Tarifautonomie und Tarifgeltung: Die Legitimation und Legitimität der Tarifautonomie im Wandel der Zeit [1 ed.] 9783428584222, 9783428184224

Die Tarifautonomie steht immer wieder im Fokus politischer Debatten. Aus einer historischen Perspektive heraus wird unte

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Tarifautonomie und Tarifgeltung: Die Legitimation und Legitimität der Tarifautonomie im Wandel der Zeit [1 ed.]
 9783428584222, 9783428184224

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Clemens Höpfner, Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel

Tarifautonomie und Tarifgeltung Zur Legitimation und Legitimität der Tarifautonomie im Wandel der Zeit

Herausgegeben von

Gesamtmetall – Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie e.V.

Duncker & Humblot · Berlin

CLEMENS HÖPFNER, HAGEN LESCH, HELENA SCHNEIDER, SANDRA VOGEL

Tarifautonomie und Tarifgeltung

Clemens Höpfner, Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel

Tarifautonomie und Tarifgeltung Zur Legitimation und Legitimität der Tarifautonomie im Wandel der Zeit

Herausgegeben von

Gesamtmetall – Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie e.V.

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Rimpar Printed in Germany ISBN 978-3-428-18422-4 (Print) ISBN 978-3-428-58422-2 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort des Herausgebers Tarifautonomie ist die freie Aushandlung und einvernehmliche Festsetzung von Arbeitsbedingungen durch Tarifvertragsparteien in einem staatlich geschützten, austarierten System. Sie hat in Deutschland eine lange und gute Tradition. Die Tarifautonomie wurde 1918 mit dem Stinnes-Legien-Abkommen institutionalisiert, 1933 von den Nationalsozialisten abgeschafft, 1949 in West-Deutschland wiederbelebt, zudem verfassungsrechtlich garantiert und schließlich 1990 auf Ost-Deutschland erstreckt. Seit Jahrzehnten trägt sie damit zum sozialen Ausgleich in einer freien Marktwirtschaft bei und ist so zu einer tragenden Säule der Sozialen Marktwirtschaft, des äußerst erfolgreichen deutschen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells, geworden. Dennoch gab es schon in der Weimarer, später in der Bonner und auch in der Berliner Republik immer wieder Debatten über die Legitimation und die Legitimität von Tarifautonomie. Die Kritik entzündete sich beispielsweise an ausufernden Tarifkonflikten und ihren schweren Schäden auch für Dritte, ferner an der Tarifentwicklung insgesamt und ihren betriebsund volkswirtschaftlichen Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland und die hiesigen Arbeitsplätze oder auch an der Inflexibilität und zunehmenden Komplexität von Tarifverträgen. Aktuell werden nun die abnehmende Tarifbindung, d.h. sinkende Mitgliederzahlen bei Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, und Erosionserscheinungen des Tarifvertragssystems und der Tarifautonomie in einigen Branchen beklagt. Vorgeschlagen werden allerdings zumeist Einschränkungen der Tarifautonomie, speziell der negativen Koalitionsfreiheit, um eine größere Tarifgeltung zu erreichen. Dieses Buch zeichnet die Debatten aus über 100 Jahren nach. Warum? Weil die Geschichte der Tarifautonomie seit 1918 lehrt, dass es leider immer wieder Versuche gab, die Tarifautonomie der Tarifvertragsparteien einzuschränken. Lediglich die Hintergründe und die Begründungen wechselten. Um diese – regelmäßig wiederkehrenden – Versuche richtig bewerten und einschätzen zu können, ist es erforderlich, sich mit den vergangenen Legitimationsdebatten und der Legitimität der Tarifautonomie im historischen Kontext auseinanderzusetzen. Die Darstellung füllt eine große Lücke

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Vorwort des Herausgebers

und ist lange überfällig. Dabei wird eine juristische Perspektive mit einer ökonomisch-sozialwissenschaftlichen Sichtweise verbunden. Dieses Buch bietet einen umfassenden Überblick über die wesentlichen Entwicklungen und Debatten über Tarifautonomie. Sie werden aus Legitimitäts- und Legitimationssicht kritisch untersucht. Ziel ist, die Bedeutung der Tarifautonomie zu verdeutlichen, den Blick auf die Gefahren zu schärfen und vor Angriffen auf sie zu warnen. Es ist deshalb zu wünschen, dass die Erkenntnisse dieser Studie in den aktuellen und zukünftigen Debatten über die Legitimation und Legitimität der Tarifautonomie beherzigt werden. Das vorliegende Werk entstand in einer fruchtbaren Zusammenarbeit des Teams der Forschungsstelle Tarifautonomie unter Leitung von Dr. Hagen Lesch beim Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln, und Prof. Dr. Clemens Höpfner, Universität Münster. Wir danken den Autoren Herrn Prof. Dr. Clemens Höpfner, Herrn Dr. Hagen Lesch, Frau Dr. Sandra Vogel und Frau Helena Schneider sowie in der Administration Frau Heike Hamacher für die hervorragende und intensive Arbeit an diesem besonderen Werk. Herr Dr. Andreas Beck und Frau Anke Geidel haben den Band seitens des Verlages in gewohnter Weise hilfreich und umsichtig betreut.

Dr. Stefan Wolf Oliver Zander Präsident Hauptgeschäftsführer Gesamtmetall Gesamtmetall

Inhaltsübersicht 1. Hintergrund und Zielsetzung (Clemens Höpfner, Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel) . . . . . . . . 23 2. Struktur und Entwicklung der Tarifbindung (Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Struktur der Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Entwicklung der Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Tarifbindung in der Metall- und Elektro-Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Legitimation der Tarifautonomie (Clemens Höpfner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Historische Entwicklung der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell   . . . . . . . . . . . 3.3 Die Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30 30 35 40 45 45 122 155 176

4. Die Legitimität von Tarifautonomie (Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Legitimität nach innen und nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Legitimitätsdebatten in 100 Jahren Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Grundsatzdebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Zeithistorische Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Legitimitätsdebatten im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179 179 188 193 226 372 388

5. Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie (Clemens Höpfner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der gegenwärtige Zustand der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Reaktionsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Einzelne Maßnahmen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

393 393 398 408 415 466

6. Gesamtfazit (Clemens Höpfner, Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel) . . . . . . . . 469 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508

Inhaltsverzeichnis 1. Hintergrund und Zielsetzung (Clemens Höpfner, Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel) . . . . . . . . 23 2. Struktur und Entwicklung der Tarifbindung (Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.1 Struktur der Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.2 Entwicklung der Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.3 Tarifbindung in der Metall- und Elektro-Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3. Die Legitimation der Tarifautonomie (Clemens Höpfner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.1 Historische Entwicklung der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.1.1 Der Weg zur Koalitionsfreiheit 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.1.1.1 1845 ff.: Koalitionsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.1.1.2 1869 ff.: Aufhebung der Koalitionsverbote, aber weitgehende Repressalien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.1.1.3 1914 ff.: Entwicklung einer echten Koalitionsfreiheit . . 70 3.1.2 Tarifvertragsgeltung vor Inkrafttreten der TVVO 1918 . . . . . . . . 77 3.1.2.1 Verbandsrechtliche Legitimation der Tarifgeltung . . . . . 78 3.1.2.2 Individualautonom-mandatarische Legitimation der Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1.2.2.1 Die privatrechtliche Qualifikation der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.1.2.2.2 Abschluss von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . 82 3.1.2.2.3 Rechtswirkung von Tarifverträgen . . . . . . . . 84 3.1.2.2.3.1 Ergänzende Wirkung des Tarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.1.2.2.3.2 Unabdingbarkeit des Tarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.1.2.3 Die Schwächen der individualautonom-mandatarischen Legitimation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.1.2.3.1 Kritik an der Vertretungskonstruktion des Tarifabschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.1.2.3.2 Kritik an der privatrechtlichen Begründung der Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.1.2.3.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.1.2.4 Kollektivierung des Tarifvertragswesens . . . . . . . . . . . . 93 3.1.2.4.1 Tarifvertragsparteien als staatliche Zwangskorporationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

10 Inhaltsverzeichnis 3.1.2.4.2 Tarifautonomie als autonome Normsetzung auf öffentlich-rechtlicher Grundlage . . . . . . . 95 3.1.2.4.3 Tarifautonomie kraft originärer Verbandsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.1.3 Die Kodifikation des Tarifvertrags in der TVVO . . . . . . . . . . . . 102 3.1.3.1 Überblick über die TVVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.1.3.2 Vom Provisorium zum Dauerzustand . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.1.3.3 Die zentralen Innovationen der TVVO . . . . . . . . . . . . . 108 3.1.3.3.1 Entscheidung für die Verbandstheorie . . . . . 108 3.1.3.3.2 Unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.1.3.3.3 Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3.1.3.4 Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3.1.4 Der Weg in die Zwangsschlichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3.2 Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell   . . . . . . . . . . . 122 3.2.1 Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände nach 1945 . . . . . . . . . 122 3.2.2 Die Entstehungsgeschichte des TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3.2.2.1 Die Arbeiten an einer TVVO in der britischen Zone . . 124 3.2.2.2 Die Arbeiten an einem TVG in der amerikanischen Zone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3.2.2.3 Der Entwurf des Arbeitsrechtsausschusses des Länderrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.2.2.4 Der Alternativentwurf der Gewerkschaften und der SPD-Fraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3.2.2.5 Die Beratungen des TVG im Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebiets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3.2.2.6 Änderungen des TVG-Entwurfs im Genehmigungsverfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3.2.3 Grundsätzliche Ausrichtung des Tarifvertragsrechts im TVG von 1949 im Vergleich mit der TVVO 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3.2.3.1 Verzicht auf eine konstitutive Eintragungspflicht und ein behördliches Prüfungsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3.2.3.2 Verbandstheorie und Satzungsautonomie . . . . . . . . . . . . 146 3.2.3.3 Normative Wirkung des Tarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . 147 3.2.3.4 Günstigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3.2.3.5 Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 3.2.4 Die Schlichtung von Tarifkonflikten in der Bundesrepublik . . . . 151 3.3 Die Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3.3.1 Legitimation von oben: Tarifautonomie als Delegation staat­ licher Rechtsetzungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3.3.2 Legitimation von unten: Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Inhaltsverzeichnis11 3.3.3 Differenzierung zwischen Tarifautonomie, tariflicher Normsetzungsbefugnis und Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . 167 3.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4. Die Legitimität von Tarifautonomie (Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Legitimität nach innen und nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Legitimitätsdebatten in 100 Jahren Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Grundsatzdebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Stinnes-Legien-Abkommen (1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2 Interessenlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.3 Staatliche Legitimierung der Tarifautonomie . . . . . . . . 4.3.2 Der Weg zum Tarifvertragsgesetz (1946–1949) . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Interessenlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.3 Staatliche Legitimierung der Tarifautonomie . . . . . . . . 4.4 Zeithistorische Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Staatliche Zwangsschlichtung (1919–1923) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1.2 Art des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1.3 Art des Staatseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Notverordnungen (1930–1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2.2 Art des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2.3 Art des Staatseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Konzertierte Aktion (1967–1977) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3.2 Art des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3.3 Art des Staatseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3.4 Politische Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Novellierung des § 116 AFG (1984) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.2 Politische Debatte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.3 Art des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.4 Art des Staatseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5 Bündnisse für Arbeit (1995–2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5.2 Art des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5.3 Art des Staatseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5.4 Politische Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.6 Diskussion über gesetzliche Öffnungsklauseln (1994–2004) . . . . 4.4.6.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179 179 188 193 193 193 202 207 209 209 217 223 226 226 226 233 237 241 241 253 256 258 258 263 264 267 275 275 280 283 284 285 285 293 293 295 301 301

12 Inhaltsverzeichnis 4.4.6.2 Art des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.6.3 Art des Staatseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.7 Tarifautonomiestärkungsgesetz (2010–2014) . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.7.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.7.2 Art des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.7.3 Art des Staatseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.7.4 Politische Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.8 Tarifeinheitsgesetz (2010–2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.8.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.8.2 Politische Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.8.3 Art des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.8.4 Art des Staatseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.9 Organisationsfähigkeit der Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . . . 4.4.9.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.9.2 Politische Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.9.3 Art des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.9.4 Art des Staatseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.10 Exkurs: Europäische Säule der sozialen Rechte und EU-Mindestlohnrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.10.1 Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.10.2 Art der Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.10.3 Art des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.10.4 Politische Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Legitimitätsdebatten im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Interdependenzen von Herausforderungen und Antworten . . . . . 4.5.2 Die Debatten im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.1 Typisierung der Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.2 Grundsatzdebatten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.3 Debatten aufgrund externer Probleme . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.4 Debatten aufgrund interner Probleme, die extern ausstrahlten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.5 Debatten aufgrund externer und interner Probleme . . . 4.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie (Clemens Höpfner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der gegenwärtige Zustand der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Abnehmende Tarifbindung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Rückläufiger Organisationsgrad auf Arbeitnehmerseite . . . . . . . . 5.2 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Ursachen auf Arbeitgeberseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Ursachen auf Arbeitnehmerseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.1 Ideelle Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307 309 313 313 320 321 322 325 325 332 334 335 336 336 342 348 350 353 353 359 361 364 372 372 377 377 383 385 386 387 388 393 393 393 395 398 398 402 403

Inhaltsverzeichnis13 5.2.2.2 Materielle Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Reaktionsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Maßnahmen zur Ausweitung der Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Einzelne Maßnahmen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung  . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Tariftreueregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Einschränkung der OT-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Das sog. Genter System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5 Einschränkung der Tarifdispositivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.6 Steuerliche Privilegierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.7 Solidaritätsbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.8 Einschränkung der zeitlichen Reichweite der Tarifbindung . . . . . 5.4.9 Ausweitung der Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln . . . . 5.4.10 Entwurf einer europäischen Mindestlohn-Richtlinie . . . . . . . . . . 5.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

404 408 408 411 413 415 415 426 430 435 439 442 445 447 450 455 466

6. Gesamtfazit (Clemens Höpfner, Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel) . . . . . . . . 469 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Stinnes-Legien-Abkommen, Quelle: Bundesarchiv, R 43/2494/J Reichskanzlei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Abbildung 2: Buchdrucker-Tarifvertrag von 1873, Quelle: Der Verband der dt. Buchdrucker. 50 Jahre gewerkschaftliche Arbeit mit einer Vorgeschichte. Hrsg. vom Vorstand des Verbandes der deutschen Buchdrucker. Berlin 1916 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Abbildung 3: Preußische Gewerbeordnung von 1845, Quelle: Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten, Staatsbibliothek Berlin, Zsn 8592-1845 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Abbildung 4: Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 1869, Quelle: Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1869, unveränderter Abdruck 1891, Wikimedia Commons . . . . . . . . . 57 Abbildung 5: Reichsgesetzblatt von 1896, Quelle: Wikimedia Commons . . . 67 Abbildung 6:

Matrosenaufstand 1918, Quelle: Bundesarchiv, BildY 1-289-26534  71

Abbildung 7: TVVO von 1918, Quelle: Wikimedia Commons . . . . . . . . . . . . 75 Abbildung 8: Sitzung der Nationalversammlung, 1919, Quelle: Bundesarchiv, BildY 1-542-23331 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Abbildung 9: Philipp Lotmar, Quelle: Hugo Sinzheimer: Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, Amsterdam 1938, S. 256 . . 81 Abbildung 10: Lujo Brentano, Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-1986-107-28A . 93 Abbildung 11: Hugo Sinzheimer, Quelle: Universitätsarchiv Frankfurt am Main . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Abbildung 12: Otto von Gierke, Quelle: Library of Congress, ggbain 02604  . 100 Abbildung 13: Hans Carl Nipperdey, Quelle: Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Abbildung 14: Wilhelm Herschel, Quelle: Universitätsarchiv Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, UAHW, Rep. 40/I, H 16 – Herschel, Wilhelm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Abbildung 15: Heinrich „Heinz“ Goldschmidt, Quelle: Bild in Privatbesitz . . 132 Abbildung 16: Anton Storch, Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-P003647 . . . 137 Abbildung 17: Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R66978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Abbildung 18: Anton von Rieppel, Quelle: Bayrische Staatsbibliothek München/Bildarchiv, port-023122 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Abbildungsverzeichnis15 Abbildung 19: Ausrufung der Republik 1918, Quelle: Bundesarchiv, BildY 1-300-2962-67 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Abbildung 20: Hugo Stinnes, Quelle: Montanhistorisches Dokumentationszen­trum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Mu­seum Bochum, Inventar-Nr.: 027200180001 . . . . . 203 Abbildung 21: Carl Legien, Quelle: Deutsches Historisches Musem, Inventar-Nr.: F 52/2558 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Abbildung 22: Hans von Raumer, Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-20100225-502 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Abbildung 23: Rat der Volksbeauftragten, Quelle: Bundesarchiv, BildY 1-306-1883 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Abbildung 24: Brandenburger Tor 1945, Quelle: Bundesarchiv, B 145 BildP046748 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Abbildung 25: Karte der Besatzungszonen, Quelle: Bundesarchiv, Plak 004002-002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Abbildung 26: Hans Böckler, Quelle: Hans-Böckler-Stiftung . . . . . . . . . . . . . . 215 Abbildung 27: Hans Bilstein, Quelle: Gesamtmetall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Abbildung 28: Konrad Adenauer auf der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestags, Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-P047660  224 Abbildung 29: Ludwig Erhard, Quelle: picture-alliance/akg-images, 3260039 . 225 Abbildung 30: Alfred Müller-Armack, Quelle: picture alliance/ullstein bild, 117062115 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Abbildung 31: Streikposten der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) 1932, Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-13991 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Abbildung 32: Rudolf Wissel, Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-00513A . . . . . 231 Abbildung 33: Heinrich Brauns, Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-07797 . . . . . 235 Abbildung 34: Gustav Stresemann, Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-1978029-03A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Abbildung 35: Reichsarbeitsministerium 1929, Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-507 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Abbildung 36: Ernst von Borsig, Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-12817 . . . . 243 Abbildung 37: Reichstagssitzung vom 19. Januar 1925, Quelle: Bundes­ archiv, Bild 183-1989-0220-500 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Abbildung 38: Heinrich Brüning, Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-04639 . . . . 250 Abbildung 39: Übergabe Jahresgutachten an Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und Wirtschaftsminister Karl Schiller 1967, Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00062013 . . . . . . . . . . . . 266 Abbildung 40: Karl Schiller mit Vertretern der Konzertierten Aktion 1967, Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00048917 . . . . . . . . . . . . 268

16 Abbildungsverzeichnis Abbildung 41: Otto Brenner, Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00117560 . 270 Abbildung 42: Herbert van Hüllen, Quelle: Gesamtmetall . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Abbildung 43: Rolf Rodenstock, Quelle: akg-images, Bildnummer AKG2762357 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Abbildung 44: Abdruck des § 116 AFG (Fassung von 1969), Quelle: Bundesgesetzblatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Abbildung 45: Heinrich Franke, Quelle: Süddeutsche Zeitung Photo/Werek . . 281 Abbildung 46: Otto Esser, Quelle: akg-images, Bildnummer AKG2707945. . . 283 Abbildung 47: Helmut Kohl, Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00166478 . 294 Abbildung 48: Klaus Zwickel, Quelle: Süddeutsche Zeitung Photo/HansGünther Oed . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Abbildung 49: Pressekonferenz zum Bündnis für Arbeit am 9. Januar 2000, Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00000053 . . . . . . . . . . . . 300 Abbildung 50: Kurt Biedenkopf, Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild00048701 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Abbildung 51: Wolfgang Clement, Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild00005236 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Abbildung 52: Gerhard Schröder, Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild00014342 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Abbildung 53: Martin Kannegiesser, Quelle: Gesamtmetall . . . . . . . . . . . . . . . 312 Abbildung 54: DGB-Kampagne zur Einführung des Mindestlohns, Quelle: DGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Abbildung 55: Angela Merkel, Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild00089447 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Abbildung 56: Rainer Dulger, Quelle: Gesamtmetall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Abbildung 57: Bundesarbeitsgericht, Erfurt, Quelle: Süddeutsche Zeitung Photo/Thomas Robbin/imageBROKER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Abbildung 58: Streik der GDL 2015, Quelle: Süddeutsche Zeitung Photo/ snapshot/Future Image/C.Hardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Abbildung 59: Schloss Meseberg, Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild00017462 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Abbildung 60: Jörg Hofmann, Quelle: Süddeutsche Zeitung Photo/Sepp Spiegl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Abbildung 61: Stefan Wolf, Quelle: Gesamtmetall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Abbildung 62: Jean-Claude Juncker, Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild00327937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Abbildung 63: Ursula von der Leyen, Quelle: Europäische Kommission, P-047046/00-16 ©UE/Etienne Ansotte, 2020 . . . . . . . . . . . . . . 359

Grafikverzeichnis Grafik 1:

Art der Tarifbindung von Betrieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Grafik 2:

Tarifbindung der Betriebe nach Betriebsgröße . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Grafik 3:

Art der Tarifbindung von Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Grafik 4:

Branchentarifbindung der Betriebe 1995 bis 2020 . . . . . . . . . . . . . 35

Grafik 5:

Branchentarifbindung der Beschäftigten 1995 bis 2020 . . . . . . . . . 37

Grafik 6:

Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften in Deutschland . . . . . . 38

Grafik 7:

Branchentarifbindung in der Metall- und Elektro-Industrie 1959 bis 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Grafik 8:

Mitgliederentwicklung in den Verbänden der Metall- und ElektroIndustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Grafik 9:

Beschäftigtenentwicklung in den Mitgliedsbetrieben der Verbände der Metall- und Elektro-Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Grafik 10: Regionale Arbeitslosenquoten 1948 und 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Grafik 11: Arbeitslosigkeit 1924 bis 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Grafik 12: Tariflöhne der Industriearbeiter 1924 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Grafik 13: Bruttoinlandsprodukt 1951 bis 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Grafik 14: Arbeitslosenquote 1951 bis 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Grafik 15: Brutto- und Tarifverdienste sowie Lohndrift in der Investitions­ güterindustrie 1951 bis 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Grafik 16: Bruttoinlandsprodukt 1971 bis 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Grafik 17: Ausfalltage durch Streiks und Aussperrungen 1967 bis 1989 . . . . 277 Grafik 18: Arbeitslosigkeit 1971 bis 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Grafik 19: Bruttoinlandsprodukt 1992 bis 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Grafik 20: Brutto- und Tarifverdienste sowie Lohndrift 1992 bis 2004 . . . . . . 290 Grafik 21: Tarifbindung der Beschäftigten 1995 bis 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Grafik 22: Entwicklung des Niedriglohnsektors in Deutschland . . . . . . . . . . . 314 Grafik 23: Arbeitslosigkeit 2005 bis 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Grafik 24: Ausfalltage durch Streiks und Aussperrungen 1993 bis 2016 . . . . 327 Grafik 25: Wandel in der Sektorstruktur der Arbeitskämpfe . . . . . . . . . . . . . . . 329 Grafik 26: Tarifbindung der Betriebe 1995 bis 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Grafik 27: Mitgliederentwicklung im Deutschen Gewerkschaftsbund . . . . . . . 341 Grafik 28: Bruttoinlandsprodukt in der EU von 2009 bis 2020 . . . . . . . . . . . . 355 Grafik 29: Arbeitslosenquoten in der EU von 2008 bis 2020 . . . . . . . . . . . . . 356 Grafik 30: Aktuelle Mindestlöhne in den EU-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . 358

Tabellenverzeichnis Tabelle 1:

Einflussfaktoren auf die Legitimität der Tarifautonomie . . . . . . . 187

Tabelle 2:

Verbreitung von Tarifverträgen 1905 bis 1918 . . . . . . . . . . . . . . . 194

Tabelle 3:

Struktur der Tarifverträge 1908 bis 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Tabelle 4:

Arbeitskämpfe 1899 bis 1918  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Tabelle 5:

Arbeitslosenzahlen 1948 und 1949 in den westlichen Besatzungsgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Tabelle 6:

Verbreitung von Tarifverträgen 1918 bis 1932 . . . . . . . . . . . . . . . 227

Tabelle 7:

Struktur der Tarifverträge 1913 und 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

Tabelle 8:

Arbeitskämpfe 1919 bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Tabelle 9:

Schlichtungen und Verbindlichkeitserklärungen 1924 bis 1932 . . 246

Tabelle 10:

Arbeitslose und Anteil der Langzeitarbeitslosen 1998 bis 2004 . . 292

Tabelle 11:

Tariflöhne nach Regionen 1992 bis 2004  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Tabelle 12:

Konfliktbereitschaft von Gewerkschaften  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328

Tabelle 13:

Legitimitätsdebatten im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378

Tabelle 14:

Kategorien von Legitimitätsdebatten und dazugehörige Staatseingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382

Tabelle 15:

Vorschläge zur Steigerung der Tarifbindung und der Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Tabelle 16:

Entwicklung der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . 421

Abkürzungsverzeichnis ADGB Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund AEntG Arbeitnehmer-Entsendegesetz AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AFG Arbeitsförderungsgesetz AGVT Allgemeiner Arbeitgeberverband Thüringen  ALLBUS Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften AOG Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit ArbZG Arbeitszeitgesetz AÜG Arbeitnehmerüberlassungsgesetz BA Bundesagentur für Arbeit BAG Bundesarbeitsgericht bayme Bayerischer Unternehmensverband Metall und Elektro BDA Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände BDI Bundesverband der Deutschen Industrie BetrAVG Betriebsrentengesetz BetrVG Betriebsverfassungsgesetz BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGH Bundesgerichtshof BICO Bipartite Control Office (Zweizonen-Kontrollamt) BIP Bruttoinlandsprodukt BMA Bundesministerium für Arbeit BMAS Bundesministerium für Arbeit und Soziales BMF Bundesministerium der Finanzen BUrlG Bundesurlaubsgesetz BVerfG Bundesverfassungsgericht CGB Christlicher Gewerkschaftsbund DAG Deutsche Angestellten-Gewerkschaft dbb dbb – Beamtenbund und Tarifunion DGB Deutscher Gewerkschaftsbund DÖAG Deutsch-Österreichische Arbeitsgemeinschaft DPG Deutsche Postgewerkschaft EFZG Entgeltfortzahlungsgesetz EG Europäische Gemeinschaft EGB Europäischer Gewerkschaftsbund

Abkürzungsverzeichnis21 ESSR Europäische Säule sozialer Rechte EStG Einkommenssteuergesetz EU Europäische Union EuGH Europäischer Gerichtshof EVG Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EZB Europäische Zentralbank FDGB Freier Deutscher Gewerkschaftsbund GDBA Gewerkschaft Deutscher Bundesbahnbeamten und Anwärter GdF Gewerkschaft der Flugsicherung GDL Gewerkschaft Deutscher Lokführer GDM Gesamtverband Deutscher Metallindustrieller Gesamtmetall Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie GEW Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GewGG Gewerbegerichtsgesetz GewO Gewerbeordnung GG Grundgesetz GRC EU-Grundrechtecharta GSA Fleisch Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft HBV Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen Hessenmetall Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen  HGB Handelsgesetzbuch IAB Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAQ Institut Arbeit und Qualifikation IG BAU Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt IG BCE Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie IG Medien Industriegewerkschaft Medien – Druck und Papier, Publizistik und Kunst IG Metall Industriegewerkschaft Metall IWF Internationaler Währungsfonds JArbSchG Jugendarbeitsschutzgesetz KRG Kontrollratsgesetz LO Landsorganisationen i Sverige (Schwedischer Gewerkschaftsbund) MB Marburger Bund ME Saar Verband der Metall- und Elektroindustrie des Saarlandes  METALL NRW Verband der Metall- und Elektro-Industrie Nordrhein-Westfalen  MiLoG Mindestlohngesetz NGG Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten NiedersachsenMetall Verband der Metallindustriellen Niedersachsens

22 Abkürzungsverzeichnis Nordmetall Nordmetall – Verband der Metall- und Elektroindustrie ÖDAG Österreichisch-Deutsche Arbeitsgemeinschaft ÖGB Österreichischer Gewerkschaftsbund OT Ohne Tarifbindung ÖTV Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr  PfalzMetall Verband der Pfälzischen Metall- und Elektroindustrie RVG Reichsvereinsgesetz SchliVO Schlichtungsverordnung SeeArbG Seearbeitsgesetz StabG Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft StBA Statistisches Bundesamt StGB Strafgesetzbuch Südwestmetall Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg TEG Tarifeinheitsgesetz TG Tarifgemeinschaft TRANSNET Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands TVG Tarifvertragsgesetz TVGDV Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes TVVO Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten TzBfG Teilzeit- und Befristungsgesetz UFO Unabhängige Flugbegleiter Organisation USW Unternehmensverband Südwest UV Saar Unternehmensverband Saarland vbm Verband der Bayerischen Metall- und Elektro-Industrie VC Vereinigung Cockpit VDA Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ver.di Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft VG Verwaltungsgericht VME Berlin und Verband der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und BranBrandenburg denburg VME Sachsen-Anhalt Verband der Metall- und Elektroindustrie Sachsen-Anhalt VMET Verband der Metall- und Elektro-Industrie in Thüringen VSME Verband der Sächsischen Metall- und Elektroindustrie WRV Weimarer Reichsverfassung ZAG Zentralarbeitsgemeinschaft (Arbeitsgemeinschaft der indus­ triellen und gewerkschaftlichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands) ZfA Zentralamt für Arbeit

1. Hintergrund und Zielsetzung Clemens Höpfner, Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel

Die Tarifautonomie ist seit Jahrzehnten eine tragende Säule der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Tarifautonomie bedeutet, dass Arbeitsentgelte und Arbeitsbedingungen im Wege der Selbstbestimmung durch die Tarifvertragsparteien geregelt werden – unbeeinflusst von Dritten, insbesondere dem Staat. Gewährleistet wird die Tarif­ autonomie durch Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG). Dieser Artikel garantiert neben der positiven und negativen Koalitionsfreiheit der einzelnen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (individuelle Koalitionsfreiheit) auch den Bestand und die Betätigungsfreiheit der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkoalitionen (kollektive Koalitionsfreiheit). Wichtigste Ausprägung der Betätigungsfreiheit ist der Abschluss von Tarifverträgen. Da die kollektive Koalitionsfreiheit jedoch lediglich eine Verstärkung der individuellen Koali­tionsfreiheit darstellt,1 ist die Tarifautonomie zugleich auf die positive Koalitionsfreiheit der einzelnen verbandsangehörigen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zurückzuführen. Die Tarifautonomie bedarf allerdings einer einfachgesetzlichen Ausgestaltung. Ihre rechtlichen Grundlagen sind im Tarifvertragsgesetz (TVG) geregelt, das im Jahr 1949 in Kraft getreten ist. Die Grundzüge des Tarifvertragswesens in der Bundesrepublik Deutschland gehen auf die sog. Tarifvertragsverordnung, die Verordnung über ­Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten (TVVO) von 1918 aus der Weimarer Republik zurück, die es Arbeitgebern und Gewerkschaften gestattete, gemeinsam Lohn- und Arbeitsbedingungen in Kollektivverträgen zu regeln. Während sich dieses Vorgehen in der Weimarer Zeit noch schwierig gestalten sollte und der Staat häufig als Schlichter auftrat, verhandelten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände Löhne und Arbeitsbedingungen nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland autonom – vorzugsweise in branchenweiten Vereinbarungen auf der überbetrieblichen Ebene. In einzelnen Branchen wie dem Energiesektor oder in der Nachrichtenübermittlung verhandelten einzelne Arbeitgeber mit den Gewerkschaften, sodass sich dort 1  Vgl. ErfK/Linsenmaier, 21. Auflage, 2021, Art. 9 GG Rn. 39; NK-GA/Hanau, 2016, Art. 9 GG Rn. 13.

24

1. Hintergrund und Zielsetzung

stärker Haustarifverträge etablieren konnten. Da bei branchenweiten Verhandlungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften vielfach der Pilotabschluss einer bestimmten Region von den anderen Regionen derselben Branche übernommen wurde, wurden Flächentarifverträge zum dominanten Regelungsinstrument. Die Dominanz von Flächentarifverträgen gilt auch heute noch, wenngleich deren Bindungskraft seit Mitte der 1980er Jahre abgenommen hat. Die Tarifvertragsparteien haben ihre Funktion nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland zunächst weitgehend frei von staatlicher Einflussnahme ausüben können. Dabei schufen die Wirtschaftswunderjahre einen ausreichenden Verteilungsspielraum, vor dessen Hintergrund die Tarifvertragsparteien Kompromisse fanden, ohne die wirtschaftliche Dynamik zu gefährden. Die Politik hatte kaum Anlass, Kritik zu üben. Nach dieser Phase gab es aber – mit unterschiedlicher Intensität – immer wieder Versuche von Seiten der Politik, Einfluss auf die Tarifpolitik zu nehmen. So führte die erste große Nachkriegsrezession 1966/67 zu dem Versuch der Bundesregierung, die Tarifvertragsparteien in eine konzertierte Aktion der gesamtwirtschaftlichen Wirtschaftssteuerung einzubinden. Dabei sollten Zugeständnisse der Tarifvertragsparteien im Rahmen eines Tauschgeschäfts honoriert werden. Dieser Versuch misslang. Es folgten die beiden Ölpreiskrisen der 1970er Jahre, durch die die Bonner Republik mit dem Problem der Stagflation konfrontiert wurde (steigende Inflation und gleichzeitig steigende Arbeitslosigkeit). Die Tarifautonomie befand sich zwar erstmals seit 1949 in schwierigem Fahrwasser; sie wurde aber nicht offen kritisiert oder gar in Frage gestellt. Die Politik entschloss sich vielmehr dazu, die steigende Arbeitslosigkeit über die sozialen Sicherungssysteme abzufedern. Erst mit der in den 1980er Jahren einsetzenden Globalisierung, die den internationalen Wettbewerbsdruck auf die deutsche Volkswirtschaft erhöhte, geriet die Tarifautonomie in die Diskussion. Diese Diskussion intensivierte sich, als der Wirtschaftsboom nach der deutschen Wiedervereinigung 1992/93 auslief und die strukturellen Probleme der ostdeutschen Volkswirtschaft im Zuge des Transformationsprozesses nicht nur sichtbar wurden, sondern die Finanzierung der deutschen Einheit auch erhebliche Anpassungslasten für die westdeutsche Volkswirtschaft mit sich brachte. Die mit der Öffnung Mittel- und Osteuropas verbundenen neuen Möglichkeiten einer internationalen Arbeitsteilung führten dazu, dass die hohen deutschen Arbeitskosten für eine wachsende Anzahl an Unternehmen zu einem Wettbewerbsnachteil wurden. Einerseits verschärfte sich die Lohnkonkurrenz in inländischen lohnintensiven Branchen wie der Bauwirt-



1. Hintergrund und Zielsetzung25

schaft, andererseits verlagerten viele Unternehmen Standorte in das kostengünstigere Ausland, und immer weniger Unternehmen am heimischen Standort entschieden sich dazu, sich einer Tarifbindung zu unterziehen und Flächentarifverträge anzuwenden. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Tarifautonomie und der sie prägende Flächentarifvertrag2 zunächst im Rahmen der wissenschaftlichen Analyse und später auch im Rahmen der politischen Diskussion kritisch hinterfragt. In den wissenschaftlichen Kontroversen wurde die These vertreten, eine dezentrale Organisation der Lohnfindung sei einer Regelung über Flächentarifverträge überlegen. Der Kronberger Kreis kritisierte das Verhalten der Tarifvertragsparteien und damit auch die Tarifautonomie schon in den 1980er Jahren. In den 1990er Jahren folgten kritische Stellungnahmen der Deregulierungs- und Monopolkommission. Ein zentraler Streitpunkt der Debatte war die Öffnung des Flächentarifvertrags für betriebliche Bündnisse für Arbeit, bei denen die Betriebsparteien Lohnzugeständnisse der Belegschaft gegen Standort- und Beschäftigungszusagen des Unternehmens tauschten. Dabei wurde den Tarifvertragsparteien eine mangelnde Reformfähigkeit unterstellt.3 Auch in der politischen Diskussion wurde öffentlich Kritik am Verhalten der Tarifvertragsparteien geübt. Dabei gingen politische Stellungnahmen mitunter so weit, die Regelung von Arbeitsentgelten und Arbeitsbedingungen nicht länger überwiegend über Flächentarifverträge gestalten zu wollen. Stattdessen sollte die Betriebsautonomie gestärkt werden. In der parlamentarischen Debatte brachten die bürgerlichen Oppositionsparteien zu Beginn der 2000er Jahre Anträge im Deutschen Bundestag ein, das Tarifvertragssystem zu dezentralisieren und betriebliche Bündnisse für Arbeit zu erleichtern. Dabei wurde allerdings nicht die Tarifautonomie insgesamt in Frage gestellt. Die beiden Regelungsebenen Branche und Betrieb sollten jedoch neu justiert werden. Ziel war, der Betriebsebene einen größeren Spielraum bei der Gestaltung von Arbeitsbedingungen einzuräumen. Neben diesen parlamentarischen Initiativen der Oppositionsparteien, die keine Mehrheit im Deutschen Bundestag fanden, gab es auch sehr kritische und zugespitzte öffentliche Stellungnahmen. Der damalige Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Michael Rogowski, bekannte im Oktober 2003: „Ich wünsche mir manchmal ein großes Lagerfeuer, um das Betriebsverfassungsgesetz und die Tarifverträge hineinzuwerfen. Da2  Die Begriffe Flächen- und Branchentarifvertrag werden im Folgenden synonym verwendet. 3  Vgl. Berthold/Fehn, Evolution von Lohnverhandlungssystemen, 1996, S. 57 ff.

26

1. Hintergrund und Zielsetzung

nach könnte man einfach wieder von vorne anfangen“.4 Der damalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle bezeichnete die Gewerkschaftsführer zwei Jahre später als „die wahre Plage Deutschlands“.5 Wenngleich die öffentliche Debatte über die Tarifautonomie heute mit weniger verbaler Schärfe ausgetragen wird, beruhigt hat sie sich nicht. Allerdings hat sich die Richtung geändert: In den 1990er Jahren stand noch die beschäftigungspolitische Misere im Zentrum der Kritik an Flächentarifvertrag und Tarifautonomie. Es ging vor allem um die Rolle der positiven Koalitionsfreiheit. Hinterfragt wurde, ob die Tarifvertragsparteien angemessene Antworten auf die strukturellen Probleme des Arbeitsmarkts geben können. In den letzten Jahren ist das Problem der verfestigten und hohen Arbeitslosigkeit, die durch zu hohe und unflexible Tarifabschlüsse mitverursacht sei, der Klage über eine verteilungspolitische Schieflage und der Forderung nach einer ausreichenden Tarifgeltung gewichen. Dabei wird der rückläufigen Tarifbindung und dem daraus folgenden abnehmenden Einfluss der Tarifvertragsparteien ein großer Erklärungsgehalt ein­ geräumt. Da Tarifbindung als Garant für faire Löhne angesehen wird, müsse die Tarifbindung wieder gestärkt werden.6 In der Kritik stehen die wachsende Außenseiterkonkurrenz durch nicht tarifgebundene Betriebe und die mangelnde Bereitschaft von Arbeitgebern, Tarifverträge anzuwenden. Damit stehen vor a­ llem die negative Koalitionsfreiheit sowie die Arbeitsvertragsfreiheit der Außenseiter im Zentrum der Debatte. Im vergangenen Jahrzehnt unternahm die Politik mehrere Versuche, der abnehmenden Tarifbindung entgegenzuwirken. So sah das 2014 verabschiedete sog. Tarifautonomiestärkungsgesetz7 die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns vor und erweiterte die Möglichkeiten, die Geltung von Tarifverträgen auf die Arbeitsverhältnisse von nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und deren Arbeitnehmer zu erstrecken. Für die darauffolgende 19. Legislaturperiode vereinbarte die Regierungskoalition aus CDU/ CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag vom 7. Februar 2018, die Tarif4  Zitiert nach Der Spiegel, Rogowskis Brachialstil, v. 26.10.2003, https://www. spiegel.de/politik/rogowskis-brachialstil-a-a3a78252-0002-0001-0000-000028990668 (21.9.2021); vgl. auch Bispinck, Die Mitbestimmung (2003), 9 (16). 5  Zitiert nach Handelsblatt, Westerwelle nennt Gewerkschafter „die wahre Plage“, v. 30.4.2005, https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/dgb-westerwelle-ver saut-klima-westerwelle-nennt-gewerkschafter-die-wahre-plage/2499328.html?ticket= ST-98243-41KcGK95kQx4FuFKUM0g-ap2 (21.9.2021). 6  Vgl. BMF/BMAS, Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung, 2021, S. 1 ff. 7  Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) vom 11.8.2014, BGBl. I 2014, S. 1348.



1. Hintergrund und Zielsetzung27

bindung zu stärken.8 Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) legte schon im Februar 2017 ein (inzwischen überarbeitetes) 14-Punkte-Papier zur Stärkung der Tarifbindung vor, in welchem dem Staat eine aktive Rolle zugeschrieben wird.9 Die Arbeitgeber lehnen eine aktivere Rolle des Staates hingegen ab und wollen die Tarifbindung vor allem durch attraktivere Tarifverträge für die seltener tarifgebundenen kleinen und mittleren Unternehmen stärken.10 Das soll die Bereitschaft erhöhen, sich an einen Tarifvertrag zu binden. Solche politischen Debatten werfen Fragen nach der Legitimation und Legitimität der Tarifautonomie auf, denen in dieser Monografie nachgegangen wird. Die Legitimation der Tarifautonomie betrifft – neben der verfassungsrechtlichen Verwurzelung der Tarifautonomie in der Koali­ tionsfreiheit – im Kern die Frage nach den rechtlichen Grundlagen der Koalitionsbetätigung und der tarifvertraglichen Normsetzung: Nehmen die Tarifvertragsparteien eine vom Staat abgeleitete Gestaltungsbefugnis zur Ordnung des Arbeitslebens wahr, wie dies von der früher vom Bundesarbeitsgericht (BAG) vertretenen Delegationstheorie angenommen wird? Oder „fließt die Tarifautonomie aus der Privatautonomie“11 mit der Folge, dass die Tarifvertragsparteien ihre Legitimation „von unten“ durch ihre Mitglieder erhalten und Tarifautonomie somit als ein Fall „kollektiv ausgeübter Privatautonomie“ zu verstehen ist, wie dies heute ganz überwiegend angenommen wird? Diese Grundsatzfrage des Tarifvertragsrechts ist keineswegs rein akademischer Natur, sondern hat vielfältige Konsequenzen, etwa für die Frage nach einer Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien und deren Bindung an Grundrechte. Von der Legitimation der Tarifautonomie ist deren Legitimität zu unterscheiden. Dabei ist Legitimität weniger als Rechtmäßigkeit, sondern eher als Zweckmäßigkeit zu verstehen: „Neben der Legalität ihrer Grundlagen muß sich die Tarifautonomie […] legitimieren durch den Glauben an die Zweckmäßigkeit ihrer Existenz.“12 Es wird darüber diskutiert, ob Tarifautonomie vorteilhafte Ergebnisse hervorbringt, beispielsweise angemessene Arbeitsbedingungen bei hohem Beschäftigungsstand oder die Befriedung von Konflikten zum Schutz des Gemeinwohls. Die Legitimität der Tarif­ autonomie ist demnach immer an ihre Effektivität geknüpft. Effektivität 8  Bundesregierung, Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, 2018. 9  Vgl. DGB, Positionen zur Stärkung der Tarifbindung, 2019. 10  Vgl. Kramer, Mehr Tarifbindung nur mit neuer Tarifpolitik, 2018. 11  Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht, Band 2, 2020, S. 4. 12  Weitbrecht, Effektivität und Legitimität der Tarifautonomie, 1969, S. 162.

28

1. Hintergrund und Zielsetzung

bedeutet, dass Tarifautonomie als Institution funktionsfähig ist und die Funktionsfähigkeit anderer Bereiche nicht gefährdet. Wird eine solche Funktionsfähigkeit in der öffentlichen und politischen Debatte bezweifelt, wird auch die Legitimität von Tarifautonomie hinterfragt. Die Politik kann sich dann veranlasst sehen, Maßnahmen zur Steigerung oder Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie als Institution zu ergreifen. Ziel der Analyse ist es, aus einer historischen Perspektive heraus zu untersuchen, wie Tarifautonomie über die Zeit hinweg legitimiert und inwiefern sie in den letzten 100 Jahren von Politik und Gesellschaft als legitime Institution empfunden wurde. So wird eine juristische Perspektive, die die Frage der Legitimation der Tarifautonomie in den Fokus rückt, mit einer ökonomisch-sozialwissenschaftlichen Sichtweise verbunden, die deren Legitimität und damit Effektivität in den Mittelpunkt stellt. Mithilfe dieser unterschiedlichen Blickwinkel werden dabei die Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Tarifvertragssystem und insbesondere die Frage, inwiefern die Tarifautonomie selbst oder nur die Geltung von tariflichen Normen gefördert wurde und wird, genauer untersucht. Um diesem Untersuchungsgegenstand nachzugehen, wird nach einer Darstellung der Entwicklung der Tarifbindung (Kapitel 2) in einem zweiten Schritt aus juristischer Perspektive herausgearbeitet, woraus die Tarifautonomie ihre Legitimation bezieht (Kapitel 3). Grundlage hierfür ist eine historische Analyse der Entwicklung der Tarifautonomie, die zeigen wird, dass die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die Tarifautonomie zunächst gegen erhebliche Widerstände des Staates erkämpft haben. Der Beitrag des Staates beschränkt sich demgegenüber im Wesentlichen darauf, die von den Tarifvertragsparteien vereinbarten Regelungen mit normativer Wirkung auszustatten, um die Geltung des Tarifvertrags in den erfassten Arbeitsverhältnissen zu ermöglichen. In einem dritten Schritt ist abzuleiten, was unter Legitimität von Tarifautonomie zu verstehen ist (Kapitel 4). Die Analyse der Legitimität geht dabei der Frage nach, wodurch politische Debatten über Tarifautonomie ausgelöst werden, wie der Staat darauf ­reagiert und welche Wirkung dies wiederum für das Verhalten der Tarifvertragsparteien hat. Dazu wird eine Methode entwickelt, mit deren Hilfe Legitimitätsdebatten identifiziert und eingeordnet werden können. Hierbei wird zwischen zwei Grundsatzdebatten und zehn zeithistorischen Debatten unterschieden. Im Anschluss an die Analyse der einzelnen Debatten wird diskutiert, ob die Art der staatlichen Einflussnahme auf die Tarifautonomie davon abhängt, was eine Legitimitätsdebatte ausgelöst hat. Das Kapitel 5 widmet sich gesetzgeberischen Aktivitäten und rechtspolitischen Vorschlä-



1. Hintergrund und Zielsetzung29

gen zur „Stärkung der Tarifautonomie“ aus jüngerer Zeit. Es werden Konzepte vorgestellt, die eine Steigerung der Organisationsrate auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite und damit eine Stärkung der Tarif-„Autonomie“ bezwecken. Zudem wird gezeigt, bei welchen Maßnahmen es lediglich um eine möglichst umfassende Tarif-„Geltung“ in der Breite ohne Rücksicht auf die autonome Entscheidung der betroffenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie ihrer Verbände geht. Den Abschluss bildet ein Gesamtfazit (Kapitel 6).

2. Struktur und Entwicklung der Tarifbindung Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel

Da die Debatte über die Legitimation und Legitimität der Tarifautonomie aktuell häufig unmittelbar und dabei sogar einseitig mit der Frage nach dem Ausmaß an Tarifbindung verknüpft wird, wird im folgenden Kapitel zunächst ein Blick auf die Struktur und die Entwicklung der Tarifbindung geworfen. Für die Legitimation und die Legitimität der Tarifautonomie – das werden der historische Abriss zur Legitimation der Tarifautonomie (Kapitel 3) und die in der Historie seit 1918 geführten Legitimitätsdebatten (Kapitel 4) zeigen – ist ein bestimmter Grad der Tarifbindung nicht zwingend und schon gar nicht alleiniger Maßstab. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die aktuellen, nicht sehr umfassenden Daten und deren historische Entwicklung. Tarifbindung wird nach § 3 Abs. 1 TVG nicht allein durch die Mitgliedschaft eines Betriebs in einem Arbeitgeberverband erzeugt, der eine Tarifbindung vermittelt, oder dadurch, dass der Arbeitgeber einen Firmentarifvertrag abgeschlossen hat, sondern nur dadurch, dass der Arbeitnehmer auch Mitglied der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft ist.1 Daher wird sowohl die Mitgliederentwicklung der Tarifträgerverbände als auch die der Gewerkschaften dargestellt. Bei der Darstellung der empirischen Fakten steht die deskriptive Analyse im Vordergrund. Hintergründe werden in späteren Kapiteln diskutiert (siehe dazu die Kapitel 4.4.9.1, 5.2.1. und 5.2.2).

2.1 Struktur der Tarifbindung Statistische Daten zur durch den Arbeitgeber begründeten Tarifbindung werden vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) erhoben und veröffentlicht.2 Das IAB be1  ErfK/Franzen,

21. Auflage, 2021, § 3 TVG Rn. 1. hinaus veröffentlicht auch das Statistische Bundesamt seit 2010 im Rahmen der Verdienststrukturerhebung Daten zur Tarifbindung der Betriebe und der dort Beschäftigten. Allerdings findet die Erhebung nur alle vier Jahre (zuletzt mit Angaben für 2018) statt und die Daten für 2010 sind nicht mit den Angaben für 2014 vergleichbar, da der Erfassungsbereich der Betriebe geändert wurde. Vgl. Lesch/Vogel/Busshoff/Giza, Stärkung der Tarifbindung, 2017, S. 20 (Fn. 1). Sie sind daher für 2  Darüber



2.1 Struktur der Tarifbindung31

24

Branchentarifvertrag Firmentarifvertrag 2

52

22

Orientierung am Tarifvertrag Weder Tarifvertrag noch Orientierung am Tarifvertrag

Stand: 2020; Deutschland insgesamt. Quellen: IAB-Betriebspanel, Sonderauswertung; eigene Berechnungen.

Grafik 1: Art der Tarifbindung von Betrieben In Prozent aller Betriebe

fragt Betriebe im Rahmen eines Betriebspanels (das sogenannte IAB-Betriebspanel) gezielt danach, ob sie einer Branchen- oder Firmentarifbindung unterliegen. Für Westdeutschland liegen entsprechende Antworten seit 1995 und für Ostdeutschland seit 1996 vor. Nach dem IAB-Betriebs­ panel waren im Jahr 2020 bundesweit insgesamt 24 Prozent aller Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer normativ an einen Branchentarifvertrag gebunden und weitere zwei Prozent an einen Firmentarifvertrag (siehe Grafik 1).3 Diese beiden Gruppen machten also von der positiven Koalitionsfreiheit Gebrauch. Des Weiteren orientierten sich 22 Prozent aller Betriebe an einem Tarifvertrag. Orientierung bedeutet, dass sich Betriebe bei ausgewählten Regelungen nach den tarifvertraglichen Regelungen richten. Dabei bleibt unbestimmt, in welchem Umfang einzelne Tarifregelungen übernommen werden oder ob diese eher eine Richtschnur darstellen (siehe Kapitel 4.4.9.1 und einen langfristigen Vergleich weniger geeignet als die Daten des IAB-Betriebspanels und werden hier nicht weiter thematisiert. Der Anteil an Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben lässt sich auch mithilfe des Sozio-oekonomischen Panels ermitteln. Im Rahmen dieser Panelstudie werden Arbeitnehmer gefragt, ob ihr Entgelt auf einer tariflichen Bindung beruht. Vgl. Schneider/Vogel, Tarifbindung der Beschäftigten in Deutschland, 2018. 3  Kohaut, Entwicklung der Tarifbindung, 2021, S. 7.

32

2. Struktur und Entwicklung der Tarifbindung

5.1.1). Dennoch ist die These vertretbar, dass der Branchentarifvertrag über die Gruppe der direkt tarifgebundenen Betriebe hinaus auch auf viele nicht tarifgebundene Betriebe ausstrahlt. Fakt ist aber auch: Im Jahr 2020 waren insgesamt 52 Prozent aller Betriebe weder direkt an einen Tarifvertrag gebunden noch orientierten sie sich daran. Fasst man die beiden nicht tarifgebundenen Gruppen „Orientierung am Tarifvertrag“ und „Weder Tarifvertrag noch Orientierung am Tarifvertrag“ zusammen, nutzten 74 Prozent aller Betriebe als nicht tarifgebundene Außenseiter ihre negative Koa­ litionsfreiheit. Der Grad der Tarifbindung unterscheidet sich nach der Betriebsgröße, regional und sektoral. Größere Betriebe sind häufiger tarifgebunden als kleinere Betriebe. Um dies zu zeigen, werden die Betriebe in Abhängigkeit von ihrer Mitarbeiterzahl in fünf Betriebsgrößenklassen unterteilt (siehe Grafik 2).4 Dabei wird zwischen West- und Ostdeutschland unterschieden. Im Durchschnitt aller Betriebe lag die Tarifbindung der Betriebe im Jahr 2020 im Westen bei 28 und im Osten bei 19 Prozent. Während im Westen 84 Prozent aller Betriebe in der Betriebsgrößenklasse von 500 und mehr Mitarbeitern an einen Firmen- oder Branchentarifvertrag gebunden waren, waren es von den Betrieben in der Betriebsgrößenklasse mit weniger als zehn Mitarbeitern nur 22 Prozent. In der Betriebsgrößenklasse mit Betrieben, die zehn bis 49 Mitarbeiter beschäftigen, waren 36 Prozent entweder an einen Branchen- oder an einen Firmentarif gebunden, in der Betriebsgrößenklasse von 50 bis 199 Mitarbeitern 49 Prozent und in der Klasse von 200 bis 499 insgesamt 62 Prozent. Es fällt auf, dass im Westen nicht nur die Tarifbindung insgesamt mit der Betriebsgröße zunimmt, sondern auch die Branchen- und Firmentarifbindung. Einen Branchentarifvertrag wenden 68 Prozent der größeren Betriebe (500 und mehr Beschäftigte) an, aber nur 21 Prozent der kleinen Betriebe (weniger als zehn Beschäftigte). Von den großen Betrieben verfügen 16 Prozent über einen Firmentarifvertrag, von den kleinen lediglich ein Prozent. Im Osten ist dieser Zusammenhang auf einem niedrigeren Niveau ebenfalls zu finden. Allerdings besteht bei der Branchentarifbindung zwischen den Betrieben der Betriebsgrößenklasse 50 bis 199 und 200 bis 499 Mitarbeiter nur ein geringer Unterschied. Die Branchentarifbindung liegt in der Betriebsgrößenklasse von 50 bis 199 Mitarbeitern sogar um zwei Prozentpunkte höher. Neben einem West-Ost-Gefälle und einem Betriebsgrößengefälle bestehen bei der Tarifbindung auch sehr große sektorale Unterschiede.5 Im Wirtschaftszweig Öffentliche Verwaltung/Sozialversicherung lag die Tarif4  Vgl. 5  Vgl.

Kohaut, Entwicklung der Tarifbindung, 2021, S. 8. Ellguth/Kohaut, WSI-Mitteilungen 73 (2020), 278 (280).



2.1 Struktur der Tarifbindung33

West 16 11 2 1 21 1 bis 9 Beschäftigte

34 10 bis 49 Beschäftigte

7 68

2

51

42

26

50 bis 199 Beschäftigte

200 bis 499 Beschäftigte

Branchentarifvertrag

500 und mehr Beschäftigte

Gesamt

Firmentarifvertrag

Ost

23 9 4 1 12 1 bis 9 Beschäftigte

22 10 bis 49 Beschäftigte

35

24 3

49

33 16

50 bis 199 Beschäftigte Branchentarifvertrag

200 bis 499 Beschäftigte

500 und mehr Beschäftigte

Gesamt

Firmentarifvertrag

Stand: 2020. Quelle: IAB-Betriebspanel, Sonderauswertung.

Grafik 2: Tarifbindung der Betriebe nach Betriebsgröße Anteile der Betriebe der jeweiligen Betriebsgrößenklasse in Prozent

bindung (Firmen- und Branchentarifbindung) der Betriebe zuletzt bei 90 Prozent, im Baugewerbe bei 52, im Verarbeitenden Gewerbe bei 24 und im Informations- und Kommunikationssektor bei 5 Prozent. Die je nach Betriebsgröße unterschiedliche Nutzung von Firmen- und Branchentarifverträgen führt dazu, dass der Anteil der Beschäftigten, die in einem tarifgebundenen Betrieb tätig sind, höher ausfällt als die Tarifbindung der Betriebe (siehe Grafik 3). So geht aus den Daten des IAB-Betriebspanels hervor, dass im Jahr 2020 bundesweit insgesamt 43 Prozent aller Arbeitnehmer in Betrieben tätig waren, die an einen Branchentarifvertrag gebunden waren. Weitere acht Prozent der abhängig Beschäftigten

34

2. Struktur und Entwicklung der Tarifbindung

29

Branchentarifvertrag 43

Firmentarifvertrag Orientierung am Tarifvertrag Weder Tarifvertrag noch Orientierung am Tarifvertrag

20 8

Stand: 2020; Deutschland insgesamt. Quellen: IAB-Betriebspanel, Sonderauswertung; eigene Berechnungen.

Grafik 3: Art der Tarifbindung von Beschäftigten Anteile von Beschäftigten in branchentarifgebundenen, firmentarifgebundenen, tariforientierten und tarifungebundenen Betrieben in Prozent

waren in Betrieben mit einem Firmentarifvertrag und weitere 20 Prozent in Betrieben mit einer Orientierung an einem Branchentarifvertrag angestellt. Die verbleibenden 29 Prozent aller Arbeitnehmer arbeiteten in Betrieben, die sich weder am Tarifvertrag orientierten noch einen solchen anwandten. Insgesamt hält sich also der Anteil der Arbeitnehmer in tarifgebundenen Betrieben und der Anteil der Arbeitnehmer in nicht tarifgebundenen Betrieben die Waage. Auch bei der Tarifbindung der Beschäftigten bestehen enorme sektorale Unterschiede.6 Während im Bereich Öffentliche Verwaltung/Sozialversicherung fast alle Arbeitnehmer nach einem Tarifvertrag vergütet werden – die Tarifbindung liegt hier bei 97 Prozent –, waren es im Baugewerbe 63, im Verarbeitenden Gewerbe 56 und im Informations- und Kommunika­ tionssektor 17 Prozent. Eine weit überdurchschnittliche Tarifbindung weisen auch die Finanz- und Versicherungsdienstleistungen (76 Prozent) und die Wirtschaftsgruppe Energie/Wasser/Abfälle und Bergbau aus (83 Prozent). Besonders niedrig war die Tarifbindung im Einzelhandel (28 Prozent), im Großhandel (33 Prozent) und im Gastgewerbe (40 Prozent). 6  Vgl.

Ellguth/Kohaut, WSI-Mitteilungen 73 (2020), 278 (280).



2.2  Entwicklung der Tarifbindung35

2.2  Entwicklung der Tarifbindung Im zeitlichen Verlauf zeigt sich, dass die Tarifbindung anhaltend rückläufig ist. Das liegt vor allem daran, dass die Bindung an Branchentarifverträge zurückging. Hingegen blieb die – allerdings deutlich weniger verbreitete – Bindung an Firmentarifverträge im Zeitverlauf recht stabil. Die unterschiedliche Entwicklung von Branchen- und Firmentarifbindung gilt sowohl für die Tarifbindung der Betriebe als auch für die Tarifbindung der Beschäftigten.7 Im Folgenden wird daher die Branchentarifbindung genauer in den Blick genommen, zunächst die der Betriebe, anschließend die der Beschäftigten. Im Jahr 1995, dem Beginn der Datenreihe für Westdeutschland, war im Westen noch mehr als jeder zweite Betrieb an einen Branchentarifvertrag gebunden, also etwa zweimal so viele wie heute (siehe Grafik 4). Der Trend zeigt jedoch stetig nach unten. Besonders starke Rückgänge lassen sich zwischen 1997 und 1999, 2001 bis 2008 und 2009 bis 2011 beobachten. Stabilisierungen gab es nur vorübergehend, etwa 1997, 2000 bis 2001, 2009, 2012, 2014 oder 2018 bis 2019. Im Osten lag die Tarifbindung im Jahr 1996 mit fast 30 Prozent zwar niedriger als im Westen, aber auch fast doppelt so hoch wie heute. Hier verläuft der Negativtrend flacher als im Westen. Die größte Erosion fand bis zur Jahrtausendwende statt. Danach 60 50 40 30 20 10 0

West

Ost

1995 Ost: keine Angabe. Quelle: IAB-Betriebspanel, Sonderauswertung.

Grafik 4: Branchentarifbindung der Betriebe 1995 bis 2020 Anteile der branchentarifgebundenen Betriebe in Prozent

7  Vgl.

Kohaut, Entwicklung der Tarifbindung, 2021, S. 6.

36

2. Struktur und Entwicklung der Tarifbindung

blieb die Entwicklung über mehrere Jahre hinweg stabil, bevor 2009 und 2010 ein weiterer Rückgang um insgesamt vier Prozentpunkte folgte. Seit 2010 scheint sich eine Art untere Auffanglinie gebildet zu haben. Da sich die Bindung an einen Firmentarifvertrag im Zeitverlauf nur wenig geändert hat, geht die sinkende Branchentarifbindung mit einem spiegelbildlich steigenden Anteil an nicht tarifgebundenen Betrieben einher.8 Bei der Tarifbindung der Beschäftigten im Sinne des IAB war der Rückgang ebenso spürbar wie bei den Betrieben (siehe Grafik 5). Im Westen fiel der Anteil der Beschäftigten in Betrieben mit einem Branchentarifvertrag von rund 70 auf 45 Prozent und im Osten von 56 auf 32 Prozent. Auch hier ist ein rückläufiger Trend beobachtbar, der nur vorübergehend unterbrochen wurde. Im Osten zeigt sich zwischen 2010 und 2015 eine vorübergehende Stabilisierung. Dabei scheint es sich aber nicht um eine Art untere Auffanglinie zu handeln, wie sie bei den Betrieben zu beobachten ist. Zwischen 2015 und 2020 nahm die Tarifbindung der Beschäftigten noch einmal um rund fünf Prozentpunkte ab. Bei diesen Daten ist zu berücksichtigen, dass es keine originären Daten zur Tarifbindung der Beschäftigten im Sinne des § 3 Abs. 1 TVG gibt. Das bedeutet, dass die Tarifbindung der Beschäftigten nicht direkt erhoben, sondern aus der Tarifbindung der Betriebe abgeleitet wird. In der vom IAB veröffentlichten Statistik wird jeder Arbeitnehmer als tarifgebunden gezählt, der in einem Betrieb mit Tarifbindung arbeitet, unabhängig davon, ob er gewerkschaftlich organisiert ist oder nicht. Nach dem Tarifvertragsgesetz sind aber nur die Mitglieder der Tarifvertragsparteien tarifgebunden, wobei auch ein einzelner Arbeitgeber Tarifvertragspartei sein kann. Eine un­mittelbare Tarifbindung beim Arbeitnehmer setzt demnach voraus, dass er gewerkschaftlich organisiert ist und in einem tarifgebundenen Betrieb arbeitet. Auswertungen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) zeigen, dass im Jahr 2018 nur 16,7 Prozent aller Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft waren.9 In der Praxis ­ ­unterscheidet ein tarifgebundener Arbeitgeber aber nicht zwischen gewerkschaftlich organisierten und nicht organisierten Mitarbeitern, sondern wendet den Tarifvertrag auf alle Beschäftigten an. Durch die in den tarifgebundenen Betrieben verbreitete Praxis, alle Arbeitnehmer nach Tarif zu bezahlen, fällt die tatsächliche Tarifbindung der Beschäftigten dreimal so hoch aus, wie es vom gewerkschaftlichen Organisationsgrad her gerechtfertigt wäre. Da dieser Aspekt in der politischen Debatte aber kaum berücksich8  Vgl. dazu die Grafiken für Deutschland insgesamt bei Kohaut, Entwicklung der Tarifbindung, 2021, S. 6. 9  Lesch/Winter, Gewerkschaften: Strukturschwäche dauert an, 2021, S. 1.



2.2  Entwicklung der Tarifbindung37 80 70 60 50

40 30 20 10 0

West

Ost

1995 Ost: keine Angabe. Quelle: IAB-Betriebspanel, Sonderauswertung.

Grafik 5: Branchentarifbindung der Beschäftigten 1995 bis 2020 Anteile der Beschäftigten in branchentarifgebundenen Betrieben in Prozent

tigt wird, lohnt ein Blick auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen der Gewerkschaften. In Deutschland gibt es mehr als 500 Verbände, die Arbeitnehmerinteressen vertreten, darunter fast 100 Gewerkschaften.10 Davon gehören etwa zwei Drittel einem der drei Dachverbände DGB, dbb Beamtenbund und Tarifunion (dbb) sowie dem Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB) an.11 Valide Mitgliederzahlen veröffentlichen nur diese drei Dachverbände. Fasst man die Mitgliederentwicklung dieser Dachverbände und die der bis März 2001 unabhängigen Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG)12 für den Zeitraum 1951 bis 2020 zusammen, sind unterschiedliche Phasen zu erkennen (siehe Grafik 6). Von Beginn der 1950er Jahre bis zum Ende der 1970er Jahre gewannen die Gewerkschaften immer mehr Mitglieder hinzu. In den 1980er Jahren stagnierte die Mitgliederentwicklung dann. Im Zuge der Wiedervereinigung wechselten viele Mitglieder des ostdeutschen Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), der sich am 14. September 1990 selbst auflöste, in die westdeutschen Gewerkschaften, die sich Schroeder/Greef, Industrielle Beziehungen 15 (2008), 329 (333). Schroeder/Greef, Industrielle Beziehungen 15 (2008), 329 (333). 12  Die DAG wurde schon 1945 in Hamburg als Nachfolgeorganisation früherer Angestelltenverbände gegründet, vgl. Niedenhoff/Pege, Gewerkschaftshandbuch, 1997, S. 31. Im März 2001 ging sie in der neu gegründeten Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di auf. Dadurch sind die DAG-Mitglieder ab 2001 in den DGBMitgliederzahlen enthalten. 10  Vgl. 11  Vgl.

38

2. Struktur und Entwicklung der Tarifbindung

16.000

50 45

14.000

40

12.000

35

10.000

30

8.000

25 20

6.000

15

4.000

10

2.000

5

0

0

Mitglieder (linke Achse)

Brutto-Organisationsgrad (rechte Achse)

Brutto-Organisationsgrad: Gewerkschaftsmitglieder (DGB, dbb, CGB und DAG) in Prozent der Arbeitnehmer im Inland; 1951–1959: früheres Bundesgebiet ohne Saarland und West-Berlin, Gewerkschaften ohne CGB; CGB: ab 2015 eigene Schätzungen. Quellen: DGB, Mitgliederzahlen, https://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen (30.7.2021); dbb (Pressestelle); Niedenhoff/Pege, Gewerkschaftshandbuch, 1997, S. 96 f., 125 f., 193 f., 214 f.; Institut der deutschen Wirtschaft, Deutschland in Zahlen, https://www.deutschlandinzahlen.de/tab/deutschland/arbeits markt/tarifpolitik/gewerkschaftsmitglieder (30.7.2021); StBA, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe S. 15, revidierte Ergebnisse 1950 bis 1990; StBA, Volkwirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.5, lange Reihen 1970 bis 2020, https://www.statistischebibliothek.de/mir/receive/DE Serie_mods_00000190 (5.8.2021); eigene Berechnungen.

Grafik 6: Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften in Deutschland Mitgliederzahlen in 1000, Brutto-Organisationsgrad in Prozent

auf den Osten erstreckten.13 Insgesamt stieg die Mitgliederzahl 1991 von 9,8 Millionen auf 13,8 Millionen an. In den 1990er und 2000er Jahren kam es zu einem anhaltenden und starken Schrumpfungsprozess. Dieser Trend hat sich in den 2010er Jahren deutlich abgeschwächt. Das liegt vor allem daran, dass der dbb, aber auch einzelne DGB-Gewerkschaften Mitglieder gewinnen. Insgesamt ist die Tendenz aber nach wie vor leicht rückläufig. Um die Reichweite der Gewerkschaften abzuschätzen, setzt man die Mitgliederzahl ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Arbeitnehmer. Dieser sog. Brutto-Organisationsgrad lag 1951 bei 46,8 Prozent. Er ging schon in den 1950er Jahren deutlich zurück, weil die Anzahl der Arbeitnehmer deutlich schneller wuchs als die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder. Erst in den 1970er Jahren lässt sich eine vorübergehende Zunahme des BruttoOrganisationsgrads beobachten. 1978 lag der Brutto-Organisationsgrad bei 13  Vgl.

Niedenhoff/Pege, Gewerkschaftshandbuch, 1997, S. 40.



2.2  Entwicklung der Tarifbindung39

40 Prozent. Dieses Niveau wurde später noch einmal nach dem Übertritt von Mitgliedern des FDGB in die westdeutschen Gewerkschaften erreicht. Ausgehend von einem Wert von 39,0 Prozent im Jahr 1991 ging der Brutto-Organisationsgrad durch anhaltende Mitgliederverluste rasant zurück. Im Jahr 2000 lag er bei 27,1 Prozent, 2010 bei 21,2 Prozent und 2020 bei 18,3 Prozent.14 Der Brutto-Organisationsgrad überschätzt allerdings die Reichweite der Gewerkschaften, weil nicht nach aktiven Mitgliedern (Arbeitnehmer) und inaktiven Mitgliedern (Rentner, Arbeitslose) unterschieden wird. Um zu schätzen, wie groß der Organisationsgrad unter den Arbeitnehmern ist, müssen Rentner und andere Inaktive aus den Mitgliederzahlen der Gewerkschaften herausgerechnet werden. Setzt man die Anzahl der aktiven Gewerkschaftsmitglieder in Relation zur Anzahl der Arbeitnehmer, erhält man den sog. Netto-Organisationsgrad. Da die Gewerkschaften zu den aktiven Mitgliedern keine vollständigen Angaben veröffentlichen, müssen zur Berechnung des Netto-Organisationsgrads andere Quellen he­rangezogen werden.15 Hierzu zählen neben dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) vor allem der ALLBUS und der European Social Survey (ESS). Wie oben erwähnt, zeigen Auswertungen der letzten verfügbaren Daten im Rahmen des ALLBUS, dass 2018 noch 16,7 Prozent aller Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft waren, wobei der Anteil in Westdeutschland mit 16,9 Prozent um 1,2 Prozentpunkte über dem in Ostdeutschland lag.16 Im längerfristigen Vergleich der ALLBUS-Angaben hat sich der NettoOrganisationsgrad in Westdeutschland halbiert. Im Jahr 1980 – in diesem Jahr wurde im ALLBUS erstmals nach der Gewerkschaftszugehörigkeit gefragt – waren noch 32,5 Prozent der Arbeitnehmer organisiert.17 Im Osten, wo die Gewerkschaftszugehörigkeit erstmals im Jahr 1991 abgefragt wurde (zu diesem Zeitpunkt hatte sich der FDGB schon aufgelöst und die faktische Zwangsmitgliedschaft war aufgehoben), lag der Organisationsgrad noch bei 50,1 Prozent. Er ging im Zuge der Transformation der ost-

14  Berechnungen auf Basis des ALLBUS ergeben einen Brutto-Organisationsgrad von rund 26 Prozent. Fast ein Drittel der Gewerkschaftsmitglieder ist danach nicht erwerbstätig. Vgl. Schneider, Gewerkschaften – ja bitte, aber ohne mich, 2018, S. 1. 15  Vgl. dazu auch Biebeler/Lesch, IW-Trends 33 (2006), 45 (47). 16  Lesch/Winter, Gewerkschaften: Strukturdefizite verstärken sich, 2021, S. 1. 17  Vgl. Tabelle 1 in Biebeler/Lesch, IW-Trends 33 (2006), 45 (46 f.). Bezogen auf die DGB-Gewerkschaften werden zwischen 1950 und 1975 Netto-Organisationsgrade von 25 bis 33 Prozent geschätzt. Vgl. Hagelstange, Der Einfluß der ökonomischen Konjunktur auf die Streiktätigkeit und die Mitgliederstärke der Gewerkschaften, 1979 (Anhang, Zeitreihen 129–141).

40

2. Struktur und Entwicklung der Tarifbindung

deutschen Volkswirtschaft bis 1996 aber drastisch auf 25,7 Prozent zurück.18 Im Jahr 2018 lag er bei 16,7 Prozent.

2.3  Tarifbindung in der Metall- und Elektro-Industrie Die Daten des IAB decken im Kontext des vorliegenden Untersuchungsgegenstands nur einen kurzen Beobachtungszeitraum ab. Um einen Einblick in die Entwicklung im Zeitraum davor zu gewinnen, müssen daher alternative Quellen herangezogen werden. Dazu bietet sich die öffentlich zugängliche Mitgliederstatistik der Verbände in der Metall- und ElektroIndustrie an.19 Diese Mitgliederstatistik enthält ab dem Jahr 1959 sowohl Informationen über die Anzahl der Mitgliedsfirmen als auch der dort Beschäftigten. Da diese Branche einer der bedeutendsten Wirtschaftszweige der deutschen Volkswirtschaft ist, eignet sie sich auch dazu, ein längerfristiges Bild der Entwicklung der Tarifbindung zu vermitteln. Grafik 7 stellt die Entwicklung der Branchentarifbindung von Betrieben und Beschäftigten in der Metall- und Elektro-Industrie seit 1959 dar. Dieser Zeitraum geht erheblich über den Beobachtungszeitraum der Daten des IAB-Betriebspanels hinaus. Die Branchentarifbindung der Betriebe ergibt sich in der Metall- und Elektro-Industrie direkt aus dem Anteil der Betriebe, die Mitglied in einem der regionalen Metallarbeitgeberverbände (in dem jeweiligen Jahr) waren, an allen Betrieben der Branche. Die Branchentarifbindung der Beschäftigten lässt sich auch hier nicht originär erheben. Sie ergibt sich aus dem Anteil der in diesen Betrieben angestellten Personen im Verhältnis zu allen Beschäftigten der Branche. Bei den Angaben ist zu berücksichtigen, dass die Branche im Zeitverlauf unterschiedlich abgegrenzt wurde und es unterschiedliche statistische Erfassungsmethoden gab. Im Jahr 1959, dem Ausgangsjahr der Betrachtung, lag der Anteil der branchentarifgebundenen Betriebe bei 40 Prozent. Bis 1976 ging dieser Anteil dann nahezu kontinuierlich auf 29 Prozent zurück. Der Anstieg auf knapp 44 Prozent im Jahr 1977 ist einer veränderten statistischen Erfassung der Anzahl an Betrieben geschuldet. Gezählt wurden fortan nur noch Betriebe mit 20 und mehr Beschäftigten, während 1959 Betriebe mit mindestens zehn Beschäftigten und zwischen 1960 und 1976 sogar alle Betriebe berücksichtigt wurden. Im gesamten Beobachtungszeitraum stellt Tabelle 2 in Biebeler/Lesch, IW-Trends 33 (2006), 45 (48). Gesamtmetall, M+E in Zahlen, https://www.gesamtmetall.de/branche/mezahlen/zahlenheft (31.7.2021). 18  Vgl. 19  Vgl.



2.3  Tarifbindung in der Metall- und Elektro-Industrie41 90 80

70 60 50 40 30 20 10 0

Beschäftigte

Betriebe

1977: Statistischer Bruch durch veränderte Erfassung von Betrieben (kleine Betriebe fallen heraus); 1992/93: Berücksichtigung von Betrieben und Beschäftigten der im Oktober 1990 beigetretenen Gebiete der früheren Deutschen Demokratischen Republik. Quellen: Gesamtmetall, Sonderauswertung; StBA, Fachserie 4, Reihe 4.1.1, https://www.statistischebibliothek. de/mir/receive/DESerie_mods_00000061 (5.8.2021); StBA, Fachserie 4, Reihe 4.1.2, https://www.statistische bibliothek.de/mir/receive/DESerie_mods_00000062 (5.8.2021); eigene Berechnungen.

Grafik 7: Branchentarifbindung in der Metall- und Elektro-Industrie 1959 bis 2020 Anteil der branchentarifgebundenen Betriebe und ihrer Beschäftigten in Prozent

der Wert des Jahres 1977 den höchsten Wert dar. Dieses hohe Niveau setzte sich bis 1984 fort. Dann setzte unter den Betrieben mit mindestens 20 Beschäftigten eine leichte und anhaltende Abwärtstendenz der Tarifbindungsquote ein. Im Jahr 1988 lag die Branchentarifbindungsquote aber immer noch über 40 Prozent. Danach beschleunigte sich der Abwärtstrend mit Ausnahme einer vorübergehenden Unterbrechung im Jahr 1995, als der Anteil vorübergehend auf 37 Prozent anstieg. Nach diesem Zwischenhoch setzte ein kontinuierlicher Rückgang ein, der sich in den letzten zehn Jahren zwar etwas abschwächte, aber nicht gestoppt oder gar umgekehrt werden konnte. Bis 2020 ging die Branchentarifbindungsquote der Betriebe weiter auf 12,6 Prozent zurück. Da größere Betriebe eher tarifgebunden sind als kleine, liegt der Branchentarifbindungsgrad der Beschäftigten (gemessen an der Anzahl der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben) auch in der Metall- und Elektro-Industrie höher als derjenige der Betriebe. Ende der 1950er Jahre lag der Anteil über 80 Prozent. Dieses Niveau wurde in den Folgejahren nur knapp unterschritten, wobei sich die statistische Umstellung von 1977 auch auf diesen Indikator positiv auswirkte. Im Jahr 1984 lag die Branchentarifbindung der Beschäftigten immer noch über 77 Prozent. Dann setzte ein zunächst moderater Abwärtstrend ein, der sich in den 1990er

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2. Struktur und Entwicklung der Tarifbindung

Jahren beschleunigte. Diese starke Abwärtstendenz fiel mit der oben angesprochenen Diskussion darüber zusammen, ob Flächentarifverträge angesichts einer postfordistischen Produktionsweise und einer fortschreitenden internationalen Arbeitsteilung noch ein angemessenes Regelungsinstrument darstellen.20 Erst in den 2010er Jahren schwächten sich die negativen Entwicklungen ab, die Zahl der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben stieg vorübergehend sogar wieder leicht an. Im Jahr 2020 lag der Anteil der Beschäftigten, die in Betrieben mit einem Branchentarifvertrag arbeiten, bei 46,0 Prozent. Das sind drei Prozentpunkte mehr als die IAB-Statistik für den Durchschnitt der Gesamtwirtschaft ausweist. Anders als den Gewerkschaften, gelang es vielen Arbeitgeberverbänden, ihre Mitgliederzahlen durch die Bildung von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung zu stabilisieren. Deren Entstehung war „dem tarifpolitischen Umfeld Mitte der 90er Jahre und einer teilweise extrem ideologisch begründeten Kritik am Flächentarifvertrag geschuldet.“21 OT-Verbände sind Verbandskonstruktionen, in denen man als Mitglied die üblichen Verbandsleistungen in Anspruch nehmen kann, aber von der Pflicht zur Anwendung eines Branchentarifvertrags entbunden ist. Eine Analyse der Mitgliederentwicklung in den Verbänden der Metall- und Elektro-Industrie zeigt, dass seit 2005 mehr Betriebe in die OT-Verbände eintraten als Betriebe aus den Tarifträgerverbänden austraten (siehe Grafik 8).22 Dadurch entstand nicht nur ein positiver Saldo. Inzwischen hat die Mitgliederzahl in den OT-Verbänden die Mitgliederzahl in den Tarifträgerverbänden übertroffen. Zwar vermittelt die Analyse der Tarifbindung in der Metall- und ElektroIndustrie nur ein unvollständiges Bild, das nicht unbedingt auf alle Branchen übertragbar ist. Festzustellen ist aber, dass es zumindest in der langfristigen Betrachtung der größten deutschen Industriebranche niemals eine Tarifbindung von 100 Prozent gab. Auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad, der für das Eingehen einer Tarifbindung „der wohl bedeutendste

20  Vgl. Berthold/Fehn, Evolution von Lohnverhandlungssystemen, 1996, S. 57 ff.; Berthold/Stettes, Der Flächentarifvertrag – vom Wegbereiter des Wirtschaftswunders zum Verursacher der Beschäftigungsmisere, 2001, S. 1 ff. 21  Zander, in: FS Klebe, 2018, S. 484 (485). 22  Nachdem bis 2004 alle Regionalverbände der Metall- und Elektro-Industrie OTStrukturen eingeführt hatten, beschloss Gesamtmetall als Dachverband im Januar 2005 auch den regionalen OT-Verbänden ein bundesweites Dach anzubieten. Vgl. Finkelnburg, Der lange Weg zur Tarifpartnerschaft, 2015, S. 508. Zu den OT-Verbänden, die nicht in Gesamtmetall organisiert sind, gehören der AGV Nord, IN-Metall (Niedersachsen Süd), AWB Berlin-Brandenburg, Sachsenmetall und LVME SachsenAnhalt.



2.3  Tarifbindung in der Metall- und Elektro-Industrie43 10.000 9.000 8.000 7.000 6.000 5.000 4.000

3.000 2.000 1.000 0

Betriebe mit T-Mitgliedschaft

Betriebe mit OT-Mitgliedschaft

T-Mitgliedschaft: Nordmetall, NiedersachsenMetall, METALL NRW, Hessenmetall, vem.die arbeitgeber, PfalzMetall, ME Saar, Südwestmetall, vbm, VME Berlin und Brandenburg, VME Sachsen-Anhalt, VSME, VMET; OT-Mitgliedschaft: Nordmetall, METALL NRW, Hessenmetall, vem.die arbeitgeber, PfalzMetall, UV Saar, USW, bayme, AGVT. Quelle: Gesamtmetall, Sonderauswertung.

Grafik 8: Mitgliederentwicklung in den Verbänden der Metall- und Elektro-Industrie Anzahl der Betriebe

Faktor“23 ist, konnte nie die 50-Prozent-Hürde überspringen – und damit auch nicht die heute noch an tatsächlicher Tarifbindung erreichte Quote. Die Tarifautonomie funktionierte stattdessen immer als ein Mischsystem aus positiver und negativer Koalitionsfreiheit.24 Schon in den frühen 1960er Jahren, die noch vom Deutschen Wirtschaftswunder geprägt waren, ging die Tarifbindung in der größten deutschen Industriebranche zurück. Während die Anzahl der Mitgliedsfirmen in den Tarifträgerverbänden der Metall- und Elektro-Industrie rückläufig ist, stabilisierte sich – wie oben erwähnt – die Zahl der in diesen Mitgliedsfirmen beschäftigten Arbeitnehmer (siehe Grafik 9). Der bis zum Jahr 2010 anhaltende Trend einer rückläufigen Beschäftigtenzahl kehrte sich sogar um. Im Jahr 2010 beschäftigten die in den Tarifträgerverbänden organisierten Mitgliedsfirmen insgesamt 1,69 Millionen Arbeitnehmer, 2019 waren es 1,91 Millionen. Im Zuge der Konjunkturabschwächung durch die Corona-Pandemie ging die Zahl im Jahr 2020 auf 1,82 Millionen zurück. In den Mitgliedsfirmen der OT-Verbände lag die Zahl der Beschäftigten im Jahr 2020 bei gut 581.000. 23  Zander,

in: FS Klebe, 2018, S. 484 (485). in ökonomischen Modellen lässt sich kein optimaler Tarifbindungsgrad bestimmen. Vgl. Lesch/Vogel/Busshoff/Giza, Stärkung der Tarifbindung, 2017, S. 10 ff. 24  Auch

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2. Struktur und Entwicklung der Tarifbindung

5.000.000 4.500.000 4.000.000 3.500.000 3.000.000 2.500.000 2.000.000

1.500.000 1.000.000 500.000 0

Beschäftigte in Betrieben mit T-Mitgliedschaft

Beschäftigte in Betrieben mit OT-Mitgliedschaft

Beschäftigte M+E-Industrie insgesamt

Anmerkungen: siehe Grafik 8. Quelle: Gesamtmetall, Sonderauswertung.

Grafik 9: Beschäftigtenentwicklung in den Mitgliedsbetrieben der Verbände der Metall- und Elektro-Industrie Anzahl der Beschäftigten

Auch hier hinterließ die Pandemie ihre Spuren. Im Jahr 2019 waren es noch knapp 605.000. Die vorliegenden statistischen Daten zeigen: Das Verhältnis zwischen der Bedeutung der beiden Koalitionsfreiheiten hat sich im Zeitverlauf verändert. Die negative Koalitionsfreiheit hat deutlich an Gewicht gewonnen. Der Grad der Tarifbindung ist aber nicht der einzige Erfolgsparameter eines Tarifvertragssystems.25 Der weiteren Forschung ist vorbehalten, den Grad der Tarifbindung in den einzelnen Branchen, speziell der Metall- und Elektro-Industrie, mit der Lohnentwicklung und dem lohnpolitischen Verteilungsspielraum zu spiegeln, um daraus möglicherweise Rückschlüsse auf die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu ziehen.

25  Zander,

in: FS Klebe, 2018, S. 484 (486).

3.  Die Legitimation der Tarifautonomie Clemens Höpfner

3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie Im Jahr 2018 feierten Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Politik 100 Jahre Sozialpartnerschaft in Deutschland.1 Anlass hierfür was das nach den Verhandlungsführern Hugo Stinnes und Carl Legien benannte „StinnesLegien-Abkommen“ vom 15. November 1918,2 in dem die Arbeitgeber die Gewerkschaften als „berufene Vertreter der Arbeiterschaft“ (Ziff. 1 des Abkommens) anerkannt haben. Zugleich jährte sich auch das Inkrafttreten des ersten deutschen Gesetzes zum Tarifvertragsrecht, der am 23. Dezember 1918 vom Rat der Volksbeauftragten unter Vorsitz von Friedrich Ebert und Hugo Haase sowie dem Staatssekretär im Reichs­arbeitsamt, Gustav Bauer, verkündeten Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitig­keiten,3 zum einhundertsten Mal. Das Jahr 1918 nimmt daher eine Schlüsselstellung in der Geschichte des deutschen Tarifvertragsrechts ein. Allerdings markiert es nicht die „Geburtsstunde“ des Tarifvertragswesens in Deutsch­land,4 da der Tarifvertrag sich bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts gegen erhebliche Widerstände der Politik und ohne ausdrückliche gesetz­liche Grundlage etabliert hatte. In dieser Situation war es die Arbeitsrechtswissenschaft, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die zum Teil bis heute fortwirkenden dogmatischen Grundlagen der Tarifautonomie und der Tarifgeltung entwickelt hat. Eine Darstellung der historischen Entwicklung der Tarifautonomie wäre unvollständig, wenn sie nicht auch diese Vor­arbeiten bis zur erstmaligen Kodifikation des Tarifvertragsrechts im Jahr 1918 und die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit in der Weimarer Reichsverfassung 1919 in den Blick nehmen würde. 1  Vgl. zum gemeinsamen Festakt von BDA und DGB am 16.10.2018 den Bericht unter https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/100-jahre-stinnes-legien-abkommen-lieber -acht-stunden-tag-als-die-revolution/23189806.html (4.8.2021); zu 100 Jahren Sozialpartnerschaft auch die Beiträge von Funk, Krüger, Pierenkemper, Schulten, Lesch/ Schneider/Vogel und Schroeder in Sozialer Fortschritt 2018, Heft 10, S. 805–906. 2  Vgl. dazu Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018. 3  RGBl. 1918 II, S. 1456. 4  So aber Wiedemann, BB 2013, 1397 (1398).

46

3. Die Legitimation der Tarifautonomie



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie47

48

3. Die Legitimation der Tarifautonomie



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie49

Quelle: Bundesarchiv, R 43/2494/J Reichskanzlei.

Abbildung 1: Stinnes-Legien-Abkommen

50

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

3.1.1  Der Weg zur Koalitionsfreiheit 1919 Das Tarifvertragswesen in Deutschland entwickelte sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Nachdem auch auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches unter dem Einfluss der Französischen Revolution das Zunftwesen durch Einführung einer Gewerbefreiheit abgelöst und damit zugleich der Arbeitsvertrag zur Grundlage der Arbeitsverfassung erhoben worden war,5 stellte sich rasch heraus, dass die Vertragsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt nur formal galt. Materiell herrschte indes ein so erhebliches strukturelles Ungleichgewicht zwischen den Arbeitsvertragsparteien, dass die Arbeitsvertragsfreiheit letztlich ein einseitiges Diktat von Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber zur Folge hatte.6 Auf diese Weise wurde der freie Vertrag „zu einem Instrument der Unfreiheit pervertiert“.7 An die Stelle einer dauerhaften Aufgabe der persönlichen Freiheit in der Zunftverfassung trat damit die durch materielle Imparität begründete faktische Unfreiheit des Arbeitnehmers in der marktwirtschaftlich konstituierten Arbeitsverfassung.8 Als Ursache für die fehlende Parität der Arbeitsvertragsparteien hatten die Nationalökonomen das später sog. Konkurrenzparadoxon9 auf dem Arbeitsmarkt ausgemacht. Vorreiter war Lujo Brentano, der die Eigenart der „Ware“ Arbeit darin sah, dass der Arbeiter „in Folge seiner Armuth in der Regel nichts hat, wovon er leben kann, als den Verkauf seiner Arbeit“.10 Die Folgen sind drastisch: Der Arbeiter hat im Gegensatz zu den Anbietern sonstiger Waren keinen Einfluss auf das Angebot. Er hat es nicht in der Hand, sein Angebot an eine sinkende Nachfrage anzupassen, indem er bei sinkender Nachfrage das Arbeitsangebot verknappt oder auf einen anderen Markt ausweicht, sondern muss im Gegenteil sein Arbeitsangebot erhöhen, da er seinen Lebensunterhalt von seiner Arbeit bestreiten muss. Die Folge ist ein weiteres Absinken des Preises, was letztlich zu der von Karl Marx beschriebenen „Verelendungsspirale“ führt.11 5  Vgl. dazu Picker, Die Tarifautonomie in der deutschen Arbeitsverfassung, 2000, S. 21; ders., ZFA 2009, 215 (217); ders., in: FS Richardi, 2007, S. 141 (142); zum Begriff der Arbeitsverfassung Nörr, ZFA 1986, 403 (408); Ramm, JZ 1977, 1. 6  Vgl. dazu bereits Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 764; Brentano, Über den Syndikalismus, 1913, S. 5 (8); Schall, JherJb 52 (1907), 1 (5 f.). 7  Picker, ZFA 1986, 199 (251). 8  Vgl. zu dieser Verschiebung Rückert, ZFA 1992, 225 (283 f.). 9  Stützel, Paradoxa der Geld- und Konkurrenzwirtschaft, 1953, S. 360  ff., insb. S.  368 ff. 10  Brentano, Auf dem Wege zum gesetzlichen Lohnminimum, 1913, S. 31 (33); ders., Die Arbeitergilden der Gegenwart, Band 2, 1872, S. 16. 11  Vgl. zu dem – von Marx selbst nicht verwendeten – Begriff der „Verelendungstheorie“ Wagner, Verelendungstheorie, 1976, S. 13 ff.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie51

Vor diesem Hintergrund haben sich zunächst in England,12 später dann zunehmend auch in den deutschen Staaten Arbeitnehmer zu Koalitionen zusammengeschlossen, um durch Kollektivierung eine Gegenmacht zu dem Verhandlungsübergewicht der Arbeitgeber zu bilden.13 Jene wiederum reagierten darauf durch die Bildung von Streikabwehrverbänden, den Vorläufern der heutigen Arbeitgeberverbände.14 Damit war die Idee des Tarifvertrags als Ergebnis eines kollektiven Aushandelns von Arbeitsbedingungen geboren. So enthielt das Programm des Zentralkomitees der Berliner Arbeitervereine vom 10. Juni 1848 unter Punkt 1 die Forderungen nach einer „Bestimmung des Minimums des Arbeitslohnes und der Arbeitszeit durch Kommissionen von Arbeitern und Meistern oder Arbeitgebern“.15 Im gleichen Jahr waren es die Buchdrucker, die nach der Märzrevolution16 zunächst im April in Berlin, unmittelbar vor der Wahl zur National­ versammlung,17 nach Gründung des „National-Buchdrucker-Gehilfen-Verbands“ dann im August zu einem nationalen Arbeitsausstand18 aufgerufen hatten. Die Buchdrucker waren es bekanntlich auch, die 1873 den ersten Tarifvertrag mit einem auf das gesamte Reichsgebiet bezogenen Geltungsbereich vereinbart haben, nachdem 85 Bezirksvereine der Buchdrucker im Mai 1866 auf dem ersten deutschen Buchdruckertag in Leipzig den Deutschen Buchdruckerverband gegründet hatten.19 Besonders problematisch für die Entwicklung des Tarifvertragswesens war zunächst weniger das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für den Abschluss und die Geltung von Tarifverträgen, sondern vor allem die Bekämpfung von Koalitionen durch den Staat. Zwar existierte in Preußen nach Einführung der Gewerbefreiheit durch die Stein-Hardenbergschen 12  Vgl. dazu S. Webb/B. Webb, Industrial Democracy, 1897, deutsche Übersetzung unter dem Titel Theorie und Praxis der Englischen Gewerkvereine, Zwei Bände, 1898; Brentano, Die Arbeitergilden der Gegenwart, Band 2, 1872, S. 196 ff.; rückblickend Rudischhauser, Geregelte Verhältnisse, 2017, S. 247 ff. 13  Vgl. zum Gegenmachtprinzip Reichold, in: Rieble/Junker/Giesen (Hrsg.), Kartellrecht und Arbeitsmarkt, 2010, S. 55 ff.; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, Rn.  114 ff., 629 ff.; Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S.  536 ff. 14  Vgl. dazu Erdmann, Die deutschen Arbeitgeberverbände, 1966, S. 57; Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 319. 15  Zitiert nach Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1252. 16  Vgl. zur inhaltlichen Verbindung des Tarifvertragsgedankens mit der Märzrevolution 1948 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1252. 17  Vgl. dazu Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 198. 18  Vgl. Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 200 ff. 19  Vgl. Imle, Gewerbliche Friedensdokumente, 1905, S. 18; Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich, 1959, S. 162.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Quelle: Der Verband der dt. Buchdrucker. 50 Jahre gewerkschaftliche Arbeit mit einer Vorgeschichte. Hrsg. vom Vorstand des Verbandes der deutschen Buchdrucker. Berlin 1916.

Abbildung 2: Buchdrucker-Tarifvertrag von 1873



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie53

Reformen 1810/1120 zunächst kein allgemeines Koalitionsverbot. Dessen ungeachtet war jedoch eine feindliche Grundhaltung der staatlichen Obrigkeit gegenüber den Bestrebungen der Arbeiter zur Bildung von Koalitionen auszumachen. So gab es bereits Strafvorschriften gegen die kollektive Arbeitseinstellung der zunftmäßig organisierten Gesellen und Meister.21 ­ Durch den Beschluss des Deutschen Bundes über „das Verbot des Wanderns, der Versammlungen und Verbindungen der deutschen Handwerksgesellen“ aus dem Jahr 1835 wurde das Wandern von Handwerksgesellen in diejenigen Länder verboten, „in welchen offenkundig dergleichen Associationen und Versammlungen geduldet werden“.22 Zudem waren Koalitionskampfmittel nach den weiter fortgeltenden polizeilichen Ordnungsvorschriften unzulässig.23 3.1.1.1 1845 ff.: Koalitionsverbote Mit den §§ 182, 183 der Gewerbeordnung von 1845 (GewO 1845) schuf Preußen dann ein echtes Koalitionsverbot für „Gehülfen, Gesellen und Fabrikarbeiter“,24 ergänzt durch ein Koalitionsverbot für Gewerbetreibende in § 181. Das Gesetz koppelte das Koalitionsverbot mit einem partiellen Erlaubnisvorbehalt: Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkoalitionen, die ihre Ziele mithilfe des Arbeitskampfes durchsetzen wollten, waren gem. §§ 181, 182 GewO 1845 generell verboten, während kampfunwillige Arbeitervereinigungen gem. § 183 GewO 1845 zunächst25 einem Koalitionsverbot mit 20  Gewerbesteueredikt v. 2.11.1810, GS 1810, S. 79; Gewerbepolizeigesetz v. 7.8.1811, GS 1810, S. 263; vgl. dazu Kollmann, Die Entstehungsgeschichte der deutschen Koalitionsgesetzgebung, 1916, S. 48 ff.; Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 150 ff. 21  Vgl. Kollmann, Die Entstehungsgeschichte der deutschen Koalitionsgesetzgebung, 1916, S. 7, 60 ff. 22  Bundesbeschluß über das Verbot des Wanderns, der Versammlungen und Verbindungen der deutschen Handwerksgesellen v. 15.1.1835, kundgemacht u. a. durch die Verordnung, die Publication der wegen des Wanderns der Handwerksgesellen unter’m 15ten Januar und 12ten März 1835 gefaßten Bundesbeschlüsse betreffend v. 6.7.1835, Sächs. GVBl. 1835, S. 388. 23  Bogs, Geschichtliche Entwicklung des deutschen Koalitionsrechts, 1925, S. 1 (13). 24  Vgl. dazu Bogs, Geschichtliche Entwicklung des deutschen Koalitionsrechts, S. 1 (13); Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1135 ff.; Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 189 ff. 25  § 183 GewO 1845 wurde durch § 4 der Verordnung über einige Grundlagen der künftigen preußischen Verfassung v. 6.4.1848, Gesetz-Sammlung für die König­lichen Preußischen Staaten 1848, S. 87, aufgehoben; vgl. im Anschluss Art. 30 der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat v. 31.1.1850 (revidierte Fassung).

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Erlaubnisvorbehalt unterlagen.26 Ergänzt wurden die Koalitionsverbote durch § 184 GewO 1845, der den Kontraktbruch, d. h. die vorsätzliche Verletzung des Arbeitsvertrags durch Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter, unter Strafe stellte.27 Nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution 1848/4928 wurden für das Gesinde und die ländlichen Arbeiter entsprechende Verbote in §§ 1 und 3 des Gesinde- und Landarbeitergesetzes von 185429 übernommen, allerdings mit einer im Vergleich zu § 184 GewO 1845 geringeren Strafandrohung für den Kontraktbruch.30 Schließlich sah auch das als „Freizügigkeitsgesetz“31 bekannt gewordene Preußische Bergarbeitergesetz von 186032 in den §§ 16 bis 18,33 später übernommen in § 244 des Allgemeinen Berggesetzes von 1865,34 inhaltlich entsprechende Regelungen vor. Praktische Anwendung durch die zuständigen preußischen Behörden fanden die Koalitions- und Arbeitskampfverbote zu dieser Zeit jedoch selten.35 Nach einer gutachtlichen Äußerung der Behörden zur Koalitions26  Huber,

Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1136. wurden nach § 184 GewO 1845 „Gesellen, Gehülfen und Fabrik-Arbeiter, welche ohne gesetzliche Gründe eigenmächtig die Arbeit verlassen oder ihren Verrichtungen sich entziehen, oder sich groben Ungehorsams oder beharrlicher Widerspenstigkeit schuldig machen“; vgl. dazu Stoffels, Der Vertragsbruch des Arbeitnehmers, 1994, S. 10. 28  Vgl. zum Auf- und Abstieg der Arbeiterbewegung im Laufe der Revolution 1848/49 Däubler/Däubler, TVG, 4. Auflage, 2016, Einleitung Rn. 3 f.; in breiterem Kontext Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 2, S. 703 ff. 29  Gesetz, betreffend die Verletzungen der Dienstpflichten des Gesindes und der ländlichen Arbeiter v. 24.4.1854, GS 1854, S. 214. 30  Vgl. dazu Bogs, Geschichtliche Entwicklung des deutschen Koalitionsrechts, 1925, S. 1 (14); Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 190 f.; Kollmann, Die Entstehungsgeschichte der deutschen Koalitionsgesetzgebung, 1916, S. 137 ff. 31  Vgl. zu dieser Bezeichnung etwa Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preussens, 1984, S. 490 ff.; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 3, 2006, S. 78. 32  Gesetz die Aufsicht der Bergbehörden über den Bergbau und das Verhältnis der Berg- und Hüttenarbeiter betreffend v. 21.5.1860, GS 1860, S. 201. 33  Vgl. dazu Bogs, Geschichtliche Entwicklung des deutschen Koalitionsrechts, 1925, S. 1 (14); Kollmann, Die Entstehungsgeschichte der deutschen Koalitionsgesetzgebung, 1916, S. 140 ff. 34  Allgemeines Berggesetz für die Preußischen Staaten v. 24.6.1865, GS 1865, S. 705; vgl. dazu Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, 2. Auflage, 1927, S. 77. 35  Vgl. Kollmann, Die Entstehungsgeschichte der deutschen Koalitionsgesetz­ gebung, 1916, S. 124: „Die Ueberzeugung, daß die Verbote daher ungerechtfertigt seien, … sie hat das Rechtsleben beherrscht, durch sie wurden die Strafbestimmungen in steigendem Maße in ihrer Wirkung paralysiert und schließlich völlig außer Kraft gesetzt.“ 27  Bestraft



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie55

Quelle: Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten, Staatsbibliothek Berlin, Zsn 8592-1845.

Abbildung 3: Preußische Gewerbeordnung von 1845

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

frage von 1865/66 sind aus den Jahren 1845 bis 1865 lediglich 26 Fälle bekannt, in denen das Koalitionsverbot des § 182 GewO 184536 tatsächlich zu einer Bestrafung von Streikenden geführt hat.37 Die genannten Fälle betrafen allesamt Arbeitskämpfe, in denen keine gütliche Einigung erzielt werden konnte. Sobald eine Streikandrohung bereits im Vorfeld abgewendet werden konnte oder die Arbeit nach erfolgreichen Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite wieder aufgenommen wurde, verfolgten die Behörden den Verstoß gegen § 182 GewO 1845 nicht weiter; Strafverfahren wurden in diesen Fällen nicht eingeleitet.38 Die geringe praktische Relevanz dieser spezifischen Koalitionsverbote war auch der Grund dafür, dass selbst in Arbeiterkreisen eine politische Opposition gegen die gesetzlichen Verbote zunächst nicht zu verzeichnen war.39 3.1.1.2  1869 ff.: Aufhebung der Koalitionsverbote, aber weitgehende Repressalien Nachdem 1861 und 1862 einige deutsche Staaten ihre Koalitionsverbote aufgehoben hatten, wurden durch die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 1869 (GewO 1869),40 die nach der Gründung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles am 18. Januar 1871 mit Wirkung zum 1. Januar 1872 als Reichsgewerbeordnung im gesamten Reich in Kraft getreten ist,41 „alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehülfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter“ (§ 152 Abs. 1 GewO 1869) aufgehoben. Nicht mehr aufrechterhalten wurden die auch strafrechtlichen Sanktionen des Kontraktbruchs, wie sie etwa noch in § 184 GewO 1845 vorgesehen 36  Verurteilungen der Gewerbetreibenden nach § 181 GewO waren überhaupt nicht zu verzeichnen, vgl. Kollmann, Die Entstehungsgeschichte der deutschen Koalitionsgesetzgebung, 1916, S. 124. 37  Zitiert nach Kollmann, Die Entstehungsgeschichte der deutschen Koalitionsgesetzgebung, 1916, S. 124 (Fn. 2 i. V. m. S. 123); vgl. auch Born, VSWG 46 (1959), S. 29 (33 f.): „Das preußische Koalitionsverbot ist also in der Praxis von der preußischen Beamtenschaft vereitelt worden.“ 38  Vgl. Kollmann, Die Entstehungsgeschichte der deutschen Koalitionsgesetzgebung, 1916, S. 130. 39  Vgl. Kollmann, Die Entstehungsgeschichte der deutschen Koalitionsgesetzgebung, 1916, S. 175 f. 40  Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund v. 21.6.1869, BGBl., S. 245. 41  Gesetz, betreffend die Einführung der Gewerbe-Ordnung des Norddeutschen Bundes v. 21. Juni 1869 in Württemberg und Baden v. 10.11.1871, RGBl. 1871, S. 392.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie57

Quelle: Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1869, unveränderter Abdruck 1891, Wikimedia Commons.

Abbildung 4: Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 1869

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

waren. Bis weit ins 20. Jahrhundert weiter in Kraft blieben allerdings die Koalitionsverbote der einzelnen Staaten für die ländlichen Arbeiter und das Gesinde, die von § 152 Abs. 1 GewO 1869 ganz bewusst nicht erfasst worden waren.42 Hinzu kam, dass § 152 Abs. 2 GewO 1869 den Koalitionen – ab 1871 im gesamten Reichsgebiet – die Rechtsverbindlichkeit absprach. Nach dieser Vorschrift stand „jedem Theilnehmer […] der Rücktritt von solchen Vereinigungen und Verabredungen frei, und es findet aus letzteren weder Klage noch Einrede statt“. Damit war dem Rechtsverhältnis zwischen der Koalition und ihren Mitgliedern die rechtliche Durchsetzungskraft genommen.43 Ergänzt wurde die Regelung durch ein Nötigungsverbot in § 153 GewO 1869: „Wer andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrverletzung oder durch Verrufserklärung bestimmt oder zu bestimmen versucht, an solchen Verabredungen Theil zu nehmen, oder ihnen Folge zu leisten, oder Andere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, wird mit Gefängniß bis zu drei Monaten bestraft, sofern nach dem allgemeinen Strafgesetz nicht eine härtere Strafe eintritt.“ Bezweckt war mit dieser Regelung, der liberalen Tradition der Französischen Revolution folgend, ein Schutz der Selbstbestimmung des Einzelnen. Während § 152 GewO 1869 die Freiheit der Koalitionen sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer gewährleistete, sicherte § 153 GewO die Freiheit des Einzelnen gegenüber der Vereinigung ab.44 In der Rechtsprechungspraxis der Strafgerichte wurde das Nötigungsverbot exzessiv ausgelegt, um die Tätigkeit der Koalitionen weitgehend einzuschränken.45 So beschränkte der II. Strafsenat des Reichsgerichts das Nötigungsverbot nicht auf den im Wortlaut der Norm genannten Fall, dass andere Arbeiter durch Drohung oder Zwang zur Teilnahme an einem Arbeitskampf bestimmt wurden. Er erstreckte § 153 GewO im Wege einer historisch-systematischen Auslegung auch auf die Situation, dass Druck auf Arbeiter zum Eintritt in die Koalition ausgeübt wurde.46 Seinen Höhepunkt fand die Rechtsprechung darin, dass selbst die Ausübung von Druck 42  Vgl. zur Diskussion im Gesetzgebungsverfahren Koller, Die Gewerbe-Ordnung für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 191 ff.; Kollmann, Die Entstehungsgeschichte der deutschen Koalitionsgesetzgebung, 1916, S. 259 ff. 43  Vgl. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002, S. 8. 44  RG v. 30.4.1903 – 895/03, RGSt 36, 236 (237). 45  Vgl. dazu Schröder, Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts, 1988, S. 331 ff. 46  RG v. 25.4.1902 – 1004/02, RGSt 35, 205 (207 f.); RG v. 2.2.1911 – III 1156/10, JW 1911, 510.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie59

auf die Arbeitgeberseite zur Durchsetzung von Tarifforderungen durch Arbeitskampf unter § 153 GewO subsumiert wurde.47 Indem der Arbeitgeber entgegen dem Willen der Normsetzer als „Anderer“ im Sinne dieser Vorschrift qualifiziert wurde, wandelte sich der Charakter des Nötigungsverbots von einer freiheitlich-liberal konzipierten Vorschrift zum Schutz der negativen Koalitionsfreiheit und der Willensfreiheit der Außenseiter hin zu einem allgemeinen Verbot von Arbeitskampfmaßnahmen gegenüber dem Arbeitgeber.48 Der III. Strafsenat hielt an dieser Rechtsprechung bis 1912 fest.49 Zwischen 1903 und 1912 kam es zu über 6.300 Verurteilungen auf Grundlage von § 153 GewO 1869.50 Zugleich wurde die „Unterwerfung“ unter den von einer aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern gebildeten Kommission festgesetzten Tarifvertrag der Teilnahme an einer Verabredung im Sinne von § 152 GewO 1869 gleich­ gestellt.51 Mit der Übernahme eines Tarifvertrags unterfiel damit – neben der Teilnahme an einem Arbeitskampf und dem Koalitionsbeitritt – ein dritter Sachverhalt dem Anwendungsbereich des § 153 GewO 1869. Die Einordnung des Tarifvertrags als „Verabredung“ hatte notwendig auch dessen zivilrechtliche Unverbindlichkeit gem. § 152 Abs. 2 GewO 1869 zur Folge.52 Im Ergebnis führte die Gewerbeordnung von 1869 daher trotz der formellen Aufhebung der Koalitionsverbote für „gewerbliche Gehülfen, Gesellen und Fabrikarbeiter“ dazu, dass lediglich die negative Koalitionsfreiheit des Einzelnen gewährleistet war, während die Koalitionsbetätigungsfreiheit der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände durch den von den Strafgerichten in der Praxis regelmäßig angewandten „Nötigungsparaphen“ 153 GewO 186953 und die Unverbindlichkeit des Zusammenschlusses nach § 152 Abs. 2 GewO 1869 weitgehend entwertet war. 47  RG v. 30.4.1903 – 895/03, RGSt 36, 236 (238  ff.); zuvor bereits RG v. 23.11.1897 – 3426/97, RGSt. 30, 359 (362) zur Einbeziehung branchenfremder Arbeiter; a. A. später RG v. 12.7.1906 – VI 497/05, RGZ 64, 52 (60); RG v. 30.3.1912 – III 219/12, RGSt 46, 48 (49 f.); vgl. dazu ausführlich Schröder, Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts, 1988, S. 336 ff.; ferner Bender, in: Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten, 1991, S. 466 (477). 48  Vgl. Schröder, Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts, 1988, S. 337. 49  RG v. 30.3.1912 – III 219/12, RGSt 46, 48 (49 f.). 50  Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung im Kaiserreich, 1974, S. 263; Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 100. 51  RG v. 30.4.1903 – 895/03, RGSt 36, 236 (240). 52  Vgl. Köhne, Nationalliberale und Koalitionsrecht, 1977, S. 216 ff. 53  Vgl. etwa Preußisches Obertribunal v. 19.9.1873, in: Entscheidungen des Königlichen Ober-Tribunals, Band 71 (1874), S. 383; Preußisches Obertribunal v. 9.10.1873, a. a. O., S. 408 (411 ff.); Preußisches Obertribunal v. 3.6.1874, GA 22, 431 (432).

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

In den Jahren von 1878 bis 1890 kam das Tarifvertragswesen in besondere Bedrängnis. Das Bismarcksche Sozialistengesetz vom Oktober 187854 enthielt ein Verbot von Vereinen, „welche durch sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken“ (§ 1 Abs. 1 des Gesetzes). Versammlungen mit entsprechender Zielsetzung waren gem. § 9 aufzu­ lösen, Druckschriften mit entsprechendem Inhalt gem. § 11 zu verbieten. Das Gesetz war zunächst für zweieinhalb Jahre in Kraft, wurde aber insgesamt viermal, letztmals bis zum Oktober 1890 verlängert.55 Schließlich unterstellte der „Streikerlass“ des Preußischen Innenministers Robert von Puttkamer vom 11. April 1886 Streiks als „Umsturzbewegungen“ dem Sozialistengesetz und verlangte von den Behörden ein strenges Einschreiten gegen die Streikenden.56 Insgesamt wurden in den zwölf Jahren von 1878 bis 1890 nach und nach über 320 Arbeiterorganisationen und 1.300 Druckschriften verboten.57 Zusammengerechnet wurden Freiheitsstrafen von insgesamt ca. 1.500 Jahren verhängt, ebenso viele Personen wurden ausgewiesen.58 Gleichwohl konnte das Gesetz die Arbeiterbewegung nicht endgültig beenden, sondern nur vorübergehend hemmen. Viele der 1878/79 aufgelösten Gewerkschaften entstanden bereits Anfang der 1880er Jahre wieder aufs Neue.59 Da sich die wirtschaftliche Situation in Deutschland ab 1880 verbesserte, gründeten sich vor allem örtliche Arbeitervereine wieder, und es kam sogar vermehrt zu Streiks.60 Auch unter dem Sozialistengesetz wuchs die Gewerkschaftsbewegung weiter.61 Als im Mai 1889 schließlich fast 90 Prozent von 54  Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie v. 21.10.1878, RGBl. 1878, S. 351, in Kraft getreten am 22.10.1878. 55  Vgl. dazu Kuhn, Die deutsche Arbeiterbewegung, 2004, S. 92. 56  Vgl. dazu Erdmann, Die deutschen Arbeitgeberverbände, 1966, S. 33; Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 266; Ostendorf, Kriminalisierung des Streikrechts, 1987, S. 14. 57  Vgl. die Angaben des Historischen Forschungszentrums der Friedrich-EbertStiftung, Sozialistengesetz (1878–1890), http://www.fes.de/hfz/arbeiterbewegung/ epochen/sozialistengesetz-1878-1890 (16.7.2021). 58  Kuhn, Die deutsche Arbeiterbewegung, 2004, S. 92. 59  Vgl. Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 86; Wachenheim, Die deutsche Arbeiterbewegung, 1967, S. 221 ff.; Nestriepke, Die Gewerkschaftsbewegung, Band 1, 2. Auflage, 1922, S. 250 ff. 60  Vgl. Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 265 f.; Wachenheim, Die deutsche Arbeiterbewegung, 1967, S. 221 ff. 61  Vgl. Wachenheim, Die deutsche Arbeiterbewegung, 1967, S. 210; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1177 spricht gar von einer „milden Praxis“ der Behörden und einer „fast ungestörten Tätigkeit“ der Gewerkschaften ab 1879.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie61

über 100.000 Bergleuten im Ruhrgebiet die Arbeit niederlegten, um ihre Forderung nach einer Lohnerhöhung und einer Verkürzung der wochentäglichen Arbeitszeit auf acht Stunden durchzusetzen, und sich weitere 50.000 Bergarbeiter in anderen Steinkohlerevieren anschlossen,62 war das Ende des Sozialistengesetzes eingeläutet.63 Es dauerte noch bis zum 30. September 1890, als nach den Reichstagswahlen im Februar 1890 und der Entlassung Bismarcks durch Kaiser Wilhelm II. im März 1890 das Sozialistengesetz außer Kraft trat.64 Als das Sozialistengesetz außer Kraft trat, waren die freien Gewerkschaften mit fast 300.000 Mitgliedern, organisiert in 58 zentralen Fachverbänden, bereits weitaus stärker als vor 1878.65 Nach 1890 bildeten sich in rascher Folge weitere, von der politischen Arbeiterbewegung in stärkerem Maße als bisher unabhängige Gewerkschaften.66 Im Vordergrund standen Bestrebungen zur Herausbildung einer zentralistisch-hierarchischen Gewerkschafts­ organisation,67 die freilich durch das (noch immer geltende und in der Praxis auch angewandte) Verbindungsverbot gehemmt wurde. Gleichwohl konnten die Zentralverbände der freien Gewerkschaften ihre Mitgliederbestände in den Jahren von 1890 bis zur Aufhebung des Verbindungsverbots 1899 (nach anfänglichem Rückgang) verdoppeln und bis 1913 sogar annähernd verzehnfachen.68 Den Beginn dieser Entwicklung kann man daher auch als „das eigentliche Geburtsjahr der modernen deutschen Gewerk­ schaftsbewegung“69 bezeichnen, sofern damit der Durchbruch der Arbeiterbewegung zu einer Massenbewegung gekennzeichnet wird.70 62  Vgl. dazu Erdmann, Die deutschen Arbeitgeberverbände, 1966, S. 44; Saul, in: Tenfelde/Volkmann (Hrsg.), Streik, 1981, S. 209 (214 f.) mit weiteren Nachweisen. 63  Dazu ausführlich Saul, in: Tenfelde/Volkmann (Hrsg.), Streik, 1981, S. 209 (214 ff.); Wachenheim, Die deutsche Arbeiterbewegung, 1967, S. 258 ff. 64  Vgl. dazu Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1164 ff.; Wachen­heim, Die deutsche Arbeiterbewegung, 1967, S. 277 ff. 65  Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1226; Schönhoven, Expansion und Konzentration, 1980, S. 101. 66  Erdmann, Die deutschen Arbeitgeberverbände, 1966, S.  27  f.; Ramm, in: FS Mallmann, 1978, S. 191 (205); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 87; Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich, 1959, S. 107 ff.; Saul, in: Tenfelde/Volkmann (Hrsg.), Streik, 1981, S. 209 (225). 67  Bogs, Geschichtliche Entwicklung des deutschen Koalitionsrechts, 1925, S. 1 (18); Schüren, Die Legitimation der tariflichen Normsetzung, 1990, S. 109. 68  Vgl. Schönhoven, Expansion und Konzentration, 1980, S. 101, 125: 1890 betrug die Mitgliederzahl 294.551, 1899 580.473 und 1913 2.548.763; vgl. ferner Schröder, Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts, 1988, S. 311. 69  Cassau, Die Gewerkschaftsbewegung, 1925, S. 2. 70  Vgl. dazu Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 47; Ramm, in: FS Mallmann, 1978, S. 191 (204); Schönhoven, Expansion und Konzen­tration,

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Auch auf Arbeitgeberseite kam es in der Folge zu einem Zusammenschluss der örtlichen und fachlichen Arbeitgeberverbände in zentralen Arbeitgebervereinigungen. Seit 1869, im Anschluss an den Deutschen Buchdruckerverein, bildeten sich einerseits zur allgemeinen Interessenvertretung gegenüber Staat und Politik als Wirtschaftsverbände und andererseits als Kampf- und Verhandlungsgemeinschaft weitere einzelne Arbeitgebervereinigungen. Einige dieser schlossen sich 1876 im „Centralverband deutscher Industrieller“ (CdI) zusammen, der ebenso wie der 1874 gegründete Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrie (VdESI), maßgeblich von der Schwerindustrie getragen war. Unternehmen des Klein- und Mittelstandes gründeten hingegen 1890 den „Gesamtverband Deutscher Metallindustrieller“ (GDM).71 Durch die Fertigwarenindustrie wurde 1895 der Bund der Industriellen (BdI) gegründet.72 1904 richtete der CdI eine reichsweite Koordinierungsstelle verschiedener Arbeitgeberverbände ein, die „Hauptstelle deutscher Arbeitgeberverbände“. Im selben Jahr betrieb der GDM die Gründung des Vereins Deutscher Arbeitgeberverbände.73 Diesem schlossen sich weitere Verbände wie z. B. die Arbeitgeberverbände des Bau- und Holzgewerbes an. Da der Verein Deutscher Arbeitgeberverbände und die Hauptstelle grundsätzlich die gleichen Ziele verfolgten, beschlossen sie 1904 zusammenzuarbeiten (Kartellvertrag). Im Zuge der Zentralisierung und zunehmenden Stärke auf Gewerkschaftsseite schlossen sich beide Vereinigungen 1913 in einer einheitlichen Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (VDA) zusammen.74 Parallel dazu bildeten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sog. Tarifgemeinschaften zur Vereinbarung von Lohn- und Arbeitsbedingungen.75 Führend waren die bereits genannten Buchdrucker, deren 1891 (erneut) umfirmierter „Verband der Deutschen Buchdrucker“ 1896 mit dem „Deutschen Buchdruckerverein“ mithilfe einer Tarifgemeinschaft einen reichsweit geltenden Tarifvertrag mit einer Laufzeit von fünf Jahren ab-

1980, S. 107; ähnlich Saul, in: Tenfelde/Volkmann (Hrsg.), Streik, 1981, S. 209 (225): „eine Periode stürmischer Expansion“. 71  Vgl. dazu Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 17 ff.; Knips, Deutsche Arbeitgeberverbände in der Eisen- und Metallindustrie, 1996, S. 45 ff., 89 ff.; Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 37 ff. 72  Ullmann, Der Bund der Industriellen, 1976, S. 27 ff. 73  Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 46 f. 74  Vgl. dazu Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 46 ff.; ferner Erdmann, Die deutschen Arbeitgeberverbände, 1966, S. 67 ff. 75  Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 87; Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich, 1959, S. 162 ff.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie63

schloss, der im Gegensatz zu dem Tarifvertrag von 187376 in der Praxis ganz überwiegend beachtet wurde.77 Die Tarifwirkung in den erfassten Arbeitsverhältnissen versuchte man zunächst durch entsprechende Ausgestaltung der Vereinssatzung zu erreichen.78 Man gründete also mit der ­Tarifgemeinschaft79 eine Organisation, die Arbeitsnormen kraft Verbandsbeschluss festsetzen konnte, sodass nicht die vertragliche Vereinbarung, sondern die Verbandsautonomie die Geltungsgrundlage des Tarifvertrags war.80 Die Koalitionsverbote (bis 1869) und das Nötigungsverbot des § 153 GewO 1869 waren nicht die einzigen Gefahren für die Gewerkschaften im 19. Jahrhundert. Hinzu traten öffentliche-rechtliche Verbote in den Vereinsund Versammlungsgesetzen. Schon vor Gründung des Deutschen Reichs enthielten die Vereinsgesetze der deutschen Staaten eine Reihe hoheitlicher Eingriffsbefugnisse. So mussten etwa nach § 1 des Preußischen Vereinsgesetzes von 185081 alle Versammlungen bei der zuständigen Ortspolizeibehörde angezeigt werden, in denen „öffentliche Angelegenheiten“ erörtert oder beraten werden. Die Polizei durfte an den Versammlungen teilnehmen und war befugt, sofort jede Versammlung aufzulösen, die nicht ordnungsgemäß angezeigt wurde oder in der Anträge oder Vorschläge erörtert wurden, die eine Aufforderung oder Anreizung zu strafbaren Handlungen enthielten (§ 5 des Preußischen Vereinsgesetzes).82 Besonders einschneidend waren die sog. Verbindungsverbote, die es in mehreren deutschen Staaten gab: So durften etwa in Preußen politische Vereine nach § 8 des Preußischen Vereinsgesetzes „nicht mit anderen Vereinen gleicher Art zu gemeinsamen Zwecken in Verbindung treten“, und zwar weder „durch Komitees, Ausschüsse, Zentralorgane oder ähnliche Einrichtungen“ noch „durch gegenseitigen Schriftwechsel“. Verstöße ge76  Vgl.

zu diesem Tarifvertrag 3.1.1. Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 87. 78  Vgl. dazu unten 3.1.2.1. 79  Zu ihrem Status als nicht rechtsfähiger Verein vgl. RG v. 22.3.1911 – I 64/10, RGZ 76, 25 (27 f.). 80  Vgl. Hueck, Das Tarifrecht, 1922, S. 101; Rieble, ZFA 2000, 5 (10); ders., Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, Rn. 799 ff. 81  Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs- und Vereinsrechts v. 11.3.1850, GS 1850, S. 277; zuvor bereits die Verordnung über das Versammlungs- und Vereinsrecht v. 29.6.1849, GS 1849, S. 221. 82  Vgl. näher zum Preußischen Vereinsgesetz Lademacher, in: ders./Loos/Groenveld (Hrsg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung, 2004, S. 561 (569 f.); Schmidt, Die Freiheit verfassungswidriger Parteien und Vereinigungen, 1983, S. 28. 77  Vgl.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

gen das Verbindungsverbot hatten nicht nur eine Geldbuße oder Gefängnisstrafe für die handelnde Person zur Folge, sondern erlaubten auch die „Schließung des Vereins“ (§ 16 des Preußischen Vereinsgesetzes). Während die spezifischen Koalitionsverbote eher selten zur Anwendung kamen, waren die vereinsrechtlichen Restriktionen von erheblicher praktischer Bedeutung. So wurden bereits 1850 alle politischen Vereine und damit auch sämtliche Arbeitervereine in Preußen verboten.83 Vor allem aber die Verbindungsverbote84 bedeuteten für die Gewerkschaften ganz erhebliche Einschnitte, insbesondere weil hierdurch eine einheitliche Streikleitung ausgeschlossen war.85 Die Verbote ermöglichten es der Polizei und der Justiz, gegen Zusammenschlüsse örtlicher Arbeitervereine umgehend einzuschreiten.86 Dies hatte zur Folge, dass eine einheitliche gewerkschaftliche Organisation nicht geschaffen werden konnte87 und die Bildung sowohl von Arbeiterorganisationen als auch von sozialdemokratischen Vereinen erheblich behindert wurde.88 Der Staat ließ das Recht zur Vereinsgründung und zur Versammlung zu, sorgte aber zugleich dafür, dass eine zen­trale Organisierung nicht stattfand. 1854 übernahm der Deutsche Bund die Regelungen des Preußischen Vereinsgesetzes inhaltlich weitgehend in das sog. Bundesvereinsgesetz.89 Nach § 1 wurden nur solche Vereine geduldet, „die sich darüber genügend auszuweisen vermögen, daß ihre Zwecke mit der Bundes- und Landesge83  Vgl. Lademacher, in: ders./Loos/Groenveld (Hrsg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung, 2004, S. 561 (570); Kuhn, Die deutsche Arbeiterbewegung, 1967, S. 48. 84  Neben den genannten Verboten etwa auch § 24 des Sächsischen Versammlungs- und Vereinsgesetzes von 1850: „Vereine, deren Zweck sich auf öffentliche Angelegenheiten bezieht, dürfen nur dann Zweigvereine bilden und sich mit ihnen in Verbindung setzen, wenn sie das Recht der Körperschaft erlangt haben und ihnen jene Rechte ausdrücklich mit erteilt worden sind.“; vgl. auch die Konkretisierung der Vorschrift durch die §§ 1, 6 der Ausführungsverordnung vom 23.11.1850. 85  Wachenheim, Die deutsche Arbeiterbewegung, 1967, S. 163; vgl. auch Bender, in: Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten, 1991, S. 466 (478); Loewenfeld, ArchSozG XIV (1899), 471 (483). 86  Vgl. Cassau, Die Gewerkschaftsbewegung, 1925, S.  18; Wachenheim, Die deutsche Arbeiterbewegung, 1967, S. 53 ff., 162 ff. 87  Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 86. 88  Vgl. Lademacher, in: ders./Loos/Groenveld (Hrsg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung, 2004, S. 561 (570). 89  Bundesbeschluß über Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe im Deutschen Bunde, insbesondere das Vereinswesen betreffend v. 13.7.1854, abgedruckt bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band 2, 3. Auflage, 1986, Nr. 4; vgl. dazu Wachenheim, Die deutsche Arbeiterbewegung, 1967, S. 55 f.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie65

setzgebung im Einklange stehen und die öffentliche Ordnung und Sicherheit nicht gefährden“. Nach § 3 musste sich die betreffende Staatsregierung in der Lage befinden, für politische Vereine „besondere vorübergehende Beschränkungen und Verbote erlassen zu können“, sofern derartige Vereine „nicht nach Maßgabe der Landesgesetzgebung überhaupt untersagt sind“. Neben staatlichen Aufsichtsbefugnissen und Anzeigepflichten enthielt das Bundesvereinsgesetz auch Beteiligungsverbote für „Minderjährige, Lehrlinge und Schüler“ (§ 4 Ziff. 1) und vor allem ein Verbindungsverbot (§ 4 Ziff. 2). Nach § 8 des Bundesvereinsgesetzes verpflichteten sich die Bundesstaaten dazu, „im Interesse der gemeinsamen Sicherheit […] die in ihren Gebieten etwa noch bestehenden Arbeitervereine und Verbrüderungen, welche politische, socialistische oder communistische Zwecke verfolgen, binnen zwei Monaten aufzuheben, und die Neubildung solcher Verbindungen bei Strafe zu verbieten“. Dieses allgemeine Verbot von Arbeitervereinen führte 1854 etwa zur Auflösung der 1848 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung. 1868 wurde der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein durch die Leipziger Polizei wegen Verstoßes gegen das Verbindungsverbot aufgelöst.90 Im Gegensatz zu den 1869 aufgehobenen Koalitionsverboten blieben die vereinsrechtlichen Repressalien noch drei Jahrzehnte länger in Kraft. Nach Aufhebung der Koalitionsverbote wurden insbesondere die Verbindungsverbote mit aller Macht durchgesetzt, allen voran durch den Berliner Staatsanwalt und späteren Oberreichsanwalt Hermann Tessendorf.91 Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang die vom III. Strafsenat des Reichsgerichts entwickelte „Metamorphosetheorie“.92 Nach dieser Theorie verlor eine Koalition, sobald sie „das Gebiet des gewerblichen Lebens mit seinen konkreten Interessen“ verlässt und „in das staatliche Gebiet“ hinübergreift, ihren Charakter als „gewerbliche Koalition“ und wandelte sich in einen „politischen Verein“ um, der den Beschränkungen des Vereins- und Versammlungsrechts unterlag.93 Die Folge dieser Rechtsprechung war, dass den Koalitionen jede Wahrnehmung öffentlicher und insbesondere arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Aufgaben verboten war. dazu Wachenheim, Die deutsche Arbeiterbewegung, 1967, S. 113. diesem vgl. nur Bender, in: Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten, 1991, S. 466 (478); Kampffmeyer/Altmann, Vor dem Sozialistengesetz, 1928, S. 130 ff.; Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 261 ff. 92  Bender, in: Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten, 1991, S. 466 (482). 93  RG v. 10.11.1887 – 2105/87, RGSt 16, 383 (385); bestätigt durch RG v. 25.1.1892 – III 4070/91, RGSt 22, 337 (340); dazu Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1232 f. 90  Vgl. 91  Zu

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Die Gewerkschaften konnten sich mit ihrer Auffassung, dass die reichsgesetzliche Legalisierung der Koalitionen Vorrang vor den landesrechtlichen Verbindungsverboten habe, nicht durchsetzen.94 Damit konnte die Justiz zweispurig gegen Koalitionen vorgehen: Auf der einen Seite wurden konkrete Arbeitskampfmaßnahmen und ihre Androhung von den Strafgerichten mithilfe des exzessiv angewandten Nötigungsverbots gem. § 153 GewO 1869 sowie des § 253 StGB verfolgt.95 Auf der anderen Seite konnten die Polizeibehörden auf Grundlage des Vereinsrechts ganz unabhängig von konkreten Arbeitskampfmaßnahmen gegen den Bestand des Vereins als solchen vorgehen.96 Das Verbindungsverbot blieb auch nach dem Fall des Sozialistengesetzes im Jahr 1890 weiter in Kraft. Es verhinderte, dass sich die nun aufstrebende Arbeiterbewegung zu zentralen Dachverbänden der freien Gewerkschaften zusammenschließen konnte.97 Toleriert wurden lediglich gewerkschaftliche Kongresse und Konferenzen98 sowie immerhin die Bildung der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands als zentrale Leitungs- und Koordinationsinstanz der freigewerkschaftlichen Einzelverbände unter Vorsitz von Carl Legien.99 Erst im Dezember 1899 wurden die landesrechtlichen Verbindungsverbote für politische Vereine reichseinheitlich durch die „Lex Hohenlohe“100 aufgehoben.101 Allerdings enthielt das privatrechtliche Vereinsrecht des am 1. Januar 1900 in Kraft getretenen Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB 1900) neue ­Repressalien. Gem. § 61 Abs. 2 BGB 1900 konnte die zuständige Verwaltungsbehörde Einspruch gegen die Eintragung einlegen, falls der Verein

Wachenheim, Die deutsche Arbeiterbewegung, 1967, S. 162 f. dazu ausführlich Schröder, Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts, 1988, S. 293 ff., 350 ff.; ferner Bender, in: Steindl (Hrsg.), Wege zur Arbeitsrechtsgeschichte, 1984, S. 251 (262 ff.); Köhne, Nationalliberale und Koali­ tionsrecht, 1977, S. 271 ff.; Ostendorf, Kriminalisierung des Streikrechts, 1987, S. 14 ff. 96  Vgl. auch Bender, in: Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten, 1991, S. 466 (477). 97  Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1226. 98  Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1226. 99  Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1226; Schönhoven, Expansion und Konzentration, 1980, S. 107. 100  Gesetz, betreffend das Vereinswesen v. 11.12.1899, RGBl. 1899, S. 699; zur Entstehungsgeschichte des Gesetzes Köhne, Nationalliberale und Koalitionsrecht, 1977, S.  103 ff. 101  Vgl. dazu Bogs, Geschichtliche Entwicklung des deutschen Koalitionsrechts, 1925, S. 1 (17); Stier-Somlo, Reichsvereinsgesetz, 1909, S. 8; Schultze, Öffentliches Vereinigungsrecht im Kaiserreich, 1974, S. 235, 520 ff. 94  Vgl.

95  Vgl.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie67

Quelle: Wikimedia Commons.

Abbildung 5: Reichsgesetzblatt von 1896

einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck verfolgte.102 Als „sozialpolitische Vereine“ galten auch die Gewerkschaften, sofern sie auf 102  Vgl. dazu Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (65); zur Entstehung Dersch, NZfA 1921, 245 (256); Köhne, Nationalliberale und Koalitionsrecht, 1977, S. 183 ff.; Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001, S. 144 ff.

68

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

die soziale Gesetzgebung oder die Handhabung der sozialen Gesetze durch die Behörden einzuwirken suchten.103 Zudem musste der Vorstand gem. § 72 BGB 1900 dem Amtsgericht auf Verlangen jederzeit ein Verzeichnis der Vereinsmitglieder einreichen, das gem. § 79 Abs. 1 BGB 1900 öffentlich für jedermann einsehbar war. Auf diese Weise wurden „schwarze Listen“ von Gewerkschaftsangehörigen geführt und den Arbeitgebern zur Einsicht vorgelegt.104 Wollte der Verein sich diesen – bis zum Inkrafttreten von § 22 des Reichsvereinsgesetzes (RVG)105 im Jahr 1908 geltenden – Offenlegungspflichten nicht aussetzen, war ihm die Eintragung und damit auch die Anerkennung als rechtsfähiger Verband verschlossen. In diesem Fall galt für ihn gem. § 54 Satz 1 BGB das völlig ungeeignete Recht der nach damaligem Recht106 nicht rechtsfähigen Gesellschaft bürgerlichen Rechts, das für den Verein als ein auf Dauer angelegter, körperschaftlich organisierter Zusammenschluss einer größeren Anzahl von Personen von vornherein nicht passte.107 Mit der Rechtsfähigkeit blieb dem Verband dann zugleich der Abschluss von Tarifverträgen verwehrt.108 Hinzu kam gem. § 54 Satz 2 BGB eine persönliche Haftung des im Namen des Vereins Handelnden mit seinem gesamten Privatvermögen.109 Insgesamt kamen diese Bestimmungen einer verkappten Konzessionspflicht gleich, die eine freie Bildung von politischen Vereinen verhindern 103  Oertmann, BGB AT, 2. Auflage, 1908, § 61 Ziff. 5 c), S. 188 f.; Planck/Knoke, BGB, § 61 Ziff. 3 b) ß), 4. Auflage, 1913, S. 136; Schüren, Die Legitimation der tariflichen Normsetzung, 1990, S. 107; Vormbaum, Die Rechtsfähigkeit der Vereine im 19. Jahrhundert, 1976, S. 176 f. 104  Vgl. RG v. 29.5.1902 – VI 50/02, RGZ 30, 369 (370); Loewenfeld, Arch­ SozG XIV (1899), 471 (484); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, 1997, S. 203; Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 276, 325 f.; Krüger, Das Stinnes-Legien-­ Abkommen 1918–1924, 2018, S. 45; Rudischhauser, Geregelte Verhältnisse, 2017, S. 575, 603; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975, S. 444. 105  Vereinsgesetz v. 19.4.1908, RGBl. 1908, S. 151, in Kraft getreten am 15.5.1908. Nach § 22 RVG musste kein vollständiges Mitgliederverzeichnis mehr eingereicht werden. Es genügte nun eine Bescheinigung über die Zahl der Vereinsmitglieder, womit die Anonymität der Vereinsmitglieder – nicht aber der Vorstandsmitglieder (vgl. § 3 Abs. 2 RVG) – gewahrt war. 106  Vgl. die Nachweise bei Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, 2003, S. 39 ff.; ferner Vormbaum, Die Rechtsfähigkeit der Vereine im 19. Jahrhundert, 1976, S. 198. 107  Vgl. Gierke, in: FS Dernburg, 1900, S. 1 (9); vgl. auch Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, 2003, S. 4; Wächter, Die Aufnahme der Gesamthandsgemeinschaften in das Bürgerliche Gesetzbuch, 2002, S. 252 f. 108  Vgl. Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (65). 109  Vgl. dazu aus der zeitgenössischen Literatur Gierke, in: FS Dernburg, 1900, S. 1 (11, 28); Schall, JherJb 52 (1907), 1 (58 f.); rückblickend Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, 2003, S. 468 ff.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie69

sollte110 und in der Praxis auch verhindert hat.111 Das galt auch für Koalitionen, die von Behörden als „politische Vereine“ im Sinne von § 3 Abs. 1 RVG qualifiziert wurden, da sie die Interessen ihrer Mitglieder nicht nur gegenüber dem sozialen Gegenspieler, sondern auch gegenüber dem Staat vertraten.112 Diese sog. „Politischerklärung“ der Koalitionen113 wurde erst durch den am 26. Juni 1916 eingefügten § 17a RVG114 beendet. Nach dieser Vorschrift waren Koalitionen im Sinne des § 152 Abs. 1 GewO 1869 von einer Anwendung der §§ 3 und 17 RVG ausgenommen. Das war für die Gewerkschaften von „fundamentaler Bedeutung“,115 weil das bis dahin geltende Vereinsrecht ihnen durch das Verbot der Mitgliedschaft Minderjähriger116 den jugendlichen Nachwuchs entzogen hatte.117 Vom RVG unberührt blieb allerdings das privatrechtliche Vereinsrecht des BGB. Insbesondere das Einspruchsrecht der Behörde gegen die Eintragung eines politische, sozialpolitische oder religiöse Zwecke verfolgenden Vereins in das Vereinsregister gem. § 61 Abs. 2 BGB blieb noch bis zum 1. April 1953 unverändert in Geltung.118 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass durch die Gewerbeordnung von 1869 zwar die bestehenden Koalitionsverbote für Gehilfen, Gesellen und Fabrikarbeiter aufgehoben wurden. Eine echte Koalitionsbetätigungsfreiheit war damit jedoch noch nicht geschaffen. Die Koalitionsbetätigung wurde im Gegenteil durch die Unverbindlichkeit der Koalitionsabrede nach § 152 Abs. 2 GewO 1869 und das Nötigungsverbot des § 153 GewO 1869 sowie die in der Praxis außerordentlich bedeutsamen öffentlichrechtlichen Verbote aus dem Vereins- und Versammlungsrecht insgesamt massiv erschwert. 110  Vgl. Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, 2003, S. 42; Stoll, in: Festgabe 50 Jahre Reichsgericht, Band II, 1919, S. 49 (53 ff.). 111  Vgl. Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 73: „Bekanntlich hat auf Arbeiterseite keiner der bestehenden, hier in Betracht kommenden Berufsvereine von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.“ 112  Vgl. dazu Stier-Somlo, Reichsvereinsgesetz, 1909, § 6 2. C. b), S. 127; Heinemann, Sozialistische Monatshefte 1916, 473; Sinzheimer, Die Arbeit 1926, 669 (673). 113  Vgl. dazu Heinemann, Sozialistische Monatshefte 1916, 473. 114  Durch das Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes vom 19. April 1908 v. 26.6.1916, RGBl. 1916, S. 635; dazu vom Bruch, Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich, 2005, S. 266; Gusy, JZ 1994, 753 (754). 115  Heinemann, Sozialistische Monatshefte 1916, 473. 116  Genauer: von Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben; damals trat die Volljährigkeit gem. § 2 BGB a. F. erst mit Vollendung des 21. Lebensjahres ein. 117  Heinemann, Sozialistische Monatshefte 1916, 473. 118  Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 94.

70

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

3.1.1.3  1914 ff.: Entwicklung einer echten Koalitionsfreiheit Die Situation änderte sich mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das Militär war nunmehr auf die männlichen Arbeiter angewiesen. Den Lohnforderungen der Gewerkschaften kam man zur Erhaltung eines Arbeitsfriedens und zur Vermeidung von kriegsschädlichen Arbeitskämpfen regelmäßig umgehend nach.119 Der „Nötigungsparagraph“ 153 GewO 1869 war zwar weiterhin in Kraft, Verstöße wurden jedoch in der Praxis nicht mehr verfolgt.120 Mit dem Hilfsdienstgesetz vom 5. Dezember 1916121 erkannte der Staat die Koalitionen erstmals inzident als Vertreter ihrer Mitglieder an. Im Ausgangspunkt ähnlich wie bereits nach den §§ 61 f. des Gewerbegerichts­ gesetzes (GewGG) von 1890122 wurden Vertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zur Mitwirkung in einer Schlichtungsstelle bestellt. Die Schlichtungsstelle konnte alternativ zum Einigungsamt nach den §§ 61 f. GewGG angerufen werden, wenn bei Streitigkeiten über die Lohn- oder sonstigen Arbeitsbedingungen eine Einigung zwischen dem Arbeitgeber und dem von der Arbeiterschaft gewählten Arbeiterausschuss, der in allen „für den vaterländischen Hilfsdienst tätigen Betrieben“ mit in der Regel mindestens 50 Arbeitern zu errichten war,123 nicht zustande kam. Im Vergleich zum Einigungsamt war die Interessenvertretung nach dem Hilfsdienstgesetz organisatorisch deutlich stärker ausgeprägt. Gem. § 9 Abs. 2 Satz 2 des Hilfsdienstgesetzes waren je zwei der drei Vertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ständige Mitglieder der paritätisch besetzten Schlichtungsstelle, sodass nunmehr eine Kontinuität der Interessenvertretung gewahrt war und eine organisatorische Selbständigkeit des Ausschusses ermöglicht wurde. Im Gegensatz zu den Mitgliedern des Einigungsamts hatte zudem keine hoheitliche Stelle nach freiem Ermessen darüber zu entscheiden, ob die Vertreter ausreichend legitimiert sind.

119  Vgl. Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 70; Feldman, in: Tenfelde/Volkmann (Hrsg.), Streik, 1981, S. 271 (272). 120  Vgl. vom Bruch, Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich, 2005, S. 266; Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, 1949, S. 79. 121  Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst v. 5.12.1916, RGBl. 1916, S. 1333. 122  Gesetz, betreffend die Gewerbegerichte v. 29.7.1890, RGBl. 1890, S. 141. 123  Vgl. daneben die durch das Arbeiterschutzgesetz v. 1.6.1891 (Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung v. 1.6.1891, RGBl. 1891, S. 261) eingeführten §§ 134b, 134d und 134h GewO.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie71

Quelle: Bundesarchiv, BildY 1-289-26534.

Abbildung 6: Matrosenaufstand 1918

Entscheidend für die Entwicklung der Koalitionsfreiheit und der Tarif­ autonomie waren dann die Jahre 1918 und 1919. Zunächst wurde am 22. Mai 1918 das Nötigungsverbot des § 153 GewO 1869 formell aufgehoben.124 Nachdem am 3. November 1918 die Kieler Matrosen die Novemberrevolution ausgelöst hatten, die am 9. November 1918 zur Abdankung Wilhelms II. sowie zur (zweifachen) Ausrufung der Republik in Berlin führte, und nachdem die deutsche Delegation am 11. November 1918 in Com­ piègne einen Waffenstillstand unterzeichnet hatte, vereinbarten die VDA und ihre Mitgliedsverbände mit der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, dem Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands, dem Verband der deutschen Gewerkvereine und anderen Vereinigungen, allen voran dem Gesamtverband Deutscher Metallindus­ trieller, am 15. November 1918 das nach den Verhandlungsführern Hugo

124  Durch das Gesetz, betreffend die Aufhebung des § 153 der Gewerbeordnung v. 22.5.1918, RGBl. 1918, S. 423; dazu Erdmann, Die deutschen Arbeitgeberverbände, 1966, S. 32, 36; Rückert, ZFA 2019, 515 (541).

72

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Stinnes und Carl Legien benannte „Stinnes-Legien-Abkommen“.125 Das Abkommen brachte den Gewerkschaften weitreichende Zugeständnisse: In Ziff. 1 des Abkommens wurden die Gewerkschaften als „berufene Vertreter der Arbeiterschaft“ anerkannt, während die „wirtschaftsfriedlichen“ Werkvereine „fortan vollkommen sich selbst überlassen“ und weder mittelbar noch unmittelbar von den Arbeitgebern unterstützt werden durften. Nach Ziff. 2 war eine „Beschränkung der Koalitionsfreiheit der Arbeiter und Arbeiterinnen […] unzulässig“. Gem. Ziff. 6 waren die „Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter und Arbeiterinnen […] entsprechend den Verhältnissen des betreffenden Gewerbes durch Kollektivvereinbarungen mit den Berufsvereinigungen der Arbeitnehmer festzusetzen.“ Aus Sicht der Arbeitgeber war die Sozialpartnerschaft gegenüber dem „sozialistischen Programm“, das der Rat der Volksbeauftragten zu verwirklichen suchte,126 klar vorzugswürdig.127 Mit dem Zugeständnis, die Gewerkschaften als gleichberechtigte Verhandlungs- und Vertragspartner anzuerkennen, blieb man auf dem Boden der formal in Preußen seit 1810/11 geltenden marktwirtschaftlich-liberalen Arbeitsverfassung, die die „Arbeiterfrage“ systemkonform innerhalb des Modells des Güteraustauschs durch die Bildung kampfkräftiger und durchsetzungsstarker Koalitionen lösen wollte.128 Für die Gewerkschaften wiederum bedeutete die gegenseitige Bestätigung der Kollektivautonomie129 ein Festhalten an dem tarifvertragsfreund­ lichen Kurs, den sie schon in den Jahren zuvor eingeschlagen hatten.130 Das 125  Vgl. dazu Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, passim; ferner Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis während der Weimarer Republik, 2005, S.  46 ff.; Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 72; Feldman, in: FS Rosenberg, 1970, S. 312; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 34 ff.; Hainke, Vorgeschichte und Entstehung der Tarifvertragsverordnung, 1987, S. 93 ff.; Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 399 ff.; Picker, ZFA 1998, 573 (601 f.); Ramm, ZFA 2004, 183 (217). 126  Vgl. den Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk v. 12.11.1918, verkündet am 14.11.1918, beginnend mit dem Satz: „Die aus der Revolution hervorgegangene Regierung, deren politische Leitung rein sozialistisch ist, setzt sich die Aufgabe, das sozialistische Programm zu verwirklichen.“ 127  Vgl. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 35; zur Haltung der Unternehmerverbände zum Tarifvertrag vor dem Ersten Weltkrieg Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 68 ff. 128  Dazu ausführlich Picker, ZFA 1986, 199 (246 ff.); ders., Die Tarifautonomie in der deutschen Arbeitsverfassung, 1997, S. 24 ff. 129  Vgl. Nörr, Die Republik der Wirtschaft, Teil I, 1999, S. 8; ders., ZFA 1986, 403 (411 f.). 130  Vgl. Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 64; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1253 f.; Ramm, in: FS Mallmann, 1978, S. 191 (205).



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie73

Abkommen vom 15. November 1918 war eine Absage an die revolutionäre Bewegung und zugleich eine Bekräftigung des politischen Programms der gemäßigten Kräfte – vor allem innerhalb der MSPD – durch die Gewerkschaften, die einen wichtigen Kontrapunkt zum revolu­tionär-sozialistischen Klassenkampf von USPD und Spartakusbund/KPD darboten.131 Neben verpflichtenden Arbeiterausschüssen in Betrieben mit mindestens 50 Beschäftigten sah das Stinnes-Legien-Abkommen eine regelmäßige tägliche Höchstarbeitszeit von acht Stunden ohne Lohnausgleich vor.132 Durch Kollektivvereinbarung waren paritätisch besetzte Schlichtungsausschüsse bzw. Einigungsämter einzurichten. Über die Durchführung des Abkommens sollte schließlich gem. Ziff. 10 des Abkommens ein ebenfalls paritätisch besetzter Zentralausschuss mit beruflich gegliedertem Unterbau wachen. Dem Zentralausschuss oblag nach Ziff. 11 „die Entscheidung grundsätzlicher Fragen, soweit sich solche namentlich bei der kollektiven Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse ergeben, sowie die Schlichtung von Streitigkeiten, die mehrere Berufsgruppen zugleich betreffen.“ Seine Entscheidungen hatten grundsätzlich „für Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindliche Geltung“. Auf dieser Grundlage wurde am 4. Dezember 1918 die „Arbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerkschaftlichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands“ (Zentralarbeitsgemeinschaft) gegründet.133 Deren Aufgabe bestand nach § 1 der Satzung134 in der „gemeinsame[n] Lösung aller die Industrie und das Gewerbe Deutschlands berührenden wirtschaftlichen und sozialen Fragen“. Ihre Organe waren ein paritätisch besetzter Zentralausschuss und Zentralvorstand, Fachgruppen für jeden selbständigen Industrie- und Gewerbezweig sowie Untergruppen auf sonderfach­ licher, bezirklicher oder örtlicher Grundlage. Das Stinnes-Legien-Abkommen war zwar formal lediglich eine Vereinbarung zwischen privatrechtlichen Vereinigungen. Faktisch hatte es jedoch 131  Vgl. Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis während der Weimarer Republik, 2005, S. 48, 57; Feldman, Industrie und Gewerkschaften 1918–1924, 1985, S. 7; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 35. 132  Ein geheimes Zusatzabkommen sah allerdings einen Revisionsvorbehalt für den Fall vor, dass die Konkurrenzlage der Wirtschaft dies erforderte, vgl. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 356. 133  Vgl. Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S.  72 f.; Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 135 ff.; Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 411 ff.; Picker, ZFA 1998, 573 (602); Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 109 ff. 134  Abgedruckt bei Feldman, Industrie und Gewerkschaften 1918–1924, 1985, S.  137 ff.

74

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

eine verordnungsgleiche Wirkung.135 Ihre Bedeutung zeigte sich schon daran, dass die Reichsregierung das Abkommen im Reichsarbeitsblatt veröffentlichte, verbunden mit dem Ersuchen an die Leiter der Reichsbetriebe, seine Bestimmungen in den von ihnen geleiteten Betrieben zu beachten.136 Nach der förmlichen Anerkennung der Gewerkschaften als die berufenen Vertreter der Arbeiterschaft durch die Arbeitgeber dauerte es dann nur noch wenige Wochen, bis am 23. Dezember 1918 die TVVO verkündet wurde.137 Damit trat erstmals in Deutschland ein Gesetz zur Regelung des Tarifvertragsrechts in Kraft. Auch wenn damit die Betätigung der Tarif­ autonomie als zentraler Gegenstand der Koalitionsbetätigungsfreiheit einfachgesetzlich kodifiziert war,138 enthielt die TVVO selbst noch keine Koalitionsfreiheit. Das war der Weimarer Reichsverfassung (WRV) vom 11. August 1919139 vorbehalten. Die beiden arbeitsrechtlichen Kernvorschriften waren Art. 159 und Art. 165 WRV:140 Art. 159 S. 1 WRV gewährleistete die „Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen […] für jedermann und für alle Berufe“. Diese Vorschrift, der Vorläufer des heutigen Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG, enthielt also nun erstmals eine echte, positive Koalitions­ freiheit. Nach Art. 159 Satz 2 WRV entfaltete die Koalitionsfreiheit,141 der Konzeption Hugo Sinzheimers folgend,142 unmittelbare Drittwirkung:143„Alle auch Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Auflage, 1932, S. 280. 1918, S. 874; vgl. dazu Hainke, Vorgeschichte und Entstehung der Tarifvertragsverordnung, 1987, S. 95; Sinzheimer, JW 1927, 256 (257). 137  Zum Zusammenhang von Stinnes-Legien-Abkommen und TVVO Rückert, ZFA 2019, 515 (537). 138  Gem. § 32 TVVO 1918 bzw. § 10 TVVO 1928 hatte die Verordnung Gesetzeskraft; vgl. dazu Junck, JW 1919, 75 (76). 139  Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.8.1919, RGBl. 1919, S. 1383. 140  Zur Genese ausführlich Höpfner, RdA 2020, 129 (133 ff.). 141  Der Verfassungsausschuss entschied sich gegen den Begriff Koalitionsfreiheit und für die Vereinigungsfreiheit, weil man befürchtete, mit der Koalitionsfreiheit zugleich inzident ein Streikrecht anzuerkennen. Es bestand jedoch Einigkeit darüber, dass die Frage des Streikrechts in der Verfassung nicht entschieden werden sollte; vgl. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 336: Anlagen zu den Stenographischen Berichten, 1920, S. 189 f. 142  Vgl. zum Einfluss Sinzheimers auf die inhaltliche Ausgestaltung der Wirtschaftsverfassung der WRV Albrecht, Hugo Sinzheimer in der Weimarer Nationalversammlung, 1970, S. 84; Düwell, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Die Weimarer Verfassung, 2009, S. 209 (218); Lobinger, in: Baldus/Kronke/Mager (Hrsg.), Heidelberger Thesen zu Recht und Gerechtigkeit, 2013, S. 179 (187 f.). 143  Vgl. Nipperdey, in: ders. (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 3. Band, 1930, Art. 159 § 3 II. (S. 403), § 6 A. II. 2. (S. 410); dazu Höfling/Burkiczak, RdA 2004, 263 (270); Nörr, ZFA 1986, 403 (412). 135  Vgl.

136  RABl.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie75

Quelle: Wikimedia Commons.

Abbildung 7: TVVO von 1918

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Abreden und Maßnahmen, welche diese Freiheit einzuschränken oder zu behindern suchen, sind rechtswidrig.“ Mit Art. 159 WRV wurde zugleich § 152 Abs. 2 GewO 1869 inzident aufgehoben.144 Zur Koalitionsfreiheit in Art. 159 WRV trat Art. 165 WRV hinzu, der in den Absätzen 2 bis 6 Regelungen zu Betriebs- und Bezirksarbeiterräten und zum Reichsarbeiterrat sowie zu den Bezirkswirtschaftsräten und zum Reichswirtschaftsrat enthielt, weshalb diese Vorschrift auch als „Räteartikel“ bezeichnet wird. Art. 165 Abs. 1 WRV hatte allerdings einen Teilbereich der Koalitionsbetätigungsfreiheit, der inhaltlich an sich zu Art. 159 Satz 1 WRV gehörte, ausdrücklich herausgegriffen: Danach waren die „Arbeiter und Angestellten […] dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre tariflichen Vereinbarungen werden anerkannt.“ Mit der Hervorhebung der Mitwirkung an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, gemeint ist damit nichts anderes als die Tarifautonomie, verfolgte der Verfassungsgeber das Ziel, die Aufgaben der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände einerseits und diejenigen der Arbeiter- und Wirtschaftsräte andererseits klar voneinander zu unterscheiden: Während die Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse ausschließlich den Koalitionen oblag und damit auch weiterhin „vollkommen in der Hand der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände“ verblieb,145 fiel der gesamte darüber hinausgehende Bereich, der nicht unmittelbar mit der Regelung des Lohn- und Arbeitsverhältnisses verbunden war, ausschließlich in den Kompetenzbereich der Betriebsräte und des Reichsarbeiterrats.146 Der Parlamentarische Rat konnte sich demgegenüber 1948/49 auf die Übernahme von Art. 159 WRV in Art. 9 Abs. 3 GG beschränken und auf eine dem Art. 165 Abs. 1 WRV entsprechende Regelung verzichten, da durch den Wegfall von Arbeiter- und Wirtschafts-

144  RG v. 2.7.1925 – IV 154/25, RGZ 111, 199 (200 ff.); ebenso Nipperdey, in: ders. (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 3. Band, 1930, Art. 159 § 5 II. (S. 406 f.); Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, 2. Auflage, 1927, S. 84; a. A. noch RG v. 8.2.1923 – IV 161/22, SeuffArch 78 (1924), 78 (79); RG v. 6.4.1922 – VI 456/21, RGZ 104, 327; dazu Neumann, RdA 1990, 257 (258). 145  So ausdrücklich Sinzheimer, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 336: Anlagen zu den Stenographischen Berichten, 1920, S. 394. 146  Sinzheimer, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 336: Anlagen zu den Stenographischen Berichten, 1920, S. 394; näher dazu Höpfner, RdA 2020, 129 (134 ff.).



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie77

Quelle: Bundesarchiv, BildY 1-542-23331.

Abbildung 8: Sitzung der Nationalversammlung, 1919

räten die Koalitionen auch deren wirtschaftspolitische Aufgaben übernahmen und die Abgrenzungsfrage daher obsolet war.147

3.1.2  Tarifvertragsgeltung vor Inkrafttreten der TVVO 1918 Bis zum Inkrafttreten der TVVO 1918 war die Tarifautonomie Angriffen und Hürden auf gleich drei Ebenen ausgesetzt: Erstens waren die Koali­ tionen, wie bereits dargelegt, bis 1869 verboten. Und nach Aufhebung der Koalitionsverbote waren die Gewerkschaften zumindest bis 1914 durch das Nötigungsverbot und die allgemeinen Strafgesetze sowie durch vereins- und versammlungsrechtliche Repressionen in ihrer Koalitionsbetätigung massiv eingeschränkt. Zweitens waren die Gewerkschaften, die sich aufgrund der „verkappten Konzessionspflicht“ nicht ins Vereinsregister haben eintragen lassen – auch heute noch firmiert die ganz überwiegende Zahl der Gewerkschaften als nicht eingetragene Vereine – nach der Rechtslage unter Geltung des BGB 1900 nicht rechtsfähig und damit nicht in der Lage, Partei eines Tarifvertrags zu sein. Und drittens fehlten gesetzliche Regelungen, die eine unmittelbare und zwingende Wirkung von Tarifnor147  Vgl.

Höpfner, RdA 2020, 129 (136 f.).

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

men in den Arbeitsverhältnissen der Koalitionsmitglieder anordneten, sodass man sich mit dem Rückgriff auf stellvertretungsrechtliche Vorschriften des BGB behelfen musste. 3.1.2.1  Verbandsrechtliche Legitimation der Tarifgeltung Die älteste Form des Zustandekommens von Tarifverträgen in Deutschland war der Zusammenschluss von Arbeitgebern und Arbeitern zu einer Tarifgemeinschaft.148 Das bekannteste Beispiel hierfür waren die bereits genannten Buchdrucker mit ihrer Tarifgemeinschaft von 1896. Bei der Tarifgemeinschaft handelte es sich um einen nicht rechtsfähigen Verein, dessen Mitglieder sowohl Arbeitgeber als auch Arbeiter waren.149 Grundlage der Tarifgeltung war die Vereinssatzung. Arbeitsnormen konnten in Ausübung der Verbandsgewalt kraft Verbandsbeschlusses festgesetzt werden. Die Legitimation der Tarifgeltung folgte also nicht aus der Mitgliedschaft in den Verbänden (dem Verband der Deutschen Buchdrucker auf Arbeitnehmer- und dem Deutschen Buchdruckerverein auf Arbeitgeberseite), sondern aus der Verbandsautonomie der Tarifgemeinschaft als nicht eingetragenem Verein.150 Verbandsautonomie wiederum gründet sich keineswegs auf eine „autonome Befugnis des Verbandes, der nicht Staat ist, sich selbst Recht zu setzen“,151 sondern vielmehr auf die im Beitritt zur Tarifgemeinschaft liegende Ermächtigung des Verbands durch seine Mitglieder und die Unterwerfung unter das für die verbandsinterne Beschlussfassung geltende Mehrheitsprinzip.152 Bei der Tarifgeltung kraft Verbandsautonomie handelt es sich also keineswegs um die Ausübung einer vom Staat delegierten Normsetzungsmacht, sondern um einen Fall der durch die Verbandsmitglieder rechtsgeschäftlich-privatautonom legitimierten Normsetzung durch den Verband.153 Der Weg einer verbandsrechtlichen Legitimation der Tarifgeltung wurde allerdings recht bald verlassen. Die Gewerkschaften verschmähten die Ta148  Vgl. dazu Heinze, Die Tarifgemeinschaft als Verein, 1918; lmle, Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Deutschland, 1907, S. 6 ff. 149  RG v. 22.3.1911 – I 64/10, RGZ 1911, 25 (28). 150  Vgl. Hueck, Das Tarifrecht, 1922, S. 101; Rieble, ZFA 2000, 5 (10); ders., Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, Rn. 799 ff. 151  So Gierke, Deutsches Privatrecht, Band 1, 1985, S. 142 auf Grundlage des von ihm entwickelten Genossenschaftsmodells; vgl. dazu zuletzt Rückert, ZFA 2019, 515 (570). 152  Vgl. dazu Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 317. 153  Zutreffend Rieble, ZFA 2000, 5 (10).



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie79

rifgemeinschaften als „Harmonieverbände“, und nachdem ab 1900 in der Arbeitsrechtswissenschaft die ersten Grundlagen für eine vertragliche Begründung der Tarifgeltung gelegt worden waren, wurden Tarifverträge ausschließlich auf diesem Wege und nicht mehr über den Weg einer Verbandssatzung abgeschlossen. Aus juristischer Sicht vollständig erledigt hat sich die verbandsrechtliche Legitimation der Tarifgeltung durch die TVVO und die Weimarer Reichsverfassung. In den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit gem. Art. 159 Satz 1 WRV fielen Vereinigungen, die ausschließlich von Arbeitnehmern oder von Arbeitgebern gebildet wurden.154 Die Tarifgemeinschaften wurden lediglich von der allgemeinen Vereinigungsfreiheit des Art. 124 WRV erfasst. Auch einfachgesetzlich waren die Tarifgemeinschaften von der Tarifautonomie ausgenommen. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 TVVO konnten die Bedingungen für den Abschluss von Arbeitsverträgen tarifvertraglich allein zwischen Vereinigungen von Arbeitnehmern und einzelnen Arbeitgebern oder Vereinigungen von Arbeitgebern geregelt werden. Dem folgend hat das Reichsgericht Tarifgemeinschaften die Tariffähigkeit abgesprochen.155 An diese Rechtslage knüpften das Grundgesetz und das TVG 1949 unmittelbar an. „Harmonieverbände“ sind auch heute keine Koalitionen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG, sondern lediglich Vereinigungen gem. Art. 9 Abs. 1 GG.156 Nach § 2 Abs. 1 TVG sind gemeinsame Zusammenschlüsse von Arbeitgeber und Arbeitnehmern darüber hinaus auch nicht tariffähig.157 3.1.2.2  Individualautonom-mandatarische Legitimation der Tarifgeltung Nachdem das trotz aller Repressionen seitens der Politik aufkommende Tarifvertragswesen zunächst von den Nationalökonomen, allen voran Lujo Brentano,158 aufgegriffen und insbesondere mit vergleichendem Blick auf die Situation der englischen Gewerkvereine wissenschaftlich untersucht

154  Nipperdey, in: ders. (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, 3. Band, 1930, Art. 159 § 2 II. (S. 392); ebenso schon die Definition der Koalition bei Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (48). 155  Vgl. RG v. 1.10.1923 – IV 789/22, RGZ 107, 144 (146 f.); RG v. 18.11.1927 – III 134/27, 119, 13 (14 f.); vor Inkrafttreten der TVVO de lege ferenda bereits Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 58. 156  Vgl. nur Maunz/Dürig/Scholz, GG, Stand: Oktober 2020, Art. 9 Rn. 208. 157  Vgl. nur Löwisch/Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, § 2 Rn. 66. 158  Vgl. zu Brentano näher Picker, ZFA 1986, 199 (253 ff., 302 f.); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 84 ff.; Rückert, ZFA 1992, 225 (250).

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

worden war,159 war es Philipp Lotmar,160 der sich zunächst mit seinem 1900 publizierten Aufsatz über „Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“161 und dann zwei Jahre später mit dem ersten Band seiner Monographie „Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches“162 als erster Rechtswissenschaftler dem Phänomen des Tarifvertrags annahm. Lotmar stand vor der Schwierigkeit, die Verbindlichkeit von Tarifverträgen und die Geltung der tarifvertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen in den einzelnen Arbeitsverhältnissen juristisch mithilfe der allgemeinen Grundsätze der Rechtsgeschäftslehre zu konstruieren, da zu dieser Zeit noch keine gesetzlichen Regelungen über Tarifverträge existierten. Lotmar entwickelte hierfür ein privatrechtliches Tarifvertragsmodell, das auf einer individualautonom-mandatarischen Legitimation der Tarifauto­ nomie beruhte. Die dogmatische Grundlage seines Konzepts waren die Regelungen über die Stellvertretung beim Abschluss von Verträgen, die er sowohl zur Konstruktion des Tarifabschlusses als auch zur Begründung der Rechtswirkungen des Tarifvertrags heranzog. Da dieses individualautonom-­ mandatarische Verständnis der Tarifautonomie trotz der zunächst durch die TVVO und später durch das TVG veränderten Rahmenbedingungen bis heute die Tarifvertragsdogmatik wesentlich bestimmt163 – und sogar die individualrechtliche Rekonstruktion heute wieder vermehrt Anhänger findet164 –, ist es unverzichtbar, das Lotmarsche Tarifvertragsmodell im Folgenden zumindest in knappen Grundzügen darzustellen. 3.1.2.2.1  Die privatrechtliche Qualifikation der Tarifautonomie Die erste zentrale Weichenstellung Lotmars bestand darin, den Tarifvertrag als Teil des Privatrechts einzuordnen. Das privatrechtliche Verständnis des Tarifvertrags und seiner Rechtswirkungen prägt das gesamte tarifrecht-

159  Grundlegend Brentano, Die Arbeitergilden der Gegenwart, Band 1, 1871 und Band 2, 1872. 160  Vgl. zu Lotmar die Beiträge in Caroni (Hrsg.), Forschungsband Philipp Lotmar (1850–1922), 2003 und Fargnoli (Hrsg.), Philipp Lotmar – letzter Pandektist oder erster Arbeitsrechtler?, 2014; ferner Rückert, in: ders. (Hrsg.), Philipp Lotmar, 1992, S.  XI ff. 161  Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1. 162  Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 755 ff. 163  Vgl. zum Verständnis der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie unten 3.3.2. 164  Vgl. dazu unten 3.3.3.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie81

Quelle: Hugo Sinzheimer: Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, Amsterdam 1938, S. 256.

Abbildung 9: Philipp Lotmar

liche Werk Lotmars.165 Auf den Punkt gebracht hat er dies durch folgende Aussage: „Der Tarifvertrag ist, wie wir annehmen müssen, nicht eine Rechtsquelle, sondern ein Rechtsgeschäft.“166 Dadurch unterscheidet Lotmar sich maßgeblich von den früheren Arbeiten Brentanos und von den meisten auf Lotmar folgenden Autoren, allen voran Sinzheimer.167 Der Tarifvertrag ist für ihn kein „Moment der Staatlichkeit“,168 sondern eine Selbsthilfe der Beteiligten. Zugleich widerspricht sein Modell allen späteren Versuchen, die Tarifautonomie als eine Form der Delegation staatlicher Rechtsetzungsmacht an die Koalitionen und damit als Teil einer öffentlichrechtlichen Gestaltung des Arbeitsmarkts zu qualifizieren.169 165  Dazu auch Picker, in: FS Richardi, 2007, S. 141 (148 ff.); Ramm, Die Parteien des Tarifvertrages, 1961, S. VII; Rückert, in: ders. (Hrsg.), Philipp Lotmar, 1992, S.  XI (LXI f.). 166  Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 793 f. 167  Vgl. zu dessen Modell unten 3.1.2.4.2. 168  So etwa Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1256. 169  Vgl. zu diesen Versuchen unten 3.3.1.

82

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Lotmar belässt es jedoch nicht bei der Qualifikation des Tarifvertrags als privatrechtlicher Schuldvertrag, sondern erstreckt sein privatrechtliches Verständnis auch auf die Koalitionen selbst. Diese sind nach seiner Auffassung bloße Vertreter der Koalierten – ganz im Sinne der späteren Formulierung in Ziff. 1 des Stinnes-Legien-Abkommens.170 Ihre Funktion beschränkt sich darauf, dass sie im Interesse ihrer Mitglieder die Arbeitsbedingungen durch Tarifvertrag festsetzen.171 Auch hier zeigt sich eine Parallele zu Ziff. 6 des Stinnes-Legien-Abkommens. Die Koalitionen sind nach Lotmars Verständnis also Interessenvertreter. Öffentliche oder gar hoheitliche Aufgaben nehmen sie nicht wahr. Im Vordergrund steht vielmehr die Selbstbestimmung der Marktakteure. Der Tarifvertrag ist danach primär172 ein „Mittel der individuellen Freiheitswahrung unter besonderen realen Marktbedingungen“.173 3.1.2.2.2  Abschluss von Tarifverträgen Einen Abschluss des Tarifvertrags zwischen dem Arbeitgeberverband und der Gewerkschaft im eigenen Namen, also dem heutigen Verbandstarifvertrag, schloss Lotmar damals aus.174 Die Ursache hierfür lag in den oben genannten Repressionen des privaten Vereinsrechts, die dazu führten, dass die Gewerkschaften sich nicht als Vereine ins Vereinsregister haben eintragen lassen.175 Als nicht eingetragene Vereine waren die Gewerkschaften nach den Regelungsabsichten des historischen BGB-Gesetzgebers und der Verweisung in § 54 Satz 1 BGB auf das Recht der Gesellschaft bürgerlichen Rechts jedoch nicht rechtsfähig. Dementsprechend konnten sie nicht Partei eines Tarifvertrags sein. Als Alternative zum Abschluss eines Verbandstarifvertrags entwickelte Lotmar die sog. Vertretungstheorie, nach der die Verbände den Tarifvertrag im Namen ihrer Mitglieder abschließen.176 Mangels gesetzlicher Spezialdieser Parallele bereits Ramm, ZFA 2004, 183 (225). Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (42, 45, 50). 172  Vgl. zu partiellen Einschränkungen des individualistisch-privatrechtlichen Ansatzes im Konzept Lotmars allerdings Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland, 1995, S. 267, 271 f.; Ramm, Die Parteien des Tarifvertrages, 1961, S. 39; Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 119 f. 173  So zutreffend Rückert, in: ders. (Hrsg.), Philipp Lotmar, S. XI (LXII). 174  Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (80); ders., Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S.  798 f. 175  Vgl. oben 3.1.1.2. 176  Vgl. Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (68  ff.); ders., Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 797 ff. 170  Zu

171  Vgl.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie83

vorschriften für die Vertretung beim Abschluss von Tarifverträgen177 muss­te Lotmar hierfür auf die allgemeinen Vorschriften der §§ 164 ff. und §§ 182 ff. BGB zurückgreifen.178 Danach war ein Tarifabschluss auf zwei verschiedene Arten möglich: durch Bevollmächtigung oder durch Genehmigung.179 Im Fall der Bevollmächtigung handelte der Vertreter beim Vertragsschluss mit Vertretungsmacht im Namen der ihn bevollmächtigenden Arbeitgeber oder Arbeitnehmer. Der Tarifvertrag wirkte dann nach § 164 Abs. 1 Satz 1 BGB unmittelbar für und gegen die vertretenen Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, die unmittelbar Partei des Tarifvertrags wurden. Handelte der Vertreter beim Abschluss des Tarifvertrags zwar im Namen der vertretenen Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, jedoch ohne von diesen bevollmächtigt worden zu sein, war der Tarifvertrag nach § 177 Abs. 1 BGB schwebend unwirksam, konnte allerdings von den vertretenen Personen genehmigt werden. Folge einer solchen Genehmigung ist die Wirksamkeit des Vertrags ex tunc im Zeitpunkt des Vertragsschlusses.180 Die vertretenen Arbeitgeber oder Arbeitnehmer konnten also den Tarifvertrag durch eine konstitutive Genehmigung zustande bringen. Lotmar nannte diesen Fall (missverständlich) „anfängliche Genehmigung“. Davon grenzte er die (ebenfalls missverständlich formulierte) „nachträgliche Genehmigung“ ab. Darunter verstand er den Fall, dass ein bei Tarifabschluss nicht vertretener Arbeitgeber oder Arbeitnehmer nachträglich einem bereits existierenden Tarifvertrag beitrat. In diesem Fall war die Genehmigung nicht konstitutiv für die Wirksamkeit des Tarifvertrags, sondern lediglich für die Erstreckung seines persönlichen Geltungsbereichs181 auf den Genehmigenden.182 Auch diese Terminologie war wenig glücklich gewählt, da zum einen jede Genehmigung im Verhältnis zur Abgabe der Willenserklärung durch den Vertreter nachträglich erfolgt und es zum anderen nicht um den „Geltungsbereich“ des Tarifvertrags ging, sondern um die Frage, wer Partei des Tarifvertrags war. Gleichwohl gelang es Lotmar mit seiner Vertretungskonstruktion, den Abschluss von Tarifverträgen durch Anwendung der Rechtsgeschäftslehre auch ohne Rechtsfähigkeit der nicht im VereinsLotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (70 f.). Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 796. 179  Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (75  ff., 85 f.); ders., Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 796 f. 180  Vgl. aus heutiger Sicht stellvertretend BeckOGK/Ulrici, Stand: 1.1.2021, § 177 BGB Rn. 174. 181  So die Terminologie bei Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 797. 182  Vgl. Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (77). 177  Dazu 178  Vgl.

84

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

register eingetragenen Koalitionen zumindest im Ausgangspunkt plausibel zu konstruieren, wenngleich die Einbeziehung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die den Tarifabschluss nicht genehmigt haben oder deren Arbeitsverhältnis erst nach Abschluss des Tarifvertrags begründet worden ist, die Vertretungstheorie vor erhebliche Probleme gestellt hat.183 3.1.2.2.3  Rechtswirkung von Tarifverträgen Problematischer noch als der Abschluss des Tarifvertrags war die Kon­ struktion seiner Wirkung in den Arbeitsverhältnissen der Koalitionsmitglieder. Eine unmittelbare und zwingende Geltung von Tarifnormen, wie sie heute § 4 Abs. 1 TVG anordnet, wurde erst 1918 durch die TVVO begründet. Bis dahin sah sich die Arbeitsrechtswissenschaft vor die große Aufgabe gestellt, die Tarifgeltung durch Anwendung der allgemeinen Grundsätze der Rechtsgeschäftslehre zu begründen. Lotmar differenzierte dabei erstmals zwischen der ergänzenden Wirkung und der Unabdingbarkeit des Tarifvertrags und begründete diese mit den drei Funktionen des Tarifvertrags: Entlastung der Arbeitsvertragsparteien beim Aushandeln von Arbeitsbedingungen, Verhinderung einer „Schleuderkonkurrenz“ zulasten der Arbeitnehmer und Ausschluss konjunktureller Schwankungen für die Laufzeit des Vertrags.184 3.1.2.2.3.1  Ergänzende Wirkung des Tarifvertrags

Als „ergänzende Wirkung“ beschreibt Lotmar den Umstand, dass Arbeitsverträge auch dann als zu den Bedingungen des Tarifvertrags abgeschlossen gelten, wenn die Parteien beim Abschluss des Arbeitsvertrags keine Bestimmung hierzu getroffen haben.185 Sofern Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils – beim Tarifabschluss vertreten über ihre jeweilige Vereinigung – Partei des Tarifvertrags waren, bedurfte es also keiner auf den Inhalt des Tarifvertrags gerichteten Willenserklärung, damit dieser zum Bestandteil des Arbeitsvertrags wurde.186 Die ergänzende Wirkung musste nach Auffassung Lotmars aber dann ausscheiden, wenn nicht beide Arbeitsvertragsparteien Partei des Tarifvertrags waren.187 In diesem Fall

183  Vgl.

dazu unten 3.1.2.3.1. Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 775 ff. 185  Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 776. 186  Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 779. 187  Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 795. 184  Vgl.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie85

war zur Geltung des Tarifvertrags eine auf den Inhalt des Tarifvertrags gerichtete Willenserklärung der Arbeitsvertragsparteien erforderlich.188 Mit der „ergänzenden Wirkung“ des Tarifvertrags entwickelte Lotmar den Vorläufer der heutigen unmittelbaren Wirkung von Tarifnormen nach § 4 Abs. 1 TVG. Die später gebräuchlichen Begriffe der „unmittelbaren“ oder „automatischen“ Wirkung des Tarifvertrags189 verwendete er hingegen nicht. Das war auch folgerichtig. Denn im Unterschied zur heutigen unmittelbaren Wirkung von Tarifnormen war die „ergänzende Wirkung“ des Tarifvertrags in einem wesentlichen Punkt ganz erheblich eingeschränkt: Der Tarifvertrag sollte nämlich die Lohn- und Arbeitsbedingungen ausschließlich für „künftig abzuschließende Arbeitsverträge“ festsetzen.190 Ein Vertrag, der den Inhalt bereits bestehender Arbeitsverträge ändert, war nach Lotmars Auffassung ausdrücklich kein Tarifvertrag, und zwar auch dann nicht, wenn er von einer Mehrheit der Arbeitnehmer abgeschlossen wurde.191 Bereits bestehende Arbeitsverhältnisse wurden von der „ergänzenden Wirkung“ des Tarifvertrags danach nur erfasst, wenn die Individualvertragsparteien nach Abschluss des Tarifvertrags einen neuen Arbeitsvertrag vereinbaren. Man darf diese Ausführungen nicht dahingehend fehlinterpretieren, dass bestehende Arbeitsverhältnisse vom Anwendungsbereich des Tarifvertrags vollständig ausgenommen waren. Allerdings muss man Lotmar eindeutig dahingehend verstehen, dass der Tarifvertrag sich auf bestehende Arbeitsverhältnisse nur auswirken sollte, wenn die Parteien ihr Arbeitsverhältnis nach Abschluss des Tarifvertrags auf die Grundlage eines neuen bzw. geänderten Arbeitsvertrags stellten.192 Zwar waren die tarifbeteiligten Kontrahenten kraft Tarifvertrags verpflichtet, den Arbeitsvertrag neu abzuschließen, um dem Tarifvertrag im Arbeitsverhältnis zur Geltung zu ver-

188  Lotmar,

Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 779. nur Ettinger, in: Verhandlungen des 29. DJT, 4. Band, 1908, S. 168; Hueck, JherJb 73 (1923), 33 (82); ders., Das Recht des Tarifvertrages, 1920, S. 93; Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 224; Nipperdey, Beiträge zum Tarifrecht, 1924, S. 1 f.; Oertmann, ZfSocW 10 (1907), 1 (8, 22). 190  Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (29), Hervorhebung im Original; ihm folgend Bail, Das Rechtsverhältnis der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, 1904, S. 72; Katz, Lücken im Arbeitsvertrage, 1922 S. 69; Köppe, Der Arbeitstarifvertrag, 1908, S. 90; Potthoff, Probleme des Arbeitsrechtes, 1912, S. 142; insoweit auch Oertmann, Deutsches Arbeitsvertragsrecht, 1923, S. 63. 191  Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (29). 192  Sehr deutlich in diesem Sinne auch Rundstein, Die Tarifverträge und die moderne Rechtswissenschaft, 1906, S.  86  f.; wohl auch Enneccerus, Bürgerliches Recht I/2, S. 382 f. 189  Vgl.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

helfen.193 Eine unmittelbar rechtsgestaltende Wirkung kam dem Tarifvertrag jedoch nicht zu. Erst nach Neuabschluss oder Änderung des Arbeitsvertrags kamen die „ergänzende Wirkung“ des Tarifvertrags und dessen Unabdingbarkeit zur Anwendung. Dafür reicht es nicht aus, dass die Parteien ihr Arbeitsverhältnis schlicht unverändert fortführen. Erforderlich war vielmehr eine ausdrücklich oder zumindest konkludent vereinbarte Änderung des bisherigen Vertragsverhältnisses. Indem Lotmar den Geltungsbereich des Tarifvertrags auf neu abgeschlossene Arbeitsverträge reduzierte, schränkte er die „Selbstexekution“194 des Tarifvertrags in einem wesentlichen Punkt ein: Der Tarifvertrag sollte zwar unmittelbar und zwingend wirken, d. h. er sollte in der Terminologie Lotmars eine den Arbeitsvertrag ergänzende und für diesen maßgebende Wirkung ausüben. Diese Wirkung setzte jedoch voraus, dass das Arbeitsverhältnis in den Geltungsbereich des Tarifvertrags fiel. Und diese Voraussetzung war erst dann erfüllt, wenn die Parteien ihr Arbeitsverhältnis auf eine neue vertragliche Grundlage stellten. Im Ergebnis erforderte die Tarifgeltung somit einen Mitwirkungsakt der Arbeitsvertragsparteien. Diese Einschränkung der Tarifwirkung in Lotmars Tarifvertragsmodell wird häufig übersehen.195 3.1.2.2.3.2  Unabdingbarkeit des Tarifvertrags

Neben die „ergänzende Wirkung“ des Tarifvertrags trat nach Ansicht Lotmars die Unabdingbarkeit, die er synonym auch als „maßgebende“ oder „durchgreifende“ Wirkung des Tarifvertrags bezeichnete.196 Sie flankiert die ergänzende Wirkung, die für sich allein genommen nicht ausreichte, um die Geltung des Tarifvertrags im Arbeitsverhältnis zu gewährleisten. Der Wille der Arbeitsvertragsparteien war danach nicht nur „überflüssig“, wie es die Konsequenz der „ergänzenden Wirkung“ des Tarifvertrags war, er sollte darüber hinaus auch „ohnmächtig“ sein.197 Während die „ergänzende Wirkung“ dazu führte, dass „die Kontrahenten des Arbeitsvertrags diesem den Tarifvertragsinhalt nicht erst zu verleihen brauchen“, Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 776. ZFA 2000, 5 (12). 195  Vgl. etwa Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland, 1995, S.  249 ff.; Zachert, KJ 2007, 428 (433 f.); ebenso bereits Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 2. Teil, 1908, S. 9 f.; zutreffend demgegenüber Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 387. 196  Vgl. Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 781 f.; ders., ArchSozG XV (1900), 1 (107 f.). 197  Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 780, 786. 193  Vgl.

194  Rieble,



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie87

bedeutet die „maßgebende“ Wirkung, dass sie dem Arbeitsvertrag einen vom Tarifvertrag abweichenden Inhalt nicht verleihen können.198 Spätere Autoren etablierten hierfür auch den Begriff der „zwingenden Wirkung“ des Tarifvertrags.199 Die Unabdingbarkeit und die „ergänzende Wirkung“ des Tarifvertrags gingen dabei Hand in Hand. Trafen die Arbeitsvertragsparteien eine tarifwidrige Vereinbarung, wurde die infolge der Unabdingbarkeit eintretende Vertragslücke im Wege der „ergänzenden Wirkung“ des Tarifvertrags ausgefüllt. Das entspricht dem Zusammenwirken von unmittelbarer und zwingender Tarifwirkung, wie es sich unter Geltung der TVVO durchgesetzt hat200 und wie es heute nach § 4 Abs. 1 TVG gilt.201 Zur Legitimation der Unabdingbarkeit stützte sich Lotmar neben § 399 BGB vor allem auf einen Vorrang der Kollektiventscheidung gegenüber dem Individualwillen. Aus Ausfluss der sozialpolitischen Aufgabe des Tarifvertrags folge die Unabdingbarkeit unmittelbar aus dem Prinzip kollektiver Vertragsschließung.202 Der Tarifvertrag stelle eine von der Mehrheit errichtete Schranke der Vertragsfreiheit dar, und es sei widersprüchlich, wenn der Einzelne sich über diese Mehrheitsentscheidung hinwegsetzen könne. Für Lotmar folgte daraus: „Der Kollektivvertrag ist für den Individualvertrag nicht derogierbar.“203 An dieser Stelle zeigt sich, dass Lotmar sein individual-privatautonomes Legitimationsmodell der Tarifgeltung in einem zentralen Punkt durchbrach und insoweit auf eine kollektiv-heteronome Legitimationsebene wechselte.204 An die Stelle der kollektiv gebündelten Selbstbestimmung trat die Fremdbestimmung des Kollektivs über den Einzelnen. Allerdings blieb der Individualvertrag für Lotmar weiterhin 198  Lotmar,

Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 780, Hervorhebung im Original. Das Tarifrecht, 1922, S. 44 ff.; Nipperdey, Beiträge zum Tarifrecht, 1924, S. 22, 59; Rundstein, Die Tarifverträge und die moderne Rechtswissenschaft, 1906, S. 143; Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 2. Teil, 1908, S. 65 ff.; gegen eine Gleichsetzung von zwingender Wirkung und Unabdingbarkeit aber Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 284 f.; Wölbling, Der Akkordvertrag und der Tarifvertrag, 1908, S. 468. 200  Vgl. für die überwiegende Auffassung Molitor, NZfA 1923, 41; Nipperdey, Beiträge zum Tarifrecht, 1924, S. 2; a. A. Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Auflage, 1932, S.  37 f. 201  Vgl. nur Löwisch/Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, § 4 Rn. 29 ff., 32 ff. 202  Vgl. Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 781. 203  Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (106). 204  Vgl. das harte Urteil von Oertmann, ZfSocW 10 (1907), 1 (9), wonach Lotmar damit „im Grunde seine ganze Lehre selbst aufgibt“; ferner die Einschätzungen von Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland, 1995, S. 267, 271 f. und Ramm, Die Parteien des Tarifvertrages, 1961, S. 39. 199  Hueck,

88

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

die Grundlage der Arbeitsverfassung,205 und zwar im Ergebnis auch in Bezug auf die Unabdingbarkeit des Tarifvertrags. Da nämlich Tarifverträge nach Lotmars Konzeption stets nur „künftig abzuschließende Arbeitsverträge“ betreffen sollten, konnte sich der Tarifvertrag trotz seiner Unabdingbarkeit nicht gegenüber einem bereits bestehenden, aber inhaltlich abweichenden Arbeitsvertrag durchsetzen. Seine Geltung war vielmehr von der Mitwirkung der Individualvertragsparteien abhängig. Erst wenn die Arbeitsvertragsparteien ihr Arbeitsverhältnis nach Abschluss des Tarifvertrags auf eine neue vertragliche Grundlage gestellt hatten, konnte der Arbeitnehmer „auf Vollzug nach den Bedingungen des Tarifvertrags bestehen und klagen“.206 Der Arbeitgeber konnte also die Tarifgeltung dadurch verhindern, dass er sich einer Änderung des Arbeitsvertrags verweigerte. Im Ergebnis war die Unabdingbarkeit des Tarifvertrags dadurch ganz erheblich eingeschränkt.207 3.1.2.3  Die Schwächen der individualautonom-mandatarischen Legitimation Lotmar kommt unbestritten das Verdienst zu, als erster Arbeitsrechtswissenschaftler die Verbindlichkeit und die Geltung des Tarifvertrags im Arbeitsverhältnis rechtsdogmatisch begründet und die Legitimation der Tarifgeltung herausgearbeitet zu haben. Durchsetzen konnte er sich mit seiner individualautonom-mandatarischen Tarifrechtskonzeption jedoch nicht. Sowohl die Konstruktion des Tarifvertragsschlusses mithilfe des Stellvertretungsrechts als auch die privatrechtliche Begründung der „ergänzenden“ und unabdingbaren Wirkung des Tarifvertrags stießen auf teilweise heftige Kritik.208 Diese kann und muss hier nicht in allen Details nachgezeichnet werden. Lediglich einige grundlegende Kritikpunkte, die auch heute noch von Bedeutung für die Legitimation der Tarifautonomie sind, sollen im Folgenden kurz genannt werden.

205  Insoweit a. A. Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland, 1995, S. 272. 206  Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (107); dazu auch ders., Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 787. 207  Vgl. dazu bereits Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 154. 208  Vgl. etwa Hueck, Das Recht des Tarifvertrages, 1920, S. 93; Hüglin, Der Tarifvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, 1906, S. 79, 86 f.; Katz, Lücken im Arbeitsvertrage, 1922, S. 82; Oertmann, ZfSocW 10 (1907), 1 (29); Schall, JherJb 52 (1907), 1 (79, 142, 168); Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 1. Teil, 1907, S. 73, 2. Teil, 1908, S. 31; ders., Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 103 f.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie89

3.1.2.3.1  Kritik an der Vertretungskonstruktion des Tarifabschlusses Von den Vertretern eines kollektivistischen Tarifvertragsverständnisses wurde gegen die Vertretungstheorie vor allem vorgebracht, dass sie das kollektive Moment des Tarifvertrags vernachlässige und die Entstehung „sozialer Berufsnormen“, etwa Regelungen über die Voraussetzungen und Durchführung eines Arbeitskampfs oder Bestimmungen zur Haftung des Verbands für Handlungen seiner Mitglieder, nicht hinreichend erklären könne.209 Aber auch auf dem Boden des individualautonomen Tarifrechtsverständnisses sah sich die Vertretungstheorie vielfacher Kritik ausgesetzt. In der Tat konnte Lotmar nicht hinreichend erklären, warum auch diejenigen Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, die dem Tarifabschluss bei der innerverbandlichen Abstimmung nicht zugestimmt haben, an den Tarifvertrag gebunden sein sollten. Zwar galt für innerverbandliche Abstimmungen das durch die Verbandssatzung näher ausgestaltete Mehrheitsprinzip. Bei der Vertretung des einzelnen Verbandsmitglieds beim Tarifabschluss handelte es sich jedoch nach Lotmars Konzeption nicht um eine Vereinsangelegenheit, sondern um die Bindung des Mitglieds nach außen gegenüber dem Arbeitsvertragspartner. Der Verein selbst sollte gerade nicht Partei des Tarifvertrags werden. Für Rechtsgeschäfte ihrer Mitglieder ist die Mitgliederversammlung jedoch nicht zuständig. Im Ergebnis konnte ein Majoritätsbeschluss daher zwar die „Unterwerfung aller Vereinsmitglieder dem Verein gegenüber begründen“, nicht aber „die einzelnen Mitglieder als Einzelne Dritten gegenüber“ binden.210 Ein zweites unlösbares Problem für die Vertretungstheorie war der Tarifabschluss im Namen künftiger Verbandsmitglieder. Lotmar erkannte das Problem selbst und versuchte, durch eine großzügige Handhabung der Voraussetzungen des § 164 BGB eine Einbeziehung künftiger Arbeitsverhältnisse in den Tarifvertrag zu ermöglichen. Nach seiner Auffassung handelten die Verbände beim Tarifabschluss nicht nur als Vertreter ihrer Mitglieder, sondern zugleich als Vertreter ohne Vertretungsmacht auch im Namen aller künftig in den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden

209  Vgl. Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 1. Teil, 1907, S. 5 f., 76 f., 82; ders., Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags, 1913, S. 14; in diese Richtung auch Hüglin, Der Tarifvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, 1906, S. 90 f., 140; Schall, JherJb 52 (1907), 1 (117 f.). 210  So zutreffend Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 1. Teil, 1907, S. 78; vgl. auch Schall, JherJb 52 (1907), 1 (142).

90

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Arbeitsvertragsparteien.211 Der schwebend unwirksame Vertrag sollte dann stillschweigend durch den späteren Eintritt in die tarifschließende Koalition oder sogar durch den schlichten Vollzug des Tarifvertrags im Indivi­ dualarbeitsverhältnis genehmigt werden.212 An dieser Stelle überdehnte Lotmar erkennbar den rechtsgeschäftlichen Willen der Parteien. Tatsächlich handelte es sich um eine Fiktion ohne rechtliche oder tatsächliche Grundlage.213 3.1.2.3.2  Kritik an der privatrechtlichen Begründung der Tarifgeltung Aber auch hinsichtlich der Tarifgeltung kam die Vertretungskonstruktion an ihre Grenzen. Es wurde bereits dargelegt, dass nach Lotmars Konzeption für die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis zwingend ein Mitwirkungsakt der Arbeitsvertragsparteien erforderlich war.214 Da bestehende Arbeitsverträge aus dem persönlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags ausgenommen waren, war für die Tarifgeltung selbst in Arbeitsverhältnissen zwischen beiderseits tarifbeteiligten Parteien ein Neuabschluss des Arbeitsvertrags erforderlich. Damit war die Tarifgeltung letztlich vom guten Willen des Arbeitgebers abhängig. Die „ergänzende Wirkung“ des Tarifvertrags wurde im zeitgenössischen Schrifttum zwar für notwendig erachtet, von der überwiegenden Auffassung jedoch ohne gesetzliche Anordnung abgelehnt. Nur durch ausdrückliche gesetzliche Regelung könne etwas ohne den Willen der Parteien zum Inhalt eines Vertrags gemacht werden.215 Eine Wirkung des Tarifvertrags im Arbeitsverhältnis war danach nur anzunehmen, wenn die Arbeitsvertragsparteien dessen Geltung ausdrücklich oder zumindest konkludent vereinbarten oder wenn sein Inhalt zu Verkehrsregeln geworden waren, die 211  Vgl. Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (82 f.); einschränkend allerdings ders., Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 799: nur, wenn mindestens eine Partei bereits vor Abschluss des Arbeitsvertrags Partei des Tarifvertrags ist und die andere Partei davon Kenntnis hat. 212  Vgl. Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (84, 86); ders., Der Arbeitsvertrag, Band 1, 1902, S. 799. 213  Zutreffend Oertmann, ZfSocW 10 (1907), 1 (8); vgl. auch Hüglin, Der Tarifvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, 1906, S. 84; Schall, JherJb 52 (1907), 1 (96, 150); Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 1. Teil, 1907, S.  79 f. 214  Vgl. oben 3.1.2.2.3.1. 215  Schall, JherJb 52 (1907), 1 (168); Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 2. Teil, 1908, S. 31; Gierke, Deutsches Privatrecht, 3. Band, 1917, S. 604; Hueck, Das Recht des Tarifvertrages, 1920, S. 93, 98; Rosenthal, in: Festgabe Laband, 1908, S. 137 (175).



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie91

bei der Ausfüllung einer Vertragslücke nach § 612 BGB berücksichtigt werden konnten.216 Auch die Unabdingbarkeit des Tarifvertrags wurde von der weit überwiegenden Auffassung im Schrifttum217 sowie von den Gewerbe- und den Schiedsgerichten218 ohne gesetzliche Kodifikation abgelehnt. Zwar herrschte durchaus Einigkeit darüber, dass der Tarifvertrag seine Wirkung nur dann voll entfalten könne, wenn Abweichungen durch die Individualvertragsparteien ausgeschlossen seien.219 Für Sinzheimer war die zwingende Tarifwirkung gar „die Schicksalsfrage für die Wirksamkeit des Arbeitsnormenvertrags überhaupt“, weil der tarifvertragswidrige Arbeitsvertrag nicht nur die Solidarität unter den Koalierten verletze, sondern auch „der Unterbietung, der Schleuderkonkurrenz, wie der Überwältigung des Isolierten das Tor [öffnet], welches der Tarifvertrag verschlossen hatte und zu verschließen bestimmt war“.220 Man sah sich jedoch außerstande, diese Rechtswirkung mithilfe der allgemeinen Regelungen des Bürgerlichen Rechts zu konstruieren.221 Der tarifwidrige Arbeitsvertrag war danach also Hueck, Das Recht des Tarifvertrages, 1920, S. 91 f. Baum, GruchotsBeitr 49 (1905), 261 (265 f.); Gierke, Deutsches Privatrecht, 3. Band, 1917, S. 604; ders., in: FS Brunner, 1914, S. 37 (67); Hueck, Das Recht des Tarifvertrages, 1920, S. 94 ff.; Hüglin, Der Tarifvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, 1906, S. 87; Köppe, Der Arbeitstarifvertrag, 1908, S. 92 ff.; Oertmann, Deutsches Arbeitsvertragsrecht, 1923, S. 68 f.; Sigel, Der gewerbliche Arbeitsvertrag, 1903, S. 33  ff.; Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 2. Teil, 1908, S. 54 ff.; ders., Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags, 1913, S. 22; a. A. Koehne, Die Arbeitsordnungen im deutschen Gewerberecht, 1901, S. 260; Rosner, Der Kollektivvertrag, 1903, S. 12. 218  Vgl. die Nachweise bei Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 2. Teil, 1908, S. 69, Fn. 93 und S. 70, Fn. 94. 219  Vgl. nur Hüglin, Der Tarifvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, 1906, S.  86 f.; Katz, Lücken im Arbeitsvertrage, 1922, S. 82; Oertmann, ZfSocW 10 (1907), 1 (29); ders., Deutsches Arbeitsvertragsrecht, 1923, S. 68, 70 f.; Potthoff, Probleme des Arbeitsrechtes, 1912, S. 142; Schall, JherJb 52 (1907), 1 (12 f., 79); Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 103 f.; ders., in: Verhandlungen der Gesellschaft für Soziale Reform, 1914, S. 18 (21); a. A. Wölbling, Der Akkordvertrag und der Tarifvertrag, 1908, S. 405 ff.; ders., in: Verhandlungen der Gesellschaft für Soziale Reform, S. 64 (65 ff.); ders., in: Verhandlungen des 29. DJT, 5. Band, 1908, S. 87 f. 220  Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 2. Teil, 1908, S. 66; vgl. auch ders., GewKfmG 10 (1905), 375 (380 f.). 221  Vgl. nur Baum, GruchotsBeitr 49 (1905), 261 (265 f.); Enneccerus, Bürger­ liches Recht I/2, 4./5. Auflage, 1910, S. 383; Gierke, Deutsches Privatrecht, 3. Band, 1917, S. 604; Hüglin, Der Tarifvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, 1906, S. 87; Köppe, Der Arbeitstarifvertrag, 1908, S. 97; Oertmann, ZfSocW 10 (1907), 1 (22 ff.); Rosenthal, in: Festgabe Laband, 1908, S. 137; Schall, JherJb 52 (1907), 1 (19, 154 ff.). 216  Vgl. 217  Vgl.

92

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

„in der Regel gültig“ und kam „in keinem Fall nur mit dem Inhalt der Arbeitsnorm zustande“.222 3.1.2.3.3 Zwischenfazit Letztlich wird man sagen müssen, dass Lotmar mit seinem Versuch, den Abschluss und die Geltung von Tarifverträgen individual-privatautonom zu konstruieren, gescheitert ist. Es ist ihm nicht gelungen, eine Einbeziehung aller Koalitionsmitglieder in den Tarifvertrag zu begründen. Vor allem konnte er die – nach heutiger Terminologie – unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags nicht mithilfe der Stellvertretungskonstruktion herbeiführen. Stets erforderlich für die Tarifgeltung war schließlich ein zeitlich nachfolgender (Neu-)Abschluss des Arbeitsvertrags, sodass die Tarifgeltung letztlich vom guten Willen des Arbeitgebers abhing. Allerdings wird man Lotmar nicht gerecht, wenn man lediglich auf die Defizite seines Stellvertretungsmodells verweist. Lotmar war durchaus bewusst, dass die Rechtsordnung für den Abschluss und die Geltung von Tarifverträgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine schmerzhafte Lücke aufwies. Er sah in seinem Modell der Legitimation der Tarifgeltung auch nur eine Hilfskonstruktion, bis der Gesetzgeber das Tarifvertragsrecht gesetzlich regeln würde.223 Lotmars großes Verdienst ist es, als erster den bis dahin nur von den Nationalökonomen behandelten Tarifvertrag juristisch untersucht und die unmittelbaren und zwingenden Tarifnormwirkung herausgearbeitet zu haben. Auch wenn dieser Versuch gescheitert ist, hat er doch jedenfalls die Notwendigkeit und den konstitutiven Regelungsgehalt einer gesetzlichen Anordnung der Tarifgeltung aufgezeigt. Gerade in der jüngeren Zeit ist eine Rückbesinnung der Tarifrechtswissenschaft auf Lotmar zu verzeichnen. Seine Begründungsansätze sind zwar dogmatisch seit Inkrafttreten der TVVO 1918 (und später des TVG 1949) überholt. Die dahinterstehenden Grundfragen der Legitimation der Tarifautonomie, der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien sowie der Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis sind dagegen aktueller denn je. Der Blick in die Geschichte des Tarifvertragsrechts belegt, dass die heute herrschende und auch der Rechtsprechung des BAG zugrunde liegende Lehre von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatau­ tonomie eine Abkehr von kollektivistisch geprägten Tarifvertragsmodellen und eine Hinwendung zu den individual-privatautonomen Wurzeln der 222  Sinzheimer, 223  Vgl.

349.

Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 2. Teil, 1908, S. 92. mit einem entsprechenden Vorschlag Lotmar/Sulzer, SozPrax 18 (1902),



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie93

Tarifrechtswissenschaft in den grundlegenden Arbeiten Lotmars zur Folge hat.224 3.1.2.4  Kollektivierung des Tarifvertragswesens 3.1.2.4.1  Tarifvertragsparteien als staatliche Zwangskorporationen Den Gegenpol zu Lotmars individual-privatautonomer Konzeption bildete das von Lujo Brentano propagierte Korporationsmodell. Die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sollten danach „in die öffentliche Verwaltungsorganisation eingegliedert“ werden.225 Das hätte zur Folge gehabt, dass die Koalitionen „officielle[n] Organisationen von Arbeitern und Arbeitgebern“ und ihre Vorstände „die officiellen für diese Zwecke bestehenden Behörden“ geworden wären.226

Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-1986-107-28A.

Abbildung 10: Lujo Brentano

224  Vgl.

zu den aktuellen Legitimationsdebatten unten 3.3. Auf dem Wege zum gesetzlichen Lohnminimum, 1913, S. 31 (52); ders., Die Arbeitergilden der Gegenwart, Band 2, 1872, S. 306. 226  Brentano, Die Arbeitergilden der Gegenwart, Band 2, 1872, S. 306. 225  Brentano,

94

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Eine solche Qualifizierung der Verbände als öffentlich-rechtliche Zwangs­ korporationen, die einige Parallelen zu dem heute noch in Österreich geltenden Arbeiterkammer-Modell aufweist,227 hätte gravierende Konsequenzen mit sich gebracht: Brentano wollte die in die Verwaltungsorganisation eingegliederten Verbände unter eine „Oberaufsicht“ des Staates stellen und diesem eine „Einsprache bezüglich der von ihnen getroffenen Regelungen“ zubilligen.228 Darüber hinaus sollten die einzelnen Arbeiter und Arbeitgeber an die Entscheidungen der von Vertretern der Koalitionen gebildeten Arbeitskammern gebunden sein, ohne dass hierfür eine besondere Form der Anerkennung, etwa durch Eintritt in die Koalition, erforderlich gewesen wäre.229 Schließlich hätte der Staat Streik und Aussperrung als „Privatfehden“ der Koalitionen nicht mehr dulden dürfen, sondern die Interessenstreitigkeiten zwischen Arbeitern und Arbeitgebern „auf gesetzlichem Wege zum Austrage […] bringen“ müssen.230 Im Ergebnis hätte diese Entwicklung nach Auffassung Brentanos wieder zu der Ordnung führen sollen, „wie sie vor der Entartung der Zünfte bestand“.231 Das zwangskorporative Koalitionsmodell passte nicht zu dem im Grundsatz marktwirtschaftlich-liberalen Ansatz, den Brentano sonst zugrunde gelegt hat.232 Mit der Forderung nach einem zwangsweisen Zusammenschluss zu Arbeiterkoalitionen gab Brentano den vom ihm selbst immer wieder betonten Grundsatz der Selbstbestimmung der Marktakteure auf, jedenfalls sofern man diese als Autonomie des einzelnen Marktteilnehmers versteht. Eine Zwangsorganisation bedeutet – ebenso wie die staatliche Festsetzung von Lohn- und Arbeitsbedingungen – stets Fremdbestimmung, die einhergeht mit dem „Verzicht der Arbeiter auf ihre eigenen Forderungen für das, was ihnen geboten wird“.233 Brentano muss sich daher entgegenhalten lassen, was er selbst dem „bureaukratischen Socialismus“ vorgeworfen hatte: „Sein eigenes Programm […] übersieht eines der wichtigsten ethischen Momente in der Arbeiterfrage: das heiße Sehnen der heutigen Arbeiter nach Selbstbestimmung.“234 227  Vgl. dazu Marhold, in: Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.), Arbeitskampf, Verhandlung und Schlichtung, 2018, S. 53 ff. 228  Brentano, Die Arbeitergilden der Gegenwart, Band 2, 1872, S. 307. 229  Brentano, Die Arbeitergilden der Gegenwart, Band 2, 1872, S. 307 f. 230  Brentano, Die Arbeitergilden der Gegenwart, Band 2, 1872, S. 307. 231  Brentano, Die Arbeitergilden der Gegenwart, Band 2, 1872, S. 308. 232  Vgl. dazu ausführlich Picker, ZFA 1986, 199 (253 ff., 302 f., 324 ff.); ders., ZFA 2007, 129 (150 f.); ders., ZFA 2009, 215 (220); ders., in: FS Zöllner, Band 2, 1998, S. 899 (916 ff.). 233  So Brentano, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik XLV (1890), S. IX (XIV) gegenüber der Fremdbestimmung durch staatliche Verwaltung.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie95

3.1.2.4.2  Tarifautonomie als autonome Normsetzung auf öffentlich-rechtlicher Grundlage Der einflussreichste Vertreter eines kollektivistischen Tarifvertragsverständnisses war zweifellos Hugo Sinzheimer. Nach anfänglicher Sympathie für das Vertretungsmodell235 wandelte Sinzheimer sich zu einem der schärfsten Kritiker Lotmars. De lege lata lehnte er die rechtsgeschäftliche Begründung sowohl der unmittelbaren und als auch der unabdingbaren Wirkung des Tarifvertrags ab.236 Zugleich trat er jedoch als einer der engagiertesten Vertreter der Forderung nach einer gesetzlichen Kodifikation des Tarifvertragsrechts auf. Der lex lata machte er den Vorwurf, „in einem Kernpunkt des Tarifvertrages innerlich [zu] versag[en]“.237 Das betraf vor allem die fehlende Möglichkeit, die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags zu begründen, beschränkte sich jedoch nicht darauf. Weitere Kritikpunkte des geltenden Rechts sah Sinzheimer darin, dass dieses keine Regelungen zu den Parteien des Tarifvertrags, zur Erstreckung des Tarifvertrags auf Außenseiter, zum Verhältnis von Tarifvertrag und Arbeitsordnung, zur Reichweite der Friedenspflicht und zur Haftung für Verletzungen des Tarifvertrags vorsah.238 Insgesamt sei das bestehende Tarifrecht daher „in allen seinen grundlegenden Beziehungen unzureichend, […] lückenhaft, widerspruchsvoll, unsicher und teilweise innerlich ungerecht­ fertigt“.239 Vor diesem Hintergrund verfasste Sinzheimer seinen bekannten, im Dezember 1915 fertiggestellten und 1916 veröffentlichten Entwurf eines „Arbeitstarifgesetzes“,240 mit dem er den „sozialen Zwecken des Tarifver­ trags“241 zur Geltung verhelfen wollte. Der Entwurf war maßgebend von der Vorstellung geprägt, dass im Tarifvertrag die „Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht“ verwirklicht werde.242 Darunter verstand Sinzheimer den Gedanken, dass „freiorganisierte gesellschaftliche Kräfte unmit234  Brentano,

in: Schriften des Vereins für Socialpolitik XLV (1890), S. IX (XIV). GewKfmG 10 (1905), 375 (380 f.). 236  Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 2. Teil, 1908, S.  31  ff., 54 ff.; ders., Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags, 1913, S. 22. 237  Sinzheimer, Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags, 1913, S. 22 f. 238  Sinzheimer, Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags, 1913, S. 13 ff., 23 ff. 239  Sinzheimer, Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags, 1913, S. 36; vgl. auch ders., in: Verhandlungen der Gesellschaft für Soziale Reform, 1914, S. 18 ff. 240  Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916. 241  Sinzheimer, Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags, 1913, S. 15. 242  So der Untertitel von Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916; vgl. ferner ders., in: Festgabe 50 Jahre Reichsgericht, 4. Band, 1929, S. 1 (6). 235  Sinzheimer,

96

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Quelle: Universitätsarchiv Frankfurt am Main.

Abbildung 11: Hugo Sinzheimer

telbar und planvoll objektives Recht erzeugen und selbsttätig verwalten“ sollten.243 Der Staat habe „die Bedingungen ihres Wirkens“ festzulegen und die „eigene Rechtsverwaltung der beteiligten Kreise“ unter hoheitliche Aufsicht zu stellen, um so eine „Berücksichtigung aller Interessen“ und eine „objektiv gerichtete Regelung“ zu ermöglichen.244 Die Terminologie „soziale Selbstbestimmung“ suggeriert eine Nähe zu den privatautonom-mandatarischen Legitimationskonzepten. Tatsächlich handelte es sich bei Sinzheimers Modell jedoch um ein kollektivrecht­ liches Tarifvertragsmodell, das die Selbstbestimmung des einzelnen Arbeitgebers und Arbeitnehmers vollständig ausschloss. Selbstbestimmt handelten allein die Verbände, denen ein originärer, überindividueller und von den Willensakten ihrer Mitglieder unabhängiger Kollektivwille unterstellt wurde. Folgerichtig sah Sinzheimer die Tarifsetzungsmacht der Verbände auch nicht in der Legitimation durch die Mitglieder begründet, sondern er 243  Sinzheimer, 244  Sinzheimer,

Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 186. Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S.  192 f.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie97

verlangte einen staatlichen Rechtsetzungsakt, mit dem den Koalitionen eine öffentlich-rechtliche Normsetzungskompetenz überantwortet werde.245 Im Ergebnis sprach Sinzheimer dem einzelnen Arbeitgeber und Arbeitnehmer jede Art originärer Selbstbestimmung im Arbeitsrecht ab:246 Es gebe „kein Rechtsverhältnis, das nur den einzelnen angeht“, auch wenn es die „Maske“ der privaten Rechtsverhältnisse trage.247 Das „Grundrecht des Arbeitsrechts“ sei kein „Grundrecht der abstrakten Freiheit“, sondern habe die Sicherung der materiellen Bedürfnisse des Menschen zum Ziel. Es sei ein Irrtum zu glauben, dass die Vertragsfreiheit des Einzelnen „aus den Bedürfnissen des Individuums hergeleitet“ sei. Im Wirtschafts- und im Arbeitsrecht höre „der Mensch auf, ein Einzelwesen zu sein, er ist auch nicht mehr nur ein Klassenwesen, er ist nur noch ein Gesamtwesen, d. h. Teil eines Ganzen“.248 Als Gesamtwesen aber sei er „kein freies Wesen im Sinne des bürgerlichen Rechts“.249 Die Freiheit des Einzelnen bestehe nur, sofern und soweit „sie im Plane der Gemeinschaft liegt, die für ihre Zwecke diese Freiheit will und duldet“.250 Für Sinzheimer folgte daraus, dass die Freiheit des Einzelnen zur Disposition des Kollektivinteresses steht. Sobald nämlich „diese Freiheit dem Plan des Ganzen widerspricht, oder wenn der Plan sich gar selbst ändert, sehen wir, daß die Gemeinschaft nicht zögert, korrigierend in die private Freiheit einzugreifen“.251 Auf dem Boden dieser Grundanschauung252 stellten sich weder die zwingende Wirkung des Tarifvertrags noch die Tarifbindung von Außenseitern als Problem der Freiheitsverkürzung des Indivi­ duums dar. Der Tarifvertrag sollte nach Ansicht Sinzheimers begründet und aufrechterhalten werden durch den „sozialen Willen“, d. h. durch den Willen der vertragsschließenden Organisationen. Der Wille der Einzelnen sei diesem Willen der Organisation untergeordnet.253 Der Tarifvertrag war nach dieser Konzeption daher Selbstbestimmung nur aus Sicht der Normsetzer, während es sich aus Sicht der Tarifgebundenen um einen Fall der Fremdbestimmung handelte.

Sinzheimer, in: Festgabe 50 Jahre Reichsgericht, 4. Band, 1929, S. 1 (12). Picker, ZFA 2009, 215 (251 f.). 247  Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 22. 248  Sinzheimer, Das Problem des Menschen im Recht, 1933, S. 53 (62). 249  Sinzheimer, Das Problem des Menschen im Recht, 1933, S. 53 (62). 250  Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 22. 251  Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 22 f. 252  So Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 20. 253  Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 24 f. 245  Vgl.

246  Zutreffend

98

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Das kollektivistische Verständnis der Tarifautonomie zeigte sich bei Sinzheimer besonders deutlich in der öffentlich-rechtlichen Qualifikation der tarifschließenden Verbände. Diese sollten zwar nicht Teil der Staatsverwaltung werden, wie es Brentano verlangt hatte,254 beschränkten sich jedoch auch nicht auf die bloße Vertretung und Bündelung von Mitgliederinteressen. Vielmehr qualifizierte Sinzheimer die Koalitionen als „Verwaltungskörper“ unter Staatsaufsicht, welche die Einhaltung des Tarifvertrags im Wege der sog. Selbstexekution überwachen und gegen Vertragsver­ letzungen einschreiten sollten.255 Ungeachtet ihres privatrechtlichen Ursprungs nähmen die Koalitionen öffentliche Aufgaben dezentral autonom wahr und übten so selbstbestimmte Herrschaft über den Einzelnen aus.256 Ihre „Vertragsautonomie“, die weit über die Vertragsfreiheit des Einzelnen hinausgehen sollte,257 wurzele in einer staatlich delegierten Satzungsgewalt, die eine „Unterordnung des einzelnen unter den Willen der Organisation“ zur Folge habe.258 Als solche sei sie – hier wird die enge Verwandtschaft zu Gierkes Genossenschaftsmodell259 besonders sichtbar – eine „neue Autonomie genossenschaftlicher Art“, deren Grundlage zwar der Vertrag sei, die aber die Grenzen der individualistischen Vertragsanschauung sprenge, indem sie den Tarifvertrag zu einer Rechtsquelle erhebe, die „nicht nur für die Vertragsparteien, sondern auch für die Mitglieder der Berufsvereine“ verbindliche Regelungen festsetze.260 Als Voraussetzungen für eine Vertragsautonomie der Koalitionen nannte Sinzheimer zum einen die staatliche Ermächtigung der Verbände zur autonomen Normsetzung und, da den Koalitionen insoweit eine öffentliche Aufgabe übertragen werde, zum anderen die Unterwerfung der Koalitionen unter die Aufsicht des Staates.261 Sinzheimer entwickelte hierfür die Delegationstheorie,262 die auch in der Bundesrepublik zunächst die vorherrschende Lehre für die Legitimation der Tarifautonomie war.263 254  Vgl.

Brentano, Auf dem Wege zum gesetzlichen Lohnminimum, 1913, S. 31

255  Vgl.

Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 129. dazu Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland, 1995,

(52).

256  Vgl.

S. 296. 257  Vgl. Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 49. 258  Sinzheimer, in: Festgabe 50 Jahre Reichsgericht, 4. Band, 1929, S. 1 (12). 259  Vgl. dazu sogleich unter 3.1.2.4.3. 260  Sinzheimer, in: Verhandlungen der Gesellschaft für Soziale Reform, S. 18 (38). 261  Vgl. Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 192 f. 262  Sinzheimer, in: Festgabe 50 Jahre Reichsgericht, 4. Band, 1929, S. 1 (7); ders., Ein Arbeitstarifgesetz,1916, S. 199. 263  Vgl. zur Delegationstheorie unten 3.3.1.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie99

Ihre staatlich delegierte Normsetzungsmacht sollten die Koalitionen unabhängig vom Willen und Interesse der einzelnen Mitglieder wahrnehmen.264 Der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer sollte seine Selbstbestimmung nicht einmal dann zurückgewinnen können, wenn er aus dem Verband austrat. Solange er anschließend weiter an den Tarifvertrag gebunden war, durfte nicht er selbst über die Geltendmachung tariflicher Rechte entscheiden, sondern an seiner Stelle ein „Tarifanwalt“, der das kollektive „Tarifinteresse“ aller betroffenen nicht organisierten Vertragsmitglieder auch gegen den Willen des Einzelnen wahrzunehmen habe.265 Das Konzept der „sozialen Selbstbestimmung“ war also in Wahrheit ein aus Sicht der Betroffenen zutiefst illiberales Tarifvertragsverständnis. Der Verlust der Individualfreiheit zeigte sich in mehreren wesentlichen Punkten: So wandte Sinzheimer sich scharf gegen eine Anerkennung der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 159 WRV. Der Einzelne sei lediglich in seinem Bestreben, der Koalition beizutreten, geschützt. Ein Schutz des unorganisierten Außenseiters sei von Art. 159 WRV nicht bezweckt.266 Einen Organisationszwang für Arbeitnehmer und Arbeitgeber lehnte Sinzheimer zwar ab, dies jedoch nicht aus Rücksicht auf die Selbstbestimmung des Einzelnen, sondern lediglich deshalb, weil dies mit einer Bürokratisierung des Koalitionswesens verbunden wäre.267 Schließlich folgerte Sinzheimer aus der öffentlich-rechtlichen Qualifikation der Koalitionen nicht nur ein Recht, sondern unter bestimmten Umständen sogar eine Pflicht zum Abschluss von Tarifverträgen sowie eine Bindung der Tarifvertragsparteien an das Gemeinwohl mitsamt der Kontrolle durch eine staatliche Aufsichtsbehörde.268 3.1.2.4.3  Tarifautonomie kraft originärer Verbandsgewalt Im Gegensatz zu Brentano und Sinzheimer entwickelte Otto von Gierke ein Modell der Tarifsetzung auf privatrechtlicher Grundlage,269 das sich allerdings zugleich deutlich von der individualautonomen Legitimation der Tarifgeltung unterschied. Gierke differenzierte strikt zwischen dem Tarif264  Sinzheimer,

Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 97. Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 98. 266  Sinzheimer, JW 1921, 304 (305 f.); ders., Die Arbeit 1926, 744. 267  Vgl. Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 33 f. 268  Vgl. Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 193; ders., Grundzüge des Arbeitsrechts, 2. Auflage, 1927, S. 79. 269  So ausdrücklich Gierke, ArchSozWiss 42 (1916/17), 815 (820); dazu auch Picker, ZFA 2009, 215 (247). 265  Vgl.

100

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Quelle: Library of Congress, ggbain 02604.

Abbildung 12: Otto von Gierke

vertrag als schuldrechtlichem Vertrag und den durch den Tarifvertrag erzeugten Rechtsnormen. Die Diskussion über das von Lotmar entwickelte Vertretungsmodell habe gezeigt, dass „der schuldrechtliche Aufbau des Tarifvertragsrechts ein den wirklichen Bedürfnissen des modernen sozialen Lebens Genüge leistendes und den […] die schöpferische Neubildung beherrschenden Rechtsanschauungen entsprechendes Recht weder geschaffen hat noch jemals schaffen kann, sondern immer nur als ein künstliches und unzureichendes Surrogat erscheint“.270 Dementsprechend müsse der Rechtsnormcharakter des Tarifvertrags in den Vordergrund treten. „Insoweit, als er Normen erzeugt“, sei der Tarifvertrag „eben nicht mehr Vertrag, sondern Rechtsetzungsakt.“271 Die Rechtsetzungsbefugnis der Verbände folgerte Gierke aus der Satzungsautonomie der durch Gesetzgebungsakt dazu befugten ­ Gemeinschaft.272 270  Gierke,

ArchSozWiss 42 (1916/17), 815 (819). ArchSozWiss 42 (1916/17), 815 (821). 272  Gierke, ArchSozWiss 42 (1916/17), 815 (821 f.); ders., in: FS Brunner, 1914, S. 37 (67). 271  Gierke,



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie101

Damit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände tarifliche Rechtsnormen schaffen konnten, mussten nach seiner Auffassung zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen musste der Staat die Gemeinschaften als Träger einer Autonomie anerkennen.273 Dabei handelte es sich letztlich um eine durch Gesetz delegierte Satzungsbefugnis.274 Als Vorbild nannte Gierke die Regelungen über den Gesamtarbeitsvertrag im Schweizerischen Obligationenrecht von 1911.275 Die tatsächliche Tarifvertragsentwicklung in Deutschland habe eine derartige gesetzliche Ermächtigung bereits in weiten Teilen antizipiert, da „auch ohne formelle Sanktion die Tarifverträge schon heute in erheblichem Maße die Funktion der Eingliederung des gewerblichen Arbeitsvertrages in autonomisches Gemeinschaftsrecht“ erfüllten.276 Zum anderen war nach Auffassung Gierkes erforderlich, dass die staatlich ermächtigte Gemeinschaft in Ausübung ihrer Satzungsautonomie von ihrer Rechtsetzungsbefugnis Gebrauch macht. Das konnte insbesondere durch Abschluss eines Tarifvertrags geschehen.277 Waren diese Voraussetzungen erfüllt, sollten die Rechtsnormen als objektives Recht unmittelbar und zwingend gegenüber den Angehörigen der Gemeinschaft wirken.278 Letztlich sind die Unterschiede zwischen den Tarifvertragsmodellen von Sinzheimer und Gierke jedoch gering. Gierke teilte insbesondere die These von der Notwendigkeit einer sozialen Zwangsordnung und Unterordnung des Einzelnen unter das Kollektivinteresse.279 Das Privatrecht habe die Aufgabe, „den Schwachen gegen den Starken, das Wohl der Gesamtheit gegen die Selbstsucht der Einzelnen zu schützen“.280 Unterschiede gab es zwischen den beiden Protagonisten lediglich hinsichtlich der Qualifikation des Tarifvertrags. Während Sinzheimer die von den Koalitionen in Ausübung ihrer Vertragsautonomie geschaffenen Tarifnormen dem öffentlichen

273  Gierke, ArchSozWiss 42 (1916/17), 815 (822); ders., Deutsches Privatrecht, 3. Band, 1917, S. 605. 274  Vgl. Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland, 1995, S. 279. 275  Vgl. Gierke, ArchSozWiss 42 (1916/17), 815 (832); ders., Deutsches Privatrecht, 3. Band, 1917, S. 605. 276  Gierke, in: FS Brunner, 1914, S. 37 (67 f.); ähnlich ders., ArchSozWiss 42 (1916/17), 815 (819); dazu Picker, ZFA 2009, 215 (241 f.). 277  Vgl. Gierke, ArchSozWiss 42 (1916/17), 815 (822 f.). 278  Vgl. Gierke, Deutsches Privatrecht, 3. Band, 1917, S. 605; ders., ArchSozWiss 42 (1916/17), 815 (832). 279  Gierke, ArchSozWiss 42 (1916/17), 815 (820). 280  Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889, S. 23.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Recht zuordnete,281 sah Gierke im Tarifvertrag einen rein privatrechtlichen Vertrag, bei dem auch die Tarifnormen als privates, durch zivilrechtlichen Rechtsetzungsakt des Verbands entstehendes Verbandsrecht zu qualifizieren seien. Die Mitwirkung des Staates beschränkte sich nach seiner Auffassung darauf, den Verband mit Satzungsautonomie auszustatten.282

3.1.3  Die Kodifikation des Tarifvertrags in der TVVO Den ersten deutschsprachigen Entwurf eines Tarifvertragsgesetzes legte Philipp Lotmar gemeinsam mit dem Präsidenten des schweizerischen Kassationsgerichts Georg Sulzer im Auftrag des „Centralkomitees des Schweizerischen Grütlivereins“ bereits am 2. Januar 1902 vor.283 Im Jahr 1908 wurden drei Entwürfe für ein Tarifvertragsgesetz vorgestellt:284 Der erste stammte von dem Jenaer Rechtshistoriker und Staatsrechtler Eduard Rosenthal,285 der zweite von dem Vorsitzenden Richter am Berliner Gewerbegericht Paul Wölbling286 und der dritte von Robert Schmidt, Mitglied der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands und später Vizekanzler unter Gustav Stresemann.287 Diese zeitliche Koinzidenz war kein Zufall, denn im September 1908 widmete sich der 29. Deutsche Juristentag in Karlsruhe unter Vorsitz des Berliner Rechtsprofessors Heinrich Brunner eingehend dem Tarifvertragsrecht.288 Nach intensiver Diskussion plädierte der Juristentag einstimmig für eine Reform des gewerblichen Koalitionsrechts mitsamt Beseitigung der Hindernisse für den Erwerb der Rechts­ fähigkeit sowie für eine gesetzliche Regelung des Tarifvertragsrechts.289 Auch die Gesellschaft für Soziale Reform unter Vorsitz des früheren Preußischen Staatsministers Hans Herrmann von Berlepsch widmete sich in ihrer 6. Hauptversammlung am 21. November 1913 dem Tarifvertragsrecht. Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 21. Gierke, ArchSozWiss 42 (1916/17), 815 (821). 283  Lotmar/Sulzer, SozPrax 11 (1902), 349; dazu Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland, S. 259 f., 268 f.; Rudischhauser, Geregelte Verhältnisse, 2017, S. 624. 284  Vgl. dazu Neuhaus, Arbeitskämpfe, Ärztestreiks, Sozialreformer, 1986, S. 101 ff. 285  Rosenthal, in: Festgabe Laband, 1908, S. 137 (147 ff.). 286  Wölbling, SozPrax 18 (1908), 166. 287  Schmidt, SMH 12 (1908), 492 (495 ff.). 288  Vgl. dazu Dersch, NZfA 1921, 245 (259); Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 62 f.; Rudischhauser, Geregelte Verhältnisse, 2017, S. 627 ff. 289  Der Beschluss ist abgedruckt bei Olshausen, Der deutsche Juristentag, 1910, S. 57 (164); vgl. auch Dersch, NZfA 1921, 245 (259). 281  Vgl. 282  Vgl.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie103

Den Vortrag über „Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags (Haftung – Abdingbarkeit)“ hielt Sinzheimer.290 Er nutzte die Gelegenheit, um noch einmal die Defizite des geltenden Rechts darzustellen und nachdrücklich für eine gesetzliche Regelung des Arbeitstarifvertrags zu werben.291 Seine Kritik mündete schließlich in den bereits genannten Entwurf eines „Arbeitstarifgesetzes“ von 1915/16.292 Der Gesetzgeber blieb indes zunächst untätig. Zwar gab es im Reichstag zwischen 1905 und 1910 mehrere Anträge aus den Reihen der Fraktionen von Zentrum und Nationalliberalen, von der Reichsregierung die Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs zur Absicherung und Ausgestaltung von Tarifgemeinschaften und Tarifverträgen,293 den Ausbau des Koalitionsrechts der Arbeiter gem. § 152 GewO 1869,294 die Nichtanwendung des § 153 GewO 1869 auf Tarifverträge,295 eine Regelung der privat- und öffentlich-rechtlichen Verhältnisse der Berufsvereine auf freiheitlicher Grundlage296 und sogar eine Art Tariftreuegesetz297 forderten. Aus den Reihen der Sozialdemokraten waren demgegenüber keine dezidierten Forderungen nach einem Tarifvertragsgesetz zu verzeichnen. Das Misstrauen gegenüber Gesetzgebung und Rechtsprechung war so stark, dass man die Entwicklung des Tarifwesens ganz den – seit dem Fall des Sozialistengesetzes erstarkten – Koalitionen selbst überlassen wollte.298 290  Abgedruckt in: Verhandlungen der Gesellschaft für Soziale Reform, 1914, S. 18; zur Vorbereitung auf die Tagung ferner Sinzheimer, Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags, 1913. 291  Vgl. Sinzheimer, in: Verhandlungen der Gesellschaft für Soziale Reform, 1914, S. 18 (23, 52). 292  Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916. 293  Vgl. den Antrag des Abg. v. Hompesch u. a. (Zentrum) v. 30.11.1905, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 3. Anlageband, 1906, Nr. 74; Antrag des Abg. v. Hompesch u. a. (Zentrum) v. 19.2.1907, Verhandlungen des Reichstages, Band 239, 1907, Nr. 74; Antrag des Abg. Junck u. a. (Nationalliberale) v. 15.2.1908, Verhandlungen des Reichstages, Band 246, 1908, Nr. 676; Antrag des Abg. v. Hertling u. a. (Zentrum) v. 11.2.1910, Verhandlungen des Reichstages, Band 273, 1911, Nr. 258. 294  Antrag des Abg. v. Hompesch u. a. (Zentrum) v. 19.2.1907, Verhandlungen des Reichstages, Band 239, 1907, Nr. 74. 295  Antrag des Abg. v. Hertling u. a. (Zentrum) v. 11.2.1910, Verhandlungen des Reichstages, Band 273, 1911, Nr. 258. 296  Antrag des Abg. v. Hompesch u. a. (Zentrum) v. 19.2.1907, Verhandlungen des Reichstages, Band 239, 1907, Nr. 74. 297  Antrag des Abg. v. Hertling u. a. (Zentrum) v. 11.2.1910, Verhandlungen des Reichstages, Band 273, 1911, Nr. 258. 298  Vgl. die Stellungnahme des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Robert Schmidt auf der 6. Hauptversammlung der Gesellschaft für Soziale Reform, abgedruckt in: Verhandlungen der Gesellschaft für Soziale Reform, 1914, S. 97 (99 ff.).

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Nachdem das Gesetz über den Absatz von Kalisalzen vom 25. Mai 1910299 bei der Berechnung der sog. Beteiligungsziffer in § 16 eine Privilegierung von Arbeitgebern enthielt, die eine Kollektivvereinbarung mit der „Mehrheit der beteiligten Arbeiter“ abgeschlossen hatten,300 wurde der Begriff des Tarifvertrags erstmals im Hausarbeitsgesetz vom 20. Dezember 1911301 verwendet. Nach § 18 konnte der Bundesrat Fachausschüsse errichten, die gem. § 21 paritätisch mit Vertretern der Gewerbetreibenden sowie der Hausarbeiter besetzt waren. Die Fachausschüsse hatten gem. § 19 Ziff. 4 und 5 u. a. die Aufgabe, „Vorschläge für die Vereinbarung angemessener Entgelte zu machen“ und „den Abschluß von Lohnabkommen oder Tarifverträgen zu fördern“. Weiterhin fehlten jedoch Regelungen zum Zustandekommen, zum möglichen Inhalt und zu den Wirkungen des Tarifvertrags. So verzichtete der Gesetzgeber bewusst darauf, die zwingende Wirkung des Tarifvertrags zu kodifizieren.302 Das rechtswissenschaftliche Schrifttum forderte zwar ganz überwiegend eine gesetzliche Regelung des Tarifvertragsrechts. Inhaltlich blieb man allerdings ebenfalls äußerst zurückhaltend und plädierte dafür, lediglich die bisherige Tarifpraxis gesetzlich zu fixieren und die „Konstruktionsfrage“ zu lösen:303 „Das, was heute bereits anerkannter Rechtswille fast aller tarifvertragsschließenden Parteien ist, soll zur allgemeinen Tarifrechtsnorm erhoben und entgegenstehende Engherzigkeiten, Hemmnisse oder Mängel unseres geltenden Vertrags-, Vereins- und Koalitionsrechts müssen beseitigt oder im Hinblick auf die Tarifverträge wenigstens ausgeschaltet werden. Nicht schöpferisches Gesetzesrecht, das als ‚konstitutives Prinzip‘ in die Tarifvertragsentwicklung einzugreifen bestimmt ist, ist zu schaffen, sondern das bestehende Gesetzesrecht ist dem Eigenrecht, das die Tarifver299  RGBl.1910, S. 775; zur Kartellwirkung dieses Gesetzes vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band IV, 1969, S. 1123. 300  Das Gesetz wird daher verbreitet als erste gesetzliche Privilegierung des Tarifvertrags angesehen, vgl. Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 58; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002, S.  11 f.; Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Auflage, 1932, S. 17. Das erscheint zweifelhaft, da das Gesetz die Koalitionen als vertragsschließende Verbände negierte und auch den Begriff „Tarifvertrag“ nicht verwendete; vgl. auch Sinzheimer, GewKfmG 15 (1910), 411 (416). 301  RGBl. 1911, S. 976; dazu Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 58; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002, S. 12; Picker, ZFA 1986, 199 (296). 302  Vgl. dazu die ablehnende Haltung des zuständigen Staatssekretärs des Innern Delbrück, Verhandlungen des Reichstages, Band 259, 1910, S. 1311 (1312 f.). 303  Vgl. stellvertretend Zimmermann, GewKfmG 15 (1910), 418 (418 f.); Lotmar, DJZ 1908, 902 (908); Gierke, ArchSozWiss 42 (1916/17), 815 (827); Sinzheimer, Arbeits-Tarifverträge, 1908, S. 30 (31, 39).



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie105

tragsentwicklung bereits aus sich herausgeboren hat, als dienendes Gestell anzupassen.“304 Nach überwiegender Auffassung sollte der Gesetzgeber sich letztlich darauf beschränken, den Tarifvertragsschluss durch die Koalitionen im eigenen Namen zu ermöglichen sowie die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags in den erfassten Arbeitsverhältnissen anzuordnen.305 Daneben gab es eine ganze Reihe von Fragen, die inhaltlich kontrovers diskutiert wurden und die einer zeitnahen und umfassenden gesetzlichen Regelung des Tarifrechts entgegenstanden. Dazu zählte vor allem die Haftung der Tarifvertragsparteien im Fall des Tarifbruchs, in der die „Grundfrage allen Tarifgesetzes“ erblickt wurde,306 darüber hinaus aber auch die Gesamtheit der schuldrechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen den Tarifvertragsparteien wie Friedens-, Durchführungs- und Überwachungspflichten. Dies alles führte dazu, dass es im Kaiserreich nicht mehr zu einer Kodifikation des Tarifvertragsrechts kam und es noch bis Ende 1918 dauern sollte, bis mit der TVVO das erste deutsche Gesetz zur Regelung von Tarifverträgen in Kraft trat. Mit der TVVO, deren Entwürfe vom Reichsarbeitsamt unter maßgeblicher Beteiligung des Staatssekretärs Gustav Bauer und des Unterstaatssekretärs Johann Giesberts ausgearbeitet worden waren,307 schuf der Rat der Volksbeauftragten erstmals eine positivrechtliche Grundlage des Tarifvertragsrechts in Deutschland. Die Verordnung selbst beschränkte sich ebenfalls auf eine Lösung der drängendsten tarifrechtlichen Probleme: der Ermöglichung des Tarifabschlusses durch die Verbände selbst, die Begründung einer normativen Wirkung des Tarifvertrags sowie Regelungen zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. 3.1.3.1  Überblick über die TVVO In ihrer ursprünglichen Fassung vom 23. Dezember 1918 umfasste die TVVO 32 Paragraphen und war – neben den Schlussbestimmungen – in drei Abschnitte gegliedert: Der erste Abschnitt über den Tarifvertrag (§§ 1–6 TVVO) umfasste gerade einmal sechs Paragraphen. Mit nur einer einzigen Vorschrift in § 1 TVVO beseitigte der Gesetzgeber die drängendsten praktischen Probleme des Tarifvertragsrechts. Die Anerkennung der 304  Zimmermann, 305  Vgl.

GewKfmG 15 (1910), 418 (419). zu den Einzelheiten Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015,

S.  114 ff. 306  Naumann, Verhandlungen des Reichstages, Band 231, 1908, S. 3731 (3733). 307  Vgl. dazu Hainke, Vorgeschichte und Entstehung der Tarifvertragsverordnung, 1987, S.  100 ff.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Verbandstheorie sowie der unmittelbaren und zwingenden Wirkung von Tarifnormen bedeutete inhaltlich einen „völligen Umsturz des bisherigen Rechtszustandes“.308 Die restlichen fünf Paragraphen betrafen die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen (§§ 2–5 TVVO). Durch die Verordnung vom 31. Mai 1920309 wurden mit den §§ 6a und 6b TVVO zwei verfahrensrechtliche Paragraphen zur Publizität von Tarifverträgen ergänzt. Am 23. Januar 1923 wurde § 5 Abs. 2 Satz 2 TVVO geändert und ein neuer § 6 Abs. 2 TVVO eingefügt.310 Auch diese Änderungen betrafen die Publizität von Tarifverträgen. Der zweite Abschnitt der Verordnung (§§ 7–14 TVVO) enthielt Bestimmungen über Arbeiter- und Angestelltenausschüsse, die über das Hilfsdienstgesetz von 1916 hinausgingen. Die Regelungen wurden mit Inkrafttreten des Betriebsrätegesetzes am 4. Februar 1920311 aufgehoben.312 Der dritte Abschnitt (§§ 15–30 TVVO) sah schließlich sehr detaillierte Vor­ gaben zur Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vor. Formal galt nach der TVVO ein Schlichtungszwang, den die Parteien in der Praxis jedoch durch Einleitung eines pro-forma-Einigungsverfahrens nach dem Gewerbe- bzw. Kaufmannsgerichtsgesetz ohne Weiteres umgehen konnten.313 Im Ergebnis war das Schlichtungsverfahren nach der TVVO 1918 daher als freiwillige Schlichtung ausgestaltet, durch die die Autonomie der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen nicht beeinträchtigt wurde. Dabei blieb es jedoch nur kurz. Bereits die Demobilmachungsverordnungen vom Januar 1919314 ermöglichten erstmals eine Zwangsschlichtung in Individualstreitigkeiten. Weitere Verordnungen bauten das System der Zwangsschlichtung aus, bis schließlich die Verordnung über das Schlichtungswesen vom 30. Oktober 1923315 eine umfassende staatliche Regelung von Lohn- und Arbeitsbedingungen ermöglichte.316 Nach Art. III § 3 Abs. 1 Nr. 1 der 308  Junck,

JW 1919, 75. vom 31.5.1920, betreffend Änderung des Abschnitts I der Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten, v. 23.12.1918, RGBl. 1918, S. 1128. 310  Durch das Gesetz über die Erklärung der allgemeinen Verbindlichkeit von Tarifverträgen v. 23.1.1923, RGBl. 1923, S. 67. 311  RGBl. 1920, S. 147. 312  § 104 Abs. 1 BRG. 313  Vgl. Raupach, Die Schlichtung von kollektiven Arbeitsstreitigkeiten und ihre Probleme, 1964, S. 48. 314  Verordnung über die Einstellung, Entlassung und Entlohnung gewerblicher Arbeiter während der Zeit der wirtschaftlichen Demobilmachung v. 4.1.1919, RGBl. 1919, S. 8, und v. 24.1.1919, RGBl. 1919, S. 100. 315  RGBl. 1923 I, S. 1043. 316  Vgl. dazu näher Höpfner, ZFA 2018, 254 (259 ff.). 309  Verordnung



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie107

Schlichtungsverordnung wurden die §§ 15–30 TVVO mit Wirkung zum 1. Januar 1924 aufgehoben. Die „Rest-Verordnung“ wurde schließlich am 28. Februar 1928 mit marginalen inhaltlichen Änderungen als „Tarifvertragsverordnung“ mit Wirkung zum 1. März 1928 neu bekanntgemacht.317 3.1.3.2  Vom Provisorium zum Dauerzustand Nach dem ursprünglichen Plan der Verfasser war die TVVO nur ein Provisorium, mit dem die notwendige Zeit bis zur Ausarbeitung eines umfassenden Arbeitstarifgesetzes überbrückt werden sollte. Recht bald nach dem Inkrafttreten der Verordnung, schon ab 1921,318 wurden mehrere Entwürfe eines Arbeitstarifgesetzes vorgelegt, und zwar sowohl von dem von der Reichsregierung eingesetzten Arbeitsausschuss für ein einheitliches Arbeitsrecht unter Mitwirkung des Tarifrechtsausschusses der Gesellschaft für Soziale Reform319 als auch von privater Seite.320 Gleichwohl zogen sich die Vorarbeiten an dem Gesetzesentwurf über Jahre hin. Nachdem die Arbeiten an dem Entwurf vier Jahre ausgesetzt waren, nahm man sie 1928 wieder auf, strebte nun allerdings eine Angleichung des deutschen und des österreichischen Tarifvertragsrechts an,321 was zu weiteren Verzögerungen führte. Die Arbeiten, an denen maßgeblich die Deutsch-Österreichische Arbeitsgemeinschaft (DÖAG) und die Österreichisch-Deutsche Arbeitsgemeinschaft (ÖDAG) unter Führung von Hans Carl Nipperdey und Julius Georg Lautner beteiligt waren,322 konnten bis zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten nicht zum Abschluss gebracht werden.323 Tatsächlich blieb die TVVO daher die einzige gesetzliche324 Regelung des Tarifvertrags in Deutschland, bis sie durch § 65 Nr. 6 des Gesetzes zur Ordnung 317  Durch das Gesetz zur Abänderung der Tarifvertragsverordnung v. 28.2.1928, RGBl. 1928 I, S. 46. 318  Vgl. zu den verschiedenen Entwürfen Goldschmidt, NZfA 1930, 29 (30 f.); Hainke, Vorgeschichte und Entstehung der Tarifvertragsverordnung, 1987, S. 121 ff. 319  Abgedruckt in: RABl. 1921, S. 491. 320  Vgl. etwa den Entwurf von Nipperdey, Beiträge zum Tarifrecht, 1924, S. 117 ff., 186 ff. 321  Vgl. Goldschmidt, NZfA 1930, 29 (30 ff.). 322  Vgl. dazu Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 81; Goldschmidt, NZfA 1930, 29 (31 f.); Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 125 f. 323  Vgl. die 1929 publizierten Zwischenergebnisse bei Lautner, Probleme der Tarifrechtsreform, 1929; Lautner/Nipperdey, Gutachten über die Möglichkeit eines gemeinsamen deutschen und österreichischen Tarifvertragsgesetzes, 1929. 324  Gem. § 32 TVVO 1918 bzw. § 10 TVVO 1928 hatte die Verordnung Gesetzeskraft; vgl. dazu Junck, JW 1919, 75 (76).

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Quelle: Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln.

Abbildung 13: Hans Carl Nipperdey

der nationalen Arbeit (AOG)325 am 20. Januar 1934 außer Kraft gesetzt wurde. 3.1.3.3  Die zentralen Innovationen der TVVO Die tarifrechtlichen Regelungen der TVVO müssen an dieser Stelle nicht im Einzelnen dargestellt werden.326 Mit Blick auf die Frage der Legitimation der Tarifautonomie, genügt es, die grundsätzlichen Weichenstellungen durch die Verordnung im Folgenden kurz aufzuzeigen. 3.1.3.3.1  Entscheidung für die Verbandstheorie Die erste grundlegende Entscheidung ist der Vertragsschluss durch die Verbände selbst. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 TVVO können Tarifverträge „zwischen Vereinigungen von Arbeitnehmern und einzelnen Arbeitgebern oder 325  RGBl. 326  Vgl.

1934 I, S. 45. dazu Höpfner, ZFA 2018, 254.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie109

Vereinigungen von Arbeitgebern“ vereinbart werden. Die Verfasser der TVVO haben sich damit für die vor allem von Sinzheimer327 vertretene Verbandstheorie entschieden und diese auf eine gesetzliche Grundlage gestellt.328 Zwar ließ der Wortlaut des § 1 Abs. 1 Satz 1 TVVO auch eine Auslegung zu, wonach – entsprechend der zuvor teilweise vertretenen Kombinationstheorie329 – neben den Verbänden zusätzlich die einzelnen Mitglieder Partei des Tarifvertrags werden sollten.330 Das entsprach aber weder der Systematik der TVVO noch dem Willen der Normsetzer. Diese knüpften vielmehr an die Unterteilung des Kreises der „Tarifbeteiligten“ in „Vertragsparteien“ und „Vertragsmitglieder“ im Entwurf eines Arbeitstarifgesetzes von Sinzheimer an.331 Dieselbe Systematik lag auch der TVVO zugrunde: Vertragsparteien konnten gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 TVVO grundsätzlich, d. h. mit Ausnahme des Arbeitgebers beim Firmentarifvertrag, allein die Verbände sein. Als Vertragsmitglieder der Tarifgeltung unterworfen332 waren dagegen nach § 1 Abs. 2 TVVO die Mitglieder der vertragsschließenden Vereinigungen sowie der einzelne Arbeitgeber als Partei eines Firmentarifvertrags. Der insoweit zu weit gefasste Wortlaut des § 1 Abs. 2 TVVO333 war daher in Übereinstimmung mit der Systematik des Gesetzes sowie zur Vermeidung eines Widerspruchs zu § 1 Abs. 1 Satz 1 TVVO tele­ologisch zu reduzieren.334 Unter Geltung der TVVO bestand kein Anlass mehr, auf die Vertretungstheorie und ihre Konstruktion der Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis zurückzugreifen. Mit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung am 11. August 1919 verlor schließlich auch das gegen die Verbandstheorie bis dahin mit Recht vorgebrachte Argument der fehlenden Durchsetzbarkeit 327  Besonders prägnant Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 1. Teil, 1907, S. 61 ff., 81 ff.; zuvor bereits Hüglin, Der Tarifvertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, 1906, S. 91; vgl. aber auch Sinzheimer, GewKfmG 10 (1905), 375 (378); Schall, JherJb 52 (1907), 1 (125 ff., 140): Vertragsschluss mit den Mitgliedern des Vereins in ihrer Verbundenheit als Gesamthandsgemeinschaft. 328  Zweifelnd daher Hueck, Das Recht des Tarifvertrages, S. 65. 329  Vgl. zu dieser Lehre Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 121 mit weiteren Nachweisen. 330  Hueck, Das Recht des Tarifvertrages, 1920, S. 59 ff., 65; Nipperdey, Beiträge zum Tarifrecht, 1924, S. 114. 331  Vgl. Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 50 ff. 332  So Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 50 f.; ders., in: Verhandlungen der Gesellschaft für Soziale Reform, 1914, S. 18 (37). 333  Vgl. dazu Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 209 f. 334  So Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, 3.–5. Auflage, 1932, S. 181.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

des Tarifvertrags seine Grundlage.335 Während im 19. Jahrhundert vor allem die negative Koalitionsfreiheit geschützt war,336 war nun erstmals die positive Koalitionsfreiheit umfassend gewährleistet, und Art. 159 WRV ermöglichte es den Koalitionen, die Durchführung des Tarifvertrags gegenüber ihren Mitgliedern auf dem Rechtsweg durchzusetzen. Ein Blick in das zeitgenössische Schrifttum bestätigt die Einschätzung Zöllners, wonach man der Vertretungstheorie schon „in der tarifrechtlichen Lehre der zwanziger Jahre […] so überdrüssig [war], daß sie ganz in den Hintergrund getreten war“.337 Dementsprechend blieben auch alle späteren Entwürfe für ein die TVVO ablösendes, umfassendes Arbeitstarifgesetz zwischen 1921 und 1929 auf dem Boden der Verbandstheorie.338 Gleiches gilt für das TVG, das in § 2 Abs. 1 bezüglich der Tarifvertragsparteien nahtlos an die TVVO anknüpft, sowie für alle Vorentwürfe zum TVG.339 Im Rückblick lässt sich also festhalten, dass die Vertretungslehre mit Inkrafttreten der TVVO endgültig passé war. Erst in jüngerer Zeit wird vereinzelt wieder versucht, nicht nur die tarifliche Normsetzungsbefugnis der Koalitionen, sondern auch die Rechtsnormwirkung des Tarifvertrags im Arbeitsverhältnis unter Rekurs auf Lotmar individualautonom-mandatarisch zu rekonstruieren.340 Dabei wird ignoriert, dass Lotmar seine Vertretungstheorie lediglich als eine „Hilfskonstruktion“ entwickelt hat, weil die Rechtsordnung, wie oben dargelegt,341 zur Jahrhundertwende keine Grundlage für eine von den Verbänden getragene Tarifnormwirkung zur Verfügung gestellt hatte.342 3.1.3.3.2  Unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags Bahnbrechend war aber – neben der Entscheidung für die Verbandstheorie – vor allem, dass die TVVO nun erstmals eine positivrechtliche 335  Vgl. Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 45; Ramm, Die Parteien des Tarifvertrages, 1961, S. 48. 336  Vgl. oben 3.1.1.2. 337  Zöllner, Die Rechtsnatur der Tarifnormen nach deutschem Recht, 1966, S. 9. 338  Vgl. etwa die Begründung zum Entwurf eines Arbeitstarifgesetzes des Arbeitsausschusses für ein einheitliches Arbeitsrecht, RABl. 1921, S. 491 (496 f.); § 1 des Entwurfs von Nipperdey, Beiträge zum Tarifrecht, 1924, S. 114, 117; ferner Oetker, Die Arbeiten zur deutsch-österreichischen Tarifrechtsangleichung, 1998, S. 76 ff. (91). 339  Vgl. dazu unten 3.2.2 und 3.2.3.2. 340  Vgl. dazu unten 3.3.3; ferner Adomeit, RdA 1967, 297 (302); ders., Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, 1969, S. 141, 155 f. 341  Vgl. oben 3.1.2.3.3. 342  Vgl. de lege ferenda Lotmar/Sulzer, SozPrax 18 (1902), 349.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie111

Grundlage für die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags im Arbeitsverhältnis bot.343 Im Gegensatz zum TVG kannte die TVVO noch nicht den Begriff der „Tarifnorm“, auch wenn man in Rechtsprechung und Literatur bereits zu Weimarer Zeiten allgemein von einem „normativen Teil“ des Tarifvertrags, von „Tarifnormen“ oder von „Rechtsnormen“ des Tarifvertrags gesprochen hat.344 Die TVVO verwendete auch nicht die Begriffe der „unmittelbaren“ und „zwingenden“ Wirkung. Wenngleich also die „normative“ Wirkung des Tarifvertrags terminologisch nur unzureichend zum Ausdruck kam, war sie doch der Sache nach unstreitig. Gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 TVVO waren Arbeitsverträge zwischen den am Tarifvertrag beteiligten Personen im Sinne des § 1 Abs. 2 TVVO „insoweit unwirksam, als sie von der tariflichen Regelung abweichen“. Gem. § 1 Abs. 1 Satz 3 TVVO traten die entsprechenden Tarifbestimmungen an die Stelle unwirksamer Vereinbarungen. § 1 Abs. 1 Satz 1 TVVO ordnete somit im Ergebnis die zwingende Wirkung des Tarifvertrags für die Arbeitsverhältnisse zwischen den tarifbeteiligten Arbeitgebern und Arbeitnehmern an. § 1 Abs. 1 Satz 3 TVVO kombinierte die Unabdingbarkeit mit der ergänzenden Wirkung des Tarifvertrags.345 Abweichend von § 134 BGB war der tarifwidrige Arbeitsvertrag wirksam, wobei anstelle der tarifwidrigen Vereinbarungen der Inhalt des Tarifvertrags galt. Wilhelm Herschel sprach insoweit zutreffend von einer „korrektorischen kollektiven Gestaltung des Arbeitsverhältnisses“ durch den Tarifvertrag.346 Nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 TVVO wurde dem Tarifvertrag eine unmittelbare Wirkung lediglich für den Fall eines Widerspruchs zwischen dem Arbeits- und dem Tarifvertrag zugesprochen. Die Situation, dass die Arbeitsvertragsparteien sich über einen tariflich geregelten Sachverhalt nicht verständigt haben, d. h. weder auf den Tarifvertrag verweisen oder dessen Inhalt wiederholen noch eine tarifwidrige Abrede treffen, wurde vom Wortlaut des § 1 Abs. 1 TVVO nicht ausdrücklich erfasst.347 Gleichwohl ging man allgemein und nicht nur im Kollisionsfall von einer gene343  Vgl. dazu auch Lobinger, in: Baldus/Kronke/Mager (Hrsg.), Heidelberger Thesen zu Recht und Gerechtigkeit, 2013, S. 179 (180); Waltermann, in: FS Söllner, 2000, S. 1251 (1252). 344  Vgl. RG v. 2.7.1926 – VI 132/26, RGZ 114, 194 (195); Herschel, NZfA 1924, 339 (340 ff.); Lehmann, Tarifvertrag und Nachwirkung, 1927, S. 20 ff.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, 3.–5. Auflage, 1932, S. 234 f.; Oertmann, SchliW 6 (1924), 181. 345  Vgl. zu dieser oben 3.1.2.2.3.1. 346  Herschel, NZfA 1924, 339 (341). 347  Zutreffend erkannt von Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, ­3.–5. Auflage, 1932, S. 231 f., 234.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

rellen unmittelbaren Wirkung des Tarifvertrags für die Tarifbeteiligten aus.348 Zur Begründung dieser generellen unmittelbaren Wirkung führte man einen Erst-recht-Schluss an: Wenn der Tarifvertrag sich gegenüber einer entgegenstehenden Vereinbarung durchsetze, müsse er erst recht gelten, wenn die Arbeitsvertragsparteien überhaupt keine Regelungen getroffen hätten.349 Die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags nach § 1 Abs. 1 TVVO war – im Gegensatz zu Lotmars Vertretungsmodell – nicht auf Arbeitsverhältnisse beschränkt, die nach Abschluss des Tarifvertrags auf eine neue vertragliche Grundlage gestellt wurden, sondern erfasste alle bestehenden Arbeitsverhältnisse der Tarifbeteiligten.350 Ein Mitwirkungsakt der Arbeitsvertragsparteien war zur Tarifgeltung nicht erforderlich. Auch wenn der Begriff der Tarifnormen damals bereits geläufig war, herrschte über die dogmatische Konstruktion der in § 1 Abs. 1 TVVO genannten Rechtswirkungen keine Einigkeit. So wurde insbesondere der Charakter des Tarifvertrags als objektive Rechtsquelle von nicht wenigen abgelehnt.351 Die in § 1 Abs. 1 TVVO genannten Rechtswirkungen bedeuteten allerdings nicht zwingend, dass der Tarifvertrag hierdurch den Charakter einer objektiven Rechtsquelle erhalten und wie diese gesetzesgleich auf das Arbeitsverhältnis einwirken sollte.352 Nach der überwiegenden Auffassung in der Literatur,353 der sich auch das Reichsgericht354 und das Reichsarbeits348  Vgl. nur Hueck, Das Recht des Tarifvertrages, 1920, S. 124; ders., NZfA 1926, 151 (153); Kahn-Freund, Umfang der normativen Wirkung, 1928, S. 5 f.; Molitor, NZfA 1923, 41 (43); Sitzler, GewKfmG 24 (1919), 95 (96); Nipperdey, Beiträge zum Tarifrecht, 1924, S. 1. 349  Vgl. Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, 3.–5. Auflage, 1932, S.  231 f. 350  Vgl. Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 234; Kaskel, NZfA 1924, 129; vgl. dazu auch Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 387. 351  Vgl. etwa Hueck, NZfA 1926, 151 (155); Stammler, Über die rechtlichen Folgen von Vertragsbruch und Ausstand nach Abschluß eines Tarifvertrages, 1920, S. 225 (229). 352  Sehr deutlich Hueck, NZfA 1926, 151 (155); den Rechtsquellencharakter des Tarifvertrags scharf ablehnend Stammler, Über die rechtlichen Folgen von Vertragsbruch und Ausstand nach Abschluß eines Tarifvertrages, 1920, S. 225 (229). 353  Hueck, NZfA 1926, 151 (155); Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 221, 239, 281; Kaskel, NZfA 1924, 129 (130); ders., Arbeitsrecht, 3. Auflage, 1928, S. 36, 38; Potthoff, Arbeitsrecht 12 (1925), 703 (706); Sitzler/Goldschmidt, Tarifvertragsrecht, 2. Auflage, 1929, S. 41. 354  RG v. 2.7.1926 – VI 132/26, RGZ 114, 194 (195).



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie113

gericht355 anschlossen, wurden die Tarifnormen zum Inhalt des Arbeitsvertrags356 oder galten zumindest als Inhalt des Arbeitsvertrags. Der Vorteil dieser sog. Transformationslehre war, dass man mit ihrer Hilfe zwanglos die Nachwirkung des Tarifvertrags nach dessen Beendigung konstruieren konnte.357 Mit Ablauf des Tarifvertrags endeten zwar dessen Rechtswirkungen, jedoch galten die Tarifnormen auf individualvertraglicher Ebene als Bestandteil des Arbeitsvertrags fort. Nicht der Tarifvertrag wirkte also nach, sondern der kollektivrechtlich geprägte Arbeitsvertrag galt fort.358 Die Gegenauffassung, deren Vertreter deutlich in der Minderheit waren,359 ging demgegenüber davon aus, dass die Tarifnormen, wie alle anderen Rechtsnormen auch, „gesetzesgleich“ von außen auf die erfassten Arbeitsverhältnisse einwirken, ohne jedoch unmittelbar deren Inhalt zu werden. Diese Ansicht machte also mit der Normwirkung der „Tarifnormen“ Ernst. Sie konnte sich jedoch unter Geltung der TVVO nicht durchsetzen. Erst nach der Zerschlagung des freiheitlichen Tarifvertragsrechts im Nationalsozialismus und der Ablösung von Tarifverträgen durch die nach § 32 Abs. 2 AOG von den Treuhändern der Arbeit hoheitlich zu erlassenen Tarifordnungen änderte das Reichsarbeitsgericht seine Rechtsprechung und vertrat fortan die Einwirkungslehre.360 Nachdem der Gesetzgeber des TVG mit § 4 Abs. 5 die Nachwirkung der Tarifnormen ausdrücklich angeordnet hat, hat sich die Einwirkungslehre als dogmatisches Erklärungsmodell der Tarifnormwirkung nach § 4 Abs. 1 TVG durchgesetzt.361

355  RAG v. 17.10.1928 – RAG 143/28, ARS 4, 177 (180 f.); RAG v. 27.9.1930 – RAG 162/30, ARS 10, 218 (221). 356  Hueck, NZfA 1926, 151 (155); Kaskel, NZfA 1924, 129 (130); ders., Arbeitsrecht, 3. Auflage, 1928, S. 36, 38; Potthoff, Arbeitsrecht 12 (1925), 703 (706); Sitzler/ Goldschmidt, Tarifvertragsrecht, 2. Auflage, 1929, S. 41; Hardt, NZfA 1925, 77 (79 f.); Vanselow, NZfA 1924, 331 (331 f., 338). 357  Vgl. nur Hueck, Das Recht des Tarifvertrages, 1920, S. 109; Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 221 f. 358  Herschel, ZFA 1976, 89 (94). 359  Herschel, NZfA 1924, 339 (340 ff.); Lehmann, Tarifvertrag und Nachwirkung, 1927, S.  20 ff.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, 3.–5. Auflage, 1932, S.  234 f.; Oertmann, SchliW 6 (1924), 181. 360  RAG v. 9.1.1937 – RAG 199/36, ARS 29, 3 (4); RAG v. 17.4.1937 – RAG 292/36, ARS 29, 380 (383); vgl. dazu Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 391, 393; Fischer, Nachwirkung von Tarifnormen, 2009, S. 21 ff. 361  Vgl. nur BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 867/06, NZA 2007, 1045 Rn. 24; BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 998/06, NZA 2008, 649 Rn. 42; BVerwG v. 6.6.1958 – VII CB 187.57, BVerwGE 7,

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

3.1.3.3.3  Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen war für die Verfasser der TVVO von so zentraler Bedeutung, dass sie diese trotz des provisorischen Charakters mit gleich fünf Vorschriften in die Verordnung aufnahmen und nicht bis zur Verabschiedung eines umfassenden Tarifvertragsgesetzes warten wollten. Voraussetzung für die Allgemeinverbindlicherklärung war nach § 2 Abs. 1 Satz 1 TVVO, dass der betreffende Tarifvertrag für die Gestaltung von Arbeitsbedingungen des Berufskreises im Tarifgebiet überwiegende Bedeutung erlangt hat. Das war der Fall, wenn die Mehrheit der Arbeitsverhältnisse im Geltungsbereich des Tarifvertrags tarifgebunden war, wobei auch die schuldrechtliche Inbezugnahme des Tarifvertrags berücksichtigt wurde.362 Gemäß § 3 Abs. 1 TVVO erfolgte die Allgemeinverbindlicherklärung nur auf Antrag. Antragsberechtigt war jede Tarifvertragspartei und darüber hinaus jede Vereinigung von Arbeitgebern oder Arbeitnehmern, deren Mitglieder durch die Allgemeinverbindlicherklärung betroffen sein würden. Rechtsfolge der Allgemeinverbindlicherklärung war nach § 2 Abs. 1 Satz 2 TVVO, dass der Tarifvertrag innerhalb seines räumlichen Geltungsbereichs auch für die Arbeitsverträge der nicht tarifbeteiligten Arbeitgeber und ­Arbeitnehmer galt. Eine lebhafte Kontroverse wurde um die Rechts­ natur dieser Geltungsanordnung geführt. Nach der „Gesetzestheorie“ sollten die Tarifnormen mit der Allgemeinverbindlicherklärung ihren rechts­ geschäft­lichen Geltungsgrund verlieren und fortan als öffentlich-rechtliche Rechtsverordnung weitergelten.363 Demgegenüber ging die auch vom Reichsarbeitsgericht vertretene „Vertragstheorie“ davon aus, dass der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag seinen rechtsgeschäftlichen Charakter beibehalte.364 Die Wirkung der Allgemeinverbindlicherklärung beschränkte sich nach dieser Ansicht darauf, die Geltung der Tarifnormen auf Arbeitsverhältnisse mit nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern und Arbeitge82 (85); Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 218; Fischer, Nachwirkung von Tarifnormen (§ 4 Abs. 5 TVG), 2009, S. 78 ff. 362  Vgl. Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 97. 363  Vgl. Baum, JW 1919, 68 (74); Hueck, Das Recht des Tarifvertrages, 1920, S.  136 ff.; ders., JherJb 73 (1923), S. 33 (105); Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S.  106 ff.; Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Auflage, 1928, S. 45; Sitzler, GewKfmG 24 (1919), 95 (101 f.). 364  Vgl. RAG v. 6.12.1930 – RAG 318/30, ARS 11, 273 (277  ff.); RAG v. 22.4.1931 – RAG 544/30, ARS 12, 183 (183 f.); Eberhard, JW 1920, 698 (699); Meissinger, NZfA 1921, 129 (130 ff.); ders., JW 1922, 324; Nipperdey, Beiträge zum Tarifrecht, 1924, S. 180; ders., in Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht 11/1, 3.–5. Auflage, 1932, S.  308 ff.; Wölbling, DJZ 1919, 299 (301).



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie115

bern zu erstrecken. Der Theorienstreit, der heute durch § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG zugunsten der Vertragstheorie entschieden ist,365 erlangte praktische Bedeutung, wenn der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag durch Kündigung oder Zeitablauf endete oder von den Tarifvertragsparteien geändert wurde. Nach der Vertragstheorie führte dies aufgrund der Akzessorietät der Allgemeinverbindlicherklärung zum Ende der Geltung der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifnormen in sämtlichen Arbeitsverhältnissen, während nach der Gesetzestheorie die Tarifgeltung unverändert blieb.366 Für die Möglichkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen hatte sich zuvor vor allem Sinzheimer stark gemacht, der nach einer verbreiteten Auffassung als „Erfinder“ dieses Rechtsinstituts gilt.367 Tatsächlich besteht über die Notwendigkeit, durch ein Tarifvertragsgesetz die rechtlichen Grundlagen für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zu schaffen, ein breiter Konsens in der Arbeitsrechtswissenschaft der ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts.368 Sinzheimer war noch nicht einmal der erste, der die Allgemeinverbindlicherklärung forderte. Bereits sechs Jahre zuvor war es Lotmar, der 1902 die Forderung an den Gesetzgeber erhoben hat, „den Tarifvertrag als für alle in den örtlichen und zeitlichen Geltungsbereich desselben fallenden Dienstverträge massgebend [zu] erklären – ohne Rücksicht auf die persönliche Unterwerfung ihrer Parteien – sobald der Tarifvertrag von Dreivierteln der Arbeitgeber und Dreivierteln der Arbeitnehmer geschlossen worden ist oder den Beitritt derselben erlangt hat“.369 Sinzheimer war allerdings derjenige, der die Allgemeinverbindlicherklärung am vehementesten forderte: Es entspreche dem „Expansionsdrange des Tarifvertrages, seine Bestimmungen allgemein mit den Mitteln des wirtschaftlichen Kampfes auf Outsiders zu übertra­gen“.370 365  Vgl. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (348 f.); Bogs, RdA 1956, 1 (4); Hueck, DB 1949, 431; Nipperdey, RdA 1949, 81 (88); Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, 2010, S.  12 f. 366  Vgl. nur Nipperdey, Beiträge zum Tarifrecht, 1924, S. 183; Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 107. 367  Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, 2010, S. 7; vgl. auch Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 199; Wonneberger, Die Funk­ tionen der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, 1992, S. 4. 368  Vgl. neben Lotmar und Sinzheimer etwa Köppe, Der Arbeitstarifvertrag, 1908, S. 98; Schall, JherJb 52 (1907), 1 (121 ff.); rückblickend Hueck, DB 1949, 431; Nipperdey, RdA 1949, 81 (88). 369  Lotmar, ZSR 21 (1902), 507. 370  Sinzheimer, Rechtsfragen des Arbeitstarifvertrags, 1913, S. 18; ähnlich ders., Begründung zum Entwurf eines Arbeitstarifgesetzes, RABl. 1921, S. 491 (493); ders., Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 2. Teil, 1908, S. 296.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Nachdem dieses Streben nach einer möglichst einheitlichen Regelung der Arbeitsbedingungen aller Arbeitnehmer des betreffenden Berufs innerhalb des tariflichen Geltungsbereichs371 zuvor nur durch freiwillige Unterwerfung der Außenseiter unter den Tarifvertrag erfüllt werden konnte, wollte man der Ausdehnungstendenz des Tarifvertrags nun auch durch ­öffentlich-rechtlichen Zwang zur Geltung verhelfen, ohne dabei jedoch zu einem echten Zwangskorporatismus zu gelangen.372 Während man sich zuvor noch auf eine – damals noch wenig umrissene – Ordnungsfunktion des Tarifvertrags berufen hatte, erblickte man das wesentliche Ziel des § 2 TVVO nun darin, die tarifangehörigen Arbeitnehmer durch die Erstreckung der Tarifgeltung auf Außenseiter vor einer „Schmutzkonkurrenz“ zu schützen.373 Den Schutz der „Insider“ vor den Außenseitern stellte auch das Reichsgericht in den Mittelpunkt: „Die Allgemeinverbindlicherklärung […] will verhindern, daß nicht organisierte Arbeiter durch deren Unterbietung die organisierten schädigen.“374 Daneben trat allerdings damals bereits ein zweiter Zweck, der heute die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG beherrscht: Mit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen sollte der „allgemeinen Gefahr unangemessener Lohn- und Arbeitsbedingungen“ der nicht tarifbeteiligten Arbeitnehmer entgegengesteuert werden.375 Die Allgemeinverbindlicherklärung stellte also zugleich einen Ersatz für eine umfassende staat­ liche Lohngesetzgebung dar, was sich in den 1920er und 1930er Jahren bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Schiedssprüchen im Rahmen der Zwangsschlichtung, die aufgrund der Gleichstellung des sog. Zwangstarifvertrags mit dem auf freiwilliger Willenseinigung beruhenden Tarifvertrag nach § 6 Abs. 3 SchliVO möglich war,376 und der Einbindung der Lohn­ politik in die staatliche Deflationspolitik in besonderer Weise zeigte.377 Mit Blick auf diese Praxis konnte man die Allgemeinverbindlicherklärung nach §§ 2 ff. TVVO somit als eine Mischung zwischen einem auf Freiwilligkeit Hueck, Das Recht des Tarifvertrages, 1920, S. 126. zum Kompromisscharakter der Allgemeinverbindlicherklärung Neumann, RdA 1951, 1 (4). 373  RAG v. 25.9.1929 – 154/29, ARS 7, 212 (217); RAG v. 19.2.1930 – 447/29, ARS 8, 488 (495); RAG v. 27.9.1930 – 103/30, ARS 10, 235 (240); Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 96 f.; Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Auflage, 1928, S. 45; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, 3.–5. Auflage, 1932, S. 304 ff.; vor Geltung der TVVO bereits Schall, JherJb 52 (1907), 1 (124). 374  RG v. 30.6.1925 – III 371/24, RGZ 111, 166 (175). 375  Vgl. nur Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 97, 109; Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Auflage, 1928, S. 45. 376  Vgl. dazu nur Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 97. 377  Vgl. dazu unten 3.4.2. 371  Vgl. 372  Vgl.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie117

beruhenden System der Tarifautonomie und einem System des Zwangskorporatismus charakterisieren.378 3.1.3.4 Bewertung Durch die TVVO ist es gelungen, programmatisch ganz im Sinne des unmittelbar zuvor abgeschlossenen Stinnes-Legien-Abkommens und Hand in Hand mit den Sozialpartnern die revolutionären Bestrebungen abzuwehren und noch vor Beginn der Arbeiten an der Weimarer Verfassung den Grundstein für eine im Kern freiheitliche Arbeitsverfassung zu legen. Dazu zählte insbesondere die Entscheidung für das Prinzip der beiderseitigen Tarifgebundenheit, das die Tarifgeltung im Grundsatz auf die Arbeitsverhältnisse zwischen Mitgliedern der tarifschließenden Verbände beschränkt und eine Erstreckung der Tarifnormgeltung auf Außenseiter durch Allgemeinverbindlicherklärung nur ausnahmsweise unter besonderen Voraussetzungen erlaubt. Durch das Prinzip der beiderseitigen Tarifgebundenheit unterscheidet sich das deutsche Tarifvertragsrecht bis heute von der in vielen anderen Staaten gebräuchlichen Erga-omnes-Wirkung von Tarifverträgen, die auf eine Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in der tarifschließenden Gewerkschaft als Voraussetzung der Tarifgeltung verzichtet.379 In der TVVO wurden entsprechende Überlegungen von Lotmar380 und Sinzheimer381 bewusst nicht aufgegriffen. Lässt man die dogmatischen Details beiseite und blickt allein auf die Legitimation der Tarifautonomie, ist besonders die grundsätzliche Ausrichtung der TVVO zugunsten einer vertragsrechtlich-liberalen Arbeitsverfassung hervorzuheben. Die Verfasser der Verordnung haben sich dem zuvor im Schrifttum ganz überwiegend vertretenen Vertragsmodell angeschlossen und damit zugleich einer genossenschaftlichen Ausrichtung des Tarifvertragsrechts eine Absage erteilt. Die Eingliederung der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in die Verwaltungsorganisation und ihre Unterstellung unter eine behördliche Aufsicht382 waren damit vom Tisch. Sie wurden auch Neumann, RdA 1951, 1 (4). dazu den Überblick bei Kamanabrou, in: dies. (Hrsg.), Erga-Omnes-Wirkung von Tarifverträgen, 2011, S. 3 (22 ff.) sowie die dort abgedruckten Länderberichte; Wiedemann/Thüsing, TVG, 8. Auflage, 2019, § 1 TVG Rn. 37. 380  Lotmar, DJZ 1908, 902 (907). 381  Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 102. 382  Dafür noch Brentano, Auf dem Wege zum gesetzlichen Lohnminimum, 1913, S. 31 (52); ders., Die Arbeitergilden der Gegenwart, Band 2, 1872, S. 306; Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 193; vgl. dazu oben 3.1.2.4.1. 378  Vgl. 379  Vgl.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

auch bei den Arbeiten an einem umfassenden Arbeitstarifgesetz ab 1921383 nicht wieder aufgegriffen. Erst bei den Arbeiten an einem Tarifvertragsgesetz nach 1945 gab es wieder Bestrebungen, ein staatskorporatives Tarifvertragsmodell zu etablieren.384 Mit der Entscheidung für die Verbandstheorie löste sich die TVVO auf der anderen Seite von dem Tarifvertragsmodell Lotmars, das auf einer individualautonom-mandatarischen Legitimation der Tarifautonomie beruhte. Wie bereits dargelegt, hatte Lotmar selbst eine Vertretungstheorie lediglich eine „Hilfskonstruktion“ entwickelt,385 für die es nach Inkrafttreten der TVVO nun keine Notwendigkeit mehr gab. Große Debatten über die Legitimation der Tarifautonomie gab es in der Weimarer Zeit nicht. Man begnügte sich mit der gesetzlichen Lösung, auf die man nach dem Karlsruher Juristentag über zehn Jahre lang hatte warten müssen und die das Durchsetzungsdefizit für Tarifverträge nunmehr behoben hat. Auch die Fragen nach einer Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien und nach einer Pflicht zum Abschluss von Tarifverträgen standen nicht auf der Tagesordnung. Die großen Legitimationsdebatten in der Arbeitsrechtswissenschaft begannen erst später unter Geltung des TVG.

3.1.4  Der Weg in die Zwangsschlichtung Die TVVO von 1918 enthielt, wie bereits dargelegt, umfassende Regelungen zur Schlichtung von Tarifkonflikten. Diese beruhten durchweg auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit und tasteten die Autonomie der Koalitionen daher nicht an.386 Bereits im September 1919 und im Februar 1920 wurde jedoch durch Demobilmachungsverordnungen eine Möglichkeit der Verbindlichkeitserklärung von Schiedssprüchen im Rahmen von Gesamt­ interessenstreitigkeiten über Löhne, Gehälter und sonstige Arbeitsbedingungen geschaffen.387 Flankiert wurden diese Verordnungen durch eine arbeitskampfrechtliche Regelung.388 In Betrieben der Gas-, Wasser- und Nipperdey, Beiträge zum Tarifrecht, 1924, S. 85. dazu unten 3.2.2. 385  Vgl. oben 3.1.2.3.3. 386  Vgl. oben 3.1.3.1. 387  Verordnung über die Einstellung und Entlassung von Arbeitern und An­ ge­ stellten während der Zeit der wirtschaftlichen Demobilmachung v. 3.9.1919, RGBl. 1919, S. 1500; Verordnung, betreffend die Abänderung der Verordnung über die Einstellung und Entlassung von Arbeitern und Angestellten während der Zeit der wirtschaftlichen Demobilmachung vom 3.9.1919 v. 12.2.1920, RGBl. 1920, S. 213, 218. 383  Exemplarisch 384  Vgl.



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie119

Elektrizitätsversorgung waren Streiks und Aussperrungen erst zulässig, wenn der zuständige Schlichtungsausschuss einen Schiedsspruch gefällt hat und seit der Verkündung des Schiedsspruchs mindestens drei Tage vergangen waren. Während dieser dreitägigen Friedenspflicht war eine Verbindlichkeitserklärung durch den Demobilmachungskommissar möglich und in der Praxis auch an der Tagesordnung.389 Der Zweck dieser Verordnungen bestand darin, einen reibungslosen Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft und die Stabilisierung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der jungen Republik zu gewährleisten.390 Aus Sicht der Regierung wurden diese Erwartungen vollauf erfüllt.391 Bereits 1920 arbeitete man an einem Entwurf für eine umfassende Schlichtungsordnung. Nachdem ein erster Entwurf des Reichsarbeitsministers Alexander Schlicke am Widerstand der Verbände gescheitert war,392 legte dessen Nachfolger Heinrich Brauns im März 1922 dem Reichstag einen neuen, 126 Paragraphen umfassenden Entwurf vor.393 Der Entwurf wollte vor allem die durch das Nebeneinander der Schlichtungsverfahren nach der TVVO, dem Hilfsdienstgesetz sowie dem Gewerbe- und dem Kaufmannsgerichtsgesetz verursachte Zersplitterung des Schlichtungswesens beenden. Er sah darüber hinaus erstmals eine Trennung von Rechtsund Regelungsstreitigkeiten vor.394 Allerdings wurde er nach Verweisung in den Ausschuss für soziale Angelegenheiten nicht mehr weiterverfolgt.395 Stattdessen erließ die Reichsregierung angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Situation im Reich (vor allem aufgrund der Hyperinflation und des sog. Ruhrkampfs) auf Grundlage des kurz zuvor erlassenen Er-

388  In § 1 Abs. 1 der Verordnung v. 10.11.1920, betreffend die Stillegung von Betrieben, welche die Bevölkerung mit Gas, Wasser, Elektrizität versorgen, RGBl. 1920, S. 1865. 389  Vgl. Raupach, Die Schlichtung von kollektiven Arbeitsstreitigkeiten und ihre Probleme, 1964, S. 50. 390  Raupach, Die Schlichtung von kollektiven Arbeitsstreitigkeiten und ihre Pro­ bleme, 1964, S. 50. 391  Vgl. das Protokoll der Kabinettssitzung v. 16.3.1928 in den Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik, Das Kabinett Marx III/IV, Band 2, Dokumente, Nr. 449. 392  Gesetzesentwurf einer Schlichtungsordnung v. 6.3.1920, in gekürzter Fassung abgedruckt in: Soziale Praxis 29 (1920), 713; dazu Reidegeld, Staatliche Sozialpolitik in Deutschland, Band II, 2006, S. 141. 393  Abgedruckt in: Verhandlungen des Reichstages, I. Wahlperiode 1920, Bd. 372, 1924, Nr. 3760. 394  Vgl. dazu RABl. 1923, S. 737. 395  Raupach, Die Schlichtung von kollektiven Arbeitsstreitigkeiten und ihre Pro­ bleme, 1964, S. 50.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

mächtigungsgesetzes396 am 30. Oktober 1923 die „Verordnung über das Schlichtungswesen“397 mitsamt zweier Ausführungsverordnungen.398 Diese Schlichtungsverordnung (SchliVO) differenzierte nun klar zwischen Rechtsund Regelungsstreitigkeiten. Für Rechtsstreitigkeiten waren ausschließlich die Gewerbe- oder Kaufmannsgerichte oder die arbeitsgerichtlichen Kammern der Schlichtungsausschüsse zuständig.399 Demgegenüber war die „Hilfeleistung“ beim Abschluss von Gesamtvereinbarungen (Art. I § 3 SchliVO) Aufgabe der Schlichtungsausschüsse und Schlichter, soweit eine vereinbarte Schlichtungsstelle nicht existierte oder das vereinbarte Schlichtungsverfahren erfolglos geblieben war.400 Die Schlichtungsausschüsse bestanden nach Art. I § 1 SchliVO aus einem oder mehreren unparteiischen Vorsitzenden sowie einer paritätischen Zahl von Beisitzern. Das Schlichtungsverfahren wurde entweder auf Antrag einer Partei oder, sofern das öffentliche Interesse dies erforderte,401 von Amts wegen eröffnet (§ 5 Abs. 1 SchliVO). Das „öffentliche Interesse“ wurde bereits dann bejaht, wenn die Gefahr bestand, dass das allgemeine Wirtschaftsleben unter der Fortdauer des Streits Schaden leiden würde.402 Es herrschte also bei der Schlichtung auf Antrag für die andere Partei ein Einlassungszwang, bei öffentlichem Interesse an der Schlichtung sogar für beide Parteien ein Schlichtungszwang. Kam keine Einigung zwischen den Parteien zustande, machte die fünfköpfige Schlichtungskammer einen „Vorschlag“ für den Abschluss einer Gesamtvereinbarung (§ 5 Abs. 4 SchliVO). Die Parteien konnten diesen Schiedsspruch annehmen, dann hatte er die Wirkung eines Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung. Ebenso möglich war eine vorherige Unterwerfung der Parteien unter den Schiedsspruch.403 Darüber hinaus ermöglichte die SchliVO aber auch eine echte Zwangsschlichtung gegen den Willen der Parteien. Lehnten eine oder beide Parteien den Schiedsspruch ab, konnte der Schlichter ihn nach § 6 SchliVO für verbindlich erklären, „wenn er der Billigkeit entspricht und seine Durch396  Vom

13.10.1923, RGBl. 1923 I, S. 943. I, S. 1043. 398  Verordnung zur Ausführung der Verordnung über das Schlichtungswesen v. 10.12.1923, RGBl. 1923 I, S. 1191; Zweite Verordnung zur Ausführung der Verordnung über das Schlichtungswesen v. 29.12.1923, RGBl. 1924 I, S. 9. 399  Art. II § 2 Abs. 2 SchliVO i. V. m. § 2 der ersten AusführungsVO v. 10.12.1923. 400  Vgl. auch die Grundzüge der Verordnung über das Schlichtungswesen, RABl. 1923, S. 737. 401  So § 12 Abs. 2 der Zweiten Ausführungsverordnung v. 29.12.1923; vgl. auch Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, 1927, S. 302. 402  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 157. 403  Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, 1927, S. 302. 397  RGBl. 1923



3.1  Historische Entwicklung der Tarifautonomie121

führung aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen erforderlich ist“ (§ 6 Abs. 1 SchliVO). Unter denselben Voraussetzungen konnte der Schlich­ter auch Schiedssprüche der vorrangig zuständigen tariflichen Schlichtungsstellen für verbindlich erklären (§ 6 Abs. 4 SchliVO).404 Die praktischen Folgen dieser Verordnung waren erheblich. Zwar wurde nur ein kleiner Teil aller Schiedssprüche für verbindlich erklärt.405 Allerdings war die Zahl der hiervon erfassten Arbeitsverhältnisse erheblich höher. Kittner spricht von einer Größenordnung von etwa der Hälfte aller Arbeitsverhältnisse, deren Inhalt durch einen verbindlich erklärten Schiedsspruch betroffen waren.406 Besondere Bedeutung erlangte in der Praxis der „Ein-Mann-Schiedsspruch“, bei dem der Vorsitzende sogar gegen die Stimmen der beiden Beisitzer entscheiden konnte.407 Nachdem das Reichsarbeitsgericht diese Praxis 1929 für unzulässig erklärt hatte,408 wurde sie 1931 durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten409 wieder ermöglicht.410 Zudem erließ das Reichsarbeitsministerium allgemeine Richtlinien, mit deren Hilfe eine einheitliche Lohnpolitik durchgesetzt werden konnte.411 Die Gewerkschaften stellten stark überhöhte Lohnforderungen, weil sie von vornherein mit einer Halbierung durch die Schlichter rechnen mussten,412 die Tarifvertragsparteien wälzten die Verantwortung für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen auf den Staat ab.413 Die Entwicklung gipfelte 1931 in einem offenen Eingriff in laufende Tarifverträge durch die bereits genannte Notverordnung, die auch entsprechende Befugnisse der Schlichter zur Änderung der zwischen den Parteien bestehenden Lohnund Manteltarifverträge enthielt.414 Das staatliche Lohndiktat war nach 404  Vgl. Löhr, in: Hönigschmid-Grossich/Leidig/Löhr, Zwangsschiedsspruch und Schlichtungswesen, 1929, S. 285; Raupach, Die Schlichtung von kollektiven Arbeitsstreitigkeiten und ihre Probleme, 1964, S. 57. 405  Vgl. Sitzler, NZfA 1930, 1 (9); Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 472. 406  Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 473. 407  Vgl. dazu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, 1997, S. 1301; Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 482. 408  RAG v. 22.1.1929 – 613/28, RAGE 3, 178. 409  Vierte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens v. 8.12.1931, RGBl. 1931 I, S. 699. 410  Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, 1997, S. 1301. 411  Abschwächend allerdings Sitzler, NZfA 1930, 1 (13 f.). 412  Vgl. Lembke, RdA 2000, 223 (224 f.); von Brauchitsch, AuR 1993, 137 (139). 413  Vgl. Sitzler, in: FS Nipperdey, 1955, S. 193 (210): „Flucht vor der Verantwortung“; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, 1997, S. 1303: „Einladung zur Verantwortungslosigkeit“. 414  Durch § 4 der Vierten Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens v. 8.12.1931,

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

verbreiteter Auffassung eine der Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik.415 Jedenfalls aber wurde aus der ursprünglich bezweckten „Hilfe zur Selbsthilfe“ eine Bevormundung der Tarifvertragsparteien und ein Einfallstor für staatliche Lohnpolitik.

3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 3.2.1  Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände nach 1945 Die Nationalsozialisten beseitigten das Tarifvertrags- und Koalitionsrecht der Weimarer Republik vollständig und gestalteten das kollektive Arbeitsrecht nach dem Führerprinzip um. An die Stelle frei gebildeter Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände trat die Deutsche Arbeitsfront.416 Im Januar 1934 löste das AOG die TVVO ab und richtete das Arbeitsrecht an dem Grundbegriff der Betriebsgemeinschaft aus.417 Frei ausgehandelte Tarifverträge sollten durch von Treuhändern der Arbeit erlassene bzw. überwachte hoheitliche Betriebs- und Tarifordnungen ersetzt werden.418 Reichs- und Sondertreuhänder wurden gar dazu ermächtigt, Löhne, Gehälter und sonstige Arbeitsbedingungen mit bindender Wirkung als Höchst­ arbeitsbedingungen festzusetzen.419 Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus standen die westlichen Besatzungsmächte vor der Aufgabe, das kollektive Arbeitsrecht wieder an demokratischen Grundsätzen zu orientieren. Insbesondere das liberale Gedankengut von Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie sollte in den Westzonen ein wesentlicher Pfeiler der aufzubauenden Demokratie wer-

RGBl. 1931 I, S. 699; anders zuvor noch RAG v. 22.1.1929 – 613/28, RAGE 3, 178 zum Ruhr-Eisen-Streit 1928; dazu Söllner, ZFA 1982, 1 (10). 415  Vgl. nur von Brauchitsch, AuR 1993, 137 (139); Lembke, RdA 2000, 223 (224 f.). 416  Vgl. dazu Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 91 f.; Ramm, ZFA 1988, 157 (161). 417  Vgl. dazu Kranig, in: Steindl (Hrsg.), Wege zur Arbeitsrechtsgeschichte, 1984, S.  441  (457 ff.); Rüthers, AuR 1970, 97 (98 ff.). 418  Durch das Gesetz über Treuhänder der Arbeit v. 19.5.1933, RGBl. 1933 I, S. 285; dazu ausführlich Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S.  259 ff. 419  Durch die Verordnung über die Lohngestaltung v. 25.6.1938, RGBl. 1938 I, S. 691; vgl. dazu Belling, Das Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht, 1984, S. 40; Dietz, DB 1965, 591 (592); Nipperdey, in: FS Herschel, 1955, S. 9.



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 123

den.420 Dazu war es zunächst erforderlich, dass frei gebildete Gewerkschaften wieder an die Stelle der Zwangskorporation traten.421 Schon sehr bald nach der Übernahme der Regierungsgewalt im Besatzungsgebiet durch die Alliierten wurde am 10. Oktober 1945 das Kontrollratsgesetz Nr. 2422 erlassen, das die Deutsche Arbeitsfront auflöste und ihre Neubildung verbot. Während frei gebildete Gewerkschaften zunächst nur auf lokaler Ebene zugelassen wurden,423 ermöglichte die Kontrollratsdirektive Nr. 31 vom 3. Juni 1946424 die Gründung überörtlicher, auf die jeweilige Zone beschränkter „zwischengewerkschaftlicher“ Zusammenschlüsse.425 Nachdem ein Zonendachverband der Gewerkschaften daraufhin allerdings nur in der britischen Zone zugelassen worden war, wurde nach dem Zusammenschluss der drei Westzonen und nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, das in Art. 9 Abs. 3 GG in Anknüpfung an Art. 159 Satz 1 WRV die Koali­ tionsfreiheit anerkannte, schließlich am 13. Oktober 1949 in München der Deutsche Gewerkschaftsbund gegründet, zu dessen erstem Vorsitzenden der Gründungskongress Hans Böckler wählte.426 Demgegenüber war zunächst völlig unklar, ob auch die Gründung von Arbeitgeberverbänden wieder erlaubt werden würde.427 Nach anfänglichem Misstrauen setzte sich jedoch in den Westzonen428 die Auffassung durch, dass eine freiheitliche und marktwirtschaftliche Arbeitsverfassung, deren Grundlage das freie Aushandeln von Arbeitsbedingungen ist, auf kollektive Verhandlungspartner der Gewerkschaften zwingend angewiesen ist.429 Am 28. Januar 1949 wurde die „Sozialpolitische Arbeitsgemeinschaft der Ar420  Vgl. Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S.  94 f. 421  Vgl. Nipperdey, BB 1948, 157 (158). 422  Art. I Ziff. 2 i. V. m. Ziff. 41 des Anhangs zum Kontrollratsgesetz Nr. 2 betreffend die Auflösung und Liquidierung der Naziorganisationen v. 10.10.1945, ABl. 1945, S. 19. 423  Richardi, Arbeitsrecht als Teil freiheitlicher Ordnung, 2002, S. 57. 424  Direktive Nr. 31 bzgl. der Errichtung von Gewerkschaftsverbänden v. 3.6.1946, ABl. 1946, S. 50. 425  Vgl. dazu Kittner, Geschichte und Entwicklung des Arbeitsrechts, 2009, Rn. 65. 426  Vgl. dazu Richardi, Arbeitsrecht als Teil freiheitlicher Ordnung, 2002, S. 58. 427  Vgl. dazu Erdmann, Die deutschen Arbeitgeberverbände, 1966, S. 227 ff.; Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 547; Richardi, Arbeitsrecht als Teil freiheitlicher Ordnung, 2002, S. 59. 428  Vgl. zur Nichtzulassung von Arbeitgeberverbänden in der sowjetischen Besatzungszone Nikisch, RdA 1948, 4 (6 f.). 429  Vgl. Richardi, Arbeitsrecht als Teil freiheitlicher Ordnung, 2002, S. 59.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

beitgeber des Vereinigten Wirtschaftsgebietes“ unter Vorsitz von Walter Raymond gegründet, aus der nach Anschluss der Arbeitgeberverbände aus der französischen Zone im November 1950 schließlich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hervorging.430

3.2.2  Die Entstehungsgeschichte des TVG Im Tarifvertragsrecht blieben zunächst die Regelungen des AOG in Kraft, um die bestehende Tarifordnung nicht vollständig zu beseitigen und die Sicherung der Versorgungslage im besetzten Deutschland nicht zu gefährden.431 Aufgehoben wurde das AOG erst durch das Kontrollratsgesetz Nr. 40 vom 30. November 1946432 mit Wirkung zum 1. Januar 1947. Auch nach dem 1. Januar 1947 blieben die unter dem AOG erlassenen Tarifordnungen weiter in Kraft, soweit nicht spezifisch nationalsozialistisch geprägte Bestimmungen enthalten waren.433 Weder der Kontrollrat noch die Länderregierungen hatten jedoch die von den Nationalsozialisten aufgehobene TVVO wieder in Kraft gesetzt.434 Stattdessen machte man sich sowohl in der amerikanischen als auch in der britischen Zone daran, ein neues Tarifvertragsgesetz auszuarbeiten.435 3.2.2.1  Die Arbeiten an einer TVVO in der britischen Zone In der britischen Zone begannen im November 1946 die Arbeiten am Entwurf einer Tarifvertragsverordnung in der Hauptabteilung III des Zen­ tralamts für Arbeit; federführend war der damalige Abteilungsleiter Wilhelm Herschel.436 Der erste Entwurf des Zentralamts aus dem Novem430  Erdmann, Die deutschen Arbeitgeberverbände, 1966, S. 229 ff.; Kittner, Geschichte und Entwicklung des Arbeitsrechts, 2009, Rn. 65; Richardi, Arbeitsrecht als Teil freiheitlicher Ordnung, 2002, S. 60, 109. 431  Vgl. dazu Kittner, Geschichte und Entwicklung des Arbeitsrechts, 2009, Rn. 53; Richardi, Arbeitsrecht als Teil freiheitlicher Ordnung, 2002, S. 49. 432  Kontrollratsgesetz Nr. 40 betreffend die Aufhebung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934 v. 30.11.1946, ABl. 1946, S. 40. 433  Vgl. Kraegeloh, RdA 1949, 369 (373 f.); Sitzler, RdA 1948, 8 (8 f.); rückblickend Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 96. 434  Fechner, RdA 1950, 129; Sitzler, RdA 1948, 8 (10); Richardi, JZ 2011, 282 (285). 435  Vgl. Richardi, Arbeitsrecht als Teil freiheitlicher Ordnung, 2002, S. 69. 436  Vgl. dazu Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 102; Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 71 ff. (Abdruck des Vorentwurfs auf S. 165 f.).



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 125

ber 1946437 bestand aus acht Paragraphen. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der TVVO von 1918. Der Entwurf sah den Abschluss von ­Tarifverträgen durch Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und einzelne Arbeitgeber vor.438 Er sprach nun erstmals von „zwingenden Rechtsnormen“ des Tarifvertrags, die nach § 3 zur Regelung des Abschlusses, des Inhaltes und der Beendigung von Arbeitsverhältnissen möglich sein sollten. In § 4 war die unmittelbare und zwingende Wirkung der Tarifnormen geregelt. Nach § 2 des Entwurfs bedurften Tarifverträge der Schriftform und waren in das Tarifregister einzutragen. Diese Eintragung hatte nach § 6 konstitutive Wirkung, d. h. Tarifverträge erlangten erst mit Eintragung ihre Rechtswirksamkeit. Die Eintragung sollte nach § 7 nur auf Anordnung des Präsidenten des Hauptamtes der Arbeitsverwaltung erfolgen, dem hierdurch ein mate­ rielles Prüfungsrecht eingeräumt werden sollte.439 Regelungen über die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen waren noch nicht enthalten. Ebenso fehlten Vorschriften über die Schlichtung von Tarifkonflikten. In einer ersten Besprechung des Entwurfs am 21. November 1946 in Hamburg, an der u. a. Vertreter der Handelskammer und der Gewerkschaften teilnahmen, wurde zunächst über die Tariffähigkeit einzelner Arbeit­ geber diskutiert und von den Gewerkschaften als Gegenmodell ein reines Verbandsprinzip mit der Möglichkeit eines Beitritts einzelner Arbeitgeber zum Tarifvertrag vorgeschlagen.440 Kontrovers wurde auch über die Wiedereinführung der Allgemeinverbindlicherklärung beraten. Hier war unklar, wie sich die Briten zur Allgemeinverbindlicherklärung verhalten würden. Herschel präsentierte eine Ergänzung des Entwurfs, die zuvor in seiner Abteilung schon besprochen worden war. Danach sollte der Präsident des Zentralamts für Arbeit auf Weisung der Militärregierung einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären können, wenn die Interessen der alliierten Besatzung berührt würden.441 Die Gewerkschaften übten Kritik an dieser Regelung, weil der damit verbundene Zwang nicht mit der Freiwil-

437  Abgedruckt bei Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 165 ff. 438  Vgl. zur Ersetzung des Begriffs „Vereinigungen von Arbeitgebern“ durch „Arbeitgeberverbände“ Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  73 f. 439  Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 76. 440  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  74 f. 441  Die Regelung ist abgedruckt bei Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 75.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Quelle: Universitätsarchiv Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, UAHW, Rep. 40/I, H 16 – Herschel, Wilhelm.

Abbildung 14: Wilhelm Herschel

ligkeit des Koalitionszusammenschlusses zu vereinbaren sei.442 Daraufhin sprachen sich auch die anderen Teilnehmer dafür aus, auf die Einführung einer Allgemeinverbindlicherklärung zu verzichten. Kritik wurde aber vor allem an dem Erfordernis einer konstitutiven Eintragung in das Tarifregister und dem materiellen Prüfungsrecht des Präsidenten der Arbeitsverwaltung geübt. Die Vertreter von Arbeitgebern und Gewerkschaften sahen darin eine Beschneidung der Tarifautonomie und einen Eingriff in die Vertragsfreiheit.443 Herschel hielt allerdings an den Regelungen des Entwurfs fest, die künftig sogar durch eine Zwangsschlichtung ergänzt werden sollten.444 Er war lediglich zu einer Ergänzung bereit, wonach die Eintra-

442  So der Gewerkschaftsvertreter Schnoor, zitiert nach Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 75. 443  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 76. 444  Vgl. dazu Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 630; Mühlbradt/Lutz, Der Zwang zur Sozialpartnerschaft, 1969, S. 6.



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 127

gung eines ­Tarifvertrags nur aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls abgelehnt werden dürfe.445 Die zweite Besprechung fand am nächsten Tag in Hannover statt, wiederum mit Vertretern der Arbeitgeber und der Gewerkschaften sowie einigen weiteren Teilnehmern. In dieser Sitzung wurde erneut über die Tariffähigkeit der einzelnen Arbeitgeber diskutiert, daneben aber auch über die Wiedereinführung der Allgemeinverbindlicherklärung. Herschel verteidigte die Betonung der Interessen der Besatzungsmächte im Zentralrats-Entwurf mit dem Ziel, die Allgemeinverbindlicherklärung bei den Briten durchzusetzen.446 Am 29. November 1946 folgte die nächste Besprechung in Köln, an der neben den Vertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaften u. a. Nipperdey teilnahm. Während man sich in Hannover noch dem in Hamburg er­ arbeiteten Beitrittsmodell für einzelne Arbeitgeber angeschlossen hatte, sprach sich der Gewerkschaftsvertreter dafür aus, dass einzelne Arbeitgeber, wie nach der TVVO 1918, Partei eines Tarifvertrags werden können, während Nipperdey das Hamburger Modell propagierte.447 Hier zeigte sich allerdings ebenso wie bei der Frage der Allgemeinverbindlicherklärung, dass es von Seiten der Gewerkschaft sehr unterschiedliche Standpunkte gab, sodass man sich darauf verständigte, zunächst verbandsintern eine Klärung dieser Fragen herbeizuführen.448 Einstimmig ablehnt wurden dagegen das Erfordernis einer konstitutiven Eintragung des Tarifvertrags in das Tarifregister und das materielle Prüfungsrecht des Präsidenten des Zentralamts. Man befürchtete nicht nur Verzögerungen, sondern sah darin eine substanzielle Gefährdung der Tarifhoheit und Koalitionsfreiheit der Tarifvertragsparteien.449 Gleichwohl beharrte Herschel auf der Notwendigkeit des Eintragungserfordernisses.450 Am 18. Dezember 1946 trafen sich die Vertreter des Zentralamts in Wiesbaden mit dem Arbeitsrechtsausschuss der Gewerkschaften in der 445  Vgl.

Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985,

446  Vgl.

Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985,

447  Vgl.

Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985,

448  Vgl.

Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985,

S. 76. S. 77. S. 78. S. 78.

449  Nautz, 450  Vgl.

S. 78.

Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 78. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985,

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

britischen Zone. Herschel legte hier zwei neue, am 10. Dezember 1946 erarbeitete Entwürfe vor, die sich nur in der Regelung über die Tariffähigkeit von Arbeitgebern unterschieden, jedoch gegenüber dem Entwurf vom November 1946 einige Änderungen vorsahen. So wurde der Rechtsnormkatalog um betriebliche Normen erweitert und die Nachwirkung der Tarifnormen ausdrücklich angeordnet.451 An der konstitutiven Eintragung in das Tarifregister und dem Ablehnungsrecht aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls wurde ebenso festgehalten wie an der nur unwesentlich geänderten Allgemeinverbindlicherklärung aufgrund der Interessen der alliierten Besatzung. Bezüglich der Tariffähigkeit folgte der erste Entwurf der TVVO von 1918, während der zweite Entwurf den Tarifabschluss nur durch Verbände zuließ und dem einzelnen Arbeitgeber lediglich den Beitritt zum Tarifvertrag mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien ermöglichte. Dieses Beitrittsmodell lehnten die Gewerkschaften nunmehr jedoch rundweg ab, da sie befürchteten, dass sich Arbeitgeber künftig dem Tarifvertrag entziehen könnten.452 Auch die Allgemeinverbindlicherklärung war den Gewerkschaftsvertretern „im Augenblick noch unerwünscht“, bevor sie nicht den überwiegenden Teil der Arbeitnehmerschaft als Mitglieder gewonnen hätten.453 Wenig überraschend lehnten die Gewerkschaften schließlich das konstitutive Eintragungserfordernis und das materielle Prüfungsrecht des Präsidenten des Zentralamts ab.454 Im Januar 1948 erarbeitete die Abteilung III des Zentralamts einen offiziellen Entwurf einer Tarifvertragsverordnung. Der als Provisorium für die britische Zone gedachte Entwurf sah nunmehr Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Arbeitgeber als tariffähig an.455 Dabei vermied man bewusst eine Festlegung der umstrittenen Organisationsform der Arbeitgeberverbände. Der normative Teil des Tarifvertrags erfasste neben Inhaltsnormen auch Beendigungsnormen sowie Normen über betriebliche Fragen, wobei für letztere allerdings noch nicht auf die beiderseitige Tarifgebundenheit verzichtet wurde. Die Nachwirkung des Tarifvertrags war ebenfalls wieder enthalten, ebenso die von den Gewerkschaften abgelehnte Allge451  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  79 f. 452  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  80 f. 453  Brisch, zitiert nach Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 82. 454  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 82. 455  § 1 Abs. 1 des Entwurfs, abgedruckt bei Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 84.



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 129

meinverbindlicherklärung, die jedoch inhaltliche Änderungen erfahren hat. Der Präsident des Zentralamts sollte nun auf Weisung der Militärregierung einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären können, wenn dieser in seinem Geltungsbereich überwiegende Bedeutung erlangt hatte oder die Interessen der Militärregierung berührt seien.456 Herschel begründete dies – zumindest nach außen – mit dem Demokratieprinzip. Es könne „nicht hingenommen werden, daß undisziplinierte Außenseiter die Möglichkeit haben, das demokratische Gesetzgebungswerk der überwiegenden Mehrheit der Beteiligten zu durchkreuzen. Wie die Beschlüsse des Parlaments auch den Nichtwähler oder den Angehörigen einer Minderheit binden, so ist es mit den demokratischen Grundsätzen durchaus vereinbar, einen Außenseiter des kollektiven Arbeitsrechts in besonders krassen Fällen dem freibetätigten Willen der Mehrheit der Beteiligten zu unterwer­ fen.“457 Tatsächlich sind jedoch Zweifel an dieser Begründung angebracht, da der Entwurf für die Allgemeinverbindlicherklärung keinen Antrag der Tarifvertragsparteien verlangte und damit der Arbeitsverwaltung die Möglichkeit einräumte, den Tarifvertrag auch gegen den Willen beider Tarifvertragsparteien als Repräsentanten der „demokratischen Mehrheit“ für allgemeinverbindlich zu erklären.458 Ungeachtet der breiten Ablehnung in den vorherigen Gesprächsrunden hielt das Zentralamt in seinem neuen Entwurf an der konstitutiven Wirkung der Eintragung in das Tarifregister und dem materiellen Prüfungsrecht des Präsidenten des Zentralamts fest. Herschels Begründung am Festhalten an diesen vielkritisierten Regelungen zeigt eine offenkundige Parallele zu Sinzheimers „sozialer Selbstbestimmung im Recht“459, freilich ohne diesen ausdrücklich zu zitieren: „Gewiß soll das Tarifvertragswesen eine Angelegenheit kollektiver Selbstverwaltung sein. Gerade deshalb muß so verfahren werden. Nach einhelliger Meinung ist für den Begriff der Selbstverwaltung – mag sie im übrigen noch so weitgehend sein – die Kontrolle einer höheren Verwaltungsbehörde unerläßlich. Es gibt in Theorie und Praxis keine Selbstverwaltung ohne solche Kontrolle.“460

456  Nautz,

Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 87. zitiert nach Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 88. 458  So auch die Einschätzung von Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 87. 459  Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916; ders., in: Festgabe 50 Jahre Reichsgericht, 4. Band, 1929, S. 1 (6); vgl. dazu oben 3.1.2.4.2. 460  Herschel, zitiert nach Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 90. 457  Herschel,

130

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Bevor der Entwurf veröffentlicht wurde, stellte man ihn im Zentralamt innerhalb der verschiedenen Abteilungen zur Diskussion. Kritik an dem weitgehenden Einfluss der Arbeitsbehörden kam lediglich aus der Abteilung IIIc. Diese sah in der Allgemeinverbindlicherklärung ohne Antrag ­einer oder beider Tarifvertragsparteien einen „Eingriff in die Individualrechtssphäre“, der mit den Grundsätzen der Demokratie nicht ohne weiteres vereinbar sei.461 Auch die konstitutive Eintragung und das Prüfungsrecht des Zentralamts wurden als „erhebliche staatliche Eingriffe in die tarif­liche Verhandlungs- und Abschlußfreiheit der Verbände“ kritisiert, die ­allenfalls in einem staatlichen System der Planwirtschaft ihre Berechtigung hätten.462 Aus den anderen Abteilungen gab es keinen grundsätzlichen Widerspruch gegen diese „staatskorporative“ Ausrichtung des Tarifrechts.463 Zu Änderungen des Entwurfs kam es daher nicht. Ende Januar 1948 wurde der Referentenentwurf des Zentralamts, der sog. Lemgoer Entwurf,464 an die Landesarbeitsministerien und Spitzenverbände der Sozialpartner in der britischen Zone, den Länderrat in der amerikanischen Zone sowie einige führende Arbeitsrechtler, u. a. Nipperdey, Siebert, Hueck, Bötticher, Molitor und Sitzler, mit der Bitte um Stellungnahme versandt.465 Von Seiten der Wissenschaftler gab es keine Bedenken gegen die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers. Kritik wurde dagegen an der konstitutiven Wirkung der Eintragung in das Tarifregister geübt. Molitor befürchtete, dass die Eintragungspflicht die „ohnehin voraussichtlich nicht große Tarifwilligkeit der Parteien“ weiter beeinträchtigen werde und befürchtete eine Rückkehr zu dem „nationalsozialistischen System der obrigkeitlichen Regelung der Arbeitsbedingungen“.466 Bötticher sah in dem materiellen Prüfungsrecht des Präsidenten des Zentralamts einen Eingriff in die Vertragsfreiheit der Tarifvertragsparteien, denen allein die Wah461  Zitiert nach Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 91. 462  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 91. 463  Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 92; Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 104. 464  Der Entwurf ist mitsamt Begründung abgedruckt in: ZFA 1973, 129 (130 ff.). Allerdings stammt der Entwurf nicht, wie dort genannt, vom März 1948, sondern vom Januar 1948, vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 192. 465  Vgl. mit vollständiger Adressatenliste Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 192 f. 466  Molitor, zitiert nach Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 93.



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 131

rung sozialpolitischer Belange eingeräumt sei.467 Nipperdey äußerte sich zu dem Entwurf des Zentralamts nicht, sondern erarbeitete im Auftrag des Gewerkschaftsbundes der britischen Zone einen Gegenentwurf. Kritik gab es auch aus den Reihen der Länder. So lehnte die Hamburger Arbeitsbehörde die konstitutive Eintragung des Tarifvertrags ab, weil hierdurch die angestrebte Freiheit der tariflichen Vereinbarungen gefährdet würde. Hinsichtlich der Allgemeinverbindlicherklärung forderte die Behörde eine teilweise Rückkehr zur Regelung der TVVO 1918, insbesondere eine Bindung der Arbeitsbehörde an einen Antrag einer oder beider Tarifvertragsparteien.468 Die Gewerkschaften gaben keine Stellungnahme zum Entwurf des Zentralamts ab. Kritik kam jedoch von Seiten der Arbeitgeber. Die Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeber in der britischen Zone übersandte dem Zentralamt am 22. Juni 1948 einen eigenen Entwurf einer Tarifvertragsverordnung.469 Darin war zwar ebenfalls eine Pflicht zur Eintragung von Tarifverträgen in das Tarifregister enthalten. Allerdings sollte die Eintragung nur deklaratorische Wirkung haben. Auch war kein Prüfungsrecht der Arbeitsbehörde vorgesehen. Die konstitutive Eintragungspflicht im Zentralamts-Entwurf wurde als Verstoß gegen die Autonomie der Verbände abgelehnt.470 Die Vorschriften über die Allgemeinverbindlicherklärung waren im Entwurf der Arbeitgeber ebenfalls grundlegend modifiziert. Nach § 5 des Entwurfs konnte die oberste Arbeitsbehörde auf Antrag einer Partei einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, wenn dieser in seinem Geltungsbereich überwiegende Bedeutung erlangt hatte. Stellten beide Tarifvertragsparteien den Antrag, musste der Tarifvertrag unter diesen Voraussetzungen für allgemeinverbindlich erklärt werden. Schließlich wandten die Arbeitgeber sich gegen eine Nachwirkung von Tarifnormen. Nachdem sich abgezeichnet hatte, dass die Zuständigkeit für das Tarifvertragsrecht nach Zusammenlegung der beiden Zonen zum Vereinigten Wirtschaftsgebiet auf den Wirtschaftsrat übergehen würde, brach das Zentralamt die Arbeit an dem Entwurf der Tarifvertragsverordnung ab.471 467  Vgl.

S. 93.

Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985,

468  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  94 f. 469  Abgedruckt bei Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 172 ff. 470  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 96. 471  Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 97.

132

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Quelle: Bild in Privatbesitz.

Abbildung 15: Heinrich „Heinz“ Goldschmidt

3.2.2.2  Die Arbeiten an einem TVG in der amerikanischen Zone In der amerikanischen Zone wurde im August 1946 im „Unterausschuß Arbeitsrecht“, einer Unterabteilung des „Hauptausschusses Arbeit und soziale Sicherheit“, über die Ausarbeitung eines Tarifvertragsgesetzes beraten.472 Nachdem auch der Länderratsausschuss „Arbeitsrecht und Löhne“ die Schaffung eines Tarifvertragsgesetzes gefordert und das Land Bayern bereits einen an der TVVO 1918 ausgerichteten Entwurf vorgelegt hatte, beauftragte der Unterausschuss am 14. März 1947 eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des damaligen Regierungsrats im bayerischen Arbeitsministerium Karl Fitting mit den Arbeiten an einem eigenen Entwurf.473 Weitere Mitglieder der Arbeitsgruppe waren der Ministerialrat Heinz Goldschmidt für die Länderverwaltung sowie die Herren Fischer für die Arbeitgeber und Volk für die Gewerkschaften.474 472  Vgl. dazu Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 105 ff. 473  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  100 f.



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 133

Auf Grundlage der Beratungen vom 14. März 1947475 präsentierte die Arbeitsgruppe dem Unterausschuss Arbeitsrecht bereits am 17. März 1947 einen ersten Entwurf eines Tarifvertragsgesetzes.476 Nach dem Entwurf waren neben Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen, die jeweils legaldefiniert wurden, auch die einzelnen Arbeitgeber tariffähig. Die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags war geregelt, ohne jedoch den Begriff der Tarifnorm zu verwenden. Eine Regelung der Nachwirkung war noch nicht enthalten, allerdings der Hinweis darauf, dass sie noch aufzunehmen sei. Die Allgemeinverbindlicherklärung sollte auf Antrag einer oder beider Tarifvertragsparteien möglich sein, wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich überwiegende Bedeutung erlangt hat oder eine einheitliche Regelung von Arbeitsbedingungen aus wirtschaft­ lichen oder sozialen Gründen geboten ist. Ein Tarifregister wurde nach § 14 des Entwurfs nur für allgemeinverbindliche Tarifverträge geführt. Eine konstitutive Eintragung war nicht vorgesehen. Ebenso wie in der britischen Zone kam es nach dem März 1947 jedoch nicht mehr zu einer Behandlung mit dem Tarifvertragsrecht.477 Stattdessen beauftragte der Unterausschuss Arbeitsrecht im Februar 1948 eine Dreierkommission, bestehend aus Herschel (für das Zentralamt), Fitting (für das bayerische Arbeitsministerium) und Goldschmidt (für die Länderratsverwaltung) damit, aus den zum Teil deutlich voneinander abweichenden Entwürfen einen einheitlichen Gesetzesvorschlag auszuarbeiten, der nach dem Zusammenschluss der beiden Zonen für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet gelten sollte.478 3.2.2.3  Der Entwurf des Arbeitsrechtsausschusses des Länderrats Der von der Dreierkommission erarbeitete Entwurf eines Tarifvertragsgesetzes vom 15. April 1948479 war ein Kompromiss, der hinsichtlich der normativen Wirkung und des Tarifregisters auf dem Lemgoer Entwurf be474  Nautz,

Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 101. dazu Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 105 f. 476  Abgedruckt bei Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 167 ff. 477  Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 102. 478  Vgl. Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 107; Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 103. 479  Abgedruckt bei Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 195 ff. 475  Vgl.

134

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

ruhte, während die Regelungen zur Allgemeinverbindlicherklärung weitgehend dem Entwurf des Unterausschusses Arbeitsrecht der Länderratsverwaltung folgten.480 Der Entwurf sprach in § 3 wieder von Tarifnormen und erweiterte den zulässigen Normenkatalog in § 1 Abs. 1 auf Abschluss-, Inhalts- und Beendigungsnormen sowie Normen über die Betriebsverfassung. Neben der unmittelbaren und zwingenden Wirkung war in § 3 Abs. 2 auch das Günstigkeitsprinzip enthalten, das allerdings – wie nach der TVVO 1918 – zur Disposition der Tarifvertragsparteien stand. Ebenfalls aufgenommen wurden Regelungen zur Nachwirkung (§ 3 Abs. 4) und zur Nachbindung an die Tarifnormen (§ 3 Abs. 6). Durchgesetzt hat sich Herschel weiter mit der konstitutiven Eintragung in das Tarifregister und dem materiellen Prüfungsrecht der Obersten Arbeitsbehörde, die jeweils in § 5 vorgesehen waren. Die Allgemeinverbindlicherklärung war hingegen, dem Entwurf aus der amerikanischen Zone folgend, nach § 6 nur auf Antrag einer Tarifpartei möglich, wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich überwiegende Bedeutung erlangt hat oder wenn die soziale Ordnung es erfordert. Zuständig für die Allgemeinverbindlicherklärung war nicht der Landesarbeitsminister, sondern die Oberste Arbeitsbehörde. Daneben ent­ hielt der Entwurf auch Regelungen zu den schuldrechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen den Tarifvertragsparteien, insbesondere zur Friedenspflicht und zur Durchführungspflicht. Der Entwurf der Dreierkommission wurde am 16. April 1948 dem Unterausschuss Arbeitsrecht vorgelegt, dort aber nicht inhaltlich beraten. Die Diskussion erfolgte erst am 22. Juli 1948 im Arbeitsrechtsausschuss des neu gegründeten Länderrats des Vereinigten Wirtschaftsgebiets.481 An dem Entwurf entzündete sich vielfältige Kritik, wobei sich innerhalb der Arbeitgebervertreter und der Gewerkschaften noch keine einheitliche Linie abzeichnete, allerdings mit einer Ausnahme: Die konstitutive Wirkung der Eintragung in das Tarifregister und das materielle Prüfungsrecht der Obersten Arbeitsbehörde wurden von Arbeitgebern und Gewerkschaften einhellig abgelehnt. Man sah darin eine Bevormundung der Tarifvertragsparteien, denen ein ungerechtfertigtes Misstrauen entgegengebracht werde.482 In die 480  Zutreffend Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 107; graduell anders die Einschätzung von Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 104, der den Einfluss des Zentralamt-Entwurfs höher bewertet. 481  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  104 ff.; Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S.  107 ff. 482  So der Vertreter der nordrhein-westfälischen Arbeitgeber Lohbeck, zitiert nach Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 107.



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 135

gleiche Richtung zielte die Kritik an der Ausgestaltung der Allgemeinverbindlicherklärung. Man befürchtete, dass die Allgemeinverbindlicherklärung aus Gründen der sozialen Ordnung der Arbeitsverwaltung als Grundlage für Missbrauch dienen könnte, und verlangte daher deren Streichung.483 Im Anschluss an die Diskussion beschloss der Unterausschuss, dass die Dreierkommission den Entwurf noch einmal unter Berücksichtigung der Beratungen sowie noch nachzureichender Stellungnahmen der Gewerkschaften und Arbeitgeber überprüfen sollte. Die geäußerte Kritik fand dabei jedoch keine Beachtung. Der Entwurf wurde nur noch geringfügig geändert.484 Unverändert blieben insbesondere die Regelungen zur konstitu­ tiven Eintragung von Tarifverträgen und dem Prüfungsrecht der Arbeits­ behörde. Dieser geringfügig abgeänderte Entwurf, der sog. Zusmarshausener Entwurf, wurde sodann im Juli 1948 vom Arbeitsrechtsausschuss des Länderrats gebilligt.485 3.2.2.4  Der Alternativentwurf der Gewerkschaften und der SPD-Fraktion Nipperdey hatte sich bereits im Mai 1948 darüber beschwert, zu den Beratungen der Dreierkommission nicht hinzugezogen worden zu sein. Nachdem er jedoch von Goldschmidt brüsk zurückgewiesen wurde,486 erarbeitete er parallel zur Dreierkommission einen eigenen Gesetzesentwurf für die Gewerkschaften der britischen Zone.487 Nach mehreren Vorentwürfen488 legte der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes für die britische Zone am 26. April 1948 einen Entwurf eines Tarifvertragsgesetzes vor.489 Dieser Entwurf war wesentlich liberaler konzipiert, als es zuvor das Zentralamt für Arbeit im Sinn hatte. Er sah insbesondere keine 483  So der Vertreter der Gewerkschaften Schleicher, zitiert nach Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 107. 484  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  107 f. 485  Entwurf eines Tarifvertragsgesetzes des Arbeitsrechtsausschusses des Länderrats v. Juli 1948, ohne Begründung abgedruckt in: ZFA 1973, 129 (138 ff.). 486  Vgl. zu dem Briefwechsel Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 195 (dort Fn. 25). 487  Zur Rolle Nipperdeys vgl. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002, S. 98, 103; Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 563; Ramm, Die Parteien des Tarifvertrages, S. 60; Richardi, Arbeitsrecht als Teil freiheitlicher Ordnung, S.  69 f. 488  Zwei Vorentwürfe sind abgedruckt in: ZFA 1973, 129 (141 f. und 142 f.). 489  Entwurf des Bundesvorstands des Gewerkschaftsbundes für die britische Zone v. 26.4.1948, abgedruckt in: ZFA 1973, 129 (143 f.).

136

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

konstitutive Eintragung in das Tarifregister und auch kein materielles Prüfungsrecht der Behörde vor. Eine Allgemeinverbindlicherklärung war nur auf Antrag einer Tarifvertragspartei und nicht von Amts wegen möglich. Weitere Voraussetzung war, dass der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich überwiegende Bedeutung erlangt hat oder die soziale Ordnung die Allgemeinverbindlicherklärung erforderte. Der Katalog der Tarifnormen sah neben Inhalts-, Abschluss- und Beendigungsnormen auch Betriebsund Betriebsverfassungsnormen vor. Eine Nachwirkung der Tarifnormen war ebenfalls enthalten, ebenso das Günstigkeitsprinzip, das jedoch von den Tarifvertragsparteien abbedungen werden konnte. Auf dem Entwurf des Gewerkschaftsbundes für die britische Zone aufbauend präsentierte der Gewerkschaftsrat der Vereinigten Zonen am 7. September 1948 einen eigenen Entwurf, den er Anton Storch, dem Direktor der neu gegründeten Verwaltung für Arbeit, am 13. September 1948 übersandte.490 Gegenüber dem Entwurf vom April 1948 unterschied sich der neue Entwurf im Wesentlichen dadurch, dass eine Allgemeinverbindlicherklärung aus Gründen der sozialen Ordnung nicht mehr enthalten war. Darüber hinaus sah der Entwurf nunmehr neben der Nachwirkung in § 4 Satz 2 auch eine Nachbindung an den Tarifvertrag sowie ein Verbot des Verzichts auf tarifliche Ansprüche vor. In der Begründung des Entwurfs legten die Gewerkschaften besonders Wert auf die Feststellung, dass sie sich in der Ablehnung eines staatskorporativen Tarifsystems mit den Arbeitgebern völlig einig seien: „Die Regelung der Tarifverträge muß auf der Grundlage der freien Autonomie der Gewerkschaften und der Vereinigungen der Arbeitgeber erfolgen. Die Verbände sind in der Lage, verantwortungsbewußt und sachkundig, die Interessen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, wie die der Gesamtheit wahrend, die Regelung der Arbeitsbedingungen vorzunehmen. Daher ist die Einführung eines Erfordernisses einer staatlichen Genehmigung für Tarifverträge und der konstitutiv wirkenden Eintragung der Verträge in das Tarifregister unter allen Umständen abzulehnen.“491 Unterstützung für ihren Entwurf erhielten die Gewerkschaften von Seiten der Hamburger Arbeitsbehörde sowie der Präsidenten und Vorsitzenden der Landesarbeitsgerichte der Doppelzone, die sich jeweils für die liberale Konzeption Nipperdeys und gegen ein materielles Prüfungsrecht der Arbeitsverwaltung aussprachen.492 490  Entwurf eines Tarifvertragsgesetzes vom Gewerkschaftsrat der Vereinten Zonen, mitsamt Begründung abgedruckt in: ZFA 1973, 129 (144 ff.). 491  Begründung des Entwurfs eines Tarifvertragsgesetzes vom Gewerkschaftsrat der Vereinten Zonen, abgedruckt in: ZFA 1973, 129 (147). 492  Vgl. dazu näher Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 112.



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 137

Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-P003647.

Abbildung 16: Anton Storch

3.2.2.5  Die Beratungen des TVG im Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebiets Im Vereinigten Wirtschaftsgebiet ging die Zuständigkeit für das Tarifvertragsrecht vom Lemgoer Zentralamt für Arbeit auf die nun in Frankfurt ansässige Verwaltung für Arbeit unter Direktor Storch über. Das änderte jedoch zunächst nichts an der grundsätzlichen Ausrichtung, da die Verwaltung personell weitgehend identisch mit dem Zentralamt war (u. a. Herschel) und die beiden „externen“ Mitglieder aus der Dreierkommission, Fitting und Goldschmidt, nunmehr in die Verwaltung für Arbeit abgeordnet waren. Allerdings war es nicht die Verwaltung für Arbeit, sondern die SPDFraktion, die am 8. Oktober 1948 mit einem Initiativantrag den Entwurf des Gewerkschaftsrats als (annähernd wortidentischen) Fraktionsentwurf in den Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebiets einbrachte.493 Da493  Initiativantrag v. 8.10.1948, abgedruckt in: ZFA 1973, 129 (149 f.); dazu Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 109; Richardi, Arbeitsrecht als Teil freiheitlicher Ordnung, 2002, S. 70.

138

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

mit überrumpelte sie die Verwaltung für Arbeit völlig, die nunmehr vor die Situation gestellt war, dass nicht ihr Entwurf, sondern derjenige der SPD und der Gewerkschaften die Beratungsgrundlage im Wirtschaftsrat darstellte.494 Noch an demselben Tag trat die Spitze der Veraltung für Arbeit, neben Storch u. a. Herschel, Goldschmidt und der Ministerialrat Kurt Classen, zu einem Krisengespräch zusammen. Die Aktennotizen zu diesem Treffen sind widersprüchlich. Auf der einen Seite wollte man nach Möglichkeit versuchen, den im Zentralamt entwickelten Entwurf „durchzu­ drücken“.495 Auf der anderen Seite erarbeitete man einen neuen Entwurf vom 9. Oktober 1948, der gegenüber dem Zusmarshausener Entwurf in wesentlichen Punkten geändert wurde.496 Überraschenderweise wurde darin auf das Erfordernis einer konstitutiven Eintragung des Tarifvertrags in das Tarifregister und das materielle Prüfungsrecht der Arbeitsbehörde verzichtet.497 Über die Gründe, die zu diesem Paradigmenwechsel geführt haben, kann nur spekuliert werden. Möglicherweise sah man nach dem Vorstoß der SPD-Fraktion nur noch wenig Chancen auf die Durchsetzung des bisherigen Konzepts und wollte auf diese Weise zumindest einen Teil der bisherigen Vorstellungen durchsetzen. Vielleicht war es aber auch Storch, möglicherweise unter Einwirkung von Ludwig Erhard, damals Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, der aus Überzeugung einen liberaleren Kurs in der Verwaltung für Arbeit durchgesetzt hat.498 Unterstützung erhielt die Verwaltung jedenfalls von den Länderarbeitsministern, die sich am 11. Oktober 1948 im Ausschuss für Arbeit – abgesehen von einer Änderung der Zuständigkeit für die Allgemeinverbindlicherklärung – dem Entwurf anschlossen.499 Am 13. Oktober 1948 wurde im Ausschuss für Arbeit des Wirtschaftsrats über den Initiativantrag der SPD-Fraktion beraten.500 Über die grundsätzliche Ausrichtung des Tarifvertragsrechts als liberales Modell der Selbstbestimmung der Tarifvertragsparteien wurde dabei nicht diskutiert, 494  Vgl. dazu Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994, S. 109 f.; Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 114. 495  Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 115. 496  Abgedruckt bei Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 175 ff. 497  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 115. 498  So die Vermutung von Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 116. 499  Vgl. die Auszüge aus dem Protokoll der Sitzung bei Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 116 f. 500  Das Protokoll ist abgedruckt in: ZFA 1973, 129 (151 ff.).



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 139

Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R66978.

Abbildung 17: Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes

da sich auch der Entwurf der Verwaltung für Arbeit von dem staatskorporativen Konzept gelöst hatte. Ein Diskussionspunkt war jedoch erneut die Organisationsform von Arbeitgebervereinigungen. Die Gewerkschaften und die SPD wollten verhindern, dass die Arbeitgeber ein duales System von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden bilden, während die Gegenauffassung auf die Organisationshoheit der Verbände verwies. Zu einem Ergebnis gelangte man nicht.501 Gleiches galt für den Begriff der Spitzen­ organisationen. Auch bei der Frage der Nachbindung konnte man sich nicht darüber einigen, ob die Tarifgebundenheit ausgetretener Verbandsmitglieder bis zum Ende des Tarifvertrags fortbesteht (so der SPD-Entwurf) 501  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 119.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

oder ob sie schon bei der Änderung einer wesentlichen Bestimmung des Tarifvertrags endet (so der Entwurf der Verwaltung für Arbeit). Herschel schlug in dieser Sitzung erstmals eine Regelung vor, wonach für die Geltung von Betriebs- und Betriebsverfassungsnormen die einseitige Tarifgebundenheit des Arbeitgebers genügt (heute § 3 Abs. 2 TVG).502 Diskutiert wurde auch über die Zulässigkeit von Höchstarbeitsbedingungen. Die Mehrheit des Ausschusses plädierte für die Beibehaltung des eingeschränkten Günstigkeitsprinzips, das den Tarifvertragsparteien, wie schon die TVVO 1918, die Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen ermöglichte.503 Hinsichtlich der Allgemeinverbindlicherklärung unterschieden sich die beiden Entwürfe durch die Zulässigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung aus Gründen der sozialen Ordnung. Die Mehrheit im Ausschuss sprach sich im Anschluss an den Entwurf der Verwaltung für Arbeit für diese Möglichkeit aus. Eine Übertragung der Zuständigkeit für die Allgemeinverbindlicherklärung an die Länder wurde dagegen entschieden abgelehnt.504 Ebenfalls abgelehnt wurde die Aufnahme einer Regelung über die Tarifkonkurrenz. Nachdem der Redaktionsausschuss am 26. Oktober 1948 auf Grundlage der Beratung im Ausschuss für Arbeit einen neuen Entwurf erarbeitet hatte, der die Frage der Arbeitgeberverbände und Spitzenorganisationen noch nicht entschieden hatte,505 protestierten die Länderarbeitsminister in ihrer Sitzung am 29./30. Oktober 1948 gegen den Entwurf, da ihnen die Zuständigkeit für die Allgemeinverbindlicherklärung verwehrt worden war. Ein Kompromissvorschlag des stellvertretenden Direktors der Verwaltung für Arbeit, Julius Scheuble, nach dem die Entscheidungskompetenz für die Allgemeinverbindlicherklärung in bestimmten Fällen an die Länder delegiert werden sollte, wurde abgelehnt.506 Am 3. November 1948 tagte erneut der Ausschuss für Arbeit des Wirtschaftsrats.507 Der Ausschussvorsitzende Willi Richter, der später zum Vorsitzenden des DGB gewählt wurde, berichtete von den Forderungen der 502  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 120. 503  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 120. 504  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 120. 505  Abgedruckt bei Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 201 ff. 506  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 122. 507  Das Protokoll ist abgedruckt in: ZFA 1973, 129 (154 ff.).



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 141

Länderarbeitsminister. Nach intensiver Diskussion einigte sich der Ausschuss auf den zuvor von Scheuble unterbreiteten Kompromissvorschlag.508 Gestritten wurde zudem abermals über die Organisationsform der Arbeitgeber. Die Gewerkschaften konnten sich mit ihrer Forderung nach einer zwingenden Einheitsorganisation nicht durchsetzen. Beschlossen wurde die Formulierung „Vereinigungen von Arbeitgebern“, die den Arbeitgebern ausreichend Spielraum für die Wahl ihrer Organisationsform beließ.509 Angenommen wurde hingegen ein Antrag der Gewerkschaften auf Änderung des § 4 über die Wirkung der Tarifnormen. Danach erhielt § 4 Abs. 3 TVG seine heutige Fassung, die erstmals im deutschen Tarifvertragsrecht ein echtes Günstigkeitsprinzip vorsah, das nicht zur Disposition der Tarifvertragsparteien stand. Über die Gründe für diesen Richtungswechsel kann nur spekuliert werden, da der Antrag der Gewerkschaften und seine Begründung nicht überliefert sind.510 Herschel beschrieb die Änderung im Gesetzgebungsverfahren später wie folgt: „Schließlich obsiegte die Ansicht, eine nach oben einengende Wirkung von Tarifvertragsnormen entspreche weder einem praktischen Bedürfnis noch der natürlichen Funktion des Tarifvertrages. Daher wurde eine derartige Möglichkeit der Regelung preisgegeben.“511 Über den neuen Entwurf vom 8. November 1948, der auf Grundlage der Beschlüsse im Ausschuss für Arbeit erarbeitet worden war, wurde im Plenum in der 24. Vollversammlung des Wirtschaftsrats am 9./10. November 1948 beraten. Da alle größeren Differenzen zuvor im Ausschuss für Arbeit ausgeräumt worden waren und die Kodifizierung des Tarifvertragsrechts angesichts des eine Woche zuvor ausgelaufenen Lohnstopps drängte, gab es keine grundsätzlichen Diskussionen. Änderungsanträge der KPD, die den Gewerkschaften eine stärkere Stellung als den Arbeitgebervereinigungen zusprechen wollte,512 sowie eines FDP-Abgeordneten, der sich gegen die Allgemeinverbindlicherklärung aussprach,513 wurden abgelehnt. Richter erläuterte noch einmal ausführlich, weshalb der Arbeitsausschuss den Forderungen der Länderarbeitsminister, den Ländern Kompetenzen im Rahmen der Allgemeinverbindlicherklärung einzuräumen, nicht nachge508  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 123. 509  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 123. 510  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 123. 511  Herschel, ZFA 1973, 183 (193). 512  Der Antrag ist abgedruckt in: ZFA 1973, 129 (159). 513  Antrag des Abgeordneten Bungartz, in: ZFA 1973, 129 (169).

142

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

kommen ist.514 Das stieß im Plenum ebenso auf einhellige Zustimmung wie die liberale Ausrichtung des Entwurfs. Begrüßt wurde, dass die Verwaltung für Arbeit den ursprünglichen Entwurf des Zentralamts aufgegeben und sich der „Weimarer Tradition des Tarifvertragsrechtes“ angeschlossen habe.515 Der Sprecher der CDU-Fraktion, Hugo Karpf, begrüßte im Namen seiner Fraktion die Wiedereinführung der Allgemeinverbindlichkeit und lobte das neue Gesetz als „Weiterentwicklung der Gedanken des Weimarer Tarifrechtes“, die den Tarifvertragsparteien „die Möglichkeit und das Recht [gibt], selbst rechtsschöpferisch zu wirken und auf ihrem ureigensten Gebiet wieder tätig zu sein“.516 Das Entwurf des TVG wurde am Ende einstimmig beschlossen. Die Länderarbeitsminister wollten die fehlende Länderkompetenz im Verfahren über die Allgemeinverbindlicherklärung allerdings wiederum nicht akzeptieren und forderten am 18. November 1948 nochmals eine Änderung des Gesetzes.517 Ihre Änderungswünsche wurden vom Ausschuss für Arbeit erneut abgelehnt.518 Schließlich fand man doch einen Kompromiss: So wurden die Änderungsanträge des Länderrats in der 27. Vollversammlung des Wirtschaftsrats am 2./3. Dezember 1948 abge­ lehnt,519 allerdings gab Storch eine Erklärung ab, wonach von der Delegation auf die Länder „in weitestgehendem Maße“ Gebrauch gemacht werde.520 3.2.2.6  Änderungen des TVG-Entwurfs im Genehmigungsverfahren Damit war das Gesetzgebungsverfahren jedoch immer noch nicht beendet, denn das Gesetz bedurfte noch der Genehmigung der Militärregierung. Das Genehmigungsverfahren sollte sich mit Blick auf die Regelungen zur Allgemeinverbindlicherklärung als schwierig erweisen. Nachdem Goldschmidt den Entwurf in der Rechtsabteilung der Militärregierung vorgestellt und insbesondere die Vorschriften zur Allgemeinverbindlicherklärung 514  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 126. 515  So der Abgeordnete der FDP-Fraktion Wellershausen, zitiert nach Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 127. 516  Karpf, zitiert nach Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 127. 517  ZFA 1973, 129 (170 f.). 518  ZFA 1973, 129 (171). 519  ZFA 1973, 129 (173). 520  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  129 f.



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 143

erläutert hatte, fand eine interne Abstimmung im Bipartite Control Office (BICO) statt. Die Manpower Division begrüßte das Gesetz und insbesondere die zwingende Wirkung von Tarifverträgen. Auch die Einführung einer Allgemeinverbindlicherklärung wurde im Grundsatz gebilligt, nicht zuletzt, da man hiermit am Tarifrecht der Weimarer Republik anknüpfte. Für problematisch hielt man jedoch die Allgemeinverbindlicherklärung aus Gründen der sozialen Ordnung, da dieses Kriterium zu wenig präzise sei.521 Das BICO schloss sich dieser Einschätzung an. Am 14. Januar 1949 fand ein Treffen zwischen General Clay und General Brownjohn statt. Sie waren sich darüber einig, dass die Regelungen im TVG über die Allgemeinverbindlicherklärung nicht akzeptabel seien und beauftragten die Manpower Division und die Legal Division mit der Ausarbeitung eines Änderungsentwurfs.522 In einer Besprechung mit der Verwaltung für Arbeit am 19. Januar 1949 teilte das BICO Goldschmidt und Classen mit, dass § 5 TVG nicht genehmigt werde, und übermittelte einen Änderungsentwurf mitsamt zwei Alternativvorschlägen. Alle drei Entwürfe sahen als Voraussetzung für die Allgemeinverbindlicherklärung ein Quorum von 50 Prozent der Arbeitnehmer vor, wobei die Berechnungsgrundlagen unterschiedlich waren. Zudem musste die Entscheidung über die Allgemeinverbindlicherklärung durch Mehrheitsbeschluss in einem paritätisch besetzten Ausschuss getroffen werden.523 Storch sah jedoch in der Allgemeinverbindlicherklärung ein Instrument der Mindestlohnfestsetzung in Branchen ohne starke Gewerkschaften. Er wollte daher an der Allgemeinverbindlicherklärung aus Gründen der sozialen Ordnung festhalten und lediglich das unbestimmte Kriterium der „überwiegenden Bedeutung“ durch das 50-Prozent-Quorum ersetzen.524 Im Anschluss fanden mehrere Gespräche zwischen Vertretern der Verwaltung für Arbeit und des BICO statt. Da man zwischenzeitlich Signale erhielt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung aus Gründen der sozialen Ordnung möglicherweise doch genehmigt würde, wurde § 5 TVG im Wirtschaftsrat dahingehend geändert, dass Tarifverträge nur im Einvernehmen mit einem paritätisch besetzten Tarifausschuss für allgemeinverbindlich erklärt werden können, sofern das 50-Prozent-Quorum erreicht wurde oder die soziale 521  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 132. 522  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 133. 523  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 134. 524  Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 135.

144

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Ordnung dies erfordert und die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint.525 Entgegen den Hoffnungen der Verwaltung für Arbeit genehmigte die Militärregierung die geänderte Fassung des § 5 TVG jedoch noch immer nicht. Neben einer unproblematischen Änderung bezüglich der Aufhebung der Allgemeinverbindlicherklärung verlangte die Militärregierung nun doch die Streichung der Allgemeinverbindlicherklärung aus Gründen der sozialen Ordnung. Am 24. März 1949 beschloss der Wirtschaftsrat in seiner 35. Vollversammlung die entsprechende Änderung des § 5 TVG, ­ am 31. März 1949 erteilte der Länderrat seine Zustimmung.526 Nachdem die Militärregierung am 5. April 1949 ihre Genehmigung erteilt hatte, wurde das TVG am 9. April 1949 verkündet und trat am 23. April 1949 mit Veröffentlichung im Gesetzblatt in Kraft.527 Am 11. Januar 1952 wurde § 5 TVG einige Zeit später doch noch um die Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung zur Behebung eines sozialen Notstands ­ ergänzt,528 um eine angemessene Vergütung der Beschäftigten in der Landwirtschaft zu ermöglichen.529 Durch Gesetz vom 23. April 1953530 wurde das TVG schließlich auf die Länder der französischen Besatzungszone erstreckt.531

3.2.3  Grundsätzliche Ausrichtung des Tarifvertragsrechts im TVG von 1949 im Vergleich mit der TVVO 1918 Das TVG in seiner endgültigen Fassung weist zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber auch einige Unterschiede zur TVVO von 1918 auf. Auf die 525  Beschluss der 33. Vollversammlung des Wirtschaftsrats des Vereinigten Wirtschaftsgebiets v. 18.2.1949, vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 137. 526  Vgl. Wiedemann/Oetker, TVG, 8. Auflage, 2019, Geschichte Rn. 46; Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 138. 527  WiGBl. 1949, S. 55. 528  Durch das Gesetz zur Änderung des Tarifvertragsgesetzes v. 11.1.1952, BGBl. 1952 I, S. 19. 529  Vgl. dazu Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 139. 530  Gesetz zur Erstreckung des Tarifvertragsgesetzes v. 23.4.1953, BGBl. 1953 I, S. 156; vgl. aber die Übernahme des (Bundes-)TVG in Berlin erst durch Art. I des Gesetzes zur Übernahme von Gesetzen v. 16.1.1975, GVBl. 1975, S. 193; dazu Wilke/ Ziekow, JÖR 37 (1988), 167 (274). 531  Vgl. zu den in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zwischenzeitlich geltenden Tarifvertragsgesetzen Fechner, RdA 1950, 129; Richardi, Arbeitsrecht als Teil freiheitlicher Ordnung, S. 71 ff.



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 145

rechtsdogmatischen Detailfragen kann an dieser Stelle verzichtet werden. Im Folgenden werden lediglich einige Punkte herausgegriffen, welche die grundsätzliche Ausrichtung des Tarifvertragsrechts betreffen. 3.2.3.1  Verzicht auf eine konstitutive Eintragungspflicht und ein behördliches Prüfungsrecht Die Entstehungsgeschichte des TVG war, wie dargelegt, geprägt von einem Aufeinanderprallen zweier bereits im Ausgangspunkt grundverschiedener Tarifvertragsrechtskonzeptionen. Das Zentralamt für Arbeit in der britischen Besatzungszone und später die Verwaltung für Arbeit im Vereinigten Wirtschaftsgebiet beabsichtigten, die Arbeitsbehörde mit erheblichen Kompetenzen auszustatten. Durch das Erfordernis einer konstitutiven Eintragung in das Tarifregister und das Recht der Behörde zur Ablehnung der Eintragung aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls – ein Kriterium, das der Behörde einen erheblichen Interpretationsspielraum eingeräumt hätte – wären die Tarifvertragsparteien unter die Aufsicht der Staatsverwaltung gestellt worden. An die Stelle der freiheitlichen Tarifautonomie wäre damit ein korporatives Tarifvertragssystem nach dem Vorbild von Sinzheimers „sozialer Selbstbestimmung im Recht“532 getreten. Durch die im Lemgoer Entwurf des Zentralamts vorgesehene Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ohne Antrag einer Tarifvertragspartei wäre dieses staatskorporative Tarifvertragsrechtsmodell auf die Spitze getrieben worden. Hätte die Verwaltung für Arbeit zudem auch noch ihre Vorstellungen von einem Schlichtungsgesetz durchgesetzt, das in Anlehnung an die Schlichtungsverordnung von 1923 sowohl einen Schlichtungszwang als auch eine Zwangsschlichtung ermög­ lichen sollte, wäre der Staat in die Lage versetzt worden, ohne Mitwirkung der Sozialpartner tarifliche Regelungen nicht nur mit Wirkung für die Mitglieder der Tarifvertragsparteien, sondern darüber hinaus mit allgemeiner Wirkung im Geltungsbereich des Tarifvertrags zu „erlassen“.533 Im Ergebnis hat sich die Arbeitsverwaltung mit ihren Vorstellungen jedoch nicht durchsetzen können. Stattdessen haben die Arbeitgeber und die Gewerkschaften ein liberales Tarifvertragssystem nach dem Vorbild der TVVO von 1918 gegen den Willen der Verwaltung für Arbeit durchgesetzt. Von Beginn an haben die Sozialpartner Hand in Hand gegen die staatskor532  Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916; ders., in: Festgabe 50 Jahre Reichsgericht, 4. Band, 1929, S. 1 (6); vgl. dazu oben 3.1.2.4.2. 533  Zutreffend Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 88.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

porativen Vorstellungen des Zentralamts gekämpft, blieben allerdings bei den Arbeiten an einer Tarifvertragsverordnung in der britischen Zone zunächst erfolglos. Erst durch den Clou der Gewerkschaften, den Nipper­ dey’schen Entwurf nach dem Zusammenschluss der beiden Zonen zu einem Vereinigten Wirtschaftsgebiet über die SPD-Fraktion als Initiativ­antrag in den Wirtschaftsrat einzubringen und damit zur Beratungsgrundlage zu machen, wurde die Verwaltung für Arbeit in die Defensive gedrängt und schließlich genötigt, von ihrer Konzeption abzurücken. Es ist also letztlich das Verdienst von Gewerkschaften und Arbeitgebern, dass Tarifverträge in der Bundesrepublik das Ergebnis staatsfreier Aushandlung von Arbeits­ bedingungen durch die Koalitionen sind und die Tarifautonomie nicht unter staatliche Aufsicht und behördliche Angemessenheitskontrolle gestellt wur­de. 3.2.3.2  Verbandstheorie und Satzungsautonomie Tarifvertragsparteien sind nach § 2 Abs. 1 TVG Gewerkschaften, einzelne Arbeitgeber sowie Vereinigungen von Arbeitgebern. Die Regelung entspricht inhaltlich § 1 TVVO. Die Verfasser des TVG haben sich wiederum für die Verbandstheorie, aber auch für die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers entschieden. Zwar wurde in der britischen Zone zunächst über das Beitrittsmodell als ernsthafte Alternative diskutiert, die sogar Eingang in einen Entwurf des Zentralamts gefunden hat.534 Die Gewerkschaften hatten dann jedoch zutreffend erkannt, dass die Tarifautonomie auf Dauer nicht funktionieren kann, wenn der Arbeitgeber dem Tarifvertragssystem entzogen ist und auch durch Arbeitskampf nicht zum Abschluss eines Tarifvertrags oder zum Verbandsbeitritt gezwungen werden kann.535 Dem liberalen Verständnis der Tarifautonomie und Koalitionsfreiheit entspricht auch die Respektierung der Satzungshoheit von Arbeitgebervereinigungen. Von Beginn an war umstritten, ob die Arbeitgeber sich nach den eigenen Präferenzen organisieren durften, was eine Aufteilung in tariffähige Arbeitgeberverbände und tarifunfähige Wirtschaftsverbände ermöglichte, oder ob man verpflichtend eine einheitliche tariffähige Organisa­ tionsstruktur vorgeben sollte. Noch in der Sitzung des Ausschusses für Arbeit am 3. November 1948 versuchten die Gewerkschaften die von 534  Vgl.

oben 3.2.2.1.

535  Dementsprechend

sprachen auch die in der Weimarer Republik entwickelten „Beitrittsmodelle“ dem einzelnen Arbeitgeber nicht die Tariffähigkeit ab, vgl. nur Nipperdey, Beiträge zum Tarifrecht, 1924, S. 186, 190 sowie den Entwurf eines Arbeitstarifgesetzes, ausgearbeitet von dem Arbeitsausschuss für ein einheitliches ­ Arbeitsrecht, RABl. 1921, 491.



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 147

Heinz Potthoff schon 1946536 vorgebrachte Forderung nach einer einheit­ lichen Vertretung unternehmerischer und sozialpolitischer Interessen der Arbeitgeberseite im Wirtschaftsrat durchzusetzen, scheiterten damit jedoch.537 Die Mehrheit sprach sich dafür aus, den Arbeitgebern in Ansehung ihrer Koalitionsfreiheit und Satzungsautonomie die Freiheit einzuräumen, ihre Organisationsform selbst zu bestimmen. Dementsprechend sind als „Vereinigung von Arbeitgebern“ im Sinne des § 2 Abs. 1 TVG heute alle Arbeitgeberverbände zu verstehen, die den Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG erfüllen und deren satzungsmäßige Aufgabe (zumindest auch) der Abschluss von Tarifverträgen ist, während reine Wirtschaftsverbände ohne eine solche Satzungsregelung nicht tariffähig sind.538 Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes wäre die von den Gewerkschaften geforderte Beschränkung der Satzungsautonomie von Arbeitgeberverbänden ohnehin verfassungswidrig.539 3.2.3.3  Normative Wirkung des Tarifvertrags Die normative Wirkung des Tarifvertrags stand im Gesetzgebungsverfahren nicht zur Disposition. Die Frage war nur, ob man die unmittelbare und zwingende Wirkung terminologisch schärfer zum Ausdruck bringen sollte, als es noch in der TVVO der Fall gewesen war. Die heutige Formulierung des § 4 Abs. 1 TVG, wonach die Rechtsnormen des Tarifvertrags unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen gelten, geht auf Nipperdeys Entwurf für die Gewerkschaften von 1948 zurück.540 Im Gegensatz zur TVVO, deren § 1 die unmittelbare und zwingende Tarifnormwirkung nur unzureichend zum Ausdruck gebracht hatte, nennt das TVG den Rechtsnormcharakter des Tarifvertrags nun erstmals ausdrücklich. Die Arbeitgeber konnten sich mit ihrem Antrag, die Begriffe „Rechtsnormen“ und „Tarifnormen“ durch „Rechtsbestimmungen“ und 536  Vgl.

S. 83.

Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985,

537  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 123. 538  Vgl. nur Löwisch/Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, § 2 Rn. 215; ErfK/Franzen, 21. Auflage, 2021, § 2 TVG Rn. 8. 539  Vgl. dazu nur BVerfG v. 11.7.2017 – 1 BvR 1571/15 u. a., NZA 2017, 915 Rn. 133; BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, BVerfGE 100, 214 (224); BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rn. 17; BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 Rn. 51 ff. 540  Abgedruckt bei Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 211.

148

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

„Tarifbestimmungen“ zu ersetzen,541 nicht durchsetzen. Durch den Begriff der „Rechtsnorm“ wollte man alle Theorien ablehnen, die eine Zuordnung der tariflichen Regelungen zum objektiven Recht leugnen.542 Zudem wurde der Normkatalog gegenüber der TVVO um Abschlussnormen sowie Normen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen erweitert, während nach § 1 TVVO lediglich Regelungen über den Inhalt und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen mit normativer Wirkung zulässig waren.543 Mit Ausnahme des auf Herschel zurückgehenden544 § 3 Abs. 2 TVG, der für betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Tarifnormen die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers genügen lässt, folgt das TVG ebenso wie zuvor die TVVO dem Grundsatz der beiderseitigen Tarifgebundenheit. Darin liegt eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Grundentscheidung für ein freiheitlich-liberales Tarifvertragsmodell. § 3 Abs. 1 TVG ist zen­ traler Anknüpfungspunkt für das heute vorherrschende Verständnis von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie. Tarifverträge gelten nur für diejenigen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, welche die Tarifvertragsparteien durch ihren Verbandsbeitritt zum Abschluss des Tarifvertrags legitimiert haben.545 3.2.3.4 Günstigkeitsprinzip Nach § 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG gilt im Verhältnis von Tarifvertrag und Arbeitsvertrag das Günstigkeitsprinzip als Ausnahme zur zwingenden Wirkung des Tarifvertrags nach § 4 Abs. 1 TVG. Seine endgültige Fassung hat § 4 Abs. 3 TVG erst zu einem späten Zeitpunkt im Laufe des Gesetzgebungsverfahren erhalten, nämlich in der zweiten Sitzung des Ausschusses für Arbeit des Wirtschaftsrats am 3. November 1948.546 Alle vorherigen Entwürfe, sei es vom Zentralamt oder der Verwaltung für Arbeit, sei es von den Arbeitgebern oder von den Gewerkschaften, orientierten sich demgegenüber an der TVVO, die zwar ebenfalls bereits das Günstigkeitsprinzip kannte, dieses jedoch nicht als verbindliches Grundprinzip des Ta541  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 108. 542  Herschel, ZFA 1973, 183 (188). 543  Vgl. Höpfner, ZFA 2019, 108 (140); Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 183 ff., 194 f.; unzutreffend demgegenüber Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 105, 142, 149. 544  Vgl. oben 3.2.2.5. 545  Vgl. unten 3.3.2 und 3.3.3. 546  Vgl. oben 3.2.2.5.



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 149

rifvertragsrechts, sondern lediglich als Auslegungsregel ausgestaltete.547 Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 TVVO war das Günstigkeitsprinzip lediglich ein Unterfall der tariflichen Öffnungsklausel. Seine Besonderheit bestand allein darin, dass das Einverständnis der Tarifvertragsparteien vermutet wurde. Die Vermutung konnte aber durch ausdrückliche Vereinbarung im Tarifvertrag widerlegt werden. Indem die Verfasser des TVG das Günstigkeitsprinzip der Dispositionshoheit der Tarifvertragsparteien entzogen, haben sie es zu einer echten „Schranke der Tarifmacht“548 und damit zugleich zu einer Grenze der ­Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis erhoben. Die Funktion des Günstigkeitsprinzips hat sich damit grundlegend geändert: Die Abdingbarkeit des Günstigkeitsprinzips in der Weimarer Republik war ein Ausdruck der Unterordnung des Individualinteresses des einzelnen Arbeitnehmers (und des Arbeitgebers als dessen Vertragspartner) unter das Kollektivinteresse der Tarifvertragsparteien. So hatte vor allem Sinzheimer darauf verwiesen, dass es Umstände geben kann, unter denen tarifliche Höchstarbeitsbedingungen geboten sein könnten, etwa zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oder aus sonstigen Interessen der Verbände.549 Heute hingegen zieht das Günstigkeitsprinzip eine einfachgesetzlich ausgestaltete Grenze zwischen der nach Art. 9 Abs. 3 GG geschützten kollektiven Vertragsfreiheit und der von Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten individuellen Vertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien.550 Indem das Günstigkeitsprinzip der Dispositionshoheit der Tarifvertragsparteien entzogen wird, verfolgt § 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG erstmals in Deutschland konsequent das Prinzip der Paritätsförderung durch Assoziierung. Der Tarifvertrag dient danach lediglich dem Schutz und nicht zugleich der Bevormundung der einzelnen Arbeitnehmer. Der Geltungsgrund des Günstigkeitsprinzips liegt darin, die Vertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien im Bereich oberhalb der tarifvertraglichen Mindestarbeitsbedingungen wie547  Vgl. Krummel, Die Geschichte des Unabdingbarkeitsgrundsatzes und des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsrecht, 1991, S. 98; Richardi, RdA 1983, 201 (206); Schmidt, Das Günstigkeitsprinzip im Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht, 1994, S. 30, 54; zu Unrecht a. A. Kühnast, Die Grenzen zwischen tariflicher und privatautonomer Regelungsbefugnis, 2005, S. 111. 548  Vgl. Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 360; Belling, Das Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht, 1984, S. 61; Reichold, ZFA 1998, 237 (249); Säcker/Oetker, ZFA 1996, 85 (94); Löwisch/Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, § 4 Rn.  557; a. A. Linsenmaier, RdA 2014, 336 (338 f.). 549  Vgl. Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 114 f. 550  Henssler, ZFA 1998, 1 (18); Kühnast, Die Grenzen zwischen tariflicher und privatautonomer Regelungsbefugnis, 2005, S. 125 ff.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

derherzustellen, die durch die zwingende Wirkung des Tarifvertrags par­ tiell beschränkt wird.551 Damit wird zugleich die Legitimation der Tarif­ autonomie sichtbar: Als kollektive „Hilfe zur Selbsthilfe“ soll diese ­gewährleisten, dass die Arbeitsmarktakteure durch Bündelung ihrer Verhandlungsmacht und frei von staatlichem Einfluss angemessene Arbeitsbedingungen aushandeln. Die auf diese Weise zustande gekommenen Arbeitsbedingungen sind jedoch lediglich Mindestarbeitsbedingungen, um die typischerweise fehlende Verhandlungsparität zwischen den Individualarbeitsvertragsparteien auszugleichen. Die Tarifautonomie ist dagegen kein Instrument der Bevormundung der Arbeitsvertragsparteien in Fällen, in denen der Arbeitnehmer seine Interessen im Wege von Individualverhandlungen gegenüber dem Arbeitgeber effektiv durchsetzen kann. Nicht das Kollektivinteresse des Verbands, sondern das Individualinteresse der tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien ist Schutzzweck des Günstigkeitsprinzips. 3.2.3.5 Allgemeinverbindlicherklärung Schließlich erweist sich auch die Regelung über die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen in § 5 TVG 1949 als Ergebnis einer grundsächlich freiheitlich-liberalen Ausrichtung des Tarifvertragssystems. Das gilt zum einen für die Bindung des Ministeriums an den Antrag einer Tarifvertragspartei (seit dem 16. August 2014: Antrag beider Tarifvertragsparteien) sowie an die Zustimmung des paritätisch besetzten Tarifausschusses. Damit ist die Allgemeinverbindlicherklärung gegen den Willen der Tarifvertragsparteien und der Spitzenverbände von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgeschlossen. Zum anderen wurde durch das 50-ProzentQuorum als Konkretisierung der in den Entwürfen zuvor vorgesehenen „überwiegenden Bedeutung“ gewährleistet, dass die von § 5 TVG vor Außenseiterkonkurrenz geschützte Gruppe der Tarifgebundenen auch tatsächlich die Mehrheit im Geltungsbereich des Tarifvertrags darstellt.552 Diesem Ziel dienten gerade auch die mehrfachen Interventionen der Militärregierung. Diese wollte sicherstellen, dass nicht die Minderheit vor der Mehrheit geschützt wird.553 Zugleich vermittelte das Quorum eine „erhöhte Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 506 f. 1952 eingefügte Regelung des § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG, die eine der Allgemeinverbindlicherklärung zur Behebung eines sozialen Notstands erlaubte, wurde in der Praxis nicht ein einziges Mal angewendet, vgl. Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 469 mit weiteren Nachweisen. 553  In diese Richtung auch Jacobs, in: FS Walz, 2008, S. 289 (304); Rieble/Klebeck, ZIP 2006, 829 (833). 551  Vgl. 552  Die



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 151

Legitimität der hoheitlichen Erstreckungsentscheidung auf die nicht Organisierten“.554 Die Abkehr vom 50-Prozent-Quorum durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz im Jahr 2014 spiegelt auch die gewandelte Funktion der Allgemeinverbindlicherklärung wider, die heute von der Politik weniger als Instrument des Schutzes der Tarifgebundenen vor Außenseiterkonkurrenz, sondern vorrangig als Mittel zum Schutz der Außenseiter vor unangemessenen Arbeitsbedingungen verstanden wird. Dass dies allerdings in Zeiten eines gesetzlichen Mindestlohns nach dem Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (MiLoG), mit dessen Inkrafttreten zugleich das seit 1952 bestehende, aber nicht einmal angewandte Mindestarbeitsbedingungengesetz555 außer Kraft gesetzt wurde,556 ein zulässiger Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung ist, muss bezweifelt werden.557

3.2.4  Die Schlichtung von Tarifkonflikten in der Bundesrepublik Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wendete man sich sehr rasch wieder dem Schlichtungswesen zu. Bereits am 26. August 1946, mehr als zwei Jahre vor Erlass des TVG, trat das Kontrollratsgesetz Nr. 35 betreffend Ausgleichs- und Schiedsverfahren in Arbeitsstreitigkeiten (KRG Nr. 35)558 in Kraft. Das Gesetz führte die staatliche Schlichtung wieder ein, allerdings nicht – wie noch zu Weimarer Zeit – als Zwangsschlichtung. Es ist vielmehr vom Prinzip der Koalitionsautonomie beherrscht und folgt dem Grundsatz der freiwilligen Schlichtung.559 Art. 2 Abs. 1 KRG Nr. 35 gewährleistet einen Vorrang der vereinbarten Schlichtung, indem der Schiedsausschuss nur angerufen werden kann, wenn die Arbeitsstreitigkeit nicht in einem Ausgleichsverfahren oder einem anderen – insbesondere tarifvertraglich – vereinbarten Verfahren beigelegt worden ist. Darüber hinaus besteht weder ein Schlichtungs- noch ein Einlassungszwang für die Parteien. Der Schiedsausschuss kann nicht von Amts wegen tätig werden, sondern nur, wenn die beteiligten Parteien ihn nach Art. 2 Abs. 1 KRG Nr. 35 anrufen. Art. 8 KRG Nr. 35 bekräftigt, 554  Bepler,

in: Verhandlungen des 70. DJT, 1. Band, 2014, S. B1 (B116). dazu Sittard, RdA 2013, 301 (306 f.). 556  Durch Art. 14 des Tarifautonomiestärkungsgesetzes v. 11.8.2014. 557  Vgl. dazu unten 4.4.1. 558  Kontrollratsgesetz Nr. 35 betreffend Ausgleichs- und Schiedsverfahren in Arbeitsstreitigkeiten v. 10.8.1946, ABl. 1946, S. 174. 559  Vgl. Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, 7. Auflage, 1967, S. 28. 555  Vgl.

152

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

dass das Schlichtungsverfahren nur durch beide Parteien gemeinsam eröffnet werden kann. Der Schiedsspruch ergeht gemäß Art. 9 Abs. 5 KRG Nr. 35 mit einfacher Mehrheit im Schiedsausschuss und ist schriftlich niederzulegen. Er bindet die beteiligten Parteien nur dann, wenn beide Seiten seine Annahme erklären (Art. 10 Abs. 1 KRG Nr. 35) oder wenn die Parteien seine Annahme im Wege einer Vorabunterwerfung bereits vor der Fällung des Schiedsspruchs vereinbart haben (Art. 10 Abs. 2 lit. a KRG Nr. 35). Sofern ein bindender Schiedsspruch unter Beteiligung beider Tarifvertragsparteien zustande kommt, hat er die Wirkung eines Tarifvertrags (Art. 10 Abs. 3 KRG Nr. 35). Insgesamt war das KRG Nr. 35 also das exakte Gegenmodell zur Weimarer Zwangsschlichtung. Allerdings wurde der Grundsatz der lediglich freiwilligen Tarifschlichtung keineswegs allgemein begrüßt. In der Arbeitsverwaltung, die ja auch schon im Tarifvertragsrecht die Autonomie der Koalitionen einschränken wollte,560 gab es durchaus Bestrebungen, wieder ein Modell der staatlichen Zwangsschlichtung einzuführen. Bereits im ­November 1948 wurde in der Verwaltung für Arbeit der Entwurf eines Schlichtungsgesetzes erarbeitet, der eine Verbindlicherklärung von Schieds­ sprüchen vorsah.561 Kritik kam sowohl aus dem baden-württembergischen Arbeitsministerium562 als auch von den Arbeitgebern und – nach anfänglicher Sympathie für das Modell der Zwangsschlichtung – von den Gewerkschaften.563 Die Sozialpartner legten daraufhin am 1. April 1949 den „Entwurf eines Gesetzes betreffend Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten“ vor,564 das eine Schlichtung nur auf Antrag einer Partei (§ 8 des Entwurfs) und eine Verbindlichkeit des Schiedsspruchs nur bei Annahme durch beide Parteien vorsah (§§ 11, 12 des Entwurfs). Im Januar 1950 verständigten sich Vertreter des gerade erst gegründeten DGB und der Vereinigung der Arbeitgeberverbände in den „Hattenheimer Gesprächen“ auf die Mustervereinbarung einer tariflichen Schlichtungsordnung,565 die – wie schon das KRG Nr. 35 und der Entwurf vom 1. April 1949 – vollständig dem Grund-

560  Vgl.

oben 3.2.2.1. Der Zwang zur Sozialpartnerschaft, 1969, S. 6; vgl. auch Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 630; Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 76, 88. 562  Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 88. 563  Vgl. Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 630. 564  Abgedruckt in: RdA 1951, 177. 565  Abgedruckt in: RdA 1950, 68. 561  Mühlbradt/Lutz,



3.2  Das TVG – Rückkehr zum liberalen Tarifvertragsmodell 153

satz der freiwilligen Schlichtung verhaftet war.566 Dem Bundesarbeitsminister teilten sie mit, dass eine gesetzliche Regelung des Schlichtungswesens nun nicht mehr erforderlich sei und dass sie „insbesondere eine staatliche Zwangseinwirkung auf das Zustandekommen von Lohn- und Arbeitsbedingungen als mit den Grundsätzen einer verantwortlichen sozialen Selbstverwaltung unvereinbar halten“.567 Da die Mitgliedsverbände der Spitzenorganisationen die Hattenheimer Mustervereinbarung jedoch in der Praxis vielfach nicht übernahmen,568 veröffentlichte das Bundesarbeitsministerium Ende 1950 „Vorläufige Grundsätze für den Entwurf eines Schlichtungsgesetzes“,569 die – wie schon der Entwurf von 1948 – eine Zwangsschlichtung für den Fall erlaubten, dass „lebenswichtige Interessen der Allgemeinheit oder dringende ­soziale Gründe die unverzügliche Beilegung der Gesamtstreitigkeit erforderlich erscheinen lassen und der vorliegende Einigungsvorschlag bei gerechter Abwägung der Interessen beider Teile der Billigkeit entspricht“.570 Allerdings lehnten sowohl der Bundesarbeitsminister als auch der Bundeswirtschaftsminister im Oktober 1951 ein Gesetz, das die Verbindlicherklärung von Schiedssprüchen vorsieht und Zwangstarifverträge ermöglicht, ab.571 Am 7. September 1954 einigten sich schließlich die BDA und der DGB in Bonn auf das sog. „Margarethenhof-Abkommen“,572 das zwar eine obligatorische Schlichtung nach dem Scheitern von Tarifverhandlungen vorsah, jedoch eine Zwangsschlichtung kategorisch ausschloss.573 In zahlreichen Branchen haben die Sozialpartner in der Folge Abkommen auf Grundlage des Margarethenhofer Musters abgeschlossen, wenn auch sehr häufig mit Modifikationen. Die von der Arbeitsverwaltung propagierte Zwangsschlichtung war damit endgültig vom Tisch. Allerdings bedeutet dies nicht, dass es heute keine gesetzliche Regelung der Tarifschlichtung in Deutschland gibt. Das KRG Nr. 35 ist bis heute nicht aufgehoben worden. Ob und auf welche Weise es heute noch gilt, ist umstritten. Richtigerweise ist davon auszugehen, dass das KRG Nr. 35 bis

566  Kittner,

Arbeitskampf, 2005, S. 630. Kommuniqué v. 12.1.1950, abgedruckt in: RdA 1950, 68; vgl. auch Mühlbradt/Lutz, Der Zwang zur Sozialpartnerschaft, 1969, S. 7. 568  Vgl. Mühlbradt/Lutz, Der Zwang zur Sozialpartnerschaft, 1969, S. 15. 569  Abgedruckt in: RdA 1951, 15; vgl. dazu Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 631. 570  RdA 1951, 15 (16). 571  Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 631. 572  Abgedruckt in: RdA 1954, 383. 573  Vgl. zu den Details Höpfner, ZFA 2018, 254 (276 f.). 567  Gemeinsames

154

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

heute als Besatzungsrecht fortgilt.574 Insbesondere führte das Gesetz zur Bereinigung des Besatzungsrechts vom 23. November 2007 nicht zur Aufhebung, da das KRG Nr. 35 darin ausdrücklich ausgenommen wurde.575 Allerdings gilt das KRG Nr. 35 heute nicht im gesamten Gebiet der Bundesrepublik.576 Ausgenommen sind zum einen die neuen Bundesländer. Denn der Ministerrat der damaligen UdSSR577 hatte 1955 sämtliche Kontrollratsgesetze mit Wirkung für das Gebiet der damaligen DDR wirksam aufgehoben.578 Zum anderen haben auch auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik einige Länder das KRG Nr. 35 für ihr Territorium aufgehoben oder durch Landesrecht ersetzt.579 Das gilt erstens für das Saarland und für Berlin; in diesen Ländern existiert heute kein Schlichtungsgesetz. Und es gilt zweitens für den südbadischen Teil Baden-Württembergs, in dem auch heute noch die Badische Landesschlichtungsordnung vom 19. Oktober 1949 gilt.580 In den übrigen (alten) Bundesländern sowie in Nordbaden und Württemberg ist das KRG Nr. 35 heute noch in Kraft. Einen Landesschlichter, der zugleich Vorsitzender des Schiedsausschusses nach Art. 5 KRG Nr. 35 ist, gibt es derzeit jedoch allein in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg. Aktiv „gelebt“ wird die staatliche Schlichtung allein in Nordrhein-Westfalen. Dort kommen Schlichtungsverfahren nach dem KRG Nr. 35 in der Praxis tatsächlich vor, etwa im Tarifkonflikt des Wachund Sicherheitsgewerbes in Nordrhein-Westfalen 2013.581 574  Rensmann, Besatzungsrecht im wiedervereinten Deutschland, 2002, S. 165; Leinenweber, Landesschlichtungsgesetze?, 2011, S. 98  ff.; Löwisch/Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, Grundl. Rn. 380, 382; Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 20 Rn. 18; Höpfner, ZFA 2018, 254 (264 ff.); a. A. Neumann, RdA 1997, 142 (143); Rudkowski, in: Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.), Entgrenzter Arbeitskampf?, 2015, S. 169 (179). 575  Leinenweber, Landesschlichtungsgesetze?, 2011, S.  98  ff.; Löwisch/Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, Grundl. Rn. 382; a. A. Rudkowski, in: Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.), Entgrenzter Arbeitskampf?, 2015, S. 169 (179). 576  Vgl. dazu im Einzelnen Höpfner, ZFA 2018, 254 (267 ff.) mit weiteren Nachweisen. 577  Durch Beschluss des Ministerrates der UdSSR über die Auflösung der Hohen Kommission der UdSSR in Deutschland v. 20.9.1955, abgedruckt bei v. Münch, Dokumente des geteilten Deutschland, Band 1, 2. Auflage, 1976, S. 331. 578  Leinenweber, Landesschlichtungsgesetze?, 2011, S.  80; Rensmann, Besatzungsrecht im wiedervereinten Deutschland, 2002, S. 149; Höpfner, ZFA 2018, 254 (270 f.); a. A. Lembke, RdA 2000, 223 (228); Neumann, RdA 1997, 142 (143). 579  Das ist zulässig, da das Besatzungsrecht keine Vorrangwirkung gegenüber Landesrecht nach Art. 31 GG hat und auch keine Sperrwirkung für die Kompetenz der Länder nach Art. 72, 74 GG entfaltet. 580  Landesgesetz über das Schlichtungswesen bei Arbeitsstreitigkeiten v. 19.10. 1949, GVBl. 1950, S. 60. 581  Vgl. dazu Höpfner, ZFA 2018, 254 (274 f.).



3.3  Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik155

Zusammenfassend lässt sich somit festhalten: Im Gegensatz zur Situation in der Weimarer Republik gibt es in der Bundesrepublik keine gesetzliche Grundlage für eine Zwangsschlichtung. Eine Ausnahme gilt allein in Südbaden nach § 18 der Badischen Landesschlichtungsordnung. Die ganz überwiegende Auffassung geht heute allerdings zu Recht davon aus, dass eine gesetzliche Zwangsschlichtung gegen die Koalitionsfreiheit der zwangs­weise beteiligten Tarifvertragsparteien verstößt.582 Sie verstößt nicht nur gegen die Betätigungsfreiheit der Koalitionen, sondern zugleich auch gegen den Subsidiaritätsgrundsatz, da eine hoheitliche Festsetzung der Arbeitsbedingungen nicht erforderlich ist, solange es den Parteien möglich ist, durch Androhung und Durchführung von Arbeitskämpfen auf eine kollektiv-privatautonome Regelung hinzuwirken.583

3.3  Die Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik 3.3.1  Legitimation von oben: Tarifautonomie als Delegation staatlicher Rechtsetzungsmacht Das Problem einer Legitimation der Tarifautonomie – damals wurde noch nicht differenziert zwischen der Tarifautonomie als solcher und der Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien584 – wurde erstmals in der Bundesrepublik diskutiert, als es um die Frage einer Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien ging. Die in den 1950er Jahren herrschende Auffassung ging davon aus, dass die Tarifvertragsparteien unmittelbar an die Grundrechte gebunden seien, da sie vom Staat delegierte Rechtsetzungs­ befugnis ausübten. Der 1. Senat des BAG brachte dies 1955 auf folgende Formel: „Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die nachfolgenden Grundrechte auch die Gesetzgebung als unmittelbar geltendes Recht. Tarifverträge sind aber Gesetzgebung, Gesetze im materiellen Sinne, weil sie namentlich in ihren Arbeitsbedingungen objektives Recht für die Arbeitsverhältnisse der Beteiligten setzen. Das ergibt sich zwingend aus dem TVG.“585 Der Ge582  Vgl. BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (30); BAG v. 20.11.2012 – 1 AZR 611/11, NZA 2013, 437 Rn. 56; Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 20 Rn. 10, 14, § 22 Rn. 14; Rüthers, Tarifautonomie und gerichtliche Zwangsschlichtung, 1973, S. 27; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, 1969, S. 80; Löwisch/Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, Grundl. Rn. 104; Däubler/Reinfelder, Arbeitskampfrecht, 4. Auflage, 2018, § 15 Rn. 31. 583  Höpfner, ZFA 2018, 254 (280). 584  Vgl. dazu Waltermann, ZFA 2000, 53 (55 ff.) und unten 3.3.3. 585  BAG v. 15.1.1955 – 1 AZR 305/54, NJW 1955, 684 (686).

156

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

genauffassung, die unter „Gesetzgebung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 3 GG lediglich die staatliche Gesetzgebung verstand, hielt das BAG entgegen, sie verkenne, dass „die Tarifvertragsparteien ihre Autonomie zur Rechtssetzung aus ausdrücklicher staatlicher Übertragung im TVG herleiten. Sie würde ohne diese nicht bestehen. Die normative Wirkung der Regeln des Tarifvertrages geht also letztlich doch auf hoheitliche Gewalt zurück. Ist diese an die Verfassung gebunden, so muß das gleiche für diejenigen gelten, die auf Grund staatlicher Delegation Rechtssetzungsbefugnisse ha­ ben.“586 Die sog. Delegationstheorie wurde damals auch im Schrifttum mehrheitlich vertreten. So heißt es etwa bei Huber: „Der Tarifvertrag ist in seinem normativen Teil ein öffentlich-rechtlicher Normenvertrag, der auf Grund der ihnen delegierten staatlichen Rechtsetzungsgewalt von den Tarifparteien als ‚beliehenen Verbänden‘ abgeschlossen wird (‚öffentlich-rechtliche Delegationstheorie‘).“587 Dabei sei die Delegation der Rechtsetzungsgewalt „dadurch gekennzeichnet, dass sie kraft Gesetzes nach generellen Kriterien allen Verbänden (und Einzelarbeitgebern) eines bestimmten Typus zugesprochen ist, ohne daß es zum Erwerb der Tarifmacht noch irgendeines weiteren gesetzesdurchführenden Administrativakts bedürfte“.588 Dem naheliegenden Einwand, dass eine Koalition für sich allein gerade keine Tarifnormen festsetzen könne, sondern dazu stets das Zusammenwirken mit dem sozialen Gegenspieler notwendig ist, wurde damit begegnet, dass die Tarifmacht eine in der Weise delegierte Rechtsetzungsmacht sei, dass sie den Tarifvertragsparteien gemeinsam auf dem Boden völliger Gleichordnung „zur gesamten Hand“ eingeräumt werde.589 Bei Nipperdey heißt es 1967 inhaltlich gleichsinnig, dass die Koalitionen als Berufsverbände „die ihnen delegierten öffentlichen Aufgaben autonom wahrnehmen“, weshalb „gewisse gesetzliche Funktionen der Koali­ tionen“, insbesondere der Abschluss von Tarifverträgen, „als die auf staatlicher Beleihung (Delegation) beruhende autonome Wahrnehmung bestimmter privater und öffentlicher Aufgaben durch die privatrechtlich organisierten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände“ zu kennzeichnen seien.590 Nipperdey stellt auch die Bezüge zu Sinzheimer her – ohne diesen freilich namentlich zu erwähnen –, wenn er die vom Staat an die Koa-

586  BAG

v. 15.1.1955 – 1 AZR 305/54, NJW 1955, 684 (687). Wirtschaftsverwaltungsrecht, Band 2, 2. Auflage, 1954, S. 431. 588  Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Band 2, 2. Auflage, 1954, S. 433. 589  Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Band 2, 2. Auflage, 1954, S. 433. 590  Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, 7. Auflage, 1967, S. 193. 587  Huber,



3.3  Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik157

litionen delegierte Aufgabenerfüllung als „soziale Selbstverwaltung“ oder „soziale Autonomie“ bezeichnet.591 Tatsächlich findet sich die ersten Ausprägungen der Delegationstheorie bereits in Sinzheimers „Arbeitstarifgesetz“ von 1916, in dem er sein Modell der „Vertragsautonomie“ der Koalitionen als Teil ihrer „sozialen Selbstbestimmung“ ausarbeitete.592 Grundlage hierfür war der von Georg Jellinek zehn Jahre zuvor entwickelte Gedanke der Repräsentation sozialer Gruppen in „Spezialparlamenten“. Als Beispiel für eine „Verstaatlichung“ des spezialrechtlichen Verbandsrechts nannte Jellinek ausdrücklich das „Arbeiterrecht der Gegenwart“ und insbesondere die Tarifvereinbarungen.593 Auch wenn Sinzheimer sich mit seinem kollektivistischen Modell einer Verstaatlichung der Tarifautonomie (staatliche Aufsicht über die Tarifvertragsparteien, Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien mitsamt einer Pflicht zum Abschluss von Tarifverträgen etc.) nicht durchsetzen konnte, verteidigte er doch die Delegationstheorie unter Geltung der TVVO und der WRV gegenüber einer strikt rechtsgeschäftlichen Deutung.594 Erneut stellte er dabei die „Vertragsautonomie“ der Koalitionen in den Mittelpunkt: Die Tarifvertragsparteien übten keine originäre, sondern lediglich eine ihnen als Gemeinschaft zur gesamten Hand staatlich delegierte Rechtsetzungsgewalt aus.595 Als Träger dieser Gemeinschaft brächten sie im Wege einer „öffentlich-rechtlichen Rechtsschöpfung“ objektives Recht hervor, wohingegen der schuldrechtliche Vertrag lediglich für die privatrechtliche Einstandspflicht und Haftung relevant sei.596 Die Ausführungen gipfeln in der – konsequenten – Feststellung, der Tarifvertrag sei „kein Instrument privatrechtlicher Selbstbestimmung, sondern ein Instrument der Fremdbestimmung“.597 Im zeitgenössischen Schrifttum stieß Sinzheimer mit der Delegationstheorie verbreitet auf Zustimmung.598 591  Nipperdey,

in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, 7. Auflage, 1967, S. 193. Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 192 f., 199. 593  Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, 1906, S. 79. 594  Sinzheimer, in: Festgabe 50 Jahre Reichsgericht, 4. Band, 1929, S. 1 (7 ff.) gegen Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 246 ff., 272 ff., 404. 595  Sinzheimer, in: Festgabe 50 Jahre Reichsgericht, 4. Band, 1929, S. 1 (7). 596  Sinzheimer, in: Festgabe 50 Jahre Reichsgericht, 4. Band, 1929, S. 1 (8 f.). 597  Sinzheimer, in: Festgabe 50 Jahre Reichsgericht, 4. Band, 1929, S. 1 (12); fast wortidentisch heute wieder Ulber/Klocke, RdA 2021, 178 (185): „Tarifnormsetzung ist Fremdbestimmung“, freilich ohne jedes historische Bewusstsein. 598  Vgl. nur Kandeler, Die Stellung der Berufsverbände im öffentlichen Recht, 1927, S. 12, der in § 1 TVVO eine „Delegation eines bestimmt umgrenzten Gesetzgebungsrechts an die Verbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ erblickte; vgl. auch Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Auflage, 1928, S. 234 f. 592  Vgl.

158

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Während sich die Rechtsprechung 1955 der Delegationstheorie anschloss und an dieser bis Ende der 1990er Jahre festhielt, wurde die Kritik im Schrifttum immer lauter. Gegen die Delegationstheorie wurde eine ganze Reihe von Einwänden vorgebracht: So wurde mit Recht darauf hingewiesen, dass nach Art. 80 Abs. 1 GG durch Gesetz die Bundesregierung, ein Bundesminister oder eine Landesregierung zum Erlass von Verordnungen ermächtigt werden können.599 Eine Ermächtigung der Tarifvertragsparteien zum Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Normenvertrags durch das TVG ist davon nicht gedeckt. Einige Vertreter der Delegationstheorie versuchten dieses Argument dadurch zu entkräften, dass sie die rechtliche Grundlage der Delegation an die Tarifvertragsparteien nicht im einfachgesetzlichen TVG, sondern unmittelbar in Art. 9 Abs. 3 GG verorteten.600 Diese Unterart der Delega­ tionstheorie wurde als sog. Integrationstheorie bezeichnet.601 Darüber hinaus wurde von den Kritikern der Delegationstheorie auf die fehlende Staatsaufsicht über die Tarifverträge hingewiesen.602 Im Gegensatz zur kommunalen Selbstverwaltung, bei der zwar keine Zweck-, aber immerhin eine Rechtmäßigkeitskontrolle stattfindet, unterliegen die Koalitionen noch nicht einmal einer Rechtmäßigkeitskontrolle. Eine solche wäre aber die zwingende Konsequenz einer Delegation hoheitlicher Aufgaben vom Staat an einen „beliehenen“ Privaten, und es ist kein Zufall, dass Sinzheimer bei der Begründung der Delegationstheorie 1916 als eine notwendige Voraussetzung der „sozialen Selbstbestimmung“ der Koalitionen die Aufsicht des Staates über die „eigene Rechtsverwaltung der beteiligten Kreise“ verlangt hat.603 Vor allem aber spricht gegen die Delegationstheorie, dass der Staat nicht delegieren kann, was den Koalitionen bereits originär zusteht. Das gilt zunächst für die einfachgesetzliche Delegation: Wenn Art. 9 Abs. 3 GG den Koalitionen die Aufgabe zuweist, Lohn- und Arbeitsbedingungen in eigener Verantwortung, ohne inhaltliche Vorgaben und formale Mitwirkungsakte des Staates zu vereinbaren, kann der einfache Gesetzgeber durch das TVG den Tarifvertragsparteien nichts übertragen, was ohnehin bereits in deren stellvertretend Däubler, KJ 2014, 372 (378 f.). Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band 1, 1997, S. 558; Biedenkopf, in: Verhandlungen des 46. DJT, Band 1, 1966, S. 97 (111 f.); so auch BAG v. 9.7.1980 – 4 AZR 564/78, AP TVG § 1 Form Nr. 7. 601  Vgl. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002, S. 147 f.; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 174. 602  Vgl. wiederum nur Däubler, KJ 2014, 372 (379). 603  Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz, 1916, S. 193. 599  Vgl.

600  Exemplarisch



3.3  Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik159

Verantwortung liegt.604 Das TVG ist daher keine Delegation der Tarifautonomie, sondern schlicht deren einfachgesetzliche Ausgestaltung.605 Gleiches gilt im Ergebnis aber auch für das von der Integrationstheorie propagierte Verständnis von Art. 9 Abs. 3 GG als Delegationsnorm. Gegen dieses Verständnis spricht bereits der Begriff der Tarifautonomie. Autonom ist, wer selbstbestimmt und unabhängig von Vorgaben Dritter handelt. Bei Claus-Wilhelm Canaris heißt es zutreffend: „Mit der Zulassung der Privatautonomie überträgt der Gesetzgeber nicht eine ‚eigentlich‘ ihm selbst obliegende Aufgabe auf die Privatrechtssubjekte, sondern übernimmt lediglich eine allem positiven Recht vorausliegende Gestaltungsmöglichkeit und stattet sie mit Rechtszwang aus.“606 Damit ist das Modell einer Delegation nicht vereinbar, denn bei der Tarifautonomie handelt sich gerade um eine originäre Aufgabe der Koalitionen und nicht um eine hoheitliche Aufgabe, die lediglich stellvertretend für den Staat wahrgenommen wird. Die Tarifautonomie wird von Art. 9 Abs. 3 GG nicht „gewährt“, sondern „gewährleistet“.607 Das kommt auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Ausdruck. Das Gericht spricht nämlich stets davon, dass der Staat den Koalitionen die Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen „überlässt“608 und gerade nicht „überantwortet“ oder delegiert. Das gilt selbst für die früheren Entscheidungen, in denen das BVerfG die Ordnungsaufgabe der Koalitionen betont und den Abschluss von Tarifverträgen als eine „im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe“ angesehen hat. Auch dort heißt es: „Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet eine Ordnung des Arbeits- und Wirtschaftslebens, bei der der Staat seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung weit zurückgenommen und die Bestimmung über die regelungsbedürftigen Einzelheiten des Arbeitsvertrags grundsätzlich den Koalitionen überlassen hat“.609 Bestätigt wird dies durch die historische Entwicklung der Koalitionsfreiheit und des gesamten Tarifvertragswesens. Wie oben dargelegt, haben die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ihre Freiheiten gegen massive 604  Präzise herausgearbeitet von Waltermann, in: FS Söllner, 2000, S.  1251 (1256 ff.). 605  Vgl. nur BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388 Rn. 51; Dieterich, in: FS Wiedemann, 2002, S. 229 (231 f.). 606  Canaris, AcP 184 (1984), 201 (218). 607  Dieterich, in: FS Wiedemann, 2002, S. 229 (231). 608  Vgl. nur BVerfG v. 14.1.2015 – 1 BvR 931/12, NVwZ 2015, 582 Rn. 62; BVerfG v. 10.9.2004 – 1 BvR 1191/03, NZA 2004, 1338 (1339). 609  BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (340), Hervorhebung hinzugefügt; zuvor schon BVerfG v. 27.2.1973 – 2 BvL 27/69, BVerfGE 34, 307 (316).

160

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Widerstände des Staates erkämpft. Selbst nach der formellen Aufhebung der Koalitionsverbote gab es zahlreiche Hürden für den Abschluss von Tarifverträgen. Nach Ende des Ersten Weltkriegs war es denn auch nicht zuerst der Staat, der die Tarifvertragsparteien anerkannte (mit der TVVO 1918 und der WRV 1919), sondern Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die mit dem Stinnes-Legien-Abkommen die Grundlage für die Tarifautonomie in Deutschland legten, die bis heute fortwirkt. Darin erkannten nicht nur die Arbeitgeber die Gewerkschaften als „berufene Vertreter der Arbeiterschaft“ an, sondern beide Seiten verständigten sich zugleich darauf, dass die Arbeitsbedingungen künftig durch Kollektivvereinbarung festzusetzen sind.610 Aus historischer Sicht war es also keineswegs so, dass der Staat die Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen auf die Koali­ tionen delegierte. Vielmehr erkannte er die zuvor autonom getroffene Vereinbarung von Arbeitgebern und Gewerkschaften an, zunächst indem er das Stinnes-Legien-Abkommen im Reichsarbeitsblatt veröffentlichte, kurze Zeit später durch Anerkennung der Tarifautonomie in Art. 159 und 165 Abs. 1 WRV und – nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus – in Art. 9 Abs. 3 GG.611

3.3.2  Legitimation von unten: Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie Nicht nur allgemein bezüglich der Tarifautonomie, sondern sogar konkret mit Blick auf den Rechtsnormcharakter des Tarifvertrags, der angesichts der unmittelbaren und zwingenden Wirkung die größte Herausforderung für eine privatautonome Legitimation darstellen muss, hat Wolfgang Zöllner bereits 1966 auf die notwendige Unterwerfung der Betroffenen unter die Rechtsetzungsmacht der Verbände hingewiesen. Im Gegensatz zu „objektivem Recht“ würden Tarifnormen gerade nicht ohne Rücksicht auf den Willen des Normadressaten gelten. Aus diesem Grunde stünden die Tarifnormen „hart an der Grenze zur Privatautonomie“.612 Auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, stieß Zöllner damit im rechtswissenschaft­ lichen Schrifttum auf Zustimmung. So sprach Canaris in seinem vielbeachteten Referat, das er 1983 vor der Zivilrechtslehrertagung in Aachen gehalten hat, von der Tarifautonomie als einer „auf die Kollektivebene gehobe-

610  Vgl.

oben 3.1.1.3. auch Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 163. 612  Zöllner, Die Rechtsnatur der Tarifnormen, 1966, S. 37; vgl. zuvor bereits ders., RdA 1964, 443 (450). 611  Vgl.



3.3  Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik161

nen Privatautonomie“.613 Eine Delegation staatlicher Normsetzungsmacht lehnte er ausdrücklich ab. Die vorzugswürdige Kategorie der Legitimation der Tarifnormgeltung sei stattdessen die der staatlichen „Anerkennung“ der Rechtsetzungsbefugnis.614 Das BAG ist im Jahr 1997 auf diesen neueren Begründungsweg eingeschwenkt. In einer Entscheidung zur Zulässigkeit tarifvertraglich begründeter Einstellungsgebote sprach der 7. Senat erstmals von „im Wege kollektiv ausgeübter Privatautonomie geschaffenen Tarifnormen“,615 ohne dass dies freilich entscheidungserheblich war. Quasi zeitgleich sekundierte der damalige Präsident des BAG Thomas Dieterich in einem Festschriftbeitrag, in dem er ausführte: „Tarifverträge sind nicht die Realisierung staatlicher Regelungskonzepte oder Ausübung eines staatlichen Mandats. Sie sind – auch in ihrem normativen Teil – das Ergebnis autonomer Rechtsgestaltung, ‚gebündelter Ausdruck individueller Selbstbestimmung‘. Sie sind kollektiv ausgeübte Privatautonomie.“616 Dieses Schlagwort übernahm nun wiederum der 7. Senat bereits 1998.617 Weitere Senate des BAG folgten, im Jahr 2000 zunächst der 3. Senat,618 wiederum flankiert von Dieterich,619 dann auch der Tarifsenat.620 Seitdem wird die Formel von der „kollektiv ausgeübten Privatautonomie“ in der Rechtsprechung stets wiederholt. Aus berufenem Munde wurde erst jüngst festgehalten: „Diese Delegationstheorie wird aktuell von keinem Senat des BAG mehr vertreten. Dies beruht auf der Erkenntnis, dass die Normsetzung auf der Grundlage der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie nicht das Gebrauchmachen von delegierter Staatsgewalt, sondern Grundrechtsausübung und damit Handeln im Wege kollek­ tivierter Privatautonomie ist.“621 Auffällig ist, dass das BAG gerade in 613  Canaris, AcP 184 (1984), 201 (244); vgl. auch Zachert, DB 1990, 986 (987): Tarifvertrag als „gebündelter Ausdruck individueller Selbstbestimmung“. 614  Canaris, AcP 184 (1984), 201 (218  f., 244) unter Rekurs auf BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (349); im Ausgangspunkt ähnlich Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 138 ff.; Waltermann, in: FS Söllner, 2000, S. 1251 (1263). 615  BAG v. 14.10.1997 – 7 AZR 811/96, AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindus­ trie Nr. 155. 616  Dieterich, in: FS Schaub, 1998, S. 117 (121); vgl. auch Dieterich, in: FS Wiedemann, 2002, S. 229 (238 f.): Tarifvertragsrecht als „Produkt kollektiver Privatautonomie“. 617  BAG v. 25.2.1998 – 7 AZR 641/96, AP TVG § 1 Tarifverträge: Luftfahrt Nr. 11. 618  BAG v. 4.4.2000 – 3 AZR 729/98, AP TVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 2. 619  Dieterich, RdA 2001, 112 (113 ff.). 620  BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, AP TVG § 4 Geltungsbereich Nr. 25. 621  Spelge, ZTR 2020, 127; vgl. auch Pessinger, ZTR 2021, 119.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Grundsatzentscheidungen zu zentralen tarifvertraglichen Fragen, etwa zur Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft, zu tariflichen Differenzierungsklauseln, zum Grundsatz der Tarifeinheit, zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien und insbesondere zur Kontrolle von Nachtarbeitszuschlägen am Maßstab des Gleichheitssatzes, immer wieder maßgeblich auf die Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie abstellt.622 Im Tarifeinheitsurteil aus dem Jahr 2017 hat sich schließlich auch der Erste Senat des BVerfG dieser Sichtweise angeschlossen, wenngleich mit einer geringfügig abweichenden Terminologie. Wörtlich heißt es dort: „Da Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG den sozialen Schutz der abhängig Beschäftigten im Wege der kollektivierten Privatautonomie garantiert und mit Blick auf das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG kommt es dem Gesetzgeber zu, strukturelle Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Tarifverhandlungen einen fairen Ausgleich auch tatsächlich ermöglichen.“623 Die Rechtsprechung hat sich jedoch nicht auf die privatautonome Legitimation der Tarifautonomie beschränkt. Sie erklärt auch die tarifliche Rechtsetzungsbefugnis der Koalitionen mithilfe des kollektiv-privatautonomen Legitimationsmodells. So heißt es etwa in der Grundsatzentscheidung des 1. Senats des BAG zur Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft im Stufenmodell:624 „Tarifautonomie als kollektive Privatautonomie gründet sich entscheidend auf mitgliedschaftliche Legitimation. Die Befugnis der Koalitionen, durch kollektive Vereinbarungen mit dem sozialen Gegenspieler (Tarif-)Normen zu vereinbaren, ergibt sich zumindest auch daraus, dass sich die Mitglieder der tariflichen Normsetzungsbefugnis unterworfen haben. Allerdings bedarf es zur Tarifgebundenheit keiner ausdrücklichen Unterwerfungserklärung der Verbandsmitglieder. Hierfür genügt regelmäßig der Verbandsbeitritt. Darin kommt der Wille zum Ausdruck, sich an die vom Verband geschlossenen Tarifverträge zu binden. An der mitgliedschaftlichen Legitimation für die Tarifgebundenheit bestimmter Mitglieder fehlt es aber, wenn diese grundsätzlich nicht bereit sind, die Tarifverträge gegen sich gelten zu lassen.“625 622  Aus der Masse an Entscheidungen seien nur folgende zentrale Urteile genannt: BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 Rn. 55; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 Rn. 22; BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rn. 40; BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388 Rn. 44, 51; BAG v. 26.4.2017 – 10 AZR 856/15, NZA-RR 2017, 478 Rn. 28; BAG v. 19.12.2019 – 6 AZR 563/18, NZA 2020, 734 Rn. 19; BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 332/20 (A), BB 2021, 1529 Rn. 49; BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 334/20, ZTR 2021, 18 Rn. 26. 623  BVerfG v. 11.7.2017 – 1 BvR 1571/15 u. a., NZA 2017, 915 Rn. 147. 624  Vgl. dazu unten 4.4.3. 625  BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 Rn. 55.



3.3  Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik163

Auf der gleichen Linie hat der 4. Senat bei der Aufgabe des richterrechtlich entwickelten Grundsatzes der Tarifeinheit im Jahr 2010 entschieden: „Die Bindung eines Arbeitsverhältnisses an einen Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG beruht dabei auf privatautonomen Entscheidungen. Der Inhalt und die gesetzlich angeordnete Wirkungsweise des Tarifvertrages erlangen Legitimation durch die freie Entscheidung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Mitglied einer Koalition zu werden. Der Abschluss von Tarifverträgen und die damit bewirkte Normsetzung ist kollektiv ausgeübte Privatautonomie. Die Tarifvertragsparteien und ihre Mitglieder haben dadurch ihr Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG wahrgenommen und Regelungen zu bestimmten Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geschaffen. Wer Mitglied in der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft ist, will insbesondere an den von dieser in Tarifverträgen vereinbarten Mindestbedingungen teilhaben.“626 Und kurz darauf heißt es ergänzend: „Die Bindung des Arbeitsverhältnisses an einen Tarifvertrag beruht – von der hier nicht bedeutsamen Ausnahme einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Abs. 4 TVG abgesehen – dabei auf privatautonomen Entscheidungen. Der Inhalt und die gesetzlich angeordnete Wirkungsweise des Tarifvertrages erlangen Legitimation durch die freie Entscheidung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Mitglied einer Koalition zu werden bzw. als Arbeitgeber-Tarifvertragspartei selbst den Tarifvertrag abzuschließen. Der Abschluss von Tarifverträgen und die damit bewirkte Normsetzung ist kollektiv ausgeübte Privat­ autonomie.“627 Das geänderte dogmatische Verständnis der Tarifautonomie hat Auswirkungen auf die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien und deren Pflichtenstellung. Da die Tarifautonomie die Ausprägung der Koalitionsfreiheit als eines Freiheitsrechts ist, sind die Tarifvertragsparteien Grundrechtsberechtigte und nicht Grundrechtsverpflichtete.628 Sie sind weder Teil der unmittelbar an Grundrechte gebundenen „Gesetzgebung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 3 GG, noch folgt aus ihrem Freiheitsrecht eine Pflicht zum Abschluss von Tarifverträgen oder zur Beachtung von Gemeinwohlinteressen beim Tarifabschluss.629 In der jüngsten Rechtsprechung werden diese Konsequenzen noch einmal betont, etwa vom 6. Senat: „Die Tarifvertragsparteien als Normgeber sind bei der tariflichen Normsetzung nicht unmittelbar grundrechtsgebunden. Durch den Ab626  BAG

v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 Rn. 22. v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rn. 40. 628  Vgl. BAG v. 22.9.2016 – 6 AZR 432/15, NZA-RR 2017, 42 Rn. 22. 629  Vgl. nur Dieterich, in: FS Schaub, 1998, S. 117 (130  f.); Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 169. 627  BAG

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

schluss von Tarifverträgen üben sie weder Staatsgewalt im Sinne von Art. 1 Abs. 3 GG aus, noch werden mit Tarifverträgen staatliche Regelungskonzepte verfolgt. Der Abschluss von Tarifverträgen und die damit bewirkte Normsetzung ist vielmehr ungeachtet der normativen Wirkung, die Tarifnormen nach § 1 TVG zukommt, kollektiv ausgeübte Privatauto­ nomie.“630 Der 10. Senat ergänzt: „Mit der kollektiv ausgeübten privat­ autonomen Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge ist eine unmittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien nicht zu vereinbaren. Sie führte zu einer umfassenden Überprüfung tarifvertrag­ licher Regelungen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit und damit zu einer ‚Tarifzensur‘ durch die Arbeitsgerichte.“631 Und der 4. Senat lehnt eine Pflicht zum Abschluss von Tarifverträgen ebenfalls unter Berufung auf die privatautonome Legitimation der Tarifautonomie ausdrücklich ab: „Ein Tarifvertrag, der auch Abschluss-, Inhaltsund Beendigungsnormen enthält, die für die Arbeitsverhältnisse Dritter (zumindest auf Arbeitnehmerseite) unmittelbar und zwingend gelten, kommt im Normalfall in der beiderseitigen Ausübung des Grundrechts der positiven Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) in autonomen freien Verhandlungen der Tarifvertragsparteien – ggf. nach einem Arbeitskampf – zustande. Dabei besteht grundsätzlich keine rechtliche Pflicht einer Koalition, mit einer anderen Koalition auch nur Verhandlungen über einen Tarifvertrag zu führen. Die Tarifvertragsparteien sind im Rahmen ihrer koali­ tionsspezifischen Betätigung in erster Linie Privatrechtssubjekte und können deshalb schon aufgrund der in Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Vertragsfreiheit frei entscheiden, mit wem sie welche Tarifverträge schließen und – bereits im Vorfeld – mit wem sie hierüber verhandeln wollen. Dies sichert für die Koalitionen das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG noch einmal gesondert.“632 Schließlich wird auch die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags bzw. – präziser – die Ordnungsaufgabe der Koalitionen in der Rechtsprechung erheblich abgeschwächt. Das BVerfG ging vor allem in seiner frühen Rechtsprechung davon aus, dass den Koalitionen die „Aufgabe der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens“ zukomme.633 Die Koalitionen 630  BAG

v. 19.12.2019 – 6 AZR 563/18, NZA 2020, 734 Rn. 19. v. 27.6.2018 – 10 AZR 290/17, NZA 2018, 1344 Rn. 33. 632  BAG v. 25.9.2013 – 4 AZR 173/12, AP TVG § 1 Tarifverträge: Musiker Nr. 26 Rn. 23. 633  BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/54, BVerfGE 4, 96 (107 f.); BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (28); BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BVerfGE 20, 312 (317 f.); BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (341); aus jüngerer Zeit BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, NZA 2011, 60 Rn. 23. 631  BAG



3.3  Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik165

werden nach diesem Verständnis beim Abschluss von Tarifverträgen „im öffentlichen Interesse“ tätig.634 Obwohl sie primär die Partikularinteressen ihrer Mitglieder vertreten, besteht danach eine „im allgemeinen Interesse liegende Aufgabe der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens“ durch Tarifvertrag.635 Die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags knüpft an das von Nipperdey als Regel zur Kollision von Tarifordnung und Betriebsordnung unter dem AOG entwickelte636 und später von Wolfgang Siebert fortentwickelte Ordnungsprinzip637 an.638 Es ist fest verwurzelt im Verständnis der Tarifautonomie als vom Staat auf die Koalitionen delegierter Rechtsetzungsgewalt. Allerdings hat das BVerfG schon in seiner frühen Rechtsprechung das Ordnungsprinzip nicht konsequent zu Ende gedacht. Nach dem ordnungsrechtlichen Verständnis der Tarifautonomie ist den Koalitionen im öffentlichen Interesse die Aufgabe der Ordnung des Arbeitslebens an Stelle des Staates übertragen.639 Mit dieser Prämisse ist die gesetzliche Ausgestaltung des Tarifvertragsrechts jedoch nicht vereinbar, verlangt doch das TVG in § 4 Abs. 1 TVG die beiderseitige Tarifgebundenheit als Voraussetzung der Tarifnormwirkung. Diese Beschränkung der tariflichen Normsetzungsbefugnis auf den Kreis der Koalitionsmitglieder widerspricht offenkundig der (vermeintlichen) Ordnungsaufgabe der Koalitionen. Sie folgt allerdings nicht nur einfachgesetzlich aus dem TVG, sondern begrenzt bereits auf verfassungsrechtlicher Ebene die Befugnisse der Koalitionen. So hat das BVerfG zutreffend entschieden, dass die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Normsetzungsbefugnis der Koalitionen sich grundsätzlich nur auf die Mitglieder der tarifschließenden Parteien erstreckt. Diese Begrenzung der Tarifmacht entspreche der historisch gewachsenen und im Grundgesetz niedergelegten Bedeutung der Koalitionsfreiheit. Das TVG trage dem Grundsatz Rechnung, dass der Staat seine Normsetzungsbefugnis nicht in beliebigem Umfang außerstaatlichen Stellen überlassen und den Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt autonomer Gremien ausliefern darf, die ihm gegenüber nicht demokratisch bzw. mitgliedschaftlich

634  BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (28); BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, NZA 2011, 60 Rn. 23. 635  BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77 u. a., BVerfGE 50, 290 (369). 636  Nipperdey, in: FS Lehmann, 1937, S. 257. 637  Siebert, in: FS Nipperdey, 1955, S. 119. 638  Vgl. dazu jüngst Holler, Die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags, 2020, S.  165 f. 639  Prägnant Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band 1, 1997, S. 291 f., 567, 720.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

legitimiert sind.640 Auch eine Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien mit entsprechender arbeitsgerichtlicher Kontrolle von Tarifverträgen oder gar eine Pflicht der Koalitionen zum Abschluss von Tarifverträgen – auch dies wären, zu Ende gedacht, die Konsequenzen einer Ordnungsaufgabe der Koalitionen – hat die Rechtsprechung zu keiner Zeit in Erwägung gezogen. Nach der Aufgabe der Delegationstheorie in der Rechtsprechung und der Hinwendung auch des BVerfG zur kollektiv-privatautonomen Legitimation der Tarifautonomie641 sollten auch die letzten ordnungsrechtlichen Relikte der Delegationstheorie vollständig aufgegeben werden.642 Zutreffend lautet das Fazit einer jüngst veröffentlichten Dissertation zur Ordnungsfunktion: „Eine umfassende Ordnungsfunktion und eine umfassende Ordnung des Arbeitslebens durch staatliche Zwangsmitgliedsverbände wäre nur unter Aufgabe von Art. 9 Abs. 3 GG und einer Aufgabe der Tarifautonomie mit dem Tarifvertrag als Regelungsinstrument denkbar. Damit wird das Dogma um eine umfassende Ordnungsfunktion des Tarifvertrags gleichsam ad absurdum geführt – es muss für die weitere rechtliche Diskussion aufgegeben werden.“643 Daran vermag auch der durch das Tarifeinheitsgesetz eingeführte pauschale Hinweis auf eine angebliche Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrags in § 4a Abs. 1 TVG nichts zu ändern, allein schon, weil sie sich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 GG bewegen muss. Für das Verhältnis der Koalitionen zu ihren Mitgliedern und die auf diesen Kreis beschränkte tarifliche Normsetzungsbefugnis644 bedarf es jedoch keiner Ordnungsfunktion, sodass es sich bei der Regelung letztlich um einen politischen Programmsatz ohne jede rechtliche Relevanz handelt.645

640  BVerfG

v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (347). v. 11.7.2017 – 1 BvR 1571/15 u. a., NZA 2017, 915 Rn. 147. 642  Ebenso Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 130 ff.; ders., RdA 2021, 127; Holler, Die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags, 2020, passim sowie das Fazit, S. 391. 643  Holler, Die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags, 2020, S. 391. 644  So BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 Rn. 66: „Die Ordnungsfunktion eines Tarifvertrags ist durch die nach §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG auf die Mitglieder beschränkte Rechtssetzungsmacht der Tarifvertragsparteien begrenzt.“; ebenso BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388 Rn. 51; Hütter-Brungs, Tarifautonomie und unternehmerische Freiheit, 2020, S. 104. 645  Ähnlich im Ergebnis Holler, Die Ordnungsfunktion des Tarifvertrags, 2020, passim sowie das Fazit, S. 300 f., 318 ff., 330 ff., 389. 641  BVerfG



3.3  Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik167

3.3.3  Differenzierung zwischen Tarifautonomie, tariflicher Normsetzungsbefugnis und Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis Die Lehre von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie ist nicht nur in der Rechtsprechung, sondern auch im Schrifttum heute ganz herrschend.646 Allerdings ist auch sie bis heute Einwänden ausgesetzt. So wird vor allem geltend gemacht, dass das kollektiv-privatautonome Verständnis des Tarifvertrags in einer Reihe von Fällen die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis nicht erklären könne. Angeführt werden die Geltung von betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen in Arbeitsverhältnissen mit nicht organisierten Arbeitnehmern (§§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 Satz 2 TVG), die Nachbindung an den Tarifvertrag nach Verbandsautritt nach § 3 Abs. 3 TVG, die Nachwirkung von Tarifnormen nach § 4 Abs. 5 TVG sowie die Geltung von für allgemeinverbindlich erklärten Tarifver­ trägen (§ 5 TVG) oder nach §§ 3, 7, 7a AEntG erstreckten Tarifnormen.647 Darüber hinaus wird bestritten, dass im Verbandsbeitritt eine zulässige Unterwerfung unter die tarifliche Normsetzungsmacht der Koalition liege, da das beitretende Mitglied den Inhalt künftiger Tarifverträge nicht kennen könne und eine mitgliedschaftliche Legitimation sich ausschließlich auf die Rechtsbeziehungen zwischen dem Verband und seinen Mitgliedern beziehen könne.648 Diese Kritik ist nur insoweit berechtigt, als dass die normative Wirkung der Tarifnormen im Arbeitsverhältnis nicht rein privatautonom legitimiert 646  Vgl. nur Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, 2007, S. 238 ff.; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 58 f.; Dieterich, in: FS Richardi, 2007, S. 117 (118); ders., in: GS Zachert, 2010, S. 532 (537 ff.); ErfK/Linsenmaier, 21. Auflage, 2021, Art. 9 GG Rn. 55 ff.; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002, S. 143 ff.; Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 101 ff., 156 f.; ders., ZFA 2020, 152 (154 ff.); Henssler, ZFA 1998, 1 (21); ders., RdA 2021, 1 (5); Junker, ZFA 1996, 383 (392); Krause, in: GS Zachert, 2010, S. 605 (606 f.); Löwisch/ Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, Grundl. Rn. 30 ff.; Picker, ZFA 2007, 129 (186); ders., ZFA 1998, 573 (673 ff.); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S.  164 f.; ders., NZA 2014, 1233 (1235); Rieble, ZFA 2004, 1 (14); ders., ZFA 2000, 5 (23 f.); Scholz, RdA 2001, 193 (195). 647  Vgl. nur Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band 1, 1997, S. 562 f.; Däubler, KJ 2014, 372 (376 f.); Oetker, SAE 1999, 149 (151); Däubler/Ulber, TVG, 4. Auflage, 2016, Einleitung Rn. 250; Wiedemann, BB 2013, 1397 (1401); Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 95, 184. 648  Vgl. etwa Wiedemann, RdA 1997, 297 (302); ders., BB 2013, 1397 (1400); Däubler, KJ 2014, 372 (374); Däubler/Ulber, TVG, 4. Auflage, 2016, Einleitung Rn.  256 ff.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

werden kann. Sie vermag jedoch die Lehre von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie nicht schon im Grundsatz in Frage zu stellen. Es ist vielmehr erforderlich, legitimatorisch zwischen der Tarifautonomie als Aufgabe der Koalitionen, der tarifvertraglichen Normsetzungsmacht der Verbände und der rechtsdogmatischen Geltung von Tarifnormen im Arbeitsverhältnis zu differenzieren.649 Nur auf diese Weise kann die Bedeutung einer mitgliedschaftlichen Legitimation der Tarifgeltung zutreffend erkannt werden, die gerade kein Ersatz für den Rechtsnormcharakter nach § 4 Abs. 1 TVG, sondern – gleichsam auf einer Metaebene – ein Erklärungs- und Begründungsansatz für die gesetzlich geregelten Fälle der Tarifgeltung ist. Im Einzelnen gilt:650 Die Koalitionsfreiheit ist ein Freiheitsrecht des einzelnen Arbeitgebers und Arbeitnehmers. Die positive individuelle Koalitionsfreiheit schützt die Mitgliedschaft des Einzelnen in der Koalition. Die kollektive Koalitionsfreiheit verstärkt diese positive Koalitionsfreiheit des Einzelnen und gewährleistet verfassungsrechtlich ein Betätigungsrecht der Koalition selbst, die dabei die Interessen ihrer Mitglieder bündelt und nach außen wahrnimmt. Der zentrale Bestandteil dieser Betätigungsfreiheit der Koalitionen ist die Koalitionsvertrags- oder Tarifautonomie,651 also das Recht, mit einer anderen Koalition (oder einem einzelnen Arbeitgeber) die Lohn- und Arbeitsbedingungen der Koalitionsmitglieder in einem Kollektivvertrag zu regeln. Das TVG gestaltet die Tarifautonomie auf einfachgesetzlicher Ebene aus und stattet die Normen des Tarifvertrags über den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen mit unmittelbarer und zwingender Wirkung aus (§ 4 Abs. 1 TVG). Die Tarifautonomie als solche, d. h. die Befugnis der Koalitionen, Tarifverträge zur Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder abzuschließen, gründet – in Übereinstimmung mit der herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur – nicht auf einer staatlichen ­Delegation hoheitlicher Befugnisse, sondern auf der mitgliedschaftlichen Legitimation der Koalition durch ihre Mitglieder. Den zentralen Anknüpfungspunkt für die privatautonome Legitimation der Tarifautonomie stellt 649  Ebenso im Ausgangspunkt BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 332/20 (A), BB 2021, 1529 Rn. 49; BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 334/20, ZTR 2021, 18 Rn. 26; BAG v. 19.12.2019 – 6 AZR 563/18, NZA 2020, 734 Rn. 19; Waltermann, in: FS Söllner, 2000, S. 1251 (1258 ff.); ders., ZFA 2000, 53 (56 ff.). 650  Vgl. dazu ausführlich Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S.  308 ff. 651  Vgl. zu dem im vorliegenden Kontext nicht relevanten Unterschied Höpfner, RdA 2020, 129 (131 ff.).



3.3  Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik169

der die Verbandsmitgliedschaft begründende Beitrittsakt dar.652 Durch den Beitritt erlangt der Einzelne mit der Mitgliedschaft ein subjektives Recht auf Teilhabe am Verband653 und insbesondere an dessen tarifpolitischem Handeln. Umgekehrt bedarf jeder Verband für sein Handeln einer mitgliedschaftlichen Legitimation,654 da neben der staatlichen Hoheitsgewalt und dem Selbstbestimmungsrecht des Individuums für eine dritte, intermediäre Gewalt kein Raum ist. Die Legitimation des Verbandshandelns erfolgt durch den freiwilligen Beitrittsakt des Mitglieds oder durch die Teilnahme an der Gründung des Verbands. Hierdurch gibt das Mitglied nach außen zu erkennen, dass es die Verbandsverfassung und insbesondere die Regelungen zur Beschlussfassung akzeptiert. Die Legitimation der Koalitionen durch ihre Mitglieder trägt auch das Handeln der Koalition nach außen in Umsetzung verbandsinterner Beschlüsse. Zwar gilt für Verbandsbeschlüsse grundsätzlich nicht das Einstimmigkeits-, sondern das Mehrheitsprinzip.655 An die Stelle der Autonomie des Individuums tritt damit das Demokratieprinzip. Allerdings wird das Demokratieprinzip im Verband seinerseits wiederum mitgliedschaftlich legitimiert. Das Mehrheitsprinzip ist durch den individualautonomen Beitrittsakt gerechtfertigt, mit dem das Mitglied die Geltung auch derjenigen Vereinsbeschlüsse akzeptiert, die ohne oder gegen seinen Willen im vom Gesetz oder der Satzung bestimmten Verfahren gefasst werden.656 Die mitgliedschaftliche Legitimation bezieht sich zwar nicht auf den konkreten Inhalt der einzelnen Verbandsbeschlüsse.657 Der privatautonome Beitrittsakt rechtfertigt jedoch die Anwendung des Mehrheitsprinzips auf verbandsinterne Beschlüsse. Mittelbar ist die Bindung des Mitglieds an die innerverbandliche Beschlussfassung damit privatautonom rekonstruierbar. 652  Vgl. nur BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42; BAG v. 4.4.2000 – 3 AZR 729/98, AP TVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 2; BAG v. 16.2.1962 – 1 AZR 167/61, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 12; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 196 ff., 202; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, S. 59 ff., 231; Dieterich, in: FS Schaub, 1998, S. 117 (121); Henssler, in: FS Picker, 2010, S. 987 (989); Junker, NZA 1997, 1305 (1307); Schüren, RdA 1988, 138; a. A. Belling, ZFA 1999, 547 (594 f.). 653  Grundlegend Lutter, AcP 180 (1980), 84 (102). 654  Vgl. Bötticher, ZFA 1970, 3 (44 ff.); Hadding, in: FS R. Fischer, 1979, S. 165 (188 ff.); Käppler, NZA 1991, 745 (751 f.); Lutter, AcP 180 (1980), 84 (94 ff.); Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, Rn. 1196; ders., ZFA 2000, 5 (10). 655  Und zwar auch im nicht eingetragenen Verein, vgl. nur OLG Frankfurt v. 19.12.1984 – 9 U 107/83, WM 1985, 1466 (1467, 1470); Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, 2003, S. 264 ff. 656  Vgl. auch Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 173 f. 657  So bereits hinsichtlich der Tarifgebundenheit Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, S. 61 f.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Mitgliedschaftlich legitimiert ist auch die tarifvertragliche Normsetzungskompetenz der Koalitionen. Der primäre Zweck des Beitritts zu einer tariffähigen Koalition ist in der Regel gerade, an deren tarifpolitischen Aktivitäten teilzuhaben und insbesondere an die von ihr abgeschlossenen Verbandstarifverträge gebunden zu sein.658 Durch seine Beitrittserklärung gibt der (als Vollmitglied) eintretende Arbeitgeber oder Arbeitnehmer für einen objektiven Dritten in der Position des Erklärungsempfängers deutlich zu erkennen, dass er sich der tariflichen Normsetzungsgewalt des Verbands unterwerfen will. Der Beitrittsakt stellt somit in erster Linie einen privatautonomen Normunterwerfungsakt dar.659 Mit der von § 4 Abs. 1 TVG angeordneten Normwirkung verstärkt der Gesetzgeber lediglich die Geltungskraft des Tarifvertrags, indem er diese entgegen den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsgeschäftslehre unmittelbar und zwingend ausgestaltet.660 Der Beitretende verliert somit – im Gegensatz zum Vollmacht­ geber nach § 167 Abs. 1 BGB – für den Zeitraum seiner Mitgliedschaft grundsätzlich seine individuelle Regelungsmacht über tariflich geregelte Arbeitsbedingungen.661 An dieser Stelle zeigt sich zugleich der grundlegende Unterschied zwischen der Betriebsverfassung als Zwangskorporation662 und der Tarifautonomie als Ausübung kollektiver Privatautonomie.663 Die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit des Austritts ist das

658  Grundlegend Zöllner, RdA 1962, 453 (458); ders., Die Rechtsnatur der Tarifnormen, 1966, S. 31; ferner Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 197; Büdenbender, NZA 2000, 509 (515); Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 64, 144 f. 659  Zutreffend Dieterich, in: FS Schaub, 1998, S. 117 (121); Henssler, in: FS Picker, 2010, S. 987 (989); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S.  162 f.; ders., JZ 2011, 282 (287); Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, Rn. 1200; ders., ZFA 2000, 5 (13 ff.); Schüren, RdA 1988, 138 (138, 141); a. A. Belling, ZFA 1999, 547 (596). 660  Wiederum a. A. Belling, ZFA 1999, 547 (596). 661  Vgl. Adomeit, RdA 1967, 297 (303). 662  Vgl. Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, 2007, S. 335 ff.; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 514 ff.; Kreutz, Grenzen der Betriebsautonomie, 1979, S. 64 ff., 74, 79 ff.; Picker, ZFA 2011, 443 (541); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 312 ff.; Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung, 1996, S. 89 ff., 137; a. A. Reuter, RdA 1991, 193 (197 ff.); ders., ZFA 1993, 221 (226 ff., 251); ders., RdA 1994, 152 (156 ff.); ders., ZFA 1995, 1 (61 f.). 663  Zutreffend herausgearbeitet von Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, 2007, S. 336 f.; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 515 f.; Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 144 f.; Picker, ZFA 2011, 443 (541).



3.3  Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik171

Korrelat zu der grundsätzlichen Unterwerfung des Mitglieds unter die tarifliche Normsetzungsgewalt des Verbands.664 Inhaltlich beschränkt sich der im Beitrittsakt zum Ausdruck kommende Unterwerfungswille des Mitglieds auf die abstrakte Normsetzungsbefugnis der Koalition, welche diese im Zusammenspiel mit einem tariffähigen und tarifzuständigen sozialen Gegenspieler ausübt. Konkrete Inhalte von Tarifverträgen sind hingegen vom Unterwerfungsakt nicht umfasst.665 Dies ist für eine privatautonome Legitimation der Tarifautonomie sowie der tarif­ lichen Normsetzungsbefugnis auch nicht notwendig.666 Die Überlegenheit eines Modells der mitgliedschaftlichen Legitimation von Tarifautonomie und tariflicher Normsetzungsmacht zeigt sich nicht nur darin, dass sie das Erfordernis der Tarifwilligkeit als Voraussetzung der Tariffähigkeit von Verbänden zwanglos erklären kann, sondern auch bei der rechtlichen Bewertung der OT-Mitgliedschaft im Stufenmodell: Der 1. Senat des BAG hat in seinem Grundsatzbeschluss vom 18. Juli 2006 zur Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft im Stufenmodell zu Recht entschieden, dass es den Verbänden aufgrund ihrer Satzungsautonomie und der Koalitionsfreiheit freisteht, eine Form der Mitgliedschaft vorzusehen, die keine Tarifgebundenheit im Sinne des § 3 Abs. 1 TVG erzeugt.667 Diejenigen, die als OT-Mitglied in den Verband eintreten, sind dann keine Mitglieder im Sinne von § 3 Abs. 1 TVG.668 An dieser Argumentation zeigt sich besonders deutlich die Bedeutung des Beitritts als Normunterwerfungsakt. Entscheidend für die Legitimation der tariflichen Normsetzungsbefugnis der Koalition ist die durch den Beitritt konkludent abgegebene Erklärung des Mitglieds, an die von der Koalition geschlossenen Tarifverträge gebunden sein zu wollen. Die „Abhängigkeit der Tarifgebundenheit von dem Umfang der Unterwerfungserklärung“669 hat der 1. Senat 664  Vgl. Schüren, RdA 1988, 138 (141); ders., Die Legitimation der tariflichen Normsetzung, 1990, S. 262. 665  Zutreffend Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 61 f.; A. Wiedemann, Die Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, 1994, S. 76; aus diesem Grunde verfehlt die Kritik von Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 93 ff. den Kern der Problematik. 666  Das verkennen Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band 1, 1997, S. 565; Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 95, 184; richtig demgegenüber Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 196  f.; HütterBrungs, Tarifautonomie und unternehmerische Freiheit, 2020, S. 106 f. 667  BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 Rn. 51 ff.; verfassungsrechtlich gebilligt von BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, AP GG Art. 9 Nr. 146. 668  So ausdrücklich BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 Rn. 54. 669  Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 162.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

des BAG bereits in seiner Entscheidung vom 16. Februar 1962 klar he­ rausgearbeitet. Das Gericht lehnte die Tarifgebundenheit eines Arbeitgebers, der dem tarifschließenden Verband lediglich als Gastmitglied beigetreten war, obwohl er die Anforderungen an eine Vollmitgliedschaft erfüllt hatte, zu Recht ab, da Gastmitgliedern kein Teilhaberecht an den tarifpolitischen Entscheidungen des Verbands zukommt.670 Der Senat ließ es dahinstehen, ob der Arbeitgeber nach der Verbandssatzung überhaupt wirksam Gastmitglied hatte werden können. Die Tarifgebundenheit scheitere jedenfalls daran, dass der Arbeitgeber nicht nach außen erkennbar den Willen geäußert habe, sich den tarifrechtlichen Entscheidungen des Verbands zu unterwerfen.671 Gleiches gilt für die OT-Mitgliedschaft. Dem ausdrücklich als OT-Mitglied beitretenden Arbeitgeber kann nicht der Wille unterstellt werden, im Fall der Unzulässigkeit der OT-Mitgliedschaft (aufgrund fehlender Trennung der Befugnisse von Voll- und OT-Mitgliedern in der Verbands­satzung)672 als Vollmitglied beizutreten. Da die Tarifgebundenheit bereits in der Beitrittserklärung ausdrücklich ausgeschlossen wird, fehlt dem Verband insoweit die mitgliedschaftlich-privatautonome Legitimation zur Normsetzung. Die teilweise vertretene Auffassung, wonach der Arbeitgeber in diesem Fall tarifrechtlich als Vollmitglied zu behandeln sei,673 überzeugt daher nicht. Denn aus einem „Minus an Beitrittswillen“ darf kein „Plus an Mitgliedschaft“ werden.674 Von der mitgliedschaftlich-privatautonomen Legitimation der abstrakten tariflichen Normsetzungsbefugnis zu unterscheiden ist allerdings die Legitimation der Geltung eines konkreten Tarifvertrags im Arbeitsverhältnis. Die Tarifgeltung folgt aus § 4 Abs. 1 TVG, der die unmittelbare und zwingende Wirkung der Tarifnormen im Arbeitsverhältnis anordnet. Sie kann entgegen einer teilweise vertretenen Auffassung675 nicht rein privatrecht670  BAG

v. 16.2.1962 – 1 AZR 167/61, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 12. BAG v. 16.2.1962 – 1 AZR 167/61, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 12; zustimmend Nikisch, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 12; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 162. 672  Vgl. dazu grundlegend BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 Rn. 38 ff.; ferner BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102 Rn. 17; BAG v. 19.6.2012 – 1 AZR 775/10, NZA 2012, 1372 Rn. 17. 673  Bayreuther, BB 2007, 325 (327); Deinert, RdA 2007, 83 (87). 674  So treffend Löwisch/Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, § 3 Rn. 103. 675  Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, 2007, S. 254 ff.; Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S.  146 ff.; ders., JbJZivilrWiss 2008, 379 (390 ff.); Lobinger, JZ 2013, 915 (919 ff.); Picker, in: ders./Rüthers (Hrsg.), Recht und Freiheit, 2003, S. 25 (56 ff.); Hertenstein, Die schuldrechtliche Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien, 2017, S. 51 ff.; unklar Hütter-Brungs, Tarifautonomie und unternehmerische Freiheit, 2020, S. 108 ff., 671  Vgl.



3.3  Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik173

lich rekonstruiert werden. Eine Ersetzung der normativen Tarifwirkung durch ein individualautonomes Vertretungsmodell nach dem Vorbild Lotmars scheitert schon an der gesetzgeberischen Entscheidung für die Verbandstheorie. Sie übersieht zudem, dass Lotmar selbst seine Vertretungskonstruktion nur als Hilfsinstrument entwickelt hat, weil nach der damaligen lex lata ein Abschluss von Tarifverträgen im Namen der Verbände nicht möglich war und eine gesetzliche Regelung für die unmittelbare und zwingende Wirkung der Tarifverträge fehlte.676 Darüber hinaus können weder Vertretungs- noch Ermächtigungsmodelle die normative Wirkung des Tarifvertrags erklären, ohne mit den von der herrschenden Meinung anerkannten Prinzipien der Rechtsgeschäftslehre zu brechen, die eine unwiderrufliche und verdrängende Vollmacht oder Ermächtigung gerade nicht erlauben.677 Aber selbst wenn man dies anders sehen und für den Tarifabschluss eine Ausnahme vom Verbot der unwiderruflichen und verdrängenden Vollmacht annehmen wollte,678 spricht entscheidend gegen eine privatautonome Legitimation der Tarifnormgeltung, dass sich die unmittelbare Wirkung der Stellvertretung nach § 164 Abs. 1 Satz 1 BGB darauf beschränkt, die Parteistellung der vertretenen Verbandsmitglieder im tariflichen Vertragsverhältnis zu begründen. Das davon zu unterscheidende Arbeitsverhältnis wird hierdurch nicht berührt. Der Tarifvertrag ist gerade kein kollektiver Arbeitsvertrag.679 Eine unmittelbare (und zwingende) Wirkung der tarifvertraglichen Regelungen in den Einzelarbeitsverhältnissen kann daher

die zwar im Grundsatz eine privatautonome Legitimation der Tarifnormgeltung bejaht, dann aber in § 4 Abs. 1 TVG eine „erforderliche zusätzliche Anerkennung durch den Gesetzgeber“ sieht (S. 123, Hervorhebung hinzugefügt). 676  De lege ferenda forderte Lotmar dagegen, dass die Verbände selbst Tarifverträge im eigenen Namen abschließen können, vgl. Lotmar/Sulzer, SozPrax 18 (1902), 349; vgl. auch den Diskussionsbeitrag von Wölbling, in: Verhandlungen des 29. DJT, 1908, 5. Band, S. 84; das ignorieren Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 123 und Picker, in: Picker/Rüthers (Hrsg.), Recht und Freiheit, 2003, S. 25 (27), welche umgekehrt die Anordnung der Tarifnormwirkung in der TVVO für eine Not- und Verlegenheitslösung halten. 677  Vgl. dazu Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 328 ff.; ferner Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, 2010, S.  100 ff. 678  Vgl. Hartmann, ZFA 2020, 152 (156); ders., Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 146 ff.; Hertenstein, Die schuldrechtliche Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien, 2017, S. 51 ff.; Hütter-Brungs, Tarifautonomie und unternehmerische Freiheit, 2020, S. 108 ff. 679  So schon auf Grundlage seines Vertretungsmodells Lotmar, ArchSozG XV (1900), 1 (95 f.).

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

privatautonom nicht begründet werden.680 Das wird nun auch von den Vertretern der Gegenauffassung zugestanden.681 Insgesamt gilt also: Der Abschluss des Tarifvertrags ist das Ergebnis kollektiv ausgeübter Privatautonomie. Seine Geltung im Arbeitsverhältnis der Tarifgebundenen beruht auf der gesetzlich angeordneten unmittelbaren und zwingenden Wirkung. Das BAG sieht das genauso. So heißt es beim 6. Senat: „Der Abschluss von Tarifverträgen und die damit bewirkte Normsetzung ist vielmehr ungeachtet der normativen Wirkung, die Tarifnormen nach § 1 TVG zukommt, kollektiv ausgeübte Privatautonomie. Die Tarifvertragsparteien regeln auf dieser Grundlage in Ausübung der ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG eingeräumten Tarifautonomie, mit welchen tarifpolitischen Forderungen sie für ihre Mitglieder tarifvertragliche Regelungen mit welchem Tarifvertragspartner setzen wollen und letztlich vereinbaren. Praktische Wirkung können die so ausgehandelten Normen allerdings nur entfalten, wenn ihnen kraft staatlicher Anordnung unmittelbare und ­zwingende Wirkung zukommt und sie sich gegenüber einzelvertraglichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen durchsetzen.“682 Und der 10. Senat ergänzt: „Mit der Normsetzung auf der Grundlage der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie üben die Tarifvertragsparteien […] nach deutschem Recht keine delegierte Staatsgewalt aus. Sie nehmen vielmehr privatautonom ihre Grundrechte wahr. Diese privatautonome Legitimation reicht teilweise weiter als die Legitimation des staatlichen Gesetzgebers, die den in § 4 Abs. 1 TVG enthaltenen staatlichen Geltungsbefehl tariflicher Rechtsnormen trägt. Mit der privatautonomen Legitimation tariflicher Rechtsnormen ist eine umfassende gerichtliche Überprüfung tarifvertraglicher Regelungen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit in der Regel nicht zu vereinbaren.“683 Letztlich kommt der Frage einer individual-privatautonomen Legitimation der Tarifnormgeltung aber keine entscheidende Bedeutung zu.684 Unmittelbar spielt sie ohnehin keine Rolle, weil § 4 Abs. 1 TVG die normative Wirkung des Tarifvertrags ausdrücklich anordnet. Es ist daher von vornherein ausgeschlossen, die gesetzliche Entscheidung zugunsten der Verbandstheorie und der Normwirkung des Tarifvertrags durch eine vertre680  Vgl. bereits Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 149 ff., 333; ders., ZFA 2019, 108 (133 f.); zustimmend Reichold, RdA 2016, 127 (128). 681  Hartmann, ZFA 2020, 152 (156 f.). 682  BAG v. 19.12.2019 – 6 AZR 563/18, NZA 2020, 734 Rn. 19. 683  BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 332/20 (A), BB 2021, 1529 Rn. 49; BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 334/20, ZTR 2021, 18 Rn. 26. 684  Ebenso Hartmann, ZFA 2020, 152 (157) und schon ders., Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 144, 151.



3.3  Legitimation der Tarifautonomie in der modernen Tarifrechtsdogmatik175

tungs- oder ermächtigungsrechtliche Konstruktion des Tarifabschlusses und seiner Wirkungen zu ersetzen und hierdurch zu abweichenden Ergebnissen zu gelangen.685 Mittelbar allerdings ist die Legitimationsfrage von nicht zu überschätzender Bedeutung, wenn man sie nämlich als eine Rekonstruktion der tariflichen Normsetzungsbefugnis versteht.686 Deren Aufgabe besteht darin zu prüfen, ob die tarifliche Rechtsetzungsmacht der Koalition im Allgemeinen und die Geltung konkreter Tarifnormen im Arbeitsverhältnis im Besonderen durch die Arbeitsvertragsparteien legitimiert ist. Der Grundfall hierfür ist die Tarifgeltung nach §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG in den Arbeitsverhältnissen zwischen den beiderseits kraft privatautonomer Entscheidung Tarifgebundenen. Eine Rekonstruktion der tariflichen Normsetzungsbefugnis und der Tarifgeltung deckt zugleich die Fälle auf, in denen eine Legitimation der Tarifgeltung durch einen privatautonomen Willensentschluss der Tarifgebundenen nicht möglich ist. Das sind vor allem die Fälle einer Allgemeinverbindlicherklärung und einer Tarifnormerstreckung, aber auch der Geltung von betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen in Außenseiterarbeitsverhältnissen, der Nachwirkung von Tarifnormen sowie einer zeitlich unbegrenzten Nachbindung an Tarifverträge nach Beendigung der Verbandsmitgliedschaft.687 Diese Fälle sind gesetzliche Erweiterungen der Tarifgeltung, die gerade nicht auf einer mitgliedschaftlich legitimierten Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien gründet und für die daher – als Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit der tarifunterworfenen Arbeitsvertragsparteien – eine anderweitige Rechtfertigung erforderlich ist. Sie sind keine Argumente gegen die Lehre von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie, wie das bisweilen behauptet wird.688 Vielmehr ist es das große Verdienst der privatautonomen Legitimation der Tarifautonomie, überhaupt erst diese Fälle privatrechts-legitimationsloser Tarifgeltung identifiziert zu haben. Denn nur auf diese Weise wird die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Tarifgeltung in diesen Fällen offengelegt.

685  So aber der – in seiner Zielrichtung durchaus berechtigte – Versuch von Lobinger, JZ 2013, 915 (919 ff., 922 f.), die Nachbindung nach § 3 Abs. 3 TVG zeitlich zu begrenzen. 686  Wiederum übereinstimmend Hartmann, ZFA 2020, 152 (157). 687  Vgl. dazu ausführlich Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 277 ff.; Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 389 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen. 688  Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band 1, 1997, S. 562 f.; Däubler, KJ 2014, 372 (376 f.); Oetker, SAE 1999, 149 (151); Däubler/Ulber, TVG, 4. Auflage, 2016, Einleitung Rn. 250; Wiedemann, BB 2013, 1397 (1401); Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 95, 184.

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3. Die Legitimation der Tarifautonomie

3.4 Fazit Die Koalitionen haben ihre Tarifautonomie gegen erhebliche Widerstände des Staates (zunächst Koalitionsverbote, später rechtliche Unverbindlichkeit der Koalitionsabrede sowie vereins-, versammlungs- und strafrechtliche Repressalien) erkämpft. Obwohl die Rechtsordnung keine explizite gesetzliche Grundlage hierfür vorgesehen hat, hat sich schon im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Tarifvertragswesen entwickelt. Um einen rechtsverbindlichen Abschluss von Tarifverträgen und deren Geltung in den Arbeitsverhältnissen zu begründen, wurden vor Inkrafttreten der TVVO in der Arbeitsrechtswissenschaft zwei grundlegend verschiedene Modelle erarbeitet: Auf der einen Seite steht ein privatautonom fundiertes Stellvertretungsmodell, nach dem die Koalitionen Sachwalter der Interessen ihrer Mitglieder sind. Die Tarifautonomie wird danach individualautonom-mandatarisch „von unten“ durch die Koalitionsmitglieder legitimiert. Protagonist dieser Auffassung war Philipp Lotmar. Auf der anderen Seite wurde die Tarif­ autonomie als vom Willen der Mitglieder unabhängige „soziale Selbstverwaltung“ der Koalitionen angesehen, denen durch staatlichen Rechtsetzungsakt eine öffentlich-rechtliche Normsetzungskompetenz eingeräumt werden sollte. Nach diesem, vor allem von Hugo Sinzheimer vertretenen Modell sollten die Tarifvertragsparteien als „Verwaltungskörper“ unter staatlicher Aufsicht tätig werden. Der Staat hat weder in der Weimarer Republik noch in der Bundesrepublik ein umfassendes Tarifvertragsgesetz erlassen, sondern 1918 mit der TVVO und 1949 mit dem TVG die von den Koalitionen tatsächlich wahrgenommene und durch das Stinnes-Legien-Abkommen auch formell bekräftigte Tarifautonomie gesetzlich gestützt, indem er eine normative Wirkung des Tarifvertrags eingeführt hat, die individualvertraglich nicht zu begründen war. Der gesamte Bereich der schuldrechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen den Verbänden einschließlich der Haftung der Koalitionen sowie die innerverbandlichen Rechtsbeziehungen zwischen der Koalition und ihren Mitgliedern blieben jeweils ungeregelt und der Verantwortung der Tarifvertragsparteien überlassen. Eine zentrale Weichenstellung sowohl der TVVO als auch des TVG liegt darin, dass jeweils die Tarifautonomie auf Grundlage des Vertrags­ modells verwirklicht wurde. Die Gesetzesverfasser haben sich für eine vertragsrechtlich-liberale kollektive Arbeitsverfassung und gegen eine Eingliederung der Koalitionen in die Verwaltungsorganisation und ihre Unterstellung unter eine behördliche Aufsicht entschieden. Das freiheitlich-



3.4 Fazit177

liberale Tarifvertragsmodell wurde allerdings durch zunehmende Zwangselemente im Bereich der Schlichtung von Tarifkonflikten sowie der Allgemeinverbindlicherklärung von Schiedssprüchen schon in den frühen 1920er Jahren überlagert, sodass die Autonomie der Tarifvertragsparteien erheblich beeinträchtigt war. Nach 1945 kehrte man im Ergebnis zu dem ursprünglichen freiheitlichliberalen Tarifvertragsmodell der TVVO von 1918 zurück. Die in der Weimarer Republik gemachten Fehler einer Zwangsschlichtung und einer Allgemeinverbindlicherklärung gegen den Willen der Tarifvertragsparteien wiederholte man nicht. Allerdings war diese Ausgestaltung der kollektiven Arbeitsverfassung keineswegs selbstverständlich, sondern das Ergebnis heftiger Auseinandersetzungen im Gesetzgebungsverfahren. Erst zu einem späten Zeitpunkt (ab Oktober 1948) und nur durch kluges Taktieren des Gewerkschaftsrats, der Hand in Hand mit den Arbeitgebern gegen das von der Arbeitsverwaltung propagierte staatskorporative Modell kämpfte, konnte sich das vertragsrechtlich-liberale Modell der Tarifautonomie als staatsfreie Vertretung von Mitgliederinteressen durchsetzen. Auch im Schlichtungsrecht gelang es den Koalitionen, die von der Arbeitsverwaltung vorgesehenen staatlichen Zwangselemente abzuwehren. Nach 1945 wurde für die Legitimation der Tarifautonomie zunächst die von Sinzheimer begründete Delegationstheorie angeführt. Danach ist der Tarifvertrag in seinem normativen Teil ein öffentlich-rechtlicher Normenvertrag, der auf Grund einer vom Staat delegierten Rechtsetzungskompetenz von den Tarifvertragsparteien als Beliehene abgeschlossen wird. Die Koalitionen nehmen nach diesem Verständnis eine öffentliche Aufgabe wahr und sind an das Gemeinwohl gebunden. Die Delegationstheorie stieß im Schrifttum jedoch auf berechtigte Kritik: Der Staat kann an die Koalitionen nicht delegieren, was deren ureigene Aufgabe ist. Tarifautonomie bedeutet, dass die Tarifvertragsparteien selbstbestimmt und unabhängig von Vorgaben Dritter handeln. Schließlich ist die Beschränkung der Tarifnormwirkung auf beiderseitig tarifgebundene Arbeitsverhältnisse mit der Delegationstheorie nicht vereinbar. Heute wird die Tarifautonomie ganz überwiegend als kollektiv ausgeübte Privatautonomie verstanden. Nachdem das BAG sich bereits 1997 diesem Verständnis angeschlossen hatte,689 bekannte sich 2017 auch das BVerfG im Urteil zum Tarifeinheitsgesetz zur „kollektivierten Privatauto­ nomie“.690 Danach beruhen die Tarifautonomie und die tarifvertragliche 689  Grundlegend BAG v. 14.10.1997 – 7 AZR 811/96, AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 155. 690  BVerfG v. 11.7.2017 – 1 BvR 1571/15 u. a., NZA 2017, 915 Rn. 147.

178

3. Die Legitimation der Tarifautonomie

Normsetzungsbefugnis der Koalitionen auf einer Ermächtigung durch die Mitglieder, die frei über den Beitritt zum Verband entscheiden und hierdurch von ihrer positiven Koalitionsfreiheit Gebrauch machen. Die Koalitionen sind keine staatlich Beliehenen, die eine öffentliche Aufgabe wahrnehmen, sondern Vertreter der Gruppeninteressen ihrer Mitglieder. Sie sind daher nicht an das Gemeinwohl und nicht unmittelbar an Grundrechte gebunden, sondern ihrerseits Grundrechtsträger. Die Lehre von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie kann die Tarifautonomie als solche und als deren wichtigste Ausprägung auch die tarifliche Normsetzungsmacht überzeugend erklären. Die Tarifnormsetzung ist danach mitgliedschaftlich durch den Beitrittsakt legitimiert. Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis folgt hingegen aus der gesetzlichen Anordnung in § 4 Abs. 1 TVG. Sie kann rechtsdogmatisch nicht individualautonom stellvertretungsrechtlich begründet werden. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Gesetzgeber hier lediglich eine Hilfestellung für die Geltung der Tarifnormen im Arbeitsverhältnis gibt, die den Charakter des Tarifvertrags als Ergebnis kollektiv ausgeübter Privatautonomie nicht berührt. In der modernen Tarifrechtsdogmatik spricht man daher überwiegend von einer privatautonomen „Rekonstruktion“ (und gerade nicht Konstruktion) der Tarifgeltung. Diese Rekonstruktion ist mit Blick auf die Grundrechte von Außenseitern von zentraler Bedeutung, da sie die Fälle aufdeckt, in denen die Tarifgeltung nicht durch einen privatautonomen Willensentschluss der Tarifgebundenen legitimiert werden kann und daher als Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit einer anderweitigen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf. Zusammenfassend ist daher festzuhalten: Bei der Tarifautonomie handelt es sich um kollektiv ausgeübte Privatautonomie. Ihre Legitimation erhalten die Tarifvertragsparteien „von unten“ durch ihre Mitglieder und nicht „von oben“ durch staatliche Delegation. Tarifvertragliche Normsetzung ist keine staatliche Aufgabe, sondern die Vertretung von Mitgliederinteressen. Art. 9 Abs. 3 GG „gewährt“ den Koalitionen nicht die Tarifautonomie, sondern „gewährleistet“ diese. Aus der Koalitionsfreiheit folgt ein Schutz der Koalitionen und ihrer Mitglieder gegen staatliche Eingriffe in die Tarifautonomie sowie – im Sinne einer Institutsgarantie – eine staatliche Pflicht, den Bestand der Koalitionen sowie ein gesetzlich geregeltes und geschütztes Tarifvertragssystem zu gewährleisten, dessen Partner frei gebildete Koalitionen sein müssen.691 691  Vgl. BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77 u. a., BVerfGE 50, 290 (369); BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65 u. a., BVerfGE 38, 281 (306); BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881 (1882).

4. Die Legitimität von Tarifautonomie Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel

Nach der rechtshistorischen Analyse der Legitimation steht nun die Legitimität von Tarifautonomie im Fokus der Betrachtung. Nach einer Definition des Begriffs werden Kriterien entwickelt, mit deren Hilfe sich öffentliche Debatten über die Legitimität von Tarifautonomie identifizieren lassen. Dabei wird zwischen zwei Grundsatzdebatten und zehn zeithistorischen Debatten unterschieden. Diese zwölf Debatten werden jeweils vor ihrem politischen und wirtschaftlichen Hintergrund, der Art des diagnostizierten Legitimitätsproblems und der Art des Staatseingriffes nachgezeichnet. Abschließend werden Parallelen herausgearbeitet.

4.1 Legitimität nach innen und nach außen Tarifautonomie hat sich in einem politisch-historischen Prozess etablieren können. Dabei besteht die Besonderheit, dass sich die Tarifvertrags­ parteien ihre Freiräume selbst geschaffen haben und ihnen die Autonomie später von einem demokratisch legitimierten Rechtsstaat bestätigt wurde. Das gilt vor allem für das Stinnes-Legien-Abkommen vom November 1918, dem nur wenige Wochen später die TVVO folgte, aber auch für die Wiedereinführung der Tarifautonomie durch das Tarifvertragsgesetz im Jahr 1949. Däubler/Kittner sprechen in diesem Zusammenhang von einer „(Selbst-)Ermächtigung der Vertragspartner zur Regelung des Wirtschaftslebens in Deutschland“.1 Der Staat gab dieser Selbstermächtigung nach und gewährte die Tarifautonomie.2 Als finaler Prozess einer rechtlichen Institutionalisierung von Tarifautonomie etablierte sich zugleich die Unabdingbarkeit des Tarifvertrags (siehe Kapitel 3.1). Dort, wo von den Tarifvertragsparteien ausgehandelte Tarifverträge Geltung erlangen, „verfügt das ökonomische System über einen Mechanismus der Selbstregulierung, der eine Alternative zum schon im 19. Jahrhundert sozialpolitisch als im1  Däubler/Kittner,

Geschichte der Betriebsverfassung, 2020, S. 150. auch Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. VII: „Spezifisch republikanischen Ursprungs ist das kollektive Arbeitsrecht als einer vom Staat anerkannten, den Arbeitnehmer schützenden und sichernden sozialen Institution“. 2  Vgl.

180

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

mer problematischer und ungerechter empfundenen freien Arbeitsvertrag als auch zum staatlichen Eingriff anbietet“.3 Die Tarifautonomie ist demnach nicht die einzige Möglichkeit, die Regelung von Arbeitsbedingungen zu institutionalisieren. Durch ihre verfassungsrechtliche Verankerung steht sie zwar im Zentrum der Arbeitsbeziehungen. Das tut sie aber in einer Art „Mischsystem“. Neben der kollektiven Regelung von Arbeitsbedingungen (positive Koalitionsfreiheit) besteht im Rahmen der Außenseiterkonkurrenz auch die Option der freien Arbeitsvertragsgestaltung (negative Koalitionsfreiheit). Auch wenn beide Koalitionsfreiheiten verfassungsrechtlich geschützt sind, kann der Gesetzgeber (unter Beachtung der durch das BVerfG gesetzten Grenzen) regulierend in die Tarifautonomie eingreifen. In den Sozialwissenschaften wird Tarifautonomie als ein „spezifisches, institutionalisiertes Arrangement der Regelungskompetenzverteilung zwischen Staat und Tarifverbänden“ beschrieben.4 Die Tarifvertragsparteien sind zwar autonom, sie tragen im Rahmen der ihnen übertragenen Regelungskompetenz aber auch eine gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Verantwortung. Das von der Verfassung intendierte Modell der Regelung der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen verpflichtet die Tarifvertragsparteien dazu, das „sozial Angemessene“5 zu gestalten, also Vereinbarungen zu treffen, die „mit einem positiven Ergebnis für die Gesamtgesellschaft“6 verbunden sind. Konkret bedeutet dies, dass die Tarifautonomie einen sozialen Ausgleich herstellen muss, wobei der Arbeitnehmerschutz Teil der Belange des Gemeinwohls ist.7 Tarifabschlüsse haben sich in gesamtwirtschaftliche Zielsetzungen einzuordnen. Dabei gilt: „Je legitimer und effektiver die Ordnung ist, […] umso geringer ist der Anreiz zu öffentlich-rechtlichen Lösungen […] qua Lohngesetzgebung, Lohnfindung durch Zwangsschlichtung oder oktroyierter Korporativierung der Arbeitsbeziehungen im autoritären Kontext“.8 Wie in Kapitel 1 definiert wurde, kann Legitimität als eine Zweckmäßigkeit verstanden werden. Danach ist Tarifautonomie legitim, wenn sie vorteilhafte Ergebnisse bringt.

3  Bender,

Herausforderung der Tarifautonomie, 2018, S. 700. in: Andresen/Bitzegio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en), 2011, S. 267 (273). 5  Wiedemann, Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis, 1966, S. 21. 6  Seiwerth, ZSR 62 (2016), 209 (212). 7  Wiedemann, Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis, 1966, S. 21. 8  Bender, Herausforderung der Tarifautonomie, 2018, S. 700. 4  Fehmel,



4.1 Legitimität nach innen und nach außen181

Dass der Staat den Tarifvertragsparteien die Normsetzungsbefugnis gewährte, mag der besonderen historischen Situation im November 1918 geschuldet sein (siehe Kapitel 4.3.1). Inmitten der Revolutionswirren nach dem verlorenen Krieg bestand bei der Übergangsregierung, dem Rat der Volksbeauftragten, der Wunsch nach Institutionen, die Stabilität garantieren und eine drohende Bolschewisierung Deutschlands vermeiden helfen sollten. Auch für die Entscheidung des Alliierten Kontrollrats, die Tarifautonomie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder einzuführen, lässt sich ein politisches Motiv anführen. Hier ging es darum, Deutschland zu demokratisieren und zu stabilisieren, was eine aktive Mitwirkung der Gewerkschaften erforderte (siehe Kapitel 4.3.2). Es gab aber auch rationale Gründe, die Autonomie der Tarifvertragsparteien zu respektieren. So versteht der historische Institutionalismus9 die Übertragung der Regelungskompetenzen für die Arbeitsbeziehungen durch den Staat an die Tarifvertragsparteien als ein für alle Seiten vorteilhaftes Tauschgeschäft.10 Staatliche Akteure würden sich im Falle einer direkten Regulierung der Arbeitsbeziehungen dem „hohen Risiko einer offensichtlichen Neutralitätsverletzung und eines sich daraus möglicherweise ergebenden Legitimationsverlustes aussetzen“.11 An die verfassungsrechtliche Garantie der Tarifautonomie knüpft der Staat die Erwartung, dass kollektive Regelungssysteme zu einer besseren makroökonomischen Performance führen als eine direkte staatliche Regelung oder ein unreguliertes, marktnahes und individuelles Lohnfindungssystem. Dieser „Externalisierung von Legitimitätsrisiken“ stehen allerdings auch Kosten gegenüber, wenn Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ihrer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung nicht ausreichend nachkommen. Dann tragen staatliche Akteure die Folgekosten der Lohnpolitik.12 Durch dieses Arrangement kann der Staat Erfolgslosigkeit bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit immer den Tarifvertragsparteien zuschieben, Erfolge hingegen sich selbst zuschreiben. Ebenso kann er die Verantwortung für prekäre Arbeitsbedingungen bei den Tarifvertragsparteien verorten und 9  Der historische Institutionalismus ist ein politikwissenschaftlicher Ansatz zur Erklärung von Ursprung, Wandel und Funktion von Institutionen. Er geht von der Annahme aus, dass sich Entstehung, Wandel und Entwicklung von Institutionen unter anderem anhand der Pfadabhängigkeit, sprich des historischen Verlaufes, erklären lassen. Politische Entscheidungen und Präferenzen von Akteuren basieren damit auf den von Institutionen vorstrukturierten Grundlagen. Der historische Institutionalismus ist eine Synthese aus den beiden Denkrichtungen des Rational Choice Institutionalism und des Sociological Institutionalism. Vgl. Hall/Taylor, Political Studies, XLIV (1996), 936 (936 ff.). 10  Fehmel, Konflikte um den Konfliktrahmen, 2010, S. 79 ff. 11  Fehmel, Konflikte um den Konfliktrahmen, 2010, S. 80. 12  Fehmel, Konflikte um den Konfliktrahmen, 2010, S. 81.

182

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

sich der Problemlösung – wie im Falle des 2015 erlassenen gesetzlichen Mindestlohns – erst dann annehmen, sofern diese selbst keine Abhilfe schaffen. Umgekehrt können die Tarifvertragsparteien ihre Mitglieder besser von unattraktiven Verhandlungsergebnissen überzeugen, wenn sie mit einer drohenden gesetzgeberischen Maßnahme begründet werden können. Der Staat überlässt den Tarifvertragsparteien die Regelung der Arbeitsbedingungen, weil er davon ausgeht, dass ihnen nicht nur der soziale Interessenausgleich gelingt, sondern dabei das Gemeinwohl – einschließlich der verschiedenen Branchenbelange – hinreichend beachtet wird. Entscheidend dabei ist, dass die Tarifvertragsparteien einerseits Mitgliederinteressen vertreten müssen, andererseits aber auch in die „Zielsetzungen der Gesamtgesellschaft“ eingebunden sind, „aus der heraus bestimmte Aufgabenstellungen an sie gerichtet werden“.13 Nach Weitbrecht kann die Tarifautonomie „ihre Legitimität als Ganzes also nur durch ihre Einbindung in die Wert- und Zielordnung der sie umgebenden Gesamtgesellschaft erreichen und durch den Nachweis, daß das von ihr praktizierte Verfahren dieser Wertordnung mehr entspricht als mögliche Alternativen.“14 Dabei unterliegt die Tarifautonomie einer „Kontrolle von außen“, die dazu führen kann, dass ihre Aufgaben und Erfolgsparameter neu definiert werden.15 In diesem Sinne steht die Tarifautonomie wechselnden Gemeinwohlanforderungen gegenüber, die durch staatliche wirtschaftspolitische Ziele ebenso beeinflusst werden wie durch die ökonomischen Rahmenbedingungen oder durch gesellschaftspolitische Entwicklungen. Weitbrecht unterscheidet hierbei zwei Ebenen der Tarifautonomie: die „internen Verfahren“ und „die Rahmenbedingungen der Autonomie“.16 Interne Verfahren betreffen die bilateral zwischen den Tarifvertragsparteien vereinbarten Mechanismen der Konfliktregulierung und Normsetzung, beispielsweise die Organisationsstruktur und die Regelung der Auseinandersetzung. Die Rahmenbedingungen beziehen sich auf das Verhalten des Staates, seine Garantien und Eingriffe. Sie setzen dem Verfahren und der Wirkung der Normsetzung Grenzen: „Auf der einen Seite werden […] die Organisationen und der gesamte Regelungsmechanismus des Konflikts durch die Rahmenbedingungen garantiert, andererseits droht der Autonomie immer eine Veränderung der Rahmenbedingungen, z. B. durch staatlichen Eingriff. Anlaß zu solcher Beschränkung besteht z. B. dann, wenn die Normsetzung inhaltlich staatlichen wirtschaftspolitischen Zielen wider13  Weitbrecht,

Effektivität Effektivität 15  Weitbrecht, Effektivität 16  Weitbrecht, Effektivität 14  Weitbrecht,

und und und und

Legitimität Legitimität Legitimität Legitimität

der der der der

Tarifautonomie, Tarifautonomie, Tarifautonomie, Tarifautonomie,

1969, 1969, 1969, 1969,

S. 162. S. 162. S. 162. S. 33.



4.1 Legitimität nach innen und nach außen183

spricht oder wenn das Verfahren der Auseinandersetzung zwischen den Tarifparteien, etwa mit Streiks oder Streikdrohung, bestimmten Gemeinwohlüberlegungen widerspricht“.17 Dieser Überlegung folgend, wird auch im Weiteren angenommen, dass der Staat das Binnen- und das Außenverhältnis der Tarifvertragsparteien beobachtet, bewertet und daraus mögliche Anpassungen der Rahmenbedingungen der Tarifautonomie ableitet oder das Verhalten der Tarifvertragsparteien auf andere Weise zu beeinflussen versucht. Dies ist im Rahmen verbaler Appelle möglich, aber auch durch eine tripartistische Politiksteuerung. Ist die Tarifautonomie in dem Sinne effektiv, dass sie mit den staatlichen Zielvorstellungen vereinbar ist, besteht aus Sicht der Regierung keine Notwendigkeit, die Rahmenbedingungen anzupassen oder das Verhalten der Tarifvertragsparteien in eine andere Richtung zu lenken. Ist eine solche Effektivität nicht gegeben, greift der Staat regulierend (per Gesetz) oder steuernd (durch Drohungen, Appelle oder Einbindung) ein.18 In Tabelle 1 sind verschiedene Faktoren systematisch gruppiert, die das Binnen- und Außenverhältnis determinieren und deshalb als Beurteilungskriterien herangezogen werden können. Diese Faktoren werden zum einen durch die Tarifvertragsparteien selbst beeinflusst, zum anderen aber auch durch den staatlich gesetzten Ordnungsrahmen. Dabei besteht eine Wechselwirkung: Autonome Arrangements beeinflussen den Ordnungsrahmen und umgekehrt wirkt der Ordnungsrahmen auf das autonome Handeln der Tarifvertragsparteien zurück. Beim Binnenverhältnis beobachtet der Staat, ob die Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass die Tarifvertragsparteien ihre Aufgabe – die Schaffung eines sozialen Ausgleichs zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen – bewerkstelligen können und die autonome Normsetzungsfähigkeit gegeben ist. Hier steht die „interne Funk­ tionsfähigkeit“ der Tarifautonomie im Blickpunkt.19 Beim Außenverhältnis bewertet die Regierung die externe Effektivität von Tarifautonomie. Da lohnpolitische Entscheidungen die Verwirklichungschance der wirtschaftspolitischen Ziele beeinflussen, wird von den Tarifvertragsparteien „die Beachtung ökonomischer Daten verlangt“.20 Daher beurteilt der Staat die externe Effektivität daran, ob die Lohnpolitik mit den wirtschafts- und sozialpolitischen Zielsetzungen der Regierung vereinbar ist. Zusammenfas17  Weitbrecht,

Effektivität und Legitimität der Tarifautonomie, 1969, S. 34. methodischen Ableitungen staatlicher Eingriffe oder Steuerung vgl. Lesch, Sozialer Fortschritt 70 (2021), im Erscheinen und Pies, Wie (dys-)funktional sind Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände?, 2002, S. 174 ff. 19  Weitbrecht, Effektivität und Legitimität der Tarifautonomie, 1969, S. 158. 20  Weitbrecht, Effektivität und Legitimität der Tarifautonomie, 1969, S. 159. 18  Zu

184

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

send lässt sich festhalten, dass Legitimität eine Funktionsfähigkeit der ­Tarifautonomie im Binnenverhältnis der Tarifvertragsparteien und im Außenverhältnis zwischen Staat und Tarifvertragsparteien voraussetzt. Beim Binnenverhältnis der Tarifvertragsparteien wird zwischen inter­ organisationalen und intraorganisationalen Voraussetzungen unterschieden. Intraorganisationale Voraussetzungen sind eine ausreichende Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit, die Fähigkeit der Tarifvertragsparteien, die ausgehandelten Kompromisse bei ihren Mitgliedern durchzusetzen und die Fähigkeit zur Interessenkanalisation. Eine ausreichende Organisationsstärke ist notwendig, um als tariffähiger Akteur anerkannt zu werden. Gleichzeitig ist eine ausreichende Organisationsstärke Voraussetzung dafür, dass in möglichst vielen Branchen und Regionen Tarifverträge geschlossen werden können. Dies wird durch eine hinreichende Mobilisierungsfähigkeit unterstützt. Neben der Durchsetzung nach außen, also einer angemessenen Reichweite tarifvertraglicher Regelungen, ist auch eine Durchsetzung nach innen notwendig. Durchsetzung nach innen bedeutet: Die Tarifvertragsparteien stellen sicher, dass sich ihre Mitglieder an die getroffenen Regelungen halten. Dies setzt Organisationen voraus, in denen bestehende Interessenunterschiede zwischen den Mitgliedern so gebündelt werden können, dass sie mit der anderen Tarifvertragspartei verhandeln und Kompromisse finden, die dann auch von den eigenen Mitgliedern mitgetragen werden. Die Organisationsstärke wird nicht nur durch die Organisationen selbst bestimmt. Auch der Staat hat Möglichkeiten zur Beeinflussung der Organisationsstärke, indem er im Extremfall eine Mitgliedschaft durch Zwang herbeiführt – was in Deutschland verfassungsrechtlich ausgeschlossen ist (siehe Kapitel 5.4.4) – oder Regelungen trifft, die den Anreiz zur Mitgliedschaft erhöhen. Bei den interorganisationalen Faktoren werden neben Veränderungen oder Störungen des Machtgleichgewichts zwischen den Tarifvertragsparteien auch das Entstehen neuer Akteure und Veränderungen des Regelwerks berücksichtigt. Eine ausgewogene Machtbalance zwischen den Tarifvertragsparteien ist eine zentrale Voraussetzung für den sozialen Ausgleich. Es muss aber nicht immer ein Machtgleichgewicht bestehen: „Die Marktbeziehung zwischen den Parteien des Tarifvertrags ist als Teil des ständigen Konflikts in der Arbeitswelt, die keine druckfreie Ruhelage kennt, ein Kampfverhältnis, in dem sich das Kräftegleichgewicht laufend verändert“.21 Trotz dieser Schwankungen muss das Machtgleichgewicht aber so ausgewogen sein, dass keine Seite die andere auf Dauer übervorteilen kann. Determinanten dieses Machtgleichgewichts sind zum einen die in der 21  Hoffmann,

Gewerkschaftliche Monatshefte 17 (1966), 151 (154).



4.1 Legitimität nach innen und nach außen185

Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an die Tariffähigkeit der Tarifvertragsparteien (wie zum Beispiel die Gegnerunabhängigkeit), zum anderen Ordnungsprinzipien wie der Grundsatz der Tarifeinheit oder die Arbeitskampfparität zwischen den Tarifvertragsparteien. Das Entstehen neuer Akteure wird vor allem im Kontext einiger autonom agierender Berufs- und Berufsgruppengewerkschaften relevant. Durch deren Autonomie verändert sich die Marktstruktur (die Zusammensetzung der handelnden Akteure) und damit auch der Rahmen von Tarifverhandlungen.22 Treten Gewerkschaften in einen Wettbewerb zueinander, weicht das ordnende Prinzip der Tarifeinheit (ein Betrieb gleich ein Tarifvertrag) den Grundsätzen von Tarifpluralität (für verschiedene Arbeitsverhältnisse eines Betriebs gelten mehrere, sich gegenseitig widersprechende Tarifverträge) und Tarifkonkurrenz (im Betrieb gelten für ein Arbeitsverhältnis mehrere, sich gegenseitig widersprechende Tarifverträge). Dies hat nicht nur rechtliche, sondern auch wirtschaftliche Folgen. Schließen sich Funktionseliten zu Berufsgewerkschaften zusammen, ändert sich nämlich die Machtbalance zwischen den Tarifvertragsparteien, und zwar nicht nur zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, sondern auch zwischen rivalisierenden Gewerkschaften. Dies verändert die Verteilungsrelationen zwischen den Akteuren. Vergleichbare Änderungen der Marktstruktur können sich endogen ergeben, wenn sich neue Arbeitgeberverbände gründen, die eine Tarifzuständigkeit einfordern. Veränderungen der Marktstruktur entstehen aber auch, wenn etablierte Akteure ihr Verhalten ändern. Denkbar ist, dass Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände, die über Tarifgemeinschaften miteinander verhandeln, ihre Tarifgemeinschaften kündigen, eine Organisation ihrer Tarifzuständigkeit ruhen lässt oder sie gerichtlich aberkannt bekommt und keine neuen Tarifverträge mehr abschließt.23 Änderungen der Marktstruktur können aber auch Ergebnis eines veränderten Ordnungsrahmens sein. Durch die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit in der höchstrichterlichen Recht22  Vgl. Lesch, Industrielle Beziehungen 15 (2008), 303 (309 ff.); Bachmann/Henssler/Schmidt/Talmann, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 61 (2012), 135 (137 ff.). 23  Ein Beispiel für Verbände, die ihre Tarifzuständigkeit aufgeben, war die Landesinnung des Kfz-Gewerbes Nordrhein-Westfalen, die sich im Jahr 2008 kurz vor Abschluss der Tarifverhandlungen mit der IG Metall für nicht mehr tariffähig erklärte (vgl. IG Metall NRW, IG Metall macht Druck – CGM macht Männchen, S. 1, https:// www.igmetall-nrw.de/fileadmin/news_import/2013_06_26_Kfz_kfznachrichten.pdf (2.8.2021). Ein weiteres Beispiel ist die Selbstauflösung der Tarifgemeinschaft der Kfz-Arbeitgeber Nordrhein-Westfalen in Mettmann im Rahmen der Tarifverhandlungen 2017. Vgl. IG Metall, Arbeitgeber lassen in NRW Verhandlungen platzen, https:// www.igmetall.de/tarif/tarifrunden/handwerk/arbeitgeber-lassen-in-nrw-verhandlungen -platzen (2.8.2021).

186

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

sprechung wurden die Möglichkeiten eines Wettbewerbs zwischen verschiedenen Gewerkschaften erweitert. Nach einer kontroversen Debatte über die Folgen dieser Entscheidung justierte die Regierung durch das Tarifeinheitsgesetz nach (siehe Kapitel 4.4.8). Hieran wird die oben beschriebene Wechselwirkung zwischen autonomem Handeln und staatlichem Ordnungsrahmen besonders deutlich. Veränderungen des Regelwerks und der Einsatz neuer Regeln können von den Tarifvertragsparteien selbst oder von der Regierung angestoßen werden. Beispiele für autonome Veränderungen sind die Einführung tariflicher Öffnungsklauseln oder die Verabredung von tariflichen Schlichtungsabkommen. Auch beim Regelwerk zeigen sich die Wechselwirkungen autonomen und staatlichen Handelns. Rechtsänderungen beeinflussen die Anreize und damit auch das Verhalten der Tarifvertragsparteien. Dadurch kann wiederum neuer Regelungsbedarf entstehen. Umgekehrt kann sich die Regierung zu Änderungen des Regelwerks gezwungen sehen, wenn die Tarifvertragsparteien ihr Regelwerk ändern. Im Außenverhältnis kann die Tarifautonomie – wie oben schon ausgeführt – ihre Legitimität nur durch ihre Einbindung in die Welt und Zielordnung der sie umgebenden Gesamtgesellschaft erreichen.24 Kriterien einer solchen externen Effektivitäts-Beurteilung können die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der Regierung sein, wie sie etwa im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG) von 1967 verankert sind. Die Verwirklichung der dort genannten wirtschaftspolitischen Ziele (Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum) werden durch lohnpolitische Entscheidungen beeinflusst.25 Wie die Beeinflussung genau aussieht, ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Lohnpolitik mit der Fiskal- und Geldpolitik. Aus Sicht des Staates kann es also geboten sein, die Politikbereiche zu koordinieren. Darüber hinaus können in die Effektivitätsbeurteilung weitere Ziele des Staates einfließen, etwa die Minimierung von Arbeitskampfschäden, das Herstellen von Verteilungsgerechtigkeit oder die Minimierung von negativen Auswirkungen niedriger (oder auch zu hoher) Löhne auf die sozialen Sicherungssysteme.

24  Weitbrecht, 25  Weitbrecht,

Effektivität und Legitimität der Tarifautonomie, 1969, S. 162. Effektivität und Legitimität der Tarifautonomie, 1969, S. 159.



4.1 Legitimität nach innen und nach außen187 Tabelle 1 Einflussfaktoren auf die Legitimität der Tarifautonomie Aufgabe der Tarifautonomie: Sozialer Ausgleich zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen Nebenbedingung: Gemeinwohl und die gesamtwirtschaftlichen Ziele des Staates berücksichtigen Einflussfaktoren, die im Binnenverhältnis der Tarifvertragsparteien wirken

Einflussfaktoren, die im Außenverhältnis der Tarifvertragsparteien wirken

Intraorganisationale Faktoren:

Interorganisationale Faktoren:

Externe Faktoren:

• Organisationsfähigkeit

• Veränderung oder Störung des Machtgleichgewichts

• Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Arbeitslosigkeit, fehlende Preisstabilität, außenwirtschaftliches Ungleichgewicht, fehlendes Wachstum)

• Mobilisierungsfähigkeit

• Kooperationsbereitschaft

• Negative Folgen von Arbeitskämpfen auf das Gemeinwohl

• Durchsetzungsfähigkeit (Wirksamkeit abgeschlossener Tarifverträge)

• Reformfähigkeit

• Externe Schocks wie Wirtschaftskrisen

• Angemessene Interessenkanalisation (Bündelung von Mitgliederinteressen zu einer „Stimme“)

• Veränderung der Marktstruktur durch Auftreten neuer Akteure (Arbeitgeberverbände oder Gewerkschaften) oder durch die bereits bestehenden Tarifvertragsparteien

• Wirtschaftliche und soziale Teilhabe (insbesondere im Niedriglohnsektor), Verteilungsgerechtigkeit

• Veränderung des Regelwerks oder Einsatz neuer Regeln

• Geschwächter sozialer Frieden

Quelle: eigene Darstellung.

188

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

4.2  Legitimitätsdebatten in 100 Jahren Tarifautonomie Bevor Legitimitätsdebatten nach dem Schema in Tabelle 1 diskutiert werden können, müssen erst einmal solche Legitimitätsdebatten identi­ fiziert werden. Wie bereits oben erläutert, entstehen Debatten, wenn die Legitimität der Tarifvertragsparteien nach innen oder außen infrage gestellt wird. Die beschriebenen Einflussfaktoren sind dabei häufig im Wandel. So können sich externe Faktoren wie beispielsweise das wirtschaftliche Umfeld genauso schnell ändern wie interne Faktoren durch das Auftreten neuer Akteure oder eine abnehmende Kooperationsbereitschaft. Zur Feststellung, wann solche Veränderungen tatsächlich als eine Gefährdung der Legitimität der Tarifautonomie angesehen werden können, kann der Challenge-Response-Ansatz herangezogen werden. Dieser definiert Bedingungen, unter denen bestimmte Ereignisse oder Entwicklungen als herausfordernd für den Fortbestand eines Systems angesehen werden. Nach diesem Ansatz zählen zu den Herausforderungen für ein System (Challenges) jene „Sachverhalte, die den Erzeugungs- und Reproduktionsmodus von Sozialgebilden ernsthaft infrage stellen“.26 Diese „Störimpulse“27 beeinträchtigen die Funktionsfähigkeit eines Systems (im vorliegenden Kontext also der Tarifautonomie) so stark, dass schrittweise („inkrementelle“) Anpassungen als nicht ausreichend erscheinen, um das Problem zu lösen.28 Dabei wird ein Problem jedoch erst zur Herausforderung, „wenn es zum Gegenstand öffentlicher Wahrnehmung wird und auf die Agenda von Eliten gelangt“.29 Die so definierten Herausforderungen können plötzlich auftreten oder sich in einem schleichenden Prozess entwickeln.30 Die bewusste Reaktion der handelnden Akteure auf eine bestehende Herausforderung wird als Antwort („Response“) verstanden.31 Die jeweilige Antwort der beteiligten Akteure, im Falle der Tarifautonomie also des Staates und der Tarifvertragsparteien, hängt dabei maßgeblich davon ab, 26  Best, in: Nève/Reiser/Schnapp (Hrsg.), Herausforderung – Akteur – Reaktion, 2007, S. 11 (18). 27  Reiser/Schnapp, in: Nève/Reiser/Schnapp (Hrsg.), Herausforderung – Akteur – Reaktion, 2007, S. 25 (29). 28  Vgl. Reiser/Schnapp, in: Nève/Reiser/Schnapp (Hrsg.), Herausforderung – Akteur – Reaktion, 2007, S. 25 (29). 29  Best, in: Nève/Reiser/Schnapp (Hrsg.), Herausforderung – Akteur – Reaktion, 2007, S. 11 (19). 30  Vgl. Best, in: Nève/Reiser/Schnapp (Hrsg.), Herausforderung – Akteur – Reaktion, 2007, S. 11 (18). 31  Vgl. Reiser/Schnapp, in: Nève/Reiser/Schnapp (Hrsg.), Herausforderung – Akteur – Reaktion, 2007, S. 25 (38).



4.2  Legitimitätsdebatten in 100 Jahren Tarifautonomie189

ob es sich um einen disruptiven Wandel oder um eine dauerhafte Krisenentwicklung handelt. Die Art des Wandels determiniert das konkrete Handlungsumfeld, das wiederum bestimmt, welche Spielräume für eine passende Antwort bestehen. Die Spielräume können an „historischen Verzweigungs­ punkten“32 wie beispielsweise nach dem Ende der beiden Weltkriege deutlich größer ausfallen als in Phasen, in denen sich das Tarifsystem etabliert hat, als Institution verankert ist, sich aber an wandelnde Rahmenbedingungen anpassen muss. Die Antwort der Akteure hängt somit auch davon ab, ob es bereits ein etabliertes Tarifsystem gibt und inwieweit dieses System bereits zu Pfadabhängigkeiten geführt hat. Aus der Reaktion auf eine ­spezifische Herausforderung können sich schließlich wieder neue (unerwünschte) Entwicklungen ergeben, die zu „Herausforderungen Zweiter Ordnung“33 werden können. An den Challenge-Response-Ansatz anknüpfend werden im Folgenden nun solche Problemlagen als Herausforderungen für das Tarifsystem und dessen Legitimität betrachtet, die politische beziehungsweise gesellschaftliche Aufmerksamkeit erlangten und den Staat zum Handeln veranlassten. Irrelevant für die Auswahl ist zunächst, in welcher Form die Akteure aktiv wurden oder inwiefern sie auf die entsprechende Herausforderung antworteten. Die Reaktion des Staates oder der Tarifvertragsparteien selbst auf die jeweilige Herausforderung wird dann in einem weiteren Schritt nach Auswahl und Kategorisierung der Debatten genauer analysiert (siehe Kapitel 4.3 und 4.4). Herausforderungen im zuvor beschriebenen Sinne können zunächst einmal offene politische (und rechtspolitische) Debatten sein, wie die aktuelle Debatte über eine Stärkung der Tarifbindung oder in den 1990er Jahren die Debatte um den Flächentarifvertrag, der als starr und unflexibel beschrieben wurde. Initiatoren solcher Debatten können nicht nur die Regierung und andere politische Akteure sein, sondern auch außerparlamentarische Interessengruppen oder die Tarifvertragsparteien selbst. Häufig werden auch wissenschaftliche Einrichtungen politisch beauftragt, zur Lösungsfähigkeit der Tarifautonomie Stellung zu beziehen, etwa die Deregulierungskommission, die Monopolkommission oder wissenschaftliche Beiräte, die den Ministerien angegliedert sind. Diese breite Plattform folgt daraus, dass Tarifautonomie nicht nur als eine rechtliche Institution, sondern auch als

32  Best, in: Nève/Reiser/Schnapp (Hrsg.), Herausforderung – Akteur – Reaktion, 2007, S. 11 (14). 33  Best, in: Nève/Reiser/Schnapp (Hrsg.), Herausforderung – Akteur – Reaktion, 2007, S. 11 (19).

190

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

eine soziale Institution wahrgenommen wird.34 Solche politischen Debatten können dazu führen, dass neue Gesetze erlassen oder Gesetze angepasst werden. Ergebnis solcher Debatten können auch staatliche Versuche sein, die Tarifvertragsparteien durch tripartistische Arrangements in die allgemeine Wirtschaftspolitik einzubeziehen. Öffentliche Legitimitätsdebatten können aber auch ohne gesetzgeberische Folgen bleiben. Ein Beispiel hierfür ist die 2003 geführte Diskussion um gesetzliche Öffnungsklauseln. Hier beschränkte sich die Bundesregierung darauf, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 vor dem Deutschen Bundestag offiziell mit einer gesetzlichen Regelung drohte. Von der damaligen Opposition wurden konkrete Gesetzesinitiativen in den Deutschen Bundestag eingebracht. Sie fanden allerdings keine Mehrheit. Immerhin führte die politische Debatte in Verbindung mit der Drohung des Bundeskanzlers dazu, dass die Tarifvertragsparteien autonome Lösungen fanden. Eine Schlüsselrolle spielte dabei das „Pforzheimer Abkommen“ in der Metall- und Elektro-Industrie aus dem Jahr 2004. Dieses Abkommen, das tarifliche Öffnungen vom Flächentarifvertrag im Wege von Ergänzungstarifverträgen mit Einbeziehung der Tarifvertragsparteien ermöglichte, war eine „konzertierte Aktion“ der beiden Tarifvertragsparteien, um Eingriffe von Regierung und Gesetzgeber abzuwehren. Das Abkommen erfüllte den beabsichtigten Zweck: Der Bundeskanzler lobte ebenso wie sein Wirtschaftsminister den Abschluss als Schritt in die richtige Richtung. Der befürchtete Eingriff in die Tarifautonomie war damit vom Tisch.35 Neben öffentlich ausgetragenen Diskussionen kann es aber auch nicht öffentlich ausgetragene Debatten geben. Ein Beispiel ist die 1967 von der ersten Großen Koalition initiierte Konzertierte Aktion, deren Hauptziel es war, „auf eine stabilitätsorientierte Lohnpolitik hinzuwirken, ohne die in der Verfassung verbürgte Autonomie der Tarifvertragsparteien anzupas­ sen“.36 Die Tarifvertragsparteien sollten sich in ihren Tarifabschlüssen an die Leitlinie halten, Tariflohnsteigerungen an der mutmaßlichen Produktivitätsentwicklung zu orientieren. Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller wollte seine Orientierungsdaten als „sanften Hinweis“ verstanden wissen, der den Tarifvertragsparteien „eine staatliche Exekution mit Preis- und Lohnstopps“ ersparen sollte.37 Diese Drohung wurde allerdings nicht offi34  Vgl. Fehmel, in: Andresen/Bitzegio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en), 2011, S. 267 (275). 35  Vgl. Finkelnburg, Der lange Weg zur Tarifpartnerschaft, 2015, S. 506. 36  Vgl. Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 2004, S. 376 f. 37  Zitiert nach Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 2004, S. 378.



4.2  Legitimitätsdebatten in 100 Jahren Tarifautonomie191

ziell, sondern im internen Kreis ausgesprochen. Diesem Vorgehen liegt die Idee zugrunde, die Tarifvertragsparteien durch „appellative Aufforderung“ zu einer Verhaltensänderung zu veranlassen.38 Zu solchen nicht öffentlich ausgetragenen Debatten kann es auch kommen, wenn die wirtschaftspolitischen Instanzen (Bundesregierung und Zentralbank) Maßnahmen ergreifen, die die Tarifvertragsparteien mit den Mitteln der Fiskal- und Geldpolitik zu stabilitätsbewusstem Verhalten zwingen. Beispiele hierfür sind geldpolitische Restriktionen im Zuge des Übergangs zu flexiblen Wechselkursen nach dem Zusammenbruch von Bretton-Woods 197139 oder fiskalpolitische Restriktionen durch ein Ende der staatlichen Subventionierung von Altersteilzeitmodellen.40 Durch die „Auflösung der unbezahlbar gewordenen Kopplung von Tarif- und Sozialpolitik“ zog sich der Staat „aus seiner Funktion als Garant des bestehenden Systems der Lohnfindung“ zurück und stellte dadurch die Selbstverantwortung der Tarifvertragsparteien wieder her.41 Da an diesen Strategiewechseln weder Legitimitätsdebatten noch öffentliche Kontroversen über die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie anknüpften, werden sie im Rahmen dieser Analyse nicht weiter untersucht. Allerdings zeigt sich, dass insbesondere die fiskalpolitische Ausrichtung und dabei speziell die Frage, inwieweit die Regierung die Kosten lohnpolitischen Fehlverhaltens durch großzügige Sozialleistungen kompensiert, einen spürbaren Einfluss auf das Verhalten der Tarifvertragsparteien haben kann.42 Kriterien zur Identifizierung von Legitimitätsdebatten sind im vorliegenden Kontext sichtbare staatliche Aktivitäten wie Gesetzesänderungen, neue Gesetze, tripartistische Arrangements oder offizielle Drohungen. Als Analysezeitraum wird die Periode ab 1918 herangezogen. Dieser Zeitraum bietet sich an, weil nicht nur das Stinnes-Legien-Abkommen, sondern auch die TVVO aus dem Jahr 1918 stammen. Die in Kapitel 3 dargestellten rechtlichen und rechtspolitischen Debatten, die diesen Ereignissen vorgelagert waren, werden demnach nicht berücksichtigt. Die ausgewählten Debatten weisen dabei eine gewisse Pfadabhängigkeit auf, da sie sich im Rahmen bestehender Institutionen abspielen. Anhand des Challenge-Res38  Pies, Wie (dys-)funktional sind Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände?, 2002, S. 175. 39  Vgl. Streeck, in: Gesamtmetall (Hrsg.), Die deutschen Arbeitsbeziehungen am Anfang des 21. Jahrhunderts, 2001, S. 76 (78). 40  Vgl. Streeck, in: Gesamtmetall (Hrsg.), Die deutschen Arbeitsbeziehungen am Anfang des 21. Jahrhunderts, 2001, S. 76 (97). 41  Streeck, in: Gesamtmetall (Hrsg.), Die deutschen Arbeitsbeziehungen am Anfang des 21. Jahrhunderts, 2001, S. 76 (98). 42  Vgl. Lesch, Sozialer Fortschritt 70 (2021), im Erscheinen.

192

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

ponse-Ansatzes lassen sich aufgrund von sichtbaren staatlichen Aktivitäten folgende Ereignisse identifizieren: 1. Die staatliche Zwangsschlichtung im Jahr 1923; Grundlage hierfür war die Schlichtungsverordnung. 2. Die Einbindung der Lohnpolitik in die staatliche Deflationspolitik im Jahr 1930; Grundlage hierfür waren Notverordnungen nach § 48 WRV. 3. Die Konzertierte Aktion von 1967 bis 1977; Grundlage hierfür war das StabG von 1967. 4. Die Gewährleistung von Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen im Jahr 1984 (kein Kurzarbeitergeld mehr bei sogenannten Fernwirkungen von Arbeitskämpfen); Grundlage hierfür war die Novellierung von § 116 AFG. 5. Die Einbeziehung der Lohnpolitik in eine wirtschaftspolitische Gesamtstrategie im Rahmen der Bündnisse für Arbeit 1995/96 und 1998 bis 2002. 6. Die Diskussion über die Stärkung „betrieblicher Bündnisse für Arbeit“ und gesetzliche Öffnungsklauseln 2001 bis 2003; Grundlage hierfür waren Gesetzesinitiativen von CDU/CSU und FDP sowie die KanzlerDrohung vor dem Deutschen Bundestag am 14. März 2003. 7. Die Einführung einer gesetzlichen Lohnuntergrenze in Deutschland und Stärkung der Tarifbindung; Grundlage war das Tarifautonomiestärkungsgesetz 2014. 8. Die Befriedung des Tarifsystems durch die gesetzliche Wiederherstellung des Prinzips „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ im Jahr 2015; Grundlage war das Tarifeinheitsgesetz. 9. Die Debatte über eine abnehmende Organisationsfähigkeit der Tarifvertragsparteien. 10. Exkurs: Europäische Säule der sozialen Rechte und EU-Mindestlohnrichtlinie. Neben diesen politisch-öffentlich geführten, zeitbezogenen Debatten gab es 1918 und zwischen 1946 und 1949 jeweils eine Grundsatzdebatte darüber, wie die Lohnfindung in Deutschland institutionell ausgestaltet werden soll. Diese Grundsatzdebatten liefen – anders als die identifizierten zeit­ historischen Debatten – nicht entlang institutionell geprägter Entwicklungspfade ab. Stattdessen gab es historische Verzweigungspunkte, die den handelnden Akteuren weitreichende Handlungsspielräume einräumten, die wiederum einen schnellen und radikalen institutionellen Wandel ermöglichten. Im Rahmen dieser politischen Zäsuren ging es jeweils um die Frage nach der Neuordnung von Arbeitsbeziehungen, also um die Ent-



4.3 Grundsatzdebatten193

scheidung, in wessen Verantwortungsbereich die Regelung von Löhnen und Arbeitsbedingungen gelegt wird. Diese beiden Grundsatzdebatten wer­ den vorab in einem eigenen Kapitel analysiert.

4.3 Grundsatzdebatten In den folgenden beiden Unterkapiteln werden die beiden Grundsatz­ debatten anhand des in Tabelle 1 beschriebenen Legitimitätskonzepts analysiert. In einem ersten Schritt wird unter „Hintergrund“ die jeweilige Ausgangslage beschrieben. Daran anknüpfend wird auf die Interessenlagen der jeweiligen Akteure (Tarifvertragsparteien und Exekutive) eingegangen und abschließend das staatliche Handeln skizziert.

4.3.1  Stinnes-Legien-Abkommen (1918) 4.3.1.1 Hintergrund Die dem Tarifvertrag zugrundeliegende Idee einer „Taxierung und Tarifierung der Arbeitsbedingungen für eine Gruppe von Arbeitern und deren Festsetzung durch paritätischen Entscheid“ wurden schon vor dem indus­ triellen Zeitalter entwickelt, aber erst „unter den ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ entscheidend vorangetrieben.43 Nach dem ersten reichsweiten Tarifvertrag im Buchdruckgewerbe 1873 nahm der Bedeutungszuwachs von Tarifverträgen stetig zu.44 Vor 1890 waren Tarifverträge noch wenig verbreitet.45 Zwischen 1890 und 1900 stieg die Zahl der Kollektivverträge dann aber um das sechsfache an,46 Ende 1910 bestanden bereits knapp 8.300 und Ende 1914 fast 11.000 Tarifverträge (siehe Tabelle 2). Mit der Ausbreitung von Tarifverträgen wuchs auch die Anzahl an tarifgebundenen Betrieben und tarifgebundenen Beschäftigten. Die Anzahl der Betriebe mit Tarifvertrag erreichte mit 183.232 einen ersten Höhepunkt im Jahr 1911. In diesem Jahr wurden fast 1,6 Millionen Beschäftigte nach einem Tarifvertrag bezahlt – ein Wert, der 1912 noch einmal leicht übertroffen wurde, 1913 und 1914 aber wieder zurückging. Der Anteil der tarifgebundenen Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigtenzahl wird vor dem Ersten Weltkrieg auf 43  Zitiert nach Ullmann, Tarifverträge und Tarifpolitik in Deutschland bis 1914, 1977, S. 24. 44  Vgl. Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 61 ff. 45  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 51. 46  Vgl. Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 49.

194

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

13 bis 15 Prozent geschätzt.47 Damit waren Tarifverträge auch während ihrer relativen „Blütezeit“ in den Jahren vor 1914 „nur für eine Minderheit der Arbeitsverhältnisse hinsichtlich der Arbeitsbedingungen bestimmend“.48 Der Ausbruch des Krieges versetzte dieser Entwicklung dann einen Dämpfer, da viele Arbeiter zum Kriegsdienst einzogen oder von tarifgebundenen Sektoren in die tariflose Schwerindustrie abgezogen wurden.49 Tabelle 2 Verbreitung von Tarifverträgen 1905 bis 1918 Anzahl der Tarifverträge (TV)

Anzahl der Betriebe mit TV

Anzahl der Beschäftigten mit TV

1905

1.585

46.272

481.910

1906

3.564

97.410

817.445

1907

5.324

111.050

974.564

1908

5.671

120.401

1.026.435

1909

6.578

137.213

1.107.478

1910

8.293

173.727

1.361.086

1911

10.520

183.232

1.552.827

1912

10.739

159.930

1.574.285

1913

10.885

143.088

1.398.597

1914

10.840

143.650

1.395.723

1916

9.435

104.179

740.042

1918

7.819

107.503

1.127.690

1905: Jahresmitte; 1906: Die Angabe bezieht sich auf den 1. Januar 1907; ab 1907: jeweils Jahresende. Quellen: Ullmann, Tarifverträge und Tarifpolitik in Deutschland bis 1914, 1977, S. 221, 227; Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918–1933, 1967, S. 430.

47  Ullmann schätzt den Anteil für das Jahr 1913 auf 13,2 Prozent (vgl. Ullmann, Tarifverträge und Tarifpolitik in Deutschland bis 1914, 1977, S. 229), Hentschel spricht von etwa 13 Prozent (vgl. Hentschel, Geschichte der Sozialpolitik, 1983, S. 52) und Steiger kommt auf einen etwas höheren Anteil von 15 Prozent (vgl. Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 136). Deutlich geringer schätzen Lesch/Byrski die Tarifbindung ein. Sie kommen auf lediglich 9,2 Prozent (vgl. Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 92, dort Fn. 6). 48  Zitiert nach Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 51 f. 49  Vgl. Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 98.



4.3 Grundsatzdebatten195

Der Verbreitungsgrad von Tarifverträgen unterschied sich von Branche zu Branche. Vor allem in den großindustriellen Bereichen der Wirtschaft war er gering.50 Die „alten“ Industrien (Schwerindustrie und Bergbau) lehnten Tarifverträge ebenso wie die Großunternehmen der „neuen“ Industrien (Chemie, Elektro, Maschinenbau) kategorisch ab.51 Dort, wo sich Tarifverträge verbreiteten, überwogen Firmen- und Ortstarifverträge gegenüber Bezirks- und Reichstarifverträgen (siehe Tabelle 3).52 Im Jahr 1914 waren drei Viertel aller Tarifverträge Firmentarifverträge. Die mehrere Betriebe umfassenden, aber nur regional gültigen Orts- und Bezirks­ tarifverträge kamen auf Anteile von 12,2 und 12,9 Prozent. Gemessen am Anteil an allen Tarifverträgen waren Reichstarifverträge mit einem Anteil von 0,1 Prozent vernachlässigbar. Allerdings wurden 5,5 Prozent der tarifgebundenen Arbeiter nach Reichstarifverträgen entlohnt. Gemessen am Anteil der Arbeiter waren Bezirkstarifverträge die wichtigste Regelungsform. Fast jeder zweite Arbeiter wurde nach einem Bezirkstarifvertrag entlohnt. Tabelle 3 Struktur der Tarifverträge 1908 bis 1914 Firmen­ tarifvertrag

Orts­ tarifvertrag

Bezirks­ tarifvertrag

Reichs­ tarifvertrag

(1)

(2)

(1)

(2)

(1)

(2)

(1)

(2)

1908

55,0

17,3

23,4

20,8

19,5

61,5

0,0

0,0

1910

59,8

16,6

15,4

15,8

24,7

67,5

0,1

0,1

1912

72,7

26,6

12,9

18,0

14,3

50,2

0,1

5,2

1914

74,8

28,0

12,2

17,3

12,9

49,2

0,1

5,5

(1): In Prozent aller Tarifverträge; Differenzen zu 100 Prozent durch Tarifverträge, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen. (2): Anteil der durch diese Tarifvertragsform tarifgebundenen Arbeiter in Prozent aller tarifgebundenen Arbeiter. Die Angaben für 1908 und 1910 beziehen sich allein auf die in den einzelnen Jahren in Kraft getretenen Tarifverträge; die Angaben für 1912 und 1914 auf alle zum Jahresende bestehenden Tarifverträge. Quelle: Ullmann, Tarifverträge und Tarifpolitik in Deutschland bis 1914, 1977, S. 231.

Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 51. SR 2019, 118 (119). 52  Vgl. Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 68 f. 50  Vgl.

51  Kittner,

196

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Verglichen mit seiner späteren Bedeutung war das Tarifvertragswesen „vor dem ersten Weltkrieg über ein Anfangsstadium der Entwicklung nicht hinausgekommen.“53 Die Ausbreitung des Tarifwesens wurde oftmals auch durch Arbeitskämpfe erzwungen.54 Allerdings gab es vor Beginn der amtlichen Streikstatistik im Jahr 1899 lediglich einzelne Fallsammlungen, die sich voneinander unterscheiden und zunächst nur die Anzahl an Streiks erfassten.55 Die Fallsammlungen stimmen darin überein, dass die Zahl der Streiks zwischen 1864 und 1880 erheblich schwankte, aber keinem eindeutigen Trend folgte. Auffallend ist, dass zwischen 1869 und 1874 im Vergleich zu den übrigen Jahren überdurchschnittlich viele Streiks stattfanden. Ab 1890 erhoben die Gewerkschaften dann Daten, bei denen auch die beteiligten Arbeitnehmer erfasst wurden.56 Im Vergleich der Zeiträume 1890 bis 1900 und 1901 bis 1913 zeigt sich gemessen an der Zahl der Arbeitskämpfe und der im Durchschnitt daran beteiligten Arbeitnehmer eine deutliche Zunahme.57 Die amtliche Streikstatistik liefert für die Periode 1899 bis 1914 indes ein anderes Bild. In der amtlichen Statistik wurden – abweichend zur Statistik der Gewerkschaften – drei Streikindikatoren offi­ ziell erfasst: die Anzahl der betroffenen Betriebe, die Anzahl der beteiligten Arbeitnehmer und die Anzahl der verlorenen Arbeitstage. Bei diesen drei Indikatoren lässt sich bis 1914 kein eindeutiger Trend ablesen (siehe Tabelle 4). Stattdessen fallen einzelne Perioden mit einer besonders hohen Anzahl an verlorenen Arbeitstagen auf (1905 bis 1907 und 1910 bis 1913). In diesen Perioden war auch die Zahl der beteiligten Arbeitnehmer überdurchschnittlich, während die Anzahl der beteiligten Betriebe vor allem in der Periode 1905 bis 1907 auffallend hoch war.

53  Ullmann,

Tarifverträge und Tarifpolitik in Deutschland bis 1914, 1977, S. 100. Höpfner, ZFA 2019, 108 (109). 55  Vgl. Tenfelde/Volkmann, Streik, 1981, S. 288; Fischer/Krengel/Wietog, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch I, 1982, S. 188. 56  Vgl. Hohorst/Kocka/Ritter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, 1978, S. 134; Petzina/Abelshauser/Faust, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III, 1978, S. 116; Tenfelde/Volkmann, Streik, 1981, S. 294 ff. 57  Vgl. Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 49; Hohorst/ Kocka/Ritter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, 1878, S. 132 f. 54  Vgl.



4.3 Grundsatzdebatten197 Tabelle 4 Arbeitskämpfe 1899 bis 1918 Anzahl der betroffenen Betriebe, beteiligten Arbeitnehmer und verlorenen Arbeitstage Betroffene Betriebe

Beteiligte Arbeitnehmer

Verlorene Arbeitstage

1899

7.548

116.531

3.381.000

1900

8.347

141.121

3.712.000

1901

4.799

68.191

2.427.000

1902

4.385

70.696

1.951.000

1903

8.740

135.522

4.158.000

1904

11.436

145.480

5.285.000

1905

18.340

542.564

18.984.000

1906

19.026

376.325

11.567.000

1907

18.379

286.016

9.017.000

1908

6.532

119.781

3.666.000

1909

6.560

130.883

4.152.000

1910

19.110

390.706

17.848.000

1911

12.573

385.216

11.466.000

1912

9.813

493.749

10.724.000

1913

15.586

323.394

11.761.000

1914

6.046

98.339

2.844.000

1915

185

15.238

46.000

1916

437

128.881

245.000

1917

3.399

668.032

1.862.000

1918

1.095

391.591

1.453.000

Arbeitskämpfe: Streiks und Aussperrungen. Quelle: Statistisches Reichsamt, Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1934, S. 321, https://www. digizeitschriften.de/dms/toc/?PID=PPN514401303_1934 (30.7.2021).

198

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Zudem fällt auf, dass mit dem 1914 geschlossenen sog. Burgfrieden58 eine Phase der Entspannung eintrat. Für die Gewerkschaften brachte der Burgfrieden die „Einbindung in den nationalen Konsens zwischen Regierung, Parteien und Wirtschaft“.59 Die Reichsregierung sah die Unterstützung durch die lange Zeit repressiv behandelten Gewerkschaften als unverzichtbar an. Um die Gewerkschaftsführer zu gewinnen, wurden sie „als Gesprächspartner akzeptiert und zu Beratungen über wirtschafts- und sozialpolitische Fragen hinzugezogen“.60 Dieses Arrangement gelang. In den ersten Kriegsjahren ging die Streikaktivität spürbar zurück. Weitere Aufwertungen erfuhren die Gewerkschaften im Jahr 1916. Im Juli wurde gesetzlich klargestellt, dass es sich bei Arbeitgeber- und Arbeitnehmer­ verbänden nicht um politische Vereine handle und im Dezember erkannte der Staat die Gewerkschaften im Zuge des Hilfsdienstgesetzes offiziell an.61 Dieses Gesetz, dessen Anlass der verschärfte Arbeitskräftebedarf und die Mobilisierung aller Produktionsreserven war, „brachte die formalisierte Wende in den Beziehungen des wilhelminischen Staats zu den Gewerk­ schaften“.62 Die verstärkten Anstrengungen brachten allerdings nicht den ersehnten militärischen Durchbruch. Obwohl im Zuge des Hilfsdienstgesetzes Arbeiterausschüsse und paritätisch besetzte Schlichtungskommissionen zur Beilegung innerbetrieblicher Streitigkeiten eingerichtet wurden, nahmen die Spannungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberseite in den letzten beiden Kriegsjahren wieder zu. Dabei spielte auch eine Rolle, dass die Gewerkschaften die gewünschte Loyalität ihrer Mitglieder immer weniger sicherstellen konnten.63 So reagierte die Bevölkerung mit politischen Streiks im Januar 1918 nicht nur auf die faktisch zusammengebrochene Lebensmittelbewirtschaftung; sie forderte auch die Beendigung des Krieges und demokratische Reformen.64 Allerdings wurde 1917 und 1918 bei den verschiedenen Streikindikatoren nicht das Ausmaß der Vorkriegsperiode erreicht (siehe Tabelle 4). Während die Stellung der Gewerkschaften im Zuge der Kriegswirtschaft gestärkt wurde, griffen die Militärbehörden zunehmend in die wirtschaft­ Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 381. Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 101. 60  Zitiert nach Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 90. 61  Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 99 f.; Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 385 f.; Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S.  82 ff. 62  Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 385. 63  Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 390. 64  Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 99 f. 58  Vgl.

59  Steiger,



4.3 Grundsatzdebatten199

liche Freiheit der Unternehmen ein.65 Die Autonomie der Wirtschaft wurde durch die Regulierung von Rohstoffzuteilung und Produktion ebenso beschränkt wie durch die staatliche Überwachung der Zuteilung von Arbeitskräften und der Güterverteilung. Die wachsenden Spannungen zwischen Wirtschaft und Regierung führten zur Gründung neuer Industrieverbände, um die Interessen gegenüber der Politik besser durchsetzen zu können.66 Es wuchs in der Wirtschaft ein allgemeines Bedürfnis, sich gegen Staatseingriffe zu wehren und eine Planwirtschaft zu verhindern.67 Gleichzeitig zwang die Kriegswirtschaft die Arbeitgeberseite, mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten. Dabei wurden auch gemeinsame Interessen mit den Gewerkschaften artikuliert, etwa hinsichtlich einer angemessenen Lebensmittelversorgung für die Arbeiter oder in Bezug auf Fragen der Lohn- und Preispolitik.68 Vor dem Hintergrund, dass die Arbeitgeber die freiheitliche Wirtschaftsordnung weniger durch die Arbeiterbewegung als durch den Staat gefährdet sahen, suchte die Arbeitgeberseite im Sommer und Herbst 1917 eine Verständigung mit den Gewerkschaften über die Gestaltung der politischen und sozialen Verhältnisse.69 Diese Bestrebungen wurden nach dem Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensive im Sommer 191870 verstärkt.71 So startete die Arbeitgeberseite im August 1918 unter der Führung des Geschäftsführers des Zentralverbandes der deutschen elektrotechnischen Industrie, Hans von Raumer, eine neue Annäherung an die Gewerkschaften.72 Raumer sah angesichts der sich verschlechternden militärischen Lage dringenden Handlungsbedarf, da sich die Lage immer deutlicher zu Ungunsten der Arbeitgeber verschiebe: „Gleichberechtigtes Verhandeln“ bedeute ja noch „keine Konzession, sondern eine Notwendigkeit“.73 Nachdem die Oberste Heeresleitung unter General Erich Ludendorff Ende September 1918 die militärische Niederlage gegenüber Kaiser Wilhelm II. und Generalfeldmarschall Paul von 65  Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 20. 66  Feldman, in: Feldman (Hrsg.), Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise, 1984, S. 100 (104). 67  Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 21. 68  Vgl. Feldman, in: Feldman (Hrsg.), Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise, 1984, S. 100 (109). 69  Vgl. Rehling, Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise, 2011, S. 50 ff. 70  Vgl. Gerwarth, Die größte aller Revolutionen, 2018, S. 75 ff. 71  Vgl. Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 95 ff. 72  Vgl. Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 104. 73  Zitiert nach Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 104.

200

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bayrische Staatsbibliothek München/Bildarchiv, port-023122.

Abbildung 18: Anton von Rieppel

Hindenburg einräumte und auf eine baldige Beendigung des Krieges drängte, intensivierte sich auch der Austausch zwischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern. Am 24. Oktober 1918 wurden jeweils Vertreter beauftragt, um für die rheinisch-westfälische Kohlen- und Schwerindus­ trie, die Nordwestliche Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahl­ industrieller und den Gesamtverband Deutscher Metallindustrieller (GDM) mit den Gewerkschaften Verhandlungen aufzunehmen und zu koordinieren. Zwei Tage später ermächtigte der GDM seinen Vorsitzenden, Anton von Rieppel, unter anderem dazu, über die Anerkennung der Gewerkschaften und über den Abschluss von Tarifverträgen zu verhandeln.74 Die Nordwestliche Gruppe suchte am selben Tag bereits „einen ersten Abgleich der Positionen mit allen drei Metallarbeitergewerkschaften hinsichtlich der künftigen Zusammenarbeit und Übergangswirtschaft“.75 Mit der Revolution vom November 1918 erhöhte sich für beide Seiten der Druck, über die Nachkriegsordnung nicht nur nachzudenken, sondern 74  Krüger, 75  Krüger,

Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 114 f. Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 115.



4.3 Grundsatzdebatten201

Quelle: Bundesarchiv, BildY 1-300-2962-67.

Abbildung 19: Ausrufung der Republik 1918

sie auch mitzugestalten. Am 9. November 1918 dankte Kaiser Wilhelm II. ab und noch am selben Tag riefen Philipp Scheidemann unter bürgerlichdemokratischem Vorzeichen und Karl Liebknecht unter sozialistischem Vorzeichen die Republik aus. Zwei Tage später wurde der Erste Weltkrieg

202

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

durch den Waffenstillstand von Compiègne beendet.76 Inmitten der Revolutionswirren setzten sich Gewerkschaften und Arbeitgeberseite an die Spitze zur Gestaltung der sozialen Nachkriegsordnung in Deutschland. Nach weiteren Sondierungen wurde am 15. November 1918 das StinnesLegien-Abkommen geschlossen (siehe Abbildung 1).77 Die Arbeitgeberseite erkannte die Gewerkschaften darin erstmals als legitime Vertreter der Arbeitnehmerschaft an. Ferner sollten die Arbeitsbedingungen durch kollektive Tarifverträge geregelt werden und diese von Arbeiterausschüssen in Betrieben ab 50 Mitarbeitern überwacht werden. Außerdem war die Einrichtung paritätisch besetzter Schlichtungsausschüsse vorgesehen.78 Das Abkommen zog somit einen Schlussstrich unter die anhaltenden Auseinandersetzungen über die Anerkennung von Gewerkschaften und Tarifverträgen in der Vorkriegszeit. Bei den Gewerkschaften setzte sich der kooperative Ansatz durch, nachdem der Tarifvertrag zunächst umstritten war, da er als vertraglicher Kompromiss der Idee des Klassenkampfes ­widersprach. Die Arbeitgeber gaben ihre ablehnende Haltung zum Tarifvertrag auf, die vor allem darauf beruhte, dass er in die Souveränität der Unternehmer eingriff, die weiterhin Herr im Hause bleiben wollten. Das Abkommen stellte daher unzweifelhaft eine historische Zäsur dar. Und obwohl der erste Versuch, eine Tarifautonomie in Deutschland zu etablieren, scheiterte, wird die Bedeutung des Abkommens auch im Rückblick gewürdigt. So sprechen die einen von der „Geburtsstunde der Sozialpart­ nerschaft“,79 während die anderen den 15. November 1918 als „Gründungsdatum für eine auf Parität und Autonomie beruhende Arbeitsverfassung in Deutschland“80 bezeichnen. 4.3.1.2 Interessenlagen Dass es im Stinnes-Legien-Abkommen zu einem Schulterschluss von zwei so „antagonistischen Gegner[n]“81 kam, lag einmal daran, dass der Staat während des Ersten Weltkriegs damit begann, die Gewerkschaften aufzuwerten und Tarifverträge (sog. kollektive Vereinbarungen) zunächst praktisch und später auch rechtlich zu fördern. Schon am 3. März 1915 Gerwarth, Die größte aller Revolutionen, 2018, S. 135 ff. Krüger, Sozialer Fortschritt 67 (2018), 821 (821 ff.). 78  Vgl. Peters/Gorr, Repression und Anerkennung, 2009, S. 101  ff. Dort findet sich neben dem Textlaut des Abkommens auch eine Liste der Unterzeichner. 79  Krüger, Sozialer Fortschritt 67 (2018), 821. 80  Kittner, SR 2019, 118. 81  Kittner, SR 2019, 118 (122). 76  Vgl. 77  Vgl.



4.3 Grundsatzdebatten203

Quelle: Montanhistorisches Dokumentationszen­ trum (montan.dok) beim Deutschen Bergbau-Mu­ seum Bochum, Inventar-Nr.: 027200180001.

Quelle: Deutsches Historisches Musem, InventarNr.: F 52/2558.

Abbildung 20: Hugo Stinnes

Abbildung 21: Carl Legien

empfing der damalige Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg Vertreter aller Gewerkschaftsrichtungen. Die „Ächtung der Gewerkschaftsführer hörte auf, und der Einfluss der Generalkommission nahm zu“.82 Das Militär gewöhnte sich in der Folgezeit im Interesse der Kriegsführung an die beschränkte Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften.83 Wie oben bereits erwähnt, erkannte der Staat die Gewerkschaften im Rahmen des Hilfsdienstgesetzes nicht nur als rechtmäßige Vertreter der Arbeiter an; er führte auch paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzte obligatorische Schlichtungsausschüsse ein, die bei Streitigkeiten über Lohnund Arbeitsbedingungen eingeschaltet werden konnten. Damit hatten sich die Gewerkschaften zu einem „Ordnungsfaktor“84 entwickelt. An der Be82  Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 77. Die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschland war zwischen 1890 und 1919 das überverbandliche Gremium der freigewerkschaftlichen Einzelverbände. 83  Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 77. 84  Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 81.

204

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

setzung der Schlichtungsausschüsse waren die Gewerkschaften mit eigenen Vorschlagslisten beteiligt, sodass sie erstmals Zutritt zu den Großbetrieben bekamen.85 Die Schlichtungsausschüsse sollten zwar in erster Linie Streiks verhindern, hatten aber den Zusatzeffekt, dass eine tarifpolitische Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften mehr oder weniger erzwungen wurde.86 Allerdings fehlte den betrieblichen Arbeiterausschüssen in vielen Branchen ohne Tarifverträge der Rückhalt der Gewerkschaften, was den jeweiligen Betriebsleitungen einen erheblichen Einfluss auf die Ausschüsse eröffnete.87 Ausschlaggebend für den Schulterschluss waren jedoch die gemein­ samen Ziele der Tarifvertragsparteien. Beide Seiten waren aufgrund der Erfahrungen der Kriegswirtschaft darin geeint, den Staat aus der Gestaltung der Arbeitsbedingungen herauszuhalten. Da die Kriegswirtschaft beide Seiten dazu zwang, miteinander zusammenzuarbeiten, kristallisierten sich die beschriebenen gemeinsamen Interessen hinsichtlich der Lebensmittelversorgung und der Preis- und Lohnpolitik heraus. Dass es zu einem wegweisenden Abkommen kam, lag daran, dass der Krieg im Herbst 1918 militärisch nicht mehr zu gewinnen war. Damit zeichnete sich ab, dass das etablierte Bündnis der Schwerindustrie mit dem feudalen Großgrundbesitz (und dessen Vertretern im preußischen Staat und Militär) zur Verteidigung der gemeinsamen Interessen keine Zukunft mehr haben konnte.88 Auf Arbeitgeberseite grassierte mit dem absehbaren Verlust des Krieges im Herbst 1918 die Angst vor einem Zusammenbruch der politischen Ordnung mit anarchischen Zuständen, die zu einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel führen konnten.89 Der Geschäftsführer des Zentralverbands der deutschen elektrotechnischen Industrie, Hans von Raumer, regte deshalb schon im Juli 1918 „eine organische Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften“ an, „bevor die Flut der Ereignisse über uns alle hinweg­ geht“90. Einige Monate später beschrieb Jacob Reichert, Geschäftsführer des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, die unternehmens­ internen Diskussionen in einer Rede vor der Vereinigung der Handelskammern des rheinisch-westfälischen Industriebezirks in Essen vom 30. Dezember 1918 ausführlicher: „Wie kann man die Industrie retten? Wie kann man das Unternehmertum vor der drohenden, über alle Wirtschaftszweige 85  Kittner,

SR 2019, 118 (120). Industrielle Beziehungen 26 (2019), 326 (329). 87  Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 84. 88  Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 106. 89  Vgl. Lesch, Industrielle Beziehungen 26 (2019), 326 (329 f.). 90  Zitiert nach Kittner, SR 2019, 118 (121 f.). 86  Lesch,



4.3 Grundsatzdebatten205

Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-2010-0225-502.

Abbildung 22: Hans von Raumer

hinwegfegenden Sozialisierung, der Verstaatlichung und der nahenden ­Revolution bewahren? Am 9. Oktober 1918 saß im Stallhof in Düsseldorf eine Anzahl von Eisenindustriellen, die sich über diese Dinge unterhielten. Die Versammelten waren sich einig darüber, dass unter den bestehenden Verhältnissen die Regierung des Prinzen Max von Baden […] unhaltbar sei und sie bald gestürzt werden würde. […] Jedenfalls haben sich die Eisenindustriellen von einer schwachen Regierung keine Hilfe versprechen können. […] Auf das Bürgertum, wie es einmal in Deutschland ist, ist in wirtschaftspolitischen Dingen leider kein Verlass. Einen überragenden Einfluss schien nur die organisierte Arbeiterschaft zu haben“.91 Um eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu verhindern und um das Privateigentum zu sichern, brauchten die Arbeitgeber also den gemäßigten Flügel der Gewerkschaftsbewegung. Außerdem war ihre Unterstützung notwendig, um den Übergang von der Kriegswirtschaft auf eine Zivilwirtschaft zu organisieren. Die Demobilmachung setzte die Mitwirkung der Gewerk-

91  Zitiert

nach Peters/Gorr, Anerkennung und Repression, 2009, S. 151.

206

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

schaften zwingend voraus.92 Letztlich wurden die Arbeitgeber zu dem Novemberabkommen von zwei „zentralen Motiven“93 angetrieben: weniger Staat und Sicherung des Privateigentums. Die Gewerkschaften pflichteten der Kritik der Industriellen an der Kriegsbürokratie bei.94 Ziel der gemäßigten Gewerkschaften war, die von der Front zurückkehrenden Arbeiter wieder einzugliedern. Dies wurde als Voraussetzung dafür angesehen, bolschewistische Zustände nach russischem Vorbild zu verhindern. Das Vertrauen in den Staat war in den Kriegswirren auch auf Seiten der Gewerkschaften beschränkt, sodass eine Kooperation mit den Arbeitgebern vielversprechender schien. Gleichzeitig bot sich den Gewerkschaften ein Gelegenheitsfenster, von den Arbeitgebern rechtmäßig anerkannt zu werden: Als Gegenleistung für ihre Mitwirkung an einem Demobilisierungsprogramm verlangten sie die uneingeschränkte Anerkennung sowie die Garantie des Koalitions- und Tarifrechts. Im „Correspondenzblatt“ der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschland heißt es zum Abschluss des Vertrages: „Mit diesem Vertrage ist ein gewerkschaftlicher Sieg von seltener Größe errungen worden, denn er bedeutet seitens der Unternehmer die völlige Preisgabe des Herrnim-Hause-Prinzips, gegen das so viele und erbitterte gewerkschaftliche Kämpfe geführt werden mussten. Die absolute Gleichberechtigung der Gewerkschaften mit den Unternehmerorganisationen ist durch die Vereinbarung anerkannt […]. Der alte Geist des Scharfmachertums hat dem neuen Geist gegenseitiger Achtung und Vertragsfähigkeit Platz machen müssen […].“95 Entscheidend für den Schulterschluss der Tarifvertragsparteien war es weniger, gemeinsame tarifpolitische Ziele durchzusetzen. Im Gegenteil: Die einzige tarifpolitische Vereinbarung, der Acht-Stunden-Tag, wurde zu einer schweren Hypothek für die neue Tarifpartnerschaft.96 Treibende Motive waren „gemeinsame Werturteile hinsichtlich der künftigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, sowie das […] Ziel, den Staat aus der Regelung der Arbeitsbedingungen herauszuhalten.“97

92  Vgl.

Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 111. Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016,

93  Lesch/Byrski,

S. 22. 94  Vgl. Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 110. 95  Zitiert nach Peters/Gorr, Anerkennung und Repression, 2009, S. 104. 96  Kittner, SR 2019, 118 (122). 97  Lesch, Industrielle Beziehungen 26 (2019), 326 (330).



4.3 Grundsatzdebatten207

4.3.1.3  Staatliche Legitimierung der Tarifautonomie Das Besondere dieses Abkommens besteht darin, dass die Tarifvertragsparteien sich selbst einen Autonomiestatus einräumten: „Bei Lichte besehen, war das nicht weniger als die (Selbst-)Ermächtigung […] über Gesetzgeber und Administration.“98 Dieser Akt wurde durch den Rat der Volksbeauftragten mit der Verabschiedung der TVVO im Dezember 1918 auf eine rechtliche Grundlage gestellt.99 Zuvor war am 12. November 1918 das Hilfsdienstgesetz von der provisorischen Reichsregierung außer Kraft gesetzt worden, wodurch die Rechtsgrundlage für die Bildung der Arbeiterausschüsse entfallen war und eine neue gesetzliche Regelung notwendig wurde.100 Gustav Bauer, Staatssekretär im Reichswirtschaftsamt und Vertrauter Friedrich Eberts (der zu diesem Zeitpunkt Mitglied der pro­ visorischen Reichsregierung war und am 11. Februar 1919 zum ersten Reichspräsidenten gewählt wurde) kündigte daher die Ausarbeitung einer TVVO an, an der Arbeitgeber und Gewerkschaften mitwirken sollten. Dabei sollten auch die Inhalte des Stinnes-Legien-Abkommens „gesetzlich abgesichert werden“101. Zeitzeugen bewerteten das Stinnes-Legien-Abkommen als einen „Schritt zum inneren Frieden“.102 Es erscheint daher konsequent, dass der Staat die Selbstermächtigung der Tarifvertragsparteien anerkannte und die Tarifautonomie in der Weimarer Reichsverfassung verankerte. Die im Dezember 1918 nur wenige Wochen nach dem Stinnes-LegienAbkommen verabschiedete TVVO legitimierte die „Selbstermächtigung“ der Tarifvertragsparteien. Sie enthielt allerdings nicht nur Regelungen zum Tarifvertragsrecht und zur Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten, sondern gewährleistete auch eine Existenzgrundlage für die Arbeiter- und Angestelltenausschüsse. Die Verordnung „führte erstmals den Begriff und den Geltungsbereich des Tarifvertrags sowie die Unabdingbarkeit tarifvertraglicher Vereinbarungen und somit die überbetriebliche Regelung arbeitsrechtlicher Normen in die deutsche Rechtsordnung ein.“103 Darüber hinaus räumte die Reichsregierung der Tarifautonomie in Art. 159 der im August 1919 in Kraft getretenen Weimarer Reichsverfassung (WRV) Verfassungs98  Däubler/Kittner,

Geschichte der Betriebsverfassung, 2020, S. 150. den Inhalten der TVVO siehe Kapitel 3.1.3 und Peters/Gorr, Anerkennung und Repression, 2009, S. 105 ff. 100  Rudolph, AuR 2020, G17 (G18). 101  Rudolph, AuR 2020, G17 (G18). 102  Schmid-Essen, Wirtschaftsdienst 3 (1918), 1071. 103  Nautz, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 71 (72). 99  Zu

208

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesarchiv, BildY 1-306-1883.

Abbildung 23: Rat der Volksbeauftragten

rang ein: „Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Alle Abreden und Maßnahmen, welche diese Freiheit ein­ zuschränken oder zu behindern suchen, sind rechtswidrig.“ Ergänzend erkennt Art. 165 Abs. 1 WRV die Gewerkschaften als gleichberechtigte ­ Partner der Unternehmen an: „Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.“104 Die beiden Artikel der Weimarer Reichsverfassung bedeuteten, „daß die Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen […] primär zum autonomen Bereich der ‚Sozialpartner‘ gehörte, daß es aber der staatlichen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung niemals verwehrt war, in die Gestaltung des Arbeitsmarktverhältnisses einzugreifen. […] Die Autonomie war keine vom Staat unabhängige. […] Autonomes Recht der ‚Sozialpart104  Zitiert

nach Peters/Gorr, Anerkennung und Repression, 2009, S. 174 f.



4.3 Grundsatzdebatten209

ner‘ durch die tarifvertragliche Fixierung der Lohn- und Arbeitsbedingungen war deshalb nur möglich, wenn es vom Staat zugelassen war, sich in den vom Staat gezogenen Grenzen hielt, in den Formen erfolgte, die der Staat zur Verfügung stellte.“105 Mit den 1918/19 getroffenen tarifrechtlichen Rahmenbedingungen hatte sich die Tarifautonomie im Zuge eines politisch-historischen Prozesses etabliert. Der Staat gab der Selbstermächtigung der Tarifvertragsparteien nach, ohne zu wissen, wie funktionsfähig dieses institutionelle Arrangement letztlich sein würde. Tarifautonomie konnte 1918 entstehen, weil die antagonistischen Tarifvertragsparteien durch den gemeinsamen Willen geeint wurden, ihre Beziehungen autonom und frei von staatlicher Einflussnahme zu gestalten. Nach den Erfahrungen aus über 100 Jahren Tarifautonomie in Deutschland lässt sich folgern: Solange dieser Wille vorhanden war, gelang es den Tarifvertragsparteien auch, ihre Konflikte trotz unterschiedlicher tarifpolitischer Ziele autonom zu lösen. Dass diese Kompromissfindung unter Beachtung von Gemeinwohlbelangen gelang, war wiederum Voraussetzung dafür, frei von staatlicher Einflussnahme Handeln zu können. Dies werden die verschiedenen zeithistorischen Debatten dieses Buches zeigen.

4.3.2  Der Weg zum Tarifvertragsgesetz (1946–1949) 4.3.2.1 Hintergrund Die 1918 ratifizierte TVVO wurde nach der Machtübernahme durch die NSDAP 1933 außer Kraft gesetzt. Zwischen 1933 und 1945 konnten keine Tarifverträge mehr geschlossen werden und der Arbeitsmarkt wurde durch staatliche Einrichtungen (den Treuhändern der Arbeit) reguliert.106 Erst 1949 wurde ein neues Tarifvertragsgesetz auf Grundlage der im Grundgesetz verankerten Tarifautonomie in Kraft gesetzt. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland 1945 von den Truppen der Sieger besetzt und zerstört. Die Regierungsgewalt ging von den Militärgouverneuren der Besatzungszonen aus. In den ersten Jahren herrschte eine Art Zwangswirtschaft vor, die mit Lohn- und Preisstopps versehen war und in der die Produktion und der Einsatz der Arbeitskräfte von den Besatzungsmächten strikt gelenkt wurde.107 Viele Betriebe mussten neu aufgebaut und auf eine Nachkriegsproduktion umgestellt werden. In den Städten herrschte Woh105  Hartwich,

Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 21. Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 277. 107  Vgl. Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 237. 106  Vgl.

210

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-P046748.

Abbildung 24: Brandenburger Tor 1945

nungsnot und die Löhne waren zunächst auf dem Stand vom 8. Mai 1945 eingefroren worden. Ein dauerhaft robustes Wirtschaftswachstum wurde erst wieder in den 1950er Jahren erreicht.108 Die wirtschaftlichen Schäden infolge der Zerstörung waren dabei immens. Die schlechte wirtschaftliche Situation wurde durch eine in allen Besatzungszonen einsetzende Demontage von Industrieanlagen durch die Besatzungsmächte verschärft. Bis zum Jahr 1947 war die gesamtwirtschaftliche Produktionskapazität in etwa auf den Stand von 1932 gesunken.109 Allein im Ruhrgebiet wurden 350 Betriebe demontiert und 250.000 Arbeitsplätze vernichtet.110 Schneider fasst die schwierige Lage folgendermaßen zusammen: „Die Lebenshaltungskosten stiegen im zweiten Halbjahr 1948 um 17 %; die Arbeitslosenzahl verdoppelte sich auf eine Million. Die gefüllten Läden nach der Währungsreform machten im Übrigen deutlich, dass die bis dahin katastrophale Versorgungslage nicht überall auf einen 108  Vgl. Fehmel, in: Andresen/Bitzegio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en), 2011, S. 267 (275). 109  Vgl. Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 237. 110  Vgl. Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 237.



4.3 Grundsatzdebatten211

echten Mangel an Gütern, sondern vielfach auf Hortung und Produktionszurückhaltung mit Blick auf die erwartete Währungsreform zurückzuführen war.“111 Mit Blick auf die von Schneider angesprochenen steigenden Arbeitslosenzahlen liegen erste belastbare Angaben für die Jahre 1948 und 1949 vor. Nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit (BMA) stieg die Arbeitslosenquote in den westlichen Besatzungszonen von 3,2 Prozent Ende Juni 1948 auf 10,3 Prozent am Ende des Jahres 1949 (siehe Grafik 10).112 Wie in Tabelle 5 zu sehen ist, stieg die Zahl der Arbeitslosen zwischen dem 30. Juni 1948 und dem 31. Dezember 1949 um mehr als das Dreifache an. Die einzelnen Gebiete waren dabei im unterschiedlichen Ausmaß von Arbeitslosigkeit betroffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten sowohl ehemalige Soldaten als auch zurückkehrende Kriegsgefangene in den ArTabelle 5 Arbeitslosenzahlen 1948 und 1949 in den westlichen Besatzungsgebieten Zahl der Arbeitslosen am Stichtag:

30. Juni 1948

30. Juni 1949

31. Dezember 1949

Schleswig-Holstein

21.250

189.113

221.184

Hamburg

14.493

51.895

71.874

6.923

16.739

17.457

59.075

286.750

367.701

122.260

182.710

196.107

5.144

33.716

58.120

Hessen

41.895

104.909

132.977

Württemberg-Baden

29.972

57.338

68.298

Württemberg-Hohenzollern

1.215

4.781

12.229

Baden

3.137

7.093

11.227

Bayern

145.727

348.258

406.295

Gesamt

451.091

1.283.302

1.563.469

Bremen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz

Quelle: BMA, Entwicklung und Ursachen der Arbeitslosigkeit, 1950.

111  Schneider, 112  Vgl.

Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 260. BMA, Entwicklung und Ursachen der Arbeitslosigkeit, 1950, S. 6.

212

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

30 25

20 15 10 5 0

30.6.1948

30.6.1949

31.12.1949

Quelle: BMA, Entwicklung und Ursachen der Arbeitslosigkeit, 1950.

Grafik 10: Regionale Arbeitslosenquoten 1948 und 1949 In Prozent zum jeweiligen Stichtag

beitsmarkt integriert werden.113 Darüber hinaus strömte eine große Zahl an Flüchtlingen nach Deutschland, die aufgrund der Wohnungsnot und der Lebensmittelknappheit in den Städten auf die ländlichen Regionen verteilt wurden.114 Arbeitsmarktpolitisch war diese Verteilung jedoch eine Fehl­ allokation, da Arbeitskräfte vor allem beim Aufbau der Städte und Betriebe benötigt wurden.115 Vor diesem Hintergrund fiel die Entwicklung der Arbeitslosenquote in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich aus (siehe Grafik 10). Die Arbeitslosenquote stieg 1949 besonders stark in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern an. Diese drei Regionen nahmen auch einen Großteil der Flüchtlinge in den westlichen Besatzungszonen nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Abseits dieser Entwicklungen nahm das Besatzungsrecht ebenso Einfluss auf die rechtliche Ausgestaltung des Arbeitsmarkts wie auf den Aufbau von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. So wurden zwischen 1945 und 1946 sukzessive die Koalitionsfreiheit, die Arbeitsgerichtsbarkeit und der Acht-Stunden-Tag wieder eingeführt. Und auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände stellten sich nach dem Krieg neu auf: Bereits im März 1945 kam es zu lokalen Neugründungen von Gewerkschaften in 113  Vgl.

BMA, Entwicklung und Ursachen der Arbeitslosigkeit, 1950, S. 2. BMA, Entwicklung und Ursachen der Arbeitslosigkeit, 1950, S. 1. 115  Vgl. BMA, Entwicklung und Ursachen der Arbeitslosigkeit, 1950, S. 1. 114  Vgl.



4.3 Grundsatzdebatten213

Quelle: Bundesarchiv, Plak 004-002-002.

Abbildung 25: Karte der Besatzungszonen

214

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Aachen und Köln.116 In der britischen Zone wurden Gewerkschaftsgründungen allerdings erst am 6. August 1945 offiziell gestattet.117 Am 12. ­April 1946 folgte die Industrial Relations Directive Nr. 10, die den Aufbau von Gewerkschaften einem mehrstufigen Plan unterwarf. In der ersten Phase war es den Gewerkschaften erlaubt, Versammlungen auf lokaler Ebene abzuhalten und neue Satzungen und Programme zu entwickeln.118 In der zweiten Phase durften Räume angemietet und Mitglieder angeworben werden und in der dritten Phase konnten auch Gewerkschaftsfunktionäre gewählt und die fortlaufende Gewerkschaftsarbeit aufgenommen werden. Der Übergang von der einen zur anderen Phase blieb dabei unbestimmt und lag im Ermessen der Militärregierung.119 Unter diesen Voraussetzungen scheiterten die Versuche, zentralisierte oder allgemeine Gewerkschaften aufzubauen, wie sie auch von Hans Böckler favorisiert wurden. Schnei­ der führt dazu aus: „Besatzungsmacht und englische Gewerkschafter machten den Gewerkschaftsführern in der britischen Zone klar, dass sie sich nicht mit dem Plan einer zentralen Einheitsgewerkschaft, sondern allein mit dem Prinzip eines Bundes von Industriegewerkschaften befreunden könnten.“120 In der amerikanischen und französischen Zone verlief der Wiederaufbau der Gewerkschaften etwas anders. Dort entstanden in den Nachkriegsjahren zunächst gewerkschaftliche Landesverbände.121 Um Gewerkschaftsarbeit über die Zonengrenzen hinaus zu ermöglichen, wurde im November 1947 ein gemeinsamer Gewerkschaftsrat für die britische und amerikanische Zone gegründet, dem sich im Dezember 1948 auch der Gewerkschaftsrat der französischen Zone anschloss.122 Am Ende sollte sich in den westlichen Besatzungszonen zudem das Prinzip der Branchengewerkschaft durchsetzen. Im Oktober 1949 gründete sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB).123 Hans Böckler wurde zum ersten Vorsitzenden des DGB gewählt, der zum Gründungszeitpunkt 16 Industriegewerkschaften unter seinem Dach zusammenfasste.124 Im Juni 1949 zählten alle DGB-Gewerkschaften zusammen knapp 5 Millio­nen Mitglieder. Eine der größten Einzelgewerkschaften bildete schon damals die IG Metall Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 246. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 248. 118  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 248. 119  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 248. 120  Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 248 f. 121  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 249. 122  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 250. 123  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 264 f. 124  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 264. 116  Vgl. 117  Vgl.



4.3 Grundsatzdebatten215

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung.

Abbildung 26: Hans Böckler

mit über 1,3 Millionen Mitgliedern.125 Die DAG und der dbb traten dem DGB nicht bei.126 Die Gründung neuer Arbeitgeberverbände gestaltete sich ebenso schwierig.127 Die Briten bevorzugten ein System, in dem sich die Unternehmen nach Branchen in Wirtschaftsverbänden organisieren sollten. Die sich neuformierenden Arbeitgeberverbänden wollten hingegen an das „bewährte System der dualen Interessenvertretung in sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Verbänden“ anknüpfen.128 Letztlich wurden in den ersten Nachkriegsjahren Arbeitgeberverbände in der britischen Zone geduldet.129 Hans Bilstein gründete beispielsweise im August 1945 mit 100 anderen Unternehmern aus Hagen und Umgebung einen gemischt gewerb­

Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 266. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 264. 127  Vgl. Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 236. 128  Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 242 f. 129  Vgl. Mallmann, AuR 2017, G5 (G6). 125  Vgl. 126  Vgl.

216

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Gesamtmetall.

Abbildung 27: Hans Bilstein

lichen Arbeitgeberverband.130 Im September 1945 konnte sich ebenso der Verband der Metallindustriellen Niedersachsens in Hannover etablieren.131 Im Mai 1947 stellte die britische Militärregierung zudem klar, dass sich neben reinen Wirtschaftsverbänden auch Arbeitgeberverbände gründen konnten.132 Nach weiteren Aufbaujahren wurde im März 1949 der Gesamtverband der metallindustriellen Arbeitgeberverbände (GDM) gegründet, unter dessen Dach sich die bis dato entstandenen Metall-Arbeitgeberverbände vereinigen konnten.133 Hans Bilstein wurde der erste Vorsitzende des GDM.134 In der US-amerikanischen Zone galt nach Kriegsende zuerst ein striktes Verbot, das keine Gründung von Arbeitgeberverbänden erlaubte.135 Ab 1946 130  Vgl. 131  Vgl. 132  Vgl. 133  Vgl. 134  Vgl. 135  Vgl.

Mallmann, Mallmann, Mallmann, Mallmann, Mallmann, Mallmann,

Perspektiven Perspektiven Perspektiven Perspektiven Perspektiven Perspektiven

aus aus aus aus aus aus

Tradition, Tradition, Tradition, Tradition, Tradition, Tradition,

2015, 2015, 2015, 2015, 2015, 2015,

S. 246 f. S. 242. S. 243. S. 252 f. S. 254. S. 244.



4.3 Grundsatzdebatten217

begann die amerikanische Militärregierung aber damit, dem britischen Beispiel zu folgen und Zusammenschlüsse von Unternehmern zu dulden. Offiziell erlaubte sie die Gründung von Arbeitgeberverbänden in ihrer Zone aber erst im Oktober 1947.136 Bis zum Ende der 1940er Jahre gelang die Neugründung von Arbeitgeberverbänden in den westlichen Besatzungszonen, die sich ebenfalls Schritt für Schritt in einem gemeinsamen Dachverband zusammenschlossen. Zu Beginn des Jahres 1949 wurde die BDA geschaffen.137 Walter Raymond stand ihr von 1949 bis 1954 als Präsident vor. Obwohl die westlichen Besatzungsmächte in ihren Zonen wichtige Elemente eines Tarifvertragssystems wieder einführten und sukzessive den Aufbau von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zuließen, nahmen sie den verfügten Lohnstopp nicht zurück. Damit wurde den Tarifvertragsparteien nicht nur ein zentrales Handlungsfeld genommen, sondern der Lohnstopp führte bei stetiger Inflation auch zu sinkenden Reallöhnen und zu steigenden Schwarzmarktgeschäften. Arbeiter und Angestellte waren auf Lebensmittelrationen angewiesen.138 Während die Alliierten eine Neuordnung der Sozial- und Arbeitsbeziehungen in Deutschland anstrebten, gingen die Vorstellungen darüber, wie ein neues Tarifvertragssystem aussehen könnte, jedoch auseinander. Aber auch Vertreter deutscher Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände strebten die Schaffung eines neuen ­Tarifvertragsgesetzes an. Dabei sollten sowohl die Erfahrungen mit der staatlichen Regulierung in Weimar (zum Beispiel der Zwangsschlichtung, siehe Kapitel 4.4.1) als auch die mit der Außerkraftsetzung eigenständiger Tarifverträge in der nationalsozialistischen Diktatur einbezogen werden. 4.3.2.2 Interessenlagen Maßgeblich für die Wiedereinführung der Tarifautonomie im Jahr 1949 waren die „liberalen und marktwirtschaftlich orientierten Arbeitsmarktordnungen von US-Amerikanern und Briten“.139 Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ausgangslage für die Wiedereinführung der Tarifautonomie indes eine andere als nach dem Ersten Weltkrieg. Während die Tarifvertragsparteien 1918 während der Revolutionswirren mit dem Stinnes-Legien-Abkommen eine Vorreiterrolle übernahmen, die von der provisorisch gebildeMallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 244. Schroeder, in: Schroeder/Weßels (Hrsg.), Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Deutschland, 2010, S. 26 (31). 138  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 254. 139  Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 47. 136  Vgl. 137  Vgl.

218

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

ten deutschen Reichsregierung anerkannt wurde, war Deutschland 1945 besetzt. Die Exekutive wurde von den Besatzungsmächten wahrgenommen, was den Spielraum für autonomes Handeln beschränkte. Nach Vorstellungen der amerikanischen und britischen Besatzungsmächte sollten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände nicht nur gestärkt werden, um – wie schon in der Weimarer Republik – die Arbeitsbeziehungen zu ordnen, sondern auch, um die radikalen Kräfte am rechten wie am linken Rand des politischen Spektrums zu verdrängen und die Demokratie in Deutschland zu festigen.140 Obwohl Briten und US-Amerikaner von marktwirtschaft­ lichen Vorstellungen geleitet wurden, gab es entscheidende Unterschiede in ihren Entwürfen zur Gestaltung des Arbeitsmarkts nach dem Kriegsende. Bereits im Juni 1944 erstellte das US-amerikanische Außenministerium ein Grundsatzpapier, in dem „der Wiederaufbau Deutschlands mit als demokratisch angesehenen Kräften und Strukturen aus der Weimarer Repu­ blik favorisiert“ wurde.141 Zur Unterstützung einer demokratischen Gewerkschaftsbewegung sollten auch die Koalitionsfreiheit und Kollektivverhandlungen nach dem Kriegsende wiedereingeführt werden, Lohntarifverträge sollten jedoch von den Behörden genehmigt werden.142 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veränderte sich die amerikanische Position dahingehend, dass der staatliche Genehmigungszwang fallen gelassen wurde. Auch nach den britischen Vorstellungen sollten die Grundsätze der Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie wieder eingeführt werden.143 Allerdings behielten sich die Briten zunächst Lohn- und Preiskontrollen vor. Aus ihrer Sicht sollten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände erst beweisen, dass sie in der Lage waren, eigenständige Lohnverhandlungen durchzuführen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vermuteten die Briten einen Mangel an fähigen Gewerkschaftsführern in Deutschland.144 Daher wollten sie den Aufbau von Gewerkschaften nach dem Vorbild der zentralisierten und gut organisierten britischen Gewerkschaften vorschreiben. Gleiches galt für die Arbeitgeberverbände, deren Gründung die Briten in ihrer Zone erst 1947 offiziell erlaubten. Zuvor wurden einige Verbände geduldet und reine 140  Vgl.

S. 43.

Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985,

141  Nautz, 142  Vgl.

S. 44.

Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 42. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985,

143  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 67. Siehe auch Kapitel 3.2.2.1. 144  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 57.



4.3 Grundsatzdebatten219

Wirtschaftsverbände, wie beispielsweise Handelskammern, durften sich bereits vor 1947 bilden.145 Insgesamt schwebte ihnen ein dem britischen System ähnliches Tarifvertragssystem für Deutschland vor, in dem starke Organisationen auf nationaler Ebene Verträge für ganze Branchen aushandelten. Sowohl in der britischen als auch in der US-amerikanischen Zone konnten Gewerkschaften und Arbeitgeberbände in puncto Lohnverhandlungen aufgrund des 1945 von den Besatzungsmächten eingeführten Lohnstopps zunächst wenig ausrichten.146 Betriebsräte waren hierzu jedoch in der Lage. Sie konnten in der US-amerikanischen Zone seit Juli 1945 direkt mit den Geschäftsleitungen der Unternehmen verhandeln.147 Auch in der britischen Zone war der Abschluss von Betriebsvereinbarungen möglich, wurde von den Gewerkschaftern aber als ineffizient kritisiert.148 Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich ein Spannungsfeld zwischen Betriebsratsund Gewerkschaftsarbeit ab. Grundsätzlich fand die Kritik der Gewerkschafter bei der US-amerikanischen und der britischen Militärregierung Anklang, da diese eine Unterwanderung der Betriebsräte durch kommunistische Kräfte befürchteten.149 Hervorzuheben ist, dass nicht nur die Besatzungsmächte über die Neuordnung des Arbeitsmarktes nachdachten, sondern ebenso amtliche Stellen, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurden (siehe Kapitel 3.2.2). Im Zentralamt für Arbeit, das im zur britischen Zone gehörenden Lemgo lag, konkurrierten zwei Konzepte miteinander: erstens gab es staatskorporatistische Vorstellungen, nach denen die Lohn- und Arbeitsbedingungen einfach per staatlicher Verordnung geregelt werden sollten.150 Zweitens wurden aber auch liberalere Ideen diskutiert, die das Tarifwesen auf Grundlage des Prinzips der Tarifautonomie neuordnen wollten. Auf der ersten Gewerkschaftskonferenz im August 1946 diskutierten die Gewerkschaftsvertreter in Bielefeld verschiedene Ansätze.151 Für die spä145  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  63 f. 146  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 62. 147  Vgl. Dreschers, Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland 1994, S.  95 ff. 148  Vgl. Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 242. 149  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 62; Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, S. 257 f. 150  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  69 ff. 151  Vgl. Nautz, Archiv für Sozialgeschichte 1991, 179 (188 f.).

220

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

tere Schaffung des Tarifvertragsgesetzes sind in diesem Kontext die Arbeiten des Arbeitsrechtlers Hans Carl Nipperdey von Interesse, den die Gewerkschaften 1945 beauftragten, einen Gesetzesentwurf zu entwickeln.152 Nipperdeys Entwurf vom September 1948 machte die Tarifautonomie zur Grundlage der deutschen industriellen Beziehungen und schloss eine Genehmigungspflicht von Tarifverträgen durch staatliche Einrichtungen aus. Weitere – noch heute im Grundsatz gültige – Prinzipien umfassten die Unabdingbarkeit sowie die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags, den Vorrang von Tarifverträgen vor Betriebsvereinbarungen, die Allgemeinverbindlicherklärung sowie die Nachwirkung von Tarifverträgen.153 Anders als in der Weimarer Republik sah der Entwurf jedoch auch vor, dass konkrete, betriebliche Fragen in Tarifverträgen geregelt werden konnten. Mit diesem Vorschlag versuchte Nipperdey den Einfluss der Gewerkschaften im Vergleich zu den Betriebsräten per Gesetz zu stärken.154 Auch in der britischen und amerikanischen Zone wurden zwischen 1946 und 1948 die anfänglichen Vorstellungen in konkrete Entwürfe gegossen. Für die britische Zone lieferte das Zentralamt für Arbeit unter Leitung von Wilhelm Herschel einen Entwurf, in dem „der Tarifvertrag und nicht die Tarifordnung“ als zentrales Gestaltungsmittel der Arbeitsbeziehungen eingeführt wurde.155 Entlang britischer Vorstellungen sollten Gewerkschaften, einzelne Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände als Tarifvertragsparteien auftreten und vollständig tariffähig sein. Den Spitzenorganisationen der Arbeitgeberverbände wurde hingegen nur eine eingeschränkte Tariffähigkeit zugesprochen.156 Neben den Grundsatzfragen zur Tariffähigkeit sah der Entwurf ebenso die Einführung der Allgemeinverbindlicherklärung vor. Nach den Vorstellungen des Zentralamts für Arbeit sollte ein Tarifvertrag allgemeinverbindlich erklärt werden können, wenn er in seinem Geltungsbereich überwiegende Bedeutung erlangt habe oder es im Interesse der Militärregierung läge. Ein Antrag der Tarifvertragsparteien auf Allgemeinverbindlicherklärung ihres Tarifvertrags war nicht vorgesehen. Das Zentralamt für Arbeit hielt die Allgemeinverbindlicherklärung für notwendig, um einen Lohnunterbietungswettbewerb durch nicht tarifgebundene 152  Vgl. Preis, AuR 2016, G9 (G10); vgl. auch Wonneberger, Die Funktionen der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, 1992, S. 7 ff. 153  Vgl. Nautz, Archiv für Sozialgeschichte 1991, 179 (192 f.). 154  Vgl. Nautz, Archiv für Sozialgeschichte 1991, 179 (193). 155  Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 54. 156  Vgl. Nautz, Archiv für Sozialgeschichte 1991, 179 (192).



4.3 Grundsatzdebatten221

Außenseiter zu verhindern.157 Der Entwurf des Zentralamts für Arbeit sah weiterhin die Einführung eines Tarifregisters sowie die inhaltliche Prüfung und Genehmigungspflicht von Tarifverträgen durch das Amt vor. Insgesamt folgert Nautz: „Den Planern des ZfA schwebte also eine Normierung des Tarifvertragswesens vor, die dem Staat die Suprematie bei der Regelung der Arbeitsbeziehungen sichern sollte. […] Abgesichert werden sollte diese Politikform durch eine adäquate Schlichtungsgesetzgebung“.158 In der US-amerikanischen Zone legte der Unterausschuss für Arbeitsrecht 1947 einen ersten Gesetzesentwurf vor. Ihm lag im Vergleich zum Vorschlag des Zentralamts für Arbeit, ein „liberaleres Verständnis von Tarifverhandlungen“ zugrunde.159 Die Allgemeinverbindlicherklärung sollte erst auf Initiative einer Tarifvertragspartei möglich werden und musste vom Arbeitsminister ausgesprochen werden, der durch Wahlen demokratisch legitimiert war.160 Tarifverträge sollten auch in diesem Entwurf in ein Tarifregister eingetragen werden. Eine materielle Prüfung der tarifvertraglichen Inhalte war jedoch nicht vorgesehen.161 Nachdem sich 1948 die britische und die US-amerikanische Zone zusammengeschlossen hatten, wurden die Debatten um das neue Tarifvertragsrecht Mitte 1948 auf der bizonalen Ebene fortgesetzt. Dem Zentralamt für Arbeit folgte das Amt Verwaltung für Arbeit nach, welches einen Referentenentwurf für die bi­ zonale Ebene vorlegte. Neben dem Entwurf für ein Tarifvertragsgesetz legte die Verwaltung für Arbeit auch den Entwurf für ein Schlichtungsgesetz vor. Dieses orientierte sich – wie es bereits von Herschel im Zentralamt für Arbeit erwogen worden war – stark an der staatlichen Zwangsschlichtung aus Weimarer Zeiten. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände wehrten sich gemeinsam gegen eine staatliche Regulierung der Schlichtung. Diese Ablehnung beruhte darauf, dass die staatliche Zwangsschlichtung „in der Zeit der Weimarer Republik dazu beigetragen hatte, die Verantwortungsfreudigkeit der Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bei Tarifverhandlungen zu beeinträchtigen“.162 In letzter Konse157  Vgl.

S. 87.

Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985,

158  Nautz, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 71 (94). 159  Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 55. 160  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 102. 161  Vgl. Nautz, Archiv für Sozialgeschichte 1991, 179 (182). 162  Mühlbradt/Lutz, Der Zwang zur Sozialpartnerschaft, 1969, S. 6. Siehe dazu auch Kapitel 4.4.1.

222

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

quenz konnten Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertreter die Wiedereinführung der staatlichen Schlichtung verhindern, indem sie gemeinsam eine tarifliche Schlichtungsvereinbarung vorlegten und „zunächst die Bewährung des Versuchs der Sozialpartner“ in Aussicht stellten.163 Nicht nur in Schlichtungsfragen taten sich Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammen, sondern ebenso in puncto Tarifvertragsgesetz. Der erneute Schulterschluss beruhte wie in Weimar auf einer beidseitigen Ablehnung von staatlichen Eingriffen in die Tarifautonomie. Insbesondere der Vorschlag der materiellen Prüfung von Tarifverträgen stieß bei Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern auf Widerstand.164 Nach internen Richtungsstreits bei den Gewerkschaften legten sie einen mit den Arbeitgebern abgestimmten Entwurf als Gegenkonzept zum Entwurf der Verwaltung für Arbeit vor, der vorwiegend auf Nipperdeys Ausarbeitungen basierte. Dieser Entwurf wurde über die SPD im Herbst 1948 in das Plenum des Wirtschaftsrats eingebracht und anschließend im Ausschuss für Arbeit des Wirtschaftsrats debattiert.165 Der Ausschuss für Arbeit übernahm den SPD-Vorschlag großteilig und stellte ihn als Entwurf eines Tarifvertragsgesetzes im November 1948 in der Vollversammlung des Wirtschaftsrats zur Diskussion. Nach intensiven Debatten setzte sich der SPD-Vorschlag letztlich gegenüber dem Entwurf der Verwaltung für Arbeit durch.166 Bevor dieser jedoch in Kraft treten konnte, mussten die Militärregierungen der Bizone ihre Zustimmung geben.167 Die britische und die US-amerikanische Militärregierung lehnten jeweils an dem Entwurf das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung ab, das sie aus ihren Heimatländern nicht kannten. Sie wünschten eine präzisere Beschreibung der Inhalte zur Allgemeinverbindlicherklärung und ihrer Anwendungskriterien.168 Mit Blick auf die Auswirkung der Allgemeinverbindlicherklärung sollten demokratische Elemente gestärkt werden. Nach eingehenden Beratungen mit den Militärregierungen und dem Wirtschaftsrat einigte man sich mit der Verwaltung für Arbeit darauf, dass eine Allgemeinverbindlicherklärung nur möglich sein sollte, wenn der der All163  Mühlbradt/Lutz,

Der Zwang zur Sozialpartnerschaft, 1969, S. 7. Nautz, Archiv für Sozialgeschichte 1991, 179 (179 ff.). 165  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  114 ff., 125 ff. 166  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S.  117 ff. 167  Vgl. Herschel, ZFA 1973, 183 (184); vgl. auch Vogel, Die Allgemeinverbindlicherklärung im Tarifvertragssystem, 2019, S. 9. 168  Vgl. Herschel, ZFA 1973, 183 (195); vgl. auch Lesch, Mindeststandards für Einkommens- und Arbeitsbedingungen und Tarifsystem, 2003, S. 6. 164  Vgl.



4.3 Grundsatzdebatten223

gemeinverbindlicherklärung zugrunde liegende Tarifvertrag 50 Prozent der Beschäftigten in seinem Geltungsbereich abdeckte und ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung vorlag.169 4.3.2.3  Staatliche Legitimierung der Tarifautonomie Nachdem die britische und amerikanische Militärregierung die Änderungen Anfang April 1949 bestätigten, konnte das Tarifvertragsgesetz am 9. April 1949 in der Bizone fast unverändert in Kraft treten.170 Das TVG galt zuerst nur in der Bizone und ab 1953 im ganzen Bundesgebiet, nachdem sich die französische Zone im April 1953 angeschlossen hatte.171 Darüber hinaus wurde die Tarifautonomie verfassungsrechtlich verankert. In Artikel 9 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) wird den Beschäftigten und Unternehmen Koalitionsfreiheit gewährt. Konkret bedeutet dies, dass das „Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, […] für jedermann und für alle Berufe gewährleistet“ ist. Auf Basis dieses Artikels können sich Beschäftigte und Unternehmen in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden organisieren – müssen es aber nicht. Das Grundgesetz gewährt sowohl die positive als auch die negative Koalitionsfreiheit und begründet den tarifautonomen Charakter der industriellen Beziehungen in Deutschland. Es überträgt die eigenständige Regelung der Tarifvertragsbeziehungen an eigenständige Organisationen der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberschaft. Mit der verfassungsrechtlichen Verankerung wurde wie schon 1918/19 eine grundsätzliche Entscheidung getroffen, nach der Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen nicht durch den Staat, sondern im Wege der Tarifautonomie geregelt werden. Gemeinsam war es den Tarifvertragsparteien gelungen, staatskorporatistische Ansätze abzuwehren, nach denen der Staat nicht nur Lohnsetzungsbefugnisse, sondern auch eine staatliche Genehmigungspflicht von Tarifverträgen vorsah. Die entscheidende Änderung im Vergleich zu Weimar war, dass nun keine staatlichen Schlichtungsinstanzen

169  Vgl. Lesch, Mindeststandards für Einkommens- und Arbeitsbedingungen und Tarifsystem, 2003, S. 6; vgl. auch Vogel, Die Allgemeinverbindlicherklärung im Tarifvertragssystem, 2019, S. 9. 170  Vgl. Nautz, Die Durchsetzung der Tarifautonomie in Westdeutschland, 1985, S. 138 ff.; vgl. auch Preis, AuR 2016, G9 (G10). 171  Vgl. Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 57.

224

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-P047660.

Abbildung 28: Konrad Adenauer auf der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestags

mehr vorgesehen waren.172 Bundeskanzler Konrad Adenauer betonte in seiner Regierungserklärung am 20. September 1949: „Die Bundesregierung steht auf dem Boden der Koalitionsfreiheit. Sie wird es den Verbänden überlassen, alles das in freier Selbstverwaltung zu tun, was den wirtschaftlichen und sozialen Interessen förderlich ist.“173 Der Kanzler formulierte zugleich seine Erwartungen an eine funktionierende Tarifautonomie: „Ein verständiger Ausgleich sozialer Gegensätze ist eine unumgängliche Voraussetzung für den Aufstieg unseres Volks. Dieser Ausgleich muß durch die Sozialpartner selbst herbeigeführt werden.“174 172  Vgl. Fels, in: Streit (Hrsg.), Wirtschaftspolitik zwischen ökonomischer und politischer Rationalität, 1988, S. 211 (214); vgl. auch Plumpe, in: Spree (Hrsg.), Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, 2011, S. 179 (184). 173  Zitiert nach Konrad-Adenauer-Stiftung, 20. September 1949: Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag, https://www.konradadenauer.de/quellen/erklaerungen/1949-09-20-regierungserklaerung (19.7.2021). 174  Zitiert nach Konrad-Adenauer-Stiftung, 20. September 1949: Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag, https://www.konradadenauer.de/quellen/erklaerungen/1949-09-20-regierungserklaerung (19.7.2021).



4.3 Grundsatzdebatten225

Quelle: picture-alliance/akg-images, 3260039.

Abbildung 29: Ludwig Erhard

Quelle: picture alliance/ullstein bild, 117062115.

Abbildung 30: Alfred Müller-Armack

In der Bonner Republik entwickelte sich dann eine Tarifvertragspartnerschaft, die „eine grundlegende Neubegründung der industriellen Beziehungen in Westdeutschland“ darstellte.175 Ausschlaggebend war, dass mit dem Wirtschaftswunder der 1950er und frühen 1960er Jahre Verteilungsspielräume geschaffen wurden, die tarifautonomes Handeln erleichterten.176 Das ermöglichte dem Staat, „sich der Einmischung nicht nur enthalten zu sollen […], sondern auch zu können“.177 Ermöglicht wurde dieses Wirtschaftswunder nicht zuletzt durch die Entscheidung des späteren Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard (CDU), gestützt auf die Ideen Alfred Müller-Armacks, im westlichen Nachkriegsdeutschland die Soziale Marktwirtschaft einzuführen, die – als irensische Formel – die Freiheit des

175  Kädtler,

Industrielle Beziehungen 23 (2016), 334 (338). Fels, in: Streit (Hrsg.), Wirtschaftspolitik zwischen ökonomischer und politischer Rationalität, 1988, S. 211 (214); vgl. auch Plumpe, in: Spree (Hrsg.), Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, 2011, S. 179 (184, 187). 177  Fehmel, in: Andresen/Bitzegio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en), 2011, S. 267 (276). 176  Vgl.

226

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Marktes mit einem sozialen Ausgleich verbindet. Dabei ist die Tarifautonomie eine Säule der Sozialen Marktwirtschaft.

4.4  Zeithistorische Debatten In diesem Kapitel werden die identifizierten Legitimitätsdebatten der Weimarer, Bonner und Berliner Republik anhand des in Tabelle 1 beschriebenen Legitimitätskonzepts analysiert. In einem ersten Schritt wird unter „Hintergrund“ jeweils dargestellt, was für das Aufkommen der einzelnen Debatte ausschlaggebend war. In einem weiteren Schritt wird die Art des Legitimitätsproblems bestimmt. Geprüft wird dabei, ob es sich um eine Debatte handelt, die nur das Binnenverhältnis der Tarifvertragsparteien betrifft, nur Probleme im Außenverhältnis adressiert oder beide Bereiche tangiert. Abschließend wird die Art des Staatseingriffs beschrieben, also mit welchen Mitteln der Staat jeweils auf die vorliegende Herausforderung geantwortet hat.

4.4.1  Staatliche Zwangsschlichtung (1919–1923) 4.4.1.1 Hintergrund Mit der Verabschiedung des Stinnes-Legien-Abkommens und der Verabschiedung der TVVO im Dezember 1918 waren die politischen und rechtlichen Voraussetzungen einer verstärkten Ausbreitung des Tarifvertragswesens erfüllt.178 Die Zahl der Tarifverträge stieg von 7.819 Ende 1918 auf 11.009 Ende 1919 (siehe Tabelle 6). Gleichzeitig stieg die Zahl der Betriebe mit einem Tarifvertrag von 107.503 auf 272.251 und die Zahl der Beschäftigten, die nach einem Tarifvertrag bezahlt wurden, von 1,1 Millio­ nen auf knapp 6 Millionen. Dieser Aufwärtstrend setzte sich bis Ende 1922 fort. Zu diesem Zeitpunkt waren fast 900.000 Betriebe und mehr als 14 Millionen Beschäftigte tarifgebunden. Bei geschätzten 20,2 Millionen abhängig Beschäftigten179 waren demnach etwa 70 Prozent der abhängig Beschäftigten tarifgebunden.180 Ab 1923 nahm die Zahl der Betriebe mit Tarifvertrag vorübergehend ab, um Ende 1931 erstmals die Millionengrenze zu überschreiten. Parallel ging auch die Zahl der Beschäftigten mit 178  Vgl. Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 29. 179  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 287 (Spalte 2 der Tabelle). 180  Vgl. Steiger, Konfrontation, Kooperation, Untergang, 1998, S. 136.



4.4  Zeithistorische Debatten227 Tabelle 6 Verbreitung von Tarifverträgen 1918 bis 1932 Tarifverträge (TV)

Betriebe mit TV

Beschäftigte mit TV

1918

7.819

107.503

1.127.690

1919

11.009

272.251

5.986.475

1920

11.624

434.504

9.561.323

1921

11.488

697.476

12.882.874

1922

10.768

890.337

14.261.106

1924

8.790

812.671

13.135.384

1925

7.099

785.945

11.904.159

1926

7.533

788.755

11.140.521

1927

7.490

807.300

10.970.120

1928

8.178

912.006

12.267.440

1929

8.925

997.977

12.276.060

1931

9.578

1.070.997

12.006.225

1932

9.677

keine Angabe

11.032.750

1918 bis 1922: Jahresende; 1924 bis 1932: Jahresanfang; die Angabe für 1923 entfällt durch die Umstellung; 1930: keine Angabe. Quellen: Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 1932, S. 55; Petzina/Abelshauser/Faust, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III, 1978, S. 110; Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918–1933, 1967, S. 430.

Tarifvertrag für einige Jahre zurück. 1927 waren nur noch knapp 11 Mil­ lionen Beschäftigte tarifgebunden. In den Folgejahren waren es dann aber wieder mehr als 12 Millionen. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise ging in den frühen 1930er Jahren mit der steigenden Arbeitslosigkeit auch wieder die Zahl der tarifgebundenen Beschäftigten zurück. Bei geschätzten 18,7 Millionen abhängig Beschäftigten181 ergab sich noch eine Tarifbindung von rund 59 Prozent. Im Zuge der Ausbreitung des Tarifvertragswesens wurden Tarifverträge vor allem in den großindustriellen, überwiegend großbetrieblich strukturierten Bereichen der Wirtschaft angewandt, beispielsweise in der vor dem Krieg praktisch tarifvertragsfreien Bergbau- und Hüttenindustrie sowie der 181  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 287 (Spalte 2 der Tabelle).

228

4. Die Legitimität von Tarifautonomie Tabelle 7 Struktur der Tarifverträge 1913 und 1929 Ende 1913

Anfang 1929

Firmentarifverträge

30,4

4,0

Ortstarifverträge

17,9

6,1

Bezirkstarifverträge

46,1

74,8

Reichstarifverträge

5,6

15,1

Anteil der durch diese Tarifvertragsform tarifgebundenen Arbeiter in Prozent aller tarifgebundenen Arbeiter. Quelle: Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 1932, S. 56.

Chemischen Industrie.182 Gleichwohl ist zu beobachten, dass die Anzahl der Tarifverträge nach 1922 vorübergehend deutlich abnahm. Dieser Rückgang konnte bis Ende 1932 nur teilweise wieder ausgeglichen werden (siehe Tabelle 6). In den 1920er Jahren veränderte sich auch die Struktur des Tarifvertragswesens.183 Das Schwergewicht der Tarifabschlüsse verlagerte sich von den Firmen- und Ortstarifträgen auf die Bezirks- und Reichs­tarifverträge (siehe Tabelle 7).184 Der Anteil der Firmentarifverträge an allen Tarifverträgen sank von 30,4 Prozent Ende 1913 auf 4,0 Prozent Anfang 1929. Im Gegenzug stieg der Anteil der Bezirkstarifverträge von 46,1 auf 74,8 Prozent und der Anteil der Reichstarifverträge von 5,6 auf 15,1 Prozent. Im Zuge dieser strukturellen Änderungen nahm auch die Reichweite eines einzelnen Tarifvertrags spürbar zu. Dividiert man die Zahl der tarifgebundenen Betriebe und Beschäftigten jeweils durch die Zahl der Tarifverträge, zeigt sich: Ende 1918 umfasste ein Tarifvertrag im Durchschnitt noch 14 Betriebe und 144 Arbeiter, während es Anfang 1924 schon 92 Betriebe mit 1.494 Arbeitern waren. Anfang 1932, auf dem Höhe­punkt der Weltwirtschaftskrise, waren es dann noch 1.140 Arbeiter pro Tarifvertrag.185 Die Ausbreitung des Tarifvertragswesens verlief in den frühen 1920er Jahren sehr konfliktreich (siehe Tabelle 8). Die Zahl der Arbeitskämpfe nahm nicht nur im Vergleich zu den letzten beiden (im langfristigen Vergleich immer noch kooperativen) Kriegsjahren erheblich zu. Mit durch182  Englberger,

Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 182 (Fn. 262). Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S.  30 f.; Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 182. 184  Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 137. 185  Vgl. auch Schewe, Sozialer Fortschritt 3 (1953), 15. 183  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten229 Tabelle 8 Arbeitskämpfe 1919 bis 1933 Anzahl der betroffenen Betriebe, beteiligten Arbeitnehmer und verlorenen Arbeitstage Jahr

Betroffene Betriebe

Beteiligte Arbeitnehmer

Verlorene Arbeitstage

1919

33.840

2.132.547

33.083.000

1920

42.286

1.508.370

16.755.000

1921

55.237

1.617.225

25.874.000

1922

47.501

1.895.792

27.734.000

1923

24.175

1.626.753

12.344.000

1924

28.430

1.647.143

36.198.000

1925

25.122

771.036

2.936.000

1926

2.617

97.157

1.222.000

1927

10.373

494.544

6.144.000

1928

7.852

775.490

20.339.000

1929

8.558

189.723

4.251.000

1930

3.403

223.885

4.029.000

1931

4.753

172.139

1.890.000

1932

2.610

129.468

1.130.000

1933

337

10.475

96.460

Streiks und Aussperrungen; 1933: Angaben für Januar bis März; seit April 1933 haben keine Arbeitskämpfe mehr stattgefunden. Quellen: Statistisches Reichsamt, Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1934, S. 321, https://www. digizeitschriften.de/dms/toc/?PID=PPN514401303_1934 (30.7.2021); Tenfelde/Volkmann, Streik, 1981, S. 291, 304 f.

schnittlich 4.192 Arbeitskämpfen übertraf die Periode 1919 bis 1922 auch die Vorkriegsjahre 1910 bis 1913 deutlich, in denen im Schnitt 2.831 Arbeitskämpfe pro Jahr geführt wurden.186 Die hohe Konfrontationsbereitschaft zeigte sich auch in den beiden anderen Streikindikatoren. Die Anzahl der gleichzeitig Streikenden und Ausgesperrten übertraf 1919 erstmals die Millionengrenze. Mit 2,1 Millionen wurde ein Höchsttand erreicht. Bis 186  Berechnet auf der Grundlage der amtlichen Arbeitskampfstatistik, vgl. Statistisches Reichsamt, Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1934, S. 321, https:// www.digizeitschriften.de/dms/toc/?PID=PPN514401303_1934 (30.7.2021).

230

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

1924 lag die Zahl der in einen Arbeitskampf Hineingezogenen immer über 1,5 Millionen. Neue Höchststände verzeichnete auch der Indikator ausgefallene Arbeitstage. Nach 33 Millionen Ausfalltagen 1919 schwankte die Zahl in den Folgejahren zwischen 12 und 28 Millionen, um 1924 mit 36 Millionen einen neuen Höchststand zu erreichen. Vor diesem Hintergrund lag es aus der Sicht der Reichsregierung nahe, über einen Schlichtungsmechanismus nachzudenken, der zu einer Befriedung der Tarifverhandlungen beitragen würde. Diese Überlegungen verstärkend, kamen 1923 die Notsituationen von Hyperinflation und Ruhr­ besetzung hinzu.187 Die Inflation schwächte die Gewerkschaften. Sie ver­ ursachte Mitgliederverluste und minderte die Beitragseinnahmen der Gewerkschaften. Wurden die Arbeitsbedingungen in den ersten Nach­ kriegsjahren „fast durchweg zugunsten der Arbeiterschaft umgestaltet“188, entstanden im Zuge der sich beschleunigenden Inflation neue Interessengegensätze zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberseite, die in „erbitterten Lohnkämpfen“189 mündeten. Der Wettlauf zwischen Löhnen und Infla-

Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-13991.

Abbildung 31: Streikposten der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) 1932 auch Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, 2010, S. 35 ff. Deutsche Sozialpolitik, 1929, S. 75. 189  James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, 1988, S. 210. 187  Vgl.

188  Reichsarbeitsministerium,



4.4  Zeithistorische Debatten231

tion hatte schon 1920 begonnen. Die Löhne konnten den explodierenden Preisen immer weniger folgen. Die Laufzeiten der Tarifverträge wurden immer kürzer, die Apparate der Gewerkschaften wurden bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit belastet190 und die Arbeitgeber hatten Probleme, ihre Preise verlässlich zu kalkulieren.191 Die Gewerkschaften gerieten aber nicht nur in der Lohnpolitik zunehmend in die Defensive, sondern auch in der Arbeitszeitpolitik. Beim Streit zwischen den Tarifvertragsparteien um die Arbeitszeit ging es um die Durchsetzung des im Stinnes-Legien-Abkommen verankerten Acht-Stunden-Tags. Diese Regelung stand unter dem Vorbehalt, dass er auch in allen anderen Industrienationen eingeführt wurde. Da dies nicht geschah, erwies sich diese Konzession der Gewerkschaften als „schwere Hypothek“ für die Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern.192 Der in dieser schwierigen Gemengelage entstandene Anstieg der Streikaktivitäten war auch eine Folge des Erwartungshorizonts der Arbeiterschaft, „die eine Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage

Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-00513A.

Abbildung 32: Rudolf Wissel 190  Schneider,

Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 170. Reichsarbeitsministerium, Deutsche Sozialpolitik, 1929, S. 88 ff. 192  Krüger, Sozialer Fortschritt 67 (2018), 821 (828). 191  Vgl.

232

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

durchzusetzen bemüht war“.193 Der Reichstagsabgeordnete und Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB), Rudolf Wissel, stellt in seinen Erinnerungen klar: „Der Staat konnte und wollte nicht untätig zuschauen, daß zu all den wertvollen Kräften, die in der Zeiten Not zermürbt waren und wurden, noch weitere im Wirtschaftskampfe zerrieben wurden. – Das Mittel der Verbindlichkeitserklärung schien nicht nur geeignet, sondern auch geboten zu sein, um das zu vermeiden“.194 Tatsächlich wurde der Staat tätig, indem er sich 1923 dazu entschloss, mit einer neuen Schlichtungsverordnung auf die „Tarifautonomie der Arbeitsmarktverbän­de“ und auf die „kollektivvertragliche Regelung der Arbeitsbeziehungen“ Einfluss zu nehmen.195 Das Schlichtungswesen war bis 1923 eine noch wenig erprobte Institution. Im deutschen Kaiserreich gab es kein staatlich organisiertes Schlichtungswesen.196 Eine Schlichtung musste zwischen den Tarifvertragsparteien auf freiwilliger Basis selbst vereinbart werden. Der Staat griff nur fallweise in Konflikte ein. Zwar wurde die Freiheit von Streik und Aussperrung durch die Obrigkeit nie angetastet. Allerdings gab es kein Streikrecht, sondern nur eine „Streikfreiheit“ oder „Streikbefugnis“.197 Mit dem Hilfsdienstgesetz von 1916 änderte sich das Schlichtungswesen grundlegend.198 Das Gesetz sah neben der Einrichtung von Arbeiter- und Angestelltenausschüssen auch die Bereitstellung von regionalen Schlichtungsstellen vor. Die Schlichtungsstellen hatten einen Schiedsspruch abzugeben, konnten eine Einigung aber nicht erzwingen. Damit ein Schiedsspruch gültig wurde, mussten beide Seiten zustimmen.199 Im Rahmen des Stinnes-Legien-Abkommens war bereits (in Punkt 8 des Abkommens) ein System tariflicher Schlichtung beschlossen worden, das vorsah, Tarifkonflikte von paritätisch besetzten Schlichtungsinstanzen schlichten zu lassen. Damit standen zu Beginn der Weimarer Republik zunächst die tarifliche und die staatliche Schlichtung nebeneinander.200 Mit der Verabschiedung der TVVO wenige Wochen später wurde die Schlichtung rechtlich neu geregelt und die tarifautonome Schlichtung ge193  Schneider,

Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 171. nach Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 135. 195  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 183. 196  Vgl. Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 126 ff. 197  Kittner, Arbeitskampf, 2005, S. 431 f. 198  Vgl. Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 26. Siehe auch Kapitel 3.1.1.3. 199  Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 129. 200  Rehling, Verordnung über das Schlichtungswesen, 2011. 194  Zitiert



4.4  Zeithistorische Debatten233

stärkt.201 Die TVVO sah in § 15 zum Zwecke der Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten die Einrichtung von paritätisch besetzten Schlichtungsausschüssen vor, deren Mitglieder (anders als nach dem Hilfsdienstgesetz) nicht mehr aus den Kreisen des Militärs kamen, sondern von Arbeitern und Angestellten in unmittelbarer und freier Wahl bestimmt wurden.202 Außerdem konnte ein stimmberechtigter unparteiischer Vorsitzender bestellt werden. Damit übertrug die TVVO die Schlichtung wieder zurück in die Verantwortung der Tarifvertragsparteien.203 Die tarifliche Seite wurde gestärkt, „indem sie [die TVVO] die behördliche Schlichtung auf eine freiwillige Einrichtung verpflichtete, den Schlichtungsausschüssen die Hinzuziehung unparteiischer Vorsitzender freistellte und festlegte, daß ein Schiedsspruch nur mit einer Mehrheit der Stimmen gefällt werden konnte und unwirksam blieb, wenn eine Partei ihn ablehnte“.204 In der Praxis war die Schlichtung der frühen 1920er Jahre dadurch gekennzeichnet, dass kein unparteiischer Vorsitzender bestellt wurde und die Rolle des Staates durch die Demobilmachungsverordnungen (Verordnungen über die Einstellung, Entlassung und Entlohnung gewerblicher Arbeiter und Angestellter während der Zeit der wirtschaftlichen Demobilmachung) vom 3. September 1919 und 12. Februar 1920 schon wieder gestärkt wurde.205 Die Regierung setzte den Schiedsgerichten einen Demobilmachungskommissar vor, dem die Befugnis zur Verbindlicherklärung nicht nur eines freiwillig geschlossenen Schiedsspruchs, sondern auch eines von der Schlichtungsstelle erlassenen Schiedsspruchs eingeräumt war. Die Tarifvertragsparteien konnten dagegen keine Rechtsmittel einlegen.206 4.4.1.2 Art des Legitimitätsproblems Die Schlichtungsverordnung von 1923207 war in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung nicht unwesentlich von den sozialen Spannungen der frühen 201  Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 27. Siehe auch Kapitel 3.1.3.1. 202  Brauchitsch, AuR 1993, 137 (138). 203  Vgl. Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 27; Hentschel, Geschichte der deutschen Sozialpolitik, 1983, S. 72; Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 129 f. 204  Rehling, Verordnung über das Schlichtungswesen, 2011. 205  Rehling, Verordnung über das Schlichtungswesen, 2011. Siehe auch Kapitel 3.1.3.1 und 3.1.4. 206  Brauchitsch, AuR 1993, 136 (138). 207  Vgl. die Verordnung über das Schlichtungswesen v. 30. Oktober 1923, abgedruckt in Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 339.

234

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

1920er Jahre geprägt.208 Die vielen Arbeitskämpfe belasteten das ohnehin schon schwierige wirtschaftliche Umfeld zusätzlich. Zentrale Streitpunkte zwischen den Tarifvertragsparteien waren – wie oben erläutert – die Einführung des Acht-Stunden-Tags und der schwindende Einfluss der Gewerkschaften auf den Lohn durch die sich beschleunigende Inflation. Hinzu kam, dass auch die Ausbreitung des Tarifwesens an Dynamik einbüßte. Aufgrund der Schwäche der Gewerkschaften sah das Reichsarbeitsministerium eine zunehmende Notwendigkeit, über Schiedssprüche bei der Festlegung von Löhnen und Arbeitszeiten stärker als bisher mitbestimmen zu müssen.209 Durch die galoppierende Geldentwertung mussten die Löhne in immer kürzeren Abständen angepasst werden, in den Industrierevieren kam es zu massiven Proteststreiks und sozialen Unruhen. Rudolf Wissel, zu diesem Zeitpunkt Vorstandsmitglied des ADGB, sagte im Rahmen einer Sitzung des geschäftsführenden Vorstands der seit dem Stinnes-LegienAbkommen arbeitenden ZAG zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, „die Stimmung sei so ernst, wie seit dem November 1918 nicht mehr“.210 Der Rückgang der Mitgliederzahlen und die Geldentwertung wirkten sich so negativ auf die Streikkassen der Gewerkschaften aus, dass sie zunehmend kampfunfähig waren.211 Letztlich waren die Tarifvertragsparteien „immer weniger in der Lage noch willens, sich in ihrer ordnungspolitischen Funktion für die Weimarer Republik zurechtzufinden“.212 Insbesondere die Zeit der Hyperinflation ab 1922 bis zum Herbst 1923 war von der „allmählichen Erosion jenes Nachkriegskonsenses“213 zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberseite gekennzeichnet, der zum Stinnes-Legien-Abkommen geführt hatte. Damit lagen interne und externe Probleme der Legitimität vor. Intraorganisationale Defizite wie die Organisationsschwäche der Gewerkschaften stellten zunehmend deren Durchsetzungsfähigkeit in Frage. Und damit zusammenhängend bestand ein interorganisationales Problem darin, dass sich das Mächtegleichgewicht zwischen den Tarifvertragsparteien zuungunsten der Gewerkschaften verschob. Gegensätzliche Positionen von Gewerkschaften und Arbeitgebern hinsichtlich der Indexierung der Löhne machten die 208  Englberger,

Tarifautonomie im deutschen Reich, 1995, S. 183. Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 34. 210  Zitiert nach Nautz, in: Schremmer (Hrsg.), Geld und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1993, S. 245 (256). 211  Nautz, in: Schremmer (Hrsg.), Geld und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1993, S. 245 (257). 212  Nautz, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 71 (87). 213  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 183. 209  Hartwich,



4.4  Zeithistorische Debatten235

Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-07797.

Abbildung 33: Heinrich Brauns

Durchsetzung der Indexlöhne für große Bereiche der Wirtschaft zur Aufgabe der staatlichen Schlichtung.214 Die Streitigkeiten führten dazu, dass die Schlichtungsbehörden 1922/23 kaum noch in der Lage waren, die Verfahrensflut zu bewältigen.215 Ein weiteres Indiz einer mangelnden Kompromissfähigkeit waren die vielen Streikausfalltage in den frühen 1920er Jahren.216 Dies schuf wiederum ein Problem der externen Legitimität. So äußerte sich der damalige Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns von der Zentrumspartei am 16. Juni 1922 vor dem Reichstag zur Gesetzesvorlage über das Schlichtungswesen wie folgt: „In der Vorkriegszeit waren die Rücklagen an Kapital, die Vorräte an Rohstoffen und Waren so reichlich bemessen, dass die Bedürfnisse der Allgemeinheit auch über die Zeit eines Kampfes zwischen Kapital und 214  Nautz, in: Schremmer (Hrsg.), Geld und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1993, S. 245 (262 f.). 215  Nautz, in: Schremmer (Hrsg.), Geld und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1993, S. 245 (262). 216  Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 32.

236

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Arbeit hinaus befriedigt werden konnten. […] Heute spielen sich gerade die erbittersten und die folgenschwersten Kämpfe in den gemeinnötigen Betrieben ab. […] Wenn große Verkehrsunternehmen auch nur wenige Tage stillstehen, wenn die Versorgung mit Rohstoffen, etwa mit Kohle, auch nur eine Woche stockt, wenn in Zeiten der Aussaat und Ernte die Arbeit versagt, so steigen die Preise sofort ins Unendliche, dann ist sofort die Bevölkerung in allen Zweigen von Arbeitslosigkeit und Hunger bedroht.“217 Es war also vor allem die fehlende Gemeinwohlorientierung der Tarifautonomie, die die Politik zum Handeln zwang. Ein externes Legitimitätsproblem ergab sich, weil die Reichsregierung angesichts der Wirtschaftsprobleme zum damaligen Zeitpunkt kein Vertrauen in die Regelungskompetenz der Institution Tarifautonomie hatte: „Der bewußte Rückgriff auf das tripartistische Schlichtungsmodell des Hilfsdienstgesetzes, nun noch verstärkt mit dem Zwangsmittel der staat­ lichen Verbindlichkeitserklärung, belegt, daß – zumindest in den Augen der Regierungsverantwortlichen – das Konzept der autonomen Schlichtung versagt hatte.“218 Dem Staat ging es in dieser Situation darum, die Funk­ tionsfähigkeit der Tarifautonomie zu stärken. Ausgehend von der Prämisse, dass die Schlichtungsbehörden dem Allgemeinwohl verpflichtet waren, räumte die Reichsregierung der staatlichen Zwangsschlichtung eine größere Regelungskompetenz ein. Dabei konnten sich die staatlichen Schlichter aus eigener Initiative in die Tarifverhandlungen einschalten und Schiedssprüche für verbindlich erklären, ohne dass es einer Zustimmung der Tarifvertragsparteien bedurft hätte. Das Schlichtungswesen wurde als „Hilfeleistung“ zum Abschluss von Tarifverträgen interpretiert.219 Das Reichsarbeitsministerium stellte dazu fest, dass der Tarifvertrag mit der Weimarer Reichsverfassung zur Grundlage des Arbeitslebens geworden sei und daher mit allen Mitteln gefördert werden müsse. Hinzu kam, dass das Ministerium dem Tarifvertrag und damit den Tarifvertragsparteien eine zentrale Rolle bei der Beilegung von Arbeitskonflikten zuwies. Die Erfahrung habe gezeigt, dass sich Arbeitskämpfe nur vermeiden ließen, wenn die Arbeitsbedingungen durch Gesamtvereinbarungen (Tarifverträge) geregelt waren. Versuche der Schlichtungsbehörden, durch Verhandlungen mit unorganisierten Gruppen Frieden zu stiften, hätten sich nicht bewährt.220 nach Peters/Gorr, Anerkennung und Repression, 2009, S. 535. Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 135; vgl. auch Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 32 ff. 219  Vgl. Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 132; Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 35. 220  Reichsarbeitsministerium, Deutsche Sozialpolitik, 1929, S. 93 f. 217  Zitiert

218  Steiger,



4.4  Zeithistorische Debatten237

Nachdem 1919 noch „ein breites Bedürfnis zur Neuregelung der indus­ triellen Beziehungen“ existierte, in dessen Rahmen die Gewerkschaften „aus einer Position der Stärke“221 heraus agieren konnten, entwickelten sich die freiwilligen Schlichtungsinstanzen kaum. Sie blieben „im Schatten der staatlichen Schlichtung“.222 Die Haltung der Tarifvertragsparteien gegenüber der staatlichen Schlichtung war von einem spezifischen Konflikt- und Staatsverständnis geprägt, das für die damalige Zeit üblich war: „So glaubten in der Weimarer Republik noch nicht einmal die Vertreter der Interessenverbände selbst, daß ihre Tarifauseinandersetzungen nützlich und notwendig sein könnten, um in einem Prozeß pluralistischer Aus­ einandersetzung zu einer Lösung zu kommen. […] Konflikte galten ihnen als ‚politisch‘, was in der Weimarer Republik synonym zu egoistisch, unsachlich, irrational und gemeinwohlgefährdend konnotiert war. […] Kompromisse waren […] als ‚faul‘ diskreditiert.“ Aus dieser Perspektive heraus fiel dem Staat die Rolle als „Hüter des Gemeinwohls“ zu, der „über Einzelinteressen stehend, das Gemeinwohl sichern sollte“. Damit lag es auch nahe, den „Staat als Schlichter in die Tarifauseinandersetzungen einzu­schalten“.223 Hinzu kommt, dass Tarifautonomie als „soziale Selbstverwaltung“ nicht nur ein Recht darstellte, sondern auch Pflichten bedingte: „Und wenn diese Pflichten bewußt nicht erfüllt werden, so erscheint ein staatlicher Eingriff, eine Art Aufsichtsakt auf diesem Gebiet, nicht weniger möglich, als auf jedem andern Gebiet der Selbstverwal­ tung.“224 Der Staat bot den Tarifvertragsparteien durch seine Rolle als (Zwangs-)Schlichter eine Art Hilfestellung an, durch die deren Einigungsfähigkeit verbessert und zugleich die Ausbreitung des Tarifwesens unterstützt werden sollte. Da die Vermeidung von Arbeitskämpfen „im staatlichen (bzw. im allgemeinen) Interesse liege“, stellte die staatliche Schlichtung ein „Eingriffsinstrument des Staates zur Wahrung der Interessen der Allgemeinheit“ dar.225 4.4.1.3 Art des Staatseingriffs Der Staat griff durch die Verabschiedung einer Schlichtungsverordnung, die den Schlichtungsinstanzen besondere Rechte verlieh, unmittelbar in die 221  Nautz, in: Schremmer (Hrsg.), Geld und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1993, S. 245 (260). 222  Nautz, in: Schremmer (Hrsg.), Geld und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1993, S. 245 (261). 223  Rehling, Verordnung über das Schlichtungswesen, 2011. 224  Sitzler, NZfA 1930, 1 (8). 225  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 226 f.

238

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Tarifautonomie ein. Der Zwangstarifvertrag wurde als ein „Akt staatlicher Aufsicht über die Erfüllung der für die Parteien mit ihrem Recht zur sozialen Selbstverwaltung verknüpften Pflichten interpretiert und gerecht­ fertigt“.226 Dem Schlichtungswesen wurde die Funktion zugeschrieben, „die Beteiligten zum Geiste der kollektiven Arbeitsverfassung [zu] erziehen und dadurch sich selbst immer mehr überflüssig zu machen“.227 Das Ziel der Verordnungen bestand darin, die seit 1919 wachsende Zahl von Streikwellen einzudämmen. Für die Regierung stand der Schutz des Wirtschaftslebens im Vordergrund und nicht die Stärkung der Tarifautonomie.228 Da der Staat sich „zu keinem Zeitpunkt der rechtlichen Basis für Eingriffe in die industriellen Beziehungen beraubt [hatte],“229 bestand auch die Möglichkeit, die Befugnisse zur Normensetzung so lange einzuschränken, wie eine gewisse Bewährung von Seiten der Tarifvertragsparteien ausstand. Hinzu kam, dass die Schlichtungsregelung in der TVVO ohnehin vorläufig angelegt war und das Instrument der staatlichen Schlichtung im Zuge der Demobilmachung schon vor der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung „im Grunde genommen wieder eingeführt worden“ war.230 Die Regierung unter Reichskanzler Gustav Stresemann „nutzte diese Schwäche des Tarifwesens, um den Staat auf dem Gebiet der industriellen Beziehungen als Dritten im Bunde wieder ins Spiel zu bringen und die Phase der ZAG durch ein Tripartism abzulösen.“231 Sie verabschiedete am 30. Oktober 1923 ohne Zustimmung des Parlaments (Rechtsgrundlage war das am 13. Oktober 1923 verabschiedete Erste Reichs-Ermächtigungsgesetz) eine neue Schlichtungsverordnung, die der staatlichen Zwangsschlichtung den Weg ebnete und langfristig „alle Ansätze von Tarifauto­ nomie“232 beendete (siehe auch Kapitel 2.1.4). In § 3 SchliVO wurden die Schlichtungsausschlüsse und Schlichter dazu verpflichtet, „zum Abschluß von Gesamtvereinbarungen (Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen) Hilfe zu leisten“.233 Dieses Ziel stand gegenüber

226  Englberger,

Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 229. NZfA 1930, 1 (9). 228  Brauchitsch, AuR 1993, 137 (138). 229  Nautz, in: Schremmer (Hrsg.), Geld und Währung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1993, S. 245 (257). 230  Rehling, Verordnung über das Schlichtungswesen, 2011. 231  Nautz, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 71 (87). 232  Rehling, Verordnung über das Schlichtungswesen, 2011; vgl. auch Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 132. 233  Zitiert nach Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 339. 227  Sitzler,



4.4  Zeithistorische Debatten239

Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-1978-029-03A.

Abbildung 34: Gustav Stresemann

dem Ansinnen, Arbeitskämpfe beizulegen, keinesfalls zurück.234 Das Reichsarbeitsministerium betonte in einer Denkschrift ausdrücklich, dass die Schlichtungsinstanzen dazu berufen seien, „die in der Reichsverfassung […] festgelegte ‚gleichberechtigte Mitwirkung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der Regelung der Arbeitsbedingungen‘ in die Wirklichkeit umzusetzen. Als Organe dieser Mitwirkung hatte die Weimarer Reichsverfassung die beiderseitigen Organisationen anerkannt […]. Damit war der Gesamtvertrag zur Grundlage des Arbeitslebens geworden, das Reich also verpflichtet, seine Entwicklung mit allen Mitteln zu fördern.“235 Damit machte sich das staatliche Schlichtungswesen „zum Garanten, mindestens zum aktiven Förderer des mit der staatlichen Anerkennung der Tarifverträge begonnen Ausbaues des kollektiven Arbeitsrechts“.236

234  Sitzler, NZfA 1930, 1 (2); Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 35. 235  Reichsarbeitsministerium, Deutsche Sozialpolitik, 1929, S. 93. 236  Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 36.

240

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Tätig wurden die Schlichtungsausschlüsse und Schlichter gemäß Art. 1 § 5 Abs. 1 SchliVO auf Anruf einer Partei oder von Amts wegen.237 Damit räumte sich das Reichsarbeitsministerium ein Initiativrecht ein. Fehlte den Tarifvertragsparteien der Wille zur Annahme eines Schiedsspruchs, wurde er gemäß Art. 1 § 6 Abs. 3 SchliVO „durch Verbindlicherklärung (Zwangs­tarif) ersetzt“.238 Zudem wurde dem Reichsarbeitsministerium und den Länderbehörden die Aufgabe übertragen, den unparteiischen Vor­ sitzenden der Schlichtungsausschüsse und die Schlichter zu ernennen. Die Be­ fugnisse des Vorsitzenden und des Schlichters wurden durch die 2. ­Aus­führungsverordnung zur Schlichtungsverordnung vom 29. Dezember 1923239 erweitert. Fortan waren die sogenannten Ein-Mann-Schiedssprüche möglich, indem der Vorsitzende oder Schlichter allein einen verbindlichen Schiedsspruch fällen konnte.240 Mit der neuen Schlichtungsverordnung überlagerte die staatliche Schlichtung die autonome Schlichtung der Tarifvertragsparteien. Damit hatte das Weimarer Schlichtungswesen nicht nur einen klaren hierarchischen Aufbau erhalten. Es griff auch auf das tripartistische Schlichtungsmodell des Hilfsdienstgesetzes zurück.241 Die Schlichtungsverordnung sollte zur Beruhigung der Arbeitsmarktbeziehungen beitragen. Im Extremfall wirkte sich der Zwangscharakter der Schlichtungsverordnung so aus, dass der Reichsarbeitsminister nach einem ergangenen Schlichterspruch das Recht hatte, eine Verbindlichkeitserklärung abzugeben, durch die der Schiedsspruch rechtlich bindend wurde. Streiks oder Aussperrungen waren danach illegal.242 Die Schlichtungsverordnung eröffnete der Reichsregierung darüber hinaus aber „ein nicht unerhebliches Maß an Möglichkeiten zur Intervention in die Kollektivautonomie auf dem Arbeitsmarkt“.243 Damit änderte sich das Verhältnis zwischen Staat und Tarifvertragsparteien: Während in der Gründungsphase der Weimarer Republik die Tarifvertragsparteien auf die Sozialordnung und die Sozialpolitik hatten Einfluss nehmen können, brachte die Schlichtungsverordnung eine Wende. Nun gab es eine Art „staatskorporatistische Ordnung der Verbände“.244 237  Hartwich,

Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 29. AuR 1993, 137 (139). 239  Vgl. Zweite Verordnung zur Ausführung der Verordnung über das Schlichtungswesen v. 29. Dezember 1923, abgedruckt in Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 341. 240  Rehling, Verordnung über das Schlichtungswesen, 2011. 241  Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 135. 242  James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, 1988, S. 211. 243  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 184. 244  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 184. 238  Brauchitsch,



4.4  Zeithistorische Debatten241

4.4.2  Notverordnungen (1930–1932) 4.4.2.1 Hintergrund Mit der 1923 erlassenen Schlichtungsverordnung verfolgte der Staat mehrere Ziele.245 Ursprünglich war die Verordnung von der Absicht geprägt, die Tarifverhandlungen zu befrieden. Sie sollte zu einer „Beruhigung der Arbeitsmarktbeziehungen“ beitragen.246 Dann war die Schlichtungs­ verordnung zusätzlich dazu gedacht, die Verbreitung von Tarifverträgen zu unterstützen. Ohne es in der Verordnung explizit zu benennen, ging es aber noch um ein drittes Ansinnen: die Lohnpolitik zu beeinflussen.247 Nach Verabschiedung der Verordnung entstand eine Verquickung von Lohnpolitik und Schlichtung, die sich auch aus den allgemeinen Richtlinien für die Tätigkeit der Schlichtungsausschüsse und Schlichter ergab. Sie zielten auf eine einheitliche Lohnpolitik ab, bei der die Schlichter möglichst gleichmäßig vorgehen sollten. Dabei waren die Schlichter und die Schlichtungsausschüsse nach der Schlichtungsverordnung unabhängig und nicht an Weisungen gebunden. Trotzdem war das Reichsarbeitsministerium „in der Lage und auch willens, wenigstens die Tendenz der Lohnentwicklung zu beeinflussen, wobei die Autonomie der Verbände respektiert werden soll­ te“.248 Das Reichsarbeitsministerium bezeichnete die Tätigkeit der Schlichtungsausschüsse denn auch als „die erste bewußte Äußerung einer staat­ lichen Lohnpolitik in Deutschland“.249 Dabei wurde jedoch „ein Unterschied zwischen der Tendenz der Lohnentwicklung und der praktischen Ausgestaltung der Lohntarife gemacht“.250 Während die praktische Ausgestaltung in der autonomen Verantwortung der Tarifvertragsparteien blieb, war die „lohnpolitische Funktion“ des staatlichen Schlichtungswesens, nämlich die Aufgabe, ein „als ‚angemessen‘ bezeichnetes Niveau der Löhne zu erreichen und aufrechtzuerhalten“251, keineswegs neu. Im staat­ lichen Schlichtungswesen während des Ersten Weltkriegs hatte sie bereits einen Vorläufer. Noch im Oktober 1923 versuchten die Arbeitgeberverbände zu einer Verständigung mit den Gewerkschaften über einen verstärkten Ausbau taSitzler, NZfA 1930, 1. Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 184. 247  Sitzler, NZfA 1930, 1 (3); Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S.  36 f. 248  Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 38. 249  Reichsarbeitsministerium, Deutsche Sozialpolitik, 1929, S. 74. 250  Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 40. 251  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 229. 245  Vgl.

246  Englberger,

242

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-507.

Abbildung 35: Reichsarbeitsministerium 1929

riflicher Schlichtungsstellen zu kommen und den staatlichen Einfluss auf die Tarifautonomie zurückzudrängen. Dieser Versuch scheiterte daran, „dass sich die Tarifvertragsparteien nicht über das notwendige und deshalb zu duldende Ausmaß staatlicher Schlichtungstätigkeit […] einigen konn­ ten“.252 Die Gewerkschaften betrachteten ein System freier Schlichtung ohne die Rückendeckung staatlicher Zwangsmittel vor allem für schwache Organisationen und Arbeitergruppen als nachteilig.253 Als der Staat dann handelte, lehnten die Tarifvertragsparteien die Schlichtungsverordnung offiziell ab.254 Der ADGB warnte in einer Entschließung vom 18. März 1924 davor, dass der gesetzliche Einigungszwang „eine schwere Gefahr für die Lebensinteressen der Arbeiterschaft und der Gewerkschaftsbewegung“ und mit den Interessen der Gewerkschaften „unvereinbar“255 sei. Allerdings war die Haltung unter den Gewerkschaften uneinheitlich. Gegenüber dem 252  Englberger,

Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 185 (Fn. 274). Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 185 (Fn. 274). 254  Vgl. Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 185 f.; Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 180 ff. 255  Zitiert nach Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 346 f. 253  Englberger,



4.4  Zeithistorische Debatten243

Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-12817.

Abbildung 36: Ernst von Borsig

Reichsarbeitsministerium fiel die Kritik weitaus moderater aus, da die Gewerkschaften geschwächt waren und an der Tarifwilligkeit der Arbeitgeber zweifelten.256 Die christlichen Gewerkschaften sprachen sich ohnehin offiziell nie gegen die staatliche Zwangsschlichtung aus.257 Kritik kam hingegen von der Arbeitgeberseite. Ernst von Borsig, Vorsitzender der VDA, stellte in einem Grundsatzreferat im Frühjahr 1924 fest: „Die Beseitigung der staatlichen Zwangswirtschaft auf dem Gebiet der Tarif- und Lohnpolitik […] ist grundsätzliches Ziel der deutschen Arbeitgeberverbände“.258 In ihren „Richtlinien für die Bekämpfung des Tarifzwangs“ empfahl die VDA ihren Mitgliedsverbänden sogar, die Mitarbeit in staatlichen Schlichtungsstellen zu verweigern.259

256  Hartwich,

Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 347. Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 340. 258  Zitiert nach Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 327; vgl. auch Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 180. 259  Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 328. 257  Hartwich,

244

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Diese Position ließ sich indes nicht halten, da die Arbeitgeber die staatliche Schlichtung nutzen mussten, um gegen den Willen der Gewerkschaften eine Verlängerung der Arbeitszeit (Beseitigung des Acht-Stunden-Tags) durchzusetzen. In der Praxis nahmen die Tarifvertragsparteien die Einschränkung ihrer Autonomie jedoch nicht nur hin, sondern machten einen regen Gebrauch von der staatlichen Schlichtung. Zunächst nutzten vor allem die Arbeitgeber das Instrument zur Eindämmung von Streiks und später zur Verhinderung des Acht-Stunden-Tags. Ab 1924 setzten dann insbesondere die Gewerkschaften auf die staatlichen Schlichtungsinstanzen.260 Sie waren zunächst durch die Hyperinflation und später durch die Weltwirtschaftskrise so geschwächt, dass sie ihre lohnpolitischen Vorstellungen auch mit Hilfe des Arbeitskampfes nicht durchsetzen konnten. Dabei zeigt der Streit um den Acht-Stunden-Tag exemplarisch, wie schwierig sich die Tarifpartnerschaft in der Weimarer Republik gestaltete.261 Mit dem Ablaufen der Demobilmachungsverordnung im November 1923 war die gesetzliche Festlegung des Acht-Stunden-Tags entfallen. Die am 21. Dezember 1923 erlassene Arbeitszeitverordnung behielt den AchtStunden-Tag zwar grundsätzlich bei, eröffnete aber die Möglichkeit, durch Tarifvertrag Arbeitszeiten von bis zu 60 Wochenstunden zu vereinbaren.262 Nachdem viele Tarifverträge mit Regelungen zum Acht-Stunden-Tag schon vorher gekündigt worden waren,263 verhandelten einige Arbeitgeber an den Gewerkschaften vorbei mit den Betriebsräten über längere Arbeitszeiten.264 Im Ruhrbergbau beschlossen die Arbeitgeber trotz eines noch geltenden Tarifvertrags und ohne Einbindung der Gewerkschaften den sofortigen Übergang zur Vorkriegsarbeitszeit. Im VDA-Geschäftsbericht von 1923/24 hieß es dazu: „Die Not verlangte außergewöhnliche Maßnahmen. Hier versagten sich aber die Gewerkschaften.“265 Die Folge war, dass der ADGB aus der mit dem Stinnes-Legien-Abkommen gegründeten gemeinsamen Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) austrat.266 Formal gesehen bedeutete dies, dass „auch die Anerkennung der Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeitnehmer hinfällig geworden war.“267 260  Kittner,

SR 2019, 118 (123). Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 189 ff. 262  Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 192. 263  In der Berliner Metallindustrie erstritten die Gewerkschaften im Mai 1922 eine 46,5-Stunden-Woche, die vom Verband der Berliner Metallindustrie im Juli 1922 gekündigt wurde. Der Schiedsspruch des Schlichters sah dann eine 48-Stunden-Woche vor. Vgl. Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2015, S. 192. 264  Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 318. 265  Zitiert nach Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 318. 266  Vgl. Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 263 ff. 261  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten245

Damit öffneten die Tarifvertragsparteien einer stärkeren Einflussnahme des Staates die Tür. Inwieweit die Regierung die durch die neue Schlichtungsverordnung eröffneten Möglichkeiten einer Einflussnahme auf die Verbreitung und die Inhalte von Tarifverträgen nutzte, lässt sich schwer beurteilen. Die Mehrzahl der abgeschlossenen Tarifverträge kam durch freie Vereinbarungen zustande.268 In den frühen 1930er Jahren wurden rund 60 Prozent aller Lohntarifverträge für Arbeiter und 60 bis 75 Prozent aller Gehaltstarifverträge für Angestellte durch direkte Vereinbarung der Tarifvertragsparteien abgeschlossen.269 Das Reichsarbeitsministerium versuchte anhand der amtlichen Schlichtungsstatistik zu belegen, dass das staatliche Schlichtungswesen in der Praxis nur eine untergeordnete Rolle spiele.270 Der Blick auf die Schlichtungsstatistik zeigt, dass im ersten Jahr nach Verabschiedung der Schlichtungsverordnung insgesamt 18.575 Schlichtungsverfahren gezählt wurden, bei denen es aber nur in etwas mehr als der Hälfte (56,9 Prozent) zu einem Schiedsspruch kam (siehe Tabelle 9). Knapp die Hälfte (47,0 Prozent) dieser Schiedssprüche wurde von den Tarifvertragsparteien abgelehnt. Relevanter als die absolute Anzahl der Schlichtungsverfahren ist, welcher Anteil der Verfahren durch eine Zwangsschlichtung, also durch eine Verbindlichkeitserklärung gelöst wurde. Dieser Anteil lässt sich „als Maßstab für die Intensität des staat­lichen Einflusses“ interpretieren, weil der staatliche Schlichter eine Entscheidung (zumindest bis zur Entscheidung des sogenannten Ruhreisenstreits Anfang 1929) notfalls sogar ohne Zustimmung der Tarifvertrags­parteien durchsetzen konnte.271 Im Jahr 1924 kam es zu 839 Verbindlichkeitserklärungen, was einem Anteil von 4,5 Prozent an allen Schlich­ tungsverfahren und einem Anteil von 16,9 Prozent der abgelehnten Schiedssprüche entsprach. Im weiteren Verlauf fällt auf, dass die Anzahl der Schlichtungsverfahren deutlich gesunken ist. Im Jahr 1932 gab es nur noch 4.791 Verfahren und 2.495 Schiedssprüche. Die Zahl der Verbindlichkeitserklärungen lag bei 140, was einem Anteil von 2,9 Prozent an allen Schlichtungsverfahren beziehungsweise 9,5 Prozent an allen abgelehnten Schiedssprüchen entsprach. Der starke Rückgang der Schlichtungsverfahren hängt mit der oben erwähnten Verminderung der Zahl der bestehenden Tarifverträge und mit 267  Hartwich,

Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 345. Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 298. 269  Angaben aus den Statistischen Jahrbüchern des Deutschen Reichs 1932 und 1933, zitiert nach Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 298. 270  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 187 (Fn. 286); vgl. auch Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 212 ff. 271  Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 40. 268  Steiger,

4.968 47,0 839 4,5 16,9

Abgelehnte Schiedssprüche, Anzahl

Abgelehnte Schiedssprüche, in Prozent aller Schiedssprüche

Verbindlichkeitsklärungen, Anzahl

Verbindlichkeitserklärungen, in Prozent aller Schlichtungsverfahren

Verbindlichkeitserklärungen, in Prozent aller abgelehnten Schiedssprüche

1925

15,3

5,3

707

55,4

4.629

62,2

8.352

13.418

Quelle: Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 294 f.

56,9

10.562

Schiedssprüche, Anzahl

Schiedssprüche, in Prozent aller Schiedsverfahren

18.575

Schlichtungsverfahren, Anzahl

1924

19,9

6,2

315

56,3

1.580

55,7

2.807

5.043

1926

19,8

6,4

540

55,5

2.723

58,2

4.910

8.436

1927

15,9

5,4

434

58,4

2.727

58,1

4.666

8.037

1928

11,0

3,9

274

63,7

2.501

55,2

3.927

7.109

1929

Tabelle 9 Schlichtungen und Verbindlichkeitserklärungen 1924 bis 1932

14,8

5,1

205

65,6

1.381

52,4

2.104

4.017

1930

22,9

7,6

525

58,9

2.296

56,5

3.897

6.898

1931

9,5

2,9

140

59,0

1.472

52,1

2.495

4.791

1932

246 4. Die Legitimität von Tarifautonomie



4.4  Zeithistorische Debatten247

längeren durchschnittlichen Laufzeiten der Tarifverträge zusammen.272 Nach Überwindung der Hyperinflation wiesen die Tarifverträge zunächst nur kurze Laufzeiten auf, um der unsicheren Wirtschaftsentwicklung Rechnung zu tragen. Das änderte sich mit der Stabilisierung der Wirtschaftslage bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise.273 Der prozentuale Anteil, den die Verbindlichkeitserklärungen an der Gesamtzahl aller Schlichtungsverfahren hatten, entwickelte sich hingegen relativ gleichmäßig. Er lag meist zwischen 4 und 6,5 Prozent aller Schlichtungsverfahren.274 Der Anteil der Schiedssprüche an allen Schlichtungsverfahren bewegte sich im Zeitverlauf in einer Spanne von 52,1 und 62,2 Prozent und der Anteil der Verbindlichkeitserklärungen an allen abgelehnten Schiedssprüchen zwischen 9,5 und 22,9 Prozent. Das tatsächliche Gewicht des Instruments der Zwangsschlichtung ist aus diesen Angaben aber nur in begrenztem Maße abschätzbar.275 Zum einen gab es Lücken in der Erfassung, zum anderen sind die Angaben ungewichtet, weil das Reichsarbeitsministerium die jeweils tatsächlich betroffenen Arbeitnehmer nicht veröffentlichte.276 Schätzungen zur Betroffenheit der Arbeitnehmer kommen für die 1920er und für die frühen 1930er Jahre auf Anteile zwischen 20 und 45 Prozent, wobei die Intervention neben der Land­wirtschaft in grundlegenden Industrien wie dem Bergbau, der Eisen- und Stahlindustrie, der Metallindustrie sowie der Textilindustrie die Regel war. In wichtigen anderen Industrien wie der Chemischen Industrie oder im Bau- und Holz­ gewerbe gelang die Verständigung hingegen weitgehend ohne staatlichen Eingriff.277 Aus den ab 1931 detaillierter erfassten amt­lichen Zahlen zum Schlichtungswesen geht hervor, dass Anfang 1931 nur für 28 Pro­zent und Anfang 1932 nur für 21 Prozent der von Lohntarifverträgen betroffenen Arbeiter ein Tarifvertrag galt, der durch eine autonome Vereinbarung zustande kam. Für die Angestellten lagen die entsprechenden Anteile bei 50 Prozent im Jahr 1931 und 60 Prozent im Jahr 1932. Einem durch Zwangsschlichtung 272  Schewe, Sozialer Fortschritt 3 (1953), 15; Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 186. Dabei erhöhte die verlängerte Laufzeit der Tarifverträge den Einfluss der staatlichen Zwangsschlichtung. Vgl. Schewe, Sozialer Fortschritt 3 (1953), 15 (16). 273  Vgl. Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 298. 274  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 187. 275  Vgl. Schewe, Sozialer Fortschritt 3 (1953), 15 (15 ff.); Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 212 ff.; Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S.  187 ff.; Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 297 ff. 276  Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 41. 277  Sitzler, NZfA 1930, 1 (9); Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 220.

248

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

zustande gekommenen Tarifvertrag unterlagen Anfang 1931 insgesamt 24 Prozent der Arbeiter. Anfang 1932 waren es dann 38 Prozent.278 Ein Grundproblem des staatlichen Schlichtungswesens war, dass die autonome Verständigungsbereitschaft kontinuierlich abnahm: „Im Wissen um die Möglichkeit des Zwangstarifs war das Interesse an einer friedlichen Einigung untereinander gering […]. Die Parteien wälzten das Lohnrisiko auf die Staatsautorität ab.“279 Während bei Tarifabschlüssen mit geringerer Reichweite die Tarifautonomie recht gut funktionierte, setzte das staatliche Schlichtungswesen in den großen Industrien die Kompromissbereitschaft der Tarifvertragsparteien deutlich herab. Da im Falle eines Scheiterns der Tarifverhandlungen kein tarifloser Zustand drohte, sondern auf eine Verbindlichkeitserklärung vertraut werden konnte, beharrten die Parteien jeweils auf ihren ursprünglichen Forderungen. Von einer Übernahme der Verantwortung für Abstriche an der ursprünglichen Forderung wurden die Tarifvertragsparteien so enthoben.280 Ein Hauptkritikpunkt war dabei das im Rahmen der oben erwähnten zweiten Ausführungsverordnung zur Schlichtungsverordnung eingeführte Alleinentscheidungsrecht des Schlichtungsvorsitzenden. Diese am 29. Dezember 1923 erlassene Verordnung räumte dem Vorsitzenden des Schlichtungsausschusses das Recht ein, einen Schiedsspruch „nach eigenem Gutdünken zu fällen“281 (Ein-MannSchiedsspruch). Dieses Recht wurde auch im Rahmen des 1928 entstandenen Ruhreisenstreits genutzt, infolge eines Rechtsstreits allerdings Anfang 1929 durch das Reichsarbeitsgericht gekippt.282 Dieser Entscheidung lagen „politische Tendenzen“ zugrunde: Das Reichsarbeitsgericht wollte damit eine Reform des Schlichtungswesens ins Rollen bringen und den Deutschen Reichstag dazu bewegen, eine Abschaffung des Alleinentscheidungsrechts des Vorsitzenden zu fordern.283 Darüber wurde dann auch politisch debattiert, eine dauerhafte Reform blieb aber aus. Dem Urteil des Reichsarbeitsgerichts zum Trotz wurde der Ein-Mann-Schiedsspruch am 9. März 1931 als Teil der Krisensparmaßnahmen der Regierung Brüning wieder eingeführt.284 Dies lag nicht zuletzt an der Weltwirtschaftskrise, die den Druck auf den Staat weiter erhöhte und im ab dem April 1930 regierenden 278  Steiger,

Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 299. AuR 1993, 137 (139). 280  Vgl. Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 300 f. 281  James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, 1988, S. 210. 282  Vgl. Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 152, 245 ff.; Brauchitsch, AuR 1993, 137 (140). 283  Brauchitsch, AuR 1993, 137 (140). 284  Vgl. James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, 1988, S. 211. 279  Brauchitsch,



4.4  Zeithistorische Debatten249

Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1989-0220-500.

Abbildung 37: Reichstagssitzung vom 19. Januar 1925

Kabinett von Reichskanzler Heinrich Brüning zur Politik der Notverordnungen und zu „Brünings Lohnrevolution“285 führte. Die wirtschaftliche Lage war im Frühjahr 1930 durch die Weltwirtschaftskrise geprägt.286 Die Beschäftigung war seit Mitte 1929 rückläufig.287 Die Zahl der Arbeitslosen stieg im Jahresdurchschnitt von 1,4 Millionen im Jahr 1928 über 1,9 Millionen ein Jahr später auf fast 3,1 Millionen im Jahr 1930 (siehe Grafik 11). Die Arbeitslosenquote, zu deren Berechnung die Arbeitslosen in Beziehung zu den abhängig beschäftigten Erwerbspersonen gesetzt werden, stieg im gleichen Zeitraum von 6,3 Prozent (1928) auf 14,0 Prozent (1930). Damit war der Höhepunkt zwar noch nicht erreicht. Im Durchschnitt des Jahres 1932 waren schließlich 5,6 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, was einer Arbeitslosenquote von knapp 30 Prozent entsprach. Dennoch bildete der sich eintrübende Arbeits285  James,

Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, 1988, S. 222. Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, 2010, S. 200 ff. 287  James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, 1988, S. 223. 286  Vgl.

250

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-04639.

Abbildung 38: Heinrich Brüning

markt „den unmittelbaren Hintergrund“288 für die Politik der neuen Reichsregierung, die neben der Sanierung des Reichshaushalts und einer Stabilisierung der Währung auch darauf abzielte, parallele Lohn- und Preissenkungen durchzusetzen.289 Die Weltwirtschaftskrise sollte prozyklisch bekämpft werden, indem die Löhne und Sozialleistungen gekürzt und über den Weg der Deflation eine Verbesserung der preislichen Wettbewerbs­ fähigkeit erreicht werden sollte.290 In einer Hauptausschusssitzung des Reichsverbands der Deutschen Industrie am 27. November 1930 skizzierte Reichskanzler Brüning seinen Politikansatz: Deutschland müsse „recht­ zeitig den Anschluß an die Entwicklung in der Weltwirtschaft finden, die 288  James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, 1988, S. 223. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit rückte allerdings erst zur Jahreswende 1931/32 als eigenständiges Hauptziel in den Vordergrund. Vgl. Borchardt, ifo Schnelldienst 58 (2005), 20. 289  Vgl. Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 160  ff.; Steiger, Konfrontation, Kooperation, Untergang, 1998, S. 149 ff.; Borchardt, ifo Schnelldienst 58 (2005), 20 (20 ff.). 290  Vgl. Steiger, Konfrontation, Kooperation, Untergang, 1998, S. 152.



4.4  Zeithistorische Debatten251 6.000

35

5.000

30 25

4.000

20

3.000

15

2.000

10

1.000

5

0

0

Arbeitslose (linke Achse)

Arbeitslosenquote (rechte Achse)

Jahresdurchschnittswerte; für 1924 bis 1928 nicht amtliche, geschätzte Zahlen; ab 1929 amtliche Zahlen der Reichsanstalt; als abhängige Erwerbspersonen gelten die gesamten Krankenkassenversicherungsmitglieder anhand der Statistischen Jahrbücher für das Deutsche Reich. Quelle: Petzina/Abelshauser/Faust, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III, 1978, S. 119 f.

Grafik 11: Arbeitslosigkeit 1924 bis 1938 Arbeitslose in 1000, Arbeitslosenquote in Prozent der abhängigen Erwerbspersonen

durch die Senkung des Preisniveaus gekennzeichnet ist. Bezüge und Lebenshaltung aller Unternehmer- und Arbeitnehmerschichten sowie der Preisstand der deutschen Waren müssen uns gestatten, den Wettbewerb mit der Welt bestehen zu können“.291 Die Lohnpolitik spielte eine zentrale Rolle für die Deflationspolitik und die Mitte 1930 einsetzende Neuausrichtung der Schlichtung, die fortan der Durchsetzung paralleler Lohn- und Preissenkungen dienen sollte. Die Arbeitgeber erblickten in dem Lohnniveau den Hauptgrund für die schwache Investitionstätigkeit und damit auch für die niedrige Produktion und den Beschäftigungsrückgang.292 Seit 1924 waren die Tariflöhne für Facharbeiter und Hilfsarbeiter in der Industrie kräftig angestiegen (siehe Grafik 12). Im Jahr 1924 verdiente ein nach einem Tarifvertrag bezahlter Industriefacharbeiter (gelernter Arbeiter) noch (gerundet) 64 Reichspfennige, 1929 dann 101 und ein Jahr später 103 Reichspfennige. Das entsprach einem Anstieg von 61 Prozent. Bei den Hilfsarbeitern (ungelernte Arbeiter) stiegen die Tariflöhne (gerundet) von 45 auf 81 Reichspfennige. Das entsprach einem Plus von 80 Prozent. Für beide Arbeitergruppen stellt der 1930 erreichte tarifliche Stundenlohn ein Maximum dar, das in den Folgejahren deutlich unterschritten wurde. 291  Zitiert

292  James,

nach Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 160. Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, 1988, S. 223.

252

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

120 100 80 60 40 20 0

Facharbeiter

Hilfsarbeiter

Tariflöhne: Mindestsätze der tariflichen Stundenlöhne (oder Akkordrichtsätze) für Arbeiter der höchsten tarifmäßigen Altersstufe in 17 Gewerben; 1924–1927 jeweils Angaben für April, sonst Jahresdurchschnitte. Quelle: Petzina/Abelshauser/Faust, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III, 1978, S. 99.

Grafik 12: Tariflöhne der Industriearbeiter 1924 bis 1939 In Reichspfennigen

Der Beschäftigungsrückgang blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Lohnverhandlungen der Großindustrie.293 Zunächst standen die übertarif­ lichen Löhne und Akkordverdienste im Fokus der Verhandlungen. Die dort vereinbarten Kürzungen betrafen das Einzelarbeitsverhältnis, vollzogen sich also außerhalb der Schlichtung und auch reichlich unbemerkt durch die Öffentlichkeit.294 Es dauerte aber nicht lange, bis diese Praxis auch die staatliche Schlichtung erreichte. Im Rahmen des Schiedsspruchs von Bad Oeynhausen wurde im Oktober 1930 zum ersten Mal eine Senkung der übertariflichen Akkordlöhne durch die staatliche Schlichtung vorgenommen. Damit stand als nächstes auch der Tariflohn zur Disposition.295 Den Weg ebnete die im Dezember 1930 erlassene Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen.296 Schon bald gab es im Ruhrbergbau Anfang 1931 erste Tariflohnsenkungen,297 die den Weg für eine Politik der

293  James,

Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, 1988, S. 223. Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 162. 295  Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 167. 296  Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 184. 297  Vgl. Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 186; James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, 1988, S. 226. 294  Hartwich,



4.4  Zeithistorische Debatten253

Kosten- und Preissenkungen ebnete.298 Im Zuge von Notverordnungen wurde das Schlichtungswesen dann „faktisch außer Kraft gesetzt“, obwohl es formell weiterbestand.299 4.4.2.2 Art des Legitimitätsproblems Ex post betrachtet war „die Zwangsschlichtung mit Tarifautonomie nicht vereinbar“.300 Aus einer Ex-ante-Sicht heraus fällt eine Bewertung differenzierter aus. Die Schlichtungsverordnung war explizit dazu gedacht, die Tarifautonomie zu stärken und die Ausbreitung des Tarifwesens in Deutschland zu unterstützen. Kommt man zu dem Schluss, dass die Chancen für soziale Autonomie in der Weimarer Republik von vornherein recht gering waren, erscheint die Zwangsschlichtung in einem anderen Licht.301 Weimar war von vornherein durch die „Grundschwäche“ einer „in Verteilungskämpfen verstrickten Wirtschaft“302 gekennzeichnet. Tarifpolitik war ein Teil dieses Verteilungskampfes, der durch eine schwache Arbeitsproduktivitätsentwicklung gekennzeichnet war.303 Diese schwierigen Rahmenbedingungen führten dazu, dass die Tarifvertragsparteien vor allem die Interessen ihrer Mitglieder vertraten. Diese Funktion nahmen sie auch wahr. Eine umfassende Analyse von Tarifstreitigkeiten in der Berliner Metallindustrie kommt zu dem Ergebnis, dass es „nicht zwingend zu einer Beseitigung des Willens zur selbstverantwortlichen Regelung der Arbeitsbedingungen kommen mußte. Die Detailuntersuchungen […] führen vielmehr zu einer anderen Erkenntnis: In der Regel lehnte die stärkere Tarifpartei jede staatliche Einmischung ab; auch die Gewerkschaften verhielten sich 1927/28 so. Man scheute also die ‚Verantwortung‘ nicht, wenn man sich stark fühlte.“304

298  Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 38. Im August 1931 etwa folgte die Stahlindustrie. Vgl. James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, 1988, S. 228. 299  Brauchitsch, AuR 1993, 137 (140). 300  Nautz, in: Schremmer (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1993, S. 245 (266). 301  Vgl. Nautz, in: Schremmer (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1993, S. 245 (266). 302  Borchardt, in: Borchardt (Hrsg.), Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik, 1982, S. 165 (176). 303  Lesch, Industrielle Beziehungen 26 (2019), 326 (332); vgl. auch Borchardt, in: Borchardt (Hrsg.), Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik, 1982, S. 165 (176). 304  Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 361.

254

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Dieser Befund lenkt den Blick auf die mangelnde Kooperationsbereitschaft zwischen den Tarifvertragsparteien. Den Arbeitgebern war die Anerkennung der Gewerkschaften 1918 aufgrund äußerer Umstände mehr oder weniger „abgenötigt“305 worden. Angesichts der anhaltenden widrigen Wirtschaftsumstände wurde der Tarifvertrag von ihnen zunehmend als Fessel betrachtet.306 Die offizielle Kritik an der Zwangsschlichtung nahm in der Weltwirtschaftskrise weiter zu und verband sich mit einer Kritik an der „Institution Tarifautonomie überhaupt“.307 Im Zentrum der Kritik stand der Tarifzwang. Die Arbeitgeber wollten Betriebs- und Einzelvereinbarungen den Vorrang vor Tarifverträgen einräumen. Damit flammte der 1918 im Stinnes-Legien-Abkommen überbrückte Antagonismus zwischen den Tarifvertragsparteien wieder neu auf. Erschwerend hinzu kam, dass der Staat als „ulitma Ratio des Tarifsystems fungierte“308 und dabei immer mehr in die Rolle eines „Sachverwalters der Kollektivinteressen“309 hineinschlüpfte, aus der er angesichts dieses Antagonismus und der Weltwirtschaftskrise nicht mehr herauskam. Der Reichsverband der Deutschen Industrie veröffentliche bereits im ­Dezember 1929 eine Denkschrift, in der massive Kritik an der Lohnpolitik und an der staatlichen Schlichtungspolitik der vorangegangenen Jahre geübt wurde: „Die Verkennung lohnpolitischer Grenzen ist wesentlich ­ ­dafür verantwortlich zu machen, daß die deutsche Industrie den Konkurrenzkampf mit den fremden Ländern sowohl auf dem Weltmarkt wie in Deutschland selbst nur unter ungewöhnlich ungünstigen Bedingungen ausfechten muss. Die Festsetzung des Lohnes durch behördliche Eingriffe ohne Rücksicht auf die Wirtschaftslage des betroffenen Industriezweiges läßt die Werke nur mit einer geschwächten Kapital- und Wirtschaftsgrundlage weiterarbeiten.“310 Mit den ab 1931 folgenden lohnregulierenden Notverordnungen vollzog sich der Übergang zu einer staatlichen Lohnpolitik, die sich in den Kontext der allgemeinen Wirtschaftspolitik einzufügen hatte. Besonders deutlich wird diese Haltung in der Begründung zur Verbindlichkeitserklärung des Oeynhausener Schiedsspruchs durch den damaligen Reichsarbeitsminister 305  Hartwich,

Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 359. SR 2019, 118 (125). 307  Nautz, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 71 (89). 308  Plumpe, in: Spree (Hrsg.), Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, 2001, S. 179 (186). 309  Brauchitsch, AuR 1993, 137 (140). 310  Reichsverband der Deutschen Industrie, Aufstieg oder Niedergang?, 1929, S. 8. 306  Kittner,



4.4  Zeithistorische Debatten255

Adam Stegerwald auf einer Vorstandstagung des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften am 11. Juni 1930: „Den Schiedsspruch für Nordwest habe ich verbindlich erklärt, weil […] in einer der wichtigsten Rohstoffindustrien ein tarifloser Zustand und damit die Gefahr örtlicher und unübersehbarer Kämpfe im Interesse des Staatsganzen verhindert werden mußte […]. Wenn […] Staat und Wirtschaft in Ordnung gebracht werden sollen, dann müssen alle Opfer bringen.“311 Dabei unterlag die Institution Tarifautonomie demselben internen und externen Legitimitätsdefiziten, die schon zur Verabschiedung der Schlichtungsverordnung 1923 geführt hatten: einer strukturellen Schwäche der Gewerkschaften als intraorganisationalem Defizit und einer mangelnden autonomen Einigungsfähigkeit, gepaart mit mangelndem Kooperationswillen als interorganisationalem Defizit. Da beides durch die Zwangsschlichtung weiter geschwächt wurde, trat ein sich selbst verstärkender Prozess ein, bei dem der Staat automatisch eine immer größere lohnpolitische Verantwortung übernehmen musste. Die Sprengkraft dieser Strategie zeigt sich in einem Kommentar des Vorsitzenden des Deutschen Metallarbeiterverbands, Georg Reichel, zum Schiedsspruch von Oeynhausen in der Deutschen Gewerkschaftszeitung vom 21. Juni 1930. Darin heißt es: „Der verbindlich erklärte Schiedsspruch eröffnet dem von den industriellen Scharfmachern geforderten Lohnabbau den Weg. […] Indirekt werden die Interessen von mehr als 800.000 Akkordarbeitern der Metallindustrie durch die Entscheidung berührt. Es ist daher selbstverständlich, dass der Staatsakt der Verbindlicherklärung des Schiedsspruchs nicht der Verminderung von Wirtschaftskämpfen zu dienen vermag, sondern umgekehrt solche Kämpfe erst recht auslöst.“312 Im Nachhinein zeigte sich, dass „es [ein] Unterschied [ist], ob ein eingeführtes und allgemein anerkanntes Tarifvertragssystem besteht oder ob dieses System erst […] ‚mit Hilfe‘ der Schlichtung geschaffen werden soll“.313 Letztlich scheiterte die Tarifautonomie daran, dass ihre Träger in den zentralen Grundfragen nicht übereinstimmten:314 der vorbehaltlosen gegenseitigen Anerkennung, dem Willen zur Zusammenarbeit und dem Bekenntnis zu Tarifverträgen mit der Verpflichtung zur Einhaltung der vertraglichen Abmachungen. Es zeigte sich, dass die soziale Autonomie umso gefährdeter ist, „je kontroverser die Auffassung der Verbände der

nach Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 165 f. nach Peters/Gorr, Anerkennung und Repression, 2009, S. 1307, 1309. 313  Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 25. 314  Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 310. 311  Zitiert

312  Zitiert

256

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Gestaltung der Staats- und Wirtschaftsordnung sind“.315 4.4.2.3 Art des Staatseingriffs Der Staat wählte den Weg, die Tarifautonomie aufgrund von Notverordnungen weiter zu beschränken. Dass die Reichsregierung Brüning ihre Deflationspolitik zur Bekämpfung der negativen Folgen der Weltwirtschaftskrise nicht im Konsens mit den Tarifvertragsparteien umsetzte, etwa im Rahmen eines tripartistischen Arrangements, dürfte damit zusammenhängen, dass mit der staatlichen Schlichtung ja schon eine Art Tripartismus etabliert war.316 Unter den Umständen der staatlichen wirtschaftspolitischen Zielsetzung (Kosten- und Preissenkung zur Stärkung der Wettbewerbs­ fähigkeit) erwies sich dieser Weg als nicht effektiv genug. Der „Schlichtungs-Tripartismus“ scheiterte, weil die Schlichter autonom waren und keinen Weisungen des Reichsarbeitsministeriums oder der Reichsregierung unterlagen und die Tarifvertragsparteien auch innerhalb dieses tripartistischen Arrangements keinen Konsens erzielen konnten. Nach diesem Scheitern auf die autonome Einsichts- und Regelungsfähigkeit der Tarifvertragsparteien zu hoffen und auf ein freiwilliges „sich in den Dienst der Regierung stellen“ der Schlichter zu setzen, war aus Sicht der Reichsregierung keine Option. Das widersprach allein schon der Grundkonzeption, ohne Parlament auf der Grundlage von Notverordnungen zu agieren. Grundlage der Notverordnungspolitik war Art. 48 der WRV: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen […]. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend […] Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen“. Das Recht der Notverordnungen entwickelte sich „Schritt für Schritt […] von dem Grundgedanken des Kollektivismus hinweg“.317 In der ersten großen Notverordnung vom 1. Dezember 1930 wurde eine Senkung der Beamtengehälter um 6 Prozent angeordnet, in der vierten Notverordnung vom 8. Dezember 1931 folgte eine Senkung der Tariflöhne: Ab dem 1. Januar 1932 sollten die Tariflöhne auf ihr Niveau vom 10. Januar 1927 zurückgesetzt werden. Als Laufzeit 315  Hartwich,

Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 311. in diesem Sinne auch Nautz, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 71 (87). 317  Blanke/Erd/Mückenberger/Stascheit, Kollektives Arbeitsrecht 1, 1975, S. 283. 316  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten257

wurde für alle Tarifverträge einheitlich der 30. April 1932 festgelegt.318 Erstmals sprach eine Reichsregierung eine direkte Lohnsenkung durch Notverordnung und eine Änderung der Laufzeit der Tarifverträge durch „staatlichen Befehl“319 aus. Mit der von der Regierung Papen erlassenen Verordnung zur Möglichkeit der Tariflohnunterschreitung vom 5. September 1932 waren dann auch die Arbeitgeber berechtigt, den Tariflohn um 10 bis 15 Prozent zu unterschreiten, wenn sie gleichzeitig die Belegschaft um 5 bis 25 Prozent vermehrten.320 Dies stellte „einen offenen Bruch mit dem kollektiven Arbeitsrecht und der Unabdingbarkeit der Tarifverträge“ dar.321 Aus heutiger Sicht handelt es sich um die Einführung einer gesetzlichen Öffnungsklausel, die parlamentarisch nicht legitimiert war und juristisch nicht angefochten werden konnte. Die freien Gewerkschaften sahen sich ebenso wie die christlichen Gewerkschaften zur Zurückhaltung gegenüber den sozialpolitischen Eingriffen per Notverordnung genötigt. Sie wollten die Regierung Brüning nicht gefährden.322 Bei den Reichstagswahlen im September 1930 hatte die N ­ SDAP einen Zuwachs von 12 auf 107 Reichstagsmandate verzeichnet. Der ADGB sah sich daher genötigt, die „stille Diktatur Brünings“ zu tolerieren, um das „Umschlagen in die offene Diktatur“ zu verhindern, heißt es im Rückblick auf das Jahr 1930.323 Das Kabinett Papen stieß dann bei allen Gewerkschaften auf scharfe Kritik. Der ADGB nahm gemeinsam mit den anderen Richtungsgewerkschaften im Juni 1932 gegen die Notverordnung Stellung. Eine „Einheitsfront“ mit der KPD wurde jedoch abgelehnt.324 Der Reichsverband der Deutschen Industrie forderte bereits in seiner oben erwähnten Denkschrift die Abschaffung der Zwangsschlichtung: „Die staatliche Zwangseinwirkung auf die Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen ist zu beseitigen.“325 Dies konnten sie zwar nicht durchsetzen. Die Arbeitgeber konnten sich aber eher mit den Staatseingriffen in die Lohnpolitik abfinden als die Gewerkschaften, da sie eine Voraussetzung dafür waren, die internationale Wettbewerbsfähigkeit über Preissenkungen 318  Hartwich,

Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 188. Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 241. 320  Brauchitsch, AuR 1993, 137 (140). 321  Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 242. 322  Vgl. Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 215. 323  Zitiert nach Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 206. 324  Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 215. 325  Reichsverband der Deutschen Industrie, Aufstieg oder Niedergang?, 1929, S. 13. 319  Hartwich,

258

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

zu erhöhen. Ziel der Arbeitgeber war es, die Unabdingbarkeit des Tarifvertrags zu beseitigen. Der Regierung Brüning stand vor allem die Schwerindustrie eher skeptisch gegenüber, weil Brüning den Arbeitgebern aus deren Sicht nicht hinreichend entgegenkam.326 Wohlwollender standen sie den Notverordnungen des Kabinett Papens gegenüber. So teilte der Reichsverband der Deutschen Industrie dem Reichskanzler in einem Schreiben vom 7. September 1932 mit: „Die deutsche Industrie begrüßt das von der Reichsregierung begonnene Reformwerk mit großen Hoffnungen, da es geeignet ist, der privaten Initiative endlich wieder die Möglichkeit freier Entfaltung zu geben.“ Vor allem die von der Papen-Regierung vorgenommene „Aufbrechung des Tarifvertrags“ fand „ungeteilte Zustimmung“.327

4.4.3  Konzertierte Aktion (1967–1977) 4.4.3.1 Hintergrund Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 erholte sich die Wirtschaft im früheren Bundesgebiet zusehends. Im Vergleich zum Vorjahr wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 1951 um 9,7 Prozent.328 Wie in Grafik 13 dargestellt, konnte dieses Tempo in den nächsten drei Jahren erst einmal nicht aufrechterhalten werden. 1955 stieg das BIP jedoch wieder um 12,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dieser Aufschwung war auf eine erhöhte Exporttätigkeit der Unternehmen, eine steigende staatliche Investitionstätigkeit sowie auf eine sprunghafte Zunahme im privaten Verbrauch zurückzuführen.329 Der wirtschaftliche Aufschwung ging dabei mit einer steigenden Nachfrage nach Arbeitskräften einher. Die Arbeitslosenquote sank von 10,4 Prozent im Jahr 1951 auf 1,3 Prozent im Jahr 1960 (siehe Grafik 14).330 Zwischen 1961 und 1966 lag die Arbeitslosenquote bei nur noch 0,7 oder 0,8 Prozent. Entsprechend gelten diese Jahre als Zeiten der Vollbeschäftigung in der Bundesrepublik. 326  Steiger,

Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 202. Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 237. 328  Vgl. StBA, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, 2021, https://www.destatis. de/DE/Themen/Wirtschaft/Volkswirtschaftliche-Gesamtrechnungen-Inlandsprodukt/ Tabellen/inlandsprodukt-volkseinkommen1925-pdf.pdf?__blob=publicationFile (23.7.2021). 329  Vgl. Sachverständigenrat, Stabiles Geld – stetiges Wachstum, 1965, S. 6, 11 f. 330  Vgl. StBA, Konjunkturindikatoren, 2021, https://www.destatis.de/DE/Themen/ Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Lange-Reihen/Arbeitsmarkt/lrarb003ga.html (23.7. 2021). 327  Steiger,



4.4  Zeithistorische Debatten259

14

12,1

12 10

9,7

9,3

8,9 7,8

8

7,9

7,7

8,6

6

4,5

4

7,5

6,7

6,1 4,6

5,5

5,4

4,7 2,8

5,0

2,8

2 0 -0,3

-2

Preisbereinigt; Gebietsstand: früheres Bundesgebiet, bis 1960 ohne Saarland und West-Berlin. Quelle: StBA, Volkwirtschaftliche Gesamtrechnung, https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Volks­ wirtschaftliche-Gesamtrechnungen-Inlandsprodukt/Tabellen/inlandsprodukt-volkseinkommen1925-pdf.pdf?__ blob=publicationFile (23.7.2021).

Grafik 13: Bruttoinlandsprodukt 1951 bis 1970 Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Aufgrund der gut laufenden Konjunktur stiegen die Reallöhne zwischen 1956 und 1960 um durchschnittlich 4,6 Prozent pro Jahr.331 Für den Aufbau der industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik war der Konjunkturboom und die sich spürbar verbessernden Lebensbedingungen zentral. Fehmel verweist in diesem Kontext darauf, dass der Aufschwung den Arbeitgebern „die nötige Kompromissbereitschaft […] in Fragen der Tarifabschlüsse“ abrang.332 Schneider geht sogar davon aus, dass die Arbeit­ geber die Tarifabschlüsse mitgetragen haben, um weitergehenden gewerkschaftlichen Forderungen entgegenzuwirken: „Das Wirtschaftswachstum war so groß, dass sich Verteilungsspielräume eröffneten, die wiederum den Gewerkschaften tarif- und sozialpolitische Erfolge ermöglichten, ohne dass ein hoher Arbeitskampfaufwand nötig war. Gerade die günstige wirtschaftliche Entwicklung trug wohl entscheidend dazu bei, dass in weiten Kreisen der Bevölkerung die marktwirtschaftliche Ordnung Anerkennung fand; und die Arbeitgeber akzeptierten in ihrer Mehrheit die Gewerkschaften als Ordnungsfaktor – und dies umso leichter, als die Gewerkschaften in ihrer

Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 284. in: Andresen/Bitzegio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en), 2011, S. 267 (275). 331  Vgl.

332  Fehmel,

260 12 10

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

10,4 9,5 8,4

8

7,6 5,6

6

4,4

4

3,7

3,7 2,6 1,3

2

2,1 0,8

0,7

0,8

0,8

0,7

0,7

1,5

0,9

0,7

0

Gebietsstand: früheres Bundesgebiet, bis 1958 ohne Saarland. Quelle: StBA, Konjunkturindikatoren, https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/ Lange-Reihen/Arbeitsmarkt/lrarb003ga.html (23.7.2021).

Grafik 14: Arbeitslosenquote 1951 bis 1970 In Prozent

konkreten Politik auf weit gehende Systemveränderungsziele verzichte­ ten.“333 Die Gewerkschaften profitierten in den ersten Jahren von der gut laufenden Konjunktur und von steigenden Löhnen, die ihnen bei der Mitgliedergewinnung halfen.334 Allein zwischen 1950 und 1966 stieg die Zahl der Mitglieder in DGB-Gewerkschaften von knapp 5,5 Millionen auf mehr als 6,5 Millionen.335 Gleichzeitig sollte es sich für die Gewerkschaften als schwierig herausstellen, dass die Bruttoverdienste schneller stiegen als die verhandelten Tariflöhne. Ab Mitte der 1950er lag fast durchgehend eine positive Lohndrift vor – wie in Grafik 15 exemplarisch anhand der Lohnentwicklung in der Investitionsgüterindustrie dargestellt ist. Die Lohndrift gibt die Abweichung der Veränderung der Bruttoverdienste von der Ver­ änderung der Tarifverdienste an. Sie wird als Indikator zur Beobachtung der Entwicklung der übertariflichen Bezahlung herangezogen.336 Steigen die Bruttoverdienste stärker als die Tarifverdienste, entsteht eine positive 333  Schneider,

Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 284. Fehmel, in: Andresen/Bitzegio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en), 2011, S. 267 (275). 335  Vgl. DGB, Mitgliederzahlen, https://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitglie derzahlen (5.8.2021). 336  Vgl. Schnabel, Die übertarifliche Bezahlung 1994, S. 5 f. 334  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten261

18,0 16,0 14,0 12,0 10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 0,0

Veränderung der Bruttoverdienste

Veränderung der Tarifverdienste

10,0 8,0 6,0

4,0 2,0 0,0 -2,0 -4,0 -6,0

Lohndrift

Gebietsstand: früheres Bundesgebiet; die Angaben wurden zwischen 1950 und 1958 zu Stichmonaten erhoben, danach handelt es sich um Jahresdurchschnitte; Angaben zu den Verdiensten beziehen sich auf Arbeiter und Angestellte der „maßgeblichen Lohn- und Gehaltsgruppen“ und der jeweils höchsten Altersstufe; einschl. vermögenswirksame Leistungen, aber ohne Sonderzahlungen und Zuschläge. Quellen: Gesamtmetall, Sonderauswertung; StBA, Preise, Löhne, Wirtschaftsrechnungen, https://www. statistischebibliothek.de/mir/receive/DESerie_mods_00006775 (5.8.2021); StBA, Wirtschaft und Statistik, https://www.statistischebibliothek.de/mir/receive/DESerie_mods_00000012 (5.8.2021); StBA, FS M, Reihen 15, I und 15, II, https://www.statistischebibliothek.de/mir/receive/DESerie_mods_00006848 (5.8.2021), https://www.statistischebibliothek.de/mir/receive/DESerie_mods_00006846 (5.8.2021); eigene Berechnungen.

Grafik 15: Brutto- und Tarifverdienste sowie Lohndrift in der Investitionsgüterindustrie 1951 bis 1970 Angaben in Prozent

Lohndrift. Diese signalisiert, dass in den Betrieben übertarifliche Zulagen gezahlt werden (siehe auch Kapitel 4.4.5). Die positive Lohndrift deutet demnach an, dass die vorhandenen Verteilungsspielräume in den jährlich stattfindenen Tarifverhandlungen in dieser

262

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Zeit nicht ausgeschöpft wurden. In vielen Unternehmen wurden übertarifliche Zulagen gezahlt, die nicht von den Gewerkschaften ausgehandelt waren.337 Dies lag an den zum Teil sehr großen Tarifgebieten mit heterogenen Branchenstrukturen. Auch wenn es schon in den 1950er Jahren Ansätze gab, die Tarifpolitik betriebsnäher zu gestalten, wurden Tarifverhandlungen am Ende gezielt auf zentraler Ebene geführt und der Flächentarifvertrag institutionalisiert. Diese Entwicklungen konnte durch das Konzept der betriebsnahen Tarifpolitik nicht aufgehalten werden.338 Lohnerhöhungen, die allen Arbeitnehmern zugutekamen, oder Lohnerhöhungen, die ohne gewerkschaftliche Vertretung durchgesetzt wurden, stellten für die gewerkschaftliche Mitgliedergewinnung jedoch ein Problem dar. Denn erst ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad sichert die Streikfähigkeit in den Betrieben und ermöglicht es Gewerkschaften, ihren Mitgliedern, bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen in Aussicht zu stellen. Zu Beginn der 1960er Jahre schwächte sich die konjunkturelle Dynamik ab und das BIP wuchs 1961 sowie 1962 nur noch um 4,6 bzw. 4,7 Prozent. Eine weitere Abkühlung, die in die erste Rezession der Nachkriegszeit führte, folgte 1966/67. Im Jahr 1967 ging die Wirtschaftsleistung um 0,3 Prozent zurück. Die konjunkturelle Abkühlung führte nicht nur zu Produktionsrückgängen, die vor allem die besonders produktiven Segmente des Verarbeitenden Gewerbes trafen, sondern auch zu Unterbeschäftigung und letztlich zu steigender Arbeitslosigkeit.339 Die durchschnittliche Arbeitslosenquote erreichte 1967 im Jahresdurchschnitt 2,1 Prozent (siehe Grafik 14). Während dieser Wert aus heutiger Sicht äußerst moderat erscheint, wurde das Phänomen Arbeitslosigkeit erstmalig nach den Jahren des Wirtschaftsaufschwungs in der Bundesrepublik wieder „fühlbar“. Allein zwischen Dezember 1966 und Mai 1967 wuchs die Zahl der Arbeitslosen um 350.000 auf 636.000.340 Im Vergleich zu den Durchschnittswerten der Jahre 1960 bis 1965 hatte sich die Zahl der Arbeitslosen innerhalb weniger Monate verdreieinhalbfacht. Der Sachverständigenrat brachte die 1967 vorherrschende Gemütslage folgendermaßen auf den Punkt: „Die Rezession hat der Arbeitnehmerschaft nach Jahren der Vollbeschäftigung das Arbeitsplatzrisiko wieder bewußt werden lassen und auch die Furcht vor Rationalisierungsarbeitslosigkeit vergrößert.“341 337  Vgl. Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S.  62 ff. 338  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 288. 339  Vgl. Sachverständigenrat, Stabilität im Wachstum, 1967, S. 41. 340  Vgl. Sachverständigenrat, Stabilität im Wachstum, 1967, S. 41. 341  Sachverständigenrat, Stabilität im Wachstum, 1967, S. 63.



4.4  Zeithistorische Debatten263

Die Kombination aus konjunktureller Abkühlung, steigender Arbeits­ losigkeit und zunehmender Inflation führte letztlich zu einem Richtungswechsel in der deutschen Konjunktur- und Wirtschaftspolitik.342 Beyfuss spricht in diesem Zusammenhang von der „Geburtsstunde der Neuen Wirtschaftspolitik“, die durch „die Bildung der großen Koalition und die Bestellung des ersten sozialdemokratischen Bundeswirtschaftsministers“ vorangetrieben wurde.343 Ende 1966 bildeten CDU/CSU und SPD die erste Große Koalition, nachdem zwischen 1949 und 1966 die CDU/CSU in Koalition mit verschiedenen anderen Parteien die Kabinette der Bundesregierung gebildet hatte. Nach Konrad Adenauer (CDU) und Ludwig Erhard (CDU) wurde 1966 mit Georg Kiesinger wiederum ein CDU-Mann Bundeskanzler. Der Posten des Wirtschaftsministers ging jedoch an Karl Schiller (SPD) und mit Georg Leber wurde ein einflussreicher Gewerkschafter zum Verkehrsminister ernannt. Die neue Bundesregierung sah es als ihr vorrangigstes Ziel an, die Konjunktur wiederzubeleben und den Staatshaushalt auszugleichen.344 Zu diesem Zweck stellte sie umfangreiche Konjunkturpakete zur Verfügung, deren Wirkung nicht durch hohe Lohnabschlüsse geschmälert werden sollte. Vor diesem Hintergrund rief Schiller die Konzertierte Aktion ins Leben. 4.4.3.2 Art des Legitimitätsproblems Im Fall der Konzertierten Aktion waren es vor allem externe Faktoren, die die Idee einer tripartistischen Interessenskoordinierung im Rahmen der neuen „nachfrageorientierten Stabilitätspolitik“ der Regierung auf den Plan riefen.345 Die günstigen ökonomischen Rahmenbedingungen hatten nach der Gründung der Bundesrepublik zunächst dazu geführt, dass sich die Tarifautonomie etablieren konnte. Großzügige Verteilungsspielräume machten Kompromisse zwischen den Tarifvertragsparteien möglich. Die wachsenden Ansprüche der Gewerkschaften konnten befriedigt werden. Vor dem Hintergrund der ersten schweren Nachkriegsrezession in Westdeutschland entstand jedoch erstmals ein wirtschaftliches Ungleichgewicht, das sich durch ein im Vergleich zu den 1950er Jahren niedriges Wirtschaftswachstum, Inflation und zunehmende Arbeitslosigkeit auszeichnete. Die Tarifvertragsparteien sollten zur Lösung dieser extern an sie herangetragenen Probleme durch eine moderate Lohnpolitik beitragen, um einerHeilemann, Wirtschaftsdienst 99 (2019), 546 (550 f.). Beiträge des Deutschen Industrieinstituts 7 (1969), 5. 344  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 330. 345  Körner, Wirtschaftsdienst 84 (2004), 798. 342  Vgl.

343  Beyfuss,

264

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

seits den Faktor Arbeit nicht weiter zu verteuern und andererseits der schleichenden Inflation Einhalt zu gewähren. Um die Konjunktur anzukurbeln und die Arbeitslosigkeit zu senken, führte die neu gewählte Bundesregierung eine Politik der Globalsteuerung ein, die die Geld-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik stärker miteinander verzahnen sollte und deren Wirkungen nicht durch eine überteuerte Lohnpolitik konterkariert werden sollten. Die sog. Neue Wirtschaftspolitik orientierte sich dabei verstärkt an keynesianischen Ideen: Öffentliche Einrichtungen sollten in Zeiten schlechter Konjunktur verstärkt als Auftraggeber fungieren und bekamen ein breiteres Instrumentarium zur Konjunktursteuerung an die Hand. Konkret stellte die Bundesregierung 1967 fünf Mil­ liarden Mark zusätzlich in einem Eventualhaushalt bereit, aus dem öffentliche Körperschaften Sonderausgaben finanzieren konnten.346 Außerdem wurde den öffentlichen Körperschaften das Recht eingeräumt, kurzfristig die Steuersätze um 10 Prozent senken oder anheben zu können. Neben der Vergabe öffentlicher Aufträge wurde die Wirtschaft durch weitere Maßnahmenpakete unterstützt. Im Gegenzug sollten in Phasen der Hochkonjunktur gespart und eine Konjunkturrücklage gebildet werden, die einer ausufernden Staatsverschuldung entgegenwirken sollte.347 1967 wurden außerdem eine Vielzahl an konjunkturpolitischen Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft verabschiedet – wie die Möglichkeit zur Beschleunigung von Sonderabschreibungen oder das Kreditfinanzierungsgesetz.348 Diese Konzepte und Maßnahmen konnten sich nur vollends entfalten, wenn sie durch eine angemessene Lohnpolitik der Tarifvertragsparteien begleitet wurden. 4.4.3.3 Art des Staatseingriffs Um ein gemeinsames Vorgehen zu ermöglichen, verabschiedete die Große Koalition 1967 das StabG. Im Zuge dieses Gesetzes wurde auch die Konzertierte Aktion geschaffen. An ihr nahmen Vertreter von Ministerien (Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsministerium), Bundesbank, Bundeskartellamt, Sachverständigenrat, Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften teil. Sie sollten sich mehrmals pro Jahr treffen, um die aktuelle Wirtschaftslage und ihre künftige Entwicklung zu besprechen.349 Das StabG verpflichtet Bund und Länder darauf, bei all „ihren wirtschaftsSchneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 331. Beyfuss, Beiträge des Deutschen Industrieinstituts 7 (1969), 5 (13 f.). 348  Vgl. Beyfuss, Beiträge des Deutschen Industrieinstituts 7 (1969), 5 (13 f.). 349  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 332. 346  Vgl. 347  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten265

und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten“.350 Während das Gesetz keine exakte Definition eines solchen Gleichgewichts beinhaltet, beschreibt es die Ziele der staatlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik mit dem sogenannten magischen Viereck. Danach haben die Gebietskörperschaften durch ihr Handeln „zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum bei[zu]tragen“.351 Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung war bereits einige Jahre zuvor eingerichtet worden, um die volkswirtschaftliche Lage und ihre absehbare Entwicklung abzuschätzen. Während im Rahmen der Konzertierten Aktion die Tarifautonomie offiziell gewahrt werden musste, hoffte Bundeswirtschaftsminister Schiller dennoch auf eine informelle Koordinierung der wirtschaftlichen Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Wolfgang Schroeder beschrieb 2001 den zu bestehenden Drahtseilakt treffend folgendermaßen: „Der eigent­ liche Motor tripartistischer Konzertierungen ist die Regierung. Damit begibt sie sich zugleich auf ein Feld, in dem sie Gefahr läuft, die qua Verfassungsgebot als sakrosankt beschriebene Tarifautonomie zu relativieren.“352 Hauptziel der Konzertierten Aktion war es laut Abelshauser, „auf eine stabilitätsorientierte Lohnpolitik hinzuwirken, ohne die in der Verfassung verbürgte Autonomie der Tarifvertragsparteien anzupassen“.353 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten sich Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften neu gegründet und ein funktionsfähiges Tarifwesen aufgebaut. Die im Grundgesetz verbrieften Rechte auf Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit wurden auf Arbeitgeber- genauso wie auf Gewerkschaftsseite geschätzt und befürwortet. Ein direkter Eingriff in ihre Tarifhoheit über eine Vorgabe lohnpolitischer Orientierungen gestaltete sich somit schwierig. Die Konzertierte Aktion sollte jedoch das Forum für einen tripartistischen Austausch zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes bilden. Körner geht sogar so weit, die Konzertierte Aktion „mit Karl Schiller – als ein Instrument der pädagogischen Disziplinierung“ zu umreißen.354

350  Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft v. 8.6.1967, BGBl. 1967 I, S. 582. 351  Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft v. 8.6.1967, BGBl. 1967 I, S. 582. 352  Schroeder, in: Zimmer/Weßels (Hrsg.), Verbände und Demokratie in Deutschland, 2001, S. 29 (30). 353  Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 2004, S. 376 f. 354  Körner, Wirtschaftsdienst 84 (2004), 798.

266

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00062013.

Abbildung 39: Übergabe Jahresgutachten an Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und Wirtschaftsminister Karl Schiller 1967

Neben der Konzertierten Aktion sieht das StabG die Herausgabe eines Jahreswirtschaftsberichts vor. Der Jahreswirtschaftsbericht besteht aus insgesamt drei Teilen: einer Stellungnahme zum Jahresgutachten des 1963 gegründeten Sachverständigenrats, einer sogenannten Jahresprojektion, in der die Bundesregierung ihre wirtschafts- und finanzpolitischen Ziele für das laufende Jahr erläutert, und laufenden Plänen zur Wirtschafts- und ­Finanzpolitik. Sollte eins der vier im Gesetz verankerten Ziele gefährdet sein, stellt die Bundesregierung außerdem Orientierungsdaten zur Verfügung, die ein „aufeinander abgestimmtes Verhalten (konzertierte Aktion) der Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmensverbände“ ermöglichen sollen.355 Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller wollte die gelieferten Orientierungsdaten dabei als „sanften Hinweis“ verstanden wissen, der den Tarifvertragsparteien „eine staatliche Exekution mit Preis- und Lohnstopps“ ersparen sollte.356 Diese Drohung wurde allerdings nicht offiziell, sondern im internen Kreis ausgesprochen. Tarifabschlüsse sollten 355  Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft v. 8.6.1967, BGBl. 1967 I, S. 582. 356  Zitiert nach Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 2004, S. 378.



4.4  Zeithistorische Debatten267

sich letztlich an der mutmaßlichen Produktivitätsentwicklung orientieren.357 4.4.3.4  Politische Debatte Die ersten Sitzungen im Rahmen der Konzertierten Aktion fanden in der ersten Jahreshälfte 1967 statt. Zu Beginn nahmen etwas über 30 Vertreter aus 9 Organisationen teil.358 Im Verlauf wuchs der Kreis der Teilnehmer jedoch stetig und umfasste am Ende fast 200 Personen. In den ersten Gesprächsrunden stimmten Regierungs-, Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertreter darin überein, dass Investitionen von Unternehmen staatlich gefördert werden sollten. Die Appelle der Gewerkschaftsseite, auch die Massenkaufkraft zu erhöhen und die Nachfrage zu stützen, blieben allerdings ungehört.359 Während der damals aktuelle Jahreswirtschaftsbericht ein Wirtschaftswachstum von 4 Prozent prognostizierte, gingen die Gewerkschaften von einer deutlich besseren Konjunkturentwicklung aus, die zu einer „höchst ungleichen Einkommensverteilung“ führen würde.360 Die Arbeitgeberseite hingegen unterstützte die Idee einer moderaten Lohnpolitik, die auf Kostensenkung ausgerichtet war. Dass ein konzertiertes Vorgehen überhaupt mit Akteuren denkbar war, die immer wieder ihr Recht auf Tarifverhandlungen ohne staatliche Einwirkung betonten und zudem sehr unterschiedliche wirtschaftspolitische Positionen vertraten, erschließt sich erst unter Einbezug ihrer übergeordneten Leitlinien zur Sozial- und Wirtschaftspolitik: In seinem 1963 ver­ abschiedeten Grundsatzprogramm hält der DGB beispielsweise fest, dass eine „am Gesamtwohl orientierte Wirtschaftspolitik […] neben Vollbeschäftigung und stetigem Wirtschaftswachstum auch die Stabilität des allgemeinen Preisniveaus anstreben“ muss und weiterhin, dass die „aktive Lohn- und Gehaltspolitik und andere tarifpolitische Maßnahmen der Gewerkschaften […] auf eine gerechte Verteilung des Sozialproduktes gerichtet [sind]. Diesem Ziel müssen auch alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen dienen.“361 Während sich der Gewerkschaftsbund in Tariffragen die Entscheidungshoheit zwar vorbehielt und auf die Wahrung der TarifautoAbelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 2004, S. 377. Schroeder, in: Zimmer/Weßels (Hrsg.), Verbände und Demokratie in Deutschland, 2001, S. 29 (32). 359  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 332 f. 360  Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 333. 361  Zitiert nach Friedrich-Ebert-Stiftung, Dokumentation: Das Grundsatzprogramm des DGB von 1963 und der Entwurf von 1979 im Vergleich, S. 45, http:// library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/1980/1980-01-Dokumentation.pdf (16.7.2021). 357  Vgl. 358  Vgl.

268

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00048917.

Abbildung 40: Karl Schiller mit Vertretern der Konzertierten Aktion 1967

nomie pochte, stellte er gleichzeitig nicht in Frage, dass gewerkschaftliche Lohnpolitik einen Beitrag zum Gemeinwohl und zu einer gerechten Verteilung der Einkommen leisten muss. Angesichts der ersten schweren Rezession in den Nachkriegsjahren und eines schwindenden Verteilungsspielraums gab der DGB daher bereits 1965 bekannt, „alle Stabilisierungsbemühungen zu unterstützen, wenn Arbeitgeber und Regierung auch ihren Beitrag dazu leisteten“.362 Der damalige IG Metall Vorsitzende Otto Brenner begrüßte den mit dem Regierungswechsel einhergegangenen Umschwung in der Wirtschaftspolitik. Angesichts der schwächelnden Konjunktur, des Rückgangs in der Produktion und der steigenden Arbeitslosenzahlen befürwortete Brenner die Maßnahmen der Bundesregierung, um die Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage zu verbessern. Das Bemühen der Regierung, auch die Tarifvertragsparteien in ihre veränderte Politik einzubeziehen, bezeichnete Brenner

362  Zitiert

nach Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 331 f.



4.4  Zeithistorische Debatten269

damals als „einen erfreulichen politischen Stilwechsel“.363 Für den IG Metall Vorsitzenden bot die Teilnahme an der Konzertierten Aktion vor allem eine Gelegenheit, gewerkschaftspolitische Positionen und Einschätzungen zu Gehör zu bringen und sich über geeignete Maßnahmen zu verständigen. Eine Einmischung in die Tarifpolitik lehnte Brenner ab.364 In puncto Lohnpolitik wird in der März-Ausgabe des IG Metall-Magazins „Der Gewerkschafter“ 1967 ein ähnlicher Schluss gezogen: „In der heutigen Lage steht ohne Zweifel das Bemühen im Vordergrund, geeignete Maßnahmen auch in der Tarifpolitik zu ergreifen, um die Arbeitsplätze und das Einkommen der Arbeitnehmer zu sichern und die Vollbeschäftigung und das Wirtschaftswachstum wieder herzustellen […] Aber es ist notwendig, auch unter den veränderten Verhältnissen die lohnpolitische Handlungsfreiheit der Gewerkschaften im Interesse der Arbeitnehmer zu erhal­ ten.“365 Die Einführung eines Lohnstopps oder verpflichtender Lohnleit­ linien war für Brenner und die IG Metall undenkbar. Die Konzertierte Aktion bildete in ihrer Sicht lediglich ein geeignetes Forum für einen Austausch über die wirtschaftliche Lage und zur Erarbeitung gemeinsamer Zielvorstellungen. Versuche, den Gewerkschaften ihre Lohn- und Tarif­ politik vorzuschreiben und die Tarifautonomie einzuschränken, würden daher „auf entschiedenen Widerstand stoßen“.366 Diese Einschätzungen sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es innerhalb der Gewerkschaften auch kritische Stimmen zur Mitwirkung an der Konzertierten Aktion gab. Strittig war vor allem der Punkt, inwieweit die Regierungspolitik überhaupt Spielraum für einen eigenständigen tarifpolitischen Kurs ließ. Für Rudolf Henschel, 1969 Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik beim DGB-Bundesvorstand, hob das Verfahren der Bundesregierung und die Konzertierte Aktion die tarifpolitische Eigenständigkeit der Gewerkschaften auf. Der Jahreswirtschaftsplan gab zentrale Weichenstellungen inklusive konkreter Vorgaben für Lohnerhöhungen vor. Henschel vertrat die Ansicht, dass die Gewerkschaften auf diesem Weg vor vollendete Tatsachen gestellt wurden: „Die Regierung hat jeweils im Dezember ihre Datenvorstellung genannt. Sie hat die Meinung der Mitglieder der Konzertierten Aktion schriftlich angefordert, aber in keinem Fall da­ raus irgendwelche Konsequenzen gezogen. Die Regierung ging stillschweigend von der Voraussetzung aus, dass eine Lohnentwicklung im Rahmen ihrer Orientierungslinien eine Vorbedingung für ein angemessenes Wirt363  Brenner,

Der Gewerkschafter 15 (1967), 122. Brenner, Der Gewerkschafter 15 (1967), 122 (122 f.). 365  Friedrichs, Der Gewerkschafter 15 (1967), 89. 366  Friedrichs, Der Gewerkschafter 15 (1967), 89. 364  Vgl.

270

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00117560.

Abbildung 41: Otto Brenner

schaftswachstum bei Preisstabilität, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht darstellt.“367 Für Henschel verbot sich eine Teilnahme an der Konzertierten Aktion und eine lohnpolitische Orientierung vor allem, da unter den damaligen Rahmenbedingungen die gesamte wirtschafts- und finanzpolitische Rahmenplanung der Regierung akzeptiert werden musste. Die Gewerkschaften wurden weder an der Ausarbeitung der Jahrespläne beteiligt, noch konnten sie im Nachgang die Planungen beeinflussen – beispielsweise indem eine ernstzunehmende Diskussion über die Interpretation der Datenlage geführt wurde. Henschel war der Ansicht, dass den regierungsamtlichen Plänen die demokratische Legitimation durch den mangelnden Einbezug des deutschen Bundestags und der betroffenen sozialen Gruppen fehlte. Den Gewerkschaften blieb aufgrund der engen Vorgaben letztlich kein Spielraum für eine abgestufte Tarifpolitik – auch wenn formal juristisch die Tarifautonomie gewahrt wurde. Die Gewerkschaften degradierten sich so zu „Erfüllungsgehilfen der Regie­ rung“.368 367  Henschel, 368  Henschel,

Gewerkschaftliche Monatshefte 20 (1969), 215 (217). Gewerkschaftliche Monatshefte 20 (1969), 215 (217).



4.4  Zeithistorische Debatten271

Brenner war sich derartiger Kritik bewusst und hob hervor, dass „die Gewerkschaften eine solche Entwicklung auf keinen Fall mitmachen würden“.369 An anderer Stelle verteidigte er die Mitwirkung der IG Metall folgendermaßen: „Die „konzertierte Aktion“ […] bedeutet nichts anderes, als dass die Gewerkschaften ihren Anteil an der notwendigen Wiederbelebung der Wirtschaft nur in freier Vereinbarung und nur in dem Maße zu tragen bereit sind, wie auch die anderen gesellschaftlichen Gruppen, in erster Linie die Arbeitgeber, ihre praktische Bereitschaft zeigen, den berechtigten Forderungen und Wünschen der Arbeitnehmer und der sozial schwachen Schichten Rechnung zu tragen.“370 Brenner sah die Gewerkschaften ebenso wie die Arbeitgeber in der Verantwortung ihren Beitrag zur Überwindung der Rezession zu leisten. Eine derartige Beteiligung konnte nur auf den Grundprinzipien der Freiwilligkeit und der Gegenseitigkeit erfolgen. Auf Arbeitgeberseite drifteten die Meinungen in puncto Konzertierte Aktion weniger stark auseinander. Der 1967 amtierende Hauptgeschäftsführer der BDA, Wolfgang Eichler, schrieb seinerzeit, dass die Arbeitgeberverbände grundsätzlich bereit waren, an der Konzertierten Aktion teilzunehmen. Ebenso würden sie die von der Regierung angestrebte antizyklische Fiskalpolitik und die daraus resultierende Lohnpolitik unterstützen, um der Rezession Einhalt zu gebieten.371 Zu den vorgelegten Orientierungsdaten hält Eichler jedoch fest: „Orientierungsdaten können immer nur ein allgemeines gesamtwirtschaftliches Richtmaß für die Tarifvertragsparteien sein, das aber wesentlich zur Versachlichung der Lohnauseinandersetzung beitragen kann“.372 Eine Einmischung in die Tarifhoheit lehnt Eichler genauso wie die Gewerkschaftsseite ab, denn die Orientierungsdaten können aus seiner Sicht nur „den volkswirtschaftlichen vertretbaren Spielraum“ für Lohnsteigerungen anzeigen.373 Einzig in Tarifverhandlungen können diese „allgemeinen Orientierungsdaten“ auf die spezifische Lage in einer Branche angepasst werden.374 In den Tarifverhandlungen 1967 und 1968 drängte Herbert van Hüllen, damaliger Präsident von Gesamtmetall, beispielsweise auf einen konjunkturell stabilisierenden Abschluss in der Metall- und Elektro-Industrie.375 369  Brenner,

Der Gewerkschafter 15 (1967), 282 (283). Der Gewerkschafter 15 (1967), 122 (123). 371  Vgl. Eichler, Der Arbeitgeber 19 (1967), 51. 372  Eichler, Der Arbeitgeber 19 (1967), 51. 373  Eichler, Der Arbeitgeber 19 (1967), 51. 374  Eichler, Der Arbeitgeber 19 (1967), 51. 375  Mallmann, Perspektiven aus Tradition, 2005, S. 369. 370  Brenner,

272

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Gesamtmetall.

Abbildung 42: Herbert van Hüllen

Es gab jedoch auch andere Stimmen, die in einem konzertierten Vorgehen eine Gefahr der Verstaatlichung der Privatwirtschaft sahen. Beispielsweise äußerte der über sein Leben hinweg in verschiedenen Verbandsfunktionen tätige Unternehmer Rolf Rodenstock auf der öffentlichen Jahrestagung des Deutschen Industrieinstituts, dessen Vorsitzender er 1969 war, Zweifel an der grundsätzlichen Funktionsfähigkeit der bis dato vorgelegten Zielprojektionen, die seiner Ansicht nach keine „hinreichend realitätsnahe[n] Vorausschätzungen“ waren.376 Solcher würde es aber bedürfen, um eine „freiwillige Verhaltenskoordinierung der autonomen Wirtschaftsverbände und der Gebietskörperschaften im Rahmen der Konzertierten Aktion“ zu erlauben“.377 Die unter Schiller angestrebte Globalsteuerung veranlasste Rodenstock zudem zu folgender Einschätzung: „Wir müssen jedenfalls wachsam sein, um zu verhindern, dass aus dem prinzipiell wünschenswerten Streben nach höherer Rationalität der Wirtschafts- und Steuerungspoli-

376  Rodenstock, 377  Rodenstock,

Der Arbeitgeber 21 (1969), 1 (3). Der Arbeitgeber 21 (1969), 1 (3).



4.4  Zeithistorische Debatten273

Quelle: akg-images, Bildnummer AKG2762357.

Abbildung 43: Rolf Rodenstock

tik, aus der ‚Zweiten Stufe der sozialen Marktwirtschaft‘ nicht eine erste Stufe der Planwirtschaft wird.“378 Rodenstocks Befürchtungen sollten am Ende nicht eintreten, denn bereits 1968 erholte sich die Konjunktur wieder und die Arbeitslosigkeit sank. Da die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen 1967 und 1968 durchaus Mäßigung gezeigt hatten, stagnierten die Reallöhne der Beschäftigten. Angesichts der niedrigen Lohnabschlüsse und stark steigender Unternehmensgewinne griffen die Beschäftigten zu wilden oder auch spontanen Streiks, die ohne gewerkschaftliche Organisation zustande kamen.379 Auf diese Weise setzten sie in ihren Unternehmen noch vor dem Auslaufen der gültigen Tarifverträge und der damit einhergehenden Friedenspflicht Lohnerhöhungen durch. Beispielhaft sei hier auf die Streiks im September 1969 verwiesen, die ihren Ausgangspunkt in den Hüttenwerken der Hoesch AG Dortmund am 2. September 1969 nahmen.380 Nach der beschlossenen 378  Rodenstock,

Der Arbeitgeber 21 (1969), 1 (4). Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 350. 380  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 350. 379  Vgl.

274

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Fusion der Dortmund-Hörder-Hütten-Union mit der Hoesch AG Dortmund zum 1. Oktober 1969 wollte das Unternehmen Lohn- und Gehaltsanpassungen vornehmen. Die Arbeiter in den Hoesch AG Hüttenwerken wollten eine sofortige Lohnerhöhung. Daher traten sie am 2. September in den Ausstand und konnten innerhalb nur eines Tags 30 Pfenning mehr Lohn durchsetzen. Auch in anderen Branchen (Metallindustrie, Kohle, Textil­ industrie, Öffentlicher Dienst) setzten Beschäftigte innerhalb kürzester Zeit noch vor dem Auslaufen der gültigen Tarifverträge Lohnerhöhungen durch, indem sie spontan streikten. Schneider berichtet, dass allein zu Beginn des Septembers 1969 insgesamt 230.000 Streiktage in der Eisen- und Stahl­ industrie gezählt wurden.381 In all diesen Fällen konnten die Streikenden in sehr kurzer Zeit Lohnerhöhungen verhandeln, die sie noch vor dem Auslaufen der bestehenden Tarifverträge bekamen.382 Die Situation gestaltete sich für die Gewerkschaften entsprechend schwierig. Letztlich gaben sie in den Gesprächsrunden der Konzertierten Aktion keine weiteren Lohn­ zusagen. Der Spiegel berichtete am 22. März 1970: „Trotz vierstündiger Seelenmassage durch Ihren sozialdemokratischen Parteifreund und Öko­ nomie-Professor Schiller waren DGB-Chef Heinz Oskar Vetter sowie ­IG-Metall-Boss Otto Brenner und seine Kollegen nicht bereit, eine Wohlverhaltensklausel zu unterschreiben, die sie auf lohnpolitische Zurückhaltung fest­gelegt hätte“.383 Nach einer zweiten Welle an wilden Streiks zwischen 1971 und 1973 gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften immer schwieriger, da die Differenzen über den lohnpolitischen Kurs kaum noch zu überbrücken waren. Auf Gewerkschaftsseite setzte sich in den 1970er Jahren die Idee durch, den lohnpolitischen Verteilungsspielraum besser auszunutzen und hohe Tariflohnsteigerungen durchzusetzen.384 Diese Position stand im Gegensatz zu dem von den Arbeitgebern geforderten Kurs einer moderaten Lohnpolitik. Eine im Rahmen der Konzertierten Aktion koordinierte Lohnpolitik ließ sich vor diesem Hintergrund nur schwerlich erzielen. Nach einer Verfassungsklage einiger Arbeitgeberverbände gegen das Mitbestimmungsgesetz von 1976 zog sich der DGB 1977 zunächst vorläufig und 1978 dann endgültig aus der Konzertierten Aktion zurück. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 350. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 350. 383  Der Spiegel, Mit Gott – Konzertierte Aktion, v. 22.3.1970, https://www.spiegel. de/politik/mit-gott-a-5bd509ac-0002-0001-0000-000045225734 (16.7.2021). 384  Vgl. Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S. 67. 381  Vgl. 382  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten275

4.4.4  Novellierung des § 116 AFG (1984) 4.4.4.1 Hintergrund Zu Beginn der 1980er Jahre befand sich die Bundesrepublik nach zwei Ölpreisschocks (1973/74 und 1979/80) in einer Rezession. Das Wachstum ging deutlich zurück, das preisbereinigte BIP lag 1982 sogar 0,4 Prozent unter dem Vorjahresniveau (siehe Grafik 16). Gleichzeitig stieg die Infla­ tionsrate stark an und betrug im gleichen Jahr 6,9 Prozent.385 Diese negative wirtschaftliche Entwicklung schlug sich auch in hohen Arbeitslosenzahlen nieder. So überstieg die Arbeitslosenquote 1983 die 9-ProzentMarke und die Zahl an Arbeitslosen erstmals die Marke von 2 Millionen Arbeitslosen (siehe Grafik 18).386 Während sich die anderen Wirtschafts­ indikatoren im Laufe der 1980er Jahre wieder erholten, blieb das Problem einer hohen Arbeitslosigkeit bestehen.387 Im Jahr 1982 kam es zudem zu einem politischen Machtwechsel. Auf die sozialliberale Regierung folgte eine christlich-liberale Koalition. Damit wurde die keynesianisch geprägte Wirtschaftspolitik durch eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik abgelöst.388 Neben Rezession und hoher Arbeitslosigkeit wurde diese Zeit zudem durch intensive Arbeitskämpfe geprägt. Bereits in den 1970er Jahren war es zu neuen Höchstständen bei den durch Streiks und Aussperrungen ausgefallenen Arbeitstagen gekommen. Sowohl 1971 als auch 1978 stieg die Anzahl an verlorenen Arbeitstagen durch Arbeitskämpfe auf über 4 Mil­ lionen (siehe Grafik 17). 1971 waren größtenteils Arbeitskämpfe in der Metall­industrie für die zahlreichen Ausfalltage verantwortlich. Doch auch Arbeitskämpfe während der Chemietarifrunde hatten ihren Anteil an der hohen Zahl verlorener Arbeitstage.389 Im Jahr 1978 trieben erneut Arbeitskämpfe in der Metallindustrie, aber auch erhebliche Auseinandersetzungen

385  Vgl. Gabriel, in: Falter (Hrsg.), Wahlen und politische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland: neuere Entwicklungen der Forschung, 1989, S. 196 (211). 386  Vgl. BA, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf, https://statistik.arbeitsagentur.de/ SiteGlobals/Forms/Suche/Einzelheftsuche_Formular.html?nn=1610104&topic_f=laen der-heft (23.7.2021). 387  Vgl. Gabriel, in: Falter (Hrsg.), Wahlen und politische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland: neuere Entwicklungen der Forschung, 1989, S. 196 (211). 388  Vgl. Bispinck, in: Bispinck/Schulten (Hrsg.), Zukunft der Tarifautonomie. 60 Jahre Tarifvertragsgesetz: Bilanz und Ausblick, 2010, S. 20 (26). 389  Vgl. Müller-Jentsch, Gewerkschaftliche Monatshefte 23 (1972), 324 (326 ff.).

276

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

6 5 4 3

4,3

4,2 3,3

3,1

2

1

5,3

4,9

4,8

3,7

3

2,8

0,9

2,3

2,3

1,6

1,4

3,9

1,4

0,5

0 -1

-0,9

-0,4

-2

Preisbereinigt; Gebietsstand: früheres Bundesgebiet. Quelle: StBA, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Bruttoinlandsprodukt, Bruttonationaleinkommen, Volkseinkommen, Lange Reihen ab 1925, https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/VolkswirtschaftlicheGesamtrechnungen-Inlandsprodukt/Tabellen/inlandsprodukt-volkseinkommen1925-pdf.pdf?__blob=publication File (23.7.2021).

Grafik 16: Bruttoinlandsprodukt 1971 bis 1990 Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent

in der Eisen- und Stahlindustrie sowie der Druckindustrie die Anzahl der ausgefallenen Arbeitstage in die Höhe.390 Während zu Beginn der 1970er Jahre eine auf hohe Tarifanhebungen ausgerichtete Lohnpolitik die Strategie der Gewerkschaften dominierte, führten die Wirtschaftskrisen der Folgejahre auf Gewerkschaftsseite zu anderen Zielsetzungen mit neuen thematischen Schwerpunkten. So beherrschten gegen Ende des Jahrzehnts Themen wie die Sicherung von Arbeitsplätzen und Einkommen sowie ein Rationalisierungsschutz die gewerkschaftliche Agenda.391 Um der stetig steigenden Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, gewann in diesen Jahren zudem die Forderung nach einer Verkürzung der kollektiven Wochenarbeitszeit immer mehr an Bedeutung. Zum ersten Mal versuchte die IG Metall in den Jahren 1978/79 in der Eisen- und Stahlindustrie eine 35-Stunden-Woche durch einen Arbeits­ kampf durchzusetzen. Auch wenn dieser erste Versuch noch scheiterte, folgten weitere Arbeitskämpfe um eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Zu den massivsten Tarifauseinandersetzungen seit Bestehen der Bundes­ 390  Vgl. Bispinck, in: Bispinck/Schulten (Hrsg.), Zukunft der Tarifautonomie. 60 Jahre Tarifvertragsgesetz: Bilanz und Ausblick, 2010, S. 20 (26). 391  Vgl. Bispinck, in: Bispinck/Schulten (Hrsg.), Zukunft der Tarifautonomie. 60 Jahre Tarifvertragsgesetz: Bilanz und Ausblick, 2010, S. 20 (25 f.).



4.4  Zeithistorische Debatten277 7.000.000 6.000.000 5.000.000 4.000.000 3.000.000 2.000.000 1.000.000 0

Gebietsstand: früheres Bundesgebiet; statistisch ausgewiesen werden nur Arbeitsstreitigkeiten, an denen im betroffenen Betrieb mindestens 10 Arbeitnehmer beteiligt (betroffen) waren und die mindestens einen Tag dauerten oder durch die ein Verlust von mehr als 100 Arbeitstagen entstanden ist. Quellen: StBA, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Fachserie 1, Reihe 4.3, Streiks und Aussperrungen, 1982, https://www.statistischebibliothek.de/mir/receive/DEHeft_mods_00132765 (5.8.2021); StBA, Statistik des Auslandes, Reihe 1.3, Streiks und Aussperrungen im Ausland, 1983, https://www.statistischebibliothek.de/ mir/receive/DEHeft_mods_00072366 (5.8.2021); BA, Streikstatistik, https://statistik.arbeitsagentur.de/Site Globals/Forms/Suche/Einzelheftsuche_Formular.html?nn=1523096&topic_f=streik (30.7.2021).

Grafik 17: Ausfalltage durch Streiks und Aussperrungen 1967 bis 1989 Anzahl der verlorenen Arbeitstage

republik Deutschland kam es schließlich 1984, als die Gewerkschaften in der Druck- sowie der Metall- und Elektro-Industrie für die Einführung einer 35-Stunden-Woche kämpften. Am Ende dieses historischen Arbeitskampfes stand eine Schlichtung, die eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 38,5 Stunden mit vollem Lohnausgleich vorsah. Als Kompensation konnte die Arbeitgeberseite eine Flexibilisierung der tariflichen Arbeitszeitregelungen in Form von Ausgleichszeiträumen und Arbeitszeitkorridoren durch­setzen.392 Diese Zeit intensiver Arbeitskampfmaßnahmen wurde durch eine Reihe von Debatten um die Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts begleitet. Im Rahmen dieser Debatten kam es bereits vor dem Rekord-Streikjahr 1984 zu zwei kontrovers diskutierten Urteilen des BAG. So wurden mit Entscheidungen der Jahre 1971 und 1980 Aussperrungen als Kampfmittel der Arbeitgeberseite zwar grundsätzlich als zulässig anerkannt, um das Verhandlungsgleichgewicht der Tarifvertragsparteien zu wahren. Gleichzeitig wurden jedoch die Anforderungen für als zulässig angesehene Aussperrun392  Vgl. Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S.  68 f.

278

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

gen deutlich erhöht. Insbesondere wurden Aussperrungen dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit unterstellt und ein spezifisches Quotenschema vorgegeben. Dieses definierte auf Grundlage der Anzahl an streikenden Beschäftigten den akzeptablen Umfang für Aussperrungen („Aussperrungs-Arith­ metik“).393 Zudem wurde in Entscheidungen aus den Jahren 1976, 1984 und 1985 die Zulässigkeit von kurzen Warnstreiks auch während der Verhandlungsphase anerkannt. In den Augen des BAG standen Warnstreiks und damit auch die kurzen, teilweise wiederholten Streiks der IG Metall im Zuge der „Neuen Beweglichkeit“ nicht im Widerspruch zum Ultimaratio-Prinzip, dem Erzwingungsstreiks unterliegen.394 Erst in einer späteren Entscheidung vom 21. Juni 1988 revidierte das Gericht seine bisherige Rechtsprechung und unterstellte auch Warnstreiks dem Ultima-ratio-Prinzip.395 Vor dem Hintergrund dieser höchstrichterlichen Rechtsprechungen entfachte schließlich anlässlich des massiven Arbeitskampfes um die 35-Stunden-Woche im Jahr 1984 eine Debatte um die Neutralität des Staates bei Tarifauseinandersetzungen. Konkret ging es um die Rolle der Bundesanstalt für Arbeit bei Streiks und Aussperrungen. Nach § 116 Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) durfte (und darf) die Gewährung von Arbeits­ losengeld Arbeitskämpfe nicht beeinflussen.396 Daher war es unumstritten, dass Beschäftigte in bestreikten Betrieben als unmittelbar Betroffene keinerlei Ansprüche auf Lohnersatzleistungen der Arbeitslosenversicherung haben. Schwieriger stellte sich die Situation bei nicht unmittelbar (also nur mittelbar) von Streiks betroffenen Arbeitnehmern innerhalb und außerhalb eines bestreikten Tarifgebiets dar.397 Diesbezüglich war die Gesetzeslage in § 116 Abs. 3 AFG recht uneindeutig, sodass es 1973 zu einer Konkretisierung durch die sogenannte „Neutralitäts-Anordnung“ kam. Danach gestaltete sich die Rechtslage wie folgt: Innerhalb eines Kampfgebiets haben nicht unmittelbar am Arbeitskampf beteiligte Beschäftigte keinen Anspruch auf Lohnersatzleistungen, wenn ihr Betrieb zum fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrags zählt. Nicht unmittelbar beteiligte Arbeitnehmer außerhalb des umkämpften Tarifgebiets bekommen dann keine Unterstützung, wenn der Betrieb dem fachlichen Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrags angehört und (für die tariflichen Arbeitsbedingungen des mittelbar betroffenen Arbeitnehmers) die „gleichen Forderungen“ Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, S. 783 f., 793 f. Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, S. 566 ff. 395  Vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, S. 572. 396  Arbeitsförderungsgesetz v. 25.6.1969, BGBl. 1969 I, S. 602. 397  Vgl. Rösner, Wirtschaftsdienst 65 (1985), 552 (552 f.). 393  Vgl. 394  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten279

Quelle: Bundesgesetzblatt.

Abbildung 44: Abdruck des § 116 AFG (Fassung von 1969)

280

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

(wie für die streikenden Beschäftigten) erhoben und durchgesetzt werden sollen.398 Strittig wurde im Verlauf des Metall-Arbeitskampfs 1984 die Regelung für nicht unmittelbar betroffene Beschäftigte außerhalb des umkämpften Tarifgebiets. Dort führte die Formulierung „gleicher Forderungen“ zu kontroversen Debatten: Es stand die Frage im Raum, ob die IG Metall in allen Tarifregionen genau gleiche Forderungen aufgestellt hatte oder nicht. Zunächst ordnete der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, ­ Heinrich Franke, an, dass die Ansprüche der nicht unmittelbar vom Streik betroffenen Beschäftigten auf Lohnersatzzahlungen ruhten, da die IG Metall die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche für alle Beschäftigten des ­fach­lichen Geltungsbereichs anstrebte. Diese Anordnung („Franke-Erlass“) wurde jedoch kurz darauf von den Sozialgerichten aufgehoben, sodass die Bundesanstalt für Arbeit an etwa 300.000 mittelbar betroffene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Zahlungen leisten musste.399 4.4.4.2  Politische Debatte In der Folge wurden sowohl Forderungen nach einer Präzisierung des § 116 AFG laut, als auch Stimmen, die die aktuelle Auslegung und Rechtslage befürworteten und keine Neuregelung wünschten. Eine Anpassung strebte insbesondere die Arbeitgeberseite an. Die Arbeitgeber werteten Zahlungen während der Arbeitskampfmaßnahmen des Frühjahrs 1984 als Eingriff in die Tarifverhandlungen und somit als eine Verletzung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit. Eine Neutralität konnte es in ihren Augen nur durch eine Nicht-Gewährung von Leistungen geben, da die Bundesanstalt „im Arbeitskampf keine fördernde, sondern eine streng passive Neutralität zu wahren“ habe.400 Gemeinsam mit den Entscheidungen des BAG zu Warnstreiks und Aussperrungen sahen die Arbeitgeber zudem das Machtgleichgewicht und damit die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nachdrücklich gefährdet. Jede Seite müsse die Fernwirkungen von Arbeitskämpfen selbst tragen. Schließlich erhielten auch die Unternehmen keine staatlichen Subventionen für streikbedingte Produktionsausfälle, die in nicht unmittelbar bestreikten Betrieben verursacht würden. Daher dürften auch Versicherungsmittel der Bundesanstalt für Arbeit nicht zur Subventionierung von Streiks missbraucht werden.401 Des Weiteren warnte die Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, S. 474 f. Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, S. 475. 400  Wisskirchen, Der Arbeitgeber 38 (1986), 46 (47). 401  Vgl. Mager, Der Arbeitgeber 37 (1985), 1012 (1012 f.). 398  Vgl. 399  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten281

Quelle: Süddeutsche Zeitung Photo/Werek.

Abbildung 45: Heinrich Franke

Arbeitgeberseite davor, dass durch Gewährung der Leistungen an nicht unmittelbar Betroffene das Streikrisiko der Gewerkschaften reduziert werde und somit Streiktaktiken, die auf Fernwirkungen abzielten (MiniMax-Taktiken oder Spezialistenstreiks), trotz enormer Auswirkungen für das Gemeinwohl weiter an Attraktivität gewännen.402 Vor dem Hintergrund der Auslegung des § 116 AFG im Arbeitskampf 1984 und der vorausgegangenen Entscheidungen des BAG kam Otto Esser, damaliger BDA-Präsident, zu dem Fazit: „Die Summe der arbeitskampfrechtlichen Entscheidungen zwingt zu der Feststellung, daß die Parität im Arbeitskampf nicht mehr gewahrt ist.“403 Als Ergebnis dieser Entwicklung sowie der ausufernden Streiks 1984 sah die BDA die zukünftige Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie in Gefahr. In ihrem Geschäftsbericht aus dem Jahr 1985 ist zu lesen: „Die zentrale Frage nach der zukünftigen Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie ist angesichts des Umfangs und des Ziels dieses Arbeitskampfes, wie er von Gewerkschaftsseite geführt wurde, 402  Vgl.

Kirchner, Der Arbeitgeber 37 (1985), 646. Der Arbeitgeber 37 (1985), 40.

403  Esser,

282

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

durchaus berechtigt.“404 In der Zeitschrift „Der Arbeitgeber“ findet sich ein Jahr später eine konkrete Handlungsaufforderung an den Staat: „Die Bundesregierung und der Gesetzgeber stehen also unter Regelungszwang. Das wird und soll die Gewerkschaften nur in dem Maße tangieren, als es sie um (finanzielle) Kampfvorteile einer raffinierten Streiktaktik (nicht um ihre Streikfähigkeit!) bringt, die die für die Tarifautonomie unverzichtbare Kampfparität aus den Angeln heben kann.“405 Doch nicht nur die Arbeitgeberseite sah grundlegende Pfeiler der Tarifautonomie wie die staatliche Neutralität und die Parität der Sozialpartner in Gefahr. Auch die Gewerkschaftsseite stellte die Funktionsfähigkeit und den Fortbestand der Tarifautonomie infrage, falls der § 116 AFG angepasst werden sollte und in der Folge die Lohnersatzzahlungen an mittelbar von Streiks betroffene Beschäftigte teilweise entfielen. Sie bezeichnete ein mögliches Eingreifen des Gesetzgebers als „maximale Beschränkung der Streikfreiheit“ und als „Verbändegesetzgebung“.406 „Durch staatliche Gesetzgebung soll das erreicht werden, was in den Arbeitskämpfen 1984 der Unternehmerseite nicht gelang: die langfristige Schwächung der Gewerkschaften und die allmähliche Beseitigung kollektiver Regelungen durch individuelle Vereinbarungen.“407 In seinem Memorandum zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung schrieb der DGB, dass durch eine Gesetzesänderung „die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und der soziale Frieden in hohem Maße gefährdet [wären]“.408 In seiner Argumentation gegen eine Änderung des § 116 AFG folgte der DGB im Wesentlichen folgenden Argumenten: Eine Nichtgewährung von Lohnersatzzahlungen widerspräche ebenfalls der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit, da es dadurch zu einer Verschiebung des Machtgleichgewichts zum Nachteil der Gewerkschaften käme. Erst ein solcher Eingriff riefe ein Machtungleichgewicht zwischen den Tarifvertragsparteien hervor. Denn bisher zeigten die Tarifabschlüsse, die stets einen Kompromiss beider Seiten darstellten, dass ein Mächtegleichgewicht gegeben sei. Zudem verkenne die Diskussion, dass die Gewerkschaftskassen durch die Zahlungen der Bundesanstalt für Arbeit keineswegs entlastet würden, da an betroffene Beschäftigte außerhalb eines umkämpften Tarifgebietes ohnehin nie Gewerkschaftsgelder fließen. Stattdessen handele es sich bei den Zahlungen der Bundesanstalt für Arbeit um erworbene Versicherungsleistun404  BDA,

Der Arbeitgeber 37 (1985), 12 (13). Der Arbeitgeber 38 (1986), 40. 406  Bobke, WSI-Mitteilungen 39 (1986), 227 (228). 407  Bobke, WSI-Mitteilungen 39 (1986), 227 (236). 408  DGB, Gewerkschaftliche Monatshefte 37 (1986), 198 (203). 405  Donay,



4.4  Zeithistorische Debatten283

Quelle: akg-images, Bildnummer AKG2707945.

Abbildung 46: Otto Esser

gen der Beschäftigten, die diese im Streikfall und insbesondere bei Aussperrungen vor dem „Gang zum Sozialamt“ bewahre.409 Des Weiteren wiesen die Gewerkschaften den Vorwurf zurück, dass durch eine neue Streiktaktik bewusst große Fernwirkungen erzeugt würden. Vielmehr seien es die neuen Lagerhaltungsstrategien der Unternehmen, die diese schlecht auf bevorstehende Arbeitsausfälle vorbereiteten. Schließlich sei die Streikfähigkeit langfristig bedroht, da sich all jene Arbeitnehmer von den Gewerkschaften distanzieren würden, die im Streikfall keinerlei Unterstützungsleistungen erhielten.410 4.4.4.3 Art des Legitimitätsproblems In der Debatte um die Novellierung des § 116 AFG wurden sowohl interne als auch externe Legitimitätsprobleme adressiert. Zunächst knüpfte die Debatte am interorganisationalen Faktor des Mächtegleichgewichts an. 409  DGB, 410  Vgl.

Gewerkschaftliche Monatshefte 37 (1986), 198. DGB, Gewerkschaftliche Monatshefte 37 (1986), 198 (198 ff., 205 ff.).

284

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Wie oben beschrieben, sahen Befürworter einer Änderung ein problematisches Ungleichgewicht zugunsten der Gewerkschaften. In ihren Augen konnten die Gewerkschaften durch einzelne Schwerpunktstreiks weitgehende Produktionsstörungen hervorrufen und die Arbeitgeberseite somit massiv unter Druck setzen, während ein möglicherweise regulierend wirkender Binnendruck der kalt ausgesperrten Beschäftigten durch die Lohnersatzleistungen der Bundesanstalt für Arbeit abgeschwächt wurde.411 Dieses interne Mächteungleichgewicht der Tarifvertragsparteien störte die Funktionsweise der Tarifautonomie jedoch nicht nur im Binnenverhältnis der Tarifpartner. Es rief zudem negative externe Effekte wie ausufernde Streiktätigkeiten und eine übermäßige Belastung der Arbeitslosenversicherung hervor. Die Forderungen nach einer Novellierung des § 116 AFG gründeten somit auf einem internen Legitimitätsproblem bezüglich einer fehlenden Parität im Arbeitskampf sowie einem externen Legitimitätsproblem hinsichtlich einer Gefährdung des Gemeinwohls durch massive Arbeitskampfmaßnahmen. Wichtig für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sind beide Aspekte, sowohl die interne Parität als auch die Beachtung des Gemeinwohls. Auch die Gegner einer Novellierung setzten in ihrer Argumentation am internen Faktor des Mächtegleichgewichts an. Ihrer Meinung nach würde es jedoch erst zu einem Ungleichgewicht zuungunsten der Gewerkschaften kommen, wenn § 116 AFG geändert würde. Die massiven Streikfolgen sahen sie nicht als Folge eines Ungleichgewichts im Tarifsystem und somit auch nicht als externes Legitimitätsproblem für die Tarifautonomie an, sondern als Folge einer neuen Lagerhaltungsstrategie der Unternehmen.412 4.4.4.4 Art des Staatseingriffs Die seit 1982 amtierende christlich-liberale Koalition entschied sich in dieser Debatte letztlich für eine Novellierung des § 116 AFG. So werden seitdem außerhalb des umkämpften Tarifgebietes keine Lohnersatzleistungen gezahlt, wenn für den Tarifvertrag, „dem der Betrieb zuzuordnen ist, eine Forderung erhoben worden ist, die einer Hauptforderung des Arbeitskampfes nach Art und Umfang gleich ist, ohne mit ihr übereinstimmen zu müssen“ (§ 116 Abs. 3 AFG) .413 Nach Ansicht des Gesetzgebers war die frühere Fassung des § 116 AFG nicht streikneutral, da sie die Gefahr barg, Mager, Der Arbeitgeber 37 (1985), 1012 (1012 f.). DGB, Gewerkschaftliche Monatshefte 37 (1986), 198 (198 ff., 205 ff.). 413  Gesetz zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen v. 15.5.1986, BGBl. 1986 I, S. 740. 411  Vgl.

412  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten285

Schwerpunktstreiks zu fördern und somit das Mächtegleichgewicht zugunsten der Gewerkschaften zu verschieben. Da die Unparteilichkeit des Staats und dessen Körperschaften jedoch als unabdingbar für die Funk­ tionsfähigkeit der Tarifautonomie angesehen wurde, sollte die Novellierung diese Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit in Arbeitskämpfen sichern.414 1995 wurde die Rechtmäßigkeit der Änderung des § 116 AFG durch das BVerfG bestätigt. In seinem Urteil verwies das Gericht nochmals darauf, dass „der Gesetzgeber in seiner politischen Verantwortung für die Wahrung des Gemeinwohls“415 solche Anpassungen vornehmen darf, wenn seiner Einschätzung nach die Parität der Tarifvertragsparteien und damit die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gestört sind.416

4.4.5  Bündnisse für Arbeit (1995–2003) 4.4.5.1 Hintergrund Infolge der beiden Ölpreiskrisen in den 1970er Jahren kam es auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu einer strukturellen Verfestigung der Arbeits­ losigkeit. Sichtbar wird dies an einer im Zeitverlauf steigenden Sockel­ arbeitslosigkeit. Nach der größten Nachkriegsrezession von 1966/67 konnte sich der Arbeitsmarkt im Zuge des folgenden Wirtschaftsaufschwungs wieder stabilisieren. Bis zum Jahr 1971 war die Arbeitslosenquote von 2,1 Prozent im Jahr 1967 auf 0,8 Prozent zurückgegangen. Die Zahl der Arbeitslosen lag bei insgesamt 185.072, nach 459.489 im Rezessionsjahr 1967. Dieses typische Muster aus einem Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Rezession und einem Rückgang im Aufschwung wurde dann im Zuge der ersten Ölpreiskrise 1973/74 durchbrochen (siehe Grafik 18). Im Jahr 1974 übertraf die Zahl der Arbeitslosen erstmals seit 1959 wieder die Grenze von einer halben Million und ein Jahr später fiel die Marke von einer Million. Das entsprach einer Arbeitslosenquote von 4,7 Prozent. Danach bildete sich die Zahl der Arbeitslosen nur leicht zurück. Im Jahr 1979 waren noch 876.000 Personen arbeitslos gemeldet, was einer Arbeitslosenquote von 3,8 Prozent entsprach. Diese Werte lagen somit deutlich über den Werten vor der ersten Ölpreiskrise.

414  Vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen der Bundesregierung v. 31.1.1986, BT-Drucks. 10/4989, S. 5. 415  BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, Rn. 119. 416  Vgl. BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, Rn. 108, 119.

286

4. Die Legitimität von Tarifautonomie 14

5.000 4.500

12

4.000

3.500

10

3.000

8

2.500 2.000

6

1.500

4

1.000

2

500 0

0

Arbeitslose (linke Achse)

Arbeitslosenquote (rechte Achse)

Jahresdurchschnittswerte; Gebietsstand: bis 1990 früheres Bundesgebiet. Quelle: BA, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf, https://statistik.arbeitsagentur.de/SiteGlobals/Forms/Suche/ Einzelheftsuche_Formular.html?nn=1610104&topic_f=laender-heft (23.7.2021).

Grafik 18: Arbeitslosigkeit 1971 bis 2004 Arbeitslose in 1000, Arbeitslosenquote in Prozent

Im Zuge der zweiten Ölpreiskrise 1979/80 stieg die Zahl der Arbeits­ losen erneut an, wobei sich die Dynamik deutlich beschleunigte. Waren 1981 im Jahresdurchschnitt noch 1,3 Millionen Personen arbeitslos, waren es ein Jahr später schon 1,8 Millionen und 1983 knapp 2,3 Millionen. Zum (vorläufigen) Höchststand kam es 1985: In diesem Jahr erreichte auch die Arbeitslosenquote mit 9,3 Prozent ihr Maximum. Während der nach der zweiten Ölpreiskrise einsetzenden wirtschaftlichen Erholung wiederholte sich das Muster der 1970er Jahre. Auch in den 1980er Jahren ging die Arbeitslosigkeit im konjunkturellen Aufschwung weniger zurück als sie im Abschwung angestiegen war. Bis 1990 sank die Zahl der Arbeitslosen in der alten Bundesrepublik um rund 420.000 auf knapp 1,9 Millionen Personen. Dies entsprach einer Arbeitslosenquote von 7,2 Prozent. Im wiedervereinigten Deutschland verschlechterte sich die Arbeitsmarktlage erneut. Durch die Gebietserweiterung selbst wurde die Arbeitslosenquote zunächst kaum beeinflusst. Sie stieg im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung nur geringfügig um 0,1 Prozentpunkte auf 7,3 Prozent an. Das entsprach einer Anzahl von 2,6 Millionen Arbeitslosen. Nach einem kurzen Wiedervereinigungsboom setzte 1992/93 die erste gesamtdeutsche Rezession ein.417 In den neuen Bundesländern begann schon Mitte 1990 der 417  Zu einer genauen Datierung und Dauer der Rezessionsphasen von 1966 bis 2013 vgl. Heilemann, Wirtschaftsdienst 99 (2019), 546 (547).



4.4  Zeithistorische Debatten287

Transformationsprozess der ehemaligen Staatswirtschaft.418 Die im März 1990 gegründete Treuhandanstalt wurde mit der Privatisierung des volkseigenen Vermögens der Deutschen Demokratischen Republik beauftragt.419 Da die von der Treuhand übernommenen Kombinate „in der großen Mehrzahl Sanierungsfälle waren“420, konnten viele nicht privatisiert, sondern lediglich stillgelegt werden. Im Zuge von Rezession und Transformation kam es zu einem neuerlichen Beschäftigungsabbau. Dabei nahm die Zahl der Arbeitslosen fast kontinuierlich zu. Im Jahr 1997 waren bundesweit dann fast 4,4 Millionen Personen als arbeitslos registriert. Das entsprach einer Arbeitslosenquote von 12,7 Prozent. Das war die höchste Quote seit 1950, als die Quote bei 11,0 Prozent lag. Die Ursachen waren dabei vielfältiger Natur: Erstens sahen sich private Industrieunternehmen mit ihrer Produktion von (kostenintensiven) Qualitätserzeugnissen einer zunehmenden Konkurrenz auf den Weltmärkten ausgesetzt. Schon in den 1980er Jahren drängten Unternehmen in der privaten Industrie auf Kostensenkungen, um den verschärften Wettbewerbsbedingungen begegnen zu können. Etwaige Forderungen konnten sie jedoch nicht gegen die starken Arbeitnehmervertretungen in Deutschland durchsetzen.421 Während sich für Industrieunternehmen die Konkurrenz­ situation auf den internationalen Produktmärkten verschärfte, standen – zweitens – staatliche Monopolisten wie die Deutsche Bahn und die Deutsche Post oder öffentliche Energieversorger vor der Privatisierung und gingen einer Liberalisierung ihrer bisher geschützten Märkte entgegen.422 Der Sachverständigenrat stellt in seinem Jahresgutachten von 1996/97 in diesem Kontext fest, dass sich die „Reorganisationsmaßnahmen im Zuge der Privatisierung von Bahn und Post“ negativ auf die Beschäftigungsentwicklung in den Wirtschaftsbereichen Verkehr und Handel auswirkten.423 Drittens gestaltete sich der Umbau der maroden ostdeutschen Wirtschaft in Folge der deutschen Wiedervereinigung langwieriger und schwieriger als anfänglich erwartet (siehe Kapitel 4.4.6.1). In seinem Jahresgutachten 1990/91 beschreibt der Sachverständigenrat die Ausgangslage in den ostdeutschen Bundesländern wie folgt: „Mit dem Inkrafttreten des Staatsvertrages zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ist die Wirtschaft der Sinn/Sinn, Kaltstart, 1991, S. 81 ff. Pohl, Wirtschaftsdienst 101 (2021), 14 (17). 420  Pohl, Wirtschaftsdienst 101 (2021), 14 (17). 421  Vgl. Rehder, Betriebliche Bündnisse für Arbeit in Deutschland, 2003, S. 104. 422  Vgl. Rehder, Betriebliche Bündnisse für Arbeit in Deutschland, 2003, S. 170 f. 423  Jahresgutachten 1996/97 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drucks. 13/6200, S. 104. 418  Vgl. 419  Vgl.

288

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

DDR übergangslos in eine marktwirtschaftliche Ordnung gestellt worden. Da den ostdeutschen Unternehmen keine Zeit für die Vorbereitung auf den wirtschaftlichen Systemwechsel geblieben war, gerieten sie nach dem 1. Juli bei den nun offenen Grenzen unter einen massiven Wettbewerbsdruck. Produktion und Beschäftigung sind drastisch gesunken, das Überleben der Betriebe mußte kurzfristig durch Liquiditätskredite der Treuhandanstalt gesichert werden.“424 Nachdem sich die Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage in den alten Bundesländern Ende der 1980er Jahre langsam zu erholen begann, rutschte die gesamtdeutsche Wirtschaft daher gleich zu Beginn der 1990er Jahre in eine schwere Rezession. 1993 schrumpfte das BIP um 1 Prozent gegenüber dem Vorjahr (siehe Grafik 19). Auch wenn das BIP ab 1994 schon wieder wuchs, waren die volkswirtschaftlich zu erbringenden Leistungen in den 1990er Jahren gewaltig: Neben dem Umbau der ostdeutschen Planwirtschaft und der Finanzierung der deutschen Einheit zeichneten sich in den 1990er Jahren auch in der westdeutschen Industrie Probleme ab. Die Rezession 1992/93 wurde durch eine niedrige Nachfrage im Ausland, aber ebenso durch eine sinkende Investitionstätigkeit von Unternehmen und steigende Lohn-, Steuer3,5

2,9

3 2,5 2

2,4 1,9

1,8

1,5

1,5

2,0

1,9

1,7 1,2

0,8

1

0,7

0,5 0 -0,2

-0,5 -1 -1,5

-0,7

-1,0

Preisbereinigt. Quelle: StBA, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Bruttoinlandsprodukt, Bruttonationaleinkommen, Volkseinkommen, Lange Reihen ab 1925, https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/VolkswirtschaftlicheGesamtrechnungen-Inlandsprodukt/Tabellen/inlandsprodukt-volkseinkommen1925-pdf.pdf?__blob=publication File (23.7.2021).

Grafik 19: Bruttoinlandsprodukt 1992 bis 2005 Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent

424  Jahresgutachten 1990/91 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drucks. 11/8472, S. 61 f.



4.4  Zeithistorische Debatten289

und Sozialabgaben verursacht.425 Die Öffnung der Märkte in Mittel- und Osteuropa lieferte nicht nur den Zugang zu neuen Absatzmärkten, sondern bot auch neue Möglichkeiten, Produktionsstätten und damit einhergehend Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern.426 Der Sachverständigenrat hielt einen Marktbereinigungsprozess zwar für unvermeidbar, warnte aber auch davor, „daß bei Löhnen, die sich mehr und mehr denen im Westen angleichen, immer weniger Menschen Beschäftigung finden, daß die Region ständig auf Transfers angewiesen bleibt, daß schließlich auch zunehmend jüngere und qualifizierte Arbeitskräfte mit hoher Mobilitätsbereitschaft abwandern“ könnten.427 Insbesondere die Angleichung der Ost-West-Löhne und die Ausrichtung der tariflichen Lohnpolitik sorgten nach der Wiedervereinigung für Debatten (siehe Kapitel 4.4.6.1). Wie in Grafik 20 zu sehen ist, lagen die jähr­ lichen Steigerungsraten der Tariflöhne bis zum Ende der 1990er Jahre über denen der Bruttolöhne. Das bedeutet, dass die Tarifverdienste je Stunde gerechnet deutlich schneller anstiegen als die von den Unternehmen gezahlten Bruttoverdienste.428 Beispielsweise stand – bezogen auf Deutschland insgesamt – einem Tariflohnzuwachs von 11,9 Prozent im Jahr 1992 ein Bruttoverdienstplus von lediglich 9,5 Prozent gegenüber. Zwischen 1992 und 1999 ergab sich letztlich eine negative Lohndrift. Wie bereits in Kapitel 4.4.3.1 ausgeführt, wird die Lohndrift als Indikator zur Beobachtung der Entwicklung der übertariflichen Bezahlung herangezogen. Ist die Lohndrift negativ, wird eine übertarifliche Bezahlung abgebaut. Eine negative Lohndrift kann allerdings auch eine Folge davon sein, dass Unternehmen aus einer Tarifbindung aussteigen und keine Tariflöhne mehr zahlen. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die IG Metall schon 1991 einen Lohntarifvertrag für die Metall- und ElektroIndustrie in den neuen Bundesländern durchsetzte, der eine Angleichung der Ostlöhne auf das Westniveau innerhalb von drei Jahren vorsah.429 In der Folge kämpften die neu gegründeten Arbeitgeberverbände in den betroffenen Tarifgebieten mit stark sinkenden Mitgliederzahlen. So umfassten 425  Vgl. Jahresgutachten 1993/94 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drucks. 12/6170, S. 185. 426  Vgl. Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifverhandlungen in Deutschland, 2016, S. 70. 427  Jahresgutachten 1996/97 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drucks. 13/6200, S. 184. 428  Vgl. Lesch, IW-Trends 28 (2001), 32 (34 ff.). 429  Vgl. Haipeter, Tarifabweichungen und Flächentarifverträge, 2009, S. 108; vgl. auch Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifverhandlungen in Deutschland, 2016, S.  70 f.

290

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

14,0 12,0 10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 0,0

Veränderung der Bruttoverdienste

Veränderung der Tarifverdienste

1,5 1,0 0,5 0,0 -0,5 -1,0 -1,5 -2,0 -2,5 -3,0

Lohndrift

Auf Stundenbasis berechnet. Quellen: Deutsche Bundesbank, Sonderauswertung; StBA, Fachserie 18 Reihe 1.1, https://www.destatis.de/ DE/Service/Bibliothek/_publikationen-fachserienliste-18.html (30.7.2021); eigene Berechnungen.

Grafik 20: Brutto- und Tarifverdienste sowie Lohndrift 1992 bis 2004 Angaben in Prozent

die Metallverbände in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung etwa 1.200 Firmen mit einer Million Beschäftigten.430 Bis 1995 verloren die in den neuen Bundesländern gegründeten Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-­Industrie im Durchschnitt jedoch 34 Prozent ihrer Mitgliedsunternehmen. In Tarifregionen wie Thüringen oder Sachsen, die das Herz der ostdeutschen Metall- und Elektro-Industrie bildeten, war der

430  Vgl.

Finkelnburg, Der lange Weg zur Tarifpartnerschaft, 2015, S. 36.



4.4  Zeithistorische Debatten291

Mitgliederschwund mit e­ inem Minus von 49 bzw. 45 Prozent noch weitaus dramatischer.431 Die Metall- und Elektro-Industrie in den neuen Bundesländern war zu Beginn der 1990er Jahre nicht international wettbewerbsfähig. Während den Betrieben die Absatzmärkte und somit Einnahmen wegbrachen, erhöhten die tariflichen Lohnsteigerungen den Kostendruck enorm. Mit ähnlichen Problemen sahen sich auch andere Industriezweige in den neuen Bundesländern konfrontiert. Mitte der 1990er Jahre konstatierte der Sachverständigenrat schließlich, dass sich der „Prozeß der Erneuerung der ostdeutschen Wirtschaft und des Aufbaus leistungsfähiger Strukturen […] nach einer ersten Phase kräftiger Aufwärtsentwicklung deutlich verlangsamt“ hat.432 Als besonders problematisch sah er die zu schnell steigenden Löhne an. Während Produktivitätsfortschritte verzeichnet wurden, waren viele ostdeutsche Betriebe dennoch nicht in der Lage, die hohen Lohnsteigerungen zu erwirtschaften.433 In der Folge mussten sie häufig Insolvenz anmelden und die Zahl der Arbeitslosen stieg in den neuen Bundesländern rapide an. Neben einem steigenden Anteil an Arbeitslosen an der Erwerbsbevölkerung verfestigte sich zudem die Langzeitarbeitslosigkeit (siehe Tabelle 10). Zwischen 1998 und 2004 betrug der Anteil von Personen, die 12 Monate oder länger als arbeitslos registriert waren, mindestens ein Drittel aller Arbeitslosen. War die Langzeitarbeitslosigkeit in den alten Bundesländern Ende der 1990er Jahre noch stärker als in den neuen Ländern verbreitet, änderte sich dies nach der Jahrtausendwende. Im Jahr 1998 war in den neuen Bundesländern noch jeder Dritte Arbeitslose länger als ein Jahr arbeitslos gemeldet, während es 2004 schon mehr als vier von zehn waren. In den alten Bundesländern sank der Anteil in diesem Zeitraum von 39,5 auf 35,4 Prozent. Im Kontext der anhaltenden Arbeitsmarktmisere rückte die Tarifpolitik immer stärker auf der politischen Agenda nach oben. Eine Ursache für das Problem der steigenden und sich verfestigenden Arbeitslosigkeit wurde darin gesehen, dass die Tarifvertragsparteien den lohnpolitischen Verteilungsspielraum mehr als ausschöpften. Dies zeigt sich auch daran, dass die Lohndrift um die Jahrtausendwende herum nur vorübergehend positiv war, Finkelnburg, Der lange Weg zur Tarifpartnerschaft, 2015, S. 89. 1996/97 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drucks. 13/6200, S. 182. 433  Vgl. Jahresgutachten 1996/97 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drucks. 13/6200, S. 183. 431  Vgl.

432  Jahresgutachten

292

4. Die Legitimität von Tarifautonomie Tabelle 10 Arbeitslose und Anteil der Langzeitarbeitslosen 1998 bis 2004 Deutschland Zahl der Arbeits­ losen

Alte Bundesländer

Anteil der Zahl der Langzeitar- Arbeitslobeitslosen sen (in Prozent)

Neue Bundesländer

Anteil der Zahl der Langzeitar- Arbeits­ beitslosen losen (in Prozent)

Anteil der Langzeitarbeitslosen (in Prozent)

1998

4.280.630

37,4

2.751.535

39,5

1.529.095

33,6

1999

4.100.499

37,3

2.604.720

39,6

1.495.779

33,4

2000

3.889.695

37,4

2.380.987

39,3

1.508.707

34,3

2001

3.852.564

35,1

2.320.500

35,2

1.532.064

35,0

2002

4.061.345

33,7

2.498.392

31,8

1.562.953

36,8

2003

4.376.795

34,8

2.753.181

31,7

1.623.614

40,0

2004

4.381.281

38,4

2.782.759

35,4

1.598.522

43,6

Quelle: BA, Sonderauswertung.

um dann wieder negativ zu werden. Eine zweite Ursache bestand darin, dass die Tarifverträge zu wenig Spielraum ließen, durch betriebliche Vereinbarungen von den Tariflöhnen abweichen zu können. Während in den neuen Bundesländern die zu hohen Löhne zu einem schnellen Konkurs der betroffenen Betriebe beitrugen, verstärkte vor allem die Tarifpolitik der IG Metall den Kostendruck bei den Unternehmen in den alten Bundesländern. Spätestens nach dem Streik über die Lohnangleichung in der ostdeutschen Metall- und Elektro-Industrie 1993 (siehe Kapitel 4.4.6.1) kam es zu einer anhaltenden Debatte um die Starrheit des Flächentarifvertrags. In dieser Gemengelage kam es 1998 zu einem Regierungswechsel. Nach 16 Jahren christlich-liberaler Koalitionsregierungen kam zum ersten Mal auf Bundesebene eine rot-grüne Bundesregierung ins Amt. Gerhard Schröder (SPD) löste Helmut Kohl (CDU) als Bundeskanzler ab. Die Probleme am Arbeitsmarkt und in den Sozialversicherungssystemen sowie in der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte waren nach der Wiedervereinigung erdrückend geworden und die Konjunktur lief nur schleppend. Die rot-grüne Bundesregierung sollte sich unter der Führung von Gerhard Schröder in den nächsten Jahren dieser Probleme annehmen. Einen ersten Anlauf hierfür unternahm Gerhard Schröder mit der Wiederbelebung des Bündnisses für Arbeit.



4.4  Zeithistorische Debatten293

4.4.5.2 Art des Legitimitätsproblems Im Verlauf der 1990er Jahre gerieten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zunehmend unter Druck, mit ihrer Tarifpolitik einen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten und damit auch wieder stärker zu gemeinwohlorientierten Zielen beizutragen. Aufgrund der umfangreichen Problemlage – wie die hohe (Sockel-)Arbeitslosigkeit, der zunehmende Zwang, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren und die Integrationsleistungen, die im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung erbracht werden mussten – setzte sich die Erkenntnis durch, dass tiefgreifende Veränderungen notwendig waren. Der in der deutschen Arbeitsmarkt- und Sozialgesetzgebung entstandene Reformstau wirkte als externer Faktor auf die Tarifvertragsparteien und die Ausrichtung ihrer Tarifpolitik, die – wie schon im Rahmen der Konzertierten Aktion – auf einen spürbaren, beschäftigungspolitischen Beitrag verpflichtet werden sollte. Vor diesem Hintergrund lebte die Idee einer tripartistischen Konzertierung aller Interessen wieder auf. Der steigende Druck durch die anhaltende Arbeitsmarktmisere führte nicht nur zu einem externen Legitimitätsdefizit. Da die Tarifvertragsparteien nicht dazu in der Lage waren, die Lohn- und Arbeitsbedingungen rasch an die veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen anzupassen, entstanden auch interne Legitimitätsprobleme. Diese fanden ihren Ausdruck in der Debatte über den „starren Flächentarifvertrag“ (siehe auch Kapitel 4.4.6). Vielfach wurde die jahrzehntelang geübte Praxis, die Löhne und Arbeitsbedingungen über Flächentarifverträge zu regeln, als nicht mehr zeitgemäß betrachtet. Alternativ wurde gefordert, die Tarifabschlüsse betriebsnäher zu gestalten.434 4.4.5.3 Art des Staatseingriffs Obwohl in der ökonomischen Politikberatung Reformen im kollektiven Arbeitsrecht eingefordert wurden (siehe Kapitel 4.4.6), wählte insbesondere die seit 1998 regierende rot-grüne Bundesregierung einen anderen Weg. Der Bundesregierung lag daran, „die Gewerkschaften zu einer be­ schäftigungs(aufbau)orientierten Tarifpolitik zu bewegen, letztlich also zum Abschluss von Tarifverträgen, die den in dieser Zeit immer eindringlicher vorgetragenen betrieblichen Flexibilitätsbedürfnissen der Arbeit­ geber mehr als bisher Rechnung tragen sollten. Sozialdemokratischen Po434  Vgl. Monopolkommission, X. Hauptgutachten, 1994, Nr. 937; vgl. auch Berthold/Fehn, Evolution von Lohnverhandlungssystemen, 1996.

294

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00166478.

Abbildung 47: Helmut Kohl

litikmustern folgend, sollte dies konzertiert und tripartistisch abgestimmt erfolgen“.435 Mit diesem Ansatz hat die Bundesregierung zwar erkannt, dass die notwendigen Strukturreformen am Arbeitsmarkt auch mit dem Handeln der Tarifvertragsparteien zusammenhingen. Sie verzichtete aber darauf, dieses Problem offiziell an die Tarifvertragsparteien zu adressieren. Die Strategie einer tripartistischen Krisenbewältigung wurde verfolgt, obwohl kurz zuvor ein erster Versuch unter der letzten christlich-liberalen Regierung unter Kanzler Helmut Kohl gescheitert war. Im Juni 1994 schlug der neu ins Amt gewählte DGB-Vorsitzende Dieter Schulte einen Beschäftigungsgipfel mit der christlich-liberalen Bundesregierung und den Arbeitgebern vor.436 Der damalige IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel brachte zudem im Oktober 1995 ein gemeinsames „Bündnis für Arbeit“ ins

435  Fehmel, in: Andresen/Bitzegio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en), 2011, S. 267 (282). 436  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 431; vgl. auch Fickinger, Der verschenkte Konsens, 2005, S. 101 ff.



4.4  Zeithistorische Debatten295

Spiel, „um durch partei- und interessenübergreifende Maßnahmen die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen“.437 Um die Lage am Arbeitsmarkt zu entschärfen, bot die IG Metall an, in der nächsten Metall-Tarifrunde ihre Lohnforderungen nicht an der Produktivität der Unternehmen, sondern an der Inflationsrate zu orientieren. Von der Bundesregierung und den Arbeitgebern wünschte sich die Gewerkschaft als Gegenleistung, innerhalb von drei Jahren pro Jahr 100.000 Arbeits- und 10.000 Ausbildungsplätze neu zu schaffen sowie 10.000 Langzeitarbeitslose in Arbeit zu bringen. Zusätzlich sollten die von der Bundesregierung geplanten Kürzungen beim Arbeitslosengeld und in der Sozialhilfe nicht umgesetzt werden. Die Metallarbeitgeber sollten schließlich drei Jahre auf betriebsbedingte Kündigungen verzichten.438 Noch 1995 trafen sich Arbeitgeber-, Gewerkschafts- und Regierungsvertreter den Vorschlägen der Gewerkschaftsseite folgend zu sogenannten „Kanzlerrunden zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland“ und das erste „Bündnis für Arbeit“ ging an den Start.439 4.4.5.4 Politische Debatte Anders als in den 1960er Jahren ging die Initiative für ein tripartistisches Bündnis dieses Mal nicht von der Regierung, sondern von der Gewerkschaftsseite aus und Zwickels Vorschläge bezogen Kernbereiche der Tarifpolitik ein. Die Gründung eines neuen Bündnisses für Arbeit löste eine breite öffentliche Debatte aus und der IG-Metall-Vorsitzende wurde auch aus den eigenen Reihen heftig für seine Vorschläge kritisiert, mit denen er „faktisch eine Kapitulation vor dem neoliberalen Mainstream“ vollzogen hätte.440 Eine Politik der Lohnzurückhaltung ist in Krisenzeiten aus betriebswirtschaftlicher Sicht auf Unternehmerseite gut nachvollziehbar, stellt für die Gewerkschaftsseite jedoch ein Risiko dar, das zu erheb­ lichen Legitimationsdefiziten gegenüber den eigenen Mitgliedern führen kann und gut begründet sein muss. Schulten und Bispinck fassen das Spannungsfeld, in dem die Sozialpartner agierten, folgendermaßen zusammen: „Alle beteiligten Parteien haben stets betont, dass ein Bündnis für Arbeit keinesfalls die Tarifpolitik erset437  Schneider,

Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 433. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 433; vgl. auch Fickinger, Der verschenkte Konsens, 2005, S. 101 f. 439  Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 433. 440  Bispinck/Schulten, WSI-Mitteilungen 52 (1999), 870. 438  Vgl.

296

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Süddeutsche Zeitung Photo/Hans-Günther Oed.

Abbildung 48: Klaus Zwickel

zen oder gar die Tarifautonomie in Frage stellen sollte. Auf der anderen Seite wurden sowohl von den Arbeitgebern als auch von den Gewerkschaften immer wieder tarifpolitische Themen auf die Agenda des Bündnisses gesetzt. Der eigentlich strittige Kern der Debatte liegt hingegen in der inhaltlichen Ausrichtung der Lohnpolitik.“441 Im Januar 1996 einigten sich die Bündnis-Teilnehmer darauf, die Arbeitslosenzahlen bis zum Jahr 2000 um die Hälfte zu reduzieren. Die Bundesregierung sagte zu, die Sozialbeiträge unter 40 Prozent zu senken und versprach Steuererleichterungen. Die Gewerkschaften versprachen im Gegenzug, Zurückhaltung bei ihren lohnpolitischen Forderungen zu üben. Das erste Bündnis für Arbeit scheiterte jedoch bereits im Frühjahr 1996, nachdem die Bundesregierung ankündigte, das Renteneintrittsalter heraufsetzen sowie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf 80 Prozent senken zu wollen. Weiterhin war angedacht, den Kündigungsschutz in Betrieben mit bis zu zehn Beschäftigten vollständig aufzuheben und weitere Sozialleistungen zu kürzen. Derartige Einschnitte waren für die Gewerkschaften 441  Bispinck/Schulten,

WSI-Mitteilungen 52 (1999), 870.



4.4  Zeithistorische Debatten297

nicht akzeptabel.442 In der Folge zogen sie sich nicht nur aus dem ersten Bündnis für Arbeit zurück, sondern organisierten gemeinsam mit Wohlfahrtsverbänden und Kirchen im Sommer 1996 Großdemonstrationen gegen die geplanten Einschnitte.443 Nachdem sich die Gewerkschaften von der Regierung Kohl enttäuscht sahen, signalisierte der IG-Metall-Vorsitzende Zwickel im Vorfeld der Bundestagswahlen 1998 erneut die Bereitschaft, an einem Bündnis für Arbeit mitzuwirken. Gerhard Schröder lud nach dem Wahlsieg seiner Partei bei den Bundestagswahlen 1998 Gewerkschaften und Arbeitgeber dazu ein, an einem „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ teilzunehmen. In der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen wurde vereinbart, das neue Bündnis zu nutzen, um „die Arbeits­losigkeit abzubauen und allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu sichern“.444 Vor dem Hintergrund der sich verfestigenden Arbeitslosigkeit Ende der 1990er Jahre erwartete die Regierungskoalition von den Sozialpartnern konkret, „eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik“ umzusetzen.445 Die neue Bundesregierung hob gleich zu Beginn ihrer Amtszeit einige Reformen der Vorgängerregierung auf (wie die Lockerung des Kündigungsrechts sowie den reduzierten Lohnfortzahlungssatz im Krankheitsfall), die zum Scheitern des ersten Bündnisses beigetragen hatten. Vor diesem Hintergrund sicherten die Gewerkschaften ihre Teilnahme an einem zweiten Bündnis zu.446 Auf Arbeitgeberseite herrschte hingegen stärkere Skepsis vor. Ein Streitpunkt war die Lohnpolitik. BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel drohte mit der Aufkündigung der Bündnis-Arbeit. Die Arbeitgeber dürften sich durch die Hinnahme einer für verfehlt gehaltenen Lohnpolitik „nicht länger zum Komplizen für den Abbau von Arbeitsplätzen machen“.447 Weitere Streitthemen waren die in der Kohl-Ära durchgeführten Reformen, deren Abschaffung zwar von den Gewerkschaften begrüßt, aber von den Arbeitgebern abgelehnt wurde. Dennoch vereinbarten Regierungs-, Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter in einem ersten Spitzengespräch Anfang 1998 erneut zusammenzuarbeiten.448 In Punkt vier der Bündniserklärung wird dabei betont, dass die Fickinger, Der verschenkte Konsens, 2005, S. 106. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 436. 444  SPD/Bündnis 90/Die Grünen, Aufbruch und Erneuerung, 1998, S. 4. 445  SPD/Bündnis 90/Die Grünen, Aufbruch und Erneuerung, 1998, S. 4. 446  Vgl. Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 443. 447  Zitiert nach Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften, 2000, S. 443. 448  Vgl. Bundesregierung, Gemeinsame Erklärung des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit – Treffen des Bundeskanzlers mit Vertretern 442  Vgl. 443  Vgl.

298

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Tarifautonomie „unangetastet“ bleiben muss.449 Ein Diktum, dass das zweite Bündnis für Arbeit am Ende einholen sollte. So herrschte zwar Übereinkunft, dass die „Überwindung der hohen Arbeitslosigkeit […] die größte Herausforderung für Politik und Gesellschaft“ sei und dass eine „positive Entwicklung am Arbeits- und Ausbildungsmarkt […] eine dauerhafte Zusammenarbeit zwischen Staat, Gewerkschaften und Wirtschaft“ erfordere.450 Dennoch sollte das Bündnis am Ende an lohnpolitischen Fragen und den unterschiedlichen Ansichten darüber scheitern, wie genau eine beschäftigungsfördernde Tarifpolitik aussehen sollte.451 Zwischen 1999 und 2002 trafen sich die Bündnispartner in insgesamt acht Spitzengesprächen, in denen eine Vielzahl an Themen bearbeitet wurden. Noch Ende 1998 richteten die Beteiligten verschiedene Arbeitsgruppen ein – unter anderem zur Senkung der Jugendarbeitslosigkeit, zur Reform der Sozialversicherungssysteme, zur Arbeitszeitpolitik, aber ebenso zur Steuerpolitik und zu dem Aufbauprogramm Ost oder zu Entlassungsabfindungen.452 Im Folgenden wird der Fokus auf Kernfragen der Tarifpolitik und Tarifautonomie gerichtet. BDA und DGB legten zum dritten Spitzengespräch im Juli 1999 ein gemeinsames Positionspapier vor. Darin bekannten sich BDA und DGB zur „Wahrung der uneingeschränkten Tarifautonovon Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, https://www.bundesregierung.de/ breg-de/service/bulletin/gemeinsame-erklaerung-des-buendnisses-fuer-arbeit-ausbil dung-und-wettbewerbsfaehigkeit-treffen-des-bundeskanzlers-mit-vertretern-von-wirt schaftsverbaenden-und-gewerkschaften-806328 (23.7.2021). 449  Bundesregierung, Gemeinsame Erklärung des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit – Treffen des Bundeskanzlers mit Vertretern von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, https://www.bundesregierung.de/breg-de/ service/bulletin/gemeinsame-erklaerung-des-buendnisses-fuer-arbeit-ausbildung-undwettbewerbsfaehigkeit-treffen-des-bundeskanzlers-mit-vertretern-von-wirtschaftsver baenden-und-gewerkschaften-806328 (23.7.2021). 450  Bundesregierung, Gemeinsame Erklärung des Bündnisses für Arbeit, Aus­ bildung und Wettbewerbsfähigkeit – Treffen des Bundeskanzlers mit Vertretern von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, https://www.bundesregierung.de/breg-de/ service/bulletin/gemeinsame-erklaerung-des-buendnisses-fuer-arbeit-ausbildung-undwettbewerbsfaehigkeit-treffen-des-bundeskanzlers-mit-vertretern-von-wirtschaftsver baenden-und-gewerkschaften-806328 (23.7.2021). 451  Vgl. Bispinck/Schulten, WSI-Mitteilungen 52 (1999), 870 (871); Streeck, in: Gesamtmetall (Hrsg.), Die deutschen Arbeitsbeziehungen am Anfang des 21. Jahrhunderts, 2001, S. 76 (76 f.). 452  Vgl. Bundesregierung, Gemeinsame Erklärung des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit – Treffen des Bundeskanzlers mit Vertretern von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, https://www.bundesregierung.de/ breg-de/service/bulletin/gemeinsame-erklaerung-des-buendnisses-fuer-arbeit-ausbil dung-und-wettbewerbsfaehigkeit-treffen-des-bundeskanzlers-mit-vertretern-von-wirt schaftsverbaenden-und-gewerkschaften-806328 (23.7.2021).



4.4  Zeithistorische Debatten299

mie“ und lehnten „alle Überlegungen, diese mittels gesetzlicher Eingriffe zu beschränken“ ab.453 Gleichzeitig bekannten sich beide Seiten dazu, durch „eine mittel- und langfristig verlässliche Tarifpolitik“ zum Abbau der Arbeitslosigkeit beizutragen, indem „Produktivitätssteigerungen … vor­ rangig der Beschäftigungsförderung dienen“ sollten.454 Wie genau Produktivitätssteigerungen die Beschäftigung fördern könnten, wurde jedoch zu einer Kernkontroverse. Während die Arbeitgeberseite eine langfristige Politik der Lohnzurückhaltung befürwortete, lehnten die Gewerkschaften eine derartige Zurückhaltung sowie Lohnleitlinien ab.455 Auf Arbeitgeberseite wurde insbesondere von Gesamtmetall das Ziel der Produktivitätssteigerung zur Beschäftigungsförderung dahingehend verstanden, dass eine „Stärkung der betrieblichen Wettbewerbsfähigkeit erforderlich“ und Produktivitätssteigerungen „nicht für Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen verbraucht werden“ sollten.456 Ganz anders fasste die IG Metall diesen Kompromiss auf: „Demgegenüber hat z. B. der Vorstand der IG Metall recht schnell klargestellt, dass die BDA/DGB-Erklärung keineswegs ein Plädoyer für eine generelle Lohnzurückhaltung darstellt. Die erhobene Forderung nach vorrangiger Verwendung des Produktivitätswachstums zur Beschäftigungsförderung stand nach Ansicht der IG Metall vielmehr in direktem Zusammenhang mit der Forderung nach Umverteilung der Arbeit, sodass etwa die Kosten der Arbeitszeitverkürzung zum Teil durch Produktivitätszuwächse finanziert werden könnten“.457 Für die Gewerkschaft stand nicht die Senkung der Arbeitskosten auf der Bündnis­ agenda. Stattdessen wollten sie einen Teil des Produktivitätszuwachses zur Finanzierung der Umverteilung der vorhandenen Arbeit nutzen.458 Unabhängig von allen Debatten im Bündnis für Arbeit richtete die IG Metall ihre Tarifpolitik am Ende der 1990er Jahre neu aus und ließ sich nicht dauerhaft lohnpolitisch disziplinieren. Sie wollte mit ihrer Lohnpolitik die Umverteilung korrigieren und den Beschäftigten wieder zu einem „Ausgleich der steigenden Lebenshaltungskosten“ verhelfen sowie sie am nach Bispinck/Schulten, WSI-Mitteilungen 52 (1999), 870 (871). nach Bispinck/Schulten, WSI-Mitteilungen 52 (1999), 870 (871). 455  Vgl. Bispinck/Schulten, WSI-Mitteilungen 52 (1999), 870 (872). 456  Gesamtmetall, Positionspapier von Gesamtmetall zum Bündnis für Arbeit, https://www.gesamtmetall.de/aktuell/pressemitteilungen/positionspapier-von-gesamt metall-zum-buendnis-fuer-arbeit (4.8.2021). 457  Bispinck/Schulten, WSI-Mitteilungen 52 (1999), 870 (871); vgl. auch Fickinger, Der verschenkte Konsens, 2005, S. 122. 458  Vgl. Streeck, in: Gesamtmetall (Hrsg.), Die deutschen Arbeitsbeziehungen am Anfang des 21. Jahrhunderts, 2001, S. 96. 453  Zitiert 454  Zitiert

300

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00000053.

Abbildung 49: Pressekonferenz zum Bündnis für Arbeit am 9. Januar 2000

Produktivitätsfortschritt beteiligen.459 Das von Zwickel geforderte „Ende der Bescheidenheit“ begleitete die Metalltarifrunden Ende der 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre.460 Noch im Sommer und Herbst 1999 drohte die IG Metall „bei der ersten Erwähnung des Lohnthemas umgehend den Saal [zu] verlassen“.461 In den folgenden Treffen zwischen Dezember 1999 und 2002 brachen zudem immer mehr Frontlinien zwischen den Parteien auf: Weder konnten sich Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertreter auf einen Kompromiss bei der von der IG Metall geforderten „Rente mit 60“ einigen, noch wie eine erneuerte Tarifpolitik konkret aussehen sollte. Während beim vierten Spitzentreffen im Dezember 1999 immerhin eine Verständigung zur Ein­führung von Modellversuchen zur Bezuschussung von Arbeitsplätzen im Niedrig459  Bispinck/Schulten,

WSI-Mitteilungen 52 (1999), 870 (872). nach Bispinck/Schulten, WSI-Mitteilungen 52 (1999), 870 (872). 461  Zitiert nach Streeck, in: Gesamtmetall (Hrsg.), Die deutschen Arbeitsbeziehungen am Anfang des 21. Jahrhunderts, 2001, S. 76. 460  Zitiert



4.4  Zeithistorische Debatten301

lohnsektor erreicht wurde, wurde das geplante fünfte Spitzentreffen aufgrund der verhärteten Positionen zunächst abgesagt. Erst als im Januar 2000 ein Kompromiss in der Rentenfrage erzielt wurde und branchen- und betriebsspezifische Lösungen vereinbart sowie eine Kompromissformel zur Lohnrunde 2000 gefunden wurde, fanden die nächsten Treffen statt – jedoch jeweils ohne nennenswerte Durchbrüche.462 Zu Beginn des Jahres 2002 brach der Konflikt in Fragen der Lohnpolitik erneut auf. Trotz weiter steigender Arbeitslosenzahlen konnten sich die Beteiligten nicht auf eine gemeinsame Erklärung zur Lohnrunde 2002 verständigen und gingen ohne Kompromiss auseinander. Während zu Beginn des Jahres 2002 noch niemand das Bündnis offiziell für gescheitert erklärte, räumte Bundeskanzler Schröder nach einem letzten Treffen im März 2003 ein, dass ein konzertiertes Vorgehen gescheitert sei und die Regierung nun allein ein Reformprogramm vorlegen wolle.463 In Reaktion auf das gescheiterte Bündnis drohte Schröder in seiner Regierungserklärung vom März 2003 damit, gesetzliche Öffnungsklauseln einzuführen, wenn die Tarifvertragsparteien nicht selbst in der Lage wären, Regelungen zu finden (siehe Kapitel 4.4.6.3).

4.4.6  Diskussion über gesetzliche Öffnungsklauseln (1994–2004) 4.4.6.1 Hintergrund Nachdem die Länder der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik am 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik Deutschland beigetreten waren, nahm auch die Zahl der Arbeitslosen weiter zu (siehe auch Kapitel 4.4.5.1). Durch die Stilllegung vieler ostdeutscher Kombinate war vor allem der ostdeutsche Arbeitsmarkt belastet. Dadurch entstand ein zunehmendes Ost-West-Gefälle: 1997 lag die Arbeitslosenquote im Westen bei 10,8 und im Osten bei 19,1 Prozent.464 Ab 1998 wiederholte sich im Zuge des Aufschwungs das inzwischen eingefahrene Muster einer steigenden Sockelarbeitslosigkeit (siehe Grafik 18). Die wirtschaftliche Erholung bewirkte zunächst einen moderaten Rückgang der Zahl an Arbeitslosen auf knapp 3,9 Millionen im Jahr 2001. Die Arbeitslosenquote ging zwischen 1997 und 2001 von 12,7 auf 10,3 Prozent zurück. Mit der „High-TechFickinger, Der verschenkte Konsens, 2005, S. 136 ff. Fickinger, Der verschenkte Konsens, 2005, S. 138. 464  Vgl. StBA, Registrierte Arbeitslose und Arbeitslosenquote nach Gebietsstand, https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Lange-Rei hen/Arbeitsmarkt/lrarb003ga.html (4.8.2021). 462  Vgl. 463  Vgl.

302

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Krise“465 kam es 2001/02 dann aber erneut zu einer Rezession, in deren Folge die Zahl der Arbeitslosen ebenso wie die Arbeitslosenquote wieder anstiegen und dabei neue Höchstwerte erreichten. Dabei verfestigte sich auch der Ost-West-Unterschied. Im Westen lag die Arbeitslosenquote 2004 bei 9,4 und im Osten bei 20,1 Prozent.466 Vor diesem Hintergrund warnte der Kronberger Kreis schon 1986 vor den Folgen einer zunehmenden Arbeitsmarktregulierung sowie einer expansiven Lohnpolitik und forderte einen Kurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik.467 Der Kreis stellte dazu fest: „Auf den Arbeitsmärkten der Bundesrepublik hat sich in den vergangenen Jahren eine verhängnisvolle Spirale entwickelt. Zunächst wurden die Löhne in vielen wichtigen Sektoren über den Vollbeschäftigungslohn hinausgetrieben, so daß Arbeitslosigkeit entstand. Um die Entlassung von Arbeitskräften zu erschweren, wurden die Schutzbestimmungen ausgeweitet, und die vorhandenen Gesetze wurden von Arbeitsgerichten immer einschneidender ausgelegt mit der Folge, daß die Arbeitskosten weiter stiegen. Die Gewerkschaften reagieren auf die Arbeitslosigkeit nicht etwa überwiegend mit einer entsprechenden Mäßigung bei Lohnforderungen, sondern mit dem Versuch, Einfluß auf den Umfang der angebotenen Arbeit zu nehmen. So wird versucht, die zulässige Arbeitsintensität und Arbeitszeit tarifvertraglich festzulegen und die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates im Hinblick auf das Arbeitsangebot zu verstärken. Die Bemühungen der Unternehmen, die Produktivität der Arbeit an die gestiegenen Arbeitskosten anzupassen, sucht man durch Rationalisierungsschutzabkommen zu blockieren. All das wirkt wiederum zurück auf die Bereitschaft der Unternehmen, Arbeitsplätze zu erhalten bzw. neue zu schaffen. Diese verhängnisvolle Spirale gilt es zu durchbre­ chen.“468 Dazu schlug der Expertenkreis grundlegende Reformen im kollektiven Arbeitsrecht vor. Neben einer klärenden Rahmenordnung für den Ablauf von Arbeitskämpfen wurde eine Änderung des Tarifvertragsgesetzes gefordert. Erstens sei den Betriebsräten die Möglichkeit einzuräumen, durch Betriebsvereinbarungen von den tarifvertraglichen Regelungen abzuweichen. Und zweitens solle das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit abgeschafft werden.469

465  Heilemann,

Wirtschaftsdienst 99 (2019), 546 (547, Tabelle 1). StBA, Registrierte Arbeitslose und Arbeitslosenquote nach Gebietsstand, https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Lange-Rei hen/Arbeitsmarkt/lrarb003ga.html (4.8.2021). 467  Vgl. Kronberger Kreis, Mehr Markt im Arbeitsrecht, 1986. 468  Kronberger Kreis, Mehr Markt im Arbeitsrecht, 1986, S. 4. 469  Vgl. Kronberger Kreis, Mehr Markt im Arbeitsrecht, 1986, S. 16. 466  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten303

Nur wenige Jahre später kamen ähnliche Vorschläge von der Deregu­ lierungskommission (1991) und von der Monopolkommission (1994).470 Letztere stellte in ihrer Faktenaufnahme zum deutschen Arbeitsmarkt kurz und präzise fest: „Das wirtschaftspolitische Problem dieses Jahrzehnts ist die Arbeitslosigkeit.“471 Die Kommission attestierte der deutschen Arbeits­ marktordnung eine „ordnungspolitische Anomalie“: Der Lohnfindungsprozess sei ein „bilaterales Monopol der Tarifvertragsparteien mit einem gesetzlich gewährleisteten Schutz dieser Monopole vor Außenseiterkonkur­ renz“.472 Diesem Ordnungsrahmen stellte die Kommission ein vernichtendes Zeugnis aus: „Als realistischer Weg zu mehr Beschäftigung haben zentrale Verbändevereinbarungen sich nicht bewährt.“473 Die daraus gezogene Schlussfolgerung glich dem zuvor vom Kronberger Kreis und der Deregulierungskommission gefundenen Ergebnis: „Deshalb ist an mehr Wettbewerb am Arbeitsmarkt zu denken.“474 Unter anderem wurden dazu „allgemeine, durch Gesetz erzwungene Öffnungsklauseln“ vorgeschlagen.475 Eine Ursache für die anhaltende Arbeitsmarktmisere wurde demnach im Lohnfindungsprozess und damit in der Tarifautonomie gesehen. Das lenkt den Blick auf die Lohnpolitik im wiedervereinigten Deutschland (siehe Kapitel 4.4.5.1). Mit der politisch entschiedenen Umstellung der Ostlöhne von Mark der Deutschen Demokratischen Republik in D-Mark zu einem Umtauschkurs von 1:1 wurde das Anfangsniveau der ostdeutschen Löhne auf ein Drittel der Westlöhne festgelegt. Ein solches Lohnniveau sollte mit der Überlebensfähigkeit der meisten Betriebe Ostdeutschlands kompatibel sein, weil Produktivitätsschätzungen davon ausgingen, dass die ostdeutsche Volkswirtschaft ein Produktivitätsniveau zwischen einem Drittel und der Hälfte des westdeutschen Produktivitätsniveaus erreiche.476 Schon diese Umstellung kam einer drastischen Aufwertung der ostdeutschen Industrie gleich, da die Produktivitätsschätzungen überhöht waren. Ungeachtet dessen sollten die Ostlöhne (begleitet durch „lautstarke Propaganda in Politik, Wirtschaft und Gewerkschaftsverbänden“477) schnell an das Westniveau angeglichen werden. Schon in den Monaten vor der Errichtung ei470  Vgl. Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, 1991; Mono­ polkommission, X. Hauptgutachten, 1994. 471  Monopolkommission, X. Hauptgutachten, 1994, Nr. 873. 472  Monopolkommission, X. Hauptgutachten, 1994, Nr. 880. 473  Monopolkommission, X. Hauptgutachten, 1994, Nr. 895. 474  Monopolkommission, X. Hauptgutachten, 1994, Nr. 895. 475  Monopolkommission, X. Hauptgutachten, 1994, Nr. 937. 476  Vgl. Sinn/Sinn, Kaltstart, 1991, S. 46 f. 477  Sinn/Sinn, Kaltstart, 1991, S. 144.

304

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

ner Währungsunion zwischen West- und Ostdeutschland zum 1. Juli 1990 stiegen die Industrielöhne in Ostdeutschland um 17 Prozent an.478 Dieser expansive Kurs setzte sich fort. Nach den Berechnungen der Deutschen Bundesbank lag der gesamtwirtschaftliche Tariflohnzuwachs je Stunde gerechnet 1992 im Osten bei 31,5 Prozent und 1993 bei 19,2 Prozent (siehe Tabelle 11).479 Das entsprach einem fünf- und viermal stärkeren Anstieg als im Westen. Die Dynamik blieb auch 1994 und 1995 noch recht hoch, schwächte sich im Zeitverlauf aber immer weiter ab. Ab 1995 fielen die Tarifverdienstzuwächse zunächst im Westen und ein Jahr später dann auch im Osten spürbar niedriger aus. Die ostdeutsche Tariflohndynamik blieb aber größer als die westdeutsche. Hinzu kam, dass die Tariflöhne zumeist stärker als die Bruttolöhne stiegen. Wie sehr die Tarifpartnerschaft durch die Herausforderungen einer OstWest-Lohnangleichung vor eine Zerreißprobe gestellt wurde, lässt sich exemplarisch am Beispiel der größten deutschen Industrie- und Exportbranche, der Metall- und Elektro-Industrie zeigen. Im März 1991 vereinbarten die Tarifvertragsparteien in der Metall- und Elektro-Industrie im Tarifgebiet Mecklenburg-Vorpommern die Ost-Tariflöhne innerhalb von drei Jahren (bis 1994) an das West-Niveau anzugleichen.480 Nur zwei Jahre später kündigten die Arbeitgeber als Reaktion auf den Konjunktureinbruch 1992/93 und die massiven strukturellen Probleme der ostdeutschen Betriebe im Rahmen des Transformationsprozesses von einer Plan- zur Markt­ wirtschaft den Stufenplan zur Angleichung der Löhne. Grundlage war eine im Zuge des Stufenplans vereinbarte Revisionsklausel.481 Zuvor hatten die Arbeitgeber auf dem verteilungspolitischen Kongress der IG Metall im Februar 1992 eine zeitlich befristete Öffnungsklausel für Ostdeutschland gefordert, die sie aber in der folgenden Tarifrunde nicht durchsetzen konnten.482 Die IG Metall reagierte auf die Kündigung des Stufenplans mit Unverständnis. Der Vorsitzende, Franz Steinkühler, sprach von „organisiertem Rechtsbruch“ und einem „Arbeitgeber-Putsch gegen

Sinn/Sinn, Kaltstart, 1991, S. 145. die Berechnung auf Stundenbasis fließen auch Arbeitszeitverkürzungen mit ein. Auf Monatsbasis gerechnet fielen die Zuwächse nach der Sonderauswertung der Deutschen Bundesbank etwas geringer aus. 1992: 29,0 Prozent; 1993: 18,3 Prozent; 1994: 8,6 Prozent und 1995: 8,1 Prozent. Zur Tarifverdienststatistik der Deutschen Bundesbank vgl. https://www.bundesbank.de/de/statistiken/konjunktur-und-preise/ tarifverdienste-und-arbeitskosten (3.8.2021). 480  Vgl. Finkelnburg, Der lange Weg zur Tarifpartnerschaft, 2015, S. 83. 481  Vgl. Finkelnburg, Der lange Weg zur Tarifpartnerschaft, 2015, S. 129. 482  Finkelnburg, Der lange Weg zur Tarifpartnerschaft, 2015, S. 122 f. 478  Vgl. 479  In



4.4  Zeithistorische Debatten305 Tabelle 11 Tariflöhne nach Regionen 1992 bis 2004 Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent West

Ost

1992

6,5

31,5

1993

4,5

19,2

1994

2,1

9,4

1995

4,2

8,9

1996

2,3

4,9

1997

1,3

2,5

1998

1,8

2,4

1999

2,6

3,8

2000

2,0

2,0

2001

1,9

2,0

2002

2,5

2,6

2003

1,8

2,1

2004

0,7

1,5

Tariflöhne: tarifliche Grundvergütungen je Stunde einschließlich Jahressonderzahlungen, Urlaubsgeld und vermögenswirksame Leistungen. Quelle: Deutsche Bundesbank, Sonderauswertung.

die Tarifautonomie“.483 Es kam zu Urabstimmungen und Streiks. Der Arbeitskampf konnte durch eine Moderation des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf beigelegt werden. In den folgenden Verhandlungen wurde der Stufenplan gestreckt und eine Härtefallklausel vereinbart. Sie erlaubte unter bestimmten Voraussetzungen ein befristetes Abweichen von Tarifverträgen. Die Tarifpartnerschaft wurde durch die Rezession 1992/93 auf eine weitere Probe gestellt. Denn nun zeigte sich auch im Westen dringlicher Handlungsbedarf (siehe auch Kapitel 4.4.5.1). In Reaktion auf die Rezession vereinbarten die Tarifvertragsparteien in vielen Branchen Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung. Sie sahen eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich vor, wenn im Gegenzug eine Beschäftigungsgarantie zum 483  Zitiert

nach Finkelnburg, Der lange Weg zur Tarifpartnerschaft, 2015, S. 134.

306

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00048701.

Abbildung 50: Kurt Biedenkopf

Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen galt. Die christlich-liberale Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl nahm diese Entwicklung zum Anlass, die Forderungen der Monopolkommission nach Deregulierungen im Arbeitsrecht abzulehnen.484 Die Tarifpraxis zeige, „daß die Tarifpartner die Möglichkeiten, die bereits das geltende Tarifrecht einräumt, nutzen, um wirtschaftlich in Bedrängnis geratenen Unternehmen zu helfen“.485 Im Ergebnis stellte die Bundesregierung die von der Monopolkommission vorgetragene Problematik „im Lichte des aktuellen Tarifge­ schehens“486 zurück. Diese Einschätzung der Kohl-Regierung erwies sich indes als nicht dauerhaft tragfähig. Denn der eingeschlagene Weg einer Dezentralisierung der Tarifpolitik folgte der gewerkschaftlichen Strategie, bei schwacher Nach484  Stellungnahme kommission 1992/93, 485  Stellungnahme kommission 1992/93, 486  Stellungnahme kommission 1992/93,

der Bundesregierung zum X. Hauptgutachten der MonopolBT-Drucks. 13/1594. der Bundesregierung zum X. Hauptgutachten der MonopolBT-Drucks. 13/1594, S. 19. der Bundesregierung zum X. Hauptgutachten der MonopolBT-Drucks. 13/1594, S. 19.



4.4  Zeithistorische Debatten307

frage einfach die vorhandene Arbeit umzuverteilen. Eine zweite Forderung, die diesen Weg ergänzen sollte, war die nach einer Frühverrentung.487 Die Älteren sollten früher in den Ruhestand wechseln, um den Jüngeren Platz zu machen. Ab 1998 wurden gewerkschaftsseitig Modelle zu einer „Beschäftigungsbrücke zwischen Jung und Alt“ oder zur „Rente mit 60“ vorgeschlagen. Die IG Metall war nur dann zu einer gewissen Lohnzurück­ haltung bereit, wenn die eingesparten Mittel zur Finanzierung weiterer Maßnahmen zur Umverteilung von Arbeit (etwa über Frühverrentungen) verwendet würden. Die Politik war angesichts der anhaltenden Arbeitsmarktmisere und der gebotenen Sanierung der Rentenversicherung aber nicht länger bereit, die hohen Kosten einer Alimentierung von Altersteilzeitprogrammen mitzufinanzieren.488 4.4.6.2 Art des Legitimitätsproblems Die politischen Kontroversen wurden von intraorganisationalen und interorganisationalen Veränderungen begleitet. Die Gewerkschaften verloren im Laufe der 1990er Jahre immer mehr Mitglieder. Gleichzeitig kehrten immer mehr Unternehmen dem Flächentarifvertrag und den dafür zuständigen Arbeitgeberverbänden den Rücken oder begangen Tarifbruch. Die Folgen waren eine innere und äußere Erosion der Tarifbindung. Während die Gewerkschaften den Mitgliederschwund nicht aufhalten konnten, versuchten die Arbeitgeberverbände, ihre Verluste durch die Gründung von Allgemeinen Arbeitgeberverbänden und OT-Verbänden (Arbeitgeberverbände ohne Tarifbindung) aufzufangen. Das sind Verbandskonstruktionen, in denen man als Mitglied die üblichen Verbandsleistungen in Anspruch nehmen darf, aber von der Pflicht zur Anwendung eines Branchentarifvertrags entbunden ist. Damit konnte zwar die Verbandsflucht gestoppt, aber nicht der Rückgang der originären Tarifbindung gebremst werden (siehe Kapitel 2.3 und 4.4.9.1). Zusätzlich zu dieser äußeren Erosion wichen immer mehr Betriebe über „betriebliche Bündnisse für Arbeit“ von Tarifnormen ab, teilweise ohne rechtliche Grundlage (innere Erosion). Öffentliche Aufmerksamkeit gewannen Fälle wie Burda (1999) oder Viessmann (1996). Ende der 1990er Jahre gab es in knapp 30 Prozent aller Betriebe mit Betriebsrat eine Art betriebliches Bündnis für Arbeit.489 Damit standen die Tarifvertragsparteien vor zwei Aufgaben: Erstens mussten sie ihren Beitrag 487  Streeck, in: Gesamtmetall (Hrsg.), Die deutschen Arbeitsbeziehungen am Anfang des 21. Jahrhunderts, 2001, S. 76 (95). 488  Streeck, in: Gesamtmetall (Hrsg.), Die deutschen Arbeitsbeziehungen am Anfang des 21. Jahrhunderts, 2001, S. 76 (97). 489  Vgl. Seifert, WSI-Mitteilungen 53 (2000), 437 (439).

308

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00005236.

Abbildung 51: Wolfgang Clement

zum Abbau der Arbeitsmarktprobleme leisten. Und zweitens war eine Strategie zu finden, die aus einer „wilden“ Dezentralisierung der Tarifpolitik eine „kontrollierte Dezentralisierung“ machte. Aus dieser Gemengelage heraus ergab sich sowohl ein externes als auch ein internes Legitimitätsdefizit. Das externe Defizit ergab sich aus der Erkenntnis, dass die anhaltenden Arbeitsmarktprobleme über ein tripartistisches Bündnis für Arbeit nicht lösbar waren. Die Bundesregierung forderte daraufhin „immer nachdrücklicher die Ermöglichung sogenannter betrieblicher Bündnisse für Arbeit“.490 Dies stieß aber auf ein internes Legitimitätsproblem: die Fähigkeit der Tarifvertragsparteien, das Regelwerk „Flächentarifvertrag“ an sich wandelnde ökonomische Rahmenbedingungen anpassen zu können. Wolfgang Clement, Bundeswirtschaftsminister im zweiten Kabinett Schröder, stellte im November 2002 auf dem Deutschen Arbeitgebertag fest: „Machen wir uns bitte nichts vor, manche von uns sind auch nicht bereit, tradierte Rollenverteilungen in Frage zu stellen: 490  Fehmel, in: Andresen/Bitzegio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en), 2011, S. 267 (283).



4.4  Zeithistorische Debatten309

Noch immer enthalten nicht alle Tarifverträge Öffnungsklauseln für betriebliche Lösungen […].“491 Letztlich führte eine mangelnde Reform­ fähigkeit dazu, dass die Bundesregierung gesetzliche Schritte erwog. Die mangelnde Reformfähigkeit hatte sich zu einem interorganisationalem Legitimitätsproblem entwickelt. Zunächst versuchte die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder die arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen gemeinsam über ein tripartistisches Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit beizulegen (siehe Kapitel 4.4.5).492 Nachdem dies im März 2003 gescheitert war, sah sich die Bundesregierung – anders als die Kohl-Regierung Mitte der 1990er Jahre – zum Handeln gezwungen. Jetzt beschloss die Bundesregierung, das bereits erkannte, aber bislang nicht offen thematisierte interne Legitimitätsdefizit direkt anzusprechen. 4.4.6.3 Art des Staatseingriffs Im Rahmen der Regierungserklärung vom 14. März 2003, in der Gerhard Schröder seine Agenda 2020 erläuterte, drohte der Kanzler den Tarifvertragsparteien mit der Einführung gesetzlicher Öffnungsklauseln: „In den Tarifverträgen muss durch geeignete Regelungen ein entsprechend flexibler Rahmen geschaffen werden. Das ist die Herausforderung für die Tarifpartner und es ist auch ihre Verantwortung. Art. 9 des Grundgesetzes gibt der Tarifautonomie Verfassungsrang. Aber das ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung; denn Art. 9 verpflichtet die Tarifvertragsparteien zugleich, Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zu übernehmen. Hier kann und darf niemand Einzelinteressen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stellen. Ich erwarte also, dass sich die Tarifvertragsparteien entlang dessen, was es bereits gibt – aber in weit größerem Umfang –, auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber zu handeln haben.“493

491  Zitiert nach Die Bundesregierung, Rede des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, beim Deutschen Arbeitgebertag 2002 der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände am 19. November 2002 in Berlin, https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-des-bundesministersfuer-wirtschaft-und-arbeit-wolfgang-clement--783218 (5.8.2021). 492  Vgl. Streeck, in: Gesamtmetall (Hrsg.), Die deutschen Arbeitsbeziehungen am Anfang des 21. Jahrhunderts, 2001, S. 76 (94). 493  Zitiert nach Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 32. Sitzung vom 14. März 2003, Plenarprotokoll 15/32, S. 2487.

310

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00014342.

Abbildung 52: Gerhard Schröder

Die Oppositionsparteien legten sogar konkrete Gesetzesentwürfe zur Reform des Tarifvertragsrechts vor.494 Die FDP reichte schon im Januar 2000 einen Antrag zur „Reform des Tarifvertragsrechts“ ein,495 in dem das Tarifvertragsgesetz dahingehend geändert werden sollte, dass der Tarifvertrag die Beschäftigungserhaltung und -förderung zu beachten hat und das Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG) um den Aspekt der Beschäftigungssicherung erweitert wird. Das bedeutet, dass eine Unterschreitung des Tariflohns zulässig ist, wenn sie gegen eine Beschäftigungsgarantie aufgewogen werden kann. Zudem sollte die Regelungssperre nach § 77 Abs. 3 BetrVG aufgehoben werden. Sie bestimmt, dass Themen, die üblicherweise Gegenstand des Tarifvertrags sind, nicht durch eine Betriebsvereinbarung geregelt werden können, es sei denn, der Tarifvertrag sieht dies für bestimmte Themen ausdrücklich vor. Im Juli 2001 legte die FDP einen Gesetzesentwurf vor (Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung betrieblicher 494  Vgl. Möschel, Betriebs-Berater 58 (2003), 1951 (1953); Lesch, Ökonomik des Tarifrechts, 2006, S. 34 f. 495  Reform des Tarifvertragsrechts, Antrag der Fraktion der FDP vom 28.1.2000, BT-Drucks. 14/2612.



4.4  Zeithistorische Debatten311

Bündnisse für Arbeit).496 Dort war unter anderem vorgesehen, den im Rahmen des Günstigkeitsprinzips nach der Rechtsprechung möglichen Günstigkeitsvergleich um den Aspekt der Beschäftigungssicherung zu erweitern, wenn der Betriebsrat oder drei Viertel der betroffenen Arbeitnehmer des Betriebs dem zustimmen. Die CDU/CSU legte ebenfalls schon im Jahr 2000 erste Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des Tarifvertragsgesetzes vor, reichte aber erst im Sommer 2003 einen Vorschlag mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Arbeitsrechts“ im Deutschen Bundestag ein.497 Im Kern ging es auch hier um eine Erweiterung des im Rahmen des Günstigkeitsprinzips zulässigen Günstigkeitsvergleichs um den Aspekt der Beschäftigungssicherung und die Bindung einer Abweichung an ein Zustimmungsquorum. Die Gesetzesvorschläge der Oppositionsparteien wurden nicht aufgegriffen und die Bundesregierung beließ es bei ihrer Drohung. Das Tarifvertragsrecht blieb unangetastet. Dass es keinen Gesetzeseingriff gab, wird vor allem darauf zurückgeführt, dass die Tarifvertragsparteien in der Metall- und Elektro-Industrie handelten. Martin Kannegiesser, Präsident von Gesamtmetall von 2000 bis 2012, leitete aus Schröders Drohung einen klaren Appell zum Handeln ab: „Die Tarifvertragsparteien sind nun aufgefordert, für die notwendige Öffnung zu sorgen und den Betrieben noch mehr Gestaltungsspielräume zu verschaffen.“498 Knapp ein Jahr nach der Kanzlerdrohung wurde am 12. Februar 2004 das „Pforzheimer Abkommen“ geschlossen. Damit wurde die zuvor auch schon geübte, aber inoffizielle Praxis, einzelbetriebliche Abweichungen vom Flächentarifvertrag im Wege von Ergänzungstarifverträgen vereinbaren zu können, auf eine tarifvertragliche Grundlage gestellt.499 Dieses neue Abkommen „[…] beendet die politische Debatte um gesetzlich erwirkte betriebliche Bündnisse für

496  Gesetz zur Sicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit, Entwurf der FDPFraktion vom 4.7.2001, BT-Drucks. 14/6548. 497  Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Arbeitsrechts der CDU/CSUFraktion vom 18.6.2003, BT-Drucks. 15/1182. 498  Zitiert nach Gesamtmetall, Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegiesser zur Regierungserklärung: Noch nicht der große Befreiungsschlag, aber ein wichtiger Schritt nach vorne, Pressemitteilung vom 14.3.2003, https://www.verbaende.com/ news.php/Gesamtmetall-Praesident-Martin-Kannegiesser-zur-RegierungserklaerungNoch-nicht-der-grosse-Befreiungsschlag-aber-ein-wichtiger-Schritt-nach-vorne?m=17 742 (3.8.2021). 499  Vgl. Südwestmetall, Tarifvertrag „Pforzheimer Abkommen“, https://www. suedwestmetall.de/tarif/meilensteine/pforzheimer-abkommen (3.8.2021); IG Metall, Wie ein Abkommen Beschäftigung sichert, https://www.igmetall.de/tarif/besser-mittarif/wie-ein-abkommen-beschaeftigung-sichert (3.8.2021).

312

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Gesamtmetall.

Abbildung 53: Martin Kannegiesser

Arbeit und Öffnungsklauseln in Tarifverträgen“.500 Ein weiterer Grund dürfte darin gelegen haben, dass eine gesetzliche Öffnungsklausel – in welcher konkreten Ausgestaltung auch immer – verfassungsrechtliche Probleme ausgelöst hätte.501 Eine dritte Erklärung dürfte auch in der Wirkung der Hartz-Reformen ab 2005 im Zusammenspiel mit der zunehmenden Beschäftigungsorientierung der Lohnpolitik seit Mitte der 1990er Jahre – sie wirkte wie ein „informelles Bündnis für Arbeit“502 – zu finden sein. Die Arbeitslosigkeit ging nach 2005 abgesehen von der Phase der Wirtschafts- und Finanzkrise kontinuierlich zurück. Im Zuge dessen verpuffte auch die Diskussion über die Reformfähigkeit der Tarifvertragsparteien. Ungelöst blieb allerdings das Problem der sinkenden Tarifbindung. Sie war schon in den 1990er Jahren Ausdruck einer unternehmensseitigen Kritik am Flächentarifvertrag, die auch heute noch fortbesteht.

500  Finkelnburg,

Der lange Weg zur Tarifpartnerschaft, 2015, S. 506. Möschel, Betriebs-Berater 58 (2003), 1951 (1951 ff.). 502  Lesch, IW-Trends, 37 (2010), 77. 501  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten313

4.4.7  Tarifautonomiestärkungsgesetz (2010–2014) 4.4.7.1 Hintergrund Seit Mitte der 1990er Jahre kam es in Deutschland zu einem kontinuierlichen Rückgang der Tarifbindung (siehe Kapitel 2.2). Zwischen 1996 und 2014 sank die Tarifbindung der Beschäftigten in Westdeutschland von 80 auf 60 Prozent und in Ostdeutschland von 73 auf 46 Prozent (siehe Grafik 21). In den Folgejahren hielt dieser Abwärtstrend an, sodass mittlerweile auch in Westdeutschland nur noch gut die Hälfte der Beschäftigten einer Flächen- oder Haustarifbindung unterliegen.503 Parallel zu dieser Entwicklung ging auch die Mitgliederstärke der Gewerkschaften spürbar zurück. Lag der Organisationsgrad Mitte der 1990er Jahre bundesweit noch bei etwa 27 Prozent, betrug der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen Beschäftigten 2014 nur noch 17,5 Prozent.504 Zudem wurde eine sinkende Anzahl von Tarifverträgen für allgemeinverbindlich erklärt. Während zu Beginn des Jahres 1998 noch 588 Tarifverträge nach Tarifvertragsgesetz als allgemeinverbindlich galten, waren es 2014 noch knapp 500 und 2016 nur noch 444.505 Zwischen 2000 und 2017 wurden allerdings 90 80 70 60 50 40 30 20

10 0

West

Ost

1995 Ost: keine Angabe. Quelle: IAB-Betriebspanel, Sonderauswertung.

Grafik 21: Tarifbindung der Beschäftigten 1995 bis 2020 Anteil der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben in Prozent Ellguth/Kohaut, WSI-Mitteilungen 73 (2020), 278 (279). Biebeler/Lesch, Wirtschaftsdienst 95 (2015), 710 (711). 505  Vgl. Vogel, Die Allgemeinverbindlicherklärung im Tarifvertragssystem, 2019, S. 14. 503  Vgl. 504  Vgl.

314

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

24 22 20 18 16 14 12 10

Quelle: Schäfer/Schmidt, IW-Trends 44 (2017), 59 (63); eigene Darstellung.

Grafik 22: Entwicklung des Niedriglohnsektors in Deutschland Anteil der Niedriglohnbeschäftigten an allen abhängig Beschäftigten in Prozent

60 Rechtsverordnungen nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz erlassen.506 Die Möglichkeit einer Erstreckung von Mindestlöhnen nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz war zunächst auf das Baugewerbe begrenzt, wurde aber schrittweise für weitere Branchen geöffnet.507 Parallel zu einer sinkenden Tarifbindung wuchs der Niedriglohnsektor in Deutschland (siehe Grafik 22). Dies war eine politisch zunächst intendierte Entwicklung. Im Rahmen der umfassenden arbeitsmarktpolitischen Reformen der rot-grünen Bundesregierung (Hartz-Reformen) sollte zum Abbau der hohen und verfestigten Arbeitslosigkeit die Entwicklung eines Niedriglohnsektors in Deutschland gefördert werden.508 Waren 1997 noch etwa 16 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor tätig, stieg ihr Anteil an allen Beschäftigten je nach Definition innerhalb von zehn Jahren auf 22 bis 24 Prozent an. Danach entwickelte sich der Niedriglohnsektor nicht mehr überproportional, sondern parallel zur Gesamtbeschäftigung, sodass der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten an allen abhängigen Beschäftigten stabil blieb.509 506  Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke vom 24.8.2017, BT-Drucks. 18/13398, S. 12. 507  Vgl. Vogel, Die Allgemeinverbindlicherklärung im Tarifvertragssystem, 2019, S. 12. 508  Vgl. Sinn/Geis/Holzner, ifo Schnelldienst 62 (2009), 23 (23 f.). 509  Vgl. Schäfer/Schmidt, IW-Trends 44 (2017), 59 (63); Grabka/Schröder, DIW Wochenbericht 86 (2019), 250 (253).



4.4  Zeithistorische Debatten315 6.000

14

5.000

12 10

4.000

8

3.000

6

2.000

4

1.000

2

0

0

Arbeitslose (linke Achse)

Arbeitslosenquote (rechte Achse)

Quelle: BA, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf, https://statistik.arbeitsagentur.de/SiteGlobals/Forms/Suche/ Einzelheftsuche_Formular.html?nn=1610104&topic_f=laender-heft (23.7.2021).

Grafik 23: Arbeitslosigkeit 2005 bis 2020 Arbeitslose in 1000, Arbeitslosenquote in Prozent

Im Zuge der Hartz-Reformen und einer beschäftigungsorientierten Lohn­ politik ging die Arbeitslosigkeit spürbar zurück (siehe Grafik 23). Lag die Arbeitslosenquote 2005 noch bei 13 Prozent, fiel sie innerhalb von zehn Jahren auf 7,1 Prozent. Selbst die Wirtschafts- und Finanzkrise konn­ te diesen positiven Trend nicht nachhaltig bremsen. Lediglich im Jahr 2009 verzeichnete die Arbeitslosenquote einen kurzzeitigen Aufwärtstrend, bevor sie in den Folgejahren wieder kontinuierlich sank. Erst die CoronaPandemie beendete diese dauerhafte Abwärtsbewegung der Arbeitslosenzahlen. Erstmals seit über zehn Jahren stieg die Arbeitslosigkeit im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr an.510 Das Wirken der Arbeitsmarktreformen und das damit verbundene Anwachsen des Niedriglohnsektors wurden jedoch von Beginn an unterschiedlich bewertet. Für das ifo Institut war der „im Zuge der Agenda 2010 gewachsene Niedriglohnsektor […] kein Problem, sondern ein Erfolg der deutschen Politik. Es ist ein sozialer Erfolg, weil Menschen, die sonst arbeitslos wären, wieder in die Arbeitswelt integriert sind und mit Hilfe des zusätzlichen Einkommens nicht länger von Armut gefährdet sind.“511 Zwar räumt das ifo-Institut ein, dass „nicht nur tolle Jobs geschaffen wor510  BA, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf, https://statistik.arbeitsagentur.de/Site Globals/Forms/Suche/Einzelheftsuche_Formular.html?nn=1610104&topic_f=laenderheft (23.7.2021). 511  Sinn/Geis/Holzner, ifo Schnelldienst 62 (2009), 23.

316

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

den [sind]“, doch konnten durch die Schaffung eines Niedriglohnsektors Langzeitarbeitslose integriert und die Arbeitslosigkeit unter Geringqualifizierten gesenkt werden.512 Ganz anders bewertete das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) die Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Das IAQ sah die wachsende Niedriglohnbeschäftigung kritisch, da „ein Wettbewerb, der vorrangig über die Löhne ausgetragen wird, auf Kosten der Qualität und der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten“513 gehe. Niedrige Stundenlöhne wie in Deutschland wären „in den meisten anderen Ländern aufgrund von gesetzlichen Mindestlöhnen unzulässig“.514 Sowohl die rückläufige Tarifbindung als auch der Anstieg des Niedriglohnsektors wurden politisch kontrovers diskutiert. Dabei wurden die beiden Entwicklungen auch verknüpft und die sinkende Tarifbindung als eine der Ursachen für den wachsenden Niedriglohnsektor angeführt. Um diesen aus Gewerkschaftssicht unerwünschten Trends entgegenzuwirken, starteten die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) bereits 2006 unter dem Slogan „Arm trotz Arbeit“ eine gemeinsame Initiative zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns.515 Im gleichen Jahr wurden auch auf dem DGB-Bundeskongress ein branchenbezogenes Mindestentgelt sowie die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns gefordert, um den Niedriglohnsektor einzudämmen.516 Auf dem DGB-Bundeskongress 2010 beschlossen die Delegierten schließlich, gemeinsam die Exekutive aufzufordern, einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro je Stunde einzuführen.517 Die SPD schloss sich der Initiative der Gewerkschaften an und wurde schon früh zur Befürworterin gesetzlicher Mindestlöhne. In ihrem Hamburger Programm 2007 forderte sie die Einführung „existenzsichernde[r] Mindestlöhne“.518 Durch Mindestlöhne sollte eine gerechte Teilhabe der Beschäftigten sowie ein ausreichender Verdienst zur Bestreitung des Le512  Sinn/Geis/Holzner,

ifo Schnelldienst 62 (2009), 23 (24). Niedriglohnbeschäftigung 2007 weiter gestiegen, 2009, S. 10. 514  Kalina/Weinkopf, Niedriglohnbeschäftigung 2007 weiter gestiegen, 2009, S. 9. 515  DGB, Rückblick 2006: Mindestlohn wird zum Thema. Die Öffentlichkeit wird auf den Mindestlohn aufmerksam, https://www.dgb.de/schwerpunkt/mindestlohn/ kampagne/rueckblick/rueckblick-2006 (15.5.2021). 516  Vgl. DGB, Rückblick 2006: Mindestlohn wird zum Thema. Die Öffentlichkeit wird auf den Mindestlohn aufmerksam, https://www.dgb.de/schwerpunkt/mindestlohn/ kampagne/rueckblick/rueckblick-2006 (15.5.2021). 517  Vgl. DGB, 19. DGB-Bundeskongress beschließt 8,50 Euro Mindestlohn, Pressemitteilung vom 18.5.2010, https://www.dgb.de/presse/++co++c5cf96f6-628f-11df79f5-00188b4dc422 (15.12.2020). 518  SPD, Hamburger Programm, 2007, S. 54. 513  Kalina/Weinkopf,



4.4  Zeithistorische Debatten317

Quelle: DGB.

Abbildung 54: DGB-Kampagne zur Einführung des Mindestlohns

bensunterhalts bei Vollbeschäftigung gewährleistet werden.519 Bei Bündnis 90/­Die Grünen hielt die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn im Jahr 2009 Einzug in das Bundestagswahlprogramm: „Mit einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von wenigstens 7,50 Euro je Stunde wollen wir sicherstellen, dass man von seiner Arbeit auch leben kann.“520 Um „Armutslöhnen und Lohndumping“ entgegenzuwirken sowie „die Enteignung der Beschäftigten“ zu stoppen, forderte zudem Die Linke in ihrem Parteiprogramm aus dem Jahr 2011 die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 60 Prozent des Durchschnittsverdienstes.521 Im Unterschied zur SPD stand die CDU/CSU einer einheitlichen Lohnuntergrenze zunächst ablehnend gegenüber. Auf dem Arbeitgebertag 2006 sprach sich Bundeskanzlerin Angela Merkel klar gegen die Einführung eines Mindestlohns aus: „Es wird keinen flächendeckenden einheitlichen 519  Vgl.

SPD, Hamburger Programm, 2007, S. 54. 90/Die Grünen, Der grüne neue Gesellschaftsvertrag, 2009, S. 36. 521  Die Linke, Programm der Partei Die Linke, 2011, S. 36. 520  Bündnis

318

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00089447.

Abbildung 55: Angela Merkel

Mindestlohn geben. Ich halte ihn für falsch.“522 Auch drei Jahre später hatte sich an dieser Position wenig geändert. Im Koalitionsvertrag mit der FDP aus dem Jahr 2009 findet sich folgende Passage: „CDU, CSU und FDP bekennen sich zur Tarifautonomie. Sie ist ein hohes Gut, gehört unverzichtbar zum Ordnungsrahmen der Sozialen Marktwirtschaft und hat Vorrang vor staatlicher Lohnfestsetzung. Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn lehnen wir ab.“523 Ähnlich positionierte sich auch die Arbeitgeberseite im April 2008: „Die Arbeitgeber sind gegen jede Form gesetzlich verordneter Mindestlöhne sowie gegen eine staatliche Tarifzensur. Jeder staatliche Eingriff in die Lohngestaltung beeinträchtigt die Tarifautonomie und setzt das bestehende System der Lohnfindung aufs Spiel.“524

522  Zitiert nach Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim Arbeitgebertag der BDA am 7.11.2006, https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzlerindr-angela-merkel-797312 (17.5.2021). 523  CDU/CSU/FDP, Wachstum. Bildung. Zusammenhalt, 2009, S. 21. 524  BDA, Mindestlohn, 2008.



4.4  Zeithistorische Debatten319

Während CDU/CSU und FDP die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ablehnten, formierte sich in der Bevölkerung großer Zuspruch. In einer repräsentativen Umfrage von Infratest dimap im Auftrag des DGB aus dem Jahr 2009 befürworteten 85 Prozent der Befragten Lohnuntergrenzen in allen oder zumindest in bestimmten Branchen. Beachtlich erscheint dabei, dass auch 74 Prozent der FDP-Wähler und 80 Prozent der Unions-Wähler angaben, für die Einführung von Mindestlöhnen zu sein.525 In den Folgejahren legte die Union ihre ablehnende Haltung gegenüber Mindestlöhnen dann schrittweise ab. Auf ihrem Leipziger Parteitag im Jahr 2011 kam es zu einem Beschluss, der die Notwendigkeit einer verbindlichen Lohnuntergrenze betonte: „Die CDU hält es für notwendig, eine allgemeine verbindliche Lohnuntergrenze in den Bereichen einzuführen, in denen ein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert. Die Lohnuntergrenze wird durch eine Kommission der Tarifpartner festgelegt und soll sich an den für allgemein verbindlich erklärten tariflich vereinbarten Lohnuntergrenzen orientieren. Die Festlegung von Einzelheiten und weiteren Differenzierungen obliegt der Kommission. Wir wollen eine durch Tarifpartner bestimmte und damit marktwirtschaftlich organisierte Lohnuntergrenze und keinen politischen Mindestlohn.“526 Die Umsetzung dieses Vorhabens in der bis 2013 laufenden Legislaturperiode scheiterte jedoch am Widerstand des Koalitionspartners FDP. Neben den Diskussionen um den wachsenden Niedriglohnsektor und die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns gerieten auch die rückläufige Tarifbindung und Maßnahmen zu deren Stärkung immer mehr in den Fokus. Die Gewerkschaften kritisierten in diesem Zusammenhang die Bildung von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung (OT-Verbände). Diese hätten den Trend der Abkehr vom Flächentarifvertrag zusätzlich begünstigt.527 Gewerkschaftsnahe Arbeitsmarktexperten erhoben sogar den Vorwurf, dass OT-Verbände in einigen Branchen wie dem Einzelhandel oder der Holzindustrie „bewusst und erfolgreich dazu eingesetzt [werden], die vorhandenen Tarifstrukturen zu zerstören“.528 Die Arbeitgeber verwiesen hingegen darauf, dass der Flächentarifvertrag für viele kleine und mittlere Unternehmen nicht attraktiv genug sei, da diese die in Tarifverträgen ver525  Vgl. DGB, Infratest dimap: Überwältigende Mehrheit für Mindestlohn, Umfrage zur Bundestagswahl 2009, https://www.dgb.de/themen/++co++ec2aaa98-dde111e4-bb26-52540023ef1a (17.5.2021). 526  CDU, 24. Parteitag der CDU Deutschlands, Sonstige Beschlüsse, 2011, S. 2. 527  Vgl. DGB, Sommer würdigt 60 Jahre Tarifvertragsgesetz, Pressemitteilung vom 24.4.2009, https://www.dgb.de/presse/++co++c76fa824-1560-11df-4ca9-00093 d10fae2 (20.5.2021). 528  Haipeter, Schwächelnde Gegenspieler, 2013.

320

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

einbarten Maximalbedingungen nicht mittragen könnten.529 Daher brauchte es aus Arbeitgebersicht keine Mindestlöhne oder sonstigen Staatseingriffe. Vielmehr forderte die Arbeitgeberseite eine „Flexibilisierung“ und „Individualisierung der Tarifverträge“.530 Die Oppositionsparteien Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und SPD stellten 2011 und 2012 im Deutschen Bundestag jeweils eigene Anträge, mit denen das Tarifsystem stabilisiert, gestärkt oder die Erosion der Tarifvertragssysteme gestoppt werden sollte.531 Im Mittelpunkt aller Vorschläge stand die Stärkung der Tarifgeltung durch eine Reform der Allgemein­ verbindlichkeit und die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (­AEntG) auf alle Branchen. Die christlich-liberale Bundesregierung griff die Pläne der Opposition nicht auf. Erst nach dem durch die Ergebnisse der Bundestagswahl 2013 erzwungenen Regierungswechsel wurde die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD auf Druck der Sozialdemokraten aktiv. 4.4.7.2 Art des Legitimitätsproblems Ausgangspunkt für die Gesetzesinitiative zum Tarifautonomiestärkungsgesetz waren somit zwei parallele Entwicklungen. Bei der zurückgehenden Tarifbindung handelte es sich zunächst um ein intraorganisationales Pro­ blem der Tarifvertragsparteien (siehe auch Kapitel 4.4.9). Eine schwindende Organisationsfähigkeit sowohl auf Arbeitgeber- als auch Arbeit­ nehmerseite warf die Frage auf, inwiefern Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften ihrer Aufgabe, einen sozialen Ausgleich zwischen Arbeit­ nehmer- und ­ Arbeitgeberinteressen zu schaffen, noch flächendeckend gerecht werden konnten. Die Argumentation der Arbeitgebervertreter, dass die Festschreibung von Maximal- statt Minimalbedingungen mit für die schwin­ dende Tarifbindung verantwortlich sei, deutet zusätzlich auf ein interorganisationales Legitimitätsproblem hin. Die Tarifvertragsparteien ­ 529  Vgl. BDA, Die Tarifpolitik ist ein Kernelement der Sozialen Marktwirtschaft, https://arbeitgeber.de/themen/arbeitsrecht-und-tarifpolitik/tarifvertrag/ (15.12.2020). 530  Dulger zitiert nach Gesamtmetall, „Tarifautonomie ist ein Erfolgsmodell“, Interview im Deutschlandfunk vom 15.9.2012, https://www.gesamtmetall.de/aktuell/ interviews/tarifautonomie-ist-ein-erfolgsmodell (20.5.2021). 531  Vgl. Tarifvertragssystem stärken – Allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifische Mindestlöhne erleichtern, Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 19.1.2011, BT-Drucks. 17/4437; Tarifsystem stabilisieren, Antrag der Fraktion Die Linke vom 13.12.2011, BT-Drucks. 17/8148; Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen – Sicherung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, Antrag der SPD-Fraktion vom 24.1.2012, BT-Drucks. 17/8459.



4.4  Zeithistorische Debatten321

schienen diesen strukturellen Konflikt um die in Tarifverträgen vereinbarten Arbeitsbedingungen immer schwerer überwinden zu können. Gleichzeitig sahen Teile von Politik und Wissenschaft ein externes Legitimitätsproblem. In ihren Augen wirkte sich die interne Organisationsschwäche beider Seiten bereits auf externe, das Gemeinwohl betreffende Faktoren wie die Verteilungsgerechtigkeit aus. Da immer weniger Unternehmen nach Tarifvertrag entlohnten, greife Lohndumping um sich. Der wachsende Niedriglohnsektor werfe die Frage auf, inwiefern das schwächelnde Tarifsystem noch autonom dazu fähig sei, angemessene Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland herzustellen oder ob nicht vielmehr der Staat das Tarifsystem über mehr Allgemeinverbindlicherklärungen und einen gesetzlichen Mindestlohn stützen müsse. Zudem würden veränderte Wettbewerbsregelungen auf europäischer Ebene für eine wachsende Außenseiterkonkurrenz mit Lohndumping sorgen. Durch die Dienstleistungsfreiheit konnten ausländische Arbeitnehmer zu den Lohnkonditionen ihrer Länder in Deutschland arbeiten. Die Möglichkeit, dies durch allgemeinverbindliche Mindestlöhne auf Grundlage des AEntG zu unterbinden, bestand jedoch nur für eine eng begrenzte Anzahl an Branchen.532 In den 1990er Jahren und Anfang der 2000er wurden die Debatten um die Legitimität der Tarifautonomie noch insbesondere durch die hohe Arbeitslosigkeit getrieben. Aufgrund guter Wirtschaftskennzahlen und der deutlich verbesserten Beschäftigungslage änderte sich der Fokus jedoch in der Debatte um das Tarifautonomiestärkungsgesetz. So gewannen in jüngster Vergangenheit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit immer mehr an Gewicht. Die sinkende Tarifbindung wurde gemeinsam mit der Ausbreitung von Niedriglöhnen als Teil eines Verteilungsproblems angesehen, sodass diesbezüglich Zweifel an der Effektivität des Tarifsystem aufkamen. 4.4.7.3 Art des Staatseingriffs Das Anwachsen des Niedriglohnsektors war zwar nicht vorwiegend auf eine mangelnde Funktionsfähigkeit des Tarifsystems zurückzuführen, sondern vor allem Folge der erfolgreichen Integration vieler vormals arbeitsloser Personen in den Erwerbsprozess, was politisch auch gewollt war. Dennoch veranlasste die Kombination aus rückläufiger Organisationsfähigkeit der Tarifvertragsparteien und einer von Teilen der Gesellschaft und der Politik als verteilungspolitisch unerwünscht betrachteten Einkommensentwicklung die Regierung zu einem gesetzlichen Eingriff in die Tarifauto532  Vgl.

Bosch/Kalina/Weinkopf, WSI-Mitteilungen 61 (2008), 423 (428 f.).

322

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

nomie. Im Rahmen des 2014 verabschiedeten Tarifautonomiestärkungsgesetzes wurde ein Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro eingeführt, mithilfe dessen Lohnunterbietungswettbewerbe zwischen Unternehmen verhindert und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen geschützt werden sollten. Zudem wurde das 50 Prozent-Quorum bei der Allgemeinverbindlicherklärung nach dem Tarifvertragsgesetz gestrichen und durch ein „konkretisiertes öffentliches Interesse“ und den Nachweis der überwiegenden Bedeutung eines Tarifvertrags ersetzt.533 Gleichzeitig wurde der Geltungsbereich des Arbeitnehmerentsendegesetzes auf alle Branchen ausgeweitet. Mit diesen Maßnahmen sollte die Tarifautonomie gestärkt sowie angemessene Arbeitsbedingungen geschaffen werden.534 4.4.7.4  Politische Debatte Das Tarifautonomiestärkungsgesetz und insbesondere die damit verbundene Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns löste eine kontroverse politische Debatte aus. Der DGB bewertete die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2014 als „Meilenstein in der sozialen Absicherung der ­Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“.535 Der damalige DGB-Vorsitzende Michael Sommer kommentierte den Gesetzesentwurf wie folgt: „Die Regelungen zum Arbeitnehmerentsendegesetz und zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen werden die Tarifautonomie stärken, auch wenn es im Detail noch Nachbesserungsbedarf gibt. Mit diesen Regelungen werden künftig deutlich mehr Beschäftigte durch Tarifverträge geschützt – ein wichtiger Baustein für eine neue Ordnung der Arbeit“.536 Deutlich kritischer sah die Arbeitgeberseite die Regelungen des Tarif­ autonomiestärkungsgesetzes. So wertete die BDA das Gesetzesvorhaben von vornherein als Eingriff in die Tarifautonomie, der die Tarifautonomie schwächen und den Arbeitsmarkt belasten wird. In einem Positionspapier vom 3. März 2014 ist zu lesen: „Ein einheitlicher, gesetzlicher Mindest533  Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) der Bundesregierung vom 28.5.2014, BT-Drucks. 18/1558, S. 1. 534  Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) der Bundesregierung vom 28.5.2014, BT-Drucks. 18/1558, S. 1 f. 535  Schriftliche Stellungnahme des Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Ausschuss-Drucks. 18(11)150 vom 24.6.2014, S. 32. 536  Zitiert nach DGB, Tarifpaket: Licht und Schatten, Pressemitteilung vom 20.3.2014, https://www.dgb.de/themen/++co++d15ba5e0-b025-11e3-a9f2-52540023 ef1a (12.11.2020).



4.4  Zeithistorische Debatten323

lohn von 8,50 € ist ein schwerer Eingriff in die Tarifautonomie und damit in die Aufgabe der Tarifvertragsparteien, durch Tarifverträge Arbeitsbedingungen zu gestalten.“537 Insbesondere der fehlende Tarifvorrang stieß auf Widerstand. In den Augen der BDA darf ein gesetzlicher Mindestlohn keine tariflichen Entgeltvereinbarungen verdrängen. Nur so könne die Tarifautonomie ausreichend geschützt werden. Zudem sei eine staatsferne Gestaltung des Mindestlohns essenziell, da ansonsten durch die Setzung der Mindestlohnhöhe Tarifverhandlungen beeinflusst werden könnten. Der einzig akzeptable Mechanismus zur Anpassung des Mindestlohns sei die Orientierung an der Tariflohnentwicklung der vergangenen Jahre.538 In der vereinfachten Anwendung der Allgemeinverbindlicherklärung sahen die Arbeitgeber keine Stärkung der Tarifautonomie, sondern eine potenzielle Schwächung. Sie verwiesen auf die Gefahr, dass die Bereitschaft zur Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden oder Gewerkschaften dadurch weiter abnehmen könnte. Folge könnte eine sinkende Akzeptanz von Tarifverträgen und der Tarifautonomie sein.539 Im Geschäftsbericht des Jahres 2014/ 2015 betonte der Arbeitgeberverband Gesamtmetall, dass eine Tarifbindung freiwillig bleiben muss und Allgemeinverbindlicherklärungen daher nur Ausnahmen darstellen dürfen. In den Augen des Arbeitgeberverbandes „stellt sich aufgrund des Gesetzes auch die Frage nach der Attraktivität und Durchsetzungskraft von Tarifverträgen kraft eigener Macht der Tarif­ vertragsparteien“.540 Auch in der Politik war die Verabschiedung des Gesetzes nicht unumstritten. Einige Abgeordnete des Deutschen Bundestags sahen im Tarifautonomiestärkungsgesetz eher Gefahren als Chancen für das Tarifsystem. So bezeichnete der damalige Unions-Fraktionsvize Michael Fuchs die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns als „Systemwechsel“.541 Ähnlich äußerte sich auch der damalige CDU-Abgeordnete Ulrich Lange. Er betonte in einer Rede vom 27. Juni 2013, „dass in Deutschland die Tarifautonomie im Grundgesetz im Art. 9 Abs. 3 garantiert wird. Das bedeutet, 537  BDA, Tarifautonomie nicht beschädigen – Einstieg in den Arbeitsmarkt erhalten, Grundsätzliche Positionen zur Ausgestaltung des geplanten gesetzlichen Mindestlohns, 2014. 538  Vgl. Schriftliche Stellungnahme der BDA zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Ausschuss-Drucks. 18(11)149 vom 24.6.2014, S. 6 f. 539  Vgl. Schriftliche Stellungnahme der BDA zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Ausschuss-Drucks. 18(11)149 vom 24.6.2014, S. 7. 540  Gesamtmetall, Geschäftsbericht 2014/2015, S. 21 f. 541  Zitiert nach Hellemann/Lambeck, Mindestlohn ist geil! Die Frage ist nur – für wen?, in: BaS v. 20.10.2013, https://www.bild.de/politik/inland/mindestlohn/ist-geilaber-fuer-wen-33045272.bild.html (13.11.2020).

324

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Gesamtmetall.

Abbildung 56: Rainer Dulger

dass die Regelungskompetenz für Löhne bei den Tarifparteien liegt.“542 Der damals amtierende Präsident von Gesamtmetall, Rainer Dulger, plädierte dafür, dass nicht der Staat, sondern die Tarifvertragsparteien die Tarifautonomie wieder mit Leben füllen müssten. Kurzfristige Rufe nach dem Staat könnten die Grundlagen der Tarifautonomie hingegen gefährden.543

542  Lange, Unnötige staatliche Eingriffe in die Lohnfindung gefährden die Tarifautonomie, Rede zum Mindestlohn vom 27.6.2013, https://www.cducsu.de/themen/ arbeit/unnoetige-staatliche-eingriffe-die-lohnfindung-gefaehrden-die-tarifautonomie-0 (13.11.2020). 543  Vgl. Borstel/Wisdorf, „Wer nach Staat ruft, gefährdet Tarifautonomie“, in: Welt v. 21.2.2014, https://www.welt.de/wirtschaft/article125092097/Wer-nach-Staatruft-gefaehrdet-Tarifautonomie.html (13.11.2020).



4.4  Zeithistorische Debatten325

4.4.8  Tarifeinheitsgesetz (2010–2015) 4.4.8.1 Hintergrund Die Tarifeinheit im Sinne von „Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“544 stellte lange Zeit ein die Tariflandschaft prägendes Ordnungsprinzip dar. Wenn auch nicht gesetzlich verankert, galt die Tarifeinheit als wichtiger Grundsatz in der Rechtsprechung. 1957 vom BAG entwickelt, sollte durch dieses Prinzip Wettbewerb zwischen Gewerkschaften verhindert, Sparten- und Spezialisten-Tarifverträge verdrängt und die Anwendung des sachnäheren Tarifvertrags gewährleistet werden.545 Nach der Wiedervereinigung geriet dieses Prinzip jedoch von zwei Seiten unter Druck. Zum einen wurden in den 1990er Jahren mit der Christ­ lichen Gewerkschaft Metall in den neuen Bundesländern Tarifverträge abgeschlossen, die unter dem Niveau der Abschlüsse der etablierten DGBGewerkschaften lagen. Es kam damit zu einem Unterbietungswettbewerb zwischen Tarifverträgen unterschiedlicher Gewerkschaften.546 Zum anderen reagierten nach dem Zusammenschluss verschiedener Einzelgewerkschaften (darunter auch die nicht im DGB organisierte DAG) zu ver.di im Jahr 2001 einige Berufsgewerkschaften, die bislang in Tarifgemeinschaften verhandelten, mit Forderungen nach eigenständigen Tarifverträgen.547 Dies entfachte in einigen Branchen einen Überbietungswettbewerb. So trat beispielsweise die Vereinigung Cockpit (VC) erstmals in der Tarifrunde 2001 als eigenständiger tarifpolitischer Akteur auf und konnte durch Streikaktivitäten deutlich höhere Gehaltsanpassungen durchsetzen als ver.di.548 Ähnliche Entwicklungen setzten sich in den 2000er Jahren fort. So kündigten auch der Marburger Bund (MB), die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) oder die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO) bestehende Kooperationsvereinbarungen mit anderen, oftmals DGB-Gewerkschaften auf und setzten fortan auf eine eigenständige, unabhängige Tarifpolitik.549 Das Prinzip der Tarifeinheit wurde somit in einigen Bereichen

544  Monopolkommission,

XVIII. Hauptgutachten, 2010, Nr. 941. Monopolkommission, XVIII. Hauptgutachten, 2010, Nr. 937. 546  Vgl. Monopolkommission, XVIII. Hauptgutachten, 2010, Nr. 939. 547  Vgl. Keller, Sozialer Fortschritt 57 (2008), 163; Schroeder/Greef, Industrielle Beziehungen 15 (2008), 329. 548  Vgl. Lesch, Zeitschrift für Politikwissenschaft 26-2 (2016), 155 (164 f.). 549  Vgl. Lesch, Zeitschrift für Politikwissenschaft 26-2 (2016), 155 (159 ff.); Dribbusch, Tarifkonkurrenz als gewerkschaftspolitische Herausforderung, 2010, S. 9 f. 545  Vgl.

326

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

aufgebrochen und durch eine Tarifpluralität im Sinne von „eine Berufsgruppe – ein Tarifvertrag“ ersetzt.550 Das Auftreten neuer Tarifakteure in Form von Berufsgewerkschaften blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Tariflandschaft und insbesondere auch auf die Arbeitskampfpraxis. Um sich neben den bisher tarifführenden Gewerkschaften etablieren zu können und lukrativere Tarifverträge für die eigenen Mitglieder durchzusetzen, benötigen Berufsgewerkschaften eine hohe Durchsetzungskraft. Daher sind überbietende Berufsgewerkschaften in ihrer Sparte meist gut organisiert und vertreten häufig Berufsgruppen, die über eine hohe strukturelle Macht verfügen. Da eine hohe Streikfähigkeit eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg von Spartengewerkschaften ist und eigenständige Abschlüsse für deren Mitglieder meist nur gegen den Willen der Arbeitgeber und damit nur durch Konflikt zu erreichen sind, gelten Spartengewerkschaften im Vergleich zu großen Branchengewerkschaften als konfliktfreudiger.551 Allerdings lässt der Blick auf die amtliche Streikstatistik keinen erheblichen Einfluss der Anfang der 2000er Jahre aufkommenden Tarifpluralität auf das gesamtdeutsche Streikgeschehen vermuten. Werden die verlorenen Arbeitstage durch Streiks und Aussperrungen pro Jahr betrachtet, zeigt sich ein uneindeutiger Trend (siehe Grafik 24). Einzig das Jahr 2015 sticht mit deutlich über einer Million Ausfalltage heraus. Zu diesem hohen Streikaufkommen trugen jedoch neben Spartengewerkschaften wie der GDL insbesondere Branchengewerk­ schaften bei. So kam es unter anderem zu umfangreichen Streiks der IG Metall in der Metallindustrie, von ver.di und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im Sozial- und Erziehungsdienst und von ver.di bei der Deutschen Post AG.552 Zahlenmäßig fielen die Streikaktivitäten der verhältnismäßig kleinen Spartengewerkschaften somit zwar wenig ins Gewicht. Dennoch zeigen Analysen des Konfliktverhaltens von Sparten- und Branchengewerkschaften, dass Spartengewerkschaften konfliktreicher agierten. Zum einen war die durchschnittliche Verhandlungsdauer bei den Spartengewerkschaften zwischen Januar 2000 und Anfang Dezember 2014 fast doppelt so lang wie bei den Branchengewerkschaften (siehe Tabelle 12).553 Zum anderen 550  Monopolkommission,

XVIII. Hauptgutachten, 2010, Nr. 941. Dribbusch, Tarifkonkurrenz als gewerkschaftspolitische Herausforderung, 2010, S. 8. 552  Vgl. Bispinck, Tarifpolitischer Jahresbericht 2015, 2016, S. 4 f. 553  Vgl. Lesch/Hellmich, List Forum 40 (2014), 352 (363). Zur genauen Beschreibung der einbezogenen Branchen und Zeiträume vgl. Lesch/Hellmich, List Forum 40 (2014), 352 (362, Tabelle 1). 551  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten327 1.200.000 1.000.000 800.000

600.000 400.000 200.000 0

Bis 2007 wurden nur Arbeitsstreitigkeiten statistisch ausgewiesen, an denen im betroffenen Betrieb mindestens 10 Arbeitnehmer beteiligt (betroffen) waren und die mindestens einen Tag dauerten oder durch die ein Verlust von mehr als 100 Arbeitstagen entstanden ist. Quelle: BA, Streikstatistik, https://statistik.arbeitsagentur.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Einzelheftsuche_For mular.html?nn=1523096&topic_f=streik (30.7.2021).

Grafik 24: Ausfalltage durch Streiks und Aussperrungen 1993 bis 2016 Anzahl der verlorenen Arbeitstage

zeigen auch Berechnungen der maximalen Eskalationsstufe554 und der Konfliktintensität555, dass Tarifkonflikte von Spartengewerkschaften durchschnittlich stärker eskalierten als die von Branchengewerkschaften. Die durchschnittliche Konfliktintensität lag im Untersuchungszeitraum bei den Spartengewerkschaften sogar doppelt so hoch wie bei Branchengewerkschaften. Auch wenn die Konfliktintensität grundsätzlich sowohl in Branchen mit als auch in solchen ohne Gewerkschaftskonkurrenz hoch sein kann, stachen in den 2000er Jahren nur Branchen als besonders friedlich hervor, in denen Tarifeinheit herrschte.556 Neben der Etablierung von Spartengewerkschaften als eigenständige Tarifakteure kam es nach der Jahrtausendwende auch zu einem Strukturwandel des Arbeitskampfs in Deutschland (siehe Grafik 25). Während 554  Die maximale Eskalationsstufe drückt aus, bis zu welchem Eskalationsniveau eine Tarifauseinandersetzung ausgetragen wird. Die Spanne reicht dabei von einer Streikdrohung über Warnstreiks und juristische Auseinandersetzungen bis hin zum Arbeitskampf, der die höchstmögliche Eskalationsstufe darstellt. 555  Die Konfliktintensität berücksichtigt als dynamisches Maß der Konfliktmessung nicht nur das maximale Eskalationsniveau, sondern auch den zeitlichen Verlauf eines Tarifkonflikts. Treten etwa Streikdrohungen oder Warnstreiks nach mehreren Verhandlungsrunden auf, werden diese auch alle einzeln gezählt und gewertet. 556  Vgl. Lesch/Hellmich, List Forum 40 (2014), 352 (364 f.).

328

4. Die Legitimität von Tarifautonomie Tabelle 12 Konfliktbereitschaft von Gewerkschaften Maximale Eskalationsstufe (Maximum = 7)

Konflikt­ intensität

Verhandlungslänge

Spartengewerkschaften

4,2

21,3

9,2

GDL

4,6

37,8

10,8

MB

4,6

22,1

5,9

UFO

4,6

10,2

9,8

GdF

4,3

16,8

7,7

VC

3,1

19,8

11,8

Branchengewerkschaften

3,3

11,6

4,6

IG Metall

4,2

19,8

3,5

TG ver.di/dbb/GEW

4,2

17,3

4,9

IG BAU

3,6

7,7

5,4

ver.di

3,5

12,6

4,8

EVG

2,9

6,9

6,2

IG BCE

0,2

0,2

2,0

Jeweils Durchschnitte, Werte in Punkten und Verhandlungslänge in Monaten; Basis sind 143 Tarifkonflikte verschiedener Branchen zwischen Anfang 2000 und Ende 2014, wobei folgende Branchen berücksichtigt wurden: IG Metall: Metall- und Elektro-Industrie, TG ver.di/dbb/GEW: Öffentlicher Dienst, IG BAU: Bauhauptgewerbe, ver.di: Druckindustrie, Einzelhandel, Luftfahrt, Nachrichtenübermittlung, Privates Bankgewerbe, EVG: Schienenverkehr, IG BCE: Chemische Industrie; TG: Tarifgemeinschaft. Quelle: Lesch/Hellmich, List Forum 40 (2014), 352 (363).

­ rbeitskämpfe in der Industrie zurückgingen, nahm deren Zahl in der A Dienstleistungsbranche deutlich zu. Im Zuge dieser Tertiarisierung des Arbeitskampfs ging das Arbeitskampfvolumen etwas zurück, die Anzahl an Tarifauseinandersetzungen mit Arbeitsniederlegungen sowie die Streikdauer stieg jedoch aufgrund zunehmend kleinteiligerer Streiks an. Die Spartengewerkschaften waren dafür mitverantwortlich, insbesondere die VC, der MB und die GDL gewannen durch langwierige Tarifauseinandersetzungen in Bereichen der Daseinsvorsorge, die mit großen Streikschäden einhergingen, großes öffentliches Interesse.557 557  Vgl. Lesch, IW-Trends 42 (2015), 3 (6 ff.); Bewernitz/Dribbusch, WSI-Mitteilungen 67 (2014), 393 (395 f.). Zur Abschätzung der Drittwirkungen von Streikschä-



4.4  Zeithistorische Debatten329

6

15 54

78

80

22

20

2005/2009

2010/2014

94

85 46

1990/1994

1995/1999

2000/2004

Produzierendes Gewerbe

Dienstleistungen

Gebietsstand: 1990-1992 früheres Bundesgebiet. Quelle: Lesch, IW-Trends 42 (2015), 3 (7).

Grafik 25: Wandel in der Sektorstruktur der Arbeitskämpfe Durch Arbeitskämpfe verlorene Arbeitstage in Deutschland nach Sektoren, jahresdurchschnittliche Anteile in Prozent

Doch nicht nur faktisch wurde das Prinzip der Tarifeinheit aufgebrochen. Auch aus juristischer Perspektive stand es in der Kritik. So sahen viele durch die Anwendung dieses Prinzips die Koalitionsfreiheit gefährdet, da ausgehandelte Tarifverträge einfach verdrängt würden.558 Im Jahr 2010 änderte schließlich das BAG diesbezüglich seine Rechtsprechung und gab den Grundsatz der Tarifeinheit auf. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass die Rechtsnormen eines Tarifvertrags laut Tarifvertragsgesetz unmittelbar gelten müssen und ihre Gültigkeit nicht dadurch verlieren, dass in einem Betrieb bereits einer oder mehrere andere Tarifverträge gelten. Das BAG bekannte sich damit zur Tarifpluralität. Es sah keine hinreichenden Gründe dafür, dass für unterschiedliche Beschäftigte eines Betriebs nicht auch unterschiedliche Tarifverträge Anwendung finden können. In der Begründung seiner Entscheidung wies das Gericht auch darauf hin, dass das Tarifvertragsgesetz keinen allgemeinen Grundsatz der Tarifeinheit vorsieht, auf den sich berufen werden könnte.559

den im Öffentlichen Dienst vgl. Bauernschuster/Fichtl/Hener/Rainer, ifo Schnelldienst 67 (2014), 31. 558  Vgl. Monopolkommission, XVIII. Hauptgutachten, 2010, Nr. 939. 559  Vgl. BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 2/10 , NZA 2010, 778; BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 3/10, ZIP 2010, 1309.

330

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Süddeutsche Zeitung Photo/Thomas Robbin/imageBROKER.

Abbildung 57: Bundesarbeitsgericht, Erfurt

Die Abkehr des BAG von seiner bisherigen Linie löste eine umfassende Debatte darüber aus, die Tarifeinheit gesetzlich zu verankern. Diese Debatte um das Prinzip der Tarifeinheit wurde durch extensive Streiktätigkeiten einzelner Spartengewerkschaften flankiert und auch weiter angeheizt. Prominente Beispiele stellten die monatelangen Kampfmaßnahmen der GDL zur Durchsetzung eines Bundes-Rahmen-Tarifvertrags im Jahr 2011 oder auch die Auseinandersetzung zwischen der Gewerkschaft der Flug­ sicherung (GdF) und dem Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport im Jahr 2012 dar.560 Insbesondere beim Streik der GdF wurde das mit Spartengewerkschaften verbundene Konfliktpotenzial deutlich. Eine Gruppe von nur 200 Vorfeld-Mitarbeitern verursachte an neun Streiktagen solch massive wirtschaftliche Verluste für den Arbeitgeber, dass dieser sich in der Folge gezwungen sah, enorme Gehaltssteigerungen von bis zu 70 Prozent zu akzeptieren.561 Schließlich verdeutlichte auch eine Tarifauseinandersetzung bei der Deutschen Bahn AG in den Jahren 2014 und 2015, welches Konfliktpotenzial eine Tarifpluralität mit sich bringen kann. Hier kam es zu einem Statuskonflikt, weil die GDL den Anspruch erhob, für alle ihre Mitglieder die 560  Vgl. 561  Vgl.

Lesch/Petters, Wirtschaftsdienst 92 (2012), 294. Schmidt/Bachmann, Wirtschaftsdienst 92 (2012), 291 (292).



4.4  Zeithistorische Debatten331

Quelle: Süddeutsche Zeitung Photo/snapshot/Future Image/C.Hardt.

Abbildung 58: Streik der GDL 2015

Arbeitsbedingungen verhandeln zu dürfen, also auch für jene Berufsgruppen wie Zugbegleiter und Bordgastronomen, die zu einem erheblichen Teil bei der konkurrierenden Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) organisiert waren. Eine seit 2008 geltende Arbeitsteilung zwischen GDL und EVG war zuvor ausgelaufen.562 Erst nach knapp einem Jahr und neun Streikwellen konnte der Konflikt zwischen Deutscher Bahn AG und GDL beigelegt werden. Der Tarifabschluss beinhaltete unter anderem die Übernahme der Entgeltregelungen des EVG-Abschlusses des gleichen Jahres. Darüber hinaus erhielt die GDL die Garantie, bis mindestens 2020 als ­Tarifvertragspartei anerkannt zu werden. Dafür musste sie jedoch einem Schlichtungsabkommen zustimmen, dass vor dem Aufruf zu Streiks zu einer Schlichtung verpflichtete.563

Bispinck, Tarifpolitischer Jahresbericht 2015, 2016, S. 24 ff. Bispinck, Tarifpolitischer Jahresbericht 2015, 2016, S. 27 f.; Lesch, ifo Schnelldienst 70 (2017), 33 (33, 38). 562  Vgl. 563  Vgl.

332

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

4.4.8.2 Politische Debatte Unmittelbar nach dem Beschluss des BAG, das Prinzip der Tarifeinheit in seiner zukünftigen Rechtsprechung nicht mehr anzuwenden, starteten BDA und DGB eine gemeinsame Initiative, in deren Rahmen sie den Gesetzgeber aufforderten, das Prinzip der Tarifeinheit gesetzlich zu verankern. Sie beschrieben die Tarifeinheit als „unverzichtbare Säule der Tarifautonomie“, die dazu beitrage, dass das Tarifvertragssystem nicht zersplittert und kollektive Konflikte begrenzt werden.564 Die Tarifeinheit diene somit auch der Befriedung der Arbeitsbeziehungen. Zudem würde durch eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit Rechtsklarheit bei Tarifkollisionen geschaffen, was wiederum für den Erhalt der Friedenspflicht entscheidend sei. Um die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu sichern, forderten BDA und DGB den Gesetzgeber zum Handeln auf.565 Im Juni 2011 stieg der DGB jedoch aus dieser gemeinsamen Initiative wieder aus, unter anderem wegen Bedenken bezüglich einer Einschränkung des Streikrechts.566 Auch als Folge von intensiven Streikaktivitäten von Spartengewerkschaften sprach sich die SPD im Bundestag schon 2012 klar für eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit aus. In einer Aktuellen Stunde im März 2012 betonte der damalige stellvertretende Fraktionsvorsitzende Hubertus Heil, dass eine Spaltung der Belegschaft verhindert werden müsste. Er bezeichnete es als „Entsolidarisierung“, wenn sich „Spartengewerkschaften auf Kosten von Gesamtbelegschaften einen schlanken Fuß machen“.567 Die damalige Sprecherin der SPD-Fraktion für Arbeit und Soziales, Anette Kramer, verwies darauf, dass Spartengewerkschaften lediglich an der Durchsetzung von Einzelinteressen interessiert seien, während Branchengewerkschaften stets den Gesamtbetrieb und die Gesamtbelegschaft im Blick hätten. Ohne gesetzliche Regelung der Tarifeinheit befürchtete Kra564  BDA/DGB, Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern – Tarifeinheit gesetzlich regeln, Gemeinsame Erklärung vom 7.6.2010, https://www.dgb.de/uber-uns/ dgb-heute/organisation-und-bundesvorstand/++co++0c2cb158-720b-11df-59ed00188b4dc422 (7.12.2020). 565  Vgl. BDA/DGB, Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern – Tarifeinheit gesetzlich regeln, Gemeinsame Erklärung vom 7.6.2010, https://www.dgb.de/uberuns/dgb-heute/organisation-und-bundesvorstand/++co++0c2cb158-720b-11df-59ed00188b4dc422 (7.12.2020). 566  Vgl. Haucap, Wirtschaftsdienst 92 (2012), 299 (300). 567  Zitiert nach Deutscher Bundestag, SPD plädiert für gesetzliche Regelung zur Tarifeinheit, Textarchiv 2012, https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2012/ 38089785_kw10_aktstd_tarifeinheit-207968 (22.4.2021).



4.4  Zeithistorische Debatten333

mer eine Zunahme der Anzahl von Spartengewerkschaften sowie deren Radikalisierung.568 Es wurden jedoch auch Bedenken geäußert, ob eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit verfassungskonform sei. So verwies die Monopolkommission in ihrem XVIII. Hauptgutachten aus dem Jahr 2010 darauf, dass Tarifpluralität zwar „mit Problemen verbunden ist, […] aus verfassungsrechtlicher Perspektive die Anwendung des Grundsatzes der Tarifeinheit allerdings einen höchst problematischen Eingriff in die durch Artikel 9 Absatz 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit dar[stellt].“569 Die Monopolkommission erläuterte fünf alternative Wege, wie sich mögliche negative Auswirkungen von Gewerkschaftskonkurrenz und Tarifkollision begrenzen lassen.570 Der Vorsitzende der Monopolkommission, Justus Haucap, bewertete eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit als einen verfassungsrechtlich bedenklichen Eingriff in die Tarifautonomie und riet daher, abzuwarten, ob eine gesetzliche Regelung tatsächlich notwendig würde.571 Er verwies darauf, dass sich das Phänomen der Spartengewerkschaften bisher auf wenige Branchen des Gesundheits- und Verkehrssektors beschränke, in denen ein begrenzter Wettbewerb und eine preisunelastische Nachfrage herrsche. In seinen Augen erschien die Herausbildung von weiteren Spartengewerkschaften in Märkten mit vollkommenem Wettbewerb eher unwahrscheinlich. Ähnlich sah auch Schnabel die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie noch nicht gefährdet und somit „kaum überzeugende Gründe, warum die Tarifpluralität und das Handeln von Spartengewerkschaften durch den Gesetzgeber beschnitten werden sollen“.572 Auch Bachmann et al. standen einem „überstürzten“573 Eingreifen des Staates kritisch gegenüber. Stattdessen sprach ihrer Auffassung nach „viel dafür, der Tarifpluralität eine Bewährungschance zu gewähren“.574 Erst „wenn sich im Zuge einer stärkeren Herausbildung von Tarifpluralität eine derart erhöhte Neigung zu Arbeitskämpfen ergeben würde, dass insgesamt das Funktio568  Vgl. Deutscher Bundestag, SPD plädiert für gesetzliche Regelung zur Tarif­ einheit, Textarchiv 2012, https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2012/38089 785_kw10_aktstd_tarifeinheit-207968 (22.4.2021). 569  Monopolkommission, XVIII. Hauptgutachten, 2010, Nr. 1005. 570  Monopolkommission, XVIII. Hauptgutachten, 2010, Nr. 1008. 571  Vgl. Haucap, Wirtschaftsdienst 92 (2012), 299 (300 ff.). 572  Schnabel, ifo Schnelldienst 67 (2014), 6 (9). 573  Bachmann/Henssler/Schmidt/Talmann, Empirische Analyse der Auswirkungen der Tarifpluralität auf das deutsche Tarifvertragssystem und auf die Häufigkeit von Arbeitskämpfen, 2011, S. 52. 574  Bachmann/Henssler/Schmidt/Talmann, Empirische Analyse der Auswirkungen der Tarifpluralität auf das deutsche Tarifvertragssystem und auf die Häufigkeit von Arbeitskämpfen, 2011, S. 51.

334

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

nieren des deutschen Tarifvertragssystems gefährdet wäre“, sei der Gesetzgeber gefordert.575 Schließlich sprach sich auch der dbb gegen eine gesetzliche Regelung der Tarifeinheit aus. Auch er verwies auf eine verfassungswidrige Einschränkung der Koalitionsfreiheit. Durch ein Gesetz würde kleinen Gewerkschaften nicht nur das Streikrecht, sondern die Existenzgrundlage entzogen werden. Das Recht der Arbeitnehmerschaft, sich „frei und selbstbestimmt um die Wahrung und Förderung ihrer Arbeitsbedingungen zu kümmern“, wäre gefährdet.576 In einer gemeinsamen Resolution des „Bündnisses für Koalitionsfreiheit“ wiesen der dbb, der MB, der deutsche Journalistenverband sowie die VC zudem darauf hin, dass niemand „durch den Eingriff der Politik dem Tarifdiktat einer fremden Gewerkschaft unterworfen werden“ darf. „Wer die Axt an die Koalitionsfreiheit legt, muss sich fragen lassen, welche freiheitlichen Grundrechte er als nächstes einschränken will.“577 4.4.8.3 Art des Legitimitätsproblems In der Debatte um die Tarifeinheit wurden sowohl interne als auch e­xterne Legitimitätsprobleme thematisiert. Die Diskussionen um eine zu große Streikmacht von Spartengewerkschaften bei Nichtregelung und mögliche Beschränkungen des Streikrechts für kleine Gewerkschaften als Folge einer gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit knüpfen an einem internen, interorganisationalen Legitimitätsproblem an. Beide Tarifvertragsparteien sahen das Mächtegleichgewicht der Tarifpartner in Tarifverhand­ lungen gefährdet, sei es aufgrund einer zu großen oder einer zu kleinen Streikmacht der Gewerkschaftsseite. Darüber hinaus bestand auf der Gewerkschaftsseite ein intraorganisationales Legitimitätsproblem. Kam es zu organisationspolitischen Statuskonflikten zwischen Einzelgewerkschaften, griffen sowohl beim DGB als auch dem dbb Schiedsregelungen, um die 575  Bachmann/Henssler/Schmidt/Talmann, Empirische Analyse der Auswirkungen der Tarifpluralität auf das deutsche Tarifvertragssystem und auf die Häufigkeit von Arbeitskämpfen, 2011, S. 51. 576  Schriftliche Stellungnahme des dbb beamtenbund und tarifunion zur öffent­ lichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Ausschuss-Drucks. 18(11)340 vom 30.3.2015, S. 5 f. 577  Bündnis für Koalitionsfreiheit (Marburger Bund/Deutscher Journalisten-Verband/Vereinigung Cockpit/dbb beamtenbund und tarifunion), Gemeinsame Resolution vom 3.3.2015: Nein zum Grundrechtsbruch! Nein zum Tarifeinheitsgesetz!, https:// www.dbb.de/fileadmin/user_upload/globale_elemente/pdfs/2015/150303_buendnis_ fuer_koalitionsfreiheit_resolution.pdf (21.4.2021).



4.4  Zeithistorische Debatten335

Konflikte zu lösen. Gehörten die zwei kontrahierenden Gewerkschaften jedoch unterschiedlichen Dachverbänden (wie beispielsweise EVG und GDL) oder gar keinem Dachverband (wie MB, UFO oder VC) an, fehlte es an einer übergreifenden Kooperationsvereinbarung, die ausufernde Statuskonflikte verhinderte.578 Auf Gewerkschaftsseite bestand somit ein intraorganisationales Regelungsvakuum. In der Debatte spielten zudem externe Legitimitätsprobleme eine wichtige Rolle. Als negative externe Folge einer fehlenden Tarifeinheit wurde auf die massiven Arbeitskampfmaßnahmen und deren Drittwirkungen in der Daseinsvorsorge verwiesen. Wenn Spartengewerkschaften ihre Macht auf Kosten anderer Berufsgruppen ausnutzen, könnte zudem die Verteilungsgerechtigkeit zurückgehen und damit die Solidarität innerhalb der Arbeitnehmerschaft schwinden. 4.4.8.4 Art des Staatseingriffs Trotz der angeführten (verfassungsrechtlichen) Bedenken, entschied sich die Bundesregierung für eine gesetzliche Festschreibung des Grundsatzes der Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip und verabschiedete 2015 das Tarifeinheitsgesetz. Zur Anwendung kommen sollte das Gesetz immer dann, wenn sich Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften überschneiden und die Gewerkschaften selbst zu keiner Einigung gelangen. Diese subsidiäre Kollisionsregel wurde im Gesetz wie folgt ausgestaltet: Ein Arbeitgeber kann zwar an mehrere Tarifverträge gebunden sein. Überschneiden sich in einem Betrieb jedoch die Geltungsbereiche zweier nicht inhaltsgleicher Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften, findet nur der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft Anwendung. Als Mehrheits­ gewerkschaft wird jene Gewerkschaft angesehen, die in dem betreffenden Betrieb die meisten organisierten Mitglieder aufweist.579 Zur Gesetzesbegründung legte die Bundesregierung dar, warum Tarifkollisionen die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie maßgeblich beeinträchtigen können. Zunächst werde die Verteilungsfunktion von Tarifverträgen und die damit verbundene Lohngerechtigkeit innerhalb eines Betriebs eingeschränkt, wenn nicht die Arbeitsleistung, sondern das Innehaben einer Schlüsselposition entscheidend für die Höhe der Entgeltanpassung sei. Diese besondere Stellung von Beschäftigten in Schlüsselpositionen schwäche zudem die Verhandlungsposition jener Beschäftigter, die keine Schlüsselposition innehätten, sodass diese mitunter nicht mehr ausreichend Lesch, ifo Schnelldienst 67 (2014), 10 (13). Entwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz) der Bundesregierung vom 20.2.2015, BT-Drucks. 18/4062. 578  Vgl. 579  Vgl.

336

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

durch Tarifverträge geschützt werden könnten. Darüber hinaus könnten zwischen konkurrierenden Gewerkschaften geführte Verteilungskämpfe den innerbetrieblichen Frieden und somit die Ordnungs- und Befriedungsfunktion des Tarifsystems gefährden. Auch die Friedenspflicht verliere für Arbeitgeber an Wert, da sie ohne Regelungen zur Tarifeinheit jederzeit mit weiterführenden Forderungen konkurrierender Gewerkschaften rechnen müssten. Durch den direkten Eingriff des Gesetzgebers in die Tarifautonomie sollten Tarifkollisionen und die damit verbundenen Probleme zukünftig verhindert und somit die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie ge­ sichert werden.580

4.4.9  Organisationsfähigkeit der Tarifvertragsparteien 4.4.9.1 Hintergrund Mit dem 2014 verabschiedeten Tarifautonomiestärkungsgesetz wollte die Bundesregierung einen Beitrag zur Stärkung der Tarifbindung leisten (siehe auch Kapitel 4.4.7.3). In der Begründung des Gesetzesentwurfs heißt es, die Tarifautonomie verfolge „den im öffentlichen Interesse liegenden Zweck, durch eine sinnvolle autonome Ordnung des Arbeitslebens den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine angemessene Teilhabe am Erwirtschafteten zu sichern“.581 Allerdings erschwere die zunehmende Fragmentierung der Arbeitswelt den Tarifvertragsparteien strukturell die ihnen überantwortete Ordnung des Arbeitslebens. In den letzten Jahren sei die Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifverträge deutlich zurückge­ gangen. Das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit ermögliche „eine Abstützung der tariflichen Ordnung“ und das AEntG biete „eine Möglichkeit zur Geltungserstreckung von Tarifverträgen durch Rechtsverordnung“.582 Vor diesem Hintergrund wurde die Allgemeinverbindlicherklärung nach dem Tarifvertragsgesetz erleichtert und der Geltungsbereich des AEntG auf alle Branchen erweitert.583 Da die Tarifvertragsparteien „aus eigener Kraft“ 580  Vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz) der Bundesregierung vom 20.2.2015, BT-Drucks. 18/4062; Lesch/Hellmich, List Forum 40 (2014), 352 (378). 581  Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) der Bundesregierung vom 28.5.2014, BT-Drucks. 18/1558, S. 26. 582  Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) der Bundesregierung vom 28.5.2014, BT-Drucks. 18/1558, S. 1. 583  Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) der Bundesregierung vom 28.5.2014, BT-Drucks. 18/1558, S. 19 f. Beim Instrument der Allgemeinverbindlichkeit wurde das 50-Prozent-Quorum gestrichen und durch ein konkretisiertes öffentliches Interesse ersetzt. Vgl. auch Kapitel 5.4.1.



4.4  Zeithistorische Debatten337 70 60 50 40 30 20 10 0

West

Ost

1995 Ost: keine Angabe. Quelle: IAB-Betriebspanel, Sonderauswertung.

Grafik 26: Tarifbindung der Betriebe 1995 bis 2020 Anteile der tarifgebundenen Betriebe in Prozent

nicht mehr durchgehend in der Lage seien, „einer zunehmenden Verbreitung von unangemessen niedrigen Löhnen entgegenzuwirken“584, wurde darüber hinaus ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Die von der Bundesregierung ausgewählten Instrumente setzten nicht an der Ursache der rückläufigen Tarifbindung an: der Fähigkeit der Tarifvertragsparteien, ihre Mitgliederbasis zu stärken. Stattdessen wurde auf eine Erstreckung tariflicher Normen gesetzt und eine staatliche Lohnuntergrenze festgelegt. Angesichts dieser Instrumente ist es nicht überraschend, dass sich die Tarifbindung auch nach 2015 nicht stabilisierte, sondern der schleichende Erosionsprozess anhält. Damit setzt sich der langfristige Trend fort. Es binden sich immer weniger Betriebe an einen Tarifvertrag und es organisieren sich immer weniger Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft (siehe Kapitel 2.2). Im Jahr 2015 waren im Westen noch 31 Prozent und im Osten 21 Prozent aller Betriebe an einen Firmen- oder Branchen­ tarifvertrag gebunden (siehe Grafik 26). Im Westen ging die Tarifbindung bis zum Jahr 2020 um drei Prozentpunkte auf 28 Prozent zurück und im Osten um 2 Prozentpunkte auf 19 Prozent. Dort ist zu berücksichtigen, dass die Tarifbindung schon seit 2010 zwischen 18 und 22 Prozent schwank­te. Dies deutet auf eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau hin.

584  Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) der Bundesregierung vom 28.5.2014, BT-Drucks. 18/1558, S. 27.

338

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Zu beachten ist auch, dass sich immer noch viele Unternehmen ohne Tarifbindung am Branchentarifvertrag orientieren. In einer Unternehmensbefragung von mehr als 1.550 Unternehmen in der Metall- und Elektro-Industrie vom Frühjahr 2017 gaben mehr als 80 Prozent der Unternehmen an, sie seien aus Tradition an einen Branchentarifvertrag gebunden. Dieses Motiv rangierte deutlich vor den klassischen Branchentarifbindungsmotiven Friedenspflicht, einheitliche Wettbewerbsbedingungen oder Sparen von Transaktionskosten.585 Eine wichtige Ursache der rückläufigen Tarifbindung ist, dass neu gegründete Betriebe sich seltener für eine Tarifbindung entscheiden als Betriebe, die schon länger bestehen.586 Da im Zuge des Strukturwandels ältere Betriebe aus dem Markt ausscheiden, während neue eintreten, geht die Tarifbindung strukturell zurück.587 Ein weiterer Grund für die sinkende Flächentarifbindung ist, dass Betriebe aus einer solchen direkt ausscheiden. Gründe können wirtschaftliche Schwierigkeiten sein, aber auch Kritik an tarifvertraglichen Regelungen (siehe auch Kapitel 5.2.1).588 Kontrovers wird diskutiert, ob die Gründung von Verbänden ohne Tarifbindung (OT-Verbände) die Tarifbindung geschwächt hat.589 Der DGB bemängelt, dass durch vereinsrechtliche Regelungen die Möglichkeit eingeräumt wird, während einer Tarifrunde in eine OT-Mitgliedschaft zu wechseln. Diese Art von Tarifflucht schwäche das Tarifsystem.590 Hinzu kommt der Vorwurf, OT-Verbände würden in manchen Branchen dazu genutzt, um Druck in Tarifverhandlungen erzeugen zu können.591 Dem halten die Arbeitgeber entgegen, dass die OT-Mitgliedschaft als „unverzichtbarer Teil

Lesch/Schneider/Vogel, IW-Trends 46 (2019), 61. Ellguth/Kohaut, Branchentarifvertrag: Neu gegründete Betriebe sind seltener tarifgebunden, 2008, S. 5 f. 587  Von den rund zwei Millionen Betrieben mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland sterben jährlich 200.000 bis 250.000. Sie werden in etwa gleicher Anzahl durch neue Betriebe ersetzt. Dadurch wird über einen Zeitraum von vier Jahren ein Drittel des Betriebsbestandes ausgetauscht. Diese ­laufende Erneuerung des Betriebsbestandes zeichnet sich „für einen erheblichen Teil der insgesamt abnehmenden Branchentarifbindung verantwortlich“. Ellguth/Kohaut, Branchentarifvertrag: Neu gegründete Betriebe sind seltener tarifgebunden, 2008, S. 6. 588  Vgl. Schneider, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 2020, 69 (3), 255 (265 ff.). Vgl. auch Lesch/Vogel/Busshoff/Giza, Stärkung der Tarifbindung, 2017, S. 17 ff. 589  Vgl. Lesch/Byrski, Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland, 2016, S.  77 ff.; Haipeter, Zeitschrift für Politikwissenschaft 26-2 (2016), 75 (82 ff.). 590  DGB, Positionen zur Stärkung der Tarifbindung, 2019, S. 2. 591  Haipeter, Zeitschrift für Politikwissenschaft 26-2 (2016), 75 (88). 585  Vgl. 586  Vgl.



4.4  Zeithistorische Debatten339

des deutschen Tarifsystems inzwischen nicht mehr wegzudenken“592 sei. Dabei stellt eine OT-Mitgliedschaft oft eine Alternative zu einer Situation ohne Verbandsmitgliedschaft dar. Denn OT-Verbände bieten nicht nur Betrieben, die aus der Tarifbindung aussteigen wollen, eine Alternative zur Mitgliedschaft in den Tarifträgerverbänden. Die Einführung der OT-Verbände „war mit Schritten einer betrieblicheren Tarifpolitik verbunden, ohne ins Extrem einer Welt von bloßen Haustarifverträgen […] zu ver­ fallen.“593 Im tarifpolitischen Leitbild des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall heißt es dazu: „Der OT-Bereich ist ein notwendiges Korrektiv zu komplexen, unflexiblen, nicht mehr interessengerechten und damit nicht den Bedürfnissen der Betriebe entsprechenden Flächentarifverträgen. Dies gilt insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen.“594 Zudem diene die OT-Mitgliedschaft – zumindest in der exportorientierten Indus­ trie – als „ein notwendiges Korrektiv“, um mehr Verhandlungs- und Kampfparität zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern zu schaffen.595 Für Betriebe, die keine Tarifbindung eingehen möchten, stellen sie ebenso eine Alternative zur Verbandslosigkeit dar. So zeigen neuere Forschungen zu den OT-Verbänden in der Metall- und Elektro-Industrie, dass die OTOption von den Verbänden in den einzelnen Tarifgebieten der größten deutschen Exportbranche sehr unterschiedlich genutzt wird: In Bayern wurden 2017 fast 80 Prozent aller für den OT-Verband gewonnenen Mitglieder gänzlich neu rekrutiert. Nur etwa jedes fünfte Unternehmen war vorher an den Flächentarifvertrag gebunden. In Nordrhein-Westfalen wiesen hingegen über 60 Prozent der OT-Mitglieder zuvor eine Flächentarifbindung auf.596 OT-Betriebe, die sich nicht an einen Flächentarifvertrag binden, bleiben zumindest im engen Kontakt zu einem Arbeitgeberverband, der auch über tarifrechtliche Expertise verfügt und die Betriebe bei der Regelung ihrer Arbeitsbedingungen unterstützen kann. Dabei werden vielfach tarifvertragliche Regelungen als Orientierung herangezogen. Zudem zeigt sich für die deutsche Metall- und Elektro-Industrie, dass OT-Mitglieder häufiger an Haus- oder Anerkennungstarifverträge gebunden sind als

592  Zander,

in: FS Klebe, 2018, S. 484. in: FS Klebe, 2018, S. 484 (485). 594  Gesamtmetall, Tarifpolitisches Leitbild, https://www.gesamtmetall.de/verband/ arbeit/tarifpolitisches-leitbild (26.7.2021). 595  Zander, in: FS Klebe, 2018, S. 484 (486); vgl. auch Gesamtmetall, Tarifpolitisches Leitbild, https://www.gesamtmetall.de/verband/arbeit/tarifpolitisches-leitbild (26.7.2021). 596  Vgl. Weishaupt/Schneider/Vogel/Weckwerth, Industrielle Beziehungen 28 (2021), 3 (16). 593  Zander,

340

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

verbandslose Unternehmen.597 Durch die neuen OT-Strukturen gelang es den Verbänden der Metall- und Elektro-Industrie, ihre Mitgliederentwicklung zu stabilisieren (siehe Kapitel 2.3).598 Die Verbände anderer Branchen veröffentlichen zwar keine Mitgliederstatistiken, dort dürfte OT aber ebenfalls eine Verbandsstabilisierung bewirken. Die Gewerkschaften leiden hingegen nach wie vor unter rückläufigen Mitgliederzahlen (siehe Kapitel 2.2). Verantwortlich hierfür ist die rückläufige Mitgliederentwicklung in den meisten Einzelgewerkschaften des DGB (siehe Grafik 27). Zwar wurden in den letzten Jahren die Bemühungen verstärkt, neue Mitglieder zu gewinnen. Dieses sogenannte Organizing hat den Abwärtstrend bisher aber nur verlangsamen können, gebrochen wurde der Trend nicht. In den Einzelgewerkschaften des DGB waren nach der Wiedervereinigung 1991 fast zwölf Millionen Männer und Frauen ­organisiert. Im Jahr 2000 war die Mitgliederzahl auf 7,8 Millionen geschmolzen. Gegenüber 1991 bedeutete das einen Rückgang von mehr als einem Drittel. Im Zuge der Fusion von fünf Einzelgewerkschaften zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di im Jahr 2001 fielen auch die Mitglieder der früheren Deutschen Angestellten Gewerkschaft, die bis dato nicht Mitglied im DGB war, aber mitfusionierte, in den Organisationsbereich des DGB. Dies erklärt den vorübergehenden Anstieg der DGB-Mitgliedszahlen im Jahr 2001 gegenüber 2000. In den Folgejahren ging der Abwärtstrend dann zunächst ungebremst weiter. Im Jahr 2010 organisierte der DGB noch knapp 6,2 Millionen Männer und Frauen, was gegenüber 2001 einen Rückgang von fast 22 Prozent bedeutete. Die Abwärtsdynamik flaute in den 2010er Jahren dann spürbar ab. Im Jahr 2020 zählte der DGB mit knapp 5,9 Millionen Mitgliedern nur rund fünf Prozent weniger als 2011. Dieser Rückgang wäre größer ausgefallen, wenn nicht 2011 die Mitglieder der im dbb organisierten Eisenbahngewerkschaft GDBA im Zuge der Fusion von GDBA und Transnet zur EVG zum DGB übergetreten wä­ ren.599 597  Eine Befragung von über 1.500 Unternehmen in der Metall- und Elektro-Industrie ergab, dass sich 67 Prozent der befragten OT-Mitglieder umfassend oder zumindest bei einzelnen Regelungen am Flächentarifvertrag der Metall- und ElektroIndustrie orientieren. Haus- oder Anerkennungstarifverträge finden sich in 58 Prozent der Unternehmen mit Mitgliedschaft in einem OT-Verband, aber nur in 18 Prozent der Unternehmen ohne Verbandsbezug; vgl. zu diesen Ergebnissen einer Umfrage unter Unternehmen der Metall- und Elektro-Industrie aus dem Jahr 2017: Weishaupt/ Schneider/Vogel/Weckwerth, Industrielle Beziehungen 28 (2021), 3 (21 f.). 598  Vgl. Weißhaupt/Schneider/Vogel/Weckwerth, Industrielle Beziehungen 28 (2021), 3 (26). 599  Neben dem DGB gibt es mit dem dbb Beamtenbund und Tarifunion sowie dem Christlichen Gewerkschaftsbund weitere Dachverbände von Einzelgewerkschaften.



4.4  Zeithistorische Debatten341 12.000 10.000 8.000 6.000 4.000 2.000 0

2001: Die nicht im DGB organisierte DAG fusioniert mit den vier DGB-Gewerkschaften ÖTV, DPG, HBV und IG Medien zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft; 2011: Die im dbb organisierte GDBA fusioniert mit der im DGB organsierten Transnet zur EVG, die Mitglied im DGB wird. Quelle: DGB, Mitgliederzahlen, https://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen (30.7.2021).

Grafik 27: Mitgliederentwicklung im Deutschen Gewerkschaftsbund Mitgliederzahlen in 1.000

Die Gründe für die Organisationsschwäche der Gewerkschaften sind vielfältig. Der drastische Mitgliederschwund in den 1990er Jahren hängt sicher auch mit dem Transformationsprozess der ostdeutschen Volkswirtschaft und dem bundesweiten sektoralen Strukturwandel zusammen. Klassische Gewerkschaftsdomänen wie die Schwerindustrie nahmen in ihrer Bedeutung ab, während Dienstleistungssektoren an Bedeutung gewannen. In diesen kleinbetrieblicher strukturierten Angestelltendomänen fassten die Gewerkschaften aber schlechter Fuß als in den klassischen Arbeiterbranchen. Neben dem Strukturwandel beruht die Organisationsschwäche der Gewerkschaften aber auch darauf, dass sie bestimmte Arbeitnehmergruppen, deren Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt wächst, kaum organisieren können (siehe Kapitel 5.2.2).600 Da eigentlich nur die angestellten Gewerkschaftsmitglieder in tarifgebundenen Unternehmen Anspruch auf einen Tariflohn haben, hat die Im dbb Beamtenbund und Tarifunion waren nach eigenen Angaben auf der Homepage im Jahr 2020 insgesamt 1,3 Millionen Mitglieder organisiert, https://www.dbb. de/der-dbb.html (3.8.2021). Der Christliche Gewerkschaftsbund hat laut Homepage über 280.000 Mitglieder, https://www.cgb.info/aktuell/aktuelles.html (3.8.2021). 600  Vgl. dazu Biebeler/Lesch, Wirtschaftsdienst 95 (2015), 710 (711 ff.); Lesch/ Winter, Gewerkschaften: Strukturprobleme verstärken sich, 2021, S. 1 ff.; Hassel/ Schroeder, Gewerkschaften 2030, 2018, S. 6 ff.

342

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Schwäche der Gewerkschaften direkte Auswirkungen auf die Tarifbindung. Je weniger Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert sind, desto geringer ist auch die Anzahl von Arbeitnehmern, die einen Anspruch auf den Tariflohn haben (siehe Kapitel 5.1.2). Dieser unmittelbare Zusammenhang wird durch die gängige Praxis aufgeweicht, nach der ein tarifgebundener Arbeitgeber nicht zwischen Organisierten und nicht Organisierten unterscheidet. Damit sorgen die Arbeitgeber dafür, dass die Tarifbindung etwa dreimal so hoch ausfällt, wie sie aufgrund des gewerkschaftlichen Organisationsgrads ausfallen würde. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, wenn in der politischen Debatte über eine Stärkung der Tarifbindung vor allem der Arbeit­ geberseite die Schuld an einer sinkenden Tarifbindung gegeben wird. Die Organisationsschwäche der Gewerkschaften beeinflusst die Tarifbindung auch mittelbar. Dieser mittelbare Effekt folgt daraus, dass die Bereitschaft der Arbeitgeber, sich in Verbänden zusammenzuschließen, auch von der Stärke der Gewerkschaften und ihrer Fähigkeit abhängt, Branchentarifverträge zu konzipieren und durchzusetzen.601 4.4.9.2 Politische Debatte Obwohl die Organisationsschwäche der Arbeitnehmervertretungen einen zentralen Erosionsfaktor der Tarifbindung darstellt, wurde dies in der politischen Debatte eher am Rande diskutiert. Im Fokus stand zumeist die Bereitschaft der Betriebe, sich zu organisieren und an einen Tarifvertrag zu binden. Obwohl die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD in der 18. Legislaturperiode auf die sinkende Tarifbindung durch das 2015 in Kraft getretene Tarifautonomiestärkungsgesetz reagierte (siehe Kapitel 4.4.7), ging die politische Debatte nahtlos weiter. Im Juni 2016 forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Rahmen der Meseberger Zukunftsgespräche,602 Unternehmen sollten mehr Tarifverträge mit Gewerkschaften schließen. Die Bundesregierung denke daher über eine gesetzgeberische Unterstützung nach.603 Die Kanzlerin räumte den Tarifvertragsparteien einen Vor601  Traxler, in: Müller-Jentsch, Konfliktpartnerschaft, 1999, S. 139 (157 f.); vgl. auch Haipeter, Zeitschrift für Politikwissenschaft 26-2 (2016), 75 (80). 602  An den seit 2010 im Jahresturnus stattfindenden Meseberger Zukunftsgesprächen nehmen neben der Kanzlerin und acht Bundesministern auch die Präsidenten der führenden Arbeitgeber- und Industrieverbände und Vorsitzenden der größten Gewerkschaften teil. 603  Zitiert nach Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressekonferenz zum 7. Zukunftsgespräch der Bundeskanzlerin mit Sozialpartnern am 23.6.2016, https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/tarifbindung-fuer-unternehmenausbauen-430020 (7.7.2021).



4.4  Zeithistorische Debatten343

rang bei der Regelung der Arbeitsbedingungen ein, betonte aber auch, dass „da, wo tarifvertragliche Bindungen das nicht mehr erreichen […] auch politisches Handeln notwendig [ist].“604 Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel nannte die Erhaltung der Tarifvertragslandschaft „eine der großen Herausforderungen“. Niemandem sei damit gedient, „wenn die Politik immer stärker in Wirtschafts- und Arbeitsprozesse eingreifen muss, wenn die Selbstverwaltung der Sozialpartner nicht funktioniert“. Er betonte indirekt aber auch, dass Tarifpolitik auch dem Gemeinwohl diene. Eine besondere Stärke Deutschlands mache aus, „dass man bei allen Interessengegensätzen, die es gibt, am Ende das Gemeinwohl in der Rolle der Tarifpartner wiederfindet.“605 Der Gemeinwohlbezug deutet schon an, dass die Politik die Tarifautonomie heute im Vergleich zur Debatte um gesetzliche Öffnungsklauseln vor fast zwanzig Jahren gänzlich anders bewertet. Noch deutlicher wird das an einem weiteren Statement des Bundeswirtschaftsministers bei den Meseberger Gesprächen: „Vor 10 oder 15 Jahren war es modern, darüber zu sprechen, wie man tarifvertragliche Bindungen des Flächentarifvertrags lockert, wie wir von kollektiven Arbeitsverträgen wegkommen. Wir haben in Deutschland eher die Tendenz zur Reduzierung der Bedeutung von Tarifverträgen diskutiert. Heute ist das Gegenteil der Fall. Wir merken, wie viel Stabilität und Sicherheit tarifvertragliche Regelungen brin­ gen“.606 Stabilität und Sicherheit statt Flexibilität und Dezentralisierung. Dass die Politik eine derartige Kehrtwende vollzog, dürfte maßgeblich mit dem anhaltenden Aufschwung auf dem deutschen Arbeitsmarkt zusammenhängen, der durch ein erfolgreiches Krisenmanagement in der glo­ balen Wirtschafts- und Finanzkrise und durch eine verantwortungsvolle Tarifpolitik ermöglicht wurde. Wenn aber alle Betriebe nach einem Tarifvertrag bezahlen müssten, würden die Lohnkosten steigen und die Arbeits604  Zitiert nach Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressekonferenz zum 7. Zukunftsgespräch der Bundeskanzlerin mit Sozialpartnern am 23.6.2016, https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/pressekonferenz-zum-7-zukunftsge spraech-der-bundeskanzlerin-mit-sozialpartnern-844684 (7.7.2021). 605  Zitiert nach Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressestatements von Bundeskanzlerin Merkel und Bundeswirtschaftsminister Gabriel zum 7. Zukunftsgespräch der Bundeskanzlerin mit Sozialpartnern am 23.6.2016, https:// www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/pressestatements-von-bundeskanzlerinmerkel-und-bundeswirtschaftsminister-gabriel-zum-7-zukunftsgespraech-der-bundes kanzlerin-mit-sozialpartnern-am-23-juni-2016-844686 (7.7.2021). 606  Zitiert nach Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressekonferenz zum 7. Zukunftsgespräch der Bundeskanzlerin mit Sozialpartnern am 23.6.2016, https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/pressekonferenz-zum-7-zukunftsge spraech-der-bundeskanzlerin-mit-sozialpartnern-844684 (7.7.2021).

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4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00017462.

Abbildung 59: Schloss Meseberg

nachfrage der Unternehmen sinken. Viele Arbeitsplätze würden dann weg­ fallen oder ins Ausland verlagert.607 Eine vollständige Tarifbindung dürfte kaum mit dem bestehenden Beschäftigungsniveau vereinbar sein. Es stellt sich daher die Frage, ob die Erfolge des Arbeitsmarkts nicht eher auf das „Mischsystem“ aus positiver und negativer Koalitionsfreiheit zurückzuführen sind und nicht allein auf das verantwortungsvolle Handeln der Tarifvertragsparteien. Außenseiterkonkurrenz war in der Vergangenheit ­ immer ein „Garant für die Richtigkeit des Tarifvertrags“.608 Wenn es das Zusammenspiel der beiden Koalitionsfreiheiten war, spricht wenig dafür, 607  Eine Studie für die Metall- und Elektro-Industrie kommt zu dem Ergebnis, dass eine vollständige Tarifbindung die Beschäftigung der Branche nach fünf Jahren um 450.000 Personen und nach zehn Jahren um 790.000 Personen senken würde. Besonders betroffen wäre der Mittelstand. Nach einem berechneten Basisszenario müssten rund 20 Prozent der mittelständischen Betriebe aufgeben. Vgl. Fritsch/Kolev, Ökonomische Auswirkungen einer einheitlichen Tarifbindung in der M+E-Industrie, 2019, S.  5 f. 608  Reuter, RdA 1991, 193 (195).



4.4  Zeithistorische Debatten345

die negative Koalitionsfreiheit mit Hilfe einer staatlichen Erstreckung von Tarifverträgen und tariflichen Branchenmindestlöhnen zurückzudrängen. Eine solche Analyse liegt der aktuellen politischen Bewertung von ­ arifautonomie aber nicht zugrunde. So verweist das Bündnis 90/Die GrüT nen in einem Antrag zur Stärkung des Tarifsystems vom April 2021 darauf, dass die „positiven Wirkungen der tarifvertraglichen Gestaltung von ­Löh­nen und Arbeitsbedingungen […] zahlreich und gut dokumentiert [sind].“609 Danach stehen Tarifverträge für eine bessere Lohnentwicklung, eine höhere Arbeitsplatzzufriedenheit, bessere Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mehr Lohngerechtigkeit zwischen Frauen und Männern und mehr Gleichberechtigung für ausländische Beschäftigte. Eine hohe Tarifbindung verhindere „soziale Verwerfungen in der Arbeitswelt“, leiste einen „Beitrag zur Stabilität der Finanzierung von Staat- und Sozialversicherungen“ und stärke den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“.610 Es wird jedoch nicht danach gefragt, wie es um die Beschaffenheit von Arbeitsmarkt und Arbeitsbedingungen aussehen würde, wenn anstelle unseres Mischsystems eine vollständige Tarifbindung herrscht. Politische Forderungen nach einer Stärkung der Tarifbindung sind daher vor allem normativ motiviert. Sie gehen von einem wünschenswerten Zustand aus, ohne zu überprüfen, welche Kosten ein solcher Zustand haben könnte. Die unterschiedliche Bewertung der Koalitionsfreiheiten erklärt, warum sich Politik und Tarifvertragsparteien einerseits darin einig sind, die Bedeutung des Tarifvertragssystems hervorzuheben, andererseits aber darüber streiten, wer das Tarifvertragssystem auf welche Weise stärken soll. Während der DGB (wie schon bei seiner 2006 erhobenen Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn) nach dem Staat ruft, lehnen die Arbeitgeberverbände staatliche Instrumente zur Stützung des Tarifvertragswesens ab. So forderte der DGB schon im Frühjahr 2017 in einem Positionspapier, die Stärkung der Tarifbindung „durch gesetzliche Rahmenbedingungen deutlich zu verbessern“.611 Die insgesamt 14 Punkte des (2019 überarbeiteten) Papiers sehen unter anderem vor, die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen dadurch zu erleichtern, dass die Veto-Möglichkeit der Arbeitgeber im Tarifausschuss beseitigt wird. Da der Tarifausschuss paritätisch zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern besetzt ist, können die 609  Tarifvertragssystem fördern – Tarifbindung stärken, Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drucks. 19/27444, S. 1. 610  Tarifvertragssystem fördern – Tarifbindung stärken, Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drucks. 19/27444, S. 2. 611  DGB, Positionen zur Stärkung der Tarifbindung, 2017, S. 1.

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4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Süddeutsche Zeitung Photo/Sepp Spiegl.

Abbildung 60: Jörg Hofmann

Arbeitgeber Anträge ablehnen. Das will der DGB unmöglich machen, indem ein gemeinsam von den zuständigen Tarifvertragsparteien aus der betroffenen Branche eingebrachter Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit nur mit einer Mehrheit abgelehnt werden kann. Außerdem fordert der DGB, die Vergabe öffentlicher Aufträge auf Bundes- und Länderebene an die tariflichen Entgeltsätze der einschlägigen Tarifverträge zu binden und tarifvertragliche Regelungen zuzulassen, die Begünstigungen nur für Gewerkschaftsmitglieder vorsehen.612 Der Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, bezeichnet den Flächentarifvertrag als „richtige Antwort“, die verhindere, „dass Wettbewerb über Lohnkonkurrenz ausgetragen wird“. Um auf strukturelle Unterschiede zu reagieren, gebe es auch „genügend Dif­ferenzierungsmöglichkeiten“.613 612  Vgl. DGB, Positionen zur Stärkung der Tarifbindung, 2017, S. 3 (Punkte 6, 7 und 9). 613  Zitiert nach Handelsblatt, „Eine doppelte Null wäre Gift für die Konjunktur“ vom 16.10.2010, https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/interview-igmetall-chef-joerg-hofmann-eine-doppelte-null-waere-gift-fuer-die-konjunktur/262793 38.html?ticket=ST-4374562-E3xpVSynpIKPsl1fblBE-ap2 (8.7.2020).



4.4  Zeithistorische Debatten347

Quelle: Gesamtmetall.

Abbildung 61: Stefan Wolf

Die BDA betont hingegen, die Tarifautonomie könne „vor dem Hintergrund der durch das Grundgesetz vorgegebenen Rechtslage nur durch die Tarifvertragsparteien selbst gestärkt werden.“614 Anreize zum Gewerkschafts- oder Verbandsbeitritt würden durch attraktive Tarifvertragsregelungen geschaffen. Das TVG habe sich als Rechtsrahmen durchaus bewährt. Anpassungsbedarf bestehe hier nur punktuell, etwa bei der sogenannten Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG). Sie solle so angepasst werden, dass sie einen Anreiz zum Beitritt in den Tarifträgerverband setzt. Darüber hinaus könne die Tarifautonomie durch eine Regelung des Arbeitskampfrechts gestärkt werden.615 Der Präsident von Gesamtmetall, Stefan Wolf, präzisiert, was unter einer Stärkung der Tarifbindung durch die Tarifvertragsparteien selbst zu verstehen ist. Die Tarifverträge seien „zu komplex geworden“. Deshalb müssten die Tarifvertragsparteien „die Tariflandschaft 614  BDA, Stärkung der Tarifautonomie muss Aufgabe der Sozialpartner bleiben, 2021, S. 1; vgl. auch BDA, Tarifbindung fördern und pflegen – nicht erzwingen, 2017. 615  BDA, Stärkung der Tarifautonomie muss Aufgabe der Sozialpartner bleiben, 2021, S. 1.

348

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

entrümpeln und an bestimmte Vergünstigungen ran, die über viele Jahre entstanden sind“.616 Der Bundesrat forderte die Bundesregierung in seinem im Juni 2019 gefassten Beschluss „Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie und Tarifbindung stärken – Verantwortungsvolle Unternehmen schützen und fairen Wettbewerb sichern“617 dazu auf, „eine Strategie zur Stärkung der tariflichen Ordnung zu erarbeiten, die den Prinzipen der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie gerecht wird“.618 In einem zweiten Schritt soll diese Strategie „unter Einbeziehung der Tarifvertragsparteien“ bewertet und „dem Gesetzgeber Vorschläge zur Veränderung der Rahmenbedingungen vorgelegt werden“.619 Der Bundesrat stellt fest, dass die Tarifautonomie „Funktionsschwächen“620 entwickelt habe, die politisches Handeln erforderlich machen. Die im Tarifautonomiestärkungsgesetz vorgenommenen Reformen zeigten „bisher nicht die gewollte Wirkung“.621 4.4.9.3 Art des Legitimitätsproblems Aus der politischen Debatte lässt sich folgern, dass die Bundesregierung das etablierte Tarifvertragssystem als zweckmäßig erachtet, es aber einer fortschreitenden Erosion ausgesetzt sieht. Um zu verhindern, dass am Ende des Erosionsprozesses das ganze System ins Wanken gerät, erwägt die Bundesregierung, das Tarifvertragssystem über die im Tarifautonomiestärkungsgesetz beschlossenen Maßnahmen hinaus zu stützen. Dabei wird von dem Verständnis ausgegangen, dass eine Stärkung der Tarifautonomie eine 616  Zitiert nach Die Welt, „Mir fehlt jegliches Verständnis, wie man jetzt mit so etwas kommen kann“ vom 14.12.2020, https://www.welt.de/wirtschaft/article222222354188/ Gesamtmetall-Chef-Stefan-Wolf-Es-gibt-absolut-nichts-zu-verteilen.html (8.7.2020). 617  Entschließung des Bundesrates „Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie und Tarifbindung stärken – Verantwortungsvolle Unternehmen schützen und fairen Wettbewerb sichern“, Beschluss vom 7.6.2019, BR-Drucks. 212/19. 618  Entschließung des Bundesrates „Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie und Tarifbindung stärken – Verantwortungsvolle Unternehmen schützen und fairen Wettbewerb sichern“, Beschluss vom 7.6.2019, BR-Drucks. 212/19, S. 1. 619  Entschließung des Bundesrates „Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie und Tarifbindung stärken – Verantwortungsvolle Unternehmen schützen und fairen Wettbewerb sichern“, Beschluss vom 7.6.2019, BR-Drucks. 212/19, S. 2. 620  Entschließung des Bundesrates „Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie und Tarifbindung stärken – Verantwortungsvolle Unternehmen schützen und fairen Wettbewerb sichern“, Beschluss vom 7.6.2019, BR-Drucks. 212/19, S. 1. 621  Entschließung des Bundesrates „Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie und Tarifbindung stärken – Verantwortungsvolle Unternehmen schützen und fairen Wettbewerb sichern“, Beschluss vom 7.6.2019, BR-Drucks. 212/19, S. 2.



4.4  Zeithistorische Debatten349

Stärkung der Tarifbindung voraussetze. Im Kern geht es darum, die Tarifgeltung „von oben“, also durch den Staat zu verordnen, oder die Tarifgeltung „von unten“, also durch die Tarifvertragsparteien anzugehen.622 Die beiden Ansätze unterscheiden sich nicht nur im Hinblick auf die Frage, wer eine Art Regelungshoheit für sich in Anspruch nehmen kann, sondern auch in Bezug auf die Frage, ob nur die Tarifbindung oder der Organisa­ tionsgrad der Akteure zu erhöhen ist. Die aktuelle Debatte über die Organisationsschwäche der Tarifvertragsparteien knüpft damit unmittelbar an der Debatte über das Tarifautonomiestärkungsgesetz an (siehe Kapitel 4.4.7). Wie damals handelt es sich bei der zurückgehenden Tarifbindung um ein intra- und ein interorganisatio­ nales Legitimitätsproblem. Das intraorganisationale Problem besteht bei Gewerkschaften und Arbeitgebern in einer mangelnden Organisations­ fähigkeit, deren Folge eine immer lückenhaftere Tarifgeltung ist. Auf der Arbeitgeberseite fällt das Bild allerdings differenzierter aus als auf Gewerkschaftsseite. Die Arbeitgeberbände haben ihre Organisationsbasis durch ihre OT-Verbände durchaus stabilisieren können. Lediglich bei den Tarifträgerverbänden besteht eine mangelnde Organisationsfähigkeit. Dies deutet zumindest die schrumpfende Anzahl von Betrieben an, die sich einer Tarifbindung unterziehen. Das interorganisationale Problem besteht weiterhin darin, dass sich die Tarifvertragsparteien bisher nicht darauf verständigen können, wie sie die Tarifbindung autonom stärken wollen. Dies liegt auch an unterschiedlichen Zielfunktionen. Die Arbeitgeberverbände müssen ihr Augenmerk darauf richten, kleine und mittelgroße Betriebe von den Vorteilen des Tarifvertrags zu überzeugen. Außerdem müssen sie in den Tarifkommissionen angemessen vertreten sein und über einen aus­reichenden Einfluss verfügen. Komplexe Arbeitszeitregelungen, wie sie im Zuge der zunehmenden Ausdifferenzierung der Arbeitswelt entstanden sind, mögen zwar zu mehr Flexibilität führen, werden von kleinen und mittelgroßen Betrieben aber eher als bürokratisch empfunden. Bei den Gewerkschaften besteht der Wunsch, das tarifvertragliche Regelungsportfolio zu erweitern und Differenzierungen einzuführen, die den Beschäftigten mehr individuelle Spielräume bringen. Die gefundenen Kompromisse wirken dann häufig komplex und schrecken Betriebe dadurch ab. Die Organisationsschwäche verursacht ein externes Problem. Denn sie führt dazu, dass der dem Gemeinwohl dienende soziale Ausgleich nicht mehr flächendeckend gelingt. Dies verstärkt die anhaltende Verteilungs­ debatte, die schon im Vorfeld des Tarifautonomiestärkungsgesetzes ein externes Legitimitätsproblem darstellte. Diskussionen über den Niedrig622  Vgl.

auch Lesch/Vogel/Busshoff/Giza, Stärkung der Tarifbindung, 2017, S. 15 f.

350

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

lohnsektor und über einen Living Wage werden inzwischen nicht mehr nur im nationalen, sondern auch im europäischen Kontext geführt (siehe Kapitel 4.4.10). Die gesellschaftspolitische Debatte über die Frage, was eine angemessene Teilhabe der Beschäftigten ist, wird trotz der eingetrübten Lage auf dem Arbeitsmarkt immer noch aus einer distributiven Sicht geführt. Es geht nicht darum, Teilhabe dadurch zu sichern, dass eine Person Arbeit findet. Es geht vor allem darum, Arbeitsuchenden „gute Arbeit“ mit einer Bezahlung nach einem Tarifvertrag anzubieten und das Phänomen „Arm trotz Arbeit“ zu vermeiden. Indem die Europäische Kommission das Thema Tarifbindung auf die Agenda gesetzt hat, nimmt der Handlungsdruck auf der nationalen Ebene zu. 4.4.9.4 Art des Staatseingriffs Obwohl die Bundesregierung im Koalitionsvertrag vereinbart hatte, die Tarifbindung stärken zu wollen,623 nahm sie in der 19. Legislaturperiode keine weiteren gesetzlichen Anpassungen vor. Allerdings kündigte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil im Anschluss an die gesetzlich vorgegebene Evaluierung des gesetzlichen Mindestlohns im Dezember 2020 an, das Anpassungsverfahren beim gesetzlichen Mindestlohn ändern zu wollen. Danach soll sich die Mindestlohnkommission künftig bei der Anpassung des Mindestlohns stärker am mittleren Bruttoeinkommen (Medianlohn) orientieren. Bislang waren Steigerungen des Mindestlohns nachlaufend an die Tariflohnentwicklung gekoppelt.624 Außerdem schlägt der Minister vor, den Mindestlohn möglichst zügig auf 12 Euro je Stunde zu erhöhen.625 Im März 2021 legte Heil zusammen mit Bundesfinanzminister Olaf Scholz ein Eckpunktepapier zum Mindestlohn vor, in dem auch Vorschläge zur Stärkung der Tarifbindung unterbreitet wurden.626 Danach soll der gesetzliche Mindestlohn im Jahr 2022 auf „mindestens 12 Euro“ je Stunde ansteigen.627 Die Mindestlohnkommission müsse künftig den Gesichtspunkt „der Armutsgefährdung maßgeblich berücksichtigen“. Von einer Armutsgefährdung soll regelmäßig „bei einem auf Vollzeitbasis erzielten Arbeitsentgelt unterhalb der Schwelle von 60 Prozent des Medianlohns ausgegangen 623  Vgl. Bundesregierung, Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, 2018. 624  Lesch/Schneider/Schröder, List Forum 2021 (online first, Kapitel 2.1). 625  Vgl. Lesch/Schneider/Schröder, List Forum 2021 (online first, Kapitel 1). 626  Vgl. BMF/BMAS, Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung, 2021. 627  BMF/BMAS, Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung, 2021, S. 1.



4.4  Zeithistorische Debatten351

werden“.628 Unter dem Titel „Starke Sozialpartnerschaft“ werden in einem weiteren Abschnitt des Eckpunktepapiers verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen, die der „Tendenz einer rückläufigen Tarifbindung entgegen­ wirken“ sollen.629 Ein Bundestariftreuegesetz soll die Vergabe öffentlicher Aufträge von Bund, Ländern und Kommunen ab einem bestimmten Schwellenwert nur noch an solche Auftragnehmer erlauben, die ihren Beschäftigten tarifvertragliche Entlohnungsbedingungen gewähren. Auch in den Einrichtungen des Gesundheitswesens wäre der Abschluss von Versorgungsverträgen künftig an die Voraussetzung geknüpft, dass der Arbeitgeber nach einem einschlägigen Tarifvertrag entlohnt. Das Eckpunktepapier sieht daneben auch Ansätze einer Art „Hilfe zur Selbsthilfe“ für die Tarifvertragsparteien vor. Es wird angestrebt, den Tarifbindungsanreiz zu stärken, indem tarifgebundene Arbeitgeber von bestimmten Nachweispflichten ausgenommen und so von Bürokratie entlastet werden. Außerdem dürfe das tarif­dispositive Arbeitnehmerschutzrecht nur noch solchen Unternehmen Abweichungen einräumen, die im Sinne von § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden sind. Bislang konnten sich auch nicht tarifgebundene Arbeitgeber dafür entscheiden, mittels tariflicher Regelungen von den gesetzlichen Standards abzuweichen. Diese „Rosinenpickerei“ soll entfallen.630 Die Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag wurden konkreter und brachten im Frühjahr 2021 verschiedene Anträge zum Thema Tarifbindung im Deutschen Bundestag ein. Das Bündnis 90/Die Grünen forderte in ­seinem oben bereits erwähnten und im März 2021 eingebrachten Antrag „Tarifsystem fördern – Tarifbindung stärken“631 unter anderem ein Bundesvergabe- und Tariftreuegesetz, eine Stärkung der Tarifbindung im Handwerk, eine Weiterentwicklung der Allgemeinverbindlichkeit und eine längere Fortgeltung von Tarifverträgen bei Betriebsübergängen und Umstrukturierungen. Bei der öffentlichen Vergabe sollen demnach nur Unternehmen „zum Zuge kommen, die tarifgebunden sind oder mindestens Tarif­löhne zahlen“.632 Die Allgemeinverbindlicherklärung darf nach den Vorstellungen von Bündnis 90/Die Grünen künftig nur abgelehnt werden, wenn eine 628  BMF/BMAS, Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung, 2021, S. 2. 629  BMF/BMAS, Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung, 2021, S. 4. 630  BMF/BMAS, Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung, 2021, S. 6. 631  Tarifvertragssystem fördern – Tarifbindung stärken, Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drucks. 19/27444. 632  Tarifvertragssystem fördern – Tarifbindung stärken, Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drucks. 19/27444, S. 2.

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4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Mehrheit gegen den Antrag stimmt. Nach dem AEntG sollen auch regionale Tarifverträge und ganze Entgeltgitter erstreckt werden können. Die Linke brachte im April 2021 gleich zwei Anträge ein. Der Antrag „Tarifbindung schützen – Tarifflucht erschweren“633 sieht vor, dass der einschlägige Tarifvertrag künftig bei Umwandlungen von Unternehmen und bei Betriebsübergängen länger fort gilt. Außerdem sollen Mindestaustrittsfristen für das Verlassen eines Arbeitgeberverbands eingeführt und OT-Mitgliedschaften in einem Arbeitgeberverband untersagt werden.634 Mit der Verbotsforderung geht die Linkspartei deutlich über die vom DGB erhobenen Forderungen hinaus. In einem zweiten Antrag „Tarifbindung stärken – Allgemeinverbindlicherklärung erleichtern“635 knüpft die Linkspartei direkt am Tarifautonomiestärkungsgesetz an. Das in diesem Gesetz erklärte Ziel, die Tarifbindung zu erhöhen, sei durch die dort getroffenen Regelungen nicht in „erforderlichem Maße zu erreichen“.636 Es wird daher vorgeschlagen, dass das für eine Allgemeinverbindlichkeit notwendige öffentliche Interesse schon gegeben sein soll, wenn „die Funktionen der Tarifautonomie und des Tarifvertragssystems stabilisiert werden, angemessene Entgelt- und Arbeitsbedingungen erreicht werden [und] so­ ziale Standards gesichert und Wettbewerbsverzerrungen verhindert wer­ den“.637 Außerdem soll eine Allgemeinverbindlicherklärung auch dann möglich sein, wenn nur eine Tarifvertragspartei einen Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit stellt. Anträge sollen zudem nur noch mit Mehrheit abgelehnt werden können. Die Anträge der Oppositionsparteien wurden vom Deutschen Bundestag ebenso wenig angenommen wie die Vorstöße der beiden Minister zum Anpassungsverfahren beim gesetzlichen Mindestlohn vom Koalitionspartner CDU/CSU.638 Das Eckpunktepapier wurde von Vertretern des Koa­ 633  Tarifbindung schützen – Tarifflucht erschweren, Antrag der Fraktion Die Linke, BT-Drucks. 19/28775. 634  Tarifbindung schützen – Tarifflucht erschweren, Antrag der Fraktion Die Linke, BT-Drucks. 19/28775, S. 2. 635  Tarifbindung stärken – Allgemeinverbindlicherklärung erleichtern, Antrag der Fraktion Die Linke, BT-Drucks. 19/28772. 636  Tarifbindung stärken – Allgemeinverbindlicherklärung erleichtern, Antrag der Fraktion Die Linke, BT-Drucks. 19/28772, S. 1. 637  Tarifbindung stärken – Allgemeinverbindlicherklärung erleichtern, Antrag der Fraktion Die Linke, BT-Drucks. 19/28772, S. 2. 638  Die Anträge fanden allerdings Eingang in die Wahlprogramme von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Vgl. Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland. Alles ist drin., 2021; Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021.



4.4  Zeithistorische Debatten353

litionspartners CDU sogar öffentlich kritisiert.639 Gleichwohl fanden die Überlegungen Eingang ins SPD-Wahlprogramm „Aus Respekt vor Deiner Zukunft“.640 Bei der öffentlichen Auftragsvergabe soll unter anderem die Tarifbindung als Vergabekriterium berücksichtigt und die Tarifbindung im Handwerk gestärkt werden.641 Da die Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung „unanständig“ sei, soll diese Praxis zurückgedrängt werden.642 Das gemeinsame Wahlprogramm von CDU/CSU „Das Programm für Stabilität und Erneuerung“ bleibt ziemlich unverbindlich und wird wenig konkret.643 Die Tarifvertragspartner sollen einen möglichst großen Spielraum in der Gestaltung von Arbeitsregelungen behalten. Dabei wird betont, dass neben der tariflichen Ebene auch die betriebliche und die vertragliche Ebene den (nicht näher erläuterten) „differenzierten Bedürfnissen“ eher gerecht werden als gesetzgeberische Eingriffe. Da, wo es nötig sei, würden die Tarifvertragspartner „flankierend“ unterstützt. Allerdings tritt auch die Union dafür ein, das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit zu stärken.644 Die Wahlprogramme von FDP und AfD enthalten keine Absichtserklärungen zur Weiterentwicklung des Tarifvertragssystems.

4.4.10  Exkurs: Europäische Säule der sozialen Rechte und EU-Mindestlohnrichtlinie 4.4.10.1 Hintergrund Als Jean-Claude Juncker 2014 für das Amt des Präsidenten der Euro­ päischen Kommission kandidierte, hielt er im Sommer desselben Jahres eine Rede vor dem Europäischen Parlament. In dieser Rede setzte er die Schaffung der sogenannten Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) auf die Agenda und begründete seinen Vorschlag mit den folgenden Worten: „Es entsteht zurzeit innerhalb der Grenzen der Europäischen Union ein 29. Staat. Es ist der Staat in dem die Menschen, die keine Arbeit haben, wohnen. Ein Staat, in dem Jugendliche Arbeitslose wurden; ein Staat in dem wir Ausgeschlossene, Zurückgeworfene, am Wege stehen Gebliebene 639  Zdf.de, Union lehnt Plan von Scholz und Heil ab vom 9.3.2021, https://www. zdf.de/nachrichten/politik/mindestlohn-12-euro-heil-scholz-100.html (15.7.2021). 640  Vgl. SPD, Aus Respekt vor Deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm, 2021. 641  SPD, Aus Respekt vor Deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm, 2021, S. 19. 642  SPD, Aus Respekt vor Deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm, 2021, S. 27. 643  Vgl. CDU/CSU, Das Programm für Stabilität und Erneuerung. Gemeinsam für ein modernes Deutschland, 2021. 644  CDU/CSU, Das Programm für Stabilität und Erneuerung. Gemeinsam für ein modernes Deutschland, 2021, S. 38.

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4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Quelle: Bundesbildstelle, B 145 Bild-00327937.

Abbildung 62: Jean-Claude Juncker

erleben. Ich hätte gerne, dass dieser 29. Mitgliedstaat wieder ein normaler Mitgliedstaat wird.“645 Juncker ging in diesem Zitat auf die Auswirkungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ein, die durch den Zusammenbruch der US-amerikanischen Bank Lehmann Brothers 2008 ausgelöst wurde. Nachdem hochriskante Spekulationsgeschäfte mehrere Banken in die Insolvenz trieben und den gesamten Bankensektor in den USA und Europa ins Schwanken brachten, mussten viele Regierungen umfangreiche Banken-Rettungsprogramme auflegen. Dennoch konnte ein Übergreifen auf die Realwirtschaft nicht verhindert werden. Das BIP brach 2009 in der EU um 4,3 Prozent ein. Griechenland war dabei besonders stark betroffen. Nach Euro­stat-Angaben beliefen sich die griechischen Staatschulden 2009 auf rund 127 Prozent seines BIP. Da ein großer Teil der griechischen Staatsschulden über Auslandskredite finanziert worden war, stand das Land vor enormen Ausfällen 645  Zitiert nach Europäische Kommission, Einer neuer Anfang für Europa, Rede von Jean-Claude Juncker vom 15.7.2014, https://ec.europa.eu/commission/press corner/detail/de/SPEECH_14_567 (27.7.2021).



4.4  Zeithistorische Debatten355 6

4 2 0 -2 -4 -6 -8 -10 -12

Vereinigtes Königreich

EU

Griechenland

Deutschland

Preisbereinigt; EU: ab 2013 inkl. Kroatien; ab 2020: ohne Vereinigtes Königreich. Quelle: Eurostat, Wachstumsrate des realen BIP, https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/tec00115/ default/table?lang=de (2.8.2021).

Grafik 28: Bruttoinlandsprodukt in der EU von 2009 bis 2020 Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent

und die Zahlungsunfähigkeit drohte.646 Wie in Grafik 28 zu sehen ist, nahm die griechische Wirtschaftsleistung bis zum Jahr 2011 rapide ab. Um den Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise Herr zu werden, setzte die EU 2010 den Euro-Rettungsschirm auf, aus dessen Mitteln Kredite an überschuldete Länder gezahlt wurden. Zwischen 2010 und 2013 bezogen Griechenland, Spanien, Portugal, Irland und Zypern finanzielle Hilfen aus den verschiedenen Programmen des Rettungsschirms.647 Die Europäische Kommission setzte die Kreditpakete – mit Ausnahme des ersten Griechenland-Rettungspakets – gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) und mit der Europäischen Zentralbank (EZB) auf. Die gewährten Hilfen waren an Sparmaßnahmen geknüpft, die einerseits eine Konsolidierung der Staatshaushalte herbeiführen und andererseits die einzelnen Volkswirtschaften wiederbeleben sollten. Beispielsweise hoffte man, den Faktor Arbeit mit der Aussetzung von Mindestlöhnen, der zeitweisen Abschaffung von Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifver­ trägen oder Lohnsenkungen zu vergünstigen. Ziel war, einen weiteren Arbeits­platzabbau zu vermeiden und Anreize für einen Wirtschafts- und Beschäftigungsaufschwung zu setzen.648 Busch/Grömling/Matthes, Intereconomics 46 (2011), 359. Matthes, Fünf Jahre Euro-Rettungsschirm, 2015, S. 5 ff. 648  Vgl. Eurofound, Impact of the crisis on industrial relation, 2013, S. 6 ff. 646  Vgl. 647  Vgl.

356

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

30 25 20 15 10 5 0

EU

Griechenland

Deutschland

Spanien

Vereinigtes Königreich

EU-Angaben: ab 2013 inkl. Kroatien; ab 2020: ohne Vereinigtes Königreich; Jahresdurchschnitte als Anteil der Arbeitslosen an der Erwerbsbevölkerung im Alter von 15 bis 74 Jahren. Quelle: Eurostat, Arbeitslosendaten nach Geschlecht und Alter – jährliche Daten, https://ec.europa.eu/ eurostat/databrowser/product/page/UNE_RT_A__custom_1144968 (2.8.2021).

Grafik 29: Arbeitslosenquoten in der EU von 2008 bis 2020 In Prozent

Dennoch zeitigte die schwere Wirtschaftskrise in vielen EU-Staaten negative Auswirkungen auf den Arbeitsmärkten (siehe Grafik 29): Lag die Arbeitslosenquote 2008 in der EU im Jahresdurchschnitt noch bei 7,0 Prozent, war sie bis 2013 schon auf 10,8 Prozent gestiegen. Auch Länder, die unter dem Euro-Rettungsschirm waren, verzeichneten starke Zuwächse. Beispielsweise kletterte in Griechenland die Arbeitslosenquote von 7,8 Prozent im Jahr 2008 auf 27,5 Prozent 2013. In Spanien war ein Anstieg von 11,3 Prozent im Jahr 2008 auf 26,1 Prozent im Jahr 2013 zu beobachten. Während ein Teil der Bevölkerung aufgrund der wirtschaftlichen Rezession den Arbeitsplatz verlor, mussten viele in Beschäftigung verbliebene Gruppen in den stark betroffenen EU-Mitgliedstaaten sinkende Löhne in Kauf nehmen. Insbesondere im Öffentlichen Dienst wurden die Löhne häufig eingefroren oder gekürzt.649 Soziale Unruhen und Proteste standen in Griechenland, Spanien und anderen Ländern auf der Tagesordnung. Der Streit um einen griechischen Schuldenschnitt konnte 2015 letztlich ohne einen Austritt Griechenlands beendet werden. Unmut regte sich jedoch in Großbritannien, dessen Mitgliedschaft in der EU im eigenen Land immer mehr in Frage gestellt wurde. Während das Wirtschaftswachstum ab Mitte 2013 auf niedrigem Niveau in der EU-28 verharrte, verstärkte ab 2015 die 649  Vgl.

Eurofound, Impact of the crisis on industrial relation, 2013, S. 8 ff.



4.4  Zeithistorische Debatten357

Flüchtlingskrise die innereuropäischen Spannungen. Die EU-Mitgliedstaaten rangen um eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge und eine angemessene Unterstützung und Entlastung der Länder, in denen die Flüchtlinge vornehmlich anlandeten.650 Angesichts der Diskussionen um die Zahlungsfähigkeit einzelner EUMitgliedstaaten, der zunehmenden innereuropäischen Spannung um die Flüchtlingsverteilung sowie des Neuauflebens rechtsextremistischer Strömungen oder Parteien in Europa hob Juncker 2014 hervor: „Es wird viel über das ‚Triple-A‘ debattiert. Alle wollen ein ‚Triple-A‘ […]. Ich aber möchte, dass die Europäische Union ein anderes ‚Triple-A‘ anstrebt und erreicht. Ich möchte ein Europa mit einem sozialen ‚Triple-A‘. Ein soziales ‚Triple-A‘ ist genauso wichtig wie ein wirtschaftliches und finanzielles ‚Triple-A‘.“651 Für den ehemaligen Kommissionspräsidenten hatten sich die ökonomischen und sozialen Ungleichheiten zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten seit 2008 derart verschärft, dass er „einen Prozess der Konvergenz in Gang bringen [wollte], und zwar der Konvergenz der einzelnen Mitgliedstaaten und der Gesellschaften, in dessen Mittelpunkt Produktivität, die Schaffung von Arbeitsplätzen und soziale Gerechtigkeit stehen“ sollten.652 Um Abhilfe zu schaffen, schlug Juncker neben Wachstums- und Investitionspaketen im sozialen Bereich die Einführung der ESSR vor. Außerdem setzte sich Juncker zum Ziel, den sozialen Dialog zu stärken, der „in den Jahren der Krise gelitten“ hätte und der für das Funktionieren einer sozialen Marktwirtschaft zentral sei.653 Zudem befürwortete Juncker die Einführung eines europäischen Mindestlohns, der für ein existenzsicherndes Einkommen aller EU-Bürger sorgen und aus seiner Sicht die Schere zwischen Arm und Reich verringern sollte. Stand 1. Januar 2021 gibt es in den meisten EU-Mitgliedsländern bereits einen gesetzlichen Mindestlohn, dessen Höhe aufgrund der lokalen Unterschiede stark variiert (siehe Grafik 30). 650  Vgl. Schimmelfennig, Wirtschaftsdienst 95 (2015), 650 (650 f.); vgl. auch Carrera/Blockmans/Gros/Guild, The EU’s Response to the Refugee Crisis, 2015, S. 1 f. 651  Zitiert nach Europäische Kommission, Zeit zum Handeln – Erklärung in der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments vor der Abstimmung über die neue Kommission, Rede von Jean-Claude Juncker vom 22.10.2014, https://ec.europa.eu/ commission/presscorner/detail/de/SPEECH_14_1525 (27.7.2021). 652  Juncker, Zur Lage der Union 2015, 2015, https://ec.europa.eu/info/sites/de fault/files/state_of_the_union_2015_de.pdf (27.7.2021). 653  Zitiert nach Europäische Kommission, Einer neuer Anfang für Europa, Rede von Jean-Claude Juncker vom 15.7.2014, https://ec.europa.eu/commission/press corner/detail/de/SPEECH_14_567 (27.7.2021).

358

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Luxemburg Niederlande Frankreich Irland Belgien Deutschland Slowenien Spanien Malta Portugal Litauen Griechenland Polen Slowakei Estland Tschechien Kroatien Lettland Rumänien Ungarn Bulgarien

12,73 10,34 10,25 10,20 9,85 9,50 5,92 5,76 4,53 4,01 3,93 3,76 3,64 3,58 3,48 3,42 3,26 2,96 2,84 2,64 2,00

Stand: 1. Januar 2021. Quelle: WSI-Mindestlohndatenbank, http://www.boeckler.de/pdf/ta_mldb_2021.xlsx (2.8.2021).

Grafik 30: Aktuelle Mindestlöhne in den EU-Mitgliedstaaten Angaben in Euro je Stunde

Juncker trieb seine Vorschläge in den folgenden Jahren voran und schon im März 2016 legte die Europäische Kommission einen Entwurf für die ESSR vor, den sie zur Konsultation freigab. Basierend auf den Konsulta­ tionsergebnissen folgte im April 2017 eine überarbeitete Fassung, die mit nur einigen wenigen Änderungen im November 2017 auf dem Sozialgipfel in Göteborg proklamiert wurde.654 Nur zwei Jahre später betonte Ursula von der Leyen im Rahmen ihrer Bewerbung um die Kommissionspräsidentschaft die Notwendigkeit, einen europäischen Rahmen für Mindestlöhne zu schaffen: „Ich möchte, dass Arbeit sich wieder lohnt. In einer sozialen Marktwirtschaft sollte jeder Mensch, der Vollzeit arbeitet, einen Mindestlohn erhalten, der ihm einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht. Deshalb werden wir einen Rahmen entwickeln, der natürlich den verschiedenen Arbeitsmärkten Rechnung trägt. Die beste Option ist meiner Ansicht nach, dass Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sich in Tarifverhandlungen verständigen, denn so wird der Mindestlohn dem entsprechenden Sektor oder der Region angepasst. Für die verschiedenen mög­ 654  Dauner/Pötzsch,

Die Europäische Säule sozialer Rechte, 2018, S. 3.



4.4  Zeithistorische Debatten359

Quelle: Europäische Kommission, P-047046/00-16 ©UE/Etienne Ansotte, 2020.

Abbildung 63: Ursula von der Leyen

lichen Modelle müssen wir jedoch den Rahmen vorgeben.“655 Nachdem Ursula von der Leyen im Jahr 2019 Jean-Claude Juncker an der Spitze der Europäischen Kommission ablöste, folgte im Oktober 2020 ein RichtlinienEntwurf zur Einführung angemessener Mindestlöhne in Europa. Diesem Entwurf waren zwei öffentliche Konsultationsphasen vorausgegangen, die eine kontroverse Diskussion über die Befugnisse der EU in puncto Lohnund Tariffragen ausgelöst haben. 4.4.10.2 Art der Eingriffe Die ESSR umfasst insgesamt 20 Grundsätze, die in drei Kapiteln zusammengefasst sind. Kapitel 1 beschäftigt sich mit der Schaffung von Chancengleichheit und eines fairen Arbeitsmarktzugangs für alle EU-Bürger. In 655  Zitiert nach Europäische Kommission, Rede zur Eröffnung der Plenartagung des Europäischen Parlaments, Ursula von der Leyen, Kandidatin für das Amt der Präsidentin der Europäischen Kommission, Rede vom 16.7.2019, https://ec.europa. eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_19_4230 (27.7.2021).

360

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Kapitel 2 sind die Grundsätze zusammengefasst, die faire Arbeitsbedingungen (inklusive angemessener Mindestlöhne) in der EU proklamieren. Im abschließenden Kapitel 3 finden sich jene Grundsätze, die den EUBürgern einen angemessenen Sozialschutz sowie soziale Inklusion zusagen. Die ESSR stellt eine Selbstverpflichtung der EU-Institutionen und der EU-Mitgliedstaaten dar, besitzt jedoch keinen zwingenden rechtsverbind­ lichen Charakter. Dennoch berühren ihre Grundsätze wesentliche Auf­ gabenbereiche der Tarifvertragsparteien in Deutschland (sei es in puncto Lohnfindung, bei der beruflichen Bildung und Weiterbildung oder bei der Wahrung der Gleichbehandlungsgrundsätze in den Betrieben). Daher entstehen Debatten immer dann, wenn die ESSR von der Europäischen Kommission als Begründung herangezogen wird, um weiterführende und unter Umständen verpflichtende Maßnahmen zu erarbeiten. Jüngstes Beispiel hierfür ist der Richtlinienentwurf über die Schaffung angemessener Mindestlöhne in der EU, den die Europäische Kommission im Oktober 2020 vorgelegt hat. Im Gegensatz zur ESSR würde dieser Entwurf bei seiner Verabschiedung bindende Wirkung für die EU-Mitgliedstaaten erhalten. In diesem Richtlinienentwurf werden in Artikel 5 Kriterien benannt, anhand derer die Länder ihre Mindestlöhne auf eine angemessene Höhe hin prüfen sollen. Um als angemessen gelten zu können, sollen nationale Mindestlöhne eine Kaufkraft besitzen, die es den EUBürgern erlaubt, ihre Lebenshaltungskosten, Steuer- und Sozialabgaben zu decken. Außerdem sollen bei der Festsetzung der Höhe von Mindestlöhnen das „Niveau der Bruttolöhne und ihre Verteilung, die Wachstumsrate der Bruttolöhne und die Entwicklung der Arbeitsproduktivität“ einbezogen werden.656 Um die Angemessenheit ihrer Mindestlöhne sicherzustellen, sollen sich die EU-Mitgliedstaaten bei der Festsetzung an international üblichen Indikatoren orientieren. Konkret wird auf den Kaitz-Index verwiesen, der Mindestlöhne mit dem Median- oder Durchschnittslohn vergleicht. Eine weitere Möglichkeit wäre es, der Definition eines angemessenen Lebensstandards nach dem Europarat zu folgen.657 Die Folgenabschätzung, die zum Richtlinienvorschlag erstellt wurde, schlägt schließlich eine Art Korridor vor, innerhalb dessen sich die EU-Mitgliedstaaten bewegen sollen: Als ideal wird eine Mindestlohnhöhe von 55 oder 60 Prozent des Bruttomedianlohns betrachtet. Als zweite denkbare Option wird auch eine Festlegung auf 45 oder 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns genannt.658 656  COM(2020) 657  Vgl.

682 final, S. 14. Schröder, Brauchen wir einen europäischen Mindestlohn?, im Erschei-

658  Vgl.

SWD(2020) 245 final, S. 71.

nen.



4.4  Zeithistorische Debatten361

Und schließlich wäre auch eine Kombination aus beiden Optionen möglich. Würde die finale Richtlinie beispielsweise eine Orientierung der nationalen Mindestlöhne an einem Medianlohn in Höhe von 60 Prozent vorsehen, kämen laut Folgenabschätzung etwa 53 Milliarden Euro an Kosten auf die verschiedenen Parteien zu.659 Etwa 40 Milliarden Euro würden durch Preiserhöhungen auf die Konsumenten überwälzt. Der restliche Teil müsste durch die Firmen vor Ort gestemmt werden – betroffen wären vor allem kleine und mittelständische Unternehmen. Diesen Kosten stünde eine fast einprozentige Erhöhung der Bruttolohn- und -gehaltssumme gegenüber. Mit den steigenden Verdiensten würden sich auch die Sozialabgaben auf Arbeitgeberseite erhöhen, sodass sich die Mehrkosten auf etwa 66 Milliarden Euro beliefen.660 Mit Blick auf Deutschland wird geschätzt, dass etwa 18 Prozent der Beschäftigten betroffen wären, wenn der gesetzliche Mindestlohn auf 60 Prozent des Medianlohns gehoben würde.661 4.4.10.3 Art des Legitimitätsproblems Jean-Claude Juncker hatte sich vor seiner Wahl zum Präsidenten der Europäischen Kommission zum Ziel gesetzt, das Versprechen vom sozialen Wohlstand für die europäischen Bürger einzulösen.662 Die EU sollte nicht länger nur Wirtschaftsunion sein, sondern auch in sozialen Bereichen zusammenwachsen. Diese Idee ist dabei nicht neu. Bereits der Europäische Gemeinschaftsvertrag von 1957 enthielt ein Kapitel zu Sozialfragen, 1961 folgte die Sozialcharta von Turin und 1989 die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. Hervorzuheben ist, dass es mit Blick auf Arbeits- und Sozialfragen eine Aufgabenteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten gibt. So sind die Grundsätze der europäischen Sozialpolitik ebenso wie die Kompetenzverteilung zwischen euro­ päischer und nationaler Ebene im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geregelt. In Artikel 151 AEUV werden zunächst die übergeordneten Ziele der Union benannt: Neben der Förderung der Beschäftigung sollen ebenso die 659  Vgl. 660  Vgl.

nen.

661  Vgl.

SWD(2020) 245 final, S. 212. Schröder, Brauchen wir einen europäischen Mindestlohn?, im Erschei-

SWD(2020) 245 final, S. 187. Juncker, Einer neuer Anfang für Europa, Rede von Jean-Claude Juncker vom 15.7.2014, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_14_ 567 (27.7.2021). 662  Vgl.

362

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Lebens- und Arbeitsbedingungen und der soziale Schutz verbessert werden, um letztlich eine wirtschaftliche und soziale Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten zu erreichen. Weiterhin soll der soziale Dialog gefördert werden. Den Sozialpartnern wird dabei in Artikel 153 und 154 des Vertrags Hoheit über tarifvertragliche Fragestellungen auf nationaler oder subnationaler Ebene zugesagt – insbesondere das Arbeitsentgelt und das Koalitionsrecht werden in Artikel 153 von einer europäischen Regulierung ausgenommen. Während die ESSR zwar die Schaffung angemessener Löhne fordert, stellt sie im Unterschied zu den zuvor genannten Vertragstexten eine Selbstverpflichtung der EU-Staaten dar. Das bedeutet, dass die Mitgliedstaaten die ESSR-Grundsätze nicht zwingend in ihr nationales Recht überführen müssen. Trotzdem greifen die Brüsseler Organe immer wieder auf die ESSR zurück, um beispielsweise weiterführende Richtlinien­ entwürfe zu begründen. Nach ihrer Verabschiedung werden europäische Richtlinien – im Gegensatz zur ESSR – rechtsverbindlich und müssen in das nationale Recht der EU-Mitgliedstaaten überführt werden. Ihre Umsetzung kann daher vor dem Europäischen Gerichtshof eingeklagt werden. Weiterhin hat die Kommission im März 2021 einen Aktionsplan zur Umsetzung der ESSR veröffentlicht. Im Aktionsplan wurden folgende Zielsetzungen angekündigt: Bis zum Jahr 2030 sollen mindestens 78 Prozent aller Personen im Alter von 20 bis 64 Jahren einer Beschäftigung nachgehen, 60 Prozent aller Erwachsenen sollen mindestens einmal pro Jahr an einer Weiterbildung teilnehmen und die Zahl der von Armut oder Ausgrenzung bedrohten Menschen soll um 15 Millionen reduziert werden.663 Weitere legislative Initiativen wurden ebenso im Aktionsplan angekündigt (beispielsweise zum Thema Lohntransparenz). Auf dem Sozialgipfel von Porto bekannten sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer zur ESSR und zu den im Aktionsplan vorgeschlagenen Zielen.664 Aufgrund des beschriebenen Subsidiaritätsprinzips gestaltet es sich für die Europäische Kommission jedoch schwierig, eine Mindestlohn-Richt­ linie einzuführen. Mit dem Richtlinienentwurf aus dem Oktober 2020 versucht sie diesen Schritt dennoch. In dem Konsultationspapier, das die Europäische Kommission zum Richtlinienentwurf vorgelegt hat, begründet sie ihre Mindestlohn-Initiative mit internen und externen Faktoren, die auf 663  Vgl. Europäische Kommission, Die europäische Säule sozialer Rechte: Umsetzung von Grundsätzen in Maßnahmen, Pressemitteilung vom 4.3.2021, https:// ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_820 (27.7.2021). 664  Vgl. Europäische Kommission, Die europäische Säule sozialer Rechte: Umsetzung von Grundsätzen in Maßnahmen, Pressemitteilung vom 4.3.2021, https:// ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_820 (27.07.2021).



4.4  Zeithistorische Debatten363

das und im Umfeld der Tarifvertragsparteien in den einzelnen Mitgliedstaaten wirkten: Erstens argumentiert die Kommission, dass die negativen Auswirkungen der europaweiten Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie es notwendig machen würden, dafür „zu sorgen‚ dass alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU einen angemessenen Lebensunterhalt ver­ dienen“.665 Angemessene Löhne fördern aus Sicht der Kommission die Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten und mehren den Wohlstand in der EU.666 Insgesamt soll der Richtlinienentwurf zur wirtschaftlichen Erholung in den EU-Staaten und zum „Aufbau fairer und widerstandsfähiger Volkswirtschaften“ beitragen.667 Eine ähnliche Argumentation verfolgte bereits Juncker bei der Einführung der ESSR – nur das 2015 die Auswirkungen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 im Vordergrund der Argumentation standen. In beiden Fällen werden somit externe Faktoren angeführt (Bekämpfung der Auswirkungen von Wirtschaftskrisen), die ein Handeln auf europäischer Ebene notwendig erscheinen lassen. Besonders kritisch wird dabei die Entwicklung im Niedriglohnbereich bewertet, die zunehmend die Verteilungsgerechtigkeit in der EU in Frage stelle.668 Konkret wird im Mindestlohn-Richtlinienentwurf bemängelt, dass in zehn Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, der Anteil der Niedriglohnempfänger 2014 bei über 20 Prozent gelegen habe. Die Tendenz sei seit 2006 sogar steigend.669 Außerdem lag der Mindestlohn 2018 in einer Reihe von Staaten – auch hier wieder inklusive Deutschland – unter 40 Prozent des Medianlohns.670 Während einige EU-Mitgliedstaaten seit Jahren die Höhe des Mindestlohns an ihre volkswirtschaftliche Lohn- und Preisentwicklung koppelten bzw. eigene Indexierungssysteme entwickelt haben, um eine angemessene Lohnuntergrenze zu schaffen, fehle ein solcher Mechanismus in Deutschland.671 Bestimmte Arbeitnehmergruppen würden außerdem vom Mindestlohn ausgeklammert oder es bestünden wie im Falle der Heimarbeiter abweichende Bestimmungen in Deutschland.672 Insgesamt fehle es also an ausreichenden nationalen Regelungen, um die Ausbreitung des Niedriglohnsektors zu verhindern. 665  C(2020)

3570 final, S. 1. Schröder, Brauchen wir einen europäischen Mindestlohn?, im Erscheinen. 667  C(2020) 3570 final, S. 1. 668  Vgl. C(2020) 3570 final, S. 1 f. 669  Vgl. C(2020) 3570 final, S. 7 (Fn. 7). 670  Vgl. C(2020) 3570 final, S. 8 (Fn. 12). 671  Vgl. C(2020) 3570 final, S. 11. 672  Vgl. C(2020) 3570 final, S. 12. 666  Vgl.

364

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Zweitens verweist das Konsultationspapier auf Defizite in den national organisierten Tarifvertragssystemen. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände seien in einer Reihe von Mitgliedstaaten entweder noch nicht oder nicht mehr in der Lage, für einen Großteil der Erwerbstätigen adäquate Löhne und Gehälter auszuhandeln. Mit Blick auf Deutschland wird beispielsweise ausgeführt, dass der gesetzliche Mindestlohn vor dem Hintergrund einer stetig abnehmenden Tarifbindung eingeführt wurde.673 So machten interne Faktoren wie die intraorganisationalen Organisationsdefizite auf Seiten der Tarifvertragsparteien aus Sicht der Kommission ein europäisches Vorgehen notwendig. 4.4.10.4  Politische Debatte Die neue Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, erklärte im September 2020 in einer Rede vor dem Europäischen Parlament, dass die Europäische Kommission einen Vorschlag unterbreiten wird, der die EU-Mitgliedstaaten dabei unterstützen soll, einen geeigneten „Rechtsrahmen für Mindestlöhne“ einzuführen.674 Aus Sicht der Kommissionspräsidentin sollte jeder EU-Bürger „einen Anspruch auf Mindestlohn haben, sei es im Rahmen einer Tarifvereinbarung oder dank eines gesetz­ lichen Mindestlohns“. Ein derartiger Schritt sei notwendig, um „Dumpinglöhne“ zu verhindern und Wettbewerbsverzerrungen am Markt zu vermeiden.675 Einen Bruch mit bereits bestehendem europäischem Vertragsrecht sieht die Europäische Kommission nicht vorliegen. Obwohl die Folgenabschätzung zum Richtlinienvorschlag sehr konkrete Werte nennt, die die Höhe nationaler Mindestlöhne betreffen, werden die oben beschriebenen Korridore von der Europäischen Kommission nicht als unvereinbar mit Artikel 153 AEUV gesehen: „Da im Vorschlag keine Maßnahmen mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Höhe des Arbeitsentgelts enthalten sind, werden die Grenzen, die den Maßnahmen der Union durch Artikel 153 673  Vgl.

C(2020) 3570 final, S. 10. nach Europäische Kommission, Präsidentin von der Leyens Rede zur Lage der Union bei der Plenartagung des Europäischen Parlaments, Rede vom 16.9.2020, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_20_1655 (28.7.2021). 675  Zitiert nach Europäische Kommission, Präsidentin von der Leyens Rede zur Lage der Union bei der Plenartagung des Europäischen Parlaments, Rede vom 16.9.2020, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_20_1655 (28.7.2021). 674  Zitiert



4.4  Zeithistorische Debatten365

Absatz 5 AEUV gesetzt sind, voll und ganz gewahrt.“676 Mit Blick auf die Tarifautonomie wird sogar betont: „Die vorgeschlagene Richtlinie ist da­ rauf ausgelegt, diese Ziele unter Berücksichtigung und vollständiger Achtung der Besonderheiten der nationalen Systeme, der nationalen Zuständigkeiten, der Tarifautonomie und der Vertragsfreiheit der Sozialpartner zu erreichen“.677 Ursula von der Leyen erklärte ebenso in ihrer Rede aus dem September 2020, dass sie eine „große Befürworterin von Tarifvereinbarungen“ sei und der Kommissionsvorschlag „nicht an nationalen Kompetenzen und Traditionen“ rüttele.678 Von der Leyen betonte dabei, dass ein „gut ausgehandelter“ Mindestlohn in vielen EU-Mitgliedstaaten Arbeitsplätze bewahrt und einen fairen Wettbewerb zwischen den Unternehmen ermöglicht habe.679 Ihr Fazit zum Thema Mindestlöhne lautet daher: „Mindestlöhne funktionieren – und es wird Zeit, dass sich Arbeit wieder lohnt“.680 Stand Juli 2021 liegt noch keine finale Fassung der Richtlinie vor. Subsidiaritätsrügen wurden bereits von mehreren Ländern (Malta, Schweden, Dänemark) während der Konsultationsphase vorgebracht. Und auch der Europaausschuss des Bundesrats kam Ende 2020 zu dem Schluss, dass „für Vorgaben zur Angemessenheit von Mindestlöhnen in einer Richtlinie keine EU-Kompetenz besteht.“681 Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), der die Interessen von 90 Gewerkschaftsbünden auf europäischer Ebene vertritt, begrüßt hingegen die Mindestlohn-Initiative der Europäischen Kommission. Ähnlich wie Juncker und von der Leyen unterstreicht der Bund, dass es an der Zeit für ein gemeinsames europäisches Vorgehen sei. Insbesondere die Folgen der Corona-Pandemie hätten noch einmal eindrücklich gezeigt, unter welchen 676  SWD(2020)

245 final, S. 7. 245 final, S. 3. 678  Zitiert nach Europäische Kommission, Präsidentin von der Leyens Rede zur Lage der Union bei der Plenartagung des Europäischen Parlaments, Rede vom 16.9.2020, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_20_1655 (28.7.2021). 679  Zitiert nach Europäische Kommission, Präsidentin von der Leyens Rede zur Lage der Union bei der Plenartagung des Europäischen Parlaments, Rede vom 16.9.2020, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_20_1655 (28.7.2021). 680  Zitiert nach Europäische Kommission, Präsidentin von der Leyens Rede zur Lage der Union bei der Plenartagung des Europäischen Parlaments, Rede vom 16.9.2020, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_20_1655 (28.7.2021). 681  Zitiert nach Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, BR-Drucks. 649/1/20, S. 2. 677  SWD(2020)

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4. Die Legitimität von Tarifautonomie

unfairen Lohn- und Arbeitsbedingungen einige Beschäftigte in der EU arbeiteten.682 In seiner Stellungnahme befürwortet der EGB entsprechend die Einführung bzw. Stärkung von Mindestlöhnen. Er fordert sogar, dass die Untergrenze für die Höhe der einzelnen Mitgliedstaaten auf mindestens 60 Prozent des nationalen Medianlohns und 50 Prozent des durchschnitt­ lichen Bruttolohns festgelegt wird. Die aktuelle Formulierung in der Folgenabschätzung zum Richtlinienentwurf legt hingegen eher eine Auswahl zwischen den beiden Referenzwerten nahe und sieht Werte von 55 oder 60 bzw. 45 oder 55 vor. Für den EGB verletzen Lohnuntergrenzen dabei nicht die Tarifhoheit der Tarifvertragsparteien in den EU-Mitgliedstaaten. Aus Sicht des Gewerkschaftsbunds können die Tarifvertragsparteien oberhalb der jeweils gültigen Mindestlöhne Tariflöhne verhandeln. Höhere Tariflöhne unterstützten eine Aufwärtskonvergenz der Löhne insgesamt.683 Der EGB fordert zudem zahlreiche weitere Maßnahmen, die die Tarifsysteme auf nationaler Ebene stützen sollen. Zu den wichtigsten zählen unter anderem: 1. Unfaire Abzüge von den gesetzlichen Mindestlöhnen (sei es durch den Arbeitgeber oder durch die Aufrechnung gesetzlicher Sozialversicherungsbeiträge) sollen verhindert werden. 2. In EU-Mitgliedstaaten, in denen die Tarifbindung unter 70 Prozent liegt, sollen gemeinsam mit den Sozialpartnern Aktionspläne erstellt werden, um Tarifverhandlungen zu fördern. Wünschens- und unterstützenswert seien vor allem branchenweite oder branchenübergreifende Tarifverhandlungen. Außerdem fordert der EGB in seiner Stellungnahme eine Garantie, dass Gewerkschaften Zutritt zu den Arbeitsstätten und ausreichende Schutzrechte erhalten müssen. Gewerkschaften sollen ihre Organisationsaktivitäten ohne Beeinträchtigungen durch den Arbeitgeber ausüben können. 3. Staatliche Tariftreueregelungen sollen Unternehmen ohne Tarifvertrag von der Vergabe öffentlich finanzierter Aufträge oder Fördermittel ausschließen. 682  Vgl. ETUC, Reply of the European Trade Union Confederation (ETUC) to the Second Phase Consultation of Social Partners under Article 154 TFEU on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 3.9.2020, https://www.etuc.org/en/document/reply-etuc-2nd-phase-consultation-socialpartners-fair-minimum-wages (28.7.2021). 683  Vgl. ETUC, Reply of the European Trade Union Confederation (ETUC) to the Second Phase Consultation of Social Partners under Article 154 TFEU on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 3.9.2020, https://www.etuc.org/en/document/reply-etuc-2nd-phase-consultation-socialpartners-fair-minimum-wages (28.7.2021).



4.4  Zeithistorische Debatten367

4. Mitgliedstaaten, in denen faire Löhne durch Tarifverhandlungen erreicht werden, müssen aus Sicht des EGB davor geschützt werden, dass ihre Tarifverträge durch europäisches oder nationales Recht ersetzt werden. Der EGB warnt die Europäische Kommission schließlich davor, den EU-Mitgliedstaaten vorzugeben, wie sie ihre Tarifvertragssysteme konkret ausgestalten. In diesem Zusammenhang erinnert der Bund an die aus seiner Sicht katastrophalen Auswirkungen der konditionalen Kreditvergabe nach dem Einsetzen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/ 2009. Der EGB führt weiter aus, dass Mitgliedstaaten von Eingriffen in ihre Lohnpolitik betroffen waren, die in aller Regel auf eine moderatere Lohnentwicklung sowie auf eine Dezentralisierung der Tarifsysteme gezielt hätten.684 Während der EGB den vorliegenden Richtlinienentwurf unterstützt, betont er aber auch, dass die europäische Mindestlohn-Initiative nicht auf eine Harmonisierung der Tarifsysteme oder gar auf die Festsetzung eines EU-weit einheitlichen Mindestlohns ziele.685 Die Anbindung von Mindestlöhnen an die oben beschriebenen Referenzwerte sieht der Gewerkschaftsbund jedoch nicht als problematisch an. Sollte eine euro­ päische Richtlinie verabschiedet werden, befürwortet der EGB schließlich auch die Überprüfung der Höhe der Mindestlöhne auf nationaler Ebene unter Einbeziehung der Sozialpartner (mindestens einmal im Jahr).686 Während der EGB grundsätzlich tarifvertraglich oder gesetzlich garantierte Lohnuntergrenzen in den EU-Mitgliedstaaten begrüßt, ist der Richtlinienentwurf innerhalb der europäischen Gewerkschaftsbewegung jedoch nicht unumstritten. Insbesondere die skandinavischen Staaten wandten sich gegen eine europäische Einmischung in ihre Lohnfindungssysteme. Der schwedische Gewerkschaftsbund LO sieht in dem Referentenentwurf die Gefahr, dass das Lohnniveau in Schweden insgesamt sinken und Arbeitge684  Vgl. ETUC, Reply of the European Trade Union Confederation (ETUC) to the Second Phase Consultation of Social Partners under Article 154 TFEU on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 3.9.2020, https://www.etuc.org/en/document/reply-etuc-2nd-phase-consultation-socialpartners-fair-minimum-wages (28.7.2021). 685  Vgl. ETUC, Reply of the European Trade Union Confederation (ETUC) to the Second Phase Consultation of Social Partners under Article 154 TFEU on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 3.9.2020, https://www.etuc.org/en/document/reply-etuc-2nd-phase-consultation-socialpartners-fair-minimum-wages (28.7.2021). 686  Vgl. ETUC, Reply of the European Trade Union Confederation (ETUC) to the Second Phase Consultation of Social Partners under Article 154 TFEU on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 3.9.2020, https://www.etuc.org/en/document/reply-etuc-2nd-phase-consultation-socialpartners-fair-minimum-wages (28.7.2021).

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4. Die Legitimität von Tarifautonomie

ber in Schweden nur noch bereit sein könnten, den Mindestlohn zu zahlen. Der schwedische Gewerkschaftsbund erkennt das Ziel der Europäischen Kommission an, die Lohndifferenzen zwischen und in den EU-Ländern verringern zu wollen. Dies könne jedoch nicht zu Lasten des schwedischen Systems gehen. Konkret befürchtet der schwedische Gewerkschaftsbund LO, dass sich die Lohnsetzungsmacht von der schwedischen auf die europäische Ebene verlagern würde. Sie sieht in dem Vorschlag der Europäischen Kommission einen deutlichen Schritt in Richtung Supranationalität und es sei nicht klar, welche Kompetenzen noch auf nationaler Ebene verblieben. Der Vorschlag ließe nicht erkennen, dass Länder wie Schweden mit einer Tarifabdeckung von etwa 90 Prozent der Beschäftigten von den vorgeschlagenen Maßnahmen ausgenommen würden. Insgesamt würde das gesamte schwedische Tarifsystem durch eine derartige Richtlinie gefährdet und der vorgelegte Entwurf stünde noch nicht einmal im Einklang mit den Europäischen Verträgen, die die Lohnsetzung auf nationaler Ebene verorteten.687 Daher lehnten sowohl die Arbeitgeberverbände als auch die Gewerkschaften in Schweden den Vorschlag ab.688 Noch kritischer fällt die Reaktion der Arbeitgeberseite mit Blick auf die europäische Mindestlohn-Initiative aus. BusinessEurope vertritt in Brüssel die Interessen von etwa 40 Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden aus 35 europäischen Ländern. Der europäische Dachverband hält den vorgelegten Richtlinienentwurf für vollständig unvereinbar mit europäischem Recht. BusinessEurope hebt in seiner Stellungnahme zum Richtlinien-Entwurf hervor, dass jegliche EU-Initiative die nationalen Aufgaben und Kompetenzen der Tarifvertragspartner berücksichtigen und bestenfalls stärken müsse – insbesondere mit Blick auf die Lohnsetzungsmechanismen.689 Nicht nur hätte die Europäische Kommission kein Recht, Löhne auf nationaler Ebene zu setzen, auch der Vorschlag, dass alle Beschäftigten von Mindestlöhnen abgedeckt sein müssten, wird als problematisch bewertet. Der europäische Arbeitgeberverband hebt hervor, dass selbst in den nordischen EU-Mitgliedstaaten (wie Schweden, Dänemark oder Norwegen) 687  LO, LO says no to statutory minimum wage in the EU, Mitteilung vom 29.10.2020, https://www.lo.se/english/news/lo_says_no_to_statutory_minimum_wage_ in_the_eu (28.7.2021). 688  Vgl. LO, LO says no to statutory minimum wage in the EU, Mitteilung vom 29.10.2020, https://www.lo.se/english/news/lo_says_no_to_statutory_minimum_wage_ in_the_eu (28.7.2021). 689  Vgl. BusinessEurope, BusinessEurope response to 2nd stage social partner consultation on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 7.9.2020, S.  1, https://www.businesseurope.eu/sites/ buseur/files/media/position_papers/social/2020-09-07_response_second_stage_consul tation_minimum_wages.pdf (28.7.2021).



4.4  Zeithistorische Debatten369

trotz ihrer gut ausgebauten Tarifsysteme und hohen tariflichen Abdeckungsraten kaum alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter den Mindestlohn fielen.690 BusinessEurope unterstreicht dabei, dass die Europäische Kommission mit ihrem Vorschlag die gut ausgebauten Tarifsysteme unnötigerweise schwäche – ohne die EU-Mitgliedstaaten mit schwach ausgeprägten Systemen in Tarifvertragsfragen stärken zu können. Eine europäische Gesetzgebung könnte schwache Sozialpartner nicht plötzlich erstarken lassen. Starke Sozialpartner müssten wachsen, Repräsentativität aufbauen und in der Lage sein, selbstständig Lösungen zu verhandeln.691 Maßnahmen, die die Sozialpartner hierzu befähigten (Capacity Building), seien zielführender.692 BusinessEurope steht dabei dem Ansinnen der Europäischen Kommission nicht entgegen, dass Beschäftigte angemessene Löhne verdienen sollen. Der Wirtschafts- und Arbeitgeberverband verweist jedoch auf die Vielzahl der Faktoren, die auf die Lohnhöhe Einfluss nehmen: Neben der Zahl der Wochenarbeitsstunden sei ebenso zu beachten, dass Löhne nicht unabhängig von der Produktivität der Unternehmen gesetzt werden könnten. Unternehmen in Europa müssten im globalen Wettbewerb bestehen und damit auch zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen beitragen können. Mindestlöhne müssten zudem im Kontext der nationalen sozialen Sicherungssysteme betrachtet werden, deren Aufgabe es ebenso sei, für eine angemessene soziale Absicherung zu sorgen.693 Anstatt Mindestlöhne vorzuschreiben, könnten beispielsweise auch die Steuern und Abgaben für 690  Vgl. BusinessEurope, BusinessEurope response to 2nd stage social partner consultation on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 7.9.2020, S.  4, https://www.businesseurope.eu/sites/ buseur/files/media/position_papers/social/2020-09-07_response_second_stage_consul tation_minimum_wages.pdf (28.7.2021). 691  Vgl. BusinessEurope, BusinessEurope response to 2nd stage social partner consultation on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 7.9.2020, S.  1, https://www.businesseurope.eu/sites/ buseur/files/media/position_papers/social/2020-09-07_response_second_stage_consul tation_minimum_wages.pdf (28.7.2021). 692  Vgl. BusinessEurope, BusinessEurope response to 2nd stage social partner consultation on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 7.9.2020, S.  1, https://www.businesseurope.eu/sites/ buseur/files/media/position_papers/social/2020-09-07_response_second_stage_consul tation_minimum_wages.pdf (28.7.2021). 693  Vgl. BusinessEurope, BusinessEurope response to 2nd stage social partner consultation on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 7.9.2020, S.  1, https://www.businesseurope.eu/sites/ buseur/files/media/position_papers/social/2020-09-07_response_second_stage_consul tation_minimum_wages.pdf (28.7.2021).

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4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Niedriglohnempfänger in den einzelnen Mitgliedstaaten reduziert werden, um bessere Einkommensperspektiven zu ermöglichen. Insgesamt müssten jedoch differenzierte Lösungen in jedem einzelnen Mitgliedstaat erwogen werden, die der Lage vor Ort gerecht würden. Besonders kritisch sieht der Verband, dass Mindestlöhne unverhältnismäßig stark unter so einer Richtlinie angehoben werden könnten. Anstatt einer verbesserten sozialen Ab­ sicherung der Beschäftigten, könnten Einstellungshemmnisse die Folge sein. Flächentarifvertrags- oder Firmentarifvertragsverhandlungen könnten außerdem geschwächt werden, da nur noch die gesetzlichen Parameter als Maßgabe der Lohnfindung herangezogen werden könnten.694 Anstelle einer Richtlinie könne die Kommission auch eine Empfehlung aussprechen, die die EU-Mitgliedstaaten freiwillig umsetzen, oder ein stärkeres Monitoring von Löhnen (inkl. Mindestlöhnen) innerhalb des Euro­ päischen Semesters einführen.695 Zudem müssten vor allem die Netto- und nicht die Bruttolöhne betrachtet werden.696 Dort, wo es nationale Regeln zu Mindestlöhnen gebe, sollten die Tarifvertragsparteien aber adäquat in die Überprüfung der Mindestlohnhöhe einbezogen werden.697 Sog. Capacity Building könnte darüber hinaus zu einer Verbesserung der tarif­lichen Abdeckung der Beschäftigten führen. Letztlich basiere das System von Tarifverhandlungen im Grundsatz aber auf der Vereinigungsfreiheit, die vollständig respektiert werden müsse. Einen Zwang dürfe es in diesem Kontext nicht geben.698 Alle vorgeschlagenen Regelungen müssten freiwilliger Natur sein und bleiben. 694  Vgl. BusinessEurope, BusinessEurope response to 2nd stage social partner consultation on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 7.9.2020, S.  3, https://www.businesseurope.eu/sites/ buseur/files/media/position_papers/social/2020-09-07_response_second_stage_consul tation_minimum_wages.pdf (28.7.2021). 695  Vgl. BusinessEurope, BusinessEurope response to 2nd stage social partner consultation on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 7.9.2020, S.  2, https://www.businesseurope.eu/sites/ buseur/files/media/position_papers/social/2020-09-07_response_second_stage_consul tation_minimum_wages.pdf (28.7.2021). 696  Vgl. BusinessEurope, BusinessEurope response to 2nd stage social partner consultation on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 7.9.2020, S.  7, https://www.businesseurope.eu/sites/ buseur/files/media/position_papers/social/2020-09-07_response_second_stage_consul tation_minimum_wages.pdf (28.7.2021). 697  Vgl. BusinessEurope, BusinessEurope response to 2nd stage social partner consultation on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 7.9.2020, S.  5, https://www.businesseurope.eu/sites/ buseur/files/media/position_papers/social/2020-09-07_response_second_stage_consul tation_minimum_wages.pdf (28.7.2021).



4.4  Zeithistorische Debatten371

SME United, die europäische Vertretung der klein- und mittelständischen Unternehmensvereinigungen, lehnt ähnlich wie BusinessEurope die Einführung einer Richtlinie zur Schaffung angemessener Mindestlöhne ab. Die vorgeschlagenen Maßnahmen überschritten klar die Kompetenz der Europäischen Kommission und es sei besorgniserregend, dass EU-Mitgliedstaaten konkrete Referenzwerte vorgeschrieben werden sollen. Der Präsident von SME United, Alban Maggiar, bemängelt, dass der Richt­ linien-Entwurf in die nationale Tarifhoheit eingreift und einen regulatorischen Rahmen für die Lohnsetzung vorgibt. Darüber hinaus müssten die Sozialpartner mit Eingriffen in ihre Aufgabenbereiche rechnen, wenn die Tarifbindung als zu niedrig angesehen wird.699 Neben der Missachtung der Tarifautonomie in den einzelnen Mitgliedstaaten befürchtet SME United außerdem, dass so ein Vorgehen negative wirtschaftliche Folgen verursacht und kleine und mittelständische Unternehmen durch die steigenden Lohnkosten belastet werden könnten.700 Abschließend bleibt festzuhalten, dass Dauner und Pötzsch bereits 2018 erwarteten, dass es zu „harten politischen Auseinandersetzungen bei der Umsetzung der Säule“ kommen würde.701 Ein Diktum, dass sich bewahrheiten sollte – wie die Diskussion um die Einführung einer europäischen Mindestlohnregulierung besonders deutlich zeigt. Stand Juli 2021 ist noch unklar, ob und in welcher Form der EU-Richtlinienvorschlag zur Schaffung angemessener Mindestlöhne in der EU umgesetzt wird. Die Ansichten zur Frage, ob eine derartige Richtlinie in die Tarifhoheit der Tarifvertragsparteien in den EU-Mitgliedstaaten eingreift, könnten kaum gegensätz­ licher sein. Sollte es bei einer EU-Richtlinie bleiben, sind eine Vielzahl an Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof zu erwarten, um die Kompetenzverteilung in puncto Lohnsetzung prüfen zu lassen – insbesondere

698  Vgl. BusinessEurope, BusinessEurope response to 2nd stage social partner consultation on a possible action addressing the challenges related to fair minimum wages, Stellungnahme vom 7.9.2020, S.  4, https://www.businesseurope.eu/sites/ buseur/files/media/position_papers/social/2020-09-07_response_second_stage_consul tation_minimum_wages.pdf (28.7.2021). 699  Vgl. SME United, SMEunited disagrees with the EC proposal for a directive on minimum wage, Mitteilung vom 28.10.2020, https://www.smeunited.eu/news/ smeunited-disagrees-with-the-ec-proposal-for-a-directive-on-minimum-wage- (28.7. 2021). 700  Vgl. SME United, SMEunited disagrees with the EC proposal for a directive on minimum wage, Mitteilung vom 28.10.2020, https://www.smeunited.eu/news/ smeunited-disagrees-with-the-ec-proposal-for-a-directive-on-minimum-wage- (28.7. 2021). 701  Dauner/Pötzsch, Die Europäische Säule sozialer Rechte, 2018, S. 21.

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4. Die Legitimität von Tarifautonomie

dort, wo die Gefahr besteht, dass tarifvertraglich gesetzte Mindestlöhne durch die EU-Richtlinie verdrängt würden.

4.5 Legitimitätsdebatten im Vergleich In diesem Kapitel werden die beschriebenen Debatten zunächst noch einmal chronologisch nach Herausforderungen (Challenges) und Antworten (Responses) strukturiert (siehe Kapitel 4.2). Dabei werden auch Interdependenzen diskutiert, das heißt, ob eine Herausforderung zu mehreren Antworten führte oder Herausforderungen zweiter Ordnung nach sich zog. Anschließend werden die Debatten epochenübergreifend miteinander verglichen, indem Parallelen gezogen und Unterschiede herausgearbeitet werden. Dazu werden unterschiedliche Typen von Legitimitätsdebatten klassifiziert und in Abhängigkeit davon die Reaktion des Staates bewertet.

4.5.1  Interdependenzen von Herausforderungen und Antworten Nach dem Zusammenbruch der politischen Ordnung im November 1918 bestand im Deutschen Reich die Herausforderung, die Regelung der ­Arbeitsbedingungen auf eine neue rechtlich-institutionelle Grundlage zu stellen. Die Tarifvertragsparteien reagierten auf diese Herausforderung mit dem Stinnes-Legien-Abkommen. Damit erhoben sie auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene erstmals gemeinsam den Anspruch, Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen autonom aushandeln zu wollen. Die Antwort des Staates bestand darin, den Anspruch der Tarifvertragsparteien zu erfüllen. Nur wenige Wochen nach dem Abkommen wurde die TVVO verabschiedet, die den Tarifvertragsparteien weitgehende Autonomie einräumte. Damit wurde das System der individuellen Arbeitsverträge durch ein kollektives System abgelöst. Obwohl die Rahmenbedingungen durch die Demobilmachung schwierig waren, kam es zu einer raschen Ausbreitung des Tarifwesens. Diese geriet aber ebenso schnell wieder ins Stocken. Die sich rasant beschleunigende Inflation 1922/23 und die vielen arbeitskampfbedingten Ausfalltage führten zu einem Klima, in dem die Reichsregierung nicht mehr allein auf die Problemlösungsfähigkeit der Tarifvertragsparteien vertraute. Mit der Verabschiedung der Schlichtungsverordnung justierte die Regierung die tarifrechtlichen Rahmenbedingungen 1923 nach. Die Schlichtung wurde als „Mittel zur Durchsetzung des Tarifvertragsprinzips“ interpretiert und diente gleichzeitig der „Einflußnahme auf den Lohnbestimmungsprozeß bzw. zur Durchsetzung lohnpolitischer



4.5 Legitimitätsdebatten im Vergleich373

Ziele“.702 Diese Reaktion des Staates lässt sich als zweite, ergänzende Antwort auf die Herausforderung werten, die Arbeitsbedingungen im Wege der Tarifautonomie zu regeln. Hierfür spricht, dass der Gedanke, einer autonomen Schlichtung auch eine staatliche Schlichtung zur Seite zu stellen, schon seit Verabschiedung der TVVO diskutiert wurde.703 Diese zweite Response sollte sich im weiteren Verlauf für die Festigung der Tarifautonomie als Hemmschuh erweisen. Denn unter dem Eindruck der staatlichen Zwangsschlichtung waren die Tarifvertragsparteien in den zentralen Industriebranchen immer weniger zu autonomen Verständigungen bereit. Mit der Weltwirtschaftskrise kam dann schon bald eine neue Herausforderung auf die Akteure zu. Angesichts der nur wenige Jahre zurückliegenden Hyperinflation reagierte die Regierung Brüning auf die Weltwirtschaftskrise mit einer Deflationspolitik, die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft steigern sollte. Um Preissenkungen durchsetzen zu können, war eine Einbeziehung der Lohnpolitik notwendig. Angesichts eines durch die Schlichtungsverordnung ohnehin steigenden Einflusses des Reichsarbeitsamts auf die Lohnentwicklung und einer gleichzeitig immer weiter abnehmenden autonomen Verständigungsbereitschaft zwischen den Tarifvertragsparteien band die Regierung die Lohn­ politik ab 1930 über eine Politik der Notverordnungen in die allgemeine wirtschaftspolitische Strategie ein. Dies geschah durch Zwang, sodass die Autonomie der Tarifvertragsparteien weiter beschränkt wurde. Formal blieb sie indes bestehen. Erst im Zuge des politischen Systemwechsels hin zur nationalsozialistischen Diktatur wurde die Tarifautonomie vollständig beseitigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es (wie schon 1918) zu einer Phase des schnellen Wandels mit weitreichenden Entscheidungsspielräumen der Akteure. Dabei ging es auch um die Frage, ob die Tarifautonomie reinstitutionalisiert wird. Letztlich beschloss der Alliierte Kontrollrat, den Vorschlägen der Tarifvertragsparteien zu folgen. Das 1949 in Kraft getretene Tarifvertragsgesetz knüpfte an der Weimarer TVVO an. Mit dieser Entscheidung wurde auf eine institutionelle Kontinuität gesetzt, die sich als wegweisend erwies. Die Tarifautonomie konnte sich unter den günstigen Rahmenbedingungen des deutschen Wirtschaftswunders als tragende Säule der Sozialen Marktwirtschaft etablieren. Anpassungen von Rahmenbedingungen der Tarifautonomie vollzogen sich fortan im Rahmen des institutionellen Gefüges und damit pfadabhängig. Eine neue Herausforderung 702  Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 232; Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 130. 703  Vgl. Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat, 1967, S. 32 ff.

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4. Die Legitimität von Tarifautonomie

entstand erst im Zuge der ersten großen Nachkriegsrezession 1966/67. Aus Sicht der Bundesregierung bestand ihre Aufgabe darin, auf die Rezession konjunkturpolitisch zu reagieren. Ihre Antwort war, die Lohnpolitik in ihre Strategie der makroökonomischen Steuerung der Wirtschaft einzubinden. Bei diesem als „Konzertierte Aktion“ bezeichneten tripartistischen Ansatz besteht eine auffällige Parallele zur Deflationspolitik in den frühen 1930er Jahren. In beiden Ansätzen sollten die verschiedenen Politikbereiche (der Geld-, Lohn- und Fiskalpolitik) so koordiniert werden, dass sie ein vom Staat vorgegebenes wirtschaftspolitisches Ziel unterstützen und sich dabei in ihrer Wirkung nicht konterkarieren. Bei diesem Krisen-Tripartismus bestanden allerdings zwei entscheidende Unterschiede: Erstens konnte die Regierung 1966/67 auf einer gewachsenen Problemlösungs­ fähigkeit der Tarifvertragsvertragsparteien aufbauen, die in den frühen 1930er Jahren nicht bestand. Aus diesem Grund konnte die Regierung zweitens auf Zwang verzichten und die Tarifvertragsparteien auf freiwilliger Basis einbinden. Dies gelang allerdings nur kurzfristig; langfristig scheiterte dieser Ansatz. Auffallend ist, dass es nach der zweiten Ölpreiskrise 1979/80, die zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit führte, und trotz des Regierungswechsels vom Herbst 1982 in den 1980er Jahren nur eine weitere Legitimitätsdebatte gab, deren Auslöser aber nicht der angespannte Arbeitsmarkt, sondern das Arbeitskampfrecht war. Herausforderung waren aus Sicht des Staates die Fernwirkungen bei Arbeitskämpfen. Sie wurden im Rahmen der Auseinandersetzung zur Durchsetzung der 35-Stunden-Woche für die Arbeitslosenversicherung zu einer großen Belastung, da die Versicherung einen Teil der Streikunterstützung übernehmen musste. Die Bundesregierung antwortete mit der Wahrung der Neutralitätspflicht des Staates bei Arbeitskämpfen, indem sie 1984 den sogenannten Streikparagraphen des AFG änderte. Nachdem sich die Arbeitsmarktprobleme durch den Transformationsprozess der ostdeutschen Volkswirtschaft und die neuen Möglichkeiten von Produktionsverlagerungen in die kostengünstigeren Länder Mittel- und Osteuropas in den 1990er Jahren verstärkten, rückte das Thema Arbeitslosigkeit an die Spitze der politischen Agenda. Dabei wurde auch die Verantwortung der Tarifvertragsparteien diskutiert, sodass die Tarifautonomie in den Fokus einer zunehmend kritischen öffentlichen Aufmerksamkeit geriet. Der Staat reagierte auf die arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen mit dem erprobten tripartistischen Ansatz. Nachdem eine freiwillige Einbindung der Tarifvertragsparteien über die Bündnisse für Arbeit erneut scheiterte, stellte die Regierung die Problemlösungsfähigkeit der Tarifvertragsparteien in Frage. Bundeskanzler Gerhard Schröder drohte vor dem Parla-



4.5 Legitimitätsdebatten im Vergleich375

ment offen mit gesetzlichen Öffnungsklauseln. Da die Regierung mit dieser Drohung auf dieselbe Herausforderung wie mit dem Bündnis für Arbeit einige Jahre zuvor antwortete, ist die Kanzlerdrohung als eine zweite Response zu werten, die ihren Hintergrund – ähnlich wie die zweite Response in den frühen Jahren der Weimarer Republik – auch in einem mangelnden Vertrauen des Staates in die Problemlösungsfähigkeit der Tarifvertragsparteien hatte. Statt auf die Umsetzung der angedrohten gesetzlichen Öffnungsklauseln zu warten, antworteten insbesondere die Tarifvertragsparteien in der Metall- und Elektro-Industrie dann selbst auf die bestehende Herausforderung. Die Bundesregierung beschränkte sich im Rahmen ihrer zweiten Antwort nicht auf eine Drohung, deren Umsetzung zu einem Eingriff in die positive Koalitionsfreiheit geführt hätte. Sie beendete auch ihre Bereitschaft, die hohe Arbeitslosigkeit finanziell abzufedern, weil sie durch eine ausufernde Staatsverschuldung dazu nicht länger in der Lage war. Mit dem Ziel, die Arbeitslosigkeit durch einen Niedriglohnsektor zu reduzieren, stieß die Regierung allerdings eine neue Herausforderung an, die sich als eine Challenge zweiter Ordnung beschreiben lässt. Denn in dem Maße, wie die Arbeitslosigkeit abgebaut wurde und sich ein Niedriglohnsektor entwickelte, wuchs auch die Kritik derer, die eine gerechte und möglichst gleiche Einkommensverteilung propagierten. In der politischen Debatte stellte nun nicht länger das Problem der Arbeitslosigkeit eine Herausforderung dar, sondern die Beseitigung des Niedriglohnsektors. Als Response folgte das sogenannte Tarifautonomiestärkungsgesetz. Es sah eine Ausweitung der Möglichkeiten zur Erstreckung von Tarifverträgen vor und eine gesetzliche Lohnuntergrenze zur Vermeidung unangemessener Niedriglöhne. Eine davon unabhängige Herausforderung ergab sich durch das eigenständige Auftreten von häufig als Spartengewerkschaften bezeichneten Berufsgruppengewerkschaften, die bei der konfliktreichen Durchsetzung ihrer tarifpolitischen Ziele wenig Rücksicht auf die Allgemeinheit nahmen. Die Politik antwortete nach langer Diskussion mit einem umstrittenen Gesetz zur Regelung der Tarifeinheit. Hintergrund des politischen Einschreitens war auch hier, dass es an einem autonomen Einigungswillen der Tarifvertragsparteien fehlte. Während die im DGB organisierten Einzelgewerkschaften konkurrierende Tarifzuständigkeiten üblicherweise autonom im Rahmen von Tarifgemeinschaften lösen, waren die Berufsgruppengewerkschaften zu solchen autonomen Regelungen nicht bereit. Letztlich sah sich der Staat zu einem Handeln gezwungen, bei dem er direkt in die positive Koalitions­ freiheit eingriff. Unklar ist, ob das Gesetz wirken wird oder die Regierung noch einmal nachsteuern muss, etwa im Bereich des Arbeitskampfrechts.

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4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Die aktuelle Legitimitätsdebatte über eine Stärkung der Tarifbindung knüpft an der Organisationsschwäche der Tarifvertragsparteien an. Bislang gab es neben einer intensiven politischen Diskussion auch im Deutschen Bundestag Anträge von Oppositionsparteien zur Stärkung der Tarifbindung. Eine Antwort auf die Herausforderung „Organisationsschwäche“ steht noch aus. In der politischen Debatte wird zunehmend kritisiert, dass immer weniger Betriebe Tarifverträge anwenden. Mit einer sinkenden Tarifgeltung könnte das institutionelle Gefüge in Gefahr geraten und sich ein Systemwechsel vollziehen, den die Politik nicht will. Als Lösung wird vorgeschlagen, dass der Staat nicht nur den Geltungsbereich von Tarifverträgen ausweitet, sondern den Tarifvertragsparteien auch eine Hilfe zur Selbsthilfe anbietet. Diese neue Herausforderung knüpft insofern an der Herausforderung „Niedriglohnsektor“ an, als der Staat bereits mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz konkurrierend aktiv wurde. Die dabei getroffenen Regelungen zur Beschränkung des Außenseiterwettbewerbs wirkten der Organisationsschwäche der Tarifvertragsparteien ebenso wenig entgegen wie der Eingriff in die positive Koalitionsfreiheit durch den gesetzlichen Mindestlohn. Eine Sonderstellung nehmen die Debatten auf europäischer Ebene ein. Sowohl die Debatte um die Einführung der ESSR als auch der aktuell vorliegende Richtlinien-Entwurf zur Einführung angemessener europäischer Mindestlöhne haben Diskussionen um die Zielsetzung und die Kompetenzverteilung zwischen europäischer und nationalstaatlicher Ebene ausgelöst. Die negativen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 stellten für den Zusammenhalt in der EU eine große Herausforderung dar. Vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosenzahlen, sinkender Löhne in besonders stark von der Krise betroffenen Mitgliedsländern und langwieriger Diskussionen um einen möglichen Austritt Griechenlands aus der EU, rief Jean-Claude Juncker 2014 zur Schaffung der ESSR auf. Juncker hoffte mit der ESSR eine Antwort auf die wachsenden wirtschafts- und sozialpolitischen Spannungen in der EU zu geben. Als Selbstverpflichtung der EU-Mitgliedstaaten hat die ESSR nach ihrer Einführung im Herbst 2017 keinen rechtsverbindlichen Charakter bekommen. Die EU ist auf diesem Wege nicht berechtigt, direkt in die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Belange der einzelnen Mitgliedstaaten ein­ zugreifen. Dennoch wird die ESSR immer wieder von der Europäischen Kommission genutzt, um weitere Vorschläge zur Harmonisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu unterbreiten. Dies gilt beispielsweise für den im Oktober 2020 vorgelegten Richtlinien-Entwurf zur Schaffung angemessener Mindestlöhne. Obwohl nach Artikel 153 AEUV den Tarifver-



4.5 Legitimitätsdebatten im Vergleich377

tragsparteien die Lohnfindung in den einzelnen Mitgliedsländern vorbehalten ist, versucht die Europäische Kommission mit dem Entwurf eine zweite Antwort auf die Entwicklungen im Niedriglohnbereich zu geben. Als Begründung zieht die Europäische Kommission einerseits externe Faktoren wie die Bekämpfung der negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie (u. a. im Lohnbereich) heran. Andererseits thematisiert sie ebenso die Organisationsschwäche der Tarifvertragspartner, deren Tarifverträge immer weniger Beschäftigte erreichten und nicht in ausreichendem Maße zur Sicherung eines Mindesteinkommens beitrügen. Sollte dieser Entwurf verabschiedet werden, würden die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, ihre Mindestlöhne zu überprüfen und an konkrete Richtwerte zu binden.

4.5.2  Die Debatten im Vergleich 4.5.2.1  Typisierung der Debatten Die Tarifautonomie und deren Legitimität wurden nicht nur in der Weimarer Republik immer wieder diskutiert oder sogar hinterfragt. Diese Beobachtung führt zu der These, nach der die Tarifautonomie einer fortwährenden, systemimmanenten Überprüfung ihrer Zweckmäßigkeit ausgesetzt ist. Diese Zweckmäßigkeit schaut darauf, ob die Tarifautonomie den sozialen Ausgleich bewältigt, dem Gemeinwohl dient und mit den gesamtwirtschaftlichen Zielvorstellungen der jeweiligen Regierung vereinbar ist. Anhand welcher Kriterien diese Zweckmäßigkeit im Einzelfall überprüft wird, ist unterschiedlich. Die Auswahl eines Kriteriums hängt vom wirtschaftlichen Hintergrund und von der politischen Ausrichtung der jeweiligen Bundesregierung ab. Auch die Art der staatlichen Einflussnahme auf die Tarifautonomie ist keinesfalls einheitlich. Der Staat hat verschiedene Möglichkeiten, auf die Tarifvertragsparteien einzuwirken. Er kann dies auf sichtbare und weniger sichtbare Weise tun.704 Im Zentrum der vorliegenden Analyse stehen die sichtbaren Einflussnahmen, mit deren Hilfe sich ganz unterschiedliche Legitimitätsdebatten identifizieren lassen. Auslöser für solche Legitimitätsdebatten waren entweder Herausforderungen durch externe Probleme oder eine Kombination aus externen und internen Problemlagen (siehe Tabelle 13). Solche Situationen spiegeln aus Sicht des Staates eine mangelnde Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie wider, die staatliches Handeln nahelegt (siehe Kapitel 4.1). So zählten 704  Fehmel, in: Andresen/Bitzregio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en), 2011, S. 267 (289 f.); Lesch, Sozialer Fortschritt 70 (2021), im Erscheinen.

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4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, negative Folgen von Arbeitskämpfen auf das Gemeinwohl und eine fehlende wirtschaft­ liche und soziale Teilhabe – unter anderem sichtbar an einem wachsenden oder als zu groß erachteten Niedriglohnsektor – zu den Hauptursachen dafür, dass die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch die jeweils amtierenden Regierungen in Frage gestellt wurde. Es sind also vor allem externe Faktoren, die solche Legitimitätsdebatten auslösen. In allen untersuchten Debatten wird das Handeln der Tarifvertragsparteien immer vor dem Hintergrund der bestehenden wirtschafts- und sozialpolitischen Pro­ bleme bewertet. Bei vergleichbaren Problemen kann eine Bewertung unterschiedlich ausfallen, je nachdem welche wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele die amtierende Regierung verfolgt. Zusätzlich gab es nach Ende der beiden Weltkriege jeweils eine Grundsatzdebatte, deren Auslöser der Zusammenbruch des Kaiserreichs beziehungsweise der nationalsozialistischen Diktatur und die damit verbundene Notwendigkeit einer institutionellen Neuordnung des Tarifvertragswesens darstellten. An diesen historischen Verzweigungspunkten bestand die politische Herausforderung jeweils darin, das Wirtschafts- und damit auch das Tarifsystem neu zu organisieren und grundlegende Systementscheidungen zu treffen. Tabelle 13 Legitimitätsdebatten im Vergleich Ereignisse und Debatten

Herausforderung (Challenge) Interne Faktoren

Externe Faktoren

Antwort (Response) Art des Eingriffs

Weimarer Republik (1918 bis 1933) (1) Neuordnung des Tarifsystems (1918)

Grundsatzdebatte: Wer regelt Löhne und Arbeitsbedingungen?

(2) Befriedung des Tarifsystems (1923)

• Kooperations­ bereitschaft

• Stinnes-LegienAbkommen • TVVO

• Veränderung oder Störung des Machtgleichgewichts

• Störung des • Schlichtungsvergesamtwirtschaftordnung lichen Gleichgewichts (fehlende Preisstabilität) • Negative Folgen von Arbeitskämpfen auf das Gemeinwohl



4.5 Legitimitätsdebatten im Vergleich379 Ereignisse und Debatten

Herausforderung (Challenge) Interne Faktoren

(3) Lohnpolitik und gesamtwirtschaftliche Strategie (1930–1933)

• Reformfähigkeit • Kooperations­ bereitschaft • Veränderung oder Störung des Mächtegleichgewichts

Antwort (Response)

Externe Faktoren

Art des Eingriffs

• Störung des • Notverordnungen gesamtwirtschaftnach § 48 WRV lichen Gleichgewichts (Arbeitslosigkeit, fehlendes Wachstum, außenwirtschaftliches Ungleichgewicht)

Bonner Republik (1949 bis 1990) (4) Neuordnung des Tarifsystems (1949)

Grundsatzdebatte: Wer regelt Löhne und Arbeitsbedingungen?

• Tarifvertragsgesetz

(5) Lohnpolitik und gesamtwirtschaftliche Strategie (1967/68)

• Keine

• Störung des • Konzertierte gesamtwirtschaftAktion lichen Gleichgewichts (fehlendes Wachstum, Arbeitslosigkeit)

(6) Neutralität des Staates im Arbeitskampf (1984)

• Veränderung oder Störung des Mächtegleichgewichts

• Negative Folgen von Arbeitskämpfen auf das Gemeinwohl

• Novellierung des § 116 AFG

Berliner Republik (seit 1991) (7) Lohnpolitik und gesamtwirtschaftliche Strategie (1996, 1998–2002)

• Keine

• Störung des • Bündnisse für gesamtwirtschaftArbeit lichen Gleichgewichts (Arbeitslosigkeit, fehlendes Wachstum)

(8) Flexibilisierung des Flächentarifvertrags (2003)

• Reformfähigkeit

• Störung des • Androhung einer gesamtwirtschaftgesetzlichen lichen GleichgeÖffnungsklausel wichts (Arbeitslosigkeit, fehlendes Wachstum) (Fortsetzung nächste Seite)

380

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

(Fortsetzung Tabelle 13) Ereignisse und Debatten

Herausforderung (Challenge) Interne Faktoren

(9) Niedriglohnsektor; Stärkung der Tarifbindung (2014/15)

• Organisations­ fähigkeit

(10) Tarifeinheit (2015)

• Kooperations­ bereitschaft

• Durchsetzungs­ fähigkeit

• Angemessene Interessenkanalisation • Veränderung oder Störung des Mächtegleichgewichts

Externe Faktoren • Wirtschaftliche und soziale Teilhabe • Verteilungsgerechtigkeit • Negative Folgen von Arbeitskämpfen auf das Gemeinwohl

Antwort (Response) Art des Eingriffs • Tarifautonomiestärkungsgesetz • Gesetzlicher Mindestlohn • Tarifeinheits­ gesetz

• Verteilungs­ gerechtigkeit

(11) Organisa­ tionsschwäche der Tarifvertragsparteien (seit 2016)

• Organisations­ fähigkeit

• Verteilungs­ gerechtigkeit

• Offen

(12) Europäische Debatten (seit 2014)

• Organisations­ fähigkeit

• Störung des • Europäische gesamtwirtschaftSäule sozialer lichen GleichgeRechte wichts (globale • Europäischer Wirtschafts- und RichtlinienentFinanzkrise, wurf zur Corona-PandeSchaffung mie) angemessener • Verteilungs­ Mindestlöhne in gerechtigkeit der EU

Quelle: eigene Darstellung.

Zu Grundsatzdebatten kam es, wenn der Zusammenbruch eines bestehenden Regimes eine politische Debatte darüber auslöste, wie und von welchen Akteuren und Institutionen die Arbeitsbedingungen im neu gegründeten Staat geregelt werden sollen. Alle anderen Legitimitätsdebatten traten in der Regel dann auf, wenn das Verhalten der Tarifvertragsparteien als eine der Ursachen wirtschafts- und sozialpolitischer Probleme identi­



4.5 Legitimitätsdebatten im Vergleich381

fiziert oder zumindest als ein Risikofaktor dafür angesehen wurde, dass wirtschafts- oder sozialpolitische Probleme entstanden oder sich verfestigten. Zusätzlich zu diesen gesamtwirtschaftlichen Problemen wurde die Legitimität der Tarifvertragsparteien auch bei negativen Drittwirkungen von Arbeitskämpfen in Frage gestellt. Es fällt auf, dass Legitimitätsdebatten seit Mitte der 1990er Jahre in kürzeren Abständen geführt wurden. Außerdem scheute der Staat nach den gescheiterten tripartistischen Ansätzen nicht mehr davor zurück, in die positive Koalitionsfreiheit einzugreifen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Problemstau auf dem Arbeitsmarkt schon in den 1970er Jahren einsetzte, die verschiedenen Bundesregierungen aber davon absahen, die Zweckmäßigkeit der Tarifautonomie offen in Frage zu stellen. Dies erhöhte den Handlungsdruck späterer Regierungen und erklärt den markanten Kurswechsel der rot-grünen Bundesregierung, die Flächentarifverträge notfalls über gesetzliche Öffnungsklauseln zu flexibilisieren. Alle analysierten Legitimitätsdebatten haben gemeinsam, dass sie durch ein externes Problem ausgelöst wurden. Die Debatten unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Frage, ob das externe Problem direkt aus einem internen Problem innerhalb des Tarifsystems folgte (entweder zwischen den Tarifvertragsparteien oder innerhalb der Tarifvertragsparteien), mit einem solchen in Verbindung stand oder eher unabhängig vom Handeln der Tarifvertragsparteien auftrat. Im Rahmen des hier analysierten Betrachtungszeitraums seit 1918 lassen sich vier Typen von Debatten unterscheiden: •• Grundsatzdebatten; •• Debatten, die allein durch externe Probleme ausgelöst wurden, unabhängig vom Handeln der Tarifvertragsparteien; •• Debatten, die durch interne Probleme der Tarifvertragsparteien ausgelöst wurden, die dann extern ausstrahlten; •• Debatten, die durch externe Probleme ausgelöst wurden, die in einem engen Zusammenhang mit dem Handeln der Tarifpartner standen. In Tabelle 14 werden die analysierten Legitimitätsdebatten den vier Typen von Debatten zugeordnet.

382

4. Die Legitimität von Tarifautonomie Tabelle 14 Kategorien von Legitimitätsdebatten und dazugehörige Staatseingriffe

Auslöser der Debatten

Beispiele

Art des Staatseingriffs

Grundsatzfragen

• Stinnes-Legien-Abkommen und TVVO

Gesetz

• Neuordnung des Tarifsystems 1918 und 1949 Externe Probleme • Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Interne Probleme, die extern ausstrahlen Intern: • Kooperationsfähigkeit • Störung des Mächtegleichgewichts

• Tarifvertragsgesetz • Schlichtungsverordnung Tripartistische Arrange(staatliche Lohnpolitik) ments • Konzertierte Aktion

• gesetzlicher Zwang

• Bündnisse für Arbeit

• freiwillige Übereinkünfte

• Schlichtungsverordnung Gesetze(-sänderungen) (Befriedung der • Änderung der RahmenTarifbeziehungen) bedingungen • Novellierung des §116 AFG • Tarifeinheitsgesetz

• Interessenkanalisation Extern: • Negative Folgen von Arbeitskämpfen auf das Gemeinwohl Externe Probleme, die auch durch das Handeln der Tarifvertragsparteien hervorgerufen wurden

• Notverordnungen

Extern:

• Tarifautonomiestärkungsgesetz

• Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts

• Androhung einer gesetzlichen Öffnungsklausel

• Europäische Säule sozialer Rechte

• Verteilungsgerechtigkeit • Europäische MindestIntern: lohn-Initiative • Kooperationsfähigkeit • Störung des Mächtegleichgewichts • Reformfähigkeit Quelle: eigene Darstellung.

Gesetze(-sänderungen) oder deren Androhung • Änderung der Rahmenbedingungen und inhaltliche Festsetzungen



4.5 Legitimitätsdebatten im Vergleich383

4.5.2.2 Grundsatzdebatten Im historischen Kontext stellte sich zweimal die grundsätzliche Frage, auf welche Weise Arbeitsbedingungen institutionell geregelt werden sollen. Sowohl 1918 als auch 1949 entschied sich der Staat dazu, die Regelung der Löhne und Arbeitsbedingungen den Tarifvertragsparteien zu übertragen. Ihr autonomes Handeln in diesem Bereich war somit durch entsprechende Ausführungen in den Verfassungen und Gesetzen der jeweiligen Zeit legitimiert. Die beiden Grundsatzdebatten weisen viele Parallelen, aber auch einige Unterschiede auf. Während die Tarifautonomie in der Weimarer Phase an den widrigen Rahmenbedingungen und dem Verhalten der Akteure scheiterte, wurde sie in der Bonner Republik unter anderen ökonomischen Rahmenbedingungen und einem anderen politischen Klima zu einer tragenden Säule der Sozialen Markwirtschaft, bevor sie im wiedervereinigten Deutschland der Berliner Republik wieder in den Strudel neuer Debatten und staatlicher Einflussnahmen geriet. So fehlte es nach dem Schulterschluss von Gewerkschaften und Arbeitgebern in der Weimarer Republik insbesondere nach Verabschiedung der Schlichtungsverordnung 1923 an einem gemeinsamen Willen der Tarifvertragsparteien, autonome Regelungen dem staatlichen Zwang vorzuziehen. Die Arbeitgeber gerieten nach 1918 in einen unauflösbaren Zielkonflikt. Einerseits wollten sie die staatliche Bürokratie mit zurückdrängen. Das ging aber nur über ein Zweckbündnis mit den Gewerkschaften. Andererseits wollten sie die Macht der Gewerkschaften beschränken, um Lohn­ steigerungen zu vermeiden, die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie gefährdeten. Dazu brauchten sie eine starke Regierung, die der wachsenden Macht der organisierten Arbeiterschaft Einhalt gebot.705 Die Gewerkschaften betrachteten das November-Abkommen ebenfalls als ein Zweckbündnis, das vor allem bei den linken Gewerkschaften wie dem Deutschen Metallarbeiterverband auf wenig Gegenliebe stieß. Außerdem zeigte sich, dass die erhoffte Kooperation mit den Arbeitgebern an der Ungleichheit der realen Machtpositionen scheiterte, die durch ungünstige ökonomische Rahmenbedingungen hervorgerufen wurden. Der Schulterschluss scheiterte wohl auch an der Rolle des Staates. Der Staat wollte ein tarifpolitisch aktiver sein. Dies wird an den Legitimitätsdebatten um die staatliche Zwangsschlichtung und um die Notverordnungen deutlich. Alle beteiligten Parteien waren also nicht Willens oder nicht fähig, die ihnen übertragenen Aufgaben im Sinne einer Tarifautonomie wahrzunehmen und 705  Feldman, in: Feldman (Hrsg.), Das deutsche Unternehmertum zwischen Krieg und Revolution, 1984, S. 109.

384

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

konnten daher in der Weimarer Republik kein funktionsfähiges und autonomes Tarifvertragssystem etablieren, das sich hätte legitimieren können. Ähnlich wie in der Weimarer Republik konnten Gewerkschaften und Arbeitgeber auch bei der Gründung der Bundesrepublik schon früh ihren Einfluss geltend machen. So trat der von den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden favorisierte „liberale“ Entwurf fast unverändert als Tarifvertragsgesetz 1949 in Kraft. Einerseits sprachen die Interessen beider Tarifvertragsparteien dafür, staatlichen Einfluss auf den Prozess ihrer Normsetzung auszuschalten, andererseits hielten die negativen Erfahrungen staatlicher Einflussnahme während der Weimarer Zeit den Staat davon ab, die Tarifautonomie zu beschränken (oder gar in Frage zu stellen). Anders als in der Weimarer Republik gelang es den Tarifvertragsparteien auch in der Folgezeit, sich als eigenständig handelnde Akteure in der Bonner Republik zu etablieren. Das bedeutet nicht, dass die Wiedereinführung der Tarifautonomie durch das Tarifvertragsgesetz im Jahr 1949 unumstritten war. Diese Grundsatzentscheidung war nicht ohne Alternativen und musste sich in der Praxis erst noch bewähren. Dieser Praxistest gelang. In diesem Kontext wird zu Recht die Bedeutung des Wirtschaftsbooms im Nachkriegsdeutschland hervorgehoben, der zur Etablierung funktionaler Tarifbeziehungen ungemein beitrug.706 Der Wirtschaftsaufschwung ermöglichte es den Tarifvertragsparteien über Jahrzehnte, ohne Eingriffe des Staates die Tarifbeziehungen zu organisieren. Vor allem die Gewerkschaften waren im Vergleich zur Weimarer Republik derart erstarkt, dass sie den Staat nicht länger zur Durchsetzung ihrer Ziele brauchten und stattdessen die Interessen ihrer Mitglieder in den Vordergrund stellten. In der Berliner Republik riefen die Akteure jedoch wieder vermehrt nach dem Staat. Zunächst forderten die Gewerkschaften den Staat dazu auf, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen und das Tarifvertragssystem durch mehr Allgemeinverbindlicherklärungen zu stützen. Anschließend waren es die Arbeitgeber, die eine gesetzliche Wiedereinführung des Grundsatzes der Tarifeinheit verlangten. Solche neuen Allianzen zwischen einer einzelnen Tarifvertragspartei und dem Staat, die gegen die andere Tarifvertragspartei gerichtet sind, waren in der Bonner Republik noch undenkbar. Sie erinnern eher an die Weimarer Verhältnisse.

706  Fehmel, in: Andresen/Bitzregio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en), 2011, S. 267 (275).



4.5 Legitimitätsdebatten im Vergleich385

4.5.2.3  Debatten aufgrund externer Probleme Debatten, die überwiegend durch externe Probleme hervorgerufen wurden, sind solche über die tripartistischen Arrangements aus den 1960er und 1990er Jahren. In diesen Fällen lag eine Störung des gesamtwirtschaft­ lichen Gleichgewichts vor. Um die Störung zu beheben, strebten die je­ weiligen Bundesregierungen an, die Politikbereiche der Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik enger miteinander abzustimmen. Das setzte in den 1960er Jahren eine Einbindung von Zentralbank und Tarifvertragsparteien in eine gesamtwirtschaftliche Politikstrategie (Konzertierte Aktion) voraus, in den 1990er Jahren dann vor allem eine Einbindung der Tarifvertragsparteien (tripartistische Sozialpakte). Die beiden Ansätze unterschieden sich aber nicht allein im Hinblick auf die einbezogenen Akteure. Auch die Zielsetzungen waren anders. In der Konzertierten Aktion ging es vor dem Hintergrund einer Konjunkturkrise um die erstmalige Umsetzung einer makroökonomischen Globalsteuerung zur Realisierung der im StabG genannten Ziele des Magischen Vierecks, bei den Sozialpakten der 1990er Jahre ging es vor allem um einen Beitrag der einzelnen Politikbereiche zur Bewältigung struktureller Probleme. Gemeinsam ist beiden tripartistischen Arrangements, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände von der Politik zwar nicht offiziell für die Fehlentwicklungen am Arbeitsmarkt verantwortlich gemacht wurden. Das Verhalten des Staates zeigte jedoch, dass er es für nötig erachtete, auf das Handeln der Tarifvertragsparteien einzuwirken, um die jeweils schwierige Beschäftigungslage zu bessern. Der Staat versuchte daher über freiwillige, tripartistische Übereinkünfte die Tarif­ politik zu beeinflussen, ohne alternativ per Gesetz direkt in das bestehende autonome System einzugreifen. Auch die Debatte um die Schlichtungsverordnung in der Weimarer Republik lässt sich in diese Kategorie tripartistischer Arrangements einordnen.707 Allerdings beruhte die Einbindung der Tarifvertragsparteien auf Zwang. Wenngleich die Schlichtung in erster Linie dazu diente, Arbeitskämpfe zu vermeiden, bot sie dem Staat zugleich eine Möglichkeit, bei Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Einfluss auf die Lohnpolitik zu nehmen. Das galt unabhängig davon, ob eine lohnpolitische Funktion des Staates von vornherein angestrebt wurde oder nicht. In der Schlichtungspraxis konnte der Staat durch die Schlichtungssprüche seine lohnpolitischen Vorstellungen zwar nicht auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene (wie bei den tripartistischen Bündnissen der 1960er und 1990er 707  Zur Schlichtung als tripartistisches Arrangement vgl. Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang, 1998, S. 135.

386

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Jahre), zumindest aber auf der Branchenebene einbringen. Kritiker der staatlichen Schlichtung bemängelten, schon die Androhung habe einen Einfluss auf das Verhalten der Tarifvertragsparteien.708 In der Praxis lief die staatliche Schlichtung darauf hinaus, dass der Staat die Lohnpolitik zunehmend beeinflusste, auch weil die Einigungsbereitschaft der Tarifvertragsparteien zu wünschen übrig ließ. Dadurch verfestigte sich in der Weimarer Republik die staatliche Beeinflussung der Tarifpolitik immer weiter. Mehr noch: Es entstand ein sich selbst verstärkender Prozess. 4.5.2.4  Debatten aufgrund interner Probleme, die extern ausstrahlten Eine zweite Gruppe beinhaltet all jene Legitimitätsdebatten, die zwar durch externe Faktoren ausgelöst wurden, ihren Ursprung aber in einer mangelnden internen Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems hatten. Dieser Kategorie können die Novellierung des § 116 AFG und das Tarif­ einheitsgesetz zugeordnet werden, aber auch die Schlichtungsverordnung von 1923 hinsichtlich ihres Ziels, die Tarifbeziehungen zu befrieden. Die Novellierung des AFG wurde zur Herausforderung des Staates, weil die Gewerkschaften ihre Streiktaktik so geändert hatten, dass die Streikunterstützung auf die Arbeitslosenversicherung abgewälzt wurde. Dadurch nahmen das Ausmaß der Arbeitskämpfe und die dadurch verursachten wirtschaftlichen Schäden zu. Der Staat sah seine Neutralität bei Arbeitskämpfen verletzt. Beim Tarifeinheitsgesetz waren es ebenfalls die negativen Folgen von Arbeitskämpfen auf das Gemeinwohl, die zur staatlichen He­ rausforderung wurden. Sie hatten ihre Ursache in der mangelnden Kooperationsbereitschaft von Berufsgruppengewerkschaften. Dass die Schlichtung auch dieser zweiten Gruppe zugeordnet wird, hängt mit ihren verschiedenen Zielsetzungen zusammen. Neben einer staatlichen Lohnpolitik ging es um eine Befriedung der Tarifbeziehungen, die im Wege der autonomen Schlichtung nicht erreicht wurde. Damit wurden alle drei Debatten durch inter- und intraorganisationale Faktoren ausgelöst, vor allem durch eine mangelnde Kooperationsbereitschaft zwischen den Tarifvertragsparteien. Diese internen Probleme strahlten extern aus, indem Arbeitskämpfe das Gemeinwohl gefährdeten. Da die Tarifvertragsparteien selbst nicht dazu in der Lage waren, die Ursachen dieser Funktionsstörungen zu beseitigen, reagierte der Staat in allen drei Fällen durch direkte Eingriffe in Form einer neuen Gesetzgebung oder 708  Vgl.

Englberger, Tarifautonomie im Deutschen Reich, 1995, S. 234.



4.5 Legitimitätsdebatten im Vergleich387

durch eine Novellierung bestehender Gesetze. Durch diese Gesetzesänderungen sollten die Rahmenbedingungen der Tarifautonomie verändert, die Spielregeln für die Verhandlungen zwischen den Tarifpartnern effektiver und somit die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems gesichert werden. Dabei dienten die Staatseingriffe auch dazu, dass sich das Mächtegleichgewicht nicht dauerhaft zuungunsten einer Partei verschob. 4.5.2.5  Debatten aufgrund externer und interner Probleme Schließlich traten Legitimitätsdebatten auch dann auf, wenn ein externes Problem bestand, für dessen Entstehung zwar nicht unmittelbar eine mangelnde Funktionsfähigkeit des Tarifsystems verantwortlich gemacht wurde, die Tarifpolitik jedoch zumindest als Teil des Problems angesehen wurde. Es handelt sich somit um eine Art Mischform aus den zwei bereits beschriebenen Debattentypen. In diese dritte Gruppe von Legitimitätsdebatten fallen die Notverordnungen der frühen 1930er Jahre, die Androhung einer gesetzlichen Öffnungsklausel im Jahr 2003 und das Tarifautonomiestärkungsgesetz aus dem Jahr 2015. Diese staatlichen Maßnahmen sind somit Antworten auf Herausforderungen, deren Auslöser sowohl interne Probleme des Tarifsystems als auch externe Probleme waren. Bei den Notverordnungen war es die Weltwirtschaftskrise, die die Reichsregierung mit einer Deflationspolitik bekämpfen wollte. Da die Tarifvertragsparteien keine Lohnsenkungen vereinbaren wollten, griff der Staat direkt in die Tarifverträge ein und schrieb die Kürzung von Tariflöhnen vor. Die Debatte um gesetzliche Öffnungsklauseln wurde durch die anhaltende Arbeitsmarktmisere ausgelöst, für die die Tarifvertragsparteien eine Mitverantwortung trugen. Da es aber an autonomer Reformbereitschaft mangelte, drohte der Staat, einzugreifen. Hinter dem Tarifautonomiestärkungsgesetz stand eine verteilungspolitische Debatte. Da die Tarifvertragsparteien die öffentlich beklagten Niedriglöhne nicht autonom beseitigen konnten, sah sich die Bundesregierung zum Handeln gezwungen und führte einen gesetzlichen Mindestlohn ein. Aus ihrer Sicht traten in allen drei Fällen demnach externe Faktoren auf, die eine Reaktion der Tarifvertragsparteien notwendig gemacht hätten. Da diese unterblieb, sah der Staat offenbar die einzige Möglichkeit darin, selbst inhaltliche Regelungen vorzugeben beziehungsweise anzudrohen. Alle Maßnahmen stellen einen Eingriff in die positive Koalitionsfreiheit dar. Wären die angedrohten gesetzlichen Öffnungsklauseln im Jahr 2003 tatsächlich eingeführt worden, hätte dies einen gravierenden Eingriff in die Tarifautonomie dargestellt, dessen Verfassungsmäßigkeit kontrovers beurteilt wurde. In der Weimarer Republik wurden gesetzliche Öffnungsklauseln im Zuge der Notverordnungen der

388

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

frühen 1930er Jahre faktisch umgesetzt. Dies bedeutete den Anfang vom Ende der Tarifautonomie. In allen Fällen handelt es sich um eine staatliche Lohnpolitik, der allerdings eine unterschiedliche wirtschaftspolitische Zielsetzung bei ähnlicher Ausgangslage im Binnenverhältnis der Tarifvertragsparteien zugrunde liegt. Während beim gesetzlichen Mindestlohn – dem ersten unmittelbaren Eingriff des Staates in die Lohnfindung seit dem Bestehen der Bundesrepublik – sozialpolitische oder verteilungspolitische Ziele im Vordergrund standen, waren es bei den Tariflohnkürzungen im Zuge der Notverordnungen wettbewerbspolitische. Die Lohnkostensenkungen waren eine Voraussetzung dafür, mit Hilfe von Preissenkungen die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zu verbessern. Im Binnenverhältnis war der gesetzliche Mindestlohn eine Folge „weißer Flecken“ in der Tariflandschaft – und damit mangelnder Regelungskompetenz der Tarifvertrags­ parteien. Die staatlichen Lohnkürzungen von Weimar waren eine Antwort der Regierung auf eine mangelnde Kompromissfähigkeit zwischen den Tarifvertragsparteien, die der Staat zunächst mittelbar mit der Zwangsschlichtung überbrückte, im Zuge der Notverordnungspolitik dann aber unmittelbar durch direkten Eingriff in laufende Tarifverträge. Bei der Androhung gesetzlicher Öffnungsklauseln sollten arbeitsmarktpolitische Probleme gelöst werden. Hier drohte der Kanzler, weil ihm die Tarifvertragsparteien zu zögerlich erschienen.

4.6 Fazit Die vorangegangene Analyse zeigt, dass die Legitimität der Tarifautonomie in den nun schon über 100 Jahren ihres Bestehens immer wieder Gegenstand politischer Kontroversen war. Die Debatten endeten teilweise in Staatseingriffen, die zum Ziel hatten, entweder durch Anpassungen der Rahmenbedingungen die Effektivität des Systems zu steigern oder gar die grundlegende Funktionslogik abzuändern. Diese Logik besteht in einem institutionellen Arrangement zwischen Staat und Tarifvertragsparteien, das der Tarifautonomie stets Vorrang vor staatlicher Lohnpolitik, der Betriebsautonomie und der Individualautonomie einräumt. Die in diesem Kapitel identifizierten Debatten und die dazugehörigen Eingriffe konnten in vier unterschiedliche Typen eingeteilt werden (siehe Tabelle 14). Diese Kategorisierung lässt sich dazu nutzen, die Staatseingriffe zu bewerten. Dabei soll nicht vorrangig die Frage beantwortet werden, ob ein Eingriff im zeithistorischen Kontext erfolgreich war. Vielmehr wird rückblickend bewertet, ob die staatlichen Eingriffe dazu geeignet waren, ein durch den Staat identi­ fiziertes Problem zu lösen und die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie



4.6 Fazit389

dadurch zu sichern. Die gewählte Lösung muss zum jeweiligen Problem passen. Aus dieser Analyse heraus lassen sich auch Lehren für die aktuelle Debatte zur Stärkung der Tarifbindung ableiten. Den ersten Typ von Debatten stellen die Grundsatzdebatten dar. Sowohl 1918 als auch 1949 ging es darum, einen neuen Ordnungsrahmen für eine Regelung der Arbeitsbeziehungen zu schaffen. Beide Male musste der Staat eine Grundsatzentscheidung treffen, in deren Rahmen ein neues System mit entsprechenden Institutionen etabliert wurde. Mit der TVVO von 1918 und dem TVG aus dem Jahr 1949 entschied sich der Staat dazu, die Verantwortung für die Regelung der Arbeitsbedingungen den Tarifvertragsparteien zu übertragen. Allerdings geschah das, nachdem sich die Tarifvertragsparteien 1918 die Tarifautonomie mit dem Stinnes-Legien-Abkommen genommen hatten und die Revolutionsregierung dieses Abkommen anerkannt hatte, und 1949, als die alliierte Militärregierung und der Wirtschaftsrat den Tarifvertragsparteien die Tarifautonomie nach dem Nationalsozialismus zurückgaben und das Grundgesetz dies bestätigte. Die Herausforderung, die Arbeitsbeziehungen in einem neu geschaffenen Staat auszugestalten, wurde somit zweimal im gleichen Sinne gelöst. Da die Tarifvertragsparteien eine Übernahme dieser Verantwortung auch aktiv einforderten, erwiesen sich diese Entscheidungen als geeignet, um Arbeitsentgelte und Arbeitsbedingungen im Wege der Selbstbestimmung zu regeln. Zu einer ähnlichen Bewertung führt die Analyse der Debatten, die durch interne Probleme ausgelöst wurden, die extern ausstrahlten. Wurde die Legitimität der Tarifautonomie bei diesen klar im Tarifsystem verorteten Problemen infrage gestellt, waren die Eingriffe des Staates ebenfalls geeignet. In diese Kategorie fallen die Debatten um die Novellierung des AFG, um das Tarifeinheitsgesetz sowie um die Schlichtungsverordnung in der Weimarer Republik. Für die Schlichtungsverordnung gilt dies aber nur in Bezug auf ihre Zielsetzung, das Tarifvertragssystem zu befrieden. In allen drei Beispielen sollte (möglichen) ausufernden Streiks entgegengewirkt werden, indem das Mächtegleichgewicht zwischen den Tarifvertragsparteien gewährleistet und deren Kooperationsfähigkeit gefördert wurde. Durch eine Verbesserung der Spielregeln sollte es den Tarifvertragsparteien erleichtert werden, einen sozialen Ausgleich unter Beachtung der gesamtwirtschaftlichen Ziele staatlicher Wirtschaftspolitik zu erreichen. Da ein funktionierendes Zusammenspiel der Tarifvertragsparteien elementar ist, können diese Eingriffe als Korrekturen für den Erhalt der Institution Tarifautonomie verstanden werden. Die Maßnahmen waren im jeweiligen zeithistorischen Kontext dazu geeignet, die festgestellten Fehlfunktionen im Tarifsystem zu beseitigen, ohne die Tarifautonomie als Ganzes infrage zu stellen.

390

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

Schwieriger gestalten sich Eingriffe des Staates in die Tarifautonomie, wenn nicht intra- oder interorganisationale Probleme im Tarifsystem als klare Ansatzpunkte für eine Lösung identifiziert werden können, sondern es sich um externe Problemlagen handelte. Wenn einzig externe Probleme (beispielsweise die Bewältigung von Wirtschaftskrisen) zu Herausforderungen des Staates wurden, lag keine Fehlfunktion des Systems vor, die durch eine entsprechende Gesetzgebung beseitigt werden konnte. Vor diesem Hintergrund versuchte der Staat, die Tarifvertragsparteien über tripartistische Arrangements einzubinden. Damit beabsichtigte der Staat, die Tarifpolitik in seinem Sinne zu lenken und inhaltlich zu beeinflussen. Alle in diesem Kapitel beschriebenen Formen von Tripartismus scheiterten jedoch. Aus zeithistorischer Sicht war die Idee der Weimarer Zeit, die Arbeitsbeziehungen durch staatliche Schlichtungsinstanzen zu befrieden, durchaus geeignet. Das damit verbundene Streben nach staatlicher Lohnpolitik, die unmittelbar in die Tarifautonomie eingreift, war es aber nicht. Dieses Streben führte in Verbindung mit dem Zwangscharakter der staat­ lichen Schlichtung dazu, dass die Tarifvertragsparteien in zentralen Branchen auf autonome Lösungen verzichteten, die staatlichen Schlichtungs­ instanzen anriefen und ihre lohnpolitische Verantwortung auf den Staat abwälzten. Ex post betrachtet schwächte diese zwanghafte Einbindung der Tarifvertragsparteien in tripartistische Arrangements die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie. Auch wenn dies in einer zeithistorischen Perspektive nicht absehbar war, hätte der Staat die Schlichtung nicht mit mehreren Zielen überfrachten dürfen und auf den Zwangscharakter verzichten sollen. Eine staatliche Zwangsschlichtung ist mit der Idee der Tarifautonomie unvereinbar. In der Bundesrepublik folgten weitere tripartistische Arrangements, die auf einen Zwangscharakter verzichteten und auch andere Zielsetzungen hatten. Die erste große Nachkriegsrezession veranlasste den Staat dazu, auch die Lohnpolitik in eine gesamtwirtschaftliche Strategie der Globalsteuerung im Rahmen der Konzertierten Aktion einzubinden. Da sich das Tarifvertragssystem in der Bundesrepublik bereits etabliert hatte und die Tarifvertragsparteien eigenständig agierten, setzte der Staat auf eine freiwillige Einbindung der Tarifakteure. Doch auch der Versuch, die Tarifvertragsparteien auf freiwilliger Basis zu bestimmten lohnpolitischen Orientierungen zu verpflichten, endete erfolglos. In den 1990er Jahren wurde mit den Bündnissen für Arbeit noch einmal versucht, eine wirtschaftliche Krise über tripartistische Arrangements zu lösen. Dieser dritte Anlauf scheiterte ebenfalls.



4.6 Fazit391

Die drei Beispiele zeigen, dass weder gesetzlicher Zwang noch freiwillige Übereinkünfte, die zu Tauschgeschäften unter den Beteiligten führen sollten, zum erwünschten Ergebnis geführt haben. Trotzdem sind tripartistische Ansätze nicht grundsätzlich abzulehnen. Die Tarifvertragsparteien können mit ihrer Tarifpolitik durchaus dazu beitragen, gesamtwirtschaft­ liche Probleme zu lösen oder Krisen einzudämmen. Voraussetzung ist, dass sie nicht nur auf freiwilliger Basis eingebunden, sondern auch politisch nicht unter Druck gesetzt werden. Tripartistische Bündnisse sollten mehr als Ideenaustausch verstanden werden und weniger als auf Tauschgeschäfte ausgelegte Verhandlungen. Als Beispiel können die tripartistischen Gespräche im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise in den Jahren 2008/2009 angesehen werden. In den Krisengesprächen wurde auf einen Erfahrungsaustausch gesetzt, der zu einer Verständigung über die Schwere der Krise führte und Gemeinsamkeiten offenlegte. Dadurch zeigte sich, wie die Krise bewältigt werden kann. Die Gespräche unterstützten eine zurückhaltende Lohnpolitik und zusammen wurden weitere Ansatzpunkte zur Krisenbewältigung ausgelotet (wie z. B. die Konjunkturpakete, die Regelungen zum Kurz­arbeitergeld oder die Abwrackprämie). Am schwierigsten gestalteten sich staatliche Eingriffe, wenn die Legitimität der Tarifautonomie aufgrund externer Problemlagen infrage gestellt wurde, die durch das Handeln der Tarifvertragsparteien verstärkt wurden. Eine Mischung aus internen und externen Auslösern führte zu einer diffusen Gemengelage, die es erschwerte, geeignete Lösungen zu finden. Dies zeigte sich im Laufe der Zeit mehrfach. So veranlasste die 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise den Staat dazu, die Lohnpolitik ab 1930 über Notverordnungen zwanghaft in die wirtschaftspolitische Strategie des Staates einzubinden. Dies schränkte die Tarifautonomie noch weiter als die staatliche Zwangsschlichtung ein und trug so zu einer weiteren Destabilisierung und abnehmenden Akzeptanz der Tarifautonomie bei. Nachdem über achtzig Jahre auf vergleichbare Eingriffe in die positive Koalitionsfreiheit verzichtet wurde, griff der Staat mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz im Jahr 2015 erneut unmittelbar in die Regelungskompetenz der Tarifvertragsparteien ein. Der Staat beabsichtigte das externe Problem eines wachsenden Niedriglohnsektors zu lösen und gleichzeitig die Tarifbindung zu stärken. Diese zwei zunächst getrennten Ziele verknüpfte er, indem er die Ursache für den großen Niedriglohnsektor auch in der mangelnden Reichweite von Tarifverträgen sah und das Problem damit auch den Tarifvertragsparteien zuschob. Dass der Ausbau des Niedriglohnsektors eine logische Konsequenz der Agenda 2010 und zum Abbau der hohen Arbeitslosigkeit Anfang und Mitte der 2000er Jahre politisch gewollt war, geriet in den Hintergrund der Debatte. Der Staat versuchte mit

392

4. Die Legitimität von Tarifautonomie

dem Gesetz zwei Problemen zu begegnen, ohne diese klar voneinander zu trennen. So kann der gesetzliche Mindestlohn zwar als Antwort auf das Problem eines wachsenden Niedriglohnsektors und einer fehlenden Lohnuntergrenze für tarifungebundene Arbeitnehmer verstanden werden. Der fehlende Tarifvorrang macht jedoch deutlich, dass der Name des Gesetzes irreführend ist und davon keine Stärkung der Tarifautonomie ausging. Mit der Einführung des Mindestlohns setzte der Staat auf inhaltliche Festlegungen, die die Möglichkeiten zur autonomen Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen durch die Tarifvertragsparteien nach unten klar begrenzen. Damit werden Rahmenbedingungen gesetzt, die autonome tarifvertragliche Lösungen verhindern können. Auch die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung sowie die Ausweitung des AEntG hatten allenfalls das Potenzial, die Tarifgeltung auszuweiten. Diese Eingriffe in die Tarifautonomie waren jedoch nicht dazu geeignet, die originäre Tarifbindung oder die Akzeptanz der Tarifvertragsparteien zu erhöhen. Das Gesetz setzte somit an den Symptomen an, aber nicht an den Ursachen, wie der Organisationsschwäche der Tarifvertragsparteien. Statt eines pauschalen Eingriffs hätte es geholfen, die Ursachen differenzierter zu betrachten und mehrgliedrige Lösungen zu suchen. Ein solch differenziertes Vorgehen lässt sich in der Rückschau bei der Androhung von gesetzlichen Öffnungsklauseln im Jahr 2003 beobachten. Zum Abbau der Arbeitslosigkeit wurden zum einen die Tarifvertragsparteien aufgefordert, ihre Reformunfähigkeit zu überwinden und eine Flexibilisierung des Tarifsystems voranzutreiben. Zum anderen wurde die Lösung des Problems jedoch nicht allein den Tarifvertragsparteien überlassen, sondern es wurden durch die Hartz-Reformen flankierende staatliche Maßnahmen beschlossen. Die Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit wurden auf mehreren Ebenen verortet und folglich auch durch einen mehrgliedrigen Ansatz gelöst. Die Analyse der einzelnen Eingriffe des Staates zeigt, dass Problem und Lösung zusammenpassen sollten. Zuvörderst müssen jedoch die Tarifvertragsparteien – begründet in der Tarifautonomie – selbst die Problemanalyse betreiben und gemeinsam autonome Lösungen zur Stärkung der Tarifautonomie finden. Pauschales staatliches Handeln, das tief in den Kompetenzbereich der Tarifvertragsparteien eindringt, ohne die eigentlichen Ursachen zu adressieren, war in der Vergangenheit meist wenig zielführend. Lediglich Änderungen der Rahmenbedingungen, die die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern sowie das Miteinander der Tarifvertragsparteien regeln und möglichst fair ausgestalten, erscheinen rückblickend als sinnvoll. Komplexe Problemlagen in der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erfordern hingegen ein differenziertes und mehrgliedriges Vorgehen.

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie Clemens Höpfner

5.1  Der gegenwärtige Zustand der Tarifautonomie In der Arbeitsrechtswissenschaft besteht Einigkeit darüber, dass die ­Tarifautonomie sich aufgrund der rückläufigen Tarifbindung in einer Krise befindet.1 Auf dem 70. Deutschen Juristentag diskutierte die Abteilung Arbeitsrecht bereits 2014 über eine „Stärkung der Tarifautonomie – Welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich?“2 Seitdem hat sich die Situation nicht verbessert, sondern – angesichts untauglicher gesetzgeberischer Maßnahmen3 – im Gegenteil weiter verschlechtert. Während man sich über die Notwendigkeit einer Stärkung der Tarifbindung und damit der Tarifautonomie einig ist, gehen die Vorstellungen über taugliche Lösungsansätze erheblich auseinander. Bevor diese verschiedenen Ansätze dargestellt werden, muss der Blick jedoch zunächst auf den gegenwärtigen Zustand der Tarifautonomie und die Ursachen für die fehlende Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft auf Arbeitnehmer- wie Arbeitgeberseite gerichtet werden.

5.1.1 Abnehmende Tarifbindung Der Ist-Zustand der Tarifautonomie kann zum einen mithilfe des Organisationsgrads, zum anderen anhand statistischer Erhebungen zur Tarifbindung erfasst werden. Die aktuellen Statistiken zur Tarifbindung wurden bereits in Kapitel 2.1 umfassend dargestellt. Es genügt daher, an dieser Stelle die wichtigsten Daten einmal kurz in Erinnerung zu rufen: 1  Hartmann, ZFA 2020, 152 (153); Henssler, RdA 2021, 1; Höpfner, ZFA 2020, 178 (180 f.); Lobinger, JZ 2014, 810; Waltermann, ZFA 2020, 211 (214 f.); Seiwerth, EuZA 2014, 450; Walser, SR Sonderausgabe Mai 2017, 2; Franzen, Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt, 2018, S. 11 ff. 2  So der Titel des Gutachtens von Bepler, in: Verhandlungen des 70. DJT, 1. Band, 2014, S. B1. 3  Vgl. dazu unten 5.3.1.

394

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

Im Jahr 2020 waren noch 26 Prozent der Betriebe normativ tarifgebunden.4 Gegenüber 1996, als noch 45 Prozent der Betriebe normativ tarifgebunden waren, bedeutet dies einen Rückgang der Tarifbindung auf Arbeitgeberseite um 40 Prozent. Auf Arbeitnehmerseite ist eine ganz ähnliche Entwicklung zu verzeichnen. 51 Prozent der Beschäftigten arbeiteten im Jahr 2020 in normativ tarifgebundenen Betrieben.5 Im Jahr 1996 waren dies noch 75 Prozent.6 In der Realität wird die Zahl der kraft Gewerkschaftsmitgliedschaft tarifgebundenen Arbeitnehmer allerdings erheblich geringer sein, da statistisch allein die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers (bzw. des „Betriebs“) ausgewertet wird. Wie bereits im 2. Kapitel herausgearbeitet wurde,7 wird dabei unterstellt, dass sämtliche Beschäftigten in einem tarifgebundenen Betrieb selbst normativ tarifgebunden sind, obwohl dies tatsächlich nicht der Fall ist. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass für die statistischen Erhebungen unter „Tarifbindung“ alle Fälle einer normativen Tarifgeltung verstanden werden. Erfasst sind grundsätzlich auch die Fälle einer staatlich oktroyierten Tarifgeltung kraft Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG und einer Tarifnormerstreckung nach § 7 AEntG.8 Datenmaterial zur mitgliedschaftlich legitimierten Tarifbindung existiert nicht. Man wird aber davon ausgehen müssen, dass die privatautonom durch Verbandsmitgliedschaft vermittelte Tarifbindung auf Arbeitgeber- und auf Arbeitnehmerseite deutlich geringer ist als die statistisch erhobenen Zahlen zur „Tarifbindung“ allgemein. Nur auf den ersten Blick positiver wird das Bild, wenn man neben der Tarifbindung die tariforientierten Arbeitsverhältnisse einbezieht.9 Im Wes­ ten waren 2020 immerhin 50,3 Prozent der Betriebe und 72,2 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden oder tariforientiert, im Osten noch 38,6 Prozent der Betriebe und 62,9 Prozent der Beschäftigten.10 Allerdings haben diese Werte nur eine geringe Aussagekraft, da der Begriff der Tariforientie-

4  Kohaut,

Entwicklung der Tarifbindung, 2021, S. 5, 7; vgl. im Detail oben 2.1. Entwicklung der Tarifbindung, 2021, S. 7; vgl. auch oben 2.1. 6  Vgl. Schulten/Lübker/Bispinck, Tarifverträge und Tarifflucht in Sachsen, S. 12; siehe auch oben 2.2. 7  Vgl. oben 2.2. 8  Danach wird allerdings nicht explizit gefragt. Die Fragestellung lautet: Gilt in diesem Betrieb ein Branchentarifvertrag, ein zwischen dem Betrieb und den Gewerkschaften geschlossener Haustarif- oder Firmentarifvertrag oder kein Tarifvertrag? 9  Vgl. dazu oben 2.1. 10  Vgl Kohaut, Entwicklung der Tarifbindung, 2021, S. 7; vgl. auch oben 2.1. 5  Kohaut,



5.1  Der gegenwärtige Zustand der Tarifautonomie395

rung nicht exakt definiert ist.11 Man kann daher die Tarif­ orientierung nicht ohne Weiteres mit der Tarifbindung gleichsetzen. So liegt das Vergütungsniveau in tariforientierten Betrieben nach einer 2016 veröffentlichten Studie im Schnitt 24,6 Prozent unterhalb der Vergütung in tarifgebundenen Betrieben und damit nur knapp über der Vergütung in den nicht tariforientierten Betrieben.12 Zudem sind in Branchen, in denen die Gewerkschaften schwach und Tarifverträge in der Fläche nicht mehr institutionalisiert sind, innerhalb der Tariforientierung wesentlich stärkere Abweichungen vom Tarifniveau zu beobachten als in Branchen mit hoher Tarifbindung.13 Insgesamt lässt sich festhalten, dass seit Beginn der statistischen Erhebungen 1996 ein kontinuierlicher Rückgang der Tarifbindung in Deutschland zu verzeichnen ist. In Westdeutschland hatte sich die Situation Mitte der 2000er Jahre zwischenzeitlich etwas stabilisiert, die Tarifbindung ist aber seit 2010 erneut rückläufig; in Ostdeutschland gab es dagegen in den 2000er Jahren einen kontinuierlichen Rückgang, dafür ist in den letzten Jahren eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau eingetreten.14

5.1.2  Rückläufiger Organisationsgrad auf Arbeitnehmerseite Beim Blick auf den Organisationsgrad auf Arbeitnehmerseite zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei der Tarifbindung. Wie im Kapitel 2.2 dargelegt wurde, lag der Anteil aller Gewerkschaftsmitglieder an den Arbeitnehmern im Jahr 2020 bei 18,3 Prozent. 1980 lag dieser Brutto-Organisationsgrad noch bei 32,5 Prozent.15 In den letzten vier Jahrzehnten hat sich der Organisationsgrad also fast halbiert. Betrachtet man allein die im DGB organisierten Gewerkschaften, hatten diese im Jahr 2020 knapp 5,9 Millionen Mitglieder.16 Das entspricht einem Organisationsgrad von 14,3 Prozent.17 Auch hier ist ein massiver Rückgang zu verzeichnen. Der Höchstwert lag 1951 bei über 43 Prozent.18 11  Die Fragestellung lautet: Orientieren Sie sich hinsichtlich der Löhne und Gehälter an einem Branchentarifvertrag? 12  Berwing, Tariforientierung in Deutschland, 2016, S. 88 ff. 13  Berwing, Tariforientierung in Deutschland, 2016, S. 69. 14  Ellguth/Kohaut, WSI-Mitteilungen 73 (2020), 278 (279). 15  Vgl. oben 2.2. 16  Vgl. oben 4.4.9.1. 17  Greef, DGB-Gewerkschaften in Zahlen 2021, https://www.samuel-greef.de/ gewerkschaften (29.7.2021). 18  Greef, DGB-Gewerkschaften in Zahlen 2021, https://www.samuel-greef.de/ gewerkschaften (29.7.2021); vgl. auch Hassel/Schroeder, Gewerkschaften 2030, 2008, S. 7.

396

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

Zugleich zeigt sich an dieser Stelle aber bereits ein Umstand, der in der Diskussion um die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu wenig beachtet wird: Das deutsche Modell der Tarifautonomie, nach dem die Tarifgeltung grundsätzlich von der beiderseitigen Mitgliedschaft der Arbeitsvertragsparteien in den tarifschließenden Verbänden abhängt (§§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG), konnte sich in der Bundesrepublik zu keiner Zeit auf eine Mehrheit der in einer Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer stützen. Vielmehr stellten die tariflichen „Außenseiter“ stets den überwiegenden Teil der Arbeitnehmerschaft.19 Das unterscheidet das deutsche Modell der beiderseitigen Tarifgebundenheit erheblich vom Tarifvertragswesen in anderen europäischen Staaten.20 Da die Tarifautonomie über Jahrzehnte hinweg gleichwohl funktioniert hat, ja sogar als Erfolgsmodell und Garant für Wohlstand und soziale Marktwirtschaft gilt,21 ist es offensichtlich für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nicht erforderlich, dass die Mehrheit der Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft organisiert ist. Das ändert jedoch nichts an dem Umstand, dass der Organisationsgrad inzwischen derart niedrig ist, dass die Tarifautonomie dadurch weiter in Bedrängnis gerät. Die Entwicklung der Mitgliederzahlen ist im Einzelnen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt eine starke Differenzierung nach Branche, Region, Alter, Geschlecht und Einkommen, zudem noch immer ein starkes WestOst-Gefälle.22 Besonders problematisch sind dabei die Altersstruktur und das Geschlechterverhältnis. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäi­ schen Staaten ist der Anteil der Frauen unter den Gewerkschaftsmitgliedern in Deutschland deutlich geringer als derjenige der Männer. So waren im Jahr 2018 19,1 Prozent der männlichen, aber nur 14,1 Prozent der weiblichen Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert.23 Während diese Geschlechterdifferenz sich langsam annähert,24 ist die Altersstruktur das weitaus größere Problem für die Gewerkschaften. So waren 2014 in 19  Vgl. auch Rieble, ZFA 2004, 1 (4); ders., ZFA 2005, 245 (248); ders., EuZA 2017, 228 (232). 20  Vgl. dazu unten 5.4.4. 21  Vgl. Dulger, in: FAZ v. 10.1.2021, S. 20; Kramer, in: FAZ v. 11.10.2018, S. 20; siehe auch BMF/BMAS, Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung, 2021, S. 4. 22  Vgl. Biebeler/Lesch, Wirtschaftsdienst 95 (2015), 710 (711 ff.); Hassel/Schroe­ der, Gewerkschaften 2030, 2018, S. 9 ff.; Schneider, Gewerkschaften – ja bitte, aber ohne mich!, 2018, S. 2. 23  Vgl. Lesch/Winter, Gewerkschaften: Strukturdefizite verstärken sich, 2021, S. 2. 24  Vgl. den Vergleich zu den Zahlen von 2002 bei Hassel/Schroeder, Gewerkschaften 2030, 2018, S. 7.



5.1  Der gegenwärtige Zustand der Tarifautonomie397

Deutschland in der Altersgruppe der 16- bis 30-Jährigen nur noch 9,8 Prozent der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert.25 In der Gruppe der 41- bis 50-Jährigen ist der Organisationsgrad fast doppelt so hoch.26 Dieser Trend zeigt sich in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Selbst in Schweden, einem Land, in dem aufgrund der Privilegierung der Gewerkschaftsmitglieder bei der Arbeitslosenversicherung in Anlehnung an das sog. Genter System27 traditionell ein besonders hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad zu verzeichnen ist, liegt der Organisationgrad bei den 16- bis 30-Jährigen mit 36,4 Prozent nur noch halb so hoch wie bei den Arbeitnehmern im Alter von über 30 Jahren.28 Der Alterungsprozess betrifft dabei keineswegs nur schwächere Gewerkschaften, sondern zieht sich quer durch alle Branchen. Selbst bei der IG Metall zeigt sich eine ganz erhebliche Spreizung der Organisationsrate nach Alterskohorten. Im Jahr 2018, das mit dem Tarifkonflikt um die Arbeitszeit und Rekordstreikzahlen29 alles andere als ein gewöhnliches Geschäftsjahr war,30 konnte die IG Metall zwar über 133.000 Neumitglieder gewinnen;31 der Nettozuwachs an Mitgliedern betrug allerdings selbst in diesem Rekordjahr nicht einmal 8.000 Mitglieder.32 Für die Gewerkschaften ist diese demographische Entwicklung von existenzieller Bedeutung.33 Gelingt es ihnen nicht, den Trend zu einer „Vergreisung“ der Mitgliederstruktur zu brechen, verlieren sie ihre Verankerung in den Betrieben, was zu einem weiteren Mitgliederschwund führen wird. Zugleich bestimmt die Zahl der Mitglieder über die finanzielle Ausstattung 25  Dieke/Lesch,

IW-Trends 44 (2017), 25 (30). betrug in dieser Gruppe im Jahr 2014 18,8 Prozent, vgl. Dieke/Lesch, IWTrends 44 (2017), 25 (30). 27  Vgl. dazu unten 5.4.4; ferner Seiwerth, NZA 2014, 708 (709 f.); Waltermann, NZA 2014, 874 (878); Monopolkommission, XVIII. Hauptgutachten, 2008/2009, Nr. 914. 28  Im Jahr 2014 lag in Schweden der Organisationsgrad der 16- bis 30-Jährigen bei 36,4 Prozent, der 31- bis 40-Jährigen bei 68,7 Prozent, der 41- bis 50-Jährigen bei 73,7 Prozent und der 51- bis 65-Jährigen sogar bei 78,4 Prozent, vgl. Dieke/Lesch, IW-Trends 44 (2017), 25 (30). 29  Vgl. für einen Überblick über die Zahl der Streikenden und der streikbedingten Ausfalltage Dribbusch, WSI-Arbeitskampfbilanz 2018, 2019, S. 3. 30  Vgl. dazu Hofmann/Smolenski, WSI-Mitteilungen 71 (2018), 518 (519). 31  Vgl. IG Metall, Jahrespressekonferenz 2019, https://www.igmetall.de/presse/igmetall-vorstand/die-ig-metall-waechst--metall-tarifabschluss-kommt-an (29.7.2021). 32  Vgl. IG Metall, Jahrespressekonferenz 2019, https://www.igmetall.de/presse/igmetall-vorstand/die-ig-metall-waechst--metall-tarifabschluss-kommt-an (29.7.2021). 33  Vgl. Hassel/Schroeder, Gewerkschaften 2030, 2018, S. 13; Henssler, RdA 2021, 1 (2). 26  Er

398

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

der Gewerkschaft und über deren Durchsetzungskraft gegenüber der Arbeitgeberseite. Sie ist aus diesem Grunde nach der vom BVerfG gebilligten34 Rechtsprechung des BAG das zentrale Kriterium für die Tariffähigkeit von Gewerkschaften.35 Eine Gewerkschaft, der es nicht gelingt, ihre Altersstruktur durch Rekrutierung jüngerer Mitglieder zu verjüngen oder zumindest beizubehalten, läuft daher Gefahr, mittelfristig ihre Tariffähigkeit zu verlieren.

5.2 Ursachen 5.2.1  Ursachen auf Arbeitgeberseite Auf Arbeitgeberseite ist die Tarifautonomie – oder präziser: der Verbandstarifvertrag – Mitte der 1990er Jahre massiv unter Druck geraten. Kritisiert wurde vor allem, dass Verbandstarifverträge zu teuer seien und die tarifgebundenen Arbeitgeber in ein zu starres Korsett zwängen würden.36 Insbesondere der weitgehende Verzicht auf betriebsnahe Ausgestaltungen und die geringe zeitliche Anpassungsfähigkeit von Verbands­ tarifverträgen wurden beklagt.37 Vor dem Hintergrund der Massenarbeits­ losigkeit wurden Flächentarifverträge von der Deregulierungskommission und der Monopolkommission sogar grundsätzlich in Frage gestellt.38 Davon ist man heute weit entfernt. Der Wert der Tarifautonomie und des Flächentarifvertrags wurde vielmehr von Politik, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden erst 2018 im Rahmen des 100-jährigen Jubiläums des Stinnes-Legien-Abkommens erneut bekräftigt.39 Gleichwohl werden von Seiten der Arbeitgeber heute wieder verbreitet solche Einwände angeführt, 34  BVerfG

v. 13.9.2019 – 1 BvR 1/16, NZA 2019, 1649 Rn. 12. BAG v. 22.6.2021 – 1 ABR 28/20; BAG v. 26.6.2018 – 1 ABR 37/16, NZA 2019, 188 Rn. 60; BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300 Rn. 38. 36  Vgl. oben 4.4.5 und 4.4.6. 37  Vgl. Henssler, ZFA 1994, 487 (489 ff., 496 ff.); Rüthers, Tarifautonomie – Ist das deutsche Modell überholt?, 1993, S. 29 (42 ff.). 38  Vgl. Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, 1991, Nr. 544 ff.; Monopolkommission, X. Hauptgutachten, 1994, Nr. 880 ff.; dazu oben 4.4.6. 39  Vgl. Kramer, Mehr Tarifbindung nur mit neuer Tarifpolitik!, in: FAZ v. 11.10.2018, S. 20; ferner den gemeinsamen Festakt von BDA und DGB am 16.10.2018; dazu Gesamtmetall, Pressemitteilung vom 21.11.2018, https://www. gesamtmetall.de/aktuell/pressemitteilungen/gesamtmetall-praesident-dr-rainer-dulgerwir-brauchen-einen-tarifvertrag (29.7.2021); Tagesspiegel vom 16.10.2018, https:// www.tagesspiegel.de/wirtschaft/100-jahre-stinnes-legien-abkommen-lieber-achtstunden-tag-als-die-revolution/23189806.html (29.7.2021). 35  Vgl.



5.2 Ursachen399

die bereits in den 1990er Jahren vorgebracht wurden:40 Verbandstarifverträge seien zu komplex, zu teuer oder zu unflexibel. Sie würden zu wenig Raum für eine leistungsorientierte Vergütung lassen, ihre Eingruppierungsregelungen seien veraltet oder gleich ganz unbrauchbar und die Möglichkeiten der Lohnspreizung nicht ausreichend.41 Adressat dieser Kritik ist nicht der Gesetzgeber, sondern sind – wiederum, wie Mitte der 1990er Jahre – die Tarifvertragsparteien selbst. Es ist die gemeinsame Aufgabe von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, die Tarifautonomie auch für die Unternehmen attraktiv zu halten. Sofern Tarifverträge zu teuer und zu unflexibel sind, lässt sich nur gegensteuern durch eine Tarifpolitik, die durch Öffnungsklauseln, Modularität und Entgeltkorridore hinreichend Raum für betriebliche Lösungen lässt, ohne allerdings den Konflikt auf die betriebliche Ebene zu verlagern.42 Zudem sollten die Tarifvertragsparteien darauf achten, dass sich die tariflichen Arbeitsbedingungen nicht allein an der Leistungsfähigkeit finanzstarker Großunternehmen ausrichten, sondern auch den wirtschaftlichen Verhältnissen der Vielzahl kleinerer und mittlerer verbandsangehöriger Unternehmen gerecht werden.43 Gerade in Branchen und Tarifgebieten mit einer heterogenen Unternehmenslandschaft bietet sich der Einsatz tariflicher Öffnungsklauseln, die auf die Bedürfnisse der einzelnen Unternehmen und Betriebe zugeschnittene Lösungen erlauben, daher besonders an.44 Das Tarifvertragsrecht steht solchen tariflichen Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern nicht entgegen. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht insoweit nicht. Anders sieht es hingegen bei den rechtlichen Rahmenbedingungen der Tarifautonomie aus. Hier ist explizit der Gesetzgeber adressiert. Eine kluge und vorausschauende Tarifpolitik sollte durch den Gesetzgeber flankiert werden, der die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Tarifautonomie so auszugestalten hat, dass Arbeitgeber auch weiterhin Anreize haben, tarifgebundenes Mitglied in einem Arbeitgeberverband zu werden und zu bleiben. 40  Stellvertretend aus jüngerer Zeit Dulger, in: SZ v. 22.7.2019, S. 22; Kramer, Mehr Tarifbindung nur mit neuer Tarifpolitik!, in: FAZ v. 11.10.2018, S. 20; Kirchhoff, Sozialpartnerschaft am Scheideweg, in: FAZ v. 9.1.2020, S. 19. 41  Vgl. die Ergebnisse der Arbeitgeberbefragung bei Berwing, Tariforientierung in Deutschland – zwischen Tariflandschaft und Tarifödnis, 2016, S. 43 ff., insbesondere S. 51. 42  Vgl. auch Weitbrecht/D’Antonio, in Schroeder/Weßels (Hrsg.), Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Deutschland, 2. Auflage, 2017, S. 455 (467 ff.); Franzen, in: FS Preis, 2021, S. 247 (252). 43  Vgl. dazu auch Zander, in: FS Klebe, 2018, S. 484 (486). 44  Zutreffend Henssler, RdA 2021, 1 (4).

400

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

Gerade die Entwicklung der OT-Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden zeigt, dass die Verbandsmitgliedschaft als solche ungebrochen attraktiv für viele Arbeitgeber ist.45 Das verwundert nicht, da die Verbände auch außerhalb der tarifpolitischen Aktivitäten zahlreiche wertvolle Leistungen für ihre Mitglieder erbringen, etwa Rechtsberatung, Fortbildungsveranstaltungen, Interessenvertretung, aber auch sonst vielfältige Dienstleistungen.46 Die Krise der Tarifautonomie ist daher auf Arbeitgeberseite keine Krise der Verbandsmitgliedschaft, sondern eine Krise der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifbindung, mithin des Flächentarifvertrags als Regelungsinstitut. Die OT-Mitgliedschaft zeigt zugleich, dass eine nicht geringe Zahl von Arbeitgebern zwar nicht Vollmitglied im Arbeitgeberverband sein will, mit der Gewerkschaft aber zugleich Anerkennungstarifverträge abschließt.47 Hierdurch gelten Verbandstarifverträge inhaltlich identisch oder mit nur geringen Modifikationen faktisch auch im Unternehmen dieser OT-Mitglieder. In diesen Fällen kann die Entscheidung des Arbeitgebers gegen die Vollmitgliedschaft im Arbeitgeberverband offenkundig nicht Folge einer Unzufriedenheit mit dem Inhalt der geltenden Verbandstarifverträge sein. Die Ursache wird vielmehr häufig in den gesetzlichen Rahmenbedingungen des Tarifvertragsrechts liegen. Das TVG bietet dem Arbeitgeber, der sich einmal für die Vollmitgliedschaft im Arbeitgeberverband entschieden hat, keine realistische Möglichkeit, die Bindung an die vom Verband abgeschlossenen Tarifverträge in einem absehbaren Zeitraum wieder zu be­ enden. Die Rechtsordnung sieht nämlich gleich drei Ausstiegshürden vor, die kumulativ übersprungen werden müssen:48 Der austrittswillige Arbeitgeber hat zunächst die satzungsmäßige Austrittsfrist zu beachten, die nach der Rechtsprechung des BGH bis zu sechs Monate betragen darf.49 Die Beendigung der Mitgliedschaft führt allerdings nicht zu einem unmittelbaren Wegfall der Tarifbindung. Vielmehr bleibt der Arbeitgeber über den Austrittstermin hinaus nach § 3 Abs. 3 45  Nach Henssler, RdA 2021, 1 (4) sind heute insgesamt ca. 50 Prozent der Verbandsmitglieder OT-Mitglieder. Veröffentlicht sind allerdings allein die Zahlen für die Metall- und Elektro-Industrie. Ende 2020 hatten die Mitgliedsverbände von Gesamtmetall insgesamt 3.266 Mitglieder mit und 4.114 Mitglieder ohne Tarifbindung, vgl. Gesamtmetall, Die Metall- und Elektro-Industrie in der Bundesrepublik Deutschland in Zahlen, 2021, 1.1; siehe auch die Grafik 8 unter 2.3. 46  Vgl. auch Henssler, RdA 2021, 1 (4). 47  Vgl. oben 4.4.9.1. 48  Vgl. dazu näher Henssler, in: FS Picker, 2010, S. 987; Lobinger, JZ 2014, 810 (820). 49  BGH v. 29.7.2014 – II ZR 243/13, NJW 2014, 3239 Rn. 27.



5.2 Ursachen401

TVG so lange an die bei Beendigung der Mitgliedschaft geltenden Verbandstarifverträge gebunden, bis diese enden oder geändert werden.50 Bei unbefristeten (Mantel-)Tarifverträgen und befristeten Tarifverträgen mit einer langen Laufzeit hat der ausgetretene Arbeitgeber keine Möglichkeit, selbst die Tarifbindung frühzeitig zu beenden. Er ist abhängig von der Entscheidung des Arbeitgeberverbands, dem er nicht mehr angehört und auf dessen Entscheidung er keinen Einfluss mehr nehmen kann. Trotz einhelliger Kritik im arbeitsrechtlichen Schrifttum51 hält das BAG bislang an dieser „unbegrenzten Nachbindung“ fest.52 Selbst wenn die Nachbindung des Arbeitgebers durch Kündigung, Fristablauf oder Änderung des Tarifvertrags schließlich endet, bleibt der Arbeitgeber weiterhin an die Tarifnormen gebunden. An die Nachbindung schließt sich nämlich nach ständiger Rechtsprechung gemäß § 4 Abs. 5 TVG die Nachwirkung des Tarifvertrags an.53 Die Tarifnormen behalten also nach Ablauf des Tarifvertrags ihre unmittelbare Wirkung bei und verlieren lediglich ihre zwingende Wirkung. Der Arbeitgeber kann nun zwar auch zulasten des Arbeitnehmers vom Tarifvertrag abweichen. Er bedarf dazu jedoch der Mitwirkung des Arbeitnehmers beim Abschluss eines Änderungsvertrags. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Hürden für den Arbeitgeber, aus einer einmal begründeten Tarifbindung im Arbeitgeberverband wieder auszusteigen, extrem hoch sind. Nach geltendem Recht und insbesondere der Rechtsprechung des BAG zu § 3 Abs. 3 TVG fehlt eine realistische „exit option“ für den Arbeitgeber.54 Eine unbegrenzte Nachbindung des Arbeitgebers an unbefristete Tarifverträge nach Verbandsaustritt vereitelt aber nicht nur die Chance eines Tarifausstiegs. Da der rational handelnde Ar50  Vgl. zur Beendigung der Nachbindung bei Änderung des Tarifvertrags BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 8/10, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 96 Rn. 26; HMB/Höpfner, Der Tarifvertrag, 2. Auflage, 2016, Teil 6 Rn. 84. 51  Vgl. nur (mit im Einzelnen unterschiedlichen Lösungsansätzen) Bepler, in Verhandlungen des 70. DJT, Band I, 2014, S. B53 ff.; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, S. 232 f.; Däubler, NZA 1996, 225 (227); ErfK/Franzen, 21. Auflage, 2021, § 3 TVG Rn. 27; ders., NZA-Beilage 2017, 66 (68 f.); Henssler, in: FS Picker, 2010, S. 987 (1004); ders., RdA 2021, 1 (4); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2175); ders., Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 391 ff.; Lieb, NZA 1994, 337; Lobinger, JZ 2013, 915; Löwisch/Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, § 3 Rn. 272 ff.; Wiedemann, RdA 1997, 297 (298); a. A. Deinert/Walser, AuR 2015, 386 (389 f.). 52  BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 Rn. 35 ff. 53  Vgl. nur BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281 Rn. 45; BVerfG v. 3.7.2000 – 1 BvR 945/00, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 36. 54  Franzen, NZA-Beilage 2017, 66 (68); ders., in: FS Preis, 2021, S. 247 (251); Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 391.

402

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

beitgeber dies regelmäßig bereits vor seiner Beitrittsentscheidung bedenken wird, wirkt sich die eingeschränkte Ausstiegsoption vor allem auch auf die Entscheidung aus, dem Verband überhaupt (als Vollmitglied) beizutreten.55 Mit Blick auf die Folgen des Verbandsaustritts ist es daher nachvollziehbar, wenn Arbeitgeber lediglich die OT-Mitgliedschaft wählen oder dem Verband gänzlich fernbleiben. Aus der Verbandsaustrittsschranke wird so letztlich eine Verbandseintrittsbarriere.56 Im arbeitsrechtlichen Schrifttum werden bereits de lege lata verschiedene Ansätze einer zeitlichen Begrenzung der Nachbindung diskutiert.57 Überzeugend ist eine starre Höchstgrenze von fünf Jahren in Anlehnung an § 160 HGB58 bzw. § 624 BGB,59 die vom BAG allerdings nicht übernommen worden ist.60 Der Gesetzgeber könnte und sollte die negativen Anreizeffekte für die Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne größere Eingriffe in das Tarifvertragsrecht dadurch beseitigen, dass er diese Vorschläge aus dem Schrifttum aufgreift und die Dauer der Nachbindung des ausgetretenen oder in die OT-Mitgliedschaft gewechselten Arbeitgebers nach § 3 Abs. 3 TVG zeitlich entsprechend begrenzt.61

5.2.2  Ursachen auf Arbeitnehmerseite Die Ursachen für den rückläufigen Organisationsgrad auf Arbeitnehmerseite unterscheiden sich deutlich von denjenigen auf Arbeitgeberseite.62 Hier wird man unterscheiden müssen zwischen eher „weichen“ ideellen Faktoren, die sich aus tatsächlichen Umständen ergeben, und Fehlanreizen, die ihre Ursache im geltenden Recht haben.

55  Vgl.

auch Monopolkommission, XVIII. Hauptgutachten, 2008/2009, Nr. 931. RdA 2021, 1 (4); Lobinger, JZ 2013, 915 (924); dieser Umstand wird zu wenig beachtet von Deinert/Maksimek/Sutterer-Kipping, Die Rechtspolitik des Sozial- und Arbeitsrechts, 2020, S. 559 f. 57  Vgl. dazu ausführlich Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S.  395 ff. 58  Kittner, AuR 1998, 469 (471); Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S.  395 ff. 59  Däubler, NZA 1996, 225 (227); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 1968, S. 223. 60  BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 Rn. 35 ff. 61  So auch BDA, BT-Drucks. 19(11)1171, S. 6. 62  Ebenso Schlachter, SR 2020, 205 (206). 56  Henssler,



5.2 Ursachen403

5.2.2.1  Ideelle Ursachen Zu der ersten Gruppe zählt zunächst die Erosion der klassischen Gewerkschaftsmilieus. Über Jahrzehnte hinweg war es in industriellen Branchen Tradition, dass Arbeiter „von der Wiege bis zur Bahre“ Mitglied einer Industriegewerkschaft, häufig zugleich auch der SPD, waren. Die Gewerkschaften, aber auch die SPD, wurden auf diese Weise zu Massenorganisationen mit zum Teil Millionen von Mitgliedern.63 Mit dem Wegfall tradi­ tioneller Industriearbeitsplätze, dem Wandel der Arbeitswelt hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft, der durch die zunehmende Digitalisierung weiter beschleunigt wird, aber auch mit der Schaffung eines Niedriglohnsektors als ein – erfolgreiches – Instrument zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit im Zuge der „Agenda 2010“ haben sich diese günstigen Rahmenbedingungen für die Gewerkschaften grundlegend verschlechtert.64 Hinzu kommt ein keineswegs nur auf den Arbeitsmarkt und die Berufsvereinigungen beschränkter genereller Trend zur Individualisierung von Lebensentwürfen und ein Verlust der Bindewirkungen von Verbänden aller Art.65 Die jüngeren Alterskohorten bleiben nicht nur den Gewerkschaften fern, auch Parteien und Vereine haben teils erhebliche Probleme mit der Rekrutierung von Nachwuchs. So hat sich die Zahl der Mitglieder in ­deutschen Parteien von 2,4 Millionen im Jahr 1990 auf 1,2 Millionen im Jahr 2018 de facto halbiert.66 Das Durchschnittsalter liegt inzwischen bei 56 Jahren.67 Mit ähnlichen Problemen haben die Kirchen zu kämpfen, wenngleich hier spezifische Ursachen hinzutreten. Selbst existenzielle Themen wie der Kampf gegen den Klimawandel, der große Teile (mindestens) einer ganzen Generation inhaltlich zusammenführt, haben keinen Aufbau korporativer Strukturen in der jüngeren Alterskohorte zur Folge. Insgesamt ist es daher durchaus überzeugend, wenn man heute von einer „Gesellschaft der Singularitäten“ spricht.68 Diese ideellen Motive gegen ein Engagement in einer Gewerkschaft sind ohne jeden Zweifel zentrale Ursachen für die Rückläufigkeit des Organisa63  Die IG Metall hatte 1992 fast 3,4 Millionen (2020 noch gut 2,2 Millionen), die SPD 1976 über eine Million Mitglieder (2020 noch ca. 404.000). 64  Ebenso Waltermann, ZFA 2020, 211 (215); Henssler, RdA 2021, 1 (2); vgl. dazu auch oben 4.4.9.3. 65  Henssler, RdA 2021, 1 (2). 66  Seit 1990 sinkt die Mitgliederquote in Parteien kontinuierlich (mit einer Ausnahme im Jahr 2017); vgl. dazu im Einzelnen Niedermayer, ZParl 49 (2018), 346. 67  Vgl. Niedermayer, ZParl 49 (2018), 346. 68  Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017; Waltermann, ZFA 2020, 211 (216).

404

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

tionsgrads auf Arbeitnehmerseite. Zugleich sind sie staatlichen Maßnahmen von vornherein entzogen. Es ist die Aufgabe der Gewerkschaften selbst, dafür zu sorgen, dass sie als Organisationen lebendig bleiben und insgesamt für – insbesondere jüngere und weibliche – Mitglieder attraktiv sind.69 Es ist schlicht nicht vorstellbar, mit welchen Maßnahmen der Staat effektiv dazu beitragen könnte, ideelle Anreize für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft zu schaffen. Im Gegenteil würde sich jeder Zwang kontraproduktiv auf die Identifizierung von Arbeitnehmern mit der Gewerkschaft auswirken.70 Die Verantwortung für die Attraktivität der Verbände und damit zugleich für die Attraktivität der Tarifbindung liegt daher in allererster L ­ inie bei den Verbänden selbst.71 Das gilt für die Arbeitgeber- wie für die Arbeitnehmerseite. Da die Tarifautonomie durchsetzungsstarke Gewerkschaften als kollektive Gegenmacht zu der strukturell stärkeren Verhandlungsposition der Arbeitgeberseite voraussetzt,72 sind es aber vor allem die Gewerkschaften, die für die Zukunft der Tarifautonomie von entscheidender Bedeutung sind.73 5.2.2.2  Materielle Ursachen Ideelle Motive sind allerdings nicht die einzigen Umstände, die für die Entscheidung über den Gewerkschaftsbeitritt relevant sind. Daneben gibt es wirtschaftliche Erwägungen, die den Arbeitnehmer veranlassen können, nicht Mitglied einer Gewerkschaft zu sein. Schon ältere Untersuchungen haben gezeigt, dass wirtschaftliche Motive für Arbeitnehmer durchaus eine Rolle bei der Entscheidung für oder gegen die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft spielen können. So gaben in einer Befragung von ehemaligen Gewerkschaftsmitgliedern 40 Prozent der Arbeitnehmer als Hauptmotiv für ihren Austritt an, dass die Mitgliedschaft ihnen keinen Nutzen gebracht hätte; 33 Prozent der Befragten nannten als Beweggrund, dass ihnen die Mitgliedschaft zu teuer gewesen sei.74 Je jünger die Befragten waren, desto dominanter war der ökonomische Faktor und desto weniger ausgezutreffend Rudkowski, NZA 2021, 315 (318). RdA 2021, 1 (2). 71  Ebenso Waltermann, ZFA 2020, 211 (216); vgl. auch BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86 u. a., NZA 1995, 754 (756). 72  Vgl. nur BVerfG 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, BVerfGE 88, 103 (114); ErfK/ Linsenmaier, 21. Auflage, 2021, Art. 9 GG, Rn. 19 f. 73  Franzen, NZA-Beilage 2017, 66 (71); ders., in: FS Preis, 2021, S. 247 (250); Hartmann, ZFA 2020, 152 (164); Höpfner, ZFA 2020, 178 (210); Waltermann, ZFA 2020, 211 (217); Schlachter, SR 2020, 205 (205 f.); vgl. auch oben 4.4.9.1. 74  van de Vall, Gewerkschaften im Wohlfahrtsstaat, 1966, S. 179, 181. 69  Insoweit

70  Henssler,



5.2 Ursachen405

prägt war das ideelle Zugehörigkeitsgefühl.75 Gefördert werden solche Kosten-Nutzen-Abwägungen zudem durch eine sichere Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb.76 Ein ähnliches Bild ergab eine vom DGB in Auftrag gegebene „Motivanalyse“ von 1970, nach der für 34 Prozent der befragten ehemaligen Gewerkschaftsmitglieder die Höhe des Mitgliedsbeitrags eine Rolle für den Austritt gespielt hat.77 Aktuelle Studien zu möglichen Austrittsmotiven gibt es nicht. Zwar stimmte nach dem ALLBUS 2016 eine große Mehrheit von 70 Prozent der Beschäftigten der Aussage zu, dass es starker Gewerkschaften bedarf; gleichwohl gaben nur 18,5 Prozent an, Mitglied einer Gewerkschaft zu sein.78 Da die ideelle Verbundenheit der Arbeitnehmer mit den Gewerkschaften offenbar immer weiter abnimmt, liegt es daher durchaus nahe, davon auszugehen, dass die Bedeutung rational-ökonomischer Faktoren für und gegen die Gewerkschaftszugehörigkeit seither eher gestiegen als gesunken ist. Auch wenn finanzielle Motive sicher nicht das allein maßgebende Kriterium für die Entscheidung über die Gewerkschaftszugehörigkeit sind,79 dürfen sie jedoch auch nicht vernachlässigt werden. Blickt man nicht nur auf die rechtlichen Rahmenbedingungen des TVG, sondern erfasst die tatsächliche Situation der Tarifautonomie und Tarifgeltung in Deutschland, muss man feststellen, dass die geltende Rechtsordnung nicht nur keinen Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt bietet, sondern im Gegenteil sogar eine Partizipation von Außenseitern an Tarifverträgen ermöglicht, ohne dass diese dafür einen Gewerkschaftsbeitrag entrichten müssen.80 Der Grund hierfür ist die flächendeckende Verwendung von Bezugnahmeklauseln in den Betrieben tarifgebundener Arbeitgeber. Die auf der Privatautonomie der Arbeitsvertragsparteien gegründete Vertragspraxis wird sogar als ein „Killer der Tarifbindung“ bezeichnet.81 Dabei spielt es gar keine Rolle, aus welchen Motiven der tarifgebundene Arbeitgeber in seinen Formulararbeitsverträgen Bezugnahmeklauseln verwendet. So mag er hiermit lediglich aus organisatorischen Gründen oder zur Vermeidung einer ZweiKlassen-Gesellschaft mit entsprechenden Gefahren für das Betriebsklima eine einheitliche Tarifanwendung im Betrieb sicherstellen wollen, da er bei der Einstellung nicht nach der Gewerkschaftszugehörigkeit des Arbeitnehvan de Vall, Gewerkschaften im Wohlfahrtsstaat, 1966, S. 128 f. de Vall, Gewerkschaften im Wohlfahrtsstaat, 1966, S. 183. 77  Nickel, Arbeiterschaft und Gewerkschaft, 1972, S. 190. 78  Schneider, Gewerkschaften – ja bitte, aber ohne mich!, 2018, S. 2 f. 79  Vgl. auch Schlachter, SR 2020, 205 (207). 80  Das wird völlig verkannt von Rudkowski, NZA 2021, 315. 81  So plakativ Waltermann, ZFA 2020, 211 (213); vgl. auch Franzen, in: FS Preis, 2021, S. 247 (248). 75  Vgl. 76  van

406

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

mers fragen darf. Möglicherweise setzt er Bezugnahmeklauseln auch gezielt dazu ein, den Arbeitnehmer vom Gewerkschaftsbeitritt abzuhalten. Auch dieses Motiv ist von der Rechtsordnung gedeckt. Für die Attraktivität der Gewerkschaftsmitgliedschaft spielt die Motivation des Arbeitgebers keine Rolle. Aus Sicht des Arbeitnehmers ist allein entscheidend, dass er über die arbeitsvertragliche Verweisung in den Genuss sämtlicher tarifvertraglicher Vorteile kommt, die nach dem in den §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG verankerten Grundkonzept des deutschen Tarifvertragsrechts normativ allein den Gewerkschaftsmitgliedern vorbehalten sind. In den meisten größeren Gewerkschaften liegt der Beitrag für aktive Mitglieder bei 1 Prozent des Bruttoeinkommens oder minimal darüber.82 Für einen rational kalkulierenden Arbeitnehmer, der nicht ohnehin aus ideeller Verbundenheit Gewerkschaftsmitglied ist, gibt es daher nur eine vernünftige Entscheidung: Weshalb sollte er die Tarifgeltung durch Mitgliedschaft in der Gewerkschaft „kaufen“, wenn er sie doch vom Arbeitgeber geschenkt bekommt?83 Den Kosten der Gewerkschaftsmitgliedschaft steht für den ohnehin kraft arbeitsvertraglicher Verweisung am Tarifvertrag partizipierenden Arbeitnehmer kein entsprechender Mehrwert gegenüber. Die übrigen Leistungen der Gewerkschaft wie Rechtsberatung, Prozessvertretung oder Streikunterstützung genügen hierfür offensichtlich nicht.84 Die weitere Konsequenz daraus ist, dass selbst die größten tariflichen Verhandlungserfolge keinen Werbeeffekt für die Gewerkschaft auslösen können, weil auch die Außenseiter über die Inbezugnahme des Tarifvertrags in gleicher Weise daran partizipieren. Versuche der Gewerkschaften, diesem Nivellierungseffekt mittels tariflicher Differenzierungsklauseln entgegenzutreten, sind weitgehend gescheitert, da solche nach Mitgliedschaft differenzierenden Klauseln nur in engen Grenzen rechtlich zulässig sind, nämlich wenn sie die Privatautonomie der Arbeitsvertragsparteien nicht einschränken.85 Die Tarifpolitik der Gewerkschaft mag daher noch so erfolgreich sein. Weil die Leistungen nicht exklusiv den Mitgliedern vorbehalten werden können, profitieren die Außenseiter kraft Bezugnah82  Etwa bei IG Metall, NGG, EVG, ver.di (Monatsbeitrag von jeweils 1 Prozent des Bruttomonatslohns), IG BCE (in fast allen Fällen etwas über 1 Prozent mit Ausnahme der Beschäftigten mit einem Monatslohn bis zu 600 Euro) und IG BAU (1,15 Prozent des Bruttoeinkommens). 83  Vgl. prägnant Hanau, Diskussionsbeitrag in Verhandlungen des 70. DJT, Band II/2, 2014, S. K162: „[D]ie Gewerkschaft [ist] in der Lage eines Verkäufers, der einem Teil der Interessenten sein Produkt verkauft und dem anderen muss er es schenken. Das Geschäft wird nicht besonders laufen.“ 84  Vgl. auch unten 5.4.7. 85  Vgl. unten 5.4.9.



5.2 Ursachen407

meklausel stets in gleichem Maße. Tarifverträge verlieren auf diese Weise ihre Anziehungskraft auf potenzielle Neumitglieder. Vom wichtigsten Handlungsinstrument der Gewerkschaften geht somit keine Strahlkraft und letztlich auch kein Werbeeffekt aus. Darin, dass die Wirkungen der Inbezugnahme von Tarifverträgen zu wenig berücksichtigt werden, liegt ein struktureller Fehler im System der deutschen Tarifautonomie. Die Folge dieser Fehlsteuerung ist, dass Gewerkschaften in jüngerer Zeit auf alternative Konzepte ausweichen, die unter dem Schlagwort „Organisieren am Konflikt“ zusammengefasst werden.86 Dabei handelt es sich um „Organizing-Kampagnen“, die – nach dem Vorbild von Organizing-Strategien US-amerikanischer Gewerkschaften – bewusst bestehende Konflikte zwischen Arbeitgebern und der Belegschaft ausnutzen oder solche Konflikte gar erst schüren,87 um auf diese Weise – durchaus mit Erfolg – Mitglieder in diesem Betrieb oder Unternehmen zu rekrutieren, gewerkschaftliche Arbeitnehmervertretungen zu installieren und Tarifverträge abzuschließen.88 In der Metall- und Elektro-Industrie lässt sich auf Verbands­ ebene auch der „Tagesstreik“ dem Komplex „Organisieren am Konflikt“ zurechnen. Den Tagesstreik hat die IG Metall auf ihrem 23. Gewerkschaftstag 2015 als eine gänzlich neue Form des verhandlungsbegleitenden Streiks ins Leben gerufen, um während laufender Verhandlungen flexibler und für die Arbeitgeber weniger berechenbar agieren zu können. Die Gewerkschaft hebt dabei die verbandspolitischen Vorzüge, die sie sich von Tagesstreiks verspricht, besonders hervor. So heißt es in den Beschlüssen ausdrücklich, dass sich dieses Konzept „positiv auf die organisationspolitische Entwicklung der IG Metall auswirken“ und „die organisationspolitische Bindung aller Beteiligten stärken“ werde.89 Das mit den Tagesstreiks verfolgte verbandspolitische Ziel der Mitgliederbindung und -re­krutierung wurde dann auch in der Tarifrunde 2018 deutlich, als die Gewerkschaft zu einem Zeitpunkt, zu dem über die wesentlichen Eckpunkte des Tarifkonflikts bereits Einigkeit erzielt worden war, zu einer dreitägigen Welle von Tagesstreiks aufgerufen hat, die einen erheblichen Arbeitsausfall und massivste Schäden auf Arbeitgeberseite verursacht haben. Insgesamt kann man 86  Vgl. Kocsis/Sterkel/Wiedemuth (Hrsg.), Organisieren am Konflikt, 2013; Schreieder, Organizing – Gewerkschaft als soziale Bewegung, 2005; Schmalstieg, Gewerkschaften und die Politik der Erneuerung, 2010, S. 207 ff. 87  So ausdrücklich Schreieder, Organizing – Gewerkschaft als soziale Bewegung, 2005, S. 31 unter „Step 8“. 88  Vgl. dazu auch 4.4.9.1. 89  Vgl. die Beschlüsse des 23. Ordentlichen Gewerkschaftstages der IG Metall in Frankfurt, 2015, S. 242, http://igm-gewerkschaftstag-2015.de/wordpress/wp-content/ uploads/2016/01/IGMetall_Beschlussbroschuere_23GT.pdf (29.7.2021).

408

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

die Strategie des „Organisierens am Konflikt“ auch als eine Reaktion auf die fehlende Zugkraft von Tarifabschlüssen für die Gewinnung neuer Mitglieder verstehen.

5.3 Reaktionsmöglichkeiten 5.3.1 Überblick Der rückläufige Organisationsgrad auf Arbeitnehmer- wie auf Arbeitgeberseite und die damit verbundenen Gefahren für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie beschäftigen nicht nur die Arbeitsrechtswissenschaft und den Deutschen Juristentag, sie sind längst auch in den Fokus der Politik gerückt.90 So ist am 16. August 2014 das sog. Tarifautonomiestärkungsgesetz in Kraft getreten.91 Durch das Gesetz wurde § 5 TVG geändert und es wurden die Anforderungen an die Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen herabgesetzt. Zugleich erweiterte es die Möglichkeiten zur Tarifnormerstreckung nach dem AEntG. Nicht zuletzt war das MiLoG Bestandteil des Tarifautonomiestärkungsgesetzes. Ohne auf Detailfragen einzugehen, fällt auf, dass Maßnahmen zur Stärkung der Tarif-„Autonomie“, also zur Steigerung der Attraktivität der Mitgliedschaft in den tarifschließenden Koalitionen, nicht Bestandteil des Gesetzes waren. Stattdessen förderte der Gesetzgeber die Tarifgeltung in der Breite ohne oder sogar gegen den Willen der betroffenen Arbeitsvertragsparteien. Man setzte also nicht an den Ursachen, sondern lediglich an den Symptomen an und wollte die Schwäche der Tarifautonomie mit einer staatlich begründeten zwangsweisen Tarifgeltung kompensieren.92 Jedem mit dem Tarifvertragsrecht Vertrauten musste von vornherein klar sein, dass der Gesetzgeber den in der Gesetzesbezeichnung prominent verankerten Zweck der Stärkung der Tarifautonomie verfehlen musste, wie dies dann auch geschehen ist.93 Die Politik hat es denn auch nicht beim Tarifautonomiestärkungsgesetz bewenden lassen, sondern seitdem weitere Maßnahmen entweder bereits ergriffen oder zumindest politisch ins Auge gefasst.94 So sind weitere Er-

90  Vgl.

dazu bereits oben 4.4.9.2. zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) vom 11.8.2014, BGBl. 2014 I, S. 1348. 92  Franzen, NZA-Beilage 2017, 66 (71); Henssler, RdA 2021, 1 (8); vgl. auch oben 4.4.9. 93  So auch Henssler, RdA 2021, 1 (6). 94  Vgl. dazu auch 4.4.9.2. 91  Gesetz



5.3 Reaktionsmöglichkeiten409

leichterungen der Allgemeinverbindlicherklärungen in der Diskussion.95 Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) will „prüfen, wie bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses an der allgemeinen Verbindlichkeit eines Tarifvertrags im Einvernehmen mit den Sozialpartnern der betreffenden Branche sichergestellt werden kann, dass das Instrumentarium zur Allgemeinverbindlicherklärung auch wirksam genutzt werden kann“.96 Eine weitere Maßnahme, die fast alle Länder (mit Ausnahme von Bayern und Sachsen) bereits umgesetzt haben,97 nun aber auch vom Bund ins Auge gefasst wird, ist die Einführung einer Tariftreueregelung, wie sie erstmals bereits 1913 gefordert wurde.98 Das BMAS und das Bundesministerium für Finanzen (BMF) setzen sich für eine Tariftreueregelung auf Bundesebene ein, die Unternehmen, die sich für öffentliche Aufträge des Bundes bewerben, dazu verpflichten soll, nach Tarif zu zahlen und tarifvertragliche Bestimmungen einzuhalten.99 Darüber hinaus hat die Politik das tarifdispositive Gesetzesrecht als In­ strument zur Steigerung der Organisationsrate auf Arbeitgeberseite diskutiert. Dabei will man die Tarifdispositivität arbeitnehmerschützender Gesetze auf die Fälle der normativen Tarifgeltung beschränken.100 Dem Außenseiter-Arbeitgeber ist es dann verwehrt, durch arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einen vom Gesetz abweichenden Tarifvertrag zuungunsten des Arbeitnehmers vom gesetzlichen Schutzniveau abzuweichen. Will der Arbeitgeber an der Tarifdispositivität partizipieren, bleibt ihm nur der Weg über den Beitritt in den Arbeitgeberverband. Im Weißbuch Arbeiten 4.0 spricht das BMAS explizit von „Anreizen“ und „Instrumenten“ für mehr Tarifbindung, die „als wichtige Voraussetzung für neue Flexibilitätskompromisse“ einem „Erosionsprozess“ entgegenwirken sollen.101 Mit der Überlassungshöchstdauer nach § 1 Abs. 1b AÜG, der Brückenteilzeit nach § 9a TzBfG sowie dem tarifdispositiven Verbot des Fremdpersonaleinsat-

95  Vgl. die Entschließung „Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie und Tarifbindung stärken“ des Bundesrats vom 7.6.2019, BR-Drucks. 212/19(B); dazu auch 4.4.9.2. 96  BMAS, Handlungsempfehlungen Neue Arbeit, 2019, S. 30; SPD, Sozialstaatskonzept, 2019, S. 5; vgl. dazu unten 5.4.1. 97  Vgl. dazu unten 5.4.2. 98  Vgl. dazu Krüger, Das Stinnes-Legien-Abkommen 1918–1924, 2018, S. 47. 99  BMF/BMAS, Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung, 2021, S. 4 f.; BMAS, Handlungsempfehlungen Neue Arbeit, 2019, S. 13; vgl. auch SPD, Sozialstaatskonzept, 2019, S. 5. 100  Vgl. dazu unten 5.4.5. 101  BMAS, Weißbuch Arbeiten 4.0, 2017, S. 13, 192.

410

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

zes in der Fleischwirtschaft nach § 6a Abs. 3 GSA Fleisch wurde diese Strategie bereits punktuell umgesetzt.102 Das BMAS und das BMF planen darüber hinaus jedoch, dass generell nur noch Arbeitgeber, die nach § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden sind, durch Tarifvertrag von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichen dürfen.103 Weitere Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft, über die aktuell diskutiert wird, sind eine erleichterte steuer­ liche Absetzbarkeit des Gewerkschaftsbeitrags,104 eine steuerliche Privi­ legierung des „tarifgebundenen“ Arbeitsentgelts105 sowie die Einführung von Solidaritätsbeiträgen für Außenseiter-Arbeitnehmer, die über eine Bezugnahmeklausel am Tarifvertrag partizipieren, nach dem Vorbild des schweizerischen Arbeitsrechts.106 Vorgeschlagen wird zudem, § 3 Abs. 1 TVG dahingehend zu ändern, dass tarifgebunden nur ist, wer bereits bei Inkrafttreten des Tarifvertrags Mitglied im tarifschließenden Verband ist.107 Schließlich gibt es Stimmen, welche die Möglichkeit von Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen – insbesondere durch die gesetzliche Zulassung von Spannenklauseln – erweitern108 oder die Zulässigkeit der OTMitgliedschaft einschränken wollen.109 In den Programmen der derzeit im Bundestag vertretenen Parteien für die Bundestagswahl 2021110 finden sich vor allem Forderungen nach einer (weiteren) Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifver-

102  Vgl. dazu unten 5.4.5; ferner Franzen, ZFA 2016, 25; Henssler, RdA 2021, 1 (6); Höpfner, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privilegierung tarifgebundener Arbeitgeber, 2019, S. 28 ff.; Kingreen, NZA 2021, 1; Waltermann, ZFA 2020, 211 (222 ff.); Deinert/Maksimek/Sutterer-Kipping, Die Rechtspolitik des Sozial- und Arbeitsrechts, 2020, S. 553 ff. 103  BMF/BMAS, Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung, 2021, S. 7. 104  Franzen, Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt, 2018, S.  35 ff.; Waltermann, ZFA 2020, 211 (225 f.); vgl. dazu unten 5.4.6. 105  Franzen, Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt, 2018, S.  56 ff.; Hopfner, Diskussionsbeitrag in Verhandlungen des 70. DJT, Band II/2, 2014, S. K163; Waltermann, ZFA 2020, 211 (226 f.); dazu ebenfalls unten 5.4.6. 106  Höpfner, ZFA 2020, 178; vgl. dazu unten 5.4.7. 107  Hartmann, ZFA 2020, 152; vgl. dazu unten 5.4.8. 108  DGB, Positionen zur Stärkung der Tarifbindung, 2019, S. 3; ebenso Deinert/ Maksimek/Sutterer-Kipping, Die Rechtspolitik des Sozial- und Arbeitsrechts, 2020, S. 552 f.; vgl. dazu unten 5.4.9. 109  DGB, Positionen zur Stärkung der Tarifbindung, 2019, S. 3; vgl. dazu unten 5.4.3. 110  Vgl. dazu und zu weiteren politischen Vorschlägen auch 4.4.9.2.



5.3 Reaktionsmöglichkeiten411

trägen111 sowie nach der Schaffung eines Bundestariftreuegesetzes112 und weiterer Tariftreueregelungen, etwa in der Pflegebranche.113 Teilweise wird zudem gefordert, OT-Mitgliedschaften zurückzudrängen114 oder gar komplett abzuschaffen.115 Bereits dieser knappe Überblick zeigt, dass die Bandbreite der vorgeschlagenen Reaktionsmöglichkeiten auf den rückläufigen Organisationsgrad in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ganz erheblich ist. Das gemeinsame (Letzt-)Ziel aller Vorschläge ist die Ausweitung der Geltung tarifvertraglich vereinbarter Arbeitsbedingungen. Bei der Frage, auf welche Weise dieses Ziel erreicht werden soll, gibt es allerdings gravierende Unterschiede. Bei genauer Betrachtung lassen sich die Vorschläge typologisch in zwei Gruppen einteilen:

5.3.2  Maßnahmen zur Ausweitung der Tarifgeltung Bei der ersten Gruppe handelt es sich um solche Maßnahmen, die unmittelbar an der Tarifgeltung ansetzen.116 Grundlage der Tarifgeltung ist dabei ein hoheitlicher Akt, der eine zwangsweise, vom Willen der Parteien unabhängige Geltung der Tarifnormen in Arbeitsverhältnissen, bei denen eine oder beide Vertragsparteien nicht nach § 3 TVG tarifgebunden sind, zur Folge hat. Der paradigmatische Fall hierfür ist die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, bei der die Tarifgeltung in Außenseiter-­ Arbeitsverhältnissen hoheitlich begründet wird.

111  CDU/CSU, Das Programm für Stabilität und Erneuerung. Gemeinsam für ein modernes Deutschland, 2021, S. 38; Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland. Alles ist drin., 2021, S. 57, 59; SPD, Aus Respekt vor Deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm, 2021, S. 27 f.; Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 9, 16, 32, 51. 112  Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland. Alles ist drin., 2021, S. 57; SPD, Aus Respekt vor Deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm, 2021, S. 19; Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 17. 113  Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland. Alles ist drin., 2021, S. 10, 68; SPD, Aus Respekt vor Deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm, 2021, S. 11, 35; Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 12, 80, 110. 114  SPD, Aus Respekt vor Deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm, 2021, S. 27. 115  Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 22. 116  Deutlich kommt dies zum Ausdruck bei Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 16, wonach „Tarifverträge in ihrer Reichweite“ zu stärken seien.

412

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

Zu dieser ersten Gruppe zählen aber auch Maßnahmen, die zwar selbst nicht zwangsweise die Tarifgeltung begründen, die jedoch durch eine wirtschaftliche Benachteiligung von Außenseitern wirtschaftlichen Druck auf Arbeitgeber aufbauen, sich der Tarifbindung zu unterwerfen, indem sie in den Verband eintreten, einen Firmentarifvertrag abschließen oder – über Bezugnahmeklauseln oder auf andere Weise – schlicht ihren Arbeitnehmern tarifliche Arbeitsbedingungen gewähren. Beispielhaft hierfür stehen Tariftreueregelungen, welche die Vergabe öffentlicher Aufträge auf solche Arbeitgeber beschränken, in deren Unternehmen tarifliche Arbeitsbedingungen gelten. Auch Einschränkungen der Zulässigkeit von OT-Mitgliedschaften kann man zu dieser Gruppe zählen, da auch sie das Ziel haben, Arbeitgeber, die sich der tariflichen Normsetzungsmacht des Verbands nicht (mehr) unterworfen haben, an Verbandstarifverträge zu binden. Das gemeinsame Kennzeichen der Maßnahmen dieser ersten Gruppe ist, dass es dabei nicht um eine Stärkung der freiwilligen Tarifbindung geht. Vielmehr wird den Außenseitern die Tarifgeltung zwangsweise aufoktroyiert oder es wird Druck auf sie ausgeübt, dass sie, wenn sie schon nicht Mitglied einer tariffähigen Koalition sind, Tarifverträge zumindest faktisch anwenden. Mit Tarifautonomie hat all das nichts zu tun.117 Es ist ein reiner Euphemismus, die 2014 eingeführten Erleichterungen der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG sowie der Tarifnormerstreckung nach dem AEntG als „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ zu bezeichnen. Zwang war noch nie geeignet, die Autonomie des Adressaten zu stärken, im Gegenteil: Durch die zwangsweise Geltung von Tarifverträgen auch für Außenseiter-Arbeitnehmer wird ein weiterer Anreiz für diese Gruppe gesetzt, nicht in die Gewerkschaft einzutreten. Es gelten hier dieselben Grundsätze, die oben bereits bei der Inbezugnahme von Tarifverträgen herausgearbeitet wurden: Wenn der Staat dem Arbeitnehmer die Tarifgeltung – in diesem Fall durch Allgemeinverbindlicherklärung – „schenkt“, entwertet er die wesentliche Leistung der Gewerkschaften für ihre Mitglieder und setzt damit einen erheblichen Negativanreiz zum Beitritt.118 Auf Seiten der Arbeitgeber führt die zwangsweise Tarifunterwerfung zwar nicht in gleichem Maße zu Negativanreizen. Der Arbeitgeber, der Einfluss auf den Inhalt des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags nehmen will, kann dies nur als Verbandsmitglied, sodass die Allgemeinverbindlicherklärung auf Arbeitgeberseite sogar Beitrittsanreize setzen mag. Unter der Ausübung 117  Unzutreffend Deinert/Maksimek/Sutterer-Kipping, Die Rechtspolitik des Sozial- und Arbeitsrechts, 2020, S. 548 f., 556 f.; Deinert, SR Sonderausgabe Mai 2017, 24 (27). 118  Vgl. auch Hartmann, ZFA 2020, 152 (167).



5.3 Reaktionsmöglichkeiten413

von Zwang nimmt allerdings – und das ist der wesentlich problematischere Aspekt – die Akzeptanz für die Tarifautonomie insgesamt Schaden.

5.3.3  Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie Gerade in jüngerer Zeit werden daher vermehrt Lösungsansätze entwickelt, die nicht unmittelbar bei der Ausweitung der Tarifgeltung ansetzen, sondern versuchen, die Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft wieder zu erhöhen. Nur bei dieser zweiten Gruppe handelt es sich tatsächlich um Modelle einer Stärkung der Tarif-„Autonomie“. Das gemeinsame Ziel dieser Ansätze ist es, die privatautonom durch Mitgliedschaft in der Koalition119 legitimierte Tarifbindung zu stärken und auf diese Weise die Tarifautonomie als freiheitlich-marktwirtschaftliche Alternative zu einer staat­ lichen Zwangsregelung von Lohn- und Arbeitsbedingungen zu erhalten. Man muss diese Vorschläge als Reaktion auf die untauglichen gesetzgeberischen Maßnahmen der letzten Jahre verstehen.120 Sie sind geleitet von der Erkenntnis, dass der Staat in immer stärkerem Maße die Bedingungen auf dem Ar­ beitsmarkt hoheitlich festsetzen wird, wenn es nicht gelingt, die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhende Tarifautonomie zu stabilisieren. Dabei kann die Zielvorstellung selbstverständlich nicht sein, eine Tarifbindung von 100 Prozent oder auch nur einem annährend so hohen Wert zu erreichen. Die historische Entwicklung hat vielmehr gezeigt, dass in Deutschland zu keinem Zeitpunkt, nicht einmal in den 1950er Jahren, die mitgliedschaftlich-autonom legitimierte Tarifbindung auf Arbeitnehmerseite über 50 Prozent lag. In einem liberalen Tarifvertragsmodell, das die Tarifgeltung im Grundsatz von der freiwilligen Mitgliedschaft von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den tarifschließenden Verbänden abhängig macht, wäre es daher völlig illusorisch, eine normative Tarifgeltung kraft beiderseitiger Verbandsmitgliedschaft in der Mehrheit aller Arbeitsverhältnisse erreichen zu wollen. Gleichwohl ist der Rückgang der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifgeltung in Deutschland besorgniserregend, und es gilt, die weißen Flecken, die es – jenseits der funktionierenden Sozialpartnerschaften in Branchen wie der Metall- und Elektro-Industrie oder der chemischen Industrie – bereits heute in einigen Wirtschaftszeigen in der Tariflandschaft gibt, wieder auszufüllen. So waren im Jahr 2020 in der Informations- und Kommunikationsbranche nur 3 Prozent der Betriebe tarifgebunden, und auch in den Bereichen Großhandel, Kfz-Handel, Einzelhandel, Verkehr und Lagerei sowie freiberufliche, wirtschaftliche und wissenschaftliche Dienstleistun119  Oder 120  Vgl.

auf Arbeitgeberseite durch Abschluss von Firmentarifverträgen. dazu auch 4.4.9.2.

414

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

gen lag die Tarifbindung jeweils bei unter 20 Prozent.121 Gerade die Beispiele des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns und der branchenunabhängigen Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung zeigen deutlich, dass der Staat, wenn er einmal ein Funktionsdefizit der Tarifautonomie erkannt hat, typischerweise nicht branchenabhängig reagiert, sondern Zwangsinstrumente für den gesamten Arbeitsmarkt und damit auch für solche Branchen schafft, in denen es weiterhin starke Gewerkschaften und eine lebendige Tarifautonomie gibt. Auch ist die Annahme illusorisch, dass der Staat einmal eingeführte Zwangsinstrumente wieder aufgibt. Die Maßnahmen, die zu dieser zweiten Gruppe zu zählen sind, können allerdings eine ganz unterschiedliche Intensität und Eingriffstiefe aufweisen. Es gibt Regelungsvorschläge, bei denen es lediglich darum geht, die bestehenden Negativanreize zum Beitritt abzumildern oder zu beseitigen.122 Diese gefährden die Tarifautonomie nicht, sondern setzen im Gegenteil Rahmenbedingungen fest, um überhaupt erst eine autonome Entscheidung über die Koalitionsmitgliedschaft zu ermöglichen. In diese Richtung zielen etwa die vereinfachte Absetzbarkeit von Gewerkschaftsbeiträgen im Rahmen der Einkommensteuererklärung oder der Solidaritätsbeitrag, den der Außenseiter-Arbeitnehmer als „Nutzungsentgelt“ zu entrichten hat, wenn er an einem Tarifvertrag wie ein Gewerkschaftsmitglied partizipiert. Daneben gibt es aber auch Ansätze, die über die Beseitigung der wirtschaftlichen Vorteile von Außenseitern hinausgehen und – typischerweise auf Arbeitgeberseite – so erheblichen wirtschaftlichen Druck aufbauen, dass sie sich eng an der Schwelle zu den zwangsweisen Regelungsmodellen der ersten Gruppe bewegen. Diese Regelungsmodelle sind wesentlich problematischer, weil die Gefahr besteht, dass die Entscheidung über die Eingehung einer Tarifbindung, sei es durch Verbandsbeitritt, sei es durch Abschluss eines Firmentarifvertrags, nicht mehr autonom getroffen wird, sondern wegen des wirtschaftlichen Drucks letztlich fremdbestimmt ist. Dazu zählt etwa die Beschränkung der Tarifdispositivität arbeitnehmerschützender Gesetze auf normativ tarifgebundene Arbeitgeber. Wenn selbst dem Außenseiter-Arbeitgeber, der über Bezugnahmeklauseln all seinen Arbeitnehmern tarifliche Arbeitsbedingungen gewährt, eine Abweichung von tarifdispositivem Gesetzesrecht versperrt ist, wird ein Druck zum Beitritt in den Arbeitgeberverband ausgeübt, der – abhängig von der Bedeutung der nur eingeschränkt tarifdispositiv ausgestalteten Regelung(en) – so erheblich sein kann, dass davon ein faktischer Zwang zur Mitgliedschaft ausgeht. 121  Vgl. IAB, Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung 2020, Tabelle 3, http://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/Daten_zur_Tarifbindung.xlsx (29.7.2021). 122  So auch Hartmann, ZFA 2020, 152 (153); Schlachter, SR 2020, 205 (207).



5.4  Einzelne Maßnahmen415 Tabelle 15 Vorschläge zur Steigerung der Tarifbindung und der Tarifgeltung Vorschläge für mehr Tarifbindung: Anreize zum Koalitionsbeitritt

Arbeitgeber

Arbeitnehmer

Staat

x

x

Steuerliche Privilegierung der Gewerkschaftsmitgliedsbeiträge

x

x

Solidaritätsbeiträge von Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern

x

Ausweitung von Differenzierungsklauseln

x

„Genter System“: Gewerkschaft als Träger der Arbeitslosenversicherung Einschränkung der Tarifdispositivität: für tarif­ ungebundene Arbeitgeber

Begrenzung der Nachbindung

x

x

Vorschläge für mehr Tarifgeltung Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung

x

x

x

Tarifnormerstreckung nach dem AEntG

x

x

x

Einschränkung der Zulässigkeit von OT‑Mitgliedschaften

x

Tariftreueregelungen

x

x

x

Arbeitgeber und Arbeitnehmer: unmittelbare Betroffenheit von der Maßnahme; Staat: Akteur der Maßnahme über Gesetzgebung hinausgehend. Quelle: eigene Darstellung.

5.4  Einzelne Maßnahmen 5.4.1  Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung Die erste Maßnahme, die von der Politik und – obwohl dies den eigenen Interessen diametral zuwiderlaufen müsste – auch von Seiten der Gewerkschaften123 fast schon reflexartig genannt wird, wenn es um die Stärkung 123  Vgl. DGB, Positionen zur Stärkung der Tarifbindung, 2019, S. 1 f.; ferner Hoffmann, WSI-Mitteilungen 71 (2018), 513 (516), der von der Politik eine „Kehrtwende hin zu einer flächendeckenden Tarifbindung durch eine Stärkung der Allgemeinverbindlicherklärung“ verlangt.

416

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

der Tarifautonomie geht, ist die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung. Die meisten größeren Parteien haben diese Forderung in ihr Wahlkampfprogramm für die Bundestagswahl 2021 aufgenommen. So will die CDU/CSU die Allgemeinverbindlicherklärung als Instrument „zur Erhöhung der Tarifgeltung in Branchen mit geringer Tarifbindung […] stär­ ken“.124 Auch die SPD will „die Möglichkeit vereinfachen, Tarifverträge für allgemein verbindlich zu erklären, damit sie für alle Beschäftigten und Arbeitgeber in einer Branche gelten“.125 Die Grünen wollen es „leichter machen, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, damit sie für alle in einer Branche gelten.“126 Gleiches gilt für die Linke: „Tarifbindung muss für alle Unternehmen und Branchen gelten. Dafür […] müssen Tarifverträge leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Letzteres muss auf Antrag einer Tarifvertragspartei möglich sein. Das Veto­recht der Arbeitgeber*innenseite im Tarifausschuss gehört abgeschafft, und es muss als ‚öffentliches Interesse‘ gelten, Tarifverträge in ihrer Reichweite zu stärken und einen Unterbietungswettbewerb zulasten von Löhnen und Arbeitsbedingungen zu verhindern. Per Rechtsverordnung gemäß Arbeitnehmer­ entsendegesetz sollen zudem auch in Tarifverträgen geregelte komplette Entgelttabellen auf nicht tarifgebundene Unternehmen erstreckt werden können. Alle – gegebenenfalls auch bloß für einen regionalen Geltungsbereich – für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge müssen zwingend auch für temporär nach Deutschland entsandte Beschäftigte gelten.“127 Von den derzeit im Bundestag vertretenen Parteien planen lediglich die FDP und die AfD keine weitere Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung. Dass es sich dabei in Wahrheit gerade nicht um ein Instrument zur Stärkung der Tarifautonomie handelt, wurde bereits dargelegt. Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen führt zwar zu einer Ausweitung der Tarifgeltung. Diese gründet aber gerade nicht auf einer privatautonomen Legitimation durch Mitgliedschaft in der Koalition. Es handelt sich vielmehr um eine staatlich oktroyierte Tarifherrschaft und damit letztlich um eine zwangsweise Ordnung des Arbeitsmarkts.128

124  CDU/CSU, Das Programm für Stabilität und Erneuerung. Gemeinsam für ein modernes Deutschland, 2021, S. 38. 125  SPD, Aus Respekt vor Deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm, 2021, S. 27. 126  Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland. Alles ist drin., 2021, S. 57. 127  Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 16. 128  Zutreffend Ch. Picker, RdA 2014, 25 (36).



5.4  Einzelne Maßnahmen417

Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen kann eine sinnvolle, mit dem Verständnis der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie vereinbare Funktion haben, wenn sie die Mehrheit der tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vor einer Konkurrenz durch eine Minderheit von Außenseitern schützen will, die sich durch ein niedrigeres Lohnniveau auf dem Rücken der Arbeitnehmer Wettbewerbsvorteile gegenüber der tarifgebundenen Konkurrenz verschaffen. Diese wettbewerbsbeschränkende Funktion der Allgemeinverbindlicherklärung129 war überhaupt erst der Grund, weshalb der Gesetzgeber 1918 in § 2 TVVO die Möglichkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung aufgenommen hatte.130 Die Allgemeinverbindlicherklärung sollte verhindern, dass nicht organisierte Arbeitnehmer die organisierten durch deren Unterbietung schädigen.131 Gleiches gilt für das TVG. Vor allem das 50-Prozent-Quorum in § 5 TVG a. F., das auf Intervention der Militärregierung als weitere Voraussetzung neben dem öffentlichen Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung aufgenommen wurde,132 sollte sicherstellen, dass nicht die Minderheit vor der Mehrheit geschützt wird.133 Heute hat die Allgemeinverbindlicherklärung allerdings regelmäßig eine ganz andere Funktion. Es geht nicht oder zumindest nicht vorrangig um den Schutz der Tarifgebundenen vor Außenseiterkonkurrenz. Bezweckt ist vielmehr der Schutz der Außenseiter vor unangemessenen Arbeitsbedingungen.134 Die Allgemeinverbindlicherklärung verliert damit ihren Charakter als „Hilfe für den Tarifvertrag“. Sie ist kein Instrument zur Stärkung der Tarifautonomie, sondern ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, mit dem das BMAS Hand in Hand mit den Sozialpartnern den Arbeitsmarkt ordnen kann.135 Diesen Funktionswandel der Allgemeinverbindlicherklärung hat der Gesetzgeber mit angestoßen. Das TVG war noch keine drei Jahre in Kraft, da wurde bereits mit § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG eine Re129  Vgl. dazu ausführlich Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S.  466 ff., 472 ff. 130  Vgl. oben 3.1.3.3.3. 131  RG v. 30.6.1925 – III 371/24, RGZ 111, 166 (175); vor Inkrafttreten der TVVO bereits Schall, JherJb 52 (1907), 1 (124). 132  Vgl. oben 3.2.3.5. 133  Vgl. auch Jacobs, in: FS Walz, 2008, S. 289 (304); Rieble/Klebeck, ZIP 2006, 829 (833). 134  Vgl. nur BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (325); BAG v. 24.1.1979 – 4 AZR 377/77, AP TVG § 5 Nr. 16; Greiner/Hanau/Preis, SR 2014, 2 (6); Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 200; Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, 2010, S. 93 ff. 135  Vgl. bereits Schlachter, BB 1987, 758 (759).

418

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

gelung zum Schutz der Außenseiter-Arbeitnehmer eingefügt.136 Allerdings wurde diese Vorschrift in der Praxis nicht angewendet. Eine wesentliche Änderung des § 5 TVG137 erfolgte erst durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz von 2014. Der Gesetzgeber verzichtete auf das Quorum, also das Erfordernis, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Allein maßgebend ist nunmehr das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses,138 das nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG vom zuständigen Ministerium in der Regel bejaht werden soll, wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich139 überwiegende Bedeutung erlangt hat. Dafür sollen – im Gegensatz zum früheren Recht – nicht mehr allein die normative Tarifgebundenheit, sondern auch inhaltsgleiche Anschlusstarifverträge, die Tarifgeltung kraft vertraglicher Inbezugnahme und sonstige Formen der Orientierung des Arbeitsverhältnisses an den tariflichen Regelungen zu beachten sein.140 Der überwiegenden Bedeutung des Tarifvertrags gleichgestellt ist nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG der Fall, dass die Allgemeinverbindlicherklärung zur Absicherung der Wirksamkeit der tarif­vertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung erforderlich ist. Der Sache nach handelt es sich bei dieser viel zu unbestimmt formulierten Regelung um eine weitgehende Rückkehr zu der vom Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebiets ursprünglich verabschiedeten Fassung des § 5 TVG, welche die alliierte Militärregierung jedoch wegen des fehlenden Repräsentativitätserfordernisses als mit dem Demokratieprinzip unvereinbart beanstandet hat.141 Darüber hinaus enthält § 5 Abs. 1a TVG nun eine ausdrückliche Regelung zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über die Errichtung gemeinsamer Einrichtungen mit bestimmten, im Gesetz abschließend aufgezählten In136  Vgl.

oben 3.2.3.5. nachvollziehbar BAG v. 21.3.2018 – 10 ABR 62/16, NZA-Beil. 2018, 8 Rn. 108, wonach § 5 TVG „nicht grundsätzlich umgestaltet“ worden sei. 138  Kritisch dazu Bepler, in: Verhandlungen des 70.  DJT, 1.  Band, 2014, S. B114 ff., der zu Recht die fehlende Bestimmtheit und das Absehen von einem Quorum bemängelt; ebenso Ubber, AnwBl 2014, 588 (591); ablehnend auch Ch. Picker, RdA 2014, 25 (33). 139  Nicht hinreichend ist, dass sich der Tarifvertrag lediglich im Vergleich zu anderen Tarifverträgen durchgesetzt hat. Bezugspunkt sind vielmehr sämtliche Arbeitsverhältnisse, die in den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen, BT-Drucks. 18/2010, S. 18. 140  BT-Drucks. 18/1558, S. 58; BT-Drucks. 18/2010, S. 17 f. 141  Vgl. oben 3.2.2.6. 137  Wenig



5.4  Einzelne Maßnahmen419

halten.142 Bei diesen soll ein öffentliches Interesse ungeachtet der Repräsentativität des Tarifvertrags bereits dann gegeben sein, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung zum Ziel hat, die Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung zu sichern.143 Nach der hier vertretenen Auffassung, die freilich vom BAG nicht geteilt wird,144 ist die geltende Fassung des § 5 TVG verfassungsrechtlich problematisch.145 Aufgrund der deutlichen Ausweitung der Eingriffsbefugnisse des Staates in die Arbeitsverhältnisse der Außenseiter, welche die Änderung des § 5 TVG durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz mit sich gebracht hat, wird das vom BVerfG bereits zu § 5 TVG a. F. monierte „Defizit staatlicher Entscheidungsfreiheit“146 weiter verstärkt. Da die zuvor strengen materiellen Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung wesentlich abgemildert wurden, scheidet ein verfahrensmäßiger Ausgleich des weiterhin bestehenden und sogar noch vergrößerten Demokratiedefizits nunmehr aus. Darüber hinaus kommt ein Schutz der Tarifgebundenen vor Außenseiterkonkurrenz als Rechtfertigungsgrund für den mit der Allgemeinverbindlicherklärung verbundenen Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit der Außenseiter nicht in Betracht, wenn nur eine Minderheit vor der Mehrheit geschützt werden soll. Genau dieser Fall aber kann nun, anders als nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG a. F., aufgrund des Wegfalls des 50-ProzentQuorums als eigenständige, neben das öffentliche Interesse tretende Tatbestandsvoraussetzung eintreten. Und schließlich kommt auch eine Rechtfertigung des Eingriffs in die Arbeitsvertragsfreiheit mit dem Sozialstaatsprinzip nicht in Betracht,147 da dem Außenseiter ein „menschenwürdiges“ oder „existenzsicherndes“ Mindestentgelt – wie das Verwaltungsgericht Düsseldorf zur Verfassungsmäßigkeit einer Tariftreueregelung zutreffend entschieden hat148 – bereits durch den gesetzlichen Mindestlohn nach §§ 1, 3

142  Kritisch zum Enumerationsprinzip Bepler, in: Verhandlungen des 70. DJT, 1. Band, 2014, S. B114. 143  BT-Drucks. 18/1558, S. 59. 144  BAG v. 21.3.2018 – 10 ABR 62/16, NZA-Beil. 2018, 8 Rn. 21, 106 ff., das allerdings die Arbeitsvertragsfreiheit der Außenseiter komplett ignoriert; vgl. dazu kritisch Höpfner, ZFA 2019, 108 (152). 145  Vgl. Henssler/Höpfner, Der Kern der negativen Koalitions- und Tarifvertragsfreiheit – Wesen, Bedeutung und Eingriffsmöglichkeiten. Gutachten im Auftrag des VDMA, 2018, S. 71 ff.; Henssler, RdA 2021, 1 (6); Höpfner, ZFA 2019, 108 (152). 146  BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (348). 147  Ebenso Giesen, ZFA 2008, 355 (373 ff.); Ch. Picker, RdA 2014, 25 (33 f., 36); Rieble/Klebeck, ZIP 2006, 829 (833, 836 f.). 148  VG Düsseldorf v. 27.8.2015 – 6 K 2793/13, NZBau 2015, 643; a. A. Greiner/ Kleinert, RdA 2016, 229 (230 f.).

420

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

MiLoG garantiert wird.149 Gegen die Neufassung von § 5 TVG ist aktuell eine Verfassungsbeschwerde des Zentralverbands der deutschen Elektround Informationstechnischen Handwerke beim BVerfG anhängig.150 In der Praxis hat das Tarifautonomiestärkungsgesetz jedoch nicht zu einer Zunahme von Allgemeinverbindlicherklärungen geführt. Seit der Änderung von § 5 TVG zum 16. August 2014 sind nur Folgeanträge auf Allgemeinverbindlicherklärung bereits allgemeinverbindlicher Tarifverträge gestellt worden, aber keine Anträge bzgl. neuer Tarifverträge.151 So sind heute weniger Tarifverträge nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt als noch 2014.152 Als Ursachen hierfür werden das Erfordernis eines gemeinsamen Antrags beider Tarifvertragsparteien sowie ein Vetorecht der Arbeitgeberseite im Tarifausschuss ausgemacht. Das BMAS hat in seinen „Handlungsempfehlungen Neue Arbeit“ vom 20. September 2019 daher weitere Erleichterungen der Allgemeinverbindlicherklärung angekündigt. Es will „unter Beteiligung der Sozialpartner prüfen, wie bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses an der allgemeinen Verbindlichkeit eines Tarifvertrags im Einvernehmen mit den Sozialpartnern der betreffenden Branche sichergestellt werden kann, dass das Instrumentarium zur Allgemeinverbindlicherklärung auch wirksam genutzt werden kann“.153 Um sicherzustellen, dass Tarifverträge künftig häufiger für allgemeinverbindlich erklärt werden, werden verschiedene Lösungsansätze vorgeschlagen. Erstens wird erwogen, auf das Erfordernis eines gemeinsamen Antrags beider Tarifvertragsparteien auf Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags zu verzichten.154 Im Ergebnis bedeutete dies eine partielle Rückkehr zur Rechtslage vor dem 16. August 2014. Nach § 5 TVG a. F. genügte der Antrag einer Tarifvertragspartei. Erst das Tarifautonomiestärkungsgesetz verlangte für die Allgemeinverbindlicherklärung den Antrag beider Parteien, so wie dies auch für die Tarifnormerstreckung nach dem AEntG der Fall ist. Der Gesetzgeber wollte hierdurch sicherstellen, dass „die Abstützung der tariflichen Ordnung aus Sicht sämtlicher Parteien des Tarifvertrags erforderlich erscheint“.155 Henssler, RdA 2021, 1 (6). Az. 1 BvR 1946/15. 151  BR-Drucks. 212/19 (B), S. 2 f. 152  Vgl. Waltermann, ZFA 2020, 211 (229). 153  BMAS, Handlungsempfehlungen Neue Arbeit, 2019, S. 30. 154  So der Antrag der Länder Bremen, Brandenburg und Thüringen vom 9.5.2019 im Bundesrat, BR-Drucks. 212/19, S. 1, 5. 155  BT-Drucks. 18/1558, S. 57. 149  Ebenso 150  Unter





Entwurf Zentralamt 1946 und 1948 Herschel (britische Besatzungszone)

Entwurf des Unterausschusses für Arbeitsrecht 1947 (amerikanische Besatzungszone)

50-ProzentQuorum

überwiegende Bedeutung (für Mehrheit der Arbeitnehmer gilt der Tarifvertrag)

Entwurf Nipperdey 1948

TVG 1949

überwiegende Bedeutung (für Mehrheit der Arbeitnehmer gilt der Tarifvertrag)

TVVO 1918

Quorum

Antrag einer Tarifvertragspartei

Initiative einer oder beider Tarifvertrags­ partei(en) und Ausspruch vom Arbeitsminister

kein Antrag der Tarifvertragsparteien erforderlich

auf Antrag einer oder beider Tarifvertragsparteien; Bindung der Arbeitsbehörde an beiderseitigen Antrag

auf Antrag

Antragsrecht

öffentliches Interesse oder soziale Notlage

überwiegende Bedeutung oder einheitliche Regelung von Arbeitsbedingungen aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen geboten

überwiegende Bedeutung oder Interesse der Militärregierung





öffentliches Interesse

Tabelle 16 Entwicklung der Allgemeinverbindlicherklärung

(Fortsetzung nächste Seite)

Zustimmung des paritätisch besetzten Tarifausschusses









Verfahren/Tarifausschuss

5.4  Einzelne Maßnahmen421



Vorschläge des BMAS 2019/ Bundesländer Bremen, Brandenburg und Thüringen/Die Linke

Quelle: eigene Darstellung.



Wegfall des 50-ProzentQuorums

Vorschläge des DGB 2016/2019

Tarifautonomiestärkungsgesetz 2014

(Fortsetzung Tabelle 16)

Antrag einer Tarifvertragspartei

Antrag beider Tarifvertragsparteien

Antrag beider Tarifvertragsparteien



konkretisiertes öffent­ liches Interesse

konkretisiertes öffent­ liches Interesse

keine Zustimmung des paritätisch besetzten Tarifausschusses

bei gemeinsamem Antrag nur Ablehnung mit Mehrheit („Wegfall der Veto-Möglichkeit der Arbeitgeber“)

Zustimmung des paritätisch besetzten Tarifausschusses

422 5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie



5.4  Einzelne Maßnahmen423

Zweitens wird vorgeschlagen, das Vetorecht der Arbeitgeber im Tarifausschuss zu beseitigen.156 De lege lata darf eine Allgemeinverbindlich­ erklärung nur im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss, d. h. mit dessen Zustimmung erfolgen. Der Ausschuss ist paritätisch mit je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer unter Leitung eines nicht stimmberechtigten Beauftragten des BMAS besetzt. Bei Tarifverträgen mit regional begrenztem Geltungsbereich ist nach § 5 Abs. 6 TVG eine Übertragung an die oberste Landesarbeitsbehörde möglich, die die Zustimmung des Landestarifausschusses einzuholen hat.157 In der Praxis geschieht dies in Fällen, in denen der Tarifvertrag sich räumlich auf ein oder zwei Bundesländer beschränkt.158 Beschlüsse des Tarifausschusses bedürfen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 der Durchführungsverordnung zum TVG (TVGDV) der Stimmen der Mehrheit der Ausschussmitglieder. Jede Seite hat es demnach in der Hand, die Allgemeinverbindlicherklärung zu verhindern, sollte sie diese für nicht zweckmäßig erachten. Dieses Vetorecht beider Seiten, das in der Praxis aber vor allem die Arbeitgeberseite für sich in Anspruch nimmt, könnte man durch Änderung von § 5 Abs. 1 TVG abschaffen, indem anstelle des Zustimmungserfordernisses lediglich ein Vetorecht des Tarifausschusses als Gesamtorgan verlangt wird.159 Um dieses Veto einzulegen, wäre dann nach § 3 TVGDV die Mehrheit im Tarifausschuss erforderlich. Eine Seite allein könnte folglich die Allgemeinverbindlicherklärung nicht verhindern. Alternativ könnte man auch § 5 TVG unverändert lassen und bei der Durchführungsverordnung ansetzen, indem man dem Beauftragten des BMAS ein Stimmrecht gewährt.160 Dann wäre es möglich, dass die Arbeitnehmerseite gemeinsam mit dem Beauftragten den Mehrheitsbeschluss fasst, das Einvernehmen zur Allgemeinverbindlicherklärung zu erteilen. Im Ergebnis unterscheiden sich beide Wege nicht. Nur der Vollständigkeit halber sei auf einen dritten Vorschlag hingewiesen, der in der aktuellen politischen Diskussion nicht aufgegriffen wird. Vereinzelt wird vorgeschlagen, über eine Allgemeinverbindlicherklärung 156  Vgl. Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 16; zuvor bereits Däubler, WSI-Mitteilungen 65 (2012), 508 (511) mit weiteren Nachweisen. 157  Vgl. dazu näher Däubler/Lakies, TVG, 4. Auflage, 2016, § 5 Rn. 232 ff.; Löwisch/Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, § 3 Rn. 294 ff. 158  Löwisch/Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, § 3 Rn. 294. 159  So der Antrag der Fraktion Die Linke im Landtag Mecklenburg-Vorpommern vom 5.6.2019, LT-Drucks. 7/7311. 160  So der Antrag der Länder Bremen, Brandenburg und Thüringen vom 9.5.2019 im Bundesrat, BR-Drucks. 212/19, S. 2.

424

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

nicht nur die Tarifgeltung in den vom Geltungsbereich des Tarifvertrags erfassten Arbeitsverhältnissen zu begründen, sondern die Geltung der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge auf Arbeitsverhältnisse jenseits von dessen (räumlichen und fachlichen) Geltungsbereich zu erstrecken.161 Dieser Vorschlag kann zwar auf Vorbilder in anderen Staaten verweisen.162 Im deutschen Tarifvertragsrecht wäre er allerdings ein nicht zu akzeptierender Fremdkörper. Gegen ihn spricht schon, dass jedem Tarifvertrag nur innerhalb seines Geltungsbereichs eine Richtigkeitsgewähr bzw. Angemessenheitsvermutung zukommt. Eine Erstreckung der tariflichen Arbeitsbedingungen auf andere Tarifgebiete und sogar andere Branchen wäre ein völlig untauglicher Versuch, dort angemessene Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Es verwundert daher nicht, dass dieser Lösungsansatz aktuell nicht mehr aufgegriffen wird. Anderes gilt für die beiden erstgenannten Vorschläge. Verfassungsrechtlich sind diese – jeweils isoliert für sich genommen – wohl nicht zu beanstanden. Sie vergrößern das vom BVerfG zu § 5 TVG a. F. monierte „Defizit staatlicher Entscheidungsfreiheit“163 nicht, sondern stärken sogar die Position des Ministeriums im Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung. Rechtspolitisch sind sie gleichwohl abzulehnen. Das durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz in § 5 TVG aufgenommene Erfordernis des gemeinsamen Antrags war in der Sache richtig.164 Diese Änderung nun wieder rückgängig zu machen, empfiehlt sich nicht. Durch das Erfordernis eines beiderseitigen Antrags wird gewährleistet, dass ein Tarifvertrag nicht gegen den Willen des Arbeitgeberverbands auf Antrag der Gewerkschaft und im Einvernehmen mit den Spitzenverbänden im Tarifausschuss für allgemeinverbindlich erklärt wird. Mit der wettbewerbsverhindernden Funktion der Allgemeinverbindlicherklärung wäre es nur schwer vereinbar, die tarifgebundenen Arbeitgeber vor Außenseiterkonkurrenz zu schützen, wenn sie diesen Schutz selbst nicht für erforderlich halten. Ähnliches gilt für die vorgeschlagenen Änderungen im Tarifausschuss. Die Spitzenorganisationen tragen als Vertreter ihrer Mitgliedsverbände die Verantwortung dafür, dass eine Allgemeinverbindlicherklärung nur dann 161  Däubler, WSI-Mitteilungen 65 (2012), 508 (511); Deinert/Walser, AuR 2015, 386 (391); Deinert/Maksimek/Sutterer-Kipping, Die Rechtspolitik des Sozial- und Arbeitsrechts, 2020, S. 555 f.; vgl. auch schon den Antrag der Fraktion Die Linke v. 13.12.2011 im Bundestag, BT-Drucks. 17/8148, S. 2. 162  Vgl. zur Rechtslage in Frankreich und Spanien Däubler, WSI-Mitteilungen 65 (2012), 508 (511); Deinert/Walser, AuR 2015, 386 (391). 163  BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (348). 164  Ebenso Jöris, NZA 2014, 1313 (1315); vgl. auch Waltermann, RdA 2018, 137 (144); Löwisch/Rieble, TVG, 3. Auflage, 2017, § 5 Rn. 244.



5.4  Einzelne Maßnahmen425

erfolgt, wenn dies im betreffenden Tarifgebiet auch tatsächlich erforderlich ist. Ihnen kommt eine wichtige Einschätzungs- und Beurteilungsprärogative zu, die letztlich auf die Stellung der Koalitionen in Art. 9 Abs. 3 GG zurückzuführen ist, auch wenn die Vertretung der Spitzenorganisationen im Tarifausschuss selbst nicht verfassungsrechtlich verankert ist.165 Verfassungsrechtlich problematisch wäre es allerdings, sowohl auf das Erfordernis des gemeinsamen Antrags als auch auf das Vetorecht der Arbeitgeber im Spitzenausschuss zu verzichten, da dann eine Allgemeinverbindlich­ erklärung gegen den Willen der Arbeitgeberseite möglich wäre. Das stört das Verhandlungsgleichgewicht zwischen den Tarifvertragsparteien und gefährdet hierdurch die Tarifautonomie insgesamt. Es verletzt zudem das staatliche Neutralitätsgebot. Aber auch unterhalb der verfassungsrechtlichen Ebene sprechen rechtspolitisch die bereits geäußerten Bedenken gegen jede Form einer Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung. Diese beseitigt jeglichen Anreiz für die vom Tarifvertrag erfassten Arbeitnehmer, in die Gewerkschaft einzutreten, und beschleunigt damit die Erosion der Tarifautonomie.166 Da der Grad der mitgliedschaftlich legitimierten Tarifbindung durch allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge sinkt, führt die Allgemeinverbindlicherklärung zu einer Schwächung der Gewerkschaften und damit im Ergebnis zu einer Reduzierung des Schutzes der organisierten Arbeitnehmer. Zugleich führt sie dazu, dass auf Arbeitgeberseite die Akzeptanz für das Modell der Tarifautonomie Schaden nimmt. Auch das BVerfG sieht inzwischen die Gefahren, die von der Allgemeinverbindlicherklärung für die Tarifautonomie ausgehen, und spricht von einer „ambivalenten Wirkung“: Die Allgemeinverbindlicherklärung „stärkt den konkreten Tarifvertrag, schwächt aber die Attraktivität der Mitgliedschaft in einer Koalition“.167 Der Gesetzgeber, der einer erleichterten Allgemeinverbindlicherklärung das Wort redet, behandelt lediglich die Symptome, nicht aber die Ursachen der rückläufigen Tarifbindung. Die Behandlung mag den Patienten kurzfristig stabilisieren, mittelfristig trägt sie ihn jedoch zu Grabe.

165  Insoweit zutreffend Waltermann, ZFA 2020, 211 (230); ders., RdA 2018, 137 (146); Zachert, NZA 2003, 132 (138 f.). 166  Ebenso Franzen, in: FS Preis, 2021, S. 247 (250). 167  BVerfG v. 10.1.2020 – 1 BvR 4/17, NZA 2020, 253 Rn. 20; vgl. auch schon Monopolkommission, XVIII. Hauptgutachten, 2008/2009, Nr. 926, 977, 996.

426

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

5.4.2 Tariftreueregelungen Ein ganz ähnliches Instrument wie die Allgemeinverbindlicherklärung sind Tariftreueregelungen. Diese begründen zwar nicht kraft Hoheitsakts die Tarifgeltung in Außenseiter-Arbeitsverhältnissen. Sie üben jedoch einen wirtschaftlichen Druck auf Unternehmen aus, ihren Arbeitnehmern tarifliche Arbeitsbedingungen zu gewähren, weil sie sich anderenfalls nicht an einer Ausschreibung um öffentliche Aufträge beteiligen dürfen. Bereits aktuell gibt es in sämtlichen Bundesländern mit Ausnahme von Bayern und Sachsen Tariftreueregelungen in den Landesvergabegesetzen. SPD, Grüne und Linke fordern in ihren Wahlprogrammen für die Bundestagswahl 2021 ein solches Tariftreuegesetz auch auf Bundesebene für Aufträge, die der Bund an private Unternehmen vergibt.168 Auch das BMAS hat in seinen Handlungsempfehlungen von 2019 angekündigt, sich für eine Tariftreueregelung des Bundes einsetzen zu wollen.169 Darüber hinaus werden Tariftreueregelungen auch bei der Bahn,170 in der Pflege171 und bei der Vergabe von Bildungsdienstleistungen durch die BA172 gefordert. In die gleiche Richtung weisen Vorschläge, die generell staatliche Subventionen und Hilfsgelder, die Förderung der betrieblichen Altersversorgung oder Leistungen aus einem neu einzurichtenden Industriefonds auf tarifgebundene Unternehmen beschränken wollen.173 Das BVerfG hält Tariftreueregelungen für verfassungskonform. In einer Entscheidung vom 11. Juli 2006 zum Berliner Vergabegesetz hat der Erste Senat des BVerfG einen Eingriff in die von Art. 9 Abs. 3 GG umfasste negative Koalitionsfreiheit abgelehnt.174 Durch das Gesetz werde kein fak168  SPD, Aus Respekt vor Deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm, 2021, S. 19, 27; Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland. Alles ist drin., 2021, S. 57; Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 12, 17, 80. 169  BMAS, Handlungsempfehlungen Neue Arbeit, 2019, S. 13, 26. 170  SPD, Aus Respekt vor Deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm, 2021, S. 11; Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 100. 171  Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland. Alles ist drin., 2021, S. 68; Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 20, 34; vgl. auch BMF/BMAS, Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung, 2021, S. 5. 172  Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 51. 173  SPD, Aus Respekt vor Deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm, 2021, S. 35; Die Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 60. 174  BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NZA 2007, 42 Rn. 65 ff.



5.4  Einzelne Maßnahmen427

tischer Zwang oder erheblicher Druck auf den Bieter ausgeübt, Mitglied des zuständigen Arbeitgeberverbands zu werden. Dass sich ein nicht tarifgebundener Arbeitgeber wegen des Tariftreuezwangs veranlasst sehen könnte, der tarifschließenden Koalition beizutreten, um als Mitglied auf den Abschluss künftiger Tarifverträge Einfluss nehmen zu können, auf die er durch die Tariftreueerklärung verpflichtet wird, hält das BVerfG für „fernliegend“.175 Vor dem Hintergrund der äußerst restriktiven Rechtsprechung des BVerfG zum Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit176 war dies wenig überraschend. Demgegenüber hat das BVerfG einen Eingriff in den Schutzbereich der Arbeitsvertragsfreiheit des Arbeitgebers nach Art. 12 Abs. 1 GG durch gesetzliche Tariftreueregelungen zutreffend bejaht.177 Der Tariftreuezwang im Rahmen des Vergabeverfahrens bewirkt und bezweckt, dass Arbeitgeber hinsichtlich dieser Vertragsbedingungen nicht frei darüber entscheiden dürfen, wie sie sich am Wettbewerb um einen öffentlichen Auftrag beteiligen. Regelungsinhalt und Zielrichtung des Vergabegesetzes gehen daher über einen bloßen Reflex auf Seiten der Unternehmen hinaus, sodass eine eingriffsgleiche Beeinträchtigung der Berufsfreiheit vorliegt. Das BVerfG hält den Eingriff in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG jedoch für gerechtfertigt.178 Durch die Erstreckung von Tariflöhnen auf Außenseiter soll einem Verdrängungswettbewerb über die Lohnkosten entgegengewirkt und damit ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Bausektor geleistet werden. Mit Blick auf die Einschätzungsprärogative des Landesgesetzgebers hält das BVerfG die Regelung für geeignet, erforderlich und angemessen, um das legitime Ziel der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und der Stärkung der Ordnungsfunktion von Tarifverträgen zu erreichen.179 Insbesondere sei die Tariftreueregelung gegenüber der Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags nach § 5 TVG das mildere Mittel. Da der Bauunternehmer freiwillig darüber entscheiden könne, ob er die geforderte Tariftreueerklärung abgibt, werde seine Vertragsfreiheit weniger stark beeinträchtigt als bei der hoheitlich erzwungenen Bindung an den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag.180

175  BVerfG

176  Kritisch 177  BVerfG 178  BVerfG 179  BVerfG 180  BVerfG

v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NZA 2007, 42 Rn. 67. dazu Höpfner, in: FS Moll, 2019, S. 287 (292 ff.). v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NZA 2007, 42 Rn. 77 ff. v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NZA 2007, 42 Rn. 85 ff. v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NZA 2007, 42 Rn. 90, 97, 101, 104. v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NZA 2007, 42 Rn. 97.

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5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

Die Argumentation des BVerfG ist in mehrfacher Hinsicht angreifbar.181 Während das Gericht im Rahmen der Eingriffsprüfung noch zu Recht betont, dass der Arbeitgeber in einem öffentlichen Vergabeverfahren nicht frei darüber entscheiden kann, auf welche Weise er seine Berufsfreiheit im Wettbewerb um einen öffentlichen Auftrag ausübt, und dass aus ebendiesem Grund eine eingriffsgleiche Beeinträchtigung des Schutzbereichs von Art. 12 Abs. 1 GG vorliegt, argumentiert es im Rahmen der Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung mit der vermeintlichen Freiwilligkeit der Tariftreueerklärung. Der Umstand, dass der Bieter, der die verlangte Erklärung nicht abgibt, im Vergabeverfahren nicht berücksichtigt wird, wird dabei vollkommen vernachlässigt.182 Darüber hinaus verkennt das BVerfG die tatsächlichen Umstände, wenn es meint, dass ein Bieter ohne Weiteres auf private Aufträge ausweichen könne. Gerade für Straßenbauunternehmen existiert ein relevanter privater Markt neben dem öffentlichen Sektor schlicht nicht.183 Schließlich kann keine Rede davon sein, dass Tariftreueregelungen ein milderes Mittel im Vergleich zur Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags sind. Durch das von § 5 TVG angeordnete Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung ist gewährleistet, dass der für allgemeinverbindlich zu erklärende Tarifvertrag mit seinem konkreten Inhalt vom BMAS inhaltlich gebilligt wird.184 Tariftreueregelungen verweisen hingegen dynamisch auf die einschlägigen Tarifverträge. Es ist daher gerade nicht gewährleistet, ja im Grundsatz sogar nicht einmal zulässig, dass die Behörde den im Zeitpunkt des Vergabeverfahrens geltenden Tarifvertrag inhaltlich daraufhin prüft, ob eine Erstreckung der Tarifbedingungen auf Außenseiter im hoheitlichen Interesse liegt. Damit werden dynamische Tariftreueregelungen den vom BVerfG selbst in der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG a. F. aufgestellten Voraussetzungen des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips nicht gerecht. Mit seiner Entscheidung vom 11. Juli 2006 begibt das BVerfG sich daher in einen unauflösbaren Widerspruch zu seiner eigenen Rechtsprechung, ohne die abweichenden rechtlichen Maßstäbe offenzulegen und sich mit seiner früheren Rechtsprechung argumentativ auseinanderzusetzen.185 181  Vgl. auch Höfling/Rixen, RdA 2007, 360; Rieble, NZA 2007, 1; Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 356 ff. 182  Vgl. auch Rieble, EuZA 2017, 228 (237): „Taschenspielertrick“. 183  Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 357. 184  Vgl. BAG v. 21.9.2016 – 10 ABR 33/15, AP TVG § 5 Nr. 35; BAG v. 25.1.2017 – 10 ABR 43/15, NZA 2017, 731 zur Notwendigkeit der Beteiligung des Bundesministers bzw. Staatssekretärs. 185  Zutreffend Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 359.



5.4  Einzelne Maßnahmen429

Ungeachtet dieser kritischen Einwände war die Rechtmäßigkeit von ­ ariftreueregelungen im deutschen Recht damit für die Praxis geklärt. In T der Folge hat sich die Diskussion daher auf die unionsrechtliche Ebene verlagert. Der EuGH hat in der Rechtssache „Rüffert“186 aus dem Jahr 2008 entschieden, dass die Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 AEUV sowie die Entsende-Richtlinie 96/71/EG eine Behinderung und Diskriminierung ausländischer Anbieter verbieten. Im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge dürfe daher von den Unternehmen nicht die Einhaltung tarif­licher Standards verlangt werden, die sich nicht aus einem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag ergeben.187 In der Entscheidung „RegioPost“ aus dem Jahr 2014 hielt er demgegenüber einen im Landestariftreuegesetz Rheinland-Pfalz vorgesehenen vergabespezifischen Mindestlohn im Grundsatz für mit der Dienstleistungsfreiheit und mit Art. 26 der Vergabe-Richtlinie 2004/18/EG vereinbar, wenn er nur für die Ausführung von öffentlichen Aufträgen gilt.188 Da mit einem solchen Mindestlohn ein Mindestmaß an sozialem Schutz erzielt werde, sei der Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit gerechtfertigt. Voraussetzung hierfür sei allerdings, dass der einschlägige Vergabemindestlohn gesetzlich vorgegeben ist. Der Verweis auf Mindestarbeitsbedingungen aus einem nicht für allgemeinverbindlich erklärten TV genüge hierfür nicht.189 Nachdem die meisten Landesgesetzgeber auf das Urteil „Rüffert“ mit Anpassungen, Außervollzugsetzungen oder Aufhebungen reagierten,190 sind in Anschluss an die Entscheidung „RegioPost“ Entwicklungen dahingehend zu beobachten, dass die Einhaltung der Lohnvorgaben nach dem AEntG oder einer Allgemeinverbindlicherklärung verlangt wird.191 Im Personennahverkehr, einem durch öffentliche Auftragsvergabe dominierten Sektor, wird auf die Einhaltung des geltenden Tarifvertrags abgestellt,192 während außerhalb dieses Bereichs vergabespezifische Mindestentgelte vorgesehen sind.193 186  EuGH v. 3.4.2008 – C-346/06 (Rüffert), NJW 2008, 3485; im Ergebnis bestätigt von EuGH v. 18.9.2014 – C-549/13 (Bundesdruckerei), NJW 2014, 3769 Rn. 24 ff. 187  EuGH v. 3.4.2008 – C-346/06 (Rüffert), NJW 2008, 3485 Rn. 26. 188  EuGH v. 17.11.2015 – C-115/14 (RegioPost), NZA 2016, 155. 189  EuGH v. 17.11.2015 – C-115/14 (RegioPost), NZA 2016, 155 Rn. 54, 75. 190  ErfK/Franzen, 21. Auflage, 2021, TVG § 5 TVG Rn. 30 mit weiteren Nachweisen. 191  Vgl. ErfK/Franzen, 21. Auflage, 2021, § 5 TVG Rn. 31. 192  Für einen Verstoß des § 4 Abs. 2 TVgG-NRW gegen Art. 9 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 4 Abs. 1 Landesverfassung NRW VG Düsseldorf NZBau 2015, 643; a. A. Barczak/Pieroth, RdA 2016, 209. 193  ErfK/Franzen, 21. Auflage, 2021, § 5 TVG Rn. 31; zur Europarechtskonformität solcher Mindestentgelte ausführlich Däubler, NZA 2014, 694; EuGH C-115/14, NZA 2016, 155 – RegioPost.

430

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

Ob die Entscheidung „RegioPost“ heute noch aktuell ist und Vergabemindestlöhne im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe als gerechtfertigter Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit anzusehen sind, muss allerdings bezweifelt werden.194 Die Entscheidung des EuGH erging zur Rechtslage vor Inkrafttreten des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland. Seit dem 1. Januar 2015 gewährleistet das MiLoG ein „Mindestmaß an sozialem Schutz“, das der EuGH als entscheidendes Argument zur Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 56 AEUV angeführt hat.195 Gleiches gilt für die verfassungsrechtliche Beurteilung im deutschen Recht. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat in einer Entscheidung vom 27. August 2015 § 4 Abs. 2 des Tariftreue- und Vergabegesetzes Nordrhein-Westfalen für unvereinbar mit der Landesverfassung angesehen und die Norm dem Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen vorgelegt. Die aus dem Gesetz hervorgehende „Pflicht zu Tariftreue“ im öffentlichen Personennahverkehr verstößt nach Auffassung des Verwaltungsgerichts gegen die Koalitionsfreiheit. Auch wenn der verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkt richtigerweise nicht die negative Koalitionsfreiheit, sondern die Berufsfreiheit ist, überzeugt die Auffassung des Verwaltungsgerichts jedenfalls im Ergebnis. Das Verfahren wurde allerdings aufgrund einer Einigung der Parteien erledigt, bevor es zu einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs kam. Diese verfassungsrechtlichen und unionsrechtlichen Bedenken gelten auch für alle vorgeschlagenen Erweiterungen von Tariftreueerklärungen auf Bundesebene und für bestimmte Monopolunternehmen in staatlicher Hand.196 Es ist daher zu erwarten, dass ein künftiges Bundestariftreuegesetz sowohl vor dem EuGH als auch vor dem BVerfG angegriffen würde.

5.4.3  Einschränkung der OT-Mitgliedschaft Bei der OT-Mitgliedschaft im sog. Stufenmodell sieht die Satzung eines tariffähigen Arbeitgeberverbands neben der herkömmlichen Mitgliedschaft mit Tarifbindung (Vollmitgliedschaft) eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) vor. Den Mitgliedern wird ein Wahlrecht über die Art ihrer Mitgliedschaft eingeräumt. Vereinsrechtlich sind OT-Mitglie194  Gegen eine Rechtfertigung Löwisch/Rieble, TVG, 4.  Auflage, 2017, §  4 Rn. 468; Frenz, Vergaberecht EU und national, 2018, Rn. 1554; zweifelnd auch Greiner/Hennecken, EuZA 2016, 317 (324). 195  Vgl. Frenz, Vergaberecht EU und national, 2018, Rn. 1554. 196  Vgl. zu den Auswirkungen der neuen Entsende-Richtlinie 2018/957/EU auf ­Tariftreueerklärungen Höpfner, in: Gebauer/Wiedmann (Hrsg.), Europäisches Zivilrecht, 3. Auflage, 2021, Kap. 20 Rn. 105; EuArbR/Rebhahn/Krebber, 3. Auflage, 2020, Art. 3 RL 96/71/EG Rn. 36.



5.4  Einzelne Maßnahmen431

der „echte“ Mitglieder des Verbands. Tarifrechtlich gelten sie jedoch als Nichtmitglieder im Sinne des § 3 Abs. 1 TVG. OT-Mitglieder nehmen nicht an den tarifpolitischen Aktivitäten des Verbandes teil und dürfen dies auch nicht. Nach der Rechtsprechung des BAG muss die Vereinssatzung eine klare und eindeutige Trennung der Befugnisse von Mitgliedern mit und ohne Tarifbindung gewährleisten. OT-Mitglieder dürfen auf tarifpolitische Entscheidungen nicht unmittelbar Einfluss nehmen. Insbesondere dürfen sie nicht in Tarifkommissionen entsandt werden oder den Verband im Außenverhältnis in tarifpolitischen Angelegenheiten vertreten. Sie dürfen bei Abstimmungen über die Festlegung von tarifpolitischen Zielen oder über die Annahme von Tarifverhandlungsergebnissen kein Stimmrecht haben und keinen Zugriff auf den Arbeitskampffonds haben.197 Die Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft im Stufenmodell war lange Zeit heftig umstritten,198 bis der 1. Senat des BAG in einer Grundsatzentscheidung die OT-Mitgliedschaft im Stufenmodell gebilligt hat.199 In seinem sorgfältig begründeten Beschluss vom 18. Juli 2006 hat der 1. Senat die OT-Mitgliedschaft dogmatisch zutreffend zu einer Frage der Tarifgebundenheit erklärt. Ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit folgt sowohl aus der individuellen (positiven) Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers als auch aus der ebenfalls von Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Satzungsautonomie des Arbeitgeberverbands.200 Der 4. Senat hat sich der Rechtsprechung angeschlossen und sieht die OT-Mitgliedschaft ebenfalls als grundsätzlich zulässige Beschränkung der Tarifgebundenheit einzelner Mitglieder an.201 Der Versuch der Gewerkschaften, die OT-Mitgliedschaft im Stufenmodell von der Rechtsprechung verbieten zu lassen, war mit der BAG-Entscheidung vom 18. Juli 2006 und spätestens durch die inzidente Anerkennung dieser Rechtsprechung im Beschluss des BVerfG vom 1. Dezember 2010202 endgültig gescheitert. Vereinzelte Arbeitsrechtswissenschaftler halten zwar 197  Vgl. nur BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (109); BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, NZA-RR 2012, 260; BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rn. 19. 198  Vgl. nur Röckl, DB 1993, 2382; Buchner, NZA 1994, 2; ders., NZA 1995, 761; Däubler, NZA 1996, 225; Otto, NZA 1996, 624; Thüsing, ZTR 1996, 481; Reuter, RdA 1996, 201; Junker, SAE 1997, 172. 199  BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225; zuvor bereits BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42. 200  BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1230 f.). 201  BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1368 f.); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (107); BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rn. 17, 50. 202  BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, AP GG Art. 9 Nr. 146.

432

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

weiterhin an ihrer gegenteiligen Auffassung fest,203 können sich damit allerdings zu Recht nicht durchsetzen. Ein gesetzliches Verbot der OT-Mitgliedschaft, wie es im Bundestagswahlkampf vereinzelt gefordert wird,204 wäre verfassungswidrig. Nach der eindeutigen und vom BVerfG gebilligten Rechtsprechung des BAG ist die Entscheidung eines Arbeitgeberverbands, neben der Vollmitgliedschaft eine OT-Mitgliedschaft vorzusehen, verfassungsrechtlich durch die koalitionsmäßige Satzungsautonomie des Art. 9 Abs. 3 GG und überdies durch die individuelle Koalitionsfreiheit der OT-Mitglieder gewährleistet.205 Zwar ist nicht jeder Eingriff in die Koalitionsfreiheit rechtswidrig. Eine Rechtfertigung kommt ggf. in Betracht, wenn der Eingriff zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie geeignet, erforderlich und angemessen ist. Allerdings würde die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Verbots der OT-Mitgliedschaft bereits auf der ersten Stufe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes scheitern.206 Denn selbst bei einem Verbot der OTMitgliedschaft im Stufenmodell bleibt weiterhin eine OT-Mitgliedschaft im sog. Aufteilungsmodell möglich. Der Arbeitgeberverband kann sich danach aufteilen in zwei getrennte Verbände, von denen nur einer tariffähig ist, der andere sich dagegen durch entsprechende Regelung in der Satzung auf Dienstleistungen gegenüber seinen Mitgliedern und die Interessenvertretung nach außen beschränkt. Im Ergebnis besteht neben dem tariffähigen Verband ein zweiter, rechtlich selbständiger Verband, der zwar ebenfalls als Koalition unter dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG steht, der aber mangels Tarifwilligkeit keine Tarifvertragspartei gemäß § 2 Abs. 1 TVG207 und damit auch nicht Gegner von Arbeitskampfmaßnahmen der Gewerkschaft sein kann.208 Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob ein Eingriff in den Kernbereich der Verbandsautonomie überhaupt angemessen sein kann. Richtigerweise ist die Binnenorganisation einer Koalition durch die 203  Deinert/Walser,

AuR 2015, 386 (387). Linke, Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!, 2021, S. 20; vgl. auch Hoffmann, in: Hoffmann/Bogedan, Arbeit der Zukunft, 2015, S. 11 (16). 205  BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1230 f.). 206  Im Ergebnis übereinstimmend Henssler, RdA 2021, 1 (2). 207  Vgl. Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S.  399 f.; Besgen, Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung, 1998, S. 30 ff.; HMB/Höpfner, Der Tarifvertrag, 2. Auflage, 2016, Teil 2 Rn. 151; Buchner, NZA 1994, 2 (10); Löwisch, ZFA 1974, 29 (33). 208  Davon zu unterscheiden sind Arbeitskampfmaßnahmen gegen die Mitglieder des tarifunfähigen Verbands um den Abschluss eines Firmentarifvertrags. Diese sind weiterhin zulässig, da der Arbeitgeber nach § 2 Abs. 1 TVG stets tariffähig ist. Die Tarifwilligkeit ist nur auf Verbandsebene Voraussetzung der Tariffähigkeit. 204  Die



5.4  Einzelne Maßnahmen433

kollektive Komponente des Freiheitsrechts des Art. 9 Abs. 3 GG generell vor staatlichen Zwangsvorgaben geschützt,209 weil anderenfalls die Unabhängigkeit der Koalition und dadurch die Staatsfreiheit der Tarifautonomie insgesamt in Frage gestellt wird. Auch die Gewerkschaften haben inzwischen erkannt, dass ein gesetz­ liches Verbot der OT-Mitgliedschaft offenkundig keine Erfolgschancen hat. Sie fordern daher auch kein Verbot mehr, sondern lediglich eine Einschränkung des Wechsels von Vollmitgliedern in die OT-Mitgliedschaft.210 So sollen Arbeitgeber gesetzlich dazu verpflichtet werden, ihren Mitgliedschaftsstatus gegenüber der Gewerkschaft oder der Belegschaft offenzulegen.211 Außerdem soll die sog. „Blitz-Rechtsprechung“ des BAG dahingehend fortentwickelt werden, dass ein Arbeitgeber, der während laufender Tarifverhandlungen von der Voll- in die OT-Mitgliedschaft wechselt, ohne die Gewerkschaft darüber zu informieren, nicht nur – wie es der 4. Senat des BAG vertritt212 – an den zu diesem Zeitpunkt verhandelten Tarifvertrag, sondern auch an alle künftigen Tarifverträge nach § 3 Abs. 1 TVG gebunden ist.213 Auch diese Forderungen sind abzulehnen. Zunächst fehlt bereits der geltenden Rechtsprechung des BAG zum „Blitzwechsel“ und zum „Blitzaustritt“ jede rechtliche und tatsächliche Grundlage. Es ist nicht erkennbar, weshalb zwar ein Austritt oder Statuswechsel während der laufenden Tarifverhandlungen gerade dann die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gefährden soll, wenn die Gewerkschaft darüber nicht informiert wird. Unklar ist auch, wer Adressat der Informationspflicht oder -obliegenheit sein soll. Der Arbeitgeber kann dies schon deshalb nicht sein, weil zwischen ihm und der Gewerkschaft kein Schuldverhältnis besteht. Für den Arbeitgeberverband könnte man zwar eine solche Pflicht aus dem (vor-)vertraglichen Schuldverhältnis zur Gewerkschaft konstruieren. Dann kann die Rechtsfolge der Pflichtverletzung jedoch nicht die Tarifbindung des an diesem Schuldverhältnis unbeteiligten Arbeitgebers sein.214 Rechtspolitisch wäre es äußerst fragwürdig, ausgerechnet eine rechtsdogmatisch derart haltlose 209  Henssler,

RdA 2021, 1 (2). Positionen zur Stärkung der Tarifbindung, 2019, S. 3; ebenso SPD, Aus Respekt vor Deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm, 2021, S. 27. 211  DGB, Positionen zur Stärkung der Tarifbindung, 2019, S. 3. 212  BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1367, 1371 ff.); BAG v. 19.6.2012 – 1 AZR 775/10, NZA 2012, 1372 Rn. 30, 37; BAG v. 21.11.2012 – 4 AZR 27/11, NZA-RR 2014, 545 Rn. 29, 32. 213  Vgl. Deinert/Walser, AuR 2015, 386 (389). 214  Vgl. näher dazu Höpfner, ZFA 2009, 541 (561 ff.). 210  DGB,

434

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

Rechtsprechung zu kodifizieren, die im Schrifttum auf fast einhellige Ablehnung gestoßen ist.215 Darüber hinaus wäre eine Verschärfung der Informationspflichten aber auch schlicht nicht geeignet, das von den Gewerkschaften und den Sozialdemokraten verfolgte Ziel, die Einschränkung der OT-Mitgliedschaft, zu erreichen. Wie schon nach der geltenden Rechtsprechung des BAG muss der Arbeitgeber, der während laufender Tarifverhandlungen in die OT-Mitgliedschaft wechselt, die Gewerkschaft lediglich über den Statuswechsel informieren, um die Bindung an den neuen Tarifvertrag zu verhindern. Der Gesetzesvorschlag schafft damit kein effektives Hindernis für OT-Mitgliedschaften, sondern beschränkt sich auf unnötigen Formalismus und schafft so lediglich bürokratischen Aufwand. Zu berücksichtigen ist schließlich, dass OT-Mitgliedschaften auch einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Tarifautonomie leisten.216 Den Arbeitgeberverbänden ist es durch die Einführung von OT-Mitgliedschaften gelungen, ihre Mitgliederentwicklung zu stabilisieren.217 Verbände, die ihren Mitgliedern eine OT-Mitgliedschaft bieten, konnten sicherstellen, dass aus der „Flucht aus dem Flächentarifvertrag“ keine Flucht aus dem Arbeitgeberverband wurde.218 Zudem sind Arbeitgeberverbände auch für Arbeitgeber attraktiv geworden, die bisher von einem Beitritt abgesehen haben, weil sie sich nicht dem Tarifvertragsregime der Branche unterwerfen wollten. So kamen in Bayern in der Metall- und Elektro-Industrie im Jahr 2017 fast 80 Prozent aller OT-Mitglieder aus den Reihen der Nichtmitglieder.219 Von dieser Stärkung der Verbände durch OT-Mitglieder profitiert letztlich auch die Tarifautonomie, weil OT-Mitglieder häufig mit der Gewerkschaft Anerkennungstarifverträge abschließen.220

215  Vgl. nur Bauer, in: FS Picker, S. 889 (895 ff.); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (104 ff.); Franzen, in: FS Picker, S. 929 (936 ff.); Höpfner, ZFA 2009, 541 (561 ff.); Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; Konzen, FS Bauer, 2010, S. 559 (565 ff.); Willemsen/Mehrens, NJW 2009, 1916 (1917 ff.); Löwisch/Rieble, TVG, 3. Auflage, 2017, § 3 Rn.  314 ff. 216  Ebenso Franzen, in: FS Preis, 2021, S. 247 (252); Zander, in: FS Klebe, 2018, S. 484 (486). 217  Vgl. oben 4.4.9.1. 218  Vgl. den Untertitel von Besgen, Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung, 1998. 219  Vgl. oben 4.4.9.1. 220  Vgl. oben 4.4.9.1; ferner Franzen, in: FS Preis, 2021, S. 247 (252); Bepler, in: Verhandlungen des 70. DJT, 1. Band, 2014, S. B79.



5.4  Einzelne Maßnahmen435

5.4.4  Das sog. Genter System Die Tarifbindung erreicht in den Ländern der Europäischen Union ein ganz unterschiedliches Niveau. Sie reicht von Österreich mit einer Tarifbindung von 98 Prozent bis zu Litauen mit lediglich 7 Prozent.221 Neben Österreich, Frankreich und Belgien sind vor allem die skandinavischen Staaten in der Spitzengruppe vertreten. Es liegt daher nahe, dass diese Staaten häufig als Vorbilder genannt werden, wenn es um die Stärkung der Tarifautonomie in Deutschland geht. Das österreichische Koalitions- und Tarifvertragsrecht taugt allerdings von vornherein nicht zum Vorbild für den deutschen Gesetzgeber.222 In Österreich gilt ein System der korporativ verfassten Interessenvertretungen, das sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer eine Pflichtmitgliedschaft in den tariffähigen Kammern vorsieht.223 Während Tarifverträge auf Arbeitgeberseite mit der Kammer geschlossen werden, was eine flächendeckende Tarifbindung der Arbeitgeber zur Folge hat, macht die ­Arbeiterkammer von ihrer Tariffähigkeit in der Praxis keinen Gebrauch.224 Tarifverträge werden vielmehr vom Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) abgeschlossen, der in sieben Fachgewerkschaften unterteilt ist und faktisch als Monopolgewerkschaft auftritt. Gewerkschaftspluralismus gibt es zwar rechtlich, jedoch nicht in der Praxis.225 Die Organisationsrate im ÖGB ist dabei gar nicht besonders hoch und – wie in Deutschland auch – seit Jahren rückläufig. Während 1981 noch knapp 60 Prozent der Arbeitnehmer organisiert waren, betrug der Organisationsgrad 2014 nur noch 25,5 Prozent.226 Allerdings sorgt der österreichische Gesetzgeber für eine fast ausnahmslose Tarifgeltung, da dort nicht – wie im deutschen Tarifvertragsrecht – das Prinzip der beiderseitigen Tarifbindung gilt, sondern Tarifverträge für sämtliche Arbeitnehmer gelten, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist.227 Schulten, in: WSI (Hrsg.), Zukunft Soziales Europa, 2021, S. 23. dazu aus österreichischer Sicht Marhold, in: Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.), Arbeitskampf, Verhandlung und Schlichtung, 2018, S. 53 (68): Das österreichische kollektive Arbeitsrecht habe so spezifische Voraussetzungen, dass es sich nicht als Exportartikel eigne. 223  Vgl. Junker, ZFA 2013, 91 (134). 224  Vgl. Fornasier, SR 2017, 239 (242); Schlachter, SR 2020, 205 (209). 225  Vgl. Marhold, in: Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.), Arbeitskampf, Verhandlung und Schlichtung, 2018, S. 53 (56); Rebhahn, EuZA 2010, 62 (77). 226  Vgl. zu den Zahlen von 2014 Dieke/Lesch, IW-Trends 44 (2017), 25 (27). 227  Vgl. Fornasier, SR 2017, 239 (242); Marhold, in: Giesen/Junker/Rieble (Hrsg.), Arbeitskampf, Verhandlung und Schlichtung, 2018, S. 53 (57). 221  Vgl. 222  Vgl.

436

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

In der Gesamtschau ist das österreichische Kollektivvertragsrecht daher „die Inkarnation all dessen, was in Deutschland unter der Geltung von Art. 9 Abs. 3 GG für verfassungswidrig gehalten wird“.228 Verfassungsrechtlich ließe sich lediglich über eine eingeschränkte Erga-omnes-Wirkung von Tarifnormen ohne zwingende Wirkung für Außenseiter-Arbeitnehmer diskutieren.229 Aber dieses Modell, das viele Folgeprobleme aufwirft230 und legitimatorisch ebenfalls nicht unproblematisch ist,231 würde keine Stärkung der Tarifautonomie darstellen. Denn auch von einer eingeschränkten Erga-omnes-Wirkung gehen keinerlei Beitrittsanreize aus, sondern es wird im Gegenteil hierdurch ein weiterer Negativanreiz zum Gewerkschaftsbeitritt gesetzt.232 Dieses Modell wird daher hier auch nicht weiterverfolgt. Anders ist die Situation in Belgien und den skandinavischen Ländern. Dort gilt das sog. Genter System, bei dem die Verwaltung der (freiwilligen) Arbeitslosenversicherung in die Hände der Gewerkschaften gelegt ist. Dabei handelt es sich um ein recht altes System, das auf die in der Stadt Gent 1901 eingeführte Arbeitslosenversicherung zurückgeht233 und in den folgenden Jahren von einigen Staaten, insbesondere Frankreich, Belgien, Norwegen, Dänemark, Finnland und Schweden,234 aber auch einigen deutschen Gemeinden235 in modifizierter Form übernommen worden war, bevor nach dem Ersten Weltkrieg in den meisten Ländern eine staatliche Arbeitslosenversicherung eingeführt wurde.236 Nur in den Staaten Dänegleichermaßen pointiert wie zutreffend Junker, ZFA 2013, 91 (134). der Vorschlag von Kamanabrou, in: dies. (Hrsg.), Erga-omnes-Wirkung von Tarifverträgen, 2011, S. 3 (84 f.); für eine „echte“ Erga-omnes-Wirkung sämt­licher Tarifnormen nach dem Modell des § 3 Abs. 2 TVG Wiedemann, RdA 2007, 65 (70). Eine solche wäre jedoch eindeutig verfassungswidrig, vgl. nur Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 434 ff.; Rieble, EuZA 2012, 496 (500). 230  Vgl. Franzen, ZFA 2012, 533 (543  ff., 547 ff.); Rieble, EuZA 2012, 496 (504 f.). 231  Vgl. Rieble, EuZA 2012, 496 (498 ff.); Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 439 ff. 232  Bepler, in: Verhandlungen des 70. DJT, 1. Band, 2014, S. B40; das gesteht im Übrigen auch Kamanabrou, in: dies. (Hrsg.), Erga-omnes-Wirkung von Tarifverträgen, 2011, S. 3 (94) selbst zu. 233  Vgl. dazu Vandaele, Transfer 12 (2006), 647 (648); Monopolkommission, XVIII. Hauptgutachten, Nr. 914. 234  Vgl. Vandaele, Transfer 12 (2006), 647 (648 f.). 235  Vgl. Seiwerth, NZA 2014, 708 (709). 236  Vgl. Seiwerth, NZA 2014, 708 (709); Leonardi, WSI-Mitteilungen 59 (2006), 79 (81). 228  So 229  So



5.4  Einzelne Maßnahmen437

mark, Finnland, Schweden und Island wird die Arbeitslosenversicherung heute noch von den Gewerkschaften verwaltet.237 In der ursprünglichen Ausgestaltung des Genter Systems hatten nur Gewerkschaftsmitglieder einen Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung, die zwar von den Gewerkschaften verwaltet, aber überwiegend durch staatliche Zuschüsse finanziert wurde.238 Dieses Modell wurde jedoch schon vor langer Zeit verworfen. Heute können alle Arbeitnehmer, unabhängig von ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft, der Arbeitslosenkasse beitreten. Allerdings wird diese im Wesentlichen staatlich finanzierte Arbeitslosenkasse weiterhin von den Gewerkschaften bzw. gewerkschaftlich kontrollierten Einrichtungen verwaltet, was dazu führt, dass die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung verbreitet den Gewerkschaften und nicht dem Staat zugeschrieben werden.239 Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Der Beitritt zur Arbeitslosenkasse ist zwar freiwillig, jedoch besteht faktisch ein erheblicher Anreiz zum Beitritt, da Nichtmitglieder nur eine vom bisherigen Einkommen unabhängige Grundsicherung erhalten.240 Während Außenseiter der Kasse gegen Zahlung einer Gebühr beitreten können, sind Gewerkschaftsmitglieder automatisch Mitglieder der Kasse, ohne dass sie dafür eine separate Gebühr entrichten müssen.241 Aus wirtschaftlicher Sicht ist es für Arbeitnehmer attraktiv, direkt in die Gewerkschaft einzutreten, da die Mitgliedsbeiträge dort nur unwesentlich höher sind als die von den Außenseitern an die Kasse zu entrichtenden Gebühren.242 In Schweden bieten die Gewerkschaften ihren Mitgliedern darüber hinaus eine Zusatzversicherung an, die zu den Leistungen der Kasse hinzutritt und die Bezugsdauer verlängert.243 Das Ergebnis spiegelt sich in den hohen Organisationszahlen und einem hohen Grad an Tarifbindung in den genannten Staaten wider. Besonders positiv wird dabei hervorgehoben, dass die Organisationsrate gerade bei Arbeitnehmern, die auf Grundlage

237  Vgl. Fornasier, SR 2017, 239 (242); zur Situation in Belgien Leonardi, WSIMitteilungen 59 (2006), 79 (81). 238  Vgl. dazu Faust, Arbeitsmarktpolitik im deutschen Kaiserreich: Arbeitsvermittlung, Arbeitsbeschaffung und Arbeitslosenunterstützung 1890–1918, 1986, S. 142 ff.; Schlachter, SR 2020, 205 (211). 239  Fornasier, SR 2017, 239 (242). 240  Seiwerth, NZA 2014, 708 (710); Fornasier, SR 2017, 239 (243). 241  Leonardi, WSI-Mitteilungen 59 (2006), 79 (82); in Schweden haben Gewerkschaftsmitgliedern einen geringen Betrag zu zahlen, um Mitglied der Kasse werden zu können, vgl. Schlachter, SR 2020, 205 (211 f.). 242  Vgl. Fornasier, SR 2017, 239 (243); Schlachter, SR 2020, 205 (211 f.). 243  Schlachter, SR 2020, 205 (213).

438

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

eines befristeten Arbeitsvertrags oder in der Arbeitnehmerüberlassung tätig sind, verhältnismäßig hoch ist.244 Das Genter System wird immer wieder als mögliches Vorbild für eine Gesetzgebung in Deutschland genannt, zuletzt etwa in Form einer von den Sozialpartnern verwalteten zusätzlichen privaten Alterssicherung im System der Riester-Rente.245 Dass das Genter System ein tauglicher Lösungsansatz für die Stärkung der Tarifautonomie in Deutschland ist, ist allerdings zweifelhaft.246 Nichts spricht dagegen, dass die Sozialpartner eine für Arbeitnehmer attraktive tarifvertragliche Zusatzversorgung vereinbaren, die von einer gemeinsamen Einrichtung verwaltet wird und über einen Vertrag zugunsten Dritter247 oder ggf. über eine Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags auch Außenseiter einbezieht. Anders stellt sich die Situation allerdings dar, wenn Gewerkschaften bei der Administration staatlicher Leistungen als „Verwaltungshelfer“ eingesetzt werden. Beschränkungen der Leistungen auf Mitglieder oder Privilegierungen der Mitglieder bei der Höhe der Leistungen scheiden mit Blick auf das aus Art. 9 Abs. 3 GG folgende Neutralitätsgebot des Staates und die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter von vornherein aus.248 Zudem zeichnet sich die Koalitionsfreiheit in Deutschland durch eine strikte Staatsferne der Koalitionen aus, sodass die staatlich verordnete Verwaltung einer Zusatzversicherung im Bereich der Sozialversicherungen auch ohne Privilegierung der Gewerkschaftsmitglieder problematisch wäre. Schließlich zeigt der Blick nach Skandinavien, dass der Erfolg des Genter Systems dort nicht zuletzt historisch begründet ist: Die Einbindung der Gewerkschaften in die Arbeitslosenversicherungen über Jahrzehnte hinweg hat die Einstellung der Arbeitnehmer gegenüber den Gewerkschaften stark geprägt und jenseits der klassischen industriellen Gewerkschaftsmilieus eine emotionale Bindung geschaffen, die man in einem System mit einem wesentlich geringeren gewerkschaftlichen Organisationsgrad nicht durch ein „legal transplant“249 begründen kann.250 244  Fornasier, SR 2017, 239 (243 f.); Leonardi, WSI-Mitteilungen 59 (2006), 79 (83); Schlachter, SR 2020, 205 (213). 245  Greiner, in: FS Moll, 2019, S. 205 (209). 246  Kritisch auch Seiwerth, NZA 2014, 708 (710); Schlachter, SR 2020, 205 (214 ff.); Waltermann, RdA 2014, 86 (92); Fornasier, SR 2017, 239 (249); Bepler, in: Verhandlungen des 70. DJT, 1. Band, 2014, S. B41 f. 247  Vgl. dazu Höpfner, in: FS Preis, 2021, S. 455. 248  Vgl. auch Fornasier, SR 2017, 239 (249). 249  Vgl. zu diesem Begriff Watson, Legal Tranplants: An Approach to Comparative Law, 2. Auflage, 1993, S. 21 ff.; Fleischer, NZG 2004, 1129. 250  So auch Fornasier, SR 2017, 239 (249); Seiwerth, NZA 2014, 708 (710); Waltermann, RdA 2014, 86 (92); ders., ZFA 2020, 211 (226).



5.4  Einzelne Maßnahmen439

5.4.5  Einschränkung der Tarifdispositivität Ein weiteres Instrument, das der Gesetzgeber in den letzten Jahren bereits vereinzelt umgesetzt hat, ist die Beschränkung der Tarifdispositivität arbeitnehmerschützender Gesetze.251 Zuvor hatte der Gesetzgeber in sämtlichen Fällen tarifdispositiven Rechts – etwa bei Kündigungsfristen (§ 622 Abs. 4 BGB), der Höhe der Entgeltfortzahlung (§ 4 Abs. 4 EFZG), der Arbeitszeit (§ 7 Abs. 3 ArbZG, ggf. in Verbindung mit § 12 S. 2 ArbZG, § 8 Abs. 4 TzBfG, § 21a Abs. 2 JArbSchG, §§ 49 Abs. 2, 54 Abs. 2 SeeArbG), beim Urlaub (§ 13 Abs. 1 BUrlG), bei der Dauer und Zahl der Verlängerung sachgrundlos befristeter Arbeitsverträge (§ 14 Abs. 2 TzBfG), der Arbeit auf Abruf (§ 12 Abs. 6 TzBfG), dem Gleichstellungsgrundsatz im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung (§ 8 Abs. 2 und 4 AÜG) oder der betrieblichen Altersversorgung (§§ 19 f. BetrAVG) – eine Abweichung nicht nur durch Tarifvertrag, sondern im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags auch durch arbeitsvertragliche Bezugnahme auf diesen Tarifvertrag zugelassen.252 In jüngerer Zeit hat der Gesetzgeber das tarifdispositive Gesetzesrecht hingegen als „Instrument“ für mehr Tarifbindung entdeckt.253 Erste Beispiele hierfür bieten die 2017 eingeführte Überlassungshöchstdauer im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung nach § 1 Abs. 1b Satz 5 und 6 AÜG, die am 1. Januar 2019 in Kraft getretene Brückenteilzeitregelung des § 9a TzBfG254 sowie die auf tarifgebundene Unternehmer beschränkte Abweichung vom Verbot des Fremdpersonaleinsatzes in der Fleischwirtschaft durch Tarifvertrag nach § 6a Abs. 3 GSA Fleisch.255 Im erstgenannten Fall lässt der Gesetzgeber eine Abweichung von der gesetzlichen 18-monatigen Überlassungshöchstdauer durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung auf Grund eines Tarifvertrags zwar auch in Betrieben nicht tarifgebundener Entleiher zu; zugleich beschränkt er die Höchstdauer in diesem Fall jedoch auf 24 Monate. Für den tarifgebundenen Entleiher gilt diese Höchstdauer bereits Deinert/Walser, AuR 2015, 386 (390). dazu nur Schaub/Linck, Arbeitsrechts-Handbuch, 18. Auflage, 2019, § 31

251  Dafür 252  Vgl.

Rn. 9.

253  So ausdrücklich BMAS, Weißbuch Arbeiten 4.0, 2017, S. 13, 192; BMF/ BMAS, Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Mindestlohns und Stärkung der Tarifbindung, 2021, S. 6 f.; vgl. dazu auch 4.4.9.4. 254  Vgl. dazu Franzen, ZFA 2016, 25; Henssler, RdA 2021, 1 (6); Höpfner, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privilegierung tarifgebundener Arbeitgeber, 2019,  S.  28 ff.; Kingreen, NZA 2021, 1; Waltermann, ZFA 2020, 211 (222 ff.). 255  Vgl. zu den Details BeckOK ArbR/Thüsing, Stand: 1.6.2021, §  6a GSA Fleisch Rn.  27 ff.

440

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

nicht. Diese Differenzierung hat ausweislich der Gesetzesbegründung allein das Ziel, einen „Anreiz zur Tarifbindung“ zu setzen.256 Im Fall der Brückenteilzeit sieht § 9a Abs. 1 Satz 2 TzBfG vor, dass der Arbeitnehmer eine Verringerung der Arbeitszeit für mindestens ein Jahr und höchstens fünf Jahre beantragen kann. § 9a Abs. 6 TzBfG erlaubt den Tarifvertragsparteien, den Rahmen für den Zeitraum der Arbeitszeitverringerung abweichend von Absatz 1 Satz 2 auch zuungunsten des Arbeitnehmers festzulegen. Allerdings verzichtet der Gesetzgeber hier – im Gegensatz etwa zu § 8 Abs. 4 Satz 4 TzBfG – ganz bewusst auf die Möglichkeit der Inbezugnahme eines solchen Tarifvertrags in Außenseiter-Arbeitsverhältnissen.257 Der Gesetzgeber fasst Tarifnormen nach § 9a Abs. 6 TzBfG vom Gesetzgeber wohl, wie sich aus § 22 Abs. 2 TzBfG ergibt, als Betriebsnormen auf.258 Nach diesem – tarifrechtsdogmatisch wenig überzeugenden – Verständnis führt die Vorschrift daher im Ergebnis dazu, dass für tarifgebundene Arbeitgeber eine Abweichung von § 9a Abs. 1 Satz 2 TzBfG durch Tarifvertrag möglich ist, während nicht tarifgebundenen ­Arbeitgebern dieser Weg versperrt bleibt. Auch diese Beschränkung der Tarifdispositivität ist im Zusammenhang mit der im Weißbuch Arbeiten 4.0 dargelegten Agenda des BMAS zu sehen,259 neue arbeitsrechtliche Gesetze als „wichtige Voraussetzung für neue Flexibilitätskompromisse“ so zu gestalten, dass „wir Tarifpartnerschaft und Tarifbindung […] unterstützen können“.260 Über die verfassungsrechtliche Bewertung einer auf normativ tarifgebundene Arbeitgeber beschränkten Tarifdispositivität besteht im arbeitsund verfassungsrechtlichen Schrifttum keine Einigkeit. Nach der hier vertretenen Auffassung261 verstößt der Ausschluss der Möglichkeit einer ar256  BT-Drucks.

18/9232, S. 21. Boecken, in: Boecken/Joussen, TzBfG, 6. Auflage, 2019, § 9a Rn. 80, 85; unzutreffend Preis/Schwarz, NJW 2018, 3673 (3674). 258  Löwisch, BB 2018, 3061 (3064). 259  Ebenso Löwisch, BB 2018, 3061 (3065); Deinert/Maksimek/Sutterer-Kipping, Die Rechtspolitik des Sozial- und Arbeitsrechts, 2020, S. 554; methodisch unhaltbar dagegen Kingreen, Exklusive Tariföffnungsklauseln, 2020, S. 56; ders., NZA 2021, 1 (8) auf Grundlage der vom BVerfG längst aufgegebenen Wortlautgrenze der Auslegung, die hier überdies nicht überschritten wäre. 260  BMAS, Weißbuch Arbeiten 4.0, 2017, S. 13, 192. 261  Vgl. dazu näher Höpfner, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privilegierung tarifgebundener Arbeitgeber, 2019, S. 28 ff.; ebenso schon Franzen, ZFA 2016, 25 (39 ff.); Löwisch, BB 2018, 3061 (3065); a. A. Kingreen, Exklusive Tariföffnungsklauseln, 2020, S. 34 ff.; ders., NZA 2021, 1; Waltermann, ZFA 2020, 211 (223 f.); Deinert/Maksimek/Sutterer-Kipping, Die Rechtspolitik des Sozial- und Arbeitsrechts, 2020, S. 554. 257  Vgl.



5.4  Einzelne Maßnahmen441

beitsvertraglichen Bezugnahme auf den gesamten, fachlich und räumlich einschlägigen Tarifvertrag, der von tarifdispositivem Recht abweicht, gegen die Arbeitsvertragsfreiheit und die negative Koalitionsfreiheit des Außenseiters sowie gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG: Die Beschränkung der Tarifdispositivität auf die normative Tarifgeltung und die damit verbundene Unzulässigkeit der arbeitsvertraglichen Bezugnahme des Tarifvertrags stellt einen Eingriff in die von Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Arbeitsvertragsfreiheit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern dar.262 Der Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit kann nicht mit dem Schutz des Arbeitnehmers vor unangemessenen Arbeitsbedingungen gerechtfertigt werden. Der Ausschluss der Bezugnahmemöglichkeit ist zum Schutz des Arbeitnehmers nicht erforderlich. Ein Schutzbedürfnis, das eine Einschränkung der Vertragsfreiheit rechtfertigt, besteht weder im Fall der Verweisung auf einen Tarifvertrag in seiner Gesamtheit noch bei Arbeitgebern, die ihren Arbeitnehmern ausnahmslos günstigere Arbeitsbedingungen gewähren, als sie im einschlägigen Verbandstarifvertrag enthalten sind. Lediglich der Ausschluss einer punktuellen Verweisung auf die vom tarifdispositiven Gesetz abweichenden Tarifregelungen kann in AußenseiterArbeitsverhältnissen unter Umständen gerechtfertigt sein.263 Auch die Stärkung der Tarifautonomie durch Ausübung von Beitrittsdruck kann den Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit nicht rechtfertigen. Der Ausschluss der Bezugnahmemöglichkeit greift unangemessen in die Vertragsfreiheit des Außenseiter-Arbeitgebers ein, für den der Tarifvertrag aufgrund einer Globalverweisung bisher schon gilt. Darüber hinaus liegt auch ein Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit vor, wenn man im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 GG richtigerweise das Modell des unmittelbar-finalen Eingriffs zugrunde legt.264 Schließlich liegt eine Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG vor, da der normativ tarifgebundene Arbeitgeber und der kraft Globalverweisung tarif­ anwendende Arbeitgeber mit Blick auf das tarifdispositive Gesetzesrecht unterschiedlich behandelt werden. Die Gefahr einer missbräuchlichen Ausgestaltung der Arbeitsverträge in nicht tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen besteht bei einer Verweisung auf den gesamten fachlich und räumlich einschlägigen Verbandstarifvertrag jedoch nicht. Auch ist der Umstand, 262  Höpfner, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privilegierung tarifgebundener Arbeitgeber, 2019, S. 30 ff. 263  Vgl. Höpfner, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privilegierung tarifgebundener Arbeitgeber, 2019, S. 28 ff. 264  Vgl. dazu Höpfner, in: FS Moll, 2019, S. 287 (294 ff.); a. A. Waltermann, ZFA 2020, 211 (224), der jedoch die Parallele zur Berufsfreiheit übersieht.

442

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

dass der Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht dazu verpflichtet ist, Arbeitnehmerschutzgesetze tarifdispositiv auszugestalten, für den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die negative Koalitionsfreiheit ohne Relevanz.265 Es liegt daher kein Rechtfertigungsgrund für die Ungleichbehandlung von tarifgebundenen und tarifanwendenden Arbeitgebern sowie für den Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit vor.266 Der Gesetzgeber sollte den Weg, eine Abweichung von tarifdispositivem Recht nur durch normativ geltenden Tarifvertrag, nicht aber durch Inbezugnahme eines solchen Tarifvertrags zu erlauben, daher nicht weiterverfolgen.

5.4.6  Steuerliche Privilegierungen Martin Franzen hat 2018 in einem Gutachten für das Hugo-SinzheimerInstitut ein recht detailliertes Modell der steuerlichen Privilegierung des tarifgebundenen Arbeitsentgelts (als „große Lösung“) sowie eine vereinfachte steuerliche Absetzbarkeit des Gewerkschaftsbeitrags im Rahmen der Einkommensteuererklärung (als „kleine Lösung“) vorgestellt.267 Die SPD hatte diese „große Lösung“ in modifizierter Form in ihr Sozialstaatskonzept vom 11. Februar 2019 aufgenommen und angekündigt, tarifgebundene Unternehmen steuerlich besserzustellen als nicht tarifgebundene Unternehmen.268 Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil sprach sich für eine solche Privilegierung aus, weil die Tarifbindung „eine Art öffentliches Gut“ sei,269 ebenso die Länder Bremen, Brandenburg und Thüringen im Bundesrat.270 Obwohl sie zumindest vordergründig von diesem Vorschlag profitieren würden, lehnten die Arbeitgeberverbände diese staatliche Subventionierung der Tarifbindung mehrheitlich ab271 und meldeten verfas265  Zutreffend

(224).

Löwisch, BB 2018, 3061 (3065); a. A. Waltermann, ZFA 2020, 211

266  Franzen, ZFA 2016, 25 (39 ff.); Löwisch, BB 2018, 3061 (3065); Höpfner, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privilegierung tarifgebundener Arbeitgeber, 2019, S.  41 ff., 46 ff. 267  Franzen, Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt, 2018; ders., in: FS Preis, 2021, S. 247 (256 ff.); vgl. zuvor bereits Hopfner, Diskussionsbeitrag in Verhandlungen des 70. DJT, Band II/2, 2014, S. K163. 268  SPD, Sozialstaatskonzept, 2019, S. 5; noch weitergehend Deinert/Maksimek/ Sutterer-Kipping, Die Rechtspolitik des Sozial- und Arbeitsrechts, 2020, S. 565 ff. 269  Heil, Stuttgarter Zeitung vom 13.12.2018, S. 4. 270  BR-Drucks. 212/19, S. 3, 6; vgl. auch den Antrag der Fraktion Die Linke im Landtag Mecklenburg-Vorpommern vom 5.6.2019, LT-Drucks. 7/7311. 271  Vgl. Brossardt, in: FAZ v. 29.4.2019, S. 15; Dick, in: Stuttgarter Zeitung v. 13.12.2018, S. 4; Fickinger, Und bist du nicht willig …, in: FAZ v. 2.4.2019, S. 16;



5.4  Einzelne Maßnahmen443

sungsrechtliche Zweifel an.272 Möglicherweise aufgrund der vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken nahm die Politik Abstand von diesem Vorschlag. In seinen Handlungsempfehlungen vom September 2019 kündigte das BMAS an, sich dafür einsetzen zu wollen, „dass Mitgliedsbeiträge an Gewerkschaften künftig steuermindernd wirken, indem sie bspw. als Sonderausgaben geltend gemacht werden können“.273 Damit nimmt es die „kleine Lösung“ in den Blick, während die steuerliche Privilegierung des tarifgebundenen Arbeitsentgelts nicht mehr aufgegriffen wird. Blickt man in die Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien für die Bundestagswahl 2021, zeigt sich, dass steuerliche Anreize für die Tarifbindung oder die Verbandsmitgliedschaft dort nicht mehr vorkommen. Das gilt sowohl für die „große Lösung“ einer steuerlichen Privilegierung des tarifgebundenen Arbeitsentgelts als auch für die erleichterte Absetzbarkeit des Gewerkschaftsbeitrags als Sonderausgabe neben dem Pauschbetrag von 1.000 Euro. Sollte der Regelungsvorschlag steuerlicher Anreize in der kommenden Legislaturperiode doch wieder aufgegriffen werden, spricht alles dafür, sich auf die „kleine Lösung“ zu beschränken. Gegen die Herausnahme des Gewerkschaftsbeitrags aus dem Pauschbetrag nach § 9a EStG274 sprechen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Einwände.275 Das aus Art. 9 Abs. 3 GG folgende Neutralitätsgebot würde hierdurch nicht verletzt, weil auch Arbeitgeber ihre Mitgliedschaftsbeiträge in den Arbeitgeberverbänden steuerlich absetzen können und Außenseiter-Arbeitnehmer keiner Beitragslast unterliegen. Es würde zwar eine Privilegierung von Gewerkschaftsmitgliedern gegenüber Mitgliedern sonstiger Berufsverbände vorliegen, deren Beiträge weiter nach § 9a EStG zu behandeln sind. Diese UnKramer, in: Stuttgarter Zeitung v. 13.12.2018, S. 4; vbw, Der Mensch in der digitalen Arbeitswelt, 2021, S. 10. 272  Vgl. Höpfner, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privilegierung tarifgebun­ dener Arbeitgeber, 2019, S. 4 ff.; vgl. auch Thüsing, in: Handelsblatt v. 13.12.2018, ­https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/massive-benachteiligung-steuerra batte-fuer-tarifbindung-forderung-von-arbeitsminister-heil-stoesst-auf-deutliche-kri tik/23756306.html. (21.9.2021); wenig überzeugend demgegenüber der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages, Steuervergünstigungen für tarifgebundene Unternehmen, 2019, Az. WD 6- 3000- 147/18, S. 7 ff.; Deinert/Maksimek/Sutterer-Kipping, Die Rechtspolitik des Sozial- und Arbeitsrechts, 2020, S. 564 ff. 273  BMAS, Handlungsempfehlungen Neue Arbeit, 2019, S. 13, 28 f. 274  BMAS, Handlungsempfehlungen Neue Arbeit, 2019, S. 13, 28  f.; Franzen, Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt, 2018, S. 36 f., 70. 275  Ebenso Henssler, RdA 2021, 1 (6 f.); Waltermann, ZFA 2020, 211 (225 f.).

444

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

gleichbehandlung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG könnte allerdings durch die Bedeutung der Gewerkschaften für eine funktionsfähige Tarifautonomie gerechtfertigt werden.276 Schließlich liegt kein Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit vor, da von der Absetzbarkeit der Mitgliedsbeiträge kein erheblicher Druck zum Eintritt in die Gewerkschaft ausgeht. An dieser Stelle zeigt sich jedoch zugleich, dass dieser Vorschlag in der Praxis aller Voraussicht nach wirkungslos bleiben würde.277 Bei einem durchschnittlichen Jahresbruttoeinkommen von ca. 46.500 Euro beträgt der typische Gewerkschaftsbeitrag 465 Euro im Jahr. Da der Durchschnittssteuersatz bei diesem zu versteuernden Einkommen bei knapp 24 Prozent liegt, müsste der Arbeitnehmer auch bei einem vollen Abzug als Werbungskosten im Ergebnis für mehr als drei Viertel des Mitgliedsbeitrags selbst aufkommen. Anreize zum Beitritt werden hierdurch nicht gesetzt, sondern lediglich die bestehenden Negativanreize zu einem geringen Teil ausgeglichen. Alternativ zu der von Franzen vorgeschlagenen Ergänzung des § 9a EStG278 wäre es denkbar, sich an den Regelungen zur steuerlichen Absetzbarkeit von Mitgliedsbeiträgen und Spenden an politische Parteien in § 34g EStG zu orientieren. Das hätte den Vorteil, dass die steuerliche Entlastung unabhängig vom individuellen Steuersatz des Arbeitnehmers wäre. Gegen die „große Lösung“, die die steuerliche Privilegierung des tarifgebundenen Arbeitsentgelts, lassen sich demgegenüber erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken geltend machen, die bereits an anderer Stelle ausführlich begründet worden sind.279 Hier genügt es, die wichtigsten Ergebnisse kurz zusammenzufassen: Eine steuerliche Privilegierung der Verbandsmitgliedschaft oder der normativen Tarifgebundenheit würde gegen das aus Art. 9 Abs. 3 GG folgende Neutralitätsgebot des Staates verstoßen. Aus dem Neutralitätsgebot als objektives Verfassungsprinzip folgt zwar kein absolutes Regelungsverbot, jedoch ein „Beihilfeverbot“ des Staates zugunsten der Koalitionen. Der Staat darf die Koalitionszugehörigkeit nicht direkt oder indirekt mit Mit276  Franzen, Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt, 2018, S.  36 f. 277  Ebenso die Einschätzung von Henssler, RdA 2021, 1 (7); Waltermann, ZFA 2020, 211 (226). 278  Vgl. Franzen, Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt, 2018, S. 70 f. 279  Höpfner, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privilegierung tarifgebundener Arbeitgeber, 2019, S. 4 ff.; ebenso Bauer, in: FS Moll, 2019, S. 33 (46); Loritz, in: FS Preis, 2021, S. 795 (801 f.); Rudkowski, NZA 2021, 315 (316 ff); a. A. Waltermann, ZFA 2020, 211 (226 f.).



5.4  Einzelne Maßnahmen445

teln der öffentlichen Hand subventionieren und so die Unabhängigkeit der Koalition gegenüber dem Staat gefährden. Eine steuerliche Privilegierung der Verbandsmitgliedschaft oder der normativen Tarifgebundenheit ist mit dem Neutralitätsgebot unvereinbar. Zugleich würde eine steuerliche Privilegierung des tarifgebundenen Arbeitsentgelts unmittelbar-final in die negative Koalitionsfreiheit des Außenseiters eingreifen280 und eine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG zwischen tarifgebundenen und lediglich (über eine schuldrechtliche Inbezugnahme des Tarifvertrags) tarifanwendenden Arbeitgebern dar­ stellen. Eine Rechtfertigung des Eingriffs und der Ungleichbehandlung kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil die steuerliche Privilegierung aufgrund des Neutralitätsverstoßes kein legitimes Mittel ist.

5.4.7 Solidaritätsbeiträge Das gleiche Ziel wie die steuerliche Privilegierung liegt dem jüngst vorgestellten Regelungsmodell eines Solidaritätsbeitrags für Außenseiter-Arbeitnehmer zugrunde. In Anlehnung an die Rechtslage in der Schweiz, in der Türkei und in den USA wird vorgeschlagen, dass Arbeitnehmer, die aufgrund einer schuldrechtlichen Bezugnahmeklausel am Tarifvertrag partizipieren und damit vom Verhandlungserfolg der Gewerkschaft profitieren, ohne Mitglied zu sein, einen Solidaritätsbeitrag leisten, dessen Höhe den Mitgliedsbeitrag in der Gewerkschaft nicht überschreiten darf.281 Der Hintergrund ist das oben dargestellte systemische Defizit des geltenden Tarifvertragsrechts, dass der Arbeitgeber dem Außenseiter-Arbeitnehmer die Tarifgeltung über eine Inbezugnahme des Tarifvertrags kostenfrei zur Verfügung stellen kann und damit der Abschluss von Tarifverträgen als wichtigste Leistung der Gewerkschaft keinen Anreiz mehr zum Koalitionsbeitritt bietet. Es liegt vielmehr im Gegenteil ein Negativanreiz zum Beitritt vor, weil der am Tarifvertrag partizipierende Außenseiter den Mitgliedsbeitrag spart und damit bessergestellt ist als der in der Gewerkschaft organisierte Arbeitnehmer.282 Die übrigen Leistungen der Gewerkschaft 280  Diesen Umstand übersehen Deinert/Maksimek/Sutterer-Kipping, Die Rechtspolitik des Sozial- und Arbeitsrechts, 2020, S. 566. 281  Höpfner, ZFA 2020, 178; sympathisierend auch Henssler, RdA 2021, 1 (7); ablehnend Loritz, in: FS Preis, 2021, S. 795 (799 ff.), jedoch mit der unzutreffenden Grundannahme, Solidaritätsbeiträge führten zu einer „effektiven Mehrbelastung“ nur der Außenseiter. Das ist gerade nicht der Fall. Diesen wird lediglich der unverdiente Vorteil einer kostenfreien Partizipation am Tarifvertrag genommen und damit der wirtschaftliche Vorteil gegenüber Gewerkschaftsmitgliedern eingeebnet. 282  Ebenso Hartmann, ZFA 2020, 152 (153); Schlachter, SR 2020, 205 (207).

446

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

(Rechtsberatung, Prozessvertretung, Streikunterstützung) wiegen die Mitgliedschaftskosten nicht auf.283 Im Gegensatz zu dem oben dargestellten steuerrechtlichen Ansatz gerät das Modell der Solidaritätsbeiträge nicht in Konflikt mit dem Neutralitätsgebot, da der Staat die Koalitionen nicht selbst finanziert, sondern mit der Einführung von Solidaritätsbeiträgen lediglich dafür sorgt, dass Außenseiter sich an den Kosten der Tarifautonomie beteiligen, sofern sie von ihr profitieren. Zudem ist die Beitragspflicht vom individuellen Steuersatz des Außenseiters unabhängig, sodass die über die Bezugnahmepraxis bestehenden Negativanreize zielgerichtet beseitigt werden können. Auch sonst bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Einwände gegen dieses Modell. Zwar liegt ein unmittelbar-finaler Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter-Arbeitnehmer vor. Sofern der Solidaritätsbeitrag, wie von diesem Lösungsansatz vorgeschlagen,284 die Höhe des Mitgliedsbeitrags der tarifschließenden Gewerkschaft nicht übersteigt, ist dieser Eingriff jedoch gerechtfertigt.285 Denn Solidaritätsbeiträge gleichen lediglich den bestehenden Negativanreiz zum Beitritt aus, führen aber nicht zu einer Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern gegenüber Außenseitern. Problematisch könnte allerdings aus psychologischer Sicht sein, dass die Einführung eines Solidaritätsbeitrags als Zwangsabgabe bei denjenigen Arbeitnehmern, denen aktuell bereits über eine Bezugnahmeklausel tarifvertragliche Arbeitsbedingungen gewährt werden, eine (weitere) Distanzierung gegenüber den Gewerkschaften auslösen könnte. Um diesen Abwehrreflexen vorzubeugen, dürfen die Beiträge weder von den Gewerkschaften eingezogen werden, noch sollten sie, wenn sie etwa über das Finanzamt eingezogen werden, an die Gewerkschaften abgeführt werden. Auch müsste zwingend gewährleistet werden, dass nur Außenseiter, die über eine Bezugnahmeklausel auch tatsächlich vollständig am Tarifvertrag partizipieren, von der Beitragspflicht erfasst würden. Arbeitnehmer, denen nur ein Teil der tariflichen Leistungen gewährt wird, oder die aufgrund ihrer besonderen Qualifikation und Verhandlungsmacht übertariflich bezahlt werden, dürfen nicht einbezogen werden. Ein Modell wie der Rundfunkbeitrag, den jeder Haushalt und Betrieb zu zahlen hat, unabhängig davon, ob er die Leistungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Anspruch näher Höpfner, ZFA 2020, 178 (202 ff.). ZFA 2020, 178 (204, 206). 285  Schlachter, SR 2020, 205 (215) plädiert sogar für eine Besserstellung der Mitglieder gegenüber den Außenseitern. Das verstößt jedoch gegen die negative Koali­ tionsfreiheit. 283  Vgl.

284  Höpfner,



5.4  Einzelne Maßnahmen447

nimmt oder nicht, taugt nicht als Vorbild für Solidaritätsbeiträge. Vor dem Hintergrund der aktuellen Kritik am verpflichtenden Rundfunkbeitrag sowie der Kritik am Einzug der Kirchensteuer durch die Finanzämter erscheint die politische Durchsetzbarkeit eines Solidaritätsbeitrags als Zwangsbeitrag allerdings wenig wahrscheinlich. Bei dem Vorschlag des Solidaritätsbeitrags geht es schließlich nicht darum, die Möglichkeit von Bezugnahmeklauseln einzuschränken. Bezugnahmeklauseln können ein sinnvolles Instrument sein, um innerbetrieblich ein einheitliches Vergütungssystem zu schaffen. Darüber hinaus stärken sie die Ordnungs- und Verteilungswirkung von Tarifverträgen. Ihre – verfassungsrechtlich ohnehin zwingend vorgegebene – Zulässigkeit bleibt von der Beitragspflicht unberührt. Das Ziel besteht auch nicht darin, schwachen Verbänden eine Durchsetzungsfähigkeit bei Tarifverhandlungen zu verschaffen. Das ist nicht Aufgabe des Staates.286 Es geht bei diesem Modell allein darum, dem in der geltenden Tarifrechtsordnung bestehenden strukturellen Defizit – einer Wettbewerbsverzerrung zugunsten der Außenseiter287 – nach klassischem ordoliberalen Muster mit einer möglichst geringfügigen Änderung der Rahmenbedingungen zu begegnen, mit der die bestehenden Negativanreize zum Beitritt für den Arbeitnehmer so weit wie möglich verringert werden.288 Freilich kann ein solcher ökonomischer Anreiz nur ein Baustein eines Gesamtkonzeptes sein.289 Es muss flankiert werden von einer auch für die Arbeitgeberseite attraktiven und vorausschauenden Tarifpolitik und von einer Beseitigung der Ausstiegshürden für Arbeitgeber durch zeitliche Begrenzung der Nachbindung nach § 3 Abs. 3 TVG.290

5.4.8  Einschränkung der zeitlichen Reichweite der Tarifbindung Ebenfalls bei der Bezugnahmepraxis und den davon ausgehenden Negativanreizen zum Gewerkschaftsbeitritt setzt ein weiterer, ebenfalls erst jüngst vorgestellter Ansatz an, der die zeitliche Reichweite der Tarifbindung beschränken will.291 Ausgangspunkt ist das Zusammenspiel von § 4 Abs. 1 und § 3 TVG. Danach wirken Tarifnormen unmittelbar und zwin286  Zutreffend

BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86 u. a., NZA 1995, 754 (756). ZFA 2020, 152 (177). 288  Zutreffend BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86 u. a., NZA 1995, 754 (756). 289  Zutreffend Henssler, RdA 2021, 1 (7); vgl. auch Schlachter, SR 2020, 205 (207). 290  Vgl. dazu oben 5.2.1. 291  Hartmann, ZFA 2020, 152 (168 ff.). 287  Hartmann,

448

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

gend in den Arbeitsverhältnissen zwischen den beiderseitig Tarifgebundenen. Tarifgebunden sind nach § 3 Abs. 1 TVG die Mitglieder der tarifschließenden Verbände. Sie bleiben es nach § 3 Abs. 3 TVG auch nach Beendigung der Mitgliedschaft, bis der Tarifvertrag endet oder geändert wird. Die Tarifgebundenheit beginnt im Zeitpunkt des Beitritts zur tarifschließenden Koalition. § 3 Abs. 1 TVG setzt nicht voraus, dass der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer bereits bei Abschluss oder Inkrafttreten des Tarifvertrags Koalitionsmitglied war. Ist eine Arbeitsvertragspartei nach § 3 Abs. 1 oder 3 TVG tarifgebunden, kann die andere Partei die normative Tarifgeltung durch ihren Beitritt zur Koalition begründen. Man spricht daher auch von einem „Optionsrecht“.292 In der Praxis betrifft das vor allem den Arbeitnehmer, der bei einem verbandsangehörigen Arbeitgeber beschäftigt ist. Dieser kann jederzeit die normative Wirkung der Verbandstarifverträge herbeiführen, indem er der tarifschließenden Gewerkschaft beitritt. Für den tarifgebundenen Arbeitgeber bedeutet dies, dass er zwar beim Abschluss des Arbeitsvertrags untertarifliche Arbeitsbedingungen mit dem Arbeitnehmer, dessen Gewerkschaftszugehörigkeit er nicht kennt und nach der er jedenfalls vor Vertragsschluss nicht fragen darf, vereinbaren kann. Diese Arbeitsbedingungen gelten, sofern der Arbeitnehmer nicht tarifgebunden ist, da anderenfalls die Tarifnormen die arbeitsvertraglichen Regelungen nach § 4 Abs. 1 TVG verdrängen. Allerdings kann der Arbeitnehmer jederzeit in die Gewerkschaft eintreten und dann ab diesem Zeitpunkt die normative Geltung des Tarifvertrags herbeiführen. Aus diesem Grunde (und ggf. einer Reihe weiterer Gründe) wird ein tarifgebundener Arbeitgeber regelmäßig in seinen Arbeitsverträgen durchgängig Bezugnahmeklauseln verwenden, um den Arbeitnehmer nicht faktisch zum Gewerkschaftsbeitritt zu drängen. Neuerdings wird vorgeschlagen, § 3 TVG dahingehend zu ändern, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer kraft Verbandsmitgliedschaft nur an solche Tarifverträge gebunden sind, bei deren Abschluss sie bereits Mitglied des tarifschließenden Verbands waren. Auf diese Weise würde die – aus dem durch die Tarifbindung des Arbeitgebers begründeten Optionsrecht folgende – „übersteigerte Marktmacht“ des Außenseiter-Arbeitnehmers auf ein angemessenes Maß zurückgestuft werden.293 Der Arbeitgeber müsste dann nicht damit rechnen, dass der Arbeitnehmer, der zu untertariflichen Bedingungen beschäftigt wird, in die Gewerkschaft eintritt, weil der Bei292  Rieble, ZFA 2000, 5 (16); Hartmann, ZFA 2020, 152 (169); Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015, S. 436. 293  Vgl. Hartmann, ZFA 2020, 152 (171, 177).



5.4  Einzelne Maßnahmen449

tritt nicht unmittelbar zur Tarifbindung führen würde, sondern erst später abgeschlossene Verbandstarifverträge im Arbeitsverhältnis gelten würden. Die Ursache für den kontinuierlichen Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads wird von dieser Auffassung zutreffend in der Bezugnahmepraxis in tarifgebundenen Unternehmen verortet. Es ist allerdings zweifelhaft, ob ein derart gravierender Eingriff in das Tarifvertragsrecht geboten und zielführend ist. Häufig werden tarifgebundene Arbeitgeber (auch) andere Gründe haben, Bezugnahmeklauseln in ihren Arbeitsverträgen zu verwenden. So kann eine Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer „nach Tarif“ auch im Zeitalter digitalisierter Lohnabrechnung schlicht aus Gründen der organisatorischen Vereinfachung gewünscht sein,294 oder der Arbeitgeber will die mit einem unterschiedlichen Lohnniveau im Unternehmen verbundenen Gefahren für den Betriebsfrieden vermeiden.295 Vor allem aber werden in der Vertragsgestaltungspraxis häufig große dynamische Bezugnahmeklauseln verwendet, weil diese im Fall von Verbandswechseln und Betriebsübergängen als (zulässige) „Tarifwechselklausel“ fungieren296 und für den Arbeitgeber erhebliche Vorteile mit sich bringen können. Es ist eine völlig unrealistische Vorstellung, dass ein tarifgebundener Arbeitgeber auf diese mit Bezugnahmeklauseln für ihn einhergehenden Vorteile nur deshalb verzichten würde, weil er den Arbeitnehmer bis zum Abschluss des nächsten Entgelttarifvertrags für einen regelmäßig eng begrenzten Zeitraum von wenigen Monaten bis maximal zwei oder drei Jahren zu untertariflichen Konditionen beschäftigen könnte. Die damit verbundenen organisatorischen Nachteile stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zu den erzielten Vorteilen. An der bisherigen Bezugnahmepraxis in den tarifgebundenen Unternehmen würde sich daher aller Voraussicht nach nichts ändern. Hinzu kommt, dass das vorgeschlagene Modell keine Lösung für Unternehmen vorsieht, in denen gewillkürte Tarifpluralität herrscht. Hat der Arbeitgeber mit zwei Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen und wechselt der Arbeitnehmer von der einen in die andere Gewerkschaft, hätte dies zur Folge, dass er an den Tarifvertrag seiner neuen Gewerkschaft nicht gebunden ist; es kommt vielmehr zu einer Nachbindung an den Tarifvertrag der alten Gewerkschaft nach § 3 Abs. 3 TVG. Damit werden Gewerkschaftswechsel, die sowohl von der positiven als auch von der negativen Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers gewährleistet werden, erheblich entHartmann, ZFA 2020, 152 (170). in: dies. (Hrsg.), Erga-omnes-Wirkung von Tarifverträgen, 2011, S. 3 (94); vgl. auch oben 5.2.2.2. 296  Vgl. BAG v. 13.5.2020 – 4 AZR 528/19, NZA 2020, 1420 Rn. 14. 294  A. A.

295  Kamanabrou,

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5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

wertet. Faktisch sind sie nur unmittelbar vor Inkrafttreten eines neuen Entgelttarifvertrags zielführend. Das mag vielleicht noch nicht verfassungswidrig sein, ist mit Blick auf die mitgliedschaftliche Legitimation der Tarifgeltung jedoch kaum erklärbar und jedenfalls rechtspolitisch keine überzeugende Lösung. Insgesamt ist die vorgeschlagene Änderung des § 3 Abs. 1 TVG daher, wenn man die Tarifpraxis berücksichtigt, kein geeignetes Instrument zur Stärkung der Tarifautonomie.297

5.4.9 Ausweitung der Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen sind zwar derzeit nicht Gegenstand von parteipolitischen Forderungen. Eine Ausweitung ihrer Zulässigkeit wird allerdings vom DGB gefordert. Danach sollte der Gesetzgeber zum einen klarstellen, dass Differenzierungsklauseln an sich und insbesondere Differenzierungen mit Stichtagsregelungen zulässig sind. Zum anderen sollten qualifizierte Differenzierungsklauseln in Form von Spannenklauseln entgegen der geltenden Rechtsprechung des BAG gesetzlich ermöglicht werden.298 Die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln war in den 1960er Jahren die wohl umstrittenste Frage im Tarifvertragsrecht. Die Kontroverse fand ihren vorläufigen Schlusspunkt in der Entscheidung des Großen Senats des BAG vom 29. November 1967, der Differenzierungsklauseln als tarifrechts- und verfassungswidrig verwarf.299 Damit war das Thema für längere Zeit geklärt. In den letzten 20 Jahren haben einige Gewerkschaften, insbesondere ver.di300 und die IG Metall,301 allerdings wieder verstärkt versucht, Differenzierungsklauseln als ein Instrument zur Mitgliedergewinnung einzusetzen. Die gewerkschaftliche Taktik, im Tarifvertrag Exklusivleistungen für ihre Mitglieder zu vereinbaren, die Außenseiter-Arbeitnehmern, deren Arbeitsvertrag auf den Tarifvertrag Bezug nimmt, vorenthalten werden, ist im Ausgangspunkt nachvollziehbar. Wenn tarifliche Leistungen exklusiv den Mitgliedern vorbehalten werden, kann dies ein Gegengewicht zu den von den Arbeitgebern flächendeckend verwendeten Bezugnahmedie Einschätzung von Franzen, in: FS Preis, 2021, S. 247 (248). Positionen zur Stärkung der Tarifbindung, 2019, S. 3. 299  BAG v. 29.11.1967 – GS 1/67, BAGE 20, 175. 300  Vgl. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028; BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 301  Vgl. BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388. 297  Ebenso 298  DGB,



5.4  Einzelne Maßnahmen451

klauseln darstellen und einen starken Anreiz für Arbeitnehmer zum Eintritt in die Gewerkschaft begründen. Der 4. Senat des BAG hatte sich in den letzten Jahren mehrfach mit der Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln zu beschäftigten. In seiner ersten Grundsatzentscheidung vom 18. März 2009 bewertete er – ohne Vorlage an den Großen Senat – eine einfache Differenzierungsklausel, die eine jährlich fällige Ausgleichszahlung in Höhe von 535 Euro brutto von der Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in der Gewerkschaft ver.di abhängig machte, für zulässig.302 Die Klausel verstoße weder gegen den Gleichheitssatz, noch greife sie in die negative Koalitionsfreiheit oder in die Arbeitsvertragsfreiheit der Außenseiter ein. Das ist zutreffend. Die Wirkung einer einfachen Differenzierungsklausel beschränkt sich darauf, die Gewerkschaftsmitgliedschaft zum Tatbestandsmerkmal eines tarifvertraglichen Anspruchs zu machen. Da das deutsche Tarifvertragsrecht mit seinem Grundsatz der beiderseitigen Tarifgebundenheit nach §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG die Tarifgeltung auf organisierte Arbeitnehmer beschränkt und damit schon im Ausgangspunkt eine „Totaldifferenzierung“ enthält, liegt in einer tarifvertraglichen Differenzierung kein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit. Vor allem aber bleibt die Arbeitsvertragsfreiheit der Außenseiter durch eine einfache Differenzierungsklausel unberührt. Die Individualparteien können ohne Weiteres303 vereinbaren, dass der Außenseiter-Arbeitnehmer einem Gewerkschaftsmitglied vollständig gleichgestellt wird und auch in den Genuss derjenigen Ansprüche kommt, die nach dem Tarifvertrag die Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in der Gewerkschaft tatbestandlich voraussetzen.304 In der zweiten Grundsatzentscheidung vom 23. März 2011 hatte der 4. Senat über die Zulässigkeit einer qualifizierten Differenzierungsklausel zu entscheiden. Konkret ging es um eine sog. Spannenklausel. Diese sichert über die einfache tatbestandliche Differenzierung hinaus einen Abstand zwischen tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern, 302  BAG

v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028. Auffassung des BAG genügt dafür allerdings nicht schon die allgemeine Verweisung auf den Tarifvertrag, es ist vielmehr eine ausdrückliche Regelung erforderlich, dass der Außenseiter auch tatbestandlich wie ein Gewerkschaftsmitglied zu behandeln sei, vgl. BAG 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rn. 27; ebenso Waltermann, Differenzierungsklauseln im Tarifvertrag in der auf Mitgliedschaft aufbauenden Tarifautonomie, 2016, S. 57; ablehnend Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171); dies., NZA 2011, 945 (948); Giesen, ZFA 2010, 657 (675 f.); Greiner/Suhre, NJW 2010, 131 (132 f.); Lobinger/Hartmann, RdA 2010, 235 (238); Höpfner, RdA 2019, 146 (147). 304  Vgl. dazu nur Höpfner, RdA 2019, 146 (153 f.). 303  Nach

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5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

indem sie eine entsprechende Erhöhung der Leistungen für die Gewerkschaftsmitglieder vorsieht, wenn der Arbeitgeber die Leistung auch Außenseitern gewährt. Der 4. Senat hat diese Klausel, wie zuvor schon der Große Senat im Jahr 1967, für unzulässig erklärt.305 Überzeugend hat der Senat herausgearbeitet, dass eine Spannenklausel die Lohngleichstellung der Außenseiter mit den organisierten Arbeitnehmern „rechtlich-logisch unmöglich“ mache.306 Dogmatisch handelt es sich dabei, entgegen der Auffassung des BAG, nicht um eine Frage der Tarifmacht, sondern der inhaltlichen Rechtmäßigkeit der Klausel. Im Ergebnis liegt darin ein nicht gerechtfertigter Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit der Außenseiter, weil bei einem Aufeinandertreffen von tarifvertraglicher Spannenklausel und arbeitsvertraglicher Gleichstellungsklausel eine Endloserhöhung von Leistungspflichten des Arbeitgebers die Folge wäre.307 Gegenüber dem Außenseiter entfalten Spannenklauseln daher eine „erdrosselnde Wirkung“.308 Aufgrund der durch sie begründeten infiniten Erhöhungsspirale würde es selbst bei einem ganz geringfügigen Abstand zu einer unbegrenzten Kostenlast des Arbeitgebers kommen, sodass dieser vom Vertragsschluss mit dem Außenseiter von vornherein Abstand nehmen muss. Spannenklauseln sind daher kein Vertrag im Wettbewerb, sondern ein Vertrag über den Wettbewerb.309 Sie verstoßen aus diesem Grunde gegen die von Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Vertragsfreiheit der Außenseiter-Arbeitnehmer.310 Die dritte zentrale Entscheidung des BAG zu diesem Themenkomplex vom 15. April 2015 betraf eine sog. Binnendifferenzierung. Im konkreten Fall differenzierte die tarifvertragliche Regelung bzgl. der Höhe von Überbrückungs- und Abfindungsleistungen zwischen zwei Gruppen von Mitgliedern nach der Dauer ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit. Das Besondere war, dass der Stichtag in der Vergangenheit lag, weshalb Arbeitnehmer, die der Gewerkschaft erst nach Abschluss des Tarifvertrags beitraten, nicht in den Genuss der höheren Leistung kommen konnten. Der 4. Senat war der Auffassung, dass es sich bei dieser Konstruktion nicht um eine einfache Differenzierungsklausel handelte, weil der Tarifvertrag nicht zwischen „In305  BAG

v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rn. 38 ff. v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rn. 38, 43, 52, 54. 307  Zutreffend BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rn. 55. 308  Hartmann, SAE 2011, 225 (229). 309  Hartmann/Lobinger, NZA 2010, 421 (423 f.). 310  BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rn. 43; Hartmann/Lobinger, NZA 2010, 421 (427); Löwisch/Rieble, TVG, 3. Auflage, 2017, § 1 Rn. 2154; a. A. Neumann, Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder, 2012, S. 199; Waltermann, Differenzierungsklauseln im Tarifvertrag in der auf Mitgliedschaft aufbauenden Tarifautonomie, 2016, S. 72. 306  BAG



5.4  Einzelne Maßnahmen453

sidern“ und „Outsidern“, sondern allein zwischen verschiedenen Gruppen der tarifgebundenen Arbeitnehmer unterschied.311 Er hielt die Klausel auch im Übrigen für wirksam. Die Differenzierung zwischen zwei Gruppen von Mitgliedern nach der Dauer ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit verstoße weder gegen die negative Koalitionsfreiheit noch gegen den Gleichheitssatz.312 Insbesondere sei die Wahl des Stichtags sachlich gerechtfertigt, weil die Tarifvertragsparteien den Kreis der Anspruchsberechtigten anderenfalls nicht verlässlich hätten bestimmen und damit das Gesamtvolumen der tariflichen Leistungen hätten planen können.313 Eine Verfassungsbeschwerde gegen dieses Urteil bliebt vor dem BVerfG erfolglos.314 Im Schrifttum stieß die Entscheidung des BAG auf teilweise heftige Kritik.315 Sie ist gleichwohl im Ergebnis zutreffend.316 Zwar liegt entgegen der Auffassung des 4. Senats in der Binnendifferenzierung zugleich auch eine Differenzierung zwischen organisierten und nicht organisierten Arbeitnehmern. Allerdings handelt es sich dabei lediglich um eine zulässige einfache Differenzierungsklausel. Die Vertragsfreiheit der Außenseiter wird nicht beeinträchtigt. Gleiches gilt für die negative Koalitionsfreiheit. Die Binnendifferenzierung hat zur Folge, dass ein nach Abschluss des Tarifvertrags eintretender Arbeitnehmer lediglich die geringeren Leistungen der untersten Stufe erhält. Die Klausel übt also keinen Beitrittsdruck aus, sondern mildert diesen sogar ab. Der zentrale Maßstab für die Rechtmäßigkeit von Binnendifferenzierungsklauseln ist daher nicht die Koalitionsfreiheit, sondern Art. 3 Abs. 1 GG. Bei der Gleichheitskontrolle von Tarifverträgen ist jedoch mit Blick auf die Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum sowie in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen eine Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien zu beachten.317 Im Ergebnis beschränkt sich die verfassungsrechtliche Kontrolle daher auf eine reine Willkürprüfung.318 Dabei war im konkreten 311  BAG

v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388 Rn. 27. v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388 Rn. 25 ff. 313  BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388 Rn. 42. 314  BVerfG v. 14.11.2018 – 1 BvR 1278/16, NZA 2019, 112. 315  Greiner, NZA 2016, 10; ders., in: FS Willemsen, 2018, S. 159 (163); HMB/ Steffan, Der Tarifvertrag, 2. Auflage, 2016, Teil 5 (8) Rn. 13; NK-GA/Hanau, 2016, Art. 9 GG Rn. 35; Giesen, ZFA 2016, 153 (192). 316  Vgl. ausführlich Höpfner, RdA 2019, 146. 317  BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388 Rn. 31; BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 211/11, NZA-RR 2013, 105; ErfK/Schmidt, 21. Auflage, 2021, Art. 3 GG Rn. 26. 318  Vgl. zuletzt BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 332/20 (A), BB 2021, 1529 Rn. 64 ff.; BAG v. 9.12.2020 – 10 AZR 334/20, ZTR 2021, 18 Rn. 39 ff. 312  BAG

454

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

Fall zu berücksichtigen, dass es sich um eine Unternehmensabwicklung handelte, in der das zu verteilende Volumen nicht aus den laufenden Erträgen erwirtschaftet wird, und die Tarifvertragsparteien deshalb ein besonderes Interesse an der Kalkulierbarkeit der Leistungen hatten.319 Auf herkömmliche Tarifverträge über laufende Leistungen lässt sich dies nicht übertragen. Hier wird eine Binnendifferenzierung regelmäßig gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, da die Dauer der Gewerkschaftszugehörigkeit ein sachwidriger Anknüpfungspunkt für das Austauschverhältnis der Arbeitsvertragsparteien ist. Fasst man die Rechtsprechung des BAG zu Differenzierungsklauseln zusammen, lässt sich festhalten: Einfache Differenzierungsklauseln sind zulässig, weil sie die Vertragsfreiheit der Außenseiter nicht berühren. Aus dem gleichen Grund verfehlen sie jedoch auch ihren Zweck. Der Arbeitgeber hat es weiter in der Hand, durch entsprechende Formulierung von Bezugnahmeklauseln eine völlige Gleichstellung von organisierten und nicht organisierten Arbeitnehmern herbeizuführen. Demgegenüber wären qualifizierte Differenzierungsklauseln an sich ein außerordentlich wirksames Instrument, mit dem die Gewerkschaft ihren Mitgliedern Exklusivleistungen verschaffen könnte. Gerade aus diesem Grunde sind sie jedoch unzulässig. Sie verstoßen gegen die Arbeitsvertragsfreiheit und, abhängig von der Höhe der Differenzierung, auch gegen die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter.320 Ebenfalls grundsätzlich unzulässig sind Binnendifferenzierungsklauseln; lediglich in Sanierungssituationen, in denen das zu verteilende Volumen von vornherein feststeht, können diese ausnahmsweise gerechtfertigt sein. Auf eine knappe Formel gebracht: Differierungsklauseln sind nur zulässig, wenn sie wirkungslos sind. Sind sie effektiv, sind sie aus diesem Grund unwirksam. Vor diesem Hintergrund fällt eine Bewertung der vom DGB geforderten Ausweitung von Differenzierungsklauseln nicht schwer. Eine gesetzliche Klarstellung der Zulässigkeit einfacher Differenzierungsklauseln ist nicht erforderlich. Die Zulässigkeit derartiger Klauseln ist seit 2009 geklärt. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass das BAG von dieser Rechtsprechung wieder abkehren wird. Differenzierungsklauseln mit Stichtagsregelungen sollten ebenso wenig gesetzlich geregelt werden. Dafür ist die Situation zu komplex. Es gibt nicht „die“ Stichtagsregelung, sondern es muss differen319  BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388 Rn. 37 ff.; ebenso Franzen, NZA-Beilage 2017, 66 (70); Höpfner, RdA 2019, 146 (156 f.); Löwisch/Rieble, TVG, 4. Auflage, 2017, § 1 TVG Rn. 2129; ablehnend Greiner, in: FS Willemsen, 2018, S. 159 (171). 320  Vgl. Höpfner, RdA 2019, 146 (157).



5.4  Einzelne Maßnahmen455

ziert werden zwischen Regelungen mit Stichtag in der Zukunft und in der Vergangenheit, Stichtagen für einmalige und für wiederkehrende Leistungen und Stichtagsklauseln mit und ohne Bleibefrist. In all diesen Fällen hängt die Zulässigkeit der Klausel zudem von der sachlichen Begründung für die Wahl des Stichtags ab. Keinesfalls kann aus der Entscheidung des BAG vom 15. April 2015 gefolgert werden, dass Differenzierungen mit Stichtagsklauseln generell zulässig sind. Es gilt sogar im Gegenteil, dass jedenfalls Differenzierungsklauseln mit Stichtag in der Vergangenheit grundsätzlich unwirksam sind, sofern nicht im konkreten Fall ausnahmsweise eine Rechtfertigung möglich ist.321 Klar ist die Situation hingegen bei der Spannenklausel. Wie jede qualifizierte Differenzierungsklausel stellt auch diese Klausel einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Vertragsfreiheit der Außenseiter und ggf. auch in die negative Koalitionsfreiheit dar. Eine gesetzliche Regelung im TVG, wonach Spannenklauseln zulässig wären, wäre verfassungswidrig. Sie kommt daher von vornherein nicht in Betracht.

5.4.10  Entwurf einer europäischen Mindestlohn-Richtlinie Die Europäische Union ist im Tarifvertragsrecht bisher gesetzgeberisch nur in Randbereichen aktiv geworden. Lediglich für den Fall eines Betriebsübergangs sieht die Betriebsübergangs-Richtlinie eine (begrenzte) Fortgeltung der tariflichen Regelungen beim Erwerber vor.322 Im Kernbereich des Tarifvertragsrechts blieb die Europäische Union dagegen untätig. Die Ursache hierfür liegt zum einen darin, dass das kollektive Arbeitsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sehr heterogen ausgestaltet ist und eine europäische Rechtsharmonisierung daher weder geboten noch politisch durchsetzbar ist. Zum anderen ist zweifelhaft, ob die Europäische Union überhaupt eine Gesetzgebungskompetenz für das Tarifvertragsrecht – oder allgemeiner: für das Recht der arbeitsrechtlichen Kollektivverträge – hat. Nach Art. 153 Abs. 5 AEUV darf die Europäische Union auf den Gebieten des Arbeitsentgelts, des Koalitionsrechts, des Streikrechts und des Aussperrungsrechts nicht gesetzgeberisch tätig werden. Das Tarifvertragsrecht ist dort nicht ausdrücklich genannt. Gleichwohl bejaht die wohl überwiegende Auffasaber wohl Hartmann, ZFA 2020, 152 (175). dazu Hartmann, EuZA 2015, 203; Willemsen/Krois/Mehrens, RdA 2018, 51; Witschen, NZA 2019, 1180; Höpfner, in: Gebauer/Wiedmann (Hrsg.), Europäisches Zivilrecht, 3. Auflage, 2021, Kap. 20 Rn. 211 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen auf die Rechtsprechung des EuGH. 321  Großzügiger 322  Vgl.

456

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

sung eine Kompetenzsperre auch für das Tarifvertragsrecht, da dieses Bestandteil des Koalitionsrechts und inhaltlich eng mit dem Arbeitskampfrecht verknüpft ist.323 Die Gegenauffassung verweist demgegenüber auf Art. 28 der EU-Grundrechtecharta (GRC)324 sowie auf Art. 153 Abs. 1 lit. f AEUV, wonach die Europäische Union für die Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung, zuständig ist.325 Allerdings gilt diese Zuständigkeit nur vorbehaltlich des Art. 153 Abs. 5 AEUV. Wie der EuGH sich hierzu positionieren wird, ist völlig offen. Auch wenn man von einer Kompetenzsperre der Europäischen Union für das Tarifvertragsrecht ausgeht, ist darüber hinaus zu beachten, dass der EuGH Art. 153 Abs. 5 AEUV als Ausnahmevorschrift eng auslegt und generell nur eine Sperrwirkung für die unmittelbare Regulierung der dort genannten Bereiche annimmt.326 Die genannte Ausnahme könne nicht auf alle Fragen ausgedehnt werden, die mit den in Art. 153 Abs. 5 AEUV genannten Regelungsmaterien in irgendeinem Zusammenhang stehen.327 Im Oktober 2020 hat die Europäische Kommission ihre Zurückhaltung im Bereich der Tarifpolitik aufgegeben und den Vorschlag einer Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union vorgelegt.328 Darin wird zu Recht ein „grundlegender Paradigmenwechsel in der europäischen Arbeitspolitik“ gesehen.329 Mit der vorgeschlagenen Richtlinie soll sichergestellt werden, dass Arbeitnehmer in der Europäischen Union 323  Vgl. Calliess/Ruffert/Krebber, EUV/AEUV, 5. Auflage, 2016, Art. 153 AEUV Rn. 12; Streinz/Eichenhofer, EUV/AEUV, 3. Auflage, 2018, Art. 153 AEUV Rn. 13; ders., AuR 2021, 148 (150); MünchArbR/Klumpp, 4. Auflage, 2019, § 227 Rn. 3; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Auflage, 2021, § 5 Rn. 14, 73; Rieble/ Kolbe, EuZA 2008, 453 (464). 324  Rebhahn/Reiner, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 4.  Auflage, 2019, Art. 153 AEUV Rn. 65 f.; EuArbR/Franzen, 3. Auflage, 2020, Art. 153 AEUV Rn. 50. 325  Benecke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Stand: Februar 2021, Art. 153 AEUV Rn. 104; EuArbR/Franzen, 3. Auflage, 2020, Art. 153 AEUV Rn. 50. 326  EuArbR/Franzen, 3. Auflage, 2020, Art. 153 AEUV Rn. 45; Rebhahn/Reiner, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 4. Auflage, 2019, Art. 153 AEUV Rn. 63; Junker, ZFA 2009, 281 (282). 327  Vgl. EuGH v. 13.9.2007 – C-307/05 (Del Cerro Alonso), NZA 2007, 1223 Rn. 41 in Bezug auf das Arbeitsentgelt. 328  Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union vom 28.10.2020, COM(2020) 682 final; vgl. dazu oben 4.4.10. 329  Schulten, in: WSI (Hrsg.), Zukunft Soziales Europa, 2021, S. 20.



5.4  Einzelne Maßnahmen457

durch angemessene Mindestlöhne geschützt werden, die ihnen am Ort ihrer Arbeit einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen. Durch die Richtlinie soll ein Rahmen zur Verbesserung der Angemessenheit der Mindestlöhne und des Zugangs der Arbeitnehmer zum Mindestlohnschutz geschaffen werden. Darüber hinaus soll die Richtlinie Tarifverhandlungen über Löhne in allen Mitgliedstaaten fördern, da Länder mit hoher tarifvertraglicher Abdeckung tendenziell einen geringeren Anteil an Geringverdienern und höhere Löhne als andere Länder aufweisen würden.330 Die tarifliche Abdeckung ist allerdings nicht gleichzusetzen mit der normativen Tarifbindung im deutschen Tarifvertragsrecht. Zum einen differenziert das Unionsrecht nicht zwischen normativer und schuldrechtlicher Tarifgeltung, da dies eine dogmatische Eigenheit der jeweiligen nationalen Tarifrechtsordnung ist. Zum anderen erfasst Art. 3 des Richtlinienentwurfs sämtliche „Arbeitnehmer, für die ein Tarifvertrag gilt“. Auch die Tarifgeltung kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel oder betrieblicher Übung ist daher darunter zu subsumieren.331 Kernstück des Richtlinienentwurfs ist Art. 5. Nach dessen Abs. 1 haben die Mitgliedstaaten, in denen es einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die gesetzlichen Mindestlöhne anhand von Kriterien festgelegt und aktualisiert werden, die die Angemessenheit dieser Löhne fördern und dem Ziel angemessener Arbeits- und Lebensbedingungen, des sozialen Zusammenhalts und der Aufwärtskonvergenz entsprechen. Nach Art. 5 Abs. 2 müssen diese Kriterien mindestens die Kaufkraft der Mindestlöhne, das allgemeine Lohnniveau, die Lohnwachstumsrate sowie die Produktivitätsentwicklung umfassen. Nach Art. 5 Abs. 3 haben die Mitgliedstaaten bei ihrer Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne im Verhältnis zum allgemeinen Niveau der Bruttolöhne Richtwerte zugrunde zu legen, wie sie auf internationaler Ebene üblich sind. International übliche Indikatoren sind ausweislich des 21. Erwägungsgrundes etwa 60 Prozent des Bruttomedianlohns und 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns. Während Art. 5 des Richtlinienentwurfs auf gesetzliche Mindestlöhne bezogen ist, ist die Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung Gegenstand von Art. 4 des Entwurfs. Art. 4 Abs. 1 verpflichtet alle Mitgliedstaaten zur Förderung von Tarifverhandlungen. Konkret geht es um die Förderung des Auf- und Ausbaus der Kapazitäten der Sozialpartner, Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung auf sektoraler oder branchenüber330  COM(2020)

682 final, S. 3. Franzen, ZFA 2021, 157 (166); Klumpp, EuZA 2021, 284 (306); Sagan/Witschen/Schneider, ZESAR 2021, 103 (107). 331  Ebenso

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5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

greifender Ebene zu führen, sowie um die Förderung konstruktiver, zielführender und fundierter Lohnverhandlungen zwischen den Sozialpartnern. Mitgliedstaaten, in denen die tarifvertragliche Abdeckung weniger als 70 Prozent der Arbeitnehmer umfasst, haben zusätzlich einen Rahmen vorzusehen, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, entweder durch Erlass eines Gesetzes nach Anhörung der Sozialpartner oder durch eine Vereinbarung mit diesen. Zudem müssen sie einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen erstellen, der zu veröffentlichen und der Europäischen Kommission mitzuteilen ist. Art. 9 des Entwurfs sieht schließlich eine Tariftreueregelung vor. Die Mitgliedstaaten sollen dazu verpflichtet werden, bei der Ausführung von öffentlichen Aufträgen sicherzustellen, dass die Wirtschaftsteilnehmer die für die jeweilige Branche und die jeweilige Region tarifvertraglich festgelegten Löhne bzw. gegebenenfalls die gesetzlichen Mindestlöhne einhalten. Bei dieser Regelung stellen sich allerdings erhebliche Auslegungsprobleme. Insbesondere der Verweis auf die Richtlinien 2014/24/EU, 2024/25/ EU und 2024/23/EU spricht auf der einen Seite dafür, von den Unternehmen, an die öffentliche Aufträge vergeben werden, nur zu verlangen, die für sie nach §§ 4 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG privatautonom geltenden Tarifverträge bzw. einen nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärten oder nach dem AEntG erstreckten Tarifvertrag einzuhalten.332 Auf der anderen Seite spricht der Wortlaut von Art. 9 des Entwurfs nicht von den für die Wirtschaftsteilnehmer „geltenden“ Tarifverträgen, sondern allgemein von den „für die jeweilige Branche und die jeweilige Region tarifvertraglich festgelegten Löhne[n]“. Das könnte man auch dahingehend interpretieren, dass die Tarifbindung des Arbeitgebers nicht vorausgesetzt wird. Art. 9 des Entwurfs würde dann allerdings eine generelle Pflicht der Mitgliedstaaten begründen, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge auch von Außenseitern stets eine Tariftreue bzgl. der von diesen nicht legitimierten Tarifverträge zu fordern.333 Das stünde in einem eklatanten Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH, der in einer solchen Tariftreueregelung einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit erblickt.334 Es ist kaum anzunehmen, dass die Kommission sich hier sehenden Auges und – im Gegensatz zur Kompetenzproblematik des Art. 153 Abs. 5 AEUV – ohne nähere Begründung in einen offenkundigen Konflikt mit Art. 56 AEUV begeben will. 332  So auch Klumpp, EuZA 2021, 284 (309); Thüsing/Hütter-Brungs, NZA 2021, 170 (173). 333  Klumpp, EuZA 2021, 284 (309  f.); Thüsing/Hütter-Brungs, NZA 2021, 170 (173). 334  Vgl. oben 5.4.2.



5.4  Einzelne Maßnahmen459

Hinzu kommt, dass Firmentarifverträge in Art. 9 des Entwurfs nicht genannt werden, sodass eine Auslegung der Regelung als konstitutive Tarif­ treueverpflichtung darüber hinaus auch zu einem massiven Eingriff in die nationale Tarifautonomie und Koalitionsfreiheit führen würde.335 Mit Blick auf die hier allein relevanten Fragen der Tarifautonomie erkennt die Kommission im Ausgangspunkt zutreffend, dass gut funktionierende Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung ein geeignetes Mittel sind, um zu gewährleisten, dass Arbeitnehmer durch angemessene Mindestlöhne geschützt werden.336 Problematisch ist allerdings, dass nicht klar zwischen angemessenen Tariflöhnen und Mindestlöhnen differenziert wird. Zwar stellen auch Tariflöhne Mindestlöhne in dem Sinne dar, dass individualvertraglich eine höhere als die tarifliche Vergütung vereinbart werden kann, was in Deutschland durch das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG gewährleistet wird.337 Das ist jedoch eine lediglich rechtsdogmatische und keine funktionelle Begriffsbestimmung und greift deshalb zu kurz. Denn in ihrer Funktionsweise unterscheiden sich Tariflöhne und Mindestlöhne elementar:338 Bei Tariflöhnen geht es um die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung im Arbeitsverhältnis und damit letztlich um eine Frage der Austauschgerechtigkeit. Mindestlöhne hingegen orientieren sich nicht an einem iustum pretium, an der Produktivität einer Arbeitsleistung oder an sonstigen Anknüpfungspunkten im individuellen Austauschverhältnis. Ganz überwiegend geht man davon aus, dass ein Mindestlohn ein „menschenwürdiges“ oder „existenzsicherndes“ Entgeltniveau gewährleisten soll.339 Es geht dabei also um Bedarfsgerechtigkeit, nicht um Leistungsgerechtigkeit. Anknüpfungspunkt eines Mindestlohns kann deshalb auch nicht die Angemessenheit des Lohns im Austauschverhältnis sein, wie Art. 1 des Richtlinienentwurfs dies vorsieht, sondern lediglich eine unterste Grenze, die sich in Deutschland aus dem Sozialstaatsprinzip ergibt. Diesen grundlegenden Unterschied verkennt die Kommission, wenn sie weiter argumentiert, dass in Ländern ohne gesetzlichen Mindestlohn der 335  Ebenso Klumpp, EuZA 2021, 284 (310); Thüsing/Hütter-Brungs, NZA 2021, 170 (173). 336  So Erwägungsgrund 18 des Richtlinien-Entwurfs, COM(2020) 682 final, S. 21. 337  Vgl. zu diesem oben 3.2.3.4. 338  Vgl. Ch. Picker, RdA 2014, 25 (28 f.). 339  BT-Drucks. 18/1558, S. 2, 32; Bepler, in: Verhandlungen des 70. DJT, 1. Band, 2014, S. B106; Bieback, RdA 2000, 207 (208); Däubler, NJW 2014, 1924 (1929); Dieterich, KJ 2008, 71 (78); Henssler, RdA 2021, 1 (6); Kocher, NZA 2007, 600; Preis, RdA 2019, 75 (77); Sodan/Zimmermann, ZFA 2008, 526 (561); kritisch Ch. Picker, RdA 2014, 25 (28 f.); Lobinger, JZ 2014, 810 (815 f.).

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5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

Anteil der an einem „Mindestlohnschutz“ partizipierenden Arbeitnehmer von der „tarifvertraglichen Abdeckung“ abhinge.340 Vor dem Hintergrund der europaweit rückläufigen tarifvertraglichen Abdeckung will sie die Mitgliedstaaten verpflichten, Tarifverhandlungen zu fördern, um den Zugang der Arbeitnehmer zum „tarifvertraglich garantierten Mindestlohnschutz“ zu verbessern.341 Auch in der weiteren Argumentation werden die verschiedenen Ebenen miteinander vermengt: Die Kommission verweist darauf, dass in Ländern mit einer tarifvertraglichen Abdeckung von mehr als 70 Prozent der Anteil der Geringverdiener tendenziell niedriger und Mindestlöhne in der Regel höher seien als in Ländern mit einer niedrigeren Tarifabdeckung. Sie zieht daraus den Schluss, dass die Mitgliedstaaten, die diesen Abdeckungsgrad nicht erreichen, auf der Grundlage einer Beratung und/oder Übereinkunft mit den Sozialpartnern einen Rahmen mit Unterstützungsmechanismen und institutionellen Regelungen einrichten oder – falls bereits vorhanden – ausbauen müssten, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft.342 Teilen des Europäischen Parlaments sind selbst diese 70 Prozent noch zu wenig. Die beiden Berichterstatter des Parlaments für den Richtlinienentwurf aus den Reihen der EVP und der Sozialdemokraten verlangen aktuell sogar eine Anhebung des Wertes auf 90 Prozent der Arbeitnehmer.343 Diesen Grenzwert erreichen aktuell nur fünf Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Belgien, Finnland, Frankreich, Österreich, Schwe­ den).344 Es verwundert nicht, dass in keinem dieser fünf Staaten die Arbeitsverfassung durch ein freiheitlich-privatautonomes Modell der Tarif­ autonomie gekennzeichnet ist. Ob Deutschland ein Mitgliedstaat mit einer tarifvertraglichen Abdeckung von weniger als 70 Prozent ist, kann nicht ohne Weiteres beantwortet werden. In ersten Stellungnahmen zum Richtlinienentwurf wird zum Teil darauf abgestellt, wie viele Beschäftigte in normativ tarifgebundenen Betrieben arbeiten.345 Im Jahr 2020 waren dies 51 Prozent.346 Andere Stimmen stützen sich auf die Zahl der Beschäftigten in „tariforientierten“ Arbeits340  Erwägungsgrund

18 des Richtlinien-Entwurfs, COM(2020) 682 final, S. 22. 19 des Richtlinien-Entwurfs, COM(2020) 682 final, S. 22. 342  Erwägungsgrund 19 des Richtlinien-Entwurfs, COM(2020) 682 final, S. 22. 343  FAZ v. 24.4.2021, S. 18; FAZ v. 3.5.2021, S. 17. 344  SZ v. 13.4.2021, S. 17. 345  Schulten, in: WSI (Hrsg.), Zukunft Soziales Europa, 2021, S. 23; ebenso offensichtlich auch SZ v. 13.4.2021, S. 17; Sagan/Witschen/Schneider, ZESAR 2021, 103 (108). 346  Kohaut, Entwicklung der Tarifbindung, 2021, S. 7; vgl. auch oben 2.1. 341  Erwägungsgrund



5.4  Einzelne Maßnahmen461

verhältnissen.347 Dann kommt man zu einer tarifvertraglichen Abdeckung von 70,6 Prozent im Jahr 2020.348 Beide Ansätze sind allerdings problematisch. Es wurde gerade dargelegt, dass der Richtlinienentwurf unter der „tariflichen Abdeckung“ jede Tarifgeltung unabhängig von der Art der Wirkung des Tarifvertrags erfasst. Es ist daher auf der einen Seite zu eng, lediglich die normative Tarifgeltung kraft Mitgliedschaft, kraft Parteistellung des Arbeitgebers beim Firmentarifvertrag und kraft Allgemeinverbindlicherklärung und Tarifnormerstreckung zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite kann jedoch auch nicht ohne Weiteres auf die Zahlen zur „Tariforientierung“ zurückgegriffen werden. Oben wurde bereits herausgearbeitet, dass die Tariforientierung nicht mit der Tarifbindung gleichzusetzen ist, sondern das Vergütungsniveau in tariforientierten Betrieben näher am Niveau der nicht tarifgebundenen als an dem der tarifgebundenen Betriebe liegt.349 Über die Zahl der Arbeitsverhältnisse, in denen auf den gesamten einschlägigen Tarifvertrag oder zumindest auf dessen Entgeltregelungen verwiesen wird, gibt es jedoch keine statistischen Erhebungen. Es spricht aber einiges dafür, dass die tarifvertragliche Abdeckung signifikant unter 70 Prozent liegt, wenn man nur Arbeitsverhältnisse berücksichtigt, in denen (mindestens) das tarifvertragliche Entgeltniveau gilt. Unklar ist darüber hinaus, ob auch Arbeitsverhältnisse im Bereich der Caritas und der Diakonie „tarifvertraglich abgedeckt“ sind, wenn dort auf die Arbeitsvertragsrichtlinien Bezug genommen wird, die im kirchlichen Arbeitsrecht tarifvertragsäquivalent sind, was für ihre Berücksichtigung spricht.350 Betriebsvereinbarungen wird man hingegen nicht berücksichtigen dürfen.351 Sollte die tarifvertragliche Abdeckung in Deutschland unter der Schwelle von 70 Prozent – bzw. im Fall einer weiteren Verschärfung des Richtlinienentwurfs unterhalb von 90 Prozent – liegen, müsste die Bundesrepublik Deutschland zusätzlich zu den in Art. 4 Abs. 1 des Richtlinienentwurfs genannten Maßnahmen entweder durch Gesetz oder durch Vereinbarung mit den Sozialpartnern einen Rahmen festsetzen, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlung schafft, einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen veröffentlichen und diesen der Kommission mitteilen. An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich, weshalb die Europäische Union bislang gut beraten war, das arbeitsrechtliche Kollektivvertragsrecht – in 347  Franzen,

ZFA 2021, 157 (167). Entwicklung der Tarifbindung, 2021, S. 7. 349  Vgl. oben 5.1.1. 350  Dafür überzeugend Klumpp, EuZA 2021, 284 (305 f.). 351  Klumpp, EuZA 2021, 284 (305); dahin tendierend auch Sagan/Witschen/ Schneider, ZESAR 2021, 103 (106). 348  Kohaut,

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5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

Deutschland also die von Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete und durch das TVG ausgestaltete Tarifautonomie – nicht zu vereinheitlichen. Das Koalitions- und Kollektivvertragsrecht ist in den Mitgliedstaaten auf ganz unterschiedliche Weise ausgestaltet. Es hat zudem einen unmittelbaren Bezug zur Arbeitsverfassung und damit zur wirtschaftlichen Grundausrichtung des jeweiligen Staates. Eine Rechtsangleichung in diesem Bereich würde die aktuell ohnehin schwindende Akzeptanz für die europäische Idee in den Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen. So ist etwa die in Art. 4 Abs. 2 des Richtlinienentwurfs genannte dreiseitige Vereinbarung zwischen dem Staat und den Sozialpartnern in Deutschland völlig systemwidrig. Art. 9 Abs. 3 GG setzt im Gegenteil bereits beim Koalitionsbegriff eine Staatsferne der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen voraus. Tripartistische Verhandlungen, wie sie auf europäischer Ebene im Rahmen des sozialen Dialogs vorgesehen sind,352 kennt das Grundgesetz nicht.353 Zwar wäre die EU-Mindestlohn-Richtlinie, so sie denn mit dem Inhalt des derzeitigen Entwurfs in Kraft treten würde, grundsätzlich nicht an den Grundrechten des Grundgesetzes und damit nicht an Art. 9 Abs. 3 GG, sondern an den europäischen Grundrechten und insbesondere Art. 12 und 28 GRC zu messen.354 Etwas anderes gilt jedoch, wenn die Europäische Union mit der Richtlinie ihre Kompetenzen offensichtlich und strukturell bedeutsam überschritten hat.355 Hierin liegt die zentrale Problematik des Richtlinienentwurfs.356 Die Kommission stützt den Richtlinienentwurf auf Art. 153 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 UAbs. 1 lit. b AEUV, wonach die Europäische Union zur Regelung von Arbeitsbedingungen Richtlinien mit Mindestvorschriften erlassen darf. Die Grenzen, die den Maßnahmen der Europäischen Union durch Art. 153 Abs. 5 AEUV gesetzt sind, hält sie für „voll und ganz gewahrt“, da im Entwurf keine Maßnahmen mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Höhe des Arbeitsentgelts enthalten sind.357 Auch die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit stehen einer europäischen Regelung nach Auffassung der Kommission nicht entgegen.358 Auf eine mögliche Kompe352  Vgl. Klumpp, EuZA 2021, 284 (307); Sagan/Witschen/Schneider, ZESAR 2021, 103 (107). 353  Kritisch auch Franzen, ZFA 2021, 157 (167  f.); Klumpp, EuZA 2021, 284 (307). 354  Sagan/Witschen/Schneider, ZESAR 2021, 103 (107). 355  Vgl. dazu BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15, NJW 2020, 1647 Rn. 98 ff.; im vorliegenden Kontext auch Franzen, ZFA 2021, 157 (173 ff.). 356  Vgl. auch oben 4.4.10. 357  COM(2020) 682 final, S. 7. 358  COM(2020) 682 final, S. 7 ff.



5.4  Einzelne Maßnahmen463

tenzsperre der Europäischen Union nach Art. 153 Abs. 5 AEUV für das Tarifvertragsrecht geht die Begründung des Entwurfs indes nicht ein. Es kann bereits bezweifelt werden, ob Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV die zutreffende Kompetenzgrundlage für sämtliche Regelungen des Richtlinien­ entwurfs darstellt. Art. 4 (zur Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung) und Art. 9 des Entwurfs (zur Tariftreue) haben einen engen sachlichen Bezug zu der in Art. 153 Abs. 1 lit. f AEUV genannten Vertretung und kollektiven Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeber­ interessen.359 Für Richtlinien auf Grundlage von Art. 153 Abs. 1 lit. f AEUV gilt jedoch nicht das ordentliche Gesetzgebungsverfahren. Vielmehr muss der Rat nach Art. 153 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der genannten Ausschüsse beschließen. Anders könnte man argumentieren, wenn man die Richtlinie insgesamt als Regulierungsrahmen für Mindestlöhne und die von Art. 4 und 9 des Entwurfs bezweckte Steigerung der tariflichen Abdeckung lediglich als ein Mittel zur Erzielung eines höheren Mindestlohnniveaus qualifizieren würde. Dann könnte sich der Entwurf insgesamt auf Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV stützen.360 Auch bei diesem Verständnis bestehen jedoch erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Art. 4 und 9 des Richtlinienentwurfs. Es würde dann nämlich ein untragbarer Wertungswiderspruch vorliegen: Die Kommission erkennt den gesetzlichen und den tarifvertraglichen Mindestlohnschutz als prinzipiell gleichwertig an, verlangt aber bei einem (nur) tarifvertraglichen Mindestlohnschutz eine hinreichende tarifliche Abdeckung, um die Einbeziehung möglichst vieler Arbeitnehmer in den Mindestlohn zu gewährleisten.361 Nach dieser Logik müsste der Anwendungsbereich der Regelungen zur Steigerung der tariflichen Abdeckung auf die Mitgliedstaaten beschränkt sein, in denen es keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt. Das ist aber nicht der Fall. Die Art. 4 und 9 des Entwurfs gelten für sämtliche Mitgliedstaaten. Damit wird die „Mindestlohnakzessorietät“ der Förderung von Tarifverträgen in einer Weise durchbrochen, die offenkundig von der Kompetenzgrundlage des Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV nicht mehr gedeckt ist.

359  So Franzen, ZFA 2021, 157 (169 ff.): Klumpp, EuZA 2021, 284 (297); a. A. Eichenhofer, AuR 2021, 148 (155). 360  So Eichenhofer, AuR 2021, 148 (155); ders., Statthaftigkeit eines EU-Rechtsrahmens für gesetzliche Mindestlöhne nach dem Entwurf der Kommission über eine Richtlinie für angemessene Mindestlöhne, Rechtsgutachten, 2021, S. 20 f. 361  Vgl. COM(2020) 682 final, S. 2, 7 ff.

464

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

Unabhängig von der Frage, ob Art. 153 Abs. 1 lit. b oder (zumindest auch) lit. f AEUV die zutreffende Kompetenzgrundlage des Richtlinienentwurfs ist, stellt sich das vorgelagerte Problem, ob die Richtlinie nicht bereits nach Art. 153 Abs. 5 AEUV die Kompetenzgrenzen der Europäischen Union überschreitet.362 Anknüpfungspunkt hierfür ist zum einen das in Art. 153 Abs. 5 AEUV genannte „Arbeitsentgelt“, zum anderen das nicht genannte, aber nach wohl überwiegender Auffassung von der Regelung ebenfalls umfasste Tarifvertragsrecht. Hinsichtlich des Arbeitsentgelts hat der EuGH bereits 2008 entschieden, dass die Festsetzung des Lohn- und Gehaltsniveaus der Vertragsautonomie der Sozialpartner auf nationaler Ebene und damit der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet unterliegt.363 Von den Vertragsstaaten sei es „als beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts angemessen erachtet worden, die Bestimmung des Lohn- und Gehaltsniveaus von einer Harmonisierung nach Art. 136 ff. EG [heute Art. 153 ff. AEUV] auszuneh­ men“.364 Die Regelung des Art. 153 Abs. 5 AEUV ist daher so zu verstehen, dass sie sich „auf Maßnahmen wie eine Vereinheitlichung einzelner oder aller Bestandteile und/oder der Höhe der Löhne und Gehälter oder die Einführung eines gemeinschaftlichen Mindestlohns bezieht, mit denen das Gemeinschaftsrecht unmittelbar in die Festsetzung der Arbeitsentgelte innerhalb der Gemeinschaft eingreifen würde“.365 Ob der Entwurf der Mindestlohn-Richtlinie innerhalb der Kompetenzen der Europäischen Union liegt, wird unterschiedlich beurteilt. Für die Kompetenzmäßigkeit des Entwurfs bezüglich des Arbeitsentgelts wird angeführt, dass der Entwurf weder selbst eine Pflicht zur Einführung von Mindestlohn schaffe366 noch den Mitgliedstaaten oder den Tarifvertragsparteien die Höhe von Mindestlöhnen vorgebe.367 Zwar verpflichtet Art. 5 des Entwurfs die Mitgliedstaaten dazu, ihre gesetzlichen Mindestlöhne 362  Franzen, ZFA 2021, 157 (173); Klumpp, EuZA 2021, 284 (297); unberechtigt dagegen die Polemik von Eichenhofer, AuR 2021, 148 (155); ders., Statthaftigkeit eines EU-Rechtsrahmens für gesetzliche Mindestlöhne nach dem Entwurf der Kommission über eine Richtlinie für angemessene Mindestlöhne, Rechtsgutachten, 2021, S. 20. 363  EuGH v. 8.12.2020 – 620/18 (Impact), NZA 2008, 581 Rn. 123. 364  EuGH v. 8.12.2020 – 620/18 (Impact), NZA 2008, 581 Rn. 123. 365  EuGH v. 8.12.2020 – 620/18 (Impact), NZA 2008, 581 Rn. 124; ebenso EuGH v. 10.6.2010 – C-395/08 u. a. (Bruno u. a.), NZA 2010, 753 Rn. 37; EuGH v. 19.6.2014 – C-501/12 u. a. (Specht u. a.), NZA 2014, 831 Rn. 33. 366  Vgl. COM(2020) 682 final, S. 13 f. 367  Eichenhofer, AuR 2021, 148 (154); ders., Statthaftigkeit eines EU-Rechtsrahmens für gesetzliche Mindestlöhne nach dem Entwurf der Kommission über eine Richtlinie für angemessene Mindestlöhne, Rechtsgutachten, 2021, S. 17.



5.4  Einzelne Maßnahmen465

angemessen zu gestalten, und verlangt dabei die Berücksichtigung von Richtwerten, die auf internationaler Ebene üblich sind. Dabei soll es sich jedoch lediglich um eine mittelbare Einflussnahme auf die Mitgliedstaaten handeln, die durch Art. 153 Abs. 5 AEUV nicht ausgeschlossen sei.368 Allerdings halten selbst die Befürworter einer Unionskompetenz eine restriktive Auslegung von Art. 5 des Entwurfs für erforderlich, wobei die Auffassungen hierzu divergieren. So verlangen manche, dass die Mitgliedstaaten bei der Festsetzung des Mindestlohns die auf internationaler Ebene üblichen Richtwerte zwar berücksichtigen müssten, daran jedoch nicht als Untergrenze für den gesetzlichen Mindestlohn gebunden seien.369 Andere gehen zwar von einer Bindung der Mitgliedstaaten an die internationalen Standards aus, lassen diesen aber immerhin die Wahl zwischen verschiedenen Richtwerten.370 Überzeugend ist das nicht. Eine „Unmittelbarkeit“ der Vorgaben zum Mindestlohn setzt nicht voraus, dass die Mitgliedstaaten zur Einführung von Mindestlöhnen verpflichtet werden oder dass die Höhe des Mindestlohns durch die Richtlinie vorgegeben wird. Auch Vorgaben über die Angemessenheit gesetzlicher Mindestlöhne regeln „unmittelbar“ das Arbeitsentgelt, selbst wenn sie keine für die Mitgliedstaaten verpflichtende fixe Untergrenze enthalten. Die Unmittelbarkeit ergibt sich nicht über die Art und Weise des Funktionsmechanismus, sondern aus dem Zweck der Richtlinie. Von zulässigen „mittelbaren“ Entgeltregelungen, die der EuGH in der Vergangenheit gebilligt hat, unterscheidet sich der Richtlinienentwurf durch seine inhaltliche „unmittelbare“ Ausrichtung auf den Mindestlohn.371 Es ist daher davon auszugehen, dass der Richtlinienentwurf wegen der Kompetenzsperre für das Arbeitsentgelt nach Art. 153 Abs. 5 AEUV jenseits der Kompetenzen der Europäischen Union liegt.

368  Eichenhofer, AuR 2021, 148 (154); ders., Statthaftigkeit eines EU-Rechtsrahmens für gesetzliche Mindestlöhne nach dem Entwurf der Kommission über eine Richtlinie für angemessene Mindestlöhne, Rechtsgutachten, 2021, S. 17; Sagan/Witschen/Schneider, ZESAR 2021, 103 (105); Schulten, in: WSI (Hrsg.), Zukunft Soziales Europa, 2021, S. 24. 369  Sagan/Witschen/Schneider, ZESAR 2021, 103 (105), 370  Eichenhofer, AuR 2021, 148 (154); ders., Statthaftigkeit eines EU-Rechtsrahmens für gesetzliche Mindestlöhne nach dem Entwurf der Kommission über eine Richtlinie für angemessene Mindestlöhne, Rechtsgutachten, 2021, S. 18. 371  Ebenso Thüsing/Hütter-Brungs, NZA 2021, 170 (170); Franzen, ZFA 2021, 157 (160 f.); Klumpp, EuZA 2021, 284 (291 f.); Krebber, RdA 2021, 215 (217 f.).

466

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

5.5 Fazit Die Ursachen für die seit vielen Jahren abnehmende Tarifbindung in Deutschland sind vielfältig und unterscheiden sich auf Arbeitgeber- und auf Arbeitnehmerseite ganz erheblich. Für Arbeitgeber hängt die Attraktivität der Tarifbindung wesentlich von der inhaltlichen Ausgestaltung der Tarifverträge ab. Sind Branchentarifverträge zu teuer, zu unflexibel oder zu komplex, bleiben Arbeitgeber dem Verband fern oder treten lediglich als Mitglied ohne Tarifbindung bei. Es ist die gemeinsame Aufgabe von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, durch eine kluge und vorausschauende Tarifpolitik, die mit Öffnungsklauseln, Modularität und Entgeltkorridoren hinreichend Raum für betriebliche Lösungen lässt, für die (Voll-)Mitgliedschaft von Arbeitgebern zu werben. Der Gesetzgeber sollte die Verbände dabei unterstützen, indem er die Ausstiegshürden für Arbeitgeber durch eine zeitliche Begrenzung der Nachbindung nach § 3 Abs. 3 TVG etwa in Anlehnung an § 160 HGB oder § 624 BGB absenkt und auf diese Weise Anreize zum Verbandsbeitritt setzt. Auf Arbeitnehmerseite hängt die Tarifbindung demgegenüber weniger von der Tarifpolitik ab. Vielmehr haben die Gewerkschaften mit einer Erosion der klassischen Gewerkschaftsmilieus sowie einem generellen Trend zur Individualisierung von Lebensentwürfen zu kämpfen. Dies betrifft vor allem die jüngeren Alterskohorten, sodass die Gewerkschaften – ähnlich wie Parteien, Vereine und die Kirchen – vor der schwierigen Aufgabe stehen, einer „Vergreisung“ ihrer Mitgliederstruktur entgegenzuwirken. Die Gewerkschaften werden Konzepte entwickeln müssen, um insbesondere für jüngere und weibliche Arbeitnehmer attraktiver zu werden. Der Staat hat sich dabei herauszuhalten. Jeder Zwang wäre für die Identifizierung von Arbeitnehmern mit der Gewerkschaft kontraproduktiv. Neben den genannten ideellen Motiven, die für oder gegen den Gewerkschaftsbeitritt sprechen, können auch wirtschaftliche Erwägungen den Ausschlag über die Mitgliedschaft geben. Hier hat sich gezeigt, dass die flächendeckende Verwendung von Bezugnahmeklauseln in tarifgebundenen Unternehmen den Beitrittsanreiz für Arbeitnehmer beseitigt. Wer die Tarifgeltung über die arbeitsvertragliche Bezugnahme geschenkt bekommt, wird regelmäßig nicht bereit sein, die Kosten einer Mitgliedschaft in der Gewerkschaft in Kauf zu nehmen. Auf den rückläufigen Organisationsgrad auf Arbeitgeber- wie auf Arbeitnehmerseite kann man auf vielfältige Weise reagieren. Die zahlreichen Vorschläge, die in der Politik und in der Arbeitsrechtswissenschaft diskutiert werden, lassen sich in zwei Gruppen einteilen:



5.5 Fazit467

Die erste Gruppe umfasst Maßnahmen, die zu einer Ausweitung der Tarifgeltung führen, indem sie die Tarifgeltung entweder zwangsweise anordnen oder wirtschaftlichen Druck auf Arbeitgeber aufbauen, Tarifverträge anzuwenden. Zu dieser Gruppe zählen in erster Linie die Allgemeinverbindlicherklärung, die Tarifnormerstreckung nach dem AEntG und Tariftreueregelungen, aber auch Einschränkungen der OT-Mitgliedschaft. Die Maßnahmen der zweiten Gruppe setzen nicht bei der Tarifgeltung, sondern bei der Mitgliedschaft in der Koalition an. Ihr Ziel ist es, die Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft wieder zu erhöhen und auf diese Weise die Tarifautonomie zu stärken. Abhängig von der Höhe des Beitrittsanreizes können die Maßnahmen, die zu dieser zweiten Gruppe zählen, eine ganz unterschiedliche Intensität aufweisen. Während die erweiterte steuerliche Absetzbarkeit von Gewerkschaftsbeiträgen oder Solidaritätsbeiträge für Außenseiter-Arbeitnehmer lediglich Negativanreize zum Beitritt abmildern, wird durch Einschränkungen der Tarifdispositivität für Außenseiter-Arbeitgeber oder die Einbeziehung von Gewerkschaften in die Sozialversicherung nach dem „Genter System“ ein erheblicher Beitrittsdruck auf Außenseiter ausgeübt. Die Maßnahmen der ersten Gruppe, die lediglich eine Ausweitung der Tarifgeltung bezwecken, sind schon aus grundsätzlichen Erwägungen allesamt abzulehnen. Sie behandeln lediglich die Symptome, nicht aber die Ursachen der rückläufigen Tarifbindung. Sie stärken die Tarifautonomie nicht, sondern beschädigen diese vielmehr. Das gilt auch und vor allem für die in der Politik beliebte Forderung nach einer größeren Verbreitung der Allgemeinverbindlicherklärung. Diese beseitigt jeglichen Anreiz für die vom Tarifvertrag erfassten Arbeitnehmer, in die Gewerkschaft einzutreten, und beschleunigt damit die Erosion der Tarifautonomie. Zugleich führt sie dazu, dass auf Arbeitgeberseite die Akzeptanz für das Modell der Tarifautonomie Schaden nimmt. Eine Berechtigung hat die Allgemeinverbindlicherklärung allein mit ihrem ursprünglichen Zweck, eine Mehrheit der Tarifgebundenen vor der Konkurrenz einer Minderheit von Außenseitern zu schützen. Demgegenüber darf sie – ebenso wie Tariftreueregelungen – spätestens nach dem Inkrafttreten des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns kein Instrument zum Schutz der Außenseiter vor unangemessenen Arbeitsbedingungen mehr sein. Ein Verbot von OT-Mitgliedschaften wäre evident verfassungswidrig. Die OT-Mitgliedschaft im Stufenmodell ist verfassungsrechtlich durch die koalitionsmäßige Satzungsautonomie des Art. 9 Abs. 3 GG und darüber hinaus durch die individuelle Koalitionsfreiheit der OT-Mitglieder gewährleistet. Stets möglich ist daneben eine OT-Mitgliedschaft im Aufteilungs-

468

5.  Stärkung der Tarifgeltung versus Stärkung der Tarifautonomie

modell, bei dem neben einem tariffähigen Verband ein zweiter, nicht tariffähiger Verband existiert. Eine Einschränkung des Wechsels von Vollmitgliedern in die OT-Mitgliedschaft durch besondere Informationspflichten wäre ein reiner Formalismus ohne Ertrag, entsprechende Forderungen sind allein schon wegen des damit verbundenen bürokratischen Aufwands abzulehnen. Sie verkennen zudem die stabilisierende Wirkung, die die OTMitgliedschaft für die Mitgliederentwicklung der Arbeitgeberverbände und damit letztlich für die Tarifautonomie hat. Entschließt sich die Politik, Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie zu ergreifen, müssen diese zwingend bei der Attraktivität der Mitgliedschaft ansetzen. Das ist der einzige erfolgversprechende Weg, die auf der mitgliedschaftlichen Legitimation beruhende Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie dauerhaft zu stärken. Allerdings muss sorgfältig abgewogen werden, ob es überhaupt hoheitlicher Maßnahmen bedarf und – falls man diese Frage bejaht – welche Maßnahme zur Stärkung der Tarifautonomie geeignet ist. In Betracht kommen dabei von vornherein nur solche Maßnahmen, die sich darauf beschränken, die bestehenden Negativanreize zum Beitritt abzumildern (erleichterte Absetzbarkeit des Gewerkschaftsbeitrags, Solidaritätsbeiträge), ohne jedoch positive Beitrittsanreize zu setzen. Problematisch sind daher aus der o. g. zweiten Gruppe alle Konzepte, die einen übermäßigen Beitrittsdruck ausüben. Sie verletzen die von Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete negative Koalitionsfreiheit, der kein geringerer verfassungsrechtlicher Stellenwert zukommt als der positiven Koalitionsfreiheit. Abzulehnen ist daher sowohl das sog. Genter System als auch die generelle Beschränkung des tarifdispositiven Rechts dahingehend, dass eine Abweichung vom Gesetz zulasten des Arbeitnehmers nur dem tarifgebundenen Arbeitgeber erlaubt ist. Ein gene­ reller Ausschluss der Bezugnahmemöglichkeit auf Tarifverträge, die von tarif­dispositivem Recht abweichen, würde einen erheblichen Beitrittsdruck erzeugen und damit die freiwillige Entscheidung des Arbeitgebers für oder gegen die Verbandsmitgliedschaft unangemessen beeinträchtigen. Letztlich können alle staatlichen Konzepte zur Stärkung der Tarifautonomie jedoch lediglich ergänzende Maßnahmen sein. Die Hauptverantwortung für die Tarifautonomie liegt bei den Koalitionen selbst.

6. Gesamtfazit Clemens Höpfner, Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel

In der vorliegenden Analyse wurde untersucht, wie die Tarifautonomie ihre rechtliche Legitimation und ihre Legitimität gegenüber Politik und Gesellschaft erlangt und gegen Widerstände sowie Angriffe bis heute behauptet hat. Bei der Legitimation der Tarifautonomie geht es um die juristische Frage, wodurch die Tarifvertragsparteien ihre Befugnis zum Abschluss von Tarifverträgen erhalten. Nach der früher von der Rechtsprechung vertretenen Delegationstheorie nehmen die Tarifvertragsparteien als beliehene Verbände eine hoheitliche Aufgabe wahr und machen beim Abschluss von Tarifverträgen von einer staatlich delegierten Rechtsetzungsgewalt Gebrauch. Die historische Entwicklung der Koalitionsfreiheit zeigt allerdings, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die Tarifautonomie gegen massive Widerstände des Staates erkämpft haben. Die Tarifautonomie wurde nicht staatlich delegiert, sondern erst nachträglich gesetzlich anerkannt. Heute gehen Rechtsprechung und Arbeitsrechtswissenschaft daher überwiegend davon aus, dass es sich bei der Tarifautonomie um kollektiv ausgeübte Privatautonomie handelt. Die Tarifvertragsparteien erhalten ihre Legitimation „von unten“ durch ihre Mitglieder und nicht „von oben“ durch den Staat. Das gilt auch für die tarifliche Normsetzungsbefugnis, der sich die Koalitionsmitglieder durch den Verbandsbeitritt unterwerfen. Lediglich die normative Wirkung des Tarifvertrags in den tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen bedarf der gesetzlichen Anordnung in § 4 Abs. 1 TVG. Die Tarifnormwirkung kann jedoch ebenfalls privatautonom „rekonstruiert“ werden, da sie auf einem individual-privatautonomen Willensentschluss der Verbandsmitglieder beruht. Etwas anderes gilt nur für die Fälle, in denen der Staat eine Tarifgeltung ohne oder gegen den Willen der Individualvertragsparteien anordnet, etwa im Fall der Allgemeinverbindlicherklärung. Als Eingriff in die Arbeitsvertragsfreiheit bedarf diese und jede andere aufoktroyierte Tarifgeltung einer besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Unter Legitimität wird die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems und dessen Effektivität im jeweils aktuellen wirtschafts- und sozialpolitischen

470

6. Gesamtfazit

Umfeld verstanden. Die Institution Tarifautonomie wird als legitim angesehen, wenn sie zweckmäßige Ergebnisse hervorbringt, und zwar nicht nur hinsichtlich des Interessenausgleichs der von den Tarifvertragsparteien vertretenen Mitglieder, sondern auch mit Blick auf soziale und ökonomische Entwicklungen. Traten in der Vergangenheit wirtschaftliche oder gesellschaftliche Fehlentwicklungen auf, bei denen die Politik einen Zusammenhang zur Tarifpolitik sah, hinterfragte sie die Zweckmäßigkeit und die Ausgestaltung der Tarifautonomie. Die daraus resultierenden politischen Debatten endeten teilweise in Staatseingriffen, die zum Ziel hatten, entweder durch Anpassungen der Rahmenbedingungen die Effektivität des Systems zu steigern oder gar die grundlegende Funktionslogik abzuändern. Die Analyse von zwei Grundsatz- und zehn zeithistorischen Debatten seit 1918 hat gezeigt, dass bei staatlichen Eingriffen Problem und Lösung nicht immer zusammenpassten. Änderungen der Rahmenbedingungen, die die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern sowie das Miteinander der Tarifvertragsparteien regeln, erscheinen im Rückblick als sinnvoll. Drang der Staat durch sein Handeln jedoch tief in den Kompetenzbereich der Tarifvertragsparteien ein, erreichte er seine Ziele zumeist nicht. Das zeigte sich zuletzt beim Tarifautonomiestärkungsgesetz, das die Tarifbindung stärken sollte, ohne dass dessen Maßnahmen am eigentlichen Pro­ blem eines abnehmenden Organisationsgrads von Gewerkschaften und Tarifträgerverbänden ansetzten. Auch wenn die empirischen Grundlagen zur Erfassung der Tarifbindung große Lücken aufweisen, bestand dieses Problem fort und wurde zum Gegenstand der aktuellen Legitimitätsdebatte, in der die Organisationsschwäche der Tarifvertragsparteien stärker in den Fokus gerückt ist. Für diese aktuelle Debatte lassen sich aus den gewonnenen Erkenntnissen wichtige Schlüsse ziehen. Wenn der Staat nach sorgfältiger Prüfung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie die Auffassung vertritt, dass die Tarifbindung zu gering ist und daher gestärkt werden muss, sollte er nicht (wie im Tarifautonomiestärkungsgesetz) auf eine Ausweitung der Tarifgeltung durch Zwang setzen, sondern das Problem an der Wurzel packen. Sämtliche Maßnahmen, die lediglich eine Ausweitung der Tarifgeltung bezwecken, sind schon aus grundsätzlichen Erwägungen abzulehnen. Sie behandeln lediglich die Symptome, nicht aber die Ursachen der rückläufigen Tarifbindung. Sie stärken die Tarifautonomie nicht, sondern beschleunigen die Erosion der Tarifautonomie, weil sie für die vom Tarifvertrag erfassten Arbeitnehmer jeden Anreiz beseitigen, in die Gewerkschaft einzutreten. Das gilt sowohl für die Allgemeinverbindlicherklärung als auch



6. Gesamtfazit471

für Tariftreueregelungen. Spätestens nach der Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns sind diese Maßnahmen auch kein sinnvolles Instrument mehr zum Schutz der Außenseiter vor unangemessenen Arbeitsbedingungen. Ebenfalls abzulehnen sind Einschränkungen der OT-Mitgliedschaft, die einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Tarifautonomie leistet. Ein Verbot dieser Mitgliedschaftsform wäre evident verfassungswidrig. Besondere Informationspflichten für Arbeitgeber, die in die OT-Mitgliedschaft wechseln, wären ein reiner Formalismus. Wenn der Gesetzgeber aber die Tarifbindung stärken will, kann dies nur durch eine Stärkung der Tarifbindung „von unten“ geschehen, indem er die Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft erhöht und damit die Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie absichert. Allerdings liegt die Hauptverantwortung für die Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft bei den Tarifvertragsparteien selbst. Der Staat muss daher sorgfältig abwägen, inwieweit er die Koalitionen dabei unterstützt. In Betracht kommen dabei von vornherein nur solche Maßnahmen, die sich darauf beschränken, die bestehenden Negativanreize für einen Koalitionsbeitritt abzumildern (erleichterte Absetzbarkeit des Gewerkschaftsbeitrags, Solidaritätsbeiträge), ohne dabei durch einen übermäßigen Beitrittsdruck die negative Koali­ tionsfreiheit einzuschränken. Maßnahmen wie eine generelle Beschränkung der Abweichung von tarifdispositivem Recht auf tarifgebundene Arbeitgeber oder die Einschaltung von Gewerkschaften in das staatliche Sozialversicherungssystem nach dem „Genter System“ kommen daher nicht in Betracht. Möglicherweise werden weitere Forschungen und Überlegungen auch den Nachweis erbringen, dass für die verteilungspolitischen Wirkungen im deutschen Tarifvertragssystem der Umfang der Tarifbindung nur eine untergeordnete Bedeutung hat. Die vorliegende Studie hat jedenfalls den Gegensatz zwischen der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie und einer auf staat­ lichem Zwang beruhenden Tarifgeltung deutlich gemacht. Dabei hat sich gezeigt, dass nur solche Maßnahmen die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie verbessern, die auf Zwang verzichten und es den Tarifvertragsparteien ermöglichen, Entgelte und Arbeitsbedingungen weiterhin selbstbestimmt zu regeln.

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504 Literaturverzeichnis – Zu den Grundlagen der Rechtsetzung durch Tarifvertrag, in: Köbler, Gerhard/ Heinze, Meinhard/Hromadka, Wolfgang (Hrsg.), Europas universale rechtsordnungspolitische Aufgabe im Recht des dritten Jahrtausends. Festschrift für Alfred Söllner zum 70. Geburtstag, München 2000, S. 1251–1277. – Zu den Grundlagen der Tarifautonomie, in: ZFA 2000, S. 53–86. Watson, Alan: Legal Transplants: An Approach to Comparative Law, 2. Auflage, Athen u. a. 1993. Webb, Sidney James/Webb, Beatrice: Theorie und Praxis der Englischen Gewerkvereine. Erster Band. Stuttgart 1898. – Theorie und Praxis der Englischen Gewerkvereine. Zweiter Band. Stuttgart 1898. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/49, 4. Auflage, München 2005. – Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 3: Von der „Deutschen Doppelrevolu­ tion“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, 2. Auflage, München 2006. Weishaupt, Timo/Schneider, Helena/Vogel, Sandra/Weckwerth, Jan: OT-Verbände & OT-Mitgliedschaften in der Metall- und Elektrobranche: Stabilisierung des Tarifsystems auf tönernen Füßen?, in: Industrielle Beziehungen 2021, 28 (1) S. 3–30. Weitbrecht, Hansjörg: Effektivität und Legitimität der Tarifautonomie. Eine soziologische Untersuchung am Beispiel der deutschen Metallindustrie, Berlin 1969. Wiedemann, Anton: Die Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, insbesondere an Art. 12 GG, Heidelberg 1994. Wiedemann, Herbert: Das Arbeitsverhältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis, Karlsruhe 1966. – Der nicht organisierte Arbeitnehmer im kollektiven Arbeitsrecht, in: RdA 2007, S. 65–70. – Die Gestaltungsaufgabe der Tarifvertragsparteien, in: RdA 1997, S. 297–304. – Tarifautonomie heute, in: BB 2013, S. 1397–1402. Wiedemann, Herbert (Hrsg.): Tarifvertragsgesetz mit Durchführungs- und Nebenvorschriften. Kommentar, 8. Auflage, München 2019. Wilke, Dieter/Ziekow, Jan: Die Entwicklung von Status und Verfassung des Landes Berlin seit 1945, JÖR 37 (1988), S. 167–334. Willemsen, Heinz Josef/Mehrens, Christian: Ablösung tariflicher Bestimmungen nach einem Verbandsaustritt – keine Ende in Sicht!, in: NZA 2010, S. 307–311. – Die Rechtsprechung des BAG zum „Blitzaustritt“ und ihre Auswirkungen auf die Praxis, in: NJW 2009, S. 1916–1921. Wisskirchen, Alfred: Wissenschaft für gesetzliche Klarstellung, in: Der Arbeitgeber 1986, 38 (2), S. 46–47. Wölbling, Paul: Der Akkordvertrag und der Tarifvertrag. Eine Darstellung zweier Vertragsarten aus dem modernen Wirtschaftsleben, Berlin 1908.

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Die Autorinnen und Autoren Clemens Höpfner ist Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Nach Studium und Promotion an der Universität Konstanz habilitierte er sich 2014 mit einer tarifvertragsrechtlichen Schrift an der Universität zu Köln. Anschließend wurde er u. a. an die Universität Konstanz berufen, bevor er 2017 nach Münster wechselte. Höpfner ist Autor zahlreicher Veröffent­ lichungen zum deutschen und europäischen Arbeitsrecht und zum Bürgerlichen Recht sowie Mitherausgeber der Zeitschriften „Recht der Arbeit“ und „Zeitschrift für Arbeitsrecht“. Hagen Lesch ist Leiter des Kompetenzfeldes Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen sowie der Forschungsstelle Tarifautonomie am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Nach Studium und Promotion an der Universität Bonn war er von 1991 bis 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut „Finanzen und Steuern“ in Bonn. 2000 wechselte er zum Institut der deutschen Wirtschaft und übernahm den Bereich Lohn- und Tarifpolitik. Von 2002 bis 2007 war er Lehrbeauftragter für Wirtschaftspolitik an der Rheinischen Fachhochschule Köln. Lesch ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema Tarif­politik und Industrielle Beziehungen. Helena Schneider ist Economist in der Forschungsstelle Tarifautonomie des Kompetenzfeldes Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Nach dem Bachelor-Studium der Politikund Wirtschaftswissenschaften in Mainz und Kristiansand (Norwegen) und dem Master-Studium „Arbeitsmarkt und Personal“ an der Friedrich-Ale­ xander-Universität in Nürnberg trat sie im Oktober 2017 ins Institut der deutschen Wirtschaft ein. Schneider ist Autorin verschiedener Veröffent­ lichungen zu den Themen Lohngerechtigkeit, Tarifpolitik und Mindestlohn. Sandra Vogel ist Senior Researcher im Kompetenzfeld Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Nach Studium der Regionalwissenschaften China und Promotion in den Modernen ChinaStudien an der Universität zu Köln wechselte sie 2006 zum Institut der ­deutschen Wirtschaft. Vogel publiziert schwerpunktmäßig zu den Themen Ausgestaltung von Tarifsystemen, Industrielle Beziehungen und Arbeitsbedingungen für die Forschungsstelle Tarifautonomie sowie für die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound).

Personenregister Adenauer, Konrad  224, 263 Baden, Max von  205 Bauer, Gustav  45, 105, 207 Berlepsch, Hans Herrmann von  102 Bethmann-Hollweg, Theobald von  203 Biedenkopf, Kurt  305 f. Bilstein, Hans  215 f. Bismarck, Otto von  61 Böckler, Hans  123, 214 f. Borsig, Ernst von  243 Bötticher, Eduard  130 Brauns, Heinrich  119, 235 Brenner, Otto  268–271, 274 Brentano, Lujo  50, 79, 81, 93 f., 98 f. Brownjohn, Nevil  143 Brüning, Heinrich  248–250, 256–258, 373 Brunner, Heinrich  102 Canaris, Claus-Wilhelm  159 f. Classen, Kurt  138, 143 Clay, Lucius D.  143 Clement, Wolfgang  308 Dieterich, Thomas  161 Dulger, Rainer  324 Ebert, Friedrich  45, 207 Eichler, Wolfgang  271 Erhard, Ludwig  138, 225, 263 Esser, Otto  281, 283 Fischer, Albrecht  132 Fitting, Karl  132 f., 137 Franke, Heinrich  280 f. Fuchs, Michael  323

Gabriel, Sigmar  343 Gierke, Otto von  98–102 Giesberts, Johann  105 Goldschmidt, Heinz  132 f., 135, 137 f., 142 f. Haase, Hugo  45 Haucap, Justus  333 Heil, Hubertus  332, 350, 442 Henkel, Hans Olaf  297 Henschel, Rudolf  269 f. Herschel, Wilhelm  111, 124–129, 133 f., 137–141, 148, 220 f. Hindenburg, Paul von  199 f. Hofmann, Jörg  346 Huber, Ernst Rudolf  156 Hueck, Alfred  130 Hüllen, Herbert van  271 f. Jellinek, Georg  157 Juncker, Jean-Claude  353 f., 357–359, 361, 363, 365, 376 Kannegiesser, Martin  311 f. Karpf, Hugo  142 Kiesinger, Georg  263, 266 Kohl, Helmut  292, 294, 297, 306, 309 Kramer, Anette  332 Lange, Ulrich  323 Lautner, Julius Georg  107 Leber, Georg  263 Legien, Carl  45, 66, 72, 203 Leyen, Ursula von der  358 f., 364 f. Liebknecht, Karl  201 Lotmar, Philipp  80–90, 92 f., 95, 100, 102, 110, 112, 115, 118, 173, 176

508 Personenregister Ludendorff, Erich  199 Maggiar, Alban  371 Marx, Karl  50 Merkel, Angela  317 f., 342 Molitor, Erich  130 Müller-Armack, Alfred  225 Nipperdey, Hans Carl  107 f., 127, 130 f., 135 f., 146 f., 156, 165, 220, 222 Papen, Franz von  257 f. Potthoff, Heinz  147 Puttkamer, Robert von  60 Raumer, Hans von  199, 204 f. Raymond, Walter  124, 217 Reichel, Georg  255 Reichert, Jakob  204 Richter, Willi  140 f. Rieppel, Anton von  200 Rodenstock, Rolf  272 f. Rogowski, Michael  25 Rosenthal, Eduard  102 Scheidemann, Philipp  201 Scheuble, Julius  140 f. Schiller, Karl  190, 263, 265–268, 272, 274 Schlicke, Alexander  119 

Schmidt, Robert  102 Scholz, Olaf  350 Schröder, Gerhard  190, 292, 297, 301, 308–312, 374 f. Schulte, Dieter  294 Siebert, Wolfgang  130, 165 Sinzheimer, Hugo  74, 81, 91, 95–99, 101, 103, 109, 115, 117, 129, 145, 149, 156–158, 176 f. Sitzler, Friedrich  130 Sommer, Michael  322 Stegerwald, Adam  255 Steinkühler, Franz  304 Stinnes, Hugo  45, 72, 203 Storch, Anton  136–138, 142 f. Stresemann, Gustav  102, 238 f. Sulzer, Georg  102 Tessendorf, Hermann  65 Vetter, Heinz Oskar  274 Westerwelle, Guido  26 Wilhelm II.  61, 71, 199, 201 Wissel, Rudolf  231 f., 234 Wölbling, Paul  102 Wolf, Stefan  347 f. Zöllner, Wolfgang  110, 160 Zwickel, Klaus  294, 295–297, 300