wird ausdrücklich, aber pauschal auf einige besonders wertvolle und interessante Bücher hingewiesen.34 1747, als diese Adelsbibliothek verauktioniert wurde, mag also das Verfahren noch neu oder außergewöhnlich gewesen sein.35 Zehn Jahre später jedenfalls war es Routine des Buchgeschäfts, auch für den Präfekten der Hofbibliothek, Baron van Swieten. Er kaufte in zwei Tranchen auf der Schmerling’schen Auktion für insgesamt gut 114 Gulden, etwa dem Gegenwert von 57 Folianten entsprechend, ein.36 Was ihn genau reizte, bleibt uns unbekannt: Weder lassen sich im gleichzeitigen Akquisitionsbuch der Hofbibliothek37 einzelne Bücher den Lieferanten zuordnen, noch hat sich der Auktionskatalog dieser Bibliothek erhalten, was eine Einschätzung von deren Profil ermöglicht hätte. Immerhin können wir mit einiger Sicherheit den Kaufeintrag van Swietens auf eine in der Zeitung angekündigte Auktion beziehen, trotz etwas unsicherer Lesung des Namens in van Swietens Schrift, der als Niederländer die Wiener Aussprache nicht immer korrekt verstand. In der Regel ergänzen sich die erhaltenen Quellen jedoch nicht, sondern addieren sich eher.

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159–306, 186–195. Vgl. die Garellische Bibliothek (Privatbibliothek der Familie Garelli, zuletzt Pius Nikolaus, gest. 1739, Präfekt der Hofbibliothek und Leibarzt), die schließlich an die UB Lemberg kann. Zu Garelli zuletzt Seitschek, Tagebücher, wie Anm. 24, 273–275. Wienerisches Diarium, 22. Februar 1747. Catalogus Bibliothecae Windischgratzianae. Wien 1747. Nicht bei Loh, Verzeichnis, wie Anm. 3. Ein durchschossenes Exemplar mit der Angabe der erzielten Preise war kürzlich im deutschen Auktionshandel. Zur Bibliothek Näheres unten. Zur Gattung: Blaues Blut und Druckerschwärze. Aristokratische Büchersammlungen von 1500 bis 1700. Internationale Wanderausstellung. o. O. 2005; Otto Brunner, Österreichische Adelsbibliotheken des 18. Jahrhunderts als geistesgeschichtliche Quellen. In: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 3 1980 (zuerst 1949), 281–293, relevant für das 18. Jahrhundert der Verweis auf die Bibliotheken Lamberg (ehemals Steyr) und Starhemberg (ehemals Eferding); aktuell Werner Stangl, Von Graz in alle Welt verstreut. Die Bibliothek des Grafen Franz Ehrenreich von Trauttmansdorff. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 42 (2012), 265–294; Annemarie Lattus, Die Bibliothek des Freiherrn von Pichelsdorf. Eine bemerkenswerte Privatbibliothek des 18. Jahrhunderts. Diplomarbeit Wien 2012. ÖNB Handschrift SN 4217, zu 1757. ÖNB Handschrift SN 2143: Catalogus librorum novorum cura Illustrissimi Domini Baronis de Swietten Bibliothecae Caesarae Praefecti emptorum ab A(nn)o 1745 et quidem iussu ipsius.

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Der Catalogus von 1757 Dies zeigt der Fall des einzigen erhaltenen Katalogs aus dem Wien des Jahrs 1757.38 Gedruckt hat ihn der Verleger des Diariums, van Ghelen, im neuen Michaeler-Haus; Auktionsort war der große Passauer Hof, eine Provenienz der Sammlung „Librorum Variae Eruditionis & Argumenti“ ist nicht vermerkt. Leider wurde auf dem Titelblatt kein Tagesdatum der Auktion angegeben: Gewöhnlich sind diese handschriftlich nachgetragen. Damit wird die Identifikation mit den im Diarium angezeigten Auktionen diffizil. Die am 16. März angekündigte Auktion scheidet aus, da dort medizinische Bücher nicht vertreten sind. Als Verleger ihres Katalogs ist, wie erwähnt, die Buchhandlung zum goldenen Vließ angegeben, was auch für die ebendort stattfindende Licitation der Peternegg-Pentenrider’schen gilt (22. und 29. Jänner). Nach dem Gesetz der Serie gehört der Katalog trotz des Druckers damit zur Peternegg-Pentenrider’schen Sammlung. Er zeigt sich konventionell gegliedert. Die Bücher, es sind insgesamt 1.268 Titel, sind nach dem Format geordnet, beginnend mit den Folianten, und einfach durchnummeriert, dabei annähernd alphabetisch sortiert. Eine fachliche Ordnung innerhalb der Formate ist schon deswegen nicht mehr erkennbar – sicher wurden die Bücher zum Verkaufsort transportiert, wobei eine eventuell vorhandene Anordnung verloren ging und durch eine alphabetische ersetzt wurde. Handschriften, zum Beispiel ein Wappenbuch (Nr. 1082) oder die Mémoires von (Nicolaus Faure) de Berlize39 , sind nicht besonders hervorgehoben, Inkunabeln scheinbar nicht vorhanden. Es handelt sich wesentlich um neuere und neueste Bücher; „L’Art de bien parler François“ (Amsterdam 1596) dürfte eines der ältesten Werke sein. Die Art des Einbands ist entweder angegeben, oder es handelt sich, so der Auktionator, um einen Franzband. Inhaltlich spricht Vieles für eine konventionelle Beamtenbibliothek mit Hofbezug (als Nr. 1006 Hofschematismen): Der Schwerpunkt liegt auf historischen und juristischen Büchern, erstere mit besonderem Interesse an österreichischen Gegenständen von Gerard van Roo (gest. 1589) bis Franz Albert Freiherr von Pelzhoffer (gest. 1710) und Franz Wagner SJ (gest. 1748), letztere mit einem gewissen belgischen Schwerpunkt. Auch der Löwener Kanonist Zeger Bernhard van Espen (gest. 1728) ist vorhanden, daneben zeitgenössisch diskutierte Standardwerke von Abraham van Wicquefort (gest. 1682), Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf oder, gleichsam antiquarisch, eine ältere Kepler-Ausgabe (Linz 1616), die als Titel mehrfach in Auktionskatalogen auftaucht. 38 Catalogus librorum variae eruditionis & argumenti. Wien 1757. Von allen hier behandelten Katalogen stehen frei zugängliche Digitalisate zur Verfügung. 39 Sie werden heute nach einer Handschrift der Bibliothèque municipale de Lille, Fonds Godefroy 331, zitiert.

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Auffällig, im Überblick über alle Kataloge aber konventionell, ist das Interesse an Zeitgeschichte, die historiographisch und mit theoretisch-politischen Werken oder Editionen wie des Hofhistoriographen Jean Dumont Baron von Carlscroon (gest. 1727) gut bestückt ist. Sparsam sind Theologie oder Erbauungsbücher vertreten, vor allem bei den Großformaten. Auf den ersten Blick auffällig, im Überblick aber fast wieder konventionell, ist hier ein Werk des Trinitariers Lucas a Sancto Nicolao (Franz Hasler, gest. 1739), eines gefragten Predigers: „Ewig währender Glantz der Heiligen“. Der Wiener Druck von 1730, heute selten in Bibliotheken zu finden, unterstreicht das auch sonst bemerkbare Interesse an diesem in den Erblanden weitgehend neuen Orden wie für den einheimischen Druck. Im Oktavformat sind juristische Werke deutlich schwächer vertreten, dafür findet sich häufiger französischsprachige Erbauungsliteratur, die Werke von Molière oder des umstrittenen Historikers Louis Maimbourg – deren vermutlich frisierte lateinische Übersetzungen vom Prager Jesuiten Maximilian Wietrowski (Vítrovský, gest. 1723) mir bisher in keiner Bibliothek aufgefallen sind. Die Zahl der Bücher, die keinen Sammlungszusammenhang bilden, eben nur aus Neugier erworben wurden, ist in diesem Format am höchsten. Die am häufigsten vertretenen Druckorte sind Frankfurt/Main, Wien, Paris, Amsterdam, Nürnberg und Den Haag, ohne dass dieser Einschätzung eine Auszählung zugrunde läge. Die klare Westeuropatendenz darf aber nicht überbewertet werden: Ein englisches Buch (Nr. 867), es handelt bezeichnenderweise von der Ökonomie, bleibt wohl unikal. Verauktioniert wurde sicher nur, was selten und nachgefragt genug war, um den geschäftlichen Aufwand, der damit verbunden war, zu lohnen. Weitere Kataloge Mit der kurzen Beschreibung der Auktion 1757 im Abschnitt zuvor liegt nun ein Maßstab vor, der es erleichtert, in der gebotenen Kürze die Bestände weiterer verauktionierter Wiener Privatbibliotheken der Zeit zu charakterisieren. Da eine Aufzählung und anschließende Analyse der zahlreichen Auktionen wegen der vielfachen Identifikationsprobleme im Moment noch nicht sinnvoll erscheint,40 soll der Blick auf die Kataloge selbst gerichtet werden. Was hat sich für den Untersuchungszeitraum noch erhalten? Schon erwähnt wurde die Bibliothek Windischgraetz, die 1747 verauktioniert wurde,41 was van Swieten

40 Aus Sicht der Hofbibliothek in dem genannten Aufsatz des Verfassers, wie Anm. 15. 41 Wie Anm. 35.

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40 Gulden 26 Kreuzer wert war,42 und deren Katalog allein schon deswegen auffällt, weil er singulär anders ordnet. Er führt Fächer ein wie Theologie, Kirchengeschichte, Medizin, Philosophie usw., die dann wiederum in Abteilungen gegliedert sind. Dabei wird oft ungewöhnlich zugeordnet, wenn sich Chronologie und Reisen unter Mathematik finden. Dieser Sachsystematik folgt erst die Ordnung nach Formaten und dann die nach dem angenäherten Alphabet. Ausweislich seiner mitverkauften Handschriften, die wohl der Ausbildungszeit entstammten, war Leopold von Windischgraetz der Besitzer (Nr. 646f., 649, 652, vgl. 835, 877, 1300) dieser mit weniger als 3.564 Bücher umfassenden deutlich größeren Bibliothek. Die genaue Zahl lässt sich nicht angeben, da rund 2 % der Nummern aus unbekannten Gründen nicht besetzt sind. Wurden sie während der Katalogerstellung verkauft? Fielen sie der Zensur zum Opfer? Antiquarisch betrachtet ragen einige Spitzenstücke wie Inkunabeln heraus: Die Nr. 1 ist eine Nürnberger Bibel von 1478, die Nr. 2.828 die Schedel’sche Weltchronik. Dem Historiker fällt als Handschrift ein Pergamentmanuskript von 1287 auf (Nr. 1.249), das nach der Beschreibung ein Auslaufkopiar der böhmischen Königskanzlei gewesen zu sein scheint. Eine Handschrift zur Braunschweig’schen Kurfrage verweist sicher auf dienstliche Geschäfte (Nr. 1.633), vielleicht auch eine Beschreibung Frankreichs in 13 Folianten (Nr. 2.871). Wie die Schlussbemerkung zeigt, war dem Auktionator der Wert der Sammlung sehr bewusst,43 die vielfach ähnliche Werke wie der Catalogus von 1757 enthält. Letzterer erweist sich somit als gewissermaßen Schmalspurausgabe, was den Rang- und Standesunterschied der Bibliothekseigentümer charakterisiert. Zu den Standards gehört Augustin Calmets französischsprachiges Bibellexikon, das in keiner Bibliothek fehlten durfte, nahezu immer ist ein Koran vertreten, die aktuellen Werke der Juristen und Historiker wiederum mit Franz Wagner oder ziemlich komplett dem Vielschreiber Christian Lünig. Der Österreichische Ehren-Spiegel (Nr. 1.668) findet sich unter Genealogie, eine Abteilung, die auch bei den folgenden Bibliotheken stark besetzt sein wird, gerne mit Werken des ungemein produktiven norddeutschen Schulmeisters Johann Hübner (gest. 1731). Hier liegt zusätzlich ein Interesse an klassischen Arbeiten der Universalgeschichte vor (Naucler, Franck). Die aszetische Abteilung zeigt keine ausgesprochen volkstümlichen Frömmigkeitspraktiken, immerhin aber vier Schriften von Abraham a Sancta Clara und wieder eine des Trintariers Lucas a S. Nicolao (Nr. 242). Als Besonderheit sind die Akademieschriften und Zeitschriften anzusehen, die sich unter den Philologici befinden. Sie sind in später verkauften Bibliotheken häufiger, aber nie so reichhaltig wie hier. 42 ÖNB Handschrift SN 4215, 1747. In diesem Jahr kaufte er noch auf der Auktion Graf Nimptsch und auf der Kirchstetterischen Auktion. 43 Merx proba non indiget praeconio.

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Als Druckort erneut stark vertreten ist Wien, die Niederlande vergrößern sich in Richtung Brüssels und vor allem Antwerpens, ferner fallen Genfer Drucke öfters ins Auge. Französisch und Latein sind als Sprachen dominant, trotzdem wird deutsche Barockdichtung wahrgenommen (Benjamin Neukirch, Lohenstein, Hofmannswaldau, Gottsched). Bestimmend bleiben jedoch juristische und geisteswissenschaftliche, vor allem wieder historische Werke. Ein gewisses Interesse an der Res publica litteraria – oder die Existenz eines professionellen Privatbibliothekars – war vorhanden. Mindestens ebenso wertig war die Bibliotheca Harrachaiana, über die Thomas Trattner 1750 einen Auktionskatalog mit knapp 5.900 Titeln vorlegte,44 den van Swieten anscheinend ignorierte. Bei der inhaltlichen Übersicht habe ich mich angesichts der Masse auf die Folianten beschränkt. Die Vorrede an die Bibliophilen erwähnt die vielen sehr seltenen Bücher aus romanischen Sprachen, die die Bibliothek enthalte. In der Tat hat sie – neben den schon bekannten Standardwerken und -autoren sowie einigen Inkunabeln (Nr. 21: Fasciculus temporum) – ein speziell spanisches Profil: Unter den 1.049 Folianten befanden sich über 160 spanische Titel, meist dem 17. Jahrhundert und der Geschichte zugehörig. Auch wenigstens zwei Dutzend Drucke aus süditalienischen Offizinen, vor allem Neapels, gehören nicht zur Standardausstattung. Das Interesse für das Haus Österreich weitet sich auf die gesamte Ländermasse der Dynastie aus, geht in die Tiefe der Regionen, so ist Bohuslav Balbín (gest. 1688) mit einer Reihe Werke vertreten (Nr. 98, 699, 701), und umfasst viele Panegyrica. Salzburg als Druckort juristischer Werke erweitert singulär die Liste relevanter Druckorte, ebenso venezianische Drucke sowie solche aus Rom und Bologna, Lyon neben Paris (Folge des höheren Durchschnittsalters), Köln, Leipzig, Prag und Basel. Nicht nur Curiosum ist das zeittypische Interesse an Kupfern, aber die Offenheit für ungewöhnliche Sujets. So findet sich das „Specimen Lithographiae Wirceburgensis“ von Johann Bartholomäus Adam Beringer (gest. 1738, Nr. 847, 1726), der mit den als Würzburger Lügensteinen bekannten vermeintlichen Versteinerungen die Geschichte der großen wissenschaftlichen Reinfälle bereicherte. Sicher Geschenk eines Standesgenossen, vermutlich Graf Joseph von Waldsteins, waren die Kupfer zur „Tuch-Fabric zu Oberleidensdorf “.45

44 Catalogus praestantissimae bibliothecae Harrachianae. Wien 1750. Termin: 11. Mai 1750. Wienerisches Diarium: demnach Meldung 29. April 1750, obwohl hier abweichend das Gewölbe zum goldenen Vließ, damals am Judenplatz, als Katalogort angegeben wird. Und in der Tat: Der Zwischentitel lautet „sub aurei velleris insigni“. Etliche Nummern sind nicht besetzt. Um 1800 besaßen die Harrach wieder eine bedeutende Bibliothek: Jul. Wilhelm Fischer, Reisen durch Oesterreich, Ungarn […]. 3 Bde. Wien 1803, 11, 89. 45 Nr. 852. Oberleutensdorf/Litvínov.

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Natürlich finden sich auch jene Titel, die unmittelbar auf die Familie Harrach Bezug nehmen oder von ihr veranlasst worden sind.46 Eine interessante Verschiebung ergibt sich, wenn man das Format wechselt und der Frage nachgeht, in welcher Sprache die Harrachs nicht nur gesammelt und nachgeschlagen, sondern – vielleicht – auch gelesen haben. Im Oktavformat wurden mechanisch 300 Titel, damit knapp 10 %, nach Sprache ausgezählt.47 Im lesefreundlichen Kleinformat, das weniger durch die Wissenschaft dominiert sein muss, sind 80 % in französischer, 10 % in lateinischer und 6 % in deutscher Sprache verfasst. Italienisch und Spanisch spielen keinerlei Rolle, Englisch wurde nicht gelesen: John Miltons „Paradise Lost“ war in einem französischen Amsterdamer Druck vorhanden (1729, Nr. 1513). Dienten die spanischen Folianten nur zum Renommieren? Alois Thomas Raimund Graf Harrach war 1728 bis 1735 Vizekönig in Neapel gewesen, doch könnten die Bücher seiner Mutter gehört haben, die sogar Hofdame in Madrid gewesen war.48 Unter den französischen Werken fallen die zahlreichen Biographien auf. Dabei handelt es sich nicht nur um typische Mémoires des 17. und 18. Jahrhunderts, sondern explizit auch um Vies, also Biographien durch Dritte. Dies ist eine Gattung, die der Verfasser als besonders in den Bibliotheken der Frauenklöster vertreten nachweisen konnte.49 Stark nachgefragt war sie demnach auf dem italienischsprachigen Buchmarkt, der wesentlich besser aufgearbeitet als der deutsche und explizit auf weibliche Lektüren untersucht worden ist.50 Kann dies ein Hinweis auf eine Leserin der Harrach-Bibliothek sein? Insgesamt handelt es sich bei der Harrachiana jedenfalls um keine eigentliche Privatbibliothek mehr, sondern bereits um eine durchaus repräsentative Adelsbibliothek,

46 Nr. 4° 9; 2° 70 und 205: wohl Doubletten, da eine Prager Ausgabe 1748 der 1746 von Franz Ferdinand Schwarz de Lauro verantwortete Prager Dissertation über das Verhältnis von Religion und Vaterlandsliebe nicht nachweisbar ist. Beteiligt an dieser juristischen Arbeit war Friedrich von Harrach. 47 Nr. 1–207, 1500–1601. Einige Nummern sind unbesetzt. 48 Pia Wallnig, Die österreichischen Vizeköniginnen von Neapel (1707–1734). Adelige Amtsträgerinnen im habsburgischen Süditalien. Diss. Wien 2017, 50f., 77, zur Ehefrau Harrachs, einer Dietrichstein, 70f., 160f.; sie scheint sich wenig auf die neapolitanische Kultur eingelassen zu haben: 145. 49 Stefan Benz, Geschichtsbewußtsein und Geschichtskultur in der frühen Neuzeit. Habil. Passau 2014, 285–300, 352–368. 50 Gabriella Zarri, Testi e stampa. In: Gabriella Zarri (Hg.), Donna, disciplina, creanza cristiana dal XV al XVII secolo. Rom 1996, 393–732; Marie-Elizabeth Ducreux, Männerbücher und Frauenbücher. Bücher für Männer und für Frauen. In: Edith Saurer (Hg.), Die Religion der Geschlechter. Historische Aspekte religiöser Mentalitäten. Wien – Köln – Weimar 1995, 137–168; Jill Bepler, Die Lektüre der Fürstin. In: Jill Bepler / Helga Meise (Hg.), Sammeln, Lesen, Übersetzen als höfische Praxis der frühen Neuzeit. Wolfenbüttel 2010, 201–225.

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an der man dennoch die Biographie und möglicherweise die Vorlieben ihrer Eigentümer*innen ablesen konnte. Kontrastiv sei gleich eine andere Familienbibliothek vorgestellt, die Mannagettiana (1768).51 An dieser sammelten möglichweise mehrere Generationen der angesehenen Wiener Gelehrtenfamilie, deren Ruhm als Mediziner Johann Wilhelm Mannagetta (1588–1666), dreier Römischer Kaiser Leibmedicus und eine Gelehrtenlegende, begründete, der auch als Historiker bekannt ist. Seine Bibliothek war zur Ausstattung seiner Stiftung und damit zum Gebrauch der auf deren Kosten Studierenden bestimmt gewesen.52 Weitere Familienmitglieder waren zumeist Angehörige der Wiener medizinischen Fakultät wie Dr. med. Franz Mannagetta (1735 erwähnt) und Dr. med. Max Wolfgang Mannagetta (gest. 1725), oder Hofbeamte wie Johann Georg von Mannagetta (gest. 1751), Referendar der Österreichischen Hofkanzlei.53 Zu den vielen Verkäufen aus dem Stiftungsbestand in jenen Jahren gehörte die Bibliothek, deren Verauktionierung einen sensationellen Erfolg erzielte, zu dem die Hofbibliothek mit über 196 Gulden beitrug (dem Gegenwert von fünf teuren Inkunabeln).54 Nach Meinung von Aufkäufern war es wohl die erfolgreichste und teuerste Buchauktion jener Jahre in Wien.55 Mit 3.721 Nummern, geordnet erst nach dem Alphabet, dann nach Formaten, war sie deutlich kleiner als die HarrachSammlung. Ihre Qualität beruhte auf der relativ hohen Zahl an Inkunabeln, hochgerechtet aus den Buchstaben A–C rund 24, und der Masse der alten Drucke von 1580 bis 1650, was eindeutig auf Johann Wilhelm als Sammler verweist. Dazu traten kostbare Gesamtausgaben wie das komplette Theatrum Europaeum (1617–1718, 21 Teile) oder die Lyoner Albertus Magnus-Ausgabe in 20 Teilen (1651, Nr. 14). Ablesbar wird zudem das Interesse des Gründers an seinen herausragenden Zeitgenossen wie Juan Caramuel y Lobkowitz (gest. 1682, Nr. 664–668, 795f., 2.011–2.013) oder Joachim Sandrart (gest. 1688), der mit einer ganzen Serie von Arbeiten viel vollständiger als in allen anderen Katalogen vorhanden ist (Nr. 2.975–2.985). Von der raren deutschen Geschichte 51 Mannagettiana Bibliotheca. Wien 1768. Wienerisches Diarium, 20. Jänner 1768. Den Katalog gab es wieder beim Goldenen Vließ. Die Auktion fand vor Ort im mannagettaischen Stiftshaus (beim silbernen Becher) im ersten Stock statt. Hinweis zur Rezeption bei Dieter Breuer (Hg.), Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern 1750–1800. Kulturelle Ausgleichsprozesse im Spiegel von Bibliotheken in Luzern, Eichstätt und Klosterneuburg. Paderborn u. a. 2001, 457f., Anm. 48. 52 Florentius Schilling, Catholisch Todten-Gerist. Wien 1668, 87. 53 Johann Jakob Freundt von Weyenberg, ΣΥΛΛΟΓΗ illustrium in re medica virorum, qui in archilyceo Viennensi tum universitatis tum facultatis gubernacula tenuere. Wien 1724. Das Exemplar des Verfassers enthält handschriftliche Personaldaten bis 1773, 82, 88; Seitschek, Tagebücher, wie Anm. 24, 261f. 54 ÖNB Handschrift SN 4215, 1768, bzw. folgende Anmerkung. 55 Segesvary, History, wie Anm. 17, 87, 116–119.

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Johann Philipp von Vorburgs (gest. 1645) besaß er immerhin sechs Teile – von zwölf des vollständig fast nicht aufzufindenden Werks. Sprachlich sind Latein und daneben Deutsch dominant, trotz einiger italienischer und französischer Druckorte. Die Wiener und Prager Offizinen sind hier hingegen schwach vertreten, dafür fallen entsprechend dem Altersdurchschnitt mehr Straßburger Produkte auf. Inhaltlich stehen Medizin und Jura an erster Stelle, dann die Geschichte speziell als Zeitgeschichte sowie Habsburgica. Es folgen die Naturwissenschaften, Philologien und Theologie. Die folgende Bibliothek, verauktioniert 1755, gleicht der Mannagetta’schen in der Stärke der Medizin nebst Naturwissenschaft und Botanik, ist aber vom Umfang (1.359 Nummern bei mindestens einer Doppeltbesetzung) und von der Qualität nicht vergleichbar, da die meisten Bücher aus den letzten 50 Jahren und viele aus Wien stammten – heraus fallen ein Pariser Katechismus des Petrus Canisius von 1585 und eine Inkunabel (Nr. 153, 603). Dafür verzögerte sich ihre Auktion aus ungenannten Gründen.56 Die Geschichte ist mit einigen Standardwerken vertreten, daneben die Numismatik. Stärker als sonst scheint sich der anonym gebliebene Sammler für Altphilologie interessiert zu haben. Wie nun schon zu erwarten, steigt der Anteil französischer Bücher mit der Verkleinerung des Formats. Einen inhaltlichen Akzent setzen die jesuitischen Naturforscher und Gelehrten Caspar Schott (Nr. 395–400) und Athanasius Kircher (Nr. 206–209, 532). Erstmals sind auch Drucke aus Halle/Saale (und Kopenhagen, was medizingeschichtliche Gründe haben dürfte) öfter vorhanden. Bisher war nur Leipzig als Druckort nördlich des Mains und östlich des Rheins von Belang. Diese Bibliothek, wahrscheinlich eines Mediziners mit breiteren Interessen und solidem akademischen Hintergrund, dürfte dem Durchschnitt der verauktionierten Bibliotheken entsprechen. Anders akzentuiert und vor allem eher den Erwartungen der Gegenwart an eine Wiener Privatbibliothek des Barock entsprechend, präsentiert sich eine 1759 verauktionierte leider anonyme Sammlung von 2.649 Bänden (nicht die Titel werden gezählt), die auf dem Titelblatt mit guten Einbänden und Ausstattung mit Kupfern bei vielen Büchern wirbt.57 Überwiegend moderne Bücher seit 1670 in den üblichen Sprachen enthaltend, zeigen sich die erwarteten Schwerpunkte: Jurisprudenz, oft in Konvoluten, Geschichte und Staatsschriften mit eindeutig österreichischem Schwerpunkt, teils in Miszellenbänden und Konvoluten zusammengestellt. Ein fühlbarer Anteil von Büchern ungarischer 56 Catalogus librorum variae eruditionis argumenti et idiomatis. Wien 1755. In dem Kirchschlagerischen Haus, Katalog: Goldenes Vließ. Wienerisches Diarium, 13. September 1755. 57 Catalogus librorum selectissimorum Hebraicorum, Graecorum, Latinorum, Germanicorum, Gallorum, Anglorum, Italorum, aliorumque idiomatum cuiuscumque scientiae et eruditionis. Wien 1759. Wienerisches Diarium, 29. August1759.

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Thematik wird durch Tyrnau, Sitz einer jesuitischen Universität, als Druckort unterstrichen. Ein besonderes Interesse scheint der Inhaber der Familie Esterhazy entgegengebracht zu haben.58 Diese verfügte selbst über eine bedeutende Bibliothek, die Nikolaus von Esterhazy zusammengetragen hatte. Sie wurde 1766 direkt im Esterhazy’schem Haus auf der Schottenbastei versteigert und erzielte teils enorme Preise.59 Tyrnau führt auf die Spur der Jesuiten und damit auf die Frage einer Religiosität, die mehr war als die Anteilnahme am Apostolat der Wiener Trinitarier (4° Nr. 269f., 312). Neben Epicedia und anderen Predigten finden sich mehrfach Hinweise auf die Josephinische Bruderschaft (2° Nr. 315–349, 12° Nr. 111). Außer französischer Andachtsliteratur ist auch solche aus Wien vertreten, wobei die Jesuiten zu St. Anna in Wien häufiger genannt werden (Katechetische Bibliothek der Gesellschaft ebendort, 8° Nr. 169–690, 12° Nr. 737–752),60 ferner Kontroversschriften aus der Provinz (8° Nr. 408) und mit historiographischem Anspruch (Johann Nikolaus Weislinger, gest. 1755, mit 8° Nr. 1.088, 1.145). Somit liegt ein Beispiel einer katholisch-konfessionell mitgeprägten Bibliothek eines Eigentümers vor, der in der Laienfrömmigkeit engagiert war und konfessionelle Diversität auch intellektuell zu verarbeiten suchte.61 Neben der üblichen historischen und juristischen Gelehrsamkeit, dem Interesse an Zeitereignissen und der sprachlichen Bildungsbeflissenheit, die dem vielsprachigen Anspruch des Titels allerdings nicht gerecht wurde, der Milton aber auf Englisch las (8° Nr. 1.048), reflektierte der ehemalige Besitzer nicht nur über die Politik, sondern zusätzlich über Religion, die in sozialen Zusammenhängen geund erlebt wurde. Vielleicht die Bibliothek eines Konvertiten? Eine weitere, antiquarische Besonderheit: Dieser Katalog markiert seltene Schriften mit einem Asterix, Rarissima mit zwei, geht dabei allerdings sparsam vor. Zeichen eines hohen Qualitätsbewusstseins, das auf lautes Marktgeschrei verzichten konnte? Ausgezeichnet als äußerst selten wurde Caroli Paschalii Legatio Rhaetica (8° Nr. 793–794) von 1620, die heute nicht sehr rar zu sein 58 Nr. 132, 135f., 160, 171, 175, 355. 59 Wienerisches Diarium, 12. Februar 1766; Segesvary, History, wie Anm. 17, 114; Somkuti, Ráday, wie Anm. 17, 157f. mit Anm. 61. Ihren Katalog verzeichnet auch István Monok, A hagyományos világ átváltozásai. Budapest 2018, Literaturverzeichnis (lag mir nicht vor). 60 Vgl. Elisabeth Lobenwein / Martin Scheutz / Alfred Stefan Weiß (Hg.), Bruderschaften als multifunktionale Dienstleister der Frühen Neuzeit in Zentraleuropa. Wien 2018, 43, 398; Michael Schaich, Zwischen Beharrung und Wandel. (Ex-)Jesuitische Strategien im Umgang mit der Öffentlichkeit. In: Strukturwandel kultureller Praxis. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 17. Wien 2002, 193–217, 202f. 61 Auf einen mitteldeutschen Hintergrund eines Konvertiten deutet eine Handschrift, eine Mitschrift eines Universitätscollegiums von Nikolaus Hieronymus Gundling, Professors in Halle/Saale (gest. 1729), enthaltend (Nr. 4°/89).

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scheint,62 und die Werke Varros in der Ausgabe Joseph Scaligers (8° Nr. 1.224) von 1553. Vermutlich handelt es sich um die Ausgabe 1573, von der sich heute problemlos mehrere Exemplare nachweisen lassen.63 Immerhin handelt sich um einen der ersten Versuche, antiquarische Bücher individuell hinsichtlich ihrer Seltenheit zu kommentieren. Ähnlich differenziert zeigt sich ein Katalog von 1764, dem Jahr der EsterhazyAuktion, der mit Hilfe des Wienerischen Diariums einem Baron von Wickenburg zugeordnet werden kann, dessen italienische Reisebeschreibung im Manuskript Teil der Auktion war (Nr. 1.297).64 Interessanterweise war 1754 eine Wickenburg-Bibliothek in Heidelberg versteigert worden.65 Mit 4.380 Nummern, die allerdings Bände zählen und innerhalb der Formate alphabetisch geordnet wurden, gehört die Versteigerung zu den größeren. Besondere Einbände oder Schönheit und Seltenheit werden nun als Text genannt, Handschriften in einer eigenen Abteilung zusammengefasst, sind aber auch Teil der Ordnung nach Formaten und damit zerstreut. Beispiele sind ein angeblich höchst rarer tschechischer Druck (Nr. 443: Bartholomäus Paprocki / Bartoloměj Paprocký z Hlahol: Böhmische Geschichte von 1613, vgl. Nr. 3.257) oder ein handschriftliches Kölner Missale (Nr. 409). Die wertvollste Handschrift, ein Pergamentmanuskript von 1382 mit dem „Processus Luciferi contra Jesum“ von Jacobus de Teramo, der „Praxis Decretalium“ vermutlich des Aegidius de Foscadis und einer Beschreibung des Heiligen Landes findet sich unter den Folianten (Nr. 316). Bedauerlich, dass van Swieten nichts für die Hofbibliothek erwerben konnte! Handschriften wie Drucke, wobei speziell für Quartformate Nürnberg als wichtiger Druckort zu nennen ist, weisen ein klares historisch-juristisches Profil auf, wie dies schon das Diarium in seiner Annonce hervorhebt; lediglich beim Kleinstformat verschiebt sich die Ausrichtung ein wenig zu Gunsten des Theologischen und dann des französischen Buchs. Zahlreiche ungebundene Bücher, Konvolute, etliche Doubletten, Exzerpte und Miszellen, ein Faszikel Schulbücher, viele Kasualschriften, Kataloge und Kalender und einige Musikalien, angeboten vor allem im Appendix, zeigen, dass die wiederum sehr profane Büchersammlung ihrem Besitzer schließlich über den Kopf gewachsen war. Inhaltlich erhält sie ein besonderes Profil, weil die deutsche Landesgeschichte stark vertreten ist: Insbesondere mit der Pfalz, den welfischen Fürstentümern 62 Allein im Online-Katalog des Bibliotheksverbunds Bayern finden sich drei Einträge. 63 Z. B. in der Bibliothèque Royale Bruxelles. 64 Catalogus librorum praestantissimorum ut et manuscriptorum. Wien 1764. Wienerisches Diarium, 6. Oktober 1764. Vgl. von Haan, Auszüge, wie Anm. 24, 26. 65 Bibliotheca Wickenburgiana Heidelbergensis, sive Catalogus librorum [...] venales offerre & exponere constituit. Frankfurt 1754. VD18-Nummer: 11714514, online unter: http://resolver. staatsbibliothek-berlin.de/SBB00005DB200000000 (letzter Zugriff: 08.03.2020).

Wiener Buchauktionen – Wiener Privatbibliotheken

und Hildesheim hat sich Baron von Wickenburg, dessen Familie von Leopold I. geadelt worden war, näher befasst. Seine Bibliothek ist ebenso von professionellen Ansprüchen wie auch der Liebhaberei gekennzeichnet: Enthaltene Kupferstiche ließen ihn auch ein nicht historisches Buch erwerben, wie der Katalog zeigt. Bescheiden nimmt sich dagegen eine Versteigerung im folgenden Jahr aus, die inhaltlich ähnlich strukturiert ist, deren Horizont aber auf historisch-juristische Werke und Gelegenheitsschriften aus Österreich, speziell aus Wien, dessen Zeitungen Teil der Auktion sind (S. 227f.), und der Universität Wien beschränkt ist. Die Besonderheit des erhaltenen Katalogs, nur eine von der ÖNB digitalisierte Kopie ist vorhanden,66 liegt neben der unübersichtlichen Anordnung nach Pulten darin, dass handschriftlich Schätz- und Verkaufspreise eingetragen sind. Anscheinend wurde fast alles und nahezu immer über dem Schätzpreis verkauft. Das gilt auch für die Inkunabeln (Nr. 152, 246), doch selbst die Schedel’sche Chronik kostete mit 6 Gulden 33 Kreuzer deutlich weniger als viele juristische Bücher. Deren hoher Anteil in allen Auktionen entspricht also der Nachfrage und damit dem Marktwert in der Hauptstadt mit ihrem hohen Anteil an Beamten. Zu dieser Gruppe wird der anonyme Sammler gehört haben, der einzelne Wallfahrten und Badereisen unternommen zu haben scheint. Schon nach dem Tode van Swietens fand eine weitere Auktion statt, von der ein Katalog erhalten ist und die daher noch berücksichtigt werden soll, zumal sie fast eine Zusammenfassung des bisher Festgestellten ermöglicht.67 Ihr Sammler war Christoph Cramer, k. k. Rat und Professor des deutschen Staats- und Lehnrechts bei der theresianischen und savoyischen (vereinigten) Ritterakademie in Wien, nicht unproduktiv in seinem Fach als Lehrer, aber kein Gelehrter, der sich bleibenden Nachruhm erwerben konnte. Seine Büchersammlung ist ganz die eines erbländischen Historikers und Juristen, mit etwa 635 Titeln zudem die kleinste hier untersuchte. Trotz einiger früher Drucke von 1502 (Nr. 146) oder 1516 (Naucler, Nr. 2) überwiegt die Fachliteratur der letzten hundert Jahre, was auch für die untermischten Handschriften gelten wird (Nr. 52, unter den Libri selecti die „Krameriana“). Lediglich juristische Werke finden sich in größerer Zahl aus dem 16. Jahrhundert. Auffällig ist der verhältnismäßig hohe Anteil rezenter Prager Drucke und das Interesse für Böhmen, was sich vermutlich mit der Laufbahn Kramers erklären könnte, meist universitäre Prunkschriften 66 Catalogus librorum varii argumenti et idiomatis, Wien: mit Jahnischen Schriften 1765. Auktionsdatum: 22. April, online unter: http://data.onb.ac.at/rep/10A4980F (letzter Zugriff: 08.03.2020). Van Swieten erwähnt (ÖNB Handschrift SN 4215) für 1765 die Auktion Bauernfeind, gibt aber den 8. Juli als Datum an, so dass es sich um eine andere Versteigerung handeln muss. Im Diarium nicht auffindbar. 67 Catalogus librorum et manuscriptorum clarissimi viri Christophori Cramer, Wien: mit Jahnischen Schriften 1774.

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im Folioformat, daneben finden sich zwei tschechische Drucke juristischen Inhalts (Nr. 118f.). Prager Drucke in den Sammlungen, keineswegs selten, sind sonst immer lateinisch. Französische und italienische Bücher scheinen gleichauf zu liegen, erstere im Vergleich mit einem unterdurchschnittlichen Anteil im Vergleich zu den übrigen Bibliotheken. Stark gewonnen hat die deutsche Literatur.68 Zwei Kataloge sollen indes übergangen werden. 1770/71 erstreckte sich die Licitation der Senckenberg’schen Bibliothek über mehrere Monate, was für deren besonderen Umfang spricht, niedergelegt in einem dreibändigen Katalog.69 Der aus Frankfurt stammende, wohl evangelische Reichsfreiherr Heinrich Christian Freiherr von Senckenberg starb als Reichshofrat in Wien 1768. Seine juristisch-historische Büchersammlung kann daher kaum als repräsentativ für Wiener Verhältnisse beansprucht werden. Ebenso den Markt überfordert hat die Licitation der Etienne Briffaut’schen (à Slawietin) Sammlung. Briffaut war eigentlich Buchhändler und eventuell auf französische Bücher spezialisiert, für die in Wien zweifellos ein großer Markt vorhanden war.70 Aus unbekannten Gründen begann er einen von der Zensur beanstandeten, umfangreichen Verkaufskatalog auszugeben, der über 700 Seiten und 4.000 Nummern enthält. Angeblich, so das Diarium, standen ab März 1758 15.000 Bände zur Auktion, doch war der Verkauf selbst 1773 noch nicht abgeschlossen.71 Angesichts dieser Unklarheit, aber vor allem angesichts der Tatsache, dass es sich eher um einen Buchhändlerkatalog handelt,72 kommt die Analyse als Wiener Privatbibliothek nicht in Betracht, selbst wenn bei Briffaut möglicherweise bibliophile Neigungen den ökonomischen Sachverstand überwogen.

68 Z. B. 8°, Nr. 31, 116f., 125, 145, 150, 197, 200, 204f., 212. 69 Loh, Verzeichnis, wie Anm. 3, Bd. 3, 101; Bibliotheca Senckenbergiana. Sive Catalogus [...] librorum, P. 1–3, Wien: Schulz 1770, mit drei Bibliotheksnachweisen. Segesvary, History, wie Anm. 17, 121; Johann T. Sattler, Freymüthige Briefe an Herrn Grafen von B. über den gegenwärtigen Zustand der Gelehrsamkeit der Universität und der Schulen zu Wien. Frankfurt – Leipzig 1774, 11, 46. 70 Wienerisches Diarium, 19. Juli 1752; Frank / Frimmel, Buchwesen, wie Anm. 5, 34f. (CD). 71 Wienerisches Diarium, 11. März 1758, 1. April 1758, 23. Oktober 1773; Loh, Verzeichnis, wie Anm. 3, Bd. 3, 215; Benz, Swieten, wie Anm. 15; Catalogus seu Collectio D. Briffaut a Slawietin, Libris [...] Pro auctione publicabuntur. Wien 1758, online unter: http://data.onb.ac.at/rec/ AC09638832 (letzter Zugriff: 08.03.2020). 72 Wie sie auch von Trattner, Krauß, Peez und Bader etc. bekannt sind, vgl. jeweils Frank / Frimmel, Buchwesen, wie Anm. 5.

Wiener Buchauktionen – Wiener Privatbibliotheken

Fazit Viele Fragen wurden im Laufe des Texts gestellt, um einmal von anderen beantwortet zu werden. Doch einige Ergebnisse und Fingerzeige lassen sich zusammenfassen bzw. geben. Die Überlieferungslage der Kataloge ist äußerst ungünstig, ohne dass gesagt werden könnte, dass dies für andere Orte besser sei. Jedenfalls gibt es eine enorme Dunkelziffer nicht überlieferter Buchauktionskataloge aus dem Wien des 18. Jahrhunderts; eine Zahl um die 100 dürfte kaum zu niedrig gegriffen sein. Das Erhaltene verdankt sich zu einem beträchtlichen Teil dem Nürnberger Mediziner und Bibliophilen Christoph Jacob Trew (gest. 1769), dessen Privatbibliothek von 34.000 Bänden offensichtlich auch durch Käufe in Wien zusammengetragen wurde.73 In Wien organisierte die Buchhandlung zum goldenen Vließ nahezu alle Auktionen, ließ die Kataloge jedoch bei verschiedenen Verlagen drucken. Der Buchhändler zum goldenen Vließ, damals wie gesagt Johann Carl Neven, amtierte als Bücherschätzmeister. Dieses Amt bleibt jedoch relativ vage. In der Ordnung für Buchhändler und Antiquare und der Ordnung für das Gremium der Buchhändler und Antiquare von 1771/1806 wird es nicht nur nicht erwähnt, sondern das Verauktionieren von Büchern sogar jedem freigestellt, das heißt, an keine Ernennung oder dergleichen gebunden (§ 12).74 Man wird es also mit einem privatrechtlichen Amt eines Sachverständigen zu tun haben. Als Medium diente das Wienerische Diarium, weitere Zeitungen blieben genauso wie der Briefwechsel der Gelehrten zu überprüfen. Dass dafür Kataloge ganz wichtig waren, liegt auf der Hand. Bei der Erstellung der Kataloge stellt man eine gewisse Professionalisierung der „Antiquare“75 fest, die die Interessen der Bibliophilen beachteten – so die Ware entsprechend war und nicht nur juristische Bücher enthielt. Dann war es noch Altbuchhandel oder der Verkauf von Repräsentationsobjekten76 wie Atlanten oder Globen, die zweimal wenigstens die Auktion beschlossen. 73 Übersicht: Bibliothek Trew, online unter: https://ub.fau.de/history/bibliothek-trew/ (letzter Zugriff: 08.03.2020). Es handelt sich um die Kataloge von 1755, 1758, 1759 und 1764. Konkret dazu: Elisabeth Engl, Bücherkäufe und Pränumerationen im 18. Jahrhundert. Ein Brief von Johann Siegmund Popowitsch aus der Sammlung des Christoph Jacob Trew. In: Jahresbericht des Erlanger Instituts für Buchwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg (2016), 39–50, hier 40, 47. 74 Hier benutzt in dem Kaiserlich-königlich österreichischen Amts- und Intelligenz-Blatt von Salzburg für das Jahr 1817. Salzburg 1817, Sp. 1204–1210. 75 Zur Begriffsgeschichte Daniela Haarmann, Antiquare im Europa des 18. Jahrhunderts. In: Das Achtzehnte Jahrhundert und Österreich. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts 30 (2015), 111–123. 76 Furrer, Buch, wie Anm. 7, spricht vom Schauwert (62).

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Trotz zunehmender Spezialisierung sind Bücher doch wesentlich ein Medium, das an das kommunikative Gedächtnis und dessen floating Gap gebunden scheint: Älter als 100 Jahre sind Bücher auch nicht öfter gewesen als heute. In der Regel wurden aktuell noch lesbare Werke angesichts eines großen Angebots zu bekannt günstigen Preisen77 verkauft, sofern deren Inhalt nicht überholt war. Bot sich ein außergewöhnliches Angebot dar, übertraf das Auktionsergebnis indes die Erwartungen. Dies unterstreicht die zunehmende Kennerschaft des Wiener Publikums jener Jahre: Ein Wandel zu einem partiell bibliophilen Markt deutet sich mit einer Diversifizierung der mehr aus Perspektive der Käufer als aus der des Händlers gestalteten Kataloge (bei aller Vorsicht) an. Der Anteil ausgesprochener Fachbibliotheken bleibt konstant bei wachsendem Anteil der Naturwissenschaften. Die Bibliotheken selbst dienten vielen Eigentümern der Berufsarbeit, verstärkt jedoch der Orientierung des gesellschaftlichen Lebens: Mit dem Lothringer Hof und der Erwerbung Belgiens musste man sich zum Beispiel verstärkt dem Französischen öffnen. Vielfach verknüpft sich dies mit der Unterhaltung, teilweise auch mit der Erbauung, wenn französische Erbauungsbücher deutschen oder gar lateinischen vorgezogen wurden.78 Der Bedeutungsverlust des Spanischen und des Italienischen ist unverkennbar, der Wandel zum Englischen als moderner Fremdsprache deutet sich an. Jus als Buchwissenschaft, unentbehrlich für Verwaltungshandeln, dominiert und bestimmt den Gebrauchswert konstant, dazu die Geschichte in all ihren Facetten. Hier zeigten sich bei den Bibliotheken durchaus Differenzierungen, vor allem in der Tiefe des Angebots. Das Geschichtsbewusstsein jener Jahrzehnte, dessen Stärke in Wien nicht vom Rechtsstudium zu trennen ist,79 führte also zu einem hohen Marktanteil einschlägiger Schriften, worunter natürlich keine Dissertationen aus Leipzig, Halle, Altdorf oder später Göttingen zu verstehen sind. Geschichte ist vor allem Zeitgeschichte – dies ist wohl kein Unterschied zur Gegenwart. Beachtlich ist ferner der Anteil der Medizin und ihrer Nachbarwissenschaften, obgleich nur in einzelnen Bibliotheken und nicht durchgängig vorhanden. Diese dürften dann von Ärzten besessen worden sein, deren Wissenschaft damals weitaus stärker als heute eine Buchwissenschaft gewesen war.80 Halfen medizinische Bücher der Berufsarbeit, spielte bei der Geschichte das 77 Johann (Juan) Andres, Sendschreiben des Abate Andres über das Litteraturwesen in Wien. Wien 1795, 170. 78 Kategorien nach Furrer, Buch, wie Anm. 7, 29–31, 63. 79 Der gegenwärtige Zustand des Wienerischen Studii Juridici in einem Gespräch zwischen A. und N. Wien 1757, 16, 33. 80 Das Wienerische Diarium erwähnt einschlägige Sammlungsschwerpunkte häufiger: 15. März 1758; 19. August 1958; 4. Juli 1761 (mit Instrumenten); 11. November 1761; 18. September 1762; 23. November 1763; 18. Jänner 1764; 28. März 1764; 27. April 1768; 22. April 1769.

Wiener Buchauktionen – Wiener Privatbibliotheken

Bildungsinteresse und das Verwalten des gesellschaftlichen Lebens, besonders bei der Zeitgeschichte, die größte Rolle.81 Die Ware selbst kam aus Wien und durchaus auch aus Prag, sonst nur aus den großen Zentren der Buchproduktion, deren Schwerpunkte sich in den zweihundert Jahren ab 1550 natürlich verändert hatten. Katholische süddeutsche Druckorte mit Ausnahme der genau bezeichneten Ausnahme Salzburgs sind irrelevant: Freiburg/Breisgau, Würzburg, Konstanz, Bamberg, München, Augsburg, Innsbruck, Graz oder Sulzbach als katholische Druckerei von Nürnberg finden sich nur selten und meist mit einem ganz besonderen Autorenprofil. Der Markt ist international: Die Niederlande (einschließlich der spanischen), Paris,82 immer noch Venedig, Köln und Frankfurt lieferten. Gewiss stieg die Bedeutung mitteldeutscher Druckorte, gerade Leipzigs, das Straßburg, Köln und Basel verdrängt haben mochte, doch ansonsten entsprach die heute gerne gefühlte Bedeutung des mittel- und norddeutschen Raumes keiner realen.83 Der viel apostrophierte Wandel zum nationalen Buchmarkt während des 18. Jahrhunderts ist in den Auktionskatalogen nicht zu bemerken.84 Stattdessen unterstreichen jene bedeutenden, teils hervorragenden Bibliotheken nicht nur die Internationalität der katholischen Welt und ihrer Eliten, sie verweisen überdies auf die Komplexität des katholisch-deutschsprachigen Buchmarkts. Neben dem Markt für Fach- und repräsentative Bücher und dem theologischen Markt der Klöster existierte ferner der lokale und regionale Buchmarkt populären Schrifttums aszetischer Natur,85 hatten die einfach gebildeten Leser*innen doch anders als in Norddeutschland keine sprachliche Hürde zu überwinden, da sie die oberdeutsche Schriftsprache von Natur aus beherrschten. Verlagsverzeichnisse und Buchhandelskataloge des 19. Jahrhunderts mit ihrer Backlist für das 18. Jahrhundert unterstreichen dies eindrucksvoll.86 Die komplexe katholische 81 Furrer, Buch, wie Anm. 7, 29–31, 62f. 82 Vgl. Frédéric Barbier, Buchhandelsbeziehungen zwischen Wien und Paris zur Zeit der Aufklärung. In: Frimmel / Wögerbauer (Hg.), Kommunikation, wie Anm. 6, 31–44. 83 Vgl. Peter R. Frank, „Es ist fast gar nichts da…“. Der „deutschsprachige Verlagsbuchhandel in Österreich vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 5 (1995), 201–232; generell Maurer, Konfessionskulturen, wie Anm. 8, 253–264. 84 Vgl. Bangert, Buchhandelssystem, wie Anm. 3, 251; Reinhard Wittmann, Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750–1880. Tübingen 1982, 86. 85 Deren Erforschung vor allem mit Dieter Breuer und Wolfgang Brückner verbunden ist. Angefüllt damit ist Gustav Gugitz, Österreichs Gnadenstätten in Kult und Brauch. 5 Bde. Wien 1955–1958. 86 [Ludwig Stahel], Librorum rei Catholicae. Handbuch der Bücherkunde der gesammten Literatur des Katholicismus und zunächst der katholischen Theologie. Würzburg 1848–1850 [Verkaufskatalog]; Verlags-Katalog 1830–1896 der Nationalen Verlagsanstalt (früher G. J. Manz) in Regensburg. Regensburg 1897.

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Buchwelt der Frühen Neuzeit und sicher noch des 19. Jahrhunderts kann im Grunde überhaupt nicht ohne Weiteres mit ihrem protestantischen oder norddeutschen Pendant verglichen werden, ohne in die Gefahr zu geraten, kulturell völlig unterschiedliche Sektoren des Buchwesens in Verbindungen zu bringen, mögen sich die Praktiken auch äußerlich gleichen. Damit erklärt sich, zu den Wiener Auktionen zurückkehrend, der folgende Befund: Nicht vorhanden zeigt sich in den Sammlungen, genauer in deren Katalogen, die Masse katholisch-theologischer Literatur. Nur hier und da gewann man ein Frömmigkeitsprofil einzelner Eigentümer, etwa wenn in der Harrach’schen Bibliothek ein Interesse für Loreto aufblitzt.87 Es gab also einen mehrfach gespaltenen Buchmarkt in Süddeutschland. Für Klöster die Theologie in all ihren Sparten, für den bürgerlichen und adeligen Markt die profane Literatur und ein wenig Frömmigkeit, für die einfache Bevölkerung fromme und populare Literatur. Aus der Sicht der Leseforschung stellt sich die Frage: Was wurde wirklich gelesen und nicht nur als Schausammlung präsentiert? Diese Frage ist gerade bei den untersuchten Adelsbibliotheken von besonderem Interesse. Einen Fingerzeig gaben die vielen Biographien in der Harrachiana, die auf weibliches Lesen weisen. Eine typische Lektüre in Frauenklöstern war zum Beispiel Cornelius Hazarts Kirchen-Geschichte, die vom Flämischen ins Oberdeutsche übersetzt in Wien verlegt wurde und meist unvollständig in etlichen hier untersuchten Bibliotheken vorhanden war. Ein Exemplar eines Bandes in der Privatsammlung des Verfassers, kürzlich verauktioniert, trägt den vielleicht bezeichnenden zeitgenössischen Besitzvermerk: „Dises buch gehört der Theresia graffin Erdott gebohrne Esterhas“. Es zeigt sich, dass der Beschreibung eines jeden Wandels, hier der privaten Bibliotheken und der Gewohnheiten des Buchkonsums, der Wandel des Standorts des historiographischen Betrachters vorausgeht.

87 Catalogus praestantissimae bibliothecae Harrachianae, Nr. 507, 1082 (identisches Mirakel). Die Suche nach dem Katalog der Bibliothek des 1742 verstorbenen Wiener Domherren von Carame, aus der van Swieten 1754 kaufte, blieb bislang ergebnislos. Sie hätte vielleicht den Befund verändert. Dank für weiterführende Hinweise hierzu an das Stadt- und Landesarchiv Wien, das Diözesanarchiv Wien und das Archiv der Domkirche St. Stephan.

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Linguae Patriae usum Civi Hungari esse omnio necessarium Sprachreformen im Königreich Ungarn (1790–1806)

1806 hielt die Schulreform Ratio educationis fest, dass „der Gebrauch der Landessprache für jeden ungarischen Bürger von allgemeiner Bedeutung ist“.1 Die Frage, die sich die Jahrzehnte zuvor im polyglotten Königreich Ungarn jedoch stellte, war: Welche soll diese Landessprache sein? Trotz der Präsenz von rund einem Dutzend Sprachen standen grundsätzlich nur drei ernsthaft zur Auswahl: Das seit dem Mittelalter in Teilen Ungarns im öffentlichen Leben genutzte Latein, Deutsch als Sprache des Wiener Hofes oder doch Ungarisch? Die Debatten, Reformforderungen und realisierten Gesetze sind hierbei eingebettet in die Bestrebungen des aufgeklärten Absolutismus der theresianischen und josephinischen Zeit, konkret in die Pragmatisierung von Lehre und Verwaltung. Zugleich spiegeln sie auch den Geist der aufkommenden modernen Nationalbewegungen wider. Ein früher Höhepunkt der Konflikte um die Sprachenfrage waren die 1790erJahre, beginnend mit dem Landtag, der am 6. Juni 1790 das erste Mal seit 25 Jahren wieder zusammentrat. Zu diesem Zeitpunkt war die politische Stimmung durch die Sprachenpolitik der Jahrzehnte zuvor, welche von den Fürsprechern der magyarischen Sprache als Affront gegenüber dem Magyarentum empfunden wurde, bereits so aufgeheizt, dass die sprichwörtliche „Büchse der Pandora“ nicht mehr zu schließen war. Der vorliegende Beitrag setzt deshalb einen Schwerpunkt auf den politischen Diskursen, Debatten und Reformen über die Einführung von Ungarisch als Verwaltungs-, Verhandlungs- und Bildungssprache in öffentlichen Belangen in diesem und dem darauffolgenden Jahrzehnt.2 Der Schlusspunkt wird mit der genannten Ratio educationis im Jahre 1 Ratio educationis totiusque rei literariae per regnum Hungariae et Provincias eidem adnexas. Buda 1806, 6: „Linguae Patriae usum Civi Hungari esse omnio necessarium“ (Hervorhebungen wie im Original). 2 Jenő Kiss, Die ungarische Sprache. In: László Kósa (Hg.), Die Ungarn. Ihre Geschichte und Kultur. Budapest 1994, 25–84; Gábor Almási / Lav Šubarić (Hg.), Latin at the Crossroads of Identity. The Evolution of Linguistic Nationalism in the Kingdom of Hungary. Leiden 2015; Sándor Hites, Language Interest. Hungarian. In: Encyclopedia of Romantic Nationalism in Europe; http://ernie.uva.nl/viewer.p/21/56/object-print/122-159946 (abgerufen am: 15.10.2018); Daniela Haarmann, The Hungarian Language Issue in Hungary and Transylvania before 1795. In: Anuarul Institutului de Istorie „George Bariţiu.“ Series Historica 57 (2018), 385–402.

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1806 gesetzt, welche als eine vorläufige Zwischenetappe auf dem Weg zur Etablierung des Ungarischen zur einzigen Staatssprache, wie es 1844 beschlossen wurde, angesehen werden kann.3 Um die Debatten und Reformen in diesen 16 Jahren zu rekonstruieren, liefert der erste von insgesamt drei Teilen eine allgemeine Einführung in die linguistischen und soziotopographischen Gegebenheiten des Reiches einerseits und die Sprachenpolitik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts andererseits. Hierdurch soll ein Grundverständnis für die Ausgangslage und die Problematik bei der Leserschaft geschaffen werden. Der zweite Teil widmet sich dann den Debatten über Ungarisch als Verwaltungssprache und im dritten wird schließlich die Diskussionen über die Einführung dieser Sprache als Pflichtfach an Schulen besprochen. Denn Verwaltung und Bildung sind besonders jene Bereiche, welche die politischen Diskurse über die sprachliche Reformierung des öffentlichen Lebens am stärksten prägten. Ausgeschlossen bleibt hierbei Siebenbürgen, da dieses über einen eigenen Landtag und eine eigenständige Rechtstradition verfügte, sodass die Lage eine andere war als in den restlichen Herrschaftsgebieten der Stephanskrone.4 Grundlage für dieses Vorhaben bieten die Quellen der Regierungsbehörden (Staatskonferenz, Ungarische Statthalterei und Hofkanzlei) sowie die Korrespondenzmaterialien verschiedener Akteure (insbesondere des Kaisers und des Palatins).5 Der Begriff der Reform bezeichnet im Folgenden ausschließlich politische Prozesse. Andere Arten der Reformen, wie etwa linguistische und literarische 3 Zur Bedeutung der Ratio educationis von 1777 und 1806 in ihrem gesellschaftlichen, ideenhistorischen und sprachpolitischen Kontext siehe: Lajos Csóka, A Ratio educationis korszaka [Das Zeitalter der Ratio educationis]. In: Sándor Domanovszky (Hg.), Magyar művelődéstörténet, Bd. 4: Barokk és felvilagosodás [Ungarische Bildungsgeschichte. Barock und Aufklärung]. Budapest 1940, 543–481; Moritz Csáky, Von der Ratio educationis zur Educationis nationalis. Die ungarische Bildungspolitik zur Zeit der Spätaufklärung und des Frühliberalismus. In: Grete Klingenstein (Hg.), Bildung, Politik und Gesellschaft. Studien zur Geschichte des europäischen Bildungswesens vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Wien 1978, 205–238; István Tóth, Enlightened Intentions and Real Possibilities. Elementary Schooling in Hungary in the Era of the School Reform Ratio Educationis (1777). In: Franz A. Szabo (Hg.), Politics and Culture in the Age of Joseph II. Budapest 2005, 183–190; Teodora Shek Brnardić, The Enlightenment’s Choice of Latin. The Ratio Educationis of 1777 in the Kingdom of Hungary. In: Almási / Šubarić (Hg.), Latin, wie Anm. 2, 121–151. 4 Ungarisch war hier neben Latein und Deutsch schon in den Approbaten und Compilaten (beide 17. Jahrhundert) als Regierungs-, Verwaltungs- und Gerichtssprache gesetzlich festgelegt und wurde im Artikel 31 im Jahre 1791 noch einmal bestätigt. 5 Der größte Teil dieses Quellenmaterials ist editiert in Sándor Domanovszky (Hg.), József Nádor iratai, Bd. 1: 1792–1804 [Schriften des Palatin Josephs]. Budapest 1925; Elemér Mályusz, Sándor Lipót Főherceg Nádor iratai. Budapest 1926; Gyula Szekfű (Hg.), Iratok a magyar államnyelv kérdésének történetéhez. 1790–1848 [Schriften zur Geschichte der Frage der ungarischen Staatssprache]. Budapest 1926.

Sprachreformen im Königreich Ungarn (1790–1806)

(zum Beispiel die Ungarische Spracherneuerung, Magyar Nyelvújítás), bleiben hier außer Acht. Im Allgemeinen sind die hier besprochenen politischen Bestrebungen und Forderungen in einem größeren Gesamtkontext des Übergangs von einem feudal-ständischen (natio Hungarica) und einem territorialinstitutionellen Hungarus-Bewusstsein zu einem sprachlich-kulturellen Identitätskonzept („nationale Identitäten“) einzuordnen.6 Der Terminus „Nation“ konnte im 18. Jahrhundert zahlreiche Bedeutungen haben, von denen wir im Folgenden der Einfachheit halber zwischen zwei Typen unterscheiden: erstens, die traditionelle Auslegung als horizontale Bezeichnung der politisch einflussnehmenden Stände mit Sitz in der Landesversammlung (diaeta, országgyűlés, Ständeversammlung, Parlament, Reichs- oder Landtag), und zweitens, im modernen vertikalen Sinne als Identifizierung mit einer Gemeinschaft vereint durch gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte, Traditionen und Werte. Um dieser Doppeldeutigkeit gerecht zu werden, wird im Folgenden der Terminus „Nation“ stets zu erläutern sein. Ähnlich mehrdeutig sind auch die Termini „magyarisch“, „ungarisch“ und „Ungarisch“: „Magyarisch“ bezeichnet in diesem Beitrag grundsätzlich die Identität einer durch Sprache, Kultur und Geschichte verbundenen Ethnie. Das Adjektiv „ungarisch“ wird hingegen zumeist im feudal-ständischen Sinne gebraucht, etwa „ungarische Stände“, während Ungarisch als Nomen immer die Sprache meint. Auch „Ungarn“ als politisch-geographisches Gebilde erfordert eine kurze Erläuterung. Das Königreich Ungarn beziehungsweise die Länder der Stephanskrone vereinten verschiedene Herrschaftsgebiete wie das Großfürstentum Siebenbürgen,7 das Königreich Kroatien, Slavonien und Dalmatien, das Temescher Banat, die Stadt Fiume, die Militärgrenze und das ungarische „Kernland“ selbst, bestehend aus dem Großteil des heutigen Staatsgebiets, der südlichen Slowakei und dem österreichischen Burgenland. Für die folgenden 6 Diese Einteilung orientiert sich an Ferenc Bíró, A legnagyobb pennaháború. Kazinczy Ferenc és a nyelvkérdés [Der größte Kampf der Schreibfedern. Ferenc Kazinczy und die Sprachenfrage]. Budapest 2010, 16–20. Bíró fasst drei „Gemeinschaftskonzepte“ (közösségfogalom) zusammen, welche die Sprachenbewegung in ihren unterschiedlichen Facetten prägte: Natio Hungarica, welche ein feudal-ständisches Bewusstsein und das Bekenntnis zur Habsburgermonarchie als Garant für Sicherheit und Größe prägte; Hungarus-Bewusstsein, welches sich zwar nicht über feudal-ständisches Bewusstsein definiert, aber sich mit den Institutionen des Königreiches verbunden fühlte und einen territorialen Patriotismus (területelvű hazafiság) vertrat; eine sprachlich-kulturelle Nationalbewegung (nyelvi-kultúralis nemzetfogalom), welche – wie der Name schon andeutet – die Nation über eine gemeinsame Sprache und Kultur identifizierte, während die beiden ersten Formen Sprache als nebensächlich erachteten. Da die Grenzen fließend waren und sich auch Akteure zwischen diesen bewegten, wird auf diese Unterscheidung in diesem Artikel verzichtet, es soll aber der Vollständigkeit halber und zur Verdeutlichung der Problematik des Nationskonzepts im Königreich Ungarn um 1800 nicht unerwähnt bleiben. 7 Siebenbürgen war zunächst ein Fürstentum und ab 1765 ein Großfürstentum.

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Ausführungen ist es ausreichend, wenn zwischen den drei großen Teilen des Reiches, dem ungarischen Kernland, Siebenbürgen und dem Königreich Kroatien, Slavonien und Dalmatien unterschieden wird. Vorgeschichte: der Weg zum Sprachenkonflikt Das Königreich Ungarn war ein heterogenes, multikonfessionelles und polyglottes Herrschaftsgebilde in Zentral-, Ost- und Südosteuropa; ein Reich der multisms. 1787 lebten im gesamten Reich laut der Josephinischen Landesaufnahme über neun Millionen Menschen, davon wohnten in den ungarischen Ländern einschließlich des Königreichs Kroatien, Slavonien und Dalmatien fast 6,5 Millionen, in Siebenbürgen 1,44 Millionen und in den Gebieten der Militärgrenze samt den im Reich stationierten Soldaten noch einmal eine Million Menschen.8 Als Teil der Habsburgermonarchie bildete es somit einen Vielvölkerstaat in einem Vielvölkerstaat. Gesprochen wurden hier (in alphabetischer Reihenfolge): Armenisch, Deutsch, Griechisch, „Kroatisch“9 , Latein, Rumänisch, Ruthenisch (Ukrainisch), Serbisch, Slawonisch, Slowakisch, Slowenisch, Ungarisch und weitere kleinere Sprachen. Ungarisch bildete zwar die größte Sprachgruppe, blieb aber mit lediglich 40 % der Sprechenden ohne Mehrheit.10 Hinzu kam noch, dass viele Bewohnerinnen und Bewohner nicht nur eine, sondern mehrere Alltagssprachen nutzten. Selbst auf dem Land waren die Ortschaften nicht selten zwei- oder sogar dreisprachig und je größer der Ort, desto größer die Sprachenvielfalt.11 Als sich Mitte des 18. Jahrhunderts das moderne Konzept von Nationalidentitäten gegenüber den zuvor dominanten Identitätsmodellen einer feudal-ständischen Gesellschaft langsam durchsetzte, entbrannte auch 8 Vgl. Béla K. Király, Hungary in the Late Eighteenth Century. The Decline of Enlightened Despotism. New York – London 1969, 242; Appendix B. Király entnimmt seine Informationen dem Zensus der Josephinischen Landesaufnahme; Magyar Nemzeti Levéltár, [Ungarisches Staatsarchiv], Locumtenentiale 2900 (1788), Conscr. No. 8. Für eine detaillierte Aufschlüsselung siehe Gusztáv Thirring, Magyarország népessége II. József korában [Ungarns Bevölkerung zur Zeit Joseph II.]. Budapest 1938 und Dezső Dányi / Zoltán Dávid, Az első magyarországi népszámlálás (1784–1787). Budapest 1960. 9 Die Sprache ist deshalb hier in Anführungszeichen gesetzt, weil sie aus drei Hauptdialekten bestand: Čakavisch, Kajkavisch und Štokavisch. Letzterer wurde dann zu Standardsprache, was heute als Kroatisch verstanden wird. Im hiesigen Artikel wird Kroatisch kumulativ für alle drei Varianten verwendet. 10 Vgl. István Margócsy, When Language Became Ideology. Hungary in the Eighteenth Century. In: Almási / Šubarić (Hg.), Latin, wie Anm. 2, 30. 11 Vgl. Domokos Kosáry, Művelődés a XVIII. századi Magyarországon [Bildung im Ungarn des 18. Jahrhunderts]. Budapest 3 1996, 63.

Sprachreformen im Königreich Ungarn (1790–1806)

ein Sprachenkampf im Königreich, deren Wurzeln und Entwicklungen in diesem Abschnitt zum Grundverständnis der Sprachenproblematik in Ungarn zusammengefasst werden sollen. Latein war seit dem heiligen König Stephan I. (969–1038) Verwaltungssprache im Königreich. Während der Dreiteilung des Reiches nach der Schlacht bei Mohács 1526 war es aber hauptsächlich im westlichen, habsburgischen Teil Verwaltungssprache; im mittleren waren Türkisch und Ungarisch und im östlichen Teil Ungarisch, Deutsch und Latein vorherrschend.12 Mit der Eingliederung dieser beiden Teile in die Habsburgermonarchie wurde auch hier wieder Latein als Staatssprache eingeführt. Dies war jedoch nicht gleichbedeutend damit, dass diese Sprache die allgemeine Vernakular- und Kommunikationssprache bildete. Tatsächlich dürfte die Zahl derer, die Latein aktiv sprachen, sehr gering gewesen sein. Sie war auch keine Muttersprache, sondern lediglich Sekundärsprache. Ob und wie gut jemand im 18. Jahrhundert diese Sprache beherrschte, hing von der sozialen, geographischen und geschlechtlichen Zugehörigkeit ab. Latein, wenn auch fehlerhaftes und bruchstückhaftes, sprachen im Alltag selbst die sogenannten Armalistae, das waren verarmte landlose, aber wehr- und steuerpflichtige Adelige, um ihre Standeszugehörigkeit und (zumeist niedrige) Bildung gegenüber den nicht-adeligen und illiteraten Nachbarn zu unterstreichen.13 Ferner war Latein als Unterrichtssprache in den Mittelschulen, den Lyzeen und der einzigen Universität des Landes (bis 1777 in Trnva, 1777–1784 in Buda, ab 1784 in Pest) sowie für politisch-administrative Angelegenheiten in Gebrauch. Als Teil der europäischen Res publica Litteraria nutzten freilich ebenso die Gelehrten Latein. Im Zuge des Aufkommens einer nationalen Gelehrsamkeit schrieben diese vermehrt in der eigenen Muttersprache. Immer häufiger machte es ein Autor vom Zielpublikum abhängig, ob er in dem innerhalb der gesamten europäischen Gelehrtenrepublik bekannten Lateinischen, dem in Europa ebenfalls weitverbreiteten Deutschen oder den nur innerhalb der eigenen Ethnie verständlichen Sprachen wie Ungarisch, Slowenisch oder Rumänisch publizierte. Frauen lernten selbst in den höchsten Schichten kein Latein.14

12 Vgl. István Tóth, Hungarian Culture in the Early Modern Age. In: László Kósa (Hg.), A Cultural History of Hungary. From the Beginnings to the Eighteenth Century. Budapest 1999, 210–211. 13 Vgl. Gábor Vermes, Hungarian Culture and Politics in the Habsburg Monarchy, 1711–1848. Budapest – New York 2014, 64. Zu Gebrauch und Qualität von Latein selbst siehe István Tóth, Latin as a Spoken Language in Hungary during the Seventeenth and Eighteenth Centuries. In: CEU History Department Yearbook 1997/98 (1999), 93–111. 14 Vgl. Vermes, Hungarian, wie Anm. 13, 64.

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Der gesamte mittlere und höhere Bildungssektor, mit Ausnahme einiger protestantischer und orthodoxer Schulen,15 und die Politik und Verwaltung waren latinisiert. Diese Sprachenregelung entsprang der (Re-)Integration der zur Stephanskrone zählenden Reichsteile in die Habsburgermonarchie, die sich ihrerseits vor allem als katholisch begriff, in Folge des Friedens von Karlowitz im Jahr 1699. So war Latein die Sprache der katholischen Kirche, welche die Oberaufsicht über wichtige Schlüsselfunktionen im multikonfessionellen Ungarn zugesprochen bekam.16 Ziel dieser restriktiven Politik war eine Kontrolle der nicht-katholischen, insbesondere protestantischen Konfessionen, wenn diese schon nicht – anders als in den österreichischen Erbländern – verboten werden konnten.17 Die Folge war die Latinisierung des gesamten Bildungssektors ab der Sekundärstufe. Die Proteste gegen diese Sprachenpolitik waren im gesamten 18. Jahrhundert laut. Die nicht-katholischen Eliten befürchteten eine Kontrolle des Staats- und Bildungswesens durch die katholische Kirche, progressivere Wortführer kritisierten wiederum die Rückständigkeit dieser schon damals als „tot“ bezeichneten Sprache. Die Vertreter frühnationaler Interessen wollten hingegen aus Prinzip jede Sprache, so auch Latein, als Staatssprache verhindern, solange es nicht die eigene war. Deutsch sollte dann im Zuge der theresianischen und josephinischen Reformen an die Stelle Lateins treten. Damit war aber nicht das Deutsch einer der im Reich vertretenen Subgruppen, sondern das Deutsch des Wiener Hofes 15 Das soll nicht heißen, dass sich die protestantischen Schulen grundsätzlich mehr den lokalen Vernakularsprachen zuwandten. Tatsächlich war das Curriculum an den kalvinistischen Sekundärschulen noch restriktiver als in den katholischen. So war hier Latein die einzig erlaubte Unterrichtssprache, Ungarisch folglich verboten und die Unterrichtsinhalte und -methoden vergleichbar mit jenen an den Jesuitenschulen; vgl. ebd., 62. 16 Die konfessionelle Frage war hier ebenso heikel wie die der Sprache, und beide hingen eng zusammen. Der größte Teil der allein im Kernland Ungarns und dem Königreich Kroatien, Slavonien und Dalmatien Lebenden war katholisch (vier Millionen, römische und unierte zusammengenommen), gefolgt von knapp einer Million Calvinisten, rund 830.000 GriechischOrthodoxen und etwas mehr als 600.000 Lutheranern (Vgl. Király, Hungary, wie Anm. 8, 243; Appendix C.). Siebenbürgen hingegen war dominiert von einer protestantischen (Magyaren, Székler und Siebenbürger Sachsen) und orthodoxen (Rumänen) Mehrheit, weshalb auch die Vernakularsprachen eine größere Tradition im öffentlichen Leben hatten als in den anderen Teilen des Reiches. – Der Begriff „griechisch-orthodox“ ist nicht näher definiert. Aufgrund der hohen Zahl scheint es aber wahrscheinlich, dass Király ihn als Sammelbezeichnung für die verschiedenen orthodoxen Kirchen (serbisch, rumänisch, ruthenisch etc.) gebraucht. 17 Obwohl man im „Einrichtungswerk“ (1688–1690), dem Plan zur administrativ-politischen Eingliederung der neugewonnenen ungarischen Länder, eine Katholisierung der Protestanten vorsah, wich man hiervon wegen der Unerfüllbarkeit dieses Vorhabens wieder ab. János Kalmár / János J. Varga (Hg.), Einrichtungswerk des Königreichs Hungarn (1688–1690). Stuttgart 2010, 117.

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gemeint.18 Der Protest gegen die Einführung der deutschen Sprache ist deshalb nicht misszuverstehen mit einer generellen Feindschaft gegen die deutschsprachigen Gruppen im Reich, sondern es handelte sich dabei um eine politischkulturelle Opposition gegen die Wiener Zentralregierung. Wie explosiv die Stimmung bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert war, zeigt die vorsichtige Formulierung der Einführung der Deutschpflicht an den Schulen in der ersten Ratio educationis (1777), Paragraph 102: „Die Lehre der deutschen Sprachen möge mit der des Lateinischen verbunden werden.“19 Das Verhalten Josephs II. (1741–1790) trug nicht zur Entschärfung der Situation bei. Zunächst verweigerte er die Krönung zum ungarischen König, was als erster offener Affront gegen die Stände wahrgenommen wurde. Stattdessen ließ er die Stephanskrone nach Wien bringen; ein weiterer Affront. Dann rief er, genauso wie seine Mutter, den Landtag nicht mehr zusammen, was einer Entmachtung der Stände gleichkam. Mit der Germanisierungspolitik war dann der vorläufige Höhepunkt des Konflikts zwischen König und Stände erreicht. Am 18. Mai 1784 erging die Verordnung „zur Einführung des Gebrauches der deutschen Sprache bei allen öffentlichen Aemtern des Königreichs Hungarn“ durch den Bratislaver Statthaltereirat an die ungarischen Komitate. Diese folgte zwar keinen nationalen Intentionen, sondern dem pragmatischen Gedanken, die Verwaltung zu vereinfachen,20 dennoch bewerteten die intellektuellen Eliten und Stände des Reiches dies als einen weiteren Angriff auf die historische Selbstständigkeit des Königreiches. Die Formulierung des Dekrets goss noch zusätzlich Öl ins Feuer. So lesen wir gleich in den ersten Zeilen: Der Gebrauch einer todten Sprache, wie die lateinische ist, in allen Geschäften, zeiget genugsam, daß die Nazion noch nicht einen gewissen Grad der Aufklärung erreicht habe, indem er zum schweigenden Zeignisse dient, daß entweder die Nazionalsprache mangelhaft sei, oder daß kein anderes Volk in derselben lesen oder schreiben kann […]; ein noch

18 Im gesamten Reich der Stephanskrone lebten seit dem Mittelalter verschiedene deutschsprachige Gruppen. Zu den ältesten und nach wie vor wohl bekanntesten Gruppen zählen die der Siebenbürger Sachsen und die Zipser Deutschen in der heutigen Slowakei. Unter den jüngeren waren die Ländler in der Umgebung des Siebenbürgischen Sibiu (Hermannstadt), häufig deportierte Protestanten aus den österreichischen Erbländlern, die bis heute eine Minderheit in diesen Regionen bilden. Zudem kam es in Folge der „Kolonialisierungspolitik“ zu einem Zuzug habsburgertreuen Katholiken aus dem süddeutschen Raum, welche nach den Türkenkriegen verödete Landstriche wiederbesiedelten, um die Integration der Bevölkerung voranzutreiben. Es galt sowohl den katholischen Glauben als auch die deutsche Sprache und das habsburgische Wertesystem zu vermitteln. – Siehe hierzu: Gerhard Seewann, Geschichte der Deutschen in Ungarn, Bd. 1: Vom Mittelalter bis 1860. Marburg 2013. 19 Vgl. Ratio Educationis totiusque rei literariae per regnum Hungariae et provinciae eidem adnexas. Wien 1777, 148: „ut Latinitati studium Germaniae linguae […] societur.“ 20 Vgl. Brnardić, Enlightenment’s Choice, wie Anm. 3, 140.

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klärerer Beweis ist es, daß bei allen aufgeklärten Völkern der Gebrauch der lateinischen Sprache von den öffentlichen Geschäften verbannet worden ist.21

Latein nun auch gesetzlich zur toten Sprache zu deklarieren und gleichzeitig Ungarisch (hier als „Nazionalsprache“ bezeichnet!) einen Zivilisierungsgrad abzusprechen, schwächte und bestärkte gleichsam die Verfechter einer natio Hungarica, Hungarus- und Magyaren-Identität.22 Die Absprache eines aufgeklärten Zustandes des Königreiches traf einen wunden Punkt. Obwohl es in Ungarn eine Aufklärung gab, die direkt von den Ideen der französischen beeinflusst war,23 bestimmte das Gefühl einer wirtschaftlichen und kulturellen Rückständigkeit den öffentlichen Diskurs. Diese Selbstwahrnehmung bestimmte maßgeblich die Sprachenfrage und die magyarische Sprachenbewegung.24 So ist paradoxerweise oder gerade deshalb die Regierungszeit Josephs II. diejenige, in der die Zahl der ungarischsprachigen Publikationen exponentiell anstieg.25 Dass nicht Ungarisch, sondern Deutsch die Geschäftssprache werden sollte, begründet die Verordnung mit der mangelnden Verbreitung des Ungarischen innerhalb der Bevölkerung: Wenn die hungarische Sprache in dem Königreich Hungarn, und den dazu gehörigen Theilen, und in dem Großfürstenthume Siebenbirgen die allgemeine Landessprache wäre: so könnte man sich zwar derselben bei der Verwaltung öffentlicher Geschäfte bedienen; allein es ist bekannt, daß die deutsche und illirische Sprache mit ihren vielfältigen Dialekten, so auch die wallachische ebenfalls so sehr im Gebrauche sein, daß man die hungarische keineswegs für die allgemeine halten könne.26

Allerdings irrt der Text, wenn er weiter behauptet, das Deutsche sei bereits in den politischen und militärischen Geschäften üblich.27 Viele Verwaltungs21 Zitiert nach: Joseph Kropatschek (Hg.), Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II. für die K. K. Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze in einer Sistematischen Verbindung. Enthält die Verordnungen und Gesetze vom Jahre 1784, Bd. 7. Wien 1786, 929. 22 Vgl. Ambrus Miskolczy, „Hungarus Consciouness“ in the Age of Early Nationalism. In: Almási / Šubarić, (Hg.), Latin, wie Anm. 2, 76. 23 Siehe hierzu: Olga Penke, Filozofikus világtörténetek és történetfilozófiák. A francia és a magyar felvilágosodás [Philosophische Weltgeschichten und Geschichtsphilosophien. Die französische und die ungarische Aufklärung]. Budapest 2000. 24 Vgl. Daniela Haarmann, Die Ungarische Spracherneuerung. Einleitung in ein zentraleuropäisches Thema. In: Harald Heppner / Sabine Jesner (Hg.), The 18th Century as Period of Innovation. Yearbook of the Society for 18th Century Studies on South Eastern Europe 2 (2019), 38–39. 25 Vgl. Kosáry, Művelődés, wie Anm. 11, 531. 26 Zitiert nach Kropatschek (Hg.), Handbuch, wie Anm. 21, 930. 27 Vgl. ebd.

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beamte sprachen kein Deutsch und mussten die Sprache erst erlernen, wie etwa der siebenbürgische Regierungsrat und Freizeitdichter Mihály Kenderesi (1758–1824), der hierfür eigens nach Bratislava und Wien reiste.28 Viel Zeit zum Nachholen der fehlenden Kenntnisse blieb nicht. Schon ab dem 1. November 1784 trat das Gesetz in Kraft und den Behörden wurde ein Jahr und den Landtagsabgeordneten sowie Anwälten und Richtern drei Jahre Toleranz zugesprochen, um den Übergang von Latein zu Deutsch zu vollziehen.29 Wer ab dem 1. November 1785, also mit Ablauf der Ein-JahresFrist, diese Sprache nicht beherrschte, dem sollte der Zugang zu sämtlichen weltlichen und kirchlichen Ämtern verschlossen bleiben.30 Im Bildungssektor war die Regelung sogar noch drastischer: „Es soll ferner vom 1. November 1784 kein Jüngling in die lateinische Schule gelassen werden, der nicht im Stande ist, darzuthun, daß er Deutsch lesen, und schreiben kann.“31 Die Proteste gegen diese Regelung waren denkbar laut. Die politischen Repräsentanten aller Teile des Reiches zeigten sich ungewohnt einig: Das Gesetz führe dazu, dass im administrativen Bereich die einheimischen, lokalen Beamten durch fremde aus dem Ausland ersetzt werden würden. Schließlich müsse ihre einzige Qualifikation sein, dass sie Deutsch könnten.32 Als dann 1787 ein weiterer Türkenkrieg ausbrach, war der Kaiser gezwungen, den ungarischen Ständen ein Zugeständnis zu machen, um sich ihrer militärischen Stärke in der Verteidigung des Reiches zu versichern.33 Am 28. Januar 1790, drei Wochen vor seinem Ableben, nahm Joseph II. die meisten seiner Reformen zurück, so auch die Deutschpflicht. Als der neue Kaiser Leopold II. (1747–1792) im Sommer 1790 nach 25 Jahren den Landtag erstmals wieder einberufen musste, war die Stimme der Vertreter einer sprach-kulturellen Magyarenidentität bereits so laut, dass sie nicht mehr ignoriert werden konnte. Diese Identitätsform war nicht neu, sondern – wie Ferenc Bíró betont – seit jeher präsent:34 Die kollektive Identitätsbildung der Magyaren hing schon vor dem Aufkommen des Konzepts moderner Nationalidentitäten eng mit der Sprache und Kultur zusammen, nicht zuletzt weil Sprache 28 Vgl. [ohne Verfasser], Erdélyi kormányszéki tanátsos Felső-Szálláspataki Kenderesi Mihály élete [Das Leben des siebenbürgischen Regierungsrates Mihály Kenderesy aus Felső-Szálláspatak]. In: Sas. Vegyes tárgyu iratok az olvasni és tudni méltí minden ágaibol tőbb tudósokkal egyesűlve [Adler. Verschiedene Schriften aus allen Zweigen des Lesens- und Wissenswerten mit zahlreichen Gelehrten zusammengestellt] 1 (1831), 137. 29 Vgl. Kropatschek (Hg.), Handbuch, wie Anm. 21, 932–935. 30 Vgl. ebd., 934. 31 Zitiert nach ebd., 935. 32 Vgl. Lav Šubarić, From the Aftermath of 1784 to the Illyrian Turn. The Slow Demise of the Offical Latin in Croatia. In: Almási / Šubarić (Hg.), Latin, wie Anm. 2, 194. 33 Vgl. ebd., 195. 34 Vgl. Bíró, Kazinczy Ferenc, wie Anm. 6, 17.

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und Kultur als einzige Auskunft über die Frühgeschichte der Magyaren geben konnten. Während andere Ethnien auf antiquarische Bodenfunde zurückgriffen und unter ihren Nachbarvölkern sprachliche Verwandte fanden, bildeten die Magyaren eine historisch-linguistische „Insel“ in Zentraleuropa, weshalb sie bereits seit dem Mittelalter bemüht waren, die magyarische Urheimat, die Magna Hungaria, weit östlich und nordöstlich des Karpatenbeckens anhand von Sprachvergleichen mit den dort ansässigen Völkern zu lokalisieren.35 Diese Isolation ließ im 18. Jahrhundert die Vorstellung einer permanenten Bedrohung der Magyaren von außen durch andere übermächtige Reiche oder Völker aufkommen. Konsequenterweise befanden sich die Magyaren – so erzählt es zumindest die traditionelle Historiographie – in einem stetigen „Freiheitskampf “ (ungarisch „szabadság harc“, eines der häufigsten Termini in der öffentlichen Rhetorik bis zum heutigen Tage). Diese Wahrnehmung wurde verschärft, als Johann Gottfried Herder (1744–1803) das Aussterben des Ungarischen prophezeite. Obwohl er bloß in einem Nebensatz die Möglichkeit eines vollständigen Verschwindens der Sprache in möglicherweise eintausend Jahren mutmaßte,36 bedienten sich einige magyarischen Standesvertreter diesen wenigen Worten Herders, um die Einführung des Ungarischen als Staatssprache zu argumentieren, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Ungarisch als Verwaltungs- und Verhandlungssprache Die beiden Landtage von 1790/91 und 1792, die Debatten innerhalb des Staatsrates und die Korrespondenzen zwischen den Zentralbehörden (Ungarische Hofkanzlei und Statthalterei) und Akteuren (Kaiser und Palatin) waren in den folgenden Jahren geprägt von der Sprachenfrage, was Gegenstand der Ausführungen in diesem Abschnitt sein soll. Wie verhärtet die Fronten schon im Sommer 1790 waren, zeigt der Umstand, dass József Batthyányi (1727–1799), Fürstprimas Ungarns, und József Ürményi (1741–1825), Obergespan (főispán) und Vorsitzender der Untertafel, ihre Eröffnungsreden auf Ungarisch hielten. Während im Oberhaus Lateinisch die ausschließliche Verhandlungssprache 35 Die berühmteste ist jene Reise des ungarischen Mönchs Julianus, der 1236 tatsächlich auf ein Volk an der Wolga und in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Wolgabulgaren stieß, welche eine dem magyarischen ähnliche Sprache sprach. Siehe hierzu: A. H. Chalikow, Auf der Suche nach „Magna Hungaria“. In: Hungarian Studies 2 (1986), 189–216; András Vizkelety, Julianus OP kapscolatfelvétele az ázsiai magyarokkal [Die Beziehungsaufnahme des Julianus OP mit den asiatischen Magyaren]. In: Studia Theologica Transsylvaniensia 15 (2012), 2, 57–55. 36 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Riga – Leipzig 1791, 20.

Sprachreformen im Königreich Ungarn (1790–1806)

Abb. 1 Deputierte der ungarischen Landesversammlung bei Leopold II (1790). Quelle: Nemzéti Közszolgaláti Egyetem, https://pak.uni-nke.hu/hirek/2019/06/14/ intezeti-szeminarium (abgerufen am 16.10.2019).

blieb, besprachen die magyarischen Repräsentanten des Unterhauses die gesamten Verhandlungsgegenstände tatsächlich auf Ungarisch.37 Wer diese Sprache nicht sprechen wollte oder konnte (etwa die kroatischen Delegierten), bediente sich weiterhin des Lateinischen, war aber von den ungarischen Debatten ausgeschlossen, die freilich jedoch auch sie betreffen konnten. Dies führte im Unterhaus zu denkbar lautstarken Disputen. Nicht nur war das sprachliche Chaos groß, sondern die nicht-magyarischen Repräsentanten beschwerten sich auch über die Bevorzugung des Ungarischen vor ihren Vernakularsprachen. So hieß es bereits am 11. Juni 1790, nur wenige Tage nach Eröffnung der Landtagsversammlung, dass „wenn plötzlich anstatt der gebräuchlichen lateinischen Sprache, die ungarische Sprache eingeführt werden solle […], manche Teile der bürgerlichen Gesellschaft gleich Geächtete (számkivetettek) wären“.38 Auch die folgenden Protokolle, die teils in Deutsch und teils in Latein gehalten sind, thematisieren die Problematik, wieso ausgerechnet 37 Gyula Szekfű, Bevezetés [Einführung]. In: Szekfű, Államnyelv, wie Anm. 5, 45. 38 Zitiert nach Szekfű, Államnyelv, wie Anm. 5, 213: „hogy ha ily hirtelen a szokásba volt deák nyelv helyett, a magyar béhoztattatnék, némely részei az ország lakosainak […], a polgári társaságba, mint egy számkivetettek lennének.“

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Ungarisch als eine Sprache ohne Mehrheit im Reich zur neuen Staatssprache erhoben werden solle. Die Gegenstimmen argumentierten mit der Minderheit an Ungarisch Sprechenden, den befürchteten Ausschreitungen sowie der Tradition Lateins im Reich: [Die Einführung von Ungarisch] ist eine Neuerung, die bei den Inwohnern des Königreichs Hungarn, als da sind, Deutsche, Illyrier, Sklavaken [sic], Kroaten, Raizen39 , Walachen und Russniaken, welche die Hungarn an Zahl beinahe dreimal übertreffen, eine gefährliche und ganz gewiss noch eine grössere Sensation machen würde, als die Einführung der deutschen Sprache gemacht hat. Anbei ist im besagten Königreich seit dem Jahre 1000. die lateinische Sprache immer die Geschäftssprache gewesen.40

Der aus einem ungarischen Adelsgeschlecht stammende Hofrat József Izdenczy (1733–1811) wiederholte hier im Oktober 1790 sein Votum vom Vormonat, wenn auch unter Änderung der Textreihung.41 Die von ihm befürchteten Proteste und Ausschreitungen sind freilich nicht von der Hand zu weisen. Es drohte ein nicht zu unterschätzender Konflikt zwischen den bislang im Königreich vergleichsweise friedlich zusammenlebenden Völkern. Insbesondere die kroatischen Vertreter befürchteten eine Magyarisierung. Latein wurde zu einem taktischen Instrument, um die Aspirationen der Magyaren einzudämmen, Ungarisch zu der neuen verpflichtenden Staatssprache des Königreiches zu machen.42 Trotz aller Mahnungen und Warnungen wurde im März 1791 der folgenreiche Artikel 16 verabschiedet, der die Einführung fremder Sprachen für die Abwicklung von öffentlichen Angelegenheiten verbat, die Beibehaltung des Ungarischen aber erlaubte.43 Der überwiegende Teil dieses Gesetzes behandelt die Einführung von Ungarisch an Schulen, weshalb wir im nächsten Abschnitt noch einmal auf diesen Artikel zurückkommen werden, doch findet sich am Ende ein kurzer Nebensatz, der für viel Streit auf Verwaltungsebene sorgen

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Gemeint sind Serben, Eindeutschung der alten ungarischen Bezeichnung Rácok. Ebd., 225. Vgl. ebd., 220–221. Almási / Šubarić, Introduction. In: dies. (Hg.), Latin, wie Anm. 2, 22. Artikel 16 (1791): „De lingua peregrina ad manipulationem negotiorum publicorum non inducenda, Hungarica vero conservanda. Sua Mtas Sma fideles SS. Et OO. De non introducenda pro negotiis quibuscunque lingua peregrina securos reddit; ut autem nativa lingua Hungarica magis propagetur et expoliatur, gymnasiis, academiss et universitate Hungarica peculiaris professor linguae et styli Hungarici constituetur, ut illi, qui eandem ignorant et condiscere volunt, vel vero ejusdem linguae jam gnari, in hac sese perficere cupiunt, occasionem nanciscantur utrobique vota sua explendi; dicasterialia negotia autem idiomate latino nunc adhuc pertractanda venient.“ – Zitiert nach Szekfű, Államnyelv, wie Anm. 5, 229.

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sollte: „dicasterialia negota autem idiomate latino nunc adhuc pertractanda venient.“44 Die Diakestrialangelegenheiten sollten also weiter auf Latein geführt werden, obwohl im Gesetzestitel die Beibehaltung des Ungarischen versprochen wurde. So erkundigte sich der Obergespan des Komitats Torna, József Graf Keglevich, bei der Ungarischen Hofkanzlei, ob die Komitatsprotokolle auf Latein eingesandt werden müssten oder doch, wie es zahlreiche magyarischen Obergespane forderten, auf Ungarisch. Die Kanzlei wollte im Sinne der magyarischen Stände entscheiden, da nur die Resultate die Dikasterialangelegenheiten betreffen würden, und die Sprache – ganz nach der Herder’schen Prophezeiung – vom Aussterben bedroht sei: Unmöglich kann Eurer M[ajestät] misfallen dass die Nation auf die Beförderung und Vervollkommung ihrer Sprache einen so grossen, wie es jetzt geschieht, Wert setzt. Dieses Bestreben ist jetzt vielleicht überspannt, aber nur kürzlich glaubte die Nation, in der Gefahr zu sein, dass ihre Sprache vielleicht ganz in Vergessenheit kommen werde.45

Ferner sei es „[d]em Dienst E. M. […] gleichgültig, ob die Protokolle in einer, oder der anderen Sprache verfasst werden, wenn nur deren Schlüsse der höchsten Absicht entsprechen.“46 Der Entschluss lag allerdings beim Staatsrat, der sich gegen die Empfehlung der Kanzlei stellte: Der Art. 16 des Landtags sagt am Schlusse ganz klar und wörtlich: dicasterialia negotia autem idiomate latino nunc pertractanda venient. Komitatsprotokolle sind Dikasterialangelegenheiten, sie müssen also lateinisch behandelt werden, und man kann nicht zulassen, dass kaum nach geendigtem Landtage von dem Landtagsschlüssen abgegangen und dass sie verkünstelt interpretiert werden.47

Trotzdem sendeten einige Komitate ihre Protokolle auf Ungarisch an die Statthalterei ein, welche diese kommentarlos nach Wien weiterleitete. Dieses Vorgehen war gleichbedeutend mit einer behördlichen Bestätigung der Richtigkeit dieser Dokumente. Das verärgerte zunehmend den Kaiser Leopold, dem die Sprachenwahl offensichtlich nicht so gleichgültig war, wie es die Ungarische Hofkanzlei behauptete. Im November 1791 beschwerte er sich beim Palatin darüber und forderte die Durchsetzung des Artikels 16.48 Der Palatin reagierte jedoch zögerlich. Er vertrat eher die Stellung der Statthalterei, wonach sich das 44 45 46 47 48

Zitiert nach ebd. Zitiert nach ebd., 239. Zitiert nach ebd., 232. Zitiert nach ebd., 232. Vgl. Mályusz, Sándor, wie Anm. 5, 479.

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Gesetz nur auf die Angelegenheiten der Landesversammlung beziehe, nicht aber auf die Komitatsversammlungen, und bat daher den Kaiser, die Nutzung von Ungarisch zu erlauben.49 Damit gab sich der Kaiser aber nicht zufrieden und wiederholte seine Beschwerde nur drei Tage später, am 23. November 1791, vor dem Staatsrat: Er forderte diesen auf, sich der Problematik anzunehmen und dabei „alle Besorgnisse und Gehässigkeiten deswegen zu unterlassen“.50 Demnach wusste er um die aufgeheizte Stimmung im Königreich. Freilich war sich der Staatsrat bewusst, dass die Thematik sehr sensibel ist und man entweder den Kaiser verärgerte oder die magyarischen Stände. Doch auch dieser gab zu, dass das Gesetz nicht auf die Komitatsprotokolle übertragbar ist. Der einflussreiche Hofrat Sándor Paszthory (1749–1798)51 schlug daher vor, „man könnte sagen, dass S[eine] M[ajestät] iure supremae inspectionis die Protokolle in Person zu wünschen sehe“.52 Dazu müsste ein Exemplar in lateinischer Sprache eingesendet werden, während die Komitate die Ausfertigung für ihren Eigengebrauch auf Ungarisch halten könnten.53 Dem Vorschlag wurde schlussendlich zugestimmt.54 Damit war das Problem aber noch lange nicht gelöst, denn einige Obergespane weigerten sich weiterhin, die Protokolle auf Latein einzusenden. Knapp ein Jahr nach der Beschwerde des Kaisers Leopold brannte das Thema im Staatsrat erneut auf. Dieser betonte wiederum, dass man den Komitaten nicht die Abfassung auf Latein befehlen könne; und erneut unterstützte der Palatin diese Einwände. In einem Brief an seinen kaiserlichen Bruder Franz II./I. vom 27. Oktober 1792 begründete er seine Bedenken mit der Furcht vor Konflikten, was abermals auf die explosive Stimmung zwischen den magyarischen Ständen und den Regierungsbehörden verweist. Zudem sagte der Palatin offen, dass ein solcher Befehl wohl wirkungslos bleiben würde. Die Statthalterei selbst unterstützte weiterhin indirekt die Einsendung der ungarischsprachigen Protokolle. Indirekt war ihre Unterstützung dahingehend, dass sie die auf Ungarisch eingereichten Exemplare nicht an die Obergespane zurückschickte, sondern weiterleitete und damit erneut ihre formelle Richtigkeit bestätigte. Zur Rechtfertigung aufgefordert, begründete die Statthalterei ihr Vorgehen mit den Konflikten innerhalb der Landesversammlung, mit der daraus entstandenen Unsicherheit, wie die Gesetze auszulegen seien, und dann 49 Vgl. ebd. 50 Zitiert nach ebd., 494–495. 51 Paszthory überzeugte 1789 Kaiser Joseph II. davon, den Landtag wieder einzuberufen; vgl. Richard J. W. Evans, Austria, Hungary, and the Habsburgs. Essays on Central Europe, c. 1683–1867. Oxford – New York 2006, 180. 52 Zitiert nach Mályusz, Sándor, wie Anm. 5, 494. 53 Vgl. ebd. 54 Vgl. ebd., Anm. 1, 495.

Sprachreformen im Königreich Ungarn (1790–1806)

noch mit der Übersetzungsproblematik. So sei die Übertragung von längeren Protokollen ins Lateinische eine langwierige und verantwortungsvolle Aufgabe, da sich schnell Fehler und Unterschiede einschleichen könnten. Sie schlug daher vor, dass die Übersetzung der Protokolle von Ungarisch auf Latein in die Verantwortung des jeweiligen Obergespans übertragen werden möge, um ihre Authentizität zu gewährleisten.55 Ferner befürwortete die Statthalterei, wie dann auch der Referent in der ungarischen Hofkanzlei, Lájos Pogány, die Genehmigung von ungarischsprachigen Protokollen.56 Zeitgleich berichtete der Palatin seinem Bruder Franz II./I. erneut über den aktuellen Stand der Sprachendebatte. Die Komitate würden sich mit nichts anderem beschäftigen. Sogar Pest möchte jetzt anfangen, die Protokolle auf Ungarisch einzusenden. Der Palatin sah sich gegenüber diesem breiten Widerstands machtlos. Er könne nicht mehr tun, als weiter zu versuchen, die Komitate von der Einsendung von lateinischsprachigen Protokollen zu überzeugen.57 Das Problem blieb damit weiter ungelöst und so war es dann wenig überraschend, dass sich die Statthalterei im Januar 1793 erneut rechtfertigen musste, wieso sie die auf Ungarisch eingesandten Protokolle weiterhin unbeanstandet nach Wien weitersandte. Sie erklärte, dass nicht jeder Obergespan von der Nutzung des Lateins überzeugt werden könne. Zudem hätten auch frühere Herrscher ungarische Protokolle genehmigt, und der letzte Landtag habe Ungarisch als Geschäftssprache begrüßt. Sie habe lediglich versucht, den Gesetzesartikel 16 so auszulegen, dass Konflikte vermieden und die Komitate davon abgehalten werden, die Autorität des Königs anzugreifen. So würde die Statthalterei nur das Vertrauen zwischen dem Herrscher und der Nation bewahren. Wenn aber der Herrscher darauf bestünde, dass die Protokolle auf Latein zu verfassen seien, werde die Statthalterei diesem Befehl unverzüglich folgen.58 Die Kanzlei antwortete hierauf nur, dass sie die Argumente der Statthalterei bereits im November, bei ihrer ersten Rechtfertigung, widerlegt habe. Hofrat Izdenczy kommentierte den Vorfall zynisch mit den Worten „Arduum est malam causam bene tueri“.59 55 56 57 58 59

Vgl. ebd., Anm. 1, 557. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 566–567. Vgl. ebd., Anm. 1, 600. Vgl. ebd. – Izdenczy zitiert diesen Satz auch in seinem zweisprachigen Buch Joseph von Izdenczy, Gespräch zwischen einem durch Ungarn reisenden Fremden und einem unpartheyisch denkenden Ungarn über das Ende der Regierung weiland Kaiser Josephs des Zweyten und über die dermalige des Kaisers und Königs Leopold des Zweyten / Dialogus inter exterum quendam per Hungariam inter facientem, ac Hungarum nullo partium studio laborantem, de exitu regiminis divi olim Imperatoris Iosephi II. nec non de hodierno Imperatoris et Regis Leopoldi II. Regimine. S. l. 1790, 61.

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Diese Dispute zeigen nicht zuletzt, dass auch die Behörden und Akteure parteiisch agierten. Dennoch mussten am Ende jene Stellen einlenken, welche die magyarische Seite unterstützten, namentlich die Statthalterei und die Hofkanzlei. Ende Januar 1792 bestätigte der Hof Latein als einzig zulässige Sprache in den Protokollen.60 Danach beruhigte sich die Lage scheinbar, zumindest in den Dokumenten der jeweiligen Behörden taucht die Problematik der Protokollsprache nicht vor dem Jahr 1794 wieder auf. Dann berichtete erneut Izdenczy über den Zustand Ungarns während des Ersten Koalitionskrieges (1792–1797). Die Lage verschlimmere sich zunehmend, so der Hofrat, weil das Reich unter den Kriegslasten besonders leide. Dies sei an verschiedenen Punkten sichtbar, so unter anderem daran, dass einige Komitate sich weigerten, die Protokolle auf Latein einzusenden, oder überhaupt dem Kaiser und König vorzulegen.61 Dieser Widerstand war gleichzusetzen mit einer Anzweiflung der Herrschaftslegitimität des Souveräns. Trotz des Rückschlages in Belang der Komitatsprotokolle ersuchten die magyarischen Stände Ende September 1791 um die Erlaubnis, wenigstens die lateinischen Gesetzesartikel der Landtagssitzungen übersetzen zu dürfen. Man wolle damit ermöglichen, dass auch das „gemeine Volk“ die Gesetze verstehen könne und „das Band der Liebe zwischen der hung[arischen] Nazion und E[urer] M[ajestät] desto enger verbunden würde“.62 Denn anders als im 19. Jahrhundert, sprachen die Herrscher des 18. Jahrhunderts noch nicht die quantitativ größten Umgangssprachen des Reiches. Der Bitte gab Kaiser Leopold statt, allerdings erweiterte er sie um sämtliche im Land gebräuchliche Sprachen. Um aber die Gefahr von Übersetzungsfehlern und daraus resultierende Rechtsstreitereien zu verhindern, waren nur die lateinischen „Originalvarianten“ der Gesetze rechtsverbindlich.63 Dass alle Sprachen hier berücksichtigt wurden, begründete der Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz (1711–1794) mit ihrer Gleichberechtigung gegenüber dem Ungarischen.64 Wiederum ist hier die Furcht in Wien zu erkennen, dass es zu Konflikten zwischen den verschiedenen Ständen und Volksgruppen im Königreich Ungarn kommen würde, wenn man einer Sprache den Vorzug gäbe. Die Zuspitzung der ganzen Entwicklungen ist zu dieser Zeit tatsächlich bereits deutlich wahrzunehmen. Doch trotz aller drohenden Konflikte und Proteste wurde der Plan einer schrittweisen Magyarisierung des Verwaltungsapparates konsequent verfolgt, 60 61 62 63 64

Vgl. nach Mályusz, Sándor, wie Anm. 5, 600–601. Vgl. ebd., 692. Zitiert nach Szekfű, Államnyelv, wie Anm. 5, 236. Vgl. ebd., 237. Vgl. ebd.: „sehe auch nichts bedenkliches darin, dass die ung. Landesgesetze in allenfalls in die Sprachen der übrigen eingesessenen und eben daher ein gleiches Recht dazu habenden Nazionen übersetzt werden.“

Sprachreformen im Königreich Ungarn (1790–1806)

auch wenn die Sprachenfrage in den letzten Jahren der 1790er- und den ersten der 1800er-Jahre in den Quellen der Zentralenbehörden keine große Rolle mehr einzunehmen schien. Mit der erneuten Ständeversammlung im Jahr 1805 schritt man dann zur Realisierung: Der Artikel 4 desselben Jahres erlaubte innerhalb des Reiches Ungarisch und Latein als Korrespondenzsprachen für administrative Zwecke.65 Damit fanden die Dispute um die Protokollsprache einen vorläufigen Abschluss. Bis heute sind die praktischen Konsequenzen dieses Gesetzes sichtbar: Die nach Wien gesandten Protokolle sind in der Regel dreisprachig. Sie enthalten den ungarischen Bericht, eine lateinische Übersetzung und dann eine von der jeweiligen Wiener Behörde beigefügte deutsche Zusammenfassung. Als Reaktion verbat der kroatische Sobor 1805 jede Sprache, explizit aber das Ungarische, in Verwaltung und Justiz innerhalb Kroatiens für immer und ewig;66 allein Latein sollte für die gesamte öffentliche Administration zugelassen sein. Nur zwei Jahre später übertrafen dann die Landesinteressen die Sprachinteressen und die kroatischen Stände suchten nach einem neuen Kompromiss: Solange es das eigene Königreich nicht betraf, könne Latein ruhig in den anderen Reichsteilen abgeschafft und durch das Ungarische ersetzt werden. Diesen Kompromissvorschlag lehnten die Magyaren allerdings ab.67 Die Beschlüsse dieser Jahre verweisen erneut auf die zunehmend explosive Stimmung innerhalb des Königreichs Ungarn. So ist festzuhalten, dass in den Jahren zwischen 1790 und 1805 eine schrittweise Einführung des Ungarischen als Verhandlungssprache in Regierungs-, Administrations- und Gerichtsangelegenheiten erfolgte. Wie schnell dieser Prozess teils vorrückte, bezeugt auch ein Zitat des Kaiser Franz II./I. an den neuen Palatin Joseph im Jahre 1795. In seinen „Instruktionen für meinen Bruder“ rät er diesem unter anderem: „Eben so mußt Du Dich auf die hungarische Sprache verlegen, deren du bei den Gerichten wenigstens zu Verstehung der Dokumente und bei den Landtägen bedarfst.“68 Das Beherrschen der ungarischen Sprache war demnach bereits Mitte der 1790er-Jahre unumgänglich. Um dies zu gewährleisten, war die Unterrichtung des großen Teils jener Akteure des öffentlichen Lebens und des Gerichtswesens notwendig, welche die Sprache nicht beherrschten. Dies verlangte neben der in diesem Abschnitt dargestellten schrittweise Magyarisierung des Verwaltungs- und Gerichtsapparates auch die Mitwirkung des Bildungssektors, worüber der nächste Teil handelt. 65 Vgl. ebd., 276. 66 „ne in Regnis his eorundemque seu negotiis seu iuridicis seu politicis ullo unquam tempore linguae Hungariae aut cuiuscumque alterius praeter solam Latinam usus fiat.“ Zitiert nach ebd., 207. 67 Vgl. ebd., 207. 68 Zitiert nach Domanovszky, József, wie Anm. 5, 27.

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Ungarisch als Schul- und Bildungssprache Wenn auch die Einführung als Verwaltungs- und Verhandlungssprache in staatlichen Angelegenheiten auf dem Landtag von 1790/91 zunächst zwar erfolglos blieb, so verfügte der genannte Artikel 16 doch die Einführung des Ungarischen an den höheren Schulen („gymnasiis, academiis et universitate Hungarica“).69 Nur einen Monat später wurde der Lehrstuhl für die deutsche Sprache und Literatur in einen für die ungarische umgewidmet.70 Dieser Schritt war freilich ein klares Zeichen gegen die Politik des ungeliebten Joseph II. und für die Magyarisierung. Die ungarische Statthalterei sorgte dennoch dafür, dass es zu keinem radikalen Bruch kam, indem sie verfügte, „dass auch für fremde Sprachen Lehrer an der Universität angestellt werden möchten, unter diesen Sprachen aber die deutsche unstreitig den vorzüglichsten Platz verdiene“.71 Die fehlenden ungarischen Sprachkenntnisse innerhalb der nichtmagyarischen Bevölkerung sollte dann ein weiterer Gesetzesentwurf beheben. Darin wurde die Sprache als Pflichtfach ab dem ersten Schuljahr in den Primärschulen überall dort vorgeschlagen, wo Ungarisch nicht Muttersprache und nicht in Gebrauch war („quibus mater et communis non est“).72 Ein solches Gesetz kann nur darauf abgezielt haben, bei zukünftigen Diskussionen über Ungarisch als Staats- und Bildungssprache jene Einwände zu neutralisieren, die auf eine nicht allgemeine Kenntnis dieser Sprache innerhalb der Bevölkerung verwiesen. Es blieb allerdings bei einem Vorschlag, der dann nicht einmal weiter in den Gremien besprochen wurde.73 Stattdessen wurde in den höheren Schulen Ungarisch als ordentliches Fach („studium ordinarium“) obligatorisch eingeführt. Dies betraf allerdings nur die Akademien und die Universität in Pest innerhalb der Grenzen des ungarischen Königreiches („intra fines regni“), während „in partibus autem adnexis“ es lediglich ein außerordentliches Fach sein sollte.74 69 Zur Transkription siehe Anm. 1. 70 Vorab war dieser für die deutsche Sprache und Literatur gedacht und von dem aus Wien stammenden Leopold Alois Hoffmann, magyarisiert Lipót Alajos Hoffmann (1748–1806), gehalten, welcher bereits im Jahr zuvor einem Ruf an die Wiener Universität gefolgt war. – Lebensdaten nach József Szinnyei, A magyar írok élete és munkái [Leben und Arbeiten der ungarischen Schriftsteller]. Budapest 1896, nach der Online-Datenbank MEK (Magyar Elektronikus Könyvtár – Ungarische elektronische Bibliothek), https://mek.oszk.hu/03600/ 03630/html/h/h08442.htm (abgerufen am 04.10.2019). Laut diesem Eintrag studierte er auch an der Pester Universität, die gemessen an seinen Lebensdaten zu diesem Zeitpunkt noch in Trvna gewesen sein musste. 71 Zitiert nach Szekfű, Államnyelv, wie Anm. 5, 230. 72 Ebd., 247. 73 Vgl. ebd. 74 Vgl. ebd., 258–259.

Sprachreformen im Königreich Ungarn (1790–1806)

Dieser Gesetzesartikel 7 aus dem Jahr 1792 verfolgte explizit das Ziel, nach und nach öffentliche Ämter im Reich nur jenen zu verleihen, die entsprechende Ungarischkenntnisse besaßen („pedetentim publica munia intra regni limites nonnisi tales obtineant“).75 Zur Realisierung dieses Vorhabens empfahl dann die Hofkanzlei im Herbst des gleichen Jahres die Einsetzung von mehrsprachigen Lehrern. Wer eine Lehrkanzel für Ungarisch erhalten wollte, musste neben dem freilich obligatorischen Ungarisch und dem ohnehin vorausgesetzten Latein auch noch von der jeweiligen Region abhängige, zusätzliche Sprachkenntnisse mitbringen: der Lehrer in Košice Slowakisch, jener in Bratislava Slowakisch und Deutsch, in Zagreb Kroatisch und der Gymnasialprofessor in Rijeka Slowenisch.76 Zudem forderte die Hofkanzlei: „Endlich sei sämmtlichen lat. Professoren von Hungarn durch Behörden anempfohlen worden, die in ihren Schulen versammelte Jugend zum Gebrauch der hung. Sprache anzuhalten und zu verbreiten.“77 Die symbolische und realpolitische Bedeutung des Artikels 7 ist freilich nicht von der Hand zu weisen, machte er doch de facto sämtliche vorherigen Einwendungen, dass keine der im Reich gesprochenen Sprachen zu bevorzugen sei, zu Nichte. Auch deshalb hat der uns bereits bekannte Izdenczy dagegen geraten und sich hierzu eines Zitats von König Stephan I. bedient, das die Notwendigkeit von Mehrsprachigkeit als Grundlage für ein mächtiges Reich unterstreichen sollte: „Unius linguae uniusque moris regnum imbecille et fragile est.“78 Dennoch stimmte der Kaiser dem Vorschlag der Hofkanzlei zu. Praktisch schien aber das Vorhaben schwierig umzusetzen zu sein, weil ausgerechnet die Studierenden sich weigerten, die Sprachkurse zu besuchen. So berichtete die ungarische Kanzlei ein Jahr später über den Bezirk Košice etwa,

75 Zitiert nach ebd., 258–259; László Péter, Hungary’s Long Nineteenth Century. Constitutional and Democratic Traditions in a European Perspective. Leiden – Boston 2012, 189. 76 Vgl. Szekfű, Államnyelv, wie Anm. 5, 260. 77 Zitiert nach ebd., 260. 78 Zitiert nach ebd., 262. Dieser Satz ist Teil einer sehr berühmten Empfehlung des König Stephans, die er seinem Sohn Imre (geb. zwischen 1000 und 1007, gest. 1031) gegeben haben soll. Sie behandelt die Gastfreundschaft, wonach nur ein Reich und seine Bevölkerung erfolgreich sein könne, wenn es im kontinuierlichen Austausch mit anderen lebe und diese auch im Land begrüßen würde: „Sicut enim ex diversis partibus et proviciis veniunt hospites, ita diversas linguas et consuetudines, diversaque documenta et arma secum ducunt, que omnia regiam ornant et magnificant aulam, et perterritant exterorum arroganciam, nam unius linguae uniusque moris regnum imbecille et fragile est.“ – Zitiert nach S. Stephani regis de morum institutione ad Emericum ducem liber I, VI Emericus. In: Szentpétery (Hg.), Scriptores rerum Hungaricarum tempore ducum regumque stirpis Arpadianae gestarum, Bd. 2. Budapest 1938, 625.

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dass die Studien Direction angezeigt habe, es wären alle Mitteln angewendet worden, womit das Studium der hung. Sprache von der dazu verpflichteten Jugend gehörig besucht werde, allein alle Bemühungen seien bei der Caschauer akademischen Jugend dergestalten fruchtlos verschwunden, dass 78 derselben sich diesem Studio, ohne die Ursache ihres Ausbleibens anzugeben, entzogen haben.79

Die Studiendirektion befürchtete sogar, dass die im Artikel 7 (1792) geplante Besetzung aller öffentlicher Ämter mit Ungarisch sprechenden Männern scheitern würde, wenn das Gesetz nicht überarbeitet werde. Anders sehe man keine Möglichkeit, das Problem der „Schulschwänzer“ zu lösen. Daher schlug die Direktion vor, bereits in den Trivialschulen, das sind die Primärschulen, die Sprache zu unterrichten. Dieser Vorstoß erinnert an den oben genannten Gesetzesvorschlag zur Einführung des Ungarischen in den Primärschulen. Der Vizekanzler der Ungarischen Hofkanzlei Joseph Csáky verneinte mit der bereits in anderen Angelegenheiten bekannten Begründung, „weil in diesen Schulen sich häufig Lehrlinge von der gemeinen, verschiedene andere Sprachen, als die deutsche, schlawakische [sic], illyrische, wallachische, redenden Volksklassen befinden“.80 Diese werden folglich weder höhere Schulen besuchen, noch sich um öffentliche Ämter bewerben, sondern ein Handwerk erlernen oder in die Landwirtschaft gehen.81 Wenn auch in diesem Schreiben zunächst eine Absage an alle Punkte der Studiendirektion erteilt wurde, brannten die Wogen doch erneut hoch. Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz (1711–1794) schrieb etwa, die Forderung ausgerechnet Ungarisch zur Amtssprache zu erheben, ließe sich nur „mit dem bekannten System der Übelgesinnten erklären“.82 Die geforderten Mittel zur Durchsetzung des Ungarischunterrichts an Schulen sei „der deutlichste Beweis, dass die ung. Nation [alle Einwohner des Reiches; Anm.] keine so grosse Lust hat, diese Sprache zu erlernen“.83 Da keine Lösung gefunden werden konnte, verschob sich das Problem weiter. 1795 genehmigte der Staatsrat auf Anraten der Hofkanzlei weitere Geldmittel in Höhe von 10.300 Gulden für den ungarischen Sprachenunterricht im Reich, allerdings nicht bereitwillig. So kommentierte Izdenczy diesmal den Antrag der Hofkanzlei unverblümt mit den Worten, die Gelder „hätten wohl zu etwas besseren verwendet werden können“.84 Die Problematik blieb in den folgenden Jahren weiter ungelöst, wurde dann aber vom Palatin Joseph (1776–1847), der dieses Amt seit 1795 bekleidete, im 79 80 81 82 83 84

Zitiert nach Szekfű, Államnyelv, wie Anm. 5, 262–263. Zitiert nach ebd., 264. Vgl. ebd. Zitiert nach ebd., 266. Zitiert nach ebd., 267. Zitiert nach ebd., 269.

Sprachreformen im Königreich Ungarn (1790–1806)

Jahr 1801 in einem Brief an seinen kaiserlichen Bruder wieder aufgegriffen. Zur besseren Einordnung seines Schreibens muss erwähnt werden, dass das politische Tun und Streben von ihm und dem habsburgischen Hof in Bezug auf Ungarn vom Eindruck der Französischen Revolution im Allgemeinen und der Jakobinerverschwörung im Speziellen geleitet wurden.85 In dem genannten Brief kommentierte der Palatin einen Vorschlag der Ungarischen Hofkanzlei zur Reformierung des Schulwesens und sprach sich dabei gegen ein allgemeines Recht auf Zugang zu Bildung und zu höheren Schulen aus. Sowohl er als auch die Hofkanzlei befürchteten, dass dem Handwerksund Bauernstand nur Arbeitskräfte abhanden kämen und der Sittenverfall weiter fortschreite, wenn die Söhne dieser Stände in den Sekundär- und Tertiärsektor ohne größere Hürden zugelassen werden würden.86 So stimmte er dem Vorschlag der Kanzlei zu, Latein nur noch in den Gymnasien und nicht in den Normalschulen (Primärsektor, vergleichbar mit Volks- und Grundschulen, wo allerdings auch die Lehrerbildung stattfand) zu unterrichten.87 Allerdings sollte nach Ansicht der Hofkanzlei zumindest in den Normalschulen der größeren Märkte und Städten Grundkenntnisse des Lateinischen ab der dritten Klasse gelehrt werden.88 Als problematisch erachtete sie es, qualifizierte Lehrkräfte für Latein zu finden, und sie verwies hierbei auf die Notwendigkeit eines gründlichen Lateinstudiums wegen der Bedeutung dieser Sprache für die Staatsgeschäfte. Hierzu rief sie die uns wohlbekannte Causa von 1792 in Erinnerung, die darüber handelte, in welcher Sprache die Komitatsprotokolle zu verfassen seien.89 Deshalb schlug sie vor, dass der Lehrer der ungarischen Sprache Latein unterrichten solle, da dieser „ohnehin weniger beschäftigt ist“.90 Diesen Vorschlag der Hofkanzlei relativierte der Palatin allerdings, weil die Ungarischlehrer bereits mit der Supplierung der anderen Fächer, die durch Erkrankung des Lehrpersonals vakant sind, ausgelastet seien.91 85 1795 wurde die sogenannte Jakobinerverschwörung in Ungarn blutig niedergeschlagen. Zur ihr bekannte sich ein namhafter Anteil des ungarischen Hochadels und der Gelehrsamkeit, von denen zahlreiche Mitglieder entweder ihren Tod auf dem sogenannten Vérmező (Blutfeld) in Buda fanden oder zu bis zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden. 86 Vgl. Domanovszky, József, wie Anm. 5, 443–446. 87 Vgl. ebd., 444. 88 Vgl. ebd., 446. 89 Vgl. ebd.: „Diese Sprache [Latein] verdiene in Hungarn eine besondere Rücksicht, da sie hier nicht nur die Geschäftssprache ist, sondern selbst die Gesetze in solchen abgefaßt sind, und obgleich die Stände im Jahre 1792 begehret, daß die hung. Statthalterei jenen Landesbehörden, welche ihr hungarisch schreiben, auch in dieser Sprache antworten solle, und dieses Begehren von Euer Majestät bewilliget worden, so haben dennoch Euer Majestät erklärt, daß sie sich alle Gegenstände von denen Landesbehören in lateinischer Sprache vorlegen lassen.“ 90 Zitiert nach ebd., 446–447. 91 Vgl. ebd., 447.

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Ferner versuchte die Hofkanzlei erneut, Ungarisch als Pflichtfach im primären Bildungsbereich einzuführen. Nur mit entsprechenden Ungarischkenntnissen sollten die Schüler zu den Gymnasien zugelassen werden.92 Auch diesem Vorschlag stimmte der Palatin nicht zu. Er verwies dabei auf den schon bekannten Umstand, dass Ungarisch zwar die „eigentümliche Sprache des Landes [sei], jedoch keineswegs eine allgemeine, noch jene, die unter dem gemeinem Volke am meisten gesprochene wird“.93 Er sah den Ungarischunterricht im primären Bildungssektor „als minder nötig“ an, weil diese Schulen ohnehin nur von Bürgern, Bauern und vom kleineren Adel besucht werden würde.94 Nur auf den Gymnasien, auf welche die Schüler aus höheren Gesellschaftsschichten gingen, solle die Sprache unterrichtet werden.95 Allerdings war dies keine Absage an die magyarischen Ambitionen an sich, denn der Palatin forderte die gleichen Regelungen für die deutsche Sprache.96 Einzige Ausnahme sollten die Volksschulen, auch Nationalschulen97 genannt, in den größeren Städten des Landes bilden, weil hier der Unterricht von Ungarisch und Deutsch einen größeren Nutzen haben würde, nachdem diese Sprachen hier auch Verkehrssprachen seien.98 Es ging hier also erneut um die Abwägung eines Nützlichkeitsgedankens. Dass dieses Schreiben im Eindruck der revolutionären Ereignisse der Jahre davor und dem Aufstieg Napoleons steht, tritt nicht nur hervor, wenn der allgemeine Sittenverfall der Jugend kritisiert wird, der ganz im reaktionären Sinne der franziszeischen Zeit nur durch Religion und Sittenlehre bekämpft werden könnte.99 Dieser reaktionäre Gedanke ist auch ersichtlich, wenn sich der Palatin zu dem Vorschlag der Hofkanzlei äußert, eine gelehrte Gesellschaft zu gründen, die auch die ungarische Sprache befördern sollte.100 Im Gegensatz zu den vorhergehenden Initiativen, die von Privatleuten getragen worden waren und zumeist nach wenigen Jahren geendet hatten, handelte es sich hierbei um einen staatlichen Versuch, eine Sozietät zu gründen, wie man sie aus anderen 92 93 94 95 96 97

Vgl. ebd., 447, 449. Zitiert nach ebd., 447. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 447, 450. Vgl. ebd., 447. Nationalschulen, auch Haupt-Elementarschulen (scholae capitales) genannt, lehrten den Schülern den grundlegenden Fächer Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Normal- oder Musterschulen (scholae primariae vernaculae) unterrichteten noch zusätzlich Zeichnen, Musik und einige Katechismen der Religionslehre; vgl. Elek Fenyés, Statistik des Königreiches Ungarn, Bd. 1. Pest 1843, 75. 98 Vgl. ebd. 99 Vgl. ebd., 443. 100 Vgl. ebd., 451.

Sprachreformen im Königreich Ungarn (1790–1806)

Teilen Europas (etwa die Royal Society in London) kannte. Der Palatin erteilte diesem Ansuchen aber eine klare Absage. Zwar verwies er auf die nicht tragbaren Kosten, die ein solches Unternehmen bereiten würde, doch dürfte auch der Generalverdacht gegen jede Art von intellektuellen Zusammenkünften – seien es Freimaurerlogen, Salons oder Kaffeehäuser – gelegen haben. So entgegnete er trocken: Es würde zur Ausbildung der hungarischen Sprache hinreichen, wenn man im ganzen Lande circulariter publizirte, daß Euer Majestät nicht zweiffelln, daß sich mehrere Männer in selben finden würde, welche zu diesem Zweck führende Bücher schrieben, welche alsdann durch die Universitaets-Buchdruckerei gegen eine dem Verfasser zu gebenden Remuneration gedruckt würden.101

Der Vorteil von Publikationen anstatt persönlicher Treffen war aus habsburgischer Sicht freilich, dass die Zäsur eine gewisse Kontrolle der debattierten Inhalte erlaubte. Während die Gelehrtengesellschaft in Form der Ungarischen Akademie der Wissenschaften erst 1825 gegründet wurde, wurde die Sprachenfrage in der Bildungspolitik bereits mit der zweiten Ratio educationis des Jahres 1806 weiter manifestiert. Es scheint jedoch unwahrscheinlich, dass die Bildungssprache über zehn Jahre lang nicht thematisiert wurde, sodass hier noch zukünftige Archivstudien abzuwarten sind. Dessen ungeachtet gilt es zu betonen, dass sich gleich die ersten 30 Paragraphen der Umgangssprache in den Schulen („scholis vernaculis“) widmen. Dieser Umstand unterstreicht, von welcher zentralen Relevanz die Sprachenfrage inzwischen war. Zwar betont auch diese Ratio die Bedeutung der Sprachenvielfalt, aber genauso den herausragenden Stellenwert des Ungarischen als lingua patriae.102 Während die erste Ratio die Notwendigkeit von Deutsch noch unterschwellig formulierte, ist die zweite aus dem Jahr 1806 in Bezug auf das Ungarische direkter in dem schon eingangs zitierten Artikel 3: Der Gebrauch der Landessprache ist für jeden ungarischen Bürger von allgemeiner Bedeutung […]; darum ist ihre besondere und ununterbrochene Pflege überall in den Schulen heranzuziehen, sodass die ihre Kenntnis unter den Jünglingen in gleicher Weise und so schnell wie möglich zu verbreiten ist.103

101 Zitiert nach ebd., 452. 102 Vgl. István Mészáros, Ratio educationis. Az 1777-i és az 1806-i kiadás magyar nyelvű forditasa [Die ungarischsprachige Übersetzung der Ausgabe von 1777 und 1806]. Budapest 1981, 232, Anm. 167. 103 Ratio educationis 1806, wie Anm. 1, 6: „Linguae Patriae usum Civi Hungari esse omnio necessarium […]; idcirco cura ubique peculiaris, et continua erit in Scholis Hungariae adhibenda,

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Ferner legt der Artikel fest, dass überall dort, wo das Ungarische noch nicht gebräuchlich war, folglich die Schüler es nicht sprechen konnten, der Unterricht in der Muttersprache (nativa) zu führen sei.104 Zudem haben auch jene Schüler, die auf eine Lateinschule (Gymnasium) wechseln wollen, die Grundlagen der lateinischen Sprache bereits in der Primärstufe zu lernen, wie der nachfolgende Paragraph 4 festhält.105 Mit dem Umschwung auf das Ungarische als verpflichtende Landes- und Unterrichtssprache beziehungsweise als Lehrfach wollten die Autoren dem Vorbild von (vermeintlich) „kultivierteren europäischen Nationen“ („cultiorum in Europa Nationum“) folgen. So heißt es im Artikel 40, ihre Beispiele haben dazu gemahnt, dass es zu einer Entartung („degeneris“) führe, wenn die Sorge um die Pflege der Muttersprache („nativam linguam“) zurückgestellt werde.106 An dieser Stelle ist wiederum der gesamteuropäische Kontext sichtbar, in dem sich die Sprachenfrage im Königreich Ungarn bewegte. Zugleich zeigt sich aber auch die Austauschbarkeit der Begrifflichkeiten von Landessprache und Muttersprache, die in einem multilinguistischen Reich nie ident sein können. Wiederum nehmen die Reformprojekte dieser Jahre die Magyarisierung des Reiches in der zweiten Jahrhunderthälfte vorweg. Die Dispute um Ungarisch als Schulsprache kannten demnach ähnliche Argumente und Muster wie die um die Verwaltungs- und Verhandlungssprache. Nicht nur waren die Wortführer gegen die Einführung des Ungarischen als verpflichtende Bildungssprache dieselben Personen wie gegen die Einführung dieser Sprache in die Verwaltung, sondern auch ihre Argumente glichen sich: Sie befürchteten ein Zerwürfnis mit den anderssprachigen Ständen und Völkern des Reiches. Zwar beugten sich die politischen Entscheidungsträger dem Wunsch der magyarischen Stände im Bildungswesen früher als bei der Administration, aber sie bemühten sich um Gleichbehandlung, indem sie eine mehrsprachige Kompetenz bei den Lehrkräften in Sekundär- und Tertiärbereich forderten. Zwar schien in diesen beiden Bildungssektoren ein Kompromiss erzielt worden zu sein, aber im Primärbereich sorgte dies weiter für Diskussion. Allerdings war bereits mit Verabschiedung des Gesetzesartikels 7 klar, dass das Ziel nur sein konnte, die zukünftigen Staatsdiener mit ausreichend Ungarischkenntnissen auszustatten, damit sie in naher Zukunft die Staatsangelegenheiten auf Ungarisch abwickeln konnten. Somit hing die Frage nach Verwaltungs-, Verhandlungs- und Bildungssprache eng zusammen. ut illius cognitione Adolescentes partier, et quantocycus imbuantur.“ (Hervorhebungen wie im Original) – Bereits zitiert in Anm. 1. 104 Vgl. ebd. 105 Vgl. ebd., 6–7. 106 Vgl. ebd., 35.

Sprachreformen im Königreich Ungarn (1790–1806)

Fazit „1790 war der Triumph der natio hungarica, 1848 des modernen Ungarns“, schreibt Miszkolcy.107 Zumindest wurde im Jahr 1790 ein Kompromiss in der Frage erreicht, welche Sprache im Königreich Ungarn gesprochen werden sollte. Die erneute Wahl von Latein begründete sich darin, dass die Sprache keine im Reich lebende Ethnie repräsentierte und folglich keine Sprachgemeinschaft bevorzugte oder unterdrückte. Entsprechend forderten die kroatischen Stände die Beibehaltung von Latein, um sich sowohl vor einer Germanisierung als auch vor einer Magyarisierung zu schützen. Zudem ermöglichte Latein auch eine barrierefreie Kommunikation zwischen den verschiedenen administrativen Behörden innerhalb des Königreiches und mit dem Wiener Hof. Dieser Pragmatismus spiegelt sich auch im Stil des Lateinischen wider: Es ist kein literarisch ästhetisches Latein, wie es die großen Literaten Roms schrieben, sondern ein habsburgisches Verwaltungslatein. Paradoxerweise begann mit der Rückkehr zu Latein die Wegbereitung zur Einführung von Ungarisch als zumindest zusätzliche Verwaltungs- und Verhandlungssprache. Eine zentrale Voraussetzung für diesen Schritt war freilich, dass die Verwaltungsbeamten auch Ungarisch konnten. Hierzu war es notwendig, diese Sprache in den Schulen zu unterrichten. Ein Schwerpunkt der Debatten auf bildungspolitischer Ebene drehte sich um die Frage, ab welcher Schulstufe Ungarisch ein Pflichtfach sein sollte. Die Entscheidungsträger konnten sich im Endeffekt aber nur dazu durchdringen – trotz zahlreicher Vorbehalte –, es ab der Sekundärstufe einzuführen. Die Bedenken waren natürlich groß. Doch argumentierten die Gegenstimmen nicht mit dem Ziel der Unterdrückung der magyarischen Bestrebungen, wie so häufig in der Forschungsliteratur zu lesen ist, sondern mit der Sorge um zentrifugale Kräfte, welche die Integrität der Monarchie sprengen könnten. Die Akteure gegen die Bevorzugung von Ungarisch vor den anderen Sprachen des Königreiches waren dabei selbst häufig magyarischer Abstammung, etwa Izdenczy oder Paszthory, diese bekannten sich aber zu den Idealen der Monarchie und ihren feudal-ständischen Privilegien, anstatt ethnisch-nationale Interessen zu unterstützen. Ferner waren sie von einem pragmatischen Gedanken geleitet, dass Latein, als seit Jahrhunderten etablierte lingua franca des Reiches der Stephanskrone, eine einfache Kommunikation zwischen den politisch machthabenden Ständen, zwischen den Behörden innerhalb und außerhalb des Landes ermöglichte. Auch der offene Widerwille der nicht-magyarischen Schüler in einigen Komitaten verwies bereits auf die Explosivität dieser Problematik.

107 Miskolczy, Hungarus, wie Anm. 22, 93.

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Die Befürworter der magyarischen Lösung der Sprachenfrage berücksichtigten hingegen weder den pragmatischen Gedanken noch die Sorge um eine Diskriminierung anderer Völker. In ihren Argumenten und Sichtweisen kündigte sich bereits partiell eine erste Phase der radikalen Magyarisierung an, welche die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägen sollte. Ein Paradoxon hierbei ist, dass jene, die dies forderten, eigentlich durch die Erfahrungen der Germanisierungspolitik eine bessere Einsicht hätten haben müssen, welche Missstimmungen und Unterdrückungsgefühle aus so einer einseitigen Politik resultieren können. Überraschend hierbei war das parteiische Agieren der Behörden, insbesondere der Ungarischen Statthalterei, die sich gleich mehrmals rechtfertigen musste, wieso sie auf ungarisch verfasste Protokolle akzeptierte und weiterleitete. Doch auch die Ungarische Hofkanzlei handelte im Sinne der magyarischen Interessen und versuchte etwa, wie hier gezeigt wurde, Ungarisch im primären Bildungssektor als Unterrichtsfach einzuführen. Andere staatliche Institutionen und Akteure, wie etwa der Staatsrat, der Wiener Hof, der Kaiser und der Palatin waren hingegen um eine diplomatische und die Fronten beschwichtigende Lösungen bemüht (wenn auch der Tonfall in den vertraulichen Korrespondenzen und Gesprächen nicht selten direkter und gröber wurde). So ist abschließend festzuhalten, dass der hier untersuchte relative kurze Zeitraum von 1790 (erster Landtag seit 25 Jahren) bis 1806 (zweite Ratio educationis) als Vorläufer der Entwicklungen der 1830er- und 1840er-Jahre anzusehen ist, welche die Historiographie traditionell als eigentliche Phase der magyarischen Sprachenbewegung behandelt. Besonders die frühen 1790er-Jahre ebneten den Weg zur schrittweisen Einführung des Ungarischen im Staats- und Bildungssystem; ein Prozess, der mit der Erklärung des Ungarischen zur möglichen Korrespondenz- und Protokollsprache innerhalb des Reiches im Jahr 1805 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte und der schließlich mit der Erhebung zur einzigen Staatssprache des Königreiches im Jahr 1844 endete. Diese Entwicklung nahm dann mit der Zwangsmagyarisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, deren Wurzeln ebenso in den Debatten und Disputen des 18. Jahrhunderts bereits wahrnehmbar waren, ihre radikale Wendung. Die Resultate – im positiven wie im negativen Sinne – sind bis heute in den ehemaligen Teilgebieten der Stephanskrone sichtbar: die gelebte Polyglossie vieler Bewohnerinnen und Bewohner bis hin zu einer emotionalen Ablehnung des Magyarischen als Teil einer kollektiv-traumatischen Erinnerung.

Miszelle

Josef Löffler

Die Erforschung der theresianischen Reformen im ländlichen Raum Konzeptionelle Überlegungen zu einem Forschungsprojekt über Normimplementation in der Praxis

Ein so großes, die Abänderung der bisherigen Verfassung nebst der Ausrottung so vieler seit undenklichen Jahren an dem Hof wie in denen Ländern in Übung gewesten Mißbräuchund Unordnungen zum Endzweck habendes Werk kunte, wie leicht vorzusehen ware, bei dem im voraus darwider praeventierten Publico nichts anderes als Unlust und Widerwillen anfangs verursachen. In der Tat schrie auch alles darüber, sonderlich die Miliz, die Stände, der Adel und die herrschaftlichen Beamten.1

Einführung und Forschungsstand Die im Grunde genommen triviale Tatsache, dass zwischen einer Norm und deren Implementation in der Praxis eine Diskrepanz besteht,2 war Kaiserin Maria Theresia bei der Umsetzung ihrer Reformen nicht nur sehr wohl bewusst, sie setzte dies auch – wie das einführende Zitat aus einem ihrer beiden sogenannten politischen Testamente zeigt – gezielt in der Propaganda ihres Regierungshandelns ein.3 Insbesondere mit den beiden genannten apologetischen Texten gelang es ihr, zentrale Elemente ihres bis in die jüngere Vergangenheit stark von Topoi bestimmten Geschichtsbildes bereits selbst zu prägen: Die Kaiserin als fürsorgliche Landesmutter, die von äußeren und inneren Feinden 1 Denkschrift von 1755/56: Zweites „Politisches Testament“. In: Friedrich Walter (Hg.), Maria Theresia. Briefe und Aktenstücke in Auswahl. Darmstadt 2 1982, 108–130 (Nr. 88), hier 126. 2 Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates? In: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 647–663; Martin Dinges, Normsetzung als Praxis? Oder: Warum werden die Normen zur Sachkultur und zum Verhalten so häufig wiederholt und was bedeutet dies für den Prozess der „Sozialdisziplinierung“? In: Gerhard Jaritz (Hg.), Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Wien 1997, 39–53, hier 40f. 3 Barbara Stollberg-Rilinger, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. München 2 2017, 217–221, das direkte Zitat 218; Denkschrift von 1750/51: Erstes „Politisches Testament“ und Denkschrift von 1755/56: Zweites „Politisches Testament“. In: Walter (Hg.), Maria Theresia, wie Anm. 1, 63–97 (Nr. 72), 108–130 (Nr. 88). Vgl. Josef Kallbrunner (Hg.), Kaiserin Maria Theresias Politisches Testament. München 1952.

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bedrängt, allein auf Gott vertrauend, den Staat grundlegend reformiert und die Monarchie vor dem Untergang bewahrt habe.4 Während dieses Narrativ bereitwillig rezipiert wurde, ist die Frage, wie sich widerständiges Handeln abseits der ständischen Eliten auf der Ebene der Normunterworfenen in der Praxis tatsächlich gestaltete, bis dato in der Forschung stark unterbelichtet.5 Die Charakteristika und die Leistungen des theresianisch-josephinischen „Reformstaates“ gerieten vermehrt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Fokus der Historiographie, als die Reformära des vorangegangen Jahrhunderts vor dem Hintergrund der zeitgenössischen politischen Krisen zunehmend zu einer Projektionsfläche für die staatspolitischen Zielsetzungen der Gegenwart wurde. Maria Theresia selbst wurde in dieser Zeit – in Abgrenzung zu dem von ihrem Antipoden Friedrich II. personifizierten, als männlich konnotierten, preußischen „Machtstaat“ – zur Identifikationsfigur der zum „Kulturstaat“ konstruierten und mit dem Attribut des „weiblichen“ versehenen Habsburgermonarchie stilisiert.6 In der Spätphase der Habsburgermonarchie erschienen mehrere Lehrbücher für das auf die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte abzielende Fach „Österreichische Reichsgeschichte“ an den juridischen Fakultäten, die einen auch heute noch durchaus brauchbaren, allerdings kaum über die Ereignis- und Institutionengeschichte hinausgehenden Überblick über die theresianisch-josephinischen Reformen bieten.7 4 Siehe zum Geschichtsbild: Werner Suppanz, Maria Theresia. In: Emil Brix / Ernst Bruckmüller / Hannes Stekl (Hg.), Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten. Wien 2004, 26–47; Werner Telesko, Maria Theresia. Ein europäischer Mythos. Wien – Köln – Weimar 2012, insbes. 7–28, 129–144, 177–224; Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, wie Anm. 3, X–XXVIII. In einer aktuellen Biografie firmiert „Die Landesmutter“ nach wie vor als Kapitelüberschrift: Thomas Lau, Maria Theresia. Wien – Köln – Weimar 2016, 123–154. 5 Die einzige Studie, die sich – mit einem wesentlich längeren Untersuchungszeitraum – explizit mit dem Verhältnis von Untertanen, Grundherrschaft und Staat beschäftigt, ist Thomas Winkelbauer, Robot und Steuer. Die Untertanen der Waldviertler Grundherrschaften Gföhl und Altpölla zwischen feudaler Herrschaft und absolutistischem Staat (vom 16. Jahrhundert bis zum Vormärz). Wien 1986, insbes. 233–238. 6 Telesko, Maria Theresia, wie Anm. 4, 132–142. Vgl. Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, wie Anm. 3, X–XXIV. Der Höhepunkt der heroischen Geschichtsschreibung über Maria Theresia ist die zehnbändige Biografie Alfred Ritter von Arneth, Geschichte Maria Theresias, 10 Bde. Wien 1863–1879. Eine Mitte des 19. Jahrhunderts vom Juristen und wissenschaftlichen Außenseiter Ignaz Beidtel verfasste, explizit kritische Darstellung der theresianischen Reformen wurde erst Ende des Jahrhunderts aus dessen Nachlass publiziert: Ignaz Beidtel, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung 1740–1848, aus seinem Nachlasse herausgegeben von Alfons Huber, 2 Bde. Innsbruck 1896/98, hier Bd. 1. 7 Arnold Luschin von Ebengreuth, Grundriß der österreichischen Reichsgeschichte. Bamberg 1918, 323–368; Alfons Huber, Österreichische Reichsgeschichte, erweiterte und verbesserte Auflage aus dem Nachlaß hg. von Alfons Dopsch. Wien 2 1901, 233–267. Zur Geschichte der österreichischen Verfassungsgeschichtsschreibung siehe Michael Hochedlinger, Stiefkinder

Erforschung der theresianischen Reformen im ländlichen Raum

Mit dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs realisierten Großunternehmen der „Geschichte der Österreichischen Zentralverwaltung“ rückten die Reformen der obersten Behörden in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Aus dieser Perspektive urteilte Friedrich Walter, der Bearbeiter des Bandes über die Regierungszeit Maria Theresias, dass die Kaiserin und ihr maßgeblicher Ratgeber Friedrich Wilhelm Graf Haugwitz mit der Verwaltungsreform von 1748/49 geradezu „einen neuen Staat aufgerichtet“ hätten.8 Mit der Reform, die als Reaktion auf die in der Existenzkrise der Monarchie im Österreichischen Erbfolgekrieg zu Tage getretenen schweren strukturellen Defizite intendiert war, wurde – so die weithin anerkannte These – ein böhmisch-österreichischer „Kernstaat“ begründet.9 Nach 1945 wurde die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte vornehmlich eine Domäne der Juristen, abgesehen von den Beiträgen Friedrich Walters waren es in erster Linie auch Rechtshistoriker, die sich meist in Überblicksdarstellungen den theresianischen Staatsreformen – oft in Verbindung mit den Rechtsreformen – widmeten.10 Deren Urteil über die theresianisch-josephinischen Verwaltungsreformen war von Kontinuität geprägt, nach Werner Ogris ging es bei diesen „um nichts anderes, als den Ausbau und die Etablierung eines absolutistischen, zentralistischen und bürokratischen Machtstaates“.11 In der Geschichtswissenschaft rückten bei der Beschäftigung mit dieser Epoche vor allem geistes-, religions-, kultur- und sozialgeschichtliche Themen in Vordergrund. Einen Höhepunkt erreichte die Publikationsdichte zur Regierungszeit der Forschung. Verfassungs-, Verwaltungs-, und Behördengeschichte der frühneuzeitlichen Habsburgermonarchie. Probleme – Leistungen – Desiderate. In: Ders. / Thomas Winkelbauer (Hg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungsund Behördengeschichte der Frühen Neuzeit. Wien – München 2010, 293–394, hier 337–384, zur „Österreichischen Reichsgeschichte“ 351–359. 8 Friedrich Walter, Die österreichische Zentralverwaltung, II. Abt.: Von der Vereinigung der Österreichischen und Böhmischen Hofkanzlei bis zur Einrichtung der Ministerialverfassung (1749–1848), Bd. 1/1: Die Geschichte der österreichischen Zentralverwaltung in der Zeit Maria Theresias (1740–1780). Wien 1938, 192. 9 Friedrich Walter, Die Theresianische Staatsreform von 1749. Wien 1958, 60. 10 Werner Ogris, The Habsburg Monarchy in the Eighteenth Century: The Birth of the Modern Centralized State. In: Antonio Padoa-Schioppa (Hg.), Legislation and Justice. Oxford 1997, 313–334; ders., Staats- und Rechtsreformen. In: Walter Koschatzky (Hg.), Maria Theresia und ihre Zeit. Eine Darstellung der Epoche von 1740–1780 aus Anlaß der 200. Wiederkehr des Todestages der Kaiserin. Salzburg – Wien 1980, 56–66; ders., Recht und Staat bei Maria Theresia. In: ders. (Verf.), Elemente europäischer Rechtskultur. Rechtshistorische Aufsätze aus den Jahren 1961–2003, hg. von Thomas Olechowski. Wien – Köln – Weimar 2003, 97–123; Christoph Link, Die habsburgischen Erblande, die böhmischen Länder und Salzburg, in: Kurt G. A. Jeserich (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1. Stuttgart 1983, 516–532. 11 Ogris, Recht und Staat, wie Anm. 10, 99.

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Maria Theresias anlässlich des zweihundertjährigen Todestages der Kaiserin im Jahr 1980. Einige Beiträge behandeln Reformen in unterschiedlichen politischen oder gesellschaftlichen Bereichen, in der Regel werden diese aber isoliert und ohne analytische Verbindung dargestellt.12 In den zahlreichen Publikationen im Zusammenhang mit der 300. Wiederkehr des Geburtstags Maria Theresias im Jahr 2017 fanden die Reformen nur wenig Aufmerksamkeit.13 Eine Ausnahme ist die imposante Biografie von Barbara Stollberg-Rilinger, die die Reformtätigkeit aus der Perspektive aktueller kulturgeschichtlicher Forschungsansätze darstellt.14 Die jüngsten nennenswerten Publikationen, die die theresianischen Reformen aufgreifen, sind der auf die Zentralbehörden abzielende erste Band der Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie15 sowie die Monografie Pieter M. Judsons über die Habsburgermonarchie als Imperium zwischen 1740 und 1918. Judson sieht in den theresianischen Reformen einen entscheidenden Schritt zur Schaffung des habsburgischen Staates 12 Vgl. die einschlägigen Beiträge in den Sammelbänden Richard Georg Plaschka (Hg.), Österreich im Europa der Aufklärung. Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. Internationales Symposion in Wien, 20.–23. Oktober 1980, 2 Bde. Wien 1985; Herbert Matis (Hg.), Von der Glückseligkeit des Staates. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Österreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Berlin 1981; Koschatzky (Hg.), Maria Theresia, wie Anm. 10; Helmuth Feigl, Die Auswirkungen der Theresianisch-Josephinischen Reformen auf die Landwirtschaft und die ländliche Sozialstruktur Niederösterreichs. Vorträge und Diskussionen des ersten Symposiums des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde, Geras 9.–11. Oktober 1980. Wien 1982; Erich Zöllner (Hg.), Österreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Wien 1983. Einen konzisen Überblick über die Reformen – allerdings ohne Literaturbelege – bietet ein Jahrzehnt später Hamish M. Scott, Reform in the Habsburg Monarchy 1740–1790, in: ders. (Hg.), Enlightened Absolutism. Reform and Reformers in Later Eighteenth-Century Europe. Basingstoke/Hampshire 1990, 145–187. Vgl. außerdem die zusammenfassende Einordnung bei Karl Vocelka, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat. Österreichische Geschichte 1699–1815. Wien 2001, 354–366. 13 Obwohl sich die „Reformerin“ im Titel findet, werden beispielsweise im Katalog der größten Jubiläumsausstellung nur in zwei Beiträgen Reformen angesprochen: Karl Vocelka, Aufbruch in neue Zeiten. Der Reformeifer Maria Theresias. In: Elfriede Iby / Martin Mutschlechtner / Werner Telesko u. a. (Hg.), Maria Theresia. 1717–1780. Strategin – Mutter – Reformerin. Wien 2017, 44–56; Eva Kowalská, Schulwesen als Chefsache. Die Bildungsreform Maria Theresias. In: ebd., 64–68. Exemplarisch für die zahlreichen Neuerscheinungen Thomas Wallnig / Elisabeth Lobenwein / Franz-Stefan Seitschek (Hg.), Maria Theresia. Neue Perspektiven in der Forschung. Bochum 2017, insbes. die Rezensionen von Neuerscheinungen und Veranstaltungen 173–195. 14 Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, wie Anm. 3, 178–245, 682–742. 15 Insbes. Michael Hochedlinger, Die Maria-Theresianische Staatsreform. In: Ders. / Petr Maťa / Thomas Winkelbauer (Hg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Hof und Dynastie, Kaiser und Reich, Zentralverwaltungen, Kriegswesen und landesfürstliches Finanzwesen. Wien 2019, Teilband 1, 551–564 sowie zahlreiche weitere Beiträge in beiden Bänden (insbes. Kap. VI).

Erforschung der theresianischen Reformen im ländlichen Raum

aus einem „zufälligen Reich“, wobei er weniger die Staats- und Verwaltungsreformen im engeren Sinn als die staatlich forcierte Datenakkumulation durch Volkszählungen im Blick hat.16 Neben der umfangreichen Literatur zur Reform auf der zentralstaatlichen Ebene sind die Reformen der Behörden auf der Länderebene für einige Länder einigermaßen gut erforscht, der Schwerpunkt liegt auch hier auf der Behördengeschichte.17 Am schlechtesten ist der Forschungsstand auf der regionalen Ebene. Im Rahmen der Staatsreformen wurden die böhmischen Kreishauptmannschaften, die bereits nach dem Ständeaufstand der Jahre 1618 bis 1620 weitgehend dem Einfluss der Stände entzogen worden waren, als nunmehrige Kreisämter endgültig der landesfürstlichen Sphäre einverleibt.18 Nach deren Vorbild wurden in den österreichischen Ländern ebenfalls Kreisämter als staatliche Regionalbehörden eingerichtet. Deren wichtige Funktion für den Staatsbildungsprozess wird in der Literatur regelmäßig hervorgehoben,19 demgegenüber stehen allerdings nur wenige tiefergehende Forschungen.20 Dafür

16 Pieter M. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums. 1740–1918. München 3 2019, 48–66. Vgl. auch John Deak, Forging a Multinational State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War. Stanford 2015, 9–16, dessen Skizze der theresianischen Reformen in der Einleitung allerdings sehr traditionell ausfällt. 17 Gernot Peter Obersteiner, Theresianische Verwaltungsreformen im Herzogtum Steiermark. Die Repräsentation und Kammer (1749–1763) als neue Landesbehörde des aufgeklärten Absolutismus. Graz 1993; Franz Quarthal / Georg Wieland, Die Behördenorganisation Vorderösterreichs von 1753 bis 1805 und die Beamten in Verwaltung, Justiz und Unterrichtswesen. Bühl 1977. Zum Verhältnis von Staat und Länder siehe Hans Sturmberger, Der absolutistische Staat und die Länder in Österreich. In: Institut für Österreichkunde (Hg.), Der österreichische Föderalismus und seine Grundlagen. Wien 1969, 67–104, insbes. 85–92. 18 B(ohuslav) Rieger, Kreisverfassung in Böhmen. In: Ernst Mischler / Josef Ulbrich (Hg.), Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes, 4 Bde. Wien 2 1905–1909, Bd. 3, 250–271, hier 259–261. Siehe auch die grundlegende zweibändige Monografie von Bohuslav Rieger, Zřízení krajské v Čechách [Die Kreisverwaltung in Böhmen], Bd. 1: Historický vývoj do r. 1740 [Die historische Entwicklung bis zum Jahr 1740], Bd. 2: Ústrojí správy krajské v l. 1740–1792 [Das Gefüge der Kreisverfassung in den Jahren 1740–1792]. Praha 1889 und 1893. 19 Z. B. Helen Liebel-Weckowicz, Auf der Suche nach neuer Autorität: Raison d’Etat in den Verwaltungs- und Rechtsreformen Maria Theresias und Josephs II. In: Plaschka (Hg.), Österreich, wie Anm. 12, 339–364, hier 345f.; Hochedlinger, Stiefkinder, wie Anm. 7, 306. 20 Exemplarisch für die Steiermark Gernot Peter Obersteiner, Kreisamt und Kreishauptmann in der Steiermark nach 1748. Einrichtung und Tätigkeit der neuen landesfürstlichen Unterbehörden Maria Theresias. In: Herwig Ebner (Hg.), Geschichtsforschung in Graz. Festschrift zum 125-Jahr-Jubiläum des Instituts für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Graz 1990, 195–208. Eine kurze Einführung bietet Franz Stundner, Die Kreisämter als Vorläufer der politischen Behörden erster Instanz. In: Johannes Gründler (Hg.), 100 Jahre Bezirkshauptmannschaften in Osterreich. Wien 1970, 9–17.

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gibt es bei den Kreisämtern auch erste Ansätze zur Erforschung der Verwaltungspraxis.21 Die Reformen im Finanz- und Steuerwesen können auf der obersten Ebene durch das Werk von P. G. M. Dickson hingegen als durchaus gut erforscht gelten,22 Bernhard Hackl hat außerdem mehrere Beiträge zur theresianischen Steuerrektifikation auf der Ebene der Erbländer publiziert,23 die konkrete Steuereinhebung, die auch weiterhin durch die Grundherrschaften erfolgte, wurde bis dato allerdings nur wenig beleuchtet.24 Wendet man sich vom Staat und der Verwaltung anderen Reformbereichen zu, zeigt sich hinsichtlich des Forschungsstandes ein ähnliches Bild: Der Blickwinkel ist in der Regel ein etatistischer, die Ereignisgeschichte und die normativen Aspekte sind meist gut untersucht und für verschiedene Reformbereiche gibt es auch Literatur für einzelne Länder. Die Umsetzung der Reformen auf der Ebene der Untertanen vor Ort ist hingegen ungenügend oder überhaupt nicht erforscht. Selbst ein Thema wie die sogenannte Untertanenschutzgesetzgebung, die vor allem in der späteren Phase der Regierungszeit Maria Theresias die innenpolitische Agenda bestimmte, ist bis dato nur unzureichend untersucht, zumal in den meisten Beiträgen die Umsetzung der Normen sowie eine positive Entfaltung der beabsichtigten sozialen Maßnahmen ohne nähere Prüfung

21 Corinna von Bredow, Die niederösterreichischen Kreisämter als Scharnier zwischen Landesregierung und Untertanen – Kommunikationsprozesse und Herrschaftspraxis. In: Stefan Brakensiek / Dies. / Birgit Näther (Hg.), Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit. Berlin 2014, 25–36; Dies., Gestaltungspotentiale in der Verwaltungspraxis der niederösterreichischen Kreisämter 1753–1799. In: Arndt Brendecke (Hg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte. Köln – Weimar – Wien 2015, 210–221. 22 P(eter) G. M. Dickson, Finance and Government under Maria Theresia 1740–1780, Bd. 1: Society and Government, Bd. 2: Finance and Credit. Oxford 1987. Davor hat sich vor allem Adolf Beer in mehreren Beiträgen mit der Finanzgeschichte beschäftigt, z. B. Adolf Beer, Das Finanzwesen der Monarchie. In: K. u. k. Kriegsarchiv (Hg.), Oesterreichischer Erbfolge-Krieg 1740–1748, Bd. 1. Wien 1896, 197–295. Vgl. Alois Brusatti, Reform der Finanzverwaltung als Verfassungsreform. In: Koschatzky (Hg.), Maria Theresia, wie Anm. 10, 165–169. 23 Bernhard Hackl, Die Theresianische Dominikal- und Rustikalfassion in Niederösterreich 1748–1756. Ein fiskalischer Reformprozeß im Spannungsfeld zwischen Landständen und Zentralstaat. Frankfurt am Main 1997; ders., Die Theresianische Steuerrektifikation in der Steiermark 1748–1763. Das Ringen zwischen Landesfürst und Landständen und die Neuordnung des Gültsteuersystems. In: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 89/90 (1998/99), 165–225; ders., Die Theresianische Steuerrektifikation in Ober- und Innerösterreich. 1747–1763. Die Neuordnung des ständischen Finanzwesens auf dem Sektor der direkten Steuern als ein fiskalischer Modernisierungsprozeß zwischen Reform und Stagnation. Frankfurt am Main 1999. Für Böhmen siehe Josef Pekař, České katastry 1654–1789. Se zvláštním zřetelem k dějinám hospodářským a ústavním [Die böhmischen Kataster 1654–1789. Mit besonderer Berücksichtigung der Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte]. Praha 1932. 24 Winkelbauer, Robot, wie Anm. 5, 194–198.

Erforschung der theresianischen Reformen im ländlichen Raum

der tatsächlichen Verhältnisse als gegeben vorausgesetzt werden.25 Es spricht einiges dafür, dass dabei die Handlungsmacht des Staates überschätzt wird. So tauchen beispielsweise staatliche Akteure oder Organisationen in Pavel Himls Studie über die Untertanen der südböhmischen Herrschaft Český Krumlov (Krumau) im Spannungsfeld zwischen bäuerlicher Gemeinde, Obrigkeit (d. h. Grundherrschaft) und Pfarre auch in theresianischer Zeit auffällig selten auf.26 Im Bereich der Rechtsreformen ist festzustellen, dass es kaum Versuche gibt, die tendenziell normorientierte Forschung der Rechtsgeschichte und die von Allgemeinhistorikerinnen und -historikern betriebene Alltagsgeschichte analytisch zu verbinden. Die Strafrechtspraxis ist durch den Boom der Kriminalgeschichtsforschung durchaus gut untersucht,27 einige Bereiche der Zivilrechtspraxis wie beispielsweise das Erbrecht und das Ehegüterrecht fanden in den letzten Jahren – allerdings meist ohne näheren Bezug zur Reformpolitik – das Interesse der Forschung.28 Andere Gebiete wie etwa das für die Bevölkerungspolitik und das regionale Kreditwesen wichtige Gebiet des Waisenrechtes sind – was die Praxis anbelangt – hingegen völlig unterbelichtet. Die Reformen im Militärbereich – um noch eine weitere Materie zu nennen – wurden erst in den letzten Jahren durch die Forschungen Michael Hochedlingers wieder aufgegriffen,29 angesichts der Randständigkeit der österreichischen Militärgeschichte verwundert es nicht, dass Themen wie die Soldatenrekrutierung,30 mit der die Staatsgewalt wie in kaum einem anderen Bereich unmittelbar in das Leben einzelner Menschen eingriff, oder die Auswirkung der Militarisierung auf die

25 Z. B. Josef Kočí, Die Reformen der Untertänigkeitsverhältnisse in den böhmischen Ländern unter Maria Theresia und Joseph II. In: Plaschka (Hg.), Österreich, wie Anm. 12, 121–137; William Edward Wright, Serf, Seigneur and Sovereign. Agrarian Reform in EighteenthCentury Bohemia. Minneapolis 1966. 26 Pavel Himl, Die „armben Leute“ und die Macht. Die Untertanen der südböhmischen Herrschaft Český Krumlov/Krumau im Spannungsfeld zwischen Gemeinde, Obrigkeit und Kirche (1680–1781). Stuttgart 2003. 27 Für den hier behandelten Zeitraum vor allem Martin Scheutz, Alltag und Kriminalität. Disziplinierungsversuche im steirisch-österreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert. Wien – München 2001. 28 Z. B. Margareth Lanzinger / Gunda Barth-Scalmani / Ellinor Forster u. a. (Hg.), Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich. Köln – Weimar – Wien 2010. 29 Michael Hochedlinger, Rekrutierung ‒ Militarisierung ‒ Modernisierung. Militär und ländliche Gesellschaft in der Habsburgermonarchie im Zeitalter des Aufgeklärten Absolutismus. In: Stefan Kroll / Kersten Krüger (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit. Münster u. a. 2000, 327–375. 30 Siehe dazu vor allem Scheutz, Alltag, wie Anm. 27, 315–374. Vgl. Winkelbauer, Robot, wie Anm. 5, 211–219.

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ländliche Gesellschaft bis dato ebenfalls nur wenig Interesse in der Forschung geweckt haben.31 Barbara Stollberg-Rilinger hat in ihrer Biografie die gängige These, wonach es sich bei der Haugwitz’schen Steuer- und Verwaltungsreform um die Geburtsstunde des modernen Staates gehandelt habe, deutlich revidiert: „Maria Theresia als Gründerin des modernen Staates zu feiern“ hieße ihrer Ansicht nach „die Rationalitätsphantasien der Reformer mit der Wirklichkeit zu verwechseln“. Vor allem wies sie darauf hin, dass „über die Implementation der Reformen in den Ländern und über die Art und Weise, wie die Amtleute dort an Ort und Stelle mit ihnen umgingen“, wenig bekannt sei und in der Forschung „die segensreichen Folgen für die Bevölkerung meist eher unterstellt als tatsächlich nachgewiesen“ wurden.32 Mein Forschungsprojekt setzt bei diesem Desiderat an und nimmt die lokale Praxis der Umsetzung der theresianischen Reformen im ländlichen Raum in den Blick. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, einerseits ein an der Praxis ausgerichtetes Forschungsprojekt zu den theresianischen Reformen in die aktuellen Thesen zur Staatsbildung einzuordnen, andererseits sollen Überlegungen zur Konzeption des Projekts skizziert werden. Verortung des Projekts im Staatsbildungsdiskurs Das Thema Staatsbildung wird in der Forschung gegenwärtig anhand von zwei gegensätzlichen, wenngleich sich nicht gänzlich ausschließenden Thesen diskutiert. Die These des „Fiscal-Military-State“33 sieht im Zusammenhang zwischen militärischer Modernisierung und der damit verbundenen Ausweitung der Ressourcenextraktion die zentrale Triebfeder der Staatsbildung: Mit dem Übergang von den Söldnerarmeen zu stehenden Heeren kam es zu einem rapiden Anstieg der Militärausgaben, die mit einer großzügigen Erhöhung des Staatskredits und einer Expansion der Steuereinnahmen finanziert wurden. Dies bedingte wiederum eine Verbesserung der administrativen Strukturen und der Finanztechniken. Die Verdichtung von Staatlichkeit sei demnach auf die Kernaufgabe des Staates, die Finanzierung der Armee, zurückzuführen.34 Gerade in diesem 31 Vgl. Hochedlinger, Rekrutierung, wie Anm. 29. 32 Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, wie Anm. 3, 205f., 243–245, 849f., die direkten Zitate 244, 850. 33 Der Begriff geht zurück auf John Brewer, The Sinews of Power. War, Money and the English State, 1688–1783. London 1989. 34 Vgl. den Sammelband Christopher Storrs (Hg.), The Fiscal-Military State in EighteenthCentury Europe. Essays in Honour of P.G.M. Dickson. Farnham 2009, insbes. ders., Introduction: The Fiscal-Military State in the ‘Long’ Eighteenth Century. In: ebd., 1–22; Hamish Scott,

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Punkt wird aber deutlich, dass es sich beim habsburgischen Länderkonglomerat auch nach der umwälzenden Haugwitz’schen Staatsreform weiterhin um eine zusammengesetzte Monarchie handelte. William D. Godsey hat in einer auf der These des Fiscal-Military-State aufbauenden Studie die vorherrschende Ansicht, wonach die Stände durch Maria Theresia weitgehend entmachtet wurden, anhand des Landes unter der Enns stark relativiert, indem er vor allem deren zentrale Bedeutung für den öffentlichen Kredit hervorgehoben hat.35 Die konträre These des „State Building from Below“ wendet hingegen den Blick weg vom Staat und den ihm zugeordneten Akteuren und Institutionen hin zu den „communities, corporate entities, interest groups and subjects from local society“, die als bestimmende Kräfte des Staatsbildungsprozesses identifiziert werden.36 Eine zentrale Rolle spielen hier die Artikulation von Interessen und die Nachfrage nach normativen Gütern und staatlichen Leistungen von Seiten der Untertanen. Den Normunterworfenen wird dabei ein entscheidendes Handlungspotential zugesprochen. So hätten sich diese nicht nur unliebsamen Normen mit unterschiedlichen Mitteln widersetzt, sondern sie hätten auch das Leistungsspektrum der Justiz und der Verwaltung geschickt für ihre eigenen Absichten einzusetzen vermocht.37 Herrschaft vollziehe sich demnach nicht über obrigkeitlichen Zwang, sondern in „komplexen Kommunikations- und Interaktionsprozessen, die gern auf die Formel des ‚Aushandelns‘ gebracht werden“.38 Die These des „Aushandelns von Herrschaft“ wurde unter anderem von

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The Fiscal-Military State and the International Rivalry during the Long Eighteenth Century. In: ebd., 23–53; Michael Hochedlinger, The Habsburg Monarchy: From Military-Fiscal State to Militarization. In: ebd., 55–94. Der Zusammenhang zwischen Kriegsführung, Steuern und staatlicher Verdichtung wird unter verschiedenen Aspekten schon seit dem 19. Jahrhundert diskutiert, vgl. die Auswahlbibliographie des Kapitels „Machtmittel und Machtpolitik“ in Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 2 2002, 306–363, 591–603. William D. Godsey, The Sinews of Habsburg Power. Lower Austria in a Fiscal-Military State 1650–1820. Oxford 2018, 213–287. André Holenstein, Introduction. In: Wim Blockmans / André Holenstein / Jon Mathieu (Hg.), Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900. Farnham 2009, 1–31, hier 4f. Vgl. zum Konzept des Aushandelns von Herrschaft z. B. Ronald G. Asch / Dagmar Freist (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln 2005. Beispiele für die Habsburgermonarchie bei Judson, Habsburg, wie Anm. 16, 36, 61f. Vgl. Stefan Brakensiek, Communication between Authorities and Subjects in Bohemia, Hungary and the Holy German Empire, 1650–1800: A Comparison of Three Case Studies. In: Blockmans / Holenstein / Mathieu (Hg.), Empowering Interactions, wie Anm. 36, 149–162. Wolfgang Reinhard, Zusammenfassung: Staatsbildung durch „Aushandeln“? In: Asch / Freist (Hg.), Staatsbildung, wie Anm. 37, 429–438, hier 430.

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Wolfgang Reinhard kritisiert. Sie würde eine irreführende „gleichgewichtigegalitäre Konstellation zwischen Herrschaft und Untertanen suggerieren“,39 außerdem werde auch der Einfluss der Interaktionen zwischen Herrschern und Untertanen auf die Staatsbildung massiv überschätzt. Eine Einflussnahme auf die Staatsbildung wäre weder in Reichweite noch im Interesse der Untertanen gewesen. Sein Resümee: „By definition, statebuilding is a top-down process because it originates from and is based upon the interests of the people in the centre.“40 Der Ansatz meines Projektes schließt sich insofern dieser Sichtweise an, als der Ausgangspunkt der Untersuchung die staatlichen Reformen sind. Die Untersuchungsfelder und Fragestellungen orientieren sich hingegen eher am Forschungsfeld des „State Building from Below“. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die handelnden Personen und die lokalen Herrschaftspraktiken, die Vermittlung von Herrschaft zwischen Zentralgewalt und ländlichem Raum, die symbolische Legitimation von Herrschaft, die Informationsbeschaffung über lokale Zustände durch die Zentrale oder die Rolle der lokalen politisch-sozialen Eliten etc.41 Allerdings geht es mir nicht darum, aus den lokalen Herrschaftspraktiken die Entstehung des modernen Staates zu erklären, vielmehr möchte ich versuchen, durch die Gegenüberstellung von Reformanspruch des Staates und Herrschaftspraktiken vor Ort den teleologischen Ansatz einer geradezu vorgezeichneten Entwicklung hin zum modernen Staat, der letztendlich mit umgekehrten Vorzeichen beiden Thesen innewohnt, für das 18. Jahrhundert als solches zu hinterfragen. Wenn man davon ausgeht, dass sich vormoderne und moderne Herrschaft in erster Linie durch die fehlende Monopolisierung von Herrschaft beim Staat unterscheiden,42 dann wird man für die Habsburgermonarchie in der theresianischen Epoche auf lokaler Ebene nicht von modernen Verwaltungsstrukturen ausgehen können. Auch wenn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts grundherrschaftliche und städtische Verwaltungen in ihrer Autonomie eingeschränkt

39 Ebd., 434. 40 Wolfgang Reinhard, No Statebuilding from Below! A Critical Commentary. In: Blockmans / Holenstein / Mathieu (Hg.), Empowering Interactions, wie Anm. 36, 299–304, insbes. 301f., das direkte Zitat 302. 41 Vgl. Dagmar Freist, Einleitung: Staatsbildung, lokale Herrschaftsprozesse und kultureller Wandel in der Frühen Neuzeit. In: Asch / Freist (Hg.), Staatsbildung, wie Anm. 37, 1–47. Siehe auch die Fallstudie András Vári / Judit Pál / Stefan Brakensiek, Herrschaft an der Grenze. Mikrogeschichte der Macht im östlichen Ungarn im 18. Jahrhundert. Köln – Weimar – Wien 2014. 42 Wolfgang Reinhard, Frühmoderner Staat – Moderner Staat. In: Olaf Mörke / Michael North (Hg.), Die Entstehung des modernen Europa 1600–1900. Köln 1998, 1–9, hier 6f.

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und deren Verwaltungsapparate im Sinne einer Auftragsverwaltung zunehmend als unterste Ebene in den staatlichen Behördenaufbau integriert wurden, übten sie weiterhin auch Herrschaft aus eigenem Recht aus, die teilweise in Konkurrenz zum Herrschaftsanspruch des Staates stand. Das Wachstum der zentralen Staatsgewalt und die anwachsenden Ambitionen des Staates, für alle möglichen Bereiche menschlicher Existenz zuständig zu sein, änderten nichts daran, dass der Staat bzw. die unmittelbar diesem zugeordneten Akteure mit einem Großteil der Untertanen kaum in direkten Kontakt traten. Bei der Durchsetzung landesfürstlicher Normen, der Einhebung der Steuer oder der Rekrutierung von Soldaten war der Staat auf die lokalen Machtträger wie die grundherrschaftlichen und städtischen Beamten oder die Pfarrer angewiesen, die trotz ihrer vermehrten Einbindung in die staatliche Sphäre auch eigene Interessen verfolgten. Die grundherrschaftlichen Amtsträger wurden von Seiten der Untertanen auch nicht dem Staat, sondern ihrem jeweiligen Grundherrn, von dem diese auch besoldet wurden, zugerechnet.43 Trotz einer zunehmenden Konsolidierung des Staatsgebietes nach innen, war die Habsburgermonarchie nicht nur zwischen den Ländern, sondern auch innerhalb der einzelnen Länder weiterhin ein höchst inhomogener Herrschaftsbereich. Vor allem in den österreichischen Ländern überschnitten sich auf der lokalen Ebene die verschiedenen obrigkeitlichen Rechte wie die Grundherrschaft, die hohe und die niedere Gerichtsbarkeit und die Zuständigkeit für unterschiedliche Polizeimaterien etc. sowohl in territorialer als auch in funktionaler Hinsicht in einer aus Sicht moderner Staatlichkeit höchst konfusen Art und Weise. Dabei spielte es hinsichtlich der Zersplitterung auch kaum eine Rolle, ob es sich um Angelegenheiten handelte, die nach zeitgenössischer Rechtslehre kraft staatlicher Delegation ausgeübt wurden, oder um grundherrschaftliche Materien aus eigenem Recht.44 Auch wenn den Reformen in den meisten Bereichen durchaus ein verbindendes Motiv, nämlich „die Stärkung und Modernisierung des Staates zur besseren Selbstbehauptung im Staatensystem“,45 zugrunde lag, so gab es doch kein klar definiertes Ziel oder gar eine zu verwirklichende abstrakte „Staatsidee“, wie

43 Josef Löffler, Grundherrschaftliche Verwaltung, Staat und Raum in den böhmischen und österreichischen Ländern der Habsburgermonarchie vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis 1848. In: Administory. Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte 2 (2017), 112–139, hier 117–128. Zur Ausdehnung der staatlichen Regelungsmaterien Beidtel, Staatsverwaltung, wie Anm. 6, Bd. 1, 32. Vgl. Wolfgang Reinhard, Das Wachstum der Staatsgewalt. Historische Reflexionen. In: Der Staat 31 (1992), 1, 59-75, hier 59f. 44 Löffler, Grundherrschaftliche Verwaltung, wie Anm. 43, 113–117. 45 Hochedlinger, Stiefkinder, wie Anm. 7, 325.

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sie von den Staatseuphorikern des 19. Jahrhunderts ersonnen wurde.46 Die Reformmaßnahmen folgten weder einer strengen Systematik noch waren sie widerspruchsfrei,47 weshalb teleologische Interpretationen hin zur Entstehung moderner Staatlichkeit zu kurz greifen. Diese war nicht das Resultat einer vorgezeichneten und unausweichlichen Entwicklung, sondern ein Produkt historischer Kontingenz.48 Das heißt nicht, dass die Frage nach staatsbildenden Faktoren – von oben und von unten – in der Darstellung der Reformpolitik des 18. Jahrhunderts nicht eine zentrale Rolle einnehmen sollte. Es scheint aber nicht zielführend, bei der Konzeption der Studie a priori von Staatsbildungsthesen als theoretischem Bezugsrahmen auszugehen, weil dies die Gefahr birgt, dass dadurch der Blick auf Prozesse und Strukturen, die sich im Licht späterer Entwicklungen nicht in die großen Staatsbildungsnarrative einfügen, verstellt wird. Abgrenzung des Themas und theoretische Konzeption In Überblicksdarstellungen werden die Reformpolitiken Maria Theresias und Josephs II. meist gemeinsam behandelt, was aufgrund der Kontinuitäten auch zweckmäßig erscheint.49 Die Beschränkung des Projektes auf die theresianische Epoche bedarf deshalb einer Begründung: Da die Reformpatente Josephs II. in wesentlich schnellerer Abfolge erlassen wurden und viele der Maßnahmen nach kurzer Zeit wieder zurückgenommen werden mussten, ist die Normimplementation für diese Zeit methodisch sehr schwer fassbar. Der zweite Grund ist ein ganz pragmatischer: Der längere Untersuchungszeitraum wäre angesichts der Fülle an Material bei einer auf archivalischen Quellen aufbauenden Studie mit den zur Verfügung stehenden Zeitressourcen nicht zu schaffen, zumal die Normproduktion in josephinischer Zeit noch einmal enorm anstieg.50 Auch die räumliche Eingrenzung folgt ähnlichen Überlegungen. Es scheint nicht möglich, alle böhmischen und österreichischen Länder auf Basis umfangreicher Quellenrecherchen zu behandeln, deshalb liegt der Schwerpunkt der 46 Vgl. Markus Meumann / Ralph Pröve, Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen. In: Dies. (Hg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamischkommunikativen Prozesses. Münster 2004, 11–49, hier 13f., 16–19 47 Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, wie Anm. 3, 243f., 850. 48 Reinhard, No Statebuilding, wie Anm. 40, 303. 49 Scott, Reform, wie Anm. 10; Vocelka, Glanz und Untergang, wie Anm. 10; Peter Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, 2 Bde. Freiburg im Breisgau 2006, 928–1028. 50 Vgl. Dickson, Finance Bd.1, wie Anm. 22, 319.

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Untersuchung auf Österreich ob und unter der Enns. Für beide Länder liegt eine solide Quellengrundlage vor und die Archivalien sind gut zugänglich.51 Eine länderübergreifende Darstellung der Verwaltungspraxis wird auch dadurch erschwert, dass – abgesehen von den unterschiedlichen gesellschaftlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen – trotz der Vereinheitlichungstendenzen weiterhin in vielen Bereichen abweichende Normen erlassen wurden.52 Es soll aber versucht werden, je nach Forschungsstand bei verschiedenen Aspekten den Blick auf die anderen Länder, vor allem Böhmen und Mähren, zu erweitern. Gegenstand der Untersuchung ist die praktische Tätigkeit des Staates im ländlichen Raum.53 Der Begriff der Praktiken wird theoretisch meist weit gefasst, Theodore Schatzki versteht beispielsweise darunter in einer häufig zitierten Definition schlicht „open, temporally unfolding nexuses of actions“, wozu er explizit auch körperliches und sprachliches Handeln zählt.54 Für unseren Themenbereich ist zentral, dass im Mittelpunkt des Interesses nicht die normativen Diskurse stehen, sondern „die Frage nach dem Funktionieren von Herrschaft: nach den Verfahren und Abläufen und insbesondere nach den sozialen Akteuren, die an ihr teilhaben“.55 In Anschluss an den Sammelband von Jörg Ganzenmüller und Tatjana Tönsmeyer über das „Vorrücken des Staates in die Fläche“56 im 19. Jahrhundert gehe 51 Die von mir analysierten Quellen werden vornehmlich in den Landesarchiven Ober- und Niederösterreichs sowie im Österreichischen Staatsarchiv verwahrt. In Tschechien dürfte die Quellenlage auch durchaus gut sein, hier liegen die einschlägigen Archivalien in den Kreisarchiven. Es soll nicht verhehlt werden, dass die Benutzerfreundlichkeit der Archive gerade bei quellenintensiven verwaltungsgeschichtlichen Themen ein wichtiger Faktor ist, d. h. dass Archive, die nach wie vor das Fotografieren der Archivalien nicht erlauben, kaum in die engere Auswahl kommen, wenn es Alternativen gibt. 52 Ein Beispiel wären die diversen Robotpatente, die in den 1770er Jahren für die einzelnen Länder ergingen. Vgl. Bohuslav Rieger, Untertans- und Urbarialverhältnisse. In: Mischler / Ulbrich (Hg.), Österreichisches Staatswörterbuch, wie Anm. 18, Bd. 1, 43–58, hier 47–50. 53 Vgl. dazu die Vorbemerkung bei Thomas Ellwein, Der Staat als Zufall und als Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe. Bd. 1: Die öffentliche Verwaltung in der Monarchie 1815–1918. Opladen 1993, 1. 54 Theodore Schatzki, The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change. University Park 2002. 55 Andreas Pečar, Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711–1749). Darmstadt 2003, 14. Zur Praxistheorie siehe exemplarisch Brendecke (Hg.), Praktiken, wie Anm. 21, insbesondere die einführenden Beiträge von Marian Füssel, Frank Hillebrandt, Sven Reichhardt und Dagmar Freist. Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie der sozialen Praktiken. In: ders. (Hg.), Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld 2 2010, 97–130. 56 Jörg Ganzenmüller / Tatjana Tönsmeyer (Hg.), Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des 19. Jahrhunderts. Köln – Weimar – Wien 2016.

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ich von der These aus, dass die räumliche Binnenexpansion des Staates in der Habsburgermonarchie bereits eng mit den theresianischen Reformen verbunden ist. Raumbasierte Thesen zur „Durchstaatlichung“57 orientieren sich nicht einseitig am Staat und seiner Normdurchsetzung, sondern die Kooperation der lokalen Eliten wird angesichts der institutionellen Schwäche des Staates – auch noch im 19. Jahrhundert – als Voraussetzung begriffen. Betont wird auch die Nachfrage nach dem Staat als Normensetzer und -garant durch die Normunterworfenen.58 Der Vorteil dieses konzeptionellen Rahmens gegenüber den oben genannten Staatsbildungsthesen ist, dass er für die verschiedenen Felder staatlichen Handelns ein differenzierteres Bild staatlicher Integration erwarten lässt, weil sich das „Vorrücken des Staates“ in den verschiedenen Bereichen in unterschiedlichem Tempo vollzog. Es werden darüber hinaus staatsbildende Faktoren von oben und von unten berücksichtigt, ohne dass Stagnation und wiederläufige Entwicklungen ausgeblendet werden. Ein raumtheoretischer Zugriff bietet sich für verwaltungsgeschichtliche Fragestellungen grundsätzlich an: Zunächst ist Territorialität, d. h. die geografische Abgrenzung des Geltungsbereichs legitimer und ausschließlicher Machtausübung durch eine souveräne Staatsgewalt, ein zentrales Merkmal der meisten Staatsdefinitionen.59 Staatsgewalt lässt sich deshalb per se kaum von der räumlichen Dimension trennen. Andererseits konstituiert und reproduziert staatliches Handeln selbst permanent Räume, und zwar sowohl absolut verstandene territoriale Räume als auch relationale Sozialräume, sei es – um nur einige Beispiele zu nennen – durch Vermessung, Kartierung, Ressourcenexploration, Kommunikation, Schaffung von Infrastruktur, Regulierung von Mobilität oder durch Zugangsregelungen zu sozialen Gütern etc.60 Als wichtigste Quellengrundlage für die Untersuchung von Staatlichkeit vor Ort dient das Verwaltungsschriftgut der Grundherrschaften, von besonderem Interesse sind die in regelmäßiger Abfolge verfassten Amtsberichte der grundherrschaftlichen Pfleger an die Grundherren. Um eine gewisse Repräsentativität 57 Der Begriff dürfte von Lutz Raphael eingeführt worden sein. Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwalten im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2000, 23. 58 Jörg Ganzenmüller / Tatjana Tönsmeyer, Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. In: Dies. (Hg.), Vom Vorrücken, wie Anm. 56, 7–31, hier 12, 19f. 59 Vgl. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre. Berlin 3 1914, 394–434; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 5 1980, 822; Arthur Benz, Der moderne Staat. Grundlagen der politologischen Analyse. München 2 2008, 107–113. 60 Zum Thema Raum und Verwaltung siehe den anregenden Beitrag Pascale Cancik, Verwaltung, Raum, Verwaltungsraum – eine historische Annäherung, in: Hermann Hill / Utz Schliesky (Hg.), Die Vermessung des virtuellen Raums. E-Volution des Rechts- und Verwaltungssystems III. Baden-Baden 2012, 89–105; Stefan Nellen / Thomas Stockinger, Staat, Verwaltung und Raum im langen 19. Jahrhundert. Einleitung. In: Administory. Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte 2 (2017), 3–27.

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zu erreichen, sollten Archive von Grundherrschaften unterschiedlicher Größe mit möglichst abweichendem ökonomischem Schwerpunkt herangezogen werden. Der wichtigste Aspekt ist allerdings die Überlieferungssituation. Für Oberösterreich bieten sich die umfangreichen, ziemlich vollständig erhaltenen Herrschaftsarchive Weinberg und Steyr an,61 für Niederösterreich gibt es keine vergleichbar geschlossenen Bestände in öffentlichen Archiven, es gibt aber eine Reihe von Herrschaftsarchiven, wie beispielsweise Walpersdorf, mit einer durchaus guten Überlieferung.62 Außerdem finden sich im Diözesanarchiv St. Pölten zahlreiche Pfarrarchive, die einen guten Einblick in die Verwaltungstätigkeit kleiner Pfarrherrschaften bieten.63 Die Überlieferungslage zu den Kreisämtern ist hingegen eher ungünstig, für das Land ob der Enns sind die Akten für das 18. Jahrhundert gänzlich verloren gegangen, für Niederösterreich gibt es für zwei Kreisämter die sehr umfangreichen jährlichen Protokollbücher, die Akten sind hingegen ebenfalls nur spärlich überliefert.64 Im Allgemeinen besteht die Schwierigkeit bei Forschungsprojekten dieser Art nicht in einem Mangel an Überlieferung, sondern eher in der Gefahr, dass man sich in der Masse an Verwaltungsakten verliert. Ausgehend von den geschilderten Überlegungen, sollen in meiner Studie folgende Themenbereiche behandelt werden: 1. Die Reform der Verwaltungsorganisation: Es wird hier vor allem darum gehen, die neu eingerichteten Kreisämter und deren Tätigkeit, die zunehmende Integration der grundherrschaftlichen Verwaltung in den staatlichen Behördenaufbau sowie die Rolle der lokalen Amtsträger als Vermittler staatlicher Herrschaft65 zu untersuchen. 2. Die Steuerreform: Konkrete Themenbereiche sind hier die Erstellung der theresianischen Fassion, die Steuereinhebung in der Praxis und die Entwicklung der Steuerlast im Verhältnis zu den Feudalabgaben.66 3. Das Militär und das Konskriptionswesen: Anschließend an jüngere Forschungen zur Konskription67 stehen hier vor allem die Praxis der Rekru61 Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA), Herrschaftsarchive, HA Weinberg; OÖLA, Herrschaftsarchive, HA Steyr. 62 Österreichisches Staatsarchiv, HHStA, SB HA Walpersdorf; Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA), HA Heidenreichstein. 63 Z. B. Diözesanarchiv St. Pölten, III PfA 3067: Pfarrarchiv Eisgarn. 64 NÖLA, KrA VOWW I - Kreisamt Viertel ober dem Wienerwald I; NÖLA KrA VUMB I Kreisamt Viertel unter dem Manhartsberg I. 65 Vgl. Stefan Brakensiek, Lokale Amtsträger in deutschen Territorien in der Frühen Neuzeit. Institutionelle Grundlagen, akzeptanzorientierte Herrschaftspraxis und obrigkeitliche Identität. In: Asch / Freist (Hg.), Staatsbildung, wie Anm. 37, 49–67, hier 50. 66 Vgl. Winkelbauer, Robot, wie Anm. 5, 185–206. 67 Anton Tantner, Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie. Innsbruck – Wien – Bozen 2007; Michael

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tierung sowie die Einquartierung, und damit verbunden, die zunehmende Militarisierung der ländlichen Gesellschaft, im Mittelpunkt des Interesses. Die Untertanen: In diesem Kapitel sollen die zunehmenden Eingriffe des Staates in das Verhältnis zwischen Untertanen und Grundherren durch die sogenannte Bauernschutzpolitik analysiert werden (u. a. geht es dabei um staatliche Lösungsmechanismen bei Konflikten zwischen Untertanen und Grundherrschaft, um die Liberalisierung des Marktzugangs für die Bauern oder um die Regelung der besonders konfliktbeladenen Robotfrage). Recht und Justiz: In diesem Kapitel werden die Implementation der Consitutio Criminalis Theresiana sowie die punktuellen landesfürstlichen Eingriffe im Zivilrecht analysiert. Die Reform der Policey: Unter dem Aspekt der Disziplinierung soll unter diesem Punkt die praktische Umsetzung der Policeygesetzgebung angesprochen werden, beispielsweise bei der Kontrolle der sexuellen Sitten, dem Feuerschutz, dem Hebammenwesen, der Armenfürsorge, der Einschränkung des Luxuskonsums oder bei den drakonischen Maßnahmen gegen das fahrende Volk und die Bettler.68 In diesen Bereich fallen auch die Kontrolle der Einhaltung verpflichtender religiöser Praktiken und die Verfolgung des Geheimprotestantismus. Infrastruktur: Unter diesem Punkt soll die Erschließung des ländlichen Raumes durch die Errichtung von Straßen, Schulen etc. behandelt werden.

Hochedlinger / Anton Tantner (Hg.), „… der größte Teil der Untertanen lebt elend und mühselig“. Die Berichte des Hofkriegsrates zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Habsburgermonarchie 1770–1771. Wien 2005. 68 Vgl. Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, wie Anm. 3, 283–289. Für Böhmen die siehe dazu die Fallstudie Pavel Himl, Zrození vagabunda. Neusedlí lidé v Čechách 17. a 18. Století [Die Entstehung des Vagabunden. Nichtsesshafte Leute in Böhmen im 17. und 18. Jahrhundert]. Praha 2007.

Tagungsberichte

Philipp Ferrara

Kirche in Bedrängnis. Diskurse, Strukturen und Akteure der Reformen in der Habsburgermonarchie 1740–1792 (Brixen, 8. und 9. November 2019) Kirche und Klerus der Habsburgermonarchie waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von einer breit angelegten staatlichen Reform betroffen. Diese staatlich-utilitaristische Reformbewegung, die bereits unter Maria Theresia (1717–1780) 1740 einsetzte und sich besonders unter ihrem Sohn Joseph II. (1741–1790) intensivierte, war Thema der Tagung „Kirche in Bedrängnis/La chiesa in pericolo“, die im Priesterseminar in Brixen (Südtirol, Italien) stattfand und von der Bozner Arbeitsgruppe „Geschichte und Region/storia e regione“ organisiert wurde. Im Mittelpunkt standen Akteure, strukturelle Veränderungen, zeitgenössische Diskurse und die mediale Rezeption der Klosterund Kirchenreformen in den Regionen der Habsburgermonarchie. Eröffnet wurde die Tagung von Thomas Wallnig (Wien), der in seinem Vortrag auf Schwierigkeiten und neue Perspektiven der Josephinismusforschung einging. Seit den 1980er Jahren, in denen die Habsburgermonarchie des 18. Jahrhunderts einen gemeinsamen historischen Bezugspunkt für die österreichische Gesellschaft bot, verloren die josephinischen Kirch- und Klosterreformen sukzessiv an Bedeutung in der mitteleuropäischen Forschungslandschaft. Im 21. Jahrhundert hat sich die Forschung dazu in sieben Teilbereiche fragmentiert: Religionsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Kirchengeschichte als Verwaltungsgeschichte, Finanzgeschichte im Kontext der Ständeordnung, die reichskirchenpolitische Ebene, die Frage nach einer katholischen Aufklärung, verschiedene Verflechtungsgeschichten (in erster Linie aus gender- oder globalgeschichtlichen Perspektiven) und schließlich die intellektuelle Genealogie des Josephinismus. Diese Aufsplitterung in isolierte Fragestellungen erschwert die Forschung unter anderem in methodischer Hinsicht. Allerdings sah Wallnig gerade in dieser Fragmentierung das Potenzial, andere Debatten in die eigene Forschung zu integrieren. Die große Menge an noch nicht aufgearbeitetem Archivmaterial bewertete er als eine Chance für künftige Forschungsvorhaben. Außerdem plädierte er an die Geschichtswissenschaften eine Vereinnahmung dieser Zeit durch Neu-Rechte Geschichtsinterpretationen zu verhindern. Das erste Panel, das von Hans Heiss (Brixen) geleitet wurde, beschäftigte sich mit der Frage nach den Akteuren, die von den theresianisch-josephinischen

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Reformen betroffen waren. Der erste Vortag im Panel von Maria Teresa Fattori (Frankfurt) zeichnete die durch das Konzil von Trient angestoßene und im 18. Jahrhundert weiterentwickelte Professionalisierung und Verstaatlichung des Pfarramtes nach. Dazu gehörte unter anderem die Neuregelung der Priesterausbildung und die Einführung eines normierten Prüfungsverfahren für Priesteramtskandidaten, das an Ausschreibungen für Posten in der staatlichen Verwaltung erinnerte. Im zweiten Vortrag der Sektion beschrieb Christine Schneider (Wien) die Auswirkung der josephinischen Klosterauflösungen auf die betroffenen Personen am Beispiel ausgewählter Frauenklöster in Wien; 247 Klarissen, unbeschuhte Karmeliterinnen und Augustiner Chorfrauen waren von den Aufhebungen betroffen, die unmittelbar nach dem Aufhebungsakt das Kloster räumen und einen vom Staat oder Bischof diktierten Weg einschlagen mussten. Allerdings betrafen die Aufhebungsmaßnahmen noch einen viel weiteren Personenkreis, der wirtschaftlich oder emotional mit den Klöstern verbunden war. Im letzten Vortrag der Sektion präsentierte Serena Luzzi (Trient) drei konträre Akteursströme, die im zeitgenössisch-reformatorischen Diskurs definiert wurden. Grundlage ihrer Betrachtungen war ein Werk des italienischen Juristen Carlantonio Pilati (1733–1802), das 1767 erstveröffentlicht wurde. Anhand von Pilatis Ausführungen konnten drei für die Tagung interessante Akteure unterschieden werden: der Papst und die römische Kurie, der gewöhnliche Klerus und der principe sagrestano, der die staatliche Kontrolle über die Kirche innehatte. Während Pilati gegen die ersten beiden stark polemisierte und eine Säkularisierung forcierte, betonte er die tragende Rolle des principe für die Verwirklichung staatlicher Reformen. Die zweite Sektion, die Erika Kusstatscher (Brixen) moderierte, wandte sich strukturellen Veränderungen zu. Im ersten Vortrag verortete Martin Scheutz (Wien) die Klosteraufhebungsreformen unter Joseph II. in den Kontext der Verwaltungszentralisierung in der Habsburgermonarchie, die bereits unter Maria Theresia angestoßen wurde. Diese staatliche Reformbewegung verdichtete sich in den 1780er Jahren zunehmend, wobei sie in den einzelnen Regionen der Monarchie zeitlich divergierend und mit verschiedenen Auswirkungen durchgeführt wurde. Abschließend ordnete er die josephinischen Aufhebungsmaßnahmen in eine lange Reihe von Säkularisierungen ein, die mit der Reformation beginnt und bis ins Dritte Reich führt. Auf diese allgemeine Darstellung folgten zwei Vorträge zu den Strukturveränderungen in den habsburgischen Regionen. Zuerst skizzierte Ivana Pederzani (Mailand) die Auswirkungen der josephinischen Kirchenreformen auf die Lombardei. Auch in dieser Region können die durchgeführten Kirchenreformen wie die Verringerung von Pfarreien, die Verbeamtung von Priestern und die Neuregulierung ihrer Ausbildung durch den Staat in den Kontext staatlicher Zentralisierungsmaßnahmen eingebettet werden. Jedoch blieben sie nicht ohne Protest der lokalen Akteure. Im letzten

Kirche in Bedrängnis

Beitrag des Panels verband schließlich Dennis Schmidt (Hagen) strukturelle mit akteursbezogenen Ansätzen am Beispiel des Bistums Graz-Seckau in Innerösterreich, dem Bischof Adam Arco (1733–1802) vorstand. Am Beispiel Arcos konnte exemplarisch aufgezeigt werden, wie strukturelle Reformen von den Bischöfen mitgetragen wurden, die wahre Entscheidungsmacht und Durchführungskraft letztendlich aber in der Hand staatlicher Institutionen wie eben dem innerösterreichischem Gubernium in Graz lag. Das letzte Panel der Tagung wurde von Gunda Barth-Scalmani (Innsbruck) moderiert und folgte der Frage nach den zeitgenössischen Diskursen und der Rezeption der theresianisch-josephinischen Kirchen- und Klosterreformen. Im ersten Beitrag stellte Michael Span (Innsbruck) eine Projektskizze vor. Ziel seines Forschungsvorhabens wird es sein, am Beispiel von Verlassenschaftsinventaren den Lesegewohnheiten von Landgeistlichen nachzugehen und die Verbreitung aufklärerischer Literatur unter Einnahme einer kollektivbiographischen Perspektive zu rekonstruieren. Die darauffolgende Vortragende Maria Pia Paoli (Pisa) war bedauerlicherweise verhindert, weshalb ihr Vortragsmanuskript von Thomas Wallnig vorgelesen wurde. Sie beschäftigte sich mit der Frage, wie sich die Bildungslandschaft der Toskana unter Großherzog Peter Leopold (1747–1792) nach der Auflösung des Jesuitenordens verändert hat. Die Auflösung der Gesellschaft Jesu bedeutete zwar einen radikalen Umbruch, allerdings betont Paoli, dass eine gewisse personelle Kontinuität in den Universitäten und Schulen gewahrt wurde und die Jesuiten nach der Aufhebung alternative Aufgaben im Bildungssektor wie die Erteilung von Privatunterricht in landsässigen Grafenfamilien wahrnehmen konnten. Im Anschluss wandte sich Katalin Patalki (Budapest) der Frage zu, inwieweit Klosterkerker im 18. Jahrhundert einen Verhandlungsraum zwischen staatlicher und monastischer Macht darstellten. Bereits unter Maria Theresia gab es Bemühungen, die Klosterkerker zugunsten anderer Strafmaßnahmen aufzuheben. Staatliche Kontrollen zur Durchsetzung dieser Dekrete lassen sich außerdem als staatliche Zugriffsmöglichkeiten auf den klösterlichen Raum interpretieren. Im abschließenden Vortrag präsentierte Markus Debertol (Innsbruck) die Rezeptionsgeschichte der Mönchssatire von Ignaz von Born (1742–1791). Die Monachologia war zugleich Symptom und Katalysator des Machtverlustes des katholischen Klerus an verschiedenen Zeitpunkten. Dass sie nicht zensiert wurde, zeigt, dass dieser Machtverlust bereits weit fortgeschritten war. Die wichtigsten Ergebnisse der Tagung wurden abschließend von Julian Lahner (Naturns) zusammengefasst. Er definierte drei wichtige Erkenntnisse aus den Beiträgen: Erstens war aufklärerische Kirchenkritik nicht auf ein elitäres Publikum beschränkt, sondern zielte auf eine breitere Rezeption ab. Dies wird in erster Linie deutlich, wenn man bedenkt, dass es keine flächendeckenden Erhebungen gegen diese eigentlich unpopulären Maßnahmen gab. Zweitens

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gab es genderspezifische Unterschiede zwischen den von den Aufhebungen betroffenen Akteuren. So wurden die Ordensleute nach den Aufhebungen der Klöster als Pfarrer, Hilfspriester oder Seelsorger in den neu errichteten Pfarreien eingesetzt. Drittens betont Lahner die zentrale Bedeutung kirchlicher Strukturen und Akteure für den Ausbau moderner Staatlichkeit. Freitag, 08.11.2019 Begrüßung: Ulrich Fistill (Prodekan der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen) Michaela Oberhuber (Geschäftsführerin von Geschichte und Region) Eröffnungsvortrag: Thomas Wallnig (Universität Wien) Josephinismus-Forschung zwischen Quellenflut, Methodendruck und populärem Desinteresse. Versuch einer Bestandsaufnahme Sektion 1: Akteure Chair: Hans Heiss (Brixen) Maria Teresa Fattori (Goethe Universität Frankfurt) L’ufficio del parroco nel Settecento: un funzionario tridentino tra meritocrazia e status clericale Christine Schneider (Wien) Die Aufhebung der Wiener Frauenklöster – aus der Perspektive der Betroffenen Serena Luzzi (Università degli Studi di Trento) Elogio del principe sagrestano, ossia: progetti per secolarizzare l’Italia del ’700 Sektion 2: Strukturen Chair: Erika Kustatscher (Diözesanarchiv Brixen) Martin Scheutz (Institut für Österreichische Geschichtsforschung) Bestürzung und Entsetzen? – die Klosteraufhebung unter Joseph II. als Teil der bürokratischen Zentralisierung in der Habsburgermonarchie Ivana Pederzani (Università Cattolica del Sacro Cuore, Milano) Chierici, parrocchie e seminari nella Lombardia di Giuseppe II (1780–1790)

Kirche in Bedrängnis

Dennis Schmidt (FernUniversität Hagen) „Bedauernswürdige Freunde, wenn ihr die Wohlthat Josephs nicht erkennet” – Die Diözese Seckau im josephinischen Jahrzehnt Samstag 09.11.2019 Panel 3: Diskurse Chair: Gunda Barth-Scalmani (Universität Innsbruck) Michael Span (Universität Innsbruck) Die Aufklärung im Regal? Bibliotheken katholischer Landgeistlicher in Tirol im 18. Jahrhundert Maria Pia Paoli (Scuola Normale Superiore, Pisa) „Virtù civiche, buona morale e persone ecclesiastiche”. Progetti di educazione nella Toscana lorenese all’indomani della soppressione della Compagnia di Gesù Katalin Patalki (Central European University, Budapest) Klosterkerker zwischen kirchlichen und weltlichen Machtverhältnissen Markus Debertol (Universität Innsbruck) Konjunkturen eines Feindbildes. Ignaz von Borns Mönchssatire und ihre Rezeption Tagungsabschluss Julian Lahner (Naturns)

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Andreas Golob

Perzeption und Konzepte von Zeitgeschehen und Zeit in frühneuzeitlichen Zeitungen (Graz, 19. und 20. September 2019) Unter besagtem Titel trafen einander an der Universität Graz Kolleginnen und Kollegen aus Österreich, Ungarn, Bulgarien und den Niederlanden zum Gedankenaustausch. Den Anlass bot der Evaluationsworkshop des FWF-Projekts „Participatory Journalism in Michael Hermann Ambros’ Periodical Media. Communicating Politics, Education, Entertainment, and Commerce in Central Europe at the End of the 18th Century”.1 Die Referate behandelten mehrheitlich mitteleuropäische Zusammenhänge aus historiographischen oder literaturgeschichtlichen Blickwinkeln. Auf diesen geographischen Schwerpunkt nahm auch der zeitliche Rahmen von 1600 bis 1850 Rücksicht. Somit ergeben sich in Raum und Zeit Bezüge zum Interessengebiet der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts. Auf den ersten Blick mag das Generalthema abstrakt klingen und primär aktuelle Theoretisierungsversuche der Kommunikations- und Mediengeschichte bedienen. Allerdings erlaubte gerade die Meta-Perspektive auf dem Boden der Kommunikations- und Mediengeschichte mannigfaltige politische, ökonomische, soziale und kulturelle Einblicke und einen lebhaften Austausch über die Fachgrenzen hinweg. Die Dimension ‚Zeit‘ begleitete konkret Produktion, Distribution und Rezeption periodischer Medien, wie insbesondere der Berichtleger in seiner Einführung am Beispiel des vollentwickelten deutschsprachigen Zeitungswesens des 18. Jahrhunderts umriss. Die Kompilation oder die Auswertung von Korrespondenz kamen paratextuell und insbesondere im Verhältnis zum Zeitdruck der Erscheinungstermine zur Sprache. Debatten um Zeitungsausgabeintervalle zwischen Verlegern und Leserschaft schlugen sich genauso nieder wie die Gezeiten der Pränumeration. Zeitungsversand und -zensur wurden als Zeitaufwand greifbar. Zeitungstexte zeigten Zeitangaben schon als basale Einordnungselemente, die teils auch Auseinandersetzungen mit ihren Referenzsystemen herausforderten – zu denken ist hier vor allem an den Französischen Revolutionskalender. Textimmanente Zeitangaben erzeugten Privilegierungen von Ereignissen im alltäglichen Zeitstrom oder suggerierten 1 Nr. P 29979-G28. Vgl. für einen strukturelleren Tagungsbericht und das Programm den Eintrag in H-Soz-Kult.

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Aktualität. Saisonale Verdichtung und Ausdünnung des diplomatischen und militärischen Nachrichtenaufkommens wirkten buchstäblich bis zum gedrängten bzw. aufgelockerten Schriftbild. Innehalten, Rückschau und Synopsis an politischen Wendepunkten oder neuralgischen Nahtstellen wie den Jahreswechseln rafften das Zeitgeschehen und luden es mit räsonierenden Komponenten auf. Regelrechte Räsonnements selbst suchten nicht nur Sinn in der Gegenwart, sondern wandten sich auch der Erahnung der Zukunft zu. Die Kontextualisierung dieses umsichtigen Blicks auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfolgte schließlich durch eine Spurensuche nach Austauschprozessen mit zeitgenössischer Historiographie und Populärphilosophie, die auch religiöse Untertöne aufwies. Unter diesen Vorzeichen wurden auch Beispiele von Medienkritik untersucht. Dieses Panorama ergänzt die bisherige Auseinandersetzung mit der Koordinate ‚Zeit‘ im Mediengefüge der Frühen Neuzeit. Wie hiezu Ivan Părvev als Respondent richtig anmerkte, müssten das Bewusstsein von (politischen) Epochen und dessen Ausdrucksmöglichkeit in der periodischen Presse in verschiedenen geographischen Räumen und Zeitabschnitten der (Frühen) Neuzeit noch genauer differenziert werden. Eine Reihe von Beiträgen erhellte nach diesen Schlaglichtern tiefer schürfend Beziehungen von Zeitgeschehen und Zeitungsberichterstattung. Claudia Resch und Nina Rastinger reflektierten die Rolle zeitnaher Berichterstattung im „Wienerischen Diarium“ bzw. in der „Wiener Zeitung“. Die sprachlichen Marker respektive regelrechte Formulierungstraditionen wurden zu diesem Zweck mit einem korpusbasierten Ansatz untersucht, genauso wie jene sprachlichen Mittel, die im Zweifel Sachverhalte relativierten, um die Glaubwürdigkeit von Nachrichten zu hinterfragen; der klärende Faktor ‚Zeit‘ wurde quantitativ, qualitativ und mit digitalen Methoden analysiert. Dimensionen zeitnaher und zeitverzögerter Berichterstattung zeigten sich auch in zwei weiteren Referaten aus Reschs transdisziplinärem Projektteam. Nora Fischer skizzierte den taktischen und praktischen Umgang mit Zeitverzögerungen. Die Analyse lieferte strukturelle Aufschlüsse über die Aufbereitung und die Verbreitung aktueller Informationen in der Zeitung. So konnte Fischer auch die Bedeutung bewusster Selektion und unbewusster Kopierfehler eingrenzen. Michael Pölzl widmete sich der Kommunikation zwischen dem Wiener Hof und dem Zeitungscomptoir. Einmalige Ereignisse wie Geburten oder Todesfälle standen wiederkehrende Festivitäten wie Jahrestage und der Jahreswechsel gegenüber. Wortlaut und Länge der Berichte erzeugten ein Bild verschiedener narrativer Möglichkeiten zwischen Standardisierung und enger Ereignisbezogenheit. Jan Hilgärtners Referat setzte sich auf der Grundlage eines umfangreichen statistischen Datenpools aus Zeitungen des 17. Jahrhunderts ebenfalls mit der Aktualität von Zeitungsberichten auseinander. Er verschränkte diesen Aspekt mit dem Wandel der Ausbreitungsgeschwindigkeit von Nachrichten in Europa,

Perzeption und Konzepte von Zeitgeschehen und Zeit in frühneuzeitlichen Zeitungen

der sich strukturell und ereignisbezogen deuten ließ. Eine Fallstudie widmete sich im Gegensatz zu dieser Tendenz verzögerter, heikler Berichterstattung über die Hinrichtung Karls I. in der französischen Presse. Réka Lengyel stellte sich die Frage, wie Mátyás Rát in seinem „Magyar Hírmondó“ (1780–1788) dem Anschwellen verfügbarer Information Herr wurde. Zudem untersuchte sie, welche Textgattungen in ereignisärmeren Zeiten politische Nachrichten ergänzten. Der Vertrieb des Mediums konnte ebenfalls skizziert werden. András Döbörs Beitrag vertiefte den schmalen Grat, der die Grenzen politischer Debatte bestimmte. Sowohl die Französische Revolution als auch der letzte Österreichische Türkenkrieg konnten durch eine Einkleidung in Totengespräche thematisiert werden, als die Zeit der ‚erweiterten Preßfreiheit‘ Schritt für Schritt zu Ende ging. Ilona Pavercsiks Untersuchung der Berichterstattung über den Herrscherwechsel in Ungarn nach dem Tod Josephs II. brachte eine mehrdimensionale mediale Kontextualisierung der politischen Ereignisse. Die Zusammenschau von Presse und politischen Broschüren sowie von Geheimdienstberichten offenbarte komplexe Konstellationen in der Abfolge widerstreitender Aktionen und Reaktionen. Das im Mittelpunkt stehende Zeitungswesen bildete nicht zuletzt die Ausgangsposition für intermediale Vergleiche. Rita Nagy referierte über den „Historischen Haus- und Wirtschafts-Kalender“ aus Buda/Ofen. Es handelte sich um das am langsamsten getaktete periodische Medium, das sich mit dem Zeitgeschehen dokumentierend auseinandersetzte. Darüber hinaus reflektierte es regionale Themen und die Langlebigkeit bzw. den Wandel wirtschaftlicher Strukturen. Auch Prognosen standen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch auf der ‚Tagesordnung‘ respektive ‚Jahresordnung‘ dieses Kalenders. Misia Sophia Doms verglich in ihren diachron und medial breit angelegten Ausführungen erbauliche Gebrauchsliteratur in verschiedenen periodischen Intervallen. Der Bogen spannte sich von der Perikopendichtung des Andreas Gryphius (1639) über moralisch-theologische Wochenschriften bis hin zu (ebenfalls religiös grundierten) Kalendern und ihren Zeitrechnungssystemen. Mit dem 1788 initiierten interkonfessionellen und in weiterer Folge interreligiösen „Oesterreichischen Toleranzboten“ mündete das Referat im Zentrum der habsburgischen Aufklärung und interreligiösen Vervollkommnung des Menschen. Hedvig Ujvári stieß mit ihrer Analyse der frühen Feuilletonromane des ungarischen Nationalerzählers Mór Jókai (1825–1904) das Tor zum Vormärz, zur 1848er Revolution, zum frühen Liberalismus, letztlich zur Moderne auf. Wenngleich der frühneuzeitliche Rahmen dadurch auch für mitteleuropäische Breiten definitiv überschritten wurde, so bildeten ihre Ausführungen über das Verhältnis zwischen der narrativen Langform, seriellen Erzählmustern, der volatilen Tagespresse und ihrer Leserschaft eine eminente theoretische wie praxeologische Ergänzung. In fruchtbarer Weise ging auch Andrea Seidler

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über die Frühe Neuzeit hinaus. Sie demonstrierte am Beispiel der Klementiner in Syrmien, wie autoptische Beschreibungen der vormodernen Völkerkunde des 18. Jahrhunderts weiterwirkten, selbst als der Untersuchungsgegenstand sich bereits im Umbruch befand. Die Kontinuität in Text und Bild gelehrter periodischer Medien konnte über das lange 19. Jahrhundert bis in die Zeit der frühen Akademisierung der Ethnographie/Ethnologie verfolgt werden. Im Kontrast zu Kontinuitäten stand die Schnelllebigkeit der Mode, der Ingrid Haberl-Scherk in europäischen Frauenzeitschriften des 18. Jahrhunderts nachspürte. Auf dieser breiten Basis konnten die Chronologie der Berichterstattung und die Ausbreitung der Diskussion über Mode veranschaulicht werden. Alexandra Fuchs nutzte italienische Moralische Periodika, vor allem die Zeitschrift „Il Caffè“ (1764–1766), um alltagsrelevante Inhalte auszumachen. Die Analyse formaler Gestaltungsmerkmale führte zur Conclusio, dass zweckgerichtetes Schreiben die Texte prägte. Fuchs erörterte schließlich, welche Rolle die ‚von außen‘ vorgenommene Auswahl der Inhalte und Texte spielte. Ein Fazit fällt angesichts dieser Vielfalt an Inhalten, Medien und Methoden schwer. Aus pressegeschichtlicher Perspektive überzeugen Wert und Eigenwert der Texte in der periodischen Presse, seien es informative, argumentative oder poetische, seien es bloße Berichte, Räsonnements oder ebenso höchst aufschlussreiche Paratexte. Eine Sensibilisierung der Historiographie hinsichtlich der Darstellungsweisen des faktischen Zeitgeschehens müsste ebenso intensiviert werden wie eine tiefer gehende Befassung der Literaturgeschichte mit journalistischen Textsorten. Ein Tagungsband, der weiter in dieses Horn stoßen wird, ist für Ende 2021 geplant.

Janka Kovács

Sciences between Tradition and Innovation – Historical Perspectives (Budapest, Eötvös Loránd University, 28–29 May 2019) On 28–29 May 2019, the research group ‘The Patterns of the Circulation of Scientific Knowledge in Hungary, 1770–1830’ (National Research, Development and Innovation Office of Hungary, K 16 119577) organised a two-day bilingual (English and German) conference at the Institute of History at Eötvös Loránd University, Budapest, revolving around the notions of ‘tradition’ and ‘innovation’ in the scientific world in the 18th and the first half of the 19th century.1 Corresponding to the goal of the four-year research project, namely the investigation of the realignment of various disciplines in Hungary (philosophy, state sciences/statistics, history, aesthetics/classical philology, medicine, ethnology/anthropology, and agronomics), the conference presentations aimed to chart the different types of transformations leading to the restructuring of the existing system of disciplines. In doing so, the broadly defined terms of ‘tradition’ (as a means of passing on knowledge, skills and competences) and ‘innovation’ that could manifest in the practices of combining existing pieces of knowledge, discovery or invention of previously non-existent things became the focal points of discussion. Each of the four panels of the conference was centred around a key aspect of the processes reshaping the sciences during the 18th century, and even though the thematic focus of the presentations was quite diverse, both keynote speakers Hans Erich Bödeker (Göttingen) and Martin Gierl (Göttingen) reflected on issues pertaining to a general framework within which the individual thrusts of the fifteen lectures could be subsumed. Hans Erich Bödeker focused on the strategies, methods, and practices contributing to the realignment of the various disciplines during the 18th century and the transformation of science into research, namely the changing reading practices, the increasing importance of experimentation, and the transformation of the notion of the ‘author’; Martin Gierl chose to speak about an ‘intermediate position’, the internal and external factors of creating new forms of knowledge, by discussing what occurs between tradition and innovation and what moulds old practices of knowledge into 1 Financial support to the conference was provided by the Thematic Excellence Programme of Higher Education (20460-3/2018/FEKUSTRAT).

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new ones. To illustrate his theory, he presented three fundamental examples from his own scientific area of work: the Pietism debate, the transformation of historiography and the scientific construction of history using the example of Johann Christoph Gatterer, and the emergence of journals. The opening panel addressed institutional and individual aspects of knowledge production and circulation. The first lecture by Benedek Láng (Budapest) on the universal language schemes during the 18th and 19th centuries presented the Hungarian attempts to create a ‘perfect language’ and explored the links between the Western ‘classics’ and their Hungarian followers, thereby immediately touching upon two issues that would recur throughout the conference presentations: the use of language as a tool for scientific communication and the conveying of new results. Similarly, László Kontler’s (Budapest) discussion of Maximilian Hell’s unsuccessful attempt in the 1760s to create an academy of sciences in the Habsburg Monarchy pointed to the importance of systematisation and organisation as a means of cultivating modern knowledge and thus elevating science to a higher level. More specific aspects came into into focus in the presentations of Dezső Gurka (Szarvas) and Gergely Fórizs (Budapest). Gurka examined the so-called ‘Jena Constellation’ and the connections, relations and interactions between Jena, one of the most important Western centres of knowledge, and the Hungarian scientific community as well as their impact on Hungarian philosophical thinking. Fórizs’ talk focused on the educational program of Tobias Gottfried Schröer, a professor at the Evangelical Lyceum of Pozsony (today: Bratislava, Slovakia), by investigating his 1833 book, published under the pseudonym Pius Desiderius and embedded in the contemporary debates on István Széchenyi’s ‘Hitel’ (Credit), that combined his ideal of advancing Hungarian economic development and revitalising of the cultural life of Hungary with his own angles on a ‘transnational’ ideal of education. The changing ideals and techniques of observation, registration, gathering knowledge and implementing new practices formed the backbone of the subsequent panel. György Kurucz (Budapest) approached the topic using the example of the Georgikon, the first farming college in Hungary (est. 1797), and its founder Count György Festetics’s concept of adopting the advanced economic theories and farming practices of contemporary Western Europe. This approach was continued by the Count´s son, László Festetics, leading him to initiate ‘study tours’ through Western Europe with set itineraries and new standards of observation, shifting from ‘sentimental journeys’ towards ‘technological journeys’. Tibor Bodnár-Király’s (Budapest) treatment of the question of the readjustment of the state sciences in late 18th -century Hungary challenged the view that the appearance of Schlözerian statistics brought about a new era of writing statistics in the Kingdom of Hungary by taking the conceptual, intellectual and socio-cultural factors, as well as the coexistence of ‘traditional’ and ‘innovative’

Sciences between Tradition and Innovation

methods of gathering data into consideration. Introducing the examples of aesthetics, history and classical philology to the discussion, Piroska Balogh (Budapest) argued that Johann Ludwig Schedius, Johann Christian Engel and Ézsaiás Budai, three Hungarian-born authors educated in Göttingen, not only disseminated the knowledge they obtained there, but also applied the specific philological, hermeneutical, and pedagogical methods they had learned. Through convincing textual analysis, Balogh demonstrated how the so-called ‘triple-probe method’ was implemented in the individual works of the three authors. As for medical history, the presenters of the third panel gave highly insightful lectures on ‘medical writing’ in the framework of tradition and innovation from a methodological point of view as well as in the sense of writing as ‘reflection’ or ‘discourse’ on medicine as a subject. Karel Černý (Prague) focused on self-reflection and the definition of scholarly identity using the examples of Jan Baptist von Helmont and Coernelius Bontekoe and their approaches to the medical establishment of the 17th century, while Sonia Horn (Vienna) organised her presentation around the historical-critical analysis of the notions of ‘construction’, ‘innovation’ and ‘tradition’ by both challenging and confirming the ‘innovative strength’ of Gerard van Swieten and his representations in medical historiography. In a lecture presenting a rich variety of sources, Lilla Krász (Budapest) described the appearance of new practices of medical writing and the application of new visual media as well as new administrative techniques for gathering information, approaching this extensive body of material from various angles (e. g. socio-cultural, epistemological). The final panel dealt with the emerging discipline of ethnology from the perspective of the dissemination of knowledge in various printed genres. Ildikó Sz. Kristóf (Budapest) discussed the ‘philological presence of Captain Cook in Hungary’ with the aim of revealing the transmission of knowledge from Western Europe to Hungary through translation. Focusing on the three familiar translations and a previously unknown Hungarian text on James Cook’s voyages, she proceeded to explore the four separate scientific micro-contexts from which the science of ethnography/anthropology emerged. As for publications aimed at a wider audience, Andrea Seidler (Vienna) and Márton Szilágyi (Budapest) spoke about the representations of ethnographic knowledge in journals and magazines from different angles. Andrea Seidler chose to discuss the programme of the German-language magazines ‘Ungrisches Magazin’ and ‘Neues Ungrisches Magazin’ published by Karl Gottlieb Windisch, argueing that the driving force behind the publication of descriptions of the ‘common folk’ was cameralism along with the goal of bringing previously unknown layers of society into the sphere of public discussion. Taking a different approach to the ethnological descriptions, Márton Szilágyi proposed that although initially

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intended as scientific delineations, these publications taken primarily from ‘Mindenes Gyűjtemény’ and ‘Uránia’ were in fact received as fictionalised or belletristic accounts, addressing the questions of functional change, the literary value of such texts and their relation to the emergence of anthropology as a science in Hungary. In summary and as emphasised by Hans Erich Bödeker in his closing remarks, although the fifteen talks dealt with varying topics from seemingly differing perspectives in regard to theory, practice, processes, structures, the roles of individuals, institutions, internal and external factors and representations, the notions of ‘tradition’ and ‘innovation’ proved to be the essential terms around which a conference on the realigning process of disciplines could be organized, sparking numerous fruitful discussions on structural, institutional, linguistic and epistemological questions following the panels and making the two-day event an outstanding success in terms of advancing discourse on the problems of the history of eighteenth- and nineteenth-century scientific life.

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Michael Hochedlinger / Petr Maťa / Thomas Winkelbauer (Hg.), Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit. Band 1/ 1−2: Hof und Dynastie, Kaiser und Reich, Zentralverwaltungen, Kriegswesen und landesfürstliches Finanzwesen (MIÖG Ergänzungsbände 62/ 1). Wien: Böhlau Verlag 2019. 1308 S.; ISBN 978-3-205-20766-5. Das Projekt zur Erstellung einer „modernen“ Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit wurde 2004 von Michael Hochedlinger initiiert, 2008 sollte eine Tagung im Österreichischen Staatsarchiv dieses Anliegen fördern und weiterentwickeln. Im Vorwort des dazu erschienenen Tagungsbandes noch für 2011 angekündigt,1 ist nun (2019) der erste Band dieses (Mammut-)Projekts erschienen, in dem Beiträge von beinahe 60 internationalen Autor*innen versammelt sind (insgesamt wirken an dem dreibändigen Projekt knapp 200 mit). Es ist festzustellen, dass ein solch umfassendes Vorhaben nur mit entsprechender institutioneller Anbindung bzw. Unterstützung zu stemmen ist, die v. a. das Institut für Österreichische Geschichtsforschung bot. Das Anfang des 20. Jahrhunderts von Thomas Fellner und Heinrich Kretschmayr begründete Publikationsprojekt der österreichischen Zentralverwaltung (1907ff.), das im Rahmen der Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs erschien, lieferte neben historischen Übersichten auch jeweils Bände mit Editionen relevanter Dokumente zur Einrichtung bzw. Arbeitsweise der landesfürstlichen Verwaltungsstellen. In dieser nun knapp hundert Jahre später initiierten „modernen“ Verwaltungsgeschichte, die den Zeitraum vom 16. bis 18. Jahrhundert in den Blick nimmt,2 fehlen solche Editionen, das Handbuch bietet kompakte Darstellungen zu den zentralen Behörden der Habsburgermonarchie bzw. den Reichsinstitutionen mit einem abschließenden Forschungsüberblick, der die jeweils wichtigste Literatur nennt. Diesem Konzept entsprechend fehlen in den Darstellungen selbst (bedauerlicherweise) Anmerkungen. Ergänzt werden die Überblicke in der Regel mit Listen zu den Behördenleitern, die vereinzelt auch die Bände von Fellner und Kretschmayr boten. Gerade diese Amtsinhaberlisten werden für die künftige Forschung einen wichtigen Referenzpunkt darstellen. Die folgenden Bände sollen sich mit der Verwaltung auf der Ebene der Länder (und damit auch den jeweiligen Landständen) sowie schließlich der dritte Band auf die nach den Länder(gruppen) 1 Michael Hochedlinger / Thomas Winkelbauer (Hg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 57). Wien – München 2010. 2 Für den Zeitraum ab 1848 liegt das an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften entstandene mehrbändige Werk „Die Habsburgermonarchie 1848–1918“ vor, wobei sich etwa der 1975 erschienene zweite Band mit „Verwaltung und Rechtwesen“ auseinandersetzte.

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untergliederten Themen der Verwaltung durch die konfessionellen Gemeinden, den Grundherrschaften und den ländlichen Gemeinden, den Städten und Märkten sowie dem Bildungswesen beschäftigen.3 Ziel ist es also auch, den Blick auf nicht-landesfürstliche Stellen zu richten, was insbesondere die noch kommenden Bände leisten sollen. Der vorliegende erste Band der Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit legt nun seinen Fokus auf die Residenz und die dort angesiedelten (Wiener und Prager) Verwaltungsstellen. Der Blick richtet sich dabei nicht nur auf den für die Länderadministration zuständigen Zentralstellen in Wien, sondern auch auf den Hof selbst (S. 149–264) oder das Reich und dessen Institutionen (S. 265–374). Für die deutschsprachige Forschung werden zudem sicherlich die kompakten Darstellungen zu den für die böhmischen und ungarischen Länder verantwortlichen Behörden, etwa die Länderkammern oder Hofkanzleien, von Nutzen sein. Zudem sind Überblicke zu den italienischen und niederländischen Stellen in Wien enthalten. Am Beginn des Bandes stehen einleitende Kapitel zur territorialen und demographischen Entwicklung (S. 27–79) sowie zur Dynastie der Habsburger (z. B. zum Thronfolgerecht) und dem Adel (u. a. auch zum Orden vom Goldenen Vlies und anderen Hausorden, S. 81–148). Die folgenden größeren Blöcke des Bandes sind umfangmäßig relativ ausgewogen verteilt (Hof: S. 149–264; Kaiser und Reich: S. 265–374; landesfürstliche Zentralverwaltung: S. 421–621; Das Kriegswesen: S. 627–763; landesfürstliche Finanzwesen: S. 765–981). Betrachtet man etwa die Beiträge zum Hof, so umfassen diese einen Blick auf die kaiserlichen Hofstaaten, also jene des Kaisers, der Kaiserinnen, der Kaiserin-Witwen sowie der Thronfolger, und die obersten Hofämter mit den diesen untergeordneten Stellen. Die einzelnen Großkapitel sind aber durchaus verflochten, etwa wenn im Rahmen des landesfürstlichen Finanzwesens die Reichssteuern behandelt werden. In der Regel wählen die Abhandlungen durchwegs den Zugang über die historische Entwicklung, um das Wirken der jeweiligen Behörden zu verdeutlichen. Mark Hengerer beschäftigt sich in seinem Beitrag zur Hofkammer im 17. Jahrhundert u. a. auch mit den Arbeitsweisen dieser Behörde, was dem Autor nicht zuletzt aufgrund des engeren Zeitraums ermöglicht wurde (S. 834–847; ähnlich auch im Beitrag von Eva Ortlieb zum Reichshofrat, S. 311–319). In dem Band werden aber nicht nur die zentralen Behörden selbst, sondern zu Beginn der jeweiligen Großkapitel auch allgemeine Darstellungen zum Verwaltungs- bzw. Amtshandeln und dessen Voraussetzungen selbst geboten, etwa zur Habsburgermonarchie insgesamt (Petr Maťa, S. 29–62), zum Adel in den einzelnen Länder(gruppen) (Petr Maťa, S. 117–148), 3 Dazu Thomas Winkelbauer, Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, in: Hochedlinger / Winkelbauer (Hg.), Herrschaftsverdichtung, wie Anm. 1, 12f.

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zur Rolle der Kaiser (Axel Gotthard, S. 267–279), zu Aspekten des Militärwesens (Michael Hochedlinger, bes. S. 728–763), dem Finanz- und Steuerwesen (Thomas Winkelbauer, S. 767–824) oder dem Postwesen sowie Briefverkehr (Thomas Winkelbauer, S. 1005–1027). Im Rahmen der Forstverwaltungen geht Martin P. Schennach etwa u. a. auch auf das Jagdrecht ein (S. 934–938). Beiträge beschäftigen sich zudem mit der Hofhistoriographie (Stefan Benz, S. 170–174, inkl. Überblick zu Hofhistoriographen) oder dem Reichslehnswesen (Matthias Schnettger, S. 304–310). Reformphasen werden immer wieder in den Blick genommen (Manfred Holleger, Maximilianeische Reformen; Michael Hochedlinger, Maria-Theresianische Staatsreform). Vor dem Hintergrund der Länder und ihren traditionellen Rahmenbedingungen betont Petr Maťa in seinen einleitenden Betrachtungen zur Habsburgermonarchie: „Der Motor der Integration war nicht unbedingt eine teleologisch bzw. als Selbstzweck zu verstehende Zentralisierungsabsicht, sondern vielmehr die Ressourcenmobilisierung“ (S. 46). Deutlich wird hier jedenfalls der Blick der Herausgeber auf den Aspekt der Habsburgermonarchie als fiscal-military state4 , der sich auch in den Darstellungen wieder findet. Der Umfang der Beiträge ist unterschiedlich, auf umfangreiche Kapitel folgen kleinere Beiträge, kurz sind etwa die Überblicke zu den Hofbauten bzw. Residenzen (insgesamt zwölf Darstellungen auf knapp zehn Seiten), weshalb sich der Nutzen dieser Übersichten v. a. auf die abschließende Darlegung zu Forschungsstand und Literatur erstreckt. Das ausführliche Literaturverzeichnis sowie Personen- und Ortsregister runden den Band ab (S. 1038–1238 bzw. 1239–1303). Die von den Herausgebern erhoffte Behandlung des Verhältnisses zwischen Norm und Praxis, einer „Kulturgeschichte der Verwaltung“ (Peter Becker), der kommunikativen Prozesse im Rahmen der Herrschaftsausübung sowie schließlich des Aspekts des „Aushandeln[s] von Herrschaft“5 werden in den Beiträgen unterschiedlich ausführlich beantwortet, wobei das vorgelegte Handbuch aus Platzgründen für neue Erkenntnisse nur begrenzt den idealen Rahmen abgibt. In der Verwaltungsgeschichte kommen viele anerkannte (internationale) Experten zu Wort (Joachim Balcke, Stefan Benz, P.G.M. Dickson, Peter Claus Hartmann, János Kalmár, Grete Klingenstein, Eva Ortlieb, Géza Pálfy, Andrea Sommer-Mathis, Renate Zedinger u.v.m.), deren Beiträge zahlreiche Redaktionsstufen erfuhren. Lag laut Vorwort ein Manuskript bereits 2009/2010 vor, konnten die Beiträge 2017 ergänzt werden, weshalb neuere Literatur durchaus

4 Ein Tagungsband ist dazu in Vorbereitung: William D. Godsey / Petr Maťa / Thomas Winkelbauer (Hg.), The Habsburg Monarchy as a Fiscal-Military State c. 1648–1815: Contours and Perspectives, bei Oxford University Press. 5 Zu den genannten vier Punkten Winkelbauer, Verwaltungsgeschichte, wie Anm. 3, 14f.

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berücksichtigt ist (etwa die Hofburgprojektbände). Der knapp 15 Jahre andauernde Entstehungsprozess dieses Bandes hat nicht nur seine Gründe, sondern auch gewisse Nachteile, zumal in diesen Jahren auch die Forschung fortgeschritten ist und durchaus auch von einer jüngeren Generation bereits getragen wird. Aus den genannten Beiträgen wird auch deutlich, dass an dem Projekt zwar zahlreiche Autor*innen beteiligt waren, v. a. aber auch die Herausgeber selbst mehrere umfängliche Überblicke verfassten, die aus deren langjähriger Forschungstätigkeit erwuchsen bzw. notwendig wurden, weil Autor*innen nicht für Beiträge zu den zu behandelnden Stellen gewonnen werden konnten. Das somit notwendige Lückenschließen bewirkt, dass die Herausgeber einen durchaus beachtlichen Teil des Bandes selbst verfassten. Die hilfreichen Kommentare zum Forschungsstand sind aufgrund der verkürzten Literaturzitate (Familienname und Erscheinungsjahr) in der Regel nur in Zusammenschau mit dem Literaturverzeichnis und damit dem zweiten Band zu benützen, was ein wenig umständlich ist, aber Druckseiten spart. Diese „Kritik“-Punkte wirken jedoch aufgrund der dem Handbuch innewohnenden Leistungen kleinlich, denn vorliegender Band wird bzw. ist bereits als wichtiges Nachschlagewerk aus Forschung und Lehre kaum wegzudenken, auch wenn das Handbuch gleichzeitig die Tür für künftige Studien aufstößt, wiewohl auch das durchaus ein Ziel der Herausgeber war bzw. ist. Stefan Seitschek (Wien)

Anton M. Matytsin / Dan Edelstein (Hg.), Let There Be Enlightenment. The Religious and Mystical Sources of Rationality. Johns Hopkins University Press: Baltimore 2018. 304 S.; ISBN 978-1-4214-2601-3. Der radikale Gegensatz zwischen Aufklärung und Religion ist eher ein narratives Produkt der Aufklärer als ein historisch feststellbarer Gegenstand: Zu diesem Schluss kommen zahlreiche Studien, die sich in den vergangenen Jahren der komplexen Interaktion von religiöser und aufklärerischer Kultur, Sprache und gesellschaftlicher Manifestation gewidmet haben. Der vorliegende Band, der auf eine Tagung in Stanford 2014 zurückgeht, greift diesen Ansatz auf, indem er aufklärerische Narrationen und Metaphern als Überschreibungen religiöser Semantiken der Vormoderne präsentiert. Diesen allen wohnte stets auch ein epistemischer Anspruch inne, sodass sich eine Ideengeschichte an der Schnittstelle von Wissenschafts- und Literaturgeschichte ergibt. Es sind drei Themenbereiche, nach welchen die Beiträge angeordnet sind. Unter dem Titel „Lux“ werden Fallstudien verhandelt, in denen es um die Lichtmetapher zwischen Mystik und wissenschaftlichem Fortschrittsdenken geht:

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von Jan Amos Comenius’ „Via Lucis“ (Howard Hotson) über den Kampf um die Deutungshoheit über den Begriff im Frankreich des frühen 18. Jahrhunderts (Anton Matytsin, Céline Spector) hin zur Diskussion der Straßenbeleuchtung im Paris der Aufklärung (Darrin Mc Mahon). Um die Achse „Veritas“ im theologischen und philosophischen Sinn ordnen sich weitere Versuchsanordnungen an: Spinoza und der Lebensstil der Quäker (Jo Van Cauter), Hobbes’ politische Theorie des Zwangs und die christliche Tradition von Erleuchtung durch Zwangsbekehrung (Philippe Buc) und das Fortleben von Scholastik und Aristotelismus in der frühen Neuzeit (Matthew Gaetano, Dan Edelstein). Unter dem Titel „Tenebrae“ werden schließlich weitere Zugänge betrachtet: die „staatskirchlichen“ Tendenzen im Anglikanismus (William Bulman), unterschiedliche Licht- und Aufklärungsnarrative im Vergleich, von Jesuiten zu Freimaurern (Jeffrey Burson), mystische und antirationalistische Diskurse bei den Enzyklopädisten (Charly Coleman) sowie der Gebrauch von Licht- und Aufklärungsbildern bei religiösen „Anti-Aufklärern“ in Deutschland und Frankreich um 1800 (James Schmidt). Der verfolgte Ansatz ist eminent wichtig und problemlos auf andere Teile der christlichen Welt anzuwenden, sicher auch darüberhinaus. Die Beiträge sind ebenso quellennah wie reflexionsgesättigt und ergeben zusammen ein schlüssiges, epochenübergreifendes Bild. Zugleich scheint dieses sich schwer in einen gegenwärtigen Aufklärungsdiskurs einzupassen, dem es heute oft an historischer Breite und methodologischer Tiefe mangelt: Selbst in der akademischen Forschung zum Thema ist es häufig das letzte verbliebene Ziel, den traditionellen (stereotypischen) Wissensstand überhaupt lebendig zu halten; für ideengeschichtliche Differenzierung fehlt dann jeder Anlass. Daneben ist es in der Tat auch eine unangenehme und beunruhigende Einsicht, dass das Weltbild der Moderne in wesentlichen Teilen eine Überformung seines Anderen, der Religion ist. Ein erster Schritt in diese Einsicht führt über dieses Buch. Thomas Wallnig (Wien)

Wolfgang Schmale / Marion Romberg / Josef Köstlbauer (Hg.), The Language of Continent Allegories in Baroque Central Europa. Steiner: Stuttgart 2016. 240 S.; ISBN 978-3-515-11457-8. Der über 200-seitige Sammelband vereint qualitative und quantitative Studien über die Erdteilallegorien in Kartografie, Architektur und Kunst. Geografisch klar eingerahmt von Freiburg im Breisgau bis zur östlichen Grenze Niederösterreichs, Wien eingeschlossen, sowie vom Main bis Südtirol werden immobile Abbildungen in Form von Fresken, Kirchenbildern, Stuck und Skulpturen in

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Kirchen, Klöstern, Palästen, Gärten und Parks einer quantitativen Analyse unterzogen. Ziel der Studie ist zum einen die systematische Erfassung der Verbreitung der Allegorien und zum anderen die Untersuchung von Bedeutung und Wirkung des visuellen Diskurses. Dabei gehen die Autor*innen davon aus, dass diese ein breiteres Publikum erreichten und damit auch eine breitere Rezeption erfuhren als beispielsweise literarische Diskurse. Die Grundlage des Projektes ist eine Datenbank, die zu jedem Objekt eine Chronologie, Daten der Restauration, zugehörige Quellen sowie bibliografische Hinweise benennt.6 Als sehr hilfreich für die historische Forschung zu bewerten sind die Interpretationen der Allegorien bzw. ihre detaillierte Beschreibung.7 Die Datenbank ist über eine interaktive geografische Karte, eine Zeitleiste, einen Personen-, Orte-, Iconclass-Index und über die Allegorien selbst durchsuchbar. Der Sammelband ist in drei thematische Sektionen aufgeteilt: Fundamentals und zwei Sektionen, die sich zum einen mit der Sprache der Erdteilallegorien im Süden des Reiches und zum anderen mit der Region von Warschau bis Gorizia beschäftigen. Im Vorwort wird bereits deutlich, dass sich language, also Sprache, auf folgende Gegenstandsbereiche bezieht: Die vier Erdteilallegorien sind grundlegender Bestandteil von religiösen, liturgischen, politischen, historischen und weiteren Diskursen. So vielfältig sie genutzt wurden, so oft wurden sie reproduziert. Das Sammelwerk stellt die Ergebnisse des Projekts „A Discourse and Art Historical Analysis of the Allegories of the Continents in the South of the Holy Roman Empire and its Documentation in a hypermedia Enviroment“ (2012–2016), gefördert von dem Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF), dar. Dreh- und Angelpunkt sind die in der Barockzeit entstandenen Personifikationen der vier Kontinente Europa, Asien, Amerika und Afrika, die bis in die Zeit der Französischen Revolution beliebt waren. In der Einleitung von Wolfgang Schmale, Marion Romberg und Josef Köstlbauer wird die Datenbank und ihr Nutzen für die Forschung ausführlich beschrieben. An vier Beispielen wird hier deutlich gemacht, welche Allegorien wo Verbreitung fanden und welche möglichen kulturellen Transfers an Wissens(bild)archiven denkbar sind. An einer der vorgestellten Fallstudien in der Datenbank ist zu erfahren, welche Erscheinungsformen und Verbreitungen beispielsweise der Elefantenkopf (bzw. Skalp) als Attribut der Allegorie Afrikas im 18. Jahrhundert hatte. Dabei zeigte sich, dass es in den untersuchten Regionen eine Anhäufung dieser Allegorie im Süden Deutschland gibt. Es stellte sich ebenfalls heraus, dass dieses nur eines von vielen Attributen wie beispielsweise Skorpione, Schlangen, Krokodile 6 https://erdteilallegorien.univie.ac.at/ (letzter Zugriff: 02.07.2019). 7 Beispiel: https://erdteilallegorien.univie.ac.at/#/erdteilallegorien/vorlage-erdteilallegorien-vonjohann-georg-bergmueller (letzter Zugriff: 02.07.2019).

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usw. darstellte. Es sind demzufolge quantitative und qualitative (ikonografische) Abfragen und Vergleiche mithilfe der Datenbank möglich, die auch umfassende Verortungen und Beschreibungen beinhalten. Es wurde empirisches Material geschaffen, auf dessen Basis weitere Forschungen möglich sind. Die Grundlagen für die Veränderung des Blickes und der Interpretation von „Menschheitsgeschichte“ im 16. und 17. Jahrhundert erläutert Wolfgang Schmale im Kapitel „Continent Allegories and History of Mankind“. Dabei spannt er einen Bogen von der biblischen Heilsgeschichte bis zur „Menschheitsgeschichte“ von Autoren wie Montesquieu, Rousseau und Voltaire, deren Bruch mit der heilsgeschichtlichen Narration auch die sich verändernde Ikonografie bzw. Visual History beeinflusste. Die Repräsentation der Kontinente in Form von Personen schien die einfachste Methode zu sein, die Idee der „einen Welt“ auszudrücken. Freilich war mit der einen Welt nicht gemeint, dass alle Menschen gleich(berechtigt) wären, wie Schmale an Tiepolos Fresko in der erzbischöflichen Residenz in Würzburg deutlich macht. Die Blickrichtung hierarchisiert die Kontinente untereinander; dabei ist Europa die strahlendste Figur, da sie in der Zivilisationsgeschichte bzw. Universalgeschichte die höchste Stufe einnimmt. Die Allegorien können dadurch, so Wolfgang Schmale, reichhaltige Informationen über die sich wandelnd Bedeutung „Europas“ im 18. Jahrhundert liefern. Britta Kägler widmet sich der wenig erforschten Verflechtung zwischen Wirtschaftsgeschichte und barocker Architektur und greift damit nicht nur ein neues Thema in der Geschichte der Darstellung von Kontinenten, sondern auch ein immer wieder in der Kultur- und Wirtschaftsforschung postuliertes Desiderat auf. Sie untersucht große Barock- bzw. Klosteranlagen wie Roggenburg oder Ottobeuren, also ländliche Regionen, die im 18. Jahrhundert vom Bauboom profitierten. Die Bauaufträge gingen an Handwerker, Künstler, Tagelöhner und bäuerliche Kleinbetriebe und sorgten so für Konjunktur auf dem Land. Ein weiterer Aspekt der Bautätigkeit ist, dass zum Ende des 18. Jahrhunderts die großen Landbesitzer in Bayern Vertreter der Aufklärung waren. Der Bauboom führte zu einer radikalen Säkularisierung dieser Regionen, so die Autorin. Klöster, Kirchen und Konvente wurden restauriert, wieder und neu errichtet und durch neue Gebäude wie Ställe, Schmieden, Mühlen usw. erweitert. In der zweiten Sektion wird die Verbreitung der Erdteilallegorien im Süden des Heiligen Römischen Reiches unter die Lupe genommen. Grundlegende Aspekte sind hierbei die Verbreitungswege der vier Erdteilallegorien, sei es durch Medialität und Lesbarkeit (Josef Köstelbauer), die Verwendung entlegener Projektionsräume in der jesuitischen Missionsgeschichte in Japan (Haruka Oba) oder durch Bildungskanäle im katholischen Laienunterricht und im bikonfessionellen Augsburg (Marion Romberg), die den Wissenstransfer beförderten.

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In der dritten Sektion werden die Erscheinungsformen der Erdteilallegorien in der Region zwischen Warschau und Gorizia vorgestellt. Katarzyna Poniňska stellt zunächst fest, dass die Erdteilallegorien in sakralen Bauten wie in konzeptuellen Programmen säkularen Charakters keine Ausnahmen darstellen (siehe in dem Sammelband auch den Artikel von Christine Moisan-Jablonski). Es wird nachvollzogen, wie die profanen Darstellungen der vier Kontinente von den sakralen Räumen über die königlichen Residenzen in die Salons der gelehrten und gebildeten Gesellschaftsschichten gelangten. Poniňska wirft dabei die Frage auf, ob der symbolische Gehalt der Erdteilallegorien vielleicht nicht verstanden wurde. Es könnte möglich sein, dass diese Darstellungen Künstlern die Möglichkeit gab, ihre Vielseitigkeit und Kunstfertigkeit zur Schau zu stellen. Skulpturen und Porzellan könnten schlicht als Liebhaber- oder Sammlerstücke gesehen werden und somit ihre Rezeption nicht von der ursprünglichen Intention geprägt sein. Die Darstellungen in Warschau standen wie in anderen europäischen Kulturen im Zusammenhang mit dem Bedürfnis, die „gesamte“ Welt zu kennen und einer Faszination für andere Kulturen, wurden aber nicht immer in ihrer umfassenden Bedeutung verstanden. Auch in dieser Sektion wird die Mission der Jesuiten und der Wissenstransfer über die Erdteilallegorien in Deutschland und Böhmen nachgespürt (Katrin Sterba) und als bewusste Kommunikationsstrategie im Kräfteverhältnis der Reformation konzipiert (Claudio Ferlan). Insgesamt bietet der Sammelband einen innovativen Forschungsumriss und empirische Grundlagenforschung durch die umfassende Datenbank. Diese erfasst und kombiniert Aspekte, die bisher wenig erforscht sind und neue Fragestellungen überhaupt erst möglich machen, wie der Zusammenhang zwischen Vermögens- und Wissenstransfer, konfessionelle und profane Nutzung der Erdteilallegorien und nicht zuletzt der Blick auf europäische Städte und ihre zentrale Bedeutung für die Verbreitung der Aufklärung. Schade ist, dass die Abbildungen in der gebundenen Ausgabe kaum zu erkennen sind und der Detailreichtum somit verloren ging. Muriel González Athenas (Bochum)

Gerhard Ammerer / Christoph Brandhuber, Schwert und Galgen. Geschichte der Todesstrafe in Salzburg. Verlag Anton Pustet: Salzburg 2018. 223 S.; ISBN 978-3-7025-0887-6. Publiziert im Verlag Anton Pustet, verweisen die beiden Autoren bereits über die Covergestaltung des Buches unmissverständlich darauf, dass der Band interessieren, dass er möglichst viele LeserInnen ansprechen und sie zum Zugreifen

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und Hineinblättern animieren will. Im Format 246 mm x 215 mm, also in etwa im Groß-Oktav, gedruckt, führt ein quer über das gesamte Cover dargestelltes Richtschwert und der in „blutrot“ wiedergegebene Haupttitel des Werks LeserInnen sogleich zur zentralen Thematik des Werks – einer äußerst ausführlich und detailreich dargestellten „Geschichte der Todesstrafe in Salzburg“, welche nicht nur für ein Fachpublikum, sondern auch für eine breitere interessierte LeserInnenschaft verfasst ist; ein Anspruch, der sich in der wissenschaftlichen Community nur allzu selten in dieser Qualität findet – zu sehr befürchten viele in der FachkollegInnenschaft immer wieder, dadurch möglicherweise dem Makel der Unwissenschaftlichkeit ausgesetzt zu werden – eine Befürchtung, die der vorliegende Band eindrucksvoll entkräftet! Ein erster Blick auf die Kapitelgliederung des Bandes bestätigt, dass das Buch – wie man nach Lektüre des Bandes feststellen kann – mit Recht die Erwartung weckt, einen detaillierten Überblick über die Salzburger Rechtsgeschichte – „mit Schwerpunkt auf der Blutgerichtsbarkeit“ – zu bieten, von den (kurz ausgeführten) Anfängen im 8. Jahrhundert über deren Genese in Hoch-, Spätmittelalter und Neuzeit bis hin zur letzten Hinrichtung in Salzburg 1949. Dass ein derartiges Unterfangen einer Fokussierung bedarf, steht dabei außer Frage. Dementsprechend wird schon in der Einleitung des Bandes darauf hingewiesen, dass der „Schwerpunkt der Studie“ auf dem Barockzeitalter und auf jenen Männern liegt, die „als verlängerter Arm des Gesetzes die Verurteilten vom Leben zum Tod brachten“. Damit sei bereits auf eine zentrale Bedeutung der Studie hingewiesen, in welcher (in Kapitel fünf – „Die Scharfrichter“) erstmals eine ausführliche Darstellung der Biographien der Salzburger Scharfrichter des 17. und 18. Jahrhunderts sowie der darüber hinaus am Gesamtprozess der Blutgerichtsbarkeit beteiligten Personen vorgelegt wird. Das erste Kapitel des Bandes („Strafrecht und Todesstrafe in Salzburg“) verweist auf eine weitere Besonderheit der Studie, indem erstmals sowohl die historische Entwicklung der rechtlichen Grundlagen, als auch die damit verbundenen Zuständigkeiten beziehungsweise Verantwortlichkeiten zur Ausübung der Blutgerichtsbarkeit in Salzburg im Überblick zusammengefasst werden. Darüber hinaus unterstreicht schon das erste Kapitel eindrucksvoll die Intention der Autoren, eine wissenschaftlich nicht nur anspruchsvoll-vielschichtige, sondern darüber hinaus auch thematisch „sensible“ Materie durch das Zusammenspiel einer dem Lesefluss (nicht zuletzt durch die Verwendung von Endnoten) zuträglichen Textebene mit der Wiedergabe und Erläuterung zahlreicher schriftlicher und bildlicher Quellen einem interessierten Publikum zugänglich zu machen. Auch die weitere Reihenfolge der insgesamt sieben thematischen Kapitel (Kapitel acht umfasst den „Anhang“) spiegelt die Bemühung wider, neben dem beeindruckenden Detailreichtum der einzelnen Kapitel (jedes Kapitel umfasst

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zwischen fünf und neunzehn Unterkapitel) ein klares, logisch aufeinander abgestimmtes Verhältnis zwischen der phänomenologischen und chronologischen Genese des Generalthemas zu schaffen. Darüber hinaus gelingt es den Autoren über alle Kapitel hinweg, die Divergenzen und Konvergenzen lokal-, regionalund überregionaler Entwicklungen ausgewogen in ihrer Gesamtbedeutung darzustellen. So folgt auf Kapitel zwei („Die Richtstätte“), in dem sämtliche bekannten Richtstätten in der Stadt wie auch im Erzstift beziehungsweise im Land Salzburg zwischen dem 14. und dem Beginn des 18. Jahrhundert angeführt und ausführlich beschrieben werden (insbesondere, was die Finanzierung der „Criminalund Malefizkosten“ anbelangt), in Kapitel drei („Von der Gefangennahme bis zur Hinrichtung – Abläufe, Formen und Riten“) eine umfassende Darstellung von der Fahndung und der Gefangennahme („Suche und Gefangennahme“) über den Gerichtsprozess („Der Kriminalprozess“) bis hin zur Hinrichtung („Der letzte Akt: die Vollstreckung des Urteils“) und der Bestattung der Delinquenten („Die Bestattungspraxis“). Dabei gewähren die Autoren über die Darstellung von Einzelschicksalen immer wieder lebhafte Einblicke sowohl in die jeweiligen Lebensumstände, als auch in die Tatmotive der Verurteilten – ein Darstellungsprinzip, dem die Autoren im gesamten Band treu bleiben. Kapitel vier („Die Hinrichtung“) beschreibt die einzelnen Hinrichtungsarten. Dabei verliert sich der Text jedoch nicht in bisweilen sehr eindringlichen Schilderungen der Hinrichtungsarten, sondern thematisiert diese insbesondere in den Abschnitten „Todesstrafen als Machtdemonstration nach dem ,Salzburger Bauernkrieg‘ von 1525/26“ sowie „Hexenprozesse“ und „Die Zauberer-JacklProzesse“ als Ausdruck kollektiver Disziplinierungsmaßnahmen, ohne auf den durch Gerhard Oestreich in die historische Forschung eingebrachten, und nach wie vor kontrovers diskutierten Begriff der Sozialdisziplinierung (die Autoren sprechen von „Sozialdisziplinierungmaßnahmen“) einzugehen, zu dem sich die Autoren kritisch positionieren. Kurze Verweise auf Norbert Elias und Michel Foucault lesen sich in diesem Kontext eher als Referenz an ein Fachpublikum, signalisieren die Kenntnis des Diskurses, der jedoch im vorliegende Band aufgrund seiner Zielgruppenoffenheit nicht unbedingt thematisiert werden muss. Breiten Raum nimmt Kapitel fünf („Der Scharfrichter“) ein. Neben eindringlichen Einblicken in das Berufsbild sowie das soziale Umfeld der Scharfrichter, werden im Unterkapitel „Die Salzburger Scharfrichter des 17. und 18. Jahrhunderts“ erstmals auch die Biographien sämtlicher Salzburger Scharfrichter des 17. und 18. Jahrhunderts – unter anderem anhand von Stammtafeln – sowie aller am Gesamtprozess der Blutgerichtsbarkeit beteiligten Institutionen und Personen dargestellt. Kapitel sechs („Das 19. Jahrhundert. Ein neues Gesetz, neue Formen der öffentlichen Kommunikation und neue wissenschaftliche Methoden“) beschreibt

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den Wandel in der Praxis der Blutgerichtsbarkeit, der in etwa gleichzeitig mit der endgültigen Eingliederung Salzburgs in das Habsburgerreich ab 1816 erfolgte und mit einer allgemeinen Modernisierung der Rechtsprechung in sämtlichen Bereichen verbunden war. So etwa verweisen die Autoren auf Bereiche der Revitalisierung beziehungsweise Neuerrichtung von „Kriminaluntersuchungsgerichten“, die unter anderem auch auf eine „verbesserte Benützbarkeit im Winter sowie die Beachtung von Gesundheitsaspekten“ abzielten. Gleichzeitig ermöglichte die habsburgische Gesetzgebung ab 1803 differenziertere Zugänge und damit „Verfeinerungen im Verfahrensablauf “, was auch auf den „Aufstieg der Gerichtsmedizin“ zurückzuführen war, wodurch nicht zuletzt neue Möglichkeiten der Spurensicherung und damit auch zur Urteilsfindung gegeben waren. Besonders interessant scheint die neue Praxis sogenannter „Beschreibungs- und Ermahnungsschriften“, die im Unterschied zu den üblicherweise nachträglich zu den Hinrichtungen publizierten Zeitungsberichten oder Predigten der Galgenpater nicht nur den Ablauf der Hinrichtungen beschrieben, sondern darüber hinaus auch Anmerkungen zu Tatmotiven bis hin zur Beschreibung (vermeintlich) psychischer Dispositionen der Verurteilten enthielten. Mit Kapitel sieben („Das 20. Jahrhundert. Die Todesstrafe zwischen Aufhebung und Wiedereinführung“) runden die Autoren ihre Darstellung der „Geschichte der Todesstrafe in Salzburg“ ab, indem sie auch dem letzten Zeithorizont – dem 20. Jahrhundert – ihrer Studie ausführliche Beachtung schenken. Das Kapitel thematisiert die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wechselhaften Entwicklungen rund um die Aufhebung, Wiedereinführung und definitive Abschaffung der Todesstrafe zwischen 1919 und 1949 in Salzburg und auf gesamtstaatlicher Ebene bis 1950 (Abschaffung der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren) und 1968 (Abschaffung der Todesstrafe im standesrechtlichen Verfahren). Wie in den vorangegangenen Kapiteln gelingt es den Autoren auch hier, die LeserInnen durch biographische Einblicke in das Schicksal von Verurteilten die Annäherung an ein vertieftes Verstehen der Gesamtproblematik zu erleichtern. Im Schlusskapitel vertiefen die Autoren den thematischen Rahmen des Bandes um zeithistorische Fragestellungen der Ideologisierung von Rechtsprechung und Todesstrafe in den autoritär-diktatorischen Regimen des Ständestaates („Ständestaat und Todesurteile“) und des Nationalsozialismus („Im Fokus mehrerer Gerichtsbarkeiten: Die Zeit des Nationalsozialismus“). Dabei richten sie den Fokus unter anderem auf Themen wie etwa den Widerstand gegen das NS-Regime („Aufkeimender Widerstand wird erstickt“), auf sogenannte „Kriegswirtschaftsverbrecher“ („Kriegswirtschaftsverbrecher – Der Fall Robert Prähäuser“), auf „Fahnenflucht“ und „Wehrkraftzersetzung“ („Wehr-

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kraftzersetzung – Der Fall Edmund Molnar“) sowie auf die „NS-Euthanasie“ („,Lebensunwert‘ – Todesurteile mit und ohne Gerichtsverfahren“). Schließlich entspricht gerade der thematische Schwerpunkt des Schlusskapitels ganz dem Anspruch, den beide Autoren bereits in ihrer Einleitung als Grundintention zur Abfassung des Bandes formuliert haben, indem sie dort festhalten: „Dieses Buch wurde gegen das Vergessen geschrieben“. Die Autoren drücken dort ihre Hoffnung aus „durch ihr Werk überzeugende Argumente gegen die Anwendung der Todesstrafe zu bieten“ und „damit beizutragen, die […] immer wieder aufkeimende Forderung nach deren Wiedereinführung hintanzuhalten“. – Es gibt also viele Gründe, dieses in seinen vielfältigen Ansprüchen in jeder Hinsicht gelungene Werk als Lektüre zu empfehlen! Nikolaus Reisinger (Graz )

Klaus Graf, Ein politischer Kopf aus Oberschwaben. Johann Gottfried Pahl (1768–1839). Pfarrer und Publizist. Einhorn Verlag: Schwäbisch Gmünd 2018. 220 S.; ISBN 978-3-95747-072-0. Johann Gottfried Pahl durchlief eine bemerkenswerte Karriere. Geboren 1768 in der schwäbischen Reichsstadt Aalen, brachte er es während seines Lebens zum politischen Publizisten, Prediger und aufklärerischen Schriftsteller; zum Landpfarrer, Generalsuperintendenten und ad personam geadelten württembergischen Landtagsabgeordneten. Als er 1839 in Stuttgart starb, war sein Werksverzeichnis dreistellig, Zeitungen würdigten einen verdienten Autor und angesehenen Kirchenmann und Bürger. Klaus Graf, Archivar und Pionier digitalen Arbeitens in den Geschichtswissenschaften, hat Pahl anlässlich seines 250. Geburtstages ein Buch gewidmet, das sein Leben für ein interessiertes Publikum ansprechend nachzeichnet und bildreich aufbereitet. Es erzählt von Pahls Jugend in der Reichsstadt Aalen und dem Studium in Altdorf, von geistlichen und weltlichen Diensten bei adeligen Herren, darunter auch bekannte Persönlichkeiten wie Franz von Werneck oder Charles Joseph de Ligne. Pahl war als Pfarrer viele Jahre in Neubronn, Affalterbach und Fichtenberg tätig, ehe er 1832 zum Generalsuperintendenten und Prälaten von Schwäbisch Hall ernannt wurde. Damit einher ging auch seine Mitgliedschaft im württembergischen Landtag, wo er sich – in einer Phase des Nebeneinanders von Wahl und ständischer Vertretung – politisch engagierte, und zwar „zwischen linker Mitte und konservativer Regierungspartei“ (S. 46). Graf portraitiert Pahl entlang seiner posthum erschienenen Lebenserinnerungen, Korrespondenz (ergänzt durch ein Briefbuch), Werke, Akten und Wortmeldungen anderer Zeitgenossen. An intensiven Kontakten hebt Graf etwa

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den katholischen Theologen und Philosophen Jakob Salat hervor; durch diese Freundschaft – wie durch andere – wird die konfessionell irenische, entschiedene, doch nicht unbedingt revolutionsaffine Grundstimmung der oberdeutschen Volksaufklärung unmittelbar greifbar. Bereits früh schriftstellerisch tätig, verfeinerte Pahl seine Sprache ebenso wie seine volksaufklärerischen Positionen im Zuge seiner langjährigen Predigtaktivität. Durchdrungen vom Ethos seines Amtes, nach welchem religiöse Volksbildung zugleich Volksaufklärung zu sein habe, und stets konfrontiert mit pietistischen Pfarrkindern und katholischen Nachbarn, entwickelte Pahl sein Oeuvre und zugleich sein Denken und Handeln. Er war brillanter Gesellschafter, Herausgeber dreier Zeitschriften (darunter besonders erwähnenswert die 1809 verbotene Zeitschrift „Nationalchronik der Teutschen“) und Verfasser einer Vielzahl von Schriften, vom historischen Roman bis zur Satire, von einer Abhandlung über das evangelische Staatskirchenrecht bis zu pädagogischer Literatur und Kriegsberichterstattung. Insgesamt hat Klaus Graf im Anhang Nachweise zu 166 Werken zusammengetragen. Graf schreibt ansprechend, mit Sympathie für seinen Protagonisten, doch nicht ohne Quellenkritik, Ironie und, dort, wo es angebracht ist, kritische Distanz (S. 58). Immer wieder flicht er Erläuterungen von Sachverhalten ein, um die Lesbarkeit auch für ein breites Publikum zu gewährleisten. Grafs Buch ist unaufdringlich und gerade auch deshalb wichtig. Es dokumentiert in einer breitenwirksamen und dennoch informierten und anspruchsvollen Weise den Zusammenhang von regionaler Aufklärung und den Anfängen eines nationalstaatlichen politischen Systems – gewissermaßen den Deutschen Bund „from below“. Es ist wichtig, die Vielschichtigkeit der Identitäten, die optimistische Grundstimmung und die Mannigfaltigkeit der schriftstellerischen Ausdrucksformen ins Bewusstsein zu rufen: „Weltbürgersinn und Nationalsinn waren für Pahl kein Gegensatz“, er „sah sich nicht nur als Deutscher, sondern auch als Weltbürger – und Schwabe.“ (S. 125) Fern von pathetischem Lokalkolorit ist diese Komplementarität von Zugehörigkeiten heute wichtiger denn je. Aber Grafs Buch ist auch in einer anderen Hinsicht wegweisend. Es nutzt den vollen Umfang digitaler Recherchemöglichkeiten, um vor Leserinnen und Lesern die Online-Verfügbarkeit von Pahls Oeuvre zu dokumentieren. Zugleich ermöglicht Graf über den Weg seines Blogs „Archivalia“ gleichsam einen lebendigen Dialog und Austausch im Hinblick auf das Buch (https://archivalia.hypotheses.org/97525). Dieses wird damit zu einer geglückten Orientierungshilfe, einem Wegweiser in einer gut aufbereiteten, großen, aber doch überschaubaren digitalen Datenmenge. „Die Zukunft von Johann Gottfried Pahl ist digital“ (S. 167) ist nicht nur ein Vers, der um 1800 wohl Anklang gefunden hätte; aus dem Satz spricht eine umfassendere Erkenntnis im Hinblick auf das kulturelle

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Erbe und unseren geschichtskulturellen Umgang damit. Klaus Graf ist in dieser Hinsicht mit seinem Buch eine bemerkenswerte Pilotstudie gelungen. Thomas Wallnig (Wien)

Karin Feuerstein-Praßer, „Ich bleibe zurück wie eine Gefangene“. Elisabeth Christine und Friedrich der Große. Friedrich Pustet: Regensburg 2018, 2. Aufl. 110 S.; ISBN 978-3-7917-2366-2. Das vorliegende Bändchen hat nur knapp 120 Seiten und ist wie mehrere andere Veröffentlichungen der Autorin sichtlich für ein breiteres Lesepublikum verfasst, dennoch verdient es aus mehreren Gründen Beachtung. Ein Grund ist der Inhalt selbst. In der Publikation geht es um die Nachzeichnung des Lebens jener Prinzessin (1715–1797) vom Hof in Wolfenbüttel, die zur Kronprinzessin für den preußischen König aufsteigt und in weiterer Folge den Status als „Schattenkönigin“, als „alternde Königin“ und schließlich als „Königin-Witwe“ durchmisst. Die Darstellung ist sichtlich darum bemüht, im Überblick zu bleiben und das Bild über jene Persönlichkeit des 18. Jahrhunderts nicht mit allzu vielen Details auszustatten, die für das Verständnis des Themas nicht zwingend notwendig sind. Zur Veranschaulichung der unterschiedlichen Phasen werden Ego-Dokumente Elisabeth Christines eingeflochten, die ein bezeichnendes Licht auf die Reflexion jener Frau zu ihrer wechselnden Lage wirft. Den großen Bogen gibt das Vorwort vor, wo von der „vergessenen Königin“ die Rede ist. Demzufolge wird ersichtlich, wie anders das Leben in Kindheit und Jugend war, ehe ihr infolge ihrer Ehe enge Schranken auferlegt wurden, die sie zu ertragen hatte und die bewirkten, dass es ihr kaum je gelang ins Rampenlicht zu kommen. Der zweite Grund ist der symbolische Wert der Themenstellung. Es ist der Fachwelt zwar bekannt, dass die „Frauenfrage“ schon im 18. Jahrhundert eingehend erörtert worden ist, aber sich damals noch nicht auf alle Gesellschaftsschichten beziehen konnte. Die Genderforschung lässt die Ansätze zu jenem politischen Thema daher meist erst im 19. Jahrhundert beginnen, als andere politische Rahmenbedingungen herrschten, die deutlicher in die Gegenwart führen. Dabei wird ein ideologischer Denkfehler sichtbar, wonach die Frauenbefreiung erst dann zu einem zeitgenössischen Anliegen wurde, als es um die Frau an sich ging und nicht mehr ‚nur‘ um die weiblichen Angehörigen gehobener sozialer Schichten. Hiermit wird jedoch nicht evident, inwieweit gerade jene ‚oberen‘ Damen kraft ihrer geschlechtsspezifischen Einsichten zu Vordenkerinnen für eine ‚demokratische Ausweitung‘ des Frau-Verständnisses wurden bzw. werden konnten.

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Der dritte Grund für die Begründung, diesem Band Beachtung zu schenken, besteht in der Publikumsorientierung. Wenn das an sich kleine Thema bislang eine zweite Auflage nach sich gezogen hat, ist von einer entsprechenden Nachfrage auszugehen – einer Nachfrage, die auf dreierlei Motiven beruhen mag: Es gibt insbesondere in Deutschland noch immer genug gebildete Personen, die der Dynastiegeschichte etwas abgewinnen können. Weiters dürfte auch Frauengeschichte an sich ein breites Interesse finden, weshalb auch das Leben gekrönter Frauen Zuwendung erhält. Das dritte Motiv ist offensichtlich die Aufgeschlossenheit gegenüber Geschichte an sich, wenn die Aufbereitung gut lesbar und verständlich geraten ist, zumal die Art und Weise der Formulierung von Fachbüchern selten dazu geeignet ist, vom breiten Publikum angenommen zu werden. Gerade dann, wenn es darum geht, die gravierenden Auswirkungen der Prozesse im 18. Jahrhundert für die Gegenwart zu veranschaulichen, bedarf es noch vieler Schritte zur Popularisierung. Dieses Büchlein ist zwar bloß ein kleiner Stein für ein riesiges Mosaik, aber dennoch nützlich, um die geistige Brücke zwischen jenem Abschnitt der Vergangenheit und der Gegenwart vor Augen zu führen. Harald Heppner (Graz)

Ferdinand Kramer / Ernst Schütz (Bearb.), Bayern im Umbruch. Die Korrespondenz der Salzburger Vertreter in München mit Fürsterzbischof Hieronymus von Colloredo und Hofkanzler Franz Anton von Kürsinger zu Beginn der Bayerischen Erbfolgekrise (Dezember 1777–April 1778). Kommission für Bayerische Landesgeschichte: München 2018 (Quellen zur Neueren Geschichte Bayerns / Quellen zur Bayerischen Erbfolgefrage VI). 512 S.; ISBN 978-3-76966616-8. Die vorliegende Publikation ist trotz ihres landesgeschichtlichen Schwerpunkts für die Leserschaft des Jahrbuchs der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts von Interesse, denn: Die Bayerische Erbfolgekrise von 1778 hatte das Potential, das staatliche Machtgefüge in Europa deutlich zu verändern und besaß damit eine überregionale Bedeutung. Nach dem Ableben des kinderlosen Wittelsbachers Max III. Joseph erhob Österreich Ansprüche auf den bayerischen Thron. Mit geheimen Haus- und Familienverträgen war die kurpfälzische Machtübernahme durch Karl Theodor aber schon vorbereitet worden. Auf die geschaffenen Tatsachen antwortete Joseph II. mit militärischen Mitteln. Es lag in erster Linie am Einschreiten Preußens unter Friedrich II., dass aus den Ambitionen des Kaisers nichts wurde. Der als „Kartoffelkrieg“

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bekannt gewordene Konflikt endete 1779 mit der Unterzeichnung des Friedens von Teschen, infolgedessen Österreich in den Besitz des Innviertels kam. Im Mittelpunkt der vorliegenden Publikation stehen jedoch weniger die Regenten als vielmehr deren Spitzenbeamte. Programmatisch ziert den Schutzumschlag das Porträt des Salzburger Hofratsdirektors Franz Thaddäus von Kleimayrn (auch: Kleinmayrn), der den Leser selbstsicher anblickt. Franz Thaddäus von Kleimayrn (1733–1805) war der Sohn eines Salzburgischen Beamten und genoss in Salzburg, Wetzlar und Göttingen seine Ausbildung. Im Dienst des Salzburger Fürsterzbischofs war er zunächst Archivar und Hofbibliothekar, ehe er 1772 zum Hofratsdirektor aufstieg. In dieser Position befand er sich Ende 1778 zu Verhandlungen in München, denn offene Forderungen im für Salzburg äußerst wichtigen Salzhandel machten die vorübergehende Anwesenheit eines hochrangigen Vertreters notwendig. Durch die geografische Nähe zu Salzburg unterhielt der Fürsterzbischof aber keine dauerhafte Vertretung in München. Der unerwartete Tod Max‘ III. Joseph änderte die Verhandlungssituation grundlegend, wobei Kleimayrn diplomatisches Gespür und Geschick bewies (z. B. S. 31). Seine gründlichen historischen Kenntnisse sowie die mitgeführten historiografischen Aufzeichnungen (S. 81) kamen ihm in den Verhandlungen entgegen. Die wenige Jahre später von ihm publizierten Werke gelten als Beginn der modernen Salzburger Landesgeschichtsschreibung (S. 50*). Unterstützt wurde Kleimayrn durch Joseph Ernst Gilowsky von Urazowa (1739–1789), der in München die Vertretung übernahm, während Kleimayrn zwischenzeitlich in Sachen Salzhandel nach Wien beordert wurde. Die beiden Beamten berichteten beinahe täglich an den Salzburger Hofkanzler Franz Anton Ignaz von Kürsinger (1727–1799) und an Fürsterzbischof Hieronymus Grafen Colloredo (1732–1812). Ihre Briefe sowie die Gegenkorrespondenz sind – teilweise im Original, teilweise in Regestenform – im Salzburger Landesarchiv überliefert. Ediert wurden die Briefe aus der Zeit des Todes Max‘ III. Joseph Ende 1777 bis zum Vertragsabschluss mit der neuen Regierung Karl Theodors am 14. April 1778. Während der ersten Wochen der Krise hatte Kleimayrn den Auftrag Lageberichte zu erstatten. Die österreichische Intervention brachte es mit sich, dass man in München mitten im Jänner „Tag und Nacht über Halß und Kopfe arbeitet, und schwizet“ (S. 87). Personalia, Ereignisse bei Hof und Tätigkeiten anderer Gesandtschaften werden berichtet; Gerüchte, Argumente und Entscheidungsprozesse im Rahmen der Krise registriert und bewertet. Verhandlungen über die Höhe des Salzpreises und Protokollfragen („Proedrie“) verzögerten den Vertragsabschluss. Manche Verhandlungspartner erwiesen sich durch ihre „Dupfeleyen“ (S. 305) als besonders zäh (z. B. S. 200, 348). Innerhalb der bayerischen Beamtenschaft lagen Parteiungen offen zutage und selbst verbale Aggression (S. 319: „ein baar Tüchtige auf das Maul zu geben“) wird themati-

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siert. Zwischen den vordergründigen Berichten zur Krise und zum Salzhandel treten unerwartet Momente der höfischen Kultur hervor: etwa ein Angebot an Salzburg zur Übernahme von Münchner Opernsängern (S. 45). Im Kommentarteil behandeln die beiden Bearbeiter einerseits „Bayern im Umbruch“ und ordnen die vorliegende Korrespondenz und die damit in Verbindung stehenden Personen in den Zeitkontext ein (S. 1*–24*). Andererseits wird ein tour d’horizon zu „Kurbayern und Salzburg zur Zeit Max III. Joseph“ geboten, der von den reichsrechtlichen Voraussetzungen über Salzhandel und Kirchenpolitik bis hin zu „Aufklärung, Geistes- und Wissenschaftsbeziehungen“ reicht. Von Hans-Christian Werzinger stammen „wichtige Vorstudien für diese Edition“ (S. VII) in Form einer ungedruckten, 2002 an der Universität Eichstätt eingereichten Zulassungsarbeit. Das Gesamtregister über Personen, Orte und Sachen erweist sich als nützlich. Nicht eben platzsparend ist es, wenn in der Edition Personen- und Ortsnamen auf manchen Doppelseiten zweimal aufgelöst werden. Den hierauf verwendeten Platz hätte man besser vertiefenden biografischen Informationen, einem Organigramm der kurbayerischen Verwaltungsstruktur oder einem anderen Hilfsmittel widmen können. Die beiden Bearbeiter haben sich in die Geschichte des „mindermächtigen“ (S.  4*) Nachbarn Salzburg gut eingearbeitet. Dies merkt man an der umfangreichen Literaturauswahl (S.  IX-XXIV) ebenso wie an den aufschlussreichen Kommentaren (S.  3*–51*). Bisweilen unkommentierte Passagen und Inhalte bieten Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschungen: Ein Vergleich mit den 2006 von Hannelore und Rudolph Angermüller herausgegebenen Tagebüchern des Salzburger Hofrats Joachim Ferdinand von Schidenhofen (1747–1823) böte sich an. Die in der vorliegenden Edition als „unruhige Bewegungen“ im „Pinzgäu“ (S. 172) bezeichneten Ereignisse sind wohl mit den von Norbert Schindler eingehend untersuchten Konflikten am Ende des Ancien Régime gleichzusetzen. Eine das Salzburger Domkapitel betreffende Angelegenheit (S. 295) entlarvt sich bei näherer Betrachtung als Kompetenzstreit mit dem Erzbischof, in den auch der Reichshofrat in Wien eingeschalten wurde. In Summe haben Ferdinand Kramer und Ernst Schütz in verdienstvoller Arbeit eine Edition vorgelegt, die ein schwieriges Quellenkorpus vorbildlich erschließt. Das Wissen um die bayerische Erbfolgekrise als bedeutendes politisches Ereignis im 18. Jahrhundert wird nunmehr durch den kenntnisreichen, fast intimen Einblick der Salzburger Beamten erweitert. Deren Klagen über den Wahrheitsgehalt von Informationen wirken auf die heutige Leserschaft seltsam vertraut (S.  14*, 28 und 103). Der Wert der Aufzeichnungen steigt mit dem immanenten Bemühen Kleimayrns, den Aussagen seiner Zeitgenossen auf den Grund zu gehen. Gerald Hirtner (Salzburg)

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Zusammenfassungen und Abstracts Attila Magyar Grenzen schreiben Abstract: Writing Borders – County Delineations in Southern Hungary at the Beginning of the Eighteenth Century With the Treaty of Karlowitz in 1699, large areas in Hungary that had previously been dominated by the Ottoman Empire came under Habsburg rule. The establishment of the new administration in these areas and their territorial development occurred in contentious appropriation processes between the Viennese chamber offices, the military administration, and the emerging Hungarian nobility. The division into counties, the governmental bodies of the Hungarian noble self-government in the area, became a particularly difficult matter and led to the creation of two counties, Bács and Bodrog, without formally determined boundaries and clearly defined responsibilities in the southern region between the Danube and the Tisza. This resulted in long-lasting conflicts. This paper analyses traces of the demarcation process of these counties in the first decades of the eighteenth century. Numerous negotiations concerning the boundaries and responsibilities of the counties were held and commissions, dignitaries, witnesses, and administrative officers issued countless reports, statements, and complaints. These were summarized, copied, forwarded, read, and archived in the course of the delineation process. In this sense, the border was “written” and consequently left numerous traces in various archives. This paper scrutinizes the progression of the border dispute that produced a constantly changing boundary between the two newly established counties, focusing especially on processes of ”border writing” in which the course of the border was established by way of administrative records in various offices and thus also transmitted in the form of archived files.

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Hüseyin Onur Ercan „Tyrk will frid“ Abstract: “Tyrk will frid” – The Peace of Passarowitz from the Ottoman Point of View During the military conflict between the Ottomans and the Habsburgs from 1716 to 1718, the Ottomans suffered successive and unexpected defeats against the Habsburg troops under the supreme command of Prince Eugene in Peterwardein, Temesvár and Belgrade. This adverse development caused unrest in the Ottoman court, and the Ottoman leadership consequently declared a cease of hostilities at the beginning of September 1717. This was not an attempt at temporising or deceit but rather one to accept the Viennese court’s request to sign a peace treaty according to the principle “uti possidetis”. In fact, Emperor Charles VI’s entry in his diary on 16 September reflected the truth: “Tyrk will frid”. Using the framework of the preserved Ottoman chronicles and archival sources, this study aims to summarize the view of the peace negotiations, and ultimately of the peace treaty itself, from the Ottoman perspective.

Lilijana Urlep Kirchenvisitationen und Visitationsberichte des Lavanter Fürstbischofs Joseph Oswald von Attems (1724–1744) Abstract: Canonical Visitation and Records of Visitation of Prince-Bishop Joseph Oswald von Attems (1724–1744) The Diocese of Lavant with its seat in Sankt Andrä in present-day Carinthia was established in 1228 by Archbishop Eberhard II of Salzburg. The bishopric originally covered only a narrow strip of territory along the border between the duchies of Styria and Carinthia. Like the Dioceses of Gurk, Chiemsee, and Seckau, the Diocese of Lavant was a suffragan bishopric of the Archdiocese of Salzburg. The archbishops or metropolitans of Salzburg had the right to appoint, confirm and consecrate bishops of Lavant, who had to swear loyalty and obedience to the archbishop following their appointment. Among the bishops of Lavant who governed the diocese in the eighteenth century, Bishop Joseph Oswald von Attems stands out as one of the most committed and active prince-bishops. He was appointed in 1724 and ruled the diocese until his death in 1744. Attems attached great importance to pastoral

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work to the extent permitted by his other obligations as well as his own health and material situation. Immediately after taking office, he issued a pastoral letter to the clergy of the diocese announcing his aim to deepen religious knowledge and promote Catholic lifestyle; it can be considered his pastoral program. Canonical visitations also played a considerable role in the framework of his pastoral activities: He undertook two pastoral visits to his diocese in 1724 and 1732/33. As the records generated on these pastoral visits are very rich in information, they not only illustrate ecclesiastic life and the religious situation within the previously united and now divided Inner Austrian territory but also enable us to understand Attems’ pastoral plans and ideas and the extent to which they were put into practice. In general, his program seems to have been suited to the prevailing ideas of confessionalisation and social disciplining of people respectively believers.

Julian Lahner Von der symbolischen Herrschaftsübernahme zur Emanzipation regionaler Eliten Abstract: From the Symbolic Assumption of Rule to the Emancipation of the Regional Elite: The Journey of Leopold II’s Family Through Tyrol after the Change of Rule in 1790 The change of sovereign in the Habsburg Empire in 1790 was obviously dangerous for the continuity of Habsburg rule overall. There were insurrections in the crown lands, the Austrians were involved in a war against the Ottomans, the economic crisis in Europe deteriorated the living conditions of the affected populations, and the outbreak of the French Revolution in 1789 disseminated revolutionary thought. Owing to these dangers, the accession to power of the new ruler, Leopold II (1747–1792), in Tyrol took place in three steps: first, the inspection and request for information during his journey through Tyrol in March 1790; second, the symbolic assumption by his family two months later; and third, the hereditary homage in Innsbruck in July. To reconstruct this symbolic assumption of power, this study describes the journey of Leopold II’s family through Tyrol in May 1790 and addresses the questions arising from it: How were the travel groups divided up? How were they accommodated and received? In addition, the ostentatious act of salutation in Bolzano illustrated the political participation of the regional elite as a basis for legitimising the rule of the Habsburg dynasty.

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Ellinor Forster Ein unbekannter Verfassungsentwurf eines unbekannten Fürsten? Toskana, anno 1793 Abstract: An Unknown Constitutional Draft by an Unknown Sovereign? Tuscany Anno 1793 Little attention has hitherto been paid to the Tuscan constitutional draft by Ubaldo Maggi in 1793. Since the 1943 article by Renato Mori, who discovered the original document in the State Archive of Florence, the text has only been printed twice in Italian collections of constitutional documents in the 1950s and 1990s with almost no further contextualisation. It seems as though only Werner Daum took notice in a 2006 publication—but even then only in a passing remark in which he linked the draft to Grand Duke Ferdinando of Tuscany. As Pietro Leopoldo’s son, Ferdinando has always stood in the shadow of his father and the latter’s constitutional undertakings. It still remains to be determined, however, whether or not the judge Maggi wrote his “Prospetto d’istituzione organica nel governo di una vasta nazione” on behalf of the Grand Duke. Analysing the draft itself is worthwhile, for in contrast to Pietro Leopoldo’s text of 1787 or the constitutional draft for the Habsburg monarchy produced by Andreas Riedel in 1791—with the latter being influenced by the earlier Tuscan plans and the French Revolution—Maggi attributed sovereignty more radically and exclusively to members of society who, in his view, should not only have the right to exercise the power of legislature but also provide significant executive oversight. Building on Italian physiocratic traditions, he divided society into four groups—“agricoltori o raccoglitori”, “artefici o manifattori”, “commercianti e dispensatori”, and “amministratori pubblici”—which were to represent society according to their share of the population. He also reserved a function for the Grand Duke, but not one as prominent as those stipulated by Pietro Leopoldo and Andreas Riedel, preferring instead to have one inheritable position that would guarantee continuity out of a logically deduced necessity. Maggi saw this social administrative representation united in a single person who should not be elected for the sake of continuity, which left open a possible role for the Grand Duke without referring to him directly. There are certain influences of other Enlightenment philosophers such as Jean-Jacques Rousseau discernible in Maggi’s draft, but for the most part he compiled an intriguing, independent, and comprehensive idea of society and governance.

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Stefan Benz Wiener Buchauktionen – Wiener Privatbibliotheken 1743–1772 Abstract: Viennese Book Auctions – Viennese Private Libraries 1743–1772 Based on previously unexploited primary sources, this article examines private libraries in Vienna (Austria) between 1745 and 1772, the period of Baron Gerard van Swieten’s directorship of the Imperial Library. Swieten often purchased books at professionally organised book auctions—which is quite surprising since older secondary sources know only a few of them. A survey of the leading newspaper of the time, the Wienerisches Diarium, shows that numerous auctions took place during these decades; only few catalogues have survived in modern libraries, however. The study analyses these catalogues roughly by examining languages, printing locations, and subject matters of the listed books in relation to their former owners—famous noble families, court officials, and anonymous individuals. Although religious—and especially theological—subjects are of minor importance, the personal piety of the former owner is sometimes noticeable. Books on law and history of the modern period dominated the shelves, and the number of French books unsurprisingly increased during the scrutinised period. In some cases, specific profiles of individual libraries could be determined: Spanish history books (though only in folio), German local histories, books printed in the sixteenth century, or books usually preferred by female readers. The contents of smaller auctioned libraries with only one or two thousand books had generally served the professional lives of their former owners.

Daniela Haarmann Linguae Patriae usum Civi Hungari esse omnio necessarium Abstract: Linguae Patriae usum Civi Hungari esse omnio necessarium – Language Reform in the Hungarian Kingdom (1790–1806) Throughout the entire eighteenth century, the question of which of the languages of the multilingual kingdom of Hungary should be used for public affairs, administration, and education was hotly debated. Although around a dozen languages were spoken, only Latin, German, and Hungarian were seriously in contention for the role of official language. Beginning in 1790 with the first gathering of the Hungarian Diet in 25 years, Hungarian was gradually introduced with a provisional culmination in 1806, when it became a mandatory subject at

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schools. The political discourses and disputes pertaining to this introduction of Hungarian as a language of state and education are the topics of this paper. Its three sections analyse the character of the debates, their arguments, and their agents. In doing so, the article intends to contribute to the understanding of an essential preliminary phase leading to the introduction of Hungarian as the sole language of state in 1844.

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Stefan Benz Universität Bayreuth – Kulturwissenschaftliche Fakultät, Didaktik der Geschichte Universitätsstraße 30 / GW II, 95440 Bayreuth [email protected] Hüseyin Onur Ercan Türkisch-Deutsche Universität Istanbul [email protected] Philipp Ferrara Universität Innsbruck 6020 Innsbruck [email protected] Ellinor Forster Universität Innsbruck – Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie Innrain 52, 6020 Innsbruck [email protected] Andreas Golob Karl-Franzens-Universität Graz – Institut für Geschichte, Neuzeit Attemsgasse 8/III, 8010 Graz [email protected] Daniela Haarmann Magyar Irodálomtudomány Intézet, Eötvös Loránd Kutatási Hálózat Budapest [email protected]

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Janka Kovács Eötvös-Loránd-Universität – Institute of History, Department of Early Modern History Budapest [email protected] Julian Lahner 39025 Naturns, Italien [email protected] Elisbaeth Lobenwein Alpen-Adria-Universität Klagenfurt – Institut für Geschichte, Abteilung für Neuere und Österreichische Geschichte Universitätsstraße 65–67, 9020 Klagenfurt [email protected] Josef Löffler Universität Wien – Institut für Österreichische Geschichtsforschung Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Attila Magyar Leibniz Universität Hannover – Historisches Seminar, Arbeitsbereich Frühe Neuzeit Im Moore 21, D-30167 Hannover [email protected] Stefan Seitschek Universität Wien – Institut für Österreichische Geschichtsforschung Universitätsring 1, 1010 Wien [email protected] Lilijana Urlep Nadškofijski arhiv Maribor/ Erzdiözesanarchiv Maribor Slomškov trg 20, 2000 Maribor [email protected]