Die Kirche der Anderen: Christliche Religionsgemeinschaften und Kalter Krieg im geteilten Berlin-Brandenburg, 1945–1990 9783111026602, 9783111025667

During the Cold War, Berlin was the symbolical site of a world divided into two blocks. Christian communities, however,

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Die Kirche der Anderen: Christliche Religionsgemeinschaften und Kalter Krieg im geteilten Berlin-Brandenburg, 1945–1990
 9783111026602, 9783111025667

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel 1. Kein Neuanfang: Weitermachen. Die Kirchen als Garanten gesellschaftlicher Ordnung in den Nachkriegsjahren?
Kapitel 2. Verflechtung: Die Suche nach dem Nächsten. Identifikationsmomente (1949–1960er-Jahre)
Kapitel 3 Entfremdung: Auf Distanz zum Nächsten. Erosions- und Trennungstendenzen (1950er-1970er-Jahre)
Kapitel 4. Entflechtung: Der Nächste ist ein Anderer. Trennung in Ost und West (1960er-1980er-Jahre)
Kapitel 5. Rück- und Neuverflechtung: Annäherung an den Anderen (1960er-1980er-Jahre)
Kapitel 6. Religiöse Gemeinschaften und die deutsche Einheit (1989/1990er-Jahre)
Schluss
Literatur- und Quellenverzeichnis
Personenregister

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Maria Neumann Die Kirche der Anderen

Maria Neumann

Die Kirche der Anderen  Christliche Religionsgemeinschaften und Kalter Krieg im geteilten Berlin-Brandenburg, 1945–1990

Die Dissertation wurde an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht. Titel der Dissertation: Die Kirche der Anderen. Religiöse Vergesellschaftung und Kalter Krieg im geteilten Berlin-Brandenburg, 1945-1990 Erstgutachter: Prof. Dr. Thomas Mergel Zweitgutachter: Prof. Dr. Benjamin Ziemann Dekanin: Prof. Dr. Gabriele Metzler Tag der Promotion: 27.1.2022 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

ISBN 978-3-11-102566-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-102660-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-102704-3 Library of Congress Control Number: 2023933735 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in West-Berlin, picture alliance / brandstaetter images/Votava /Christian HlavacIMAGNO/Votava Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Ich bin in Eisenach am Fuße der Wartburg aufgewachsen. Geschichten über die heilige Elisabeth, Martin Luther oder die Friedensgebete 1989 sind mir seit meiner Kindheit vertraut. Wenn es um das Verhältnis von Religion, Politik und Gesellschaft ging, war mein Blick darauf geprägt von Erfolgsgeschichten mit eindeutigen Narrativen. Für die Stadtgesellschaft stellten und stellen Religion und religiöse Akteur:innen einen zentralen, positiv besetzten Erinnerungsort dar, ohne dass es sich bei Eisenach um einen Ort besonderer Frömmigkeit handeln würde. Hierher rührt mein Interesse am Thema dieses Buches genauso wie die Fragen und Widersprüche, die ich damit verbinde. An Religionsgemeinschaften interessiert mich also erstens das Verhältnis von Religion und Gemeinschaft und zweitens, wie religiöse Gemeinschaften in Gesellschaften hineinwirken und sie prägen. Dass ich dieses Interesse vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs am Beispiel Berlins weiterverfolgen und vertiefen konnte, habe ich Thomas Mergel zu verdanken. Er hat mich dazu ermutigt, Konfessions- und Disziplingrenzen mindestens in Frage zu stellen, obwohl dieses Unternehmen immer ein Wagnis war. Denn für die Kirchengeschichte war meine Arbeit zu zeithistorisch und für die Zeitgeschichte zu kirchengeschichtlich. Es sollte um die DDR gehen und trotzdem wollte ich nicht nur eine DDR-Geschichte erzählen. Ich wollte mehr über Westdeutschland erfahren und doch keine Geschichte der alten Bundesrepublik schreiben. Dahinter stand die Idee, Verflechtungen nicht nur auf der Ebene der Quellen, sondern auch auf der Basis unterschiedlicher Forschungsansätze herauszuarbeiten. Ich danke Thomas Mergel daher sehr für seinen fachlichen Rat genauso wie für sein Interesse und sein Verständnis für Fragen, die in einem solchen Projekt über die eigentliche Forschungstätigkeit hinausgehen. Benjamin Ziemann hat sich als Zweitgutachter auf diesen Versuch eingelassen und ihn mit immer konstruktiver Kritik kommentiert, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Bedanken möchte ich mich außerdem bei der Dekanin der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Gabriele Metzler, die die vorliegende Arbeit unter dem Titel „Die Kirche der Anderen. Religiöse Vergesellschaftung und Kalter Krieg im geteilten Berlin-Brandenburg, 1945–1990“ im Juni 2021 als Dissertationsschrift angenommen hat. Ebenso gilt mein Dank Heinz Bude, Michael Flörchinger und Felix Vogel, die mich auf dem letzten Abschnitt dieses Weges begleiteten. Sie erinnerten mich daran und ermöglichten es mir, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Forschung lebt davon, Hypothesen und Ergebnisse zu diskutieren. Ich durfte meine Überlegungen unter anderem im Forschungskolloquium von Thomas Mergel, im Schwerter Arbeitskreis für Katholizismusforschung, in der Katholischen

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Akademie in Berlin und im internationalen Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“ an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zur Diskussion stellen. Allen, die mit mir diskutiert haben, danke ich für ihre Anregungen und kritischen Nachfragen, die mir halfen, mein Projekt voranzutreiben. In besonderem Maße war ich darüber hinaus auf die Unterstützung von Archivmitarbeiter:innen und Bibliothekar:innen angewiesen. Hier denke ich neben den Mitarbeiter:innen im Landesarchiv Berlin, im kirchlichen Archivzentrum Berlin oder in der Stasiunterlagenbehörde vor allem an jene Menschen, die mir Zugang zu kleinen, oftmals nicht institutionalisierten Gemeindearchiven gewährt haben. Viele der dort ausgehobenen Archivalien stellten eine Perspektiverweiterung zur Hauptüberlieferung dar. Das gilt ebenso für die Zeitzeug:innen, die ich für diese Arbeit interviewen durfte. Ohne sie hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Tatsächlich realisieren konnte ich dieses Projekt jedoch nur aufgrund der finanziellen Unterstützung, die ich in den vergangenen Jahren erfahren habe. Christhard Wagner empfahl mir, mich beim Evangelischen Studienwerk Villigst zu bewerben. Das Promotionsstipendium, das ich von Villigst erhielt, ging weit über eine finanzielle Absicherung hinaus. Im Anschluss daran erlaubte mir ein Caroline von Humboldt-Abschlussstipendium der Humboldt-Universität zu Berlin, meine Arbeit ohne finanzielle Sorgen zu beenden. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gewährte mir schließlich einen großzügigen Druckkostenzuschuss, der die Veröffentlichung dieses Buches ermöglichte. Ich danke Franziska Kuschel, die mir alle Fragen zum Bewerbungsverfahren geduldig beantwortete. An dieser Stelle ist auch Julia Brauch und Verena Deutsch vom De Gruyter Verlag für ihre Zugewandtheit und Hilfe bei der Publikation zu danken. Vor Abschluss meines Promotionsverfahrens, das am 27. Januar 2022 mit der Disputation endete, haben mir viele Menschen geholfen, das Projekt zu konzipieren, meine Thesen zu konkretisieren und sprachlich zu präzisieren. Teresa Tammer hat diese Arbeit von Anfang an begleitet. Ihr danke ich ganz besonders für ihr Durchhaltevermögen, ihre zahlreichen Anmerkungen und wichtigen Nachfragen. Steffi Brünings fundierter und kritischer Blick auf die DDR-Forschung ist immer lehrreich. Sich mit ihr auszutauschen, ist eine große Freude und Bereicherung gleichermaßen. Claudia C. Gatzka, Héla Hecker, Lea Hilsemer, Franziska Kelch, Felicia Kompio, Michael Leemann, Maximilian Nominacher, Lisa Quade und Sarah Voßbeck haben Teile des Manuskripts nicht nur gelesen und kommentiert, sondern auch ausführlich mit mir besprochen. Dafür möchte ich ihnen herzlich danken. Meine Großmutter, Erika Katzenberger, und meine Mutter, Ines Neumann, haben den Text dankenswerterweise Korrektur gelesen.

Vorwort



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In besonderem Maße möchte ich mich außerdem bei Malte Zierenberg bedanken. Ich wünsche jeder Person, die so ein Projekt verfolgt, Deinen wissenschaftlichen und freundschaftlichen Beistand. Immer ansprechbar war auch Dagmar Lissat, die das Projekt von Anfang bis Ende begleitet hat und mir in organisatorischen Fragen stets zur Seite stand. Florian Wenninger schließlich hat mir wichtiges Rüstzeug mit auf den Weg gegeben. Schon vor meinem Studium lehrte er mich, dass es in den Geschichtswissenschaften mindestens genauso wichtig ist, eine Frage stellen zu können, wie eine Anwort zu geben. Ich weiß nicht, was ich ohne meine Mitstreiter:innen in der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz getan hätte. Der Austausch mit ihnen gab mir so oft Kraft und Mut. Von Herzen danke ich Linda Conze, Lea Hilsemer, Michael Leemann, Agnieszka Roguski und Elena Skarke für inhaltliche und methodische Hinweise sowie ihre große emotionale Unterstützung. Darüber hinaus möchte ich den vielen Freund:innen danken, die meine Arbeit in all den Jahren mit Interesse verfolgten, nicht müde wurden, danach zu fragen oder höflich schwiegen, wenn ich nicht darüber sprechen wollte. Euer Verständnis und eure Geduld sind nicht selbstverständlich und eure Freundschaften sind ein großes Glück für mich. Ein großer Dank gebührt auch meiner Familie, Anna und Erik, meinen Großeltern, meinen Schwiegereltern und ganz besonders meinen Eltern, Ines Neumann und Uwe Katzenberger. Sie haben mich auf meinem Weg immer unterstützt und ich bin sehr dankbar für ihr Vertrauen. Jan und Greta haben mich durch diese Zeit getragen. Jans Verständnis für die Situation, seine Leidenschaft für Geschichte und sein nie nachlassendes Interesse an meiner Arbeit gaben mir Halt und bestärkten mich. Greta ließ mich Zweifel und Sorgen mit einem Lächeln vergessen. Ihr zeigt mir, was wichtig ist. Widmen möchte ich dieses Buch meinem Großvater Hartmut Katzenberger (†). Sein begeisterter wie kritischer Blick auf die Geschichtsschreibung hat mich beeindruckt. Berlin, im Januar 2023

Inhaltsverzeichnis Vorwort  V Einleitung  1 Kapitel 1 Kein Neuanfang: Weitermachen. Die Kirchen als Garanten gesellschaftlicher Ordnung in den Nachkriegsjahren?  23 1.1 Zusammenbruch und Wiederaufbau: Kirchen als Zufluchtsorte  23 1.2 Schuld, Vergebung, Vergessen: kirchlicher Umgang mit dem Nationalsozialismus  40 1.3 Zurück ins Zentrum der Gesellschaft: kirchliche Vorstellungen von einem neuen Deutschland  53 1.4 Resümee  92 Kapitel 2 Verflechtung: Die Suche nach dem Nächsten. Identifikationsmomente (1949–1960er-Jahre)  94 2.1 Feste feiern, Kirchen bauen: das Ringen um Rituale und Sichtbarkeit  95 2.2 Kommunikationskulturen: die Institutionalisierung kirchlicher Mediensysteme  126 2.3 Grenzgänger: kirchlicher Alltag zwischen Ost und West  144 2.4 Erinnerungs- und Streitkulturen: zur Konstruktion gemeinsamer Feindbilder  173 2.5 Resümee  200 Kapitel 3 Entfremdung: Auf Distanz zum Nächsten. Erosions- und Trennungstendenzen (1950er-1970er-Jahre)  203 3.1 Organisatorische Trennungen: pragmatische Ansätze und die Einführung von Parallelstrukturen  203 3.2 Gefühlte Trennungen: unterschiedliche Alltagswirklichkeiten  227 3.3 Resümee  268

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 4 Entflechtung: Der Nächste ist ein Anderer. Trennung in Ost und West (1960er–1980er-Jahre)  270 4.1 Der Rückzug der Kirchen ins Private: Rufe nach Neubesinnung in Ost-Berlin  270 4.2 Wahlmöglichkeiten: Reformen in West-Berlin  319 4.3 Resümee  364 Kapitel 5 Rück- und Neuverflechtung: Annäherung an den Anderen (1960er–1980er-Jahre)  366 5.1 Was bleibt: etablierte Kontakte im Wandel  369 5.2 Horizonterweiterung: neue Akteure, neue Orte, neue Formate  381 5.3 Fallbeispiel: Gemeindepartnerschaften  399 5.4 Resümee  420 Kapitel 6 Religiöse Gemeinschaften und die deutsche Einheit (1989/1990er-Jahre)  424 6.1 Der Blick nach vorn: das zögerliche Zusammenwachsen von Ost und West  424 6.2 Der Blick zurück: die Last des Vergangenen  458 6.3 Resümee  477 Schluss  481 Literatur- und Quellenverzeichnis  490 Personenregister  509

Einleitung Es ist nicht einfach, in den Dachstuhl der 1928 errichteten Kirche St. Augustinus in Berlin-Prenzlauer Berg zu gelangen. „Merken Sie sich, wo es lang geht, damit Sie später wieder hinausfinden“, sagte der Küster zu mir, bevor wir über schmale Treppen nach oben stiegen. Unser Aufstieg endete vor einer unscheinbaren Tür. Die Luft war staubig. Es roch nach Taubenkot. Der Küster öffnete die Tür, trat ein und forderte mich auf, ihm zu folgen. Wir standen in einem kurzen Flur mit Garderobe, von dem drei kleine Räume abgingen. Es gab außerdem eine Küche und eine Toilette. In den Zimmern befanden sich Einzelbetten, Tische, eine Schrankwand. Die Größe dieser kleinen Wohnung betrug nicht mehr als 60 Quadratmeter. Fenster gab es nicht, kein Tageslicht. Davon, dass es Mittag war, erfuhr ich von den Glocken, die plötzlich neben mir zu läuten begannen. Eine Heizung fehlte ebenfalls, sodass es zu dieser Jahreszeit, Anfang März, empfindlich kalt war. Heute befindet sich in dieser Wohnung das kleine Pfarreiarchiv der katholischen Gemeinde St. Augustinus. Gebaut wurde sie aber aus einem anderen Grund. Hier brachte die Gemeindeleitung seit den 1960er-Jahren drei Jahrzehnte lang Personen aus der DDR unter, die sich in der Augustinusgemeinde mit Kirchenmitgliedern aus der Bundesrepublik trafen. Im Geheimen tauschten sie sich über religiöse und kirchliche Themen aus. Aus Angst vor Überwachung, hatten die Bauherren entschieden, auf Bauelemente zu verzichten, die die Gästewohnung von außen als solche zu erkennen gegeben und damit das Interesse staatlicher Behörden geweckt hätten. Fenster oder ein Heizungsabzug waren ihnen zu auffällig erschienen. Das Risiko, entdeckt zu werden, sollte so gering wie möglich gehalten werden – die Begegnungen in einem möglichst geschützten Raum stattfinden. Die Mehrzahl der Gemeindemitglieder wusste nicht, wer sich in der Gemeinde traf und was bei diesen Treffen besprochen wurde. Das Ministerium für Staatssicherheit vermutete, dass Agenten des Bundesnachrichtendienstes in der Augustinusgemeinde mit Oppositionellen aus der DDR zusammenkamen. Aber der Geheimdienst fand keine Beweise, die diesen Verdacht erhärten konnten. Im Frühjahr 2017 stand ich in dieser kalten, fensterlosen Wohnung, deren Bau nicht dokumentiert ist, über die es keine schriftlichen Quellen gibt und die bis heute de facto nicht offiziell existiert. Aber dieser Ort ist trotzdem da und voller Spuren. Im Zuge meiner Recherchen für diese Arbeit kam ich immer wieder an solche Orte, in solche Situationen. Ich hatte danach gefragt, wer die Menschen waren, die als Mitglieder christlicher Gemeinden während des Kalten Kriegs in der geteilten Region Berlin-Brandenburg gelebt hatten, und ihnen zu folgen, bedeutete auf Dachböden zu klettern, sich kleine Pfarreiarchive aus Schuhkartons zu erschlie-

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Einleitung

ßen und mit Menschen zu sprechen, die es nicht gewohnt sind, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Im Kontrast dazu steht ein Foto, das mir im Bundesarchiv in die Hände fiel. Es zeigt eine Menschenmenge, die sich um eine Glocke versammelt.1 Das Bild wurde auf dem West-Berliner Kurfürstendamm aufgenommen. Im Hintergrund ist die Turmruine der im Zweiten Weltkrieg stark beschädigten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu erkennen. Die Glocke läutete die Eröffnungsgottesdienste des Deutschen Evangelischen Kirchentags ein, der vom 19.-23. Juli 1961 in West-Berlin stattfand, wenige Tage vor dem Mauerbau. Die Aufnahme hat einen starken Symbolcharakter. Die Glocke befand sich gut sichtbar mitten in der West-Berliner City. Die evangelische Kirche unterstrich dadurch ihren Anspruch auf einen Platz in der Mitte der Gesellschaft, der ihr offensichtlich auch zugebilligt wurde. Das Glockengeläut war außerdem bis nach Ost-Berlin zu hören. Es sollte die beiden Teile der Stadt akustisch miteinander verbinden. Durch die buchstäbliche Zementierung der deutschen Teilung am 13. August 1961 war es vorerst der letzte Kirchentag, an dem Ost- und West-Berliner gemeinschaftlich teilnehmen konnten. Bei der Organisation der Veranstaltung wurde jedoch bereits eindeutig nach Herkunft unterschieden: Die Bewohner aus dem Osten mussten sich gesondert für den Kirchentag anmelden. Sie wurden in einem eigenen Bereich empfangen und erhielten bei der Verpflegung Extrarationen. Die scheinbar Nächsten waren zu diesem Zeitpunkt schon keine Gleichen mehr.

Fragestellung Wenige Tage nach dem Mauerbau erinnerte der evangelische Bischof von Berlin Otto Dibelius an den im Kalten Krieg geltenden kirchlichen Leitspruch „Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen“.2 Weder die Teilung der Stadt Berlin in vier Sektoren nach dem Zweiten Weltkrieg, noch die Gründung zweier deutscher Staaten 1949 hätten daran etwas ändern können. Doch 1990 stellten die Kirchen dieses Postulat selbst in Frage. Mit der Wiedervereinigung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR und der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) erkannten sie an, dass Staatsgrenzen durchaus Kirchengrenzen gewesen waren und auch fortan sein sollten. Dies galt in ganz ähnlicher Weise für die katholischen Bischofskonferenzen. Zwar hatte die Berliner Ordinarien- beziehungsweise Berliner Bischofskonferenz nie den offiziellen Status als nationale Bischofskonferenz der 1 Berlin 1961. Deutscher Evangelischer Kirchentag. Bundesarchiv B 145 Bild P060355. Vgl. https:// www.bild.bundesarchiv.de/dba/de/search/?query=B+145+Bild-P060355 [30.4.2021]. 2 Dibelius, Otto: Reden an eine gespaltene Stadt, 3. Auflage, Stuttgart 1961, S. 63.

Einleitung



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DDR. De facto agierte sie aber losgelöst von der Deutschen Bischofskonferenz, dem Zusammenschluss aller Diözesen in der Bundesrepublik.3 Trotz dieser institutionellen Trennung ging die katholische Kirche genau wie die evangelische davon aus, „daß die kulturelle und politische Einheit des deutschen Volkes unaufgebbar sei.“4 In der Theorie galt diese Prämisse durchgängig. Doch wie gestalteten die Kirchen das christliche Leben in der geteilten Stadt Berlin? Vieles deutet darauf hin, dass sich der immer wiederholte Einheitsbegriff im Zeitverlauf wandelte und Kirchenmitglieder die besondere Gemeinschaft der Christen in Ost und West mindestens ambivalent wahrnahmen.5 Im Kalten Krieg symbolisierte Berlin eine in zwei Blöcke geteilte Welt. Nicht jede Verbindung riss deswegen aber ab. Kommunikation fand über den Eisernen Vorhang hinweg jedenfalls rudimentär statt. Das galt besonders für christliche Gemeinschaften, die den Anspruch hatten, ihre kirchliche Einheit über Systemgrenzen hinweg aufrechtzuerhalten und zu verteidigen.6 Mit Blick auf Berlin fragt diese Arbeit, wie religiöse Vergesellschaftung unter den Bedingungen der räumlichen und staatlichen Trennung funktionierte und in welcher Weise Organisationen und Praktiken unterschiedlicher kirchlicher Ebenen und Milieus in der Lage waren, die Mauer zu überwinden. 7 Die Studie untersucht so, durch die Linse der Kirchen und ihrer Mitglieder, den geteilten Kommunikationsraum und die wechselseitige Beeinflussung der beiden deutschen Gesellschaften. Die Geschichte, die sie schreibt, handelt in Grenzbereichen: zwischen Ost und West, zwischen den Konfessionen. Sie bewegt sich zwischen der DDR-Forschung und der Forschung zur Bundesrepublik, zwischen fachhistorischer Religi3 Bis 1966 trug der Zusammenschluss aller Bischöfe in der Bundesrepublik und Berlins den Namen Fuldaer Bischofskonferenz. Erst im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils erfolgte die Umbenennung in Deutsche Bischofskonferenz. 4 Homeyer, Josef: Die katholische Kirche im geteilten Deutschland und ihre Bedeutung für das Zusammengehörigkeitsgefühl, in: Hehl, Ulrich von/Hockerts, Hans Günter: Der Katholizismus – gesamtdeutsche Klammer in den Jahrzehnten der Teilung? Erinnerungen und Berichte, Paderborn u. a. 1996, S. 19. 5 Der Begriff besondere Gemeinschaft geht auf Artikel 4 (4) der Ordnung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR von 1969 zurück. Er sollte das Verhältnis und die Zusammengehörigkeit der ost- und westdeutschen evangelischen Kirchen beschreiben. Vgl. Silomon, Anke: Anspruch und Wirklichkeit der besonderen Gemeinschaft. Der Ost-West-Dialog der deutschen evangelischen Kirchen 1969–1991, Göttingen 2006, S. 11–12. Siehe auch: Rittberger-Klas, Karoline: Kirchenpartnerschaften im geteilten Deutschland. Am Beispiel der Landeskirchen Württemberg und Thüringen, Göttingen 2006, S. 37. 6 Vgl. Dibelius: Reden, S. 63. 7 Der von Georg Simmel übernommene Begriff „Vergesellschaftung“ meint, dass Gesellschaft „Ordnung im Prozess“ ist, sich also aus permanenten Wechselwirkungen generiert. Vgl. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Band 11, Frankfurt 1992, S. 23–37.

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onsgeschichte und konfessionell gebundener Kirchengeschichte. Und immer wieder changiert sie auch zwischen Wissenschaft und Aufarbeitung.8 Die Grenzen, die zwischen vielen dieser Bereiche verlaufen, sind nicht fix. Es ist analytisch kaum möglich, sie eindeutig voneinander zu trennen. Vielmehr soll im Folgenden gezeigt werden, welchen Mehrwert es hat, die beiden deutschen Staaten und christliche Konfessionen einander nicht nur gegenüberzustellen, sondern nach (asymmetrischen) Verflechtungen und ihrer Wandlungsfähigkeit zu fragen. Damit liegt dieser Analyse der von Christoph Kleßmann zu Beginn der 1980erJahre stark gemachte Ansatz einer Verflechtungsgeschichte zugrunde, der eben dazu anleitet, die sich verändernden Wechselbezüge zwischen den beiden deutschen Staaten und Gesellschaften in den Blick zu nehmen und nicht bloß innerdeutsche Gegensätze zu rekonstruieren.9 Kleßmann ging es nicht darum, grundlegende Differenzen zu glätten, sondern aufeinander bezogene Interaktionen zwischen der Bundesrepublik und der DDR als Bezugnahmen sichtbar zu machen. Neben Gemeinsamkeiten und Unterschieden zeitigten diese gleichermaßen Konkurrenzmomente und Abgrenzungsbedürfnisse.10 Dass sich religiöse Gemeinschaften unter den Bedingungen des Kalten Kriegs in einem besonderen Spannungsverhältnis zwischen Verflechtung und Abgrenzung, Kontinuitäten und Brüchen bewegten, wurde bereits zeitgenössisch erkannt.11 Daher ist zu fragen: Inwiefern konnte die deutsch-deutsche Einheit christlicher Gemeinschaften unter den gegebenen Umständen praktiziert werden? Wo verliefen Trennungslinien, offenbarten sich Konflikte? Wie veränderten sich die Beziehungen mit der Zeit? Und: Inwiefern wurden religiöse Gemeinschaften von politischen und gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozessen erfasst oder

8 Vgl. Sheffer, Edith: Burned Bridge. How East and West Germans Made the Iron Curtain, Oxford 2011. Siehe auch: Johnson, Jason B.: Divided Village. The Cold War in the German Borderlands, London/New York, 2017. 9 Vgl. Kleßmann, Christoph: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1991. Siehe auch: Neumann, Maria: Religion in der geteilten Stadt. Christliche Vergesellschaftung und Kalter Krieg in Berlin, in: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 11 (2017), S. 115–124. 10 Vgl. Jarausch, Konrad H.: „Die Teile als Ganzes erkennen“. Zur Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 1 (2004), https://zeithistorische-forschungen.de/1-2004/4538 [2.6.2021]. 11 Vgl. Kleßmann, Christoph: Verflechtung und Abgrenzung – Umrisse einer gemeinsamen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Schönhoven, Klaus/Staritz, Dietrich (Hrsg.): Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Hermann Weber zum 65. Geburtstag, Köln 1993, S. 486–499. Sowie: Scharf, Kurt: Brücken und Breschen. Biographische Skizzen, Berlin 1977. Und: Maser, Peter: Die evangelischen Kirchen in der DDR aus der Perspektive des Westens, in: epd Dokumentation 14/15 (2013), S. 16–20.

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nahmen auch selbst Einfluss auf jene Veränderungen, suchten sie anzunehmen und zu gestalten? Um einem Missverständnis vorzubeugen: Bei Verflechtungsgeschichten handelt es sich nicht ab initio um Erfolgsgeschichten. Eine Verflechtung kann auch dann bestehen, wenn es Streit gibt und man sich nicht versteht. Aus diesem Grund soll im Folgenden zwischen Verflechtungen, Entflechtungen und Rück- beziehungsweise Neuverflechtungen unterschieden werden. Als Verflechtungen werden dabei Formen der Bezugnahme verstanden, die auf eine Relativierung von Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten abzielen. Das betrifft vor allem Praktiken, die sich an Vergangenem und Traditionellem orientieren. Eines der besten Beispiele bildet hier das kirchliche Liedgut. Die Lieder sind sozusagen Marker von Verflechtung. Für Berliner Kirchenmitglieder in Ost und West konnten derlei Verflechtungen somit einen bewahrenden Charakter haben. Das Erinnern an gemeinsame Erfahrungen oder das Vergewissern eines geteilten Traditionsbestands stärkte die Identifikation mit der eigenen Kirche, aber auch mit dem anderen Deutschland. Parallel zu diesen Verflechtungen sind Entfremdungs- und Entflechtungstendenzen zu beobachten. Diese gingen häufig mit Kommunikations- und/oder Wissensdefiziten und schließlich massiven Identitätskrisen wie Solidaritätsverlusten einher. Ferner können sie als Verselbstständigungsprozesse und im Zuge dessen sogar als Entlastungsmomente verstanden werden. Sie geben Aufschluss darüber, inwiefern sich die einzelnen Gemeinden an den Problemen ihrer Gegenwart orientierten beziehungsweise inwieweit sie sich auf ihr Eigenes konzentrierten. Solche Entwicklungen betrafen Gemeinden in Ost und West, in der Stadt und auf dem Land gleichermaßen. Dieses Nebeneinander von Verflechtung und Entflechtung erklärt sich dadurch, dass „Gesellschaften nicht nur durch die Dichte von Interaktionen integriert werden, sondern auch dadurch, inwieweit diese Interaktion am Ende zu gemeinsamen Erfahrungen führt, die zu Strukturen gerinnen und gemeinsame Bilder von sich selbst generieren, die ein Besonderssein begründen.“12 Daher sind hier schließlich Rück- und Neuverflechtungen zu nennen, die auf der Akzeptanz von Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten basieren. Im Zuge solcher Neuverflechtungen etablierten sich neue Praktiken, während traditionelle Beziehungsformen transformiert, also den sich wandelnden Umständen angepasst werden. Daran anknüpfend werden in dieser Arbeit Fragen von Zugehörigkeit und Zugänglichkeit erörtert, die gerade vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs immer 12 Mergel, Thomas: Die Sehnsucht nach Ähnlichkeit und die Erfahrung der Verschiedenheit. Perspektiven einer Europäischen Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 419.

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wieder neu verhandelt werden mussten: Wer galt als intern? Wer wurde als extern markiert?13 Die Konfliktlinien zwischen Amtskirche und Laien, zwischen den Generationen oder zwischen Kirchenmitgliedern und Dritten verliefen nicht immer und allein entlang des Eisernen Vorhangs. Kirchenintern spielte der OstWest-Konflikt zunächst nur eine Rolle neben vielen anderen. Unterschieden wurde außerdem nach lokaler Herkunft, konfessioneller Prägung oder der Frage, wie sich Kirchenmitglieder im Nationalsozialismus positioniert hatten, wobei Geistliche anders beurteilt wurden als Laien. Diese dominierenden Zuordnungskriterien wurden im Zeitverlauf abgelöst und durch andere ersetzt, die in der Regel stärker auf Staatsbürgerschaft und Systemzugehörigkeit rekurrierten. Der Ost-West-Konflikt begann ältere Zugehörigkeiten und (Selbst-)Verortungen in Frage zu stellen, ohne sie ganz verschwinden zu lassen. Teilung und Kalter Krieg forderten die Gemeinden gewissermaßen heraus und machten vieles schwieriger. Trotzdem waren die Kirchenmitglieder nicht bloß Getriebene, die sich einer feindlichen Umwelt gegenübersahen. Es ging auch um die aktive Nutzung von (Zwischen-)Räumen und Handlungsoptionen, die sich veränderten. Die Akteure machten sie sich vielfach mindestens zu eigen; bisweilen schufen sie sie sogar. Hierbei geraten die räumlichen Strukturen in den Fokus, in denen diese Untersuchung angesiedelt ist. Das kirchliche Leben im geteilten Berlin lässt sich nicht ohne einen Blick auf das Umland darstellen. Allein die institutionellen Gegebenheiten verlangen danach. Das Gebiet des Bistums Berlin war auch im Kalten Krieg größer als die Stadt selbst. Es erstreckte sich über Brandenburg, Greifswald und Stralsund bis zur Insel Rügen. Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg (EKiBB) umfasste weite Teile Brandenburgs. Städtische und ländliche Gemeinden waren auf diese Weise strukturell miteinander verbunden und in einem ständigen Austausch miteinander begriffen. Das heißt, neben internationalen und nationalen ist hier zwischen regionalen und lokalen Kontexten zu unterscheiden und gleichsam auf Unterschiede zwischen Stadt und Land oder City und Stadtrand hinzuweisen. Daran knüpft die Frage an, welche Definitionen von Grenzen in den jeweiligen Räumen überhaupt existierten, was als Grenzüberschreitungen wahrgenommen wurde und wo und wann diese Grenzen verschwammen beziehungsweise welche Konsequenzen das nach sich zog. Hierfür sind die im engeren Sinne politischen Zusammenhänge von signifikanter Bedeutung. Es genügt für die vorgenommene Analyse nicht, die Bundesrepublik und die DDR bloß als Container für bestimmte, a priori unterstellte systemische Unterschiede zu gebrauchen. Vielmehr soll, wie Dorothee Wierling es nahe-

13 Vgl. ebenda, S. 427.

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legt, zwischen der DDR als Staat und der DDR als Gesellschaft beziehungsweise der Bundesrepublik und der bundesdeutschen Gesellschaft unterschieden werden.14 Darüber hinaus gilt es zwischen den einzelnen Akteuren und Akteursgruppen zu differenzieren. Hier sind neben den Kirchenmitgliedern alle anderen, wie staatliche oder nichtkirchliche Akteure, zu nennen. Außerdem fallen darunter die kircheninternen Beziehungen zwischen Kirchenleitung und Kirchenbasis, zwischen Theologen und Laien sowie zwischen progressiven und konservativen Kräften. Die Konfliktlinien können in diesen Fällen zwischen Generationen genauso wie zwischen Hierarchien, Geschlechtern oder Milieus verlaufen. Denn Religionsgemeinschaften sind zunächst klassen- und generationsübergreifend zugänglich und stehen allen Geschlechtern offen, wenn auch nicht unbedingt im selben Maß. In diesem Zusammenhang fällt besonders auf, dass bei der Diskussion kirchengeschichtlicher Themen in der Forschung häufig nur die Sichtweisen der oft männlich dominierten Kirchenleitungen und Theologen rezipiert werden, ohne dass Meinungen oder Forderungen der Kirchenbasis explizit gemacht werden. Vor diesem Hintergrund werden in dieser Arbeit katholische, evangelische und freikirchliche Gemeinden, vorrangig baptistische Gemeinden, untersucht. Aufgrund der Quellenlage ist es mit Blick auf Letztere oft nur möglich Schlaglichter zu werfen. Sie sind aber schon allein deswegen von Bedeutung, weil die Freikirchen in der DDR anders als in der Bundesrepublik eine Aufwertung gegenüber den großen Konfessionen erfuhren. Sie sahen sich in Ost-Berlin und der DDR deswegen nicht zwangsläufig besser-, wohl aber gleichgestellt gegenüber den großen christlichen Konfessionen.15 Gemein ist ihnen allen, dass das konfessionelle Selbstverständnis der genannten Gemeinschaften grundverschieden sein konnte; als Religionsgemeinschaften sind sie aber alle gleichermaßen im selben Raum zu verorten. Die Protestantismus- und Katholizismusforschung lehnt konfessionsübergreifende Perspektiven mit dem Verweis auf unterschiedliche Methoden und Lesarten mehrheitlich ab. Das aber ist problematisch. Eine strenge analytische Trennung der Konfessionen macht allein mit Blick auf die Kommunikation der Gemeinden vor Ort aus kultur- und religionshistorischer Perspektive wenig Sinn. So sind auch Thomas Großbölting und Klaus Große-Kracht davon überzeugt, dass es angemessener wäre, wenn die Forschung „nicht mehr den bekannten kirchen- und konfessionsgeschichtlichen Einbahnstraßen folgt, sondern Religionsgeschichte als eine

14 Vgl. Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins: Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie. Berlin 2002, S. 9. 15 Vgl. Strübind, Andrea: Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR, in: Kirchliche Zeitgeschichte 29 (2016), S. 93–94.

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‚geteilte Geschichte‘ unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften in einer gemeinsamen gesellschaftlichen Umwelt schreibt.“16 Freilich war Berlin im 20. Jahrhundert nie ein Mekka christlicher Frömmigkeit.17 Selbst wenn sich die Menschen kirchlich trauen ließen und ihre Kinder zur Taufe brachten, waren sie nicht unbedingt fleißige Kirchgänger oder gläubige Christen. Zwar gehörten 1945 nahezu alle Berliner offiziell einer Religionsgemeinschaft an, aber der Nationalsozialismus hatte die Distanz zu den Kirchen noch einmal vergrößert. Demgegenüber steht die Tatsache, dass Religionsgemeinschaften auch im eigentlich nicht gottesfürchtigen Berlin wichtige soziale Funktionen übernahmen.18 Die Forschung hat gezeigt, dass in den Jahren zwischen 1933 und 1945 einige kirchliche Traditionen abbrachen, andere aber weitergeführt wurden. Welche tradierten Narrative oder Praktiken bestanden aber genau fort beziehungsweise wann und warum wurden sie abgelöst? Lässt sich Kleßmanns These halten, wonach Traditionen gerade in der DDR aufgrund des staatlichen Drucks auf die christlichen Kirchen und die Geschlossenheit der Gemeinschaften eher konserviert wurden als in der Bundesrepublik?19 Das zu ermessen ist nur möglich, wenn neben den bislang untersuchten Akteuren und Strukturen auch „Nischen, Spielräume, Verweigerungspotentiale und Anpassungsprozesse“ in den Blick geraten. 20 Inwiefern galten die auf der Landkarte gezogenen Grenzen in den Köpfen der Kirchenmitglieder? Und wenn ja, ab wann und für wen? Wie manifestierten sich staatliche Grenzen im Selbstverständnis, in den Ausdrucksweisen und Handlungsformen organisierter Christen in Ost und West? Der Hinweis des Berliner Bischofs Kurt Scharf, sie hätten unterschiedliche Sprachen gesprochen, schließt nicht aus, dass sie trotzdem das Gleiche meinten, auch wenn sie sich einander nicht verständlich machen konnten.21 Oder anders: Was machte das gegenseitige Beobachten mit den Menschen, wenn sie das Wahrgenommene unterschiedlich einordneten? Was tangierte die Gemeindemitglieder vor Ort tatsächlich, wie wurde darüber 16 Großbölting, Thomas/Große Kracht, Klaus: Religion in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einleitung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), https://zeithistorische-forschungen.de/3-2010/4500 [2.6.2021]. 17 Vgl. Große Kracht, Klaus: Die Stunde der Laien? Katholische Aktion in Deutschland im europäischen Kontext 1920–1960, Paderborn 2016. 18 Vgl. Pickel, Gert: Kirche und Christentum in der modernen Großstadt, in: Bünz, Enno/Kohnle, Armin (Hrsg.): Das religiöse Leipzig. Stadt und Glauben vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Leipzig 2013, S. 511–529. 19 Vgl. Kleßmann, Christoph: Einleitung, in: Kleßmann, Christoph (Hrsg.): Kinder der Opposition. Berichte aus Pfarrhäusern in der DDR, Gütersloh 1993, S. 8. 20 Ebenda. 21 Vgl. Seidel, J. Jürgen: „Neubeginn in der Kirche?“ Die evangelischen Landes- und Provinzialkirchen in der SBZ/DDR im gesellschaftspolitischen Kontext der Nachkriegszeit (1945–1953), Göttingen 1983, S. 136.

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gesprochen und inwiefern spielten Andere – ganz gleich wer diese Anderen gewesen sein mögen – im kirchlichen Leben überhaupt eine Rolle? Blieb der Blick vornehmlich auf Lokales gerichtet? Traten die Ereignisse und Personen der anderen Seite überhaupt in den alltäglichen Horizont? In welchem Verhältnis standen Introspektionen gegenüber dem Blick nach außen? Die Arbeit übernimmt deshalb auch nicht einfach vorgeschlagene Zäsuren. Der Blick auf die Kommunikation und die Praxis des Gemeindelebens bedeutet zugleich eine Perspektivverschiebung, die etablierte Narrative und Periodisierungen relativieren kann. In vielen Ost-Berliner Gemeinden, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde der 13. August 1961, abgesehen von einigen Ausnahmen, viel weniger als ein Einschnitt im kirchlichen Leben wahrgenommen als der 9. November 1989, der in den ostdeutschen Gemeinden den Beginn einer massiven Austrittsbewegung darstellte.

Forschungsstand Die vorliegende Arbeit positioniert sich zwischen unterschiedlichen Forschungsfeldern. Dazu zählt neben der Kultur- und der Religionsgeschichte, die sich in die vorwiegend westdeutsch geprägte Protestantismus- und Katholizismusforschung aufspaltet, vor allem die Geschichte der DDR. Auf diese Weise werden Forschungsfelder miteinander verbunden, die in der Regel getrennt voneinander betrachtet werden. Für alle diese Bereiche gilt, dass die historische Forschung zum 20. Jahrhundert als dominante Deutung lange die klassische Säkularisierungsthese favorisiert hat.22 Damit ging eine gewisse Marginalität der Religionsgeschichte einher. Erst unter dem Einfluss kulturhistorischer und modernisierungskritischer Ansätze beschäftigten sich die Geschichtswissenschaften wieder häufiger mit religiösen Fragen. Um die Jahrtausendwende wurden die vormals überwiegenden Institutionsund Organisationsgeschichten um mentalitäts- und alltagsgeschichtliche Perspektiven erweitert. Religiöse Sinnzusammenhänge und Symbole rückten in den Blickpunkt, deren sich wandelnde Bedeutung durch die Untersuchung von Ritualen und Praktiken sichtbar wurde. Das ermöglichte eine Rekonstruktion religiöser Vergesellschaftungsprozesse, die nicht mehr unbedingt eine Niedergangserzählung in sich barg.23 22 Vgl. Pollack, Detlef: Säkularisierungstheorie,Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte 7.3.2013, http://docupedia.de/zg/pollack_saekularisierungstheorie_v1_de_2013 [25.3.2021]. 23 Vgl. Altermatt, Urs: Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Auflage, Zürich 1992. Siehe auch: Damberg,

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Die DDR-Forschung ist hingegen lange auf das Stasi-Problem fixiert gewesen. Zudem tendiert die Historiographie dazu, die Geschichte der DDR vom Ende her zu sehen, was Versuchen zur „Differenzierung und Versachlichung“ oft entgegenläuft.24 Die für die Geschichte der DDR nach wie vor typische Vermischung von historischer Forschung und erinnerungspolitischer Aufarbeitung führt überdies dazu, dass bestimmte Akteursgruppen in den allermeisten Fällen ausgeklammert bleiben. Es überwiegen Arbeiten, die auf die Darstellung von Graustufen verzichten und vorhandene Widersprüche tendenziell ausblenden, um ihre Geschichte in ein klassisches Freund-Feind-Schema beziehungsweise Opfer-Täter-Narrativ einzupassen. Dabei gibt es aus historiographischer Perspektive wenige Gründe, sich in dieses Raster zu fügen. Denn die Geschichte von Menschen zu thematisieren, die die DDR nicht ablehnten, heißt eben nicht, den Diktaturcharakter des Staates in Frage zu stellen. Es kann vielmehr helfen, die DDR-Gesellschaft besser zu verstehen. Durch die Sichtbarmachung von Loyalitätskonflikten, denen Kirchenmitglieder als DDR-Bürger ausgesetzt waren, geraten Biographien in den Blick, die wenig eindeutig sein mögen, aber wirklich sind: Ein Christ, der trotz seiner christlich motivierten Ablehnung des Staates zur Wahl geht, ist dann nicht nur ein Opportunist. Er ist ein Akteur, dessen Handeln von bestimmten Faktoren bedingt wird, die sich ergründen und verständlich machen lassen. Die relativ umfangreiche Geschichtsschreibung über die Kirchen in der DDR entspricht jedoch den gängigen Narrativen.25 Christliche Akteure, die etwa als IM vom kirchlichen Selbstbild abwichen,

Wilhelm: Katholizismus und pluralistische Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hummel, Karl Joseph (Hrsg.): Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deutungen, Fragen. Eine Zwischenbilanz, Paderborn u. a. 2004, S. 115–129. Und: Hannig, Nicolai: Die Religion der Öffentlichkeit, Göttingen 2010, S. 26. Außerdem: Ziemann, Benjamin: Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt 2009. Wichtige Impulse für diese Entwicklung lieferte außerdem die Religionssoziologie. Vgl. Luckmann, Thomas: Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991. Siehe auch: Pollack, Detlef: Funktionen von Religion und Kirche in den politischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Untersucht anhand der politischen Zäsuren von 1945 und 1989 in Deutschland, in: Kirchliche Zeitgeschichte 1 (1999), S. 64–94. Und: Pollack, Detlef: Säkularisierung – ein moderner Mythos?, Tübingen 2003.Oder: Pollack, Detlef: Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa, Tübingen 2003. 24 Kleßmann, Christoph: Einleitung, S. 7. Zu den thematischen Schwerpunkten in der DDR-Forschung siehe auch: Weber, Hermann: Die Entwicklung der DDR-Forschung vor und nach der Herstellung der deutschen Einheit, in: Dähn, Horst/Heise, Joachim (Hrsg.): Staat und Kirchen in der DDR. Zum Stand der zeithistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschung, Frankfurt u. a. 2003, S. 17–28. 25 Vgl. Maser, Peter: Die Kirchen in der DDR, Bonn 2000. Siehe auch: Ehm, Martin: Die kleine Herde – die katholische Kirche in der SBZ und im sozialistischen Staat DDR, Berlin 2007. Oder: Grande, Dieter/Schäfer, Bernd: Kirche im Visier. SED, Staatssicherheit und Katholische Kirche in der DDR, Leipzig 1998. Und: Kösters, Christoph: Staatsssicherheit und Caritas 1950–1989 – Zur

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werden in der Regel staatlichen Institutionen zugeordnet, damit als Andere markiert und aus der religiösen Gemeinschaft exkludiert. Insgesamt unterscheidet die Forschung noch immer auffällig strikt zwischen der Bundesrepublik und der DDR als zwei scheinbar hermetisch voneinander abgetrennten Räumen. Dieser Eindruck wird durch den oft gewählten Fokus auf das Verhältnis von Amtskirche und Staat zusätzlich verstärkt.26 Grenzübergreifende Veränderungen in den Religionsgemeinschaften sind auf diese Weise nur schwer zu greifen. Wechselwirkungen wurden schon bei der Anlage der meisten Forschungsvorhaben ausgeschlossen. Erst Arbeiten wie die von Claudia Lepp machen seit den frühen 2000er-Jahren darauf aufmerksam, dass christliche Gemeinschaften durchaus an einem regelmäßigen Austausch interessiert waren und versuchten, voneinander zu lernen oder sich bewusst voneinander abzugrenzen.27 Lepp sieht in der Diskussion um den Zusammenhang zwischen kirchlicher und nationaler Einheit den Dreh- und Angelpunkt evangelischen Handelns. Doch bleibt in ihrer stark vergleichend ausgerichteten Studie zwischen Einheit und Trennung wenig Raum für ein Dazwischen und damit wenig Platz für alltägliche Erfahrungen.28 Arbeiten wie die von Thomas Großbölting verfolgen zwar den Ansatz, eine Religipolitischen Geschichte der Katholischen Kirche in der DDR, Paderborn 2001. Hier auch: Lange, Gerhard: Katholische Kirche im sozialistischen Staat DDR, Berlin 1993. 26 Vgl. Besier, Gerhard: Der SED-Staat und die Kirche 1953–1990, 2 Bände, Berlin u. a. 1993/1995. Und: Besier, Gerhard: Die Rolle der Kirchen im Gründungsprozeß der Bundesrepublik Deutschland, Lüneburg 2000. Sowie: Haese, Ute: Katholische Kirche in der DDR. Geschichte einer politischen Abstinenz, Düsseldorf 1998. Hier auch: Kösters, Christoph/Tischner, Wolfgang (Hrsg.): Katholische Kirche in der SBZ und DDR, Paderborn u. a. 2005. Oder: Schäfer, Bernd: Staat und Katholische Kirche in der DDR, Köln u. a. 1998. Siehe ebenso: Gerster, Daniel: Friedensdialoge im Kalten Krieg: Eine Geschichte der Katholiken in der Bundesrepublik 1957–1983, Frankfurt 2012. Oder: Fitschen, Klaus u. a. (Hrsg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre, Göttingen 2010. 27 Vgl. Lepp, Claudia: Wege des Protestantismus im geteilten und wiedervereinigten Deutschland, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51 (2000), S. 173–189. Oder: Lepp, Claudia/ Nowak, Kurt (Hrsg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland. 1945–1989/90, Göttingen 2001. Und: Lepp, Claudia: Tabu der Einheit? Die Ost-West-Gemeinschaft der evangelischen Christen und die deutsche Teilung (1945–1969), Göttingen 2005. Siehe auch: Greschat, Martin: Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland. 1945–1953, Paderborn 2010. Außerdem: Kunter, Katharina: Erfüllte Hoffnungen und zerbrochene Träume. Evangelische Kirche in Deutschland im Spannungsfeld von Demokratie und Sozialismus 1980– 1993, Göttingen 2006. Und: Silomon: Anspruch und Wirklichkeit. Zentral für die Geschichte der Berliner Kirchen: Jung, Ruth: Ungeteilt im geteilten Berlin? Das Bistum Berlin nach dem Mauerbau, Berlin 2003. Und: Radatz, Werner/Winter, Friedrich: Geteilte Einheit. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg 1961–1990, Berlin 2000. 28 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit? Siehe auch: Kirche in der DDR, in: Der Christ 25. April 1969, S. 3. Oder: Bengsch (intern) besorgt über Auseinanderleben beider Teile des Bistums und über Entfremdung in Westdeutschland, 20. Oktober 1963. KNA Bln, Ordner Bengsch, abgedruckt bei: Höl-

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onsgeschichte beider deutscher Staaten zu erzählen. Jedoch entsteht bei der Lektüre seiner Studie über den „verlorenen Himmel“ der Eindruck, die DDR sei nicht mehr als die viel bemühte Fußnote der Geschichte. Und so werden bei Großbölting die systemübergreifenden Beziehungen zwischen den Religionsgemeinschaften häufig auf die Hilfsbedürftigkeit oder das Opferdasein der Kirchen in der DDR reduziert.29 Auch die Berlinforschung nach 1945 hat bislang kaum eine integrale Perspektive auf die Stadt entwickelt. Bis auf wenige Ausnahmen werden Ost-Berlin und West-Berlin getrennt voneinander betrachtet.30 Bewusst grenzübergreifende Studien sind erst in den letzten Jahren erschienen.31 Das gilt weitestgehend auch für die Geschichte der Berliner Kirchen im Kalten Krieg.32 Von zentraler Bedeutung gerade für die evangelische Kirche ist der von Gerd Heinrich herausgegebene Sammelband zur Berliner Kirchengeschichte.33 Die Zahl der Publikationen über die evangelischen Freikirchen ist insgesamt gering. Wie bei anderen Konfessionen wird mit Blick auf die Freikirchen zudem häufig zwischen dissidenten und opportunistischen Haltungen polarisiert.34 Sowohl für die evangelischen Kirchen als auch das katholische Bistum Berlin gilt, dass viele Studien, wenn nicht offen konfessionell gefärbt, so doch meist ereignisgeschichtlich orientiert sind oder einzelne Akteure und deren Biografien sowie sehr spezifische Aspekte fokussieren. Hinzu len, Martin: Loyale Distanz? Katholizismus und Kirchenpolitik in SBZ und DDR. Ein historischer Überblick in Dokumenten, Band 2, Berlin 1997, S. 378. 29 Vgl. Weber, Petra: Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945–1989/90, Berlin 2020, S. 404–408. 30 Vgl. Ribbe, Wolfgang: Berlin 1945–2000. Grundzüge der Stadtgeschichte, Berlin 2002. Siehe auch: Rott, Wilfried: Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948–1990, München 2009. Oder: Eisenhuth, Stefanie/Sabrow, Martin: „West-Berlin“. Eine historiographische Herausforderung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 11 (2014), https:// zeithistorische-forschungen.de/2-2014/5090 [2.6.2021]. 31 Vgl. Hochmuth, Hanno: Kiezgeschichte. Friedrichshain und Kreuzberg im geteilten Berlin, Göttingen 2017, S. 224–236 32 Vgl. Fitschen, Klaus: Berliner Kirchengeschichte, Berlin 2017. 33 Heinrich, Gerd (Hrsg.): Tausend Jahre Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1999. Zu nennen sind außerdem die Publikationen der Kirchengeschichtsvereine wie etwa das Wichmann-Jahrbuch des Diözesangeschichtsvereins Berlin. 34 Vgl. Fitschen, Klaus: Übersehen? Die Freikirchen in der DDR in der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung, in: Kirchliche Zeitgeschichte 29 (2016), S. 19–28. Außerdem: Assmann, Reinhard (Hrsg.): Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR: ein Leitfaden zu Strukturen – Quellen – Forschung, Kassel 2004. Oder: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995. Siehe auch: Beaupain, Lothar: Eine Freikirche sucht ihren Weg. Der Bund Freier evangelischer Gemeinden in der DDR, Wuppertal 2001. Sowie: Zwengel Almut (Hrsg.): Die „Gastarbeiter“ der DDR. Politischer Kontext und Lebenswelt, Berlin u. a. 2011.

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kommt, dass in vielen Arbeiten mit religionsgeschichtlichen Themen Erinnerungen mit Forschungsergebnissen vermischt werden. Sie sind deshalb oft weniger als Sekundärliteratur denn als Quelle zu lesen. Gleiches trifft für amtskirchliche Veröffentlichungen mit historischen Titeln zu.35 Schließlich fällt auf, dass das Jahr 1961 in diesen Darstellungen meist als entscheidender Wendepunkt angenommen wird: Entweder endet der Betrachtungszeitraum mit dem Bau der Mauer oder er beginnt erst danach. Mit dieser Eingrenzung nimmt die Historiographie aber mindestens ein Ergebnis vorweg. Sie überträgt die Zäsur des Mauerbaus mehr oder weniger unhinterfragt auf die Geschichte der Kirchen. In der Katholizismus- wie in der Protestantismusforschung überwiegen Perspektiven von oben. Die Blicke richten sich auf die Kirchenleitenden, auf Bischöfe und Konsistorialpräsidenten, auf Generalvikare und Kirchenräte. Kirchenpolitische Entwicklungen werden anhand amtskirchlicher Quellen bearbeitet. Die Kirchenbasis, also die zahlenmäßig große Mehrheit der Kirchenmitglieder, ist demgegenüber in den meisten Studien unterrepräsentiert und geht oftmals nur als Kennzahl in den Text ein. Die vorliegende Untersuchung ist daher zuallererst lokal angelegt. Dass solch ein Ansatz erkenntnisträchtig sein kann, zeigen Regionalstudien über Religionsgemeinschaften und religiöses Leben in der DDR sowie Arbeiten, die sich mit einzelnen Verbänden oder bestimmten Akteursgruppen beschäftigen.36 Sich von der Perspektive der Kirchenleitungen zu lösen bedeutet außerdem, Motive freizulegen, die die kirchliche Erinnerungskultur verdeckt. Konsens ist eine Meta-Erzählung, die Themen wie Einheit und Solidarität in den Vordergrund rückt. Doch genügen diese Schlagworte nicht, um die komplexen Beziehungen zwi35 Vgl. Ducke, Karl-Heinz: Die Kirche und der Zentrale Runde Tisch, in Brose, Thomas (Hrsg.): Glaube, Macht und Mauerfälle. Von der friedlichen Revolution ins Neuland, Würzburg 2009, S. 130–140. Siehe auch: Hanky, Dieter: Im Zeichen des Kreuzes. Von den mittelalterlichen Bistümern zum Bistum Berlin. Ein Gang durch 1.000 Jahre Kirchengeschichte, Berlin 1998. Oder: Knauft, Wolfgang: Katholische Kirche in der DDR. Gemeinden in der Bewährung 1945–1988, 2. verbesserte und erweiterte Auflage, Mainz 1988. Sowie: Kluck, Alfons/Sauermost, Burkard (Hrsg.): 75 Jahre Bistum Berlin. Glaube für die Zukunft. Spuren der Geschichte. Konturen des Lebens, Berlin 2005. Und: Bischöfliches Ordinariat Berlin (Hrsg.): Der Glaube lebt. 50 Jahre Bistum Berlin 1930–1980, Berlin/Leipzig 1980. Schließlich: Bischöfliches Ordinariat Berlin (West) (Hrsg.): Alfred Bengsch – Der Kardinal aus Berlin, Berlin 1980. 36 Vgl. Halbrock, Christian: Evangelische Pfarrer der Kirche Berlin-Brandenburg 1945–1961: Amtsautonomie im vormundschaftlichen Staat?, Berlin 2004. Sowie: Heinicker, Petra: Kolpingsarbeit in der SBZ und DDR 1945–1990, Paderborn 2020. Und: Richter, Hedwig: Pietismus im Sozialismus. Die Herrnhuter Brüdergemeinde in der DDR, Göttingen 2009. Schließlich: Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften. Oder: Heinecke, Herbert: Konfession und Politik in der DDR. Das Wechselverhältnis von Kirche und Staat im Vergleich zwischen evangelischer und katholischer Kirche, Leipzig 2002.

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schen Ost und West oder Leitung und Basis zu beschreiben. Die Annahme, die Gemeinden hätten sich grundsätzlich loyal gegenüber ihren Kirchenleitungen verhalten, vereinfacht das Bild nicht nur vom kirchlichen Leben in der DDR, sondern ebenso in der Bundesrepublik. Keineswegs war man auf Gemeindeebene immer einverstanden mit dem, was auf der Ebene der Kirchenleitungen verhandelt und beschlossen wurde. Zudem bestand ein Austausch zwischen den Ebenen, der in beide Richtungen verlief. Dies hat auch Auswirkungen auf die Quellenauswahl.

Methodischer Zugang und Quellen Amtskirchliche Quellen liefern nur einen eingeschränkten Zugang zu den Gemeinden vor Ort. Im Rahmen dieser Arbeit sollen unterschiedliche Geschichten erzählt werden, die die Pluralität der Perspektiven abzubilden versuchen.37 Zwar weisen diese Geschichten Zusammenhänge und Bezüge auf, aber sie sind reich an Widersprüchen. Hier werden Schlaglichter geworfen und Tendenzen beschrieben. Letztlich muss der Text aber fragmentarisch bleiben. Diese Tatsache soll nicht als Defizit, sondern als Ergebnis verstanden werden, das gängige, angeblich eindeutige Narrative in Frage stellt. Der Andere stellt dabei eine Konstruktion dar, dessen Charakter flüchtig ist: 38 Die Bezeichnung ostdeutsch kann auf eine geografische Verortung der Akteure abzielen. Ein Christ in der DDR meint nicht per se einen Oppositionellen. Das Eigene ist abhängig von der Präsenz des Anderen, beides unterliegt den Bedingungen von Einheit in Zeiten politischer Trennung. Die wechselnde Distanz zwischen Eigenem und Anderem kann etwa als Fremdheit oder Vielfalt beschrieben werden, bezogen zum Beispiel auf Räume (Nähe und Ferne) und soziale Beziehungen (Interaktionen).39 Der Andere ist dabei immer spezifisch anders, weil er ausgehend vom Eigenen konstruiert wird.40 Weitestgehend ausgeblendet werden demgegenüber Religionsgemeinschaften als Ritual- oder als theologische Diskursgemeinschaften. Im Rahmen der Analyse kann und soll nicht ermittelt werden, woran Menschen glauben oder warum sie glauben. Vielmehr wird nach den Funktionen, der Organisation und den Praktiken religiöser Gemeinschaften und ihres Alltags sowie den damit einhergehenden Erfahrungen des Eigenen, Anderen oder Fremden, also Verhältnissen von Inklusion 37 Vgl. Weber: Getrennt und doch vereint, S. 21. 38 Vgl. Reuter, Julia: Ordnungen des Anderen, Bielefeld 2002, S. 9–21. 39 Vgl. Vgl. Simmel, Georg: Exkurs über den Fremden, in: Simmel, Georg: Soziologie, 4. Auflage, Berlin 1958, S. 509–513. Siehe auch: Simmel, Georg: Soziologie des Raumes, in Simmel, Georg: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Band 1, Frankfurt 1995, S. 132–184. Und: Reuter: Ordnungen des Anderen: S. 77–112. 40 Vgl. ebenda, S. 14.

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und Exklusion gefragt. Neben den vielen Menschen, die die Religionsgemeinschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlassen haben, rücken auf diese Weise auch jene Akteure in den Blickpunkt, die oft von institutionellen Strukturen verdeckt werden: Die, die geblieben sind, die hinzu kamen, die zurückkehrten oder die, die ohne offizielle Mitgliedschaft partizipierten. Das heißt gewissermaßen die Mitglieder selbst zu fragen, warum sie diesen Gemeinschaften angehörten, was sie mit ihnen verband und welche Erwartungen sie auf diese projizierten. Zu den Motiven, die solchen Handlungen zugrunde lagen, konnten zum Beispiel die Suche nach Gemeinschaft, Seelsorge, Beschäftigung (Jugend- und Bildungsarbeit), (familiäre) Tradition, (moralische) Orientierung oder Kontemplation gehören. Grundvoraussetzung für den Erhalt einer (Religions-)Gemeinschaft ist ein funktionierendes Kommunikationssystem.41 Deshalb werden im Folgenden offizielle und nichtoffizielle religiöse Medien analysiert, wobei Printmedien wie Zeitungen und Gemeindeblätter sowie Rundfunksendungen zu nennen sind.42 Dazu kommen Redaktionsprotokolle und Leserbriefe, die im Diözesanarchiv Berlin (DAB)43 und dem Evangelischen Landesarchiv Berlin (ELAB)44 eingesehen wurden, sowie Bestände Grauer Literatur, die häufig in Pfarreiarchiven zu finden sind, wobei hier vor allem jene der katholischen St. Augustinus Gemeinde in Berlin-Prenzlauer Berg, der evangelischen Kirchengemeinde in Ahrensfelde und der Petrigemeinde im brandenburgischen Luckenwalde eine wichtige Rolle spielen. Der sogenannte Kirchenfunk wurde seit 1945 im östlichen und im westlichen Rundfunk ausgestrahlt und konnte die Grenze überwinden.45 Wie auch im säkularen Rundfunk gestalteten West-Berliner Kirchenfunkredakteure ihre Sendungen für Hörer in Ost und West, während Ost-Berliner Sender auch in West-Berlin gehört wurden.46 Auf diese Weise konnte mit Hilfe von West-Berliner Radiobeiträgen 41 Vgl. Tischner, Wolfgang: Katholische Kirche in der SBZ/DDR 1945–1951. Die Formierung einer Subgesellschaft im entstehenden sozialistischen Staat, Paderborn u. a. 2001, S. 476. 42 Die für dieses Projekt relevanten Zeitungen sind: evangelische Freikirchen: Die Gemeinde (seit 1946)|Wort und Werk (1947–1990) / evangelische Kirche: Berliner Sonntagsblatt (1952– 1991)|Die Kirche (1945–1994)|Potsdamer Kirche (1946–1991) / katholische Kirche: begegnung (1961–1990)|Der Christ (1968–1971)|Dialogikus (1970–1978)|Petrusblatt (1945–1990)|St. Hedwigsblatt (1954–1990). 43 Vgl. DAB I/12, DAB I/16 sowie DAB Ia/10 und DAB Ia/17. 44 Vgl. ELAB 35/3784–99. 45 Entsprechende Fundstellen liegen im Deutschen Rundfunkarchiv vor. Einige Radiobeiträge sind nachträglich publiziert worden. Vgl. Wort aus Berlin. Rundfunkansprachen und Predigten des Bischofs von Berlin Julius Kardinal Döpfner, 1. Band, 2. Auflage, Berlin 1960. Und: Wort aus Berlin. Rundfunkansprachen und Predigten des Bischofs von Berlin Julius Kardinal Döpfner, 2. Band, 2. Auflage, Berlin 1961. 46 Vgl. Kuschel, Franziska: Schwarzseher und heimliche Leser. Die DDR und die Westmedien, Göttingen 2016, S. 45–49.

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die Abwesenheit politischer Stellungnahmen in den Ost-Berliner Kirchenzeitungen kompensiert werden.47 Im Vergleich vermitteln diese Medien somit einen Eindruck davon, was offen diskutiert wurde oder nicht, was sagbar war oder ungesagt blieb, verstanden wurde oder fremd erschien. Sie bilden vertikale wie horizontale Kommunikationswege ab und lassen sich als ein Bindeglied zwischen den einzelnen Akteuren verstehen. Zudem lassen sich in den Publikationen Handlungsmuster erkennen und im Umkehrschluss auch die Abweichungen vom Normalen. Damit sind sie gleichzeitig Quellen sich wandelnder Selbstwahrnehmungen und Beobachtungsperspektiven. Nicht zuletzt tragen sie der Tatsache Rechnung, dass die in diesem Projekt behandelten religiösen Gemeinschaften ihrem Selbstverständnis nach zwar über nationale Grenzen hinweg agierten, sich dabei aber gleichzeitig in unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt medialen Systemen bewegten. Die bislang genannten Quellen erlauben aber nur eine begrenzte Perspektive. Denn veröffentlichte, womöglich zensierte Beschreibungen können von den Wahrnehmungen Einzelner selbstverständlich abweichen. Um dieser Schieflage entgegenzuwirken, ist das Quellenkorpus um Ego-Dokumente und kirchliche Akten – archivalisches wie ediertes Material – ergänzt.48 Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf Quellengattungen, die einen Zugang zu unterschiedlichen Alltagsebenen und verschiedenen Akteursgruppen möglich machen.49 Kirchliche Visitationsberichte stellen in diesem Zusammenhang eine wichtige Quelle dar. Mit ihrer Hilfe lassen sich hierarchieübergreifende Kommunikationswege nachverfolgen und die in den einzelnen Pfarreien diskutierten Probleme ermitteln. Zudem wurden die Visitationen von den beteiligten Akteuren immer wieder kritisch in Frage gestellt.50 Die Visitationsordnungen veränderten sich im Zeitverlauf.51 Die Visitatoren 47 Vgl. Bartlitz, Christine: Katholische Medien und Öffentlichkeiten in der Ära Ulbricht, in: Kösters, Christoph/Tischner, Wolfgang (Hrsg.): Katholische Kirche in der SBZ und DDR, Paderborn u. a. 2005, S. 219–249. 48 Vgl. zum Beispiel: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquête-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Band 6.1/2: Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur, Baden-Baden u. a. 1995. Oder: Akten deutscher Bischöfe. DDR 1957–1961, bearbeitet von Thomas Schulte-Umberg, Paderborn u. a. 2006. Für Berlin: Höllen, Martin: Loyale Distanz? Katholizismus und Kirchenpolitik in SBZ und DDR. Ein historischer Überblick in Dokumenten, Band 1, Berlin 1994. Und: Höllen, Martin: Loyale Distanz? Katholizismus und Kirchenpolitik in SBZ und DDR. Ein historischer Überblick in Dokumenten, Band 2, Berlin 1997. Sowie: Lange, Gerhard/Pruß, Ursula (Hrsg.): An der Nahtstelle der Systeme – Dokumente und Texte aus dem Bistum Berlin 1945–1990, 2 Bände, Leipzig 1995/1996. 49 Hier sind vor allem Briefe oder Erinnerungsberichte aus Nachlässen zu nennen. 50 Vgl. Generalkirchenvisitation Weißensee 15.-23.5.1971. ELAB 35/1195. 51 Vgl. Eine Generalkirchenvisitation in Berlin, in: Die Kirche 7.11.1968, S. 4.

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nahmen seit dem Ende der 1960er-Jahre nicht mehr nur eine Beobachter- und Richterposition ein. Stattdessen gewann das Format des Dialogs immer mehr an Bedeutung. Die Visitationsberichte zeichnen daher auch eine Entwicklung in der Kommunikation zwischen Kirchenleitung und Basis nach. Außerdem liefern Zeitzeugeninterviews Hinweise zu Themen, die bei einer Beschränkung auf zeitgenössische Zeugnisse unerwähnt blieben. Zwar wird Oral History als Methode nach wie vor kontrovers diskutiert, aber mit Blick auf die Fragestellung überwiegen die Argumente, die für eine Einbeziehung mündlicher Überlieferungen sprechen.52 Denn diese dienen hier nicht dazu, Fakten zu klären, sondern Hinweise zu sammeln und Stimmungen zu erfassen oder Sprachhandeln zu eruieren und Begriffe zu definieren. Beim Vergleichen der einzelnen Interviews treten zudem Verarbeitungsstrategien hervor. Diese wiederum ermöglichen Aussagen darüber, inwiefern sich vielzählige Einzelstimmen in ein allgemeines Erinnerungsmuster einfügen lassen oder nicht. Vor allem aber überbrücken die Interviews zeitliche Lücken, was angesichts des Beobachtungszeitraums von großer Bedeutung ist: Welche identitätsstiftende Wirkung haben vergangene Erfahrungen auf Einstellungen und Wahrnehmungen?53 Im Rahmen dieses Projektes wurden narrative Interviews mit Gemeindemitgliedern geführt.54 Einige der befragten Personen waren über Institutionen wie Gemeindekirchen- oder Pfarrgemeinderäte in die Gemeindearbeit eingebunden; andere bekleideten keinerlei kirchliche Ämter. Unter den Befragten waren Laien und Geistliche, Amtsträger und kirchliche Mitarbeiter, Katholiken und Protestanten, Frauen und Männer, Ost- und West-Berliner, ehemalige DDR-Bürger und Personen aus der Bundesrepublik.55 Einige der befragten Personen stimmten einer Wiedergabe ihrer Erinnerungen nur in anonymisierter Form zu. Ihre Namen wur52 Vgl. Andresen, Knud/Apel, Linde/Heinsohn, Kirsten (Hrsg.): Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute, Göttingen 2015. 53 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Auflage, München 2007. Siehe auch: Leh, Almut/Plato, Alexander von/ Thonfeld, Christoph (Hrsg.): Hitlers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich, Wien/Köln/Weimar 2008. Sowie: Niethammer, Lutz: Deutschland danach – Postfaschistische Gesellschaft und ihr nationales Gedächtnis, Bonn 1999. 54 Zur Konzeption und Durchführung narrativer Interviews vgl. Obertreis, Julia/Stephan, Anke (Hrsg.): Erinnerungen nach der Wende. Oral history und (post)sozialistische Gesellschaften, Essen 2009. Siehe auch: Obertreis, Julia (Hrsg.): Oral history, Stuttgart 2012. Und: Brüning, Steffi: Prostitution in der DDR. Eine Untersuchung am Beispiel von Rostock, Berlin und Leipzig, 1968 bis 1989, Berlin 2020, S. 26. 55 Vgl. Wehr, Laura: Geteiltes Land, gespaltene Familien? Eine Oral-History der DDR-Ausreise von Familien, Berlin 2020. Siehe auch: Plato, Alexander von: Interview-Richtlinien, in: Leh, Almut/ Plato, Alexander von/Thonfeld, Christoph (Hrsg.): Hitlers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich, Wien (u. a.) 2008, S. 443–450.

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den durch zufällig ausgewählte Initialen ersetzt. Andere Befragte sprachen sich für eine Veröffentlichung von Zitaten unter ihrem Klarnamen aus.56 Schließlich sind Akten aus dem Bestand der Stasiunterlagenbehörde als Quellen zu nennen, wobei diese nur in einem geringen Umfang in die Arbeit eingegangen sind. Die Akten waren Medien einer komplexen, auf die Bespitzelung und teilweise die Zersetzung von Personen zielenden Überwachungspraxis des Staates. Entsprechend verzerrend sind die in ihnen auffindbaren Informationen. Und entsprechend vorsichtig muss man sie behandeln. Die Akten stellen somit eine Deutung von Wirklichkeit dar, die dazu dient, einen Machtanspruch zu verteidigen und zu legitimieren. Hilfreich im Sinne der Fragestellung waren deshalb eher die zum Teil akribisch zusammengetragenen Materialsammlungen, darunter Graue Literatur, Redemanuskripte oder Gebäudepläne kirchlicher Räume, die sie enthalten. Zusammengefasst zielt diese Quellenauswahl auf eine Darstellung ab, die sich dem Thema multiperspektivisch nähert und dabei einerseits von oben wie von unten und andererseits von Osten wie von Westen auf ihren Gegenstand blickt.

Aufbau der Arbeit Die Arbeit ist chronologisch-systematisch aufgebaut. Ziel ist es, ein Panorama zu entwerfen, das unterschiedliche Perspektiven aufgreift und Veränderungen im Umgang mit bestimmten Themen und Problemen nachzeichnet. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Mitte der 1990er-Jahre. Die Betrachtung endet nicht im Moment der staatlichen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, weil erst beim Sprechen über die Probleme des Zusammenwachsens in den Jahren danach die Unterschiede in der Entwicklung vor 1990 explizit wurden.57 Der erste Teil über die Nachkriegszeit in den Berliner Kirchen ist auf einige Akteure fokussiert und führt damit zugleich wichtige handelnde Personen der vorliegenden Studie ein. Er geht aus von den geteilten Erfahrungen in Ost und West und fragt danach, inwieweit Gemeindemitglieder in Berlin und Brandenburg unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Mangel- und Gewalterfahrungen teilten; aber auch danach, ob andererseits bereits in den Nachkriegsjahren erste, oftmals pragmatische Trennungsmomente etwa im Bereich der kirchlichen Verwaltungen erkennbar werden, die sich auf einzelne Gemeinden auswirkten. Die Monate zwi56 Die transkribierten Interviews befinden sich im Privatbesitz der Verfasserin. 57 Brückweh, Kerstin/Villinger, Clemens/Zöller, Kathrin (Hrsg.): Die lange Geschichte der „Wende“, Berlin 2020.

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schen Kriegsende und Nachkriegszeit erweisen sich dabei in mancher Hinsicht als „ein chaotisches Dazwischen“58: Einerseits erforderten Vergangenheit und Gegenwart eine neue Ordnung, andererseits ließen sie Raum für Kontinuitäten und Integrationsversuche, gerade auf personeller Ebene. Vor diesem Hintergrund stellt der Anfang der Untersuchung die Frage nach dem Zäsurcharakter des Jahres 1945 und schlägt vor ihn eben als eine Überlagerung von disruptiven Veränderungen und starken Momenten der Kontinuität zu verstehen.59 Der zweite Teil widmet sich Verflechtungsmomenten in den 1950er- und 1960er-Jahren, die auf ganz unterschiedliche Weise zum Ausdruck kamen. Im vierten Kapitel wird beschrieben, inwiefern kirchliche Bau- und Festkulturen in Ost und West als ein Ringen der Kirchen um Rituale und Präsenz zu deuten sind. Im fünften Kapitel geht es darum, wie die Kirchenleitungen mit Hilfe des kirchlichen Mediensystems versuchten, die Kommunikation zwischen den beiden Stadthälften aufrechtzuerhalten. Diese Verflechtungen verliefen oft alles andere als spannungsfrei; das wird auch im sechsten Kapitel deutlich, das sich mit christlichen Grenzgängern beschäftigt. Mit Blick auf diese – keineswegs homogene – Gruppe kam es nicht nur zu Konflikten zwischen Ost und West oder Kirche und Staat, sondern vor allem zu Differenzen zwischen der Kirchenleitung und der Kirchenbasis. Im anschließenden siebten Kapitel stehen historisch bedingte beziehungsweise gewachsene Verflechtungen in beiden Teilen der Stadt im Mittelpunkt. Dabei spielt die Entwicklung einer Erinnerungskultur an die Zeit des Nationalsozialismus, wie zum Beispiel die in der katholischen Gemeinschaft übliche Verehrung der sogenannten Blutzeugen eine Rolle. Kirche im Nationalsozialismus wurde als Kirche im Widerstand erinnert. Ebenso wird der erstarkende Antikommunismus in den Kirchen der späten 1940er- und 1950er-Jahre thematisiert. Im Zentrum der Arbeit steht hier vor allem die identitätsstiftende und einheitsfördernde Funktion solcher Argumentationsmuster. Doch schon in den 1950er-Jahren, in denen die Aufrechterhaltung sektorenübergreifender Beziehungen durchaus noch möglich war, lassen sich deutliche Entfremdungs- und Entflechtungstendenzen beobachten, die im dritten Teil thematisiert werden. Die Feststellung der Andersartigkeit, eine starke Orientierung hin zum Eigenen sowie damit korrespondierende Gefühle der Fremdheit ließen das Interesse am Anderen zunehmend marginal erscheinen. Neben den Parallelund Regionalstrukturen im administrativen Bereich waren es in erster Linie die unterschiedlichen Alltagswirklichkeiten der Ost- und Westberliner Gläubigen, die 58 Reichardt, Sven/Zierenberg, Malte: Damals nach dem Krieg. Eine Geschichte Deutschlands 1945 bis 1949, München 2008, S. 7. 59 Vgl. Sabrow, Martin: Der 8. Mai – ein deutscher Feiertag?, in: Deutschland Archiv 23.4.2020, www.bpb.de/308182 [16.3.2021].

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zunehmend auseinanderklafften, eine Differenzierung des konfessionellen Selbstverständnisses in Ost und West nach sich zogen und außerdem in stereotypen Bildern festgehalten wurden. Der vierte Teil trägt daher der Tatsache Rechnung, dass sich die Kirchen praktisch voneinander trennten. Unterschiedliche und spezifische Entwicklungen in Ost- und West-Berlin spielten hier ebenso eine Rolle wie ähnliche Problemlagen, über die aber kein Austausch mehr stattfand. Während sich die ostdeutschen Kirchenmitglieder aufgrund des staatlichen Drucks von außen immer weiter in innerkirchliche Räume zurückzogen, experimentierten die nach 1968 stärker politisierten Gemeinden in West-Berlin mit neuen Formaten, um Austrittsbewegungen etwas entgegenzusetzen und dem sich verändernden Stadtraum gerecht zu werden. Das Verhältnis der Kirchen zu ihrer politischen Umgebung wurde dabei in beiden Stadthälften maßgeblich vom Auftreten nichtkirchlicher Akteure in kirchlichen Räumen geprägt. Im Kontrast dazu greift der fünfte Teil die bemerkenswerte (Wieder-)Aufnahme abgerissener oder neuer Kontakte seit den 1970er-Jahren auf. Diese basierten vornehmlich auf dem Engagement jüngerer Kirchenmitglieder und rekurrierten weniger auf gemeinsame Erfahrungen, sondern rückten den Anderen in den Fokus, gerade weil er fremd geworden war.60 Das ehemals auf erlebten Gemeinsamkeiten beruhende Verhältnis erhielt damit einen außeralltäglichen Charakter und unterlag mehr und mehr einer abstrakten, nicht mehr nationalstaatlich gedachten Einheitsidee, die das konfessionelle Selbstverständnis systemübergreifend stärken konnte. Diese Neuverflechtungen basierten somit auf Differenzen. Es etablierten sich neue Praktiken, während traditionelle Beziehungsformen transformiert, also den sich wandelnden Umständen angepasst wurden.61 Als ein leitender Gedanke dieser Arbeit erweist sich, dass sich die Verschiedenheit christlicher Daseinsformen im Kalten Krieg nicht pauschal an der Unterscheidung zwischen Ost und West festmachen lässt. Vielmehr ist darüber hinaus zwischen konservativen und progressiven Strömungen, klerikalen und laikalen Gruppen oder städtischen und ländlich geprägten Gemeinden dies- und jenseits der Mauer zu differenzieren. Das soll im sechsten, letzten Teil gezeigt werden, der ausgehend von den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen in den Jahren 1989/1990 einen Ausblick auf die Zeit nach dem Mauerfall wagt. Hier wuchs nicht einfach zusammen, was zusammengehörte, sondern im schwierigen Prozess des 60 Vgl. Halbrock, Christian: Basisarbeit mit der kirchlichen Jugend und Ausbesserungen am Kirchendach. Die Ost-West-Treffen der evangelischen Kirche in der DDR, in: Deutschland-Archiv 4 (2011), S. 536–545. 61 Vgl. Neumann, Maria: Der Nächste ist ein Anderer. Grenzübergreifende Gemeindepartnerschaften in Berlin und Brandenburg während des Kalten Kriegs, in: Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society 4 (2018), S. 224–253.

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neuerlichen Zusammenfindens sollte eine mittlerweile tiefgehende Entfremdung überwunden werden – was nur mühsam gelang.

Kapitel 1 Kein Neuanfang: Weitermachen. Die Kirchen als Garanten gesellschaftlicher Ordnung in den Nachkriegsjahren? 1.1 Zusammenbruch und Wiederaufbau: Kirchen als Zufluchtsorte Am Abend des 30. Aprils 1945 erreichten sowjetische Truppen Neuruppin, 70 Kilometer nordwestlich Berlins. Nur der Ruppiner See trennte die Rote Armee noch vom Stadtzentrum. Mit einer Lautsprecherdurchsage forderte der sowjetische Truppenkommandeur die Stadtbevölkerung auf, sich zu ergeben, andernfalls drohte die Zerstörung der Stadt. Einige Neuruppiner ruderten darauf hin mit einer weißen Flagge über den See. Gleichzeitig eilten andere, darunter ein Pfarrer, zur Neuruppiner Klosterkirche. Weil sie den Schlüssel vergessen hatten, mussten sie die Tür aufbrechen. Dann stiegen sie auf den Kirchturm und hissten dort, weithin sichtbar, eine weiße Fahne. Auch am Turm der Pfarrkirche wurde eine weiße Flagge aufgezogen. Der von der Roten Armee für den nächsten Morgen angekündigte Angriff blieb aus. Die sowjetischen Streitkräfte übernahmen die Stadt, ohne dass es zu Kampfhandlungen kam.1 In Belzig, etwa 80 Kilometer südwestlich Berlins, stand die Rote Armee am 3. Mai vor den Toren der Stadt. Dort rief der katholische Pfarrer Erich Tschetschog die Bevölkerung auf, weiß zu flaggen. Er selbst beflaggte das Pfarrhaus und die Kirche, bevor er mit einer weißen Fahne in der Hand den sowjetischen Soldaten entgegenging. Einen Tag später wurde Belzig kampflos übergeben.2 So wie in Neuruppin oder Belzig wehten in diesen Tagen an vielen Orten Brandenburgs weiße Fahnen von den Kirchtürmen: Der Krieg war vorbei. Aber Frieden war nicht. Nur kurz darauf beschrieb der in Berlin lebende Redakteur der Deutschen Allgemeinen Zeitung Karl Willy Beer in seinem Tagebuch die Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945. In Berlin-Karlshorst hatte der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel gerade die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet; Beer erzählte indes von einem lauen Berliner Frühlingsabend und schilderte den Geruch 1 Vgl. Die Helden waren nicht allein, in: Märkische Allgemeine (Region Ostprignitz-Ruppin) 2.6.2015, S. NRP3. 2 Vgl. Knauft, Wolfgang: Gelebter Glaube. Das Ende des Zweiten Weltkrieges im Bistum Berlin, Berlin 1994, S. 106. https://doi.org/10.1515/9783111026602-002

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Kapitel 1: Kein Neuanfang

von Flieder und Holunder, der über der Stadt lag.3 „Wunderbar, daß Frühling ist; wunderbar; daß die Sonne scheint. Das ist schon eine Hoffnung. Die Deutschen“, fügte er hinzu, „schauen zu oder haben die heil gebliebenen Rolläden heruntergelassen, weil sie diese Nacht des Sieges mehr noch als alle anderen, die vorangingen, fürchten.“4 Neben den feiernden sowjetischen Soldaten machte Beer die verängstigten, unsicheren Blicke der Deutschen aus. Sein Bericht steht für den Beginn jener Übergangszeit, über die Sven Reichardt und Malte Zierenberg schreiben: „Sieht man genauer hin, dann lösen sich die scheinbar klaren Zäsuren auf.“5 Das galt auch und vielleicht sogar in besonderem Maße für Berlin – die deutsche Hauptstadt, in der bis zum Schluss heftige Kämpfe stattfanden und die Anfang Mai 1945 weitestgehend in Trümmern lag.6 Der dänische Journalist Jacob Kronika notierte: Wir bekamen neue und erschütternde Eindrücke vom Schlachtfeld Berlin. Es ist unmöglich, die Vernichtung in Worten zu beschreiben. Das gesamte Zentrum, das Regierungsviertel und die Gegend um die Tiergartenfestung sind total zerstört. Die Straßen sind mit Wracks von ausgebrannten Autos, Panzern, Motorrädern, Geschützen und dergleichen übersät.7

Die große Mehrheit der Stadtbevölkerung litt massiv unter den Folgen des Kriegs. Hinzu kam das Unbehagen gegenüber den Besatzern – Furcht vor Schuldzuweisung und Bestrafung, Panik vor Verhaftungen und der Fortsetzung von Willkür und Gewaltherrschaft, Angst vor Vergewaltigungen oder Plünderungen: Die Pfarrchronik der katholischen Kirche in Königs Wusterhausen hielt für den 26. April 1945 fest: Die Russen kommen, als wir vom Zelebrieren kamen. Haussuchung und Untersuchung. Fronttruppen anständig. Gehen gleich. Aber was nachher kommt! Plünderung durch ausländische Arbeiter. Vergewaltigungen an der Tagesordnung. Selbstmorde am laufenden Band. Furchtbar die nächtlichen Hilferufe der Frauen. Eine Frau in Zeesen 14 mal, ein Gemeindemitglied elf mal vergewaltigt. Ich führe es auf, damit man die Furchtbarkeit der Tage ermessen kann.8

3 Die Schlacht um Berlin hatte bereits am 2. Mai 1945 geendet. Vgl. Knauft: Gelebter Glaube, S. 8. 4 Menzel, Matthias: Die Stadt ohne Tod. Berliner Tagebuch 1943/45, Berlin 1946, S. 206–209. 5 Reichardt/Zierenberg: Damals nach dem Krieg, S. 7. 6 Die letzten Kriegstage in Berlin schildert ausführlich: Beevor, Antony: Berlin. The Downfall, London 2002. 7 Kronika, Jacob: Der Untergang Berlins, Hamburg 1946, S. 188. 8 Pfarrchronik Königs Wusterhausen 26.4.1945, abgedruckt bei: Knauft: Gelebter Glaube, S. 74.

1.1 Zusammenbruch und Wiederaufbau: Kirchen als Zufluchtsorte



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Und der Luckenwalder Superintendent Andreas Wackwitz schrieb im Mai 1945 an den Generalsuperintendenten in Berlin: „Die Tage in denen der Krieg über die Gemeinden hinwegging, waren voll apokalyptischer Not.“9 Während die Besatzungsmächte längst über die Errichtung eines Vier-MächteRegimes in Berlin entschieden hatten, war für die meisten Einwohner der Stadt ein Leben nach dem Krieg nach wie vor kaum vorstellbar.10 Freilich begrüßten viele Berlinerinnen und Berliner das Kriegsende. Sie hofften, dass Schluss sein würde mit Gewalt und Zerstörung, und empfanden das Ende der Kämpfe als eine wesentliche Entlastung. Doch waren unter ihnen auch solche, die das Ende der NSDiktatur weder erwartet noch ersehnt hatten. Solche, die um ihre Zukunft fürchteten, gerade weil sie zugesehen, mitgemacht oder weggeschaut hatten. Es gab Menschen, die um Abstand zum Nationalsozialismus rangen und solche, die diesen trotz der erdrückenden Beweise für die unzähligen Verbrechen nie überwinden würden. Mit der Freude über das Ende des Kriegs ging eine große Skepsis gegenüber den zukünftigen politischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt den damit verbundenen individuellen Möglichkeiten einher.11 In seinem Bericht über die letzten Kriegstage in Berlin schilderte der Priester Wolfgang Knauft den Umgang mit der Unsicherheit eindrücklich: „Allenthalben verbreitet sich Galgenhumor, der aus Selbstschutz und Zynismus besteht und auf ein Überleben hofft. ‚Bleib’ übrig‘ heißt der Abschiedsgruß. Und auch: ‚Kinder, genießt den Krieg, der Frieden wird schrecklich.‘“12

Kirchliches Leben nach Kriegsende Geistliche sowie kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren nicht nur Zeugen des Elends, viele litten selbst unter Hunger und Krankheiten. Sie hatten selbst am Krieg teilgenommen, waren Opfer, Täter oder Zuschauer gewesen, hat-

9 Superintendent Wackwitz [Luckenwalde] an den Generalsuperintendenten D. Dr. Dibelius 31.5.1945. Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin (ELAB) 35/19763. Auch viele katholische Priester berichteten von massiven Übergriffen auf die weibliche Bevölkerung: „Frauen sind Freiwild.“ Knauft: Gelebter Glaube, S. 20. 10 Vgl. Ribbe, Wolfgang: Das gespaltene Berlin. Ein historischer Überblick (1945–1990), in: Bienert, Michael C./Schaper, Uwe/Wentker, Hermann (Hrsg.): Hauptstadtanspruch und symbolische Politik. Die Bundespräsenz im geteilten Berlin 1949–1990, Berlin 2012, S. 33–60. Vgl. auch: Heinrich, Gerd: Alte Ordnungen und neue Anfechtungen. Die Kirche Berlin-Brandenburg im zerteilten Deutschland (1945 bis 1968), in Heinrich, Gerd (Hrsg.): Tausend Jahre Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1999, S. 763–765. 11 Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 21 12 Knauft: Gelebter Glaube, S. 17.

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Kapitel 1: Kein Neuanfang

ten Gewalterfahrungen gemacht und Verluste erlitten.13 Nicht wenige Berliner Pfarrer befanden sich zum Zeitpunkt der Kapitulation in Kriegsgefangenschaft. Andere galten als verschollen. Einige waren in ihren Gemeinden verhaftet und dann inhaftiert oder sogar getötet worden.14 Zudem hatten mehrere Geistliche Suizid verübt.15 Lieselotte G. befand sich am 29. April 1945 in Berlin-Friedrichshagen. In ihrem Tagebuch notierte sie: „Herr Pastor hat sich, seine Frau und Tochter auch erschossen, weil die Russen in den Keller eingebrochen und sich an das Mädchen gemacht haben.“16 Priester, Pfarrer und Pfarrfamilien waren somit wie alle anderen von den schwerwiegenden Umwälzungen betroffen. Wie weite Teile der restlichen Bevölkerung fürchteten sie um ihr eigenes Leben und das Leben ihrer Familien; und selbst wenn die Pfarrfamilien und Priester in kirchlichen Räumen noch Obdach fanden, waren sie oftmals katastrophal unterversorgt.17 Sie waren nicht nur Beobachter dieser Veränderungen, sondern unterlagen als Akteure selbst einem als radikal wahrgenommenen Wandel. In den Gemeinden sahen sich die verbliebenen Pfarrer nicht nur mit der hohen Sterblichkeit unter den Kirchenmitgliedern – aufgrund von Mangelerscheinungen, Kriegsverletzungen oder Suiziden – konfrontiert.18 Die Folgen der Gewalt wirkten sich auf sämtliche Lebensbereiche aus. Es fehlte an allem Notwendigen: Lebensmittel, Kleidung und Heizmaterial waren knapp, Wohnund Arbeitsräume kaum vorhanden. Die zerstörte Infrastruktur machte den Menschen schwer zu schaffen. Der öffentliche Nahverkehr war eingestellt. Telefonanschlüsse waren gekappt. Stromsperren gehörten zum Alltag der Nachkriegsjahre.19 13 Der zitierte Wolfgang Knauft war zum Beispiel bis Ende 1945 Luftwaffenhelfer in Auschwitz. Der Superintendent von Luckenwalde, Andreas Wackwitz, Mitglied der NSDAP. Vgl. Marin, Thomas: Prälat Wolfgang Knauft feiert 65. Priesterjubiläum. Die Presse als zweite Kanzel 17.4.2019, https://www.tag-des-herrn.de/praelat-wolfgang-knauft-feiert-65-jahre-priestertum [27.5.2021]. Siehe auch: Heinrich: Alte Ordnungen, S. 778. 14 Der in Schönow lebende katholische Pfarrer Paul Sawatzke wurde erschossen aufgefunden, nachdem er versucht hatte, die Frauen des Ortes vor sexuellen Übergriffen durch sowjetische Soldaten zu beschützen. Vgl. Knauft: Gelebter Glaube, S. 24–25. 15 Vgl. Fragebogen Elias-Gemeinde 25.5.1945. ELAB 1.2/4269. Vgl. auch: Bericht über die gegenwärtigen Zustände im Kirchenkreise [Königs Wusterhausen] 29.5.1945. ELAB 35/7539. 16 Tagebuchaufzeichnungen vom 1. April bis zum 9. Mai 1945, http://www.berliner-geschichtswerkstatt.de/news-reader/items/tagebuchaufzeichnungen-vom-1-april-bis-zum-9-mai-1945.html [18.4.2018]. 17 Vgl. Kleßmann: Einleitung, S. 17. 18 Vgl. Kronika: Der Untergang Berlins, S. 192–193. Siehe auch: Knauft: Gelebter Glaube, S. 61 und S. 91. 19 Vgl. Dibelius, Otto: Ein Christ ist immer im Dienst. Erlebnisse und Erfahrungen in einer Zeitenwende, Stuttgart 1961, S. 223. Siehe auch: Stromsperren in Pfarr- und Kaplanswohnungen behindern seelsorgerliche Tätigkeiten 7.2.1946. Landesarchiv Berlin (LA) B Rep 002/4614–4615. Oder: Magistrat von Gross-Berlin, Amt für kirchliche Angelegenheiten an die Bezirksvertrauenspfarrer

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Alle waren von diesen Auswirkungen des Kriegs betroffen, niemand konnte sich dem Chaos einfach entziehen und trotzdem musste es weitergehen. Auf die Ankunft der Roten Armee hatten die Berlinerinnen und Berliner im April 1945 nur mehr ängstlich gewartet, unmittelbar danach regten sie sich wieder.20 Schon am Sonntag, dem 6. Mai 1945, fanden in den meisten Berliner Kirchen reguläre Gottesdienste statt. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Krieg die christlichen Religionsgemeinschaften und das kirchliche Leben nach wie vor massiv beeinflusste.21 Der Bericht des katholischen Pfarrers Kubiak aus Luckenwalde, der eine Eucharistiefeier im Pfarrhauskeller zelebrierte, macht deutlich, unter welchen Umständen er diese Tage erlebte: Zwei Kisten ersetzten den Altar; eine Stimmung wie in den Katakomben. […] Während des Gottesdienstes rasseln sowjetische Panzer durch die Straßen. Das „Frau komm“, mit dem Vergewaltigungsopfer im Keller gesucht werden, ist dank des Dazwischentretens des Pfarrers erfolglos. Das spricht sich in der Gemeinde herum, so daß der „Zulauf“ von Mädchen und Frauen gestoppt werden muß. In der Pfarrerwohnung sind insgesamt 14 Personen untergebracht. „Unter diesen unsicheren Verhältnissen – Plünderungen und Schändungen am laufenden Band – wagten sich die Gläubigen natürlich nicht zum Gottesdienst. Ein paar Unentwegte kamen zwar trotzdem, zu den anderen brachte ich den eucharistischen Heiland ins Haus, wo immer ich nur annehmen konnte, daß der Besuch des Herrn ersehnt und willkommen war. Wieviel Glauben und wieviel Gottvertrauen trotz aller Not!“22

In Berlin hatte das Elend auch vormals wohlhabende Gemeinden wie die St. Matthäus-Gemeinde nahe des Potsdamer Platzes 1945 längst erreicht: Die Matthäus-Gemeinde […] bietet heute das Bild vollständiger Zerstörung und Verarmung. Die vornehmen Kreise sind abgewandert, an ihre Stelle sind kleine Leute, Arbeiter und Geschäftsleute getreten, die ihre Verkaufsstände in der benachbarten Potsdamer Strasse haben. Sie wohnen in Ruinen, in Schuppen und Garagen.23

Viele Kirchen, Gemeinde- und Pfarrhäuser waren beschädigt oder ganz zerstört worden.24 der westl. Sektoren 11.11.1948. LA B Rep 002/4614–4615. Und: Greschat, Martin: Vorgeschichte, in: Lepp, Claudia/Nowak, Kurt (Hrsg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945–1989/90), Göttingen 2001, S. 11–16. 20 „Vom Wedding kommt der Ruf, von drüben. ‚Hier haben wir es hinter uns‘, sagt die Stimme. Ein Geisteranruf aus dem Jenseits der Front. Wie ruhig, wie entspannt, wie gelöst klang er. […] Und da erkennen wir, daß die Vorbehalte vergehen. Wir halten uns an das, was bleibend und intakt scheint, was ist.“ Menzel: Die Stadt ohne Tod, S. 172–173. 21 Vgl. Kronika: Der Untergang Berlins, S. 190. Vgl. Knauft: Gelebter Glaube, S. 107. 22 Knauft: Gelebter Glaube, S. 62. 23 Fragebogen St.-Matthäus 1950. ELAB 86/54 b. 24 Vgl. Generalkirchenvisitation, in: Die Kirche 2.4.1950, S. 3.

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Kapitel 1: Kein Neuanfang

Gerd Heinrich schreibt, dass allein in Berlin bei Kriegsende von vormals 191 evangelischen Kirchen nur fünf vollständig erhalten geblieben waren.25 Eine zeitgenössische Quelle berichtete sogar, dass einzig zwei von insgesamt 196 Berliner evangelischen Kirchen völlig unbeschädigt gewesen seien, wobei 67 Kirchen gänzlich zerstört und etwa ein Drittel aller Kirchen leicht beschädigt worden sei.26 In demselben Maß war das katholische Bistum Berlin von den Zerstörungen gezeichnet. Von den 278 Kirchen und Kapellen in Berlin und dem übrigen Bistumsgebiet westlich der Oder-Neiße-Grenze waren nur 30 verschont geblieben. 57 Kirchen waren völlig zerstört worden, 70 immerhin so stark beschädigt, dass sie nicht länger benutzt werden konnten. Die Verwaltungsgebäude der Berliner Diözese existierten de facto nicht mehr, weshalb das Ordinariat im August 1945 die Bereitstellung entsprechender Räumlichkeiten vom Magistrat einforderte: 20–30 Räume sowie einen Saal, um wenigstens den Klerus des Bistums versammeln zu können.27 Gottesdienste fanden in provisorischen Notkirchen, Baracken oder Containern statt. Notkapellen wurden in Kirchtürmen oder Seitenschiffen eingerichtet, die von der Zerstörung verschont geblieben waren.28 In einigen Gemeinden Berlins und Brandenburgs stellten Pfarrer und Pfarrfamilien aufgrund der Raumnot ihre Privaträume für Christenlehre und Gemeindekirchenratssitzungen zur Verfügung. Andernorts fanden Andachten oder der Konfirmandenunterricht in Gemeinderäumen statt, deren Fenster nicht einmal verglast waren wie zum Beispiel in Berlin-Tempelhof.29 Am Kietzerfeld in BerlinKöpenick gab es selbst 1949 noch immer kein elektrisches Licht, sodass die evangelische Jugendbibelstunde im Kerzenschein gehalten werden musste.30 Hinzu kam, dass vor allem die sowjetischen Besatzungsbehörden große Gebäude, die kirchliche Einrichtungen wie Krankenhäuser oder Kindergärten beherbergt hatten und intakt geblieben waren, beschlagnahmten und für ihre Zwecke nutzten.31 Die meisten Landgemeinden waren in gleicher Weise von den Kriegshandlungen gekennzeichnet wie die Gemeinden in der Stadt. Viele kirchliche Gebäude wa-

25 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 784. 26 Kirchen entstehen neu, in: Die Kirche 6.3.1948, S. 1. 27 Vgl. Bengsch, Hubert: Kirche zwischen Elbe und Oder mit tausendjähriger Vorgeschichte, Berlin 1985, S. 128. Vgl. auch: Bischöfliches Ordinariat an den Magistrat der Stadt Berlin 1.8.1945. LA B Rep 002/4613. 28 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 784. 29 Vgl. Bericht Gethsemanegemeinde 1951. ELAB 86/56. Siehe auch: Berlin-Tempelhof 1948. ELAB 1/8090. 30 Vgl. Visitationsbericht Kietzerfeld 1949. ELAB 86/53. 31 Vgl. Ausweichstelle des St. Antonius-Krankenhauses Berlin-Karlshorst an seine Hochwürden Pfarrer Buchholz 27.5.1945. LA B Rep 002/4613. Vgl. auch: Bericht über die gegenwärtigen Zustände im Kirchenkreise 29.5.1945. ELAB 35/7539.

1.1 Zusammenbruch und Wiederaufbau: Kirchen als Zufluchtsorte



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ren auch dort zerstört worden oder mussten abgerissen werden.32 Für einige Gemeinden wurde der Raummangel nicht nur deswegen zum Problem, weil sie keine Gottesdienste mehr ausrichten konnten oder nicht ausreichend Platz hatten, um eine Konfirmandengruppe unterzubringen, sondern, weil die Gemeindemitglieder in andere Gemeinden oder außerkirchliche Freizeiteinrichtungen abwanderten und ihre Heimatgemeinden infolgedessen weiter zu schrumpfen drohten.33 Dabei betrafen die Auswirkungen des Raummangels zunächst Ost- genauso wie WestBerliner Gemeinden, wie ein Bericht aus Reinickendorf von 1950 deutlich macht: Die Gesamtarbeit leidet unter der katastrophalen Raumnot. Nachdem die Gemeinde drei Jahre Gast in dem kleinen Versammlungsraum der landeskirchlichen Gemeinschaft war (Platz für 90 Personen) ist es Br. Dorow gelungen von den Augustiner-Mönchen den Saal der Curatie für die Sonntage ab 9 Uhr und den Freitag Abend [sic!] zu mieten. In ihm können unter Ausnutzung auch aller Stehplätze höchstens 170 Erwachsene untergebracht werden. Praktisch bedeutet das eine ständige Überfüllung der Gottesdienste, Abwandern zu anderen Gemeinden, resignierten Verzicht Vieler, die zu spät gekommen, keinen Platz mehr gefunden haben, und vor allem auch die Unmöglichkeit für die Gottesdienste zu werben, regelmäßige Bibelstunden, Frauenhilfsversammlungen grösserer Art zu veranstalten und die Konfirmanden zum regelmässigen Gottesdienst zu verpflichten.34

Diese Schilderung zeigt, dass die Gemeinden infolge der Raumsituation ungewöhnliche Kooperationen eingehen mussten und einen – wenngleich pragmatischen – interkonfessionellen Dialog förderten, der frühere Konkurrenzverhältnisse zwischen den Konfessionen zumindest kurzzeitig in Frage stellte.35 Doch auch wenn ein Raum gefunden worden war, in dem Gottesdienste stattfinden konnten – der Pfarrer der Gemeinde in Heilig Kreuz (Berlin-Hohenschönhausen) schlug 1946 in seiner Verzweiflung sogar eine Turnhalle als Gottesdienstraum vor –, fehlte es trotzdem oft noch an Bibeln, Paramenten und anderen liturgischen Gegenständen, weil diese etwa verbrannt oder gestohlen worden waren.36 Überdies gab es in vielen Gemeinden keine Hostien und keinen Messwein

32 Vgl. Superintendent Wackwitz an den Generalsuperintendenten D. Dr. Dibelius 31.5.1945. ELAB 35/19763. 33 Vgl. Bericht Kirchengemeinde St. Paul 1951. ELAB 86/56. Siehe auch: Fragebogen Berlin-Hohenschönhausen 1952. ELAB 86/67. 34 Bericht über die Generalkirchenvisitation Reinickendorf-West vom 15.-22.10.1950. ELAB 86/55. 35 Vgl. Schädler, Verena: Katholischer Sakralbau in der DDR, Regensburg 2013, S. 30. Ein anderes Beispiel für solche Arten der Zusammenarbeit ist die Beerdigungspraxis in den letzten Kriegstagen. „Der Karlshorster Pfarrer Wittenbrink übt praktische Ökumene. Die zumeist in schnell geschaufelten Massengräbern beigesetzten Toten beerdigt entweder der katholische oder der evangelische Pfarrer, wer gerade erreichbar ist.“ Knauft: Gelebter Glaube, S. 74. 36 Vgl. Fragebogen Kietzerfeld 1949. ELAB 86/53.

30  Kapitel 1: Kein Neuanfang

mehr, sodass keine Eucharistiefeiern möglich waren.37 Aus diesem Grund gingen seit Sommer 1945 in regelmäßigen Abständen Anfragen beim Alliierten Kontrollrat sowie dem Magistrat der Stadt Berlin ein, in denen die Kirchenleitungen um Einfuhrgenehmigungen für Mess- und Abendmahlsweine baten. Die Bischöfe der christlichen Kirchen veranschlagten für die evangelischen Kirchen 130.000 Liter, für die katholischen Kirchen 88.000 Liter und für die Freikirchen 20.000 Liter Wein. Sie schlugen vor, dass die Fässer und Flaschen zunächst aus der französischen Besatzungszone später aus weltweiten Weinanbaugebieten nach Berlin gebracht werden sollten.38 Tatsächlich erteilte der zuständige Magistrat die Einfuhrgenehmigung. Allerdings kam der versprochene Messwein nicht immer dort an, wo er erwartet wurde, weil er unterwegs andere Abnehmer fand. Das geht etwa aus einer Rechnung hervor, die die Weingroßhandlung Hagemeister und Franke im Juli 1945 dem Berliner Magistrat ausstellte: In der Anlage erlauben wir uns, Rechnung über 375 Flaschen Messwein und 100 Flaschen Abendmahlswein für die evangelischen Kirchengemeinden zu überreichen, mit der Bitte, um freundliche sofortige Begleichung. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass der russische Hauptmann gestern das Fass mit dem sichergestellten Rotwein für die evangelischen Kirchengemeinden hat vollkommen leeren lassen. Trotz unseres Einspruches und einer sofortigen Beschwerde unseres Bürovorstehers, Herrn Hensel, beim Bezirkskommandanten, hatte dieses keinen Erfolg. Es wurde ihm gesagt, was der Hauptmann täte, sei richtig. Infolgedessen ist der sichergestellte Rotwein verschwunden. Er ist von den Russen in kleinen Fässern abgefüllt und abtransportiert worden. Wir bitten Sie, sofort beim Stadtkommandanten Beschwerde zu erheben und zu verlangen, dass ein entsprechendes Quantum Rotwein an uns zurückgeliefert wird, damit wir es dann für die evangelischen Kirchengemeinden auf Flaschen füllen und Ihnen zur Verfügung stellen können.39

Der Magistrat erwies sich auch in diesem Fall verständnisvoll und erstattete den Betrag. Von diesen erfolgreichen Verhandlungen ermutigt, versuchten einige Pfarrer auf weitere Probleme aufmerksam zu machen. Als besonders umtriebig erwies sich der Dahlemer Pfarrer Majewski. Er erklärte: „Der mit vielen Schwierigkeiten aus Italien und Amerika herangebrachte Messwein darf bei seiner Knappheit auch nicht in der geringsten Menge zu schaden kommen. Ich muss also den Kühlschrank benutzen.“40 Dabei ging es dem Pfarrer wohl kaum darum, den Messwein zu kühlen. Vielmehr hoffte er, die Behörden davon überzeugen zu können, den 37 Vgl. Pfarrer aus Heilig-Kreuz an Domkapitular Puchowski 27.5.1946. LA B Rep 002/4614–4615. 38 Vgl. An den Alliierten Kontrollrat undatiert [vermutlich Sommer 1945], LA B Rep 002/4613. Siehe auch: Bischöfliches Ordinariat an den Magistrat der Stadt Berlin 5.9.1945, LA B Rep 002/4613. 39 Hagemeister und Franke, Wein-Gross-Handlung Berlin u. Nierstein am Rhein an den Magistrat der Stadt Berlin, Beirat für kirchliche Angelegenheiten 5.7.1945. LA B Rep 002/4613. 40 Pfarrer M. Majewski an das Rationierungsbüro der Interalliierten Unterkommission Elektrizität 9.7.1946. LA B Rep 002/4614–4615.

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erlaubten Stromverbrauch für sein Pfarrhaus zu erhöhen. Sein Gesuch zeugt davon, wie knapp die Stromrationen für die Berliner Haushalte in den Nachkriegsjahren bemessen waren und dass die Pfarrhäuser von der Stromknappheit ebenfalls betroffen waren. Aber es gelang nicht allen Pfarrern, unmittelbar auf die neuen Umstände zu reagieren und entsprechend zu handeln. Der spätere West-Berliner Generalvikar Walter Adolph berichtet, dass der katholische Bischof Berlins Konrad von Preysing angesichts des „Ausmaßes der materiellen, sozialen und psychosozialen Zerstörung“ in den ersten Nachkriegstagen in eine Depression verfallen sei.41 Rückblickend beschrieb Adolph ein Treffen mit dem Bischof Ende Mai 1945 im Kloster der Dominikanerinnen in Hermsdorf. Dorthin hatte sich von Preysing in den letzten Kriegstagen geflüchtet: Kaum hatten wir uns begrüßt, als er anfing zu klagen, ununterbrochen eine Stunde lang. Er hatte den Schrecken, der ihn über die Schlacht um Berlin ergriffen hatte, noch nicht überwunden. Entsetzen klang aus seiner Stimme über Exzesse russischer Soldaten gegen die Frauen, als wären sie vor einer Stunde geschehen. […] Für die Zukunft hatte er nur düstere Ausblicke. Er war davon überzeugt, daß alle Gebiete des Bistums, über die die Rote Armee die Macht ausübte, bolschewisiert würden. In seiner Niedergeschlagenheit stellte er sich die Frage, ob das Bistum Berlin, das bettelarm geworden war, für sich noch lebensfähig bleiben konnte.42

Der Bischof war nicht nur erschöpft, er litt besonders unter der schlechten Informationslage. Die Unwissenheit darüber, was in Berlin vor sich ging, während er in Hermsdorf Schutz suchte, quälte ihn: Wenn überhaupt gelangten nur wenige Nachrichten aus der Stadt aufs Land. Zeitungen erschienen in den ersten Tagen nach Kriegsende überhaupt nicht und es war nahezu unmöglich, Nachrichten von Gerüchten zu unterscheiden. Hinzu kam der Zusammenbruch der Infrastruktur, welcher die Kommunikation über die Ortsgemeinde hinaus beinahe völlig lahmlegte: Man kam nicht weg. Man konnte nirgendwo hin.43 Wer sich fortbewegen wollte, musste zu Fuß gehen und das dauerte.44

41 Ueberschär, Ellen: Junge Gemeinde im Konflikt. Evangelische Jugendarbeit in SBZ und DDR 1945–1961, Stuttgart 2003, S. 41. Vgl. Escher, Felix: Die katholische Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, in: Heinrich, Gerd (Hrsg.): Tausend Jahre Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1999, S. 677– 678. 42 Adolph, Walter: Kardinal Preysing und zwei Diktaturen. Sein Widerstand gegen die totalitäre Macht, Berlin 1971, S. 200. Knauft berichtet, dass sich von Preysing nicht im Kloster, sondern im Dominikus-Krankenhaus aufgehalten habe. Vgl. Knauft: Gelebter Glaube, S. 9. 43 Reichardt/Zierenberg, S. 16. 44 Vgl. Greschat, Martin: Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegszeit, Stuttgart 2002, S. 15–16.

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Es gab nur sehr wenige Gemeinden in Berlin und Brandenburg, in denen das kirchliche Leben ungestört weiterging; in einigen Orten kam es vollends zum Erliegen.45 Oft, so berichtete der evangelische Bischof Otto Dibelius am 23. August 1945 der Kirchenleitung, liege das Gemeindeleben durch Hunger darnieder. Ein Beispiel ist die Stadt Strasburg in der Uckermark. Die Sterbeziffer ist ungeheuer. Halte es weiter so an, so könne man sich ausrechnen, wann die Stadt ausgestorben sein werde. Ein weiteres Beispiel sei der Pfarrer von Wildau, der kürzlich gebeten habe, ihn aus seiner Stelle fortzunehmen, da er es dort nicht mehr aushalten könne. Er habe kleine Kinder, die ihm sterben.46

Noch 1961 bewegten Dibelius die Eindrücke aus diesen ersten Nachkriegsjahren: Im Winter war es am schlimmsten. Geheizt werden konnte nirgends. Die Gemeinden sammelten sich in irgendwelchen Räumen, kleine, verschüchterte Häuflein. In vielen Gemeinden war überhaupt kein Gottesdienst mehr. Denn auch unter den Pastoren hatte der Krieg eine schaurige Ernte gehalten. Es gab keinen Religionsunterricht mehr. Wo noch Abendmahl gehalten werden konnte, mußte es mit Wasser geschehen.47

Der Superintendent des Kirchenkreises Zossen verwies in seinen Briefen an das Evangelische Konsistorium darauf, dass es eine fatale Fehleinschätzung der Kirchenleitung sei, anzunehmen, auf dem Land erginge es den Pfarrfamilien besser als in den Städten. Schon im Juni 1945 teilte er dem Konsistorium mit, dass die neuen Behörden mit aller Macht versuchten, die traditionelle Rolle der Pfarrer als Autoritätspersonen in den Dorfgemeinschaften zu untergraben. In Trebbin versuchte die neue Stadtverwaltung die beiden Pfarrer öffentlich zu demütigen und verpflichtete sie dazu, Kühe zu hüten.48 Drei Jahre später, im März 1948, meldete der Superintendent nach Berlin, dass sich die Versorgungslage in den Landgemeinden weiter dramatisch verschlechtert habe: Das, was aus den Gemeinde [sic] zu erhalten ist, muss dringend erbeten, um nicht zu sagen, erbettelt werden. Alle Geistlichen leiden unter diesem unwürdigen Zustand. Ein Amtsbruder hat schon fast alle wertvollen Erbstücke verkauft, um auf diese Weise seine Familie über Wasser zu halten. […] Zusammengefasst muss gesagt werden, dass die Versorgungslage in

45 Bericht über die gegenwärtigen Zustände im Kirchenkreise [Königs Wusterhausen] 29.5.1945. ELAB 35/7539. 46 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 776. 47 Dibelius: Ein Christ, S. 223–224. 48 Vgl. Superintendent des Kirchenkreises Zossen schreibt an das Evangelische Konsistorium der Mark Brandenburg 7.6.1945. ELAB 35/23041.

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den Pfarrhäusern des Kirchenkreises Zossen durchweg einen sehr bedenklichen Grad erreicht hat.49

Im Mai 1948 wendete er sich erneut an das Evangelische Konsistorium. Er drängte darauf, die Landpfarrer endlich zu unterstützen, da nur mehr zwei Pfarrer im ganzen Kirchenkreis gesundheitlich in der Lage waren, ihren Beruf umfassend auszuüben. Er führte weiter aus, dass die Pfarrer aus ihren Gemeinden keine Hilfe erwarten konnten: „Wenn wir in unserem Kirchenkreis von Gemeinden reden, so ist das oft nur eine Fiktion. Die Pfarrer stehen weithin wie Missionare vor ihren Gemeinden […].“50 Der Superintendent forderte das Konsistorium deswegen auf, die neu gewählten Gemeindekirchenräte zur Mitarbeit zu drängen und sie dazu anzuhalten, die Pfarrer zu unterstützen. Er kritisierte nicht nur die Bedingungen, unter denen die Pfarrer in seinem Kirchenkreis lebten und arbeiteten, sondern auch die dortigen Gemeindemitglieder, die entweder nicht in der Lage waren, an der Gemeindearbeit teilzunehmen oder sich soweit von der Kirche entfernt hatten, dass sie schlicht kein Interesse an irgendeiner Mitarbeit mehr zeigten.51 Es ist nicht überliefert, ob das Konsistorium zu diesen Beobachtungen explizit Stellung nahm. Fest steht nur, dass das Hilfswerk der Evangelischen Kirche insoweit auf die Briefe des Superintendenten reagierte, als die Pfarrer des betroffenen Kirchenkreises fortan im Zuge der sogenannten Randpfarrerbetreuung zusätzlich mit Lebensmitteln versorgt wurden.52

Kirchenmitglieder in den Nachkriegsjahren Bemerkenswert ist, dass der Zossener Superintendent mit seiner Kritik an den Gemeindemitgliedern nicht alleine dastand. Denn viele Pfarrer beklagten die innere Verfasstheit ihrer Gemeinden. Sie nahmen in langen Beschwerdebriefen Anstoß an der scheinbar zunehmenden Verwahrlosung der Gemeindemitglieder, an der steigenden Zahl von Ehescheidungen und der wachsenden Kriminalität in der 49 Superintendent des Kirchenkreises Zossen an das Evangelische Konsistorium der Mark Brandenburg 17.3.1948. ELAB 35/23041. 50 Superintendent des Kirchenkreises Zossen scheibt an das Evangelische Konsistorium der Mark Brandenburg 18.5.1948. ELAB 35/23041. 51 Ähnliche Kritik an der unmotivierten Arbeit der Gemeindekirchenräte übte auch Generalsuperintendent Jacobi mit Blick auf die Gemeinden in Berlin-Zehlendorf. Vgl. Bericht von Generalsuperintendent D. Jacobi auf der Schlußversammlung der drei Zehlendorfer Gemeinden „ErnstMoritz-Arndt“, „Paulus“ und „Zur Heimat“ über die Generalkirchenvisitation vom 28. September bis 8. Oktober 1951. ELAB 1/8519. 52 Provinzial-Ausschuss für Innere Mission in der Provinz Brandenburg an das Evangelische Konsistorium 8.5.1948. ELAB 35/23041.

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Nachkriegszeit. Ein Pfarrer der Kreuzberger Gemeinde St. Lukas verweigerte einer Mutter die Taufe ihrer sieben Kinder mit der Begründung, dass sie „ein unordentliches Leben führt“.53 In gleicher Weise sprach sich Generalsuperintendent Jacobi dafür aus, die Taufe von Kindern abzulehnen, deren Eltern aus der Kirche ausgetreten waren.54 In Berlin-Tempelhof beanstandeten kirchliche Visitatoren, dass vermehrt katholische Paten bei evangelischen Taufen zugelassen worden seien, Geschiedene wiederverheiratet würden und kirchliche Beerdigungen stattgefunden hätten, ohne dass vorher die Konfession der Verstorbenen ermittelt worden wäre.55 Die meisten (vermeintlichen) Sittenverstöße allerdings meldeten Pfarrer, die eine Pfarrstelle auf dem Land innehatten. So empörte sich der Pfarrer aus dem brandenburgischen Jänickendorf: Die sittlichen Zustände des Dorfes sind erschreckend. Zerrüttete Ehen, unsittlicher Lebenswandel der Jugendlichen sind sehr häufig und nur ganz selten hätte eine Braut das Recht, am Traualtar im Myrthenkranz zu erscheinen. Daß Brautleute monatelang vor ihrer Trennung zusammenleben, ist fast die Regel. In mehreren Fällen wurde das Kind vor der Trauung seiner Eltern, in anderen bald nach der Trauung getauft. Besonders bedauerlich ist, daß auch solche Leute, die verhältnismäßig oft zum Gottesdienst kommen, kaum Anstoß daran nehmen.56

Dazu passt die Klage der Gemeindeschwester aus dem brandenburgischen Blumenberg. Sie warnte vor der „Gefahr einer sexuellen Verwahrlosung der älteren Jugend.“57 Sinnbildlich für die vielen Beschwerden oftmals überlasteter Pfarrer im Hinblick auf den von ihnen als gleichgültig oder passiv wahrgenommenen Zustand der Nachkriegsgemeinden, sind die Berichte aus Stülpe, einer Gemeinde südlich Berlins. Der dort ansässige Pfarrer erklärte 1953, dass eine Rückkehr zum kirchlichen Alltag noch immer nicht gelungen sei, was auf die „Unzugänglichkeit und Verstocktheit des Stülper Menschenschlages“ zurückzuführen sei.58 Die Gründe dafür, so der Pfarrer, seien historisch bedingt: „Sei es, daß Stülpe bezeichnet wird als ein Ort von Spielern und Säufern, sei es, daß Pf. Herzberg (1544–1564) [sic!] klagt über die viele Zauberei und die allgemeine Unkirchlichkeit in Stülpe.“ Außerdem

53 Fragebogen St. Lukas 1950. ELAB 86/54b. 54 Vgl. Bericht von Generalsuperintendent D. Jacobi auf der Schlußversammlung der drei Zehlendorfer Gemeinden „Ernst-Moritz-Arndt“, „Paulus“ und „Zur Heimat“ über die Generalkirchenvisitation vom 28. September bis 8. Oktober 1951. ELAB 1/8519. 55 Berlin-Tempelhof 1948. ELAB 1/8090. 56 Bericht des Pfarrers aus Jänickendorf 1953. ELAB 35/19763. 57 Bericht über die Visitation in Blumenberg 1950. ELAB 35/4962. 58 Generalkirchenvisitation Luckenwalde vom 2. bis 11. Mai 1953, Pfarrsprengel Stülpe. ELAB 35/ 19763.

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wies der Pfarrer auf die Widersprüchlichkeit der Stülper Gemeindemitglieder hin, mit der er sich tagtäglich auseinandersetzen müsse. Einerseits stelle er die „erschreckend zunehmende Ehrfurchtlosigkeit und Zuchtlosigkeit bei der Jugend“ fest; sowie „Jagd nach Genuß und persönlicher Bereicherung bei den Alten. Krassesten Egoismus, der nur im engsten Familienkreis seine Grenzen findet.“ Andererseits gelte: „Kirche soll sein in Stülpe: Keine Geburt ohne Taufe, kaum eine Eheschließung ohne kirchliche Trauung, […] kein Todesfall ohne kirchliches Geleit, keine Schulentlassung ohne Konfirmation. […] Kirche muß sein.“59 Dabei ist dieser vom Stülper Pfarrer drastisch artikulierte Widerspruch zwischen dem Festhalten an tradierten kirchlichen Praktiken, die biographisch bedeutend waren oder eine soziale Funktion übernahmen, und den religiösen Vorstellungen der Amtskirche, nichts, was erst der Kalte Krieg hervorgebracht hätte, noch war er spezifisch für die deutsche Nachkriegszeit. Vielmehr beschreibt die hier als Gegensatz zwischen kirchlichen Amtspersonen und Kirchenbasis begriffene Wechselwirkung eine Kontinuität, die christliche Vergesellschaftung ausmacht. Daneben verweisen Schilderungen, wie sie vom Pfarrer aus Stülpe überliefert sind, trotzdem auf ein typisches Problem der Zeit: Die kirchlichen Würdenträger klammerten die Kriegserfahrungen ihrer Kirchenmitglieder in solchen Berichten oft aus und versäumten es, damit deren Erfahrungskontexte zu reflektieren und einen Umgang mit ihren Erlebnissen zu finden. Die Quellen lassen nicht den Schluss zu, dass die Pfarrer die Geschehnisse stets bewusst negierten, sondern, dass sie diese oftmals ignorierten, weil sie sich von ihnen überfordert fühlten: Sie leisteten Seelsorge, ohne selbst Seelsorge zu erfahren. Es gab keine Supervision oder andere Beratungsformate für kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auskunft über die Situation der Geistlichen geben außerdem von den Kirchenleitungen gesammelte Eingaben und Vermerke, die das tatsächliche Unvermögen und die Uneinsichtigkeit, aber auch die Versagensängste und die Unzufriedenheit einiger Pfarrer dokumentieren. So fiel unter anderem der Pfarrer der Gemeinde St. Andreas in Berlin-Friedrichshain, Arno König, besonders negativ auf. Im April 1952 informierte ein Mitglied der Gemeindeleitung deshalb den zuständigen Superintendenten darüber, dass das Verhältnis zwischen Gemeinde und Pfarrer zu eskalieren drohe: „Er heisst nicht nur KÖNIG, sondern gibt sich auch als König und möchte als solcher behandelt werden. Von Brüderlichkeit ist bei ihm keine Rede. […] Mit Ausnahme seiner besonderen Günstlinge haben die ihm unterstellten Beamten und Angestellten unter seinem diktatorischen Auftreten sehr zu leiden“, schrieb der aufgebrachte Gemeinderat Herbert Kipp.60 Durch ein bewusst autoritäres Auftreten hatte der Pfarrer offenbar versucht sich eine zentrale Macht59 Gemeindebericht Stülpe 1953. ELAB 35/19763. 60 Herbert Kipp an den Superintendenten Pätzold zur Frage Dr. König 26.4.1952. ELAB 35/9212.

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position in der Gemeinde zu sichern und diese tief gespalten. Nur ein Jahr zuvor hatte das Evangelische Konsistorium einem anderen Pfarrer derselben Gemeinde einen sechswöchigen Zwangsurlaub verordnet, nachdem sich der Gemeindekirchenrat in einem offenen Brief an den Pfarrer gewendet und eklatante Verhaltensauffälligkeiten dargelegt hatte. In dem an den betreffenden Pfarrer adressierten Schreiben heißt es: „Seit längerer Zeit ist zu beobachten, dass Ihre Nerven Sie im Stich lassen. […] Sie brausen auf und laufen sogar davon, wenn nicht alles nach Ihrem Wunsch und Willen verläuft.“61 Im weiteren Verlauf des Textes legten die Gemeindekirchenräte dar, dass der Pfarrer Gemeindemitgliedern das Abendmahl verweigert und Gottesdienste vorzeitig beendet hatte. Zudem verwiesen sie auf einen Vorfall, bei dem der Pfarrer vor Mitgliedern der Gemeinde verkündet habe, dass er Kommunist sei und aus der Kirche austreten wolle, was alle Anwesenden irritiert zur Kenntnis genommen hätten. Der Pfarrer wurde daraufhin zu besagter Ferienreise verpflichtet. Seine mögliche Emeritierung hatte das Konsistorium hingegen ausdrücklich verworfen, mit der Begründung, dass „dieselbe [aufgrund seiner pro-kommunistischen Äußerungen] nur politisch mißverstanden werden könnte.“62 Das Konsistorium wollte der Ost-Berliner Presse demnach keine Gelegenheit geben, die Angelegenheit parteipolitisch oder ideologisch zu interpretieren und damit propagandistisch auszunutzen. Ähnliche Fälle sind auch aus anderen Gemeinden bekannt. So kursierte in Berlin-Hohenschönhausen etwa das Gerücht, der Pfarrer sei „verrückt“ geworden, wenngleich die Gemeinderäte ihn in Schutz nahmen und sein Verhalten gegenüber dem Konsistorium damit erklärten, dass er krank sei und man besser Rücksicht auf ihn nehmen sollte, anstatt ihn zu belehren.63 Inwieweit die Konstitution eines Pfarrers Auswirkungen auf die Gesamtgemeinde hat, wurde 1950 bei einer Generalkirchenvisitation in der Predigtstätte Lutherhaus in Reinickendorf ebenfalls diskutiert. Dort kamen die Gutachter zu dem kritischen Schluss, dass über der […] Gemeinde eine gewisse Lähmung liegt, die offensichtlich vom Pfarrer ausgeht. Pfarrer Wagner ist von einem regelrechten Klagegeist gepackt. Er sieht alle Unzulänglichkeiten seiner eigenen Person und seiner Gemeinde, er sieht die Mängel an seiner Predigtstätte und kommt darüber so sehr in Klagen, daß ihm die Spannkraft zum freudigen Dienst dadurch genommen wird. […] Er sehnt sich nach Bruderschaft, kapselt sich selbst aber ab. Er

61 Mitglieder des Gemeindekirchenrates der St. Andreas Gemeinde an Herrn Pfarrer Freiherr von Steinaecker 1951. ELAB 35/6852. 62 Superintendentur Berlin Stadt I an das Evangelische Konsistorium Berlin-Brandenburg 9.6.1951. ELAB 35/6852. 63 Vgl. Bericht Hohenschönhausen 1952. ELAB 86/57.

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hat unter den Reinickendorfer Amtsbrüdern keinen Bruder, mit dem er einmal seine Nöte besprechen könnte, und er wird dort voraussichtlich keinen finden.64

Während diese Schilderungen zum einen auf Unfähigkeiten oder übersteigerte Autoritätsvorstellungen hindeuten, zeugen sie zum anderen von der enormen Verunsicherung und Erschöpfung vieler Theologen in der Nachkriegszeit, die häufig auch Ausdruck in schweren Nerven- oder Suchtkrankheiten fand. Das belegt zum Beispiel ein anonymes Schreiben, das im Juni 1950 beim Evangelischen Konsistorium einging. Darin erhob ein Mitglied der West-Berliner Segensgemeinde den Vorwurf, dass der Pfarrer der Kirche akut spielsüchtig sei. Der Superintendent des Kirchenkreises sprach den betroffenen Pfarrer umgehend darauf an. Dieser bekannte sich – so steht es in den Akten – augenblicklich zu seiner Sucht und versprach, fortan von Wettspielen abzulassen. Der Superintendent erachtete diese Aussage als glaubwürdig und ließ die Sache auf sich beruhen.65 Die Quellen verraten jedoch nicht, dass sein Handlungsspielraum ohnehin begrenzt war. Denn in diesen Jahren einen Pfarrer aus dem Dienst zu entlassen bedeutete gleichzeitig eine weitere, möglicherweise langjährige Vakanz zu riskieren. Als der Superintendent entschied, den Pfarrer im Amt zu belassen, wusste er ganz genau, dass es aufgrund des Pfarrermangels in den Nachkriegsjahren schwer geworden wäre, die freigewordene Stelle neu zu besetzen. Und dieses Wissen bezog er in sein Urteil mit ein: Der Pfarrer durfte bleiben. Zwar war es nicht gänzlich egal, wie sich die Pfarrer in den Gemeinden verhielten, aber sie konnten doch (relativ) eigenmächtig Entscheidungen treffen und Anweisungen der Kirchenleitung in ihrem Sinne auslegen, was einige Pfarrer offensichtlich auch freimütig taten. Davon zeugen nicht zuletzt die Kosenamen, die Kirchenälteste und Gemeindekirchenräte ihren Pfarrern gaben: So ist etwa aus dem Pfarrsprengel Schlenzer bekannt, dass Gemeindemitglieder ihren Pfarrer „den kleinen Diktator“ nannten.66 Wenngleich die Kirchenleitung viele dieser Berichte zunächst als harmlosen Klatsch abtat, beunruhigte sie die Häufung der geschilderten Äußerungen zunehmend. Schließlich bestätigten Visitationsbesuche, dass in einigen Gemeinden tatsächlich problematische Zustände vorherrschten. So beobachteten Visitatoren in der Stephanus-Gemeinde in Berlin-Gesundbrunnen irritiert, dass der Pfarrer mit einer angezündeten Zigarette durch die Sakristei spazierte und die anwesenden Kirchenältesten mit Scherzen bei Laune hielt. Sie bemängelten das unzureichende christliche Profil der Gemeinde, weil auf das Sakristeigebet vor dem Gottesdienst 64 Bericht über die Generalkirchenvisitation in Reinickendorf Predigtstätte Lutherhaus 1950. ELAB 86/55. 65 Vgl. S. M. an das Evangelische Konsistorium 1950. ELAB 35/4528. Vgl. auch: Superintendent des Kirchenkreises Berlin III an das Evangelische Konsistorium 5.8.1950. ELAB 35/4528. 66 Generalkirchenvisitation Luckenwalde vom 2. bis 11. Mai 1953. ELAB 35/19763.

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verzichtet wurde und die Predigt des Pfarrers dermaßen beliebig erschien, dass sie „ebenso gut in einer Moschee oder Synagoge oder auch bei jeder heidnischen religiösen Feier gesagt werden konnte.“67 Die evangelische Kirchenleitung in Berlin und Brandenburg formulierte immer wieder denselben Vorwurf: Es genüge nicht, dass kirchliche Leben bloß zu organisieren, wenn man es gleichzeitig versäume, christliche Inhalte zu vermitteln.68 Ähnliche Eindrücke entstanden in Gemeinden, wo Pfarrern vorgehalten wurde, „Probleme, etwas unbekümmert auf die leichte Schulter zu nehmen“ oder die Gemeindearbeit unter den schlechten Koordinierungsfähigkeiten kirchlicher Mitarbeiter litt.69 Während es den Predigten in diesen Kirchen häufig an der gewünschten Eindeutigkeit fehlte, äußerte sich die Kirchenleitung andernorts besorgt über Pfarrer, die besonders dogmatisch auftraten und jeden Reformversuch demonstrativ ablehnten. Kritik kam dabei auch von den Gemeindemitgliedern selbst. Ein Herr Schuster beschwerte sich im August 1953 beim Gemeinderat der evangelischen Markus-Gemeinde in Berlin-Steglitz darüber, dass der Pfarrer „zeitweise in gehässigem, dogmatischem Ton wie ein fanatischer Jesuit aus dem Mittelalter sprach“.70 Ähnlich harsch reagierte Generalsuperintendent Jacobi, nachdem er 1951 drei Gemeinden in Zehlendorf besucht hatte. Die Gemeindemitglieder, konstatierte er, seien nicht in der Lage, den abstrakten Predigten der Pfarrer zu folgen. Diese wiederum unterschieden bei ihren Zuhörerinnen und Zuhörern nicht zwischen Erwachsenen und Kindern und setzten bei ihnen allen ein theologisches Vorwissen voraus, über das ein einfaches Kirchenmitglied kaum verfügen könne. Der Generalsuperintendent kam zu dem Schluss, dass eine derartige Überforderung der Gemeindemitglieder nicht länger tragbar sei und forderte die betroffenen Theologen auf, ihre Predigten gedanklich zu entschlacken sowie emotional ansprechend zu gestalten. Dabei versäumte es Jacobi nicht, auf die höheren Kollekteneinnahmen zu verweisen, die im Falle entsprechender Veränderungen zu erwarten seien und auf die die Kirche dringend angewiesen war.71 67 Visitationsbericht Stephanus-Gemeinde 1951. ELAB 86/56. 68 Vgl. Visitationsbericht Berlin-Biesdorf Februar 1948. ELAB 35/4579. 69 Visitationsbericht Galiläagemeinde 1948. ELAB 85/51. Vgl. Teilbericht über die Generalkirchenvisitation in der Kirchengemeinde Berlin-Weissensee 23.3.1952. ELAB 86/57. 70 Beschwerde Richard Schusters über Pfarrer Flemming an den Kirchenrat der Markusgemeinde 15.8.1953. ELAB 1/7732. 71 Vgl. Bericht von Generalsuperintendent D. Jacobi auf der Schlussversammlung der drei Zehlendorfer Gemeinden „Ernst-Moritz-Arndt“, „Paulus“ und „Zur Heimat“ über die Generalkirchenvisitation vom 28. September bis 8 Oktober 1951. ELAB 1/8519. Vgl. auch: Schlussbericht über die Generalkirchenvisitation im Kirchenkreis Spandau (November 1950) erstattet von Generalsuperintendent D. Jacobi. ELAB 1/6838. Die Leserzuschriften an die evangelische Wochenzeitung Die Kirche bestätigten Jacobi. Vgl. Kleines Fremdwörter-ABC, in: Die Kirche 2.7.1950, S. 2.

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Ergänzt werden muss hier, dass viele der von Jacobi gerügten Pfarrer nicht eigentlich konservativ dachten. Vielmehr versuchten sie die Erwartungen ihrer Gemeindemitglieder praktisch umzusetzen. Zwar konservierten sie damit aus Sicht der Kirchenleitung längst überkommene Vorstellungen von Kirchlichkeit, gleichzeitig aber entsprachen genau diese Praktiken oftmals den Bedürfnissen der Kirchenbasis, die keine Veränderungen einforderte, sondern nach Kontinuitäten verlangte. Die Resultate dieser Bemühungen, die sich aus der Perspektive der Gemeindepfarrer somit auch als Maßnahmen gegen den drohenden Mitgliederschwund oder mögliche Kontrollverluste lesen lassen, entsetzten die evangelische Kirchenleitung dennoch. In einem Bericht über die Generalkirchenvisitation in Reinickendorf-West im Oktober 1950 heißt es dazu: Die besuchten Beerdigungen waren eine Verleugnung alles Urchristlichen. […] Diese väterlich-tröstlich und anspruchslos vorgetragenen Dinge sprengten in keiner Weise den sentimentalen Rahmen, in den das Ganze eingebettet war, in dem weder der Tod noch die Auferstehung halbwegs ernstgenommen, sondern schauerlich verkitscht waren. […] Vermutlich will man es [sich] um der „Volkskirche“ willen nicht mit dem Volke verderben, zumal die Kirche weithin von ihren Toten finanziert wird. Es kann einem hier nur angst und bange [sic!] werden.72

Die Beschreibung zeugt nicht allein von unterschiedlichen theologischen Auffassungen innerhalb des Berliner Stadtgebietes; sie deutet auf Diskrepanzen und Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Kirchenleitung und Gemeindepfarrern hin.73 Den Theologen Martin Fischer, nach dem Zweiten Weltkrieg Dozent an der Kirchlichen Hochschule in Berlin-Zehlendorf, überraschte diese Entwicklung nicht. Er kritisierte Ende der 1940er-Jahre, dass „in einer Kirchenleitung, die in den Händen von Experten liege, die Predigt und die Botschaft zu kurz kommen“ und das Verständnis für die eigentliche Gemeindearbeit dadurch immer mehr verloren gehe.74 Die in diesen Quellen vordringlich wahrgenommene Unordnung ist typisch für die Nachkriegsjahre und sie ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass sich viele Theologen, die ja trotz alledem oftmals durchgängig als Pfarrer tätig gewesen waren, mit anderen gesellschaftlichen Umständen und – aufgrund des kriegsbedingten Bevölkerungsaustauschs – mit einer großen Zahl neuer, also fremder Kirchenmitglieder auseinandersetzen mussten. 72 Bericht über die Generalkirchenvisitation in Reinickendorf-West vom 15.-22. Oktober 1950. ELAB 86/55. 73 Vgl. Greschat: Die evangelische Christenheit, S. 67. 74 Rusterholz, Heinrich: „… als ob unseres Nachbars Haus in Flammen stünde.“ Paul Vogt, Karl Barth und das Schweizerische Evangelische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland 1937–1947, Zürich 2015, S. 527.

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Zugespitzt heißt das: Selbst im Ausnahmezustand verhielten sich Pfarrer und Kirchenleitende letztlich erwartungsgemäß, indem sie versuchten chaotische Momente erst einmal zu bestimmen, dann mit unterschiedlichen Strategien einzuhegen und schließlich zu verhindern. Seidel resümiert nüchtern: „Der Zeitraum zwischen 1945 und 1953 ist geprägt von dem kirchlichen Bemühen, das kirchliche Leben in herkömmlicher (bürgerlicher) Weise zu erhalten bzw. wieder in Gang zu bringen.“75 Dass es in diesem Zusammenhang nicht genügen würde den Blick ausschießlich nach vorne zu richten, wie einige Kirchenmitglieder in der unmittelbaren Nachkriegszeit wohl geglaubt und auch gehofft hatten, wurde rasch deutlich. Während sich die Gegner im Kalten Krieg formierten, stand in den Kirchen eine nur scheinbar überwundene Auseinandersetzung zwischen ehemaligen Kontrahenten noch aus, die das Miteinander vor Ort entscheidend prägen würde.

1.2 Schuld, Vergebung, Vergessen: kirchlicher Umgang mit dem Nationalsozialismus Die alltäglichen Probleme, mit denen sich die Gemeindepfarrer konfrontiert sahen sowie die oft unüberschaubar anmutenden Herausforderungen, denen sie sich nicht gewachsen fühlten, lagen nicht allein in der Gegenwart begründet, sondern basierten auf Logiken und Praktiken, die der Nationalsozialismus hervorgebracht und legitimiert hatte. Dazu zählen gerade in den Nachkriegsjahren Denunziationen und Verleumdungen von Pfarrern und teilweise auch ihrer Familien, die weit reichende Folgen haben konnten.76 Selbst wenn sich die Kirchenleitungen bemühten, entsprechende Anschuldigungen gründlich zu überprüfen und gegebenenfalls im Sinne der betroffenen Personen zu handeln: Die Denunziationspraxis, die die deutsche Gesellschaft in den Jahren zwischen 1933 und 1945 eingeübt hatte, wurde bei Kriegsende nicht einfach abgelegt.77 Bischof Dibelius warnte die Gemeinden in 75 Seidel: Neubeginn, S. 206. 76 Vgl. Superintendent des Kirchenkreises Berlin-Stadt II an das Konsistorium 20.8.1946. ELAB 1.2/4129. 77 „Der Begriff ‚Denunziation‘ war in der DDR untrennbar mit den Gräueltaten der Bevölkerung während der NS-Zeit verbunden, in der Menschen bereitwillig Nachbarn, Bekannte und Kollegen dem Regime auslieferten. ‚Denunziation‘ – das wird hier deutlich – war für alle Beteiligten ein negativ konnotierter Terminus. Den Vorwurf, ein Denunziant zu sein oder Denunziation zu fördern, galt es von sich zu weisen.“ Krätzner, Anita: Zur Anwendbarkeit des Denunziationsbegriffs für die DDR-Forschung, in: Krätzner, Anita (Hrsg.): Hinter vorgehaltener Hand. Studien zur historischen Denunziationsforschung, Göttingen 2015, S. 153. Siehe auch: Hartmann, Jan-Paul: Ermittler auf Spurensuche. Die Kriminalpolizei an der „inneren Front“, in: Zierenberg, Malte (Hrsg.): Schiebern auf der Spur. Eine Berliner Gerichtsakte von 1941, Berlin 2011, S. 44–45.

1.2 Schuld, Vergebung, Vergessen



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seinem Hirtenbrief zu Pfingsten 1949 davor, solchen Praktiken, für deren Fortbestand er die Machthaber in der SBZ mitverantwortlich machte, weiter nachzugehen: Es wird mit denselben Methoden gearbeitet wie damals. Es tut nicht not, das im einzelnen zu schildern. Dies Sammeln von Material durch Spitzel und Denunzianten […] wir kennen das aus zwölfjähriger bitterer Erfahrung. Niemand ist vor solchem Schicksal sicher. […] Die neuen „Volksrichter“ sind ausdrücklich angewiesen, „politisches Recht“ zu sprechen, was doch nichts anderes bedeutet, als dass politische Gewalt an die Stelle des Rechts tritt.78

Doch die Möglichkeiten, die sich durch Verrat und Verdächtigungen eröffneten, waren schlichtweg zu Erfolg versprechend. Schnell verbreiteten sich zudem Gerüchte über das vermeintlich sittenwidrige oder unmoralische Privatleben von Pfarrern, wurden Berichte über zerrüttete Pfarrehen, etwaige Affären der Eheleute oder Priester sowie das angeblich unangemessene Verhalten von Kindern aus Pfarrfamilien laut.79 Aus manchen Gemeinden gingen Ersuche an Bischof und Konsistorium, in denen darum gebeten wurde, dem Denunziationswesen Einhalt zu gebieten. Käthe Neumann, eine Protestantin aus Oberschöneweide, wendete sich 1951 an die Kirchenleitung, weil das kirchliche Leben in ihrer Heimatgemeinde immer wieder unter teilweise bewusst gestreuten Falschmeldungen litt. Im konkreten Fall ging es um ein angebliches Verhältnis des Pfarrers mit seiner Pflegetochter: „Gibt es denn nicht eine Macht, die hier eingreifen kann […]?“, schrieb Neumann, „[i]ch kann mich entsinnen, während meiner Schulzeit gab es in der Gemeinde ähnliche Gerüchte gegen den damaligen Pfarrer Glasomersky. Gegen den Pfarrer Schöler wurde der Vorwurf erhoben, er sei trunksüchtig. Alles stimmte nicht.“80 Doch fällt auch hier auf, dass das Evangelische Konsistorium in der Regel nur dann engagiert eingriff, wenn es die Außenwirkung der Kirche betroffen sah und Negativschlagzeilen zu vermeiden suchte. So bemühte sich die Kirchenleitung etwa um rasche Aufklärung, als eine Frau Kiesling soweit ging, an den Stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR, Otto Nuschke, zu schreiben. Zuvor hatte sie über Monate erfolglos versucht, einem Pfarrer aus der Gemeinde Oberspree nachzustellen.81 In ihrem Schreiben an Nuschke übte Kiesling massive Kritik an der Kir78 Hirtenbrief von Bischof Dibelius an die Gemeinden der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg zu Pfingsten 1949 (5./6. Juni), in: Die Protokolle der Kirchlichen Ostkonferenz 1945–1949, bearbeitet von Michael Kühne, Göttingen 2005, S. 335. 79 Vgl. Brief Pfarrer Höft 19.8.1948. ELAB 1/5632. 80 Käthe Neumann an das Evangelische Konsistorium und den Bischof von Berlin 6.6.1951. ELAB 35/5218. 81 In den Visitationsberichten wird immer wieder darauf verwiesen, dass Pfarrer in den Nachkriegsjahren aufgrund des kriegsbedingten „Männermangels“ besonders umworben wurden.

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chensteuer und dem autoritären Verhalten der Kirchenleitung. Die Frau, die zuvor bereits vom Konsistorium gerügt worden war, drohte außerdem damit, sich an die Ost-Berliner Presse zu wenden und machte in ihrem Brief geltend, „dass der Staat so viel Geld für den Wiederaufbau unsrer Kirchen zum Glücke der Gläubigen gibt. Warum sollte er uns nicht helfen können, wenn uns von Seiten gewissenloser Kirchenbehörden Unrecht geschieht?“82 Zwar schenkte Nuschke Kiesling wenig Glauben – er hatte bereits in Erfahrung bringen lassen, dass sie auch in anderen Gemeinden Unruhe gestiftet hatte – trotzdem forderte er das Konsistorium auf, die Vorwürfe nochmals zu überprüfen. Erst als ein ausführlicher Bericht beim Büro des Stellvertretenden Ministerpräsidenten eingegangen war, in dem die Anschuldigungen gegen den Pfarrer und den ortsansässigen Gemeindekirchenrat erneut dekonstruiert worden waren, wurde der Fall endgültig zu den Akten gelegt; nachdem er über ein Jahr die betroffene Gemeinde, die dortigen Pfarrer, ihre Familien, die Kirchenleitung und staatliche Behörden beschäftigt hatte.83 Darüber hinaus war es möglich, Pfarrer und andere kirchliche Mitarbeiter zu diskreditieren, indem man ihnen eigenmächtiges oder gar kriminelles Handeln unterstellte.84 In Friedrichsfelde wurde eine entsprechende Anzeige gegen die dortige Vikarin vorgebracht. Die Vikarin habe, lautete der Text ein und derselben Beschwerdeschrift, Bräuten bei der Trauung verboten, einen Brautstrauß zu tragen und Kinder im Konfirmandenunterricht körperlich gezüchtigt. Auch in diesem Fall nahm sich das Konsistorium der Sache umgehend an und ermahnte die Vikarin insbesondere die körperliche Züchtigung von Konfirmanden zu unterlassen. Indes bestritt die Vikarin die Anschuldigungen und erklärte, sie sei Opfer einer Verleumdungskampagne. Nach eingehender Prüfung – unter anderem wurden die Kinder, die am Konfirmandenunterricht teilgenommen hatten, ausführlich befragt – kam das Konsistorium zu dem Schluss, dass die Vorwürfe gegen sie haltlos waren und der Mann, der das Verfahren mit seiner Anzeige ausgelöst hatte, wohl nur nach einem Weg gesucht hatte, die Frau aus der Gemeinde zu vertreiben.85 Schließlich konnte der bloße Verdacht, NSDAP-Mitglied gewesen zu sein, Pfarrer ernstlich in Bedrängnis bringen, gleich ob sie der Partei nahegestanden bezie82 Kiesling an den Ministerpräsidenten Otto Nuschke 3.3.1954. ELAB 35/5318. 83 Vgl. Otto Nuschke an das Konsistorium Berlin-Brandenburg 10.3.1954. ELAB 35/5218. Vgl. auch: Evangelisches Konsistorium Berlin-Brandenburg an den persönlichen Referenten Helmut Enke beim Stellvertreter des Ministerpräsidenten Otto Nuschke 2.4.1954. ELAB 35/5218. 84 Pfarrer Höft nimmt Stellung zu den gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen 19.8.1948. ELAB 1/5632. 85 Vgl. Vorgang: Beschwerde des Kirchenältesten Dr. Hein Schmetzke vom 22.4.1953 wegen körperlicher Züchtigung eines Konfirmanden durch die Vikarin Lenz 9.5.1953. ELAB 35/4599. Siehe auch: Kirchenältester Dr. Schmetzke an das Evangelische Konsistorium 11.5.1953. ELAB 35/4599. Und: Evangelisches Konsistorium an Kirchenältesten Dr. Schmetzke 26.6.1953. ELAB 35/4599.

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hungsweise ihr angehört hatten oder nicht. Allein eine solche Behauptung sorgte in vielen Gemeinden für erhebliche Unruhe. Es kam zu absurden Situationen, bei denen auch Pfarrer, die sich von den Nationalsozialisten öffentlich abgegrenzt hatten, ins Kreuzfeuer gerieten, während andernorts Pastoren, die zu den nationalsozialistischen Deutschen Christen gehört hatten, völlig unbehelligt blieben.86 Unter Umständen beschuldigten sich Pfarrer sogar gegenseitig, wobei politische oder ideologische Differenzen keineswegs immer als Grund für die Auseinandersetzung genannt werden können. In der evangelischen Samaritergemeinde in Berlin-Friedrichshain eskalierte ein Streit über die Zuteilung von Heizkohlen zwischen den Pfarrern Geisler und Harnisch derart, dass einer der beteiligten Pfarrer, Harnisch, im Folgenden Spekulationen nährte, wonach sein Amtsbruder, eben jener Pfarrer Geisler, nach wie vor nationalsozialistischen Ideen anhinge und die „Einführung des Führerprinzips“ in der Samaritergemeinde beabsichtige.87 Geisler wiederum bestätigte dem Konsistorium daraufhin, durch die Kirchliche Spruchkammer entnazifiziert worden zu sein, verbat sich Unterstellungen im Hinblick auf seine gegenwärtige politische Gesinnung und machte darüber hinaus geltend, dass nicht nur er, sondern weitere Gemeindekirchenräte stetigen Anfeindungen von Seiten des Pfarrers Harnisch ausgesetzt seien, die letztlich wenig mit Sachfragen zu tun hätten, sondern nur zum Ausdruck brächten, dass Pfarrer Harnisch persönlichen Machtverlust in seiner Gemeinde fürchte.88 Harnisch reagierte umgehend. Er forderte das Konsistorium auf, Geisler zu suspendieren und informierte zudem die staatliche Zentrale Kohlenstelle über seine Einschätzung der Zustände in der Samaritergemeinde. Auf diese Weise versuchte er eine eigentlich innerkirchliche Angelegenheit in die Öffentlichkeit zu tragen: Mit allen anderen Pfarrern funktioniert die Kohlensache ausgezeichnet, nur nicht bei Herrn Pfarrer Geisler. Es sind auch dies keine kirchlichen Differenzen, sondern außerkirchliche. Es ist dies die Fortsetzung des alten Kampfes zwischen Nazis und Bekennender Kirche. Herrn [sic] Pfarrer Geisler war früher SA-Mann und bis zum Zusammenbruch Parteigenosse, sogar noch bis zum heutigen Tage, denn er ist wohl der einzige Pfarrer in Berlin, der sich aus guten Gründen nicht hat entnazifizieren lassen, während ich OdN bin. Ich teile Ihnen dieses nur mit zur Entschuldigung, damit Sie sehen, daß dieser Kampf ein menschlicher und kein kirchlicher ist.89

86 Bericht über die Segenskirchengemeinde im Juni 1945 15.6.1945. ELAB 35/4528. 87 Pfarrer Geisler an das Evangelische Konsistorium 7.12.1951. ELAB 35/6996. 88 Vgl. Pfarrer Geisler an Konsistorialrat Kehr 27.11.1951. ELAB 35/6996. Vgl. auch: Pfarrer an das Evangelische Konsistorium 7.12.1951. ELAB 35/6996. 89 Pfarrer Harnisch an Zentrale Kohlenstelle 5.3.1952. ELAB 35/6996. Vgl. auch: Harnisch an das Konsistorium 15.2.1952. ELAB 35/6996.

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Damit brachte Harnisch Geisler so sehr unter Druck, dass auch dessen Ehefrau bei Bischof Dibelius um Rückhalt bat. Selbstredend stützte sie sich in ihrer Verteidigungsschrift vor allem auf ihre eigene, aktive Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche, ohne auf die politischen Ambitionen ihres Ehemanns in der Zeit vor 1945 einzugehen. Das Konsistorium – um Ausgleich bemüht – strebte daraufhin im April 1952 eine Aussprache zwischen den beiden Pfarrern an. Diese blieb ohne Ergebnis. Es kam immer wieder zu heftigen Streitereien zwischen den beiden, die sich an Kleinigkeiten – wie der Haltung von Katzen auf dem kirchlichen Friedhof zur Bekämpfung einer Sperlingsplage – entzündeten und bald die ganze Gemeinde und sogar den Kirchenkreis beschäftigten. Im August 1952 beschloss das Konsistorium schließlich Pfarrer Harnisch zu emeritieren, in der Hoffnung die Gemeinde endlich zu befrieden.90 Dieses Fallbeispiel zeigt, dass es bei Denunziationen dieser Art, wenn überhaupt, nur eingeschränkt darum ging, was die entsprechenden Pfarrer in der Zeit des Nationalsozialismus tatsächlich getan hatten. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit fand in diesem Zusammenhang gerade nicht statt. Vielmehr entwickelten sich solche Verdachtsäußerungen zu einem probaten Mittel, um unliebsam gewordene Personen unter Druck zu setzen. Dabei spielten neben politischen Differenzen auch Eifersucht, Neid oder Habgier als Motive eine Rolle. Fraglos bereiteten der Systemwechsel und mit ihm einhergehende Systemkonflikte diesen kommunikativen Praktiken einen Nährboden, weshalb sich die vielen Gerüchte durchaus als „Symptome [verstehen lassen], die auf gesellschaftliche Krisen hindeuten.“91 Wichtig ist die Ergänzung, die der Historiker Florian Altenhöner liefert: Eben solche Gerüchte sollen in Krisenzeiten nicht dazu dienen, das Chaos zu vergrößern, sondern vielmehr zur Wiederherstellung einer Ordnung beitragen: Sie sind „Informationsersatz“, wenn „das Gefälle zwischen Informationsbedürfnis und Informationsangebot“ besonders ausgeprägt ist.92 Das traf für die Nachkriegszeit zweifelsohne zu. Es dauerte bis wieder eine kritische Masse an Zeitungen erschien oder öffentliche Rundfunkanstalten eine Vielzahl von Hörerinnen und Hörern erreichten.93

90 Vgl. Elisabeth Geisler an Bischof Dibelius 5.3.1952. ELAB 35/6996. Vgl. auch: Gemeindekirchenrat der Samaritergemeinde an das Konsistorium 30.6.1952. ELAB 35/6996. Und: Harnisch an Geisler 17.6.1952. ELAB 35/6996. Sowie: Beschluss des Konsistoriums Harnisch zu emeritieren 16.8.1952. ELAB 35/6996. 91 Altenhöner, Florian: Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918, München 2008, S. 1. 92 Ebenda, S. 6. 93 Vgl. Greschat: Die evangelische Christenheit, S. 66.

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Darüber hinaus ist hier festzuhalten, dass gleichzeitig bestimmte Bilder aus der Zeit des Nationalsozialismus übernommen und schon bald an die neuen Umstände angepasst wurden. Das Bild des Pfarrers im Widerstand, der sich idealtypisch in der Bekennenden Kirche engagierte, ist damit ebenso gemeint, wie – zunächst mit den Deutschen Christen vor Augen – das Bild des Pfarrers als Verräter. Dabei erbrachten einflussreiche kirchliche Kreise im Hinblick auf Letzteren unmittelbar nach Kriegsende eine bemerkenswerte Übertragungsleistung. Denn des Verrats machten sich nun nicht mehr nur kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verdächtig, die den Nationalsozialisten nachhingen, sondern ebenso jene, die mit dem Kommunismus sympathisierten. Innerhalb der Gemeinden sorgten diese Zuordnungen für starke Spannungen und schufen eine Atmosphäre, in der sich Verdächtigungen rasch verbreiteten und nicht selten schwerwiegende Konsequenzen wie etwa Versetzungen hatten. Das gezielte Verbreiten von Gerüchten und Falschmeldungen ist ein Hinweis darauf, dass die deutsche Nachkriegsgesellschaft, jenseits ihrer materiellen Sorgen, von einer Suche nach mentaler Orientierung und emotionalem Halt, einem Bedürfnis nach Vergewisserung, Ordnung und Struktur geprägt war.94 Dabei ging es für einen Großteil der Menschen noch lange nicht darum, die Erfahrungen von Gewalt, Verlust, Zerstörung und Schuld individuell, kollektiv oder systematisch aufzuarbeiten und komplexe politische Visionen zu entwickeln. Es ging vielmehr darum, diese Erfahrungen irgendwie auszuhalten, um weiter machen zu können, auch wenn man sie dafür verschweigen oder tabuisieren musste.95 Der Mecklenburger Bischof Heinrich Rathke bezeichnete als das dringlichste Bedürfnis dieser Menschen die Sehnsucht nach einem „inneren Zuhause“.96 Alle Akteure gleichermaßen – Bestandsbevölkerung wie Neuankömmlinge – waren dazu angehalten, einen Umgang mit dem Erlebten zu finden. Vor diesem Hintergrund sammelten sich in den Kirchen Berlins und Brandenburgs unmittelbar nach Kriegsende die verbliebenen Bewohnerinnen und Bewohner; genauso fanden Heimkehrer, Vertriebene und Flüchtlinge Anschluss, suchten Kriegsopfer und Kriegsversehrte Trost und – nicht zuletzt auch das – erbaten Täterinnen und Täter, Mitläuferinnen und Mitläufer um Legitimation oder Absolution für ihre (verbrecherischen) Taten. Ihrer Verschiedenheit zum Trotz erfuhren sie in den Kirchen alle dasselbe: Als Christen (wenigstens auf dem Papier) wurde zwi94 Rainer Bendel spricht in diesem Zusammenhang auch von der Sehnsucht nach einer „geistigen Heimat“, die die Menschen in den Gemeinden suchten. Vgl. Bendel, Rainer: Die katholische Kirche in Deutschland und die Vertriebenen, in Kirchliche Zeitgeschichte 1 (2012), S. 96. 95 Vgl. Reichardt/Zierenberg, S. 14. 96 Rathke, Heinrich: „Wohin sollen wir gehen?“ Der Weg der Evangelischen Kirche in Mecklenburg im 20. Jahrhundert. Erinnerungen eines Pastors und Bischofs und die Kämpfe mit dem Staat, Kiel 2014, S. 26.

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schen ihnen nicht unterschieden, noch über sie geurteilt. Vielmehr waren die christlichen Kirchen bemüht sie alle gleichermaßen anzusprechen, ohne genauer danach zu fragen, was sie getan oder wie sie zum NS-Regime gestanden hatten. Stattdessen rückte die EKD, die sich als Fürsprecherin der deutschen Nachkriegsgesellschaft verstand, ein Integrationsmotiv in den Vordergrund, das auf einer Uminterpretation basierte: Die Deutschen, gerade in Berlin und in der SBZ, galten nun vor allem als Opfer – als Opfer des Kriegs und als Opfer der neuen kommunistischen Bedrohung. Sie bedurften des Trostes und der Fürsprache. Schuldvorwürfe waren hingegen, insbesondere nach Meinung der evangelischen Kirchenoberen in Ostdeutschland, allein aufgrund der vorherrschenden politischen Situation weder angebracht noch zuträglich. De facto schien eine Auseinandersetzung mit moralischen Verfehlungen, tatsächlichem Fehlverhalten oder verbrecherischen Taten im Nationalsozialismus angesichts der kommunistischen Bedrohung sogar vernachlässigbar.97 Der einfachen Bevölkerung, die von den politisch Verantwortlichen verführt worden war – so lautete das Argument – sollte keine zusätzliche Schuldlast auferlegt werden. Ohnehin habe der Krieg die Menschen schon genug gestraft. Dieses Narrrativ bestimmte die kirchliche Erinnerungskultur der Nachkriegsjahre. Dabei fällt auf, dass viele Gemeinden an Erinnerungsmotive aus der Zwischenkriegszeit anknüpften und zum Beispiel Gedenkaltare im Stil der 1920er-Jahre mit Blumenschmuck und Eisernem Kreuz errichteten.98 Desweiteren empfahl Generalsuperindentent Jacobi den Gemeindepfarrern positive Gedanken in ihre Predigten einzuflechten und von allzu strengen Vorwürfen, die das Handeln der Gemeindemitglieder in der Vergangenheit betrafen, abzusehen: Der Moralist: Es ist der, der sich allzu lange bei den Schwächen, Verfehlungen und Schlechtigkeiten seiner Mitmenschen aufhält. Der Moralist ist der, der im Grunde nur ein Gesetz kennt, ein „du sollst“ und damit sich und den andern Menschen das Leben zur Pein macht. Reden über die Schlechtigkeiten der Menschen lassen im Grunde die Seele kalt. Die Fröhlichkeit des Herzens aber erwärmt die Seele.99

97 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 72. 98 Vgl. Dompropst Lichtenberg, ein Kämpfer Christi, in: Petrusblatt 2.12.1945, S. 3. Siehe auch: Bericht über die Generalkirchenvisitation Kkr. [Kirchenkreis] Oberspree 1949. ELAB 86/53. Und: Bericht Stadtkirchengemeinde Köpenick 1949. ELAB 86/53. 99 Bericht von Generalsuperintendent D. Jacobi auf der Schlußversammlung der drei Zehlendorfer Gemeinden „Ernst-Moritz-Arndt“, „Paulus“ und „Zur Heimat“ über die Generalkirchenvisitation vom 28.9.-8.10.1951. ELAB 1/8519.

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Die Schuldbekenntnisse der Amtskirchen Die Kirchenleitungen setzten also auf Versöhnungsmomente und erklärten, das Vertrauen der Menschen in die Kirche wieder stärken zu wollen.100 Die gerade erst gegründete EKD beabsichtigte, möglichst weite Teile der Bevölkerung von Schuldfragen zu entlasten. Eine wichtige Funktion übernahm dabei das Stuttgarter Schuldbekenntnis:101 Die im Oktober 1945 verlesene Erklärung gestand zwar eine Mitschuld evangelischer Christen ein, wies aber eine deutsche Kollektivschuld gleichzeitig zurück.102 Dementsprechend heißt es im Text: Mit grossem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus. […] Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden.103

Bereits zwei Monate zuvor hatte die Fuldaer Bischofskonferenz am 23. August 1945 in Fulda ein ganz ähnliches Schuldbekenntnis formuliert. Das Hirtenwort des deutschen Episkopats, das die deutschen Bischöfe gleich auf ihrer ersten Versammlung nach dem Krieg unterzeichneten, widmete sich vor allem den katholischen Opfern. Die Bischöfe dankten den deutschen Katholiken für ihre Glaubenstreue, ihre Opferbereitschaft und ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus: Wir wissen, daß es für viele von euch nicht gefahrlos war, immer wieder Hirtenworte von uns zu vernehmen, die den Zeitirrtümern und Zeitverbrechen entgegentraten. Mit tiefem Interesse und innerer Anteilnahme sind Millionen und Millionen unseren Ausführungen gefolgt, wenn wir für die Rechte der Persönlichkeit eingetreten sind, wenn wir die Übergriffe des Staates in das kirchliche Leben zurückgewiesen haben, wenn wir von den unerhörten Bedrückungen sprachen, die durch Staat und Partei auf allen Gebieten des geistigen und religiösen Lebens ausgeübt wurden, wenn wir gegen Rassendünkel und Völkerhaß unsere Stimme erhoben haben. Wir wissen wohl, daß Angeber allüberall sich fanden, um euch in eurem Fortkommen, in eurem Aufstieg zu hemmen, wenn festgestellt werden konnte, daß ihr solchen Predigten gelauscht hattet.104

100 Vgl. Rathke: Wohin?, S. 26–27. 101 Vgl. Greschat: Vorgeschichte, S. 22–23. 102 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 51–54. 103 Stuttgarter Schulderklärung, https://www.ekd.de/Stuttgarter-Schulderklarung-11298.htm [16.6.2021]. 104 Hirtenwort des deutschen Episkopats 23.8.1945, in: Akten deutscher Bischöfe. Über die Lage der Kirche 1933–1945, Band VI 1943–1945, bearbeitet von Ludwig Volk, Mainz 1985, S. 688–689.

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Erst dann – nachdem die Bischöfe erläutert hatten, was sie und viele Kirchenmitglieder richtig gemacht hatten, inwieweit sie widerstanden hatten – fiel ihr Blick auf jene Katholiken, die Nationalsozialisten geworden waren, sie auf unterschiedliche Weise unterstützt oder sich zumindest mit ihnen arrangiert hatten: Wir beklagen es zutiefst: Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben; viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden. Schwere Verantwortung trifft jene, die auf Grund ihrer Stellung wissen konnten, was bei uns vorging, die durch ihren Einfluß solche Verbrechen hätten hindern können und es nicht getan haben, ja, diese Verbrechen ermöglicht und sich dadurch mit den Verbrechern solidarisch erklärt haben.105

Die katholische Kirchenleitung bekannte folglich eine Mitschuld, ohne aber konkret Schuldige zu benennen und zu verurteilen. Zudem distanzierte sie sich von allen Mitläufern oder Tätern, indem sie ihnen allein die Verantwortung für ihr Handeln zuwies. Mit Blick auf die Vergangenheit galten diese nun weniger als Katholiken, sondern vielmehr als anonyme Andere, auf die die Schuldfrage relativ problem- und folgenlos verlagert werden konnte.106 Denn – so postulierte es der Episkopat weiter – nur diejenigen hatten sich individuell schuldig machen können, die vom Glauben abgewichen waren. Wer hingegen fest zu Gott gestanden hatte, war nicht versucht worden.107 Die Besatzungsmächte bestätigten die Kirchen. Detlef Pollack schreibt dazu, „in den Augen der Siegermächte waren die Kirchen nach 1945 die einzigen Institutionen in Deutschland, die nicht als bestrafungswürdig galten.“108 Stattdessen sahen die Besatzungsbehörden für die Kirchen sogar wichtige Aufgaben in sozialen und humanitären Bereichen vor.109 Es gab schließlich nur wenige andere Institutionen, deren Infrastruktur die Zeit des Nationalsozialismus derart unbeschadet überstanden hatte. Allein aufgrund der nach wie vor hohen Mitgliederzahlen ver105 Ebenda, S. 689–690. 106 Vgl. Reichardt/Zierenberg, S. 176. 107 Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 80. An dieser Darstellung änderte sich im Zeitverlauf wenig. Noch im Jahr 1994 schrieb der Berliner Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky im Vorwort zu Wolfgang Knaufts Buch über das Bistum Berlin am Ende des Zweiten Weltkriegs: „Warum eine so eindrucksstarke Erinnerung an die schrecklichen Tage und Wochen 1945? […] – nicht, um die Darstellung der Kriegsgeschichte zu bereichern oder alte Wunden wieder aufzureißen, sondern um eine heilsame Erinnerung anzuregen.“ Knauft: Gelebter Glaube, S. 7. 108 Pollack: Funktionen von Religion, S. 68. Siehe auch: Vollnhals, Clemens: Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945–1949. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit, München 1989, S. 281 ff. Sowie: Greschat: Vorgeschichte, S. 11. 109 Vgl. Seidel: Neubeginn, S. 80.

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fügten sie über die Möglichkeit, die Bevölkerung weitgehend zu informieren und zu mobilisieren.110 Die westalliierten wie die sowjetischen Besatzungsbehörden erkannten das und behinderten den Wiederaufbau zerschlagener kirchlicher Organisationen deshalb nicht, sondern förderten ihn sogar. Sie „erblickten in den Kirchen funktionierende und ‚unbelastete‘ Organisationen, deren Tätigkeit kaum irgendwelchen Kontrollen unterlag und deren Veranstaltungen die ersten öffentlich zugelassenen waren.“111 Auf diese Weise entwickelten sich die Kirchen zu zentralen Ansprechpartnerinnen für die Besatzungsbehörden mit eigenen Agenden.112 Einzelne Gemeindepfarrer, die diese Entwicklung in Zweifel zogen, fanden wenig Gehör oder wurden sogar gerügt. In der evangelischen Segensgemeinde in Berlin etwa empörten sich einige Gemeindemitglieder über Pfarrer Ulrich, der in seiner Bußtagspredigt auf die Mitschuld von Soldaten, Beamten und Unternehmern hingewiesen hatte. In ihrem Beschwerdebrief an den zuständigen Superintendenten gaben sie zu Bedenken: Waren diese Bemerkungen in Form einer Busstagspredigt [sic] wirklich so nötig? Ist unser Volk nicht schon durch eine harte Schule gegangen und könnte man als Kirchenmann nicht lieber Gott dem Herrn dies vorhalten, immer mehr Sünden hervorzusuchen um zu strafen, als heute einer politischen Partei vonder [sic] Kanzel aus zum Munde zu reden?113

Der Superintendent gab den Beschwerdeführern recht: Ulrich erhielt für seine Predigt einen Verweis. Diese Reaktion – im konkreten Fall der evangelischen Kirchenleitung in Berlin – lässt sich rückblickend verschieden deuten. Michael Kühne hat sich mit Blick auf jene Schulddiskurse entschieden, die Rolle der Kirchen positiv zu bewerten und von einer Solidarisierung mit der Bevölkerung zu sprechen: „Die Kirche hat sich in ihrem Engagement bei der Mitgestaltung der Nachkriegsordnung vielfach stärker mit der Not solidarisiert als mit der Schuld des deutschen Volkes auseinandergesetzt“, schreibt er.114 Dass die Kirchen mit dieser starken Gegenwartsorientierung, die einem Freispruch gleichkam, nicht nur der deutschen Bevölkerung, sondern auch sich selbst einen Dienst erwiesen, hielt Kühne in diesem Zusammenhang offenbar nicht für wichtig.

110 Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 25. 111 Stambolis, Barbara: „Heilige Feste und Zeiten“ zwischen Selbstvergewisserung und Auflösung des katholischen Milieus nach 1945, in: Kirchliche Zeitgeschichte 1 (2000), S. 181. 112 Vgl. ebenda, S. 70. 113 Gemeindemitglieder an Herrn Superintendent Werbeck 29.11.2915. ELAB 35/4528. 114 Die Protokolle der kirchlichen Ostkonferenz, S. 14.

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Entnazifizierung in den Kirchen Allerdings ging es nicht nur darum, das Verhältnis zwischen den Amtskirchen und der (christlichen) Bevölkerung neu auszuloten. Zudem stand die Frage im Raum, wie die Kirchen mit (ehemaligen) Nationalsozialisten – Parteimitgliedern wie Sympathisanten – in den eigenen Reihen umgehen wollten. Dieses Problem betraf in ganz besonderem Maße die evangelische Kirche, die zwischen 1933 und 1945 in zwei Lager zerfallen war.115 Auf der einen Seite die Deutschen Christen, die offen mit den Nationalsozialisten sympathisiert hatten und der Partei oft selbst angehörten und auf der anderen Seite die Mitglieder der Bekennenden Kirche, die sich von nationalsozialistischem Gedankengut distanzierten. Ausdruck fand dieser nur scheinbar trennscharfe Dualismus nach 1945 in der expliziten Gegenüberstellung des nationalsozialistischen Schreckens einerseits und des kirchlichen Freiheitskampfes andererseits.116 Dementsprechend wurden die Deutschen Christen nach Kriegsende öffentlich gerügt, während das Verhalten der Bekennenden Kirche positiv bewertet wurde.117 Zumindest kurzzeitig entstand das Bild zweier homogener Gruppen, das innere Unterschiede negierte. Einigen kirchlichen Amtsträgern wie Otto Dibelius gereichte das sehr zum Vorteil. Sein Antisemitismus und sein Nationalprotestantismus standen zunächst nicht zur Diskussion. Als Mitglied der Bekennenden Kirche galt er als politisch unverdächtig – Zugehörigkeit war wichtiger als politische Gesinnung. Die Lagerbildung schien eine eindeutige Zuordnung der Akteure zu ermöglichen. Auf dieser Basis setzten die neuen, von Anhängern der Bekennenden Kirche dominierten Nachkriegskirchenleitungen in allen vier Besatzungszonen durch, die Entnazifizierung ihres Personals, abgesehen von wenigen Ausnahmen, selbst durchzuführen.118 Insgesamt entfernte die Berliner Kirchenleitung jedoch nur sehr wenige Pfarrer aus ihren Ämtern. Sie statuierte zwar einige Exempel, aber die Mehrheit der belasteten Pastoren behielt ihre Ordinationsrechte. Die meisten mahnte die Kirchenleitung im Zuge eines Disziplinarverfahrens lediglich ab und versetzte sie in kleinere Landgemeinden, was einer Bestrafung gleichkommen sollte. Auf die ländlichen Gemeindemitglieder wurde dabei offensichtlich wenig Rücksicht genommen. Denn die Abwesenheit kirchenleitender Personen wirkte sich in der Provinz 115 Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 24. 116 Vgl. Hirtenbrief D. Dr. Dibelius, in: Die Kirche 16.5.1948, S. 1. 117 Zum Beispiel wurde der schwache Gottesdienstbesuch in der Elias-Gemeinde noch 1951 mit der „Wirksamkeit der D. C. [Deutschen Christen] im Dritten Reich“ begründet. Bericht Elias-Gemeinde 1951. ELAB 86/56. Siehe auch: Bericht über die Generalkirchenvisitation Wilhelmsruh 1949. WLAB 86/53. 118 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 55–56. Siehe auch: Greschat: Vorgeschichte, S. 25.

1.2 Schuld, Vergebung, Vergessen 

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besonders eklatant aus. Tatsächlich wurden die strafversetzten Pfarrer fortan kaum mehr beobachtet und die fehlende Kontrolle öffnete ihnen Handlungsspielräume, in denen sie so weitermachen konnten wie bisher: Ihre Predigten trugen noch immer rassistische und antisemitische Züge. Andere Pfarrer fielen durch ihr autoritäres Auftreten auf.119 Neben diesen Versetzungsmaßnahmen bediente sich die Kirchenleitung der Möglichkeit, ältere Pfarrer, die zu den Deutschen Christen gehört hatten, in den Ruhestand zu versetzen, um so eine vorzeitige Entlassung aus dem Dienst zu vermeiden. Einige wenige Pfarrer baten auch darum, beurlaubt zu werden, um einer öffentlichen Auseinandersetzung zu entgehen.120 Über das jeweilige Verfahren entschied eine eigens dafür eingesetzte Spruchkammer, die aus zwei Geistlichen und einem Juristen bestand. Dieses Gremium kam in der Regel zu sehr milden Urteilen und es drängt sich beim Lesen der Quellen der Verdacht auf, dass die Spruchkammer bemüht war, Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter vor einer Entlassung zu bewahren.121 In der Folge kamen ähnlich wie im Feld der juristischen Aufarbeitung viele belastete Theologen nahezu unbeschadet und ungestraft davon. Dass diese Vorgehensweise vor allem bei den US-amerikanischen Besatzungsbehörden schließlich in die Kritik geriet, änderte daran wenig.122 Die US-Amerikaner forderten die Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg noch in den 1940er-Jahren auf, 13 Pfarrer, die der NSDAP angehört hatten, zu entlassen. Zwar wurde dieser Aufforderung zunächst Folge geleistet, doch stellte die Kirche den Großteil dieser entlassenen Pastoren bis 1950 wieder ein:123 Die Pfarrer wurden rehabilitiert.124 Gerd Heinrich hat diese Entscheidung, die Entlassungen rückgängig zu machen, positiv beurteilt. Seiner Ansicht nach habe die Kirchenleitung damit bewiesen, dass sie „sich Personalentscheidungen nicht mit Gewalt von den Besatzungsmächten aufdrängen“ ließe.125 Selbst wenn dieses Argument entscheidend für die Wiedereinstellung der Theologen gewesen sein mag, es macht auch deutlich, dass die Kirchenleitung eine Auseinandersetzung mit der eigenen jüngsten Vergangen119 In der Berliner Paul-Gerhard-Gemeinde wurde über einen strafversetzten Pfarrer berichtet: „Statt der Bibel – hält er Feierstunden, die zum größten Teil musikalisch gestaltet sind, in denen er mit Vorliebe Wagner spielt.“ Kirchenvisitation in der Paul-Gerhard-Gemeinde vom 31. August bis 6. September 1947. ELAB 35/4462. 120 Vgl. Superintendent des Kirchenkreises Oberspree an das Evangelische Konsistorium BerlinBrandenburg 15.7.1950. ELAB 35/5218. 121 Vgl. Pfarrer Geisler an das Evangelische Konsistorium 7.12.1951. ELAB 35/6996. 122 Auch die Alliierte Kommandantur forderte zuweilen Informationen über evangelische und katholische Pfarrer an und hinterfragte deren politische Hintergründe. Vgl. Pfarrer Tomberge an das Bischöfliche Ordinariat 16.9.1948. Vgl. LA Rep 002/4614–4615. 123 Heinrich: Alte Ordnungen, S. 772–773. 124 Vgl. Reichardt/Zierenberg, S. 212. 125 Heinrich: Alte Ordnungen, S. 773.

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heit scheute und darüber hinaus dazu bereit war, großzügig Persilscheine zu verteilen. So konnte sie die Geschlossenheit in den eigenen Reihen wieder herstellen und personelle Kontinuitäten sichern. Das ging sogar soweit, dass betroffene Gemeinden bewusst nur unzureichend über neue (belastete) Pfarrer informiert wurden, wenn in ihrem Fall mit Protesten gegen die Personalentscheidungen zu rechnen war.126 Die Tatsache, dass den Gemeinden statt ausreichender Informationen „ein Einspruchsrecht innerhalb von zwei Wochen nach der Probepredigt“ eingeräumt wurde, ist in diesem Zusammenhang fast schon zu vernachlässigen.127 Die evangelische genauso wie die katholische Kirche setzten sich nicht nur für ihre eigenen Mitarbeiter ein, daneben traten beide Kirchen als Leumund für belastete Kirchenmitglieder auf und beglaubigten eidesstattliche Erklärungen, um Entnazifizierungsverfahren zu beschleunigen.128 Unter anderem setzte sich der katholische Erzpriester Trawnik aus Berlin-Neukölln beim Magistrat der Stadt Berlin für ehemalige Parteimitglieder ein, die das Arbeitsamt Neukölln zur Trümmerbeseitigung herangezogen hatte. Er erinnerte daran, dass nur Parteimitglieder „vom Zellenleiter aufwärts zu bestrafen sind“. Trawnik gab an, dass sich viele Neuköllner „niemals aktiv in der Partei beschäftigt haben, vielmehr nur aus Zwang und Druck beigetreten sind.“ Er führte weiter aus: „Ich trete lediglich für solche Pg’s [Parteigenossen] ein, deren innere Einstellung als Antinazisten ich kenne und für die ich mich voll und ganz verbürge.“129 Nur wenige Tage nach seinem Beschwerdebrief erhielt der Priester eine Antwort. Der Magistrat entgegnete Trawnik, dass die Verpflichtung zu Aufräumarbeiten wohl kaum als Strafe verstanden werden könne: „Oder meinen Sie nicht auch, dass diese Menschen, die – ganz gleich unter welchen Voraussetzungen – in diese Partei eingetreten sind, einer wie der andere mehr oder minder durch seine sture Zustimmung Schuld daran hat, dass die Dinge bis zu dem uns allen bekannten Ende geführt hat.“130 Die ehemaligen Parteimitglieder von den Räumungsarbeiten zu befreien, hieße sie von ihrer Verantwortung zu entbinden, lautete es in dem Antwortschreiben weiter. Da dies keinesfalls geschehen sollte, wurden Trawniks Bedenken zurückgewiesen. Auch evangelische Geistliche zogen die Entnazifizierungsverfahren derart in Zweifel. Vertreter der Kirchenleitung befürchteten eine ungerechte Behandlung 126 Vgl. Ebenda, S. 772. 127 Ebenda, S. 773. 128 Eine Sammlung katholischer Erklärungen über Nichtmitgliedschaften in der NSDAP von Pfarrern und anderen Gemeindemitgliedern sind im Landesarchiv Berlin archiviert. LA B Rep 002/4613. Siehe auch: Beirat für kirchliche Angelegenheiten an die Zentralverwaltung Abt. Gesundheitsdienst u.Hd. c. Herrn Stadtrat Dr. Harms 29.7.1946. LA B Rep 002/4614–4615. 129 Erzpriester Trawnik (Katholisches Pfarramt St. Clara) an den Magistrat der Stadt Berlin 30.7.1945. LA Rep 002/4614–4615. 130 Magistrat der Stadt Berlin an Erzpriester Trawnik 3.8.1945. LA Rep 002/4614–4615.

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der Betroffenen. Die Entnazifizierung – so wurde gemutmaßt – diene oft dazu, Personen in der Gegenwart politisch zu diskreditieren, anstatt die Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie meinten: ruhen zu lassen. Zwischen Ost und West waren dabei keine signifikanten Unterschiede festzustellen.131

1.3 Zurück ins Zentrum der Gesellschaft: kirchliche Vorstellungen von einem neuen Deutschland Identitätsangebote schaffen: Heimat und Einheit Anstatt sich für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einzusetzen, plädierten also sowohl die evangelische wie auch die katholische Kirche öffentlich für einen Neuanfang. Dabei standen zwei Themen im Zentrum: Heimat und Einheit. Der Begriff Heimat ist hier vor dem Hintergrund eines tatsächlichen oder möglichen Heimatverlustes zu betrachten und hatte gerade deshalb Konjunktur. Barbara Stambolis kommt zu dem Schluss, dass „das Stichwort ‚Heimatverlust‘ die Zeit nach 1945 maßgeblich prägt. Es charakterisierte das Lebensgefühl weiter Teile der deutschen Bevölkerung. Es galt für die Flüchtlinge und Vertriebenen, aber erfaßte auch diejenigen, die nicht Haus und Hof verloren hatten.“132 Heimat stand nicht länger für die nationalsozialistische Idee einer Volksgemeinschaft, sondern diente eher dazu, „die Veränderungen der eigenen Lebenswelt zu verarbeiten,“ ergänzt Jens Jäger.133 Denn der Begriff ermöglichte den Rückzug in einen „Kompensationsraum, in dem die Versagungen und Unsicherheiten des eigenen Lebens ausgeglichen werden“.134 Der diesem Heimatdiskurs zugrunde liegende Bevölkerungsaustausch – allein aus Ostpreußen waren in den letzten Kriegsmonaten zwei Millionen Menschen nach Westen geflohen – nahm auf die Zusammensetzung der Berliner und Brandenburger Gemeinden massiv Einfluss und prägte das kirchliche Leben dort nachhaltig. 135 In Berliner Kirchen machte sich der Zustrom etwa dadurch bemerkbar, dass in Gemeinden, die zuvor selten mehr als 20 Gottesdienstbesucherinnen und -besucher am Sonntag gezählt hatten, plötzlich großer Andrang herrschte. Auch 131 Vgl. Das freie Wort, in: Die Kirche 9.5.1948, S. 3. 132 Stambolis: Heilige Feste, S. 192. 133 Jäger, Jens: Heimat, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte 09.11.2017, http://docupedia.de/ zg/Jaeger_heimat_v1_de_2017 [6.3.2018]. 134 Bausinger, Hermann: Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte, in: Cremer, Will (Hrsg.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, Bonn 1990, S. 80. 135 Vgl. Reichardt/Zierenberg, S. 21.

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für die evangelischen Freikirchen bedeutete die Zuwanderung eine große Veränderung. Die Zahl der Gemeinden nahm in der Fläche merklich zu. Denn dort, wo vorher keine existiert hatten, gründeten Flüchtlinge und Vertriebene neue Gemeinden – nicht selten argwöhnisch beäugt von ansässigen Religionsgemeinschaften, die zum Beispiel die Baptisten eher als Konkurrenten denn als Nachbarn wahrnahmen.136 Besonders beliebt bei den Neuankömmlingen waren solche Gemeinden, in denen Pfarrer tätig waren, die selbst als Flüchtlinge in die Stadt gekommen waren.137 Geflohene und vertriebene Kirchenmitglieder setzten große Hoffnungen in diese Pfarrer, weil sie zum Beispiel häufig traditionelles, in Berlin und Brandenburg aber unbekanntes Liedgut in den Gottesdienst einbrachten. Die evangelische Kirchenpresse in Berlin-Brandenburg bestärkte die Flüchtlings- und Vertriebenengemeinden in ihrer Arbeit: Die Bedürfnisse der Zugezogenen seien ernst zu nehmen. Als 1949 die Einführung eines neuen Gesangbuchs diskutiert wurde, stellte die Berliner Kirchenzeitung Die Kirche unmissverständlich klar, dass die neuen Gemeindemitglieder in das kirchliche Leben integriert werden müssten: Wir sind es den Flüchtlingen aus Ost- und Westpreußen, aus Schlesien und dem Posener Land schuldig, ihr bestes heimatliches Liedgut über den Rang eines Sondergutes hinauszuheben und in den allgemeinen Kanon des neuen Gesangbuches aufzunehmen, damit es ihnen auch in ihrer neuen Heimat erhalten bleibt. Damit würde man ihnen zugleich das Einwurzeln im neuen Heimatboden erleichtern.138

Die evangelische Kirchenleitung in Berlin wollte mit gutem Beispiel vorangehen: Zwischen 1947 und 1952 gab der Kirchendienst Ost im Auftrag des Berliner Bischofs die kostenlose, wenn auch unregelmäßig erscheinende Zeitschrift Kirche und Heimat heraus. Sie trug den Untertitel „ein Heimatgruß an die Umsiedler/ Heimkehrer und Flüchtlinge aus dem deutschen Osten“.139 Aufgabe der Zeitung sollte es sein, die Flüchtlinge willkommen zu heißen, Brücken zwischen alten und neuen Gemeindemitgliedern zu schlagen und sie über das hiesige Gemeindeleben zu informieren: „Daß es zuletzt gar nicht um bloße ‚Eingliederung‘ geht, sondern 136 Vgl. Interview mit Klaus Pritzkuleit 2005. Oncken-Archiv Archiv des Bundes EvangelischFreikirchlicher Gemeinden in Deutschland (OA), ohne Signatur, S. 2. Zu den Konkurrenzverhältnissen siehe auch: Generalkirchenvisitation Luckenwalde vom 2.-11.5.1953. ELAB 35/19763. 137 Vgl. Bericht über die Generalkirchenvisitation in Reinickendorf Predigtstätte Lutherhaus. ELAB 86/55. 138 Die Zukunft des Gesangbuches, in: Die Kirche 2.10.1949, S. 2. Zur protestantischen Diskussion über den Begriff „Heimat“ vgl. Teuchert, Felix: Die verlorene Gemeinschaft. Der Protestantismus und die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft (1945–1972), Göttingen 2018, S. 337–376. 139 Kirche und Heimat Sommer 1947, S. 1.

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ein Neues wird!“, wie die erste Nummer zuversichtlich verkündete.140 Die Rubriken der Zeitschrift unterstrichen dieses Ansinnen. Einerseits wurde „Aus den Ostgebieten“141 berichtet, andererseits wurden Nachrichten „Aus der neuen Heimat“142 vermeldet. Die Zeitschrift verfolgte eine zweigleisige Argumentation. Sie bot Räume, um den Verlust der Heimat zu betrauern und an die Flucht zu erinnern, machte aber ebenfalls deutlich, dass eine Rückkehr dorthin unwahrscheinlich und es für die Vertriebenen notwendig sei, sich auf die neue Umgebung einzulassen. In ähnlicher Weise ging die katholische Kirche auf jene Katholiken zu, die bis zum Kriegsende in Schlesien oder Ostpreußen gelebt hatten. Die katholische Wochenzeitung des Bistums Berlin, Petrusblatt, thematisierte immer wieder die Folgen von Flucht und Vertreibung, wobei die Redakteure vor allem die Herausforderungen betonten, die für die Berliner Kirche damit einhergingen.143 Denn während bei der Gründung des Bistums 1930 nur 550.000 Katholiken in der Diözese gelebt hatten, stieg deren Zahl in den letzten Kriegstagen und der frühen Nachkriegszeit auf bis zu 700.000 Personen an.144 Beide großen christlichen Konfessionen maßen den Flüchtlingen und Vertriebenen somit eine besondere Bedeutung bei. Sie gründeten eigene Institutionen, die sich der Versorgung und Integration dieser Menschen widmeten: In der katholischen Kirche kümmerte sich zunächst die Caritas um notleidende Vertriebene. Von zentraler Bedeutung war dabei die Hauptvertretung des Deutschen Caritasverbandes in Berlin, deren Arbeit maßgeblich von Johannes Zinke, ehemals Diözesan-Caritasdirektor in Breslau, geprägt wurde. Zinke initiierte große Spendensammlungen im Ausland und sorgte dafür, dass diese Gelder in großem Umfang in die SBZ flossen.145 Außerdem wurde ein Katholischer Flüchtlingsrat eingesetzt, der beratende Funktionen für die einzelnen Bistümer wahrnahm und darüber hinaus als Schnittstelle zwischen kirchlicher und staatlicher Flüchtlingsarbeit fungierte.146 Auf der Gemeindeebene agierte des Weiteren die Kirchliche Hilfsstelle, die Vertriebene vor Ort betreute und neue Gemeindemitglieder zum Beispiel mit der

140 Der „andere“ Gottesdienst, in: Kirche und Heimat Sommer 1947, S. 3. 141 Aus den Ostgebieten, in: Kirche und Heimat Sommer 1947, S. 7. 142 Aus der neuen Heimat, in: Kirche und Heimat Sommer 1947, S. 8. 143 Vgl. In Kürze, in: Petrusblatt 2.12.1945, S. 7. Siehe auch: Hirtenwort zur Jahrhundertfeier des Bonifatiusvereins, in: Petrusblatt 9.10.1949, S. 4. 144 Vgl. Bengsch: Kirche zwischen Elbe und Oder, S. 106 und S. 128. 145 Vgl. Thiel, Heinz Dietrich: Aufgaben und Handlungsspielräume der Hauptvertretung des Deutschen Caritasverbandes in Berlin, in: Kösters, Christoph (Hrsg.): Caritas in der SBZ/DDR 1945–1989. Erinnerungen, Berichte, Forschungen, Paderborn u. a. 2001, S. 37–39. 146 Vgl. Bendel: Die katholische Kirche, S. 89–93.

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lokalen Liturgie vertraut machte.147 In der evangelischen Kirche übernahm das seit August 1945 tätige Hilfswerk der EKD die meisten dieser Aufgaben.148 Doch die Hilfsaktionen beider Kirchen endeten bald an den Zonengrenzen. Eine umfangreiche institutionalisierte Hilfe, wie sie in den von den Alliierten besetzten Zonen angelaufen war, konnte in der SBZ nie realisiert werden. Dort mussten einzelne Pfarreien jene Aufgaben übernehmen, die in den anderen drei Zonen zentral geregelt werden konnten. Deshalb erlangte in der evangelischen Kirche das Zentralbüro Ost in Ost-Berlin eine herausragende Stellung. Ursprünglich als Abteilung des Stuttgarter Zentralbüros eröffnet, entwickelte es sich zu einer wichtigen Anlaufstelle für den kirchlichen Wiederaufbau in der SBZ und DDR.149 Die personelle Zusammensetzung der Gemeinden änderte sich aber auch aus einem anderen Grund. Während die Zahl der Gemeindemitglieder an manchen Orten in die Höhe schnellte, sank sie andernorts rapide ab. Denn schon bald nach Kriegsende begannen Menschen aus der SBZ und später dann der DDR in eine der anderen drei Besatzungszonen beziehungsweise in die Bundesrepublik zu fliehen. Vor allem in Landgemeinden wurde das Ausmaß dieser Fluchtbewegung rasch deutlich. In einzelnen Dörfern gingen ganze Bauernfamilien aus Furcht vor der drohenden Enteignung und anschließenden Kollektivierung ihrer Betriebe in den Westen und ließen die Kirchengemeinden merklich schrumpfen, die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte sinken.150 Ein vertraulicher Bericht aus der Parochie Dobbrikow an die evangelische Kirchenleitung in Berlin hob hervor, „dass auch das Leben der Menschen auf dem Lande in fortschreitendem Masse von den politisch inspirierten und gesetzlich veranlassten Massnahmen des klassenfeindlichen Sozialismus bestimmt wird. Ich wage zu behaupten,“ schrieb der besorgte Pfarrer, „dass mit ganz wenigen Ausnahmen jeder Bauer mit dem Gedanken der Flucht oder anderer Verzweiflungsschritte spielt.“151 Der Bericht erteilte all jenen eine Absage, die allzu naiv geglaubt hatten, das Landleben würde nach Kriegsende bald wieder seinen gewohnten Gang gehen und nur in den Städten drohten rasante Veränderungen. Neben der Landbevölkerung flohen vor allem junge Menschen aus dem Osten in Richtung Westen; viele von ihnen strandeten in West-Berlin. Von den geschätzten 300 Flüchtlingen, die 1951 täglich in West-Berlin ankamen, waren durchschnittlich 25 Prozent minderjährig, schätzte der damalige Generalsu-

147 Vgl. Stambolis: Heilige Feste, S. 193. 148 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 62. 149 Vgl. Diakonie in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR, https://www.diakonie.de/ ddr/ [2.3.2018]. 150 Vgl. Generalkirchenvisitation Luckenwalde. Pfarrsprengel Sernow 2.-11.5.1953. ELAB 35/ 19763. 151 Gemeindebericht der Parochie Dobbrikow 17.4.1953. ELAB 35/19763.

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perintendent Jacobi. Die Kirchenleitungen versuchten ihnen zu helfen, indem sie Schul- und Ausbildungsplätze vermittelten.152 Die hier nur angerissenen Dynamiken machen deutlich, dass die Berliner Gemeinden in den ersten Nachkriegsjahren nur kurzzeitig gleichermaßen gewachsen waren. Schon bald zeitigte die Entwicklung der Mitgliederzahlen eine merkliche Ungleichheit: Die Ost-Berliner und Brandenburger Gemeinden fürchteten zunehmende Mitgliederverluste, indessen sich einige West-Berliner Kirchenkreise mit ihren andauernd wachsenden Gemeinden überfordert fühlten. Diese im Vorhergehenden beschriebenen Fluktuationen – also die zeitlich rasch aufeinanderfolgenden Veränderungen in der zahlenmäßigen und personellen Zusammensetzung der Gemeinden – lassen erahnen, dass der Begriff Heimat als Integrationskonzept bald nur mehr bedingt tragfähig erschien. Zudem war Heimat ein Begriff, der mit Orten assoziiert wurde, die aus unterschiedlichen Gründen verlassen werden mussten oder auch der Bestandsbevölkerung als verloren galten. Hinzu kam: Beim Nachdenken über diese Verluste wurden weitere Unterschiede zwischen der alten Heimat und jenem neuen Zuhause offenbar, das eben nicht Heimat war, sondern für Heimatlosigkeit stand.153 Da den Kirchen nicht daran gelegen sein konnte, diese Brüche zu betonen, rekurrierten sie stattdessen auf das Gemeinsame und knüpften an Traditionen aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus an, um die Nachkriegsgesellschaft an sich zu binden.154 Dafür wiederum schien sich ein anderer Begriff sehr viel mehr zu eignen: Einheit. Eine häufig zitierte und zwischenzeitlich abgewandelte Formel steht bis heute geradezu symbolisch für diesen Begriff: Politische Grenzen sind keine Kirchengrenzen.155 Doch worauf sollte sich diese Einheit beziehen? Was machte sie aus? Ein „Brief aus der Ostzone“ der Landeskirche Mecklenburgs vom 3. Oktober 1949 an das Kirchenamt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands in Berlin macht deutlich, dass um die Gestalt dieser Einheit auf allen Ebenen gerungen wurde: „Dem theoretischen Wissen von der Einheit der Kirche Christi und mancherlei praktischen Auswirkungen steht gegenüber der tatsächlichere Zustand, daß aus dem verschiedenen Erleben in dem seelischen Ost- und West-Klima, der westlichen oder östlichen Ideologie, die Entwicklung andere Formen auch in

152 Bericht von Generalsuperintendent D. Jacobi auf der Schlußversammlung der drei Zehlendorfer Gemeinden „Ernst-Moritz-Arndt“, „Paulus“ und „Zur Heimat“ über die Generalkirchenvisitation vom 28.9.-8.10.1951. ELAB 1/8519. 153 Vgl. Bendel: Die katholische Kirche, S. 114–116. 154 Vgl. Stambolis: Heilige Feste, S. 198. 155 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 797.

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den Menschen der Kirche annimmt.“156 Die Mecklenburger schilderten ihre große Furcht vor einem Auseinanderleben der Kirchen in Deutschland. Sie hatten zahlreiche Anhaltspunkte dafür gesammelt: Die Kirchen in der jungen Bundesrepublik nahmen sie als gesättigte Kirchen wahr, die sich in Sicherheit wähnten, während die ostdeutschen Kirchen sich existenziell bedroht fühlten. Aufgrund dieser Wahrnehmung, so argumentierten sie weiter, falle es den Pfarrern in der SBZ und DDR schwer, die Sorgen ihrer Kollegen in Westdeutschland ernst zu nehmen. Mehr noch, die Vertreter der Mecklenburgischen Landeskirche äußerten im Folgenden den Eindruck, von den westdeutschen Kirchen verraten und vergessen worden zu sein. Dafür sprach ihrer Meinung nach auch, dass nur sehr wenige kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von West nach Ost übergesiedelt waren, obwohl die Landeskirchen in der SBZ und DDR immer wieder um wenigstens temporäre Unterstützung gebeten hatten. In dem zitierten Brief heißt es dazu: „Könnt ihr […] nicht wenigstens auf einige Monate kommen, wenn ihr schon nicht gänzlich übersiedeln wollt? […] Man entsendet Missionare in die mannigfachen Gefahren der fernen Heidenländer. Hat keiner Mut und Gottvertrauen, sich in die Ostzone zu wagen?“157 Um den Druck auf die westdeutschen Protestanten zusätzlich zu erhöhen, verwiesen die Autoren außerdem auf Aktivitäten der katholischen Kirche. So seien weit mehr Katholiken bereit, einen Umzug auf sich zu nehmen, um die Kirche im Osten zu unterstützen, als das unter evangelischen Kirchenmitgliedern der Fall sei. Zum Schluss hoben die mecklenburgischen Pastoren hervor, dass sie sich im Hinblick auf ihre Glaubensstärke durchaus überlegen fühlten: „Wir bemühen uns, Armut und Not der Kirche zu bejahen und bewußt die Prüfungen zu durchleiden, weil wir gerade so wunderbar frei die Gegenwart Gottes erleben dürfen […].“158 Dabei schreckten sie auch nicht davor zurück, einen großen historischen Bogen zu schlagen und ihr Leben in der DDR geradezu pathetisch mit „der Leidensschule eines babylonischen Exils [zu vergleichen, wo sie] zur Verinnerlichung erzogen werden, zu Treue und Gehorsam. […] Wahrlich, ihr solltet uns beneiden, nicht bemitleiden!“159 Das war eine Warnung an die Kirchenmitglieder in der Bundesrepublik: „Der Antichrist“ mochte sich im Osten deutlicher zu erkennen geben – das Bild vom Antichristen stand hier synonym für eine säkularisierte Gesellschaft – trotzdem sei auch der Westen dazu aufgerufen, sich mit atheistischen Tendenzen

156 Brief aus der Ostzone 3.10.1949. AVELKD [Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands] I L Me, abgedruckt bei: Seidel: Neubeginn, S. 423. 157 Ebenda, S. 424. 158 Ebenda, S. 423. 159 Ebenda, S. 424.

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auseinanderzusetzen. Denn darin, also in der Einheit der Verkündigung, läge das verbindende Element und ein gemeinsamer Auftrag für Ost und West.160 Reduziert man diesen Brief auf seine Kernaussagen, so wird deutlich, dass bereits 1949 nicht nur über die Bedeutung von Einheit in den Kirchen gestritten wurde, sondern ebenso darüber, inwieweit sich die Kirchen in Ost und West bereits voneinander entfernt hatten. Sie kämpften schon jetzt mit Verständigungsschwierigkeiten, die sich in Form von Vorwürfen oder Besserwisserei äußerten und Unsicherheiten erzeugten. Dieser sich wandelnde Einheitsbegriff musste öffentlich verhandelt und schließlich mit konkreten Praktiken in Verbindung gebracht werden, um die Masse der Kirchenmitglieder überhaupt zu erreichen und womöglich überzeugen zu können. Einen entsprechenden Versuch unternahm die evangelische Kirchenführung auf dem Kirchentag 1951. Sein Motto: „Wir sind doch Brüder!“. Das Treffen in Ostund West-Berlin, an dem über 300.000 Menschen teilnahmen, sollte nicht nur staatlichen Stellen beweisen, dass die evangelischen Kirchen in Deutschland eine Einheit bildeten; es ging auch um eine Demonstration der Verbundenheit für die Kirchenmitglieder selbst.161 Regelrechte Einheitsappelle waren schon in den Jahren zuvor immer wieder erfolgt. Gerade weil die EKD die kirchliche Einheit mit Blick auf mögliche Staatengründungen gefährdet sah, veröffentlichte sie eine Vielzahl von Texten wider die Trennung, in denen kirchliche und nationale Argumente miteinander verschmolzen: Jetzt stehen wir in der Gefahr, daß Deutschland auf die Dauer in verschiedene Teile von ungleicher wirtschaftlicher, sozialer und geistiger Gestalt auseinandergerissen wird. […] Kein Volk der Erde aber kann jemals zur Ruhe kommen, wenn mitten durch sein Land eine willkürliche Grenze gezogen wird durch ein Diktat auswärtiger Mächte. […] Ein Volk, das eine gemeinsame Sprache spricht, das eine gemeinsame Geschichte und Kultur hat, braucht freien Austausch mit allen seinen Gliedern. Unsere Gemeinden, die in West und Ost dieselben Choräle singen, dasselbe Bekenntnis und dieselbe Art des Gottesdienstes haben, wollen in ihrer jahrhundertealten gesegneten Gemeinschaft geistigen Lebens bleiben.162

160 Ebenda, S. 425. 161 Vgl. Palm, Dirk: „Wir sind doch Brüder!“ Der evangelische Kirchentag und die deutsche Frage 1949–1961, Göttingen 2002. Siehe auch: Seidel: Neubeginn, S. 187. Und: Maser, Peter: Kirchen und Religionsgemeinschaften in der DDR 1949–1989. Ein Rückblick auf vierzig Jahre in Daten, Fakten und Meinungen, Konstanz 1992, S. 36. 162 Wort christlicher Kirchen in Deutschland für einen rechten Frieden und gegen die Zerreißung des deutschen Volkes, in: Die Kirche 21.3.1948, S. 2. Vgl. Kundgebung des Rates der EKD, in: Die Kirche 23.10.1949, S. 1. Siehe auch: Darf man das?, in: Die Kirche 30.10.1949, S. 1–2.

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Kapitel 1: Kein Neuanfang

Der katholische Bischof Preysing sah die Freiheit seiner Kirche im Falle einer Teilung Deutschlands ebenfalls in Gefahr. Er hatte die konkrete Befürchtung, dass die staatliche Trennung eine Teilung des Berliner Bistums nach sich ziehen würde, weshalb er sich kategorisch gegen jede Form der Einmischung in seinen Amtsbereich wendete und auf dieser Grundlage für ein geeintes und nach Westen orientiertes Deutschland eintrat.163 Tatsächlich wurde die kirchliche Einheit in Berlin und Brandenburg zu diesem Zeitpunkt bereits praktisch in Frage gestellt. Denn die Sektorengrenzen teilten Kirchengemeinden. Die Kirchenleitungen fürchteten, dass die Geschlossenheit der Kirchengebiete in Berlin und Brandenburg dadurch empfindlich gestört würde. Doch lässt sich konstatieren, dass sich diese Ängste vorerst nur sehr begrenzt auf den Gemeindealltag auswirkten.164 Die Trennung der evangelischen Kirchengemeinde Frieden in „4/5 West 1/5 Ost macht sich im Gemeindeleben nicht bemerkbar“, hieß es zum Beispiel in einem Visitationsbericht aus dem Jahr 1951.165 Dazu trug unter anderem bei, dass viele Pfarrer großen Wert darauf legten, in ihren Predigten und Gebeten an die Einheit und die gemeinsamen Erfahrungen der Gemeindemitglieder zu erinnern.166 Darüber hinaus zielte die evangelische Kirche in Berlin darauf ab, Laien vermehrt in die Gemeindearbeit einzubeziehen, um die Gemeinden zu stabilisieren und generell die Position all derer zu stärken, die sich in den Gemeinden engagierten, aber nicht Theologen waren.167 Zu diesem Zweck wurden Ende der 1940er-Jahre auf lokaler Ebene sogenannte Dienende Gemeinden gebildet, welche die „Zusammengehörigkeit der großen Berliner Gemeinde“ unter Beweis stellen sollten und um „der breiten Öffentlichkeit einen Eindruck zu vermitteln, welche lebendigen Kräfte heute noch in der Kirche wirksam sind.“168 Jedoch tat sich die BerlinBrandenburgische Synode schwer damit, den Dienenden Gemeinden konkrete Aufgaben anzuvertrauen. Die Synodalen scheuten im Artikel 14 ihrer Grundordnung schließlich sogar davor zurück, einfachen Gemeindemitgliedern überhaupt 163 Vgl. Die Freiheit der Kirche. Ansprache des Bischofs von Berlin, in: Petrusblatt 10.11.1946, S. 3. 164 Vgl. Halbrock, Christian: „Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen“ – die evangelische Kirche Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg, in: Lemke, Michael (Hrsg.): Schaufenster der Systemkonkurrenz. Die Region Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg, Köln u. a. 2006, S. 109–110. 165 Bericht Elias-Gemeinde 1951. ELAB 86/56. 166 Vgl. Bericht über die Generalkirchenvisitation in Reinickendorf-West vom 15.-22.10.1950. ELAB 86/55. Siehe auch: Ein Gebet für Berlin, in: Die Kirche 9.5.1948, S. 1. Die Synode der Evangelischen Kirche von Westfalen nahm 1950 „die Bitte um die Einheit der evangelischen Christenheit in Deutschland“ in ihr Fürbittgebet auf, in: Die Kirche 12.11.1950, S. 4. 167 Vgl. Die Laien, in: Die Kirche 18.9.1949, S. 1. 168 Das Bekenntnis der dienenden Gemeinde, in: Die Kirche 11.9.1949, S. 1. Vgl. So stellt sich die Dienende Gemeinde dar, in: Die Kirche 9.10.1949, S. 1–2.

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größere Entscheidungs- und Handlungsspielräume zu überlassen und beließen es bei einer vagen Formulierung: „Ansatzpunkt muß eine vertiefte und vermehrte Seelsorge werden.“169 In der Praxis waren damit etwa Konfirmandenpatenschaften gemeint, die Mitglieder der Dienenden Gemeinden übernahmen.170 Es überrascht nicht, dass sich derart profillose Dienende Gemeinden nicht durchsetzen konnten. So intensiv das Konzept 1949 diskutiert wurde – es war bald darauf völlig bedeutungslos. Eine fixe Idee, die letztlich auch deshalb nicht realisiert und mit Inhalten gefüllt werden konnte, weil die Synodalen kein Vertrauen in ihre eigenen Gemeindemitglieder hatten. Der Großteil der Berliner Gemeinden war für die Probleme der Gegenwart durchaus sensibilisiert, auch ohne ständig die weltpolitischen Dimensionen des beginnenden Kalten Kriegs vor Augen zu haben. Evangelische Zeitgenossen führten das starke Einheitsbedürfnis der Kirchenmitglieder in den Nachkriegsjahren oft gar nicht auf den Systemkonflikt zurück, sondern sahen es im nationalsozialistischen Kirchenkampf begründet. Eine gängige Argumentation lautete: Im Streben nach einer neuerlichen Zusammengehörigkeit komme zum Ausdruck, wie stark die Spaltung der Kirche in Deutsche Christen und Bekennende Kirche die Gemeinden belastete.171 In der Auseinandersetzung um die kirchliche Einheit ging es somit nicht allein um die Überwindung der Unterschiede zwischen Ost und West, Stadt und Land oder Bestandsbevölkerung und Flüchtlingen, sondern ebenso darum, die verschiedenen politischen Lager innerhalb der Kirchen wieder zu vereinen und – ganz besonders nach außen – geschlossen aufzutreten. Dabei war diese Einheit auf der landeskirchlichen Ebene genauso wie auf der Gemeindeebene immer fragil. Denn gerade in Berlin war es kaum möglich, auf die Verbundenheit der Gemeinden im Alltag hinzuweisen, ohne gleichzeitig Trennungsmomente sichtbar zu machen. In einem Leserbrief an die evangelische Wochenzeitung Die Kirche machte eine Person darauf aufmerksam, dass die Kirchenleitenden nicht vergessen sollten, dass Zonengrenzen, wenn sie auch keinen Einfluss auf das kirchliche Leben nehmen mochten, einzelne Familien und damit die Kirchenmitglieder selbst sehr wohl beeinflussten: Die Zonengrenzen mitten durch die Familien schaffen viele tragische Situationen. Ja, es gibt schon „Zonengrenzen der Herzen“! Das ist nun, liebe „Kirche“, kein Einzelfall. Sieh in die Familien hinein! Und nicht nur in die Familien! Auch in die Kreise der Freundschaft, der Nachbarschaft. […] Es ist keine leichte Aufgabe, die ich Dir da zuschreibe, aber eine Not überhaupt zu sehen und sie einmal auszusprechen, sie aufzudecken, hilft vielleicht schon

169 Wie kommen wir zu einer „Dienenden Gemeinde“?, in: Die Kirche 6.3.1949, S. 1. 170 Vgl. Patenschaften, in: Die Kirche 30.10.1949, S. 2. 171 Vgl. Bericht Samaritergemeinde 1948. ELAB 86/51.

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Kapitel 1: Kein Neuanfang

einen kleinen Schritt weiter. Es ist jedenfalls besser, sie aufzudecken, als die Glut unter der Oberfläche weiterschwelen zu lassen.172

Die Amtskirche bemühte sich, Ängste dieser Art zu entkräften, indem sie auf ihre Brückenbauerfunktion hinwies. Der evangelische Theologe Martin Niemöller stellte in seiner Eröffnungsrede auf dem Berlin-Brandenburgischen Laientag im April 1950 dazu fest: „[…] wie Kirche von ihrem Wesen gehalten sei, für keine der beiden Seiten zu optieren, sondern ihren eigenen Weg mitten durch diese Gegensätze hindurch zu suchen.“173 Die Kirchenleitungen verfolgten somit einen doppelten Anspruch: Sie wollten verbindendes Glied zwischen Ost und West sein und politisch unabhängig agieren. Mit Niemöllers Worten ließ sich die Vielschichtigkeit des Einheitsbegriffs vielleicht ansatzweise beschreiben, im Alltag der Laien fruchteten solche Erklärungsansätze aber bald nicht mehr. Es gelang vielen Kirchenmitgliedern nicht, den von Niemöller oder auch von Preysing beschriebenen Überbau in ihre Lebenswelt zu adaptieren und Handlungsanweisungen abzuleiten. Überdies stellten die deutschen Staatsgründungen die Position der Kirchenleitenden zusätzlich in Frage. Eine Wiedervereinigung Deutschlands war ab 1949 noch unwahrscheinlicher geworden, was endlich dazu führte, dass die Kirchenmitglieder – gerade im Osten – immer häufiger zwischen ihrer konfessionellen und ihrer staatlichen Zugehörigkeit zerrieben wurden. Denn wenn der Episkopat oder das Konsistorium die Gläubigen dazu anleitete, die DDR nicht anzuerkennen, beschwor es gleichzeitig Loyalitätskonflikte herauf, die jene Mitglieder in Bedrängnis bringen mussten, die gute DDR-Bürger und treue Christen zugleich sein wollten.

Aufbruchsstimmung: Säkularisierung aufhalten und Kirchenpolitik machen In dem Augenblick, wo das Einheitsmotiv auf die Probe gestellt wurde, zerschlug sich die Idee von der kurzzeitig erhofften Rechristianisierung Deutschlands endgültig.174 Die Bindungskräfte der Kirchen waren nicht stark genug. Viele Menschen waren nicht in die Kirchen zurückgekehrt, um dort aktiv zu werden. Ihre Motive hatten sich verändert und die kirchlichen Milieus lösten sich immer weiter auf. Trotz zahlreicher personeller Kontinuitäten in den Kirchenleitungen – viele vor

172 „Zonengrenzen der Liebe“, in: Die Kirche 10.7.1949, S. 3. 173 Zum gemeinsamen Dienen entschlossen, in: Die Kirche 30.4.1950, S. 1. 174 Petra Weber bezeichnet diese Rechristianisierung in der Bundesrepublik bis Mitte der 1950er-Jahre als „gesellschaftliche Realität“. Weber: Getrennt und doch vereint, S. 410.

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1933 tätige Theologen bestimmten auch nach 1945 wieder die Kirchenpolitik – war es nicht einfach möglich, an die Zeit vor dem Nationalsozialismus anzuknüpfen.175 Stambolis hat am Beispiel religiöser Feste überzeugend dargestellt, warum sich die Menschen den Kirchen stattdessen zuwendeten und wann sie sich wieder von ihnen abwendeten. So waren die Feste in der als chaotisch wahrgenommenen Nachkriegszeit besonders beliebt, weil sie Entlastung bedeuteten und der Bevölkerung halfen, fernab von Politik und Ideologie ein neues Selbstbewusstsein aufzubauen. Sobald aber die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse wieder klare Konturen annahmen, ließ das Interesse an den kirchlichen Festen nach.176 Das Gleiche galt für die Zahl der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher. Diese schnellte 1945 in die Höhe, ging dann aber seit 1947 kontinuierlich zurück. Das Berliner Konsistorium sah die Gründe dafür in der zunehmenden „Verweltlichung“ der Kirchenmitglieder.177 Anders als kirchliche Medien und die Kirchenleitung machten sich die Gemeindepfarrer in aller Regel keine Illusionen. Trotz zumeist voller Kirchen sahen sie kaum Anzeichen einer wirklichen religiösen Erweckung. […] Bereits 1949 standen den rund 43.000 Eintritten [in den drei westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik] doppelt so viele Austritte gegenüber, nämlich ca. 86.000.178

Statt Euphorie herrschte bald Resignation vor.179 Das große Erneuerungsprogramm, mit dem gerade die evangelische Kirchenleitung nach dem Krieg angetreten war, hatte sich da – zumindest in Teilen – längst als Restaurationskurs entpuppt, der von vielen aktiven Laien skeptisch beäugt wurde. Wie also weitermachen? Aus den Erfahrungen im Nationalsozialismus hatten die christlichen Kirchen, wie Detlef Pollack argumentiert, zwei entscheidende Dinge gelernt: Erstens wollten sie fortan alles daransetzen, ihre institutionelle Autonomie zu verteidigen und zu bewahren. Zweitens drängten die Kirchen darauf, in der Gesellschaft öffentlich sichtbar zu sein und Präsenz zu zeigen.180 Weit oben auf den Tagesordnungen der Kirchenleitungen standen deshalb zunächst Bemühungen, einen guten Umgang mit den Besatzungsbehörden zu finden, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Einer der ersten Schritte von Otto Dibelius, seit 1925 Generalsuperintendent der Kurmark in der Kirche der Altpreußischen Union, war es deshalb, sich zum evangelischen Bischof von Berlin ernennen zu lassen. Er selbst erklärte später, dass der Titel notwendig geworden sei, um 175 176 177 178 179 180

Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 88–93. Vgl. Stambolis: Heilige Feste, S. 178. Die neue Lebensordnung der Gemeinde, in: Die Kirche 7.12.1947, S. 1. Greschat: Die evangelische Christenheit, S. 71. Vgl. Ziemann, Benjamin: Sozialgeschichte der Religion, Frankfurt 2009, S. 160. Vgl. Pollack: Funktionen von Religion, S. 71.

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sich bei den Besatzungsbehörden den notwendigen Respekt zu verschaffen und als kirchliche Amtsperson ernst genommen zu werden.181 1961 schrieb Dibelius rückblickend: Mit dem Titel „Generalsuperintendent“ ging es nun nicht mehr. Den verstand von den fremden Machthabern niemand. Die Russen wurden jedesmal mißtrauisch, wenn sie das Wort hörten. „General“ – das klang nach Militär! Ihnen gegenüber war ich in der ersten Zeit der „Metropolit von Berlin“. Aber dabei konnte es auf die Dauer nicht bleiben. […] Es mußte eine Amtsbezeichnung gewählt werden, die sie alle verstanden, die Russen, die Engländer, die Amerikaner. Die Kirchenleitung beschloß, daß ich mich „Bischof“ zu nennen hätte.182

Dibelius wusste, dass keineswegs alle Mitglieder seinen Vorstoß guthießen, aber er setzte sich – und das nicht nur in diesem Punkt – durch. Doch so gut Dibelius mit den Vertretern der Alliierten Kommandantur auch ausgekommen sein mag, andere Mitglieder der Kirchenleitung betrachteten die Verhältnisse zu den einzelnen Kommandanten durchaus differenzierter. Kurt Scharf, seit 1945 Propst und Leiter der Abteilung Brandenburg im Evangelischen Konsistorium in Berlin, machte demgegenüber geltend, dass es sehr wohl wichtig gewesen sei, zwischen den Personen und den Interessen ihrer Länder zu unterscheiden, da Sympathiebekundungen allein nicht genügt hätten, um Entscheidungen zu beeinflussen.183 Dem von Dibelius später geschilderten selbstbewussten Auftreten gegenüber den Besatzungsbehörden ging somit eine Zeit des vorsichtigen Beobachtens voraus, wobei sich herauskristallisierte, dass viele Entscheidungen spontan getroffen wurden.184 Ellen Ueberschär stellt in diesem Zusammenhang die berechtigte Frage, „ob angesichts fehlender Konzepte überhaupt von ‚Politik‘ gegenüber den Kirchen zu sprechen ist.“185 Die Mehrheit der kirchlichen Vertreter bewertete die Beziehungen zu den Besatzern in den ersten Nachkriegsmonaten jedenfalls positiv. Die Kirchen wurden zwar offiziell kontrolliert, konnten aber letztlich relativ frei agieren. Im Gegenzug erwarteten die Besatzungsbehörden von den Kirchen, dass sie beruhigend auf das öffentliche Leben einwirkten und Informationen an die Bevölkerung weitergaben. Zu diesem Zweck erlaubten die Besatzer etwa die Durchführung von Gottesdiens181 Jacob Kronika bezeichnete Dibelius bereits in seinen Tagebucheinträgen im Mai 1945 als Bischof. Es ist nicht zu ermitteln, ob diese Bezeichnung nachträglich und für die Veröffentlichung seines Tagebuches vorgenommen wurde. Vgl. Kronika: Der Untergang Berlins, S. 193. 182 Dibelius: Ein Christ, S. 210–211. 183 Vgl. Scharf: Brüchen und Breschen, S. 100–102. 184 Ellen Ueberschär thematisiert ebenfalls, dass es auf der Basis des vorhandenen Quellenmaterials schwierig ist, die kirchenpolitischen Ambitionen der Sowjetischen Militäradministration einzuschätzen. Vgl. Ueberschär: Junge Gemeinde, S. 60. 185 Ebenda, S. 62.

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ten und das Läuten der Glocken. Sie wollten signalisieren, dass sie die Arbeit der Kirchen zumindest nicht behinderten. Die sowjetischen Behörden hofften außerdem, dadurch die Vorbehalte in der deutschen Bevölkerung gegen ihre Besatzungsherrschaft abbauen zu können.186 Anfänglich ging diese Vorgehensweise auch auf. 1945 berichtete der Luckenwalder Superintendent Wackwitz dem Berliner Bischof Dibelius nach einem Gespräch mit dem russischen Stadtkommandanten: [Er] sprach sich dahin aus, dass die kirchliche Arbeit in vollem Umfange ihren ruhigen Fortgang nehmen sollte. So fanden in den 3 Kirchen der Stadt am Sonntag Rogate die ersten Gottesdienste statt. […] Der kirchliche Unterricht hat wieder begonnen, ebenso die Arbeit der Frauenhilfen, der kirchl. Vereine usw. […] Ich erhielt einen Passierschein fuer die Doerfer des Kirchenkreises. Ueber Schwierigkeiten oder Behinderungen der kirchlichen Arbeit habe ich nicht zu klagen.187

Ganz so reibungslos war das Verhältnis zu den Besatzungsbehörden aber nicht überall. Die evangelische Epiphanien-Gemeinde in Berlin-Charlottenburg beschwerte sich über die Inanspruchnahme ihrer Kirche durch englische Militärs, die dort ihre Gottesdienste feierten. Im selben Bericht wurden jedoch zugleich die Vorteile hervorgehoben, die sich durch den engen Kontakt zu den Engländern ergeben hatten. Keine andere Kirche in Charlottenburg war zu diesem Zeitpunkt so gut wieder hergerichtet wie die der Epiphanien-Gemeinde.188 Somit lässt sich für die evangelischen Gemeinden dasselbe konstatieren, was Christoph Kösters mit besonderem Fokus auf die sowjetischen Besatzungsbehörden bereits für die katholische Kirche beschrieben hat: Die Jahre zwischen 1945 und 1949 stellten eine Zeit dar, in der die „Besatzungsherrschaft […] den Kirchen gewisse Spielräume beließ. “189 Einem kirchenpolitischen Strategen wie Otto Dibelius, der klare Vorstellungen davon hatte, wie er diese Spielräume nutzen wollte und wie eine künftige kirchliche Verwaltung aufgebaut sein sollte, konnte das nur recht sein. Es ging ihm nicht allein darum, die evangelische Kirche so schnell als irgend möglich wieder handlungsfähig zu machen, er wollte sie gleichsam fest in der deutschen Nachkriegsgesellschaft und -politik verankern.190 Dibelius sah vor, die kirchliche Administration 186 Vgl. Seidel: Neubeginn, S. 68–83. Siehe auch: Knauft: Gelebter Glaube, S. 100. 187 Superintendent Wackwitz an den Generalsuperintendenten Luckenwalde D. Dr. Dibelius 31.5.1945. ELAB 35/19763. Vgl. auch: Bericht über die gegenwärtigen Zustände im Kirchenkreise 29.5.1945. ELAB 35/7539. 188 Bericht über Kirchenvisitation der Epiphanien-Gemeinde 1948. ELAB 1.2/5089. 189 Kösters, Christoph: Sozialistische Gesellschaft und konfessionelle Minderheit in der DDR, in: Hummel, Karl-Joseph (Hrsg.): Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deutungen, Fragen. Eine Zwischenbilanz, Paderborn u. a. 2004, S. 134. 190 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 35–36.

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nach dem Vorbild kirchlicher Institutionen der Weimarer Republik wieder aufzubauen. Zunächst bemühte er sich, die Macht des Konsistoriums zu stärken und dieses mit Verwaltungsaufgaben zu betreuen. Erst danach sollte wieder eine Kirchenleitung tätig werden, die als „halb synodal und halb konsistoriales Organ, […] nicht verwalten, sondern allgemeine Richtlinien geben sollte.“191 Mindestens zwei Gründe sprachen aus Dibelius’ Sicht für dieses Vorgehen. Zum einen war es schlicht leichter, das Konsistorium nach Kriegsende personell neu zu besetzen und Leute auf Posten zu platzieren, von denen Dibelius wusste, dass sie neue Rechtsordnungen zügig auf den Weg bringen würden. Zum anderen handelte es sich bei der Synode um ein gewähltes Gremium: Es war also schwieriger, Einfluss auf ihre personelle Zusammensetzung zu nehmen und Konsensentscheidungen unter den Synodalen herbeizuführen. Weiterhin gehörten der Synode Deutsche Christen an, was die Sache ebenfalls verkomplizierte. Aber nicht nur mit diesen wollte Dibelius zumindest offiziell nichts zu tun haben, konsequent distanzierte er sich auch von jenen Stimmen, die eine stärkere Einbeziehung der während des Nationalsozialismus informell tätigen Bruderräte der Bekennenden Kirche forderten und alte Organisationsformen durchbrechen wollten.192 Der Berliner Bischof war vielmehr der Ansicht, dass sich egalitäre Strukturen nicht zur Verwaltung einer ganzen Kirchenprovinz eigneten, sondern es starker Hierarchien bedürfe, um Reformvorhaben umzusetzen.193 Dem unbelasteten Selbstverständnis der katholischen Kirche entsprechend erschien dem Berliner Episkopat eine Strukturreform genauso wie eine Neuausrichtung der eigenen Kirchenpolitik nicht notwendig.194 „Man hatte der NS-Diktatur erfolgreich getrotzt. Auf der Basis dieser Gründungslegende startete der politische Katholizismus nach 1945 voller Selbstbewusstsein.“195 Die katholische Amtskirche profitierte sogar unbeabsichtigt von der Zerschlagung einiger kirchlicher Organisationen in der Zeit des Nationalsozialismus, denn nun musste man sich nicht mehr mit mächtigen katholischen Laienverbänden auseinandersetzen.196 Basierend auf solchen Einstellungen „war ein religiös-geistlicher Neustart in beiden christlichen Konfessionen damit nicht verbunden. […] Die ‚Männer der letzten Stunde‘ vor dem Verbot der Organisationen 1933 waren nach dem Krieg auch die ‚Männer der ersten Stunde‘.“197

191 192 193 194 195 196 197

Dibelius: Ein Christ, S. 209. Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 82. Vgl. Dibelius: Ein Christ, S. 207–208. Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 22. Siehe auch: Pollack: Funktionen, S. 72. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 45. Vgl. Ebenda, S. 83. Ebenda, S. 84 und S. 88.

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Einigkeit bestand bei allen Kirchenleitenden letztlich darin, den Fokus auf die Gegenwart und Zukunft zu richten. Diskussionen über die inhaltliche Ausrichtung der evangelischen Kirchen in Nachkriegsdeutschland gehörten schon bald zur Tagesordnung und auch innerhalb der Bekennenden Kirche bildeten sich nun verschiedene Lager heraus. Der neue Berliner Bischof Dibelius hatte daran erheblichen Anteil. Es verwundert deshalb nicht, dass er sich rückblickend, 1961, mit harten Worten von der Bekennenden Kirche distanzierte und die Reformgedanken von Theologen wie Martin Niemöller angriff: Es war [in den Nachkriegsjahren] nur so zu machen, daß auf die bestehenden Rechtsformen aufgebaut wurde. Das war nun freilich ganz und gar nicht nach dem Sinn meiner jungen Freunde von der Bekennenden Kirche. Sie hatten nie erlebt, was es um eine ordentliche und rechtschaffende Kirchenbehörde ist. Für sie war ein Konsistorium der Inbegriff der Charakterlosigkeit und der Verkalkung. Es war „alte Kirche“. […] Die Bekennende Kirche hatte niemals kennengelernt, was es um die Verwaltung eines ganzen Kirchenwesens ist.198

Was Dibelius im Jahr des Mauerbaus mit unmissverständlicher Deutlichkeit formulierte, hatte er seit 1945 mit Taten unter Beweis gestellt. Er setzte kontinuierlich alles daran, seinen Machtbereich zu vergrößern und die Befugnisse der kirchenleitenden Organe in Berlin beständig zu erweitern.199 Als „Verfechter einer episkopalen Kirchenleitung“, wie Seidel seinen hierarchischen Führungsstil treffend charakterisiert, setzte sich Dibelius – der in Martin Niemöller zumindest kurzzeitig einen ernstzunehmenden Kontrahenten sah – als erster Mann an die Spitze der evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg.200 Und nicht nur das, er sorgte dafür, dass sein Amt zu einem zentralen Scharnier zwischen Ost und West wurde. An ihm kam niemand vorbei. Schon vor Kriegsende war Dibelius gut vernetzt. Nun baute er dieses Netzwerk weiter aus und zwar auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene.201 Dibelius verstand es, unterschiedliche Kräfte um sich zu sammeln. Er hatte rasch begriffen, dass es zu unsicher war, sich allein auf die Zustimmung der Pfarrer der Bekennenden Kirche zu verlassen, weshalb sich der Bischof ebenso um den Rückhalt der sogenannten Ost-Pfarrer bemühte, einer Kategorie von Geistli198 Dibelius: Ein Christ, 207–208. 199 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 774. 200 Seidel: Neubeginn, S. 203. Vgl. Ziemann, Benjamin: Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition, München 2019, S. 368–372. 201 Dass Dibelius derart gut vernetzt war und unter anderem auch enge Kontakte in die USA unterhielt, missfiel den jungen DDR-Behörden, die ihn als ‚Kriegshetzer‘ zu verunglimpfen versuchten. Denn während der Bischof internationale Allianzen schmiedete, entzog er sich geschickt ihrem Einflussbereich. Vgl. Dulles-Dibelius-Frings, in: Berliner Zeitung 1.8.1950, S. 2. Vgl. Bischof D. Dr. Dibelius antwortet, in: Die Kirche 6.8.1950, S. 1.

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chen, bei der nicht die Gesinnung, sondern ihre Herkunft im Vordergrund stand und die, nachdem ihnen die Amtsausübung in den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Grenze untersagt worden war, in ganz besonderem Maße von der Kirchenleitung abhängig waren.202 Diese Pfarrer wollte Dibelius integrieren und als Unterstützer für sein Programm gewinnen. Ein schneller institutioneller Wiederaufbau erschien dafür unerlässlich.203 Die erste, wenn auch noch nicht reguläre Synode der Kirche von Berlin-Brandenburg fand bereits vom 29. bis 31. Juli 1945 in Spandau statt. Dort wurde über die Neuordnung der Kirche und ihre Leitung beraten. Zur ersten rechtmäßigen Sitzung fanden sich die Synodalen dann ein Jahr später ein. Inhaltlich wurden vor allem organisatorische Fragen erörtert, die das Leben in den Gemeinden sowie die kirchlichen Gebietsveränderungen betrafen und bestimmte Akteure wie Pfarrer, Eltern oder Lehrende in den Fokus rückten. An dieser Synode nahm auch Martin Niemöller teil, der sich kurz danach aber endgültig aus Berlin und Brandenburg zurückzog und Otto Dibelius damit freie Bahn ließ.204 Dibelius fuhr bei seiner Kirchenpolitik von Beginn an zweigleisig. Er betonte zwar immer wieder die Einheit der evangelischen Kirchen in Deutschland, gleichzeitig galt diese aber nicht bis ins letzte Detail. Dibelius versuchte sich vielmehr nach mehreren Seiten abzusichern und tat dies, indem er den Sonderstatus seiner Bischofsstadt Berlin herausstellte. Das gelang ihm in mehrfacher Hinsicht. Als einziges Ratsmitglied der neugegründeten EKD, dessen Amtssitz in der SBZ lag, verstand es Dibelius, sich als das Sprachrohr Ostdeutschlands zu positionieren.205 Gleichzeitig leitete er – noch vor der Gründung der Bundesrepublik und der DDR – die Zusammensetzung eigener Ost-Gremien an. Dadurch wurde die Position der ostdeutschen Kirchen in der EKD einerseits gestärkt – sie traten in der Regel einstimmig auf. Andererseits bedeutete die Schaffung eigener Organisationsstrukturen letztlich auch eine größere institutionelle Unabhängigkeit von den Kirchen in den westlichen Besatzungszonen, die kirchenintern für Erklärungsbedarf sorgte. Eine Institution, deren Gründung gleichermaßen einen Stabilitäts- wie Trennungsmoment kennzeichnete, war die Kirchliche Ostkonferenz (KOK), die 1945 erstmalig zusammentrat und bis 1949 existierte. Als Äquivalent dazu wurde in der katholischen Kirche die Berliner Ordinarienkonferenz gegründet, die 1950 von Rom approbiert wurde.206 In der KOK, so berichtete die evangelische Wochenzei202 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 780–781. 203 Vgl. Dibelius: Ein Christ, S. 208–210. 204 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 775–776. 205 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 37. 206 Vgl. Höllen, Martin: Loyale Distanz? Katholizismus und Kirchenpolitik in SBZ und DDR. Ein historischer Überblick in Dokumenten, Band 1, Berlin 1994, S. 81–82.

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tung Berlins über eine Sitzung des Gremiums im Frühjahr 1949, „werde sichtbar, daß das Bedürfnis nach einheitlichem Vorgehen immer stärker wird und daß die brüderliche Geschlossenheit in der die Ostkirchen miteinander verbunden sind, trotz der mancherlei Schwierigkeiten erfreuliche Früchte trägt.“207 Der KOK gehörten „vor allem die leitenden Geistlichen und leitenden Juristen der evangelischen Landeskirchen in der SBZ an.“208 Die Teilnehmer diskutierten akute Probleme und tauschten sich über ihre Erfahrungen mit der Besatzungsmacht aus. Neben der Entnazifizierung, die auf dem Papier einen hohen Dringlichkeitswert hatte, was sich in der Praxis wie erläutert nur bedingt widerspiegelte, standen Themen wie die „Fortführung der kirchlichen Männer-, Frauen-, Jugend- und Wohlfahrtsarbeit, [die] schwierige Finanzlage, die Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen [oder] die Stellung der Pfarrer zu politischen Parteien“ im Zentrum der Beratungen.209 Die Agenda der KOK unterschied sich zunächst nicht wesentlich von jener der westdeutschen Kirchen: Hier wie dort beabsichtigten kirchenleitende Personen die „Gestalt des neuen Gemeinwesens“ mitzubestimmen.210 So sehr die Gründung des Gremiums also eine frühzeitige Teilung der evangelischen Kirche in Ost und West suggerierte, in allen Besatzungszonen wurden zu diesem Zeitpunkt noch ganz ähnliche Probleme verhandelt.211 Allerdings war die schlechte Informationssituation in Ostdeutschland eine spezifisch andere, weshalb die KOK vor allem in ihren Anfangsjahren als Informationsmedium zu betrachten ist, das zonenübergreifende Entscheidungen und Richtungsweisungen kommunizieren konnte. Einerseits wurde auf diese Weise der Anschluss der ostdeutschen Landeskirchen an die westdeutschen gewährleistet, andererseits konnten sich die Kirchenleitungen Ostdeutschlands so mehr Gehör in der gesamtdeutschen EKD verschaffen. Und nicht nur das, mit der KOK war ein Organ geschaffen worden, mit dem die evangelischen Kirchen im Osten geschlossen gegenüber den dortigen Behörden auftreten konnten. Was bei ihrer Gründung jedoch allenfalls zu erahnen gewesen war: 1949 musste die KOK verstärkt auf die zunehmenden Spaltungsversuche der Sozialistischen Einheitspartei (SED) reagieren, die sich negativ auf die gesamtdeutsche innerkirchliche Kommunikation auswirkten.212 Doch weil sich die KOK schon in den Vorjahren als Institution etabliert hatte und erprobt darin war, ein persönlich wie

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Die ostdeutschen Bischöfe zum Frieden, in: Die Die Protokolle der Kirchlichen Ostkonferenz, S. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 40. Die Protokolle der Kirchlichen Ostkonferenz, S. Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 41. Die Protokolle der Kirchlichen Ostkonferenz, S.

Kirche 17.4.1949, S. 3. 7. 12. 16–18.

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räumlich distanziertes Verhältnis zur EKD trotzdem aufrechtzuerhalten, blieben die ostdeutschen Landeskirchen auch im Verbund weiterhin handlungsfähig.213 Die Entwicklungen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren deuteten somit noch nicht zwangsläufig auf eine tiefergehende Trennung der Kirchen in Deutschland hin. Zwar offenbarten sich erste Unterschiede zwischen Ost und West im kirchlichen Alltag, doch lassen sich zeitgleich genauso schwerwiegende, teilweise tradierte Differenzen zwischen Stadt- und Landgemeinden oder den liturgischen Praktiken der Vertriebenen und der christlichen Bestandsbevölkerung ausmachen. Ebenso bemühte sich die katholische Diözese Berlin, ihre institutionelle Geschlossenheit nach außen zu tragen. Das gelang ihr insofern leichter, als „die katholische Kirche im Grunde die einzige nationale bzw. supranationale Großorganisation darstellte, die ihren institutionellen Apparat über den 8. Mai 1945 hinaus in die Zusammenbruchsgesellschaft retten konnte.“214 Klaus Große Kracht meint damit, dass die Flügelkämpfe, die die evangelischen Kirchen innerkirchlich so sehr beschäftigten, in der katholischem Kirche nicht stattfanden und sie sich folglich besser oder in einem größeren Umfang der deutschen Nachkriegsgesellschaft – die eine christliche sein sollte – zuwenden konnte.215 Der katholische Bischof Preysing setzte sich auch nach Kriegsende weiterhin unermüdlich für Religionsfreiheit und die Einhaltung der Menschenrechte ein. Zudem versuchte er die „Hierarchie in der Führungsebene“ zu festigen, weil er der Überzeugung war, dass „die autoritäre Stellung des Berliner Bischofs ein Auseinanderdividieren der einzelnen Jurisdiktionsbezirke verhindern“ könne:216 Von Preysing ging es darum, in Zeiten, die viele Kirchenmitglieder als chaotisch und unsicher wahrnahmen, Sicherheit und Stabilität zu vermitteln. Der Papst bestätigte seinen Kurs. 1946 wurde Preysing in das Kardinalskollegium aufgenommen, womit der Pontifex sozusagen ganz nebenbei die wichtige Bedeutung Berlins im sich bereits abzeichnenden Kalten Krieg unterstrich.217 Auch bezüglich einer drohenden Teilung Deutschlands und der Stadt Berlin positionierte sich der katholische Bischof eindeutig. Er trat für die Einheit des Landes ein und schloss eine Teilung seines Bistums von Beginn an aus. Darüber hinaus verbat er sich jegliche Einmischungsversuche in seinen Amtsbereich.218 Seine Erfahrungen im Nationalsozialismus hatten ihn Kompromisslosigkeit gelehrt: Im 213 214 215 216 217 S. 1. 218 S. 3.

Ebenda, S. 24. Große Kracht: Die Stunde der Laien?, S. 287. Vgl. ebenda. Ehm, Martin: Die kleine Herde, S. 60. Vgl. Die Bedeutung des Kardinalamts für Diözese und Stadt Berlin, in: Petrusblatt 13.1.1946, Vgl. Die Freiheit der Kirche. Ansprache des Bischofs von Berlin, in: Petrusblatt 10.11.1946,

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Umgang mit den Besatzungsbehörden und den (wieder-) erstarkenden Parteien blieb von Preysing hart. Schon gar nicht ließ er sich auf die Forderungen der sowjetischen Militäradministration ein. Von seinem Diözesanklerus erwartete der Bischof die gleiche Entschiedenheit. In einer als Preysing-Erlass bekannt gewordenen Erklärung ermahnte der Bischof im Dezember 1947 die Priester seiner Diözese, von Kommentaren zu politischen Entwicklungen der Zeit abzusehen. Nur „die Gesamtheit der Bischöfe Deutschlands ist berechtigt, Erklärungen zu Zeitfragen im Namen der katholischen Kirche Deutschlands abzugeben,“ stellte er unmissverständlich klar.219 Die Priester sollten sich auf ihr seelsorgerliches Kerngeschäft konzentrieren, unabhängig von den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die um sie herum geschahen. Während der Episkopat die Geschlossenheit der Institution Kirche nach außen kommunizierte, begann innerhalb der katholischen Gemeinschaft eine schwelende Kontroverse über die handelnden Akteure und ihre Rollen in der Nachkriegszeit. Denn die Bischöfe optierten nicht nur gegen ein politisches Engagement ihrer Priester, sondern beargwöhnten auch den wieder erstarkenden Laienkatholizismus und die damit einhergehende Gründung regionaler und überregionaler Vereine und Verbände, die ihren Führungsanspruch in Frage zu stellen drohten.220 So offenbarten sich zum Beispiel hinsichtlich der Verhandlungsstrategien Diskrepanzen: War es ratsam, sich gegenüber der sowjetischen Militäradministration zu verweigern? Sollte man nicht besser zusammenarbeiten?221 Auf diese offenen Fragen reagierten evangelische wie katholische Kirchenleitungen in ähnlicher Weise: Sie vertagten sie und sorgten damit für Beruhigung. Dem Zeitgeist entsprechend setzten sie auf den Primat des Handelns und umgingen auf diese Weise inhaltliche Diskussionen.

Der Kampf um die Jugend: kirchlicher Einfluss auf Bildungspolitik und Freizeitgestaltung Wichtiger noch als die Auseinandersetzung mit altbekannten Ordnungsvorstellungen erschien den Berliner Kirchenleitungen die gezielte und öffentlichkeitswirksame Besetzung einzelner Handlungsfelder. Die Gründung konfessioneller Schulen und das Beharren der Kirchen darauf, an allen staatlichen Schulen Religionsunter-

219 Betrifft: Erklärungen im Namen der katholischen Kirche, in: Amtsblatt des Bischöflichen Ordinariats Berlin 1.1.1948, S. 1. 220 Vgl. Große Kracht: Die Stunde, S. 292–293. 221 Vgl. Adolph, Walter: Sie sind nicht vergessen. Gestalten aus der jüngsten deutschen Kirchengeschichte, Berlin 1972, S. 166.

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richt abzuhalten, sind als Teil dieser Strategie zu verstehen. Sie zielte darauf ab, sich (wieder) einen Platz in der Mitte der Gesellschaft zu sichern und nicht an deren Rändern ein Schattendasein zu fristen.222 Die engagierte (Wieder-) Gründung von Studentengemeinden, der Aufbau kirchlicher Akademien oder die Veranstaltung überregionaler konfessioneller Feste gehörten ebenfalls zu dieser Politik, mit der die Kirchen Menschen langfristig an sich binden wollten.223 Der evangelische Bischof Dibelius formulierte weit reichende Ansprüche: Die Kirchen sollten nicht nur Einfluss auf die schulische Laufbahn oder die Freizeitgestaltung der Menschen nehmen, sondern ebenso ihr sittliches Verhalten prägen und ihren Wertekanon bestimmen.224 Damit rückte in der deutschen Nachkriegsgesellschaft neben den Vertriebenen eine weitere Gruppe in den Fokus, die besonders umworben wurde: Jugendliche. Im Wettbewerb mit den Kirchen standen vor allem politische Organisationen und das nicht nur in Ost-Berlin und der SBZ/DDR. Sie alle versuchten, junge Menschen für ihre Sache zu gewinnen, sie zu beeinflussen und zu instrumentalisieren. Mit Blick auf die Quellen ist es deshalb unbedingt notwendig, zwischen denen zu unterscheiden, die über die Jugendlichen verhandelten und meinten für sie Entscheidungen treffen zu können, und den jungen Menschen selbst, die sich oftmals keineswegs so eindeutig positionierten wie es etwa amtskirchliche oder kommunistische Quellen glauben machen wollen. Gemein war kirchlichen wie politischen Akteuren, dass sie oft vergaßen, inwieweit auch Kinder und Jugendliche unter den Kriegsfolgen litten, weil sie Gewalt- und Verlusterfahrungen gemacht hatten. Stattdessen galten sie in weiten Teilen der Bevölkerung – so sie als Jugendliche nicht zum sogenannten Volkssturm eingezogen worden waren – quasi nicht als direkt betroffen. Aus der Perspektive der meisten Erwachsenen ergab sich daher keine Notwendigkeit, sich mit ihren Kriegserlebnissen gesondert zu beschäftigen. Die Organisation des täglichen Überlebens und Wiederaufbaus erlaube – so der Grundtenor – ohnehin keine umfassende Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit. Überhaupt schien eine psychologische Aufarbeitung der Erlebnisse der in allen vier Besatzungszonen propagierten Aufbaumentalität nicht zuträglich. Junge Menschen sollten weder Opfer sein noch (moralische) Schwächen zeigen. Die in den frühen Nachkriegsjahren steigende Jugendkriminalität empörte die erwachsene Bevölkerung deshalb sehr. Vermeintlich destruktives oder passives Verhalten wurde öffentlich diskreditiert.225 Das hatte auch etwas mit den Gründen zu tun, aus denen sich die 222 223 224 225

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Pollack: Funktionen, S. 72–73. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 47. Siehe auch: Rathke: Wohin? S. 26–27. Pollack: Funktionen von Religion, S. 74. Siehe auch: Seidel: Neubeginn, S. 97. Ueberschär: Junge Gemeinde, S. 45–46.

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(wieder)formierenden gesellschaftlichen Kräfte für die Jugendlichen interessierten: Sie galten als politisch unverdächtig. Personen, die zu jung gewesen waren, um in der Wehrmacht zu kämpfen oder NSDAP-Mitglieder zu sein, schienen besonders prädestiniert, um – zumindest symbolisch oder einfach alibimäßig – eine neue Zeit einzuleiten und die Idee von einer Stunde Null zu popularisieren. Junge Menschen sollten nach vorne blicken und nicht zurückschauen. Dabei blieben die eigentlichen Inhalte und Entscheidungen freilich meist denen überlassen, die ihre (kirchen-)politischen Ambitionen bereits vor 1933 entwickelt hatten.226 Das gilt für Konrad Adenauer genauso wie für Otto Dibelius oder Walter Ulbricht. Sie alle konkurrierten gleichermaßen um die junge Generation sowie deren potenzielle Unterstützung und investierten deshalb in entsprechende Bildungs- und Freizeitangebote. In Berlin wurde aus diesem Anlass, angeleitet von der sowjetischen Militäradministration, im Sommer 1945 ein Zentraler Jugendausschuss gebildet, der es sich bei seiner Gründung zum Ziel setzte, antifaschistische Gruppen und Parteien in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) zu vereinen, um gemeinsame Angebote für Jugendliche zu entwickeln. Dazu zählten soziale Projekte wie die Schaffung von Treffpunkten für Gleichaltrige oder die Organisation von Arbeitseinsätzen zur Beseitigung von Trümmern. Neben Mitgliedern der KPD und SPD gehörten Vertreter der Kirchen sowie bürgerlicher Parteien zum Ausschuss. Obwohl Bevollmächtigte linker Bewegungen das Gremium bald dominierten, unterzeichneten auch die Mitglieder der CDU, der Liberaldemokratischen Partei (LDP) und der Kirchen am 26. Februar 1946 den Gründungsaufruf für die FDJ. Kurze Zeit später war eine gemeinsame Jugendarbeit jedoch bereits Makulatur. Tatsächlich entwickelte sich die bald ausschließlich kommunistisch orientierte FDJ zu einem erfolgreichen Kontrahenten der Kirchen im Kampf um die Jugendlichen; und während die sowjetische Militärverwaltung die FDJ unterstützte, ging sie gegen eine eigenständige und offene Jugendarbeit in den Kirchen umso restriktiver vor:227 Alle kirchlichen Versuche, Jugendliche über die eigentliche Gemeindearbeit hinaus zu aktivieren, mussten im Rahmen antifaschistischer Jugendkomitees stattfinden, andernfalls wurden sie verboten und die Kirchen damit weiter in den religiösen Kultbereich zurückgedrängt.228 226 Vgl. Kleßmann, Christoph: „Das Haus wurde gebaut aus Steinen, die vorhanden waren“ – zur kulturgeschichtlichen Kontinuitätsdiskussion nach 1945, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 19 (1990), S. 159–177. 227 Vgl. Gotschlich, Helga: Ein hoffnungsvoller Anfang. Jugendbewegung in der SBZ 1945–1946, in: Dähn, Horst/Gotschlich, Helga (Hrsg.): „Und führe uns nicht in Versuchung…“ Jugend im Spannungsfeld von Staat und Kirche in der SBZ/DDR 1945–1989, Berlin 1998, S. 12–23. 228 Vgl. Schaffung antifaschistischer Jugendkomitees, in: Berliner Zeitung 31.7.1945, S. 1. Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 42–43. Siehe auch: Ueberschär: Junge Gemeinde, S. 62–63.

74  Kapitel 1: Kein Neuanfang

Nichtsdestotrotz blieben Spielräume, die die Kirchen zu nutzen wussten. Als vom 8. bis zum 10. Juni 1946 das erste Parlament der FDJ in Brandenburg (Havel) zusammenkam, wurden am frühen Morgen des 9. Juni sowohl in der evangelischen St. Gotthard Kirche als auch in der Kapelle des katholischen St. Marien Krankenhauses Jugendgottesdienste gehalten, in denen sich zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Parlaments einfanden. „Der Jugendpfarrer Alfred Schröder verlas unter lebhaftem Beifall der Delegierten einen Gruß des Berliner Bischofs Dibelius: ‚Zum Pfingstsonntag grüße ich das erste Parlament der FDJ und wünsche ihm ertragreiche Arbeit zum Wohle unserer durch die hinter uns liegende Notzeit so schwer geschlagenen Jugend.‘“229 Die Kirchen mochten sich im Hinblick auf den Charakter der FDJ getäuscht haben, nun aber versuchten sie deren eigenen Anspruch, überparteilich zu sein, als Lüge zu enttarnen. Indem Dibelius und Schröder die Jugendlichen gezielt auf ihre FDJ- und gleichzeitigen Kirchenmitgliedschaften hinwiesen, machten sie sie auf Widersprüche aufmerksam, die sie – wenn schon nicht in Frage stellen – doch aushalten mussten. Obschon der Verlauf dieser Geschichte also bekannt ist und eindeutig erscheint – am Anfang war vieles noch offen – und Dibelius, Schröder, die Delegierten des FDJ-Parlaments oder die Sowjetische Militäradministration in Deutschland wussten nicht oder konnten sich zumindest nicht sicher sein, wer letztlich die Deutungshoheit erlangen würde. Denn solange etwa der Pfarrer im Dorf noch als Autoritätsperson angesehen wurde, waren die lokalen Herrschaftsverhältnisse nicht endgültig geklärt. Für viele Jugendliche scheint es 1946 jedenfalls kein Problem gewesen zu sein, erst zum Gottesdienst und später zur Tagung des FDJ-Parlaments zu gehen. Die Identitätssuche der Jugendlichen war zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht durch die strikte Abgrenzung vom Anderen – dem sozialistischen oder religiösen Anderen – geprägt. Schon bevor die Kirchen endgültig realisierten, dass eine Zusammenarbeit zwischen ihnen und linken Gruppierungen im Jugendbereich nicht gelingen würde, konzentrierten sie sich verstärkt auf traditionelle Ansätze kirchlicher Jugendarbeit.230 Institutionell knüpfte das Bistum Berlin mit dem Wiederaufbau katholischer Jugendverbände unter dem Banner der Deutschen Katholischen Jugend an die Vorkriegszeit an. Die Diözese verfolgte dabei zwei konkrete Ansätze: Zum einen versuchte sie die Zahl der religiösen Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche wieder zu erhöhen und die Jugendseelsorge auszubauen. Zum anderen bemühte sich der Episkopat verstärkt, die Eltern in die Jugendarbeit einzubeziehen. Von Preysing erinnerte sie an ihre wichtige Vorbildfunktion. Er sah vor, dass sich Kirche und Eltern die Aufgabe teilten, religiöses Wissen im privaten und im kirch229 Gotschlich: Ein hoffnungsvoller Anfang, S. 24. 230 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 45–47.

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lichen Bereich zu vermitteln. Somit setzte die katholische Kirchenleitung in Berlin von Beginn darauf, sich bei der religiösen Unterweisung von Kindern und Jugendlichen von staatlichen Institutionen unabhängig zu machen. Gleichzeitig verbat sich der Bischof jegliche Einmischungsversuche in diese Bildungspolitik seitens der Politik und unterstrich diese Forderung indem er auf die „von den Siegermächten zugesicherte Freiheit der kirchlichen Arbeit“ hinwies.231 Die evangelische Kirche war derweil schon einen Schritt weiter. Anstatt von der Evangelischen Jugend Deutschlands (EJD) zu sprechen, worunter die evangelische Jugendarbeit in den drei westlichen Besatzungszonen zusammengefasst wurde, wählte sie in der SBZ die Bezeichnung Junge Gemeinde und hoffte, damit die Hinwendung zu innerkirchlichen Inhalten im Bereich der Jugendarbeit hervorheben und politischen Eingriffen zuvorkommen zu können. Über ihr Symbol – das Kreuz auf der Weltkugel – verbunden, unterschied sich die Arbeit der Jugendwerke in Ost und West fortan aber nicht nur durch den Namen. Zwar setzten sich EJD und Junge Gemeinde hier wie dort – auch hinter verschlossenen Türen – mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander, aber während in West-Berlin die Grenzen zwischen den Sphären offen blieben und sogar verwischten, musste die Junge Gemeinde in Ost-Berlin und Brandenburg schon ab 1946, verstärkt seit Beginn der 1950er-Jahre, mit Konsequenzen rechnen, wenn sie sich nach außen nicht besatzungs- beziehungsweise staatspolitisch konform verhielt.232 Denn gerade weil die junge DDR-Regierung in den Kirchen weiterhin Konkurrenten im Wettstreit um die Jugendlichen sah, ging sie besonders hart gegen Gruppen vor, in denen sich diese alternativ organisierten. Vor allem war den staatlichen Behörden daran gelegen, die Sichtbarkeit der Gruppierung in der Öffentlichkeit einzuschränken. Das hinderte die Junge Gemeinde aber nicht daran, immer wieder aus dem kirchlichen Raum auszubrechen. Bei einer im Mai 1949 veranstalteten Jugendevangelisation im Kirchenkreis Oberspree, an der mehr als 600 Personen teilnahmen, trafen kirchliche Jugend und Mitglieder der FDJ erneut aufeinander. Dabei fällt auf, dass die Superintendentur des Kirchenkreises die bei dieser Zusammenkunft geführten Diskussionen rückblickend zwar als kontrovers, nicht aber als problematisch oder gar gefährlich für die Kirche einschätzte. Vertreter der FDJ und Mitglieder der Jungen Gemeinde wurden vielmehr als gleichberechtigte Dialogpartner beschrieben: Auch Vertreter der FDJ erschienen zu den [Evangelisations-]Abenden. Sie beteiligten sich an den Aussprachen, die mit grosser Leidenschaft und Schärfe geführt wurden, jedoch immer in einer würdigen Form, sodass es nirgends einen Missklang gegeben hat. Bei dieser Jugend231 Hirtenwort des Bischofs von Berlin zur kirchlichen Jugendarbeit Pfingsten 1946. DAB V/16–72, abgedruckt bei: Lange, Gerhard/Pruß, Ursula: An der Nahtstelle der Systeme. Dokumente und Texte aus dem Bistum Berlin, 1. Halbband 1945–1961, Leipzig 1996, S. 19. 232 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 46–47.

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evangelisation ist die „Junge Gemeinde“, die es in diesem Kirchenkreis in steigendem Masse gibt, erstmalig aus dem Ghetto des kirchlichen Lebens ausgebrochen. […] Und diese Jugendlichen standen nun plötzlich anderen Jugendlichen gegenüber, die in einer völlig entgegengesetzten geistigen Luft leben. […] Wo ist es in der kirchlichen Arbeit sonst möglich gewesen, mit dem, was wir Welt nennen, politische Welt, ins Gespräch zu kommen. In der Jugendevangelisation konnte man endlich einmal beim Neubau der Kirche etwas von frischer Farbe riechen.233

Diese Art einer an Aufbruch und Austausch gleichermaßen interessierten Jugend war nicht im Interesse der SED. Infolgedessen bemühte sie sich noch entschiedener, die kirchliche Jugend in den innerkirchlichen Raum zurückzudrängen und die Unterschiede zwischen kirchlicher und kommunistischer Jugendarbeit zu betonen. Nicht nur die Kirchenleitungen sollten begreifen, dass es kein Miteinander geben würde, ebenso galt es, die Jugendlichen selbst auf die Unterschiede zwischen kirchlichen und politischen, religiösen und ideologischen Ansätzen hinzuweisen und die Vorzüge einer FDJ-Mitgliedschaft im Gegensatz zu einem Engagement in der Jungen Gemeinde zu unterstreichen. Deshalb setzte die Polizei auf dem Kirchentag der Jungen Gemeinde 1952 auch alles daran, die Veranstaltung „praktisch auf das Innere der Kirchengebäude zu begrenzen“. 234 Offiziell begründete sie ihr Vorgehen damit, dass es sich bei der Jungen Gemeinde um eine illegale Organisation handele. Als Veranstalter des Kirchentages könne hingegen allein die evangelische Kirche auftreten und diese habe keine Veranstaltung angemeldet. Eine Fortsetzung des Kirchentages würde, wenn überhaupt, nur in kirchlichen Gebäuden geduldet, erklärten die einsatzleitenden Polizisten und verwiesen die anwesenden Jugendlichen auf den Kirchhof.235 Dieser gerade in den ersten Jahren nach der Gründung der DDR dauerhaft erhöhte Druck von außen schweißte die Junge Gemeinde meist nur noch stärker zusammen. Hinzu kam, dass die staatliche Führung Kontakte zwischen FDJ-Mitgliedern und der Jungen Gemeinde generell kritisch kommentierte, was oftmals nicht den Erfahrungen vor Ort entsprach. Beides führte dazu, dass sich viele junge Menschen erst recht zur Jungen Gemeinde bekannten. Der Generalsuperintendent der Kurmark, Walter Braun, schrieb 1953 an den Kreiskirchenrat in Luckenwalde: „Mit tiefer Bewegung haben wir gesehen, wie die Junge Gemeinde trotz aller Anfeindungen ihren Herrn Jesus Christus bekennt, sich in der Gemeinde um das Wort Gottes schart und zur Mitarbeit bereit ist.“236 Bereits drei Jahre zuvor hatte der Berliner Propst Heinrich Grüber den Jugendlichen vor 233 Ephoralbericht Juni 1949. ELAB 86/53. 234 Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 37. 235 Vgl. ebenda, S. 37. 236 Generalsuperintendent der Kurmark an den Kreiskirchenrat Luckenwalde 1953. ELAB 35/ 19763.

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dem Hintergrund des beginnenden Kalten Kriegs geraten: „Laßt euch nicht zur Partisanenarbeit, auch nicht im Kalten Krieg, mißbrauchen.“237 Um den Frieden zu bewahren, so Grüber weiter, dürften sich die Jugendlichen nicht politisch vereinnahmen lassen und zu Handlangern der Kriegsparteien werden. Er klagte in diesem Zusammenhang auch die gewaltsame Teilung der Stadt Berlin an und erinnerte die Kirchenmitglieder daran, dass „hüben und drüben dieselben Berliner Jungen, die einmal auf derselben Schulbank gesessen und im selben Fußballklub gespielt haben“ gegeneinander aufgehetzt würden. 238 Sie sollten sich von den politischen Entwicklungen nicht irreführen lassen und als christliche Gemeinschaft geschlossen auftreten: Junge und Alte in Ost und West. Innerkirchlich fand Grübers Kurs aber keineswegs nur Befürworter. Denn das widerständige Verhalten der Jungen Gemeinde war für viele Pfarrer mehr als nur unbequem – es konnte sie ernstlich in Bedrängnis bringen, gleich ob sie inhaltlich hinter den Jugendlichen standen oder nicht. Bei der Suche nach Verantwortlichen unterschieden die DDR-Behörden nicht zwischen den Jugendlichen und ihren Pfarrern und versuchten auf diese Weise – teilweise mit Erfolg – die Generationen gegeneinander auszuspielen. Einer der Luckenwalder Pfarrer kritisierte dementsprechend, die Junge Gemeinde habe ein „falsches Verständnis von ‚politischer Verantwortung‘“.239 Solche Bedenken aus den eigenen Reihen hinderten die evangelische Kirchenleitung in Berlin aber nicht daran, den umfassenden institutionellen Wieder- und Neuaufbau ihrer Jugendarbeit weiter voranzutreiben. Nachdem bereits im Sommer 1945 eine kirchliche Jugendkammer sowie zwei Jugendpfarrer in Berlin tätig geworden waren, wurden ein Jahr später auch in Brandenburg nahezu alle Kreisjugendpfarrstellen besetzt und eine eigene Jugendkammer bestellt.240 Dabei ist „im Aufbau der Doppelstruktur für Berlin und Brandenburg“, wie Ueberschär richtig bemerkt, „keine die Teilung der Stadt und des Landes vorwegnehmende Hellsichtigkeit zu erblicken, sondern die Anknüpfung an die Struktur der Bekennenden Kirche, die von ihrer Bildung bis 1945 über je eine Synode und je einen Bruderrat verfügte.“ 241 Ueberschär stellt klar, dass die Kirchenleitenden keine Teilung Deutschlands vor Augen hatten, als sie sich dazu entschieden, eigene Zuständigkeitsbereiche für Brandenburg und Berlin zu schaffen. Dasselbe gilt für die Aufteilung, die die beiden Jugendpfarrer in Berlin vornahmen. Aus pragmatischen 237 Berlin an der Friedensfront, in: Die Kirche 18.6.1950, S. 1. Grüber war ein evangelischer Reformtheologe und bekennender Gegner des Nationalsozialismus. 238 Ebenda. 239 Generalkirchenvisitation Luckenwalde vom 2. bis 11. Mai 1953. Visitationsbericht mit Unterlagen. ELAB 35/19763. 240 Vgl. Ueberschär: Junge Gemeinde, S. 130–131. 241 Ebenda, S. 130.

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Gründen, nicht um die Einheit der Kirche unter Beweis zu stellen, teilten sie die Stadt unter sich auf: aber nicht in einen östlichen und einen westlichen, sondern in einen nördlichen und einen südlichen Bereich.242 Neben dieser institutionellen Verankerung der Jugendarbeit auf sämtlichen Ebenen der Kirchenhierarchie drängte die evangelische Kirchenleitung zudem darauf, die Junge Gemeinde noch stärker in die Ortsgemeinden zu integrieren und ihr dort eigene, feste Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen.243 Warum er das für notwendig hielt, hatte Dibelius gemeinsam mit Oskar Hammelsbeck schon 1941 erläutert; 1947 wurde ihr „Kirchbüchlein“ neu aufgelegt. 244 Zum Umgang mit der Jugend in der Kirche bemerkten die beiden Autoren: „Wo recht Gemeinde ist, da wird die Jugend gesondert unter Gottes Wort gesammelt, in der Arbeit der Bibelreife, in Rüsttagen für die Jugend oder in anderen Formen. Hier wird die Jugend angeleitet, […] in der Gemeinde mitzuarbeiten, wie es der Jugend gemäß ist.“245 Generalsuperintendent Jacobi forderte 1951, die Jugendlichen nicht grundsätzlich von der alltäglichen Gemeindearbeit auszuschließen oder von der Erwachsenenarbeit abzukoppeln. Es sei zudem irreführend, die Jugend als eine homogene Gruppe zu betrachten, was in den Ortsgemeinden häufig geschehe. Er übte scharfe Kritik an diesen Gemeinden und ermahnte sie: „Die geistige und sittliche Lage der Berliner Jugend darf nicht isoliert gesehen werden, sondern muß mit der Lage der Erwachsenen zusammengesehen werden.“246 Im Bewusstsein darüber, dass die Kirchen künftig dringend auf die Kinder und Jugendlichen angewiesen sein würden, hatte Jacobi wenig Verständnis für die ablehnende Haltung einiger älterer Gemeindemitglieder gegenüber den Jüngeren. Er betonte die erfolgreiche Arbeit der christlichen Pfadfinder und erklärte, „daß es jetzt wahrscheinlich nur darauf ankommt, das Vertrauen der Jungen zu erhalten und eine ganz feste Verbindung zur Kirchengemeinde zu schaffen.“247 Trotz all der vorgebrachten Kritik an den vermeintlich verwahrlosten Jugendlichen sowie der steigenden Jugendkriminalität lassen sich somit auch Quellen finden, die überaus positiv von jüngeren Generationen berichten und diese als wiss242 Vgl. ebenda. 243 Vgl. Generalsuperintendent von Berlin Sprengel II [Friedrich-Wilhelm Krummacher] an den Superintendenten der Kirchenkreises Berlin Stadt III 7.3.1952. ELAB 1.2/4269. Außerdem: Junge Gemeinde, in: Die Kirche 9.4.1950, S. 3. Siehe auch: Ueberschär, S. 132. 244 Dibelius, Otto/Hammelsbeck, Oskar: Kirchbüchlein. Eine Ordnung des kirchlichen Lebens für die Gemeinden der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union, Gütersloh 1941. 245 Ebenda, S. 14. 246 Bericht von Generalsuperintendent D. Jacobi auf der Schlußversammlung der drei Zehlendorfer Gemeinden „Ernst-Moritz-Arndt“, „Paulus“ und „Zur Heimat“ über die Generalkirchenvisitation vom 28. September bis 8. Oktober 1951. ELAB 1/8519. 247 Ebenda.

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begierig oder tatkräftig beschreiben.248 Vor allem junge Mädchen brachten sich in die Jugendarbeit ein, was zum einen darauf zurückzuführen ist, dass viele ältere Jungen noch während der letzten Kriegstage eingezogen, sich in Kriegsgefangenschaft befanden oder zu Opfern des Kriegs geworden waren; zum anderen aber auch darin begründet sein mag, dass die Arbeit in der Gemeinde es den Mädchen ermöglichte, ihrem Alltag zumindest stundenweise zu entfliehen und sich mit geistigen Aufgaben zu beschäftigen. Tab. 1: Anteil der Mädchen und Jungen in der evangelischen Jugendarbeit des Kirchenkreises Berlin Stadt III, 1951 (Auswahl)249 Gemeinde

Anzahl der Mädchen

Anzahl der Jungen

Kirchengemeinde „St. Paul“

89

74

Kirchengemeinde „Frieden“

30

10

Kirchengemeinde „Elias“

40

16

Kirchengemeinde „Segen“

35

21

Kirchengemeinde „Gethsemane“

100

80

Insgesamt

294

201

Die Kirchenleitungen versuchten aber nicht nur die Berliner Jugendlichen in die Gemeindearbeit einzubeziehen, auch jüngere Kinder sollten angesprochen werden. Ziel war es – neben dem Besuch des sonntäglichen Kindergottesdienstes – schon Schulanfänger für die Christenlehre (evangelisch) oder sogar Vorschulkinder für die sogenannte Frohe Herrgottstunde (katholisch) zu gewinnen.250 Unterrichtet wurde die evangelische Christenlehre meist von Katecheten und Katechetinnen. Diese waren jedoch häufig maßlos überfordert, außerdem unterbezahlt und sahen sich wie der Rest der Bevölkerung mit Ressourcenknappheit wie Raumnot und fehlendem Heizmaterial konfrontiert. Zudem arbeiteten viele von ihnen mit veralteten pädagogischen Konzepten, was das Zusammenspiel mit den Kindern zusätzlich erschwerte.251 Zwar belegen die Quellen, dass sich viele Kinder zunächst für die Christenlehre interessierten, doch blieben nicht wenige 248 Vgl. Berlin-Tempelhof 1948. ELAB 1/8090. Siehe auch: Fragebogen Christusgemeinde 1950. ELAB 86/54b. Oder: Fragebogen Berliner Bethlehemsgemeinde (a) Neuköllner Bethlehemsgemeinde (b) 1950. ELAB 86/54b. 249 Generalkirchenvisitation Berlin Stadt III Oktober 1951. ELAB 86/56. 250 Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider, 3.4.2017, S. 2. Siehe auch: Greulich, Ursula: Frohe Herrgottstunde. Werkbuch für die religiöse Kleinkindstube, Leipzig 1957. 251 Vgl. Bericht über die Generalkirchenvisitation der katechetischen Arbeit im Kirchenkreis Oberspree vom 17. bis 26. September 1949. ELAB 86/53. Siehe auch: Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 98.

80 

Kapitel 1: Kein Neuanfang

dem Unterricht bald wieder fern, weil sie sich langweilten oder ihnen das autoritäre und strenge Auftreten der kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter missfiel. Dabei fällt oft eine große Diskrepanz zwischen den Wahrnehmungen der Gemeindepfarrer und der Katechetinnen und Katecheten vor Ort gegenüber den Ansichten der Kirchenleitenden auf. Erstere neigten dazu, die Disziplinlosigkeit und das insgesamt schlechte Benehmen der Kinder in den Vordergrund zu rücken. Letztere tendierten demgegenüber dazu, die Gründe für solche Ausprägungen bei den Lehrkräften zu suchen. Die Mitglieder der Kirchenleitung hatten oft wenig Zweifel daran, dass gerade das Geschrei und die Nervosität der Unterrichtenden die Unruhe unter den Mädchen und Jungen erheblich steigerte. Hinzu kam ein in der Hierarchie begründetes Problem. Viele der jungen, oft weiblichen Katechetinnen konnten neue pädagogische Ansätze nicht oder nur teilweise gegen autoritär auftretende Pfarrer in der Gemeinde durchsetzen.252 Gerade in der SBZ/DDR kam dabei zusätzlich zum Tragen, dass die Pfarrerschaft zunehmend veraltete, weil junge Pfarrer in den Westen gingen.253 Ähnliche Erfahrungen wie in der Christenlehre machten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Konfirmandenunterrichts. Allein die Größe vieler Konfirmandengruppen bereitete Probleme. In einigen städtischen Gemeinden waren aufgrund fehlenden Personals bis zu 70 Vorkonfirmanden in einer einzigen Gruppe zusammengefasst, was Disziplinschwierigkeiten nach sich zog.254 Die hohen Teilnehmerzahlen überforderten manche Pfarrer sehr. Einige reagierten regelrecht panisch, sobald sich die Kinder unruhig verhielten, weil sie nicht in der Lage waren, auf die Konfirmanden einzugehen, welche sich dann wiederum über ihre Hilflosigkeit lustig machten, wie einige Visitatoren besorgt registrierten.255 Beunruhigt stellten sie außerdem fest, dass auch die Formalitäten oftmals nicht eingehalten wurden und Jugendliche am Konfirmandenunterricht teilnahmen, deren Taufe nicht belegt werden konnte.256 Ein Vorwurf, der die Realitäten vieler Konfirmanden auszublenden schien, denn mit Blick auf die Berliner Trümmerlandschaft war offensichtlich, warum einige Jugendliche keine Taufurkunden vorlegen konnten und es in einigen Gemeinden keine Kirchenbücher mehr gab. 252 Vgl. Kirchen-Visitation in der Friedens-Gemeinde vom 29. Juni bis 4. Juli 1947. ELAB 1.2/4294. 253 Vgl. Interview mit Adolf Pohl 2001. OA, ohne Signatur, S. 11. 254 Vgl. Generalkirchenvisitation Berlin Stadt III Oktober 1951. ELAB 86/56. 255 Vgl. Bericht Stadtkirchengemeinde Köpenick 1949. ELAB 86/53. Siehe auch: Kirchen-Visitation in der Friedens-Gemeinde vom 29. Juni bis 4. Juli 1947. ELAB 1.2/4294. Außerdem: Schlussbericht über die Generalkirchenvisitation im Kirchenkreis Spandau 1950. ELAB 1/6838. 256 Vgl. Bericht von Generalsuperintendent D. Jacobi auf der Schlußversammlung der drei Zehlendorfer Gemeinden „Ernst-Moritz-Arndt“, „Paulus“ und „Zur Heimat“ über die Generalkirchenvisitation vom 28. September bis 8. Oktober 1951. ELAB 1/8519.

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Die bislang angeführten Beispiele und Probleme im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit – klammert man die Junge Gemeinde einmal aus – galten aus innerkirchlicher Perspektive zunächst genauso für Ost- wie für West-Berlin und für evangelische wie für katholische Gemeinden. Das trifft bis 1949 auch weitestgehend für den Religionsunterricht zu, wo weniger zwischen den Besatzungssektoren innerhalb Berlins zu unterscheiden ist, sondern vielmehr zwischen den Entwicklungen in der Stadt und auf dem Land – also in Berlin und Brandenburg. Im Mai 1945 hatten sich Stalin, Molotow, Pieck und Ulbricht in Moskau über die Zukunft Deutschlands beraten und sich unter anderem darauf verständigt, dass vorerst kein Religionsunterricht in den Schulen der von den Sowjets besetzten Gebiete stattfinden sollte.257 Diese Ankündigung rief heftige, konfessionsübergreifende Proteste hervor, denen sich Theologen wie Laien, Lehrende wie Eltern anschlossen.258 Der katholische Bischof von Berlin, von Preysing, warf den Sowjets vor, mit der Eröffnung von Einheitsschulen an das Schulsystem der Nationalsozialisten anzuknüpfen.259 Unterstützt von der evangelischen Kirchenleitung forderte der Episkopat deshalb die Wiedereinführung des Religionsunterrichts als reguläres Unterrichtsfach. Tatsächlich fanden diese Proteste Gehör bei der Alliierten Kommandantur, der ja bis 1948 noch alle vier Besatzungsmächte angehörten. Der Religionsunterricht, den die Kirchen wieder selbst verantworten sollten, kehrte in allen vier Sektoren Berlins auf den Stundenplan zurück.260 Darüber hinaus erklärte die Alliierte Kommandantur am 1. Februar 1946, dass alle zum gegenwärtigen Zeitpunkt existierenden Privatschulen geöffnet bleiben dürften, womit auch der Rechtsstatus bestehender Schulen in christlicher Trägerschaft gesichert wurde. Ein besonderer Erfolg gelang dabei der katholischen Kirche, die am 1. Juni 1945 die Theresienschule im Ost-Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg wiedereröffnet hatte. Denn auf der Grundlage des genannten Beschlusses war es den sowjetischen Behörden nicht möglich, die in ihrem Sektor befindliche Schule zu schließen. Letztlich überdauerte sie sogar die DDR, obwohl sie von offizieller Seite regelmäßigen Anfeindungen ausgesetzt war und zum Beispiel als „Schule der besitzenden Klasse“ diffamiert wurde.261 Die evangelische Kirche hatte es hingegen verpasst, 257 Vgl. Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 15. 258 Vgl. Verhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Provinzialsynode. Zweite Tagung vom 4. bis 8. Oktober 1948 im Evangelischen Johannesstift in Berlin-Spandau, herausgegeben vom Büro der Provinzialsynode Berlin-Brandenburg, Berlin 1950, S. 20. 259 Vgl. Hirtenwort von Bischof Preysing an die Gemeinden Berlins zur religiösen Kindererziehung 20.10.1945. DAB V/16–7, abgedruckt bei: Lange/Pruß: An der Nahtstelle, S. 12–14. 260 Vgl. Schule und Religionsunterricht, in: Petrusblatt 2.6.1946, S. 3. Siehe auch: Escher: Die katholische Kirche, S. 678–679. 261 Vgl. Kirchhöfer, Birgit: Unter dem Schutz der heiligen Theresia von Avila. Die katholische Mädchenschule in der Schönhauser Allee 182, in: Bezirksamt Pankow/Prenzlauer Berg Museum

82 

Kapitel 1: Kein Neuanfang

rechtzeitig eine Schule im sowjetischen Sektor (wieder) zu eröffnen. Selbst in West-Berlin dauerte das bis 1948. Erst dann wurden wieder evangelische Schulen eröffnet, die bis 1961 auch evangelische Schülerinnen und Schüler aus Ost-Berlin besuchten. Sie entrichteten das Schulgeld in Ostmark.262 Anders sah die Situation in Brandenburg aus. Dort durften die Kirchen die Schulräume zwar offiziell nutzen, um Religionsunterricht zu erteilen, allerdings war das nur in den Stunden gestattet, in denen kein regulärer Schulunterricht stattfand. De facto fielen die meisten Schulgebäude, die oftmals vormittags und nachmittags genutzt wurden, damit als Unterrichtsräume für die Kirchen aus.263 Da abzusehen war, dass die sowjetischen Besatzungsbehörden auch in der Schulpolitik einen anderen Weg als die Alliierten einschlagen würden, taten die Kirchen gut daran, eine zweigleisige Strategie zu fahren: Sie setzten sich weiterhin dafür ein, den Religionsunterricht fest in den Schulen zu verankern, zeitgleich versuchten sie außerschulischen Unterricht anzubieten und eigene, von politischen Implikationen unabhängige Strukturen im Bereich der Religionslehre aufzubauen. Diese beiden Stränge sind in der Praxis nicht immer eindeutig voneinander zu trennen. Der Religionsunterricht wurde von Pfarrern, Gemeindehelferinnen, Katechetinnen und Katecheten sowie sonstigen kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erteilt, die sowohl in Schulen als auch in kirchlichen Einrichtungen zum Einsatz kommen konnten.264 Die Anerkennung der Religionslehrerinnen und -lehrer an den staatlichen Schulen in Ost-Berlin und der SBZ/DDR war dabei von Fall zu Fall verschieden. Während sie in Weißensee zum Beispiel problemlos in die Schule integriert wurden, kam es andernorts zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Lehrkräften und der Schulleitung.265 Generell funktionierte die Zusammenarbeit zumindest in Berlin für viele aber überraschend reibungsfrei. Kurz für Heimatgeschichte und Stadtkultur (Hrsg.): Schule zwischen gestern und morgen. Beiträge zur Schulgeschichte von Prenzlauer Berg, Baltmannsweiler 2002, S. 328–329. Siehe auch: Katholische Schulen und Schulgeld, in: Petrusblatt 2.10.1949, S. 10. 262 Vgl. Ankündigung, in: Die Kirche 21.8.1949, S. 2. Siehe auch: Von uns aus gesehen. Erziehung unter dem Evangelium, in: Berliner Sonntagsblatt, S. 5. 263 Vgl. Verhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Provinzialsynode vom 4. bis 8. Oktober 1948, S. 29. 264 Vgl. 6. Sitzung. 6. November 1946 in Berlin, in: Die Protokolle der Kirchlichen Ostkonferenz, S. 142. 265 Vgl. Bericht über die Generalkirchenvisitation in der Kirchengemeinde Berlin-Weißensee 26.3.1952. ELAB 86/56. Siehe auch: Bericht über die Generalkirchenvisitation der katechetischen Arbeit im Kirchenkreis Oberspree vom 17. bis 26. September 1949. ELAB 86/53. Konfliktreicht gestaltete sich das Verhältnis zwischen Schulleitung und Religionslehrerinnen und Religionslehrern zum Beispiel auch in Frohnau. Vgl. Bericht über eine Elternversammlung 30.6.1948. ELAB 1/6320. Und: Stellungnahme Pfarrer Gehann 4.8.1948. ELAB 1/6320.

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vor der Gründung der DDR im Herbst 1949 resümierte die Berliner Kirchenzeitung zufrieden, dass „die zentralen Schulbehörden trotz ihrer weltanschaulichen und parteipolitischen Bindungen sich bisher immer noch bemüht haben […], dem Religionsunterricht in den Schulen zu seinem Recht zu verhelfen.“266 Dieser positiven Bilanz war eine Phase vorausgegangen, in der sich die Kirchen intensiv darum bemüht hatten, ihren Personalstamm kontinuierlich zu vergrößern und Präsenz zu zeigen. So konnte Dibelius in seinem Tätigkeitbericht auf der Berlin-Brandenburgischen Provinzialsynode im Oktober 1948 angeben, dass in der ganzen Stadt Berlin bereits „1500 Menschen in der Arbeit des kirchlichen Unterrichts sind“.267 Schon ein Jahr später, im Juni 1949 waren „von mehr als 400 Schulen in Berlin nur noch 12, in denen kein Religionsunterricht erteilt wurde. […] Es wurden insgesamt 72.341 Religionsstunden im Monat gegeben, davon […] 59.840 durch Katecheten.“268 Allein im Kirchenkreis Oberspree erteilten im September 1949 „100 Lehrkräfte an etwa 60 Schulen im Monat 5.140 Unterrichtsstunden und […] erfassten dadurch etwa 20.000 Kinder.“269 Das Soll war damit aber noch nicht erfüllt. Das Schulgesetz sah zwei Wochenstunden Religionsunterricht vor, 1949 fanden diese aber nur an 75 Prozent der Schulen auch wirklich statt. Das Ziel der evangelischen wie der katholischen Kirchenleitung war es, auf 100 Prozent zu kommen.270 Doch schon unmittelbar nach den Staatsgründungen nahm der Druck auf die Religionslehrerinnen und -lehrer sowie ihre Schülerinnen und Schüler in Ost-Berlin derart zu, dass dieses Ziel in weite Ferne rückte. Im November 1949 wendete sich die katholische Pfarrei Sankt Franz Xaver in Ost-Berlin in dieser Sache an den Magistrat der Stadt und machte darauf aufmerksam, dass Kinder in Ost-Berliner Schulen wegen ihrer Teilnahme am Religionsunterricht und wegen ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert wurden: Der Unterricht wird sehr erschwert durch häufige und plötzliche Stundenplanänderungen, von denen uns keine Mitteilung gemacht wurden, so daß die dem Religionsunterricht zugewiesenen Stunden dann plötzlich mit anderen Fächern besetzt sind und die Kinder nicht kommen. Anlässlich des Allerheiligenfestes wurden in verschiedenen Klassen den Kindern Schwierigkeiten bereitet, wenn sie der Schule fernbleiben wollten. Manche Kinder wurden so eingeschüchtert, daß sie nicht wagten, von ihrem Feiertagsrecht Gebrauch zu machen.

266 Evangelische Kirche und Religionsunterricht, in: Die Kirche 25.9.1949, S. 3. 267 Verhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Provinzialsynode vom 4. bis 8. Oktober 1948, S. 19. Unter den Lehrkräften waren 278 Pfarrer, 539 aktive Lehrerinnen und Lehrer, die neben ihren regulären Fächern zusätzlich Religion unterrichteten und 688 Katechetinnen und Katecheten, die die Kirche neu ausgebildet hatte. 268 Kirchliche Erziehungswoche, in: Die Kirche 19.6.1949, S. 1. 269 Bericht über die Generalkirchenvisitation der katechetischen Arbeit im Kirchenkreis Oberspree vom 17. bis 26. September 1949. ELAB 86/53. 270 Vgl. Kirchliche Erziehungswoche, in: Die Kirche 19.6.1949, S. 1.

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Kapitel 1: Kein Neuanfang

Die katholischen Kinder fühlen sich zum Teil recht bedrückt in der Schule, weil häufig abfällige Bemerkungen über die Kirche, die kirchliche Lehre und die kirchlichen Gewohnheiten gemacht werden.271

Hinzu kam, dass es weiterhin an Lehrkräften mangelte. Aufgrund des anhaltenden Personalbedarfs wurden die Anforderungen an potentielle Bewerberinnen und Bewerber deshalb absichtlich gering gehalten. Für den dreimonatigen Lehrgang im evangelischen Seminar für kirchlichen Dienst in Zehlendorf konnten sich alle Personen, die zwischen 18 und 40 Jahren alt waren, bewerben. Als Bewerbungsunterlagen genügten ein handgeschriebener Lebenslauf sowie ein pfarramtliches Zeugnis. Für berufstätige Bewerberinnen und Bewerber wurde darüber hinaus ein halbjährlicher Abendkurs angeboten. Zudem begleiteten die kirchlichen Medien die Anwerbung, Ausbildung und Integration neuer Lehrkräfte und kommentierten ihre Tätigkeit überaus positiv. 272 Problematisch gestaltete sich hingegen die Finanzierung der Katechetengehälter, welche die Kirche selbst aufbringen musste. 1949 wurden rund 180.000 DM im Monat für die Bezahlung der Katechetinnen und Katecheten verwendet. Allerdings führte die Währungsreform zu erheblichen Verzögerungen bei der Auszahlung der ohnehin knapp bemessenen Löhne und brachte die Lohnempfängerinnen und Lohnempfänger ernstlich in Bedrängnis. Daneben belasteten die kirchlichen Kassen andere Einnahmenausfälle. Allein die Erhebung der Kirchensteuer musste neu geregelt werden und sorgte sowohl bei der evangelischen als auch der katholischen Kirche für finanzielle Engpässe.273 Trotzdem, so berichtete die evangelische Wochenzeitung im Sommer 1949 nicht ohne Stolz, „hat während der letzten Jahre keiner unserer Katecheten seinen Dienst aus finanziellen Gründen verlassen.“274 Weniger erfolgreich verliefen die Anwerbung und der Einsatz neuer Lehrkräfte in Brandenburg. Auf der Provinzialsynode 1948 klagte der Brandenburger Landeserziehungspfarrer: „Wir stehen in der Provinz Brandenburg, wie sich leicht einsehen läßt, viel weiter zurück als die Arbeit in Berlin.“275 Auch in Brandenburg fehlte es an Bewerberinnen und Bewerbern. Hinzu kam aber, dass die bereits angestellten Katechetinnen und Katecheten finanziell schlechter gestellt waren als ihre Kolleginnen und Kollegen in Berlin – die Auszahlung der Löhne etwa erfolgte 271 Katholisches Pfarramt Sankt Franz Xaver an den Magistrat, Beirat für kirchliche Angelegenheiten 10.11.1949. LA B Rep 002 I Nr. 26036. 272 Vgl. Ausbildung von Religionslehrern, in: Die Kirche 30.11.1947, S. 3. Siehe auch: Berlin braucht Katecheten, in: Berliner Sonntagsblatt 4.4.1954, S. 6. 273 Vgl. Selbsthilfe, in: Petrusblatt 9.12.1945, S. 8. 274 Kirchliche Erziehungswoche, in: Die Kirche 19.6.1949, S. 1. 275 Verhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Provinzialsynode vom 4. bis 8. Oktober 1948, S. 30.

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in der Provinz noch später und es kam zu Verzögerungen von mehr als drei Monaten.276 Der Hinweis auf die gesunkenen Bewerbungsanforderungen zeigt, neben der Frage, wo und in welchem Rahmen der Religionsunterricht in Brandenburg stattfinden sollte, war auch nicht endgültig geklärt, wer ihn eigentlich geben sollte. Die Synode machte vor allem jene Bedingungen, die die sowjetischen Besatzungsbehörden an die Religionslehrinnen und -lehrer stellten, für den Personalmangel auf dem Land verantwortlich. So erklärte der Synodale Borrmann: „Dadurch, daß den ehemaligen Pgs. [Parteigenossen] unter den Lehrern verboten ist, Religionsunterricht zu geben, fallen viele Kräfte aus.“277

Schwerpunkte kirchlicher Arbeit in der Nachkriegszeit Der Blick auf die religiöse Unterweisung der Jugendlichen in der Nachkriegszeit verweist auf eine Strategie, die sowohl die katholische Kirche, als auch die evangelische Kirche verfolgten: Wer inhaltlich nicht weiterkam und gleichzeitig Gemeinschaft stiften wollte, musste vor allem Präsenz zeigen. Das hieß zum Beispiel: Wallfahrten, Prozessionen veranstalten oder Kirchen bauen.278 Die Wiederbelegung der kirchenmusikalischen Aktivitäten stärkte den innergemeindlichen und überkonfessionellen Zusammenhalt in einem ganz besonderen Maße: Singkreise, Kirchen- und Kinderchöre sowie Posaunenchöre wurden neu- oder wiedergegründet. Die Kirchenzeitungen kündigten Konzerte professioneller Ensembles genauso wie die Auftritte von Amateur-Chören oder Orchesteraufführungen an und die Veranstaltungen erfreuten sich in der Nachkriegszeit großer Beliebtheit. Viele Zuhörende, aber ebenso die Musizierenden nahmen die Kirchenkonzerte als außeralltägliche Ereignisse wahr und erinnerten sie später positiv. Der Wiederaufbau kirchenmusikalischer Strukturen war für die Kirchen auch deswegen wichtig, weil sie darüber Menschen erreichen konnten, die nicht zum Kern der Gemeinden gehörten, aber so auf deren Aktivitäten aufmerksam wurden.279 Was allerdings die Qualität der Darbietungen anbelangte, gingen die Meinungen stark auseinander. Gerade die evangelische Kirchenleitung zeigte sich mit Blick auf die kirchenmusikalischen Bemühungen vor Ort zum Teil sehr unzufrieden und übte heftige Kritik an einzelnen Gemeinden. „Romantisch unliturgisch“ 276 Vgl. ebenda, S. 31. 277 Ebenda, S. 29. 278 Vgl.: Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 26. Siehe auch: Pollack: Funktionen von Religion, S. 72–73. 279 Vgl. Aus dem Bistum: Pontifikalamt, in: Petrusblatt, S. 11.

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Kapitel 1: Kein Neuanfang

oder „rührselig“ klängen Chöre und Orgelmusiken, klagten manche Visitatoren.280 Der „allgemein schlechte Gemeindegesang“ und „die Verwahrlosung der Orgeln“ seien Anzeichen dafür, dass die Kirchenmusik immer mehr an Qualität verliere.281 Vor allem zeigte sich die Kirchenführung über den Mangel an qualifiziertem Personal besorgt. Es fehlte an gut ausgebildeten Kirchenmusikerinnen und -musikern und an finanziellen Mitteln, um diese zu entlohnen.282 Während es also tendenziell kein Problem war, Sängerinnen und Sänger für den Kirchenchor zu finden, gab es doch nur wenige, die diese anleiten konnten. Dass der Kirchenmusik eine besonders integrative Rolle zukam, offenbarte sich im Ringen der evangelischen Kirchen um ein neues, gesamtdeutsches Gesangbuch.283 Es entstand auch in den Berliner Gemeinden ein heftiger Streit darüber, ob der Osten in dem neuen Standardwerk ausreichend repräsentiert sein würde. Aus der Vielzahl der Leserbriefe, die zu diesem Thema bei der evangelischen Wochenzeitung in Berlin eingingen, wird deutlich, dass sich die Bezeichnung Osten, aber nicht auf die SBZ oder die DDR bezog, sondern damit das ehemals deutsche Ostpreußen gemeint war. 284 Die Debatte zielte somit nicht darauf ab, typisch deutsch verstandenes nationales Liedgut zu bewahren, sondern auf regionale Traditionen hinzuweisen, die als Kitt in einer fragmentiert wahrgenommenen Nachkriegsgesellschaft funktionieren konnten. Gemeindemitglieder setzten sich dafür ein, dass das Gesangbuch oder besser noch mehrere Gesangbücher die Unterschiedlichkeit der evangelischen Kirchen Deutschlands widerspiegelten und nicht die Zweistaatlichkeit in den Vordergrund gerückt wurde. Sie wehrten sich dagegen, die politische Teilung des Landes auf die kirchlichen Grenzen zu übertragen.285 Aber auch nachdem man sich schließlich auf einen neuen Kanon geeinigt hatte, blieben viele Gemeindemitglieder skeptisch. Zwar drängte die Kirchenleitung sehr darauf, die alten Gesangbücher auszutauschen; doch viele Gemeinden taten sich schwer mit den vielen fremden Liedern, die nicht ihre eigenen waren.286 Nicht nur Laien, auch Pfarrer fürchteten, der Gemeindegesang könnte endgültig ver280 Bericht Stephanus-Gemeinde 1951. ELAB 86/56. Vgl. auch: Bericht über die Generalkirchenvisitation in Reinickendorf-West in der Zeit vom 15. bis 22. Oktober 1950. ELAB 86/55. 281 Generalkirchenvisitation Luckenwalde vom 2. bis 11. Mai 1953. ELAB 35/19763. 282 Vgl. Bericht über die Generalkirchenvisitation im Bezirk Oberspree vom 18. bis 26.9.1949. 86/ 53. 283 Vgl. Das Gesangbuch, in: Die Kirche 23.5.1948, S. 1. 284 Vgl. Für und wider. Leserstimmen zum neuen Gesangbuch, in: Die Kirche 10. September 1950, S. 3. 285 Vgl. Die Zukunft des Gesangbuches, in: Die Kirche 2.10.1949, S. 1–2. 286 Vgl. Fragebogen St. Paul 1951. ELAB 86/56. Siehe auch: Fragebogen Berliner Bethlehemsgemeinde und Neuköllner Bethlehemsgemeinde 1950. ELAB 86/54b.

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stimmen, würden sie das neue Gesangbuch einführen.287 Andere sahen nicht ein, warum überhaupt ein neues Liederwerk vonnöten sein sollte. Sie empfanden die Zusammenführung von Kirchenliedern aus unterschiedlichen Regionen der EKD als überflüssig. Die Diskussion verlief also in eine Richtung, die die Kirchenleitung nicht intendiert hatte: statt Unterschiede zu überbrücken, bildeten sich neue Lager. Mit Blick auf innerkirchliche Dynamiken war das letztlich nichts Neues. Denn es war (und ist) durchaus nicht unüblich, dass sich Gemeinden an Entscheidungen reiben, die auf höherer Ebene getroffen werden und ihre liturgischen Praktiken betreffen. So brauchten auch die Nachkriegsgemeinden Zeit, um sich an den neuen Liederkanon zu gewöhnen und Argumente zu finden, die dafür sprachen, sich auf das Gesangbuch einzulassen. Die Hoffnung darauf, mehr junge Menschen mit den neuen Liedern anzusprechen, die Vertriebenen auf diese Weise zu integrieren oder schlicht Abwechslung in den Gottesdienstalltag zu bringen, konnte einige Gemeinden schließlich doch überzeugen.288 Gehör verschafften sich die Kirchen außerdem, indem sie die Glocken wieder läuteten und damit eine nonverbale, aber akustisch unmissverständliche Ansage an die Bevölkerung, genau wie an die Besatzungsbehörden, richteten: Wir sind da. Viele Gemeinden bemühten sich nach Kriegsende sehr entschieden darum, defekte Glockengeläute zügig zu reparieren und den Verlust von Glocken, die während des Kriegs eingeschmolzen, konfisziert oder zerstört worden waren, auszugleichen. Ihr Blick richtete sich dabei besonders auf den sogenannten Glockenfriedhof im Hamburger Freihafen, wo Glocken aus ganz Deutschland lagerten, die die Nationalsozialisten im Zuge der „Glockenaktion“ nach Hamburg verbracht hatten. 289 Rund 75.000 Glocken waren noch während des Kriegs für die Rüstungsindustrie eingeschmolzen worden, um daraus Kupfer und Zinn zu gewinnen. Die verbliebenen 12.800 Glocken sollten nun in ihre Gemeinden zurücktransportiert werden.290 Einen großen Schritt bedeutete deshalb ein Rückführungsabkommen, das die evangelische Wochenzeitung Berlins am 23. Mai 1948 vermeldete. Die vier Besatzungsmächte waren darin übereingekommen, einen „Austausch der in den verschiedenen Zonen lagernden Kirchenglocken“ zu organisieren: „1200 Glocken soll [t]en aus dem Hamburger Glockenlager in die Ostzone überführt werden, während rund 450 in der Ostzone lagernde Kirchenglocken in ihre Heimatgemeinden

287 Vgl. Parochie Gräbendorf 1956. ELAB 86/62. 288 Vgl. Was ist es um das neue Gesangbuch?, in: Die Kirche 25.6.1950, S. 1–2. 289 Noch einmal davongekommen. Heimkehr aus dem Glockenfriedhof, in: der SPIEGEL 12.4.1947, S. 16. 290 Ebenda.

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Kapitel 1: Kein Neuanfang

in den Westzonen zurückgehen“ würden.291 Dem Glockenläuten wurde aber nicht nur wegen der eigenen Gemeindemitglieder große Bedeutung beigemessen. Dem Läuten wurde außerdem eine hohe missionarische Wirkung zugeschrieben, weil es helfe, „Kreise, die sonst der Kirche fernstehen“ auf die Gemeinde aufmerksam zu machen.292 Einige Gemeinden scheinen es dabei aber – zumindest aus Sicht der evangelischen Kirchenleitung – übertrieben zu haben. In einem Bericht über die Stephanus-Gemeinde in Berlin-Gesundbrunnen ärgerte sich der Visitator darüber, dass die Glocken „bei jeder Gelegenheit in voller Stärke geläutet werden.“293 Er forderte deshalb eine neue und verbindliche Läuteordnung. Somit zeigt selbst die Geschichte der Kirchenglocken ein spannungsvolles Nebeneinander, das es unmöglich macht, die Nachkriegszeit eindeutig zu charakterisieren. Diese Jahre sind genauso von Chaos und Brüchen geprägt wie von Kontinuitäten und (Neu-)Ordnung. Das gilt auch für die Kirchen und religiösen Gemeinschaften. Zweifelsohne herrschte eine angespannte Atmosphäre, die mit vielen Unsicherheiten einherging. Gleichzeitig ist aber zu konstatieren, dass die meisten Akteure die neuen Umstände sehr rasch begriffen und lernten mit den unterschiedlichen Situationen umzugehen. Die einzelnen zeitlichen Perspektiven spielten dabei eine große Rolle. Es war wichtig, auf schnelle Veränderungen in der Gegenwart zu reagieren, Vorstellungen von der Zukunft zu entwickeln und sich gleichzeitig gegenüber der Vergangenheit zu positionieren. Dieser Handlungsdruck äußerte sich in einer generell wahrnehmbaren Geschäftigkeit, und diese Aufbruchsstimmung ergriff die Kirchen ebenso. Gerade die Kirchenleitungen formulierten einen klaren Anspruch. Sie strebten zurück in die Mitte der Gesellschaft und setzten alles daran, sich neu aufzustellen: Im Krieg zerstörte Kirchen sollten zügig wieder aufgebaut, Stellen sollten wieder beziehungsweise neu besetzt, Ämter geschaffen, Vereine und Organisationen wieder- oder neugegründet werden. Es ist rückblickend kaum möglich, den Überblick über alle Gremien und Institutionen zu behalten. Dabei kämpften die Kirchen in ihrem Bemühen um gesellschaftlichen Einfluss besonders intensiv um zwei Gruppen. Sie nahmen sich der Flüchtlinge und Vertriebenen an und widmeten sich zudem der Kinder- und Jugendarbeit. Denn kriegsbedingt veränderten diese beiden Gruppen nicht nur die Zusammensetzung der Gemeinden; sie konnten die dort vorherrschenden Mehrheitsverhältnisse kippen.294 Einen Neuanfang stellten diese Jahre insofern da, als es in den Kirchen darum ging, eine Epoche abzuschließen und dabei trotzdem anschlussfähig zu bleiben. 291 292 293 294

Die Rückführung der Kirchenglocken, in: Die Kirche 23.5.1948, S. 1. Visitationsbericht 3.10.1948. ELAB 86/51. Bericht Stephanus-Gemeinde 1951. ELAB 86/56. Vgl. Interview mit Lorenz Günter 1999. OA, ohne Signatur, S. 1.

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Die Kirchen wollten Hort für die Mehrheit der gesellschaftlichen Gruppen sein und waren dafür bereit, einen Deckmantel über schuldhafte und moralisch verwerfliche Erinnerungen auszubreiten. Dass dabei einige, die statt vergessen lieber verarbeiten wollten, verloren gingen, wurde als Kollateralschaden hingenommen. Die Frage, inwieweit das Kriegsende und die Tage danach als eine Stunde Null verstanden werden können, ist in diesem Sinne nicht eigentlich relevant. De facto ist ein Mit- und Nebeneinander von Kontinuitäten und Brüchen festzustellen, wobei die Bewertung dieser Epoche von der Wahrnehmung ihrer Beobachterinnen und Beobachter sowie deren zeitlichem Abstand zum Geschehen abhängig bleibt. Ihre Erinnerungen veränderten sich. Während die historiographische Forschung mittlerweile dazu tendiert, die Kontinuitäten zu betonen, nahmen Zeitgenossen das Jahr 1945 auch rückblickend immer wieder als einen Bruch mit allem zuvor Gewesenen wahr. Deutlich wird das nicht zuletzt daran, dass in den Quellen in der Regel von dem ersten Gottesdienst, der ersten Synode oder der ersten kirchlichen Rundfunksendung nach Kriegsende die Rede ist. Für viele Menschen begann 1945 eine neue Zeitrechnung. Heinrich Rathke, ehemaliger Landesbischof Mecklenburgs, erklärte noch nach der Jahrtausendwende: „Ich empfinde es bis heute als die Stunde Null.“295 Dabei spielte Rathke vor allem auf die Situation der Kirchen und ihre politische und gesellschaftliche Rolle in Nachkriegsdeutschland an, die er als eine genuin andere verstand als im Nationalsozialismus. Doch lässt sich an diesem Beispiel verdeutlichen, wie stark ein solches Urteil von der Perspektive des Betrachters abhängig ist. Der Schweizer Theologe J. Jürgen Seidel etwa teilte Rathkes Eindruck nicht. Er konstatierte, dass von einer „Stunde Null“ im kirchlichen Raum nicht gesprochen werden könne. […] Die Ungesichertheit der Nachkriegssituation und das Bewußtsein, das Geschehene noch nicht verarbeitet zu haben und zudem keine geistliche Führung zu besitzen, bewirkte in der (evangelischen) Kirche im Jahre 1945 das Nebeneinander verschiedenster Geisteshaltungen.296

Inwieweit Zeitgenossen diese angebliche Vielfalt wahrnahmen, ist mindestens fraglich. Der Blick auf das Personaltableau zeigt, dass selten neue, unbekannte Leute kirchliche Ämter übernahmen, sondern Personen in diese aufrückten, die über Netzwerke verfügten, sich seit langem kannten und oftmals schon vor 1933 in kirchlichen Funktionen tätig gewesen waren. In den Kirchen fand zudem kein eigentlich demokratischer Wandel statt. Ganz im Gegenteil: in Berlin bestimmten nach 1945 zwei zentrale, autoritäre und über die Stadt hinaus überaus gut vernetzte Persönlichkeiten die Kirchenpolitik. Sowohl der evangelische Bischof Otto Dibelius als auch der katholische Ordinarius Konrad von Preysing waren bereits vor 295 Rathke: Wohin?, S. 24. 296 Seidel: Neubeginn, S. 101–102.

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Kriegsende in leitenden Ämtern tätig gewesen und standen beide gleichermaßen für einen streng hierarchischen Führungsstil. Sie signalisierten Stabilität, nicht Erneuerung und orientierten sich dabei unter anderem an Ideen und Konzepten aus der Weimarer Republik. Was die Akteure – Geistliche wie Laien – in dieser Zeit vereinte, war die Sehnsucht nach kirchlichem Alltag. Wie dieser jedoch aussehen sollte, darüber gingen die Vorstellungen auseinander, wobei immer zwischen individuellen und gemeinschaftlichen, also kollektiven Interessen differenziert werden muss. So konzentrierten sich die Gemeindepfarrer einerseits auf Herausforderungen, die ihre Gemeinden und deren Mitglieder betrafen; andererseits standen sie vor der Aufgabe, ihr eigenes Auskommen zu sichern und ihre eigenen Erfahrungen zu verarbeiten. Dabei sollten sie nicht auf die Unterstützung der Kirchenleitenden hoffen. Die Gemeindemitglieder artikulierten hingegen in vielen Fällen ein starkes Bedürfnis nach Orientierung und Halt, das sich mit den drei Schlagworten Vergebung, Versöhnung und Vergessen umschreiben lässt. Die meisten Gemeindemitglieder kamen nicht als politische Akteure in die Kirche. Für sie waren politische Entwicklungen in diesem speziellen Kontext zunächst zweitrangig. Sie kamen vielmehr in die Kirche, um sich politischen Themen zumindest kurzzeitig zu entziehen. Für sie war der Gottesdienst nicht der richtige Ort, um Politik zu machen. Erst in dem Moment, in dem sich das Leben der meisten Kirchenmitglieder wieder ordnete und die Bedrohungslagen überschaubar erschienen, änderte sich das. Nun traten die Konturen der beiden entstehenden deutschen Staaten schärfer hervor, und gerade die Gemeindemitglieder in Ostdeutschland wurden vermehrt auf Repression und Ausgrenzung aufmerksam. Sie zogen daraus unterschiedliche Konsequenzen, auf die in den folgenden Kapiteln ausführlich eingegangen wird. Sicher aber setzten diese Beobachtungen in Ost und West einen endgültigen Schlusspunkt unter die Hoffnung auf eine Rechristianisierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Je mehr die Kirchenmitglieder in ihren Arbeitsalltag zurückfanden, desto mehr beschäftigten sie sich wieder mit anderen Dingen und blieben den Kirchen fern. Ihre Lebenswirklichkeiten veränderten sich ein weiteres Mal. Die Zahl der Freizeitangebote erhöhte sich wieder. Es war nicht mehr nötig, in die Kirche zu gehen, um die eigene Freizeit zu gestalten, Ablenkung zu erfahren oder sich gesellschaftlich zu engagieren. Das hatten die Kirchenleitungen vielleicht geahnt. In jedem Fall hatten sie sich nicht allein auf die Kraft einer wiedererstarkenden Kirchlichkeit verlassen. Denn die Kirchenleitungen verstanden sich immer auch als politische Akteure mit eigener Agenda, die dementsprechend selbstbewusst mit politischen Stellen verhandelten. Sie betrachteten sich als Vertreterinnen einer Mehrheitsbevölkerung und beanspruchten eine zentrale Rolle im politischen Gefüge der Nachkriegszeit.

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Auf dieser Basis rechtfertigten sie zum Beispiel ihre vermeintliche Deutungshoheit in bildungspolitischen Debatten. Sie erklärten, Einfluss nehmen zu wollen, ohne sich dabei politisch vereinnahmen zu lassen.297 Doch war gerade dieser Vorsatz nur schwer zu verwirklichen. Denn sehr bald wirkten sich politische Dynamiken auch auf innerkirchliche Fragen aus. Es war nicht möglich, die neuen Gegebenheiten einfach zu ignorieren. Systemische Unterschiede zeichneten sich ab und parallel zur allgemeinen Aufbruchsstimmung und den wiederholten Einheitsbekundungen begannen die Kirchenleitungen Vorkehrungen zu treffen, um sich auf eine mögliche Teilung Deutschlands vorzubereiten. Dafür spricht zum Beispiel die schnelle Gründung eigener Ost-Gremien oder Institutionen, die sich ausschließlich mit dem kirchlichen Leben in Ost- oder Westdeutschland auseinandersetzten. Tatsächlich gab es genug Argumente, die für einen solchen Schritt sprachen: Die Problemschwerpunkte wandelten sich und Beschlagnahmungen oder Enteignungen, wie sie vor allem die Gemeindemitglieder in Brandenburg beschäftigten, spielten in den drei westlichen Besatzungszonen schlichtweg keine Rolle. So schnell sich aber dieser Wandel in den Strukturen niederschlug, auf die kirchlichen Praktiken in den Berliner und Brandenburger Gemeinden selbst wirkten sich diese Veränderungen zunächst nicht wesentlich aus: Wie Kirche verstanden und gelebt werden sollte, entschieden in einem erheblichen Maße die Menschen vor Ort und weniger übergeordnete Instanzen: Prozessionen fanden in Ost und West statt, Systemgrenzen bestimmten nicht die Liturgie beim Abendmahl und die in den Gemeinden wahrgenommene Heterogenität ließ sich nicht mit dem Eisernen Vorhang begründen. Zudem stand es Ost-Berlinerinnen und -Berlinern zu diesen Zeitpunkt noch offen, Kirchen in West-Berlin zu besuchen und West-Berlinerinnen und -Berliner konnten an Gottesdiensten in Brandenburg teilnehmen, wenn sie es wollten. Meist wollten sie nicht, weil das Interesse an den Nachbargemeinden, egal ob in Ostoder West-Berlin, schon vor 1945 nicht sonderlich groß gewesen war. Aber: Es gab die Möglichkeit, sich zu entscheiden. Das war kein Neuanfang, sondern ein Weitermachen. Somit zeigt schon ein Blick auf die Nachkriegsjahre, dass die Interessen der – im Übrigen noch durch und durch männlich dominierten – Kirchenleitungen in Berlin und Brandenburg keineswegs immer denen der kirchlichen Basis entsprachen und umgekehrt. Diese Dynamiken im Zeitverlauf genauer zu betrachten, ermöglicht Einblicke in gesamtgesellschaftliche Veränderungen, die weit über die in-

297 Vgl. Das Evangelische Konsistorium von Berlin-Brandenburg an die Geistlichen der Kirchenprovinz, in: Die Kirche 5.2.1950, S. 1. Siehe auch: Hirtenbrief, in: Die Kirche 16.5.1948, S. 1. Außerdem: Die Freiheit der Kirche. Ansprache des Bischofs von Berlin, in: Petrusblatt 10.11.1946, S. 3.

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nergemeindlichen Diskurse hinausgehen. Denn Kirchenmitglieder sind immer auch mehr als nur Gottesdienstbesucher.

1.4 Resümee Die Berliner Nachkriegsjahre waren ein spannungsvolles Nebeneinander, geprägt einerseits vom Zusammenbruch und andererseits von Kontinuitäten. Viele Zeitgenossen nahmen das Kriegsende dennoch als Stunde Null wahr. Sie sehnten sich nach einem Alltag, der nichts mit ihren Erfahrungen der Kriegsjahre gemein hatte. Tatsächlich sahen sich die Menschen mit zahlreichen Veränderungen konfrontiert, die ihnen den Anschein vermittelten, vor einem Neuanfang zu stehen. Der Unordnung der Nachkriegsjahre setzten die Amtskirchen überwölbende Integrationsangebote entgegen: Heimatlosen Vertriebenen versprachen sie zum Beispiel eine Gemeinschaft unter dem Dach der Kirche. Zumindest für einen Moment ließen sich die großen Unterschiede zwischen Ost- und Westgemeinden oder Stadtund Land- beziehungsweise Diasporagemeinden auf diese Weise einhegen. Dieser starke Wunsch nach Einheit lag jedoch nicht im beginnenden Kalten Krieg begründet, sondern basierte auf Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Kirchen waren 1945 tief gespalten und die Menschen sehnten sich danach, diese Trennung, wenn nicht zu überwinden, so doch vergessen zu machen. Einerseits sticht deshalb die relativ oberflächliche Auseinandersetzung der christlichen Kirchen mit dem Nationalsozialismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit hervor, bei der es in erster Linie darum ging, Schuld formelhaft zu bekennen, um diese in einem nächsten Schritt von sich zu weisen: Indem die Kirchen um Vergebung baten, vergaben sie selbst. Andererseits wird deutlich, wie stark bestimmte Kategorien, Argumentations- und Handlungsmuster aus den Jahren 1933 bis 1945 das kirchliche Leben weiterhin prägten und wie Akteure diese noch immer verwendeten: Allein der Verdacht, den Deutschen Christen nahe gestanden zu haben, konnte weitreichende Konsequenzen für die betreffende Person haben. Die Akteure wussten das und setzten diesen Vorwurf bei Denunziationen gezielt gegen Opponenten ein. Demgegenüber bedeutete die Nähe zur Bekennenden Kirche fast automatisch eine Entlastung in allen Schuldfragen. Die Amtskirchen unternahmen große Anstrengungen, um den Wiederaufbau kirchlicher Organisationen voranzutreiben und traditionelle, kirchliche Handlungsfelder zu verteidigen. Ihre institutionelle Suche nach Selbstbehauptung war zumindest in Teilen erfolgreich, wie die flächendeckende Wiedereinführung des Religionsunterrichts in Ost und West gezeigt hat. Dieses Beispiel macht darüber hinaus deutlich, welche Schlüsselrolle die Kirchen der jungen Generation zuwiesen, wenn es darum ging, politischen Einfluss und gesellschaftliche Macht wieder-

1.4 Resümee



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herzustellen beziehungsweise zu sichern. Aus Sicht der Kirchenleitungen übernahmen junge Menschen dabei eine dienende Funktion, sie wurden nicht als eigenmächtige Akteure wahrgenommen. Die Jugendlichen standen daher schon in den unmittelbaren Nachkriegsjahren für zwei entscheidende Trennungsmomente. Erstens: Mit Blick auf interne Entwicklungen begriffen die Kirchenleitungen das Kriegsende nicht eigentlich als Zäsur. Viele Kirchenleitende hatten nicht eigentlich Reformen zum Ziel, sondern eine Rückkehr in die Zeit vor 1933. Es ist deshalb geradezu exemplarisch, dass die Ideen und Bedürfnisse junger Menschen zurückgewiesen wurden. Doch waren in diesem ignoranten Verhalten der älteren Generationen bereits jene Generationskonflikte angelegt, die die Kirchen zwanzig Jahre später erschütterten. Zweitens: Im beginnenden Kalten Krieg waren junge Christen in der DDR Repressionen in erheblichem Maße ausgesetzt. Als Aushängeschild der Kirchen gerieten sie besonders häufig ins Visier der Sicherheitsbehörden. Diese Erfahrungen unterschieden christliche Jugendliche in Ost-Berlin und der DDR von denen in der Bundesrepublik. Junge Christen in Ostdeutschland erlebten die Härte der Trennung lange vor dem Mauerbau.

Kapitel 2 Verflechtung: Die Suche nach dem Nächsten. Identifikationsmomente (1949–1960er-Jahre) Bald war klar, dass ein bloßes Weitermachen nicht möglich sein würde. Nach der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 und der Gründung der DDR fünf Monate später erlebten die Berliner Christen einen Moment des Durchatmens: Die Alliierten hatten sich gemeinsam mit der Sowjetunion darauf verständigt, am Viermächtestatus der Stadt festzuhalten. Otto Dibelius galt inzwischen als gesetzter erster Mann in der EKiBB und der katholische Bischof Konrad von Preysing hatte seine starke Stellung im Bistum Berlin während der ersten Nachkriegsjahre ebenfalls behauptet. Fortlaufend bekundeten er und Dibelius den Einheitsanspruch ihrer Kirchen. Für die beiden Bischöfe stand unabhängig von allen politischen Entwicklungen fest, dass sich weder die 1948 gegründete EKiBB noch das Bistum trennen würden. Beide verfolgten daher einen kompromisslosen Kurs gegenüber der neuen DDR-Regierung. Sie waren von Beginn an nicht bereit, Einschränkungen hinzunehmen oder Repressionen schweigend zu dulden und griffen den neuen Staat verbal hart an. Doch dann starb Preysing 1950 überraschend und ihm folgte Wilhelm Weskamm auf dem Bischofssitz, der die Seelsorge über das kirchliche Freiheitsideal seines Vorgängers stellte.1 Beide Bischöfe, so beschreibt Tischner diesen Kurswechsel, seien darauf bedacht gewesen, sich von der DDR abzugrenzen. Doch während Preysing auf Konfrontation gesetzt hatte, sei es Weskamm gelungen, sich zu distanzieren, ohne Aufsehen zu erregen und öffentlich in Konflikt mit der DDRRegierung zu geraten.2 Staatskirchenrechtlich blieben die Kirchen in diesen Jahren tatsächlich vereint, es etablierten sich grenz- und damit systemübergreifende Kommunikationsund Erinnerungskulturen. Nichtsdestotrotz war man an der Kirchenbasis immer häufiger darauf angewiesen, dass die Kirchenleitungen zwischen Ost und West vermittelten, wenn es darum ging, bestehende Unterschiede und wahrgenommene Ungleichheiten zu erklären. Das wurde bei gemeinsamen Festen wie Kirchentagen und Prozessionen genauso deutlich wie im Bereich der kirchlichen Medienarbeit, wo man schon bald gezwungen war, auf politische Veränderungen zu reagie-

1 Vgl. Kösters, Christoph: Bischof Wilhelm Weskamm 1891–1956, in: Höhle, Michael (Hrsg.): 75 Jahre Bistum Berlin. 20 Persönlichkeiten, in: Wichmann-Jahrbuch des Diözesangeschichtsvereins Berlin 8 (2004/2005), S. 158. 2 Vgl. Tischner: Katholische Kirche, S. 565. https://doi.org/10.1515/9783111026602-003

2.1 Feste feiern, Kirchen bauen: das Ringen um Rituale und Sichtbarkeit



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ren. Eine Antwort darauf sollten gemeinsame Feindbilder sein. Neben dem Faschismus zählte dazu auch wieder der Kommunismus.

2.1 Feste feiern, Kirchen bauen: das Ringen um Rituale und Sichtbarkeit Wenn das Korn wogt, die Früchte reifen, der Sommer vor der Schwelle steht, wenn die Kartoffel blüht, die Traube ansetzt, ist das Jahr noch nicht gewonnen. Mehr denn je bedarf es des segnenden Armes von oben. Dann feiert die katholische Kirche das Fronleichnamsfest, das vor genau 700 Jahren mit dem schönen Brauch einer Prozession eingeführt wurde. […] Eine Prozession, keine Demonstration. Kein Darbieten einer Überzeugung, das einem weltlichen Zweck dient – sondern ein gläubig-demütiges Nachfolgen, aus dem inneres Bekennen spricht.3

Rückblickend mag es überraschen, mit wie viel Pathos die Neue Zeit im Juni 1946 über die in ganz Berlin stattfindenden Fronleichnamsprozessionen berichtete. Das von der Sowjetischen Militäradministration lizensierte Blatt, später die Zeitung der Ost-CDU, argumentierte, dass angesichts der feierlichen Umzüge die Zeit der nationalsozialistischen Religionsfeindlichkeit endgültig überwunden sei und ein Wiedererstarken christlicher Traditionen in allen Sektoren Berlins beobachtet werden könne. Es handele sich bei diesen großen Festumzügen, so weiter, nicht um politische Veranstaltungen, sondern um persönliche Glaubenszeugnisse.4 Die Botschaft der Ost-Medien war unmissverständlich: In der SBZ gab es wie in den alliierten Besatzungszonen keine Einschränkungen bei der Ausübung der Religionsfreiheit. Tatsächlich erfreuten sich neben den Fronleichnamsprozessionen auch andere kirchliche Rituale und ritualisierte Feierlichkeiten in der unmittelbaren Nachkriegszeit großer Beliebtheit.5 Das lag zum einen daran, dass es den meisten Organisationen noch nicht gestattet war, größere Feiern auszurichten. Es gab also kaum Alternativen zum Kirchenfest. Zum anderen verstanden es die Kirchen in diesen ersten Jahren nach dem Krieg besonders gut, ihre eigenen Interessen – also 3 Fronleichnam, in: Neue Zeit 20.6.1946, S. 3. 4 Vgl. Trotz schlechten Wetters fand am Sonntag in Berlin-Buch die Fronleichnamsprozession statt (Bildunterschrift), in: Berliner Zeitung 25.6.1946, S. 6. 5 „Als Ritual im engeren Sinne wird hier eine menschliche Handlungsabfolge bezeichnet, die durch Standardisierung der äußeren Form, Wiederholung, Aufführungscharakter, Performativität und Symbolizität gekennzeichnet ist und eine elementare sozial strukturbildende Wirkung besitzt. Hingegen wird von Ritualisierung im weiteren Sinne schon dann gesprochen, wenn sich ein bestimmtes Verhalten in seiner äußeren Form regelmäßig wiederholt.“ Stollberg-Rillinger, Barbara: Rituale, 2. aktualisierte Auflage, Frankfurt/New York 2019, S. 9.

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die Verankerung kirchlicher Inhalte in der Mitte der Gesellschaft – mit den Bedürfnissen der Bevölkerung, die nach Zerstreuung suchte, übereinzubringen. Kirchliche Feste galten als unschuldig, weil ideologisch unbelastet, und stellten somit eine der wenigen Möglichkeiten dar, Kollektiverfahrungen zu machen, ohne politisch Stellung beziehen zu müssen.6 Zudem waren Kirchenfeste eine Ausnahme vom Alltag.7 Es handelte sich um ein gemeinsames Erlebnis, das besondere Erinnerungen hervorbrachte, die wiederum Bindungskräfte erzeugen konnten.8 Dabei bezogen auch kirchliche Feste immer eine andere Seite mit ein und bedeuteten folglich eine irgendwie geartete Auseinandersetzung mit diesem Anderen - in diesem Fall etwa dem anderen Deutschland, Ost oder West, dem Nichtmitglied oder dem Andersgläubigen. Sie wurden inszeniert und repräsentierten bestimmte Räume, Gruppen oder Meinungen. Daraus erschließt sich, dass Feste gleichsam für die Gemeinschaften bedeutend waren, die diese feierten, aber darüber hinaus Bedeutung für diejenigen hatten, die nicht daran teilnehmen wollten oder davon ausgeschlossen waren. Allein das erklärt, warum kirchliche Feste vielen SED-Funktionären ein Dorn im Auge waren.9 Ziel der Partei war es, alles Religiöse gänzlich in den Bereich des Privaten zurückzudrängen und die Idee einer christlichen Volkskirche demzufolge zu zerstören. Den Parteimitgliedern widerstrebte es, dass Kirchenfeste einen Anspruch auf den öffentlichen Raum stellten, über den nur die Partei verfügen sollte.10 Denn christliche Religionsgemeinschaften sprachen bei kirchlichen Festen nicht nur ihre Mitglieder an, sie konnten Andere auf sich aufmerksam machen, weil sie als selbstständige Akteure auftraten. Diese mögliche Interaktion mit einem Dritten, eine nur wahrscheinliche Außenwirkung, scheint die SED-Funktionäre mehr geängstigt zu haben als die tradierten Rituale selbst, von denen die DDR-Regierung seit den 1950er-Jahren sogar einige zu imitieren versuchte. Dazu später mehr. In der Bundesrepublik spielte die Angst vor möglichen Konkurrenzangeboten bald eine ebenso große Rolle, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Mitglieder der Kirchenleitungen äußerten die Befürchtung, dass nichtkirchliche Feste Kirchenmitglieder daran hindern könnten, die kirchlichen Feiertage einzuhalten und an religiösen Festen teilzunehmen. Die Ordnung, die das Fest etwa durch „bestimmte Darstellungsweisen“ repräsentierte, drohte hier wie auch in der DDR auf-

6 Vgl. Stambolis: Heilige Feste, S. 178 und S. 183. 7 Vgl. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Das Fest, in: Haupt, Heinz-Gerhard (Hrsg.): Orte des Alltags. Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschichte, München 1994, S. 202. 8 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Die Aktualität des Schönen, Stuttgart 1979, S. 52. Siehe auch: Lüsebrink: Das Fest, S. 204. 9 Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 233. 10 Vgl. Gadamer: Die Aktualität des Schönen, S. 54.

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grund neuer, attraktiver Alternativen von Vereinen oder politischen Parteien durcheinanderzugeraten.11

Kategorien kirchlicher Feste Aber Fest ist nicht gleich Fest: Zunächst denkt man bei kirchlichen Festen oft an die regulären, immer wieder stattfindenden Feierlichkeiten, die quasi-gesamtgesellschaftlich bedeutsam sind. Dazu zählen Feiertage wie Weihnachten oder Ostern. Daneben ist zwischen konfessionell bedeutsamen Festtagen wie Fronleichnam in der katholischen Kirche oder dem evangelischen Reformationstag zu unterscheiden. Außerdem gibt es kirchliche Großereignisse wie Kirchen- und Katholikentage oder regionale und lokale Festveranstaltungen wie Bistumstage und Gemeindefeste. Kirchliche Festtage können demnach sach- oder personenbezogen sein und ganz unterschiedliche Zyklen haben. Des Weiteren sind jene kirchlichen Feste zu berücksichtigen, die den einzelnen Menschen in den Vordergrund rücken. Diese sind vor allem biographisch bedeutsam und übernehmen zum Beispiel die Funktion eines Initiationsrituals wie es bei der Kommunion oder der Konfirmation der Fall ist.12 In der Regel beginnen solche Feste mit einer öffentlichen Veranstaltung – etwa einem Festgottesdienst – und werden dann in einem privaten, familiären Rahmen fortgesetzt. Für die SED stellte in diesem Fall nicht das Fest als solches ein Problem dar, sondern das Ritual als Massenphänomen, welches die Zugehörigkeit zu einer ganz bestimmten Gruppe, hier einer religiösen Gemeinschaft besiegelte. Typisch für solche Initiationsfeste ist außerdem, dass die Akteure festlich gekleidet sind und die im Mittelpunkt stehenden Kinder oder Jugendlichen Geschenke erhalten. Auch dieser letzte Punkt scheint für die SED relevant gewesen zu sein, in der Imitation beziehungsweise Neuinterpretation religiöser Traditionen schlug er sich ebenfalls nieder. Die hier gemeinten Feste sprachen größere und kleinere Gemeinschaften sowie unterschiedliche Öffentlichkeiten an. Sie verfügten über unterschiedliche Einzugsgebiete und konnten mehr oder weniger inklusiv beziehungsweise exklusiv sein. In jedem Fall wurden bei allen diesen Festen Fragen von Zugehörigkeit und Zugänglichkeit verhandelt. Sie vereinten Generationen und Milieus oder trennten sie voneinander. Sie verwiesen auf die Geschlossenheit einer Gruppe und konnten gleichzeitig deren Öffnung anregen. Sie folgten eigenen Regeln und kannten eigene Codes, die eben zum Beispiel über das Tragen einer bestimmten Kleidung re11 Ebenda, S. 53. 12 Die im Folgenden thematisierte Jugendweihe versuchte eben diese Merkmale gezielt zu adaptieren.

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produziert wurden.13 Zudem galt: Wer am Fest teilnehmen wollte, musste anwesend sein. Somit regten Feste dazu an, einen bestimmten Ort aufzusuchen, konkret hieß das zum Beispiel, in einen anderen Sektor Berlins zu fahren.14 Außerdem entscheidend: Unterschiedliche Festtypen sprachen verschiedene Gruppen an. Christliche Kirchen etwa versuchten mit Festen nicht nur die eigenen Mitglieder zu mobilisieren oder sich von staatlichen Institutionen abzugrenzen, sondern ebenso religiöse Konkurrenten abzuwehren.15 Feste zu feiern bedeutete für die einzelnen Religionsgemeinschaften, öffentlich sichtbar zu sein: Hohe Teilnehmerzahlen bei Festgottesdiensten und Prozessionen waren Indizien, die zumindest einige Mitglieder der Kirchenleitungen noch auf eine Rechristianisierung hoffen ließen.16 In der Nachkriegszeit entwickelten sich Kirchen- beziehungsweise Bistums- und Katholikentage für die beiden großen christlichen Konfessionen deshalb zu besonders wichtigen Veranstaltungen, um möglichst viele Teilnehmende zusammenzubringen. Die Erfolge sprachen zunächst für sich. Den Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin 1951 besuchten rund 300.000 Personen. Euphorisch erinnerte sich Bischof Dibelius: „Da war ganz Berlin, obwohl damals schon sehr dunkle Wolken am Himmel standen, für die große Versammlung von evangelischen Christenmenschen aus ganz Deutschland offen, West und Ost!“17 Der Kirchentag stand unter dem schon an vorheriger Stelle erwähnten Motto: „Wir sind doch Brüder“.18 Allein das Thema dieses großen Laientreffens transportierte eine unmissverständliche Botschaft an Teilnehmende wie Nichtteilnehmende.19 Das Leitwort manifestierte den Anspruch der evangelischen Kirche, als eine systemübergreifende Einheit wahrgenommen zu werden, wobei das Adverb doch gleichzeitig auf den fragilen Charakter dieser Einheit hinwies. Die DDR-Regierung und der Ost-Berliner Magistrat versuchten bei der Vorbereitung der Veranstaltung zwar ihr Wohlwollen unter Beweis zu stellen und erklärten mehrfach ihre Unterstützungsbereitschaft, trotzdem drängte das Informationsamt der DDR ohne nachvollziehbaren Grund darauf, dass die Programmhefte für Kirchentagsbesucherin13 Stambolis: Heilige Feste, S. 187–188. 14 Vgl. Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 14. 15 Vgl. Bericht Pfarrsprengel Zeesen 1956. ELAB 86/62. Siehe auch: Gemeindebericht Schulzendorf 1956. ELAB 86/62. Sowie: Gemeindebericht Wildau 1956. ELAB 86/62. 16 Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 26. 17 Dibelius: Reden, S. 4. 18 Vgl. Seidel: Neubeginn, S. 187. 19 Vgl. Dibelius: Reden, S. 59. Siehe auch: Halbrock, Christian: Zwischen Himmel und Mauer. Geteilte Berliner und Brandenburger Kirchgemeinden nach dem Mauerbau, in: Lemke, Michael (Hrsg.): Konfrontation und Wettbewerb. Wissenschaft, Technik und Kultur im geteilten Berliner Alltag (1948–1973), Berlin 2008, S. 308.

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nen und -besucher aus dem Osten gesondert gedruckt wurden. Erstens bedeutete das einen Mehraufwand für die Veranstalter. Zweitens erleichterte diese Vorgabe den Behörden den Zugriff auf die Hefte, sollten sie darin vermeintlich staatskritische Inhalte entdecken.20 Auf die Besucherzahlen nahmen solche taktischen Störversuche vorerst aber keinen Einfluss. Beim Kirchentag in Leipzig 1954 – dem vorerst letzten großen Kirchentag auf dem Gebiet der DDR – kamen 500.000 Christen aus Ost und West zusammen.21 Und auch beim regionalen Kurmärkischen Kirchentag in Potsdam, bei dem 1959 noch einmal Protestanten aus Ost- und West-Berlin zusammenfanden, waren die Kirchen überfüllt. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Einheit der christlichen Kirchen in Deutschland das vorherrschende Thema auf Veranstaltungen dieser Art. So problematisierte Generalsuperintendent Braun in seiner Potsdamer Predigt die drohende „Entchristlichung“ Deutschlands und unterstrich, dass Ostund Westdeutschland gleichermaßen von dieser Entwicklung betroffen seien.22 Sein erklärtes Ziel war es, mit Verweis auf grenzübergreifende Probleme, den Zusammenhalt der Ost- und West-Berliner Besucherinnen und Besucher zu stärken.23 Ebenso bemühte sich die katholische Kirche um die Ausrichtung grenzübergreifender Feste. Als das Bistum Berlin im Juni 1955 den 25. Jahrestag seiner Gründung feierte, versammelten sich 80.000 Katholiken aus Ost- und West-Berlin sowie aus der Bundesrepublik und der DDR im West-Berliner Olympiastadion. Bischof Weskamm erinnerte in seiner feierlichen Ansprache an die Einheit der katholischen Kirche und sprach sich zudem für eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten aus.24 Allerdings täuschen diese vermeintlich hohen Besucherzahlen darüber hinweg, dass die Kirchen mit ihren Mobilisierungskräften nicht zufrieden waren. Sowohl Weskamms Ansprache als auch Brauns Predigt fallen in eine Zeit, in der die Kirchenleitungen die Bedeutung einzelner christlicher Feiertage nicht nur in der DDR gefährdet sahen. Bezüglich Christi Himmelfahrt stellte etwa Bischof Dibelius 1958 klar, dass er die einst in und um Berlin entstandene, zwischenzeitlich aber deutschlandweit gebräuchliche Bezeichnung Vatertag sowie den damit verbunde20 Vgl. 225.000 DM für Kirchenausbau. Sitzung des demokratischen Magistrats, in: Neues Deutschland 1.6.1951, S. 1. Außerdem: CDU begrüßt „Deutschen Evangelischen Kirchentag“, in: Neues Deutschland 9.6.1951, S. 2. Siehe auch: Macht die Macht böse?, in: Der SPIEGEL 11.7.1951, S. 6. 21 1961 sollte der Kirchentag in Berlin stattfinden, dessen Status staats- und völkerrechtlich nicht eindeutig geklärt war. Die DDR-Behörden verboten offizielle Veranstaltungen im Ostteil jedoch kurz vor Beginn des Kirchentages. Vgl. Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 45. 22 Gottes Volk in dieser Welt, in: Die Kirche 7.6.1959, S. 1–2. 23 Vgl. ebenda, S. 1–2. 24 Bistum zwischen zwei Welten, in: Der Tagesspiegel 21.6.1955, S. 3.

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nen Deutungs- und Traditionswandel ablehnte. Dibelius beanstandete, dass vor allem Männer, aber auch ganze Familien lieber Ausfahrten machten, sich kostümierten und Alkohol konsumierten, anstatt am Himmelfahrtstag den Gottesdienst zu besuchen. Zudem kritisierte er die Kommerzialisierung und allgemeine Popularisierung des Feiertages in den deutschsprachigen Medien. Der Bischof warf den Zeitungen in Ost wie in West vor, dass sie kritiklos über ausschweifende Unternehmungen berichteten und Werbeanzeigen für Vatertagsgeschenke abdruckten.25 Die Kirchenleitungen befürchteten, dass die mit den kirchlichen Feiertagen verbundenen religiösen Praktiken verloren gehen würden und statt dem Gebet oder dem Feiern des Abendmahls, Tanzveranstaltungen und Alkoholkonsum im Vordergrund stünden.26 Andere kirchliche Feiertage wie das Epiphaniasfest waren derweil in weiten Teilen Deutschlands bereits aus dem Bewusstsein der Mehrheitsbevölkerung verschwunden und drohten gänzlich vergessen zu werden.27

Staatlicher Einfluss auf kirchliche Feiertage in der DDR und Ost-Berlin Doch während aus kirchlicher Sicht in der Bundesrepublik eine Verweltlichung christlicher Feiertage drohte, ging die DDR-Regierung aktiv dazu über, bestimmte Traditionen entweder ganz zu zerstören oder in ihrem Sinne neu zu interpretieren. Dabei artikulierte sie ihren Herrschaftsanspruch in den Gründungsjahren der DDR noch nicht über radikale Verbote, sondern ging subtiler vor. Katholische Schülerinnen und Schüler, die zum Beispiel am Allerheiligenfest teilgenommen hatten und deswegen dem Unterricht ferngeblieben waren, erhielten nicht direkt einen Tadel oder einen Verweis. Stattdessen wurden die versäumten Stunden am Ende des Schuljahres als Fehlstunden auf dem Zeugnis vermerkt, was die Versetzung der Schüler oder ihren Besuch einer höheren Schule im Zweifelsfall gefährden konnte.28

25 Vgl. Dibelius gegen „Vatertag“, in: Die Welt 25.4.1958, S. 2. 26 Ein weiteres Beispiel dafür ist die Kirmes. Das ursprüngliche Kirchweihfest entwickelte sich gerade in ostdeutschen Regionen zu einem Volksfest. 27 Vgl. Zu diesem Stern aufblicken, in: Die Kirche 11.1.1959, S. 1. Siehe auch: Stambolis: Heilige Feste, S. 207. 28 Vgl. Katholisches Pfarramt St. Antonius an den Beirat für kirchliche Angelegenheiten 14.11.1949. LA B Rep 002/26036. 1945 war es katholischen Schulkindern vom Berliner Magistrat noch explizit gestattet worden, der ersten Unterrichtsstunde zum Besuch des Gottesdienstes fernzubleiben. Vgl. An das Presseamt beim Magistrat 29.10.1945. LA B Rep 002/4613. In den 1950erJahren war Allerheiligen für katholische Schüler und Lehrer wieder schulfrei. Bischöfliches Ordinariat an alle Seelsorgestellen im Demokratischen Sektor von Groß-Berlin und der DDR im Bistum Berlin 22.10.1956. Hektographie, Berliner Bistumsarchiv (BAB), abgedruckt bei: Lange, Gerhard/

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Ab Mitte der 1950er-Jahre ging die DDR-Regierung dann aggressiver gegen kirchliche Feiertage vor: Sie initiierte neue Feierlichkeiten und schaffte kirchliche Feiertage einfach ab. Der bekannteste dieser Versuche, neue Feste zu etablieren, ist ohne Frage die Jugendweihe, auf die im Folgenden noch eingegangen wird. Andere Beispiele sind die sozialistische Namensgebung als Alternative zur Taufe oder die sozialistische Eheschließung als Pendant zur kirchlichen Trauung.29 Mit Ausnahme der Jugendweihe misslang die dauerhafte Implementierung solcher ersatzreligiösen Rituale größtenteils. Es gelang den sozialistischen Organisationen nicht, kirchliche Traditionen glaubhaft nachzuahmen und Menschen auf diese Weise massenhaft und scheinbar zwanglos zu binden. Der Erfolg dieser Versuche war vielmehr ein anderer: Denn obwohl die sozialistischen Ersatzrituale keine Begeisterungsstürme weckten, verloren kirchliche Initiationsrituale auf diese Weise ihr Alleinstellungsmerkmal. Für die Funktionäre war das ein befriedigendes Ergebnis. Nach dem Mauerbau hatten die Parteiorgane noch weniger Hemmungen, die Freiheit der Religionsausübung weiter einzuschränken. Der VII. Parteitag der SED beschloss 1967, dass Christi Himmelfahrt, Ostermontag, Fronleichnam, der Reformationstag sowie der Buß- und Bettag ab 1968 keine gesetzlichen Feiertage mehr sein sollten. Diese Entscheidung basierte nicht allein auf kulturpolitischen Überlegungen, sondern folgte vor allem ökonomischen Ansprüchen. Es ging der DDR-Regierung darum, die Zahl der Arbeitstage zu erhöhen. Die kirchlichen Feiertage dafür zu opfern, kam ihr besonders gelegen. Die Berliner Kirchenleitungen reagierten darauf, indem sie etwa die Ostermontagsgottesdienste auf die Abendstunden verlegten, um es arbeitenden Kirchenmitgliedern auf diese Weise trotzdem zu ermöglichen, an den Gottesdiensten teilzunehmen.30 Außerdem legten die katholischen Bischöfe nun erst recht großen Wert darauf, an den abgeschafften Feiertagen feierliche Messen in großen Ost-Berliner Kirchen abzuhalten. Sie hofften auf diese Weise etwas von der verlorenen Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.31 Schließlich sollten Rundfunkübertragungen von Festgottesdiensten in den westlichen Medien den Ausfall kirchlicher Veranstaltungen in Ost-Berlin und der DDR kompensieren. Je mehr die DDR-Behörden die Kirchen also aus öffentlichen Räumen hinausdrängten, desto einfallsreicher Pruß, Ursula (Hrsg.): An der Nahtstelle der Systeme. Dokumente und Texte aus dem Bistum Berlin 1945–1990, 1. Halbband: 1945–1961, Leipzig 1996, S. 224. 29 Vgl. Dähn, Horst: Der Konflikt Konfirmation – Jugendweihe 1955–1958. Kirchliche Handlungsspielräume und ihre Grenzen, in: Dähn, Horst/Gotschlich, Helga (Hrsg.): „Und führe uns nicht in Versuchung…“. Jugend im Spannungsfeld von Staat und Kirche in der SBZ/DDR 1945 bis 1989, Berlin 1998, S. 33. Vgl. Höllen: Loyale Distanz?, Band 2, S. 143–145. 30 Vgl. Neues im Bistum, in: Petrusblatt 21.4.1968, S. 5. 31 Vgl. Bengsch: Kirche zwischen Elbe und Oder, S. 141.

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agierten diese, wenn es darum ging, ihre eigenen Räume zu nutzen. Die Resultate dieses Vorgehens sprachen durchaus für sich: Jüngere katholische Gemeindemitglieder in der DDR, denen entsprechende Vergleichsmöglichkeiten fehlten, stellten das Abhalten von Prozessionen auf dem eigenen Kirchhof nicht in Frage.32 Während in der Bundesrepublik kein Pfarrer auf die Idee gekommen wäre, eine Prozession nur über den eigenen Kirchhof zu führen, entwickelten sich solche Szenarien in der DDR derweil zur Normalität. Prälat Roland Steinke sprach mit Blick auf diesen Einfallsreichtum der Kirchenmitglieder in der DDR deswegen sogar von einer spezifischen, gemeinschaftsstärkenden Kollektiverfahrung.33 Andere kirchliche Rituale erfuhren gerade durch Druck von außen einen Bedeutungszuwachs beziehungsweise eine Umdeutung. Beerdigungen hoher kirchlicher Würdenträger entwickelten sich zum Beispiel zu wichtigen Begegnungsorten.34 Wenn Kirchenangehörige aus Ost und West zusammenkamen, um verstorbener Personen zu gedenken, nutzten sie die Gelegenheit immer auch, um miteinander ins Gespräch zu kommen, sich über aktuelle Probleme auszutauschen und Absprachen zu treffen. Zwar hatten nach 1961 in der Regel nur mehr Teile der Kirchenleitung Zugang zu solchen Veranstaltungen, aber sie waren wie einfache Gemeindemitglieder dazu herausgefordert, nach direkten Kontaktmöglichkeiten zu suchen. Nicht zuletzt versuchten die Kirchen die Attraktivität staatlicher Feiertage durch die Schaffung grenzübergreifender Alternativen zu schmälern. So veranlasste Papst Pius XII. zum 1. Mai 1955 die Einführung des Festes Josef der Arbeiter.35 Er zielte darauf ab, dem an diesem Tag gefeierten sozialistischen Arbeiterideal eine christliche Interpretation gegenüberzustellen: Priester sollten Landmaschinen segnen; Arbeiterinnen und Arbeiter im Westen waren angehalten, ihrer im Osten tätigen Kolleginnen und Kollegen zu gedenken.36 Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass in beiden deutschen Staaten seit den 1950er-Jahren über die Verlegung von Gottesdienstzeiten, die Einführung neuer Feste und den Wandel von Traditionen diskutiert wurde – mit gleichem Ergebnis: Die Kirchenleitungen waren zunehmend unsicher, ob sie gesamtgesellschaftlich geltende Deutungshoheiten be32 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 8. In anderen katholischen Gemeinden in der DDR wurden die Fronleichnamsprozessionen nicht gänzlich aus dem öffentlichen Raum verdrängt, sondern nur stark verkürzt. In der Gemeinde Herz Jesu in Berlin-Prenzlauer Berg etwa führte die Prozession aus der Kirche heraus über den davor liegenden Teutoburger Platz und wieder zurück. Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 18. 33 Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 31. 34 Vgl. Abschied von Wilhelm Weskamm, in: Der Tagesspiegel 28.8.1956, S. 3. 35 Vgl. Bartlitz: Katholische Medien, S. 234. 36 Vgl. Der neue Geist des 1. Mai. Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) 27.4.1956 (Nr. 100). LA B Rep 002/9121/1.

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haupten konnten, in jedem Fall wollten sie aber wenigstens Teilöffentlichkeiten besetzen. Das gelang nicht immer. So dauerte es zum Beispiel mit Blick auf die schon erwähnte Jugendweihe sehr lange, bis die Kirchen einen Modus Operandi fanden. Das Thema beschäftigte vor allem die Kirchenmitglieder in der DDR und Ost-Berlin, wo die SED gezielt versuchte, die Jugendweihe als Konkurrenzritual gegenüber kirchlichen Feiern, die den Übergang vom Kindes- ins Erwachsenenalter anzeigen, zu etablieren. De facto fanden bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts Jugendweihen in Deutschland statt, aber nur in der DDR und in Ost-Berlin drängten staatliche Institutionen seit Mitte der 1950er-Jahre systematisch darauf, dass alle Jugendlichen daran teilnahmen.37 Besonders belastete diese Entwicklung die evangelischen Gemeinden, denn die Jugendweihen fanden etwa zur selben Zeit wie die Konfirmationen statt. Gemeindemitglieder gerieten dabei von zwei Seiten unter Druck. Staatlicherseits wurden Nachteile bei der Schul- und Berufsausbildung angedroht, sollten die Jugendlichen auf eine Teilnahme an der Jugendweihe verzichten. Auf der anderen Seite erklärte die evangelische Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg 1955, dass alle Jugendlichen, die zur Jugendweihe gegangen waren oder die Absicht äußerten, daran teilzunehmen, nicht konfirmiert werden dürften.38 Ungewollt spielten die Kirchenleitenden mit dieser Entscheidung der SED in die Hände, deren Propagandazeitung Neues Deutschland schadenfreudig darauf hinwies, dass „Herr Dibelius den Kirchenaustritt selbst organisiert und Mitglieder aus der Kirche hinausdrängt.“39 Solche Unterstellungen konnte die evangelische Kirchenleitung nicht unkommentiert lassen. Nachdem die Berliner Kirchenzeitung schon 1954 eine saubere Unterscheidung von Jugendweihe und Konfirmation angemahnt hatte, stellte der spätere Berliner Bischof Kurt Scharf 1959 klar, dass es sich bei der Jugendweihe eben nicht wie von den staatlichen Zeitungen behauptet, um ein von der Weltanschauung unabhängiges Ritual handele, sondern der dazugehörige Festakt vielmehr einen grundlegend atheistischen Charakter habe und deshalb von allen Kirchenmitgliedern abgelehnt werden müsse.40 Das Problem der Jugendweihe sei, hieß es in einem zwei Jahre später erschienen Text, dass sich junge Menschen in 37 Vgl. Weihe, in: Der SPIEGEL 22.12.1954, S. 4. 38 Vgl. Entweder Konfirmation oder Jugendweihe. Aus einem Brief von Bischof D. Dr. Dibelius an die Eltern, in: Berliner Sonntagsblatt 3010.1955, S. 1. 39 Die Rolle der Deutschen Demokratischen Republik im Kampf um ein friedliches und glückliches Leben des deutschen Volkes, in: Neues Deutschland 1.11.1955, S. 3. Die Berliner Zeitung druckte indes Leserbriefe ab, die am vermeintlich staatsfeindlichen Verhalten einiger Pfarrer, die sich gegen die Jugendweihe aussprachen, Anstoß nahmen. Vgl. Wie lange noch in Amt und Würden?, in: Berliner Zeitung 15.11.1957, S. 10. 40 Vgl. Wir werden gefragt – wir fragen zurück, in: Die Kirche 15.2.1959, S. 3.

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der DDR nicht frei dafür entscheiden könnten, sondern sich immer dazu gezwungen sahen, an der Jugendweihe teilzunehmen.41 Diese Haltung, die maßgeblich von Bischof Dibelius bestimmt wurde, traf in der Bundesrepublik nicht nur auf Zustimmung.42 Dort war sehr wohl registriert worden, dass der Bischof mit seinem rigorosen Auftreten gegenüber den eigenen Mitgliedern die Argumentation der DDR-Regierung unbeabsichtigt stützte.43 Es gab berechtigte Zweifel daran, ob derart schwerwiegende Entscheidungen den eigenen Mitgliedern abverlangt werden sollten:44 Einigen westdeutschen Christen erschien es schlichtweg paradox, gegen Repression mit Repression vorzugehen und den Druck von außen an die Kirchenmitglieder weiterzugeben. Tatsächlich wurde die Regelung in der Praxis nur in den Anfangsjahren konsequent durchgesetzt, wobei gerade auf dem Land auch keine Notwendigkeit dafür zu bestehen schien.45 Andernorts verzichteten Pfarrer ganz bewusst darauf, der Anordnung Folge zu leisten. Warum, zeigt ein Gemeindebericht aus dem Pfarrsprengel Zeesen: In Zeesen sind drei Konfirmanden zur Jugendweihe gegangen, obwohl Pfr. Tillack vorher die Erziehungsberechtigten persönlich auf die Folgen hingewiesen hatte. Die Mädchen haben sich danach das Hlg. Abendmahl erschlichen. Der Pfarrer hat, um öffentliches Aufsehen zu vermeiden, nicht den Mut gehabt, sie zurückzuweisen oder zu übergehen. Die Visitatoren hatten eine seelsorgerliche Unterredung mit den drei Mädchen, bei der auch Pfr. Tillack zugegen war. Es wurde deutlich, daß in erster Linie die Erziehungsberechtigten verantwortlich sind.46

Die kirchlichen Visitatoren schlugen den Mädchen deshalb vor, ihr Jugendweihegelöbnis gegenüber dem Jugendweihe-Ausschuss schriftlich zurückzunehmen. Danach würden sie wieder als rechtmäßig konfirmiert angesehen. Jedoch wurde bald deutlich, dass die evangelische Kirche die Jugendlichen nicht vor die Wahl stellen konnte, entweder zur Konfirmation oder zur Jugendweihe zu gehen. Denn zu viele Jugendliche entschieden sich gegen die Konfirmation. Spätestens nach dem Mauerbau musste sich die Kirchenleitung angesichts der zu41 Vgl. Unsere Meinung. Die Freiheit des Menschen, in: Die Kirche 20.8.1961, S. 3. 42 1958 stimmten die Bischöfe in der DDR einer von Oberkirchenrat Hafa für Dibelius ausgearbeiteten Stellungnahme zu, die die Unvereinbarkeit von Konfirmation und Jugendweihe noch einmal feststellte und in der eine Änderung der Konfirmationspraxis ausgeschlossen wurde. 43 Vgl. Kein Mord im Dom, in: Der SPIEGEL 11.11.1959, S. 20–32. 44 Vgl. Beintker, Michael: Nachdenkliche Rückblenden auf das Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR, in: Kirchliche Zeitgeschichte 2 (1994), S. 316–317. 45 Vgl. Gemeindebericht Pfarrsprengel Krausnick 1956. ELAB 86/62. Siehe auch: Gemeindebericht Schulzendorf 1956. ELAB 86/62. Sowie: Gemeindebericht Zernsdorf 1956. ELAB 86/62. Des Weiteren: Gemeindebericht über den Pfarrsprengel Grüntal 1955. ELAB 35/11522. 46 Gemeindebericht Pfarrsprengel Zeesen 1956. ELAB 86/62. Vgl. Gemeindebericht ZepernickRöntgental 1955. ELAB 35/11522.

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nehmenden Abschottung der DDR und gleichzeitigen Repressionsmaßnahmen gegen die dortigen Kirchenmitglieder deshalb auf ein Sowohl/Als auch verlegen, wollte sie den Gemeindenachwuchs sichern. Dessen ungeachtet galt die Konfirmationsbestimmung von 1955 formal bis 1966. Erst dann wurde sie aufgehoben.47 Ohnehin sagte das alles noch nichts über den Umgang mit der Jugendweihe vor Ort aus. Auch Ende der 1960er-Jahre gab es Gemeinden, in denen ein Großteil der Jugendlichen ausschließlich zur Konfirmation ging. So nahmen in einer brandenburgischen Landgemeinde 1969 nur vier der insgesamt zwölf Konfirmandinnen und Konfirmanden auch an der Jugendweihe teil. Der ansässige Pfarrer erklärte, dass dieses Verhalten darauf zurückzuführen sei, dass die Lehrerinnen und Lehrer vor Ort kaum für die Jugendweihe würben. Er stellte fest, dass der Einfluss der Schule auf diese Entscheidung sehr viel größer sei, als die Meinung der Eltern. Folglich machte es kirchlicherseits wenig Sinn, den Druck auf die Erziehungsberechtigten zu erhöhen.48 Eine entsprechende Verhaltensrichtlinie galt im Übrigen auch für West-Berlin. Dort berichteten Pfarrer, dass Eltern ihre Kirchenmitgliedschaft als Pfand einsetzten, wenn ihre Kinder die Konfirmationsprüfungen nicht bestanden hatten. Sie drohten damit, ihre Kinder bei einer nicht bestandenen Nachprüfung für die Jugendweihe anzumelden und selbst aus der Kirche auszutreten.49 Eltern, die solche Handlungsoptionen ins Spiel brachten, zeigten der Kirchenleitung in Berlin-Brandenburg auf, dass die alte Praxis endgültig überholt war. Die evangelische Kirche hatte nicht mehr das Gewicht einer moralischen Instanz, die mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft bei Teilnahme an der Jugendweihe oder nicht bestandener Konfirmationsprüfung ernstlich drohen konnte. Folgerichtig entwickelte es sich in der DDR und in Ost-Berlin im Laufe der 1960er-Jahre zur Routine, dass Pfarrer Jugendliche auch dann konfirmierten, wenn sie nur nicht im selben Jahr an Jugendweihe und Konfirmation teilnahmen.50 Ein Vorgehen, das anfänglich skandalisiert worden war, entwickelte sich somit zur Normalität.51 Die brandenburgische Gemeinde Lichterfelde ging Mitte der 1960er-Jahre gedanklich noch einen Schritt weiter und regte an, das Konfirmationsalter auf das 16. bis 18. Lebensjahr heraufzusetzen, um möglichen Konfirmandinnen und Kon47 Vgl. Dähn: Der Konflikt, S. 33–34. 48 Vgl. Zusammenkunft der Gemeindekirchenräte von Ahrensdorf, Gröben und Güterfelde 25.10.1969. ELAB 86/248. Siehe auch: Visitationsbericht Kirchenkreis Jüterbog 5.-14.11.1966. ELAB 86/212. Und: Richter: Pietismus im Sozialismus, S. 175. 49 Vgl. Superintendent an das Konsistorium 30.3.1962. ELAB 1/6320. 50 Vgl. Generalkirchenvisitation Pankow 1962. ELAB 86/54. 51 Aus dem Kirchenkreis Zossen ist bekannt, dass Mitte der 1970er-Jahre nahezu 100 Prozent der Konfirmandinnen und Konfirmanden vor der Konfirmation zur Jugendweihe gegangen sind. Vgl. Visitationsfragebogen Kirchenkreis Zossen 1976. ELAB 35/23041.

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firmanden die Entscheidung zu erleichtern.52 Damit wollte sie letztlich auch der Gefahr entgegenwirken, junge Gemeindemitglieder frühzeitig wieder zu verlieren. Denn die Konfirmationszahlen gingen trotz allem weiter zurück.53 Aus diesem Grund hatte die EKD schon 1958 einen grenzübergreifenden Konfirmations-Ausschuss gebildet, der aber auf keinen gemeinsamen Nenner kam: zu unterschiedlich waren die Vorstellungen der einzelnen Landeskirchen. Während in der DDR und Ost-Berlin die politischen Verhältnisse zur Erklärung der rückläufigen Konfirmationszahlen dienten, gestaltete sich die Ursachensuche im Westen schwieriger. Vor allem veraltete pädagogische Konzepte und das Desinteresse mancher Pfarrer am Konfirmationsunterricht gerieten dabei in den Verdacht, für die sinkenden Zahlen verantwortlich zu sein. Der daraufhin von der Synode der EKD angeregte Vorschlag einer Neuordnung der Konfirmationsordnung wurde 1961 dennoch abgelehnt.54 Der katholische Episkopat nahm ebenfalls Anstoß an den Jugendweihefeiern. Die Teilnahme daran sei eine Sünde, erklärte das Bischöfliche Ordinariat.55 Im Februar 1959 veröffentlichten die Bischöfe und Bischöflichen Kommissare in der DDR einen gemeinsamen Fastenhirtenbrief, den katholische Geistliche sowohl in den Ost-, als auch West-Berliner Sonntagsmessen verlesen sollten.56 Sie brachten darin erneut ihre Ablehnung der Jugendweihe zum Ausdruck und riefen die Kirchenmitglieder dazu auf, nicht daran teilzunehmen. 57 Anlass dafür war, dass die Jugendweihevereine auch in West-Berlin zunehmend aggressiver um Teilnehmende warben. So hatte zum Beispiel 1956 die Gemeinschaft für Jugendweihe e. V. 25.000 Werbebroschüren verteilt, die die Jugendweihe als Alternative zu Konfirmation und Firmung auszeichneten.58 Außerdem nahmen die Bischöfe Anstoß daran, dass die DDR-Presse über Jugendweihefeiern in West-Berlin berichtete, mutmaßlich um die Akzeptanz des Festes in der DDR zu erhöhen.59 Doch der bischöfliche Protest fand kaum Anklang. Schlussendlich setzte sich in den katholischen 52 Vgl. Bericht über die Visitation des Superintendenten in dem Kirchspiel Lichterfelde 25.4.2.5.1965. ELAB 35/12100. 53 Während in der EKiBB 1953 noch 71.369 Personen konfirmiert wurden, waren es 1963 noch 8397 Jugendliche, die zur Konfirmation gingen. Vgl. Pollack, Detlef: Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR, Stuttgart/Berlin/Köln 1994, S. 514. 54 Vgl. Konfirmation. Gelübde ohne Wert, in: Der SPIEGEL 1.3.1961, S. 38–40. 55 Vgl. Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 47. 56 Vgl. Kirche unter Christi Kreuz, in: Petrusblatt 15.2.1959, S. 1. 57 Vgl. Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 59. 58 Vgl. Ulbrichts Jugendweihe in Westberlin!, in: Petrusblatt 25.3.1956, S. 5. Die Werbung des Jugendweihe e. V. in West-Berlin erregte auch die Aufmerksamkeit der evangelischen Kirchenpresse. Vgl. Ohne Kommentar, in: Berliner Sonntagsblatt 18.12.1955, S. 6. 59 Vgl. Im „Gesellschaftshaus“ in Neukölln, in: Neues Deutschland 29.3.1955, S. 6.

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Kirchen Ost-Berlins und Brandenburgs eine ähnliche Praxis durch wie in der evangelischen Kirche: Firmung und Jugendweihe sollten nicht im selben Jahr erfolgen. Jugendliche, die im vorherigen Jahr zur Jugendweihe gegangen waren, konnten im darauffolgenden Jahr aber relativ problemlos an der Firmung teilnehmen.60 Innerfamiliär blieb die Frage nach der Teilnahme an der Jugendweihe vielfach ein kritisches Moment. Religiöse Eltern und Jugendliche haderten mit der Anmeldung. Sie mussten in Ost-Berlin und der DDR immer abwägen, inwieweit eine Verweigerung die schulische und berufliche Laufbahn eines Kindes gefährden konnte beziehungsweise inwieweit eine Ablehnung der Jugendweihe als politische Stellungnahme der Eltern gedeutet werden konnte.61 Anders als die Kirchenleitungen äußerten viele Gemeindepfarrer Verständnis für die Situation, in der sich die betroffenen Familien befanden, erinnerte sich der damalige Vorsitzende des theologischen Ausschusses in der DDR Curt-Jürgen Heinemann-Grüder: „Schließlich waren es auch Pfarrer und Laienmitglieder der Kirchenleitung, die meinten, ihren Kindern das ‚Entweder-Oder‘ nicht zumuten zu können.“62 Diese Haltung teilte der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR. Er gab keine konkreten Handlungsanweisungen vor, verwies aber darauf, dass die Jugendweihefrage individuell beantwortet werden müsse. Siegfried Rosemann, der 1983 zum Jugendpastor des Bundes berufen wurde, resümierte rückblickend: „Wir als Bund hatten an dieser Stelle keinen Mut, pointierte Empfehlungen zu geben, sondern die Politik war, das gehört in die Gewissensentscheidung jedes Einzelnen. Da hat man sich sehr – sehr – zurückgehalten.“63 Stattdessen bemühte sich der Bund die Attraktivität der Jugendweihe auf andere Weise zu schmälern. Die Leitenden glaubten, dass sich viele Jugendliche in Aussicht auf die üblich gewordenen Geldgeschenke zur Jugendweihe anmeldeten. Um diesen monetären Beweggrund zu entkräften, änderten die Freikirchen ihre bisherige Praxis: Zur feierlichen Entlassung aus dem Bibelunterricht, die etwa zeitgleich wie die Jugendweihe stattfand, gab es nun ebenfalls Geldgeschenke.64 Mit Blick auf die Bedeutung der Jugendweihe ist zweifelsohne eine Asymmetrie zwischen Ost und West zu beobachten. Nichtsdestotrotz gab es auch hier Verflechtungen. Denn solange die Kirchenleitungen im Osten wegen der Jugendweihe auf Konfrontationskurs zur DDR-Regierung gingen, berichteten die Medien im 60 Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 1–2. Siehe auch: Henkys, Reinhard: Gottes Volk im Sozialismus. Wie Christen in der DDR leben, Berlin 1983, S. 41–42. 61 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 2. Siehe auch: Heinrich: Alte Ordnungen, S. 808. 62 Heinemann-Grüder, Curt-Jürgen: Pfarrer in Ost und West. Kirchen zwischen Herausforderung und Anpassung, Frankfurt 1988, S. 46. 63 Interview mit Siegfried Rosemann 2001. OA, ohne Signatur, S. 7. 64 Vgl. Interview mit Herbert Morét 1999. OA, ohne Signatur, S. 27.

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Kapitel 2: Verflechtung

Westen darüber. Mit zunehmender Kompromissbereitschaft der ostdeutschen Kirchenleitungen – was bedeutete, dass Konfirmation und Firmung nur nicht im selben Jahr wie die Jugendweihe stattfinden sollten – ebbte auch die westliche Berichterstattung zu diesem Thema ab beziehungsweise veränderte sich. Anstatt wie bisher wirkliche Religionsfreiheit in der DDR zu fordern, überwogen in Westdeutschland hinsichtlich des Jugendweihekonflikts nun Texte, die eher distanziertes Interesse als Anteilnahme oder Betroffenheit bezeugten. 65 Letztlich war den evangelischen Kirchen in der DDR allein zahlenmäßig kaum etwas anderes als der beschriebene Kurswechsel übrig geblieben. Denn obwohl Pfarrer versuchten, Teilnahmebarrieren abzubauen, sanken die Konfirmationszahlen immer weiter. Während 1955 noch 207.000 Jugendliche eines Jahrgangs in der DDR und Ost-Berlin zur Konfirmation gingen, waren es 1960 nur noch 50.000. Gleichzeitig nahm der Prozentsatz der Kinder, die an der Jugendweihe teilnahmen, weiter zu. 1959 gingen bereits 80,4 Prozent eines Altersjahrgangs zur Jugendweihe.66 1963 sollen es 90,6 Prozent gewesen sein.67 Tab. 2: Entwicklung der Konfirmandenzahlen, Beispiel: Generalsuperintendentur Berlin II/Ost68 Jahr

1950

1957

1958

1959

1960

Konfirmanden

1375

1114

949

460

318

Horst Dähns These, dass die ab Mitte der 1960er-Jahre bis zum Ende der DDR gültige Jugendweiheregelung ein Ergebnis harter Verhandlungen der evangelischen Kirchenleitung mit der DDR-Regierung sei, erzählt somit nur einen Teil der Geschichte.69 Tatsächlich hatte die Konfirmation – und das nicht nur im Osten – soweit an Attraktivität verloren, dass die evangelische Kirche dringend dazu angehalten war, von ihrem alten Standpunkt abzurücken, wollte sie die völlige Bedeutungslosigkeit dieses Rituals und die Entfremdung junger Generationen von ihren Gemeinden verhindern.70 65 Zur Entwicklung der Konfirmation in der DDR: Vgl. Henkys: Gottes Volk, S. 43. Siehe auch: Kleßmann: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970, Göttingen 1988, S. 397. 66 Vgl. Dähn: Der Konflikt, S. 44–45. Siehe auch: Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 234. 67 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 808. 68 Vgl. Bericht über die Pfarrkonferenz des Kirchenkreises Friedrichshain vom 29.9.1958. ELAB 86/63. 69 Vgl. Dähn: Der Konflikt, S. 45. Lepp stellt ebenfalls die von den evangelischen Kirchen gemachte Unvereinbarkeitserklärung von Konfirmation und Jugendweihe in den Vordergrund. Dabei ist der Erfolg dieser Erklärung aus den genannten Gründen mindestens zweifelhaft. Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 371. 70 Vgl. Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 23. Auch in der Bundesrepublik gab es Bundesländer, in denen die Teilnehmerzahlen bei der Jugendweihe zwischenzeitlich stark anstiegen, während die

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Gesellschaftlicher Wandel und Veränderungen im kirchlichen Leben Anschlussfähig zu bleiben, stellte für die Kirchen somit trotz der beschriebenen Asymmetrie eine systemübergreifende Herausforderung dar. Dabei handelte es sich bei nichtreligiösen Alternativangeboten wie der Jugendweihe (DDR) – um nur ein Beispiel zu nennen – oder dem Engagement im Schützenverein (Bundesrepublik) nicht um die einzigen Erklärungen für den zunehmenden Mitgliederschwund. Gesamtgesellschaftliche Entwicklungen wie zum Beispiel Demokratieerfahrungen in West-Berlin und der Bundesrepublik schlugen sich im kirchlichen Alltag nieder und verlangten, dass sich Religionsgemeinschaften entsprechend wandelten und anpassten. Einen entscheidenden Ansatzpunkt stellte dabei die Liturgieordnung dar. In der katholischen Kirche kamen wichtige Anregungen dazu direkt aus Rom. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) veränderte die katholische Gottesdienstordnung in den 1960er-Jahren grundlegend und griff gezielt Erfahrungen von Gemeindepfarrern auf.71 Der Berliner Domkapitular Knauft hob vor allem die gemeinschaftsstiftende Bedeutung einer gemeinsamen Sprache hervor. Dass die Messe fortan nicht mehr auf Latein, sondern in deutscher Sprache gehalten wurde, habe eine inkludierende, gemeinschaftsstärkende Wirkung erzeugt.72 Aber schon bevor diese international gültigen Beschlüsse bekannt gegeben wurden, hatten Berliner Katholikinnen und Katholiken eigene Ideen entwickelt, wie sie Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühle stärken und diese über nonverbale oder indirekte Kommunikation sektorenübergreifend ausdrücken konnten. So schlug zum Beispiel der Kreuzberger Hans Zahorak für das erste Weihnachtsfest nach dem Mauerbau vor, eine vom Kuratorium Unteilbares Deutschland geplante Aktion in West-Berlin mit kirchlichem Engagement zu verbinden.73 Zahorak hatte herausgefunden, dass das Kuratorium mehrere hundert durch Spenden finanzierte Weihnachtsbäume entlang der Mauer aufstellen lassen wollte. Er regte daher an, dass die Christmessen in West-Berlin unter diesen Weihnachtsbäumen Zahl der Konfirmationen zurückging. Vgl. Jugendweihe. Licht an, Licht aus, in: Der SPIEGEL 3.5.1961, S. 46–48. 71 Zum Zweiten Vatikanischen Konzil Vgl. Alberigo, Giuseppe/Wittstadt, Klaus (Hrsg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959–1965), 5 Bände, Mainz 1997–2009. Siehe auch: Thull, Philipp (Hrsg.): Ermutigung zum Aufbruch. Eine kritische Bilanz des Zweiten Vatikanischen Konzils, Darmstadt 2013. 72 Vgl. Knauft: Katholische Kirche, S. 144. 73 Das Kuratorium Unteilbares Deutschland (1954–1992) war eine überparteiliche Organisation in der Bundesrepublik, die die Wiedervereinigung Deutschlands forderte. Zu den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern des Gründungsaufrufs zählten unter anderem Gustav Dahrendorf, Ernst Lemmer, Louise Schroeder und Herbert Wehner. Vgl. Kreuz, Leo Ferdinand: Das Kuratorium Unteilbares Deutschland. Aufbau, Programmatik, Wirkung, Opladen 1980.

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gehalten werden sollten. In einem Schreiben an den Regierenden Bürgermeister schilderte er, welche Effekte er sich davon versprach: Wenn dann bei dieser unter freiem Himmel abgehaltenen kirchlichen Weihnachtsfeier das schönste Lied der Christenheit – Stille Nacht – aus tausenden von Kehlen gesungen über die Sperrmauer schallen würde, wäre es die ergreifendste Demonstration unseres Wollens, in brüderlicher Verbundenheit von hüben und drüben wieder eine Stadt ohne trennenden Stacheldraht zu werden.74

Das Büro des Regierenden Bürgermeisters gab die Anfrage an das Ordinariat weiter. Doch Generalvikar Adolph wies den Vorschlag entschieden zurück. In einem Brief an den zuständigen Erzpriester Heinrich Tomberge schrieb er: Wir halten es nicht für gut, wenn man die Christmette in irgendeiner Form zu Protestzwecken benutzt. […] Da es außerdem unwahrscheinlich ist, dass die Gesänge der Gläubigen weit über den Absperrungsgürtel hinaus gehört werden können, ist selbst der Propagandazweck zu bezweifeln.75

Adolphs Antwort deutet darauf hin, dass sich die Einheit des Bistums mehr und mehr zu einer Glaubens- und dementsprechend Kommunikationsfrage entwickelte, weil es an wirklichen Gemeinschaftserlebnissen fehlte. Eine überzeugende Predigtarbeit schien in katholischen wie evangelischen Kirchen die entscheidende Voraussetzung dafür darzustellen. Tatsächlich empfanden Kirchenleitungen wie Gemeindemitglieder diese häufig als vernachlässigt. Überforderte Pfarrer griffen auf Predigtvorlagen zurück. Sie wirkten hinsichtlich theologischer Fragen zuweilen stark überfordert und waren oftmals nicht in der Lage, mit klarer Sprache zu sprechen und eindeutige Formulierungen zu finden. Bürokratische und organisatorische Aufgaben schmälerten die Zeit zum Nachdenken spürbar.76 Schon 1954 kündigte Bischof Dibelius deshalb das Ende der „Pastorenkirche“ an, in der der Pfarrer quasi als einziger, zentraler Repräsentant der Kirche auftrat.77 Dibelius machte den Personalmangel – in West-Berlin waren zu diesem Zeitpunkt 69 von insgesamt 265 Pfarrstellen unbesetzt – sowie die schlechte finanzielle Situation der EKiBB für den notwendig gewordenen Strukturwandel verantwortlich und erklärte, dass die Gemeinden zunehmend auf das Engagement ihrer Mitglieder angewiesen seien.78 74 Hans Zahorak an den Regierenden Bürgermeister von Berlin 23.10.1961. DAB I/14–6-1. 75 Generalvikar an Erzpriester Heinrich Tomberge 15.12.1961. DAB I/14–6-1. 76 Vgl. Bericht über die Visitation des Superintendenten im Kirchspiel Lichterfelde 25.4.1965– 2.5.1965. ELAB 35/12100. Siehe auch: Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 19. 77 Streiflichter aus Spandau, in: Berliner Sonntagsblatt 30.5.1954, S. 1. Vgl. Geiger, Max: Christsein in der DDR, München 1975, S. 17. 78 Vgl.: Wo steht unsere Laienarbeit, in: Berliner Sonntagsblatt 24.1.1954, S. 1.

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Das Bistum Berlin teilte diese Sorgen. Während zwischen 1962 und 1977 198 Priester gestorben waren und 30 weitere katholische Pfarrer ihr Amt verlassen hatten, waren nur 175 Priester geweiht worden.79 Auch die katholische Kirche war also dringend auf das Engagement der Laien angewiesen. Aber inwieweit waren diese überhaupt bereit und willens dazu, sich aktiv einzubringen? Immer mehr Menschen blieben den Sonntagsgottesdiensten fern und gingen meist nur mehr an hohen kirchlichen Feiertagen in die Messe.80 Die Kirchenleitenden sahen die Sonntagsheiligung somit zu Recht bedroht, obwohl die erste Verfassung der DDR (1949– 1968, Artikel 16) genau wie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (1949, Artikel 140) den Sonntag und gesetzliche Feiertage rechtlich in besonderem Maße schützten.81 Die Mehrzahl der Kirchenmitglieder wurde also nicht davon abgehalten, den Gottesdienst zu besuchen, sondern verzichtete auf den Kirchgang, um stattdessen anderen Freizeitaktivitäten nachzugehen oder Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen.82 Hier zeigt sich einmal mehr, dass gegenüber pauschalen Kausalzusammenhängen Vorsicht geboten ist. Es existierte eine Vielzahl von Gründen, warum Menschen nicht mehr in die Kirche fanden oder umgekehrt, warum sie den Gottesdienst besuchten. Das verdeutlicht ein Blick nach Brandenburg, wo es ländliche Gemeinden gab, in denen die Mehrzahl der Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner trotz ihrer sozialistisch geprägten Umgebung weiter in die Kirche gingen, weil soziale Bindungskräfte und Kontrollmechanismen stärker wirkten: „Die Gemeinde Zeuthen ist eine typische Berliner Vorortgemeinde. Man arbeitet in Berlin, und hier ist man zu Hause. […] Sonntags bestellt man seinen Garten, dabei gehört es auch noch zum guten Ton, daß ‚man zur Kirche gehört‘.“83 Um zu verstehen, wie sich religiöse Gemeinschaften nach 1945 entwickelten, genügt es folglich nicht, den Fokus ausschließlich auf die zu richten, die den Gemeinden den Rücken kehrten. Das bedeutet nämlich, jene aus dem Blickfeld zu verlieren, die sich weiterhin dort engagierten und einen stabilen, wenn auch in der DDR oftmals überschaubaren, Gemeindekern bildeten. Denn für diese Personen stand die Teilnahme an Gottesdiensten und kirchlichen Festen im Westen wie eben auch im Osten außer Frage. 84

79 Vgl. Bischöfliches Ordinariat Berlin: Der Glaube lebt, S. 142. 80 Vgl. Generalkirchenvisitation Bernau 1.-10.10.1955. ELAB 35/11522. 81 Das galt nicht mehr für die DDR-Verfassung von 1968. Vgl. Schiepek, Hubert: Der Sonntag und kirchlich gebotene Feiertage nach kirchlichem und weltlichem Recht. Eine rechtshistorische Untersuchung, Frankfurt 2003, S. 444–446. 82 Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 109. 83 Gemeindebericht Zeuthen 1956. 86/62. Vgl. Gemeindebericht Bernau 1.-10.10.1955. ELAB 35/ 11522. 84 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 5.

112  Kapitel 2: Verflechtung

Die Diskussion über eine stärkere Einbindung von Laien in den Kirchenalltag war weniger orts- als vielmehr zeitspezifisch und eng verknüpft mit amtskirchlichen Säkularisierungsängsten. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs diskutierten Theologen über die Frage, wie man Kirchenmitglieder dazu bringen könne, sich stärker am kirchlichen Leben zu beteiligen. Die Stellschrauben, an denen man drehen musste, um Veränderungen herbeizuführen, waren andere, aber hier wie dort gab es immer mehr Pfarrer, die meinten, es sei nicht allein Aufgabe der Mitglieder, einen Weg in die Kirche zu finden, sondern nunmehr Aufgabe der Kirchen, einen Zugang zu den Mitgliedern zu suchen.85 1960 veröffentlichte der westdeutsche Pfarrer Eberhard Stammler das Buch „Protestanten ohne Kirche“, um auf die Bedrohlichkeit der Lage hinzuweisen: Von hundert evangelischen Christen bleiben heute etwa neunzig dem Leben ihrer Kirche fern. […] Fragt man nach den Gründen für diese Zurückhaltung, dann wird man zwar auf verschieden formulierte Antworten stoßen, und doch verraten sie einen gemeinsamen Nenner: Sie finden in der Kirche keine Heimat, weil ihnen ihre Gestalt fremd war [sic!].86

Pfarrer wie Stammler wiesen auf Zugehörigkeitskonflikte und die zunehmende Bedeutungslosigkeit alter Identifikationsmuster hin. Daran änderte sich im Zeitverlauf wenig. Es war schwierig, die beschriebenen Diskrepanzen zu überwinden, also die Vorstellungen der Leitungsebene den Erwartungen einfacher Kirchenmitglieder anzugleichen. Wobei der Fatalismus mancher Kirchenleitenden erheblich zu den überlieferten Kommunikationsproblemen beitrug. Sie sprachen immer wieder von „Niedergang“, fehlender „Ehrfurcht“ und mangelndem Verantwortungsbewusstsein.87 Anstatt den Dialog zu suchen, hielten sie sich mit der Klärung der Schuldfrage auf und klammerten sich an strenge Hierarchien: ein destruktives Unterfangen. Es dauerte zu lange bis die Kirchenleitungen begriffen, dass viele Kirchenmitglieder die Kirchen nicht eigentlich ablehnten. Sie sahen nur für sich selbst keine Anknüpfungspunkte mehr in vermeintlich überkommenen Praktiken.88 Warnungen wie die von Stammler verhallten, weil sich Zweifel, Unzufriedenheit oder Gleichgültigkeit noch nicht in den Austrittszahlen widerspiegelten. Dabei waren Kirchenaustritte nur die logische Konsequenz. Erst lösten sich emotionale Bindungen und schließlich wendeten sich Kirchenmitglieder auch von den Amtskirchen ab. Ihren sichtbaren Höhepunkt fand diese Entwicklung in den Austrittswellen Ende der 1960er-Jahre. In der Zeit zwischen 1960 und 1969 verlor allein das Bistum Berlin rund 100.000 Mitglieder und das obwohl durch zuziehende ka85 86 87 88

Vgl. Pfarrer-Kritik: Hört die Signale, in: Der SPIEGEL 15.2.1961, S. 86–87. Stammler, Eberhard: Protestanten ohne Kirche, Stuttgart 1960, S. 9. Gemeindebericht über den Pfarrsprengel Grüntal 1955. ELAB 35/11522. Vgl. Gemeindebericht Seetal 1955. ELAB 35/11522.

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tholische Arbeitsmigranten zumindest in West-Berlin neue Gemeindemitglieder in die Stadt kamen, die die Zahlen – wenn man so will – beschönigten.89 Die DDR-Regierung versuchte solche Abkehrprozesse aktiv zu unterstützen. Der Gemeindebericht aus dem brandenburgischen Seefeld hält dazu 1955 fest: Offensichtlich ist das Bestreben, unsere Kinder nicht mehr innerlich zur Ruhe kommen zu lassen. Durch Überfütterung mit Tendenz – Filmen, Besichtigungen und Fahrten – und welchen jungen Menschen lockt so etwas nicht – werden sie dauernd in Gang gehalten und beschäftigt, um beeinflusst zu werden.90

Der Bericht enthält nicht nur Kritik, er steht gleichzeitig für die vielen offenen Fragen innerhalb der Religionsgemeinschaften. Schließlich suchten die Kirchen nach ähnlich tragfähigen Konzepten und Methoden, um Menschen an sich zu binden. Unmut erzeugten in den evangelischen Gemeinden deshalb auch die Unterschiede in der als willkürlich wahrgenommen Liturgie: Es wird von den Gemeindemitgliedern mit Bedauern festgestellt, daß die Unterschiede der Liturgie von Gemeinde zu Gemeinde und Gegend zu Gegend durch die neue Agende noch größer geworden sind und man in keiner Gemeinde mehr den Gottesdienst mitfeiern kann, ohne Gefahr zu laufen, etwas verkehrt zu machen. – Es ergeht die Bitte, daß die Kirchenleitung mit mehr Energie sich dafür einsetzen möchte, daß die Ausführungsbestimmungen zur neuen Agende nicht an dem völligen Individualismus einzelner Pfarrer zunichte gemacht werden.91

Während für die katholische Kirche die Lehrmeinung Roms auch im Kalten Krieg der zentrale Referenzpunkt blieb, fehlte in der EKiBB eine entsprechende richtungsgebende Instanz. An der Kirchenbasis entstand der Eindruck, zu viel Freiheit bringe die Einheit (schon mit der Nachbargemeinde) erst recht in Gefahr. Hintergrund dieser Kritik war, dass sich die zweite Generalsynode der Evangelischen Kirche der Union 1953 auf eine Neuordnung des Gottesdienstes geeinigt hatte und künftig vier Liturgieformen zugelassen waren. Das Berliner Sonntagsblatt bewarb diese Änderung damals mit der Überschrift „Einheit in Freiheit“.92 Zwar hatte die

89 Vgl. Helfer eurer Freude, in: Petrusblatt, 27. August 1961, S. 2. Siehe auch: Mehr Kirchenaustritte, in: Der CHRIST, 8. Januar 1971, S. 4. 90 Gemeindebericht Seetal 1955. ELAB 35/11522. 91 Fragebogen Schwanebeck/Birkholz 1962. ELAB 86/65. Siehe auch: Visitationsbericht Kirchengemeinde Schönow 1955. ELAB 35/11522. 92 Es handelte sich um folgende vier Liturgieformen: 1. Liturgie von 1895, 2. „neue“ Liturgie, 3. Predigtgottesdienst mit verkürzter Liturgie I, 4. Predigtgottesdienst mit verkürzter Liturgie II. Vgl. Hintergrund: Zweite Generalsynode der Evangelischen Kirche der Union, in: Berliner Sonntagsblatt 1.1.1954, S. 2.

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Generalsynode mit dieser Entscheidung die Vielfalt der in den Ortsgemeinden gelebten Praktiken ein Stück weit anerkannt, sie verkannte aber gleichzeitig, dass Kirchenmitglieder diese Freiheit auch als Überforderung – die Möglichkeit sich zu entscheiden als Be- nicht als Entlastung – empfanden. Angepasste Rituale, sich verändernde Traditionen, neue liturgische Formen – aus Sicht der Kirchenleitungen waren das alles Investitionen in die Zukunft. Sie versuchten auf diese Weise, den Mitgliederstand zu halten, Einfluss auf weitere Bevölkerungskreise zu nehmen und ihrem Anspruch als gesellschaftliche Akteure gerecht zu werden.

Kirchen bauen In den ersten Nachkriegsjahren wurde rasch deutlich, dass es nicht genügen würde, sich auf bekannte und tradierte Positionen zurückzuziehen oder gar auf eine Restauration zu hoffen. Stattdessen war es für die Kirchen im Osten wie im Westen unumgänglich, Teil des gesellschaftlichen Wandels zu sein, wollten sie diesen – freilich im Rahmen sehr unterschiedlicher Möglichkeiten – mitgestalten. Dafür brauchten Kirchen Räume.93 Es verwundert deshalb nicht, dass sich der Kirchenbau für alle christlichen Religionsgemeinschaften nach 1945 grenzübergreifend zu einem zentralen Thema entwickelte. Der Kirchenbau schien beinahe wie ein Gradmesser für die gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen zu funktionieren, wobei für die meisten Kirchenmitglieder klar war, dass es nie genug Kirchen, nie genug Kapellen und nie genug Gemeindezentren geben konnte. Tatsächlich lässt sich dieser Mangel für die DDR und Ost-Berlin mühelos nachweisen, in West-Berlin aber steht dem permanenten Klagen über fehlende finanzielle Mittel eine beachtenswerte Bautätigkeit gegenüber. Denn zwischen 1945 und 1990 wurden dort 125 Sakralgebäude errichtet. Demgegenüber wurden in Ost-Berlin im Vergleichszeitraum nur 14 Kirchengebäude gebaut.

93 An dieser Stelle wird nur auf den Bau religiöser Sakralbauten eingegangen. Daneben erhöhten neu errichtete kirchliche Kindergärten, Krankenhäuser oder Jugendeinrichtungen die bauliche Präsenz der Kirchen und ihrer Infrastrukturen in der öffentlichen Wahrnehmung.

2.1 Feste feiern, Kirchen bauen: das Ringen um Rituale und Sichtbarkeit



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Tab. 3: Entstehungszeiträume Christlicher Kirchenbauten in Berlin seit 1945, absolut / in Prozent94 Entstehungszeitraum

West-Berlin

vor 1950

4 / 66,66 %

Ost-Berlin 2 / 33,33 %

1950er-Jahre

56 / 94,92 %

3/

1960er-Jahre

48 / 100 %

-

5, 08 %

1970er-Jahre

15 / 93,75 %

1/

1980er-Jahre

2 / 22,22 %

7 / 77,77 %

unbekannt

-

gesamt

125 / 90,65 %

14 / 10,07 %

Gesamt (n = 139) 6/

4,32 %

59 / 42,45 % 48 / 34,53 %

6,25 %

1 / 100 %

16 / 11,51 % 9/

6,47 %

1/

0,72 %

139 / 100 %

In den ersten Nachkriegsjahren unterstützten weite Teile der Bevölkerung die Kirchenbauaktivitäten noch tatkräftig. Der Wiederaufbau im Krieg zerstörter Kirchen oder die Weihe neuer Gotteshäuser wurden groß gefeiert. Aber während es in West-Berlin möglich war, Neubauten zu realisieren, bedurfte es im Osten von Beginn an viel Geduld und Eigeninitiative, um Instandsetzungs- und Wiederaufbauarbeiten an beschädigten Gebäuden vornehmen zu können – Genehmigungen für Neubauten wurden nicht erteilt. Davon abgesehen waren auch in Ost-Berlin von den 83 zerstörten Kirchen 59 Kirchen bis 1957 wieder hergestellt worden.95 Einen großen Anteil daran trugen engagierte Pfarrer und Gemeindemitglieder, die unbeirrt Spenden sammelten oder nach Feierabend auf der Baustelle tätig waren. Gerade Gemeindepfarrer appellierten immer wieder an die Opferbereitschaft ihrer Gemeindemitglieder. Prälat Steinke etwa erinnerte sich daran, wie er als junger Priester Anfang der 1960er-Jahre nach Ludwigsfelde kam. Dort traf er auf einen älteren Pfarrer, der schon die Kinder im Religionsunterricht dazu anhielt, für den Bau einer neuen Kirche zu spenden: Also ich hatte einen Pfarrer in Ludwigsfelde, der nen bisschen kurios war, nen Schlesier, der hat immer bei den Kindern, wenn ich da Unterricht hatte, hinterher Kollekte gehalten. Da hab ich gesagt: „Na sagen Sie mal, das ist ja nen bisschen komisch.“ Kannte ich auch noch nicht die Methode. [lacht] Ich hab eher gedacht, dass man da Bonbons verteilt oder irgendwas und da sagte der: „Nee. Die müssen hier schon lernen, dass Christsein ein Opfer bedeutet. Wir müssen denen nichts geben, sondern die müssen uns was geben.“ Ja, und der hatte nun schon einen relativ großen Fonds für den neuen Kirchenbau dort, ja?96

94 Vgl. Liste Berliner Sakralbauten, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_Berliner_Sakralbauten [16.5.2018]. 95 Vgl. Die Wahrheit, in: Weißenseer Nachrichten 23.6.1957, S. NN. 96 Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 31.

116  Kapitel 2: Verflechtung

Kirchenbau war nicht nur typisch für die Nachkriegsjahre. Im gesamten Untersuchungszeitraum wurden neue Sakralgebäude errichtet. Die Gründe und Voraussetzungen dafür veränderten sich im Zeitverlauf. Tab. 4: Übersicht über die Berliner Sakralbauten nach Baubeginn und Konfession (n=139)97 Entstehungszeitraum evangelische Landeskirche

katholisch

Andere (Baptisten, Altlutheraner, Anglikaner usw.)

vor 1950

Ost: 1 West: 1 Insgesamt: 2

Ost: West: 1 Insgesamt: 1

Ost: 1 West: 2 Insgesamt: 3

1950er-Jahre

Ost: 2 West: 25 Insgesamt: 27

Ost: 1 West: 23 Insgesamt: 24

Ost: West: 8 Insgesamt: 8

1960er-Jahre

Ost: West: 32 Insgesamt: 32

Ost: West: 11 Insgesamt: 11

Ost: West: 5 Insgesamt: 5

1970er-Jahre

Ost: West: 5 Insgesamt: 5

Ost: West: 9 Insgesamt: 9

Ost: 1 West: 1 Insgesamt: 2

1980er-Jahre

Ost: 3 West: 1 Insgesamt: 4

Ost: 4 + 1 (unbekannt) West: 1 Insgesamt: 6

Ost: West: Insgesamt: -

gesamt

Ost: 6 West: 64 Insgesamt: 70

Ost: 6 West: 45 Insgesamt: 51

Ost: 2 West: 16 Insgesamt: 18

Unmittelbar nach Kriegsende realisierten die Kirchen nur wenige Neubauprojekte. Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen fanden in Ruinen, gemieteten Räumen und Notkirchen statt.98 Berlin musste erst von Schutt und Trümmern befreit und die Planungssicherheit wieder hergestellt werden. Für groß angelegte Neubauprojekte fehlte außerdem das Geld und anstelle des Kirchenbaus wurden kirchliche Sozialeinrichtungen bei der Finanzierung zunächst bevorzugt. Hinzu kam, dass kirchliche Gebäude teilweise beschlagnahmt oder enteignet worden waren und die Kirchen nur eingeschränkt auf ihre Vermögen zugreifen konnten.99 97 Vgl. Liste Berliner Sakralbauten: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_Berliner_Sakralbauten [16.5.2018]. 98 Vgl. Kirchlicher Bauplan in Berlin, in: Die Kirche 2.5.1948, S. 1. 99 Vgl. Zurückgegeben, in: Die Kirche 1.8.1948, S. 1.

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Auch der Einzug der Kirchensteuer funktionierte nicht reibungslos.100 Ganz abgesehen davon gab es nicht genügend Baumaterial, Arbeitskräfte waren knapp und die kommunalen Verwaltungsstrukturen entweder noch gar nicht aufgebaut oder so stark überlastet, dass Genehmigungen lange auf sich warten ließen. Kompetenzstreitigkeiten und fehlende Rechtsgrundsätze verzögerten die Realisierung geplanter Bauprojekte ebenfalls. Nachdem diese geschaffen worden waren, war es letztlich eine Frage des Geldes, ob ein Bauvorhaben realisiert werden konnte oder nicht. Die Kirchen griffen neben ihrem Eigenkapital auf finanzielle Unterstützung aus dem In- und Ausland (in der DDR ab den 1970er-Jahren etwa über das ValutaProgramm) zurück, sammelten Spenden von Mitgliedern oder Vereinen und bezogen Zuschüsse von den Regierungen (auch in der DDR). Hinzu kamen materielle Spenden aus dem In- und Ausland sowie von Privatpersonen, Unternehmen oder staatlichen Behörden. Einen besonderen Stellenwert hatten die Gemeindemitglieder und Pfarrfamilien in der DDR als Arbeitskräfte beim Kirchenbau. Oft war die Verwirklichung eines Bauvorhabens dort ohne deren Eigenarbeit nicht möglich. Ebenso wichtig waren Tauschgeschäfte. Dabei wurden Grundstücke genauso getauscht, wie Kaffee gegen die Nutzung eines Baukrans.101 Schließlich spielten vor allem in der DDR Korruption und andere illegale Aktivitäten wie das Bauen ohne Baugenehmigung eine Rolle bei der Realisierung kirchlicher Neu- oder Umbauten.102 Die meisten Bauprojekte gingen zunächst auf Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg zurück. Aber es gab zwischen 1945 und 1990 durchaus andere Gründe, die für den Bedarf neuer Sakralgebäude sprachen. Der zunehmende Raummangel verursacht durch steigende Mitgliederzahlen, die vor allem in Gemeinden zu verzeichnen waren, in denen viele Migranten – darunter Flüchtlinge und Vertriebene – lebten, machten Neubauten notwendig. Verena Schädler warnt deswegen vor einer Engführung der denkbaren Motive und macht auf Gemeinden aufmerksam, die schon vor 1945 einen Neubau geplant hatten. Sie hatten bereits vor dem Zweiten Weltkrieg über fehlenden Platz geklagt und sahen im Zuge der Wiederaufbau100 Ab 1941 hatten die Nationalsozialisten die staatliche Mithilfe beim Einzug der Kirchensteuer verweigert. Zwischen 1941 und 1949 zogen die Kirchen die Kirchensteuer selbst ein. In der Bundesrepublik wurde die Kirchensteuer dann wieder vom Staat eingezogen. In der DDR galt diese Regelung zunächst auch, 1956 wurde sie außer Kraft gesetzt und die Kirchen mussten die Steuer wieder selbst einziehen, was Einnahmeverluste nach sich zog. 101 Vgl. Schädler: Katholischer Sakralbau, S. 46–47. 102 „Offiziell war der Kirchturmbau [in Dobbrikow] illegal. Niemand hat ihn behindert. Auch nicht der Rat des Bezirks Potsdam, der mit seinem Referenten für Kirchenfragen – inkognito – im Gottesdienst anwesend war.“ Heinemann-Grüder: Pfarrer in Ost und West, S. 19. Vgl. Schädler: Katholischer Sakralbau, S. 53–58. Siehe auch: Materne, Ulrich: Bau- und Grundstücksfragen, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund EvangelischFreikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 287–291.

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programme eine Gelegenheit bislang aufgeschobene Bauprojekte endlich realisieren zu können.103 Nicht jedes Bauvorhaben kann folglich auf Zerstörungen im Krieg oder den Bau neuer Wohnviertel zurückgeführt werden. Nicht zuletzt konnte in der DDR die Konfiszierung von Kirchenräumen oder Landverlust, etwa im Zuge des Ausbaus der Grenzanlagen, die Nutzung vorhandener Gebäude unmöglich machen. Grenzzäune versperrten einigen Gemeinden den Zugang zu ihren Kirchen, was in West-Berlin die Errichtung sogenannter Ersatzbauten nach sich zog. Andere Gemeinden wurden obdachlos, weil Kirchen aufgrund ihrer Lage im Sperrgebiet (Ost-Berlin) oder wegen städtebaulicher Planungen (Ost- und West-Berlin) gesprengt und abgerissen wurden.104 Schließlich gab es Pfarrer und Gemeinden, die nicht aus pragmatischen, sondern Prestigegründen den Bau einer neuen Kirche wünschten. Die angeführten Gründe zeigen, dass die Motive für den Bau neuer Kirchen in Berlin divers waren. Kirchen wurden gebaut, weil sie zerstört worden waren, es an Platz mangelte oder um ein politisches Zeichen zu setzen und sich in der Gesellschaft – sozusagen materiell und irgend sichtbar – zu positionieren. Es ging nicht nur darum, Raum zu schaffen, sondern gleichermaßen darum, Raum zu besetzen. Ein Blick auf die Architekturformen und deren Aussagekraft offenbart dabei Unterschiede zwischen Ost und West, macht aber bei näherem Hinsehen auch auf Gemeinsamkeiten aufmerksam. In West-Berlin fiel die Kirchenarchitektur in den 1950er- und 1960er-Jahren vor allem durch geradlinige und/oder extravagante Formen auf, wobei katholische Kirchen gerade für den Laien oft nicht von evangelischen Sakralbauten zu unterscheiden waren. Typisch war der Bau hoher und weithin sichtbarer Kirchtürme mit Glockenstühlen. Die Abkehr von historisierenden Bauweisen und die Hinwendung zu neuen Materialien wie Beton oder neuen Stilformen wie dem Brutalismus stellten einen klaren Bruch mit früheren Bautraditionen dar. Die meist freistehenden Kirchen sollten offensichtlich modern wirken, auf den Einsatz von Schmuckelementen wurde sowohl an den Fassaden als auch in den Innenräumen weitestgehend verzichtet. Es überwogen puristische, geometrische Formen.105 Beton, Stahl und Glas waren die wichtigsten Baumaterialien. Für die Gestalter in West-Berlin galt gerade in den 1950er-Jahren, dass „relativ frei gebaut werden konnte, ohne allzu große bürokratische und finanzielle Einschränkungen. […] Der Kirchenbau 103 Insbesondere die katholischen Gemeinden Berlins waren schon vor 1933 deutlich gewachsen. Vgl. Große Kracht: Die Stunde der Laien?, S. 124. Vgl. auch: Schädler: Katholischer Sakralbau, S. 35. 104 Vgl. Bericht über den Stand der Vorbereitungen der Synode der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg vom 13.-17.1.1968. BStU MfS ZAIG 1312. 105 Vgl. Goetz, Christine: StadtLandKirchen. Sakralbauten im Erzbistum Berlin, Berlin 2018, S. 108–119.

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war frei von falschen Anlehnungen und Rücksichten.“106 Die im Zuge der Internationalen Bauausstellung 1957 entworfene evangelische Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche im West-Berliner Hansaviertel und die in ihrer Nachbarschaft befindliche und 1957 konsekrierte katholische Pfarrkirche St. Ansgar sind Beispiele für den vorherrschenden Architekturstil dieser Jahre. Die Meinungen der Zeitgenossen dazu gingen weit auseinander. Der Journalist und Kunstkritiker Richard Biedrzynski fand die Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche „zu wenig bescheiden […] und dabei konventionell“. Während er St. Ansgar als „nicht nur schlichter“, sondern „kühner“ beschrieb.107 Die DDR-Zeitung Neue Zeit beschäftigte mit Blick auf den Kirchenbau im Hansa-Viertel weniger die Architektur als die Größe der neuen Gebäude: War der Turm der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche auch in Ost-Berlin zu sehen, wie Bischof Dibelius es in seiner Predigt bei der Kirchweihe behauptet hatte? Nein, versicherten die Redakteure in der Ausgabe vom 6. Juli 1957, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass der Turm der in Ost-Berlin stehenden Marienkirche sehr viel weiter sichtbar sei und die Silhouette der Stadt eindeutig mehr prägte als die Türme West-Berliner Kirchenneubauten.108 In jedem Fall weniger auffällig und weniger eindeutig zu identifizieren waren Kirchen, die in den folgenden beiden Jahrzehnten in der DDR und Ost-Berlin gebaut werden konnten. Nachdem sich die DDR-Regierung dazu durchgerungen hatte, die Verwirklichung von Kirchenbauprojekten überhaupt zuzulassen, verfügte sie, dass sich neue Kirchen möglichst unsichtbar in bauliche Nischen einpassen sollten. Zeitgenössische, sozialistische Bauformen sollten durch neue Kirchenbauten nicht in Frage gestellt werden. Die Behörden wollten verhindern, dass Sakralbauten öffentliche Räume dominierten und durch ihre bauliche Präsenz Aufmerksamkeit auf sich zogen.109 Die zurückhaltende Architektursprache der verwirklichten Neubauten – einige Kirchen erinnerten an Einfamilienhäuser, andere an Fabrikgebäude – zeugt davon, dass die DDR-Behörden die Gestaltung der Gebäude beeinflussten: Die Kirchen kamen den Behörden insoweit entgegen, als sie nach erfolgter Baugenehmigung einen Baustopp wegen anstößiger Gestaltungsformen unbedingt verhindern wollten. Infolgedessen etablierten sich zwei DDR-spezifische Typen von Sakralbauten. Schädler nennt sie Typ „Haus“ und Typ „Karton“.110 Für beide Typen galt, „dass sie architektonisch vollkommen unauffällig sind bzw. der umgebenden Bebauung sehr angepasst. Sie sehen einer Kirche also weitgehend unähnlich und

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Biedrzynski, Richard: Kirchen unserer Zeit, München 1958, S. 67. Ebenda. Vgl. Kirchturm-Atmosphäre, in: Neue Zeit 6.7.1957, S. 6. Vgl. Schädler: Katholische Sakralbauten, S. 84. Vgl. ebenda, S. 312.

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sind als solche folglich kaum wahrnehmbar.“111 Während die Kirchen in West-Berlin durch moderne Architekturformen neue Ausdrucksmöglichkeiten erprobten, war es den Gemeinden in der DDR und Ost-Berlin nicht möglich, sich gestalterisch frei auszuprobieren. Wenn dort Kirchen gebaut wurden, fanden keine großen Architekturwettbewerbe statt. Aussehen und Größe neuer Sakralbauten orientierten sich in der Regel an den restriktiven Auflagen der zuständigen Baubehörden und dem knappen Material, das zur Verfügung stand.112 Beim Betrachten der Kirchen fällt jedoch auf, dass trotz theoretischer und sichtbarer Unterschiede zwischen den Kirchenbauten die Außenwahrnehmung der Gebäude nicht zwangsläufig anders ist. Die innen wie außen farblich dezenten Bauten sind ähnlich funktional, oft schlicht und erinnern zuweilen an Industrieanlagen. Sie sind architektonische Zeitzeugen, ohne dass der Ewigkeitsanspruch gotischer Kathedralen an ihnen haften würde. Obwohl die beiden Beispiele aus WestBerlin durch ihre nur aus Streben bestehenden, hohen Kirchtürme luftiger oder lebendiger – man könnte auch sagen unruhiger – und durch die fensterreichen Fassaden heller, ja freundlicher erscheinen, was sie vom Trutzcharakter mancher Ost-Berliner Kirchenbauten unterscheidet, wirken die Gebäude tendenziell eher abweisend und nicht einfach zugänglich. In besonderem Maße benachteiligt war aber sicher Typ „Haus“. Solche Sakralbauten im Stil von Einfamilienhäusern verkörperten einen eigentlich privaten Raum und das widersprach diametral dem Prinzip offener Kirchen. Manchmal allerdings war genau dieser Effekt gewollt. Zwar versuchte die DDR-Regierung, die Kirchen in nichtöffentliche Bereiche zurückzudrängen, doch zogen sich einige Gemeinden auch ganz bewusst dahin zurück. Die katholische Herz-Jesu-Gemeinde im Ost-Berliner Viertel Prenzlauer Berg etwa baute eine hohe Mauer um den Kirchhof, um fremde Blicke zu verhindern. In der benachbarten Gemeinde St. Adalbert wurden die vorhandenen Glasfenster durch Milchglasfenster ersetzt. Nun konnte niemand mehr hinein schauen und niemand hinaus. Man blieb unter sich.113 Ganz abgesehen davon, dass es im Osten sehr viel mehr Hürden zu überwinden galt, um den Bau einer neuen Kirche zu realisieren – das Aussehen und die Funktion moderner Kirchenbauten erregten die Gemüter in West-Berlin genau wie in Ost-Berlin und Brandenburg und sorgten für heftige Auseinandersetzungen sowohl innerkirchlich, als auch mit Dritten. Aufgrund dieser Konflikte veranstaltete die Evangelische Akademie Berlin bereits 1955 eine Fachtagung unter dem Titel „Können wir noch Kirchen bauen?“. Bei der Veranstaltung 111 Ebenda, S. 101. 112 Vgl. ebenda, S. 312. 113 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 14.

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suchten Architekten und Theologen aus Ost und West die Beantwortung der Hauptfrage, wie weit der Kirchenbau in Zukunft durch die Stilgesetze der modernen Technik oder durch die Tradition bestimmt sein soll, wie weit er sich zwingenden Eigenvoraussetzungen des Sakralen fügen muß oder die Tendenz zur Weltoffenheit der Kirche in einer gesunden Profanität bekunden darf.114

Die Teilnehmenden verhandelten unter anderem die Frage, welche Formen Kirchen in Zukunft haben sollten und welche Materialien am besten zum Einsatz kämen, inwiefern zum Beispiel der verstärkte Einbau von Glaselementen zu empfehlen sei. Wie zu erwarten, war es kaum möglich, einheitliche Antworten zu finden. Einig waren sich die Anwesenden nur darin, dass der Monumentalbau endgültig ausgedient habe. Auch kirchliche Vertreter plädierten dafür, von großen, kolossalen Sakralbauprojekten künftig abzulassen. Problematisch war, dass bei dieser Diskussion wieder die Experten und Kirchenleitenden wortführend waren und die Ansichten einfacher Gemeindemitglieder kaum berücksichtigt wurden. Sie hatten den Eindruck, dass ihre Anregungen von den Bauleuten marginalisiert würden. Symptomatisch für den fehlenden Dialog ist die Anmerkung eines Pfarrers aus West-Berlin. Vor Beginn des Architekturwettbewerbs für den Neubau seiner Kirche richtete er folgende Bitte an die Architekten: „Ich bitte besonders ausdrücklich darum, daß wir vor allen Experimenten eines ideologischen Modernismus, allen gewagten avantgardistischen Versuchen, allen Bemühungen, um jeden Preis nur ‚anders‘ sein zu wollen, verschont bleiben mögen.“115 Der Pfarrer forderte einen Neubau, der in aller erster Linie den Bedürfnissen der Gemeinde entsprach und keine Kirche, die Architekturpreise gewänne und zu einem Symbol des Kalten Kriegs avanciere. Anlass zur Sorge hatte er allemal. Denn die DDR-Regierung hatte zu diesem Zeitpunkt schon vorgemacht, wie sie Veranstaltungen, die sich mit dem Kirchenbau beschäftigten, in ihrem Sinne zu instrumentalisieren versuchte. Die Kirchenleitungen wie die Kirchenbasis stellte das vor eine zusätzliche Herausforderung. Sie waren auf die staatlichen Behörden angewiesen und wollten sich gleichzeitig nicht mehr als unbedingt notwendig von ihnen abhängig machen. In dieser Zwangslage entschieden sich die Kirchen im Osten dafür, die von der DDR-Regierung eingeforderte, oft kaum gerechtfertigte Dankbarkeit nach außen zu kommunizieren. Folglich gab es keine nennenswerten Proteste, als die DDR-Behörden beim Kirchenbautag in Erfurt 1956 für die aus Ost und West angereisten Teilnehmenden eine Besichtigungsfahrt zu wieder aufgebauten und neu errichteten Sakralgebäuden in der DDR organisierten. Angesichts im Bau befindlicher Kirchen114 „Können wir noch Kirchen bauen?“ Architekturprobleme auf einer evangelischen Akademietagung, in: Neue Zeit 15.12.1955, S. 4. 115 Biedrzynski: Kirchen, S. 66.

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gebäude sollte den Gästen der Tagung der Eindruck vermittelt werden, dass „die Regierung der DDR den Kirchenbau beachtenswert unterstützt.“116 Überhaupt schien die DDR-Regierung keine Gelegenheit auszulassen, um selbst vom Kirchenbau zu profitieren. Der Bau neuer Kirchen in Wohngebieten und neuen Ortsteilen wurde zur Devisenbeschaffung genutzt.117 Die Realisierung großer Prestigeprojekte benützte die DDR-Regierung überdies, um mit einer vermeintlich kirchenfreundlichen Politik ihre internationale Anerkennung voranzutreiben und um der eigenen Bevölkerung zu zeigen, dass sie im Wettbewerb mit der Bundesrepublik weiterhin mithalten konnte. Immer wieder verwiesen DDRZeitungen zum Beispiel auf die staatlichen Finanzhilfen, die den zwischen 1952 und 1963 erfolgten Wiederaufbau der St.-Hedwigs-Kathedrale im Ost-Berliner Zentrum mit ermöglicht hatten.118 Dabei blieb freilich unerwähnt, dass die meisten West-Berlinerinnen und West-Berliner die Ergebnisse dieser Bemühungen gar nicht zu Gesicht bekamen. Nach dem Mauerbau 1961 war es vielen von ihnen nicht mehr möglich, ihre in OstBerlin gelegene Bischofskirche zu besuchen.119 Selbst der von kirchlicher Seite für den Wiederaufbau zuständige Dompropst Prälat Paul Weber konnte den Fortschritt der Bauarbeiten nur mehr aus der Ferne betrachten, da er keine Einreiseerlaubnis nach Ost-Berlin erhielt.120 Erschwerend hinzu kam für die katholische Gemeinschaft Berlins, dass es den Ost-Berliner Katholikinnen und Katholiken seit dem 13. August 1961 bis zur Weihe der neu errichteten Hedwigs-Kirche 1963 nicht mehr möglich gewesen war, die ersatzweise als Bischofskirche genutzte Kirche St. Sebastian im West-Berliner Wedding zu besuchen. Während sich die DDR-Regierung also einerseits rühmte, den Kirchenbau in Ost-Berlin und der DDR tatkräftig zu unterstützen, ging sie andererseits entschieden gegen grenzübergreifende Verbindungen im Bistum Berlin vor.121 Ähnlich verhielt es sich später im Fall des Berliner Doms. Die zwischen 1894 und 1905 errichtete evangelische Kirche war während des Zweiten Weltkriegs stark beschädigt worden. Daher hatte die Domgemeinde noch während des Kriegs begonnen, sich in der Krypta der Denkmalskirche, einem Teil des ehemaligen 116 Kirchenbautag, in: Neue Zeit 19.9.1956, S. 1. 117 1973 vereinbarte die evangelische Kirche mit der DDR ein Sonderbauprogramm. Daraufhin konnten bis 1986 140 Sakralbauten, Gemeindezentren etc. in der DDR errichtet werden. Vgl. Von Notkirchen zum Sonderbauprogramm, in: Die Kirche 2.11.1986, S. 3. 118 Vgl. Christen und Nationales Aufbauprogramm, in: Neue Zeit 26.1.1952, S. 3. Siehe auch: Magistrat bewilligt 325.000 DM für kirchliche Zwecke, in: Neue Zeit 8.2.1952, S. 1. Oder: Bischof Weskamm dankt dem Magistrat, in: Neue Zeit 4.3.1952, S. 1. 119 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 109–110. 120 Vgl. Nachruf auf den Dompropst Paul Weber, in: Petrusblatt 20.1.1963, S. 1. 121 Vgl. Halbrock: Zwischen Himmel und Mauer, S. 314.

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Domensembles, zu treffen. Diese wurde später zur Domgruftkirche ausgebaut. Ein Wiederaufbau des Domes stand hingegen vorerst nicht zur Debatte. Ganz im Gegenteil: mit Blick auf die Größe der Ortsgemeinde und den erwarteten Investitionsaufwand für einen Wiederaufbau votierte die Leitung der EKiBB dafür, die Reste des Domes abzureißen. Dieses Ansinnen unterstrich die Kirchenleitung, indem sie eine Verzichtsurkunde ausstellte. Doch nichts geschah. Die bis 1953 notdürftig vor dem Verfall gerettete Kirche blieb bis 1975 quasi unangetastet.122 Erst als das Lutherjubiläum 1983 und das nur vier Jahre darauffolgende 750jährige Berlinjubiläum im Jahr 1987 nahten, entwickelte die DDR-Regierung wieder ein Interesse am Berliner Dom und setzte sich nun für einen Wiederaufbau der Kirche ein. Zwar floss das Geld für diesen Wiederaufbau zu sehr großen Teilen aus dem Ausland, aber pünktlich zum groß angelegten 500. Geburtstag Luthers vergaß die DDR-Führung die Herkunft dieser Gelder, schmückte sich stattdessen mit fremden Federn und feierte sich als Retterin des Berliner Doms dessen Wiederherstellung kontinuierlich voranschreite.123 Beim schon vorher erfolgten Wiederaufbau des Deutschen und des Französischen Doms auf dem nahegelegenen Gendarmenmarkt hatte sich die DDR-Regierung nicht anders verhalten. Die Freude der Berlin-Brandenburger Synode über den Wiederaufbau des Doms fiel gedämpft aus. So wie einst die Bauarbeiten an der Kirche für die EKiBB ein finanzielles Desaster zu werden gedroht hatte, sollte sie nun die Kosten für die Unterhaltung des Gebäudes aufbringen, was sie sich ebenfalls kaum leisten konnte.124 Im krassen und noch dazu offensichtlichen Widerspruch zur propagierten Unterstützungsbereitschaft der DDR-Regierung stand der Abriss oder die Sprengung von Kirchen.125 Besonderes Aufsehen erregte der Fall des Georgenkirchturms auf dem Berliner Alexanderplatz. Der Turm, der zur im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstörten Georgenkirche gehörte, wurde am 18. Juni 1950, einem Sonntag, gesprengt. Westliche Medien verfolgten die Debatte über die Sprengung und führten den geplanten Abriss folgerichtig auf die städtebaulichen Planungen des Ost-Berliner Magistrats und der SED zurück. Es sei schließlich bekannt, schrieb der SPIEGEL, dass in Ost-Berlin ein neues Zentrum mit sozialistischem Stadtbild entstehen 122 Gelder für notdürftige Reparaturen stellte unter anderem die Berliner Stadtverordnetenversammlung zur Verfügung. 1948 übertrug sie der EKiBB 250.000 Mark zur Erhaltung des Domes. Vgl. In aller Kürze, in: Die Kirche 1.8.1948, S. 1. Siehe auch: Kirchen entstehen neu, in: Die Kirche, 6.3.1949, S. 1. 123 Vgl. Luthergedenken im Berliner Dom, in: Neue Zeit 4.11.1983, S. 6. Zum Luthergedenken in der DDR 1983: „Mit Herrn Luther ist alles in Butter.“ Wie die SED den 500. Geburtstag des Reformators feiert, in: Der SPIEGEL 7.3.1983, S. 103–113. 124 9. Synode Berlin-Brandenburg. Vierte ordentliche Tagung 8.-12.4.1988. LA B Rep 002/14277. 125 Der Abriss zerstörter Kirchen in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist hiervon ausgenommen. Entsprechende Abbrucharbeiten erfolgten sowohl in Ost-, als auch in West-Berlin.

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solle, in das Kirchentürme nicht passen würden. So sei es nur konsequent, dass „umgelegt wird, was das Neu-Moskau-Bild stört.“126 Der Ost-Berliner Magistrat sah sich angesichts solcher Protestnoten gezwungen, den Vorgang zu verteidigen. Stadtrat Arnold Munter, Leiter des Amtes für Aufbau beim Magistrat, bezeichnete die Berichterstattung der westlichen Medien als Verunglimpfung und rechtfertigte das Vorgehen der Stadtverwaltung damit, dass das Hauptpolizeiamt (später das Bauaufsichtsamt) eine akute Einsturzgefahr bei dem 126 m hohen Turm festgestellt habe. Er selbst, betonte der Stadtrat rückblickend, habe den Turm vor der Sprengung noch einmal bestiegen und mehrere gefährliche Risse zur Kenntnis genommen. Erschütterungen durch den U-BahnVerkehr im Erdreich unter dem Turm hätten die Gefahr eines Einsturzes zusätzlich erhöht. Außerdem habe die Sprengung den Verdacht der Sachverständigen erhärtet: Einige Mauersteine des Turmes hätten nur lose aufeinander gelegen. Munter empörte sich darüber, dass West-Berliner Zeitungen die vier Sprengungen, die notwendig gewesen waren, um den Turm zum Einsturz zu bringen, als ein Indiz dafür werteten, dass der Turm keineswegs einsturzgefährdet gewesen sei. Die Sprengmeister, so sein Argument, hätten auf diese Weise vorgehen müssen, um zu verhindern, dass nahestehende Gebäude beschädigt würden. All diese Punkte zeigten, kam Munter zum Schluss, dass die SED nicht kirchenfeindlich, sondern verantwortungsbewusst handele.127 Der Berliner Bischof Dibelius hatte für derlei Erklärungen erwartungsgemäß wenig Verständnis. Er fand sie fadenscheinig. Genau wie die westlichen Zeitungen war er sich sicher, dass nicht die vermeintlichen Schäden am Turm dazu geführt hatten, diesen zu sprengen, sondern die Pläne für die Neugestaltung des Alexanderplatzes der eigentliche Grund dafür waren. Schließlich sei die Sprengung erfolgt, obwohl die EKiBB vorher zugesichert habe, die Schäden am Turm auszubessern. Mehr noch, der Magistrat hatte der Kirche die dafür notwendige Baulizenz sogar verweigert. Überdies hätte ein Gutachten gezeigt, dass der Turm intakt gewesen sei. Die Behörden hätten diesen Befund allerdings ignoriert. Nicht zuletzt seien Versuche, die Sprengung zu stoppen, ebenfalls fehlgeschlagen, weil das Landgericht und das Kammergericht in Ost-Berlin eine einstweilige Verfügung abgelehnt beziehungsweise sich für nicht zuständig erklärt hatten. Dibelius beklagte, dass an dieser Stelle „das Verschwinden eines eindrucksvollen kirchlichen Wahrzeichens Berlins“ zu konstatieren sei, für das er allein den Ost-Berliner Magistrat verantwortlich machte.128

126 Hammer im Ährenkranz, in: Der SPIEGEL 13.12.1950, S. 11. 127 Vgl. Warum der Georgenkirchturm gesprengt wurde, in: Berliner Zeitung 23.6.1950, S. 6. 128 Erklärung, in: Die Kirche 25.6.1950, S. 1. Vgl. Halbrock: Zwischen Himmel und Mauer, S. 307.

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Auch in den darauffolgenden Jahrzehnten fielen Ost-Berliner Kirchen Sprengungen zum Opfer. Diese Aktionen wurden unter anderem damit begründet, dass die Kirchen oder Kirchenruinen wie im Fall der Georgenkirche den Sicherheitsstandards nicht genügten, ein Sicherheitsrisiko darstellten, weil sie sich im Bereich der Grenzanlagen befanden, oder städtebaulichen Plänen im Weg standen. In den Jahren nach dem Mauerbau wurden auf der Basis dieser fragwürdigen Argumente die Gnadenkirche (1967), die Luisenstadt-Kirche (1964) und die Petrikirche (1964) gesprengt. Noch 1985 ließ die DDR-Regierung die im sogenannten Todesstreifen befindliche Versöhnungskirche sprengen.129 Während die Behörden nach dem Mauerbau zunächst auf diesen Schritt verzichtet hatten, sollte die Versöhnungskirche, die mit der Zeit zu einem Symbol für die geteilte und abgeriegelte Stadt Berlin geworden war, endgültig verschwinden.130 Dafür, dass es soweit kam, sieht Christian Halbrock aber auch das Evangelische Konsistorium in Berlin in der Verantwortung. Dieses habe die Kirche, deren Gemeinde bereits am 13. August 1961 in einen West- und einen Ostteil getrennt worden war, zu früh aufgegeben und der Sprengung der Kirche sogar zugestimmt.131 Im Gegenzug, schreibt Maser, „überwies der Ost-Berliner Magistrat dafür ein Gelände in Hohenschönhausen für den Neubau eines Gemeindezentrums.“132 Platz geschaffen wurde im Übrigen nicht nur für die Anlagen des DDR-Grenzregimes. Die im Zweiten Weltkrieg bereits beschädigte, aber sanierbare Jerusalemskirche in West-Berlin wurde 1961 ebenfalls gesprengt. Denn für das Grundstück im Bereich Jerusalemer Straße-Lindenstraße-Oranienstraße interessierte sich der Verleger Axel Springer. Er plante die Errichtung eines neuen, großen Zeitungshochhauses nahe der Grenze zu Ost-Berlin. Die Jerusalemgemeinde und der Berliner Senat stimmten dem Vorhaben zu, nachdem der Gemeinde ein Ersatzbau in Aussicht gestellt worden war. Die Kirche wurde abgerissen, um dem SpringerHochhaus Platz zu machen. 1968 entstand ein Kirchenneubau unweit der alten Kirche.133 129 Vgl. Halbrock, Christian: Weggesprengt. Die Versöhnungskirche im Todesstreifen der Berliner Mauer 1961–1985, in: Horch und Guck 17 (2008) Sonderheft, S. 1–80. Siehe auch: Röder, Hans Jürgen: Versöhnung im Schatten der Mauer. Die Berliner Versöhnungskirche im Kalten Krieg. Berlin 2019. 130 Von der Versöhnungskirche im Niemandsland erzählt auch der Berliner Schriftsteller Hans Scholz, der für den SPIEGEL im Herbst 1961 einen Spaziergang entlang der Mauer unternahm: „Die Zugänge zur Versöhnungskirche sind vermauert, zwei ziegelrote Pfeiler eingeschlossen, in deren Aushängekästen man noch ‚Der altböse Feind, mit Ernst er’s jetzt meint‘ lesen kann sowie die hilflose Beschwörung ‚Wir sind doch alle Brüder‘, gegen die nach 45 so einträchtig erfolgreich anregiert worden ist.“ Nebenan liegt Preussen begraben, in: Der SPIEGEL 27.12.1961, S. 49. 131 Vgl. Halbrock: Zwischen Himmel und Mauer, S. 316–319. 132 Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 130. 133 Vgl. Halbrock: Zwischen Himmel und Mauer, S. 326.

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Kapitel 2: Verflechtung

Sowohl beim Feiern religiöser Feste als auch beim Bauen sakraler Gebäude fällt auf, dass christliche Gemeinschaften beiderseits der Systemgrenzen um Rituale und Präsenz rangen: dass sie versuchten, Alleinstellungsmerkmale auf sich zu vereinen, die nicht nur Bedeutung für die eigenen Mitglieder hatten, sondern gleichwohl von außen erkennbar, ja unverwechselbar waren. Eigentlich sollte es nicht überraschen, dass die geeinten Kirchen gleiche Probleme hatten – tatsächlich sahen aber viele Zeitgenossen die Parallelen nicht. Derartige Wissensdefizite konnten zunächst noch über persönliche, zwischenmenschliche Kontakte ausgeglichen werden, die die Einheit der Kirchen trotzdem stärkten. Die Amtskirchen hofften zudem darauf, dass es den kirchlichen Medien gelingen würde, die Kirchenmitglieder in Ost und West miteinander zu verbinden, sie zu informieren und auf Konflikte dies- und jenseits der Mauer aufmerksam zu machen..

2.2 Kommunikationskulturen: die Institutionalisierung kirchlicher Mediensysteme Die Aufrechterhaltung der kirchlichen Einheit setzte einen hohen Kommunikationsaufwand voraus. Es brauchte etwas, worauf sich die geeinte Gemeinschaft beziehen konnte: Ansichten, die sie teilte, Elemente, die sie verbanden. Das konnten gemeinsame Ideen oder Werte sein, geteilte Erfahrungen und Erinnerungen oder Personen, die dazu beitrugen, Beziehungen herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Es gab Symbole, die die Einheit repräsentierten und Bilder, die beständig reproduziert werden mussten. Aber wie ließ sich das Nachdenken darüber, was eine Gemeinschaft zusammenhält, über Systemgrenzen fortsetzen? Welche Kommunikationsräume existierten? Und wodurch wurden sie begrenzt?134 In diesem Kapitel werden die Medien im Vordergrund stehen, die nach Meinung der Amtskirchen repräsentativ für das Bistum oder die Landeskirche waren. Dazu zählten Hirtenbriefe, Kirchenzeitungen und der Kirchenfunk.135 Dabei soll in diesem Rahmen aber keine typische Einführung in die Säkularisierungstheorie erfolgen.136 Wichtig ist jedoch, dass sich die Beziehung von Medien und Kirchen im 134 Zu kirchlicher Kommunikation vgl. Große Kracht, Klaus: Presse und Kanzel. Päpstliches Medienverständnis und katholische Publizistik in Deutschland (1920er-1970er Jahre), in: Daniel, Ute/ Schildt, Axel (Hrsg.): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln u. a. 2010, S. 331. Siehe auch: Tischner: Katholische Kirche, S. 476. 135 Um graue Literatur, alternative Presse oder Gemeindeblätter wird es an dieser Stelle hingegen nicht gehen, diese werden in nachfolgenden Kapiteln genauer besprochen. 136 Die Entwicklung unterschiedlicher Säkularisierungsthesen führt unter anderem von Émile Durkheim, der das Verhältnis von Medien und Religion als antagonistisch beschrieben hat; über Thomas Luckmann, der resümierte, dass sich die Funktionen des Religiösen veränderten und

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Untersuchungszeitraum stark verändert hat 137 Die Kirchen waren zunehmend aufgefordert, sich öffentlich zu positionieren, um wahrgenommen zu werden und dafür bedurften sie kirchlicher und säkularer Massenmedien, die sich wiederum ebenfalls im ständigen Wandel befanden.138 Auf den Wiederaufbau der kirchlichen Publizistik nach der Zeit des Nationalsozialismus nahmen solche Überlegungen bereits Einfluss. Nach 1945 versuchten die Kirchen zunächst an ihre Medienarbeit in der Weimarer Republik anzuknüpfen. Gleichzeitig waren sie in besonderem Maße daran interessiert, möglichst unabhängige Mediensysteme zu errichten, in der Hoffnung, dadurch ihre Deutungshoheit über bestimmte Diskurse auch außerhalb der eigenen Gemeinschaft behaupten zu können.139

Katholische Wochenzeitungen im Nachkriegsberlin Schon im Juni 1945 wies der Berliner Bischof Konrad von Preysing seinen Mitarbeiter Walter Adolph an, die Herausgabe einer neuen Kirchenzeitung vorzubereiten. Adolph sollte an jene Jahre vor 1933 anschließen, in denen noch 16 katholische Zeitungen in Berlin erschienen waren.140 Doch die zuständige Sowjetische Militäradministration zögerte bei der Lizenzvergabe: Während von Preysing und Adolph an ein Format dachten, das im Sinne eines Wochenblattes Bezug auf tagesaktuelle, politische Ereignisse nehmen würde, bevorzugte die Besatzungsbehörde eine Kir-

Religion weniger im öffentlichen, als vielmehr im privaten – einem individuellen Bereich zu verorten sei; bis hin zu Josè Casanova, der an Luckmann anknüpfend für eine Deprivatisierung des Religiösen plädierte, weil die Individualisierung religiöser Fragen innerhalb der Religionsgemeinschaften Demokratisierungsschübe hervorgebracht habe, die wiederum auf gesamtgesellschaftliche und überkonfessionelle Identitäts- oder Globalisierungsdebatten Einfluss genommen hätten. Vgl. Durkheim, Émile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt 1994. Siehe auch: Luckmann, Thomas: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, Freiburg 1963. Und: Casanova, José: Public relations in the modern world, Chicago 1994. 137 Vgl. Bösch, Frank/Hölscher, Lucian: Die Kirchen im öffentlichen Diskurs, in: Bösch, Frank/ Hölscher, Lucian (Hrsg.): Kirchen – Medien – Öffentlichkeit. Transformation kirchlicher Selbstund Fremddeutungen seit 1945, Göttingen 2009, S. 7–30. 138 Vgl. Bösch/Hölscher, S. 10–12. Siehe auch: Bösch, Frank: Die Religion der Öffentlichkeit. Plädoyer für einen Perspektivwechsel der Kirchen- und Religionsgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), https://zeithistorische-forschungen.de/3-2010/4420 [2.6.2021]. 139 „Für Journalisten gehörte die Religion schon seit dem Boom der Massenpresse im Deutschen Kaiserreich zum festen Themenrepertoire. Daran änderte auch die Erweiterung des medialen Ensembles um das Radio und später um das Fernsehen nichts.“ Hannig: Die Religion, S. 9. 140 Vgl. Hackel, Renate: Katholische Publizistik in der DDR. 1945–1984, Mainz 1987, S. 14.

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chenzeitung, die allein über innerkirchliche Belange berichtete.141 Der katholische Episkopat wendete sich deshalb an die amerikanische Besatzungsmacht, welche der Gründung einer katholischen Verlagsanstalt und der Veröffentlichung einer katholischen Kirchenzeitung in Berlin zustimmte.142 Am 2. Dezember 1945 erschien das Petrusblatt zum ersten Mal. Es umfasste acht Seiten im Berliner Format und verstand sich als Nachfolgerin der 1938 verbotenen gleichnamigen Zeitung.143 Am Anfang betrug die Auflage 20.000 Exemplare, aber schon nach wenigen Wochen erlaubten die amerikanischen Besatzungsbehörden für die Weihnachtsausgabe der Zeitung eine Auflagenerhöhung auf 30.000 Stück. Ab Januar 1946 galt diese Auflagenzahl dauerhaft. Die Nachfrage nach dem Blatt war groß. Die Zeitung verkaufte sich in der gesamten Diözese sehr gut und vergrößerte zudem beständig ihr Verbreitungsgebiet.144 1946 wurde das Petrusblatt, obwohl es ausschließlich als Berliner Bistumszeitung lizensiert war, nicht nur in allen vier Sektoren der Stadt Berlin, sondern in der gesamten SBZ vertrieben. Es konnte per Post und per Kurier bezogen werden. Die Sowjetische Militäradministration sah zunächst darüber hinweg, dass die Zeitung auch außerhalb des eigentlichen Diözesangebietes ausgeliefert wurde. Derweil schwelten innerhalb der katholischen Gemeinschaft erste Kämpfe um rechtmäßige Absatzmärkte: Berliner Kirchenmitglieder sahen nicht ein, warum sie ihre Zeitung mit Katholiken aus Sachsen oder Thüringen teilen sollten. 145 Die Redakteure versuchten, solche kircheninternen Streitigkeiten um die Zeitung zu entschärfen. Sie signalisierten, dass allein aufgrund des Papiermangels vorerst mit keiner weiteren Auflagensteigerung zu rechnen sei und die nachgefragten Stückzahlen vorerst nicht geliefert werden könnten. Stattdessen bat die Zeitung alle Haushalte, die ein Petrusblatt erhielten, dieses nach der eigenen Lektüre an Dritte weiterzugeben, um auf diese Weise möglichst viele Lesende zu erreichen.146 Nachdem die eigenen Kirchenmitglieder beruhigt waren, erregte das Petrusblatt bald die Kritik der sowjetischen Besatzungsbehörden. Die Zeitung beschränke sich nicht auf religiöse Themen. 1947 wurde die Auslieferung des Blattes in die SBZ zum ersten Mal verboten. Von Preysing und Adolph, der mittlerweile als ent141 Vgl. Tischner: Katholische Kirche, S. 478–479. 142 Vgl. Aus dem Bistum, in: Petrusblatt 2.12.1945, S. 7. Vgl. Brelie-Lewien, Doris von der: Katholische Zeitschriften in den Westzonen 1945–1949. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Frankfurt/Zürich 1996, S. 8. 143 Vgl. Verbotene Blätter erscheinen wieder. „Petrusblatt“ für die Diözese Berlin, in: Berliner Zeitung 7.12.1945, S. 2. 144 Hier ist zu beachten, dass die Verlagslandschaft zu diesem Zeitpunkt noch nahezu brachlag und die Nachfrage nach Druckerzeugnissen deshalb generell hoch war. Vgl. Brelie-Lewien, S. 8. 145 Vgl. Tischner: Katholische Kirche, S. 486–489. 146 Vgl. Eine kleine Gefälligkeit, in: Petrusblatt 9.12.1945, S. 8.

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schieden antikommunistischer Chefredakteur des Petrusblattes agierte, waren trotzdem nicht bereit, etwas an der Ausrichtung der Zeitung zu ändern. Sie waren der Ansicht, dass es einer Berliner Kirchenzeitung auch erlaubt sein müsse, tagespolitische Ereignisse zu kommentieren.147 In der Folge unterbanden die Behörden in der SBZ die Einfuhr der Zeitung in die Diasporagebiete des Bistums im April 1949 endgültig. Das Petrusblatt wurde von der Postzeitungsliste der SBZ gestrichen.148 Bischof Preysing protestierte beim stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR, Otto Nuschke, gegen diese Entscheidung und erklärte, dass damit „das Gefühl der religiösen Unterdrückung“ wachgehalten werde.149 Aber er erreichte keine Aufhebung des Verbots. Stattdessen wurde es gängige Praxis, das Petrusblatt illegal in die DDR zu schmuggeln. Doch das war riskant, denn die junge DDR-Regierung ging insgesamt sehr viel restriktiver gegen die Kirchen vor als die Sowjetische Militäradminstration. Sie belegte Pfarrer, die die Zeitung weiterhin verkauften, mit Geldstrafen oder drohte ihnen mit Gefängnis.150 Ungeachtet solcher Bestrafungsmaßnahmen setzte sich das Bistum weiterhin über das Verbot hinweg, so dass sich Nuschke im Februar 1951 sogar an die Fuldaer Bischofskonferenz wendete und das Gremium bat, die katholische Kirche in Berlin davon abzuhalten, das Petrusblatt weiterhin in die DDR einzuführen und in Krankenhäusern oder Altersheimen zu verteilen.151 Das Commissariat der Fuldaer Bischofskonferenz wies diese Bitte zurück: Die Rechtslage sei nicht eindeutig und der SMAD-Befehl Nr. 90 auf den sich Nuschke stütze, beziehe sich zudem nur auf die Herausgabe von Zeitungen in der SBZ, nicht aber auf deren Einfuhr in das betreffende Gebiet. Weiterhin wurde erklärt, das Problem lasse sich leicht lösen, die DDR-Regierung müsse nur die Lizenz für einen katholischen Verlag und eine Kirchenzeitung in der DDR vergeben.152 Es fällt auf, dass die Bischofskonferenz gegenüber der DDR-Regierung betont selbstbewusst und offensiv auftrat. Die katholische Kirche betrachtete sich offenbar als eine gleichrangige Verhandlungspartnerin der DDR-Regierung, nicht aber deren Bittstellerin. 147 Vgl. Tischner: Katholische Kirche, S. 491–492. Siehe auch: In eigener Sache, in: Petrusblatt 2.10.1949, S. 1. 148 Vgl. Maser, Peter: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 29. 149 Kardinal Preysing an Otto Nuschke 29.12.1949, abgedruckt bei: Adolph: Kardinal Preysing, S. 235. 150 Vgl. Der Bischof von Berlin an das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen in der Deutschen Demokratischen Republik 19.12.1949. DAB I/4–15, abgedruckt bei: Lange/Pruß, 1. Halbband, S. 72–73. 151 Otto Nuschke, Stellvertreter des Ministerpräsidenten, an das Commissariat der Fuldaer Bischofskonferenz 13.2.1951. DAB I/4–122–1, abgedruckt bei: Lange/Pruß, S. 92–93. 152 Vgl. Commissariat der Fuldaer Bischofskonferenz an die (Erz)-Bischöflichen Ordinariate und Kommissariate in der DDR 4.4.1951, abgedruckt bei: Lange/Pruß, S. 93–94.

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Allerdings nahm nicht nur die DDR-Regierung Anstoß am Petrusblatt. Auch die innerkirchliche Kritik an der Parteilichkeit der Zeitung wurde immer lauter. Der Berliner Caritasdirektor Johannes Zinke sprach von einer gezielten Fehlinformation der Lesenden und forderte zur Mäßigung auf.153 Außerdem wuchs das Risiko für die Kuriere, die die Zeitung wöchentlich in den Osten schmuggelten und denen neben Geldstrafen auch Verhaftungen drohten. Das führte dazu, dass sich der Ton im Petrusblatt tatsächlich für eine kurze Zeit veränderte. Diese Tonänderung war aber weniger auf einen Sinneswandel des Chefredakteurs Adolph zurückzuführen, sondern darauf, dass von Preysing verstorben war und Wilhelm Weskamm sein Nachfolger auf dem Bischofssitz wurde. Er forderte Adolph auf, sich in Zurückhaltung zu üben. Doch es dauerte nicht lange, bis Adolph wieder polarisierte. Er hielt an seinem explizit antikommunistischen Kurs fest.154 Bis März 1953 konnte die Zeitung nach Ost-Berlin geliefert werden. Dann verbot die Volkspolizei auch dort und nicht nur in der DDR den Verkauf des Blattes endgültig.155 Im selben Jahr erhielt Bischof Weskamm die Lizenz zur Herausgabe einer eigenen Ost-Berliner Kirchenzeitung.156 Er erreichte, was schon sein Vorgänger von Preysing gefordert hatte. Zwar hatte dieser das Verbot des Petrusblattes in der DDR öffentlich gerügt, aber er hatte sich nicht der Illusion hingegeben, eine weitreichende Verbreitung der Bistumszeitung vermittels illegaler Einfuhren gewährleisten zu können. Die DDR-Regierung lenkte also ein und genehmigte eine eigene Ost-Berliner Kirchenzeitung, weil sie hoffte, den Import des West-Berliner Petrusblattes auf diese Weise einschränken zu können. Sie wollte lieber Einfluss auf ein in der DDR herausgegebenes Blatt nehmen, statt auf die West-Berliner Artikel reagieren zu müssen. Zudem gedachte sie, die Ost-Berliner Kirchenzeitung als Faustpfand gegen Angriffe westlicher Kirchenzeitungsredakteure einzusetzen. Die Redaktion des Petrusblattes sollte lernen abzuwägen: Wenn sie negativ über die DDR berichtete, war es sehr wahrscheinlich, dass die Ost-Berliner Kirchenzeitung die Konsequenzen dafür tragen musste. Basierend auf diesen Überlegungen erschien im Januar 1954 in Ost-Berlin und der DDR erstmalig das acht Seiten umfassende St. Hedwigsblatt mit einer Aufla153 Vgl. Tischner: Katholische Kirche, S. 506 und S. 560. 154 Vgl. Nochmals „Warum?“, in: Neue Zeit 17.6.1951, S. 2. 155 Vgl. Hackel: Katholische Publizistik, S. 57. Siehe auch: Ostsektor ohne „Petrusblatt“, in: Blick in die Zeit, Beilage des Petrusblattes 29.3.1953, S. 1. 156 Weskamm hatte sich über Jahre, um die Herausgabe einer eigenen Ost-Berliner Kirchenzeitung bemüht. Vgl. Bischof Weskamm an Prof. Eisler 24.11.1952. Abschrift, Arbeitsstelle für Zeitgeschichte im Erzbistum Berlin, abgedruckt bei: Lange/Pruß, S. 122. Die amtliche Bestätigung erteilten die DDR-Behörden erst ein Jahr später. Vgl. Information des Bischöflichen Ordinariats 29.12.1953. Hektographie, Arbeitsstelle für Zeitgeschichte im Erzbistum Berlin, abgedruckt bei: Lange/Pruß, S. 163.

2.2 Kommunikationskulturen: die Institutionalisierung kirchlicher Mediensysteme



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genhöhe von 25.000 Exemplaren.157 Mit diesem Schritt war die Einheit des Bistums offensichtlich in Frage gestellt. Die Existenz zweier Kirchenzeitungen machte weitere Trennungsschritte nicht gerade unwahrscheinlich. Trotzdem bemühte sich der Episkopat weiter aktiv darum, solche Verlautbarungen zu entkräften. Herausgegeben wurde das St. Hedwigsblatt vom 1951 gegründeten katholischen St. Benno-Verlag mit Sitz in Leipzig. Es konnte ausschließlich über den Postzeitungsvertrieb bezogen werden, damit die DDR-Behörden einen möglichst genauen Überblick darüber hatten, wer die Zeitung erhielt. Anlässlich der Gründung des St. Hedwigsblattes schrieb die Neue Zeit, freilich ohne auf die politischen Hintergründe der Neugründung einzugehen: Das „Erscheinen [des St. Hedwigsblattes] ist von den katholischen Gemeindemitgliedern freudig begrüßt worden.“158 Dass sich die beiden Berliner Bistumszeitungen massiv voneinander unterscheiden würden, zeichnete sich von Anfang an ab. Das St. Hedwigsblatt hatte keine Ambitionen, das tagesaktuelle Politgeschehen zu kommentieren. „Hauptanliegen dieses [Ost-Berliner] Bistumsblattes ist es stets gewesen, durch pastorale Beiträge und Informationen die Lesergemeinde am Leben der Kirche teilnehmen zu lassen.“159 20 Jahre lang, von 1954 bis 1974, trat Prälat Otto Groß als Chefredakteur des St. Hedwigsblattes für diese Ziele ein und bestimmte damit den Charakter der Zeitung. Das Blatt verzichtete weitestgehend darauf, politische oder aktuelle Ereignisse zu kommentieren. Die Sprache der Redakteure war klerikal und betulich. Weihbischof Wolfgang Weider erinnerte sich, dass das St. Hedwigsblatt vor allem deswegen gelesen wurde, weil es als die einzige kirchliche Quelle im Bistum galt: „Und das war eben auch, sagen wir mal, sehr, sehr bischofstreu und sehr kirchlich und […] gläubig.“160 Manche Kirchenmitglieder hielten gerade diese Eigenschaften von der Lektüre ab: Hier gab’s in Berlin, gab’s ja dann immer das St. Hedwigsblatt und da hat man mal reingeguckt, aber ich fand das jetzt nicht so interessant, fand das langweilig. Und, äh, äh, eigentlich auch zu fromm, wenn Sie so wollen, nicht? Könnte ich jetzt etwas ruppig sagen: „Fromm bin ich allein, brauch ich nicht das St. Hedwigsblatt.“161

Im Sommer 1956 verstarb Bischof Weskamm. Der Papst bestimmte 1957, dass der Bischof von Würzburg, Julius Döpfner, das Bischofsamt in Berlin übernehmen soll157 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 130. Siehe auch: Hackel: Katholische Publizistik, S. 58–59. 158 Neues katholisches Kirchenblatt, in: Neue Zeit 10.1.1954, S. 2. 159 Vgl. Bischöfliches Ordinariat Berlin: Der Glaube, S. 114. 160 Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider, 3.4.2017, S. 17. Auch Matthias Kohl betonte, dass es sich beim St. Hedwigsblatt um eine dezidiert nicht-staatliche Zeitung handelte. Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 28. 161 Interview mit C. D., 24.4.2017, S. 8.

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te. Anders als Weskamm war Döpfner ein lautstarker Verfechter von Freiheitsrechten. Er protestierte vehement gegen die Zensur des St. Hedwigsblattes durch staatliche Organe. Besonderes Aufsehen erregte dabei der von Döpfner verfasste, kritische Fastenhirtenbrief Christliche Familie heute. Geplant war, Auszüge daraus sowohl im Ost-Berliner St. Hedwigsblatt als auch im West-Berliner Petrusblatt zu publizieren.162 Doch so weit kam es nicht. Der Leiter des DDR-Presseamtes, Fritz Beyling, verbot den Vertrieb, bevor das St. Hedwigsblatt überhaupt erscheinen konnte. Mehr noch, in der folgenden Nummer musste die Zeitung sogar eine unkommentierte Erklärung des Presseamtes abdrucken, in der die Zensurmaßnahme wie folgt begründet wurde: Werter Herr Chefredakteur! Hierdurch teile ich Ihnen mit, daß der Vertrieb des „St. Hedwigs Blattes“ Nr. 7 vom 16. Februar 1958 untersagt wurde, weil die betreffende Ausgabe einen Beitrag enthält, der die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik verlogen darstellte und ihre Bürger verleumdet und diskriminiert. […] Wenn auch die in dem Beitrag […] geschilderten Zustände für den Bereich der kapitalistischen Bundesrepublik zutreffend sind, so kann keinesfalls eine solche Einschätzung auf die Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik übertragen werden, weil dies im krassen Gegensatz zur Wahrheit und den tatsächlichen Verhältnissen stehen würde.163

Der Generalvikar des Bistums, Maximilian Prange, wies diese Vorwürfe zurück. In einem Schreiben an das Presseamt stellte er noch vor Veröffentlichung der Erklärung klar, dass Döpfner lediglich Punkte aufgegriffen habe, die die DDR-Presse selbst bereits kritisch verhandelt habe.164 So hätte zum Beispiel das Neue Deutschland schon 1957 darauf hingewiesen, dass immer mehr Ehen in der DDR geschieden würden und diese Tatsache als alarmierend bezeichnet.165 Beyling ignorierte diese Einwände. Er beharrte darauf, dass Döpfner im St. Hedwigsblatt seine Kompetenzen überschritten und die Verhältnisse in der DDR falsch dargestellt habe. Er meinte deshalb, dem Chefredakteur des St. Hedwigsblattes Otto Groß den Ernst der Lage erneut begreiflich machen zu müssen. Beyling drohte damit, dass bei einer Nichtpublikation der Auflagenmeldung nicht nur die nächste, sondern auch

162 Vgl. Hackel: Katholische Publizistik, S. 61–63. Siehe auch: Knauft: Katholische Kirche, S. 99– 101. 163 Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Presseamt beim Ministerpräsidenten. An den Chefredakteur des „St. Hedwigs Blattes“ Herrn Pfarrer Otto Groß, in: St. Hedwigsblatt 23.2.1958, S. 2. 164 Vgl. Bischöfliches Ordinariat an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Presseamt beim Ministerpräsidenten 20.2.1958. Arbeitsstelle für Zeitgeschichte im Erzbistum Berlin, abgedruckt bei: Lange/Pruß, S. 266–269. 165 Vgl. Die sozialistische Moral in der Ehe und in der Familie, in: Neues Deutschland 7.12.1957, S. 12.

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weitere Ausgaben der Zeitung verboten werden würden.166 Dieses Risiko wollte der Episkopat nicht eingehen. Döpfner nahm den Vorfall allerdings zum Anlass, um an anderer Stelle auf die anhaltenden Einschränkungen der kirchlichen Pressefreiheit in der DDR aufmerksam zu machen. Er erklärte gegenüber der Fuldaer Bischofskonferenz: „Das Vorgehen ist eine Schikane, die kennzeichnend ist für die augenblickliche Lage.“ Die DDR-Regierung erreiche, so der Bischof weiter, mit dieser Maßnahme das Gegenteil dessen, was sie intendiert habe: „Es verbindet das Kirchenvolk umso tiefer mit dem Bischof, wenn er den Weg der Herabsetzung und Schmähung gehen muß, den die Gläubigen selbst so oft gehen müssen.“167 Döpfner setzte darauf, dass staatliche Versuche, die katholische Gemeinschaft zu spalten, deren Einheitsempfinden letztlich stärken würde. Aber er irrte, denn die Drohungen der DDR-Regierung verfehlten ihre Wirkung nicht. In der Folge gab es gar keine kritischen Berichte mehr im St. Hedwigsblatt. Die Redakteure nahmen davon Abstand, auf Einschränkungen der Presse- und Religionsfreiheit aufmerksam zu machen und berichteten auch nicht mehr über Repressionsmaßnahmen in der DDR. Zwar wagte das Blatt insofern eine Perspektiverweiterung, als es in Rubriken wie Aus der Weltkirche Berichte über nicht-sozialistische Länder unterbrachte, aber das änderte nichts daran, dass die Kommunikation akuter Probleme, von denen die Kirchenmitglieder direkt betroffen waren, über andere Kanäle bestritten werden musste. Selbst Ereignisse wie der Mauerbau am 13. August 1961 blieben im St. Hedwigsblatt gänzlich unerwähnt! Bis zur endgültigen Abriegelung der Sektorengrenzen 1961 versuchte das Petrusblatt die dadurch entstandene Leerstelle aktiv zu füllen und Informationsdefizite zu kompensieren. In den 1950er-Jahren berichtete es sehr offen und deutlich über Missstände im östlichen Teil des Bistums. Das geschah auch bei der Berichterstattung über den sogenannten Jesuitenprozess 1958. Auf der Anklagebank im Bezirksgericht von Frankfurt (Oder) saßen vier Jesuitenpfarrer, denen unter anderem „Spionage, Agentenwerbung, [Beihilfe zur] Republikflucht und ungesetzliche Währungsmanipulation“ vorgeworfen worden war.168 Nach zwei Verhandlungstagen sah das Gericht die Schuld der Angeklagten als erwiesen an und verurteilte sie zu Gefängnisstrafen zwischen einem Jahr und drei Monaten bis zu vier Jahren

166 Vgl. Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Presseamt beim Ministerpräsidenten an den Chefredakteur des „St. Hedwigs Blattes“ Herrn Pfarrer Otto Groß 15.2.1958. Arbeitsstelle für Zeitgeschichte im Erzbistum Berlin, abgedruckt bei: Lange/Pruß, S. 269–271. 167 Bericht Döpfners über das St. Hedwigsblatt 22.3.1958. Erzbischöfliches Diözesanarchiv Berlin V/7–3, abgedruckt in: Akten Deutscher Bischöfe. DDR 1957–1961, S. 285–289. 168 Mißbrauch des kirchlichen Amtes, in: Berliner Zeitung 23.12.1958, S. 2. Siehe auch: Jesuitenpater als Agent, in: Neues Deutschland 23.12.1958, S. 2.

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und vier Monaten.169 „Der Prozeß“, resümierte die Berliner Zeitung aus Ost-Berlin, „offenbarte, daß die Spionagezentralen des Westberliner Agentensumpfes ihre Wühltätigkeit gegen die DDR mit aktiver Unterstützung durch Ordensmitglieder der katholischen Kirche ausüben.“170 Das sah das Petrusblatt anders. Die Redaktion kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Schauprozess handelte. Damit griff die Zeitung einen Verdacht auf, den Döpfner schon nach der Verhaftung der Priester geäußert hatte: „Wir müssen uns die besorgte Frage stellen, ob hier das Recht gewahrt ist […]“ oder nur ein Exempel statuiert werden solle.171 Nach der Urteilsverkündung war das Petrusblatt endgültig von dieser Einschätzung überzeugt. Das Gericht habe gar nicht versucht, die einzelnen Anklagepunkte juristisch aufzuarbeiten. „Wer sich einen Rest von Unvoreingenommenheit bewahrt hatte, konnte in den vier Männern auf der Anklagebank nur ehrlich bemühte, aufrechte Seelsorger und Priester entdecken“, resümierte die West-Berliner Kirchenzeitung und sie endete mit einer Warnung an die DDR-Regierung: „Die deutsche Öffentlichkeit und die katholische Welt erwarten die Freilassung der zu Unrecht festgehaltenen Priester.“172 Mit diesen Worten war eine eindeutige Erwartungshaltung verknüpft: Die katholische wie die nichtkatholische Bevölkerung im Ausland war dazu angehalten, die DDR-Regierung weiterhin zu beobachten und fragwürdiges Verhalten nicht nur publik zu machen, sondern offen anzuprangern. Anders verhielt es sich in der DDR. Unter den dortigen Katholiken verfehlten solche Prozesse ihre Einschüchterungsabsicht nicht. Innerhalb der katholischen Gemeinschaft erzeugten die Informationspolitik des Petrusblattes und öffentliche Solidaritätsbekundungen mindestens ambivalente Gefühle. Eine Stellungnahme des Meißner Bischofs Otto Spülbeck aus dem Jahr 1956 zeugt davon. Spülbeck schilderte, dass der Staatssekretär für Kirchenfragen in der DDR stetig Kritik am Petrusblatt äußere und die Zeitung dadurch das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in der DDR gefährde. Er selbst vertrat die Ansicht, dass das Petrusblatt zuweilen seine Kompetenzen überschreite und einen Modus Vivendi zwischen katholischer Kirche in der DDR und den staatlichen Behörden damit von vorneherein torpediere.173 169 Im Fall des zu einem Jahr und drei Monate verurteilten Priesters Joseph Müldner wurde die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Vgl. Lange/Pruß, S. 308. 170 Mißbrauch des kirchlichen Amtes, in: Berliner Zeitung 23.12.1958, S. 2. 171 Erklärung des Bischofs von Berlin bei der Firmung in Biesdorf-Süd 2.11.1958, DAB A Sig 33/ 160, abgedruckt bei: Lange/Pruß, S. 307. 172 Vgl. Der Jesuitenprozeß, in: Petrusblatt 11.1.1959, S. 3. 173 Vgl. Ventilierte Pius XII. die Möglichkeit eines Abschlusses eines Konkordates mit der DDR? 27.2.1956. Kommission für Zeitgeschichte WA 33/b-2, abgedruckt bei: Höllen: Loyale Distanz?, Band 2, S. 8–10.

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Auch in späteren Jahrzehnten hielt diese Art der Kritik an, wobei die Unterscheidung zwischen kirchlicher und nichtkirchlicher Presse unbedeutender wurde. Es war egal, ob der SPIEGEL oder das Petrusblatt negativ über die Zustände in der DDR berichteten. Die Differenzen zwischen Ost- und West-Berliner Kirchenzeitung wurden ohnehin immer größer. Alfred Bengsch, der Döpfner 1961 auf dem Berliner Bischofssitz folgte, positionierte sich eindeutig auf der Seite des St. Hedwigsblattes. Er bemängelte noch Ende der 1960er-Jahre, dass im Petrusblatt politisch tendenziöse Texte erschienen, die nichts mit einer ausgewogenen Berichterstattung zu tun hätten.174 Hinzu kamen die andauernden Streitigkeiten zwischen den beiden Chefredakteuren des St. Hedwigsblattes und des Petrusblattes, die das unterschiedliche Selbstverständnis der Kirchenzeitungen ebenfalls belegen. Der ehemalige Weihbischof Weider beschrieb den Konflikt: Der Chefredakteur des Petrusblattes, der sagte: „Wir müssen auch die Probleme, die uns die Kommunisten machen, berichten. Wir […] müssen alles berichten. Wir sind hier eine westliche Zeitschrift, Zeitung.“ Der […] Ostmensch sagte: „Um Gottes Willen! Wir ham immer Angst, wenn ihr so viel solches Negatives über die Kommu-…, über die Regierung der DDR schreibt, dass wir dafür bestraft werden. Wir […] können das nicht. […] Das könnte sich auswirken auf uns. Und das […] könnte, dass die Zeitung vielleicht beschlag-, auch unsere Zeitung auch mal beschlagnahmt wird, dass sie viel schneller, schärfer zensiert wird. […] Und von daher […] kämpften die immer.“175

Die Angst der Kirchenleitenden war nicht, dass die Ost-Berliner Katholiken das Petrusblatt lesen würden und dabei über die Demokratisierungsprozesse in den West-Berliner Kirchen ins Staunen gerieten, was den Episkopat sehr wohl in Erklärungsnot gebracht hätte. De facto war die Zeitung nach dem Mauerbau im östlichen Teil der Diözese kaum mehr verbreitet. Vielmehr fürchteten sie zu Recht, dass das MfS die DDR-kritischen Artikel lesen würde und es ostdeutsche Katholiken sein würden, die dafür die Konsequenzen tragen mussten.176 Einfache Kirchenmitglieder teilten die bischöfliche Meinung nicht unbedingt. Es war auch für die katholische Gemeinschaft in der DDR enorm wichtig, westliche Medien zu konsultieren, betonte der Ost-Berliner Katholik Matthias Kohl: „Wir

174 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 152. 175 Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider, 3.4.2017, S. 16–17. Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke, 23.5.2017, S. 29–30. 176 Das MfS machte vor allem Walter Adolph für die DDR-kritische Berichterstattung im Petrusblatt verantwortlich. Vgl. Walter Adolph 15.3.1972. BStU MfS AP 22351/92. Zur Einschätzung des Petrusblattes durch das MfS siehe auch: Auskunftsbericht über Erzbischof Dr. Alfred Bengsch 3.1.1966. BStU MfS Abt. X 2069.

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lernten Sachen kritisch zu hinterfragen. Auch mal die eigene Kirche zu kritisieren, was wir hier in der DDR nie gemacht haben!“177

Die grenzübergreifende Bedeutung des Kirchenfunks In diesem Zusammenhang erlangte ein weiteres Medium große Bedeutung: der Kirchenfunk.178 Denn das „Heim- und Familienmedium“ Radio setzte einzig voraus, dass Hörende ein entsprechendes Rundfunkgerät besaßen, Gelegenheiten hatten, dieses einzuschalten und sich nah genug an einem Sendemast aufhielten, der das von ihnen gewünschte Programm verbreitete.179 Damit unterschied sich der Rundfunk wesentlich von den zuvor beschriebenen Printmedien. Er war nicht abhängig von staatlich kontrollierten Postverteilern oder Systemgrenzen. Ätherwellen überwinden solche mühelos. Der Kirchenfunk – also die Verbreitung religiöser Inhalte in Form von Radioandachten, Gottesdienstübertragungen oder anderen Verkündigungssendungen – existierte schon in der Weimarer Republik. Ein Jahr nach Beginn der allgemeinen Sendetätigkeit hatte die evangelische Kirche als erste Religionsgemeinschaft eine Morgenfeier im Radio gestaltet. Im Folgenden war dieses Format wöchentlich ausgestrahlt worden, wobei sich unterschiedliche christliche Konfessionen bei der Ausgestaltung der Sendungen abwechselten. Auf den inhaltlichen Aufbau hatte das nur geringfügig Einfluss genommen. Neben Bibelzitaten und Textpassagen aus konfessioneller Literatur gliederten kirchenmusikalische Beiträge das Programm. Die katholische Kirche war dem neuen Medium anfänglich sehr skeptisch begegnet. Medienkritische Geistliche hatten befürchtet, dass sich die religiösen Sendungen nicht genug vom restlichen Programm abheben würden und Kirchenmitglieder fälschlicherweise meinen könnten, Radiohören ersetze den Besuch des Gottesdienstes. 180 Diese Streitfragen waren nicht ausdiskutiert worden. Ab 1933 hatten die Nationalsozialisten den Kirchenfunk zensiert. 1939 wurde er ganz verboten.181 Nach dem Zweiten Weltkrieg erwiesen sich die Sowjets auf diesem Gebiet zunächst als Vorreiter: Die erste katholische Morgenandacht sendete der von ihnen 177 Interview mit Matthias Kohl, 22.2.2017, S. 6. 178 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 66. 179 Knoch, Habbo: Die Aura des Empfangs. Modernität und Medialität im Rundfunkdiskurs der Weimarer Republik, in: Knoch, Habbo/Morat, Daniel (Hrsg.): Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880–1960, München 2003, S. 135. 180 Vgl. Goltzsch, Ernst: Geschichte und Gegenwart der kirchlichen Morgenfeiern im Rundfunk der DDR, in: Beiträge zur Geschichte des Rundfunks 2 (1982), S. 7–10. 181 Vgl. Derenthal, Birgitta: Medienverantwortung in christlicher Perspektive. Ein Beitrag zu einer praktisch-theologischen Medienethik, Berlin 2006, S. 90.

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kontrollierte Berliner Rundfunk bereits am Sonntag, den 22.7.1945 um 8:15 Uhr. Pfarrer Peter Buchholz, Beirat für kirchliche Angelegenheiten im Magistrat der Stadt Berlin, hielt eine Ansprache mit dem Titel: „Denket um“.182 Der Wiederaufbau des Rundfunks in Berlin war stark vom Viermächtestatus geprägt. Bis zur Berlinblockade 1948 bemühten sich die vier Besatzungsmächte noch darum, gemeinsam ein Rundfunksystem aufzubauen. Doch dieser Versuch scheiterte. Die Besatzungsbehörden konnten sich nicht darauf einigen, wie groß ihr Einfluss auf die neuen Rundfunkanstalten sein sollte und ob diese zentral oder dezentral auszurichten seien.183 Man ging getrennte Wege. Ab dem 13. Mai 1945 sendete der Berliner Rundfunk aus dem Sowjetischen Sektor. Ein Jahr später im August 1946 ging eine Zweigstelle des Nordwestdeutschen Rundfunks im britischen Sektor Berlins auf Sendung. Im September desselben Jahres folgte der Rundfunk im Amerikanischen Sektor (RIAS).184 Die Unterschiede zwischen den Radioprogrammen traten bald hervor. In den Westsektoren sollten mittelfristig möglichst unabhängige Rundfunksender etabliert werden, wohingegen sich der Rundfunk im Ostteil der Stadt an sogenannten Perspektivplänen orientieren musste, die nur wenige Freiräume bei der Gestaltung ließen und es zudem kaum ermöglichten, auf tagesaktuelle Ereignisse einzugehen.185 Mit Blick auf die Zuhörenden waren alle Berliner Sender hingegen vor gleiche Probleme gestellt: Erstens hatten sie es mit Rundfunkteilnehmenden zu tun, deren Hörgewohnheiten maßgeblich vom nationalsozialistischen Radio geprägt waren.186 Zweitens standen sie vor der Herausforderung, dass sie ein Programm gestalten mussten, das sowohl Hörende aus dem Osten wie aus dem Westen ansprach: Sie mussten abwägen, welche Inhalte in beiden deutschen Staaten funktionierten beziehungsweise erklärungsbedürftig waren. Einerseits hatten die Sender nämlich den Anspruch, sich von den Angeboten im jeweils anderen Deutschland zu unterscheiden. Andererseits wollten sie Verbindungslinien zwi182 Vgl. Katholische Morgenfeier, in: Berliner Zeitung 19.7.1945, S. 4. 183 Vgl. Herbst, Maral: Demokratie und Maulkorb. Der deutsche Rundfunk in Berlin zwischen Staatsgründung und Mauerbau, Berlin 2002, S. 271–275. 184 Vgl. Arnold, Klaus: Kalter Krieg im Äther. Der Deutschlandsender und die Westpropaganda der DDR, Münster 2002, S. 219–220. 185 Vgl. Münkel, Daniela: Einleitung. Herrschaftspraxis im Radio. Personal und Programm, in: Marßolek, Inge/Saldern, Adelheid von (Hrsg.): Zuhören und Gehörtwerden II. Radio in der DDR der fünfziger Jahre. Zwischen Lenkung und Ablenkung, Tübingen 1998, S. 114–119. Siehe auch: Riedel, Heide: 60 Jahre Radio. Von der Rarität zum Massenmedium, 2. überarbeitete und ergänzte Auflage, Berlin 1987, S. 79–88. 186 Marßolek, Inge/ Saldern, Adelheid von: „Jawohl, der Deutsche Demokratische Rundfunk kann sich hören lassen.“ Radio in der DDR. Eine Einführung, in: Marßolek, Inge/Saldern, Adelheid von (Hrsg.): Zuhören und Gehörtwerden II. Radio in der DDR der fünfziger Jahre. Zwischen Lenkung und Ablenkung, Tübingen 1998, S. 15.

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schen diesen aufzeigen und herstellen. Obwohl in unterschiedlichen Systemen beheimatet, zeichneten sich hier also frühzeitig Konkurrenzmomente ab: Ostsender warben um Hörer aus West-Berlin, West-Berliner Programme bemühten sich um Ost-Berliner Hörerinnen. Der Berliner Rundfunk befand sich dabei gerade in den ersten Nachkriegsjahren zahlenmäßig im Vorteil. Während er 7890 Minuten in der Woche sendete, kam RIAS nur auf 2940 Minuten wöchentlich. Das änderte sich erst im Zuge der Berlinblockade. RIAS sendete seither ungefähr genauso lange wie der Berliner Rundfunk. Dafür kamen andere Mittel zum Einsatz, um die Rundfunktätigkeit der Konkurrenz zu beeinträchtigen. Mithilfe von Störsendern sollte der Empfang systemfremder Sender verhindert werden. Diese Versuche, Hörer mit Hilfe technischer Mittel davon abzuhalten, andere Sender zu hören, erwiesen sich als zwecklos, da die Sendekapazitäten der meisten Rundfunksender insgesamt immer besser wurden.187 Alle diese Voraussetzungen galten auch für den Kirchenfunk, dessen Gestaltung die Kirchen bis Ende der 1960er-Jahre weitestgehend eigenverantwortlich übernahmen. Es waren vornehmlich Geistliche und Theologen, nicht Journalisten, die über Religion im Radio berichteten.188 In den ersten Jahren verlief die Zusammenarbeit zwischen den Religionsgemeinschaften und den Rundfunkanstalten weitestgehend konfliktfrei. Das galt auch für die Kooperation mit dem von den Sowjets kontrollierten Berliner Rundfunk. Beide Seiten schienen davon zu profitieren: Die Kirchen stellten unter Auslassung politischer Themen eine relativ weitreichende Verbreitung ihrer Anliegen in der SBZ sicher, während die sowjetischen Besatzungsbehörden ihre religionsfreundliche Haltung unter Beweis stellen konnten.189 Nach Gründung der DDR veränderte sich dieses Verhältnis jedoch. Nun war es möglich, dass staatliche Stellen kurzfristig in das Programm eingriffen, Sendungen zensierten und versuchten, DDR-freundliche Geistliche im Rundfunk einzusetzen. Wieder war es der katholische Bischof von Preysing, der nicht bereit war, diese Einmischung zu akzeptieren. Am 5. Oktober 1950 kündigte er an, dass es Mitarbei-

187 Galle, Petra: RIAS Berlin und Berliner Rundfunk 1945–1949. Die Entwicklung ihrer Profile in Programm, Personal und Organisation vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Kriegs, Berlin 2001, S. 234–239. 188 Die bis in die Gegenwart gängige Trennung von Kirchenfunk und Religionsjournalismus setzte sich erst in den 1970er-Jahren durch. Vgl. Hannig, Nicolai: Von der Inklusion zur Exklusion? Die Medialisierung und Verortung des Religiösen in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970, in: Bösch, Frank/Hölscher, Lucian: Kirchen. Medien. Öffentlichkeit. Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945, Göttingen 2009, S. 45. 189 Vgl. Hackel: Katholische Publizistik, S. 24–26.

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tern seiner Diözese ab sofort verboten sei, im DDR-Rundfunk tätig zu sein.190 Die Tatsache, dass das Bistum Berlin seine Rundfunkarbeit in Ost-Berlin und der DDR aufkündigte, bedeutete aber keineswegs das Ende religiöser Rundfunksendungen im Osten. Die DDR-Regierung vermied es tunlichst, diese Formate gänzlich einzustellen, weil sie befürchtete, weitere Hörer an westliche Sender zu verlieren. Darüber hinaus gab es andere Bistümer in der DDR, die hinsichtlich der kirchlichen Mitarbeit im DDR-Rundfunk sehr viel weniger Bedenken hatten. Pfarrer aus diesen Diözesen wirkten nach wie vor in den katholischen Morgenfeiern mit.191 Der Berliner Episkopat wendete sich inzwischen den Sendern im Westen der Stadt zu. Bald einigte sich die katholische Kirche mit dem RIAS. Denn der von den US-Amerikanern beeinflusste Sender band sie in eine großanlegte antikommunistische Medienkampagne mit ein und war daran interessiert, dass sich Geistliche in religiösen Sendungen politisch äußerten. Hier war es Walter Adolph, der sich bereit zeigte, diese Position mit großem Engagement auszufüllen. Seiner Ansicht nach durfte man nicht darin nachlassen, die Politik der SED beständig zu kritisieren und die Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass in Ost-Berlin und der DDR Unrecht geschehe. Wenn die dortige Regierung auch immerfort versuche, ihre eigentlichen Absichten zu verschleiern, sei es nicht zuletzt Aufgabe der Kirchen, die Menschen über den wahren Charakter „der penetranten kommunistischen Agitation“ aufzuklären, erklärte er.192 Diese Einstellung traf bei ostdeutschen Kirchenmitgliedern nicht nur auf Begeisterung. Sie fühlten sich von ihrer Kirchenleitung zusätzlich unter Druck gesetzt und meinten, sich zwischen ihrer konfessionellen und staatlichen Zugehörigkeit entscheiden zu müssen. Außerdem befürchteten einige Katholiken, dass die Aufforderung zum Widerstand in den Westmedien neuerliche Repressionsmaßnahmen in der DDR nach sich ziehen würde. Davon zeugt auch der Brief eines RIAS-Hörers aus Rüdersdorf in Brandenburg, der 1950 an das Berliner Ordinariat schrieb: Am Montag, den 19.6., und am Dienstag, den 20.6., wurde durch den RIAS-Sender bekannt gegeben, dass eine Reihe katholischer Geistlicher in der Ostzone mit hohen Geldstrafen belegt worden sind, weil sie das Petrusblatt illegal in die Ostzone eingeführt haben. […] Ich bin der Überzeugung, dass eine solche Nachrichtenvermittlung völlig verfehlt ist. Denn erst auf 190 Vgl. Der Bischof von Berlin an den hochwürdigen Klerus des Bistums Berlin 5.10.1950. Hektographie Bistumsarchiv Berlin, abgedruckt bei: Lange/Pruß, S. 89. 191 Vgl. Bartlitz: Katholische Medien, S. 225–226. Siehe auch: Regierung der Deutschen Demokratischen Republik/Staatliches Rundfunkkomitee an Propst Dr. Otto Spülbeck 5.2.1953. DAB I/11–25. 192 Eine neue Friedensoffensive 13.4.1951. Archiv der Kommission für Zeitgeschichte Bonn NL WA 8a, abgedruckt bei: Bartlitz, Christine: „Hütet euch vor falschen Propheten!“ Hörfunkkommentare der katholischen Kirche aus Berlin 1950–1962, in: Lindenberger, Thomas (Hrsg.): Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen, Köln u. a. 2006, S. 155.

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dem Wege durch den RIAS werden die, die uns nicht wohl wollen, aufmerksam gemacht auf Dinge, die sonst ohne besondere Schwierigkeiten durchgeführt werden könnten. So aber hat der RIAS durch seine Nachrichten den Geistlichen der Zone gar keinen Gefallen erwiesen, sondern die Situation nur noch kritischer gemacht.193

Die Wirklichkeit der nationalstaatlichen Teilung setzte innerhalb der katholischen Gemeinschaft des Bistums Berlin eine Diskussion darüber in Gang, wie in der kirchlichen Praxis mit den wahrgenommenen Unterschieden umgegangen werden sollte. Während Personen wie Walter Adolph auf Konfrontation setzten, waren gerade an der Kirchenbasis frühzeitig Stimmen zu vernehmen, die für eine Kompromisslösung plädierten. Aber nicht nur Hörerinnen und Hörer aus Ost-Berlin kritisierten die kirchlichen Sendungen im RIAS. Der Sender selbst sowie West-Berliner Rundfunkteilnehmende störten sich bald am doktrinären Auftreten der Radiopfarrer und kritisierten die Ausgestaltung der Sendungen. Schon 1949 hatte sich der RIAS deshalb an den zuständigen Adolph gewendet und darum gebeten, dass man jedes pastorale Pathos vermeiden muss. Die Stimmen müssen still, echt und innig kommen. Alle oratorischen Übernommenheiten sind hier fehl am Platze. Nur so erreicht man jene Unmittelbarkeit, die gerade für eine geistliche Ansprache am Mikrophon nötig ist. Im anderen Falle werden die Hörer erwiesenermaßen abgestoßen und schalten ab. […] Damit ist zugleich gesagt, dass es sich nicht allein darum handeln kann, rein sprachlich den richtigen Ton der Unmittelbarkeit zu finden, sondern dass es auch darauf ankommt, die Ansprachen nicht als Predigten aufzuziehen, das heisst: sie müssen befreit werden von jeder belastenden und apologetischen Art.194

Die Verantwortlichen forderten eine Anpassung der Kirchenfunkredakteure an die Logiken des Mediums Rundfunk ein und appellierten an diese, tradierte kirchliche Kommunikationsformen nicht einfach ins Radio übertragen zu wollen. Schließlich gaben die Reaktionen der Hörer den Rundfunkstationen Recht. Diese beklagten den missionarischen Charakter der Sendungen und nahmen Anstoß an der moralisierenden Argumentation vieler Rundfunkpfarrer. Einige WestBerliner Hörer schilderten, dass sie insbesondere an hohen christlichen Feiertagen auf Ost-Sender umschalteten, wo leichte Unterhaltungsformate mit Musikeinspielungen und Quizsendungen, anstatt mahnender Predigttexte und bedrückender Choralmusik im Programm standen.195 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die westlichen Sender und die Kirchen zumindest teilweise unterschiedliche Motive für ihre Zusammenarbeit 193 Werner Burkhard an das Bischöfliche Ordinariat Berlin 23.6.1950. DAB I/11–25. 194 RIAS an Domkapitular Adolph 3.10.1949. DAB I/11–25. 195 Vgl. Bartlitz: Hörfunkkommentare, S. 152–153.

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hatten. Während es den Rundfunkstationen darum ging, die Bedeutung der Meinungs- und Religionsfreiheit hervorzuheben und mit Hilfe der Kirchen ein politisches Statement zu setzen, versuchten die Kirchen im Radio auch ihre Stellung als Institution zu sichern.196 Davon ausgehend erklärt sich, warum erst die Professionalisierung des Kirchenfunks in den 1960er-Jahren diese Differenz auflöste. Religiöse Themen blieben Teil des Radioprogramms, aber die Gestaltung dieser Sendungen übernahmen nicht mehr kirchliche Mitarbeiter, sondern Fachjournalisten. Wichtig ist: diese Entwicklung beschränkte sich nicht allein auf die katholische Kirche. Evangelische Kirchen und freikirchliche Gemeinschaften waren in demselben Maße dazu aufgefordert, sich mit verändernden Medienlogiken auseinanderzusetzen. Hier ist folglich zu konstatieren, dass es sowohl in der DDR und Ost-Berlin als auch in der Bundesrepublik und West-Berlin immer Radioformate gab, die sich mit religiösen Themen beschäftigten. Aber während sich der Kirchenfunk im Westen zwischen den Jahren 1945 und 1990 enorm wandelte, änderte sich an den östlichen Kirchensendungen nahezu nichts. Diese Kontinuität, die sich genauso als Stillstand beschreiben lässt, ist geradezu charakteristisch, denn sie ist für viele Bereiche des kirchlichen Lebens in der DDR typisch: Was einmal ausgehandelt war, wurde in der Regel nicht mehr angefasst. Zu groß erschien die Gefahr, auf sich aufmerksam zu machen und in der Folge weitere Einbußen hinnehmen zu müssen. Der Systemdruck produzierte einen inhärenten Konservatismus. Spätestens nach dem Mauerbau nahmen auch die Versuche westdeutscher Medien ab, ostdeutsche Gewohnheiten durchbrechen zu wollen. Die kirchlichen Medien in West-Berlin und der Bundesrepublik passten sich im Zeitverlauf im Hinblick auf Stil oder Layout immer mehr an nichtkonfessionelle Massenmedien an, während die ostdeutschen Kirchenzeitungen und Kirchenfunkbeiträge sich kaum veränderten. Wenn es um den (Wieder-)Aufbau kirchlicher Mediensysteme in der Nachkriegszeit geht, reicht es aber nicht aus, die Entwicklungen in Ost und West miteinander zu vergleichen. Beim Vergleichen der Konfessionen treten ge196 Dabei gilt auch hier, dass Ausnahmen die Regel waren und einzelne Personen aus dem kirchlichen Bereich frühzeitig begannen, sich mediale Logiken gezielt anzueignen. Der Berliner Bischof Julius Döpfner zum Beispiel, dem 1958 die Einreise in seine Diasporagebiete in der DDR untersagt worden war, versuchte seine dortige Abwesenheit mit Hilfe von Rundfunkansprachen zu kompensieren. Er bemühte sich bei seinen Radioauftritten darum, neben den Unterschieden die gemeinsamen Herausforderungen für Ost- und West-Berliner Kirchenmitglieder herauszuarbeiten und übergeordnete Themen zu finden. Dafür griff er in seinen Beiträgen oft tagesaktuelle Ereignisse auf und verknüpfte diese mit christlichen Überzeugungen. Döpfner war allerdings zu kurz in Berlin, um diese Ansprachen zu tradieren. Sein Nachfolger Alfred Kardinal Bengsch trat generell nicht im Rundfunk auf. Vgl. Wort aus Berlin, 1. Band, Berlin 1961. Und: Wort aus Berlin, 2. Band, Berlin 1961.

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genüber den Unterschieden vielmehr die Parallelen hervor: Die Geschichte der getrennten katholischen Kirchenzeitungen ist kein Einzelfall, die evangelische Publizistik dieser Jahre entwickelte sich ähnlich.

Evangelische Kirchenzeitungen im geteilten Berlin Genau wie das Bistum Berlin erhielt die evangelische Kirche im Herbst 1945 von der amerikanischen Militärregierung die Lizenz für eine eigene Kirchenzeitung: Die Kirche. Am 2. Dezember 1945 erschien das Blatt zum ersten Mal im Großraum Berlin. Ähnlich wie das Petrusblatt erregte diese Zeitung den Unmut der DDR-Behörden. Sie beanstandeten unter anderem sozialismuskritische Kommentare. Um ein generelles Verbot der Zeitung nicht zu riskieren, wurde den West-Berliner Ausgaben bereits ab 1950 eine eigene Beilage hinzugefügt, die in den Ostausgaben fehlte. Ab 1952 erschien die West-Berliner Zeitung mit einem eigenen Kopf, wobei es sich dem Selbstverständnis der Herausgeber nach aber weiterhin um eine Zeitung für Ost und West handelte. Um diese Verbindung sichtbar zu machen, begann die Zählung der Ausgaben nicht bei Eins, sondern sie entsprach der Zählung der Ost-Berliner Zeitung. Die damit begonnene Verselbstständigung der beiden Zeitungen ließ sich mit solchen Mitteln allerdings nicht aufhalten. Die Kirche war die Kirchenzeitung der Ost-Berliner und das Berliner Sonntagsblatt entwickelte sich fortan zur Kirchenzeitung der evangelischen Gemeinden in West-Berlin. Inhalt, Sprache, Layout orientierten sich an den vor Ort erscheinenden Printmedien und hatten nicht viel gemein mit Zeitungen aus dem anderen Stadtteil. Zunächst fungierten Vertreter der Kirchenleitung als Herausgeber der Zeitung, seit 1974 gab ein eigenes dafür eingesetztes Gremium das West-Berliner Blatt heraus. Mit dem Ziel, die Verbindung zum anderen Stadtteil aufrechtzuerhalten, gestalteten in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Erscheinens jede Woche OstBerliner Kirchenzeitungsredakteure eine Seite des West-Berliner Sonntagsblattes. Es wäre allerdings falsch anzunehmen, dass die Ost-Berliner Redakteure diese Publikationsmöglichkeit nutzten, um Themen unterzubringen, die sie in der Ost-Zeitung nicht platzieren konnten. Denn für sie galten im Westen dieselben Auflagen wie im Osten: Das MfS las mit und bei unliebsamen Äußerungen drohten negative Konsequenzen. Die Folge war, dass die DDR-Seite im Sonntagsblatt keineswegs den Lesegewohnheiten der West-Berliner Kirchenmitglieder entsprach und deshalb auf Ablehnung stieß. Kirchenintern kam man daher zu dem Schluss, dass „die Berichte für westliche Leser vom Stil und von der Verstehbarkeit nicht übernehmbar sind. Daraus ergibt sich die Aufgabe, ausgewählte Berichte, verbunden

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mit intensiver Archivarbeit, jeweils umzuschreiben.“197 1977 kündigten die OstBerliner die Kooperation aufgrund technischer Inkompatibilität – das Druckverfahren wurde verändert – auf. Unter den West-Berliner Kirchenmitgliedern selbst scheint das Fehlen der Seite da schon keine große Rolle mehr gespielt zu haben. 198 In den Folgejahren geriet die evangelische Wochenzeitung in West-Berlin in eine tiefe Krise und war vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die in den 1950erJahren noch als konservativ wahrgenommene West-Berliner Zeitung stand nun in der Kritik „von einer erheblichen und oft peinlichen Linkslastigkeit geprägt“ und deshalb „in keiner Weise repräsentativ für die große Mehrheit der Glieder unserer Kirche“ zu sein. 199 West-Berliner Gemeindemitglieder kündigten ihre Abonnements mit der Begründung auf, dass das Sonntagsblatt „zu politisch“ sei; während die kirchlichen Zeitungsmacher in Ost-Berlin jede kritische Bemerkung selbst zensierten.200 Um die Nachfrage nach der Zeitung wieder zu steigern, ließ die West-Berliner Kirchenleitung im Folgenden Umfragen durchführen, die ernüchternde Ergebnisse zu Tage brachten. Im Kirchenkreis Schöneberg zum Beispiel erklärten 22 von 36 befragten kirchlichen Mitarbeitern, dass sie das Sonntagsblatt nicht läsen. 19 Personen aus diesem Kreis votierten sogar dafür, das Blatt abzuschaffen.201 Trotzdem erschien die Zeitung weiter. Für die West-Berliner Kirchenleitung ging es in diesem Fall ums Prinzip. Es durfte nicht sein, dass West-Berlin im Gegensatz zu OstBerlin keine offizielle Kirchenzeitung hatte. Die Zeitung wurde massiv subventioniert und dadurch am Leben gehalten.202 Die Probleme beim Berliner Sonntagsblatt hatten mit der Ost-Berliner Kirchenzeitung wenig gemein. Anders als im Westen blieben die Absatzzahlen im Osten kontinuierlich stabil. Wie beim katholischen St. Hedwigsblatt kehrten auch in der evangelischen Presse bestimmte Themen immer wieder. Die Aufmachung der Zeitungen veränderte sich kaum, der Ton blieb derselbe und personelle Veränderungen in den Zeitungsredaktionen nahmen wenig Einfluss auf die Veröffentli197 DDR-Informationen im „Berliner Sonntagsblatt“ 1977. ELAB 222. 198 Vgl. 100 Jahre Kirchenzeitung, in: Der Tagesspiegel 1.6.1979, S. 14. Sowie: „Berliner Sonntagsblatt“ mit selbstgestalteter DDR-Seite, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 7.1.1978, S. 3. 199 Evangelisches Gemeindeblatt Berlin (Der Herausgeberkreis) an Reinhard Henkys (Berliner Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Publizistik) 13.3.1979. ELAB 222. Unter linkslastig verstanden konservative Stimmen in diesen Jahren die inhaltliche Nähe zur Politik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). 200 Vgl. Leserbrief A. Kupsch, in: Evangelisches Gemeindeblatt Berlin 2 (1979). ELAB 222. 201 Vgl. Umfrage des Kirchenleitungsausschusses für Publizistik 1979. ELAB 36/2607. 202 Zwischenzeitlich war die Auflagenzahl von 16.000 im Jahr 1970 auf 5980 im Jahr 1985 gesunken. Die Kirchenleitung hielt an der Veröffentlichung des Blattes fest, erreichte damit aber keine breite Leserschaft mehr. Vgl. „Sonntagsblatt“ leidet unter Leserschwund, in: Berliner Morgenpost 27.10.1985, S. 37.

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chungen. Den Kirchenzeitungen im Osten ging es letztlich darum, die Geschlossenheit ihrer Gemeinschaft auch publizistisch darzustellen, sie zu reproduzieren und nach außen zu kommunizieren. Eben das unterschied sie von West-Berliner Publikationen. Hier waren Kirchenzeitungen Meinungsmacher und nicht Harmoniestifter. Die Zeitungen genau wie die Radiosendungen wandelten sich in dem Maße wie sich die Redaktionen veränderten. Die politische Ausrichtung der Redakteure schlug sich in den Texten nieder und sorgte für kontroverse Diskussionen – erfuhr Ablehnung und Zustimmung, verursachte also Reaktionen, die verhandelt werden mussten. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wurde es freilich immer schwieriger, die Informationsbedürfnisse jenseits der Grenze zu befriedigen. Für die WestBerliner waren die Ost-Berliner kirchlichen Medien uninteressant und langweilig, weil sie nur wenige Informationen enthielten beziehungsweise der Kontext bei vielen Nachrichten fehlte und es mit Hilfe der Artikel oder Kirchenfunksendungen kaum möglich war, sich ein Bild vom Leben in Ost-Berlin oder der DDR zu machen. Umgekehrt: Die Ost-Berliner hatten zwar über den West-Berliner Rundfunk mehr Anteil am kirchlichen Leben der West-Berliner, doch war es ihnen nicht möglich, die dortigen Probleme und den Umgang mit diesen auf den kirchlichen Alltag in Ost-Berlin und der DDR zu übertragen. Der Anspruch der kirchlichen Medien, unabhängig vom Standort ihrer Nutzer für alle Kirchenmitglieder gleichermaßen anschlussfähig zu sein, ließ sich trotz Bezugnahmen nicht aufrechterhalten. Es ergibt sich somit ein interessantes Ergebnis: Die Einheit der Berliner Kirchen war nur bedingt eine Frage der Informiertheit. Stattdessen scheint vielmehr die Möglichkeit der persönlichen Teilhabe und direkter Anteilnahme im Gespräch oder bei Ritualen darüber entschieden zu haben, inwieweit sich Katholiken und Protestanten in Ost- und West-Berlin als eine religiöse Gemeinschaft zusammengehörig fühlten oder nicht.203

2.3 Grenzgänger: kirchlicher Alltag zwischen Ost und West Bis zum 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus, war es den Berlinerinnen und Berlinern noch möglich, sich relativ frei in ihrer Stadt zu bewegen. Berlin war zwar geteilt, aber viele Beziehungen konnten – wenn auch zuweilen unter schwierigen Begleitumständen – doch aufrechterhalten werden. Die daraus resultierenden grenzüberschreitenden, oft alltäglichen Verflechtungen zeugen einerseits von Normalisierungsprozessen und verweisen andererseits auf Eskalationsmomente,

203 Vgl. Hannig: Die Religion, S. 390–396.

2.3 Grenzgänger: kirchlicher Alltag zwischen Ost und West



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dann nämlich, wenn die Akteurinnen und Akteure trotz offener Grenzen unüberwindbare Gräben wahrnahmen. Für Berliner Christen gab es ganz unterschiedliche Gründe, Sektorengrenzen zu überqueren. Diese konnten religiöser Art sein, weil christliche Grenzgänger aus Ost-Berlin zum Beispiel religiöse Literatur in West-Berlin erwerben wollten.204 Andere wollten einen Gottesdienst jenseits der Grenze besuchen oder gehörten sogar einer dortigen Gemeinde an.205 Letzteres betraf häufig Mitglieder von Freikirchen, die aufgrund der insgesamt geringeren Anzahl an Gemeinden in der Regel weitere Wege auf sich nehmen mussten, um am Gemeindeleben teilnehmen zu können.206 So zählte die West-Berliner Gemeinde Tempelhof bis zum Mauerbau 80 Gemeindemitglieder aus Ost-Berlin in ihren Reihen. Der Gemeinde in der Müllerstraße im West-Berliner Wedding gehörten bis zum 13. August 1961 ebenfalls 80 Ost-Berliner und Ost-Berlinerinnen an. Umgekehrt gab es Gemeindemitglieder, die in West-Berlin wohnten und Gemeinden im Ostteil der Stadt angehörten.207 Bei den großen christlichen Kirchen verhielt es sich nicht anders, auch wenn die Zahlen erwartungsgemäß andere Dimensionen hatten. Zur in Ost-Berlin gelegenen St. MichaelKirche gehörten vor dem Mauerbau zum Beispiel 7.000 in West-Berlin wohnhafte Katholikinnen und Katholiken und nur 1.000 Mitglieder aus Ost-Berlin.208 Auch für viele Pfarrer gehörte es zum Alltag, die Grenze zu passieren, wenn sie Kollegen oder kirchliche Behörden aufsuchen wollten, die ihren Sitz in einem anderen Stadtteil hatten, oder an grenzübergreifenden kirchlichen Gremien teilnahmen.209 Propst Heinrich Grüber erinnerte sich 1956 in der Neuen Zeit daran, welch hohes Maß an Mobilität den Berliner Pfarrern gerade in den ersten Nachkriegsjahren abverlangt wurde: Ich mußte täglich mehr als 50 km mit dem Fahrrad zurücklegen: meine Familie wohnte in Niederschönhausen im Norden, meine Gemeinde war in Kaulsdorf im Osten, der Magistrat arbeitete in der Parochialstraße [in Berlin-Mitte], die Kirchenleitung tagte in Zehlendorf,

204 „Heute wieder Bücherverkauf für unsere Freunde aus dem Ostsektor gegen Ausweis im Pfarrsaal von St. Petrus, Berlin N 20, Bellermannstraße Nr. 92 (3 Minuten vom S-Bahnhof Gesundbrunnen). Zeit: 11–17 Uhr. Es gelangen auch die Neuerscheinungen des Morus-Verlages zum Verkauf.“ Aus dem Bistum, in: Blick in die Zeit (Beilage des Petrusblattes) 2.11.1952, S. 12. 205 Das betraf vor allem Menschen, die in der Nähe von Sektorengrenzen wohnten. Vgl. Rauer, Norbert: Die kirchlichen Verhältnisse in West-Staaken von 1990–1999, in: Jahrbuch für BerlinBrandenburgische Kirchengeschichte 64 (2003), S. 170. Siehe auch: Halbrock: Zwischen Himmel und Mauer, S. 311–312. 206 Vgl. Interview mit Siegfried Schmidtmann 2005. OA, ohne Signatur, S. 5. 207 Vgl. Berlin fragt nach den Betern, in: Die Gemeinde. Wochenschrift für Gemeinde und Haus. Organ des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden 17.9.1961, S. 11. 208 Hirtenbrief an die „Michaeliten“, in: Petrusblatt 27.8.1961, S. 6. 209 Vgl. Heinemann-Grüder: Pfarrer in Ost und West, S. 35.

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und die von mir eingerichtete Hilfsstelle war im Krankenhaus Bethanien [in Berlin-Kreuzberg].210

Neben den Pfarrern gab es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in christlichen Einrichtungen wie konfessionellen Krankenhäusern arbeiteten und sich deswegen tagtäglich von West- nach Ost-Berlin oder auf den umgekehrten Weg machten. Gerade die Krankenhäuser in Ost-Berlin entwickelten sich dabei zu besonderen Orten des Ost-West-Austauschs. Hier waren Ärzte und Pflegekräfte tätig, die in West-Berlin lebten, aber in Ost-Berlin ihrer Arbeit nachgingen. Eigentlich wollte die DDR-Regierung Einrichtungen wie das katholische St. Hedwig-Krankenhaus im Zentrum Ost-Berlins deshalb schließen. Denn konfessionelle Krankenhäuser passten nicht zur offiziellen Staatsdoktrin.211 Doch die DDR-Regierung befand sich im Hinblick auf die Versorgung kranker Personen in einem Zwiespalt.212 Weil staatliche Kliniken einen Wegfall der kirchlichen Einrichtungen und den Verlust des dort tätigen Personals nicht hätten kompensieren können, war es den SED-Funktionären praktisch unmöglich, eine flächendeckende Schließung zu erzwingen, ohne die medizinische Versorgungslage grundlegend zu gefährden.213 Einerseits verfügten konfessionelle Krankenhäuser deshalb über bestimmte Handlungsspielräume und entwickelten sich gerade für Personen, die nicht in staatlichen Institutionen arbeiten konnten oder wollten und den Kontakt zu Personen aus West-Berlin suchten, zu wichtigen Anlaufstellen. Andererseits beobachtete das MfS Kliniken und Pflegeheime aus diesem Grund besonders intensiv, was für politisch Andersdenkende schnell zum Problem werden konnte. So fiel zum Beispiel das bereits erwähnte St. Hedwig-Krankenhaus der Staatssicherheit immer wieder negativ auf: Vor und nach dem 13.8.1961 ist das Objekt durch illegales Verlassen der Republik von Angestellten aufgefallen. Bei politischen Höhepunkten treten besonders Handwerker und Krankenpfleger negativ in Erscheinung. Einen negativen politischen Einfluß üben die noch im Objekt beschäftigten 10 Westberliner Ärzte aus. Weiter ist das Objekt Anlaufstelle für westdeutsche Besucher mit negativem Charakter. […] Insgesamt ist das Hedwig Krankenhaus mit seinen Einrichtungen ein Konzentrationspunkt von negativen Elementen der kath. Kirche. Beschäftigt wird eine grössere Zahl von ehemaligen Grenzgängern und Katholiken, die aus politischen Gründen nicht in VEB arbeiten wollen.214 210 Gedanken zum Befreiungstag, in: Neue Zeit 8.5.1956, S. 3. 211 Dass es 1955 noch insgesamt 87 evangelische Krankenhäuser in Ost-Berlin und der DDR gab, war den Machthabenden ein Dorn im Auge. Vgl. Lepp: Wege in die DDR, S. 57. 212 Das galt darüber hinaus auch für die Betreuung von Menschen mit Behinderung oder die Unterbringung und Pflege alter Menschen. 213 Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2018, S. 3. 214 Gliederung zur Analyse über die Situation in den Dekanaten der katholischen Kirche in der Hauptstadt der DDR. BStU MfS BV Bln. Abt. XX 5579.

2.3 Grenzgänger: kirchlicher Alltag zwischen Ost und West



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Trotz dieser schlechten Beurteilung blieb das Krankenhaus aus den schon genannten Gründen geöffnet. Zudem hatte das MfS Sorge, dass eine Schließung der Einrichtung letztlich mehr Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit erregen würde als deren Duldung.215 Dieses Argument galt gleichermaßen für Schülerinnen und Schüler konfessioneller Schulen oder Studierende, die neben den Arbeitnehmern zu den Grenzgängern gehörten: Sie wohnten in Ost-Berlin und überquerten die Grenze tagtäglich, weil sie zum Beispiel ein katholisches Gymnasium in West-Berlin oder die dort ansässige evangelische Hochschule besuchten.216 Außerdem zählten Diakonissinnen oder Ordensangehörige zu den christlichen Grenzgängern, die häufig zwischen Ost und West wechselten oder Friedhofsbesucher, die die Gräber verstorbener Angehöriger in der jeweils anderen Stadthälfte pflegten.217 Nicht zuletzt konnten Veranstaltungen der Evangelischen Akademie oder der kirchlichen Werke ein Grund sein, die Grenze zu passieren. Entscheidend ist: die meisten der hier genannten Personen überquerten die Grenze, um ihren Glauben auszuüben, eine Ausbildungsstätte aufzusuchen oder ihrem Beruf nachzugehen. Sie bewegten keine dezidiert politischen Absichten, sondern andere Motive.

Billy Grahams Besuch in West-Berlin 1960 Für das MfS machten solche Feinheiten jedoch keinen Unterschied. Das Ministerium versuchte, Kontakte kirchlicher Akteure zwischen den beiden Stadthälften generell zu unterbinden. Entsprechend beunruhigt reagierten die Verantwortlichen 1960 auf die Ankündigung eines Besuchs Billy Grahams in West-Berlin. Graham, ein populärer Baptistenprediger aus den USA, plante im Herbst 1960 eine mehrtägige Evangelisation auf dem Platz der Republik, direkt vor der Teilruine des Reichstags. 218 Die EKiBB unterstützte dieses Vorhaben entschieden. Besonders Bischof Dibelius sah in Graham einen Verbündeten, der sich unermüdlich für ein 215 Ähnlich verhielt es sich mit anderen konfessionellen Krankenhäusern, Jugendhilfeeinrichtungen wie dem Don Bosko Heim oder St. Katharinenstift sowie kirchlichen Altenpflegeheimen. 216 „Der Sohn ist in Westberlin untergebracht, kommt aber häufig ins Elternhaus.“ Bericht St.Markus-Kirchengemeinde 29.9.1958. ELAB 86/63. Vgl. auch: Lepp, Claudia: Wege in die DDR. WestOst-Übersiedlungen im kirchlichen Bereich vor dem Mauerbau, Göttingen 2015, S. 163. 217 In Ost-Berlin tätige Diakonissen reisten zum Beispiel nach West-Berlin, wenn sich ihr Mutterhaus dort befand. Vgl. Interview mit Inge Dreibrodt 2002. OA, ohne Signatur, S. 3. Siehe auch: Besuch französ. Friedhof am 20.11.1970. BStU MfS AG XVII 1290. 218 Unter Evangelisation oder Evangelisierung werden im folgenden alle Veranstaltungen summiert, die durch das Predigen des Evangeliums, den Glauben und die Gemeinschaft der Kirchenmitglieder stärken und darüber hinaus der Mission dienen sollen. Vgl. Eine Kirche im geteilten Deutschland, in: Berliner Sonntagsblatt 5.6.1955, S. 5.

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Kapitel 2: Verflechtung

Wiedererstarken christlicher Werte und eine Zurückdrängung säkularer Bewegungen einsetzte.219 Das MfS hingegen ernkannte in der Zusammenarbeit von Dibelius und Graham eine „antisozialistische“, gegen die DDR gerichtete Provokation. 220 Nach Bekanntwerden der Pläne veranlasste das Ministerium deshalb, „geeignete Maßnahmen einzuleiten, die zur Verhinderung der Teilnahme von Bürgern aus dem Gebiet der DDR und dem demokratischen Sektor von Berlin beitragen.“221 Mitarbeiter der Staatssicherheit bedrängten Pfarrer in der DDR dahingehend, ihren Gemeindemitgliedern von einem Besuch der Evangelisation abzuraten. Außerdem sollten Werbematerialien wie Handzettel beschlagnahmt und Plakatankündigungen entfernt werden. Um die Außenwirkung der DDR nicht zu gefährden, waren die MfS-Mitarbeiter allerdings dazu angehalten, möglichst konspirativ vorzugehen. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass die DDR-Regierung die Reisefreiheit an der Berliner Grenze einzuschränken versuche. Vielmehr sollte die Überzeugungsarbeit der MfS-Mitarbeiter darin bestehen, eine glaubwürdige Drohkulisse aufzubauen: Potenzielle Veranstaltungsbesucher sollten derart eingeschüchtert werden, dass sie eine Teilnahme an der Evangelisation schon deshalb verwarfen, weil sie das persönliche Risiko, das für sie mit dem Besuch der Veranstaltung einherging, nicht einzuschätzen vermochten. Darüber hinaus sah der Einsatzplan die Einbeziehung kirchenkritischer Jugendlicher aus West-Berlin vor, die die Veranstaltung etwa mit lauten Zwischenrufen stören sollten, ohne dass eine Verbindung zum MfS ersichtlich wurde. Die Ost-Berliner Presse begleitete diese Maßnahmen medial. Sie machte Stimmung gegen Graham und stellte ihn als einen kapitalistischen Militaristen dar, der im Auftrag der Bundesregierung predige.222 Alle diese Drohgebärden und Einschüchterungsversuche verhinderten nicht, dass zahlreiche Ost-Berliner und Ost-Berlinerinnen trotzdem nach West-Berlin fuhren, um den US-amerikanischen Baptistenpastor zu hören. Mindestens 14 dieser Personen ließ das MfS bei ihrer Rückkehr nach Ost-Berlin vorläufig festnehmen.223 Die meisten der Festgenommenen kannten die Methoden der DDR-Exekutive jedoch gut genug und vermieden es bei der Befragung, ihr wahres Ausflugsziel zu nennen: Sie gaben an, Freunde oder Verwandte jenseits der Sektorengrenze besucht zu haben und nur zufällig auf die Veranstaltung mit Graham aufmerksam 219 Vgl. Balbier, Uta Andrea: Billy Graham in West Germany. German Protestantism between Americanization and Rechristianization, 1954–70, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), https://zeithistorische-forschungen.de/3-2010/4402 [2.6.2021]. 220 Billy Graham 1960. BStU MfS AS 178/61 (Band 1). 221 Ebenda. 222 Karikatur (ohne Titel), in: Berliner Zeitung 27.9.1960, S. 2. 223 Billy Graham 1960. BStU MfS AS 178/61 (Band 1).

2.3 Grenzgänger: kirchlicher Alltag zwischen Ost und West 

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geworden zu sein. Zudem versicherten sie, dass die Veranstaltung unpolitisch, ja alles in allem enttäuschend gewesen sei. Mit anderen Worten: Sie gaben zu Protokoll, was die MfS-Mitarbeiter hören wollten.224 Tatsächlich aber hatten viele Besucher der Evangelisation ihre Enttäuschung nur vorgegeben. Sie waren euphorisch aus West-Berlin zurückgekehrt und zeigten sich nicht nur von Billy Graham beeindruckt, sondern auch davon, wie gut die andere Stadthälfte auf ihren Besuch vorbereitet gewesen war: Hinter den Grenzübergängen hatten Busse bereitgestanden, die die Besucher aus dem Osten zum Veranstaltungsort fuhren. Die Veranstalter hatten Verpflegungspakete an Teilnehmende aus der DDR verteilt und sie sogar darauf hingewiesen, diesen Proviant schon in West-Berlin zu verzehren, damit er ihnen bei der Rückkehr nach Ost-Berlin nicht abgenommen würde.225 Solche und andere Solidaritätsbekundungen stärkten nicht nur das kirchliche Einheitsgefühl, generell wirkten sie sich positiv auf das Bild aus, das sich Christen aus der DDR von West-Berlin und der Bundesrepublik machten.

Grenzgängerinnen und Grenzgänger im Auftrag der Amtskirchen Den Kontakt zwischen Ost und West aufrecht zu erhalten, war auch das Ziel vieler Kirchenleitungsmitglieder, die die innerstädtische Grenze häufig passierten. Allen voran sind hier die Bischöfe zu nennen.226 Offiziell hielten die Kirchenoberen in beiden Stadthälften Gottesdienste ab oder nahmen an kirchlichen Versammlungen teil, inoffiziell transportierten sie außerdem geheime Dokumente oder verbotene Literatur, da ihre Fahrzeuge in der Regel keinen Grenzkontrollen unterzogen wurden.227 Die Vorzüge dieses Berlin-spezifischen Systemwechsels versuchten alle Kirchenleitungen möglichst geschickt für sich auszunutzen. Da der Postverkehr als zu unsicher galt und die Telefonleitungen zwischen Ost- und West-Berlin noch bis 1971 gekappt waren, brachten zum Beispiel Kuriere wichtige Nachrichten über die innerstädtische Grenze, schilderte der damalige Geschäftsführer der Bundesgeschäftsstelle Ost des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, Rolf Dammann:228 224 Vgl. Billy Graham 1960. BStU MfS AS 178/61 (Band 2). 225 Billy Graham 1960. BStU MfS AS 178/61 (Band 1). 226 Vgl. „Wir sind doch Brüder!“, in: Dibelius: Reden, S. 66. Siehe auch: Heinrich: Alte Ordnungen, S. 165. 227 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 132. 228 Vgl. Winter, Friedrich: Beziehungen zwischen Christen in Ost und West von 1949 bis 1961. Beobachtungen und Erfahrungen aus Vorpommern, in: Greschat, Martin/Hüffmeier, Wilhelm (Hrsg.): Evangelische Christen im geteilten Deutschland. Die 50er Jahre. Festschrift für Christa

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Es gab eigentlich einen ständigen Austausch zwischen den beiden Bundesteilen […]. Dazu kam ja, dass es noch die offene Grenze in Berlin gab. Wir konnten also auch postalisch so verkehren, dass wir unsere Briefe in West-Berlin einsteckten und auch dort u. U. Briefe in Empfang nehmen konnten. Man muss in diesem Zusammenhang sagen, dass ich bis zum Bau der Mauer in Schwester Herta Fehlhaber eine Sekretärin hatte, die in West-Berlin wohnte, und die also auch in besonderer Weise immer wieder die Brücke zwischen Ost und West schlagen konnte.229

Wer, wie Herta Fehlhaber, für die Übermittlung solcher Botschaften bestimmt wurde, musste ein gutes Gedächtnis haben. Denn Nachrichten wurden in der Regel nicht in schriftlicher Form überbracht, sondern auswendig gelernt, um einen Zugriff der DDR-Behörden auf die geheimen Informationen zu verhindern.230 Kurierdienste dieser Art übernahmen aber nicht nur kirchliche Angestellte, auch Familienangehörige halfen bei derlei Aufgaben aus, wie Inge Scharf, die Tochter des späteren evangelischen Bischofs Kurt Scharf, die „in Potsdam lebte und eine Art Westmedikamente-Apotheke verwaltete.“231 Neben dem Schmuggel kirchlicher Literatur gehörten Medikamente und medizinische Geräte nämlich zu den Gütern, die kirchliche Kuriere besonders häufig illegal in die DDR überführten. Nach dem Mauerbau gaben die christlichen Kirchen diese Praxis nicht einfach auf. Allerdings agierten in den 1960er-Jahren erst einmal nur noch sehr wenige, meist Personen der obersten Kirchenleitungsebene, die über Dauerpassierscheine verfügten, oder Inhaber eines westdeutschen Passes, als Kuriere und Schmuggler.232 Man nannte sie „Mauersegler“, „Mauerschwalben“ oder auch „Merkure“.233

Strache, Leipzig 2013, S. 139. Siehe auch: Was das Pferd frißt. Westunternehmen versprechen der DDR „das modernste Telefonnetz der Welt“, in: Der SPIEGEL 16.7.1990, S. 36. 229 Interview mit Rolf Dammann 2.8.2000. OA, ohne Signatur, S. 1. 230 Vgl. Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 143. Siehe auch: Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 131. Und: Dr. Taube an den Generalsuperintendenten 25.10.1950. ELAB 86/55. 231 Heinemann-Grüder: Pfarrer in Ost und West, S. 33. 232 „Besonders ist Paul-Gerhard Kunze zu nennen, der bis auf eine Zeit der Aussperrung zwischen 1968 und 1972 fast dreißig Jahre lang wöchentlich zwischen West- und Ost-Berlin hin- und herpendelte, überwiegend auswendig gelernte Nachrichten überbrachte und je in beiden Kirchenleitungen über seine Teilnahme an der anderen Leitungssitzung berichtete.“ Winter, Friedrich: Auf dem Weg zur missionarischen Kirche. Christliche Existenz in der sozialistischen säkularen Welt. Die Region Ost, in: Radatz, Werner/Winter, Friedrich: Geteilte Einheit. Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg 1961–1990, Berlin 2000, S. 105. 233 Einer der bekanntesten „Mauersegler“ war der Berliner Caritasdirektor Johannes Zinke, der bis zu seinem Tod im Jahr 1968 nahezu täglich die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin passierte. Vgl. Thiel, Heinz Dietrich: Johannes Zinke (1903–1968), in: Höhle, Michael (Hrsg.): 75 Jahre Bistum Berlin. 20 Persönlichkeiten, in: Wichmann-Jahrbuch des Diözesangeschichtsvereins Berlin 8 (2004/2005), S. 177–181. Vgl. Siehe auch: „Ich hätte mit dem Teufel paktiert“, in: Der SPIEGEL

2.3 Grenzgänger: kirchlicher Alltag zwischen Ost und West



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Der damalige Caritasdirektor Prälat Steinke berichtete über seine Kuriertätigkeit für die katholische Kirche: Also ich bin normalerweise einmal die Woche mit dem Auto rübergefahren, mit meinem Wartburg, und der war voll bepackt, mit alles Dienst-…, also Dienstbriefe wurden dort ebend geschleust, weil man ja sonst immer rechnen musste, das wurde alles mitgelesen. Und das war abgesprochen, dass ich nicht kontrolliert wurde. Und ich rief dann vorher an oder Sekretärin: „Also der Caritasdirektor Steinke kommt da um 10 Invalidenstraße.“ Denn wussten die [DDR-Grenzer] Bescheid und ich hatte keine Schwierigkeiten.234

Oftmals, so Steinke weiter, habe er gar nicht gewusst, was er da eigentlich transportierte. Sicher war er sich nur dahingehend, dass er neben der Dienstpost der Berliner Ordinariate auch Fachliteratur von West nach Ost überführte, die dann Eingang in die Bibliothek des Erfurter Priesterseminars fand: „Also die Bibliothek da in Erfurt ist weithin durch meinen Wartburg da.“235 In der katholischen wie in der evangelischen Kirche wurden die Kurierdienste inoffiziell, aber doch zentral koordiniert.236 In der katholischen Kirche organisierte vor allem die Zentralstelle Berlin der Caritas den Austausch zwischen Ost und West. Hinsichtlich der evangelischen Kirche sind neben dem Konsistorium in

9.4.1990, S. 66. Und: Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 6. Sowie: Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 139. 234 Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 6. Basierend auf mündlichen Absprachen waren Steinke und andere leitende Mitarbeiter der Caritas von Zollkontrollen befreit. Vgl. Thiel: Aufgaben und Handlungsspielräume, S. 43. 235 Ebenda. Vergleichbare Berichte sind auch von Manfred Otto, 1969 bis 1989 Direktor des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, bekannt: „Mit Gerhard Claas bin ich während der frühen sechziger Jahre alle vier Wochen nach Ost-Berlin gefahren. Wir machten stets in Berlin-Schöneberg bei Edwin Brandt Station. Am frühen Morgen ging es dann zur Grenze. Wir brachten für die Jugendarbeit drüben Programme und Mitarbeiterhilfen mit, meistens in unseren Schuhen versteckt.“ Otto, Manfred: „Über Tagebuchaufzeichnungen verfüge ich nicht“, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 181. 236 Dass das MfS zumindest über die gängigen Kurierwege informiert war, belegt unter anderem der Bericht des Inoffiziellen Mitarbeiters Licht: „Weiterhin wurde mir in dieser Unterhaltung ergänzend zudem sog. Kurierfahrzeug des Konsistoriums bekannt. Es handelt sich um einen VW (Käfer), Kennzeichen B-ET 706. Dieser Wagen fährt monatlich einmal von der Jebensstr. [in WestBerlin] in die Hauptstadt der DDR zur Kirchenleitung, meist Mittwochs und unterliegt an der Staatsgrenze keinerlei Kontrolle. Wie es sich mit dem Personenkreis verhält, der damit transportiert werden darf, weiß ich nicht, aber meiner Ansicht nach ist das eine ‚wunderbare‘ Materialschleuse. So kann ich als Pfarrer z. B. Literatur in die DDR einführen, welche mir beim normalen Grenzübergang beschlagnahmt würde. Ich gebe diese Dinge einfach beim Konsistorium in Westberlin ab und kann sie mir dann nach ca. 14 Tage – 3 Wochen bei der Kircheleitung [sic] abholen.“ IMV Licht 14.7.1971. BStU MfS 11697/92.

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West-Berlin die Zentralstellen der Diakonischen Werke zu nennen.237 Es waren diese Institutionen, die laut Propst Friedrich Winter begannen, zwischen „Gelegenheits-, Zusatz-, und Dauerkurieren“ zu unterscheiden. Winter führt aus, dass die Kategorisierung nach Inkrafttreten des Grundlagenvertrages 1973 notwendig geworden war, da ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nur Mitglieder der Kirchenleitung Kurierdienste übernahmen, sondern auch westdeutsche Gemeindepfarrer und Laien wieder als Boten tätig wurden. Oft seien die entsprechenden Personen einmal im Jahr für einige Wochen aus der Bundesrepublik nach West-Berlin gekommen, um von dort aus täglich nach Ost-Berlin einzureisen und materielle wie immaterielle Güter zu schmuggeln:238 Wichtig waren neben der gegenseitigen Information praktische Hilfen: Dokumente, Termine für Begegnungen, theologische Literaturbeschaffung, Bestellisten für Materialien, die es im Osten nicht gab. Wertvoller noch waren die Hilfen für Menschen: Beschaffung von Medikamenten, Betreuung politischer Gefangener und ihrer Angehörigen, schwierige Ausreisefälle.239

Vergleichbare Kurier-Kategorien sind aus der katholischen Kirche nicht bekannt.240 Die auf diese Weise geschaffenen und dauerhaft unterhaltenen Netzwerke stellten eine Konstante im Kalten Krieg dar. Denn sie sicherten die dauerhafte Aufrechterhaltung grenz- und systemübergreifender Beziehungen zwischen den christlichen Kirchen in Deutschland.

Die Bahnhofsmission als Treffpunkt Christen brauchten aber selbstverständlich keine religiös motivierten Anlässe, um die Grenze zu überqueren. Der Arbeitsplatz bei einem nichtkirchlichen Arbeitgeber, der Besuch von Freunden oder Familienangehörigen und andere Freizeitaktivitäten – hier sei nur an die zahlreichen Grenzkinos in West-Berlin erinnert – konnten ebenfalls Motive dafür sein, Sektorengrenzen zu passieren.241 In diesem 237 Vgl. Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 142. 238 Ebenda, S. 139–140. 239 Winter: Die Region Ost, S. 106. 240 Jung nennt neben den leitenden Geistlichen „Staatsbedienstete mit anerkanntem Diplomatenstatus“ als Kuriere. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 131. Winter verweist unter anderem auch auf den französischen Militärpfarrer in West-Berlin, der regelmäßig Bücher in seinem Wagen über die Grenze geschmuggelt habe. Vgl. Winter: Die Region Ost, S. 106. 241 Über die in West-Berlin ansässigen Grenzkinos, in denen Ost-Berliner und DDR-Bürger in der DDR verbotene Filme für wenig Geld schauen konnten, schreibt unter anderem Hanno Hochmuth. Vgl. Hochmuth, Hanno: Eine Brücke zwischen Ost und West. Friedrichshain und Kreuzberg

2.3 Grenzgänger: kirchlicher Alltag zwischen Ost und West



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Sinne zeichnete christliche Grenzgänger nichts Spezifisches aus. Entscheidend ist vielmehr, dass auch sie, wie viele andere, bei ihren oftmals noch als alltäglich beschriebenen Aufenthalten im anderen Teil der Stadt längst die Brüchigkeit und damit die Grenzen eben jener Alltäglichkeit wahrnahmen. Dazu gehört, dass sie offenbar systemimmanenten Regeln folgten oder bestimmte Abläufe entwickelten, die zum Grenzübertritt dazugehörten und ihn kennzeichneten. Der Pfarrer Friedrich Schorlemmer zum Beispiel, der als Kind Mitte der 1950er-Jahre gelegentlich mit seinem Vater nach West-Berlin reiste, musste vor der Rückreise in die DDR seinen Kaugummi ausspucken, weil sein Vater fürchtete, der den Westen und insbesondere die USA symbolisierende Kaugummi könne die Aufmerksamkeit der DDRGrenzsoldaten erregen, diese zu Schikanen reizen und ihre Weiterreise verzögern. In der Folge blieb bei dem Jugendlichen ein ambivalenter Eindruck zurück, obwohl er und sein Vater West-Berlin legal besucht hatten: „Der Westen hatte immer etwas Faszinierendes und gleichzeitig etwas Verbotenes.“242 Auch wer aus ganz profaner Motivation die innerstädtische Grenze passierte, gelangte zunächst häufig an einen christlichen Ort: die Bahnhofsmission. In den Berliner Stationen der Bahnhofsmission verkehrten neben Kriegsheimkehrern, Flüchtlingen und Vertriebenen, sogenannte streunende Jugendliche oder Personen, deren Aufnahmeanträge in West-Berlin abgelehnt worden waren.243 Hier legten Interzonen-Reisende einen Stopp ein, die auf der Weiterfahrt in die Bundesrepublik oder die DDR waren; und machten Rückwanderer Halt, die in die DDR zurückzogen. Sie alle wurden betreut, viele verpflegt und manche auch bei der Finanzierung ihrer Weiterreise unterstützt. Für Reisende – insbesondere solche in Notsituationen – war die Bahnhofsmission die erste Anlaufstelle, wobei die Berli-

als Verflechtungsraum, in: Brunner, Detlev/Grashoff, Udo/Koetzing, Andreas (Hrsg.): Asymmetrisch verflochten? Neue Forschungen zur gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte, Berlin 2013, S. 198–201. Siehe auch: Lemke, Michael: Vor der Mauer. Berlin in der Ost-West-Konkurrenz. 1948–1961, Köln, Weimar, Wien 2011, S. 495–497. Über die Besuche von Verwandten in der DDR und der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren berichtet u. a. Winter: Beziehungen zwischen Christen in Ost und West, S. 103. Auch A. R. erzählt, dass Verwandtenbesuche in West-Berlin für ihn eine Selbstverständlichkeit waren: „Ja, meine Schwester ist Opernsängerin gewesen. Die […] ist 53 mit ner Familienzusammenführung… durfte die noch mit Sack und Pack nach West-Berlin ziehen… Ich hab’ ihr die Möbel noch gebaut… weil ich ja gelernter Tischler bin. […] Und hab’ das natürlich auch drüben eingerichtet noch, äh, sodass ich da öfters in West-Berlin auch war.“ Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 5. 242 Schorlemmer, Friedrich: „Ririch Pasterjung“ – Kindheit in einem märkischen Pfarrhaus, in: Kleßmann, Christoph (Hrsg.): Kinder der Opposition. Berichte aus Pfarrhäusern in der DDR, Gütersloh 1993, S. 93. 243 Vgl. Erste Betreuung der Heimkehrenden, in: Berliner Zeitung 24.8.1945, S. 3. Siehe auch: Fürsorge für Durchreisende, in: Berliner Zeitung 20.11.1946, S. 8

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Kapitel 2: Verflechtung

ner Bahnhofsmission bis 1956 konfessions- und sektorenübergreifend arbeitete.244 Schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Wohlfahrtsverbände der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland begonnen, die Arbeit der Bahnhofsmission wieder zu fördern und sich bemüht, ehemalige beziehungsweise noch bestehende Netzwerke zu (re)aktivieren.245 In Berlin, wo sich die Bevölkerung in einer besonders prekären Lage befand, gelang es anfangs jedoch nicht, die einzelnen Stationen zentral zu koordinieren. Hier waren es häufig einzelne Kirchengemeinden, die Hilfen vor Ort organisierten oder Diakonissen und Ordensschwestern, die die Betreuung notleidender Personen an den Bahnhöfen übernahmen. Mit eigentlichen Missionsaufgaben hatte diese Arbeit meist wenig zu tun. Vielmehr versorgten die Helferinnen Hilfesuchende mit dem Allernotwendigsten: Sie verteilten Lebensmittel, ermöglichten ihnen den Zugang zu sanitären Anlagen und beschafften ihnen Übernachtungsquartiere.246 Darüber hinaus leisteten sie Seelsorge und boten Schutz für alleinreisende Mädchen und Frauen.247 Seit der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 war vor allem die Station der Bahnhofsmission am West-Berliner Bahnhof Zoologischer Garten besonders gefordert. Dort trafen seit den 1950er-Jahren immer mehr DDR-Flüchtlinge ein, die versorgt und kurzfristig untergebracht werden mussten. 1952 erhöhte die Bahnhofsmission am Zoo die Zahl der Betten deshalb von 80 auf insgesamt 134. Nach ihrem Umzug in die nahe gelegene Franklinstraße vier Jahre später standen immerhin noch 120 Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung.248 Evangelische und katholische Bahnhofsmission arbeiteten in diesen Jahren weitestgehend konfliktfrei miteinander. Einzelne Separationsversuche, die von der evangelischen Kirche ausgingen, „um eine zu große Verselbstständigung der Bahnhofsmission [als ökumenisches Projekt] zu unterbinden“ liefen ins Leere.249 Seit 1950 traten

244 Vgl. Reusch, Wolfgang: Bahnhofsmission in Deutschland 1897–1987. Sozialwissenschaftliche Analyse einer diakonisch-caritativen Einrichtung im sozialen Wandel, Frankfurt u. a. 1988, S. 79– 88. 245 Für die katholische Kirche übernahm die Caritas die Verantwortung für die Bahnhofsmission. Die Innere Mission koordinierte die Arbeit der evangelischen Bahnhofsmission. Vgl. Nikles, Bruno W.: Soziale Hilfe am Bahnhof. Zur Geschichte der Bahnhofsmission in Deutschland (1894– 1960), Freiburg 1994, S. 280–281. 246 „An einigen Bahnhöfen wurde die Wiederaufnahme der Arbeit der Bahnhofsmissionen […] ausdrücklich von der sowjetischen Besatzungsmacht befürwortet.“ Hübner, Ingolf: Kirche, Diakonie und Bahnhofsmission, in: Greschat,Martin/ Kaiser, Jochen-Christoph (Hrsg.): Die Kirchen im Umfeld des 17. Juni 1953, Stuttgart 2003, S. 156–157. 247 Vgl. Nikles: S. 313–314. 248 Vgl. ebenda, S. 317. 249 Ebenda, S. 321.

2.3 Grenzgänger: kirchlicher Alltag zwischen Ost und West



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evangelische und katholische Bahnhofsmission gegenüber Dritten sogar gemeinsam auf.250 Wie der West-Berliner Senat oder die Bundesregierung verließ sich auch die DDR-Regierung zunächst wie selbstverständlich auf die Unterstützung der Hilfsorganisation.251 Anfang der 1950er-Jahre zeichnete sich jedoch ab, dass sich die Situation der Bahnhofsmission im Osten Deutschlands verschlechterte. Anders als in der Bundesrepublik und in West-Berlin erhielt ihre Arbeit dort immer weniger staatliche Anerkennung. Schon im Herbst 1945 war die „Volkssolidarität“ – eine nichtkonfessionelle, angeblich überparteiliche Hilfsorganisation – in der SBZ gegründet worden, die nun immer mehr in den Vordergrund drängte und von der SED als Konkurrentin der Bahnhofsmission in Stellung gebracht wurde.252 Dank finanzieller Unterstützung aus dem Westen konnte sich die Bahnhofsmission in der DDR vorerst jedoch behaupten und ihre Personal- und Versorgungsdichte trotz erster Verdrängungsversuche halten. Nichtsdestotrotz nahm der Druck auf die Bahnhofsmission weiter zu. 1952 verhängten die zuständigen Behörden ein DDR-Einreiseverbot gegen die in West-Berlin ansässige Geschäftsführerin der Bahnhofsmission. Da die übrigen Mitarbeiter die Sektorengrenzen in Berlin weiterhin passieren durften, hatte das Verbot zwar kaum Einfluss auf die alltägliche Arbeit der Hilfsorganisation, trotzdem hatte die DDR-Regierung mit dieser Entscheidung ein unmissverständliches Zeichen gesetzt.253 Das wurde auch daran deutlich, dass die DDR-Presse zur gleichen Zeit begann, diffamierende Berichte über die Bahnhofsmission zu veröffentlichen. Das Neue Deutschland etwa beschuldigte die Hilfsorganisation im Mai 1952, sich an der Verbreitung von „Hetzmaterial“ zu beteiligen. Helferinnen und Helfer würden die Übergabe entsprechender Dokumente in ihren Räumen billigen und sich staatsfeindlich verhalten, verlautbarte das Blatt.254 Diese Versuche, dem Ansehen der Bahnhofsmission zusätzlichen Schaden zuzufügen, schlugen fehl. Die Bevölkerung reagierte auf die Schmähkampagnen nur äußerst verhalten und frequentierte die Stationen weiter wie gewohnt. Nun ordnete das Politbüro die Reichsbahn an, härtere Bandagen anzulegen:255 Im März 1953 verlor die Bahnhofsmission einen Großteil ihrer Räume in den Bahnhöfen und damit auch ihren bisherigen Standortvor-

250 Vgl. ebenda, S. 397. 251 Vgl. Allen Irrenden soll geholfen werden, in: Neue Zeit 21.2.1951, S. 5. 252 Vgl. Springer, Philipp: Da konnt’ ich mich dann so’n bisschen entfalten. Die Volkssolidarität in der SBZ/DDR 1945–1969, Frankfurt u. a. 1999, S. 130–131. 253 Vgl. Nikles: Soziale Hilfe am Bahnhof, S. 340–342. 254 Der „Bund Deutscher Jungend“ – eine Bande von Verbrechern!, in: Neues Deutschland 11.5.1952, S. 2. 255 Vgl. Hübner: Kirche, Diakonie und Bahnhofsmission, S. 162–163.

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teil.256 Als zentralen Grund für diese Maßnahme, von der die Standorte in Ost-Berlin allerdings ausgeschlossen blieben, vermutet Bruno W. Nikles, „daß die Bahnhofsmissionen den Machthabern [in der DDR] nicht zuletzt deshalb ein Dorn im Auge waren, als auch über sie ‚Liebesgaben der Adenauer-Clique‘ [also finanzielle und vor allem materielle Hilfen aus der Bundesrepublik] zur Verteilung gelangten und dies nicht ausschließlich im privaten Raum, sondern in quasi öffentlichen Institution [sic!].“257 Nach dem Verlust ihrer bisherigen Räumlichkeiten bemühte sich die Bahnhofsmission in der DDR oft vergeblich darum, neue Objekte in Bahnhofsnähe zu finden. Wie schon zuvor halfen wieder Spender aus der Bundesrepublik aus.258 Sie stellten einfache Barackenbauten zur Verfügung, die es einigen Stationen ermöglichten, wiederzueröffnen. Die dadurch gewonnene Atempause war nicht von Dauer. Kurz darauf musste sich die Bahnhofsmission bereits mit einem neuen Problem auseinandersetzen. Denn die DDR-Regierung setzte nun alles daran, die Geld- und Warenströme aus der Bundesrepublik zu unterbinden. Ab 1954 verschlechterte sich die Versorgungssituation der Stationen in der DDR dramatisch, weil die „Verordnung über den Geschenkpaket- und Geschenkpäckchenverkehr“ größere Hilfslieferungen nicht mehr zuließ.259 Ohne diese Lieferungen und ohne jede Form einer staatlichen Unterstützung wurde es für die Bahnhofsmission immer schwieriger, weiterhin Stationen in der DDR zu unterhalten. Die Verordnung benachteiligte sie nicht nur in erheblichem Maß, sondern sie stärkte zudem die Position der Volkssolidarität, die auf staatliche Hilfen zurückgreifen konnte. Es kam deswegen zu Streitigkeiten zwischen Mitarbeitern beider Organisationen vor Ort, die den Arbeitsalltag zusätzlich belasteten.260 Aber nicht nur die ostdeutschen Stationen mussten auf diese Entwicklung reagieren, auch die Bahnhofsmission in West-Berlin sah sich vor neue Herausforderungen gestellt. Proviantpakete, die die West-Berliner Bahnhofsmission bis dato an Personen ausgegeben hatte, die in die DDR weiterreisen wollten, durften wegen der Verordnung über den Paketverkehr nicht länger als solche erkennbar sein. Die Grenzbeamten hätten die Hilfspakete auf Grundlage der neuen Regelungen einfach beschlagnahmen können. Um das zu vermeiden, gab die Konferenz für Kirchliche Bahnhofsmission 1954 folgende Empfehlung ab: Es „dürfen aber für jeden Reisenden insgesamt nicht mehr als 2 kg sein. Die Stücke (Dosen, Tüten, Tafeln, Packungen usw.) müssen einzeln gepackt gegeben werden, sodass die Reisen256 257 258 259 260

Vgl. Nikles: Soziale Hilfe am Bahnhof, S. 342–343. Ebenda, S. 343. Vgl. Hübner: Kirche, Diakonie und Bahnhofsmission, S. 166. Vgl. ebenda, S. 344–346. Vgl. Springer: Volkssolidarität, S. 170–171.

2.3 Grenzgänger: kirchlicher Alltag zwischen Ost und West



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den sie verstreut zwischen ihr Gepäck nehmen können. Wenn mehrere Besucher aus der Ostzone im gleichen Interzonenzug heimreisen, sollte man den einzelnen möglichst verschiedene Einzelstücke geben – und es mag vielleicht gut sein, wenn die Packungen, soweit möglich, von ihnen sofort angebrochen werden (Käse, Schokolade, Kekse und ähnl.).“261

In der DDR war es unter diesen Bedingungen derweil kaum mehr möglich, den regulären Betrieb überhaupt aufrecht zu erhalten. 1956 folgte dann auch der letzte große Schlag der DDR-Regierung gegen die Bahnhofsmission im Osten. Sie ließ 17 Mitarbeiter der Hilfsorganisation überraschend verhaften, darunter die Leiterinnen von vier Ost-Berliner Stationen.262 Zeitgleich kündigte die Reichsbahn die Räume der Bahnhofsmission in den Ost-Berliner Bahnhöfen Friedrichstraße und Nordbahnhof. Die DDR-Medien begleiteten die Maßnahmen mit einer weiteren Diffamierungskampagne. Die Berliner Zeitung warf der Bahnhofsmission vor, ihre Mitarbeiter „für Spionagedienste mißbraucht“ zu haben.263 Die meisten Vorwürfe zielten darauf ab, die Bahnhofsmission als eine aus der Bundesrepublik und WestBerlin gesteuerte Organisation zu verunglimpfen, die anstatt Hilfe zu leisten, die DDR-Gesellschaft zu destabilisieren versucht habe.264 Zwar wurden die Ermittlungsverfahren in allen Fällen eingestellt. Der Vorwurf der Spionage konnte nicht aufrechterhalten werden und die Verhafteten wurden freigelassen, trotzdem stellte die Bahnhofsmission ihre Arbeit in der DDR und in Ost-Berlin infolgedessen ein. Den Verantwortlichen erschien es unmöglich, unter diesen Bedingungen weiterzumachen. Die andauernde Materialknappheit und die Raumnot sowie die Gefahren, die Mitarbeiter der Bahnhofsmission im Zuge ihrer Tätigkeit auf sich genommen hatten, legten diesen Schritt nahe.265 Überraschenderweise übernahm aber nicht die Volkssolidarität die Aufgaben der Bahnhofsmission, sondern das Deutsche Rote Kreuz. Der Zentralausschuss der Volkssolidarität begründete diese Entscheidung offiziell damit, dass „Überprüfun261 Konferenz für Kirchliche Bahnhofsmission Schreiben betreffend Abgabe von Reiseproviant 11.11.1954. Archiv Diakonisches Werk Westfalen, Münster 71.01.091, Band 1951–1955, abgedruckt bei: Nikles: Soziale Hilfe am Bahnhof, S. 347. 262 Vgl. Die evangelische Kirche in der sowjetischen Besatzungszone, in: Kirchliches Jahrbuch für die evangelische Kirche in Deutschland 1956, herausgegeben von Joachim Beckmann, Gütersloh 1957, S. 144–149. Der SPIEGEL berichtete, dass nicht 17, sondern 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahnhofsmission und der Inneren Mission verhaftet worden seien. Vgl. Im Lande meines Elends, in: Der SPIEGEL 27.6.1956, S. 24. 263 Für Spionagedienste mißbraucht, in: Berliner Zeitung 18.1.1956, S. 2. Vgl. Westberliner Zentrale der Bahnhofsmission treibt Spionage in der DDR, in: Neues Deutschland 18.1.1956, S. 2. Sowie: Mißbrauchte Bahnhofsmission, in: Neue Zeit 19.1.1956, S. 7. 264 Vgl. Angriff auf unsere Zukunft, in: Neue Zeit 22.1.1956, S. 2. 265 Vgl. Maßnahmen gegen Mißbrauch der Bahnhofsmission, in: Neue Zeit 20.1.1956, S. 2. Siehe auch: Nikles: Soziale Hilfe am Bahnhof, S. 351.

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gen unserer Bahnhofsdienste […] ergeben haben, dass die politische Qualifikation unserer Bahnhofsdiensthelferinnen sehr zu wünschen übrig läßt.“266 Aus Sicht der SED-Funktionäre hätten die Mitarbeiter der Volkssolidarität zu häufig ihre Gemeinsamkeiten mit der Bahnhofsmission hervorgehoben, anstatt die Unterschiede zu betonen. Tatsächlich hatte wohl der Präsident der Volkssolidarität, Helmut Lehmann, selbst dafür votiert, das Deutsche Rote Kreuz und nicht die ihm unterstellte Organisation mit den Aufgaben der Bahnhofsmission zu betrauen. Lehmann war offenbar überzeugt davon, dass das DRK in bürgerlichen Kreisen mehr Anerkennung als die Volkssolidarität genoss und hoffte auf diese Weise, Kritik am Umgang mit der Bahnhofsmission vorbeugen zu können.267

Kritik an christlichen Grenzgängerinnen und Grenzgängern Es gab Grenzgänger, die ständig zwischen Ost und West hin und her wechselten. Manche überquerten die Sektorengrenzen nur selten. Andere kamen für wenige Stunden, einen befristeten Zeitraum oder für immer. Sie gingen nur kurz hinüber und blieben aus Zufall oder sie hatten die Grenzüberschreitung von langer Hand geplant. Innerhalb Berlins musste sich überhaupt erst ein Bewusstsein dafür herausbilden, dass die Stadt künftig in zwei Teile gegliedert sein würde und es dauerte noch länger, bis sich diese Teilung auch sprachlich niederschlug. Kirchengemeinden in Ost-Berlin bezeichneten Gemeinden in West-Berlin nach wie vor als Nachbargemeinden, wobei es bei diesen Nachbarn darauf ankam, dass es sich um personell nahestehende oder zumindest räumlich nahe gelegene Gemeinden handelte. In welchem Sektor diese sich befanden, war egal.268 Gleichwohl hatten einige Gemeindemitglieder neben den noch bestehenden Gemeinsamkeiten sehr schnell ein Bewusstsein für die Unterschiede zwischen Ost und West entwickelt und gelernt, diese für sich zu nutzen. Das geht zum Beispiel aus einem Schreiben des Berliner Ordinariats an die katholischen Pfarrämter anlässlich der Einführung eines neuen Gesangbuches 1952 hervor: Wir bitten unseren Klerus die schnelle Einführung des Buches zu fördern, etwa auftretenden Tendenzen einer Erwerbung „auf Umwegen“ [...] entgegenzutreten […].269

266 Zentralausschuß der Volkssolidarität, Schlußfolgerungen für die Abreitstagung mit den Bezirkssekretären am 27.5.1955. Archiv des Volkssolidarität-Bundesverbandes e. V. I/A4, abgedruckt bei: Springer: Volkssolidarität, S. 173. 267 Vgl. Hübner: Kirche, Diakonie und Bahnhofsmission, S. 168. 268 Vgl. Nachbarschaftshilfe, in: Die Kirche 8.8.1948, S. 1. 269 Bischöfliches Ordinariat an die West-Berliner Pfarrämter 18.8.1952. DAB I/4–122–1.

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Das hieß nichts anderes, als dass West-Berliner Katholiken nach Ost-Berlin fuhren, um das neue Gesangbuch dort günstiger zu erwerben und etwas Geld zu sparen. Umgekehrt buhlten Gemeinden in Ost-Berlin um Besucher aus dem Westen, weil sie sich davon Vorteile erhofften. Der Gemeinderat Herbert Kipp aus der Gemeinde St. Andreas in Berlin-Friedrichshain berichtete dem Superintendenten seines Kirchenkreises im April 1952, dass Besucher aus West-Berlin und der Bundesrepublik von einem der ansässigen Gemeindepfarrer abgeschirmt worden waren. Der Pfarrer habe sicherstellen wollen, dass die Hilfspäckchen, die diese Besucher später vielleicht schicken würden, auch sicher nur an ihn und die Seinen, nicht aber an den Gemeindekirchenrat und Bedürftige in der Gemeinde adressiert würden, mutmaßte Kipp.270 Bischof Dibelius wies aufgrund solcher Erfahrungen noch im Jahr des Mauerbaus darauf hin, dass Grenzgänger keineswegs immer lautere Motive hatten. Er übte scharfe Kritik an denjenigen, die die Grenze überquerten, weil sie sich davon Vorteile erhofften; Menschen, die in West-Berlin höhere Löhne bezogen und im Osten billig einkauften oder wohnten.271 Hierbei klammerte Dibelius die Tatsache aus, dass die Grenzgänger von einem Besuch in der anderen Stadthälfte nicht nur profitierten. Gemeindemitglieder, die die Grenze von West- nach Ost-Berlin oder umgekehrt querten, weil sie einer dort ansässigen Gemeinde angehörten oder in einem konfessionellen Krankenhaus arbeiteten, wurden oft intensiv beobachtet und mussten Ärger mit den DDR-Behörden befürchten.272 Bestätigt wurden diese Ängste nicht zuletzt dadurch, dass das MfS unmittelbar nach dem Mauerbau viele dieser Grenzgänger verhaften ließ.273 Dibelius ließ sich davon nicht beeindrucken. Er unterstellte der Mehrheit der Ost-West-Pendler genau wie die DDR-Medien und das MfS vorwiegend finanzielle beziehungsweise materielle Interessen und half auf diese Weise, gängige Vorurteile zu nähren. Dabei ignorierte er auch, dass Personen den Grenzübertritt gleichwohl als eine informative oder kulturelle Abwechslung und Bereicherung erfahren konnten.274 Der 1934 im brandenburgischen Lobetal geborene Pfarrerssohn Martin Paul Hermann Braune machte das anhand seiner Familienverhältnisse deutlich: Seine Mutter war nach dem Tod ihres Ehemannes 1955 nach West-Berlin gezogen, wo auch seine Schwester zur Schule ging und studierte. Ein Bruder Braunes lebte zu diesem Zeitpunkt bereits in der Bundesrepublik, während ein anderer Bruder in der DDR geblieben war, um dort sein Abitur abzulegen. Da Braune selbst das Theo270 Vgl. Herbert Kipp an den Superintendenten Pätzold 26.4.1952. ELAB 35/9212. 271 Vgl. „Wir sind doch Brüder!“, in: Dibelius: Reden, S. 66. 272 Vgl. Halbrock: Zwischen Himmel und Mauer, S. 312. 273 Vgl. Halbrock: Basisarbeit, S. 543. 274 Vgl. Grenzgänger helfen dem Gegner, in: Neue Zeit 8.7.1961, S. 12. Vgl. auch Kirchentag 1961. BStU MfS Allg. S. 170/61.

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logische Seminar in Potsdam besuchte, blieb er zunächst ebenfalls im Osten. An das ständige Unterwegssein infolge seiner Familienverhältnisse hatte er folgende Erinnerungen: „Prägenden Einfluß auf mein Leben hatte die ständige Ost-WestPendelei. In Lobetal die Ost-Zeitung, in Berlin-Steglitz die West-Zeitung. In Lobetal das Ost-Erlebnis, in Westberlin die andere Welt.“275 1956 verließ Braune selbst die DDR und begann eine Ausbildung zum Diakon in Bethel/Bielefeld. Er blieb in der Bundesrepublik, überzeugt davon, dass seine Erfahrungen als Grenzgänger ihm in seinem späteren Berufsleben nützlich waren: „Im Herzen ein Ossi mit Wohnsitz im Westen. So waren auch viele Ost-West-Hilfen möglich.“276 Festzuhalten ist, dass dieses positive Erleben des Grenzübertritts vor allem jene Generationen geprägt hat, die vor dem Mauerbau Gelegenheit hatten, zwischen Ost und West zu pendeln. Danach ging die Zahl der Personen, die die Grenze überhaupt noch passieren durften, stark zurück. Auch die Sichtweisen änderten sich, worauf in den folgenden Kapiteln ausführlicher eingegangen wird. An dieser Stelle sei vorläufig nur angemerkt, dass viele Reisende nach 1961 fürchteten, den Daheimgebliebenen die andere Welt nicht mehr vermitteln zu können. So fragte sich der in der Gemeinde Meinsdorf in Sachsen-Anhalt lebende Pfarrer Dietmar Linke auf seinen Reisen in die Bundesrepublik: „Die Erfahrungen, die ich auf meiner Reise sammelte, würden mich von den anderen trennen. Würde ich die Zurückgebliebenen durch meine Berichte teilhaben lassen können?“277 Das Zitat unterstreicht die These, wonach sich die Bedeutung der Grenzgänger beziehungsweise des mit ihnen verbundenen Grenzübertritts im Moment des Mauerbaus radikal veränderte: ein vormals zumindest noch potenziell alltägliches Erlebnis wurde nun unbedingt als außeralltäglich wahrgenommen. Bei der von Dibelius geäußerten Kritik an den Grenzgängern ging es nicht allein darum, vermeintlich unmoralisches Verhalten zu geißeln. Tatsächlich verbargen sich hinter seiner Äußerung auch Ängste, die die Kirchenleitung aber nur ungern öffentlich eingestand: Immer mehr Menschen verließen die DDR in den 1950er-Jahren in Richtung Westen, darunter viele Kirchenmitglieder, kirchliche Mitarbeiter und Pfarrer.278 Ost-West-Pendler standen besonders im Verdacht, ihr 275 Braune, Martin Paul Hermann: Pendler zwischen Ost und West, in: Kleßmann (Hrsg.): Kinder der Opposition, S. 132. 276 Ebenda, S. 136. 277 Linke, Dietmar: Niemand kann zwei Herren dienen. Als Pfarrer in der DDR, Hamburg 1988, S. 121. 278 Nach Lepp verließen 1956 nur 30 bis 50 kirchliche Mitarbeiter die DDR, um in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin zu migrieren. „Es handelte sich folglich um kein Massenphänomen.“ Lepp, Claudia: Die Abwanderung aus der DDR und die Haltung der Kirchen während der fünfziger Jahre, in: Greschat, Martin/Hüffmeier, Wilhelm (Hrsg.): Evangelische Christen im geteilten Deutschland. Die 50er Jahre. Festschrift für Christa Strache, Leipzig 2013, S. 87.

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Leben in der DDR aufgeben und in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin fliehen zu wollen. Weil aber der Verlust von Mitarbeitern den Verlust von Einfluss bedeutete, war der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg daran gelegen, diese Migrationsbewegung zu stoppen. In Bezug auf ihr eigenes Personal griff sie zu besonders drastischen Methoden. Darüber berichtete auch die DDR-Presse, um einerseits die Hilflosigkeit und das vermeintliche Versagen der Kirchenleitung vorzuführen und andererseits die sogenannte Republikflucht der Geistlichen zu verurteilen. So etwa im Fall zweier Pfarrer aus dem märkischen Kreis Bernau, Hans Gerber und Erich Rommel, die im November 1957 nach West-Berlin geflohen waren, weil ihnen in der DDR wegen angeblicher staatsfeindlicher Hetze ein Schauprozess drohte.279 Offensichtlich zutiefst befriedigt darüber, dass die Kirchenleitung nach ihrer Flucht ein Disziplinarverfahren gegen die beiden Pfarrer eröffnet hatte, griff das Neue Deutschland die Vorkommnisse auf und versäumte es dabei nicht, auf Rommels nationalsozialistischen Namensvetter Erwin Rommel zu verweisen: Es handelt sich hier nicht um den „Wüstenfuchs“, sondern um den Pfarrer Rommel, der seine Gemeinde verließ und in die Wüste ging. Weniger biblisch ausgedrückt heißt das: er ging nach Westberlin und wurde republikflüchtig. Jedenfalls faßte die Kirchenleitung die Sache so auf. Sie wurde böse. Denn wo käme die Kirche hin, wenn die Pfarrer alle wegliefen?280

Die Berliner Zeitung war ebenfalls der Ansicht, dass die Kirchenleitung das Verfahren gegen die Pfarrer nicht nur aus sachbezogenen Gründen eingeleitet hatte, sondern grundlegende machtpolitische Interessen dahinterstanden: Sie wolle ein Exempel statuieren. Bischof und Konsistorium hätten Angst, dass sich die Kirche in der DDR auf verlorenem Posten befand, sollte der Personalstand weiter abnehmen. Mit Blick auf die Kirchenleitung schlussfolgerte die Zeitung: Ihnen sind Geistliche, die bedenkenlos Ihre gegen unseren Staat gerichteten Weisungen ausführen, nur nützlich, solange sie sich auf dem Boden der DDR unmittelbar für die Politik des Westens mißbrauchen lassen. […] Dieser Vorfall sollte besonders allen Pfarrern zu denken geben, die noch immer glauben, Anweisungen der in Westberlin und Westdeutschland sitzenden Kirchenleitungen ausführen zu müssen, die sie in Gegensatz zu ihren Pflichten als Staatsbürger bringen.281

Das Blatt verwies damit auf einen zentralen Punkt: Die Kirchenleitungen brachten mit derlei Aktionen nicht nur Pfarrer in Bedrängnis, die die DDR verlassen wollten, sondern sie schürten zusätzlich Loyalitätskonflikte bei denen, die in der DDR 279 Vgl. Ein Stalingrad der Kirche?, in: Der SPIEGEL 3.9.1958, S. 22–24. 280 Rommel in der Wüste, in: Neues Deutschland 5.1.1958 281 Fahnenflüchtige der NATO-Seelsorge, in: Berliner Zeitung 5.1.1958, S. 5.

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zu bleiben gedachten und diesen Staat als rechtmäßig anerkannten. Wie lange noch würden sie sich einer in West-Berlin amtierenden Kirchenleitung zugehörig fühlen und deren Anweisungen akzeptieren? Innerkirchlich entschärfte sich die Diskussion kurzzeitig, nachdem die Disziplinarkammer der EKiBB die beiden Pfarrer im März 1958 mit der Begründung freisprach, dass sie „niemand von Amts wegen zu Martyrium verpflichten“ könne. 282 Pfarrer müssten sich freiwillig dazu entscheiden, Dienst in der DDR zu leisten. Gerber und Rommel könnten aber nicht dazu gezwungen werden, in ein Land zurückzukehren, in dem ihnen ein unrechtmäßiger Strafprozess drohe. Die Disziplinarkammer befand, dass die anhaltenden Bitten der ehemaligen Gemeinden oder des Bischofs nicht Grund genug waren, um eine Rückkehr der beiden Geistlichen anzuordnen. Die DDR-Presse passte ihre Argumentation insoweit an, als sie die Kirchenleitung nun der „Förderung der Republikflucht“ bezichtigte.283 Die in der Bundesrepublik erscheinende Wochenzeitung Die ZEIT kritisierte die Entscheidung ebenfalls: Einmal mehr habe die Berliner Kirchenleitung unter Beweis gestellt, dass sie mit ihren Pfarrern umsichtiger umgehe als mit ihren Gemeindemitgliedern. „Die Einsicht in die Schwäche und die Leidensgrenze der menschlichen Natur, die die Kirchen ihren Amtsträgern gegenüber großzügig bezeigt, wendet sie bei ihren Gemeindemitgliedern nicht an.“284 Dass Pfarrern ein Leben in der DDR nicht unbedingt zuzumuten war, von den Gemeindemitgliedern aber immer neue Opfer verlangt werden konnten, war für die westdeutsche Zeitung nicht hinnehmbar. Warum sollten Pfarrer auswandern dürfen, wenn sie ihre Kinder nicht zur Jugendweihe schicken wollten und sich deren Ausbildungschancen dadurch massiv zu verschlechtern drohten, Laienmitglieder aber nicht? Die ZEIT verkannte, dass die Entscheidung der Disziplinarkammer im Fall Gerber/Rommel nicht repräsentativ war. Denn den meisten anderen Pfarrern blieben genau solche Freisprüche verwehrt. Zudem hatten die Kirchenleitungsmitglieder längst andere Methoden entwickelt, um Pfarrer davon abzuhalten, die DDR oder Ost-Berlin zu verlassen.285 Schon unmittelbar nach Kriegsende hatte die EKD beschlossen, dass Pfarrer, die aus der SBZ/DDR in eine der drei westlichen Besatzungszonen beziehungsweise in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin ziehen wollten, nur dann eine neue Anstellung finden sollten, wenn die bis dahin zuständige Heimatkirche sie freigab.286

282 Zwang zum Martyrium, in: Die ZEIT 3.4.1958, S. 1/Wissen. 283 Republikflucht gefördert, in: Neue Zeit 30.3.1958, S. 2. 284 Zwang zum Martyrium, in: Die ZEIT 3.4.1958, S. 1/Wissen. 285 Vgl. ebenda. 286 Vgl. Die Protokolle der kirchlichen Ostkonferenz, S. 33. Siehe auch: Lepp: Die Abwanderung aus der DDR, S. 82.

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Die KOK hatte diese Forderung 1948 noch einmal unterstrichen. Sie erinnerte die westdeutschen Kirchenleitungen daran, einem Pfarrstellenwechsel von Ost nach West nicht vorbehaltlos zuzustimmen und vor einer Stellenvergabe das Einverständnis der ostdeutschen Landeskirche einzuholen, welcher der Pfarrer bis dahin angehört hatte.287 Pfarrer, die sich trotzdem für eine Flucht oder eine Ausreise nach Westdeutschland entschieden, gingen somit immer das Risiko ein, ihre Ordinationsrechte zu verlieren. Dass diese rigorose Vorgehensweise nach Bekanntwerden in der Bundesrepublik Unverständnis hervorrief, verstand Bischof Dibelius nicht. 1961 schrieb er: Dort [im Westen] hieß es: „Der arme Pfarrer“. So viel hat er zu leiden gehabt, und zum Dank dafür versperrt ihm seine eigene Kirche den Weg in die Freiheit. […] Die Leitung der Kirche mußte festbleiben. Noch einmal sei es gesagt: Es war nur ein sehr kleiner Teil der Pfarrer, die untreu wurden oder in der Versuchung standen, untreu zu werden.288

Dibelius vertrat in diesem Punkt eine eindeutige Haltung: Wer blieb, bewies seine Treue zur Kirche; wer ging, verriet sie.289 Auf dieser Basis setzte sich der Bischof auch dafür ein, gegen die Entscheidung der Disziplinarkammer im Fall Gerber/ Rommel Berufung einzulegen. Allerdings „wurde die Verhandlung [im Spätsommer 1958] auf nicht näher befristete Zeit vertagt“, nachdem westdeutsche Kirchenführer Partei für die beiden geflohenen Pfarrer ergriffen hatten.290 Für Pfarrer aus der DDR, die sich mit dem Gedanken trugen, überzusiedeln, war dieses verschleppte Verfahren aber nicht mehr als ein Pyrrhussieg. Denn die geschilderten Ausgrenzungspraktiken etablierten sich in den folgenden Jahrzehnten und belasteten das Verhältnis zwischen den Pfarrern in der DDR und ihren Kirchenleitungen dauerhaft. In den 1970er-Jahren verzweifelte der bei Schwerin tätige Pfarrer Jürgen Baumgart, der in die Bundesrepublik ausreisen wollte, an der Politik seiner Vorgesetzten: Wenn es mit dem Entzug der Ordinationsrechte seine Richtigkeit hätte, dann müßte im Dienstvertrag und im Pfarrdienstrecht stehen, daß der jeweilige Pfarrer auf eine einzige Gemeinde ordiniert wird. Wenn ich meine Gemeinde wechsle, dann verlasse ich auch meine Gemeinde. Ich kann in der DDR nicht sicher sein, daß die Stelle überhaupt noch einmal besetzt wird. Ich bin innerhalb der DDR auch von einer Landeskirche in eine andere Landeskirche gewechselt. Das war überhaupt kein Problem. Es wird erst zu einem Problem bei einem Wechsel von Ost nach West. […] Die Forderung nach der Einstellungssperre ist von den 287 Vgl. Lepp: Wege in die DDR, S. 27. 288 Dibelius: Ein Christ, S. 248. Karl Barth vertrat eine ähnliche Position wie Otto Dibelius. Vgl. Barth, Karl: Gesamtausgabe, V. Briefe, Band 4, Offene Briefe 1945–1968, Zürich 1984, S. 435. Siehe auch: Lepp: Die Abwanderung aus der DDR, S. 89. 289 Vgl. ebenda. 290 Ein Stalingrad der Kirche?, in: Der SPIEGEL 3.9.1958, S. 22.

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DDR-Kirchen gekommen. Die BRD-Kirchen sind in aller „Brüderlichkeit“ darauf eingegangen, weil man verhindern wollte, daß eine kirchliche Massenflucht einer Reihe von Kollegen einsetzt […]. Es ärgert mich, daß die Kirchen in Ost und West im konziliaren Prozeß große Töne gespuckt haben in Bezug auf die Menschenrechte. In den eigenen Reihen kümmert man sich überhaupt nicht, was aus den Menschen wird. „Na und“, sagen sie, „wo gehobelt wird, da fallen auch Späne“.291

Das Beispiel zeigt: die Attraktivität des Pfarrberufs in der DDR schmälerten nicht nur die dortigen staatlichen Behörden, sondern gewissermaßen auch die Landeskirchen selbst. Bis zum Ende der DDR veränderten sie nichts an ihrer Vorgehensweise. Noch im Herbst 1989 verloren Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich dazu entschieden, die DDR zu verlassen, ihre Ordinationsrechte. Der 1955 in Berlin geborene Pfarrer Albrecht Nasdala, der bis 1989 als Gemeindepfarrer in Gerswalde/ Uckermark tätig gewesen war und nach der Genehmigung seines Ausreiseantrags nach Nordrhein-Westfalen umzog, erinnerte sich daran, wie er nach seiner Ankunft mit dem zuständigen Personaldezernenten im Düsseldorfer Landeskirchenamt über seine Berufsaussichten in der Bundesrepublik sprach: „Da sagte er [der Personaldezernent], ich hätte mich selbst entlassen dadurch, daß ich um Entlassung aus dem Dienst der Berlin-Brandenburgischen Kirche gebeten habe. Die rheinische Kirche sehe keine Veranlassung mich einzustellen, weil sie auch keinen Bedarf habe.“292 Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden ging ähnlich vor wie die evangelischen Landeskirchen. Zwar hatten freikirchliche Pfarrer, die in die Bundesrepublik emigrierten, bis in die 1960er-Jahre keine Probleme, eine neue Stelle im Gemeindedienst zu finden, aber seitdem galt, dass eine Stellenvergabe für solche Ost-West-Pfarrer nur dann erfolgen sollte, wenn die Bundesleitung in der DDR dieser vorher zugestimmt hatte.293 In der katholischen Kirche spielten solche Fragen hingegen kaum eine Rolle. Das lag unter anderem am strengen Hierarchieverständnis innerhalb der Institution und einem anderen Kirchenbegriff. Zudem konnten im Fall katholischer Priester die Repressionsmöglichkeiten der DDR-Behörden gerade im Vergleich zu ihren evangelischen Kollegen weniger greifen: Sie hatten weder Frau noch Kinder. Dieser Aspekt konnte durchaus eine emotionale Entlastung bedeuten und den Dienst in der DDR erleichtern.

291 1988 gelang Baumgart schließlich die Ausreise. Ihm wurden daraufhin die Ordinationsrechte entzogen. 1990 wurde er Pfarrer einer deutschen Gemeinde in Belgien. Linke, Dietmar: „Streicheln bis der Maulkorb fertig ist.“ Die DDR-Kirche zwischen Kanzel und Konspiration, Berlin 1993, S. 150. 292 Ebenda, S. 180. 293 Vgl. Interview mit Rolf Dammann 2.8.2000. OA, ohne Signatur, S. 5.

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Theologiestudierende und junge Pfarrer zwischen Ost und West Es ist zahlenmäßig nicht zu erfassen, wie viele Personen die evangelischen Landeskirchen in der DDR mit ihren Abschreckungsmethoden tatsächlich davon abhielten, in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin überzusiedeln beziehungsweise überhaupt den Versuch zu unternehmen. Allerdings deutet der immer wieder artikulierte Pfarrermangel im Osten darauf hin, dass die Aussicht darauf, die Ordinationsrechte zu verlieren, Pfarrer nicht grundsätzlich davon abhielt, trotzdem zu gehen, auch wenn ihnen ein Pfarramt in der DDR sicher gewesen wäre. Freilich müssen für den wahrgenommenen Personalmangel die Probleme bei der Ausbildung junger Nachwuchstheologen ebenfalls angeführt werden, doch wäre es falsch, damit kircheninterne Handlungen vollständig zu übertünchen. Stattdessen ist festzuhalten, dass die Kirchenleitungen in der DDR einerseits versuchten, Pfarrer davon abzuhalten, ihr Land in Richtung Westen zu verlassen und diese sogar bestraften, wenn sie sich für einen solchen Schritt entschieden hatten. Gleichzeitig bemühten sie sich darum, Geistliche, die in der Bundesrepublik lebten, davon zu überzeugen, in die DDR zu ziehen. Schließlich förderten die evangelischen Landeskirchen in der DDR bis 1961 die theologische Ausbildung junger Menschen aus der DDR in der Bundesrepublik oder West-Berlin. Voraussetzung dafür war, dass sie sich dazu verpflichteten, nach Abschluss ihres Studiums eine Pfarrstelle im Osten anzutreten. Die evangelischen Freikirchen hielten es genauso. Nachdem es ihnen nicht gelungen war, ein eigenes theologisches Seminar in der DDR zu eröffnen, schickten sie ihre Studierenden ins Seminar nach Hamburg, von wo aus sie nach ihren Studienjahren zurück in die DDR ziehen sollten.294 Das heißt, Studierende aus der DDR immatrikulierten sich an westdeutschen Universitäten und beantragten nach erfolgten Examina eine Zuzugsgenehmigung für die DDR, um dorthin zurückzukehren. Dieses Vorgehen lief den Interessen der DDR-Regierung völlig entgegen. Dass katholische oder evangelische Theologen sich in der Bundesrepublik ausbilden ließen, um das dort Erlernte später jenseits der Systemgrenze zu verbreiten, erschien den SED-Funktionären untragbar. Die Behörden gingen 1952/1953 deshalb dazu über, die Personalausweise der betroffenen Studierenden nicht mehr zu akzeptieren beziehungsweise keine neuen Ausweise für diese Personen auszustellen. Praktisch waren sie damit aus der DDR ausgewiesen und hatten ihr Rückkehrrecht verwirkt. Als die Kirchenleitungen davon erfuhren, forderten sie alle ostdeutschen 294 Vgl. Fuhrmann, Klaus: Das Theologische Seminar des Bundes, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 310–311.

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Theologiestudenten, die sich noch in der Bundesrepublik aufhielten, umgehend dazu auf, in die DDR zurückzukehren. Zu groß war ihre Angst, etwaige Pfarramtsanwärter zu verlieren. Des Weiteren empfahl das Konsistorium in Berlin den Studierenden, die besondere Situation der geteilten Stadt für sich zu nutzen und als Ost-Berliner die Kirchliche Hochschule im West-Berliner Stadtteil Zehlendorf zu besuchen.295 Viele Studenten profitierten bis 1961 von dieser Lösung, auch wenn der prominenteste Lehrstuhlinhaber der Kirchlichen Hochschule, der Theologe Ernst Fuchs, daran zweifelte, dass künftige Ost-Pfarrer angemessen in West-Berlin vorbereitet werden könnten. Er war schon Mitte der 1950er-Jahre der Ansicht, dass die Lebenswirklichkeiten in West-Berlin nicht mit denen in der DDR übereinzubringen waren. Die Studierenden, die seine Vorlesungen besuchten, sahen das offenbar anders. Die überlieferten Anwesenheitszahlen sprechen für sich: Seit 1955 veranstaltete Fuchs außerordentliche neutestamentliche Seminare. Bei der Veranstaltung im Jahr 1957 waren von den insgesamt 143 teilnehmenden Personen 99 aus dem Westen und 44 aus dem Osten. 1960 hatten sich insgesamt 152 Teilnehmende angemeldet. Davon kamen 54 aus der Bundesrepublik und West-Berlin, wohingegen 96 Personen in Ost-Berlin und der DDR wohnhaft waren.296 Die Bedeutung dieses Ost-West-Austauschs ging über den akademischen Bereich hinaus. Es entwickelten sich zum Beispiel Freundschaften. Zudem kehrten die Studierenden in den Semesterferien in ihre Heimatorte zurück und berichteten dort von ihren Erfahrungen jenseits der Grenze. Die in den Erzählungen der Studierenden geschilderte Vielfalt geht auch aus den Erinnerungen des Berliner Baptistenpfarrers Herbert Morét, der 1947 ins Seminar in Hamburg eingetreten war, hervor: „Man sprach ja damals von der Buntheit. Man geht schwarz über die grüne Grenze, aus dem roten Osten in den goldenen Westen“ und zurück.297 Nichtsdestotrotz ging ein Studium für Ostdeutsche in der Bundesrepublik oder in West-Berlin in der Regel mit Entbehrungen einher. So verfügten die ostdeutschen Studierenden meist nicht über dieselben finanziellen Mittel wie ihre Kommilitonen aus dem Westen. Solange sie nicht in Ost-Berlin lebten und von 295 Vgl. Halbrock: Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen, S. 124–126. Zu Fragen der DDRStaatsbürgerschaft siehe: Budde, Heidrun: DDR-Rückkehrer – Aufnahme nach politischer Zweckmäßigkeit, in: Deutschland Archiv 10.10.2014, http://www.bpb.de/192584 [1.8.2018]. 296 Vgl. Hüffmeier, Wilhelm: „Fröhliche Aggression“ – Ernst Fuchs im geteilten Berlin, in: Greschat, Martin/Hüffmeier, Wilhelm (Hrsg.): Evangelische Christen im geteilten Deutschland. Die 50er Jahre. Festschrift für Christa Strache, Leipzig 2013, S. 196–202. 297 Vgl. Interview mit Herbert Morét 1999. OA, ohne Signatur, S. 2. Friedrich Winter berichtet: „Bis 1952 wurde die Zonengrenze nach Westdeutschland noch locker bewacht. Das sprach sich herum. Obwohl es verboten war, die Grenze zu passieren, waren nachts an der Zonengrenze viele Gruppen von illegalen Grenzgängern unterwegs.“ Winter: Beziehungen zwischen Christen in Ost und West, S. 104.

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dort aus pendelten, waren sie darauf angewiesen, eine besonders günstige Unterkunft zu finden – nicht selten bei Pfarrfamilien – und mit äußerst spartanischen Verhältnissen zurechtzukommen.298 Einigen kamen finanzielle Unterstützungsleistungen wie Stipendien oder Spenden zugute.299 Manfred Kern, der später als Baptistenpastor in Berlin-Weißensee tätig war, erhielt während seiner Studienzeit in der Bundesrepublik solche Zuwendungen: „Einmal war ich ja als sogenannter Ostler praktisch fast ohne Unterstützung in Hamburg. Eine freundliche Frauengruppe aus Bochum-Höfel schickte mir monatlich 5,- Mark und das andere musste ich mir durch Predigtdienste oder irgendwelche kleinen Beschäftigungen verdienen […].“300 Kern gehörte zu den Studierenden, denen die Rückkehr in die DDR schwerfiel. Er hatte in der Bundesrepublik nicht nur sein Studium absolviert, sondern auch seine Ehefrau kennengelernt. Zudem war er von der baptistischen Gemeinde in Bochum-Herne zum Prediger gewählt worden. Trotzdem entschieden Kern und seine Frau sich schließlich für die Rück- beziehungsweise Übersiedlung in die DDR. Der Pfarrer begründete diesen Schritt damit, dass es „eine geistliche und […] moralische Verpflichtung, in den Osten zurückzukehren, gab.“301 Die erste Einsatzstelle für den jungen Pastor lag im ostbrandenburgischen Fürstenwalde. Die Erfahrungen, die seine Frau und er dort in den Jahren vor dem Mauerbau machten, stellten ihre Entscheidung immer wieder in Frage: „Wir waren aus dem Westen gekommen und mit dem Herzen dabei hier der Gemeinde zu dienen und an uns zogen die Geschwister [das heißt Gemeindemitglieder] rechts und links vorbei in den Westen.“302 Kern beschrieb eine typische Erfahrung: Die Kirchen in der DDR litten eben nicht nur unter dem Verlust von Pfarrern, sondern auch darunter, dass immer mehr Gemeindemitglieder in die Bundesrepublik flohen. Gerade dort Aufbauarbeit zu leisten, wo andere keine Perspektive mehr sahen, barg ein großes Frustrationspotential, das die Arbeit der Pfarrer in der DDR über Jahrzehnte prägte. Die EKiBB beschäftigte sich ebenfalls damit, dass junge Menschen aus der DDR, die in der Bundesrepublik studierten, schwer daran trugen, wieder zurückzukehren. Sie traf deshalb frühzeitig entsprechende Vorsichtsmaßnahmen und 298 Vgl. Braun: Pendler zwischen Ost und West, S. 129. 299 Vgl. Lepp: Wege in die DDR, S. 33. 300 Interview mit Manfred Kern 2001. OA, ohne Signatur, S. 7. Vgl. „Aber ich denke auch an die Frauengruppen im Westen, die also unseren Seminarabgängern regelmäßig zu schwarzen Anzügen verhalfen.“ Interview mit Rolf Dammann 2.8.2000. OA, ohne Signatur, S. 4. 301 Interview mit Manfred Kern 2001. OA, ohne Signatur, S. 7. Siehe auch: „So waren die Studenten aus dem Osten einige Jahres Bundesbürger. Entsprechend den teilweise mit Nachdruck vertretenen Erwartungen der leitenden Brüder in West und Ost gingen fast alle zurück und wurden wieder Bürger der DDR.“ Fuhrmann: Das Theologische Seminar des Bundes, S. 311. 302 Interview mit Manfred Kern 2001. OA, ohne Signatur, S. 10.

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bat die westdeutschen Landeskirchen, Studierende nur dann zur Abschlussprüfung zuzulassen, wenn die Berliner Kirchenleitung zuvor ihr Einverständnis dafür gegeben und den Kandidaten für rückkehrentschlossen befunden hatte. Im Idealfall sollte die Prüfung sogar von der Berlin-Brandenburgischen anstatt von einer westdeutschen Kirchenleitung abgenommen werden.303 Auf diese Weise erhoffte sich die Berliner Kirchenleitung, die Rückkehr auch zögerlicher Examenskandidaten und Absolventen in die DDR sicherzustellen. Der 1927 in Posen (heute Poznań) geborene Pfarrer Egon Rössler, der 1951 sein Theologiestudium in West-Berlin beendete, sah sich von seiner Kirchenleitung vor die Wahl gestellt: „Entweder du gehst raus in die ‚Zone‘, also in den brandenburgischen Teil der Landeskirche, oder du wirst überhaupt nicht angestellt.“304 Bischof Dibelius ermahnte die jungen Theologen, sich ein Beispiel am seiner Meinung nach vorbildhaften Verhalten des katholischen Klerus zu nehmen. Priester des Bistums Paderborn gingen freiwillig nach Ostdeutschland, um dort in DDR-Gemeinden tätig zu werden, die kirchenrechtlich zu ihrer Heimatdiözese gehörten.305 Erpressungsversuche und Zwangsmethoden deckten den Bedarf an Pfarrern und anderen kirchlichen Mitarbeiter in Ost-Berlin und der DDR dennoch nicht ab.306 Schließlich begründete die Berliner Kirchenleitung die Versetzung vom West- in den Ostteil mit dem Argument, dass sie die Pfarrgehälter in West-Berlin nicht aufbringen könne. Im Zuge der Währungsreform seien die Löhne dort derart gestiegen, dass es nicht mehr möglich sei, diese in vollem Umfang auszuzahlen.307 Zwar warben die ostdeutschen Kirchenleitungen nicht nur bei Theologiestudierenden, sondern auch bei bereits ordinierten westdeutschen Pfarrern sehr engagiert dafür, einen Dienst in der DDR zu übernehmen, doch waren ihnen nicht alle West-Ost-Übersiedler gleichermaßen willkommen. Dass sich die SED-Führung grundsätzlich dagegen aussprach, westdeutschen Pfarrern ostdeutsche Pfarrstellen zu überlassen, war wenig überraschend. Die Funktionäre unterstellten den Übersiedlern eine kritische Haltung gegenüber der DDR und befürchteten eine in ihren Augen negative Beeinflussung der Kirchenmitglieder.308 Die evangelische Kirchenleitung in Berlin und Brandenburg hingegen wies westdeutsche Theologen zurück, die nur deshalb kamen, weil sie ihre Aufstiegschancen in der Bundesrepublik verwirkt hatten. Denn einigen Übersiedlungswilligen war im Westen unmissverständlich verdeutlicht worden, dass ein Umzug in die DDR für sie die einzige Möglichkeit darstellte, ihre Ordinationsrechte überhaupt zu behalten. Dazu zähl303 304 305 306 307 308

Vgl. Lepp: Wege in die DDR, S. 36. Linke: Streicheln bis der Maulkorb fertig ist, S. 101. Vgl. Pfarreraustausch, in: Die Kirche 29.1.1950, S. 1. Vgl. Lepp: Wege in die DDR, S. 104. Vgl. Zahlen kirchlicher Not, in: Die Kirche 29.1.1950, S. 3. Vgl. Halbrock: Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen, S. 124.

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ten zum Beispiel Personen, die zu den Deutschen Christen gehört hatten, oder Pfarrer, denen in der Bundesrepublik ein Disziplinarverfahren anhing und denen ein Umzug in die DDR als letzte Chance und/oder Wiedergutmachungsleistung angetragen wurde.309 Das aber waren freilich nicht die Männer, die Dibelius mobilisieren wollte. Aus den Erinnerungen des Pfarrers Curt-Jürgen Heinemann-Grüder, der 1951 in die DDR zog, geht hervor, welche Einstellungskriterien dem Bischof stattdessen besonders wichtig waren. Auf der 1. Synode der EKD in Bethel/Bielefeld 1949 habe Dibelius erklärt: „Ich kann im Osten nur Leute gebrauchen, die von sich selbst erlöst sind und die den Mut haben, Proletarier zu werden.“310 In den Nachkriegsjahren war das die typische Wortwahl, um kirchlicherseits für eine West-Ost-Übersiedlung zu werben. Die ostdeutschen Bischöfe appellierten an die Opferbereitschaft, die Männlichkeit und den Kampfgeist junger Pfarrer und verglichen die Übernahme eines Pfarrdienstes im Osten mit einem Fronteinsatz und Märtyrerdasein.311 Wer freiwillig in den Osten ging, zeichnete sich als besonders tapfer aus.312 Friedrich Winter, ehemaliger Propst im Konsistorium der EKiBB (Ost), berichtete, dass außerdem eigens ein Konsistorialrat der Berliner Landeskirche damit beauftragt worden sei, an westdeutsche Universitäten zu reisen, um dort Theologiestudierende zum Übersiedeln zu überreden. Die Erfolgsaussichten dieser Anwerbungsversuche sah Winter darin begründet, dass sich in den 1950er-Jahren über 100 Kandidaten bei der Landeskirche gemeldet hätten, die alle bereit gewesen seien, eine Pfarrstelle in Ost-Berlin oder Brandenburg zu übernehmen.313 Wie viele von diesen Bewerbern dann tatsächlich nach Ost-Berlin und in die DDR übersiedelten, ist allerdings nicht belegt. Die westdeutschen Landeskirchen warben anders als die Kirchen in der DDR nur sehr zurückhaltend für eine Übersiedlung. Sie ermunterten die sogenannten Ostpfarrer zurückzukehren, hielten sich gegenüber dem westdeutschen Personal aber mit derlei Empfehlungen zurück, um den eigenen Personalstand nicht zu gefährden.314 Hinzu kam, dass sich Pfarrer, die darüber nachdachten, eine Zuzugsgenehmigung für die DDR zu beantragen, den skeptischen Nachfragen ihres Umfeldes stellen mussten. Der Baptistenpastor Johannes Kübler, der 1955 seine erste Pfarrdienststelle in Greifswald übernahm, erinnerte sich an die Reaktion seines ehemaligen Chefs in der Bundesrepublik: „Aber er meinte dann, und den Satz werde ich nicht vergessen, es kann sein, 309 Vgl. Heinemann-Grüder: Pfarrer in Ost und West, S. 11–12. 310 Ebenda, S. 1. 311 Vgl. Lepp: Wege in die DDR, S. 84–85. 312 Interview mit C. D., 24.4.2017, S. 2. 313 Vgl. Winter: Beziehungen zwischen Christen in Ost und West, S. 101. 314 Vgl. Pfarrermangel-Pfarreraustausch, in: Berliner Sonntagsblatt 2.1.1955, S. 4. Siehe auch: Lepp: Wege in die DDR, S. 79–80.

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daß sie gescheit sind, Herr Kübler, ja, aber verrückt sind sie sicher, ja, als ich sagte, ich gehe in den Osten.“315 Küblers Schwiegermutter hatte ebenfalls Bedenken. Sie führte die schlechte finanzielle Situation der Pfarrer in der DDR als Gegenargument für einen Umzug an. Andere Übersiedler machten ähnliche Erfahrungen. Immer wieder warnten Verwandte, Freunde oder Kollegen vor der drohenden „Unterschichtung“, die sie als Pfarrer in der DDR erwarte.316 Auch wenn die genaue Zahl der West-Ost-Pfarrer unbekannt ist, kann davon ausgegangen werden, dass unter ihnen die Gruppe der Rückkehrer, also jener Menschen, die zuvor schon einmal in der SBZ/DDR gelebt hatten, am größten war. Für sie waren familiäre Bindungen oder schlechte Integrationserfahrungen Motive dafür, in die DDR zurückzukehren. Lepp bezieht diese Personen in ihre Gesamtrechnung mit ein und kommt zu dem Schluss, dass bis zum Mauerbau mindestens 70 evangelische Pfarrer in die SBZ/DDR migrierten.317 Die Mehrzahl dieser Theologen zog nach Brandenburg und Ost-Berlin. Zu diesem Ergebnis kommt auch Halbrock, der in dieser Region allein zwischen 1953 und 1954 30 Übersiedler gezählt hat.318 Rolf Dammann sprach für die Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden hingegen insgesamt nur von „einigen wenigen Fällen“.319 Nicht alle Übersiedler blieben in der DDR. Viele kehrten – oft nachdem sie schon einige Jahre im Osten gelebt hatten – in die Bundesrepublik zurück.320 Einigen West-Ost-Pfarrern gelang es nicht, sich an die einfachen Lebensumstände zu gewöhnen. Heinemann-Grüders Beschreibung der Situation an seiner ersten Pfarrstelle im Kirchenkreis Luckenwalde, die er Anfang der 1950er-Jahre übernahm, lässt erahnen, mit welchen Herausforderungen junge Pfarrleute zu kämpfen hatten: „Der Plumpslokus war über den Hof gelegen. Als Heizmaterial stand nur nasses, aber geschlagenes Holz zur Verfügung, sodaß meine Eltern aktenta-

315 Interview mit Johannes Kübler 2000. OA, ohne Signatur, S. 7. Mit ähnlichen Aussagen von Laienmitgliedern mussten sich auch Pfarrer in Ost-Berlin und der DDR auseinandersetzen, die nach Aufenthalten in West-Berlin oder der Bundesrepublik in den Osten zurückkehrten, wie der evangelische Pfarrer Hans-Otto Furian berichtete: „Am nächsten Vormittag ging ich durchs Dorf […]. Da kommt mir der alte Bauer Otto Sch. entgegen, legt die Hand über die Augen und sagt: ‚Herr Pastor, ich habe Sie immer für einen klugen Menschen gehalten, aber daß Sie so dämlich sind und wieder in die DDR zurückkommen, hätt ich nicht gedacht.‘“ Furian, Hans-Otto: Erinnerungen an den 13. August 1961, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 64 (2003), S. 181. 316 Lepp: Wege in die DDR, S. 146. 317 Vgl. ebenda, S. 133. 318 Vgl. Halbrock: Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen, S. 128. 319 Interview mit Rolf Dammann 2.8.2000. OA, ohne Signatur, S. 5. 320 Vgl. Lepp: Wege in die DDR, S. 154.

2.3 Grenzgänger: kirchlicher Alltag zwischen Ost und West



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schenweise Briketts von Potsdam brachten. Ein Zimmer wurde geheizt, und zeitweise der Küchenherd. So fingen wir an.“321 Zudem war das Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR ein völlig anderes als in der Bundesrepublik. Die übergesiedelten Pfarrer machten Repressionserfahrungen und sahen sich der Willkür der örtlichen Behörden ausgesetzt. Die meisten von ihnen waren frisch verheiratet und noch kinderlos nach Ost-Berlin oder Brandenburg gekommen. Im Laufe der Jahre hatten sie Familien gegründet und sahen sich nun mit der Tatsache konfrontiert, dass ihren Kindern Bildungschancen verwehrt blieben, weil sie in einem Pfarrhaushalt lebten. Auch Heinemann-Grüder machte diese Erfahrung. Seinen beiden Söhnen blieb trotz einwandfreier Zeugnisse der Zugang zur Erweiterten Oberschule verwehrt. Von seiner Kirchenleitung fühlte er sich in dieser Angelegenheit allein gelassen. Das Konsistorium reagierte nicht auf seine Hilfegesuche.322 Er zog daraus entsprechende Konsequenzen und kehrte 1974 in die Bundesrepublik zurück. Wie viele Pfarrer es ihm nach 1961 gleichtaten, ist nicht exakt nachzuweisen. Allerdings ist laut Lepp davon auszugehen, dass vor dem Mauerbau mehr als 50 Prozent der übergesiedelten Pfarrer wieder in die Bundesrepublik und nach West-Berlin zurückkehrten.323

Bedeutung christlicher Grenzgängerinnen und Grenzgänger Christliche Grenzgänger übernahmen im kirchlichen Leben wichtige Funktionen. Sie waren genaue Beobachter der sich verändernden Gesellschaften in Ost und West und damit auch der religiösen Milieus in beiden deutschen Staaten. Sie waren besonders empfindsam für Entwicklungsunterschiede und machten gleichzeitig auf Gemeinsamkeiten aufmerksam: Denn obwohl die Mitgliederzahlen in beiden deutschen Staaten noch relativ stabil waren, wirkten sich Entkirchlichungstendenzen und Individualisierungsprozesse aufgrund neuer Konsum- oder Freizeitmöglichkeiten bereits in den 1950er-Jahren auf die Gesellschaften und das kirchliche Leben in Ost- und Westdeutschland aus.324 Dabei zogen Veränderungen im Alltag aber nicht zwangsläufig grundlegende Strukturveränderungen nach sich, wie der DDR-Pfarrer Linke richtig bemerkte: „Die Strukturen eines Dorfpfarramtes sind überschaubar; man ist durch die Lebensbedingungen auf dem Dorf den Menschen näher. Der durch die Arbeit in der

321 Heinemann-Grüder: Pfarrer in Ost und West, S. 15. 322 Vgl. ebenda, S. 63–72. 323 Vgl. Lepp: Wege in die DDR, S. 149. 324 Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 259–261. Siehe auch: Große Kracht: Die Stunde der Laien?, S. 401.

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kollektivierten Landwirtschaft bestimmte Lebensrhythmus erfordert größere Flexibilität; zu allen Tageszeiten kommen Menschen ins Pfarrhaus.“325 Fraglos beschrieb Linke eine Abkehr von tradierten Praxis- und Zeitvorstellungen. Derweil stellte er aber ebenfalls klar, dass dieser Gewohnheitswandel die soziale Stellung des Pfarrers (im Dorf) kaum beeinflusste. Weiterhin suchten die Dorfbewohner den Pfarrer auf, baten ihn um Rat und nahmen auf diese Weise am kirchlichen Leben teil. Der Bindungsgrad der Menschen an die Kirchen lässt sich folglich nicht allein mit dem Erstarken oder Schwächerwerden bestimmter politischer oder ökonomischer Phänomene erklären. Vom Systemhintergrund allein kann nicht auf die Intensität kirchlicher Beziehungsverhältnisse geschlossen werden. Der Raum und seine spezifischen sozialen Bedingungen – in diesem Fall das Dorf, eben nicht die Stadt – waren darüber hinaus prägend.326 Pfarrer, die nach einigen Jahren in der DDR in die Bundesrepublik zurückkehrten oder Theologiestudierende, die aus der Bundesrepublik in die DDR zurückzogen, stellten in diesem Zusammenhang ein wichtiges Korrektiv dar. Dadurch, dass sie den Alltag jenseits der Grenze kennengelernt hatten und somit über eine Innenansicht verfügten, veränderte sich ihr Blick auf den Anderen. Diese persönliche Betroffenheit, die nicht mit Zugehörigkeit zu verwechseln ist, machte ein aufeinander bezogenes Handeln trotz zunehmender Abschottung und Ausgrenzung, wider die Systemlogik, zumindest denkbar. Dafür spricht, dass basierend auf ihren Erfahrungen viele Migranten wichtige neue Verbindungen zwischen Ost und West aufbauten. Zum Beispiel sind hier die Organisation von Hilfsaktionen oder die Initiierung von Gemeindepartnerschaften zu nennen, auf die später noch ausführlich eingegangen wird. Das geteilte Berlin übernahm dabei nicht irgendeine, sondern eine besondere Rolle oder wie Bischof Dibelius es formulierte: „Und trotzdem – wir konnten uns in Berlin noch frei bewegen.“327 Die Stadt war zu einem Umschlagplatz für materielle wie immaterielle Güter geworden. Hier kamen Menschen aus Ost und West zusammen, um Waren und Wissen zu tauschen. Nachrichten wurden übermittelt, Begegnungen organisiert und Politik gemacht. Kirchliche Einrichtungen entwickelten sich zu zentralen Anlaufstellen für Grenzgänger. Sie waren Treffpunkte und stellten entsprechende Infrastrukturen bereit.328 Wichtige kirchliche Werke 325 Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 56. 326 Vgl. Pickel: Kirche und Christentum, S. 517. Davon zeugt nicht zuletzt die unterschiedliche zeitgenössische Wahrnehmung in den Visitationsberichten. Vgl Bericht Kirchengemeinde Elisabeth 1951. ELAB 86/56. Oder: Bericht Stephanus-Gemeinde 1951. ELAB 86/56. 327 „Wie es kam“, in: Dibelius: Reden, S. 10. 328 Vgl. Steinke, Roland: Das St. Josefsheim als „Bildungsheim des Bischöflichen Stuhles“ und kirchliche Begegnungsstätte Ost/West in der Zeit der Berliner Mauer (1961–1989), unveröffentlicht, S. 2.

2.4 Erinnerungs- und Streitkulturen: zur Konstruktion gemeinsamer Feindbilder



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eröffneten in West-Berlin Zweigstellen, um den Kontakt zwischen den Kirchen und vor allem den Menschen in der DDR und der Bundesrepublik aufrecht zu erhalten und zu fördern.329 Berlin war zweifellos nicht mehr der „Welttheil“, zu dem Jean Paul es einst erklärt hatte.330 Die Stadt war zu einem „Nadelöhr“ geworden, durch das Ost und West im Kalten Krieg miteinander verbunden blieben.331 Bei all dem von einem christlichen Alltag zu sprechen, ist sicherlich schwierig. Wer den Versuch unternimmt, läuft Gefahr, die Unterschiede zwischen Ost und West zu verwischen und das Verbot kirchlicher Vereine oder die Unterdrückung kirchlicher Initiativen in der DDR und Ost-Berlin zu relativieren oder zu negieren.332 Die Formulierung passt trotzdem, weil sie der Quellensprache entlehnt ist. Es sind die zeitgenössischen Akteurinnen und Akteure, die die Grenzen von Alltäglichkeit und Außeralltäglichkeit im geteilen Berlin festgelegt haben. Für sie mag das heute Außeralltägliche alltäglich gewesen sein.

2.4 Erinnerungs- und Streitkulturen: zur Konstruktion gemeinsamer Feindbilder Die Einheit der Kirchen in Ost und West zu bewahren, war seit 1949 eine der selbsterklärten Hauptaufgaben deutscher Kirchenleitungen. Dabei ging es zum einen darum, innerkirchliche Lagerbildungen zu überwinden und zu verhindern. Zum anderen war es notwendig, an Narrative anzuknüpfen beziehungsweise solche zu entwickeln, die die Kirchenmitglieder miteinander verbanden und ihnen als Zugehörigkeitsmerkmale und Identitätsmarker dienen konnten. Seitens der Kirchenleitungen gab es zwei Möglichkeiten, auf die Mitglieder einzuwirken: Sie konnten auf bekannte Erfahrungsräume verweisen, Erinnerungen wachrufen und auf Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten hindeuten. Die Alternative war, neue Erwartungshorizonte zu umreißen, was mit dem Versuch einherging, unbekannte Traditionen zu implementieren und bislang fremde oder den Kirchenmitgliedern eigentlich uneigene Sinnzusammenhänge und Handlungsweisen zu integrieren.333 329 Unter anderem eröffnete die Kirchenkanzlei der EKD in West-Berlin eine Zweitstelle. Vgl.: Seidel: Neubeginn, S. 194. Die katholische Kirche war zum Beispiel mit dem sogenannten Kommissariat der Bischofskonferenz vertreten. Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 7. 330 Jean Paul an Emilie von Berlepsch 1. August 1800, in: Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Friedrich Richter, 2. Band, München 1863, S. 129 331 Lepp: Die Abwanderung aus der DDR, S. 76. 332 Zum Verbot kirchlicher Vereine in der DDR vgl. Heinicker: Kolpingsarbeit, S. 76–78. 333 Vgl. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 10. Auflage, Frankfurt 2017.

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Vor allem die Konstruktion und Destruktion von Feindbildern eignete sich in besonderer Weise dazu, um den Zusammenhalt der Laien zu festigen und die Positionen der Kirchenleitenden zu stärken. Die Darstellung von Freund-Feind-Schemata erfüllte mehrere, stabilisierende Funktionen: Sie stellten Abgrenzungsmöglichkeiten zu anderen Gruppen dar, erlaubten Versöhnungsmomente innerhalb der eigenen, zersplitterten Gemeinschaft und gewährleisteten die Anschlussfähigkeit Dritter.

Der Nationalsozialismus als geteilter Erfahrungsraum 1950 kam es in West-Berlin zu Straßenumbenennungen, mit denen an NS-Widerstandskämpfer erinnert werden sollte. In Charlottenburg wurde am 30. März unter anderem der ehemalige Friedrich-Karl-Platz in Klausenerplatz umbenannt.334 Am selben Tag erhielt die frühere Königin-Luise-Straße den Namen Bonhoefferufer.335 Mit derselben Absicht entschied der West-Berliner Senat zehn Jahre später über die Umbenennung des Lankwitzer Rings in Preysingstraße.336 Und auch die seit 1962 parallel zum Kurt-Schumacher Damm verlaufende Bernhard-Lichtenberg-Straße trägt den Namen eines katholischen Geistlichen, der von den Nazis hingerichtet wurde und in der katholischen Kirche seit 1999 als Märtyrer verehrt wird.337 Zwölf Jahre später, im Sommer 1974, zog der Ost-Berliner Magistrat nach und gab bekannt, 18 Straßen in Berlin-Prenzlauer Berg nach „tapferen Antifaschisten“ umbenennen zu wollen.338 Die ehemalige Rastenburger-Straße erhielt noch im selben Jahr den Namen Bernhard-Lichtenberg-Straße. 339 Die nicht weit davon entfernte Woldenberger Straße wurde im Zuge dessen in Dietrich-Bonhoeffer-Straße umbenannt, um den „bedeutendsten evangelischen Theologen im Widerstandskampf christlicher Kreise zu würdigen,“ wie es in der Neuen Zeit hieß.340 Überall im Ost- wie im West-Berliner Stadtbild erinnerten Straßennamen, Gedenktafeln oder die Namen von Kindertagesstätten, Altenheimen und Gästehäu334 https://berlin.kauperts.de/Strassen/Klausenerplatz-14059-Berlin [19.3.2021]. 335 https://berlin.kauperts.de/Strassen/Bonhoefferufer-10589-Berlin?query=Bonhoefferufer+ [19.3.2021]. 336 https://berlin.kauperts.de/Strassen/Preysingstrasse-12249-Berlin?query=Preysingstra%C3% 9Fe+ [19.3.2021]. 337 https://berlin.kauperts.de/Strassen/Bernhard-Lichtenberg-Strasse-13627-Berlin [19.3.2021] 338 In ihrem Sinne stärken wir unsere Republik, in: Berliner Zeitung 5.9.1974, S. 8. 339 Vgl. 18 weitere Straßen tragen die Namen unserer antifaschistischen Helden, in: Neues Deutschland 5.9.1974, S. 8. Sowie: Antifaschistische Helden geehrt, in: Neue Zeit 5.9.1974, S. 1. 340 Bekräftigte Bürgschaft, in: Neue Zeit 8.9.1974, S. 1.

2.4 Erinnerungs- und Streitkulturen: zur Konstruktion gemeinsamer Feindbilder



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sern an katholische Märtyrer und protestantische Widerstandskämpfer.341 Der Stadtraum fungierte damit auch als Erinnerungsort.342 Doch wer gedenkt wo, wann, wessen und warum? Machte es einen Unterschied, wenn die DDR-Regierung an den Antifaschisten Bonhoeffer und West-Berliner Protestanten an den Kirchenkämpfer Bonhoeffer erinnerten? Wie sind diese Zuschreibungen zu interpretieren und welche Funktionen übernahmen sie? Inwieweit entsprachen sie den Selbstbeschreibungen derer, an die gedacht wurde, welche unterschiedlichen Deutungen existierten nebeneinander und wie veränderten sich diese im Zeitverlauf? Wie wurde im Alltag mit dieser Erinnerung umgegangen? Die Fragen sind nicht immer trennscharf voneinander zu beantworten. Es macht daher Sinn, den Zwischentönen Bedeutung beizumessen und sie in zeitgenössischen Diskursen zu verorten. Auf diese Weise werden Aussagen über die Entwicklung bestimmter Gruppen möglich und es lässt sich zeigen, inwieweit deren Identitätsstrukturen einem Wandel unterlagen. So änderte sich im Zuge der angedeuteten Prozesse nicht nur die Sichtweise auf die Personen, derer gedacht wurde. Gleichzeitig wandelte sich das Verhältnis zwischen denen, die ihrer gedachten. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren etwa stellte es für die betroffenen Akteure zunächst kein Problem dar, wenn Christen und Kommunisten gemeinsam kirchlicher Widerstandskämpfer gedachten und sich dabei selbst als Antifaschisten definierten. Später entwickelte sich das Gedenken an diese Personen auseinander. Kirchenmitglieder distanzierten sich zum Beispiel bewusst von einer Inanspruchnahme christlicher Märtyrer durch kommunistische Gedenktraditionen. Im Fall Bonhoeffers wurde es für viele Protestanten deshalb immer wichtiger, die christlichen Motive seines Widerstands zu betonen, wobei dieses Abgrenzungsbedürfnis oftmals spezifischen, zeitgenössischen Problemlagen geschuldet war. Gerade ostdeutsche Protestanten bezogen Bonhoeffers Theologie nicht mehr nur auf die Zeit des Nationalsozialismus, sondern aktualisierten ihren Blick darauf und entwickelten auf dieser Grundlage in den 1960er-Jahren neue Sichtweisen auf den sozialistischen Staat.343 In der Bundesrepublik blieb Bonhoeffer ebenfalls eine wichtige Identifikationsfigur, aber das Bild, das sich Kirchenangehörige dort von ihm machten, entsprach sehr viel länger dem des kämpferischen Pfarrers, der den 341 Seit 1977 existiert in West-Berlin die Dietrich-Bonhoeffer-Schule. Es gibt dort außerdem einen Wohnstift Otto Dibelus und eine katholische Schule Bernhard Lichtenberg. Vgl. Hans und Sophie Scholl zum Gedenken, in: Die Kirche 18.2.1968, S. 1. Siehe auch: Neues aus dem Bistum, in: Petrusblatt 8.2.1970, S. 7. 342 Vgl. Nora, Pierre: Zwischen Gedächtnis und Geschichte, Frankfurt 1998. Siehe auch: Sadiq, Shadid N.: Wie schlägt sich Multireligiosität im Stadtbild nieder?, in: Jansen, Mechthild M./Keval, Susanna (Hrsg.): Die multireligiöse Stadt. Religion, Migration und urbane Identität, Wiesbaden 2014, S. 46–47. 343 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 24 und S. 27. Siehe auch: Geiger: Christsein, S. 31.

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Widerstandskämpfern des 20. Juli 1944 nahe gestanden hatte und nahm weniger Bezug auf seine Theologie.344 Folglich ist nicht allein zwischen staatlicher und kirchlicher, sondern ebenso zwischen der Bonhoefferrezeption in Ost und West zu unterscheiden, weil dort jeweils eine spezifische Aneignung stattfand. Nicht zuletzt veränderte sich das Wissen über die Personen, derer gedacht wurde. Die persönliche Bekanntschaft, lokale Bezüge und die damit einhergehende Verbundenheit mit kirchlichen Widerstandskämpfern und Märtyrern nahm Einfluss auf Erinnerungsformen. Erst nach und nach entwickelten sich diese Personen zu Symbolfiguren, deren individuelle Handlungen gegenüber ihrer symbolischen Bedeutung für verfolgte oder inhaftierte Menschen zurücktraten. Sie dienten dazu, bestimmte Bilder zu reproduzieren. Im Zuge dessen verblassten weite Teile ihrer Biographie, während sie immer mehr mit Attributen wie Barmherzigkeit, Opferbereitschaft oder Tapferkeit assoziiert wurden. Diese Entwicklung wurde dann gestört, wenn sich das Wissen über die Person veränderte, weil zum Beispiel Sperrfristen in Archiven abliefen und die Forschung begann, das Leben der Symbolfigur als historische Person zu reflektieren. Entstanden dabei Diskrepanzen zwischen der etablierten Gedenkkultur und dem neu erarbeiteten Wissen war es zunehmend schwieriger jenem Bedürfnis nach Eindeutigkeit gerecht zu werden, das Helden- und Märtyrergestalten verlangen. Große Kracht macht das am Vorsitzenden der Katholischen Aktion in Berlin Erich Klausener (1885–1934) deutlich, der einerseits zweifellos zu den Opfern der Nationalsozialisten zählte, sich selbst aber zu Lebzeiten nicht eindeutig von ihnen abgegrenzt hatte. Er habe, so legt es Große Kracht dar, noch unmittelbar vor seiner Ermordung – Klausener war im Rahmen der von der NS-Presse als RöhmPutsch bezeichneten Mordaktion 1934 von einem Angehörigen der SS in seinem Büro erschossen worden – Sympathien für die Nationalsozialisten gehegt und an die Möglichkeit eines Schulterschlusses zwischen der NSDAP und der katholischen Kirche geglaubt. Obwohl Klausener zu Lebzeiten also nicht als Gegner der Nationalsozialisten aufgefallen war, galt er schon unmittelbar nach seinem Tod als sogenannter Blutzeuge und Märtyrer. 345 Den Impuls dazu gab jedoch nicht die Berliner Kirchenleitung, die sich auffallend um Zurückhaltung bemühte, mutmaßlich weil sie die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Vatikan nach dem Konkordatsabschluss 1933 nicht gefährden wollte. Die Ermordung Klauseners wurde weder publik gemacht,

344 Vgl. Helmut Gollwitzer über Eberhard Bethge: „Dietrich Bonhoeffer“: Der Christ als Verschwörer, in: Der SPIEGEL 19.6.1967, S. 106–109. 345 Vgl. Große Kracht: Die Stunde der Laien?, S. 241–244.

2.4 Erinnerungs- und Streitkulturen: zur Konstruktion gemeinsamer Feindbilder



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noch öffentlich verurteilt.346 Die großen Tageszeitungen meldeten, dass es sich um einen Suizid gehandelt haben könnte; die Berliner Bistumszeitung hielt sich mit Spekulationen über die Todesursache gänzlich zurück.347 Stattdessen war es der erklärte NS-Gegner und Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, der der Ansicht war, dass Klauseners Tod dazu dienen könne, die deutschen Katholiken wieder auf eine Linie zu bringen. Der Mord an Klausener sollte ihnen ein Warnsignal sein und sie dazu anhalten, sich endgültig vom Nationalsozialismus abzuwenden. In einem Brief an den Pfarrer des Ermordeten, Albert Coppenrath, legte von Galen den Grundstein für das Klausener-Gedenken in Berlin. Er erklärte Klausener zum „ersten Blutzeugen der A. c. (Actio catholica) in Deutschland“.348 Für Coppenrath war das Anlass genug, sich noch im selben Jahr für die Errichtung eines Klausener-Denkmals einzusetzen und im Februar 1935 eine bistumsweite Kollekte anzustrengen, um Gelder für das geplante Ehrenmal zu sammeln. Zwar verhinderte die Gestapo die Realisierung dieser Idee, indem sie die gesammelten Gelder beschlagnahmte, aber auch ohne Denkmal blieb Klausener mit der Idee des katholischen Widerstandskampfes gegen den Nationalsozialismus verbunden.349 Das Gedenken an ihn etablierte sich zum festen Bestandteil katholischer wie städtischer Erinnerungskultur in Berlin. Dafür spricht unter anderem, dass die Besatzungsbehörden in der SBZ noch im Oktober 1945 eine Sonderbriefmarke mit Klauseners Konterfei herausbrachten. Schon einen Monat zuvor hatte die von der Sowjetischen Militäradministration lizensierte Neue Zeit Klausener als „aktiven Kämpfer […], der um seines politischen ebenso wie um seines religiösen Bekenntnisses willen sein Leben aufs Spiel gesetzt und den Tod erlitten hat“, gewürdigt.350 Ein Jahr später, 1946, griff das Berliner Ordinariat die Pläne, ein Denkmal für Klausener zu errichten, wieder auf und forderte vom Magistrat die Rückgabe der beschlagnahmten Kollekte aus dem Jahr 1935.351 Die Erstattung der Mittel erreichte der Generalvikar nicht, dennoch wurde Anfang der 1950er-Jahre auf dem St.-Matthias Friedhof in Berlin-Tempelhof ein Grabstein für Klausener errichtet. Im Zeitverlauf kamen weitere Gedenktafeln an unterschiedlichen Orten der Stadt hinzu.352 346 Vgl. Gedenknummer für Erich Klausener, in: Katholisches Kirchenblatt für das Bistum Berlin 15.7.1934, S. 1–8. 347 Vgl. Große Kracht: Die Stunde der Laien?, S. 248–249. 348 Ebenda, S. 252. 349 Vgl. Adolph, Walter: Erich Klausener, Berlin 1955, S. 137–139. 350 Wir und das Zentrum, in: Neue Zeit 16.9.1945, S. 1. 351 Vgl. Bischöfliches Ordinariat an den Magistrat der Stadt Berlin 8.7.1946. LA B Rep 002/4613. 352 In der Keithstraße (früher: Lutherstraße) in Berlin-Schöneberg erinnert seit 1988 unter anderem eine Gedenktafel an Klausener als früheren Bewohner des Hauses, https://www.gedenktafeln-in-berlin.de/nc/gedenktafeln/ person/alph/K/person/162/ [25.9.2018].

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Mit dem Blut Klauseners“ schrieb Walter Adolph 1955, „beginnt auch im Bistum Berlin ein neuer Abschnitt der Kirchengeschichte. […] Klausener eröffnet die erhabene Reihe derer, die auf Berliner Boden für Christus mit dem Blute zeugten. […] Der Name Klausener wird in ihren Reihen mit Ehrfurcht und Liebe genannt.353

Dieses Narrativ griffen die katholischen Bischöfe Berlins in den folgenden Jahrzehnten immer wieder auf. Bereits in der ersten Nachkriegsausgabe des Petrusblattes hatte Bischof Preysing jener Katholiken gedacht, „die in den letzten zwölf Jahren als aufrechte, katholische Christen ihr Blut und Leben gegeben haben, sei es unter dem Henkerbeile, sei es durch Hunger und Entbehrung im Gefängnis und Konzentrationslager.“354 Neben Erich Klausener nannte Bischof Preysing den Greifswalder Pfarrer Alfons Maria Wachsmann, der 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden hingerichtet worden war, die Stettiner Kapläne Herbert Simoleit und Friedrich Lorenz, ebenfalls 1944 ermordet, sowie den bereits erwähnten Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg, der 1943 auf dem Weg in das Konzentrationslager Dachau infolge schwerer Krankheit nach zweijähriger Gefängnishaft verstorben war.355 Mit Hilfe der sogenannten Blutzeugen und Märtyrer erinnerte der Berliner Episkopat aber nicht nur an den Widerstand katholischer Gläubiger gegen den Nationalsozialismus. Die Kirchenleitung versuchte auf diese Weise, Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verbinden: In der Zeit des beginnenden Kalten Kriegs wies sie darauf hin, dass viele dieser Widerstandskämpfer sich einerseits gegen das herrschende NS-Regime und andererseits für die Einheit der katholischen Kirche ausgesprochen hatten. Dieser Einheitsbegriff konnte auf die NS-Zeit gleichermaßen wie auf die ihr folgende Ost-West-Teilung bezogen werden. Darüber hinaus inkludierte das Gedenken an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors auch jene Berliner Katholiken, die erst im Zuge der Kriegshandlungen oder danach in die Stadt gekommen waren. Ihre Herkunft spielte somit eine vergleichbar geringe Rolle. Solange sie Deutsche waren, teilten sie einen Erfahrungsraum: Als Kriegsopfer und Trauernde wurden sie von der Schuldfrage entlastet. Nicht zuletzt versuchte insbesondere die katholische Kirche mit ihrem Erinnern und Gedenken unter Beweis zu stellen, dass sie den Nationalsozialismus überdauert hatten, womit sie „den Sieg des eigenen kirchlichen Weltdeutungssys-

353 Adolph: Erich Klausener, S. 147. 354 Der Bischof begrüßt sein Kirchenblatt, in: Petrusblatt 2.12.1945, S. 1. 355 Vgl. Dompropst Lichtenberg, ein Kämpfer Christi, in: Petrusblatt 2.12.1945, S. 3–4. Siehe auch: Klein, Gotthard: Bernhard Lichtenberg (1875–1943), in: Hummel, Karl-Joseph/Strohm, Christoph (Hrsg.): Zeugen einer besseren Welt, Leipzig 2000, S. 174–191.

2.4 Erinnerungs- und Streitkulturen: zur Konstruktion gemeinsamer Feindbilder



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tems über die Moderne“ andeutete.356 Ein Blick in die Bistumspresse zeigt, welche herausragende Bedeutung dem Gedenken an katholische Märtyrer deswegen beigemessen wurde. Regelmäßig schilderten Petrusblatt und St. Hedwigsblatt Episoden aus Leben und Leiden Lichtenbergs oder Klauseners, für die zudem anhaltend Gedenkgottesdienste und andere Gedenkveranstaltungen stattfanden, über die die Blätter ebenfalls berichteten.357 Schon 1946 hatte das Berliner Ordinariat den 5. November, den Todestag Lichtenbergs, zum Gedenktag für die Opfer der nationalsozialistischen Christenverfolgung ernannt. In allen Kirchen des Bistums sollte am Abend dieses Gedenktages ein Requiem gehalten werden.358 Das Bischöfliche Ordinariat lud katholische Männer aus Ost- und West-Berlin ein, an Betstunden teilzunehmen, die in beiden Stadthälften stattfanden.359 Im Zusammenhang mit Gedenkveranstaltungen dieser Art wurde oft argumentiert, dass sich die Zeitgenossen am Verhalten der Märtyrer orientieren und ihr eigenes Handeln an dem der Verfolgten messen sollten. Das blieb nicht ohne Wirkung. Tatsächlich identifizierten sich die Berliner Katholiken mit ihren Märtyrern. Obschon es die Bistumsleitung wohl nicht intendiert hatte, dass auch ihr eigenes Handeln oder das christlicher Politiker anhand dieser Maßstäbe bewertet werden könnte, entlud sich die Wut und die Enttäuschung mancher Katholiken über aktuelle (kirchen-)politische Entwicklungen dabei auch mit Verweis auf die sogenannten Blutzeugen.360 Die evangelische Kirchenzeitung in Ost-Berlin, Die Kirche, argumentierte in ähnlicher Weise: „Nicht, wenn wir uns nur erinnern. Nicht, wenn wir ihre Namen nur an Schulen oder auf Straßenschilder schreiben. Erst dann dürfen wir uns mit ihnen verbunden wissen, wenn wir Gewissensentscheidungen gelten lassen und – wenn wir den Mut aufbringen, zu tun, was das Gewis-

356 Hannig: Die Religion, S. 63. 357 Vgl. Gedenkrede des Bischofs für Lichtenberg, in: Petrusblatt 2.12.1945, S. 4–5. Und: Wie sie starben, in: Petrusblatt 17.2.1946, S. 3. Siehe auch: Gedenkstunde in Plötzensee, in: St. Hedwigsblatt, 31.8.1958, S. 4. Oder: Zeuge für Wahrheit und Gerechtigkeit. Gedenkgottestdienst für Dompropst Lichtenberg in der St. Hedwigskathedrale, in: St. Hedwigsblatt 17.11.1968, S. 1 und S. 8. 358 Bischöfliches Ordinariat an alle Seelsorgestellen im Bistum Berlin, Betr.: Gedenktag für die Opfer der nat. soz. Christenverfolgung 15.10.1946. Hektographie, DAB, abgedruckt bei: Lange/Pruß, 1. Halbband, S. 29. Siehe auch: Unsere Blutzeugen, in: Blick in die Zeit (West-Berliner Beilage des Petrusblattes) 2.11.1952, S. 1. Sowie: Bernhard Lichtenberg zum Gedächtnis, in: Kirche in der Zeit (West-Berliner Beilage des Petrusblattes) 1.11.1953, S. 7. 359 Vgl. Kanzelvermeldung mit Schreiben des Bischöflichen Ordinariats, Berlin Charlottenburg 16.10.1959. Hektographie, DAB I/4–122–3, abgedruckt bei Lange/Pruß, 1. Halbband, S. 347. Siehe auch: Kanzelvermeldung mit Schreiben des Bischöflichen Ordinariats, Berlin W 8 20.10.1959. Hektographie, DAB I/4–122–3, abgedruckt bei Lange/Pruß, 1. Halbband, S. 347–348. 360 Vgl. Ferdinand Grieb an das Bischöfliche Ordinariat Berlin und das katholische Pfarramt St. Clara 23.1.1961. DAB I/14–6-1.

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sen uns sagt.“361 Es ging zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr nur darum, das Ansehen der Opfer zu wahren, sondern gleichsam aus dem Gedenken heraus konkrete Handlungsempfehlungen für die Gegenwart abzuleiten oder die Geschichte für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Insbesondere das katholische Bistum Berlin setzte von Beginn an auf die Wirkung bestimmter Gedenkorte. Vor allem die Gedenkstätte Plötzensee – in dem ehemaligen Strafgefängnis hatten die Nationalsozialisten beinahe 3.000 Hinrichtungen vollstreckt – entwickelte sich zu einem wichtigen Ort für das Gedenken an die sogenannten katholischen Blutzeugen. Für die Kirchenleitung war es selbstverständlich, dass während des Deutschen Katholikentags 1958 eine Kranzniederlegung mit anschließender Gedenkkundgebung in Plötzensee stattfand.362 Auch bei Besuchern aus dem Ausland legte die Bistumsleitung Wert darauf, dass ein Besuch der Gedenkstätte Plötzensee auf dem Programm stand.363 Zusätzliche Bedeutung erlangte der Ort durch den Bau der Kirche Maria Regina Martyrum, die sich unweit von der Gedenkstätte Plötzensee befindet. Die Errichtung dieser Gedächtniskirche ging auf den Berliner Bischof Weskamm zurück. Dieser war 1952 dafür eingetreten, an einem zentralen Ort an all jene Katholiken zu erinnern, die sich für Glaubens- und Gewissensfreiheit eingesetzt hatten und deswegen von den Nationalsozialisten ermordet worden waren. Weskamm setzte durch, dass in sämtlichen deutschen Diözesen am 15. August 1958 Spendensammlungen für den Bau einer solchen Kirche an der sogenannten Nahtstelle der Systeme stattfanden. Der tatsächliche Baubeginn erfolgte aber erst einige Jahre später.364 Nach Weskamms Tod legte sein Nachfolger, Julius Döpfner, am 12. November 1960 den Grundstein für die Kirche. In seiner Ansprache zog er, wenn nicht explizit, so doch unmissverständlich eine Verbindungslinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Sie [die Blutzeugen] standen ein für die Rechte Gottes und des guten Gewissens! Das war die Sendung, der sie sich verpflichtet wußten. Sie lebten in einem modernen, totalitären Staat, wo Gottes Recht nichts galt, die Partei und ihre Ideologie alles war, wo der Träger der Staatsgewalt sich mit pseudogöttlichem Glanz umgab […]. Ein solcher Staat versucht ununterbro-

361 Hans und Sophie Scholl zum Gedenken, in: Die Kirche 18.2.1968, S. 1. 362 Vgl. Deutscher Katholikentag 1958 an Bürgermeister Franz Amrehn 9.8.1958. LA B Rep 002/ 7401. 363 Vgl. Vierzehn Priester aus Südamerika hielten sich zu einem mehrtägigen Besuch in unserer Stadt auf, in: Petrusblatt 31.3.1963, S. 5. Die evangelische Kirchenleitung in Berlin empfahl Berlinreisenden ebenfalls einen Besuch in der Gedenkstätte Plötzensee. Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 489. 364 Die Bauleitung übernahm der Würzburger Dombaumeister und Architekt Hans Schädel. Vgl. Dombaumeister Schädel baut „Regina Martyrum“, in: Neue Zeit 10.3.1959, S. 6.

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chen, dem Menschen eine Sinndeutung aufzuzwingen, die ihn in Gegensatz zu Gott und seinem Gewissen bringt.365

Es blieb unausgesprochen, ob Döpfner mit seinen Worten nur den Nationalsozialismus meinte. Sicher ist, seine Rede ließ sich auf die DDR und die dort herrschende SED ebenso mühelos beziehen. Ein Dreivierteljahr nach Döpfners mehrdeutiger Ansprache übernahm Alfred Bengsch im August 1961 das Berliner Bischofsamt. Er konsekrierte die vom SPIEGEL als „kerkerähnliche Anlage“ beschriebene Gedächtniskirche 1963.366 Zu diesem Zeitpunkt allerdings stellte Maria Regina Martyrum, anders als ursprünglich gedacht, nur noch für die Katholiken aus der Bundesrepublik und West-Berlin einen realen Bezugspunkt dar. Katholische Kirchenmitglieder aus Ost-Berlin und der DDR konnten die Kirche nach dem Mauerbau nicht mehr besuchen.367

Antitotalitarismus anstatt Antifaschismus Die Idee, eine katholische Gedenkkirche in Berlin zu errichten, stand für einen grenzübergreifenden Antifaschismus, der Katholiken aus Ost und West miteinander verbinden sollte. Dabei richtete sich dieses Gedenken an die Blutzeugen, Märtyrer und christlichen Widerstandskämpfer zunächst nicht explizit gegen die kommunistischen Machthaber. Ganz im Gegenteil ermöglichte es Kirchen und Kommunisten in der Nachkriegszeit sogar, sich ein gemeinsames Argument zu Eigen zu machen, eben weil sie sich gleichermaßen als Antifaschisten verstanden. Und das, so der spätere evangelische Bischof Kurt Scharf, hinterließ Eindruck bei den Besatzungsbehörden: „Die Russen hatten Respekt vor der Kirche wegen ihres Widerstandes gegen die NS-Machthaber.“368 Der 1941 geborene und seit Jahrzehnten in 365 Die Mahnung der Blutzeugen. Ansprache bei der Grundsteinlegung der Kirche „Regina Martyrum“ am 12. November 1960, in: Wort aus Berlin, 2. Band, S. 106. 366 Etwas überhöht, in: Der SPIEGEL 18.12.1963, S. 77. Vgl. Gelöbnis deutscher Katholiken erfüllt, in: Petrusblatt 21.4.1963, S. 1. Und: Gruß des Primas von Polen, in: Petrusblatt 5.5.1963, S. 1. Die Berichterstattung über die Konsekrationsfeierlichkeiten bestimmt die Petrusblattausgaben im Frühling 1963. 367 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 109–110. 368 Scharf: Brücken und Breschen, S. 100. Ähnlich formulierte es der 1952 in Brandenburg geborene, letzte Außenminister der DDR Markus Meckel: „Wir waren von den Sowjets dank der Bekennenden Kirche während des Dritten Reiches als Widerstandsorganisation anerkannt worden, was über die Jahrzehnte zur Folge hatte, daß wir viel mehr Freiheit besaßen, als es in [den westlichen] Kirchen denkbar schien.“ Meckel, Markus: Geborgenheit und Wagnis, in: Kleßmann, Christoph (Hrsg.): Kinder der Opposition. Berichte aus Pfarrhäusern in der DDR, Gütersloh 1993, S. 103.

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der Evangelischen Gemeinde Ahrensfelde engagierte Paul Plume erinnerte sich ebenfalls daran, dass die unmittelbare Nachkriegszeit nicht vom Gegensatz zwischen Christen und Nichtchristen geprägt war: Ich wurde dann in der Sowjetischen Besatzungszone eingeschult und dann kamen die Junglehrer zurück. Anders als in der Bundesrepublik waren die ja entnazifiziert und, äh, sofern das junge Männer waren, Frontsoldaten, die wirklich sagten, wer noch mal eine, ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen und so weiter. Und die waren voller Enthusiasmus, keine Kommunisten, das waren einfach Leute, die waren, hatten die Nase voll und wollten ihren Kindern etwas Neues nahebringen, als, ein, einen gestalteten Pazifismus wie auch immer…369

Plume schilderte jenen, von vielen als zukunftsoffen wahrgenommenen Moment in den ersten Nachkriegsjahren, in dem es gerade auch für Menschen an der Kirchenbasis darum ging, sich keine neuen Feinde zu machen, sondern – wenn schon keine neuen Freunde – so doch zumindest neue Verbündete zu suchen. Albrecht Schönherr, damals Verwalter des Bischofsamtes der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Ost), versuchte noch 1971 den Antifaschismus als wichtige Bindungskraft zwischen Christentum und Kommunismus zu propagieren. In einer Reihe nannte er Ernst Thälmann, Rudolf Breitscheid, Dietrich Bonhoeffer und Bernhard Lichtenberg als Kämpfer gegen den Faschismus.370 Allerdings war die erhoffte Wirkung solcher Aufzählungen längst verpufft. Sie stellte nur mehr die DDR-Regierung zufrieden. An der Kirchenbasis hingegen genügten solche Verweise auf die Vergangenheit nicht mehr. Zum einen, weil mit dem Generationswechsel Menschen in Kirchenämter gekommen waren, die ihre Vorgänger dafür kritisierten, kirchenintern keine konsequente Entnazifizierung durchgeführt zu haben. Zum anderen war spätestens ab dem Moment, da selbst die DDRRegierung vorbehaltlos Straßen nach katholischen Märtyrern umbenennen konnte, klar, dass die Kirchen zumindest nicht mehr die alleinige Deutungshoheit über ihre Widerstandskämpfer hatten. Mit dem Antifaschismus-Begriff konnten sich die Religionsgemeinschaften jedenfalls nur mehr schwer von der Staatsdoktrin abgrenzen.371

369 Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 4. 370 Vgl. Gespräch mit dem Vorstand des Bundes der Evangelischen Kirchen, in: Neues Deutschland 25.2.1971, S. 2. Siehe auch: Gemeinsame Verantwortung. Christen und Marxisten, in: Berliner Zeitung 25.1.1971, S. 2. Außerdem: Boyens, Armin: Gespräche im Schaufenster. Das Gipfeltreffen zwischen Honecker und den evangelischen Kirchenführern der DDR vom 6. März 1978, in: Kirchliche Zeitgeschichte 2 (1994), S. 214. 371 Vgl. Weber: Getrennt und doch vereint, S. 412.

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Aber genau das wollten die Berliner Bischöfe.372 Allen voran ging der evangelische Bischof von Berlin: Dibelius sah in den Kommunisten keine Verbündeten der Kirchen im Kampf gegen den Faschismus, sondern er warf der DDR-Regierung vor, ebenfalls ein totalitäres Regime errichten zu wollen.373 In einem Hirtenbrief aus dem Jahr 1948 wird deutlich, inwiefern Dibelius in seiner Kritik Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus mit zukünftigen Aufgaben verband: Hier geht es in unseren Tagen vor allem um das eine, daß wir, was auch immer geschieht, die Freiheit behalten, wahrhaftig zu bleiben. Überall, wo der Staat, die totale Gewalt für sich in Anspruch nimmt, zeigt er die unheimliche Tendenz, die Menschen zur Unwahrhaftigkeit zwingen zu wollen. Wir kennen das alle von den Tagen des Nationalsozialismus her. […] Liebe Brüder und Schwestern! Eine solche Zeit darf nicht wiederkehren!374

Die sowjetischen Besatzer wie auch die SED mussten Dibelius in weiten Teilen zustimmen und doch stand zweifelsfrei fest, dass der Bischof mit seinem Hirtenwort ebenfalls den Kommunismus gemeint und ihm folglich eine Absage erteilt hatte.375 In seiner Predigt „Über die Menschenrechte“ aus dem Jahr 1961 wurde Dibelius noch deutlicher: Es gibt – das habe ich schon gesagt – eine Situation unter den Menschen, in der alles Recht schweigt. Das ist der Krieg. Und das ist eben das Furchtbare, daß für einen totalen Staat immer Krieg ist; wenn kein Heißer Krieg, dann ein Kalter Krieg. Sie kennen ja keinen wirklichen Frieden.376

Die Schuldigen in diesem Konflikt hatte Dibelius indes längst ausgemacht: Es waren die sowjetischen Machthaber und die SED, die diesen Krieg gewollt hatten; der 372 „Die Berliner sind für eine Weile beliebt geworden, jenseits der Meere und auch in Bayern. Sie haben die Freiheit verteidigt, und wahre Freiheit ist sicher ein Gut, für das zu kämpfen sich lohnt.“ Entschiedenheit für Gott, in: Petrusblatt 30.10.1949, S. 2. 373 Diese Position ist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatte über den Totalitarisus zu sehen. Vgl. Arendt, Hannah: The Origins of Totalistarism, New York 1951. Sowie: Friedrich, Carl Joachim: Totalitarian Dictatorships and Autocracy, mit Zbigniew Brzeziński, Cambridge 1956. Siehe auch: Buchheim, Hans: Struktur der totalitären Herrschaft und Ansätze totalitären Denkens, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 8 (1960), S. 164–180. Zusammenfassend: Hildebrand, Klaus: Stufen der Totalitarismus-Forschung, in: Jesse, Eckhard (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2. erweiterte Auflage, Bonn 1999, S. 70–94. 374 Hirtenwort, in: Die Kirche 16.5.1948, S. 1. 375 Die von Dibelius zunächst nur implizit geäußerte Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus barg ein enormes Konfliktpotential. „Insbesondere der Vergleich mit der NS-Zeit traf die SED im Innersten ihres Selbstverständnisses als entschieden antifaschistische Kraft und Erbauerin eines antifaschistisch-demokratischen Deutschlands.“ Lepp: Tabu der Einheit?, S. 89. 376 Dibelius: Reden, S. 42.

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Westen hatte auf das östliche Säbelrasseln reagieren müssen, selbst aber keinen neuen Krieg angestrebt.377 Indem Dibelius die Freiheit verteidigte, für die Menschenrechte eintrat, sich für die Einheit der evangelischen Kirchen in Deutschland einsetzte und West-Berlin zum Sinnbild dieses Freiheitswillens stilisierte, brachte er nicht nur seine Ablehnung gegenüber totalitären Regimen zum Ausdruck, sondern offenbarte zugleich seine Angst vor dem Atheismus, den er nicht im Faschismus, sondern im Kommunismus verwurzelt sah.378 Ähnlich wie Klausener, den sein Tod zum Antifaschisten gemacht hatte, war Dibelius lange vor 1945 als Nationalist und Kritiker der Sozialdemokratie in Erscheinung getreten, der nicht erst 1961 vor den „Gottlosen“ warnte, sondern schon in der Weimarer Republik durch eine antisozialistische, offen kommunismusfeindliche Haltung aufgefallen war.379 Es war daher nur konsequent, dass katholische und evangelische Kirchenführer nach Kriegsende auf ein Feindbild zurückgriffen, das schon in den 1920er- und 1930er-Jahren populär gewesen war, um den Zusammenhalt innerhalb der eigenen Gemeinschaft sowie konfessionsübergreifend zu stärken.380 Die Berliner Kirchen – konfrontiert mit der drohenden Teilung ihrer Stadt – entwickelten sich auf diesem Feld rasch zu Vorkämpfern. Beunruhigt notierten MfS-Mitarbeiter 1958, dass die „reaktionäre Kirchenleitung [alles daran setze,] die alten Anhänger zu erhalten und neue Anhänger zu gewinnen.“381 In der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) kam man ebenfalls zu dem Schluss, dass der Antikommunismus dieser Kirchenleitenden kein Phänomen der Nachkriegszeit sei, sondern tradierte Motive aufgreife. Folgerichtig begann die DDRPropaganda, diesem Vorbild nachzueifern: Die in Ost-Berlin erscheinende Berliner Zeitung bezeichnete Otto Dibelius 1958 als „kirchlichen SA-Mann“ und erklärte 377 Vgl. ebenda, S. 45–56. 378 Zur Bedeutung West-Berlins als Symbol der Freiheit im Kalten Krieg vgl. Eisenhuth/Sabrow: „West-Berlin“. 379 „Wir sind doch Brüder“, in: Dibelius: Reden, S. 57. Vgl. Dibelius, Otto: Nationale Erhebung. Drei Reden, Berlin 1919, S. 56–57. Siehe auch: Weir, Todd: The Christian Front against Godlessness: Anti-secularism and the Demise of the Weimar Republic 1928 to 1933, in: Past and Present 229 (2015), S. 201–238. 380 „Nach 1945 diente die christliche Abendlandideologie als religiös-spirituelle Legitimationsfigur für die europäische Integration. Leitend war dabei der gemeinsame Gegensatz von kirchlichen wie unkirchlichen, katholischen wie protestantischen Konservativen zum Kommunismus im Kalten Krieg.“ Weichlein, Siegfried: Religion und Kultur, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 99 (2005), S. 382. Siehe auch: Weber: Getrennt und doch vereint, S. 411– 412. 381 Bericht über die Generalsynode der EKD vom 26.-30.4.1958. MFS HA ZAIG 116. Vgl. Pollack: Funktionen, S. 72.

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darüber hinaus, der Berliner Bischof sei aufgrund seiner deutschnationalen Einstellungen einer der geistigen Urheber des Holocaust gewesen.382 Ein Jahr zuvor war Dibelius neben einer Atombombe fliegend auf Plakatwänden am U-Bahnhof Marchlewskistraße (heute Weberwiese), nahe des Frankfurter Tors, und am Luxemburg Platz (heute Rosa-Luxemburg-Platz) zu sehen gewesen. Auf den Plakaten stand: „Vom Himmler hoch da komm ich her.“383 Während sich Personen wie Dibelius also darum bemühten unter dem Leitbegriff des Totalitarismus die Nähe zwischen dem kommunistischen Nachkriegsdeutschland und dem nationalsozialistischen Regime sichtbar zu machen, versuchten SED-Funktionäre, die ideologische Nähe der Kirchen zum NS-Staat und seiner Nachfolgerin, der Bundesrepublik, offenzulegen, wobei sie vor allem auf antisemitische und militaristische Traditionen hinwiesen.384 Otto Dibelius, selbst CDU-Mitglied und in der DDR spätestens seit Abschluss des Militärseelsorgevertrags 1957 als „NATO-Bischof“ betitelt, bot der DDR-Presse eine geradezu ideale Angriffsfläche.385 Die DDR-Zeitungen Berliner Zeitung, Neues Deutschland und Neue Zeit unterstellten Dibelius, die DDR zu verleumden und „den Boden für eine neue chauvinistische Hetze gegen die Sowjetunion und das sozialistische Lager zu bereiten“.386 Dibelius hingegen sah in dieser Berichterstattung einen weiteren Beweis für die kirchenfeindliche Haltung der Pankower Machthaber erbracht. Enge Kontakte zur Bonner Bundesregierung unterhielt derweil auch die katholische Bistumsleitung in Berlin, wie Karlies Abmeier gezeigt hat. Insbesondere der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Heinrich Krone, tauschte sich in den Jahren vor dem Mauerbau regelmäßig mit dem Berliner Bischof Döpfner aus,

382 Der Lebensstil des Dr. Dibelius, in: Berliner Zeitung 27.4.1958, S. 2. Vgl. Dibelius: Ein Christ, S. 251. 383 Halbrock: Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen, S. 112. 384 Einen Bezugspunkt stellte dabei unter anderem auch die Teilnahme Otto Dibelius’ an einem von den Nationalsozialisten als „Tag von Potsdam“ deklarierten Staatsakt 1933 dar. Vgl. Gailus, Manfred: Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 535–538. 385 Kirche und atomare Aufrüstung, in: Neues Deutschland 22.4.1958, S. 2. Vgl. Atombombe und Christentum, in: Neues Deutschland 24.4.1958, S. 2. Sowie: Adenauer-Propaganda in der Marienkirche, in: Neue Zeit 9.12.1958, S. 2. 386 Dibelius treibt Frontstadt- und Kriegshetze, in: Neues Deutschland 9.12.1958, S. 2. Vgl. Synode weicht dem „Nein“ zum Atomtod aus, in: Berliner Zeitung 27.4.1958, S. 1. Siehe auch: Beintker: Nachdenkliche Rückblenden, S. 310. Und: Lepp: Tabu der Einheit?, S. 174. Zum Abschluss des Militärseelsorgevertrages vgl. Glaubwürdigkeit der Kirche in Gefahr, in: Neue Zeit 3.3.1957, S. 2. Oder: Militärseelsorge: Gebet unterm Atompilz, in: Der SPIEGEL 19.3.1958, S. 26–27.

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obwohl das MfS die Aufrechterhaltung solcher Verbindungen sanktionierte:387 1958 verboten die DDR-Behörden Döpfner den Zugang zu seinen Diaspora-Gebieten in der DDR, um den Bischof etwa für seine offen sozialismuskritische Haltung zu bestrafen.388 Gleichzeitig bemühten sich die DDR-Medien darum, Döpfners Austausch mit Krone als Einmischung der Bundesrepublik in innerkirchliche Belange oder DDRAngelegenheiten öffentlich anzugreifen. Diese Vorwürfe zeigten insofern Wirkung, als der von der DDR-Presse als „Frontstadtbischof“ bezeichnete Döpfner noch vor dem 13. August 1961 aus Berlin abberufen und vom Papst zum Erzbischof von München-Freising ernannt wurde.389 Doch so sehr auch Döpfner diesen Wechsel zunächst beklagte: letztlich ermöglichte ihm gerade der Umzug nach München ein Festhalten an seinem Kurs, ohne weiterhin den Erpressungsversuchen der DDR-Regierung ausgeliefert zu sein. Die Versetzung Döpfners bedeutete für das MfS somit allenfalls einen Teilerfolg.390 Als Erzbischof der einflussreichen Münchner Diözese konnte er sich viel freier über die DDR-Regierung äußern, als ihm das in Berlin jemals möglich gewesen wäre. Doch nicht nur Personen gerieten ins Visier der Staatssicherheit. Auch kritische Texte standen im Verdacht, der DDR schaden, den Kommunismus verunglimpfen und Feindbilder schärfen zu wollen. Einzelne Liedtexte fielen bei staatlichen Druckgenehmigungsverfahren deshalb immer wieder durch. Diese Erfahrung machten zum Beispiel die Herausgeber der „Gemeindelieder“, wie das offizielle Ost-West-Gesangbuch des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden hieß. Anders als in der Bundesrepublik fehlte beim Lied „Wie oft will ich das Lob versiegen“ in der DDR die zweite Strophe. Dort hatte es geheißen: „Hör das Klagen unserer Brüder, die verfolgt sind und gefangen. Gib du ihnen Freiheit wieder, nimm du ihnen Furcht und Bangen.“ Die staatlichen Behörden meinten in dieser Zeile eine Metapher für die Unterdrückung freikirchlicher Gemeindemitglieder in der DDR zu erkennen. Die dritte Strophe des Liedes „Herr, deine Liebe ist

387 Vgl. Abmeier, Karlies: Heinrich Krone (1895–1989), in: Höhle, Michael (Hrsg.): 75 Jahre Bistum Berlin. 20 Persönlichkeiten, in: Wichmann-Jahrbuch des Diözesangeschichtsvereins Berlin 8 (2004/2005), S. 186–201. Siehe auch: Krone, Heinrich: Tagebücher, 1. Band, 1945–1961, bearbeitet von Hans-Otto Kleinmann, Düsseldorf 1995, S. 279–280, S. 300, S. 309, S. 390. 388 Vgl. Kanzelvermeldung 28.5.1958. Hektographie, DAB I/4–122–3, abgedruckt bei: Lange/Pruß, 2. Halbband, S. 285. 389 Frontstadt-Bischöfe gehen zu Adenauer, in: Neue Zeit 10.1.1960, S. 2. Siehe auch: An den Haaren herbeigezogen, in: Neue Zeit 23.11.1958, S. 2. 390 Vgl. Wittstadt: Julius Kardinal Döpfner, S. 112.

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wie Gras und Ufer“ durfte ebenfalls nicht gedruckt werden. Sie begann mit den Worten: „Und dennoch sind da Mauern zwischen Menschen.“391 Zwar vermieden Parteifunktionäre wie Walter Ulbricht kirchenfeindliche Äußerungen in der Öffentlichkeit und bekräftigten stattdessen vor der Volkskammer, dass „das Christentum und die humanistischen Ziele des Sozialismus keine Gegensätze sind.“392 Die Verfolgungspraktiken des MfS und anderer DDR-Behörden machten aber deutlich, dass das Gegenteil der Fall war und die Kirchen weiter in den Kultbereich zurückgedrängt werden sollten. Die deutliche Politisierung der Berliner Bischöfe Ende der 1950er-Jahre einerseits und die Angst der DDR-Regierung vor deren wachsendem Einfluss auf die Bevölkerung andererseits, hatten dazu geführt, dass sich die Fronten zwischen Staat und Kirchen wieder verhärteten: In der öffentlichen Wahrnehmung galten gerade die Berliner Kirchenleitungen in dieser Zeit weitestgehend als pro-westlich und antikommunistisch.

Kampf, Verfolgung und Widerstand als Narrative einer Meistererzählung In dem Moment, als die Kirchen den Antifaschismus argumentativ mit dem Antikommunismus verknüpften, schlossen sie an drei Narrative an, die sich sowohl auf die Zeit des Nationalsozialismus, als auch auf den Kommunismus und damit den Kalten Krieg beziehen ließen: Kampf, Verfolgung und Widerstand. Die kirchenfeindliche Ideologie (Faschismus/Kommunismus) und die handelnden Akteure (NSDAP/SED) mochten andere sein, die Sprache und die Metaphern blieben dieselben.393 Kirche befand sich noch immer im Widerstand und während die Gläubigen im Osten von neuen Aggressoren verfolgt wurden, sollte es Aufgabe der Kirchenmitglieder im Westen sein, sie bei ihrem grenzübergreifenden Kampf gegen den Kommunismus zu unterstützen.394 391 Vgl. Balders, Günter: Bitte nicht Nr. 74, 332, 414 singen lassen, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 330–332. 392 Programmatische Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, vor der Volkskammer, in: Neue Zeit 5.10.1960, S. 1. 393 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 24. Der Kirchenhistoriker Kurt Nowak soll mit Blick auf die Verfolgung christlicher Kirchen in der DDR von einer „Neuauflage der Geschichte der ecclesia pressa [gesprochen haben], die man im Dritten Reich so schmerzhaft erfahren hatte.“ Dähn, Horst: Evangelische Kirche und SED-Staat – ein Thema der westdeutschen historischen und sozialwissenschaftlichen DDR-Forschung vor 1989/90?, in: Dähn, Horst/Heise, Joachim (Hrsg.): Staat und Kirchen in der DDR. Zum Stand der zeithistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschung, Frankfurt u. a. 2003, S. 30. 394 Vgl. Ruthendorf-Przewoski, Cornelia von: Leben in der Vision des Urchristentums oder alimentierte Autarkie im Unrechtsstaat? Tagungsbericht, in: Die evangelischen Kirchen in der DDR

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Der Antikommunismus diente also einerseits dazu, den Faschismus zu relativieren und (ehemalige) Nationalsozialisten mit (überzeugten) Antifaschisten kirchenintern zu versöhnen. Andererseits ermöglichte es der Antikommunismus, Kirchenmitglieder auf einen gemeinsamen Feind einzuschwören. Kleßmann bezeichnet den „auf die DDR bezogenen Antikommunismus [deswegen zu Recht als] eine starke politische und gesellschaftliche Integrationsklammer.“395 Sich von einem gemeinsamen Feind abzugrenzen, wirkte grenz- und generationsübergreifend identitätsstiftend. Innerkirchliche Konflikte der jüngsten Vergangenheit traten in den Hintergrund. Je mehr sich der Antikommunismus als wichtigstes Feindbild der Kirchenmitglieder etablierte, desto irrelevanter war es, ob jemand zu den Deutschen Christen oder zur Bekennenden Kirche gehört hatte.396 Vielmehr galt es, dass Widerstandspotential der Kirchenmitglieder auf den Kommunismus zu lenken. Bischof Döpfner gab die Stoßrichtung am 12. November 1960 unter der Überschrift „Die Mahnung der Blutzeugen“ noch einmal vor: Die rechte Ordnung sichtbar zu machen und sie wieder herzustellen, dafür setzten sich jene Zeugen ein und dafür starben sie. Auch wer nicht in einem totalitären System leben muß, vergesse vor diesen Zeugen nicht: alle sind wir bedroht von „dieser so sehr dem Materiellen verhafteten Zeit“.397

Das seine Mahnungen konfessions- wie systemübergreifend auf fruchtbaren Boden trafen, beweist unter anderem der besorgte Brief einer Protestantin, die aus dem niedersächsischen Pyrmont an den katholischen Bischof von Berlin schrieb: „Ich gestatte mir an Sie zu schreiben aus einer inneren großen Besorgnis wegen der großen Bedrohung der gesamten Menschheit durch den Kommunismus.“398 Sie appellierte an den Bischof, dass das kirchliche Leben auch in der geteilten Stadt Berlin unbedingt sichtbar bleiben müsse: Ich gestatte mir den Vorschlag, führen sie die Gläubigen heraus aus den Kirchen an den Sonntagen an die Sektorengrenzen und lassen Sie im Angesicht des Stacheldrahtes und der aus der Perspektive des Westens, in epd Dokumentation 14/15 (2013), S. 8. Siehe auch: Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 64. Sowie: Lepp: Tabu der Einheit?, S. 173. 395 Kleßmann: Zwei Staaten, S. 13. 396 „Nach wenigen Jahren spielte diese Mitgliedschaft [in der NSDAP] – jedenfalls in der Öffentlichkeit – keine Rolle mehr.“ Radatz, Werner: Auf der Insel. Das Zeugnis kirchlicher Praxis zwischen „roten Pfarrern“ und „Recht und Ordnung“. Die Region West, in: Radatz, Werner/Winter, Friedrich: Geteilte Einheit. Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg 1961–1990, Berlin 2000, S. 13. 397 Döpfner: Wort aus Berlin, 2. Band, S. 107. 398 Margarethe Engel an das Sekretariat des katholischen Bischofs von Berlin 3.9.1961. DAB I/14– 6-1.

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Volkspolizei, Bittgottesdienste abhalten. Vielleicht wird man lachen, vielleicht wird man die Christen verhöhnen, das sollte uns aber nicht anfechten.399

Die katholische Kirchenleitung in Berlin schätzte derartige Aktionen jedoch als zu gefährlich ein. Sie setzte stattdessen auf publizistische Kampagnen, um den Kirchenmitgliedern jene Gefahren, die ihrer Ansicht nach vom Kommunismus ausgingen, immer wieder vor Augen zu halten. Ein Beispiel für die antikommunistische Medienarbeit des Berliner Bistums ist der 1962 von Erich Klauseners Sohn, Erich Klausener jun., veröffentlichte Band „Sie hassen Gott nach Plan“.400 Im Vorwort seines Buches stellte der Autor unmissverständlich klar: Die Kommunisten versuchen, in ihrem Machtbereich eine Atmosphäre zu schaffen, in der religiöses Leben nicht mehr gedeihen kann. Eines Tages soll auch in Mitteldeutschland das gesellschaftliche und geistige Klima so sein, daß Gott für die Herzen und das Leben der Menschen tot ist.401

Für den in West-Berlin lebenden Klausener jun. stand fest, dass es für die katholischen Gläubigen keine Kompromisslösung geben könne. Sein Bedrohungsszenario betraf auch West-Berlin und die Bundesrepublik. Dortige Leser erinnerte er daran, dass sie genauso vom „Vulgär-Atheismus“ bedroht seien wie die Katholiken in Ostdeutschland.402 Ähnlich wie Klausener jun. hatte Bischof Döpfner schon vor dem Mauerbau davor gewarnt, von einer Normalisierung der Situation zu sprechen und die kirchenfeindlichen Absichten der DDR-Regierung zu unterschätzen.403 In internen Lageberichten zeichnete Döpfner ein besonders düsteres Bild vom kirchlichen Leben in Ost-Berlin und in der DDR. Gleichzeitig war er überzeugt davon, dass es sich auszahlen würde, standhaft zu bleiben: Mit aller Gewalt betreiben Staat und Politik die Loslösung der Menschen in der DDR vom Westen und ihre restlose Eingliederung in den östlichen Macht- und Wirtschaftsblock. Auf 399 Ebenda. Der Generalvikar des Bistums Berlin dankte der Frau für ihren Brief, wies den Vorschlag aber mit Blick auf die lebensbedrohliche Gefahrenlage an den Sektorengrenzen zurück. Antwort des Generalvikars 20.10.1961. DAB I/14–6-1. 400 Klausener jun., Erich: Sie hassen Gott nach Plan. Zur Methodik der kommunistischen Propaganda gegen Religion und Kirche in Mitteldeutschland, Berlin 1962. 401 Ebenda, Vorwort. 402 Vgl. Werbeanzeige „Sie hassen Gott nach Plan“, in: Petrusblatt 14.4.1963, S. 12. Siehe auch: Höllen: Loyale Distanz?, Band 2, S. 86. 403 Vgl. Wittstadt, Klaus: Julius Kardinal Döpfner, Bischof von Berlin (1957–1961), in: Kösters, Christoph/Tischner, Wolfgang (Hrsg.): Katholische Kirche in der SBZ und DDR, Paderborn u. a. 2005, S. 130.

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diesem mit allen Machtmitteln erzwungenen Wege erscheint die Kirche immer stärker als ein entscheidendes Hindernis: denn sie verwurzelt ihre Glieder mit allen Kräften in ihrer kirchlichen Lebensgemeinschaft. Gleichzeitig verbindet sie die Menschen bewußt mit der Weltkirche und damit auch mit dem Westen. Der Kampf gegen die Kirche wird immer offener. Man glaubt, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. […] Je mehr die Schwierigkeiten im öffentlichen Leben wachsen, umso mehr wird den katholischen Gläubigen die Kirchengemeinde zur Heimat. Immer wieder berichten Seelsorger davon, mit welchem Vertrauen ihnen die Gläubigen begegnen, eine Erfahrung, die von Bischöfen selbst aus der Begegnung mit den Gemeinden bestätigt werden kann. So wächst mitten in der Bedrückung die Gemeinde umso inniger zusammen.404

Der von Döpfner beschriebene Rückzug in das Innere der Gemeinden erschien vor allem Kirchenmitgliedern in der DDR plausibel. Denn auf diesem Gebiet befand sich die katholische Kirche ohnehin seit Jahrhunderten in der Situation einer Minderheit. De facto lebten Katholiken dort seit der Reformation in der Diaspora. Insbesondere an der ländlichen Kirchenbasis galt nicht nur der Kommunismus als eine Gefahr. Interkonfessionelle Auseinandersetzungen spielten neben ideologischen Konflikten ebenfalls eine gewichtige Rolle, auch wenn diese von den Berliner Kirchenleitungen oft marginalisiert wurden. Der katholische Zeitzeuge C. D., der in den 1950er-Jahren in einer thüringischen Kleinstadt aufwuchs und erst als junger Erwachsener nach Ost-Berlin zog, erinnerte an die „Katholikenfeindschaft bei den Protestanten, die ich von Kindesbeinen gewohnt bin.“405 Ähnlich schilderte es der protestantische A. R. aus Luckenwalde in Brandenburg: Es ist ganz stark, muss man ja sagen, diese Feindschaften, die’s noch bis in die 60er-Jahre rein gab […], war ja zwischen der katholischen und der evangelischen Kirche schon sehr, sehr schlimm und so. Die Evangelischen haben gesagt, die Katholen sind falsch und [lacht] so was. Das waren so Vorurteile und, und da gab’s also keine Verbindung.406

Während die meisten Angehörigen der Berliner Kirchenleitungen diese Konflikte öffentlich nicht kommentierten, gehörte Bischof Dibelius zu jenen Zeitgenossen, die sie noch befeuerten. Kurz nach dem Mauerbau erklärte er, dass die katholische Kirche in Deutschland nur unzureichend auf die gegenwärtige Situation eingehen könne, weil sie ihrem Selbstverständnis nach international und nicht wie die evangelischen Kirchen national agiere: „Wir [die evangelische Kirche] hatten eine Kirche. Gewiß, Katholiken hatten auch eine Kirche; für sie ist Deutschland nur ein Glied in einer weltumspannenden Organisation. Wir haben eine deutsche evange-

404 Interner DDR-Lagebericht Julius Döfpners 6.6.1958. DAB A 31/47. 405 Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 10. 406 Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 22.

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lische Kirche!“407 Dibelius suggerierte mit solchen Aussagen, dass die katholischen Bistümer einen anderen Einheitsbegriff hätten als die evangelischen Kirchen und sie die endgültige Teilung Berlins deshalb kaum so schmerzhaft empfinden könnten, wie die Protestanten. Dabei scheint auch ihm der Einblick in die Verhältnisse vor Ort gefehlt zu haben, denn der Luckenwalder A. R. führte weiter aus, dass die interkonfessionellen Spannungen – anders als von Dibelius dargestellt – seinem Empfinden nach in der DDR früher als in der Bundesrepublik überwunden worden waren: Im Osten sei es Katholiken und Protestanten gelungen, einen gemeinsamen Gegner zu entwickeln: den Staat.408 Diese Feindschaft habe das Verhältnis zwischen den Konfessionen deutlich entspannt.409 Nichtsdestotrotz fiel es vielen Kirchenmitgliedern zunächst schwer, die diversen interkonfessionellen wie innerkirchlichen Lager zu überblicken, Konflikte mit staatlichen Stellen einordnen und Feindbilder zuordnen zu können. Auch Pfarrer hatten Probleme, einzelne Vorkommnisse zu bewerten und sich zu positionieren. Hinzu kam das generelle Misstrauen gegenüber staatlichen, aber auch kirchlichen Obrigkeiten, das viele Geistliche seit der Zeit des Nationalsozialismus prägte.410 Kirchenleitungen, die bestimmte Feindbilder stärken und andere vergessen machen wollten, mussten Voraussetzungen dafür schaffen, dass verunsicherte Kirchenmitglieder in ihrem Sinne zu differenzieren lernten. Ein anonymer Absender aus Brandenburg an der Havel wies den Berliner Domkapitular Buchholz bereits 1946 auf die Notwendigkeit hin, dass die Kirchenleitung entsprechende Bildungsangebote bereitstellen müsse. Er schlug vor, beim Klerus anzusetzen: Ich selbst halte es für wünschenswert, wenn durch Vorträge die Einstellung der Geistlichen auf die Erfordernisse der Zeit erleichtert würde. […] Es kommt doch leicht sonst ein gewisses Gefühl der Führungslosigkeit auf zumal bei manchen Diaspora Seelsorgern, die nicht so leicht wie die Berliner mit den andern Verbindung halten können; und diese Gefahr ist heu-

407 Dieblius: Reden, S. 12. 408 Die Katholikin E. F. aus West-Berlin sah in der Konzentration auf diesen gemeinsamen Feind außerdem den Grund dafür, warum katholische Gemeinden in Ost-Berlin und in der DDR sehr viel traditionsbewusster, ja konservativer geblieben waren als jene im Westen: „Das war eigentlich auch logisch, weil im Osten hat, hatte man – ich will’s jetzt nicht übertreiben – aber, nen gemeinsamen Feind. Und dann bleibt man natürlich in seinen Traditionen und im Gegenteil man verstärkt die dann noch. Während man im Westen natürlich neue Wege suchte, damit auch moderne Menschen sich kirchlich engagieren konnten, ne.“ Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 7. 409 Zudem ist hier die konfessionsübergreifende Konsumkritik als typisches Feindbild zu nennen. Dieser Punkt wird im sechsten Teil der Arbeit über die Jahre seit 1989 wieder aufgegriffen. 410 Vgl. Pollack, Detlef: Die politische und soziale Rolle der evangelischen Kirchen in der DDR aus sozialwissenschaftlicher Sicht, in: Dähn, Horst/Heise, Joachim (Hrsg.): Staat und Kirchen in der DDR. Zum Stand der zeithistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschung, Frankfurt u. a. 2003, S. 79.

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te grösser als vordem, weil sie doch keine Zeitschriften bekommen können, die Anregung und Aufklärung geben.411

Quellen wie diese stellen in Frage, ob Richtlinien wie der sogenannte Preysing-Erlass vor Ort überhaupt ankamen und umgesetzt wurden.412 Denn sich politisch neutral zu verhalten, gestaltete sich in der Praxis offenbar schwieriger als gedacht.413 Tatsächlich positionierten sich Kirchenmitglieder – weder im Westen noch im Osten – politisch eindeutig: In der Bundesrepublik gehörten sie unterschiedlichen Parteien an. In der DDR waren sie Mitglieder verschiedener staatlicher Massenorganisationen. Es gab Katholiken, die ihre Kinder ganz bewusst, zur FDJ schickten, und Protestanten, die entschieden in den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) eintraten.414 Nicht alle Christen lehnten die Politik der SED ab, nicht alle befürworteten die Entwicklungen in der Bundesrepublik. Gerade aus der Perspektive dieser Kirchenmitglieder war nicht immer nachvollziehbar, warum die SED sie zu ihren Feinden erklärt hatte: Sie sahen die Feindschaft zwischen Christen und Kommunisten weder in ihrem religiösen Bekenntnis begründet, noch verstanden sie sich als Antikommunisten. Oft handelte es sich um Kirchenmitglieder aus der DDR, die ihrem Selbstverständnis nach keine christlichen Widerstandskämpfer im Sinne der Kirchenleitung waren, sondern Protestanten oder Katholiken, denen der gesellschaftliche Anschluss verwehrt bleiben sollte: Selbstverständlich hat die, die Kirchengemeinde immer eine gewisse Opposition zum Staat gebildet. Das ging aber mehr oder weniger, dass man, ähm, die Kirche als Feind gesehen hat. Das konnten wir eigentlich nie verstehen, weil ja viele Dinge, die, die grade sozial angelegt waren, von den [sic] Staat hat ja auch die Kirche und wir ham das also befürwortet sogar. […] Wir wurden als Feinde angesehen und das konnten wir eigentlich nie so richtig ver-

411 Aus Brandenburg an der Havel an den Domkapitular Buchholz 16.2.1946. LA B Rep 002/4614– 4615. 412 Zum Preysing-Erlass vgl. Höllen: Loyale Distanz?, Band 1, S. 151–152. 413 Bemerkenswert ist, dass viele Kirchenmitglieder diesen Aspekt heute anders erinnern und die Zeitgenossen sehr viel entschiedener, oft widerständiger darstellen, als die Primärquellen es nahelegen. „Die Mehrzahl der katholischen Gemeindemitglieder hielt nichts von der DDR. Das war,… man kann, also ich, wenn ich jetzt rotzfrech sage 90 Prozent der katholischen Christen der DDR waren Antikommunisten. Das wird man sagen können. Oder 80 Prozent. Ich, ich auch. Ich hab mich immer als einen linken Antikommunisten definiert. […] Wenn man katholischer Christ ist, ist man nicht Kommunist, ist man nicht Anhänger dieses SED-Staates. Das war absolut eindeutig. Und die vergleichbare Eindeutigkeit gab’s in Teilen der evangelischen Kirche nicht – sag ich in aller Vorsicht.“ Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 11. 414 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 22. Siehe auch: Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 1–2. Außerdem: Winter: Auf dem Weg, S. 140.

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stehen, dass wir zum Außenseiter gemacht worden sind, dass obwohl wir uns gar nicht so verstanden haben.415

Heute wissen wir, dass kirchliche wie staatliche Akteure Feindbilder bewusst konstruierten und zum Einsatz brachten. Den Zeitgenossen aber war es selten möglich, diese Vogelperspektive einzunehmen: Die einen sahen sich in der Position des Deutungsmächtigen, die anderen in der Situation des Fremdbestimmten und Unverstandenen. Der eine kreierte etwas, dem anderen wiederfuhr etwas. Solche Machtgefälle veränderten die Ausgangssituation der Betroffenen und nahmen Einfluss auf ihr Handeln. Dementsprechend unterschiedlich reagierten auch Kirchenmitglieder auf Angriffe von außen: offensiv oder defensiv, aggressiv oder dialogoffen. Dabei „ging es für [alle Akteure] unter den politischen Bedingungen der Diktatur auch darum, ihre fremdbestimmte Existenz mit Sinn zu erfüllen, einem ‚Sinn für sich selbst‘.“416 Verkompliziert wurde diese Sinnsuche durch die Umstrittenheit der Begriffe. Frieden, Demokratie oder eben Antifaschismus propagierten kirchliche wie politische Akteure, um sich von ihren Gegnern abzugrenzen. Gerade für Laien war es deshalb nicht einfach, zwischen den Zeilen zu lesen und die Unterschiede im Kampf um ein und dasselbe Wort auszumachen. Die Leitung des katholischen Bistums in Berlin bemühte sich darum, Missverständnissen vorzubeugen: Die kommunistische Agitation verwendet das Wort überlegt und zielstrebig, um die Menschen zu täuschen und irrezuführen. Das geschieht auf vielerlei Weise. Worte wie „Frieden“ und „Demokratie“ erhalten einen völlig anderen Sinn […], als sie ihn ursprünglich haben. […] Wieder andere Worte zeigen politische Ziele auf und sollen zugleich helfen, die psychologische Bereitschaft zu wecken, damit diese Ziele erreicht werden können. Wer also den Tricks der kommunistischen Propaganda nicht erliegen will, muß immer wieder die Worte auf ihren wahren Gehalt überprüfen. Einen Zufall gibt es nicht; denn die Kommunisten formulieren überlegt.417

Anlass für diesen Kommentar im West-Berliner Petrusblatt war, dass die Ost-Berliner Presse den amtierenden Bischof Döpfner mehrmals als „Westberliner“ Bischof bezeichnet und damit eine Trennung der Berliner Diözese angedeutet hatte.418 Das Petrusblatt meinte daher klarstellen zu müssen:

415 Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 18. 416 Lindenberger, Thomas: Eigen-Sinn, Herrschaft und kein Widerstand, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte 02.09.2014, http://docupedia.de/zg/lindenberger_eigensinn_v1_de_2014 DOI: http://dx.doi.org/10.14765/ zzf.dok. 2.595.v1 [5.10.2018]. 417 Unsere Meinung, in: Petrusblatt 30.7.1961, S. 3. 418 Vgl. Das „Petrus-Blatt“ und Judenmörder Globke, in: Neues Deutschland 3.6.1961, S. 2. Siehe auch: Was hindert uns Deutsche denn…, in: Neue Zeit 19.7.1961, S. 3.

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Es wäre naiv anzunehmen, daß mit der Bezeichnung „Westberliner“ ausgedrückt werden sollte, daß unser Bischof seinen Wohnsitz in Westberlin hat. Vielmehr greifen die kommunistischen Propagandisten mit dem Wort „Westberliner katholischer Bischof“ nach der Einheit unseres Bistums. Sie wissen ganz genau, daß es nur einen katholischen Bischof des Bistums Berlin gibt, dessen Diözese ganz Berlin und große Teile der brandenburgischen und pommerschen Diaspora umfaßt. […] Wenn die Kommunisten glauben, mit durchsichtigen Propagandatricks und Polizeimaßnahmen unsere Einheit zerstören zu können, dann sind sie auf dem Holzweg. Sie erreichen nur das Gegenteil.419

Mit dieser Gegendarstellung war der Schlagabtausch zwischen der West-Berliner Kirchenpresse und den Ost-Berliner Zeitungen nicht beendet. Ganz im Gegenteil. Die Zahl der diffamierenden Artikel nahm in der DDR-Presse weiter zu. 420 Gleichzeitig bemühte sich das Petrusblatt eifrig darum, jede gegen das Bistum gerichtete Anschuldigung schnellstmöglich zu widerlegen und auf die Gegensätzlichkeit von Christentum und Kommunismus hinzuweisen.421 Der Ton zwischen der katholischen Kirchenleitung in West-Berlin und den ostdeutschen Medien verschärfte sich Anfang der 1960er-Jahre deutlich.422 Anders als von den Autoren erhofft, belastete dieser Konfrontationskurs die Einheit der Diözese spürbar, weshalb das Petrusblatt parallel dazu die eigenen Kirchenmitglieder immer wieder daran erinnerte, sich geschlossen gegen den Kommunismus – die Begriffe SED-Funktionär und Kommunist wurden in diesen Jahren de facto synonym verwendet – zu stellen: Aber sie können nicht den Geist der Solidarität töten. […] Die Kommunisten sollen sich nicht darüber täuschen, daß, je tiefer sie den Keil zwischen die Christen in Ost und West treiben, um so inniger und verantwortungsvoller die geistige und geistliche Verbundenheit der Christen in beiden Teilen Deutschlands wachsen wird.423

419 Unsere Meinung, in: Petrusblatt 30.7.1961, S. 3. 420 Das Petrusblatt wurde in der Ostpresse so gut wie ignoriert. Die Volltextsuche ergibt, dass 1961 insgesamt zehn Artikel in den Zeitungen Neues Deutschland und Neue Zeit erschienen, die das Petrusblatt explizit erwähnten. 1962 waren es sogar insgesamt 15 Artikel, die Bezug auf die katholische Wochenzeitung West-Berlins nahmen. Demgegenüber war das Blatt 1959 nur fünfmal und 1960 nur siebenmal, 1963 nur 4 und 1964/65 nur jeweils sechsmal genannt worden. Danach spielte es in der ostdeutschen Presse de facto gar keine Rolle mehr. Vgl. http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/index.php?id=suchergebnisse [4.10.2018]. Vgl. Unnötige Eidsorgen, in: Neues Deutschland 7.2.1962, S. 2. Siehe auch: Geschmacklosigkeiten, in: Neue Zeit 16.3.1962, S. 4. Oder: Wenn Dich die Feinde loben, in: Neue Zeit 8.4.1962, S. 8. 421 Vgl. Unsere Meinung, in: Petrusblatt 6.8.1961, S. 3. Siehe auch: Kirche in der Zeit, in: Petrusblatt 6.1.1963, S. 3. Unterstützung fand die Zeitung über die Bistumsgrenzen hinaus. Der Osservatore Romano, die Tageszeitung des Vatikans, warnte ebenfalls davor, den Kommunismus zu unterschätzen. Vgl. Haltung unverändert, in: Petrusblatt 19.5.1963, S. 5. 422 Vgl. Ein vorgestriger Standpunkt, in: Petrusblatt 28.1.1968, S. 3. 423 Verbundenheit wird wachsen, in: Petrusblatt 20.10.1968, S. 3.

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Auszüge wie dieser lassen sich durchaus als Wunschtraum lesen. Die katholischen Redakteure wussten, dass die Konfliktlinien in den 1960er-Jahren längst über die ideologischen Grabenkämpfe hinausgingen. Es handelte sich nicht mehr allein um einen Kampf der Christen gegen die Kommunisten, außerdem waren Ost- und West-Berliner Kirchenmitglieder in Konkurrenz zueinander geraten. Die Berliner Kirchenleitungen mussten diese Differenzen ebenfalls überbrücken und erkannten bald, dass sich die Kluft im Alltag der Berliner Gläubigen auch mit markigen Parolen nicht länger negieren ließ: Denn es war ein Unterschied, ob man selbst betroffen oder nur Beobachter und Kritiker einer kirchenfeindlichen Umgebung war. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum Kirchenobere wie Bischof Dibelius oder Bischof Döpfner mit ihrem Anti-DDR-Kurs innerkirchlich in die Kritik gerieten. Vor allem kirchliche Laien und der Bruderrat der EKD beanstandeten, dass die Seelsorge unter den dauernden Kampfansagen litt.424 Die Berliner Kirchenleitungen seien so sehr damit beschäftigt, ihren Kampf gegen die DDR-Regierung fortzusetzen, dass sie die eigenen Leute zu vergessen drohten, lautete ein oft wiederholter Vorwurf. Ferdinand Grieb aus Berlin-Neukölln unterstellte der Kirchenleitung, dass sie den Wiederaufbau der Hedwigs-Kathedrale in Ost-Berlin nur vorantrieb, um ihre Widerstandskraft zu demonstrieren, nicht aber, um einen Ort für die Gläubigen zu schaffen. Über die noch im Bau befindliche Kirche schrieb Grieb regelrecht erbost: Es galt offenbar nicht, eine Kirche zu bauen, sonst wäre sie längst errichtet und fertig. Es mußte eine Oberkirche sein und es mußte eine Unterkirche sein und es mußte eine Sakramentskirche sein und es mußte das größte Kupferkuppeldach der Welt sein und es mußte noch vieles sein, was reiner Wahnsinn und grenzenloser Anspruch ist und mit der Seelsorge nichts zu tun hat.425

In ähnlicher Weise bekam Bischof Dibelius Gegenwind aus den eigenen Reihen zu spüren. Er erinnerte sich: „Ein neuer Kirchenkampf war über uns gekommen. Nur mußte man diesmal das Wort ‚Kampf‘ in Anführungsstriche setzen. Die Gegner aus unseren eigenen Reihen behaupteten, wie verträten eine ‚Kreuzzugsideologie‘. Aber das war ein albernes Schlagwort – nichts weiter.“426 Einige Laien waren zudem der Ansicht, dass der Antikommunismus, wie ihn Dibelius und Döpfner vertraten, insofern begrenzt war, als er auf die Vergangenheit und Gegenwart fixiert war, ohne eine „Zukunftsperspektive zu versprechen“, 424 Vgl. Bezeugen Sie uns die christliche Freiheit, Herr Bischof! Offener Brief an Bischof Dibelius, in: Die Stimme der Gemeinde 15.1.1959, S. 39. 425 Ferdinand Grieb an das Bischöfliche Ordinariat Berlin und das katholische Pfarramt St. Clara 23.1.1961. DAB I/14–6-1. 426 Dibelius: Ein Christ, S. 243.

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ohne einen Erwartungshorizont aufzuspannen.427 Nach zwölf Jahren deutscher Teilung fragten sich viele Kirchenmitglieder, wohin dieser Kampf zwischen Religion und Ideologie eigentlich führen sollte. Kirchenintern ist deshalb zwischen mindestens zwei Lagern zu unterscheiden: Es gab die Hardliner, die wie Döpfner oder Dibelius forderten, keine Kompromisse mit der DDR-Regierung einzugehen, und es gab gemäßigtere Kreise, die wie der Berliner Propst Heinrich Grüber – prominentes Mitglied der Bekennenden Kirche – für Verhandlungen mit den Machthabern in Pankow eintraten:428 „Besonders von BK-Vertretern […] wurde ein Kampf der Ideologien zwischen Christentum und Marxismus auf Kosten des Volkes abgelehnt und stattdessen eine Kirche proklamiert, die ihre geistliche Aufgabe unter gewisser Unabhängigkeit von den jeweils (in Ost und West) herrschenden politischen Systemen wahrnimmt,“ fasste es der Theologe Seidel Anfang der 1980er-Jahre zusammen.429 Zeitgenossen wie Max Geiger kritisierten am Kurs der Hardliner außerdem, dass „die Kirche den Erwartungen des Staates durchaus entgegenkommt, wenn sie sich als das formiert, was sie der Theorie nach sein muß: eine Gruppe von Zurückgebliebenen und Staatsfeinden.“ 430 Auch einige evangelische Pfarrer aus Brandenburg warnten die Kirchenleitung vor einem massiven Glaubwürdigkeitsverlust. Anlass ihrer Mahnung war der schon erwähnte Abschluss des Militärseelsorgevertrages, den der Berliner Bischof Dibelius als Ratsvorsitzender der EKD 1957 unterzeichnet hatte. Die evangelische Kirchenleitung betreibe Rufschädigung am eigenen Namen, wenn sie sich für die Militärseelsorge anstatt für den Frieden einsetze, erklärten die besorgten Pfarrer.431 Sie konnten das Handeln ihres Bischofs weder gutheißen, noch überhaupt nachvollziehen. Auf Dauer waren die oftmals stark emotional aufgeladenen Konflikte für die Kirchen nicht auszuhalten. Die Kirchenleitungen hatten versucht, die ideologischen Grabenkämpfe zu nutzen, um die Verbundenheit und Einheit der Kirchen über die Systemgrenzen hinweg sicherzustellen. Doch das erhoffte Ergebnis war ausgeblieben. Spätestens in den 1960er-Jahren begannen vor allem Laienmitglieder und Gemeindepfarrer, sich für pragmatische Ansätze einzusetzen.432 Neben 427 Kleßmann: Zwei Staaten, eine Nation, S. 398. 428 Grußwort zum 120. Geburtstag von Propst Heinrich Grüber an seinem Grab 2011. ELAB 684. 429 Seidel: Neubeginn, S. 112. 430 Geiger: Christsein, S. 27. 431 Vgl. Schorlemmer: „Ririch Pasterjung“, S. 83. Vgl. Glaubwürdigkeit der Kirche in Gefahr, in: Neue Zeit 3.3.1957, S. 2. Vgl. USA-Flugzeug warf Kartoffelkäfer ab, in: Neues Deutschland 26.5.1950, S. 1. Siehe auch: Käfer, in: Der SPIEGEL 1.6.1950, S. 4. 432 Der in der DDR tätige Pfarrer Dietmar Linke schilderte seine Dialogerfahrungen: „Damals im Herbst 1971 hatten wir begonnen: An der Basis wollte ich ausprobieren, wie die Zusammenarbeit zwischen Christen und Marxisten aussehen könnte. Rückblickend auf diese Jahre, mußte ich sa-

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den kirchen- und weltpolitischen Entwicklungen dieser Jahre war der Generationswechsel in den Laiengremien entscheidend für diesen Wandel.433 Dazu gehörte auch, dass die von den Kirchenleitungen bis dato immer wieder in Frage gestellte Zweistaatenlösung nicht mehr nur als eine von mehreren Möglichkeiten verhandelt wurde, sondern Realität geworden war. Wie weite Teile der beiden deutschen Gesellschaften nahmen das die Mitglieder in den Kirchengemeinden ebenfalls wahr: Die alten Feindbilder funktionierten nicht mehr. Das große Narrativ wurde im Zuge dessen allerdings nicht über Bord geworfen. Auch jüngere Generationen knüpften kontinuierlich an die bekannte Rhetorik an und adaptierten deren Motive: An der Kirchenbasis lehnte man sich nun nicht mehr nur gegen kirchenfeindliche Ideologien auf, sondern oftmals gegen die eigenen Kirchenleitungen. Die Selbstverbrennung des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz am 18. August 1976 im sachsen-anhaltinischen Zeitz ist ein drastisches Beispiel dafür.434 Seinen Tod stellten vor allem westdeutsche Medien als Widerstand gegen die Staatsgewalt in der DDR und darüber hinaus als Protest gegen die evangelischen Kirchenleitungen dar. Letzteren warf unter anderem der SPIEGEL Versagen im Umgang mit der SED-Führung vor: „Die Kirche“, so deutete die Redaktion Brüsewitz’ Motive, „habe ihn bei seinem Kampf gegen die Verderber im Stich gelassen, sie wolle sich mit den Behörden arrangieren.“435 Diese Darstellung schien der Argumentation Brüsewitz’ teilweise zu entsprechen. In einem Abschiedsbrief an Gemeindeangehörige hatte er geschrieben: „Obwohl der scheinbar tiefe Friede, der auch in die Christenheit eingedrungen ist, zukunftsversprechend ist, tobt zwischen Licht u. Finsternis ein mächtiger Krieg.“436

Historisierung der Vergangenheit: Erinnern mit Abstand Im Verlauf der 1970er-Jahre fand das Motiv Kirche im Widerstand seine Fortsetzung in Formulierungen wie Kirche in der Opposition oder Kirche im Dialog.437 Die vorherigen Kämpfe wurden zu Meinungsverschiedenheiten erklärt, die ausdiskugen, daß ich wenige Marxisten getroffen hatte, dafür viele Dogmatiker und Pragmatiker.“ Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 132. Vgl. Unterschiede in Ost und West, in: Petrusblatt 13.10.1968, S. 3. 433 Neben dem Bau der Berliner Mauer am 13.8.1961 ist hier unter anderem das Zweite Vatikanische Konzil zu nennen, welches von 1962 bis 1965 stattfand. 434 Vgl. Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 26. 435 Diktatur der Pädagogen, in: Der SPIEGEL 30.8.1976, S. 36. 436 Abschiedsbrief an die Schwestern und Brüder des Kirchenkreises Zeitz. BStU, MfS, BV Halle, AP, 2950/76, https://www.stasi-mediathek.de/fileadmin/pdf/dok575.pdf [16.10.2017]. 437 Vgl. Bericht über den Kirchentag, in: Potsdamer Kirche 5.7.1987, S. 1–2.

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tiert werden konnten. Dissens führte nicht mehr zwangsläufig zum Konflikt. Als Widersacher wurden diejenigen dargestellt, die nicht kommunizieren wollten und nicht diejenigen, die anderer Meinung waren. Dieser grundlegende Wandel der kirchlichen Kommunikationskultur bezog sich nicht nur auf den Umgang der Kirchen mit Institutionen in der DDR, sondern umfasste viele andere Akteure, Handlungsfelder und Themenbereiche. Die Eingabe einer Frau aus Berlin-Schöneberg auf der Regionalsynode West der EKiBB im Dezember 1969 ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Die Frau setzte sich, wie andere Kirchenvertreter in dieser Zeit auch, für die Freilassung des in Berlin-Spandau inhaftierten Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß ein und forderte die Berliner Kirche auf, sie zu unterstützen.438 Die Antragsstellerin war offenbar der Ansicht, dass eine Kirche, die ihre Feindschaft gegenüber den Kommunisten überwinden konnte, ihre offizielle Einstellung gegenüber Faschisten ebenfalls ändern müsse. Eingaben wie diese zeugen somit einerseits davon, wie lange nationalsozialistische Denkweisen überdauerten, andererseits waren sie Nebeneffekte der neuen Dialogkultur, die von den Kirchenleitungen so nicht intendiert gewesen waren. Der Versuch sie einzuhegen, ging mit neuen Herausforderungen für die Kirchen in Ost und West einher. Eine entscheidende Voraussetzung für diesen Übergang stellte die von der sogenannten 68er-Generation maßgeblich angestoßene Vergangenheitspolitik dar, die in den 1970er- und 1980er-Jahren als pädagogisches Moment Eingang in innerkirchliche Debatten fand. Entsprechende Sektionen auf Kirchentagen in der Bundesrepublik zeugen davon genauso, wie Seminare zur Geschichte des Holocaust in der DDR. Bei diesen Veranstaltungen erfolgte eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus, die neben den christlichen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern sowie Opfern religiöser Verfolgung erstmals auch andere Akteursgruppen stärker einbezog. Nicht nur das Verhalten der Kirchen in den Jahren zwischen 1933 und 1945 wurde dabei differenzierter betrachtet, sondern es begann zudem ein Reflektieren über kirchliches Handeln in der Nachkriegszeit.439 Zugleich veränderten sich die verhandelten Themen und symbolischen Orte. Kirchliches Gedenken wurde nun selbst in der DDR an staatlich geprägten Gedenkorten geduldet beziehungsweise initiiert.440 Auch das Geschichtsverständnis in 438 Tagung der Regionalsynode West der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg in der Zeit vom 8.-13.12.1969. MfS ZAIG 173. 439 Vgl. Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 3. Siehe auch: Seminar von Jugendmitarbeitern aus der DDR und der BRD, in: Die Kirche 25.5.1986, S. 2. 440 „Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe der evangelischen Bekenntnisgemeinde in BerlinTreptow legt Kranz in der Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen nieder.“ Homosexuelle Opfer geehrt, in: Potsdamer Kirche 9.11.1986, S. 5.

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West-Berlin wandelte sich, wie ein Blick auf die Erinnerung an Otto Dibelius zeigt. Der Versuch, die Dorfaue Alt-Tegel 1986 in Otto-Dibelius-Platz umzubenennen, scheiterte an der Reinickendorfer Bezirksverordnetenversammlung. 22 Abgeordnete stimmten für die Umbenennung, 22 dagegen. Nicht einmal die CDU-Fraktion im Bezirksparlament – insgesamt 24 Abgeordnete – war geschlossen bereit, den Vorschlag anzunehmen und einen Straßenzug nach dem umstrittenen Bischof zu benennen.441 Die evangelische Kirche in Berlin musste nun die Konsequenzen dafür tragen, dass sie es so lange vermieden hatte, Fragen nach Verantwortung und Schuld zu stellen. Kirchenleitende wie Dibelius hatten sich bemüht, einen Mantel des Schweigens über diese Themen auszubreiten. Sie wollten keine (Mit-)Schulddebatte führen und hatten deswegen auf Feindbilder wie den Kommunismus gesetzt, nicht zuletzt, um von sich selbst abzulenken. Erst als Zeitzeugen und Entscheidungsträger nicht mehr dieselben Personen waren, veränderte sich der Anspruch an ein kirchliches Geschichtsbewusstsein: „Es darf nicht sein, daß wir uns an Schuldfragen vorbeimogeln, uns Schuldbekenntnisse ersparen und die Absolution gleich selbst zusprechen, wie es nach 1945 weithin geschah,“ resümierte Dorothea Hallmann 1990 in der Potsdamer Kirche.442 Inwieweit ein solches Geschichtsverständnis auf den Umgang mit der jüngeren kirchlichen Vergangenheit tatsächlich übertragen werden konnte und diese geprägt hat, wird an späterer Stelle ausführlicher diskutiert.443 Hinsichtlich des Erstarkens und Verschwindens kirchlicher Feindbilder ist es in jedem Fall notwendig, zwischen der Kirchenleitungsebene und der Kirchenbasis, den verschiedenen Generationen und ihren Standorten zu unterscheiden. 444 Diese Tatsache ändert nichts daran, dass die Konstruktion und Existenz bestimmter Feindbilder von den christlichen Kirchen zumindest zeitweilig auf allen Ebenen von großer Bedeutung war. Doch stieß dieser Ansatz – Einheit durch Feindschaft – an seine praktischen Grenzen, weil es immer schwieriger wurde, konstruierte Feindbilder in den Alltag zu übertragen. Feindbilder übernahmen somit einerseits eine stabilisierende Funktion, weil sie zum Beispiel den Zusammenhalt einer Gemeinschaft durch Abgrenzung nach außen stärkten. Andererseits konnten sie destabilisierend wirken, wenn sie zu starr waren und den hybriden Identitäten der handelnden Akteure nicht länger entsprachen.

441 Vgl. Keine Mehrheit für Otto-Dibelius-Platz, in: Die Kirche 27.7.1986, S. 1. 442 Leserinnenbrief von Dorothea Hallmann, in: Potsdamer Kirche 7.1.1990, S. 6. 443 Vgl. Lepp, Claudia: Zwischen Konfrontation und Kooperation. Kirchen und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik (1950–1983), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), https://zeithistorische-forschungen.de/3-2010/4585 [2.6.2021]. 444 Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 238.

200  Kapitel 2: Verflechtung

Die in den christlichen Kirchen am stärksten ausgeprägten Feindbilder bezogen sich auf den Faschismus und den Kommunismus. Beide wurden den großen Narrativen von Verfolgung und (Kirchen-)Kampf zugeordnet und durch katholische Märtyrer und evangelische Widerstandskämpfer verkörpert. Das Gedenken an die Opfer dieser Regime diente dazu, Feindbilder so lange wie möglich widerspruchsfrei zu reproduzieren. Dieses Moment erzeugte Identitätsangebote und war nicht bloß destruktiv – gegen etwas zu sein, bedeutete im Gegenzug für etwas zu sein. Die Feindbilder förderten somit gleichermaßen Integration (nach innen) und Isolation (nach außen) – Versöhnung und Konflikt. Sie reihten sich ein in längere Traditionslinien, zuweilen gänzlich entkoppelt von ihren historischen Bezügen.

2.5 Resümee Angesichts der politischen Entwicklungen seit 1945 drängt sich nicht die Frage auf, ob die Kirchen weiterhin geeint waren, sondern warum sie an der Einheit festhielten. Die Aufbruchsstimmung in den Jahren nach dem Krieg kann als ein wesentlicher Grund dafür gelten. Sie ergriff beide deutschen Gesellschaften und damit auch Kirchenmitglieder trotz ideologischer Differenzen und extremer Ungleichheiten. Die Menschen in Ost und West teilten das Gefühl für grundlegende Veränderungen. Dabei nahmen sie Ähnlichkeiten wahr, die rückblickend irritieren mögen: Die veränderte Zusammensetzung der Bevölkerung vielerorts oder der Wiederaufbau zerstörter Infrastrukturen sind Beispiele dafür. Hinzu kam: Die Kirchen standen dies- und jenseits der Mauer unter Reformdruck. Sie verloren als gesellschaftliche Instanz zunehmend an Gewicht, wenngleich sie in Westdeutschland von staatlichen Institutionen anders als im Osten viel Unterstützung erfuhren. Die Aktivitäten im Kirchenbau sind angesichts dessen nicht allein als Reaktion auf einen kriegsbedingten Raummangel zu lesen: Der Kirchenbau diente nicht nur dazu, neue Räume zu schaffen, sondern öffentlicher Raum wurde durch die Kirchen bewusst in Anspruch genommen. Derlei Entwicklungen legten weder eine kirchliche Trennung noch die endgültige Anerkennung der staatlichen Teilung nahe. Es stand außer Zweifel, dass auch die Kirchen pragmatisch handeln und Unterschiede machen mussten, um funktionsfähig zu bleiben – auch in der besonderen Gemeinschaft blieben Handlungsspielräume offen.445 Handlungen diesseits der Grenze/Mauer konnten das Leben der Menschen jenseits davon beeinflussen – im positiven wie im negativen Sinne: Die Kirchen profitierten von Wissenstransfers. 445 Vgl. Mergel: Die Sehnsucht nach Ähnlichkeit, S. 421.

2.5 Resümee



201

Umgekehrt brachten sie Wissensdefizite in Bedrängnis. Am Aufbau und der Entwicklung kirchlicher Medien im geteilten Berlin lässt sich das nachvollziehen: Kirchenzeitungen und Kirchenfunk sollten dazu dienen, die kirchliche Einheit aufrechtzuerhalten und zu fördern. Doch der Erfolg hielt sich in Grenzen. Die Bedeutung der Kirchenblätter wurde von den Kirchenleitungen zeitgenössisch überbewertet und erzielte nicht die gewünschten Effekte. Die Akteure mussten erst lernen, welche Ideen sich in die Praxis übertragen ließen und welche nicht. Missverständnisse führten tendenziell dazu, dass die Berichterstattung über den anderen Teil der Stadt abbrach, anstatt eine Auseinandersetzung anzuregen. Weite Teile der Kirchenbasis erwarteten von einer Kirchenzeitung offenbar keine politischen Kommentare, sondern Informationen über das kirchliche Leben in einer ihnen vertrauten Umgebung. Dieses Bedürfnis prägte andere Bereiche des kirchlichen Lebens ebenfalls nachhaltig. Im Gegensatz zu den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurde in den 1950erund 1960er-Jahren auch in den Berliner Kirchen bereits dezidiert zwischen Ost und West als Anderen unterschieden. Die besondere Gemeinschaft kam darin zum Ausdruck, dass die Ungleichheit der Partner quasi als gegeben vorausgesetzt wurde und die Kirchenmitglieder aufgefordert waren, mit dieser Situation umzugehen. Damit einher ging die Suche nach übergeordneten Identifikationsangeboten. Das Erleben gemeinsamer, grenzübergreifender Unternehmungen, das Erinnern an bestimmte Personen oder der Verweis auf gemeinsame Feindbilder sind hier als Beispiele zu nennen. Gleichzeitig verlangte die besondere Gemeinschaft, Unterschiede in der Praxis zuzulassen und auszuhalten. Hiermit verbunden war die Erkenntnis, dass Konfliktlinien nicht allein entlang des Eisernen Vorhangs verliefen und Streitthemen nicht nur von außen in die Kirchen getragen wurden, sondern interne, oft intergenerationelle Meinungsverschiedenheiten sowie Differenzen zwischen Kirchenbasis und Kirchenleitungen das kirchliche Leben ebenfalls beeinflussten. Voraussetzung dafür war aber in jedem Fall die gegenseitige Beobachtung, der Impuls, das Geschehen kommentieren zu wollen und die Bereitschaft, miteinander ins Gespräch zu kommen. Es lassen sich vielzählige und vor allem vielfältige Verflechtungen nachweisen. Dabei wurde das Verhältnis von Staat und Kirchen dies- und jenseits der Mauer einerseits andauernd diskutiert. Andererseits erwies sich Staatsbürgerschaft im kirchlichen Alltag oft als ein untergeordnetes Zugehörigkeitskriterium. Die Priorisierung kirchlicher Aufgaben sorgte zum Beispiel grenzübergreifend für Konflikte. Es fällt auf, dass strukturelle Veränderungen den Alltagspraktiken meist hinterherhinkten. Dieser Befund ist auch darauf zurückzuführen, dass sich Berlin seit Kriegsende zu einem zentralen Umschlagplatz für Informationen und Güter aus Ost und West und vor allem zu einem Fluchtpunkt für viele Menschen entwickelt hatte. Jede Grenzüberschreitung bedeutete freilich ein Risiko, das aber im Alltag

202  Kapitel 2: Verflechtung

nicht vordergründig sein musste: Der Aufenthalt am Arbeitsplatz oder der Besuch eines Gottesdienstes in einem anderen Sektor wurde in der Praxis nicht zwangsläufig als Ausnahme beschrieben, sondern konnte durchaus als Normalität verstanden werden. In den zeitgenössisch vielfach deklamierten Feindbildern verschmolzen innerkirchliche Konflikte und die Auseinandersetzungen mit Dritten. Drei Punkte waren in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Erstens: Die ideologische Verknüpfung von Antifaschismus und Antikommunismus sollte die Gegnerschaft der Kirchen zur DDR als Staat legitimieren. – Nicht intendiert waren Loyalitätskonflikte, denen sich Christen in der DDR ausgesetzt sahen, die in ihrer Existenz als Gemeindemitglied und Staatsbürger keinen Widerspruch erkannten. Zweitens: Mithilfe der Feindbilder sollten innerkirchliche Lagerbildungen überwunden werden, die gerade in der EKiBB im Gegensatz von Bekennender Kirche und Deutschen Christen zum Ausdruck gekommen waren. – Der Streit um Partizipationsrechte zwischen Kirchenleitung und Kirchenbasis ließ sich dadurch aber nicht vermeiden. Drittens: Kirchliche Feindbilder trugen vor allem in Ostdeutschland dazu bei, interkonfessionelle Spannungen zu entschärfen. Der Fokus auf einen gemeinsamen, atheistischen Feind in einer Zeit, die konfessionsübergreifend als zunehmend säkularisiert wahrgenommen wurde, überbrückte die Gräben zwischen evangelischen und katholischen Kirchenmitgliedern. – Dass ostdeutsche Christen infolgedessen dazu tendierten, sich mit Verweis auf die eigene Glaubensstärke und Opferbereitschaft von westdeutschen Kirchenmitgliedern zu distanzieren, war hingegen nicht beabsichtigt. Die Staatsgründungen 1949 änderten nichts daran, dass Zugehörigkeiten auch im innerkirchlichen Bereich selbst ständig neu verhandelt wurden. Drei grundlegende Probleme, die hier bislang nur als Nebeneffekte beschrieben wurden, deuten dabei bereits auf schwerwiegende Entfremdungsmomente zwischen ost- und westdeutschen Christen hin, die im Folgenden thematisiert werden.

Kapitel 3 Entfremdung: Auf Distanz zum Nächsten. Erosions- und Trennungstendenzen (1950er-1970er-Jahre) Diskrepanzen zwischen den Ansprüchen der Amtskirche und dem Alltag an der Kirchenbasis traten in Ost und West bereits vor dem Mauerbau offen zu Tage. Mit den sich wandelnden Lebenswirklichkeiten änderten sich auch kirchliche Praktiken. Politische Weichenstellungen nahmen Einfluss auf innerkirchliche Prozesse. Unmittelbar nach Kriegsende reagierten die Amtskirchen auf die Teilung Berlins und schufen entsprechende Parallelstrukturen, die der Aufrechterhaltung der Geschäftsfähigkeit dienen sollten. Schon hieran zeigt sich, nicht nur die Mauer trennte die beiden Teilkirchen voneinander. Vor dem 13. August 1961 war bereits eine emotionale Entfremdung zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt auszumachen. Wissensdefizite, Sprachbarrieren und Loyalitätskonflikte trugen dazu bei.

3.1 Organisatorische Trennungen: pragmatische Ansätze und die Einführung von Parallelstrukturen Die Trennungsgeschichte der christlichen Kirchen in Berlin begann nicht erst mit den beiden deutschen Staatsgründungen 1949. Bereits das Ende des Zweiten Weltkriegs ging sowohl für das Bistum Berlin als auch für die seit 1922 zur Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union gehörende Kirchenprovinz Mark Brandenburg mit einschneidenden Gebietsveränderungen einher. Bis dahin hatte sich das erst 1930 gegründete Bistum Berlin über Berlin und Brandenburg entlang der Ostseeküste bis ins nordöstliche Pommern ausgedehnt. In Folge des Kriegs verlor die Diözese 1945 nahezu die Hälfte ihrer Fläche, da die Sprengel östlich der Oder fortan unter polnischer Verwaltung standen.1 In ähnlicher Weise veränderte sich das Kirchengebiet der Kirchenprovinz Mark Brandenburg. Bis 1945 erstreckte sich die Kirchenprovinz über Berlin, die sogenannte Kurmark und die Niederlausitz bis in die heute weitestgehend zu Polen gehörende Neumark. Bei Kriegsende verlor die evangelische Kirche diese Ge-

1 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 12 und S. 20. https://doi.org/10.1515/9783111026602-004

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Kapitel 3: Entfremdung

biete östlich der Oder-Neiße-Grenze, insgesamt 18 Kirchenkreise.2 Drei Jahre später, 1948, wurde das restliche Gebiet in Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg (EKiBB) umbenannt und erhielt eine eigene Grundordnung.3 Das Bistum Berlin und die EKiBB umfassten 1949 also sowohl West-Berliner und Ost-Berliner Territorien als auch Gebiete in der DDR. Ihre Territorien östlich der Oder hatten sie aber aufgeben müssen. Anders als die Grenzverschiebungen im Osten nahm die Aufteilung der Stadt Berlin in vier Sektoren und die Gründung der beiden deutschen Staaten auf die innerstädtischen Kirchengebiete jedoch zunächst kaum Einfluss. Denn wie schon dargelegt blieben Bistum und evangelische Landeskirche nach 1945 kirchenrechtlich ein zusammenhängendes Gebiet, das sich über die neu gezogenen Systemgrenzen hinweg erstreckte. Sektorengrenzen waren vorerst tatsächlich keine Kirchengrenzen: Der in West-Berlin amtierende evangelische Superintendent von Reinickendorf war zum Beispiel auch für Gemeinden im Bezirk Potsdam zuständig, während die Ost-Berliner Gnadengemeinde zur West-Berliner Superintendentur in Alt-Moabit gehörte oder die brandenburgische Gemeinde Schönefeld der Neuköllner Superintendentur in West-Berlin unterstand.4

Die Währungsreformen 1948 Die erste große Zäsur nach Kriegsende stellte für die Verwaltungen der Berliner Kirchen vielmehr die Währungsreform dar. Diese wurde am 21. Juni 1948 zunächst in den westlichen Besatzungszonen und damit einhergehend in drei der vier Sektoren Berlins durchgeführt. Die Entscheidung, die Reichsmark durch die Deutsche Mark zu ersetzen, basierte auf wirtschaftspolitischen Überlegungen: Die Alliierten versuchten die Inflation in Deutschland zu stoppen und gleichzeitig den Aufbau einer Marktwirtschaft zu fördern. Auch die Sowjetische Militäradministration hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Maßnahmen für eine Währungsreform in der SBZ angeordnet, konnte aber die entsprechenden Vorbereitungen nicht rechtzeitig abschließen.5 Da die Alliierten den sowjetischen Besatzungsbehörden bei der Währungsumstellung zuvorgekommen waren, drohte die Inflationsrate in Ost-Berlin 2 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 780. Siehe auch: Winter, Friedrich: Zeitgeschichtliche Forschung zur Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (1945–1990). Stand-Probleme-Wünsche, in: Dähn, Horst/Heise, Joachim (Hrsg.): Staat und Kirchen in der DDR. Zum Stand der zeithistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschung, Frankfurt u. a. 2003, S. 165. 3 Vgl. Winter: Auf dem Weg, S. 91–92. 4 Vgl. Halbrock: Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen, S. 110. 5 Vgl. Zierenberg, Malte: Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950, Göttingen 2008, S. 291–292.

3.1 Organisatorische Trennungen 

205

und der SBZ rasant zu steigen. Denn weil die Grenzen zwischen den Sektoren weiterhin geöffnet waren, versuchten Menschen aus den westlichen Besatzungszonen ihre noch vorhandenen Geldreserven in die SBZ und nach Ost-Berlin zu schmuggeln, um sie auf den dortigen Märkten umzusetzen. Das hatte zur Folge, dass die Geldmenge im Osten weiter zunahm und die Preise in die Höhe schossen. Die sowjetischen Besatzungsbehörden mussten also schnellstens aktiv werden, wollten sie diese Geldströme und die deswegen beschleunigte Entwertung der Reichsmark aufhalten. Zwar war eine Reform nach alliiertem Vorbild in den sowjetisch besetzten Gebieten ad hoc nicht möglich – es waren noch nicht einmal Banknoten gedruckt worden – dennoch kündigten die zuständigen Behörden neue Zahlungsmittel an: Die alten Reichsmarkscheine wurden kurzerhand in Mark umbenannt und mit entsprechenden Aufklebern gekennzeichnet. Erst einen Monat später im Juli 1948 kamen neu gedruckte Geldscheine in Umlauf. Fortan bekamen Beschäftigte, die in West-Berlin tätig waren, ihren Lohn in einer anderen Währung ausgezahlt als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Osten der Stadt.6 Für die Berliner Kirchen bildeten die Währungsumstellungen den Auftakt für eine weitreichende Umgestaltung ihrer Verwaltungen. Vor allem galt es, die Lohnauszahlung in unterschiedlichen Währungen zu organisieren. Schon bald verfügte das Konsistorium der EKiBB deshalb über eine Nebendienststelle im Ostteil der Stadt.7 Seit 1953 amtierte es nicht nur in der West-Berliner Jebensstraße, sondern unterhielt zudem Räumlichkeiten in der Ost-Berliner Neuen Grünstraße.8 Propst Winter schilderte, dass „viele Mitarbeiter [in den 1950er-Jahren] ‚an zwei Schreibtischen‘ arbeiteten.“9 Sie wechselten also ständig zwischen den beiden Büros im Ost- und Westteil der Stadt hin und her, da es zwar zwei Standorte gab, aber die Ämter in der Regel noch nicht doppelt besetzt waren.10 Doch nicht alle Aufgaben konnten grenzübergreifend von derselben Person wahrgenommen werden. Finanzielle Angelegenheiten durften im Osten nur von DDR-Bürgern geregelt werden. Die evangelische Landeskirche ernannte daher einen eigenen Verantwortlichen für die Finanzentscheidungen in Ost-Berlin und 6 „Nach dem Befehl 111 und der Verordnung der deutschen Wirtschaftskommission sind die Kirchen verpflichtet, die Löhne, Gehälter, Pensionen und Stipendien in unveränderter Höhe [im Verhältnis 1:1 nach Währungsumstellung] weiterzuzahlen.“ Dibelius, Währungsreform 23.6.1948. LA B Rep 002/4614–1615. 7 Wann genau diese Zweigstelle eröffnet hat, ist unklar. In der Literatur sowie in den Quellen werden die Jahre 1948/1949 (Winter) und 1951 (Lepp) genannt. Der Einzug des Konsistoriums (Ost) in die Neue Grünstraße erfolgte laut dem Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin 1953. 8 Vgl. Radatz: Auf der Insel, S. 14. 9 Winter: Auf dem Weg, S. 95. 10 „Die Mitglieder der Kirchenleitung und des Konsistoriums aus dem Ost- und dem Westbereich nahmen die Aufgaben der Leitung und Verwaltung für das ganze Kirchengebiet trotzdem wahr.“ Lepp: Tabu der Einheit?, S. 387.

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Kapitel 3: Entfremdung

der SBZ/DDR: Kurt Scharf. Als Mitglied der Kirchenleitung zog Scharf 1951 offiziell nach Ost-Berlin um und erhielt einen Personalausweis sowie einen Reisepass der DDR. Ab diesem Zeitpunkt war er offiziell legitimiert, das kirchliche Vermögen der EKiBB im Osten zu verwalten.11 Die zentrale Finanzverwaltung der EKiBB selbst blieb derweil in West-Berlin beheimatet, wo die kirchlichen Ein- und Ausgaben aber streng getrennt in DDR-Mark und D-Mark registriert wurden, um zu verhindern, dass die DDR-Behörden auf Westgelder zugreifen konnten. Somit war es der Finanzverwaltung nur möglich, die Geldströme aufzuzeichnen. Über Kassenanweisungen, die Geldmittel in Mark (der DDR) betrafen, konnte sie hingegen nicht bestimmen. Dafür war Scharf zuständig. 12 Dass sich an dieser Situation mittelfristig nichts ändern würde, zeichnete sich rasch ab. Die Kirchenleitung entschied deshalb, Scharf den Oberkonsistorialrat Erich Andler als zweiten Weisungsbefugten für Finanzen an die Seite zu stellen. So war es Scharf möglich, zwischen einer kleinen Wohnung, die er gemeinsam mit Andler in Ost-Berlin bewohnte, und der Familienwohnung in West-Berlin zu pendeln. Denn Scharfs Ehefrau lebte mit den gemeinsamen Kindern weiterhin im Westteil der Stadt. Bemühungen, Scharfs Familie in den Ostsektor nachzuholen, scheiterten an den DDR-Behörden. Die Familienmitglieder erhielten keine Zuzugsgenehmigung. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass der Zuzug kirchlicher beziehungsweise kirchennaher Personen in die DDR nicht weiter gefördert werden sollte.13 Rückblickend konstatierte Scharf 1977, dass es nicht die Lebensumstände gewesen seien, die ihn in Ost-Berlin belastet hätten, sondern der Gedanke daran, der Willkür der staatlichen Behörden ausgesetzt zu sein: Das Getrennt-Wohnen, die ständige Fahrerei hin und her, haben meine Frau und mich nicht allzu sehr beschwert; auch unsere Kinder nicht. Beklemmender war die fortdauernde innere Unruhe: Wir wußten nie, wenn wir uns abends trennten, ob wir uns am anderen Morgen würden wiedersehen können oder, wenn ich tagsüber auf einer Dienstreise war (gelegentlich in heikler Mission), ob ich dabei nicht verhaftet, verschleppt oder irgendwo zwangseingewiesen werden würde.14

Anders als die EKiBB hielt das katholische Bistum Berlin auch pro forma nicht an einer gemeinsamen Finanzverwaltung fest. Da die Besoldung der Mitarbeiter nicht mehr einheitlich geregelt werden konnte, veranlasste der Episkopat noch Ende

11 Vgl. Scharf: Brücken und Breschen, S. 105. Vgl. auch: Radatz: Auf der Insel, S. 19. 12 Vgl. Scharf: Brücken und Breschen, S. 105. Siehe auch: Ideologische Diversionsarbeit, in: Neue Zeit 16.1.1959, S. 3. 13 Vgl. Lepp: Wege in die DDR, S. 13 und S. 67. 14 Scharf: Brücken und Breschen, S. 106.

3.1 Organisatorische Trennungen 

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Juni 1948 die Teilung dieser Kirchenbehörde.15 Vier Jahre später, 1952 wurde die gesamte Vermögensverwaltung der Diözese entsprechend der Ost-West-Grenze neu geordnet.16 Die Währungsreform betraf aber nicht nur die Entlohnung kirchlicher Mitarbeiter, sondern nahm darüber hinaus Einfluss auf die Kirchensteuereinnahmen und das Kollektenwesen:17 Der Wert der Osteinnahmen verringerte sich im Vergleich zum West-Berliner Steueraufkommen empfindlich. Die sinkenden Einnahmen wirkten sich direkt auf die Arbeit der Kirchen in der SBZ/DDR aus. Der Berliner Generalsuperintendent Krummacher zog im November 1949 auf der westfälischen Synode in Bielefeld eine besorgniserregende Bilanz: „Das Kirchensteueraufkommen ist bereits 1945 auf die Hälfte gesunken und hat sich nach der Währungstrennung nochmals um ein Drittel vermindert.“18 Seither war die Existenz kirchlicher Kindergärten und Krankenhäuser im Osten permanent bedroht. Ebenso herrschte Unsicherheit in Bezug auf die Finanzierung kirchlicher Bauvorhaben oder Veranstaltungen.19 Die dauerhafte finanzielle Abhängigkeit der ostdeutschen Kirchen von denen in der Bundesrepublik war folglich schon in den Währungsreformen von 1948 angelegt.20 Der Berliner Weihbischof Wolfgang Weider kam angesichts dessen zu dem Schluss: „Der Osten lebte zum Teil vom Westen mit.“21 Das galt nicht nur für die katholische Kirche. Bereits 1948 waren die karitativen Einrichtungen der evangelischen Kirchen in Deutschland dazu aufgefordert worden, Freundeskreise zu bilden, die „durch Fürbitten und Gaben das Werk der Kirche aufrechtzuerhalten helfen.“22 Ein Jahr später, im Oktober 1949, schlugen die Finanzreferenten der evangelischen Landeskirchen in Deutschland einen eigenen Etat für die ostdeutschen Kirchen vor: „Im Hinblick auf die besonderen Bedürfnisse des Ostens und Berlins soll ein Notplan aufgestellt werden, der gleichmäßig die Zweige des allgemeinen kirchlichen Dienstes, des Unterrichts und der Liebestätigkeit berücksichtigt.“23 Nicht nur der Wert der Kirchensteuereinnahmen veränderte sich, auch die Art der Erhebung unterschied sich in Ost und West. Das stellte vor allem die Kir15 Vgl. Hanky: Im Zeichen des Kreuzes, S. 82. Siehe auch: Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 128–129. 16 Vgl. Kösters: Bischof Wilhelm Weskamm, S. 166. 17 Vgl. Bericht Galiläagemeinde 1948. ELAB 86/51. 18 Die Lage der Kirche in der Ostzone, in: Die Kirche 27.11.1949, S. 1. 19 Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 24. Siehe auch: Interview mit C. D., 24.4.2017, S. 5. 20 Vgl. Beten, geben, mittun, in: Die Kirche 11.7.1948, S. 1. Siehe auch: Zwei Jahre evangelische Akademie in Berlin, in: Berliner Sonntagsblatt, 21.2.1954, S. 1. 21 Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider, 3.4.2017, S. 18. 22 Kirchliches Tagebuch, in: Die Kirche 1.8.1948, S. 2. 23 Ein Notetat, in: Die Kirche 30.10.1949, S. 1.

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Kapitel 3: Entfremdung

chen im Osten vor neue Herausforderungen.24 Während mit Inkrafttreten des Grundgesetzes in der Bundesrepublik 1949 die Kirchensteuer weiterhin von den staatlichen Finanzämtern eingezogen wurde, waren die Kirchen in der DDR und in Ost-Berlin ab 1956 dazu angehalten, Kirchensteuern als freiwillige Abgaben, ähnlich einem privaten Vereinsbeitrag, selbst einzutreiben.25 Das bedeutete einen enormen personellen Aufwand und ging außerdem mit Einnahmeverlusten einher, weil die Erhebungen im Osten auf Selbsteinschätzungen der Gläubigen basierten und, so der evangelische Propst Winter, nahezu immer unter dem Sollbetrag lagen.26 Die Währungs- und Kirchensteuerreformen standen am Beginn einer Reihe weiterer organisatorischer Trennungen, die im kirchlichen Alltag trotz aller Einheitsbekundungen lange vor dem Mauerbau notwendig wurden. Die Kirchen waren dazu angehalten, institutionelle Strukturen zu schaffen, die jeweils nur für den Ost- beziehungsweise den Westteil des Kirchengebietes galten. Die symbolische Einheit der Kirchen ließ sich nur zum Mindestpreis organisatorischer Trennungen aufrechterhalten.

Verdopplung anstatt Trennung: Reaktionen des Bistums Berlin auf staatliche Grenzziehungen Dass das Bistum im Kalten Krieg staatskirchenrechtlich nicht getrennt wurde, stellt in der Regel den Ausgangspunkt jeder Erzählung über die Berliner Diözese dar. Der Mainzer Bischof Karl Lehmann konstatierte 1990: „Die Einheit des Bistums Berlin blieb über Jahrzehnte ein wichtiges Symbol dafür, daß sich die Kirche nicht von politischen Systemen zerteilen läßt, auch wenn sie schwer darunter leidet.“27 Tatsächlich unterstanden Ost- und West-Berlin in den Jahren der Teilung immer einem katholischen Bischof. Dieser residierte bis 1961 in West-Berlin. Nach dem Mauerbau verlegte der gerade erst konsekrierte Bischof Alfred Bengsch sei24 Einnahmen der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg im Vergleich (1973): Etat der Region West: 106 Millionen DM / Etat Ost-Berlin und Brandenburg: 10,5 Millionen Mark. Vgl. Geiger: Christsein, S. 10. 25 Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 52–53. Siehe auch: Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 49. Sowie Radatz: Auf der Insel, S. 27. 26 Vgl. Winter: Auf dem Weg, S. 196. 27 Zitat: Karl Lehmann, Bischof von Mainz. Streben nach Einheit, in: St. Hedwigsblatt 28. Januar 1990, S. 2. Martin Höllen hatte sich ein Jahr zuvor bereits in ähnlicher Weise über den Status und die Bedeutung des Bistums Berlins geäußert: „Das Bistum Berlin ist also auch nach der Verselbstständigung der Bischofskonferenzen [1976] die institutionell wichtigste Klammer für die katholische Kirche in den beiden Staaten in Deutschland geblieben.“ Höllen: Kirchenpolitische Probleme, S. 176.

3.1 Organisatorische Trennungen 

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nen Wohnsitz offiziell nach Ost-Berlin. Die DDR-Regierung gestand ihm zunächst drei und später zehn monatliche Besuchstage in West-Berlin zu, um sein Amt dort ebenfalls ausüben zu können.28 Es genügt jedoch nicht, nur einen Blick auf das Berliner Bischofsamt zu werfen, um die Geschichte der Diözese zu erzählen. Auf allen Ebenen darunter kam es zu Trennungen, wenngleich sich die katholische Kirche darauf verlegte, nicht von Trennung oder Teilung, sondern von einer Verdopplung der Strukturen zu sprechen.29 Neben der im vorangegangenen Kapitel bereits geschilderten Trennung im Bereich der Kirchenzeitungen betraf die Teilung unter anderem das bischöfliche Ordinariat, also die kirchliche Verwaltungsstelle, die Priesterausbildung, das Archivwesen und sogar den Domchor.30 Auch einzelne Ereignisse wurden auf Geheiß der Bistumsleitung nach dem 13. August 1961 zweifach begangen: Inthronisations-, Abschieds- oder Trauerfeierlichkeiten wurden in Ost- und in West-Berlin veranstaltet: Als der Berliner Weihbischof Paul Tkotsch 1963 nach langer Krankheit starb, fand zunächst ein Gottesdienst für den Verstorbenen in Ost-Berlin statt. Im Anschluss wurde der Sarg nach West-Berlin überführt, wo in der Reinickendorfer Kirche St. Rita eine Totenmesse verlesen wurde. Denn einfachen Kirchenmitgliedern aus West-Berlin war es nach dem Mauerbau nicht möglich, an Trauerfeierlichkeiten im Osten der Stadt teilzunehmen. Schließlich wurde Tkotsch auf dem St. Hedwig-Friedhof in Berlin-Reinickendorf beerdigt.31 Versuche, die staatliche Trennung durch eine Verdoppelung des Angebots quasi zu unterlaufen, missfielen der SED. Die staatlichen Behörden in der DDR setzten daher alles daran, diese Praxis zu unterbinden. Das führte beim Bischofswechsel 1961 zu einer geradezu absurden Amtsübergabe: Da der scheidende Kardinal Döpfner nicht nach Ost-Berlin reisen durfte, um sich dort persönlich zu verabschieden, wurde seine Abschiedspredigt nur verlesen. Zudem konnte Bengsch, der ja in Ost-Berlin ansässig war, die päpstliche Ernennungsurkunde nicht selbst in Rom in Empfang nehmen. Am 19. August 1961 übernahm deshalb sein Vorgänger Döpfner die Urkunde. Bengsch hatte ihn zuvor zu seinem Prokurator ernannt.32 Erst einen Monat später wurde Bengsch in Berlin offiziell eingeführt: Am 19. September 1961 fand zunächst ein Festgottesdienst in der Ost-Berliner Corpus-ChristiKirche (Prenzlauer Berg) statt. Zwei Tage danach, am 21. September 1961, ergriff

28 Vgl. ebenda, S. 165. Siehe auch: Bengsch: Kirche zwischen Elbe und Oder, S. 149–150. 29 Vgl. Jung: Ungteilt im geteilten Berlin?, S. 93 und S. 134–135. 30 Vgl. Höllen: Kirchenpolitische Probleme, S. 151. 31 Pruß, Ursula: Weihbischof Paul Tkotsch (1895–1963), in: Höhle, Michael (Hrsg.): 75 Jahre Bistum Berlin. 20 Persönlichkeiten, in: Wichmann-Jahrbuch des Diözesangeschichtsvereins Berlin 8 (2004/2005), S. 156. 32 Vgl. Ungewöhnliche Besitzergreifung, in: Petrusblatt 27.8.1961, S. 2.

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Kapitel 3: Entfremdung

Bengsch in der St. Matthias-Kirche in West-Berlin feierlich Besitz von seinem Bistum.33 Die beiden Veranstaltungen richtete die Kirchenleitung bewusst unterschiedlich aus. Während in Ost-Berlin Vertreter aus Politik und Gesellschaft zu den Inthronisationsfeierlichkeiten eingeladen wurden, verzichtete man in West-Berlin auf die Einladung von Personen des öffentlichen Lebens sowie Medienvertretern. Die Bistumsleitung tat alles, um die zuvor von den Behörden in der DDR erlassene temporäre Ausreisegenehmigung für Bengsch nicht zu gefährden und war deshalb auch dazu bereit, die West-Berliner Öffentlichkeit zurückzuweisen. „All dies nahm der Westen empfindlich beleidigt zur Kenntnis“ fasst Ruth Jung die Reaktionen der West-Berliner Katholiken zusammen.34 Diese Verstimmungen liefern einen ersten Hinweis darauf, warum der Episkopat sich darauf verlegte, von Verdopplung anstatt von Verselbstständigung oder gar der Trennung einzelner Institutionen zu sprechen. Weder in Ost- noch in West-Berlin sollten Kirchenmitglieder in dem Gefühl bestärkt werden, durch eine irgendwie geartete Aufteilung oder Aufspaltung diözesaner Strukturen benachteiligt zu werden. Es genügte somit nicht, dass der Bischof als Repräsentant des geeinten Bistums auftrat. Entscheidend war vielmehr, dass er die eigenen Mitglieder von der Notwendigkeit dieser Einheit überzeugen konnte. Der Episkopat musste beweisen, dass er auch praktische Probleme, die den kirchlichen Alltag betrafen, trotz der Systemgrenze lösen konnte. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung unternahm Bischof Weskamm bereits zu Beginn der 1950er-Jahre. Während im West-Berliner Charlottenburg ein Neubau des Bischöflichen Ordinariats errichtet wurde, ordnete er die Einrichtung einer „Oststelle“ oder „Nebenstelle“ der Bistumsverwaltung neben der noch zerstörten Hedwigs-Kathedrale in Ost-Berlin an, um die Geschäftsfähigkeit der Diözese auch im Fall einer drohenden Grenzschließung weiter garantieren zu können.35 Folglich „firmierte das Bischöfliche Ordinariat ab 1953 unter zwei Anschriften“ – einer in Ost- und einer in West-Berlin.36 Eine große Herausforderung stellte für das Bistum außerdem die Priesterausbildung dar. Ab 1951 erhielten Geistliche, die in der Bundesrepublik ausgebildet worden waren, keine Zuzugsgenehmigung mehr für Diözesangebiete, die sich in

33 Vgl. Bengsch: Kirche zwischen Elbe und Oder, S. 149. Wenig überraschend erscheint in diesem Zusammenhang, dass die DDR-Presse die ungewöhnliche Art der Besitzergreifung nicht kommentierte. Stattdessen unterstrich die Neue Zeit, dass der neue Berliner Bischof in Ost-Berlin wohnte. Vgl. Neuer Bischof von Berlin, in: Neue Zeit 20.8.1961, S. 2. 34 Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 88–89. 35 Bengsch: Zwischen Elbe und Oder, S. 134. 36 Hanky: Im Zeichen des Kreuzes; S. 82.

3.1 Organisatorische Trennungen 

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der DDR befanden.37 Da der Berliner Bischof Weskamm aber eine gemeinsame Ausbildung aller Theologiestudenten seines Bistums an einem Ort präferierte, setzte er sich für die Errichtung eines Priesterseminars im Ost-Berliner Ortsteil Biesdorf ein. Doch Anfang Mai 1952, wenige Tage bevor der Seminarbetrieb offiziell beginnen sollte, verbot die DDR-Regierung dem Ordinariat die Eröffnung einer solchen Institution innerhalb der Ost-Berliner Stadtgrenzen. Studenten wie Dozenten würden keine entsprechenden Aufenthaltsgenehmigungen erhalten, erklärte die zuständige Behörde.38 Dieser Anordnung musste sich Weskamm widerwillig beugen. In Absprache mit seinen ostdeutschen Amtsbrüdern plädierte er schließlich dafür, „eine regionale Ausbildungsstätte innerhalb der DDR“ aufzubauen und den Forderungen der DDR-Regierung nachzukommen.39 Die Wahl fiel kurzentschlossen auf Erfurt, wo Weskamm am 5. Juni 1952 die Katholisch-Theologische Akademie feierlich eröffnete.40 Die DDR-Zeitung Neue Zeit, ging nicht darauf ein, warum der Standortwechsel erfolgen musste, als sie die Eröffnung des Seminars in Erfurt positiv und im geradezu pastoralen Duktus kommentierte: Der Bischof [Weskamm] wurde von den Thüringer Katholiken stürmisch begrüßt, als er mit den 39 Studenten in den ehrwürdigen [Erfurter] Dom einzog. Dann sprach der Bischof zu den jungen Studenten, die einst seine priesterlichen Helfer in der Diözese Berlin sein werden. Erfurt mit seiner schönen Umgebung ist besonders geeignet zu besinnlichem Studium in der Stille des Priesterseminars.41

Die Neue Zeit legte großen Wert darauf, die Eröffnung eines Priesterseminars in der DDR als Normalität darzustellen, um den Vorwurf zurückzuweisen, die Regierung des Landes verhalte sich religionsfeindlich. Unerwähnt blieb auch, dass West-Berliner Kandidaten, die nicht bereit waren, in die DDR umzuziehen, am Erfurter Seminar nicht aufgenommen wurden. Die meisten von ihnen absolvierten ihr Studium stattdessen im westdeutschen Paderborn.42 Problematisch an dieser Aufteilung war nicht nur, dass sich die theologische Ausbildung in Ost und West im Zeitverlauf immer mehr voneinander unterschied, sondern auch, dass sich die Mitglieder ein und desselben Diözesanklerus kaum mehr persönlich kennenlern37 Die Regelung betraf somit zunächst nur Priesteramtsanwärter aus den Diasporagebieten der Berliner Diözese, die in Binz oder Potsdam beheimatet waren, nicht aber Ost-Berliner Kandidaten, die sich de facto erst nach dem Mauerbau mit dem beschriebenen Problem auseinandersetzen mussten. Vgl. Höllen: Kirchenpolitische Probleme, S. 156. Siehe auch: Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 129. 38 Vgl. Hanky: Im Zeichen des Kreuzes, S. 88. 39 Vgl. Bischöfliches Ordinariat Berlin: Der Glaube lebt, S. 112. 40 Vgl. Kösters: Bischof Wilhelm Weskamm, S. 167. 41 Bischof Weskamm in Erfurt, in: Neue Zeit 10.6.1952, S. 2. 42 Vgl. Hanky: Im Zeichen des Kreuzes, S. 88.

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Kapitel 3: Entfremdung

ten und infolgedessen geschlossene Ost- beziehungsweise West-Berliner Netzwerke entstanden, die weitestgehend getrennt voneinander agierten.43 Theoretisch war es die Aufgabe des Berliner Bischofs, Meinungsverschiedenheiten innerhalb der katholischen Gemeinschaft auszugleichen und zwischen den beiden Stadthälften sowie den ländlichen Diasporagebieten zu vermitteln.44 Bereits vor dem Mauerbau erwies es sich jedoch als schwierig, diesen Ansatz in die Praxis umzusetzen. Die Versuche der Kirchenleitung, möglichst gerecht vorzugehen, um bei keiner der Bistumshälften ein Gefühl der Vernachlässigung zu erzeugen, waren keineswegs immer erfolgreich. Zudem positionierten sich die einzelnen Bischöfe kirchenpolitisch sehr unterschiedlich. Der in West-Berlin lebende Kardinal Döpfner überlegte noch vor dem Mauerbau, seinen Wohnsitz nach Ost-Berlin zu verlegen.45 In seinen Notizen wog er die seelsorgerischen Argumente, welche für beziehungsweise gegen einen Umzug sprachen, ab: Die naheliegenden Gründe dafür sind: Die Stärkung der Kirche dort [in Ost-Berlin] durch die Gegenwart des Kardinals. […] Ebenso müßte beachtet werden, daß in der Freiheit WestBerlins sicherlich auch in Zukunft manches für die Kirche dort getan werden muß, was innerhalb der Grenzen der DDR nicht möglich ist.46

Der Vatikan wie auch die Regierung der Bundesrepublik lehnten einen Umzug des Bischofs in den Ostteil der Stadt vor 1961 jedoch ab.47 Stattdessen ernannte der Papst den späteren Bischof Alfred Bengsch zum Weihbischof mit Wohnsitz in OstBerlin, um seelsorgerische Leerstellen zu füllen und den Ostteil der Diözese demonstrativ zu stärken sowie den Einheitsanspruch des Bistums zu bekräftigen. Dieses Vorgehen überzeugte Döpfner nicht. Nach dem Mauerbau, als er selbst schon Bischof der Diözese München-Freising war, ging Döpfner sogar noch einen Schritt weiter und plädierte dafür, die Einheit des Bistums angesichts der jüngsten Ereignisse aufzugeben: Ein Bischof könne unmöglich beiden, so unterschiedlichen

43 Vgl. Probleme mit der Einheit?, in: St. Hedwigsblatt 16.12.1990, S. 7. 44 Dass die Berliner Bischöfe als Repräsentanten der Einheit betrachtet wurden, spiegelt sich in den Aussagen Berliner Gemeindemitglieder. E. F. erinnerte sich: „Ja, das gab damals so’n, so’n Spruch, den, der, der hieß: Wir sind geteilt, aber nicht getrennt. […] Und der Bischof war halt die Figur, die dieser Einigung, äh, irgendwie repräsentierte.“ Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 10. 45 Vgl. Wittstadt: Julius Kardinal Döpfner, S. 134. 46 Aufzeichnungen Döpfners 30.4.1959. EA Berlin V/7–3, abgedruckt in: Akten Deutscher Bischöfe. DDR 1957–1961, S. 548–549. 47 Unter anderem sprach sich der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Heinrich Krone dagegen aus: „Eine Verlagerung des Bischofssitzes nach Ost-Berlin bedeutete seiner Auffassung nach, dass die Kirche Westberlin politisch abschreibe und die westliche Position schwäche.“ Abmeier: Heinrich Krone, S. 195.

3.1 Organisatorische Trennungen 

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Bistumsteilen gerecht werden, argumentierte er. Der Papst wies auch diesen Vorschlag Döpfners zurück.48 Der Berliner Episkopat blieb also in besonderer Weise vom Willen der SEDFunktionäre abhängig: Vor dem Mauerbau bestimmten die DDR-Behörden über die bischöflichen Besuchstage in der DDR. Nach dem Mauerbau entschieden sie, wie viele Tage im Monat der Bischof nach West-Berlin reisen durfte und welche Mitarbeiter der Kirchenleitung Passierscheine erhielten. Nur auf der Grundlage dieser Reisegenehmigungen konnte die Einheit des Bistums überhaupt aufrechterhalten werden und galt nicht nur auf dem Papier. Folglich verhandelten seit der Grenzschließung – erst entlang der innerdeutschen und später der Berliner Grenze – alle Berliner Bischöfe mit der Regierung in der DDR über Einreisepapiere. Bengschs Vorgänger Döpfner war dabei wenig erfolgreich. Ihm wurde der Zugang zu den Sprengeln seiner Diözese, die sich auf dem Staatsgebiet der DDR befanden, verwehrt.49 Im Mai 1958 verboten ihm die zuständigen Behörden einzureisen, weshalb der in Ost-Berlin amtierende Weihbischof sämtliche Aufgaben Döpfners in der Diaspora übernehmen musste.50 1961 kehrte sich diese Situation um. Weil West-Berlin aber keinen eigenen Weihbischof erhielt, kam dem ansässigen Generalvikar auf diese Weise eine besondere Bedeutung zu.51 Ausgehend von den Erfahrungen seiner Amtsvorgänger lag Bengsch viel daran, fixe Besuchstage in West-Berlin zu etablieren und deren Notwendigkeit gegenüber der DDR-Regierung wie auch gegenüber den eigenen Diözesanen zu betonen. Er setzte alles daran, keinen der genehmigten Besuchstage zu versäumen, wie sich Wolfgang Weider erinnerte: „Der [Bengsch] ist sogar, wenn er im Konzil in Rom war, ist der ja, um für drei Tage nach West-Berlin fahren zu können, von Rom hierher gekommen.“52 Zudem setzte Bengsch durch, dass das katholische Führungspersonal gleichmäßig auf Ost- und West-Berlin aufgeteilt wurde. Noch 1960 lebten nur zwei von insgesamt acht Kirchenleitungsmitgliedern im Osten der Stadt. 1977 war das Verhältnis ausgeglichen.

48 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 32. 49 1952 hatten die DDR-Behörden auch versucht, Bischof Weskamm zu einem Umzug in den Ostteil Berlins zu zwingen, indem sie ihm die Einreise in die Diasporagebiete seiner Diözese verweigerten. Weskamm hatte einen solchen Schritt jedoch vehement abgelehnt. Vgl. Kösters: Bischof Wilhelm Weskamm, S. 170. 50 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 128. Siehe auch: Wittstatt: Julius Kardinal Döpfner, S. 112. 51 Vgl. Jung: Eine Politik der Skepsis, S. 161–162. Siehe auch: Höllen: Kirchenpolitische Probleme, S. 165. 52 Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider, 3.4.2017, S. 18. Das West-Berliner Petrusblatt unterstrich die Bedeutung der Besuchstage ebenfalls und veröffentlichte die vollen Terminpläne des Bischofs. Vgl. Neues im Bistum, in: Petrusblatt 18.1.1970, S. 7.

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Kapitel 3: Entfremdung

Tab. 5: Verteilung oberster, katholischer Würdenträger in Ost- und West-Berlin 1960/197053 1960

Ost-Berlin

Bischof

West-Berlin

-

1

Dompropst

-

1

Weihbischof

1

-

Generalvikar

-

1

Domkapitulare

1

3

Insgesamt

2

6

1977 Bischof

Ost-Berlin

West-Berlin

1

-

Dompropst

-

1

Weihbischof

1

-

Generalvikar

1

1

Domkapitulare

1

2

Insgesamt

4

4

Diese Anpassung bestätigt, dass sich in beiden Stadtteilen de facto eigene kirchliche Verwaltungen etabliert hatten. 1967 manifestierte sich diese Situation in Bengschs Entscheidung, statt eines Generalvikars für ganz Berlin jeweils einen für den Ost- und einen für den Westteil der Stadt zu ernennen. Die Mitgliederzahlen im Bistum rechtfertigten diesen ohnehin mehr symbolisch gemeinten Schritt nicht. Denn während die Zahlen in West-Berlin trotz veränderter Gemeindestrukturen relativ stabil blieben, ging die Zahl der Kirchenmitglieder im Osten erheblich zurück, sodass es dort keines zusätzlichen Personals bedurft hätte.54 Obwohl eine Teilung des Bistums von unterschiedlichen Akteuren also immer wieder ins Spiel gebracht wurde und nach dem Mauerbau sogar Gerüchte kursierten, wonach der Vatikan es in Erwägung zog, West-Berlin zur Apostolischen Administratur zu erklären, blieb die Diözese – durch den Bischof – geeint.55 Doch wie bereits erwähnt galt diese Einheit nicht für die institutionellen Ebenen darunter. Das Archivwesen des Bistums ist ein weiteres Beispiel für die Teilung diözesaner Einrichtungen infolge politischer Entwicklungen. Nachdem die Mehrzahl der archivierten Dokumente 1943 ohnehin verbrannt war, gestaltete sich der Wiederaufbau eines grenzübergreifenden Bistumsarchivs schwierig. Der Episkopat regte deshalb in den 1960er-Jahren den Aufbau zweier eigenständiger Diözesanarchive an.56 Das Archiv in West-Berlin wurde 1970 eröffnet. Nachdem das Archiv zunächst im Keller der Theologisch-Pädagogischen Akademie untergekommen war, erfolgte 1973 der Umzug in das St.-Otto-Haus. Dort reichte der Platz für das Archivgut bald schon nicht mehr aus, weshalb zahlreiche Bestände ausgelagert werden mussten. Als der Franziskanerorden Berlin-Tempelhof 1986 verließ, um sich in Berlin-Wilmersdorf anzusiedeln, zog das West-Berliner Bistumsarchiv 1987 schließlich in das ehemalige Kloster. Das Ost-Berliner Archiv war seit 1980 im 53 54 55 56

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 95–97. Höllen: Kirchenpolitische Probleme, S. 151, S. 154 und S. 159–161. Knauft: Katholische Kirche in der DDR, S. 128. Höllen: Kirchengeschichtliche Probleme, S. 163.

3.1 Organisatorische Trennungen 

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Bernhard-Lichtenberg-Haus, in unmittelbarer Nähe der St. Hedwigs-Kathedrale, beheimatet.57 Auch der Gesamtverband der katholischen Kirchengemeinden Groß-Berlins, der die Haushaltspolitik des Berliner Bistums maßgeblich gestaltete, amtierte bis 1977 unter zwei Anschriften. In diesem Jahr wurde der Verband aufgelöst und bestand fortan nur mehr als West-Berliner Kirchensteuerbeirat. Dieser Schritt war aber mehr als eine innerkirchliche Verwaltungsreform. Er lag vor allem in der Tatsache begründet, dass die Aufgaben des Verbandes im Ostteil der Diözese aufgrund der staatlichen Kirchenpolitik schlichtweg obsolet geworden waren.58 Die Teilung – genaugenommen ja die Verdopplung – diözesaner Einrichtungen zog nicht selten Kompetenzstreitigkeiten nach sich und löste Konflikte innerhalb der katholischen Gemeinschaft aus, weil einzelne Institutionen miteinander konkurrierten.59 Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Chefredakteuren der katholischen Kirchenzeitungen in Berlin, sind im vorangegangenen Kapitel bereits angeklungen. Besonders problematisch gestaltete sich auch das Verhältnis der beiden Domchöre. Noch im Sommer 1945 begann Domkapellmeister Karl Forster den Wiederaufbau des Chors. Da die St. Hedwigs-Kathedrale im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war, trafen sich die verbliebenen 30 Chormitglieder zunächst übergangsweise im Gemeinschaftssaal des Ost-Berliner St. Hedwigs-Krankenhauses.60 Doch schon kurze Zeit danach probte der Domchor im Saal einer Tochterpfarrei von St. Hedwig, St. Clemens im West-Berliner Stadtteil Kreuzberg.61 Obwohl die Sektorengrenzen zu diesem Zeitpunkt noch geöffnet waren, also Ost-Berliner Sängerinnen und Sänger dem Ensemble durchaus hätten angehören können, entwickelte sich der Chor zu einer überwiegend von West-Berliner Katholiken geprägten Institution. Nach dem Mauerbau spitzte sich die bis dahin nur angedeutete Problemlage zu: Ost-Berliner konnten nicht mehr an den Proben oder Auftritten des St. Hedwigs-Kathedral-Chores, der sich Mitte der 1960er-Jahre in Chor der St. Hedwigs-Kathedrale Berlin umbenannte, teilnehmen. Aber auch das verbliebene Ensemble stand vor einem Problem: Den eigentlichen Aufgaben eines Domchores konnte es nach dem 13. August 1961 unmöglich nachkommen. Die liturgische Gestaltung der Sonn- und Feiertagsmessen in der Ost-Berliner Bischofskirche blieb den Sängerin57 http://www.dioezesanarchiv-berlin.de/geschichte/ [28.11.2018]. 58 Vgl. Höllen: Kirchenpolitische Probleme, S. 162–163. 59 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 134–135. 60 Vgl. Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale, in: Neue Zeit 5.8.1945, S. 4. 61 Vgl. Bockstiegel, Heiko: Ein Oberpfälzer als Botschafter Berliner Geistes und Musiklebens. Karl Forster (1904–1963) und der Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale Berlin, Quakenbrück 2000, S. 67–68.

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Kapitel 3: Entfremdung

nen und Sängern verwehrt, weil sie die Grenze nicht passieren durften. Folgerichtig gründete der Domkantor an der St. Hedwigs-Kathedrale, Michael Witt, 1975 den Domchor an St-Hedwig in Ost-Berlin, der fortan die musikalische Ausgestaltung der Gottesdienste in der Kathedrale übernahm. In den 1980er-Jahren konzertierten die beiden Berliner Chöre zwar gelegentlich zusammen, tatsächlich aber waren sie einander vor allem in Konkurrenz verbunden. Das zeigte sich spätestens 1990 bei dem schwierigen Versuch, die beiden Ensembles wieder zusammenzuführen.62 Unter anderem wurden Beschuldigungen laut, wonach der Ost-Berliner Chorleiter Witt mit dem MfS zusammengearbeitet habe. Die Fronten verhärteten sich derart, dass es dem amtierenden Bischof Sterzinsky, der eine Neuordnung der Kathedralchöre angeregt hatte, nicht gelang, zwischen den beiden Parteien zu vermitteln.63 Erst 1998 wurde der Chor der St. Hedwigs-Kathedrale wiedervereint. Die Leitung übernahm Michael Witt. Im selben Jahr gründeten Mitglieder des ehemaligen West-Berliner Ensembles, die sich gegen die Wiedervereinigung ausgesprochen hatten, den Karl-Forster-Chor in Erinnerung an den von 1934 bis 1963 tätigen Berliner Domkapellmeister Karl Forster. Doppelt vernetzt beziehungsweise getrennt war der Berliner Bischof auch auf der übergeordneten institutionellen Ebene. Er war sowohl Mitglied der Fuldaer beziehungsweise Deutschen Bischofskonferenz in der Bundesrepublik als auch der ostdeutschen Berliner Bischofs-, vormals Ordinarienkonferenz.64 Doch beweist diese Tatsache allein nicht, dass das Bistum auch im Kalten Krieg eine Klammer darstellte. Denn Beschlüsse, welche auf der Berliner Ordinarienkonferenz gefasst wurden, galten nicht für den Westteil des Bistums sowie umgekehrt Entscheidungen, die die Deutsche Bischofskonferenz traf, im Ostteil der Diözese nicht umgesetzt werden mussten.65 Es ist somit ein Trugschluss, dass die beiden Bistumsteile in gleicher Weise geführt wurden, nur weil dieselbe Person an der Spitze stand. Ebenso wurde das kirchliche Leben in der geteilten Stadt unterschiedlich organisiert. Während in West-Berlin der auch für die Bundesrepublik und die Jahre vor 1933 typische deutsche Verbandskatholizismus weiter existierte, orientierten sich Ost-Berliner Kirchenmitglieder viel stärker an ihren Gemeinden, weil kirchli-

62 Vgl. Höllen: Kirchenpolitische Probleme, S. 163–164. 63 Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 30. Siehe auch: Eltern wollen Privatchor, in: Neue Zeit 2.6.1993, S. 18. 64 Die bereits im 19. Jahrhundert gegründete Fuldaer, später Deutsche Bischofskonferenz vertrat offiziell bis 1976 die Interessen der ost- und westdeutschen Bistümer. In diesem Jahr allerdings wurde die bis dahin als eine Regionalkonferenz der Deutschen Bischofskonferenz geltende Berliner Ordinarienkonferenz, der alle ostdeutschen Bischöfe angehörten, ausgegliedert und das ostdeutsche Gremium in Berliner Bischofskonferenz umbenannt. 65 Vgl. Höllen: Kirchenpolitische Probleme, S. 176.

3.1 Organisatorische Trennungen 

217

che Vereine dort verboten waren.66 Die Themen, mit denen sich Bengsch in seinen beiden Bistumshälften auseinandersetzte, unterschieden sich folglich ebenfalls voneinander. Während viele West-Berliner Katholiken von den Ideen des Zweiten Vatikanischen Konzils eingenommen waren, wurde im Osten ein vorkonziliarer Katholizismus konserviert. Dementsprechend irritiert nahmen die Katholiken in West-Berlin zur Kenntnis, dass Bengsch – um an dieser Stelle nur ein Beispiel zu nennen – die Veröffentlichung von Leserbriefen im Petrusblatt nur zögerlich zuließ und dabei auch auf die Ost-Berliner Katholiken verwies, die das Fehlen von Leserbriefen im St. Hedwigsblatt widerspruchslos akzeptierten.67 Bengschs Politik, Konflikte, die auf Unterschiede zwischen West und Ost hindeuteten, im Interesse der diözesanen Einheit grundsätzlich zu unterdrücken, stieß zumindest in WestBerlin auf Unverständnis und vertiefte stattdessen die Gräben zwischen den beiden Bistumshälften. Dass sich in Ost und West jeweils eigene Einrichtungen, eigene Ansprechpartner und eigene Praktiken etablierten, blieb nicht ohne Folgen: Das ungeteilte Bistum stellte keine Einheit mehr dar.

Regionalisierung statt Teilung: die langsame Trennung der EKiBB Sowohl die katholische Kirche als auch die EKiBB verwiesen im Kalten Krieg wiederholt darauf, dass es sich bei strukturellen Veränderungen in ihrem Kirchengebiet – zumindest in den allermeisten Fällen – um Provisorien handele. Der Hintergrund solcher Stellungnahmen war: Die Kirchen reagierten zwar auf aktuelle politische Entwicklungen, wollten in ihren Entscheidungen aber möglichst unabhängig erscheinen. Keine der Umstrukturierungen sollte den Eindruck erwecken, von Dauer zu sein oder auf die Selbstständigkeit der jeweiligen Teile abzuzielen, weil das im Umkehrschluss bedeutet hätte, die Zweistaatlichkeit zu akzeptieren. Darüber hinaus ermöglichte die Einrichtung von Provisorien, bestehende Unsicherheiten vorerst zu überdecken. Denn kirchenintern wurde durchaus diskutiert, inwieweit es überhaupt sinnvoll war, sich grenzübergreifend mit spezifischen Problemen der jeweiligen Teilkirche zu befassen. Die EKiBB war 1948 als Landeskirche mit eigener Verfassung aus einer der ehemaligen preußischen Provinzialkirchen, seit 1947 Kirchenprovinz Mark Bran66 Vgl. Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 11. Siehe auch: Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 21– 22. Sowie: Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 21–22. Und: Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 1. Schließlich: Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 31. Und: Katholisches Leben in der Deutschen Demokratischen Republik herausgegeben vom Zentralen Christlichen Arbeitskreis für den Frieden 1952. LA B Rep 002/9781. 67 Vgl. Bund Neudeutschland Berlin an das Bischöfliche Ordinariat in West-Berlin, 16. April 1968, DAB I/12–21.

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Kapitel 3: Entfremdung

denburg, hervorgegangen. Noch in ihrem Gründungsjahr trat sie der EKD bei. Gleichzeitig war die EKiBB seit 1954 eine Gliedkirche der Evangelischen Kirche der Union, die als Nachfolgeeinrichtung der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union eine eigenständige Kirche darstellte und als solche ebenfalls der EKD beitrat.68 Während die katholische Kirche im geteilten Berlin die Idee verfolgte, ihre Organe zu verdoppeln – also letztlich mehr oder weniger getrennt voneinander arbeitende Institutionen in Ost und West zu errichten – verlegte sich die EKiBB darauf, erst von Dezentralisierung und schließlich von der Regionalisierung ihrer Institutionen zu sprechen.69 Ziel war es, so Bischof Dibelius, möglichst viel Verantwortung in den Bereich der Gemeinden zurückzugeben, um als Kirchenleitung weniger Angriffsfläche zu bieten. Dieses Vorhaben scheiterte allein schon an Dibelius’ Amtsverständnis. Er selbst erklärte die Probleme bei der Umsetzung damit, dass die Gemeinden angesichts von Eigenverantwortung und drohender Aufgabenflut hilflos reagiert hätten.70 Stattdessen ging man dazu über, in der EKiBB von einer Region Ost und einer Region West zu sprechen, ohne das Wort Trennung auch nur zu erwähnen. 71 Eine wirkliche Dezentralisierung fand im Rahmen der sogenannten Regionalisierung also nicht statt. Die Kirche verfuhr vielmehr zweigleisig. Parallel dazu bereitete sich die Kirchenleitung spätestens seit der zweiten Berlin-Krise 1958 auf eine endgültige organisatorische Trennung ihrer Kirchengebiete vor.72 Nachdem Chruschtschow gefordert hatte, West-Berlin zur Freien Stadt zu erklären, ermächtigte die Synode der EKiBB ihre Kirchenleitung dazu, eine Notverordnung zu erlassen für den Fall, dass „kirchenleitende Organe an ihrem Zusammenkommen gehindert seien.“73 Viele Kirchenleitungsmitglieder begegneten dem vorgelegten Entwurf skeptisch. Trotzdem wurde die Notverordnung nach einer Kampfabstimmung am 18. Juni 1959 beschlossen.74 Sie sah vor, dass „Synode, Kirchenleitung und Konsistorium getrennt als regionale Leitungsorgane tagen könnten.“75 68 Vgl. Winter: Zeitgeschichtliche Forschung, S. 165. Wie auch die EKiBB wurde die EKU 1972 in zwei selbstständige Bereiche – Ost und West – geteilt. 1992 erfolgte die Wiedervereinigung. 69 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 825. 70 Vgl. Dibelius: Ein Christ, S. 224. 71 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 827. 72 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 302. 73 Den Riß heilen, in: Die Kirche 10.5.1959, S. 2. 74 Vgl. Berlin-Brandenburgische Synode bereitet Eventualfall vor, in: Die Stimme der Gemeinde 15.5.1959, S. 317–318. Siehe auch: Furian: Erinnerungen an den 13. August 1961, S. 179. 75 Winter: Auf dem Weg, S. 97. Vgl.: Radatz: Auf der Insel, S. 15–16. Siehe auch: Scharf: Brücken und Breschen, S. 49.

3.1 Organisatorische Trennungen 

219

Tab. 6: Sitz der evangelischen Kirchenleitungsmitglieder in Berlin und Brandenburg76 Jahr

Mitglieder insgesamt

Mitglieder (Ost)

Mitglieder (West)

1950 1961

29

17 (58,62 %)

12 (41, 38 %)

45

26 (57,7 %)

19 (42,2 %)

1965

33

21 (63,63 %)

12 (36,36 %)

Als am 13. August 1961 die Mauer gebaut wurde, lebten von insgesamt 19 Mitgliedern der Kirchenleitung sieben in West-Berlin und zwölf in Ost-Berlin und Brandenburg. Sie beziehungsweise ihre Mitarbeiter passierten die innerstädtische Grenze oft und standen in regelmäßigem Austausch miteinander. Bis dato war die Kirchenleitung alle zwei Wochen abwechselnd im Ost-Berliner Konsistorium in der Neuen Grünstraße oder in der Jebensstraße zusammengekommen, wo das Konsistorium in West-Berlin amtierte.77 Unmittelbar nach dem Mauerbau zögerte Dibelius, die Notverordnung anzuwenden, da er hoffte, die Einberufung von Regionalsynoden noch verhindern zu können. Als die DDR-Behörden ihm jedoch wenige Tage später die Einreise nach Ost-Berlin verweigerten, erkannte auch Dibelius den Handlungsbedarf. 78 Am 24. August 1961 trat deshalb die Notverordnung in Kraft.79 Mit der Kirchenleitung einigte sich Dibelius darauf, dass der in Ost-Berlin ansässige Kurt Scharf auf einer Synode im September desselben Jahres zu seinem Nachfolger gewählt werden sollte. Dibelius beanspruchte zwar in West-Berlin vorerst im Amt zu bleiben, wollte Scharf nach erfolgreicher Wahl aber die bischöflichen Befugnisse in Ost-Berlin und Brandenburg übertragen.80 Bis dahin sollte Scharf, der seit dem Frühjahr 1961 zudem Ratsvorsitzender der EKD war, als Bischofsverweser in Ost-Berlin amtieren.81 Die DDR-Regierung fühlte sich von derlei Plänen übergangen und setzte ihnen ein jähes Ende. Für die SED-Funktionäre war es undenkbar, dass der Ratsvorsitzende der EKD zugleich als Bischofsverweser in Ost-Berlin tätig sein sollte. Am 31. 76 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 827. Und: Lepp: Tabu der Einheit?, S. 387. 77 Vgl. Radatz: Auf der Insel, S. 18. 78 „Der westfälische Präses Ernst Wilm machte in diesem Zusammenhang einen Besuch bei Hans Seigewasser, dem Staatssekretär für Kirchenfragen. Beide hatten bei den Nationalsozialisten im Konzentrationslager gesessen. Der Staatssekretär ließ jedoch keinen Zweifel daran, daß es für West-Berliner Bürger keinesfalls Passierscheine zum Besuch der Provinzialsynode geben würde. Der Kirchenleitung (Ost) wurde über das Gespräch berichtet.“ Radatz: Auf der Insel, S. 20. 79 Vgl. Kunzendorf, Max-Ottokar: Zeittafel, in: Radatz, Werner/Winter, Friedrich: Geteilte Einheit. Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg 1961–1990, Berlin 2000, S. 258. 80 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 387. 81 Vgl. Scharf: Brücken und Breschen, S. 141–142. Siehe auch: Lepp: Tabu der Einheit?, S. 387.

220  Kapitel 3: Entfremdung

August 1961 befand sich Scharf auf einer Dienstreise in West-Berlin. Auf dem Rückweg verweigerten ihm Grenzer die Einreise nach Ost-Berlin und zogen seinen DDR-Reisepass ein.82 In der DDR-Presse wurden die Umstände von Scharfs Ausweisung bewusst verfälscht. Die Zeitungen gaben vor, Scharf sei vor die Wahl zwischen dem Ost- und dem Westberliner Pass gestellt worden. Tatsächlich handelte es sich aber um einen Erpressungsversuch. Die Argumentation des Neuen Deutschlands ist daher als Zynismus zu lesen: Die zuständigen Organe der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (demokratisches Berlin) gaben am 31. August 1961 Herrn Präses Dr. Scharf die Möglichkeit, zu seiner in Berlin-Steglitz, Grunewaldstr. 34, wohnhaften Familie zurückzukehren. Herr Dr. Scharf, der im Besitz sowohl eines Westberliner Ausweises als auch eines Deutschen Personalausweises der DDR war, hat sich nach dem Inkrafttreten der gesetzlichen Bestimmungen vom 15. August 1961 nicht für die Abgabe des Westberliner Ausweises entscheiden können.83

Schon in den Tagen zuvor hatte die DDR-Presse gegen Scharf polemisiert.84 Ihm und den Bischöfen Dibelius und Döpfner unterstellte das Neue Deutschland „klerikale Frontstadtheuchelei“.85 Einige Tage, nachdem Scharf aus der DDR ausgewiesen worden war, rechtfertigte die Zeitung diesen Schritt damit, dass Scharf sich mit der „Nato-Militärkirche“ in der Bundesrepublik gemein gemacht habe.86 Dibelius empörte sich öffentlich über das Vorgehen der DDR-Regierung. In seinen „Reden an eine gespaltene Stadt“, die er in der Kirche am Südstern in BerlinKreuzberg vortrug, konstatierte der Bischof, dass Scharfs Ausweisung die Absichten der DDR-Regierung unmissverständlich offen gelegt habe: Dieser gehe es um „den Versuch, die Evangelische Kirche in Deutschland aufzuspalten, wider alle Verfassung, wider alle Abmachungen, wider alle Erklärungen, […]. Es muß eben aufgespalten werden!“87 Der Bischof beschwor die Kirchenmitglieder im Folgenden, sich von den Spaltungsversuchen nicht beeindrucken zu lassen und unbeirrt an der Einheit der Kirche festzuhalten. Er verwies auf die Geschichte der evangelischen Kirche und bekräftigte, dass diese nicht nur sehr viel länger als die DDR existiere, sondern in der Vergangenheit auch ganz anderen Gefahren und Herausforderungen ausgesetzt gewesen sei: „Aber wenn wir etwas nicht fürchten, dann sind es die Aufspaltungsversuche. Wir haben nun einmal unsere Erfahrungen. […] Wir haben gesagt: Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen! Das hat durchge-

82 83 84 85 86 87

Vgl. Radatz: Auf der Insel, S. 19. Präses Dr. Scharf in Westberlin, in: Neues Deutschland 2.9.1961, S. 8. Vgl. Töricht und verblendet, in: Neue Zeit 19.8.1961, S. 2. Klerikale Frontstadtheuchelei, in: Neues Deutschland 19.8.1961, S. 2. Wie Präses Scharf die Nato-Militärkirche deckt, in: Neues Deutschland 3.9.1961, S. 6. Dibelius: Reden, S. 63.

3.1 Organisatorische Trennungen 

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schlagen.“88 Dibelius rief die Kirchenmitglieder zum Kampf auf. Er glaubte nicht an einen Kompromiss. Gleichzeitig hielt er es für wahrscheinlich, dass die SEDSpitze eine organisatorische Trennung der EKiBB erzwingen könnte. Darauf wollte er die Kirchenbasis vorbereiten: Und wenn die Trennung einhundertfünfzig Jahre dauert – wir werden Mittel und Wege finden, daß diejenigen, die dieselbe deutsche Bibel lesen, die aus demselben deutschen Gesangbuch singen, die denselben Katechismus haben, die dieselbe Art des Gottesdienstes haben, daß die in Gemeinschaft miteinander bleiben! Richtet soviel Betonmauern und Stacheldrähte auf, wie ihr wollt: uns wird niemand aufspalten!89

Dibelius’ Appell änderte nichts daran, dass die Regionalsynoden Ost und West vom 13. bis zum 16. März 1962 zum ersten Mal getrennt tagten. Die Wahl Scharfs zum Bischof verzögerte sich hingegen. In einem ersten Anlauf verfehlte er die notwendige Zweidrittelmehrheit unter den anwesenden Mitgliedern der Regionalsynode Ost.90 Erst 1966 wurde er von den beiden Regionalsynoden doch noch zum Bischof von ganz Berlin gewählt. Seine Wahl sollte als ein „Akt zur Wahrung kirchlicher Ost-West-Einheit“ gelesen werden, schreibt Lepp.91 Aber allein die Tatsache, dass er sein Amt aufgrund des weiterhin bestehenden Einreiseverbotes nur mehr in West-Berlin persönlich ausüben konnte, stellte diesen Versuch offensichtlich in Frage.92 Die DDR-Regierung bezeichnete seine Wahl gar als „wirkungslos“.93 Scharf galt zwar als zentrale Symbolfigur für die Einheit der Kirche, aber er verfügte nicht über den nötigen Handlungsspielraum, um diese Funktion praktisch auszufüllen.94 Es genügte deshalb nicht, dass er bewusst einen Bischofstitel wählte, der sich nicht nur auf seinen Residenzort, sondern das bischöfliche Gebiet bezog: „Ich habe mich bei meinem Amtsantritt 1966 ‚Evangelischer Bischof von Berlin-Brandenburg‘ genannt. Die Bezeichnung sollte deutlich machen, daß mein Amt ein übergreifendes Amt geblieben sei […].“95

88 Ebenda. 89 Ebenda. 90 Vgl. Radatz: Auf der Insel, S. 23. Siehe auch: Scharf: Brücken und Breschen, S. 141. 91 Lepp: Tabu der Einheit?, S. 376. 92 Vgl. Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 75. Siehe auch: Lepp: Tabu der Einheit?, S. 376 und S. 399. 93 Doppelte Hirten, in: Der SPIEGEL 26.6.1972, S. 50. 94 Vgl. Scharf: Brücken und Breschen, S. 140. Siehe auch: Auszüge aus der Rede Bischof Scharfs, die dieser nach seiner Wahl auf der Regionalsynode in Berlin-Spandau, am 17.2.1966, hielt 18.2.1966. BStU MfS HA XX AP 12889/92. Sowie: Lepp: Tabu der Einheit?, S. 667. 95 Scharf: Brücken und Breschen, S. 144.

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Nur vier Jahre später entschieden die beiden Regionalsynoden ohnehin über ihre Eigenständigkeit und lösten die noch bestehende, grenzübergreifende Ordnung damit weitestgehend auf. Die anfänglichen Versuche der Regionalsynoden, Abstimmungen parallel durchzuführen, um der Aufspaltung entgegenzuwirken, scheiterten außerdem.96 Der Beschluss sah vor, „die besondere Gemeinschaft der Berlin-brandenburgischen Kirche in partnerschaftlicher Freiheit wahrzunehmen und als Kirche in Berlin-Brandenburg erhalten zu bleiben.“97 Doch rückblickend ist festzustellen, dass es sich dabei weitestgehend um Vorsätze handelte, die in der Praxis schon zum Zeitpunkt ihrer Formulierung kaum mehr umzusetzen waren. Im November 1972 wählte die Regionalsynode Ost schließlich einen eigenen Bischof: Albrecht Schönherr. Dieser hatte bereits seit 1967 als Verweser des Bischofsamtes die Aufgaben Scharfs in Ost-Berlin und Brandenburg übernommen.98 Die Notverordnung, so argumentierte Schönherr, habe nicht weit genug gegriffen, deshalb hätten die kirchlichen Strukturen entsprechend geändert, also angepasst werden müssen.99 Schönherrs Wahl ist somit als das Ergebnis eines langen Prozesses zu lesen und weniger im Kontext der Neuen Ostpolitik zu verstehen, die unter Bundeskanzler Willy Brandt zeitgleich auf Annäherung statt Konfrontation setzte.100 Alles Reden davon, dass bisherige Veränderungen nicht der Verselbstständigung, sondern der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit der beiden Teilkirchen gedient hatten, war also hinfällig geworden.101 Die Neue Zeit hatte allein die Ankündigung, ein eigenes Ost-Berliner Bischofsamt schaffen zu wollen, als eine Form staatlicher Anerkennung durch die evangelische Kirche bewertet:102 Mit dem Beschluß, in der Berlin-Brandenburger Kirche im Bereich der DDR und ihrer Hauptstadt ein eigenes Bischofsamt einzurichten, ist nach den Worten des amtierenden Bischofs D. Dr. Schönherr organisatorisch jetzt die völlige Selbstständigkeit gewährleistet. Auf die Frage eines Pressevertreters hin bejahte D. Schönherr die Gültigkeit des […] maßgeben-

96 Vgl. ebenda, S. 142. 97 Tagung der Regionalsynode West der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg in der Zeit vom 8.-13.12.1969. BStU ZAIG 1773. 98 Vgl. D. Schönherr gewählter Bischof, in: Die Kirche 19.11.1972, S. 1. Und: Kunzendorf: Zeittafel, S. 256–259. Siehe auch: Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 77–78 und S. 93. 99 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 905–906. 100 Vgl. Doppelte Hirten. Ob Ost-Berlins Protestanten einen eigenen Bischof bekommen sollten, ist unter West-Berlins Christen strittig, in: Der SPIEGEL 26.6.1972, https://www.spiegel.de/politik/ doppelte-hirten-a-1c0e75b5-0002-0001-0000-000042891712 [10.1.2023]. 101 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 375 und S. 400. 102 Vgl. Den Realitäten Rechnung tragen!, in: Neue Zeit 15.6.1972, S. 6. Halbrock verweist darauf, dass die DDR-Regierung schon in den 1950er-Jahren auf einen Umzug der Kirchenleitung von West nach Ost drängte. Vgl. Halbrock: Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen, S. 117.

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den Grundsatzes, daß die Staatsgrenzen der DDR zugleich auch die Grenzen kirchlicher Organisationsmöglichkeiten bilden!103

Die West-Berliner Kirchenmitglieder reagierten hingegen größtenteils verhalten auf diesen Schritt. Auch wenn beide Regionen der EKiBB nach der Amtseinführung Schönherrs über eine gemeinsame Grundordnung verbunden bleiben sollten, war die Synode der West-Region gezwungen, das Amtsgebiet des dort amtierenden Bischofs entsprechend anzupassen.104 Scharf war bereit das zu akzeptieren, aber in der Kirchenleitung regte sich Widerstand. Unter anderem sprach sich Generalsuperintendent Hans-Martin Helbich dagegen aus, die Spaltung der EKiBB weiter voranzutreiben. Er riet dazu, sich am Bistum Berlin zu orientieren und eine gesamtstädtische Lösung nach dem Vorbild des katholischen Bischofs Bengsch zu forcieren. Die West-Berliner Synode solle aus diesem Grund kein Wahlgesetz verabschieden und die Pläne der Ost-Synode auf diese Weise durchkreuzen. Hinter diesem Vorschlag stand die Angst, dass die evangelische Kirche in West-Berlin weiter an Bedeutung verlieren würde, wenn die Ost-Region einen eigenen Bischof ernannte.105 Scharfs Lager wies Helbichs Vorstoß mit der Begründung zurück, dass die DDR-Regierung einer Besuchsregelung nach katholischem Vorbild wohl kaum zustimmen würde. Es gelang Helbich nicht, genügend Synodalen von seinem Plan zu überzeugen. Er verhinderte das Wahlgesetz, aber am Ende fehlten ihm zwei Stimmen, um auch eine Erklärung abzuwenden, nach der die Evangelische Kirche in West-Berlin „den Ost-Berliner Wunsch nach einem eigenen Bischof ‚respektierte‘.“106 Offensichtlich zufrieden resümierte die Ost-Berliner Kirchenzeitung Die Kirche deshalb die Ergebnisse der West-Berliner Regionalsynode im Dezember 1972: Mit dieser Regelung der Zuständigkeit wurden für das Westberliner Kirchengebiet die notwendigen kirchenrechtlichen Konsequenzen aus der Einrichtung eines eigenen Bischofsamtes im Bereich der Synode der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg in der DDR gezogen. […] Vor der Westberliner Synode erklärte Bischof D. Scharf im Zusammenhang mit dem Synodalbeschluß, daß das Bischofsamt von nun an „aufgegliedert und geteilt“ sei. Er widersprach damit nachdrücklich Interpretationen der Beschlußvorlage durch den West103 Völlige Selbstständigkeit, in: Neue Zeit 28.3.1972, S. 1. 104 Der Präses der West-Berliner Synode, Hans Altmann über das Verhältnis zur Regionalsynode Ost 1969: „Die Fortdauer der engen Verbindungen und gegenseitigen Verantwortung zwischen uns und den Brüdern und Schwestern drüben ist jedoch für beide Teile, wie uns gerade von drüben immer wieder ausdrücklich erklärt worden ist, unverändert, wie es der Vorspruch unserer Grundordnung nachdrücklich betont.“ Tagung der Regionalsynode West der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg in der Zeit vom 8.-13.12.1969. BStU ZAIG 1773. Siehe auch: Winter: Auf dem Weg, S. 102. 105 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S: 388. 106 Doppelte Hirten, in: Der SPIEGEL 26.6.1972, S. 50.

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berliner Generalsuperintendenten D. Helbich, es gebe immer noch das gemeinsame Bischofsamt.107

Kaum dass die Trennung des Bischofsamtes beschlossen war, durfte Kurt Scharf wieder nach Ost-Berlin fahren. Noch 1972 reiste er als Privatperson dorthin und traf bei seinem ersten Besuch Albrecht Schönherr. 108 Schon drei Jahre zuvor, 1969, hatte die Regionalsynode Ost für die Gründung eines Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR votiert. Tatsächlich erfolgte diese noch im selben Jahr. Gleichzeitig hatten die evangelischen Bischöfe in der DDR den Rat der EKD verlassen. Wieder war es Scharf, der sich bemüht hatte, auch diesen Trennungsmoment zu relativieren: „Wir haben eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsames Bekenntnis. Wir sind auch eine geistliche Gemeinschaft geblieben. Auf dieser Grundlage hat die evangelische Christenheit in Deutschland heute zwei unterschiedliche Organisationsformen.“109 Der SPIEGEL kam dennoch nicht umhin zu fragen: „Ist die Einheit nur noch ein Mythos?“110 Scharf wurde als „Illusionist“ bezeichnet, der „nicht wahrhaben wollte, daß es die gesamtdeutsche EKD nicht mehr gab.“111 Da helfe es auch nicht „sich zum Beweis des Gegenteils auf gemeinsame Gesang- und Gebetbücher zu berufen“, urteilte der SPIEGEL und nannte Scharfs Verweise auf grenzübergreifende Praktiken als Zeichen der Einheit reine Makulatur.112 Die EKiBB hatte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen, Vorbereitungen für den Tag X zu treffen, wobei zunächst nicht absehbar gewesen war, dass zwischen der Abriegelung West-Berlins durch die DDR und der endgültigen Trennung der beiden Regionen Ost und West mehr als ein Jahrzehnt liegen würde. Der 13. August 1961 stellte somit nur bedingt eine kirchengeschichtliche Zäsur dar. Einerseits hatte man, so Propst Winter, auf Organisationsebene seit 1948 auf diesen Tag hingearbeitet und die Trennung in einzelnen Bereichen auf diese Weise quasi vorweggenommen.113 Andererseits, so Kurt Scharf, sei die EKiBB auch nach dem Mauerbau offiziell weiter von einem Bischof geführt worden. Der 13. August 1961 habe die evangelischen Christen in Berlin und Brandenburg noch einmal daran erinnert, die Einheit der Kirche zu verteidigen, führte Scharf weiter aus. Erst 107 Westberliner Regionalsynode: Gesetz über das Bischofsamt, in: Die Kirche 17.12.1972, S. 1. 108 Vgl. Winter: Auf dem Weg, S. 112. Diese Entscheidung beruhte auch auf einer Einschätzung des MfS, das Kurt Scharf nicht nur über Jahrzehnte umfangreich überwachte, sondern ihm außerdem anrechnete, ein Kenner des Marxismus zu sein. Vgl. BStU MfS 11695/92. Sowie: BStU MfS ZAIG 1187. 109 Ist die Einheit nur noch ein Mythos?, in: Der SPIEGEL 22.12.1969, S. 32. 110 Ebenda. 111 Doppelte Hirten, in: Der SPIEGEL 26.6.1972, S. 50. 112 Ebenda. 113 Vgl. Winter: Zeitgeschichtliche Forschung, S. 166.

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im Laufe der 1960er-Jahre habe sich herausgestellt, dass die Wirklichkeit diesem Anspruch nicht genügen könne.114 In einem Punkt blieben beide Regionen einander aber fix verbunden: Bis zum Mauerfall und darüber hinaus war die Ostregion finanziell abhängig von der Westregion.115

Sind Staatsgrenzen Kirchengrenzen? Oder: Ist diese Frage von Bedeutung? Im April 1969 erschien in der West-Berliner alternativen Kirchenzeitung Der Christ der Bericht eines DDR-Bürgers, der danach fragte, ob die Grenzfrage für die katholische Gemeinschaft überhaupt relevant sei: Kurz gesagt: Innerhalb der katholischen Kirche in der DDR wird das Grenzproblem realistischer als in früheren Jahren gesehen. Deutlicher gesagt: Eine von Westdeutschland organisatorisch getrennte katholische DDR-Kirche wird es so schnell nicht geben. Andererseits bringt dies wenig. Mehr ist die Erkenntnis, daß die vorhandenen de-facto Grenzen das Leben bestimmen.116

Das Zitat zeigt: eine eindeutige Antwort auf die übergeordneten Fragen ist schlicht nicht möglich. Zwar zeichneten sich einzelne, grundlegende Entwicklungen früh ab, doch sind demgegenüber genauso Kurswechsel zu beobachten: Die Währungsreform zog einschneidende Veränderungen in der kirchlichen Verwaltung nach sich. Die Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 beeinflusste das kirchliche Leben in Berlin hingegen zunächst kaum. Und selbst der Mauerbau 1961 führte nicht dazu, dass die Berliner Kirchengebiete augenblicklich auseinanderfielen. Das katholische Bistum hielt sogar bis zum Fall der Mauer am Status Quo fest und blieb kirchenrechtlich eine geeinte Diözese. Die EKiBB vollzog ihre endgültige Trennung erst elf Jahre nach dem 13. August 1961. Von einer unmittelbaren Reaktion lässt sich da kaum sprechen. Dennoch verfolgten die Berliner Kirchen im Umgang mit der geteilten Stadt unterschiedliche Strategien. Während die EKiBB sich bemühte, kirchliche Strukturen zu regionalisieren, ging das Bistum dazu über, diözesane Organe zu verdoppeln. Auch das Bistum Berlin bezog bei strukturellen Entscheidungen politische Grenzen durchaus mit ein. So etwa im Zuge einer nachkonziliaren Dekanatsreform. Während die West-Berliner Dekanate praktischerweise den kommunalen 114 Vgl. Auszug aus der ADN-Information 23.10.1966. BStU MfS HA XX AP 12889/92. 115 Vgl. Winter: Auf dem Weg, S. 102. 116 Der Bericht war zuvor bereits vom NDR gesendet worden. Kirche in der DDR, in: Der Christ 18.4.1969, S. 3.

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Kapitel 3: Entfremdung

Verwaltungsbezirken angepasst wurden, entschied der Episkopat sich in Ost-Berlin bewusst dagegen, die kirchlichen Verwaltungsgrenzen entsprechend den kommunalen Strukturen zu ziehen. Auf diese Weise nahmen politische Grenzziehungen letztlich sehr wohl Einfluss auf kirchliche Entscheidungen, wenngleich die Berliner Kirchen lange das Gegenteil behaupteten.117 Erschwerend kam hinzu, dass die Kommunikation zwischen den einzelnen Teilorganisationen nicht immer reibungslos verlief und Konflikte an der Tagesordnung waren. Das lag auch darin begründet, dass beide Kirchen in Bezug auf strukturelle Veränderungen immer wieder von Provisorien sprachen, die sich aber in der langen Zeit ihres Bestehens fix etablierten und sogar in Konkurrenz zueinander geraten konnten.118 Die für die Berliner Kirchen oft noch vor dem Mauerbau trotzdem notwendig gewordenen organisatorischen Trennungen, das heißt die räumliche und institutionelle Aufspaltung in einen Ost- und einen Westteil zur Aufrechterhaltung der Geschäftsfähigkeit, nahmen aber nicht nur Einfluss auf die Verwaltungsarbeit, sondern prägten auch mental. Allein die Existenz der Teilorganisationen sorgte dafür, dass die Amtskirchen zwischen ost- und westdeutschen Angelegenheiten unterschieden. Die formale Trennung bedingte für viele Kirchenmitglieder eine gefühlte Entfremdung. Inwiefern es im Hinblick auf das Einheitsempfinden jenseits der institutionellen Ebene einen Unterschied machte, ob die Kirchen organisatorisch und strukturell verschiedene Wege gingen oder nicht, ist zweifelhaft. Ein anonymer Verfasser fragte schon 1959 in Die Stimme der Gemeinde, inwiefern es noch von Bedeutung sei, dass Staatsgrenzen keine Kirchengrenzen sind: Kurz und gut: in den relativen Lebensbezügen hat sich in den letzten Jahren die Spaltung vertieft, hat sich das Auseinanderleben in den beiden Teilen Deutschlands und in der EKD weiterentwickelt, hat die ideologische Versteifung zugenommen. Man lebt in beiden Teilen Deutschlands trotz gemeinsamer Traditionen in vielen Stücken anders. […] Ich frage: Was verbindet uns mehr?119

117 Vgl. Höllen, Martin: Kirchenpolitische Probleme der Einheit des Bistums Berlin, in: Zieger, Gottfried (Hrsg.): Die Rechtsstellung der Kirchen im geteilten Deutschland, Köln u. a. 1989, S. 161. 118 Das war überhaupt möglich, weil Berlin zweifelsohne einen Sonderstatus innehatte. So stellte das Gebiet der EKiBB aus Sicht der Kirchenleitung zum Beispiel bis 1961 ein Anstellungsgebiet dar, wenngleich viele kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das aufgrund massiver Unterschiede bei den Arbeitsbedingungen längst nicht mehr so wahrnahmen. Vgl. Halbrock: Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen, S. 110. 119 Die eine Kirche im geteilten Deutschland, in: Die Stimme der Gemeinde 15.1.1959, S. 43.

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3.2 Gefühlte Trennungen: unterschiedliche Alltagswirklichkeiten Für wahrgenommene Kontaktverluste machten Kirchenmitglieder in Ost und West ganz unabhängig von der politischen Situation gleichermaßen die Moderne verantwortlich. Der Teltower Kreiskirchenrat stellte 1969 fest: „Charakteristisch ist, dass der Kirchenkreis am Rande der Grossstadt liegt. Die Menschen haben alle einen verhältnismässig langen Anmarschweg zur Arbeitsstelle. Infolgedessen kommen sie erst spät nach Hause und sind nur schwer für Abendveranstaltungen in der Gemeinde zu gewinnen.“120 A. R. aus Luckenwalde führte den hier zugrunde liegenden Interessenkonflikt auf die Schwierigkeit zurück, Arbeitsalltag und kirchliches Engagement übereinzubringen: Die kirchlichen Sitzungen fanden oft am Abend statt und gingen bis in die Nachtstunden. Da A. R. aber am nächsten Morgen bereits um 6:00 Uhr wieder in seinem Betrieb sein musste, habe er dieses Pensum „nicht durchgehalten“.121 Solche Zeitkonflikte, wie A. R. sie beschrieb, waren systemunabhängig. Insbesondere berufstätige Menschen, die zwischen einem Arbeitsplatz in der Innenstadt und einem Wohnort am Stadtrand oder auf dem Land pendelten, gaben immer häufiger an, dass sie ehrenamtliche Verpflichtungen nach Feierabend tendenziell als Überlastung empfanden.122 Die in diesem Zusammenhang oft beschriebene Müdigkeit von Gemeindemitgliedern, die sich aus dem Gemeindeleben zurückzogen, diente den Kirchenleitungen als Beleg für die vermeintliche Diskrepanz zwischen modernem und religiösem Leben:123 „Der Atmosphäre warmer Brüderlichkeit“ stand die „Einsamkeit des Großstadtmenschen“ gegenüber.124 Die evangelische Kirchenzeitung in Ost-Berlin konstatierte: „Du sollst nicht allein sein! Wir klagen darüber, daß in den Gemein120 Sitzung des Kreiskirchenrates Teltow 21.10.1969. ELAB 86/248. 121 Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 3–4. Vgl. Kreiskirchenvisitation Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche 6.-12. 6.1966. ELAB 1.2/4609. 122 Vgl. Generalkirchenvisitation Königs Wusterhausen vom 2.-11. Juni 1956. ELAB 86/62. Siehe auch: Generalkirchenvisitation Pankow 1962. ELAB 86/64. 123 „Die Sonntagsausflüge der Familien halten viele Kinder vom KGD fern, ebenso das Fernsehen.“ Fragebogen Schildow und Mönchmühle 1962. ELAB 86/65. Hans Iwand schrieb am 5.12.1959: „Wenn ich die Trägheit dieser Christenheit sehe, dann weiß ich, das kann Gott nicht schmecken.“ Heinemann-Grüder: Pfarrer in Ost und West, S. 102. Vgl. General-Kirchenvisitation 1958, Kirchenkreis Friedrichshain. ELAB 86/63. Siehe auch: Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 7. Sowie: Bericht über die Visitation des Superintendenten in dem Kirchspiel Lichterfelde vom Sonntag Quasimodogeniti (25. April) 1965 bis zum Sonntag Misericordia Domini (2. Mai) 1965. ELAB 35/12100. Schließlich: Gemeindebericht Seefeld 1955. ELAB 35/11522. 124 Bericht von Generalsuperintendent D. Jacobi auf der Schlußversammlung der drei Zehlendorfer Gemeinden „Ernst-Moritz-Arndt“, „Paulus“ und „Zur Heimat“ über die Generalkirchenvisitation vom 28. September bis 8. Oktober 1951. ELAB 1/8519. Siehe auch: Die Kirche in der DDR

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Kapitel 3: Entfremdung

den unserer Großstädte der einzelne einsam bleibt, […].“125 Um der Gefahr der Anonymisierung etwas entgegenzusetzen, rückten die Gemeinden oft noch enger zusammen und schotteten sich ab: „Weithin ist auch in der evangelischen Kirchengemeinde die Gleichgültigkeit gegenüber den Fremden vorhanden und das Gefühl erloschen, daß wir alle Brüder sind.“, heißt es dazu in einem Bericht der evangelischen Gemeinde Miersdorf von 1956.126 Auch der katholische Bischof Döpfner sah in seiner Abschiedspredigt 1961 „die Gefahr, daß die Gläubigen in den Gemeinden der Großstadt den lebendigen, persönlichen Kontakt zueinander oft zu wenig pflegen.“127 Die Hoffnung der Berliner Kirchenleitungen, dass es sich bei den Erschöpfungszuständen der Kirchenmitglieder um Nachkriegsphänomene gehandelt hatte, zerschlug sich angesichts solcher Erfahrungen im Laufe der 1950er-Jahre endgültig. Zwar war die Zahl der Kirchenmitgliedschaften bei Kriegsende noch konstant hoch. Doch viele im Nationalsozialismus sozialisierte Eltern übertrugen die emotionale „Kirchenfremdheit“ mittelfristig auf ihre Kinder und beeinflussten so deren Verhältnis zur Institution Kirche.128 Noch entscheidender war: Alternative Freizeitangebote standen unabhängig vom politischen System dauerhaft in Konkurrenz zur Teilnahme am kirchlichen Leben.129 Von der Basis wurden die Kirchenleitungen dazu aufgefordert, diese Entwicklung nicht nur zu beklagen, sondern die Verantwortung dafür bei sich selbst zu suchen, wie es in einem Brief an Bischof Dibelius formuliert wurde: Solange die Funktionäre der Kirchen sich nicht dem herrschenden Zeitgeist anpassen, solange sie uns immer wieder nur die ollen Kamellen vorhalten, an die kein aufgeschlossener Mensch mehr glaubt, solange sie nicht die den denkenden Menschen brüskierenden verstaubten Dogmen und veralteten Sakramente zeitgemäss abwandeln, ist die Religion in der gegenwärtigen Form ganz bestimmt gefährdet.130

entwickelt sich zunehmend zu einer Minderheitskirche. Reise in die „Republik“, in: Berliner Sonntagsblatt 11.12.1977, S. 3. 125 Du sollst nicht allein sein!, in: Die Kirche 18.1.1959, S. 1. 126 Gemeindebericht Miersdorf 1956. ELAB 86/62. 127 Abschied vom Bistum Berlin, in: St. Hedwigsblatt 27.8.1961, S. 2. 128 Vgl. Visitationsbericht Immanuel II 13.10.1954. ELAB 86/61. Siehe auch: Visitation der Jungen Gemeinden Berlin Stadt I 1972. ELAB 35/7367. Siehe auch: 15 Pfarrer an die Kirchenleitung BerlinBrandenburg 18.11.1969. ELAB 1/3702. Oder: Gespräch mit dem Vorstand der Gesamtmitarbeitervertretung, Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über das Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt Dezember 1973 – Oktober 1974. ELAB 36/524. 129 Vgl. Gedanken zur derzeitigen Situation von Kirche und Gesellschaft in der DDR 1983. ELAB 86/542. 130 Wildermann an Herrn Bischof Dr. Dibelius 16.11.1962. DAB I/14–6-2.

3.2 Gefühlte Trennungen: unterschiedliche Alltagswirklichkeiten



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Folglich ereigneten sich die oft nur auf den Kalten Krieg zurückgeführten Trennungsmomente zwischen ost- und westdeutschen Christen gleichzeitig mit einer systemübergreifenden Entfremdung zwischen Kirchenleitung und Kirchenbasis. Diese begann spätestens in den 1950er-Jahren, erreichte Ende der 1960er-Jahre ihren vorläufigen Höhepunkt und blieb auch darüber hinaus prägend.131 Im weiteren Verlauf dieses Kapitels ist diese Parallelentwicklung systemimmanenter und systemübergreifender beziehungsweise intern und extern bedingter Veränderungen deshalb immer mitzudenken.

Die Wahrnehmung von Unterschieden: eine Bestandsaufnahme Der Nächste jenseits der Grenze wurde immer öfter als ein Anderer wahrgenommen. Die institutionellen Trennungen verstärkten den Eindruck, dass nicht nur staatlicherseits, sondern auch in den Gemeinden zunehmend zwischen Ost und West unterschieden wurde. Allein die Existenz unterschiedlicher Alltagswirklichkeiten in beiden Stadthälften stellte den kirchlichen Einheitsanspruch in Frage und führte dazu, dass zwischen Uns und Anderen unterschieden wurde:132 Der Westen, konstatierte der evangelische Theologe Karl Barth kulturkritisch, sei gekennzeichnet vom „Wirtschaftswunder, mit seinem gedankenlosen Anschluß an die Nato, mit seiner Remilitarisierung, seinem Militärseelsorgevertrag, seiner Atomwaffen-Aufrüstung, seiner panischen Russenangst.“133 Der American Way of Life prägte Werte und Verhaltensvorstellungen. Die ostdeutsche Gesellschaft erschien demgegenüber, trotz weitreichender ökonomischer und politischer Reformen, zunächst traditioneller.134 Während die DDR und Ost-Berlin schon in den zeitgenössischen westlichen Quellen als Mangelgesellschaft – materiell wie informativ – beschrieben wurden, 131 Die Konfliktlinien verliefen dabei unter anderem zwischen jungen und alten Gemeindemitgliedern sowie zwischen progressiven und traditionellen Gemeinden. Vgl. Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über das Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt, Dezember 1973-Oktober 1974, Bericht. ELAB 36/524. Siehe auch: Fragebogen Hennigsdorf 1962. ELAB 86/65. Sowie: Kirche in der DDR, in: Der Christ 18.4.1969, S. 3. Und: Ziemann, Benjamin: Kirchen als Organisationsform der Religion. Zeithistorische Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), https://zeithistorische-forschungen.de/3-2010/4768 [15.6.2021]. 132 Vgl. Halbrock: Zwischen Himmel und Mauer, S. 312. Siehe auch: Luckmann, S. 34. 133 Barth, Karl: Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik, St. Gallen, 1958, S. 43. 134 Vgl. Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 7. Siehe auch: Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung, S. 302.

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Kapitel 3: Entfremdung

erschienen West-Berlin und die Bundesrepublik als Überflussgesellschaft.135 Diese Unterschiede blieben nicht ohne Einfluss auf die Berliner Kirchen.136 Der Berliner Propst Heinrich Grüber forderte daher schon 1950, dass Ost- und West-Berlin nicht länger auf der Grundlage ihrer politisch forcierten Gegensätzlichkeit dargestellt werden sollten: Wo findet sich in Berlin eine Presse, […], die den Mut hat, auf die Schwarz-Weiß-Malerei zu verzichten und diesem Propagandakrieg keine Vorspanndienste zu leisten? Es ekelt einen förmlich an, immer wieder in den Zeitungen dasselbe zu lesen, daß hüben alles glänzend und gut und auf der anderen Seite alles verlogen und verdorben ist.137

Doch auch innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft fiel es einzelnen Mitgliedern schwer, nicht zu polarisieren. Otto Dibelius haderte wie Grüber mit der Gesamtsituation, kam aber letztlich zu dem Schluss, dass die westliche Gesellschaft das kleinere Übel darstellte und der Kommunismus unbedingt abzulehnen sei. Aus dieser konservativen Überzeugung leitete er seine kirchenpolitischen Entscheidungen ab. 138 Gemeindemitglieder argumentierten oft anders. Sie verglichen zunächst das, was sie in Ost und West sinnlich wahrnahmen: „Ging schon los: Der Geruch. Wenn man über die Grenze ging, das hat anders gerochen. Wir heizten alle mit Kohle und hatten […] Benzinmotoren mit […] Ölgemisch drin und ging man über die Grenze, das hat alles viel […] süßlicher gerochen.“139 Neben diesen olfaktorischen Besonderheiten fiel auf, dass sich das Aussehen und Verhalten von West- und OstBerlinern ebenfalls voneinander unterschied.140 Der in Luckenwalde ansässige A. R. besuchte häufiger seine in West-Berlin lebende Schwester. Er erinnerte sich: Ne völlig andre Welt war das. Ich meine, nicht nur, es war nicht nur diese, ähm Konsum, was, was alles möglich war. Ja?! Sondern es war ebend die Freizügigkeit und das alles und,

135 „Eins ist klar: Die aufgezählten ideologischen Aspekte werden zum großen Teil von den Christen in Ost und West übernommen. Hier die sogenannte Freie Welt – dort die sogenannte Totalitäre Welt. Hier die freie sozialistische – dort die unfreie kapitalistische Welt.“ Bezeugen Sie uns die christliche Freiheit, Herr Bischof! Offener Brief an Bischof Dibelius, in: Die Stimme der Gemeinde 15.1.1959, S. 42. Vgl. Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 181. Siehe auch: Interview mit J. K. 24.6.2017, S. 2. 136 Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm: Die evangelischen Kirchen als kritische Institution und Brücke zwischen Ost und West, in: Kleßmann, Christoph/Misselwitz, Hans/Wichert, Günter (Hrsg.): Deutsche Vergangenheiten – eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nationalgeschichte, Berlin 1999, S. 228. 137 Berlin in der Friedensfront, in: Die Kirche 18.6.1950, S. 1. 138 Vgl. Dibelius: Ein Christ, S. 236. 139 Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 21. 140 Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 9.

3.2 Gefühlte Trennungen: unterschiedliche Alltagswirklichkeiten



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was mich auch manchmal bedrückt hat. Wir waren ja sehr konservativ aufgewachsen. Ich weiß noch, das war allerdings etwas später schon, [hustet] da hatten wir ne Druckerei mal in West-Berlin eingerichtet und dann war ich mit drüben. Und da war grade damals… muss in 60er-/70er-Jahren gewesen sein… so die, die Sexwelle, wo auf den, auf den Zeitungen große, nackte Frauen abgebildet waren oder irgendwas oder Liebe mit’m Rohrstock und solche Sachen. Ich hab’ mich nicht getraut an den Kiosk hinzugehen und mir das anzugucken. Da hab’ ich mich geschämt. [lacht] Ja! So war ich doch erzogen. Hab gedacht, was… was ist denn das für Sodom und Gomorrha? [lacht]141

Offensichtlich waren aber nicht nur jene Unterschiede, die Lebensstile und Möglichkeiten der Lebensführung betrafen. Ebenso deutlich stachen Konsumunterschiede ins Auge.142 Hinzu kamen regionale Mentalitätsunterschiede, die die Beziehungen vor, während und nach dem Kalten Krieg prägten. Verständigungsschwierigkeiten existierten nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschen: Bayern unterschieden sich von West-Berlinern sowie Ost-Berliner von Sachsen und Hauptstädter von Menschen aus der Provinz.143 Wie aber wirkten sich die wahrgenommenen Unterschiede konkret auf das kirchliche Leben vor Ort aus? Vor dem Hintergrund, dass die Einheit der Kirchen zeitgenössisch als unabdingbar postuliert wurde, zeichnete sich rasch ein Problem ab: Die im persönlichen Umgang wahrgenommenen Unterschiede stellten in Kirchen und Gemeinden Distanzen her.144 Der in Kassel geborene Pfarrer Ernst-August Ide, der seit den 1950er-Jahren als Gemeindepfarrer im brandenburgischen Mühlberg an der Elbe tätig war, verwies auf den engen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem und kirchlichem Leben: „Der Westen war für mich zu keiner Zeit ein Traum. Vom Westen hatte ich eine sehr realistische Vorstellung. Getäuscht hatte ich mich allenfalls über die Verhältnisse in der Kirche. Hier überraschten mich Hektik und atmosphärische Kälte und ein Defizit an Seelsorge.“145 Andere Kleidung und anderes Auftreten in Kombination mit stereotypen Vorstellungen und medialen Zuschreibungen vom Leben der Anderen fielen auf und sorgten für Befremden. Siegfried Schmidtmann, langjähriger Leiter der Studentenarbeit der evangelischen Freikirchen in Ost-Berlin und hauptberuflich als Entwicklungsingenieur für Nachrichtentechnik tätig, machte deutlich, dass die unterschiedlichen Umgangsformen verbunden mit starken Erwartungshaltungen einen merkwürdigen Eindruck bei ihm hinterließen: 141 Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 5. 142 Ebenda, S. 17–18. „Ich trat hinaus in diese völlig andere Welt. Vor mir sah ich die Gedächtniskirche, den irren Verkehr, an der gegenüberliegenden Ecke einen Blumenstand mit herrlichen Blumen. Und das im Herbst, dachte ich.“ Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 120–121. 143 Vgl. Rittberger-Klas, S. 260. 144 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 6. 145 Linke: „Streicheln bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 100.

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Wir hatten ja als Bundesleitung immer wieder Treffen mit der westdeutschen Bundesleitung und dass uns auffiel, wenn wir uns im Osten alle mit Vornamen nannten und sie hatten Bruder und Nachnamen. Das fiel uns schon auf. Und auch, dass sie auch fast alle im schwarzen Anzug erschienen. Und uns nicht verstanden, d. h. ich wurde auch angesprochen, ich müsste doch längst im Untergrund sein als Christ. Aber wenn ich dann sagte, ich bin Abteilungsleiter, das verstanden sie überhaupt nicht.146

Dass sich außerdem der Sprachgebrauch im Ostteil der Stadt von dem in West-Berlin deutlich unterschied, wurde ebenfalls kommentiert: „Auffällig war natürlich, so ne äußerliche Sache, dass zum Beispiel in, im Osten das Berlinern als Dialekt galt und bei uns im Westen war das ja absolut das spricht man nicht. Das sind Underdogs.“147 Solche Rückschlüsse standen in einem engen Bezug zur Stellung der Kirchen in den jeweiligen Gesellschaften. Das Verhältnis von Kirche und Politik war in Ost und West ein grundlegend anderes: In westdeutschen Gemeinden waren Kontakte zu politischen Stellen quasi eine Selbstverständlichkeit. Im Osten war die Vernetzung kirchlicher und politischer Akteure hingegen äußerst unüblich: Als junger Pfarrer in der katholischen Gemeinde Michendorf bei Potsdam, wo knapp 3.000 Menschen lebten, hatte der spätere Weihbischof Weider keinen Kontakt zum Bürgermeister.148 „Durch die strikte Trennung der Kirche vom Staat […] mußte sie [die Kirche] lernen, ohne Privilegien, ohne Beteiligung an der Macht zu leben.“149 Als entsprechend begrenzt nahm Weider seine Handlungsmöglichkeiten wahr. War er auf eine Kooperation mit kommunalen Funktionären angewiesen, wie etwa bei kirchlichen Bauvorhaben, stellte er sich auf lange und zähe Verhandlungen ein, die zudem oftmals von übergeordneten Stellen angeleitet oder geführt wurden. Der mehr oder minder staatlich erzwungene Rückzug in den innerkirchlichen Bereich blieb indes nicht ohne Folgen für das Gemeindeleben: Ost-Gemeinden waren oftmals weniger offen für kritische Diskurse, weil ihnen Inputs von außen fehlten. Erreichte sie dennoch Kritik, waren sie im Umgang damit nicht geübt.150 Das machte Reformen schwierig und Veränderungen unwahrscheinlich. Die Abschottung der Gemeinden erschwerte den Zugang. Die Strukturen in den Kerngemeinden verfestigten sich zwar, aber es war nahezu ausgeschlossen, dass sie 146 Interview mit Siegfried Schmidtmann 2005. OA, ohne Signatur, S. 13. Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 9. Sowie: Interview mit Herbert Morét 1999. OA, ohne Signatur, S. 32. 147 Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 20. 148 Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 1. Vgl. Generalkirchenvisitation Pankow 1962. ELAB 86/64. Siehe auch: Pfarrsprengel Halbe 1956. ELAB 86/62. Sowie: Generalkirchenvisitation Weißensee, 15.-23. Mai 1971. ELAB 86/214. 149 Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 20. 150 Vgl. Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 2.

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wuchsen oder sich vernetzten.151 C. D. aus Ost-Berlin schilderte die Konsequenzen dieser Abschottungspraxis: „Ich wusste, der Preis, den man bezahlt, ist […] ein Verlust an Lebendigkeit, an […] Außenorientierung und so weiter, Selbstdarstellungsfähigkeit, an Kommunikations-, Dialogfähigkeit und -bereitschaft.“152 Aus Sicht der West-Berlinerin E. F. war diese Entwicklung wenig überraschend: Das war eigentlich auch logisch, weil im Osten hat, hatte man […] nen gemeinsamen Feind. Und dann bleibt man natürlich in seinen Traditionen und […] im Gegenteil man verstärkt die dann noch. Während man im Westen natürlich neue Wege suchte, damit auch moderne Menschen sich kirchlich engagieren konnten, […].153

Der äußere Druck, der auf den Gemeinden lastete, schien diese in gewisser Weise zu lähmen. Erst vor diesem Hintergrund ist verständlich, warum bestimmte Traditionen anders als etwa in West-Berlin nicht kritisch in Frage gestellt wurden. Es gibt dafür viele Beispiele: West-Berliner Katholiken mussten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht mehr nüchtern zur Kommunion gehen. In Ost-Berlin hielt man an dieser Tradition hingegen fest. In West-Berlin wurden Mädchen als Ministrantinnen zugelassen. In Ost-Berlin erschien ein solcher Schritt bis zum Mauerfall undenkbar. Außerdem durften katholischen Frauen im Ostteil der Stadt, anders als in West-Berlin, nicht als Lektorinnen am Gottesdienst mitwirken.154 Nicht immer wurde das Auseinanderdriften der Kirchen darauf zurückgeführt, dass die Menschen in Ost und West in zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen lebten. S. T. erläuterte, dass man sich kirchenintern durchaus auch Gemeinsamkeiten bewusst machte. Derlei Vergleiche trugen aber oftmals zur Ernüchterung bei, anstatt eine Überbrückungsfunktion zu übernehmen und das Einheitsgefühl zu stärken.155A. R. bemerkte ebenfalls, dass die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten nicht automatisch Nähe oder Solidarität erzeugte. Probleme, die es im Westen zwar durchaus gab, seien benannt und registriert worden. Aus ostdeutscher Perspektive fielen sie aber letztlich weniger stark ins Gewicht: „Das war wahrscheinlich den Bundesbürgern wichtig, auch mal ihre Probleme zu sagen. Das man nicht bloß gesagt hat, also ihr lebt hier im Paradies und ihr drüben, ihr

151 „Bei dem Gespräch wurde deutlich, dass jede Gemeinde nur die eigenen Interessen im Auge hat, es aber schwer fällt, übergemeindliche Aufgaben zu sehen und mit zu verantworten.“ Sitzung des Kreiskirchenrates Teltow am 21. Oktober 1969. ELAB 86/248. Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 8. Siehe auch: Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 7–8. 152 Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 16. 153 Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 7. Vgl. Rigoros und zurückhaltend zugleich, in: Süddeutsche Zeitung 13.7.1987, S. 4. 154 Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 8. 155 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 6.

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seid also die Armen und Unterdrückten.“156 Versuche, auf diese Weise Gleichheit zu postulieren, misslangen in der Regel. Kritik am eigenen System, wenn sie von westdeutschen Christen vorgetragen wurde, entsprach nicht den hohen Erwartungen ostdeutscher Kirchenmitglieder. Bei einer Konferenz der Evangelischen Studentengemeinde in Dresden beschwerten sich Teilnehmende aus Westdeutschland schon 1953 darüber, nicht einmal nach möglichen Problemen gefragt worden zu sein.157 Das Wissen darüber, dass „die auch nur mit Wasser kochen… von wegen gelobtes Land im Westen“ 158, sorgte bei den Ostdeutschen allenfalls für Desillusionierung, aber erzeugte keine Empathie, erläuterte der Ost-Berliner Zeitzeuge Kohl. Der Historiker Christian Halbrock, in den 1980er-Jahren unter anderem Mitglied der oppositionellen Umwelt-Bibliothek in Ost-Berlin, kommt daher zu dem Schluss: „Auf die Solidarität aus dem angeblich gefühlskalten Westen antworteten Einzelne aus der vermeintlich solidarischen Ostgesellschaft gelegentlich mit offenem Egoismus.“159 Die West-Berlinerin E. F. sah im Desinteresse Ost-Berliner Gemeindemitglieder außerdem eine Abwertung des kirchlichen Lebens in West-Berlin: „[Dort] waren eben nicht die ganz guten Christen, sondern eher die [lacht], die Liberalen und liberal im Sinne von nicht so gut.“160 Weihbischof Weider bestätigte diese Aussage aus seiner Ost-Berliner Perspektive: „Das war nen ganz großes Problem, weil die, die Ost-Berliner sagten: Das sind, mit denen können wir nicht, die sind zu, uns zu liberal, zu weltlich. Die sind auch noch, ‚auch noch‘ katholisch und wir sind ‚zuerst‘ katholisch.“161 Dieses Narrativ hatte jahrzehntelang Bestand. 1987 erklärte der evangelische Bischof in Ost-Berlin, Gottfried Forck, gegenüber dem SPIEGEL: „Ich habe, […], mit der Predigt im Westen größere Schwierigkeiten als hier. Wie die Menschen im Gottesdienst einen angucken, wie sie mitgehen – das ist mir hier leichter.“162 Prälat Steinke überlegte rückblickend: „Vielleicht hing das auch nen 156 Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 11. 157 Noack, Axel: Die evangelische Studentengemeinde im Jahr 1953. Hintergrundinformation zu einem Kapitel der SED-Kirchenpolitik, in: Dähn, Horst/Gotschlich, Helga (Hrsg.): „Und führe uns nicht in Versuchung…“ Jugend im Spannungsfeld von Staat und Kirche in der SBZ/DDR 1945–1989, Berlin 1998, S. 73. 158 Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 5. 159 Vgl. Halbrock: Basisarbeit, S. 540. 160 Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 10. 161 Interview mit Weihbischof Weider 3.4.2017, S. 20. Vgl. Gespräch mit Kardinal Döpfner 15.6.1960. BStU MfS Abt. X 2069. 162 „Wir sind eine unabhängige Vertrauensinstanz.“ Der Ost-Berliner evangelische Bischof Gottfried Forck über Staat und Kirche in der DDR, in: Der SPIEGEL 18.5.1987, S. 92. Diese Erfahrung machte auch der Pfarrer Egon Rössler, der 1977 in die Bundesrepublik ausreiste: „Ich habe mich in der Predigt gern auf das Terrain der politischen Verantwortung des Christen begeben, weil ich mich zu wenig kompetent in der westlichen Wirklichkeit fühlte. Ich hatte den Eindruck: Wo die

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bisschen zusammen mit den etwas chaotischen Zuständen in West-Berlin.“163 Er spielte auf die Studentenbewegung an, an der auch die Katholische Studentengemeinde in West-Berlin beteiligt war. Für die Ost-Berliner Katholiken hätten die Ereignisse um das Jahr 1968 einen entscheidenden Wendepunkt im Denken über die West-Berliner dargestellt: Sie waren sich darin einig, mit den West-Berliner Kirchenmitgliedern „eigentlich nicht so groß kooperieren zu wollen.“164 Folgt man dieser Aussage, war es nicht nur der Mangel an Möglichkeiten, der den Dialog zwischen Ost und West erschwerte, sondern auch der fehlende Wille dazu. Es gab kein Interesse an einem Austausch.

Der Mauerbau und die Kirchen Gerade an der Kirchenbasis führte das Fehlen gemeinsamer Alltagserfahrungen zu massiven Kommunikationsstörungen, die als Entfremdung wahrgenommen und beschrieben wurden.165 Der Mauerbau 1961 verstärkte diese Entwicklung, aber er stellte keineswegs den Ausgangspunkt dar, wie oft angenommen wird.166 Staatliche Abschottungs- und Repressionsmaßnahmen seitens der DDR-Regierung hatten die Kommunikation zwischen ost- und westdeutschen Christen schon vor 1961 behindert.167 Sie sind daher als schwierige Hürden, aber nicht als alleinige Ursachen der hier beschriebenen Distanzierung zu verstehen. 1955 monierte der evangelische Bischof Dibelius in der West-Berliner Kirchenzeitung: „Wo sich aber Brüder im Westen nicht einmal nach Berlin trauen, weil sie völlig unbegründete Angst haben, es könnte ihnen hier etwas passieren, da wird ihnen am Ende einmal auch von der Kirche gesagt werden müssen, daß sie alle Ursache haben, sich vor Gott und vor ihrem Volk zu schämen.“168 Dibelius war der Meinung, dass ein Besuch westdeutscher Kirchenmitglieder in Ost-Berlin und der DDR nicht an der DDR-Regierung und ihren unbequemen Reiseauflagen, sondern

tatsächlichen Gefährdungen beziehungsweise Fronten bestehn, das war im Osten klarer.“ Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist!“, S. 114. 163 Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 28. 164 Ebenda. 165 Vgl. Murken, Jens: Westfälische Kontakte in DDR-Kirchengemeinden vor 1989, in: epd: Dokumentation 14/15 (2013), S. 40–41. Zu habituellen Traditionen protestantischer Theologen vgl. Graf: Die evangelischen Kirchen, S. 236. 166 Vgl. Lagebericht Döpfners vor der Fuldaer Bischofskonferenz 29.-31.8.1961. EA Berlin V/7–23, abgedruckt in: Akten Deutscher Bischöfe. DDR 1957–1961, S. 376. 167 Vgl. Seidel: Neubeginn, S. 194. 168 Eine Kirche im geteilten Deutschland, in: Berliner Sonntagsblatt 30.10.1955, S. 5.

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am fehlenden Willen der Westdeutschen scheiterte. Der Mauerbau habe sie bloß um eine Ausrede weniger verlegen gemacht. Hier deutet sich an, warum der 13. August 1961 schon von Zeitgenossen nicht nur als Spaltungsmoment, sondern auch als ein Moment der Entlastung oder Beginn einer Emanzipation gelesen wurde: Denn erst die Mauer, die die physische Trennung Berlins manifestierte, machte kirchliche Verselbstständigungsprozesse zwingend notwendig und somit legitim.169 Die Erleichterung darüber, nicht mehr Rücksicht nehmen zu müssen einerseits und das Problem, dem Selbstanspruch dabei nicht gerecht werden zu können andererseits, erklärt, warum Kirchenmitglieder wie Kurt Scharf den Tag des Mauerbaus im Rückblick ambivalent wahrnahmen.170 1969 machten 15 evangelische Pfarrer aus West-Berlin in einem Brief an die Kirchenleitung deutlich, warum auch sie dem Mauerbau und seinen Folgen durchaus etwas Positives abgewinnen konnten: „Die Zeit, in der man meinte, ‚mit Rücksicht auf die Brüder im Osten‘ nicht offen reden zu können [war vorbei].“171 Die evangelischen Pfarrer spielten auf ein Prinzip der Rücksichtnahme an, das zu lange vorgeherrscht habe. Sie beklagten, dass das Schicksal der West-Berliner Kirchen von den Interessen Ost-Berliner Kirchenmitglieder und der Willkür der DDR-Regierung abhängig gemacht wurde. Der Mauerbau habe solche Interventionen erschwert und infolgedessen deutlich minimiert. Die politischen Zäsuren gingen mithin nicht mit den emotionalen Zäsuren einher. Aus den Quellen geht hervor, dass die Ungleichheit der individuellen Zukunftsperspektiven und die damit einhergehenden Ängste (Ost) beziehungsweise die Zuversichtlichkeit (West) der Akteure die Distanz zwischen ost- und westdeutschen Christen vergrößerte. Die Menschen in Ost-Berlin und der DDR konnten nie gänzlich ausschließen, wegen ihrer Religionszugehörigkeit oder Religionsausübung diskriminiert zu werden. Das heißt nicht, dass ostdeutsche Christen in ständiger Angst vor staatlichen Repressionen lebten. Aber die Mehrzahl der Kirchenmitglieder machte irgendwann eine mehr oder weniger einschneidende Erfah-

169 „Wir dachten immer, der Walter Ulbricht, der bleibt nicht ewig. Die DDR verstanden wir als Provisorium, also was sollten wir uns darauf einstellen. Und das ändert sich dann nach dem Mauerbau. Und plötzlich mußten wir uns den, den der Situation stellen und haben ganz schnell ein Seminar gegründet und ein Gemeindejugendwerk, […?], eigene Arbeitshilfen hergestellt, mehr oder weniger provisorisch, wir haben, wir haben ein Rüstzeitwesen aufgebaut, um den Kindern auch ein Gemeinschaftserlebnis […] zu vermitteln.“ Interview mit Manfred Preuße 2000. OA, ohne Signatur, S. 6. Vgl. Interview mit Rolf Dammann 2.8.2000. OA, ohne Signatur, S. 2–3. Siehe auch: Furian: Erinnerungen an den 13. August 1961, S. 183. 170 Vgl. Scharf: Brücken und Breschen, S. 127–128. 171 15 Pfarrer an die Kirchenleitung Berlin-Brandenburg 18.11.1969. ELAB 1/3702.

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rung, die sie daran erinnerte, dass ihre Religionszugehörigkeit nicht der Staatsdoktrin entsprach und negative Auswirkungen nach sich ziehen konnte. Christen in West-Berlin und der Bundesrepublik war dieser Widerspruch hingegen fremd. Ihr Sicherheitsempfinden unterschied sich grundlegend von dem der Kirchenmitglieder jenseits der Mauer.172 Das Wissen darum konnte das Miteinander beeinflussen, aber es erzeugte bei den Westdeutschen nicht automatisch Gefühle der Betroffenheit. Solche emotionalen Leerstellen zu überbrücken, fiel schwer. Paul Plume aus Ahrensfelde in Brandenburg erinnerte sich: „Die anderen wussten das. Sie haben das ein bisschen andächtig gehört, was wir so gemacht haben, aber sie steckten nicht drin.“173 Auch der evangelische Propst Friedrich Winter verwies darauf, dass selbst Rücksichtnahme im Umgang nicht zwangsläufig bedeutete, die Situation des Anderen zu verstehen: „Das Leben in antagonistischen Gesellschaftssystemen schuf Verständnisbarrieren und führte zu Irritationen.“174 Otto Dibelius führte die damit einhergehenden Probleme in seinen „Reden an eine gespaltene Stadt“ 1961 im Kern auf eine Frage zurück: „Wer ist unser Nächster?“175 In dem Moment, wo die Antwort auf diese Frage Christen aus dem Ost- oder dem Westteil der Stadt nicht mehr miteinbezog, vollzog sich die gefühlte Trennung. Wann das war, fiel im Einzelfall unterschiedlich aus. Dass Dibelius Entfremdung thematisierte, indem er eine Frage stellte, war ungewöhnlich. Gemeinhin fiel er durch Aussagen auf, die keinen Zweifel daran ließen, auf wessen Seite er sich positionierte. Zwei Jahre vor dem Mauerbau warf ihm Pfarrer Heinrich Treblin deshalb in einem offenen Brief vor, dass Dibelius’ Argumentationsstrategie kontraproduktiv sei. Er spalte die Gemeinschaft mehr, als sie zuammenzuhalten: Wem soll Ihre Proklamation eines bürgerlich-humanistischen Freiheitsideals in der Ostberliner Marienkirche eigentlich helfen? Was ist das für ein Trost für die angefochtene Gemeinde, daß man denen, die ja in ihrem Sinne schon „unfrei“ sind, versichert, christlicher Glaube könne sich in solcher Atmosphäre nicht entfalten?176

Treblin wies darauf hin, dass die Teilung für die Menschen längst zur Selbstverständlichkeit geworden war. Auch viele Kirchenmitglieder dachten in der Logik

172 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 497. 173 Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 3. 174 Flor, Georg: Rückschau und Einsichten. Statt einer Bilanz, Neuhausen/Stuttgart 1992, abgedruckt in: Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 138. 175 Dibelius: Reden, S. 17. 176 Bezeugen Sie uns die christliche Freiheit, Herr Bischof! Offener Brief an Bischof Dibelius, in: Die Stimme der Gemeinde 15.1.1959, S. 39.

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des Kalten Kriegs.177 Diese Tatsache zu übergehen, appellierte er an die Kirchenleitung, leiste der Spaltung Vorschub, anstatt ihr etwas entgegenzusetzen. Schließlich, so Treblin weiter, würde es der Kirchenleitung selbst nicht gelingen, sich vom Schwarz-Weiß-Denken des Systemkonflikts zu distanzieren: Ideologische Scheuklappen legen sich von beiden Seiten her vor die Augen der Menschen. […] Der Westen nimmt den Osten nicht ernst, der Osten den Westen nicht. Stattdessen hat man Angst, denn was einem fremd ist, schafft Furcht. […] Für sehr viele Heiden und Christen im Osten ist die Kirche der verlängerte Arm Adenauers in der DDR, für einen Großteil der Bürger Hort der Reaktion, und darum entsprechend positiv oder negativ zu bewerten. Friedenspastoren und CDU-Christen gelten von vorneherein als Heuchler. Die westdeutsche Kirche wird von unseren Zeitungen und vielen Christen ebenso ideologisch aufgespalten: Adenauer, NATO und Dibelius gehören zusammen wie Heinemann, Niemöller und Wilhelm Pieck.178

In diesem Kontext machten sich auch generationelle Unterschiede bemerkbar. Gefühle der Verbundenheit und der Wille zur Einheit wurden nicht quasi automatisch auf jüngere Generationen übertragen. Sie konnten allein aufgrund unterschiedlicher Sozialisationserfahrungen nicht einfach vorausgesetzt werden.179 Die West-Berlinerin F.J, die seit den 1970er-Jahren regelmäßig Waren für eine katholische Gemeinde nach Ost-Berlin schmuggelte, berichtete von dem Konflikt mit einem ihrer Söhne: „Ich hab nen großen Disput gehabt mit meinem fünfjährigen Sohn, weil ich immer von Berlin sprach und er hat mich angemeckert […]: ‚Berlin ist hier.‘ Ich sollte das da drüben nicht Berlin nennen. […] Ob das nun jetzt Ost-Berlin war oder Afrika war egal, ja?“180 Die Konsequenzen aus einer solchen Haltung beschrieb der Berliner Propst Winter wie folgt: „Die jüngere Generation [aus dem Westen] ohne Verwandte im Osten knüpfte keine Verbindungen zum Osten und reiste nur ins westliche Ausland in den Urlaub. Umgekehrt wuchs eine kirchliche

177 Vgl. ebenda, S. 43. Zu diesem Ergebnis war die Synode der Evangelischen Kirche der Union bereits 1959 gekommen: „Die Synode spricht das aus in dem Bekenntnis, daß unter uns Christen selbst das Freund-Feind-Denken des Kalten Kriegs um sich zu greifen droht und damit die Einheit der Christenheit schwer gefährdet wird.“ Ruf aus der Not, in: Die Kirche 22.2.1959, S. 1. 178 Bezeugen Sie uns die christliche Freiheit, Herr Bischof! Offener Brief an Bischof Dibelius, in: Die Die Stimme der Gemeinde 15.1.1959, S. 42. 179 Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 197. Siehe auch: Kunter: Erfüllte Hoffnungen, S. 142–145. 180 Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 21. Afrika bildete immer wieder einen Bezugspunkt, wenn es darum ging, die Entfremdung zwischen Ost- und West-Berlin zu beschreiben. Vgl. Rauer: Die kirchlichen Verhältnisse in West-Staaken, S. 171. Siehe außerdem: Knauft: Katholische Kirche, S. 9. Und: Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 197.

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Generation im Osten heran, die ohne eine Verbindung nach West-Berlin gelebt hatte und lebte.“181 Bedingt durch die staatliche Abschottungspolitik der DDR verschlechterte sich der Informationsaustausch zwischen den Gemeinden zunehmend. Hinzu kam, dass immer weniger Pfarrer aus dem Westen in den Osten migrieren wollten. Mentale Annäherungsversuche, aber auch Wissenstransfers blieben aus.182 Zudem besetzten nun häufiger Personen Pfarr- und Gemeindeämter, die ausschließlich in ihrem jeweiligen Teilstaat sozialisiert und ausgebildet worden waren und denen deshalb Einblicke in das jeweils andere System fehlten. Das Selbstverständnis dieser Menschen unterschied sich von dem ihrer Vorgänger und älteren Kollegen. Viele waren nicht länger bereit, sich in gängige Rollenbilder zu fügen: Der Ost-Berliner Matthias Kohl beschrieb Minderwertigkeitsgefühle, die er im Austausch mit Katholiken aus dem Westen empfand: „Das ham wir schon gemerkt, dass das irgendwie, […], na, nicht dass die am längeren Hebel sitzen, sondern, dass wir immer so ‚Danke‘ […] sagen müssen.“183 Gerade junge Pfarrer aus dem Osten kritisierten, dass sie von Westdeutschen überwiegend als Abhängige oder Opfer gezeichnet würden, die nur danach trachteten, ein Leben in der Bundesrepublik zu führen.184 Dabei „war diese [junge] Generation“, wie der Pfarrer Dietmar Linke schrieb, „in der DDR aufgewachsen [und] nahm ihre ‚Gegebenheiten‘ als Voraussetzungen.“185 Die in diesem Kontext oftmals genannte finanzielle Unterstützung der evangelischen Landeskirchen in der DDR und Ost-Berlin seitens ihrer Partnerkirchen in Westdeutschland, änderte daran wenig. Zwar wurden im Rahmen der Ostpfarrerversorgung186 oder der Bruderhilfe187 zweifellos enorme Summen zur Verfügung gestellt. Doch ist fraglich, ob diese Mittel in der DDR und Ost-Berlin gerade von jüngeren Pfarrern als großzügige Spende oder, wie Peter Maser meint, „weitgehend als selbstverständlich be-

181 Winter: Auf dem Weg, S. 112. 182 Vgl. Halbrock: „Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen“, S. 128. 183 Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 7. 184 Vgl. Kunter, Katharina: Zwischen Antikommunismus und ökumenischer Idealisierung. Prägende Orte und Milieus für das DDR-Kirchenbild im Westen, in: epd Dokumentation 14/15 (2013), S. 36. Siehe auch: Lepp: Tabu der Einheit?, S. 375. Und: Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 197. 185 Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 74. Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 19. 186 Ostpfarrerversorgung heißt die Übernahme der Pensionsleistungen durch die westdeutschen Landeskirchen für Pfarrer und Pfarrwitwen, die aus der DDR in die Bundesrepublik ausreisten. 187 Bruderhilfe bedeutet, dass Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter in der Bundesrepublik auf einen Teil ihres Lohnes verzichteten und dieser Betrag stattdessen ostdeutschen Pfarrern und Mitarbeitern zu Gute kam.

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trachtet“ wurden.188 Das alles traf ebenso auf weite Teile der nachfolgenden Priestergeneration zu, die darüber hinaus ihre Handlungsspielräume vor Ort immer besser einzuschätzen lernte, wie Prälat Roland Steinke, geboren 1936, klarstellte: „Als Kirchlicher waren se natürlich vom Staat eingruppiert, aber sie waren relativ, hatten im Schutz der Kirche relativ viele Möglichkeiten und waren auch relativ geschützt als Priester.“189

Missverständnisse Diese neuen Sichtweisen auf das Leben als Geistlicher in der DDR und Ost-Berlin sind im Zusammenhang mit den sich wandelnden Beziehungen zwischen kirchlichen Institutionen und der DDR-Regierung zu sehen. Westdeutsche Besucher nahmen diese oft irritiert wahr. Vielfach widersprach es ihren Erwartungen, wenn sie Christen trafen, die ein Leben in der DDR dem in der Bundesrepublik vorzogen.190 Indes gab es im Westen junge, überwiegend evangelische Pfarrer, die mit linken, vor allem marxistischen Theorien sympathisierten. Die damit einhergehende Begeisterung für die DDR und „die schönen Seiten des Sozialismus“, wie es der evangelische Pfarrer Löwenbrück bezeichnete, sorgte allerdings nicht selten für Verwunderung beim ostdeutschen Gegenüber. 191 Dabei fielen die Reaktionen auf Meinungsverschiedenheiten oder auch Missverständnisse zwischen ost- und westdeutschen Christen nicht immer verständnisvoll aus. Das Unwissen der Anderen und der Umgang damit wurden von ostdeutschen Gemeindemitgliedern vermehrt kritisiert und als Desinteresse, Provokation, Überheblichkeit oder sogar Interventionsversuch in die Verhältnisse vor Ort interpretiert.192 Der Weißenseer Arbeitskreis, eine 1958 gegründete Gruppe SED-naher Theologen in der DDR, appellierte im April 1966 an die Kirchenleitung der EKiBB:193 Hier wird der Versuch gemacht, von West-Berlin aus in das Kirchengebiet Berlin-Brandenburg hinein zu sprechen, hinein zu regieren und Einflüsse geltend zu machen. Um dieses zu verhindern, ist zu seiner Zeit die regionale Gesetzgebung geschaffen worden, weil die Situationen Westberlins einerseits und der Deutschen Demokratischen Republik andererseits so

188 Maser: Die evangelischen Kirchen, S. 18. 189 Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 14. 190 Vgl. Kleßmann: Kinder der Opposition, S. 24. Siehe auch: Lepp: Tabu der Einheit?, S. 498 und S. 506. 191 Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 2. Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 22. 192 Vgl. Pfarrsprengel Zeesen 1956. ELAB 86/62. Siehe auch: Lepp: Tabu der Einheit?, S. 332. 193 Vgl. Weber: Getrennt und doch vereint, S. 772–773.

3.2 Gefühlte Trennungen: unterschiedliche Alltagswirklichkeiten



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different sind, daß die Verantwortlichkeiten – auch kirchlich – auf beiden Gebieten jeweils an Ort und Stelle wahrgenommen werden sollen.194

Dass Stimmen wie die des Weißenseer Arbeitskreises Gehör bei der Kirchenbasis fanden und den Graben zwischen Ost und West zu vertiefen drohten, zeigt, welche Auswirkungen Informationsdefizite haben konnten: Ein Grundproblem sah Dietmar Linke in der Tatsache, dass Informationen häufig nur in eine Richtung flossen: „Wer schon einmal die Einbahnstraße von West nach Ost beschritten hat, hat erfahren, daß der Hunger der Menschen im Osten nach Kontakten, nach Begegnungen groß ist. Dieser Hunger erwächst aus der Defizitsituation.“195 Kamen diese Defizitgefühle gegenüber westdeutschen Kirchenmitgliedern zum Ausdruck, reagierten diese, anders als erwartet, nicht nur mit Verständnis, sondern zuweilen auch mit Überforderung, Abwehr oder gut gemeinten Ratschlägen, die, wenn sie etwa auf naiven Ansichten oder fehlenden Kenntnissen beruhten, wiederum Konflikte nach sich ziehen konnten.196 Versuche, dem entgegenzuwirken, waren oft nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein und hatten nur eine begrenzte Außenwirkung. Obwohl frühzeitig ein Problembewusstsein existierte, gab es nur wenige Lösungsansätze, um bestehende Wissenslücken zu füllen. Dabei war man sich in der evangelischen Paulus-Gemeinde im West-Berliner Bezirk Zehlendorf schon 1951 im Klaren darüber, dass „unsere Ältesten wissen müssen, wie die Brüder und Schwestern in der Ostzone zu kämpfen und zu leben haben, unter welchem Gewissensdruck sie stehen, in welcher Angst sie leben.“197 Diese doch starken Bilder von den Gemeindemitgliedern im Osten beruhten vor allem auf einer Lesemappe, die unter den Zehlendorfer Ältesten kursierte und in der Artikel und Zeitschriften zum Thema gesammelt wurden. Es ist bemerkenswert, dass sich die Gemeinde, anstatt den direkten Kontakt zu suchen, auf die Informationen Dritter berief, um Kenntnisse über die Zustände in Ost-Berlin und der DDR zu erlangen. Dem Austausch und Wissenstransfer stand nicht nur die Berliner Mauer im Weg. Auch innerhalb der ostdeutschen Kirchen herrschten erhebliche Wissensdefizite vor. Viele ostdeutsche Katholiken beschäftigten sich nur wenig mit dem politischen System der DDR. Sie misstrauten der offiziellen Berichterstattung oder schöpften alternative Informationsquellen nicht aus. Nicht überall dort, wo Men194 Weißenseer Arbeitskreis an die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg 1.4.1966, Abschrift. BStU MfS 12889/92. 195 Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 181. 196 Vgl. Murken: Westfälische Kontakte, S. 40. 197 Bericht von Generalsuperintendent D. Jacobi auf der Schlußversammlung der drei Zehlendorfer Gemeinden „Ernst-Moritz-Arndt“, „Paulus“ und „Zur Heimat“ über die Generalkirchenvisitation vom 28. September bis 8. Oktober 1951. ELAB 1/8519.

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schen Zugang zu kritischen Medien hatten, wurden diese auch konsumiert. Einseitige Wahrnehmungen und schließlich unkritische Einschätzungen der Gesamtsituation waren die Folge.198 Das bezog sich nicht nur auf politische Themen, sondern auch auf Veränderungen im kirchlichen Leben, wie ein anonymer DDR-Autor 1969 in der alternativen West-Berliner Kirchenzeitung Der Christ anmerkte. Vor diesem Hintergrund werde ersichtlich, warum das Zweite Vatikanische Konzil die Katholiken im Osten so wenig beeindruckt habe: „Es kommt nicht aus seiner Welt, – aus einer Welt, in der er es mitvollziehen könnte.“199 Zudem sank unter ostdeutschen Christen die Bereitschaft, Wissen zu teilen. Sie fürchteten, dass kritische Meldungen in den Westmedien auf sie als Informanten zurückfallen könnten und ihnen infolgedessen Repressionen drohten.200 Reinhard Henkys, Redakteur des Evangelischen Pressedienstes in Berlin und Gründer der Zeitschrift Kirche im Sozialismus, schilderte, warum ostdeutsche Informanten außerdem zögerten: „Sie rechneten […] damit, daß viele Dinge […] im Westen […] vergröbert, für den Schlagabtausch im Kalten Krieg zugespitzt gedruckt würden.“201 Dahinter stand die Einsicht ostdeutscher Kirchenmitglieder, dass ihnen die westdeutsche Medienlogik letztlich fremd geblieben war. Heinrich Rathke, seit 1971 Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, machte die Erfahrung, dass ein Hamburger Reporter seine Ausführungen zum Fall des DDR-Kritikers Robert Havemann unzensiert veröffentlichte, anstatt, wie es Rathke aus der DDR gewohnt war, seine Aussage so zu verklausulieren, dass die DDR-Behörden darin keinen direkten Angriff auf sich sahen: Wir […] machten unsere Erfahrung mit westlicher Publizistik. Wir hatten wohl zu unbefangen oder ahnungslos mit Reportern gesprochen. Und das „Hamburger Abendblatt“ brachte

198 Vgl. Gedanken zu dem Bericht über die Zusammenkünfte der Kirchenältesten des Kirchenkreises Teltow 1969. ELAB 86/248. Siehe auch: Schäfer, Bernd: „Selbstbehauptungsstrategie und (Über)lebensmuster der katholischen Kirche in der Zeit des DDR-Staats“, in: Kirchliche Zeitgeschichte 2 (1994), S. 264. Sowie: Lagebericht Döpfners vor der Fuldaer Bischofskonferenz 29.31.8.1961. EA Berlin V/7–23, abgedruckt in: Akten Deutscher Bischöfe. DDR 1957–1961, S. 989–999. 199 Kirche in der DDR, in: Der Christ 18.4.1969, S. 3. 200 Der Berliner Bischof Bengsch meinte daher gegenüber dem Staatssekretär für Kirchenfragen in der DDR klarstellen zu müssen, dass „evtl. Mißbrauch […] in ausländischen Medien nicht beabsichtigt gewesen sei, aber auch nicht verhindert werden können.“ Unterredung zwischen dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Gen. Seigewasser und Kardinal Bengsch 12.12.1974. BStU MfS HA XX/4 1264. Vgl. Bezeugen Sie uns die christliche Freiheit, Herr Bischof! Offener Brief an Bischof Dibelius, in: Die Stimme der Gemeinde 15.1.1959, S. 40. 201 Henkys, Reinhard: Kirche, Staat und Westmedien, in: Dähn,Horst/Heise, Joachim (Hrsg.): Staat und Kirchen in der DDR. Zum Stand der zeithistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschung, Frankfurt u. a. 2003, S. 49.

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alles unter die Schlagzeile: „Bischof Rathke aus Schwerin betont: Wir lassen Havemann nicht allein!“ […] Mit dieser Schlagzeile mussten wir nun zu Hause zurechtkommen.202

Die geschilderten Vorgänge zeigen, dass sich die beiden deutschen Staaten und mit ihnen die Kirchen auch hinsichtlich ihrer Kommunikationskulturen auseinanderentwickelten. Die Synode der evangelischen Kirche in West-Berlin reagierte deshalb 1974 auf solche Vorfälle: Die Synode bittet alle Beteiligten (Amtsträger wie Gemeinden) um der Funktionsfähigkeit der Kirchenleitung, der verantwortlichen Gremien und der Gemeinden willen, das weitere Gespräch unmittelbar, innerkirchlich zu suchen und nicht durch vorschnelles Einschalten von Massenmedien der Polarisierung und Vergröberung der Probleme Vorschub zu leisten.203

Die Kirchenleitungen in der DDR dachten seit Beginn der 1970er-Jahre intensiver als zuvor über die Bedeutung und den Zugang zu Informationen nach. Sie warnten vor den Gefahren einer unzureichenden beziehungsweise tendenziösen Informationspolitik und sorgten sich um die Urteilsfähigkeit der Menschen vor Ort.204 Das Beispiel macht deutlich, dass die fehlenden Kontakte neben Informationsdefiziten aber vor allem Vertrauensverluste zur Folge hatten. Es herrschten Zweifel darüber, wem die Weitergabe und Verbreitung brisanter Informationen tatsächlich diente und zu welchen Zwecken sie eingesetzt wurden.205 Die ostdeutschen Kirchenmitglieder waren merklich verunsichert. Viele wollten nicht, dass Westdeutsche ihre Geschichten erzählten und sie selbst die Deutungshoheit verloren. Aber nicht nur Deutungskämpfe stellten für die Kommunikation zwischen den Kirchenmitgliedern ein Problem dar. Unwissenheit und das daraus resultierende Verhalten bedingten geradezu peinliche Szenen. Rolf Dammann, seit 1969 202 Rathke: „Wohin sollen wir gehen?“, S. 146–147. 203 Beschlüsse der Sondersynode im Johannesstift 27.4.-28.4.1974 (Kopie). BStU MfS HA XX/4 1264. „Dabei erklärte er [Bischof Forck] u. a., man gerate immer wieder, ohne es zu wollen, in die Westpresse. Auf diese Bemerkung reagierten die Tagungsteilnehmer mit lautem Gelächter“. Information über die 117. Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen (KKL) in der DDR vom 13. bis 15. Mai 1988 im Klosterstift zu Heiligengrabe/Kreis Wittstock. BStU MfS HA XX/4 1479. 204 Vgl. Information Nr. 159/73. Tagung der Konferenz der Kirchenleitungen am 12. und 13.1.1973 in Bad Saarow. BStU MfS HA XX/4 1250. 205 „Es handelte sich also um einen wechselseitigen, in sich vernetzten Konstitutionsprozeß, dessen Akteure jeweils das System des anderen im Kopf hatten und auch strategisch damit operierten, diese Vorstellungen für ihre Zwecke einzusetzen.“ Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 619. Siehe auch: Bartlitz: Katholische Medien, S. 247.

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Generalsekretär des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR, berichtete von einer ebensolchen Episode: Ein Unbekannter stand vor unserer Wohnungstür und sagte, daß er in der Nähe geparkt habe und mir Literatur bringen möchte. […] Er schraubte die Innenverkleidung der Wagentüren ab und holte aus der Versenkung und anderen Verstecken Herrnhuter Losungen und andere Literatur hervor. Vielleicht hat der Überbringer mich als unhöflich empfunden, weil ich ihm erklärte, daß sein Bemühen nicht des Risikos wert sei und ich auch nicht wisse, wem ich im Mai noch die Losungen geben sollte, die zudem auch in der DDR gedruckt wurden. Ich stand wieder einmal unter dem Eindruck, hier waren Verlage dankbar, Ladenhüter billig losgeworden zu sein und dabei noch einen guten Zweck erfüllt zu haben.206

Ostdeutsche Christen wie Dammann vermuteten, dass sich westdeutsche Kirchenmitglieder mir derlei Aktionen als barmherzige Samariter aufspielen wollten. Dabei unterstellte Dammann, dass die Interessen der Westdeutschen letztlich eigennützig waren und Hilfsaktionen nur als Anlass zur Selbstvergewisserung dienten.207 West-Berliner Gemeindemitglieder traf dieser Vorwurf seltener als Kirchenmitglieder aus der Bundesrepublik. Das geschah mutmaßlich deshalb, weil die räumlich nahen und daher scheinbar noch immer vertrauten West-Berliner von Ost-Berlinern ohnehin oft als selbstbezogen und desinteressiert beschrieben wurden. Der West-Berliner Theologe Werner Radatz, von 1975 bis 1987 Superintendent des Kirchenkreises Tiergarten-Friedrichwerder, bestätigte, dass „die Brückenfunktion der einen gemeinsamen Kirche […] erheblich geschwächt wurde; nicht nur durch verweigerte Einreisen, sondern auch durch die Stimmung in West-Berlin. […] Wo […] Bindungen nicht bestanden, wurden sie nur sehr bescheiden angeknüpft.“ Die Folge war: „Es bedurfte nicht vieler Besuche, um im Westen als OstExperte zu gelten.“208 Dass heißt auch, man musste nicht viel wissen, um mehr zu wissen über die Anderen.

206 Dammann, Rolf: Es war wohl an einem Sonntagabend im Mai, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 337. 207 Vgl. Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 181. 208 Radatz: Auf der Insel, S. 15. „Die Westberliner selbst hätten einen großen Nachholebedarf, um die Verhältnisse in ‚Ostberlin‘ und in der DDR gründlicher zu studieren.“ Diese Aussage wurde Herrn von Kries, dem Leiter des Politischen Clubs der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland, zugeschrieben. Information 11.9.1971. BStU MfS HA XX/4 1254.

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Die Verstetigung von Klischees Dort, wo Wissen verloren ging und kein Austausch mehr stattfand, prägten gefühlte Wahrheiten die Bilder vom Anderen, verfestigten sich Stereotype und verbreiteten sich Klischees.209 Der „nicht nur materiell reichen, sondern auch so reich strukturierten Kirche“210 im Westen stand demnach eine Gemeinschaft an der Seite, die einen „Kampf ums Überleben“211 führte. Menschen, die im Osten lebten, galten als „arm,“212 aber „fromm,“213 als „kirchentreu und glaubensfest“214. Doch die Zuschreibungen änderten sich. In den 1970er-Jahren war in westdeutschen Gemeinden auch von der aggressiven oder trotzigen Grundeinstellung ostdeutscher Kirchenmitglieder die Rede. Hintergrund war, dass Letztere, wie schon erwähnt, von gängigen Opferbildern abrückten und westdeutsche Besucherinnen und Besucher selbstbewusst aufforderten, ihre Errungenschaften anzuerkennen.215 Offensichtlich widersprach die Außenwahrnehmung der ostdeutschen Akteure ihrem Selbstbild: Sie wollten etwas Eigenes aufbauen, ausharren oder Widerstand leisten, aber nicht kapitulieren oder fliehen.216 Das Mitleid mancher Westdeutschen empfanden sie als naiv und sinnlos.217 Der Berliner Episkopat sah diese Entwicklung mit Sorge. Die katholische Kirchenleitung befürchtete, dass die andauernden Hinweise auf bestehende Missstände ostdeutsche Kirchenmitglieder dazu veranlassen könnten, Ost-Berlin oder die DDR zu verlassen und den Schrumpfungsprozess im Ostteil des Bistums zu beschleunigen. Weihbischof Weider riet deshalb von einer Ausreise ab, wie er sich erinnerte: „Ich habe keinem zugeredet zu gehen. […] Der Glaube war eben im Osten fester als im Westen, bin ich ganz fest überzeugt. Den Glauben konnte man schneller im Westen verlieren als im Osten.“218 Die vorgebrachten Zweifel und die Skepsis führten dazu, dass alte Verbindungen endgültig abbrachen. Zwar wurden westdeutsche Kirchenmitglieder aus ostdeutscher Perspektive oft weiter mitgedacht, weil man sich von ihnen eine Würdigung der eigenen Leistungen erhoffte. Das änderte aber nichts daran, dass diese 209 Vgl. Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 180. 210 Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 21. 211 Fragebogen Zechlin-Rielasingen-Worblingen, ohne Datum. EZA 172/10. 212 Interview mit J. K. 24.6.2017, S. 2. 213 Lepp: Tabu der Einheit?, S. 338. 214 Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 20. 215 Vgl. Murken: Westfälische Kontakte, S. 40–41. 216 Vgl. Kleßmann: Kinder der Opposition, S. 24. 217 „Von den tränenreichen Ergüssen bestimmter westlicher Politiker und ihrer Publizität über das Pankower Zonenregime konnten die Deutschen in der DDR nicht leben.“ Heinemann-Grüder: Pfarrer in Ost und West, S. 22. 218 Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 11.

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externen Kritiker als Andere gesehen wurden, die nicht unmittelbar zur eigenen Gemeinschaft gehörten. Einige Mitglieder westdeutscher Kirchenleitungen erkannten frühzeitig die Nebenwirkungen ihrer besonderen Erwartungen an ostdeutsche Christen. Der Präses der Westfälischen Landeskirche Ernst Wilm konstatierte: Es ist falsch gewesen, den Kirchenmitgliedern in Ost-Berlin und der DDR die „Rolle einer 5. Kolonne“ zu übertragen.219 Gleichzeitig verloren die ostdeutschen Mitglieder für westdeutsche Gemeinden offensichtlich an Bedeutung. Man konnte sich mit der Situation der Kirchen in der DDR und Ost-Berlin auseinandersetzen und eine Wahlverwandtschaft eingehen, aber man musste es nicht tun. Mit dem kirchlichen Leben vor Ort hatten die eigenen Verhältnisse in der Regel nichts gemeinsam. Man war im Glauben vereint, in der Alltagswirklichkeit jedoch getrennt. Personen aus dem Westen standen in Ost-Berlin und der DDR in- und außerhalb der Kirchen deshalb zunehmend im Ruf, arrogant und oberflächlich zu sein.220 Lorenz Günter, der für den Evangelischen Nachrichtendienst tätig war, erinnerte sich in diesem Kontext an ein Gespräch mit dem Ost-Berliner Konsistorialpräsidenten Manfred Stolpe: Der hat ja auch diese Kontakte gehabt und – eh – er hat immer zu mir gesagt, wissen Sie, Bruder Lorenz, ich bin immer froh, wenn Sie in der Pressekonferenz sitzen. Wenn die Quatschköppe aus Westberlin ihre Fragen abgelassen haben, dann kommt endlich mal ne konstruktive Frage, die uns direkt existentiell betrifft hier in der DDR, ja.221

Der Systemwettbewerb war zweifellos in den Kirchen angekommen. Immer häufiger wurden Stimmen laut, die sich offen abgrenzten, anstatt abstrakte Gemeinsamkeiten zu betonen. Der Ost-Berliner Katholik Kohl nannte einen weiteren Grund für die Entfremdung: „Wenn wir was gemeint haben, getan haben, dann ham wir es wirklich ehrlich gemacht ohne Berechnung, ohne Hintergedanken.“222 Den Westdeutschen unterstellte er hingegen, ihre Absichten zuweilen zu verschleiern und berechnend zu handeln. Es sei schwer gewesen, Vertrauen zu ihnen aufzubauen. Auch seien die Ost-Berliner besser darin gewesen, Gemeinschaftlichkeit herzustellen, wie Prälat Steinke mit Blick auf die Akademikerarbeit erklärte. 219 Präses Wilms gegen Kreuzzugsideologie, in: Neues Deutschland 17.8.1961, S. 2. Siehe auch: Fünfte Kolonne, in: Der SPIEGEL 13.9.1961, S. 56–57. 220 Vgl. Gebhardt, Winfried/Kamphausen, Georg: Zwei Dörfer in Deutschland. Mentalitätsunterschiede nach der Wiedervereinigung, Opladen 1994, S. 11. Siehe auch: Murken: Westfälische Kontakte, S. 40. Und: Lepp: Tabu der Einheit?, S. 513. Sowie: Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 160. Zudem: Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 12. 221 Interview mit Lorenz Günter 1999. OA, ohne Signatur, S. 14. 222 Interview mit Matthias Kohl, 22.2.2017, S. 7. Vgl. Interview mit Alfred Müller-Popkes 1999. OA, ohne Signatur, S. 11.

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In West-Berlin „[…] war alles nen bisschen steif da. Das waren ältere Herrschaften. Das waren dann eben Festvorträge“223 In Ost-Berlin hätten sich in der katholischen Akademikerarbeit hingegen junge Menschen getroffen, um gemeinsam und in fröhlicher Runde inhaltlich zu diskutieren.224 Deswegen, so Steinke weiter, habe die Akademikerseelsorge in Ost- und West-Berlin in einem diametralen Gegensatz zueinander gestanden. Andere Beschreibungen lassen an Steinkes Charakterisierung jedoch Zweifel aufkommen. Aus der Sicht des Ost-Berliners C. D. war die West-Berliner Kirche „offener, liberaler, lebendiger, nachlässiger“.225 Ostdeutsche Christen hätten das Auftreten der Westdeutschen in Ermangelung an Erfahrungen falsch interpretiert. Was sie als Überheblichkeit fehldeuteten, sei Selbstbewusstsein gewesen. Das spielte zum Beispiel bei der Beurteilung der Katholischen Studentengemeinden in Berlin eine Rolle. C. D. war der Ansicht, dass die „Studentenbewegung aus WestBerlin [sehr wohl] eine ansteckende Wirkung“ auf die Arbeit der Studentengemeinde im Ostteil der Stadt hatte.226 Einen dritten Standpunkt nahm Weihbischof Weider ein, der die Zusammenarbeit von Ost- und West-Berlinern ebenfalls als schwierig erlebte: „Also die [OstBerliner] waren, die waren wesentlich konservativer und begrenzter in ihren Bereichen. […] [Die katholische Studentengemeinde in Ost-Berlin] wie ich sie erlebt habe, [war] relativ brav, zahm und waren auch nicht so revolutionär.“227 Trotz dieser unterschiedlichen Bewertungen ist den Aussagen der Zeitzeugen doch eines gemein: Alle drei betonten die Unterschiede zwischen Ost und West anstatt auf Ähnlichkeiten oder verbindende Elemente zu verweisen. Dabei fällt des Weiteren auf, dass ein Zusammenhang zwischen der äußeren Form der kirchlichen Arbeit und der inhaltlichen Ausrichtung sowie der Qualität der Gespräche gesehen wurde: Manchmal – denke ich – man war [in der DDR] intensiver in den Texten drin – intensiver auch in den Glaubensgesprächen. […] in der DDR war Jugendarbeit – aus meiner Sicht – viel sehr – viel stärker Lebenssinnbeschäftigung.228

Diesen Eindruck teilte der Bischof der EKiBB (Ost), Gottfried Forck, 1987 im Gespräch mit dem SPIEGEL: „Das Evangelium wurde von den Hörern, die zum Got-

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Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 26. Ebenda, S. 26–27. Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 20. Ebenda, S. 4. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 20. Interview mit Siegfried Rosemann 2001. OA, ohne Signatur, S. 22.

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tesdienst kamen, in anderer Weise an- und aufgenommen, als es drüben der Fall war. Drüben war schon ein Stück Sattheit […].“229 Die hier zitierten, oftmals negativen Zuschreibungen gingen mit Kränkungen einher. Eine Folge war, dass „politisch streng westlich denkende und gekränkte West-Berliner nicht in den ‚bösen‘ Osten fuhren“, schrieb Propst Winter.230 „Antikommunistisch eingestellt zu sein war weit verbreitet.“231 Das Interesse daran, eine Beziehung einzugehen, die von Beginn an problembehaftet erschien, war gering. In diesem Zusammenhang berichtete der ehemalige Weihbischof Weider von der Zurückweisung, die er als Ost-Berliner in West-Berlin empfunden hat: „Die Westleute sagten dann schon: ‚Ach, Sie sind auch einer aus dem Osten? Ja? Das ist nicht ganz so unsere Welt.‘“232 Die Erfahrung, von den Eigenen abgelehnt zu werden, machten Christen somit auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Ausgehend davon entwickelte sich Solidarität gerade in Ost-Berlin und der DDR zu einem stark beanspruchten Begriff. Ost-Berliner Gemeinden erklärten sich selbst – gerade auch im Gegensatz zur West-Berliner Bevölkerung – als besonders oder „kritisch solidarisch“ gegenüber der eigenen Insitution und ihren Mitgliedern.233 Die Angst vor möglichen Repressionen habe dazu geführt, dass „die Bedrängten näher zusammenrücken“ mussten.234 Auch der Kontakt zwischen Basis und Kirchenleitungen war aus diesem Grund besser, behauptete der Baptist Uwe Dammann.235 Der US-Amerikaner John P. Burgess, der in den 1980er-Jahren als einziger USAmerikaner am Ost-Berliner Sprachenkonvikt studierte, kennzeichnete die Schwachstelle dieser Solidargemeinschaft: Das Erlebnis einer solidarischen Gesellschaft lässt sich leicht erzeugen, wenn alle, die einen grundliegenden politischen Wandel suchen, einem gemeinsamen Feind im Staat begegnen. 229 „Wir sind eine unabhängige Vertrauensinstanz.“ Der Ost-Berliner evangelische Bischof Gottfried Forck über Staat und Kirche in der DDR, in: Der SPIEGEL 18.5.1987, S. 92. 230 Winter: Auf dem Weg, S. 112. 231 Radatz: Auf der Insel, S. 15 und S. 45. Hanno Hochmuth ergänzt, dass diese Beobachtung nicht nur für alteingesessene Berlinerinnen und Berliner gegolten habe. Auch Zugezogene hätten sich oftmals nicht darum bemüht, Kontakte nach Ost-Berlin herzustellen. Vgl. Hochmuth: Eine Brücke zwischen Ost und West, S. 207. 232 Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 1. 233 Winter: Zeitgeschichtliche Forschung, S. 180. Vgl. Thierse, Wolfgang: 25 Jahre Friedliche Revolution und die katholische Kirche, in: Theologie der Gegenwart 4 (2014), S. 307. Sowie: Furian: Erinnerungen an den 13. August 1961, S. 181. 234 Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 17. 235 Vgl. Dammann, Uwe: Gemeinde unter ideologischem Druck – Chancen und Grenzen baptistischer Frömmigkeit im Kontext DDR (1993), in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 383. Siehe auch: Heinrich: Alte Ordnungen, S. 793.

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Es soll nicht wundern, dass die Gegner eines totalitären Regimes ihre Gegenbewegung als etwas Totales und deswegen Heiles erleben.236

Burgess sah das Solidaritätsprinzip ehrlich in Frage gestellt. Bischof Dibelius riet nicht nur deswegen dazu, den Begriff zu vermeiden. Er fürchtete, der Aufruf zu solidarischem Verhalten könne missverstanden werden. Wichtiger sei es, den Frontverlauf immer wieder aufs Neue nachzuzeichnen. Der Bischof predigte: Nicht zwischen Ost und West sondern zwischen Gläubigen und Ungläubigen verlaufe der Graben.237 Es lohnt daher zu fragen, wer die Menschen waren, die die Anderen beschrieben und was sich daraus ableiten lässt. Pfarrer Linke erklärte, dass die zunehmende Distanz zum Westen diesen aus Sicht ostdeutscher Akteure zu einer noch größeren Projektionsfläche für „die eigenen Wünsche und Sehnsüchte“ habe werden lassen.238 Der Westen war alles das, was der Osten nicht war. Für den ostdeutschen Linke hieß das: „Wir sind in der Begegnung […] nicht gleichwertige Partner, sondern Opfer des Systems, aus dem wir kommen.“239 Das bedeutet: Der ostdeutsche Christ sah sich selbst zumindest ein Stück weit durch die Brille seines westdeutschen Gegenübers. Und: Beim Blick auf West-Berlin hatten Ost-Berliner immer auch sich selbst vor Augen. Dass das Bild vom Anderen durch bestimmte Faktoren verzerrt wurde, thematisierte der evangelische Publizist Reinhard Henkys 1991 ebenfalls: Das Bild der östlichen Christen von der westlichen Kirche wurde durch die Westler geprägt, die man kennenlernte. Das aber waren vorwiegend die aktiven, theologisch und politisch Neugierigen, die irgendwie „Progressiven“, ökumenisch Aufgeschlossenen, die im eigenen Land und der eigenen Kirche eher zur Gruppe der kritischen Intelligenz gehörten, zu Hause im Widerspruch zur bürgerlich-politisch-christlichen Tradition agierten, zumindest auf einigen Handlungsfeldern. […] In der Verallgemeinerung der Erfahrung […] entwickelte sich im Osten ein realitätsfernes Bild der westlichen Kirche, das übersah, daß im Westen der Normalchrist, auch der Normalpfarrer, gut ohne den Osten leben konnte und im übrigen viel mehr mit dem Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftssystem der Bundesrepublik übereinstimmt, […]. Umgekehrt begegneten die westlichen Besucher […] vielfach solchen DDR-Bürgern, die sich dem herrschenden System nicht opportunistisch anpassend unterwarfen, sondern die sich mit ihm auseinandergesetzt und es sich auf diese Weise kritisch angeeignet hatten (in Grenzen, versteht sich).240

236 Burgess, John P.: Neugier auf die Zukunft: Was wird aus dem Evangelium in Ost-Deutschland?, in: epd Dokumentation 14/15(2013), S. 13. 237 Vgl. Dibelius: Reden, S. 57–58 und S. 67. 238 Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 180. 239 Ebenda. 240 Korrespondenz Reinhard Henkys, Projektskizze „Freundbilder“ 5.9.1991. EZA 172/5.

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Kapitel 3: Entfremdung

Henkys unterstrich, dass Personen, die im Rahmen von Ost-West-Begegnungen aufeinandertrafen, nicht repräsentativ für das System waren, dem sie angehörten. Darüber hinaus wird aber deutlich, dass auch Henkys nicht ohne Stereotype auskam. Denn DDR-Bürger, die bereit waren, sich mit Personen aus der Bundesrepublik zu treffen, konnten sich mit ihrem Staat sehr wohl identifizieren. Einzelne kirchliche Werte glichen staatlichen Idealen sogar. Vorstellungen von Ordnung, Fleiß oder Solidarität entsprachen religiösen wie ideologischen Prämissen.241 Den Protestanten A. R. irritierte die grundlegend ablehnende Haltung der DDR-Regierung nachhaltig: „Und das konnten wir eigentlich nie so richtig verstehen, dass wir zum Außenseiter gemacht worden sind, dass obwohl wir uns gar nicht so verstanden haben.“242 Christen wie A. R. waren nicht einfach Opportunisten. Ihre Loyalität stellte sie nicht zwangsläufig besser. Henkys Überlegungen sind allerdings insofern typisch, als sie Schutzbehauptungen beinhalten, die die Opfer-Täter-Dichotomie stärken und Graustufen verdecken sollten. Ausgangspunkt solcher Geschichten ist ihr Ende und nicht ihr Anfang. Karl Barth warnte westdeutsche Christen deshalb vor vorschnellen Urteilen über das Verhalten ostdeutscher Kirchenmitglieder und erinnerte sie an den Unterschied zwischen Loyalität und Opportunismus: Und „Loyalität“ heißt nicht: Gutheißung aller und jeder Maßnahmen der faktischen Träger und Repräsentanten der Ordnung. „Loyalität“ schließt den Vorbehalt der Gedankenfreiheit gegenüber der Ideologie, aber auch den Vorbehalt des Widerspruchs, eventuell Widerstands gegen bestimmte Explikationen und Applikationen einer vorgegebenen Staatsordnung in sich. Es gibt auch so etwas wie eine loyale Opposition. „Loyal“ gegenüber einer vorgegebenen Staatsordnung ist und verhält sich der, der Gültigkeit und Maßgeblichkeit auch für sich anerkennt und entschlossen ist, sich in den Grenzen des ihm innerlich und äußerlich Möglichen an sie zu halten.243

Hierbei geht es nicht um das DDR-Bild, das Barth hatte, sondern um den Mechanismus, den er beschrieb. Dieser findet sich in anderen Quellen bestätigt: Loyalität bot einen Ausweg. Loyal zu sein – gegenüber der eigenen Kirche und gegenüber dem Staat – war für ostdeutsche Christen eine Rechtfertigung, zu bleiben.244 Die241 Vgl. Pollack: Funktionen von Religion, S. 77–78. 242 Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 18. In der Bundesrepublik sorgten derlei Aussagen ebenfalls für Irritationen: „Bestimmte Privilegien, die den Kirchen in der antifaschistisch-demokratischen Phase erhalten geblieben waren, galten auch später fort. Daß es sie gab, ist angesichts der harten Konflikte mit der Partei vor allem im Westen oft gar nicht mehr wahrgenommen worden.“ Kleßmann: Zwei Staaten, S. 395. 243 Barth: Brief an einen Pfarrer, S. 31. 244 Dieses oft als Paradoxon wahrgenommene Problem begleitete Christen in der DDR und OstBerlin seit der Staatsgründung 1949: „Was sollen die Christen innerhalb und außerhalb der DDR davon halten, wenn sie einerseits aufgefordert werden, in die Front für den Frieden einzutreten,

3.2 Gefühlte Trennungen: unterschiedliche Alltagswirklichkeiten



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sen Gedanken anzuerkennen, stellt eine entscheidende Grundlage dafür dar, um die Diversität christlicher Existenzen in Ost-Berlin und der DDR wahrnehmen und verstehen zu können.245 Ingrid Ebert, 1948 im brandenburgischen Forst geboren und seit ihrem 16. Lebensjahr Mitglied der dortigen Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde, benannte die verschiedenen Optionen: Der Sozialismus – wie ich ihn kennenlernte – hatte viele Gesichter, und Christen lebten in dieser Gesellschaftsordnung ihr Christsein auf ganz unterschiedliche Weise. Manche kamen sehr gut, andere weniger zurecht. Manche lebten sehr angepaßt, nicht in jedem Fall aus Bequemlichkeit oder Angst, sondern aus Überzeugung, andere eckten an, waren Sand im Getriebe.246

und dann, wenn sie das mit ihrer, ihrem Auftrag und Wesen eigenen Sprache tun, angeklagt werden, sie stünden in der Front der Kriegshetzer? Sie können nur zu dem Schluß kommen: Die Kirche mag zur Frage des Friedens sagen und tun, was sie will; sie muß sich einer bestimmten politischen Zielrichtung einfügen oder aus dem öffentlichen Leben verschwinden.“ Reaktionäre Kirchenführer?, in: Die Kirche 4.6.1950, S. 2. 245 „Zur 4. Tagung der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Weithin beklagt worden ist, daß auf Thema und Brief der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR 1971 kein Echo aus den Gemeinden kam. […] In den Referaten, die auf dieser Synode gehalten wurden […] ging es um konkrete Aufgaben der Kirche im sozialistischen Staat und um das gesellschaftliche Engagement ihrer Glieder, um eine Thematik also, die nach Inhalt und Formulierung bei früheren Synodaltagungen – welcher Synoden auch immer – allenfalls am Rande mit angeklungen war, aber niemals im Mittelpunkt gestanden hatte. Denn vor Eisenach 1971 und vor Entstehung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR hatten sich kirchliche Gremien […] gerade in diesen Fragen große Zurückhaltung auferlegt, vielleicht, weil eingestanden oder uneingestanden die Meinung herrschte, daß gesellschaftliche Entwicklungen diesseits der Elbe nicht zu ernst und nicht zu endgültig seien. Es hätte damals genügt, hin und wieder von dieser hohen Warte herabzusteigen oder wenigstens einmal herabzuschauen, um zu entdecken, was im Lande inzwischen geschah. Überall hatten Christen ihren Platz beim Aufbau der neuen Gesellschaft gesucht und gefunden. Viele hatten dabei entdeckt, daß man auch in einer sozialistischen Gesellschaft an sehr vielen Stellen mitarbeiten und Verantwortung übernehmen kann, ohne vorher seinen Glauben ablegen zu müssen. So stellten sie ganz selbstverständlich ihre Arbeitskraft und ihr berufliches Können in den Dienst der Gemeinschaft, der sie darüber hinaus im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch außerhalb der Arbeitszeit bei der Erfüllung vieler Aufgaben halfen. […] Die nicht eingetroffenen Antworten machen jedenfalls deutlich, daß etwas nicht verstanden worden ist, vielleicht gar nicht angekommen ist, vielleicht gar nicht ankommen konnte, weil im Laufe der Jahre die Lücke zwischen den synodalen Worten und dem Alltag der Gemeinden immer breiter geworden ist. Sollte man nicht einmal erwägen, vor und nicht erst nach Synodaltagungen zu schreiben? Denn Synoden sollten doch Fragen der Gemeinde aufgreifen und behandeln und nicht umgekehrt.“ Christus für andere, in: Die Kirche 14.5.1972, S. 1. 246 Ebert, Ingrid: Es fällt mir schwer, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 22. Siehe auch: Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 4–5. Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 261.

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Rolf Dammann reflektierte sein Verhältnis zur DDR dementsprechend: „Man konnte ja nun nicht grundsätzlich in Opposition sein und meinen, alles sei schlecht, sondern man musste schließlich auch anerkennen, was anzuerkennen war. Und das haben wir getan.“247 Die Diakonieschwester Walli Schmidtmann schilderte in diesem Zusammenhang, dass die Mitgliedschaft in einer staatlichen Organisation der DDR für sie keinen Widerspruch zu ihrer Tätigkeit oder Kirchenmitgliedschaft darstellte. Als Angestellte in einem Krankenhaus war es für sie selbstverständlich, auch dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) anzugehören. Walli Schmidtmann sah darin kein eigentlich politisches Engagement und deswegen auch keinen Loyalitätskonflikt. Stattdessen habe diese Mitgliedschaft für sie eine Entlastung bedeutet, da ihr über den FDGB Urlaubsreisen ermöglicht wurden, die sie andernfalls nicht hätte unternehmen können.248 Paradoxe Kommunikationsformen gehören oft zu solchen Biografien. Sie waren Außenstehenden schwer zu vermitteln, wurden den Akteuren selbst aber leicht zur Gewohnheit, wie der Ost-Berliner Katholik S. T. resümierte: „Ich war mein Leben lang gewöhnt, auf zwei Ebenen zu denken und zu handeln, […].“249 Aufhorchen lassen in diesem Zusammenhang Erinnerungen, die die Existenz der beschriebenen Loyalitätskonflikte negierten: „Die Mehrzahl der katholischen Gemeindemitglieder hielt nichts von der DDR. […] Wenn man katholischer Christ ist, ist man nicht Kommunist, ist man nicht Anhänger dieses SED-Staates.“250 Solche Aussagen bestätigten das vorherrschende Einheitsnarrativ, bildeten aber tatsächlich nur einen Teil der ostdeutschen Kirchenmitglieder ab. Denn auch innerhalb der Ost-Gemeinden brachen immer wieder Konflikte auf. Der Ahrensfelder Plume beschrieb eindrücklich, wie sich die verschiedenen Gruppen darum bemühten, ihre jeweilige Deutung zu rechtfertigen. In seiner Jugendgruppe waren es vor allem Jugendliche aus dem bürgerlichen Milieu, die den Verlust ihres sozialen Status befürchteten und deshalb eher dazu bereit waren, in staatliche Organisationen einzutreten, um zum Beispiel einen Studienplatz zu erhalten.251 Kirchenmitglieder, die diesem Milieu nicht angehörten und denen es folglich nicht darum ging, dessen Strukturen zu reproduzieren, konnten mit dieser Vorgehensweise je247 Interview Rolf Dammann 23.5.2001. OA, ohne Signatur, S. 8. 248 Vgl. Interview mit Walli Schmidtmann 2008. OA, ohne Signatur, S. 5. Ähnlich verhielt es sich mit FDJ-Mitgliedschaften, wie auch das MfS wusste: „Die Mitgliedschaft in der FDJ ist heute für die ESG kein Problem mehr, da sie allgemein zu den ‚Überlebenschancen‘ gezählt wird.“ Vortrag: Das Wirken der Studenten- und Jungen Gemeinden der evangelischen und katholischen Kirche und die sich daraus ergebenden politisch-operativen Aufgaben der Diensteinheiten des MfS, insbesondere der Einsatz von IM in diesen Gruppierungen Dezember 1972. BStU MfS-HA PS 9876. 249 Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 13. 250 Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 11. 251 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 6.

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doch wenig anfangen. Die angeblich klassenlose DDR-Gesellschaft war also nach wie vor stratifiziert und das galt auch im innerkirchlichen Bereich. Entsprechend fasste Plume das Ergebnis der Auseinandersetzung zusammen: „Und jetzt war eine immerwährende Differenz in den Auffassungen zwischen denen, die meinten, sie wären treu und denen, von denen die Treuen meinten, sie würden sich arrangieren.“252 Am Beispiel andauernder und unterschiedlich gelagerter Loyalitätskonflikte wird deutlich, dass die Trennungslinien nicht allein zwischen ost- und westdeutschen Gemeinden verliefen. Christen agierten nicht nur als Kirchenmitglieder, sie traten egal ob in Ost- oder West-Berlin, als politische Akteure auf:253 In Ost-Berlin und der DDR lebten Christen, die die SED-Regierung widerspruchslos anerkannten, neben Christen, die oppositionell dachten.254 Die Mehrheit der Kirchenmitglieder war aber gewiss weder der einen noch der anderen Seite zuzurechnen. Sie lebte dazwischen. Der kirchliche Raum konnte in diesem Zusammenhang unterschiedlich gesehen werden: als traditioneller Ort, als Nische, als Versteck oder als Festung.255 Westdeutschen Kirchenmitgliedern diese spezifische Vielfalt zu erklären, erwies sich als schwierig, weil diese Diversität nicht ihren Erwartungen entsprach. Das beweist die Erklärung zur Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland (Ost), welche die Synode der EKD im April 1967 verabschiedete und die als Fürstenwalder Erklärung bekannt wurde. Die Synodalen sahen sich darin verpflichtet, das Verhältnis westdeutscher Kirchenmitglieder zu ihrem Staat zu kommentieren: Es ist den Kirchen in der Bundesrepublik vorgeworfen worden, sie seien ihrem Staat gegenüber in eine solche Hörigkeit geraten, daß es nicht mehr möglich sei, sie „mit der freien und unabhängigen Kirche in der Deutschen Demokratischen Republik in einem Atemzug zu nennen.“ Ein solches Urteil ist ungerecht. Wir sind dankbar, daß uns die Brüder in der Bundesrepublik Deutschland viele Beweise unabhängigen Denkens und Handelns gegeben haben.256 252 Ebenda, S. 6. Dazu auch: „Die Kinder vom Baptistenpastor konnten nicht auf die EOS – Erweiterte Oberschule – und solche Dinge und wenn sie es doch konnten, dann war schon wieder gleich die Frage, hat der faule Kompromisse gemacht oder so etwas.“ Alfred Müller-Popkes 1999, OA, ohne Signatur, S. 11. 253 Vgl. Politische Predigt, in: Der Christ 15.8.1969, S. 5. Siehe auch: Stetiger Ansporn, in: Der Christ 27.12.1968, S. 3. Sowie für die katholische Kirche: Albus, Michael: Eine kleine Klammer. Zur Geschichte des Ost-West-Informationsdienstes, in: Hehl, Ulrich von/Hockerts, Hans Günter: Der Katholizismus – gesamtdeutsche Klammer in den Jahrzehnten der Teilung? Erinnerungen und Berichte, Paderborn u. a. 1996, S. 77. 254 Vgl. Geistliche bekennen sich zur DDR, in: Neues Deutschland 18.8.1961, S. 3. 255 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 1. 256 Erklärung zur Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland 2.-7.4.1967. Abschrift. BStU MfS ZAIG 1345.

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Es fällt darüber hinaus auf, dass ostdeutsche Kirchenmitglieder konfessionsübergreifend nach einer Legitimation in der Geschichte des Christentums und der Theologie suchten. Ziel war es, das Leben in der DDR und Ost-Berlin mit religiösen Argumenten zu rechtfertigen, ohne in Konflikt mit staatlichen Interessen zu geraten. „Wir wollen keine Revolution machen. Wir wollen nur den christlichen Glauben verkünden“, erklärte Wolfgang Weider.257 Der Weihbischof sah in der Rolle, die die DDR-Regierung den Kirchen zugewiesen hatte, sogar einen historischen Vorteil: „Der christliche Glaube ist etwas, was meistens auch in einem Staat, der ihm nicht so gesonnen ist, besser lebt als in einem Staat, wo alles gut geht.“258 Auch in der evangelischen Kirche wurden Legitimationsstrategien entwickelt. Die Berliner Gemeinden beriefen sich dabei auf die konservative Position der Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers. Nach dieser sind Protestanten nicht nur ihrer Kirche, sondern ebenso der staatlichen Ordnung verpflichtet. Kirche und Staat werden demnach strikt getrennt voneinander betrachtet: Kirche soll keine Politik machen. Im Gegenzug soll sich die Politik nicht in kirchliche Belange einmischen. Auf die Situation der evangelischen Christen in der DDR übertragen sollte dieser Grundsatz dazu dienen, die Handlungsspielräume der Kirchenmitglieder klar abzustecken und sie dadurch zu entlasten.259

Der Evangelische Kirchentag in Berlin 1961 Eine Folge daraus war, dass Organisatoren direkter Begegnungen wie kirchlicher Großveranstaltungen schon vor dem Mauerbau Abläufe und Programme den Gegebenheiten der Teilung anpassten.260 Beim 78. Deutschen Katholikentag, der im August 1958 in Berlin stattfand, gewährte der West-Berliner Senat Besucherinnen und Besuchern aus der DDR und Ost-Berlin Vergünstigungen bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel in West-Berlin.261 Dieses Vorgehen erleichterte ostdeutschen Katholiken den Zugang zu den Veranstaltungen in West-Berlin. In solchen 257 Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 12. 258 Ebenda. Im Interview verwies Weider als Negativbeispiel auf die Erklärung des Christentums zur Staatsreligion des Römischen Reichs im 4. Jahrhundert. Wohingegen er die Bedeutung des Christentums im China des 21. Jahrhunderts, wo christliche Gemeinden trotz staatlicher Repressionen großen Zulauf erfahren, als ein positives Beispiel für seine These anführte. 259 Vgl. Großbölting: Der geteilte Himmel, S. 46 und S. 138. 260 Gruß nach München, in: Die Kirche 16.8.1959, S. 1. 261 Ost-Berlinerinnen und Ost-Berlinern, die in West-Berlin ohnehin vergünstigt die S-Bahn nutzen konnten, war es zudem möglich auf die Busse der Berliner Verkehrsbetriebe umzusteigen. Besucherinnen und Besucher aus der DDR erhielten gegen Vorlage ihres Personalausweises während der Dauer des Katholikentages einen Tagesausweis. Vgl. Unterstützung des 78. Deutschen Katholikentages 1958 in Berlin 5.6.1958. LA B Rep 002/7401. Ähnlich gingen die evangelischen Frei-

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Planungen kam aber nicht nur Rücksichtnahme zum Ausdruck, sie offenbarten außerdem die Existenz von Ungleichheiten. Das wurde auch beim Evangelischen Kirchentag in Berlin deutlich, der im Juli 1961 wenige Tage vor dem Mauerbau stattfand. Allein ein Blick auf die Organisation der Veranstaltung zeigt, dass Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Besuchern hier offen hervortraten.262 Gäste aus der DDR und Ost-Berlin sollten laut eines Informationsberichts des MfS separat empfangen werden. Ihre Teilnahmekarte sowie die Essensgutscheine erhielten sie entgeltlos. Die Dauerfahrkarten der Berliner Verkehrsbetriebe konnten sie in DDR-Mark bezahlen. Weiterhin wurde darauf verzichtet, Namen und Adressen von ostdeutschen Kirchentagsbesuchern zu registrieren, um sie vor einem Zugriff durch DDR-Behörden zu schützen.263 Bereits im Vorfeld hatte der Berliner Kirchentag eine große mediale Aufmerksamkeit erregt: Der Ost-Berliner Polizeipräsident verbot im Januar 1961 alle Veranstaltungen, die für den Ostteil der Stadt geplant waren.264 Diese Ankündigung sorgte für erhebliche Unruhe in der evangelischen Kirche, auch weil die DDR-Regierung vorschlug, den Kirchentag nach Leipzig zu verlegen. Lange rang die Synode der EKD um eine Reaktion. Gerade aus den ostdeutschen Kirchen wurde Kritik daran laut, dass viele westdeutsche Synodalen an Berlin als Veranstaltungsort festhielten. Dibelius habe gemeinsam mit anderen Kirchenführern die Positionen der ostdeutschen Landeskirchen ignoriert und die DDR-Regierung wissentlich provoziert, so einer der typischen Vorwürfe.265 Das MfS vermerkte, dass „man bei diesem Kirchentag deutlich sehen konnte, wie die Kirchenfürsten regieren und sich über die Meinung der Laien hinwegsetzen.“266 In der Diskussion seien die real existierenden Probleme der Christen in der DDR und Ost-Berlin ausgeblendet wurden. Es sei in der ganzen Debatte mitnichten nur darum gegangen, den passenden Ort für diesen Kirchentag zu finden. 267

kirchen vor. Vgl. Konferenz Festgottesdienst 1977. OA, ohne Singnatur, Vereinigung Berlin West Karton 2. 262 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 376. 263 Information 18.7.1961. BStU MfS Allg. S. 170/61 Band II/1. Diese Vorsichtsmaßnahme war durchaus gerechtfertigt. In Ost-Berlin versuchte das MfS detaillierte Angaben über Kirchentagsbesucherinnen und – besucher sowie deren Quartiere zu sammeln. Vgl. Lagebericht vom 18.7.19.7.1961. BStU MfS Allg. S. 170/61 Band II/1. 264 Vgl. Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 63. 265 Information 5.4.1961. BStU MfS 170/61 Band II/1. Siehe auch: Informationen aus K-Objekte 23.7.1961. BStU MfS Allg. S. 170/61 Band II/1. 266 Information 19.7.1961. BStU MfS 170/61 Band II/1. Vgl. Lagebericht 16.7.-17.7.1961. BStU MfS 170/61 Band II/1. 267 Vgl. Information 19.7.1961. BStU MfS 170/61 Band II/1.

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Der SPIEGEL vermutete, dass außerdem anstehende Personalentscheidungen die Kirchentagsdiskussion beeinflusst hätten. Es sei um die Frage gegangen, ob der neue Ratsvorsitzende der EKD aus der Bundesrepublik oder der DDR kommen solle und welche kirchenpolitischen Weichenstellungen damit verbunden wären.268 Dieser kircheninterne Machtkampf lief entgegen aller Einheitsbekundungen entlang der Staatsgrenzen und ließ die vielbeschworene Einheit zuweilen wie eine Zwangsehe erscheinen. Im Februar 1961 votierte die Synode schließlich für WestBerlin als Veranstaltungsort und die Kirchentagsleitung folgte diesem Votum. Daraufhin kündigten die evangelischen Bischöfe in der DDR an, dem Kirchentag fernbleiben zu wollen.269 Sie forderten die Kirchenmitglieder dazu auf, es ihnen gleichzutun. Diese sollten sich keinerlei Gefahr aussetzen. Ein Besuch des Kirchentages in West-Berlin sei es nicht wert, das Risiko einer Festnahme auf sich zu nehmen. Die ostdeutschen Bischöfe erklärten den Besuch des Kirchentages zur Privatsache.270 Lepp hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dieser Vorgang ambivalent zu lesen ist. Einerseits erklärten die ostdeutschen Kirchenleitungen, ihre Mitglieder schützen zu wollen. Andererseits tolerierten sie auf diese Weise das Vorgehen der DDR-Regierung.271 Zudem mussten sie davon ausgehen, dass Gläubige aus der DDR und Ost-Berlin ihre Weisung ignorieren und trotzdem nach West-Berlin fahren würden. Es schien äußerst fraglich, dass die Kirchenmitglieder bereit waren, Alternativangebote wie Gottesdienste im eigenen Kirchengebiet anzunehmen.272 Tatsächlich gelang es den Bischöfen in der DDR nur begrenzt, zu ihrer Kirchenbasis durchzudringen, wobei offen bleiben muss, ob das überhaupt intendiert war. Kurt Scharf erinnerte sich, dass viele Kirchentagsgäste zwar nicht an den offiziellen Veranstaltungen in West-Berlin teilnahmen, sich aber trotzdem auf den Weg nach Ost-Berlin machten, um dort Präsenz zu zeigen: „Die [Ost-Berliner] Innenstadt, weit über die Museumsinsel hinaus, war schwarz von Kirchentagsgästen, die singend von einer überfüllten Kirche durch die Straßen zur nächsten Kirche oder zum nächsten Gemeindehaus zogen, um dort einen Gottesdienst zu for268 Vgl. Ex oriente dux, in: Der SPIEGEL 8.2.1961, S. 24–26. 269 Eine Ausnahme stellte der Schlesische Bischof Ernst Hornig da, der seine Teilnahme nicht absagte. Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 328. 270 Vgl. Lagebericht 18.7.-19.7.1961. BStU MfS 170/61 Band II/1. 271 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 328. 272 Bericht über Meinungen führender Personen der Kirche über das Verbot den Kirchentag in Berlin stattfinden zu lassen 18.1.1961. BStU MfS 170/61 Band II/1. Die Furcht vor ausbleibenden Besucherinnen und Besuchern war berechtigt. Zwar stiegen die Gottesdienstzahlen in einigen Ost-Berliner Innenstadtgemeinden. In ländlichen Gemeinden wurde der Kirchentag hingegen zuweilen nicht einmal erwähnt, noch zog er zusätzliche Besucherinnen und Besucher an. Vgl. Lagebericht 22.7.-23.7.1961. BStU MfS Allg. S. 170/61 Band II/1.

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dern.“273 Diese, teilweise ganz spontanen Zusammenkünfte in Ost-Berlin hatten aufgrund ihrer begrenzten Teilnehmerzahl und der Beschränkung auf kirchliche Räume nicht viel mit dem Charakter großer Kirchentage gemein, aber die Laien setzten damit doch ein selbstbewusstes Zeichen, zu dem sich die ostdeutschen Bischöfe offiziell nicht hatten durchringen können.274 Die Entscheidung vieler ostdeutscher Laien, entgegen des landeskirchlichen Rats nach Ost-Berlin zu fahren, zeigt genauso wie die Kritik an den westdeutschen Landeskirchen, den Kirchentag in West-Berlin nicht abgesagt zu haben, dass für Streit in der EKD nicht allein die DDR-Regierung verantwortlich war. Die Ereignisse rund um den Kirchentag 1961 verweisen vielmehr auf Konfliktlinien, die kirchenintern verliefen. Davon abgesehen zählten die Organisatoren trotzdem rund 10.000 Besucherinnen und Besucher aus der DDR und Ost-Berlin als Dauergäste auf dem WestBerliner Kirchentag.275 Darunter waren viele Mitglieder der evangelischen Freikirchen. Diese hatten gleich nach Bekanntwerden des Kirchentagsverbots in Ost-Berlin erklärt, dass es sich beim Kirchentag nicht um eine religiöse Veranstaltung handele. Die Erklärung verringerte den Druck auf die Mitglieder insofern, als sie nun zwar weiterhin staatliche Repressionen bei einem Besuch West-Berlins fürchten mussten, aber nicht mehr Gefahr liefen, dafür von der eigenen Kirchenleitung kritisiert zu werden.276 Sie gerieten deswegen nicht in einen Loyalitätskonflikt. Dass die DDR-Regierung 1961 vorgeschlagen hatte, den Kirchentag in eine Stadt in der DDR zu verlegen, unterstrich schließlich die besondere Rolle der Stadt Berlin. Das entging auch den Zeitgenossen dies- und jenseits der Grenze nicht. Der SPIEGEL hob hervor, dass sich der aussichtsreiche westdeutsche Kandidat für das Amt des EKD-Ratsvorsitzenden, Hanns Lilje, Landesbischof von Hannover, ebenfalls für West-Berlin als Veranstaltungsort ausgesprochen hatte.277 Für die DDRPresse waren Liljes Stellungnahme und die Absage an eine Verlegung des Kirchentages Belege dafür, dass die westdeutschen Landeskirchen die Souveränität der DDR nach wie vor nicht anerkannten.278 Berlin war der Ort, an dem diese Positionen aufeinandertrafen: Eine empfindliche Nahtstelle, die alles zusammenhielt.279 Und Berlin war anders, egal aus welcher Blickrichtung.280 Denn politisches Handeln im Kalten Krieg wurde hier sichtbar. 273 Scharf: Brücken und Breschen, S. 130. 274 Vgl. Abschrift des GI Berichtes vom 20.4.1961, 24.4.1961. BStU MfS 170/61 Band II/1. 275 Vgl. Momentbilder vom Kirchentag, in: Die Gemeinde 20.8.1961, S. 10. 276 Information 20.7.1961. BStU MfS 170/61 Band II/1. 277 Vgl. Ex oriente dux, in: Der SPIEGEL 8.2.1961, S. 24. 278 Vgl. Non plus ultra, in: Neue Zeit 30.7.1961, S. 1. 279 Vgl. Höllen: Kirchenpolitische Probleme, S. 176–177. Siehe auch: Radatz: Auf der Insel, S. 15. 280 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 13. Siehe auch: Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 18. Sowie: Für Berlin-Besucher, in: Petrusblatt 21.4.1968, S. 5.

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Sprechweisen und Sprachbarrieren In der Ost-West-Kommunikation kam es nicht nur darauf an, wer etwas sagte, sondern auch wie diese Äußerung formuliert wurde. Richtig zu sprechen erforderte einen hohen Sensibilisierungsgrad. War dieser nicht gegeben, drohten negative Einflüsse auf inner- wie außerkirchliche Beziehungen. Die Sprache war mächtig genug, den Erfolg oder Misserfolg der kirchlichen Einheit zu beeinflussen. Vor allem in Ost-Berlin und der DDR ging es um die Frage, inwiefern es den Kirchen gelingen würde, ihre eigene Sprache zu bewahren beziehungsweise inwieweit diese ideologisch überformt wurde.281 Sprache diente als ein wichtiges Mittel um Deutungshoheiten zu erlangen und zu verteidigen. Daran änderte sich im Zeitverlauf nichts. Nur die Begriffe, um die gerungen wurde, wechselten. Es gab Worte, die man bewusst zu vermeiden versuchte oder eben gezielt einsetzte, um den eigenen Standpunkt zu verdeutlichen. Auf der Ebene der Kirchenleitungen betraf das etwa die Staatsbezeichnungen. Es machte einen Unterschied, ob von Westdeutschland, der BRD oder der Bundesrepublik, von der DDR oder der Zone gesprochen wurde.282 Die Kirchenleitungen brachten damit zum Ausdruck, welche Staaten sie als souverän anerkannten und welche nicht. Obwohl die staatliche Souveränität der DDR seit den 1960er-Jahren international Anerkennung fand, folgte die katholische Kirche diesem Trend nicht.283 Trotzdem änderte sich die Sprechweise, was letztlich auf sich wandelnde Praktiken im Umgang mit der DDR hindeutet: Bis in die 1960er-Jahre verwendete das West-Berliner Petrusblatt die Begriffe (Ost-) Zone oder Zonenrandgebiete. Erst ab 1961 war es üblich, die Abkürzung DDR zu nutzen.284 Die 1954 erstmals erschienene Ost-Berliner Bistumszeitung St. Hedwigsblatt vermied die Verwendung des Begriffs Zone hingegen von Beginn an. Die evangelisch-freikirchlichen Gemeinden versuchten 281 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 85. 282 „Kardinal Döpfner begrüßte besonders die Katholiken aus der DDR. (das für diese Kreise gebräuchliche Wort Zone viel [sic!] nicht“ Vorläufiger Bericht über den Bistumstag 18.9.1960. BStU MfS HA XX/4 2861 Teil 2 von 2. „Es ist aufgefallen, daß SCHARF korrekte Formulierungen gebrauchte, die sich auf die EKD, Kirche in Berlin (West) und den Bund der Kirchen in der DDR bezogen. So hat er auch von der ‚DDR-Delegation‘ in Nairobi gesprochen, […].“ Information über den Aufenthalt von Bischof SCHARF aus Berlin (West) in der DDR 17.1.1976. BStU MfS AP 4.526/92. „Wir ham auch nicht BRD gesagt. BRD war ein We-, ein Ostbegriff. Wir haben Bundesrepublik gesagt.“ Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 23. 283 Vgl. Homeyer: Die katholische Kirche, S. 22. Sowie: Plück, Kurt: Erinnerungen an die Zeit der Teilung, in: Hehl, Ulrich von/Hockerts, Hans Günter: Der Katholizismus – gesamtdeutsche Klammer in den Jahrzehnten der Teilung? Erinnerungen und Berichte, Paderborn u. a. 1996, S. 181. 284 Vgl. Wie sie lügen, in: Petrusblatt 6.8.1961, S. 3. Oder: Helfer eurer Freude, in: Petrusblatt 27.8.1961, S. 2.

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wiederum auch Ende der 1960er-Jahre noch auf die Abkürzung DDR zu verzichten und stattdessen wie die westdeutschen Gemeindemitglieder von Deutschland zu sprechen.285 Ebenso brisant war die Wahl der Bezeichnungen für Berlin. Aus zeitgenössischer Perspektive war es ein eklatanter Unterschied, ob man von West-Berlin oder den West-Sektoren sprach.286 Die Wahl des Begriffs kennzeichnete einen politischen Standpunkt. Eine unbedachte Äußerung konnte folglich starke Signale senden und Konsequenzen nach sich ziehen. Das galt auch für den kirchlichen Raum: Wer Ost-Berlin als die Hauptstadt der DDR bezeichnete, erkannte die Souveränität der DDR an und distanzierte sich damit gleichermaßen von West-Berlin. Dementsprechend politisch positionierte sich die Berliner Kirchenpresse mit der Wahl ihrer Berlin-Bezeichnungen: Ausschließlich West-Berliner Kirchenzeitungen gebrauchten auch nach 1949 noch den Begriff Groß-Berlin und unterstrichen damit ihre Forderung nach einem Stadtgebiet in den Grenzen von 1920.287 Darüber hinaus benutzten die Kirchenzeitungen die einfache Formulierung Berlin, um sich sprachlich von der Ost-Berliner Presse abzugrenzen. Das West-Berliner Petrusblatt kritisierte, dass etwa die Neue Zeit über die „Westberliner Bischöfe“ berichtete und damit suggerierte, dass die Diözese genau wie die Stadt geteilt sei.288 Die Formulierung verärgerte die Kirchenzeitungsredakteure auch deshalb, weil sie einen empfindlichen Punkt traf, wie aus einem kircheninternen Papier von 1958 hervorgeht: Die Kirche ist eben samt und sonders einseitig westlich eingeordnet und kennt nur die Tendenz, auch ihre Glieder aus den hiesigen Diözesangebieten einseitig westlich einzuordnen. Wir müssen uns also darum bemühen, Bezeichnungen zu wählen, die aus dem kirchlichen Leben und der kirchlichen Gemeinschaft kommen.289

Bezeichnungen wie geteilte Hauptstadt oder Demokratischer Sektor von Berlin fanden sich hingegen ausschließlich in Ost-Berliner Kirchenzeitungen.290 Die Zensurbehörden der DDR sollten wegen kritischer Bezeichnungen nicht auf den Plan ge285 Vgl. Bericht IM „Peter“ 4.7.1967. BStU HA XX/4 2977, Teil 2 von 2. 286 Vgl. Eisenhuth/Sabrow: „West-Berlin“. 287 Evangelische Gottesdienste in Groß-Berlin, in: Berliner Sonntagsblatt 30.8.1953, S. 4. Sowie: Ein Berliner Bistum, in: Petrusblatt 30.7.1961, S. 3. 288 Vgl. Ein Berliner Bistum, in: Petrusblatt 30.7.1961, S. 3. Siehe auch: Brüderlichkeit als geistiges Alibi, in: Neue Zeit 13.3.1959, S. 2. Oder: Schritte, die in die Irre führen, in: Neue Zeit 11.2.1959, S. 2. 289 Katholikentag Berlin 1958. Notwendigkeit einer kirchlichen Sprache. Archiv des Deutschen Caritasverbandes 121/30+590.8, 1958.01, abgedruckt in: Akten Deutscher Bischöfe. DDR 1957–1961, S. 332–333. 290 Ruf aus der Not, in: Die Kirche 22.2.1959, S. 1. Sowie: Gastlichkeit – groß geschrieben, in: Die Kirche 4.1.1959, S. 1.

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rufen werden. Das änderte aber nichts daran, dass diese Selbstzensur dem kirchlichen Einheitsnarrativ widersprach, nach welchem die Teilung der Stadt nicht zum Ausdruck gebracht werden sollte. Die Kirchenzeitungsredakteure suchten deshalb nach Auswegen: Wer den Fokus nicht auf die Teilung lenken wollte, sprach nicht von Ost- oder West-Berlin, sondern nannte stattdessen den betreffenden Bezirk.291 Zudem war es möglich, Nachrichten geografisch zu verorten. Neben Ost- und West-Berlin konnten Informationen aus dem „Berliner Norden“ oder „Nordberlin“ vorliegen.292 Im Zeitverlauf lässt sich feststellen, dass die West-Berliner Kirchenzeitungen mehrheitlich über „Ost- und West-Berlin“ schrieben, während sich im Osten der Stadt die Bezeichnungen „Westberlin“ und „Berlin (West)“ sowie „Berlin“ – für Ost-Berlin – durchsetzten.293 Der Kampf um solche Deutungshoheiten beschränkte sich nicht allein auf Kategorien, die der Kalte Krieg explizit vorgab. Entlang der Ost-West-Linie wurde auf sprachlicher Ebene auch um emanzipatorische Fragen gerungen. Ausdruck fand das zum Beispiel in der Bezeichnung weiblicher Angestellter in katholischen Kirchengemeinden. In Ost-Berlin hieß deren Beruf Seelsorgehelferin. In West-Berlin und der Bundesrepublik waren seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hingegen Gemeindereferentinnen tätig. Weihbischof Weider wies darauf hin, dass das schon „vom Namen her [einen] andern Stellenwert hat.“294 Die Erwartungen, die die beiden unterschiedlichen Berufsbezeichnungen mit vergleichbaren Aufgaben hervorriefen, differenzierten sich zunehmend. Die unverheiratete Seelsorgehelferin wurde mit Aufopferungsbereitschaft assoziiert: „Die waren, die lebten ganz bescheiden irgendwo in einer, einem Pfarrhaus oder in einem Häuschen […] und waren von früh bis abends nur für die Gemeinde da. Die hatten kein Privatleben praktisch.“, umriss Weider dieses Berufsbild.295 In West-Berlin hingegen war der Beruf der Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten nicht mit Ehelosigkeit verbunden. Frauen wie Männer konnten ihn ausüben. Ihre Kompetenzanforderungen und Arbeitsbedingungen waren vertraglich fix geregelt. Die beiden Be-

291 Stärke deine Brüder!, in: Berliner Sonntagsblatt 23.10.1955, S. 1. Und: Abschiedsgottesdienst Kardinal Döpfners, in: St. Hedwigsblatt 13.8.1961, S. 6. 292 Zwei Kirchweihen, in: Berliner Sonntagsblatt 21.3.1954, S. 5. Sowie: Unser neuer Bischof, in: Petrusblatt 27.8.1961, S. 1. 293 Erzbischof nach West-Berlin, in: Petrusblatt 13.1.1963, S. 1. Sowie: Nachruf auf den Dompropst Paul Weber, in: Petrusblatt 20.1.1963, S. 1. Und: Glaubenswochen in Ost-Berlin, in: Petrusblatt 18.2.1968, S. 1. Außerdem: Razzia im Weskamm-Haus in Westberlin, in: St. Hedwigsblatt 16.9.1969, S. 4. Oder: Seminar von Jugendmitarbeitern aus der DDR und der BRD, in: Die Kirche 25.5.1986, S. 2. 294 Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 25. 295 Ebenda, S. 25–26.

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zeichnungen waren somit mehr als eine sprachliche Unterscheidung. Sie zeigten, dass sich Ost und West auch in Verständnisfragen auseinanderdividierten.296 Daneben ist es notwendig, bestimmte Begriffe zu historisieren, nicht nur weil sie die Kommunikation zwischen Kirche und Staat beeinflussten, sondern weil sie auch im innerkirchlichen Bereich einem Wandel unterlagen, der Aufschluss über das Denken und Handeln der jeweils Sprechenden gibt. Der Begriff Dissident veranschaulicht das. Während 1956 in kirchlichen Visitationsberichten der EKiBB Personen als Dissidenten bezeichnet wurden, die als „Kirchensteuerflüchtlinge“, „kirchlich Gleichgültige“ oder „bewußt Gottlose“ galten, was der Verwendung des Wortes in den Jahren 1933 bis 1945 und davor entsprach, erfuhr der Begriff in den folgenden Jahrzehnten eine deutliche Aufwertung.297 Dieser Wandel setzte in dem Moment ein als das Wort aus dem aktiven Wortschatz der Kirchen verschwand. Der Niederländer Laurens Hogebrink, der in den 1980er-Jahren intensive Kontakte zu Kirchengemeinden in Ost-Berlin und der DDR pflegte, erkannte, dass er „Worte wie ‚Dissident‘ oder ‚Opposition‘ in der DDR besser nicht benutzte. Sogar ‚unabhängig‘ ging zu weit. Das einzig richtige Wort schien ‚eigenständig‘ zu sein.“298 Das änderte sich erst wieder nach dem Mauerfall. Nun legte die Berliner Kirchenleitung Wert darauf, Dissidenten nicht nur einen Platz unter dem Dach der Kirche eingeräumt zu haben, sondern entdeckte diese auch in den eigenen Reihen wie etwa den „Dissidentenpfarrer Eppelmann“.299 1993 brachte Dietmar Linke das Buch „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist…“ heraus. Darin kam der brandenburgische Gemeindepfarrer Ernst-August Ide zu Wort. Dieser sprach davon, dass Ostdeutsche von Westdeutschen wie „Gastarbeiter“ behandelt wurden.300 Er wählte diesen Vergleich, um eine Abwertung der eigenen Person zu beschreiben und deutlich zu machen, dass Personen aus der Bundesrepublik und West-Berlin DDR-Bürger nicht als Gleichwertige gesehen und behandelt hätten. Das Beispiel deutet auf das „Problem der Sprachentwicklung ‚aus zweiter Hand hin‘“. 301 Ides Aussage belegt die „‚Entfremdung der Sprache von der Primärerfahrung‘ und ihren dadurch gegebenen Zitat- und Klischeecharakter.“302 Das heißt, der in der DDR tätige Pfarrer Ide wählte einen typisch westdeutschen Begriff, um die eigene Situation mit vermeintlich verständlichen Worten erklärbar zu machen. Dabei offenbarte er selbst Unwissenheit, weil die Situation der Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik nicht mit der der Christen in der DDR zu 296 297 298 299 300 301 302

Vgl: Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 125. Gemeindebericht Miersdorf 1956. ELAB 86/62. Hogebrink: Die armen Verwandten, S. 30. Der hohe Preis des Widerstands, in: Der SPIEGEL 20.9.1993, S. 63. Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 101. Riha, Karl: Deutsche Großstadt-Lyrik, München/Zürich 1983, S. 12. Ebenda, S. 12.

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vergleichen war. Ide hatte nach einem Wort gesucht, mit dem er seine Diskriminierungserfahrung gegenüber Westdeutschen verständlich machen konnte und er war offenbar davon ausgegangen, dass es eines solchen Vergleichs bedurfte, um überhaupt Erfolg zu haben. Das Problem war nicht neu. Bereits 1959 machte Heinrich Treblin darauf aufmerksam: „Die verschiedene Geschichte der letzten 13 Jahre hat zu einer Sprachverschiedenheit im Osten und Westen geführt, mit der zu rechnen ist. Was die eine Kirche zu sagen hat, muß darum in der jeweiligen Sprach-, und das heißt Denk- und Erlebenswelt des DDR-Bürgers oder Bundesrepublikaners des Jahres 1959 ausgedrückt werden.“303 Treblin rief die Kirchen dazu auf, Übersetzungsarbeit zu leisten, um dem beobachteten Trend gezielt entgegenzuwirken und den Kirchenmitgliedern in Ost und West eine gemeinsame Gesprächsgrundlage zu ermöglichen. Freilich ist es ein Unterschied, ob ein Wort in der direkten Kommunikation Verwendung findet oder ein Verhältnis rückblickend reflektiert und artikuliert wird. In diesem Fall änderte das aber kaum etwas am Ergebnis: Auch das Unausgesprochene, aber Gedachte, das erst später Artikulierte, aber doch Wahrgenommene beeinflusste die Beziehungen, wobei auf Grund der genannten Informationsdefizite Korrekturen unwahrscheinlich waren. Um kritischen Formulierungen keinen Vorschub zu leisten, bemühten sich die Kirchenleitungen deshalb frühzeitig um eindeutige Sprachregelungen. Im Vorfeld diverser Begegnungen – vom Jugendtreffen bis zum Kirchentag – wurden die Teilnehmenden in Ost und West daran erinnert, welche Begriffe in offiziellen Kontexten Verwendung finden und worauf sie verzichten sollten.304 Anlässlich des Katholikentages 1958 in Berlin galten deshalb folgende Einschränkungen für die Rednerinnen und Redner der Veranstaltung: Damit die Einheit und das Verbundensein zum Ausdruck kommt, ist es erforderlich, zueinander in der Sprache der Kirche und nicht in der Sprache der Öffentlichkeit und des politischen Lebens zu sprechen. […] Dazu gehört – und das ist unsere Bitte – daß auf Benennungen, wie sie im politischen Raum üblich sind, verzichtet wird. In diesen Tagen kirchlicher Begegnung kann daher nicht gesprochen werden von der SBZ (Sowjetische Besatzungszone), von Ostzone, von Mitteldeutschland, von den Satellitenstaaten, vom Eisernen Vorhang, vom kommunistischen Machtbereich, von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, von den gefährdeten Brüdern und Schwestern aus dem Osten, vom „freien“ Westen und manchem anderen.305

303 Bezeugen Sie uns die christliche Freiheit, Herr Bischof! Offener Brief an Bischof Dibelius, in: Die Stimme der Gemeinde 15.1.1959, S. 43. 304 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 204. 305 Katholikentag Berlin 1958. Notwendigkeit einer kirchlichen Sprache. Archiv des Deutschen Caritasverbandes 121/30+590.8, 1958.01, abgedruckt in: Akten Deutscher Bischöfe. DDR 1957–1961, S. 332–333.

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Dieser Plan, resümierte die westdeutsche Herder-Korrespondenz nach dem Laientreffen, sei weitestgehend aufgegangen, obwohl „die Technik der Andeutungen in einigen Fällen zu weit gegangen ist.“306 Auch die Möglichkeiten sich abzugrenzen, waren letztlich eingeschränkt. Das Bistum Berlin ging deshalb zweigleisig vor. Bei Laientreffen wie einem Katholikentag sollten Formulierungen gestrichen werden, die von der DDR-Regierung als Provokation gedeutet werden konnten und Kirchenmitglieder aus Ost-Berlin und der DDR potenziell gefährdeten.307 Dort aber, wo die SED keinen direkten Einfluss ausüben und Repressionen nicht direkt an Laien weitergeben konnte, wurde an den Redewendungen festgehalten. So kommentierte das West-Berliner Petrusblatt am 20. August 1961 die Geschehnisse in „Mitteldeutschland“ und brachte auf diese Weise einmal mehr zum Ausdruck, dass die katholische Kirche nicht bereit war, die Souveränität der DDR anzuerkennen.308 Auch die evangelischen Freikirchen suchten nach einer für sie vertretbaren Kommunikationsweise hinsichtlich politischer Ereignisse in Ost-Berlin und der DDR. Sie entschieden sich gegen einen Konfrontationskurs. Der Baptist Manfred Sult, seit 1981 Präsident des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR, erläuterte, dass jede Äußerung einem Drahtseilakt gleichkam: Es war zwar unumgänglich, die politischen Anlässe zu benennen und zu ihrer Bedeutung etwas zu sagen, wenn, dann immer darauf bedacht, daß es möglichst in einer unverwechselbaren eigenen Sprache und Diktion geschah. Solche Erklärungen hoben sich darüber hinaus von anderen ab, daß sie die spezifisch-christliche Haltung und Meinung zum gegebenen Anlaß zum Ausdruck bringen wollten. Es wurden unumgänglich dieselben Begriffe gebraucht (z. B. Frieden, Gerechtigkeit, Würde des Menschen…), aber sie standen in einem anderen inhaltlichen Bezugsrahmen. Diese Begriffe gründeten in ihrer Bedeutung im Evangelium und konnten von hier aus aktuell und themenbezogen interpretiert werden.309

306 Der 78. Deutsche Katholikentag in Berlin, in: Herder Korrespondenz 1(1958/59), S. 7–9. 307 „Hierzulande können die Vertreter der Kirche reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, weil das demokratische System, das unstrittig auch seine Schwächen hat, den Kirchen jede Freiheit garantiert. Jenseits der Mauer aber haben sie stets zu beachten, daß ihnen nur erlaubt ist, was dem Regime, das den Bürgern der DDR wesentliche Grundrechte vorenthält, nicht schadet. Schon routinemäßig äußern sie sich in einer Sprache, die Rücksicht nimmt auf die mimosenhaften Machthaber, hier aber viele Menschen irritiert.“ Zwei Kirchen, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung 1.8.1986, S. 2. 308 Die Freiheit des Menschen, in: Petrusblatt 20.8.1961, S. 3. Vgl. Glaubens- und Gewissensfreiheit in der „DDR“, in: Petrusblatt 11.2.1968, S. 3. Vgl. Auskunftsbericht über Julius Kardinal Döpfner, Erzbischof von München-Freising 9.1.1966. BStU MfS Abt. X 2069. 309 Sult, Manfred: Der Geruch unumgänglicher Pflichterfüllung, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 111.

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Im Umkehrschluss wurden typisch religiöse Begriffe, die der Staatsdoktrin nicht entsprachen, vermieden: Ja, es waren zum Beispiel Begriffe besetzt, ja. Es war Angst, Angst oder Furcht oder so etwas, das sind ja nun also sehr, sehr biblische Begriffe, ja, und die durften also eigentlich, die mußten immer umschrieben werden, ja. Also wenn man sozusagen, ein deutscher Junge hat keine Angst oder so etwas, ja. Ein DDR-Bürger darf sich nicht ängstigen oder Elend oder Furcht oder Armut oder so etwas. Eben solche soziologisch gefärbten Begriffe, die also in das Schema, in das Denkschema der Marxisten nicht reinpaßten, nicht, das war immer eine Rumeierei, nicht.310

Freilich barg diese Doppelbödigkeit das Risiko einer Fehlinterpretation. Der Versuch sich inhaltlich abzugrenzen, ohne sich sprachlich eindeutig abzuheben, lief Gefahr, genau das Gegenteil zu bewirken. Die Leitung des Bundes nahm in Kauf, dass auch eigene Kirchenmitglieder sprachliche Feinheiten nicht erfassten, vermeintlich distanzierte oder kritische Äußerungen als Opportunismus oder Zustimmung fehldeuteten. Auch andere Quellen weisen auf das hier nur implizit beschriebene Problem hin: Die Sprache der Kirchenleitungen fand an der Kirchenbasis kein Gehör, weil Theologen mehr Vorwissen voraussetzten als die Gemeindemitglieder mitbrachten. Das betraf vor allem politische Themen, galt aber ebenso für Bereiche des kirchlichen Lebens. Im Bericht über die Kreiskirchenvisitation in der Kirchengemeinde Blumberg von 1964 heißt es dazu: Was die Predigttätigkeit von Br. Kanitz anbetrifft, so spricht er leider nicht die Sprache der Menschen seiner Gemeinde. Es ist vielmehr eine ziemlich begriffliche Sprache, die mit einem gewissen Pathos und bewusster Langsamkeit gesprochen wird. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die meisten Sätze unverstanden an den Ohren der Gemeindemitglieder vorbeirauschen.311

Es ist naheliegend, dass sich diese Kommunikationsprobleme zwischen Geistlichen und Laien im Umgang mit gesellschaftlichen Themen ebenfalls niederschlugen und die Person des Pfarrers als Seelsorger und Berater in Frage stellten. Gleichzeitig behielten es sich gerade Kirchenleitungen und Theologen vor, mit Hilfe sprachlicher Spitzfindigkeiten ihre Position zu verdeutlichen, ohne darauf festgelegt und – das war zumindest mit Blick auf die DDR-Behörden von enormer Bedeutung – ohne dafür sanktioniert werden zu können. Die Mehrdeutigkeit bei der Wahl des Kirchentagmottos von 1951 „Wir sind doch Brüder!“ ist ein Beleg dafür. Der Berliner Bischof Dibelius hat zehn Jahre später selbst erklärt, warum:

310 Interview mit Lorenz Günter, OA, ohne Signatur, S. 15. 311 Bericht über die Kreiskirchenvisitation in der Kirchengemeinde Blumberg mit Eiche in der Zeit vom 11. bis 19. Oktober 1964. ELAB 35/8918.

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„Wir sind doch Brüder! In dem ‚doch‘ steckt der Gegensatz. Wir haben nie gesagt: Wir sind alle Brüder!“312 Typisch war gerade im Osten außerdem die Verwendung von Allegorien. Sie dienten dazu, Informationen einem großen Adressatenkreis bereitzustellen, die aber nur Eingeweihte deuten konnten: „Man hat also Dinge durch die Blume sagen können oder allegorisch sagen können – die Allegorie hat wieder ihre Bedeutung erlangt in unserer täglichen Sprache.“313 Problematisch war auch in diesem Fall, dass solche Schutzmaßnahmen gleichzeitig die Zugänglichkeit zu bestimmten Informationen erschwerten und potenzielle Empfänger auf diese Weise ausschlossen. Denn allen Verklausulierungen, Codierungen und anderen sprachlichen Tarnversuchen war gemein, dass sie ein spezifisches Vorwissen voraussetzten. Nur wer darüber verfügte, war in der Lage eine Übersetzungsleistung zu erbringen. So verhielt es sich auch im Fall von Chiffrierungen. Der in der Jugendarbeit aktive Baptist Manfred Preuße erklärte, wie brisante Inhalte verschlüsselt wurden: Wir haben über die Situation in der DDR gesprochen – indem wir einfach die Situation der Schwarzen in Amerika schilderten. Und die Kinder haben das verstanden. […] Oder wir haben die Situation der Christen in der Nazizeit geschildert und dann haben die entdeckt, das ist ja unsere Situation.314

Herbert Morét, Baptist und langjähriger Vorsitzender des Bundes der EvangelischFreikirchlichen Gemeinden in der DDR, wählte die Geschichte von Abraham als Metapher nicht nur, um über die Christen in der DDR zu sprechen, sondern auch um die Situation der Kirchenmitglieder in der Bundesrepublik kritisch zu hinterfragen: Ich habe manche Predigt gehalten über Abraham, der nach Ägypten ging. Und sie wußten ganz genau, wen ich meine. Ägypten, das Land, wo alles da ist, also der goldene Westen. Ich weiß nicht, ob sie es mir übel genommen haben, aber ich wollte ihnen doch sagen, ob das wirklich der Weg ist.315

312 Dibelius: Reden, S. 59. 313 Interview mit Manfred Preuße 2000. OA, ohne Signatur, S. 8. 314 Ebenda, S. 9. 315 Interview mit Herbert Morét 1999. OA, ohne Signatur, S. 2. Üblich waren in diesem Zusammenhang auch Verweise auf die „babylonische Gefangenschaft“. Vgl. Information. „Kongreß der Europäischen Baptistischen Förderation [sic!]“ vom 1.8. bis 5.8.1964 in Hamburg/BRD 17.8.1984. BStU MfS HA XX74 1261. Kurt Scharf verwendete häufig Erzählungen aus dem Neuen Testament, um die Situation der Christen in der DDR darzustellen. Vgl. Bericht über die Rede des Präses Dr. Scharf zur Lage der evangelischen Kirche in Deutschland 5.11.1961. BStU MfS 11729/92 (4). Im Rahmen des Berliner Kirchentages 1961 gebrauchten evangelische Pfarrer den Fluss Jordan als Synonym für den Eisernen Vorhang. Vgl. Bericht: Predigten in Berliner Kirchen aus Anlass der Eröffnung des DEK 19.7.1961. BStU MfS 11729/92 (4). Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 20.

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Einerseits ermöglichte der Einsatz stilistischer Mittel innerkirchliche Kommunikation. Andererseits verkomplizierte er sie. Das betraf die Verständigung zwischen Ost und West genauso wie zwischen Kirchenleitung und Basis.

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold Unterschiedliche Alltagswirklichkeiten, Informationsdefizite, Kommunikationsschwierigkeiten und Vertrauensverluste stellten für die Kirchengemeinden in Ost und West eine enorme Herausforderung dar. Eine Möglichkeit, um auf die vielfältig gelagerten Probleme zu reagieren, war deshalb zu schweigen. In erster Linie ging es darum, das Verhältnis zwischen den Kirchen und der DDR nicht weiter zu belasten: „Dahinter stand die Überzeugung, daß man ohnehin nicht alles so deutlich sagen könne, wie es eigentlich fällig wäre. Und so klausuliert reden, daß es anpasserisch hätte wirken können, wollte man auch nicht.“316 Der katholische Bischof Bengsch soll gegenüber dem Staatssekretär für Kirchenfragen in der DDR, Hans Seigewasser, geäußert haben: „Ich muss schweigen, um glaubwürdig vor meinen Leuten zu sein. […] Wenn ich schweige, […] trage ich zur Verständigung bei.“317 Bengsch erhob das Schweigen damit zum Modus Vivendi für die Katholiken in Ost-Berlin. Nicht intendiert war, dass sich die Kirchenmitglieder ein Verhalten gegenüber Anderen oder Fremden aneigneten, das sich nicht nur auf staatliche Akteure bezog, sondern gleichermaßen Einfluss auf die Beziehungen zu westdeutschen Kirchenmitgliedern nahm. Denn diese waren nun nicht mehr Teil der eigenen Subgesellschaft und direkten Kommunikationsgemeinschaft. Den Anderen fiel es folglich schwer, dieses Schweigen richtig zu deuten. Zudem konnte das Schweigen ein Gegenschweigen erzeugen, das sich nicht nur negativ auf die innerkirchlichen Kontakte auswirken konnte, sondern auch drohte, die externe Kritik an Missständen in der DDR und Ost-Berlin verstummen zu lassen.318 Ganz abgesehen davon, dass im Schweigen zuweilen ein Wissen oder eine Übereinstimmung vorausgesetzt wurde, die möglicherweise nicht existierte oder neu verhandelt werden musste. Die Entscheidung zu schweigen konnte den sich wandelnden Verhältnissen somit nur bedingt gerecht werden. Im Schweigen war es kaum möglich, überkommene

316 Das Zitat geht auf den Berlin-Brandenburgischen Superintendenten Reinhard Steinlein zurück. Zitiert in: Besier, Gerhard: Einleitung, in: Kirchliche Zeitgeschichte 2 (1994), S. 184. Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 33. 317 Bengsch zu Seigewasser 27.3.1963. KfZG – WA 33/e, abgedruckt in: Höllen: Loyale Distanz?, Band 1, S. 357. 318 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 466.

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Prioritäten zu verwerfen und neue Akzente zu setzen, um die Verhältnisse zu stabilisieren.319 Eine mögliche Reaktion auf dieses Problem war der Ruf nach einer endgültigen Verselbstständigung. Gerade an der Kirchenbasis mehrten sich Stimmen, denen die bisherigen Trennungsschritte nicht weit genug gingen: Unter den Berliner Katholiken rumorte es gewaltig. Der Weg, den Bischof Bengsch 1961 eingeschlagen hatte, missfiel vor allem West-Berliner Kirchenmitgliedern.320 Sie unterstellten dem Bischof, schlecht informiert zu sein und Ost-Berliner Interessen gegenüber West-Berliner Anliegen den Vorrang zu geben. Dass in West-Berlin zu wenige Jurisdiktionsträger lebten, war einer ihrer Vorwürfe. Infolgedessen wurden im Verlauf der 1960er-Jahre, wie schon erwähnt, Forderungen nach einem eigenen Weihbischof für den Westteil der Stadt laut.321 Zu den Befürwortern einer solchen Lösung zählte auch der ehemalige Berliner Bischof Döpfner, der „die kirchliche Verselbstständigung Westberlins einer von Ostberliner Rücksichten geprägten Amtsführung vorzog.“322 Kein Interesse daran hatte die DDR-Regierung. Bengsch sollte unbedingt davon abgehalten werden, einer Verselbstständigung West-Berlins zuzustimmen. Das MfS fürchtete um seine Einflussmöglichkeiten auf den westlichen Teil des Bistums. Das wiederum bestätigt nachträglich die Vermutungen vieler West-Berliner Katholiken. Sie gingen davon aus, dass Entscheidungen, die für den Westteil der Diözese getroffen wurden, immer auch an Ost-Berliner Interessen rückgekoppelt waren, weil die Katholiken dort direkt durch das MfS erpressbar waren.323 Konstruktive Forderungen, wie die nach der Inthronisation eines West-Berliner Weihbischofs, stellte nur, wer das Vertrauen in die Institution Kirche noch nicht verloren hatte. Vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der 1960er-Jahre und den oftmals als ungenügend wahrgenommenen Reaktionen der Amtskirchen darauf, stiegen die Austrittszahlen in Ost und West rapide an. Die Einheitsfrage war dabei nebensächlich.324 319 Vgl. Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 4 und S. 7. 320 Vgl. Protestschreiben des Kirchenvorstandes der Gemeinde Maria Dolorosa 15.2.1968. DAB V/ 1–4, abgedruckt in: Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 158. Siehe auch: Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 16. 321 Vgl. Generalvikar gesucht, in: Der Christ 2.5.1969, S. 1. 322 Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 171. Diskutiert wurde außerdem eine selbstständige Apostolische Administratur West-Berlin. Der Tod Papst Pauls VI., der diese Option verfolgt hatte, machte diesen Plan allerdings obsolet. Vgl. Höllen: Kirchenpolitische Probleme, S. 179. Siehe auch: Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 31. 323 Vgl. Gesprächskonzeption 2.4.1970. BStU MfS HA XX AP 12066/92. 324 „Es wird geäußert, daß Ältere oft aus Überzeugungsgründen, auch aus politischen, aus der Kirche austreten, während für Jüngere eine Antwort auf die Frage ‚warum soll ich zur Kirche gehören, warum muß es so etwas wie Kirche überhaupt geben?‘ zunehmend schwerer beantwort-

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Kapitel 3: Entfremdung

3.3 Resümee Entfremdung heißt nicht, Differenzen festzustellen. Entfremdung beginnt oftmals da, wo Unterschiede negativ bewertet werden. Kirchliche Entfremdung ist als historisches Problem seit dem 19. Jahrhundert in die Berliner Stadtgeschichte eingeschrieben. Sie ist kein Phänomen des Kalten Kriegs. Große Migrationsschübe und Austrittswellen zeichneten das kirchliche Leben in Berlin lange vor dem Bau der Mauer aus und stellten immer wieder Wendepunkte dar.325 Der Kalte Krieg war fraglos eine besondere Episode dieser Kirchengeschichte, aber die damit einhergehenden Begleiterscheinungen sind nicht alle zwangsläufig spezifisch. Die organisatorischen Trennungen im Bereich der Berliner Amtskirchen nach 1945 waren pragmatisch gedacht. Die Verdopplung oder Regionalisierung von Strukturen sind als Vermeidungsstrategien zu lesen. Eine Teilung der Kirchengebiete entlang der Sektorengrenzen sollte unbedingt verhindert werden. Aber allein die Existenz geteilter Institutionen leistete dem Gefühl von einer gespaltenen Gemeinschaft Vorschub. Wenngleich das Bistum Berlin kirchenrechtlich nicht geteilt war, war es eben nicht geeint: Der kirchliche Alltag ereignete sich nicht im luftleeren Raum. Die hier beschriebenen Akteure waren auch, aber nicht nur, religiös oder kirchlich gebunden. Gemeindemitglieder nahmen gleichzeitig am städtischen Leben teil. Die Unterschiede zwischen Ost- und West-Berlin wurden den Menschen im Arbeitsalltag, bei Freizeitaktivitäten oder im Familienleben deutlich vor Augen geführt und aufgrund dieser Erfahrungen waren sie in den Kirchen präsent. Das heißt, nicht die Kirchen waren gespalten, aber viele Kirchenmitglieder in ihrer Existenz als Gläubige und Stadtbewohner oder Kirchenmitglieder und Staatsbürger ganz sicher. Diese Selbstbeobachtung verlangte nach einer Bestimmung der eigenen Zugehörigkeit. Dabei wurden übergeordnete kirchliche Institutionen immer häufiger durch nationale oder systemische Bezugsgrößen ersetzt: DDR oder Bundesrepublik. Ost oder West. Die Spaltungserfahrung generierte und verfestigte Identitäten. Eine Kirche im Sozialismus war ohne diese Exklusionserfahrung nicht denkbar.326 Aus der Ab- und Ausgrenzung ging somit auch etwas Produktives hervor: Die Abbar ist.“ Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über das Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt Dezember 1973-Oktober 1974. ELAB 36/524. 325 Vgl. Gundermann, Iselin u. a. (Hrsg.): Evangelische Kirche der preußischen Union 1817–2003. Ein Bild- und Textband, Berlin 2013, S. 56 und S. 134–135. Siehe auch: Frank, Wilhelm: Rosen und Dornen in der Berliner Seelsorgsarbeit in zwanzigjähriger Tätigkeit (1887–1907), Breslau 1909, abgedruckt in: Simon, Werner: Kirche in der Stadt: Glauben und glauben lernen heute in städtischen Lebenszusammenhängen, Berlin 1990, S. 85–87. 326 Vgl. Winter: Die Region Ost, S. 219–220.

3.3 Resümee



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wendung von der kirchlichen Einheit bedeutete gleichzeitig eine Verselbstständigung, die eine Erweiterung des eigenen Handlungsspielraums versprach.327 In diesen Entfremdungsprozessen fand Austausch weiter statt. Aufgrund von Wissensdefiziten und der schwindenden Bereitschaft sich in andere Situationen einzufühlen, wurde der Kontakt jedoch mehr und mehr auf eine bloße Nachrichtenübertragung reduziert, die weder Erkenntnisse noch Empathie hervorbrachte. Freilich ließen sich trotzdem unterschiedliche Reaktionen auf die Existenz von Unterschieden beobachten. Dazu gehörten Überforderung, Missgunst oder blinder Aktionismus. Sie alle trugen aber dazu bei, die Beziehungen zu verkomplizieren und machten sie auf diese Weise vulnerabel. Ostdeutsche Kirchenmitglieder gerieten besonders unter Druck: Die DDR-Behörden werteten jede Annäherung an westdeutsche Christen als Abwertung des eigenen Systems und reagierten restriktiv darauf. Umgekehrt appelierten die Berliner Kirchenleitungen an ihre Mitglieder in der DDR und Ost-Berlin, keinerlei Nähe zum Staat zuzulassen.328 Die logische Konsequenz daraus war der Rückzug ostdeutscher Kirchenmitglieder in private, halböffentliche Räume. Für die grenzübergreifenden Beziehungen war das ein Problem. Die geschlossenen Rückzugsräume der Ostdeutschen standen auch den Nächsten nicht mehr offen. Die Folge war, dass Kirchenmitglieder in Ost und West auf Stereotype zurückgriffen, um einen Anderen zu beschreiben, von dem sie meinten, dass er ihnen hypothetisch nahe stand. Die angenommene Einheit der Kirchen wurde im Zuge dessen auf die Metaebene verlagert und von den wahrgenommenen Alltagsrealitäten zunehmend entkoppelt. In dieser Distanz traten die Trennungsmomente in den OstWest-Verhältnissen deutlich hervor.

327 Vgl. Niedermeier, Luzia: Tagungsbericht HT 2018: „Gespaltene Gesellschaft“ – ein Modus der Selbstbeobachtung in der Moderne. 25.09.2018–28.09.2018, Münster, in: H-Soz-Kult 07.12.2018. 328 Im Fall der evangelischen Kirche galt das bis Ende der 1960er-Jahre.

Kapitel 4 Entflechtung: Der Nächste ist ein Anderer. Trennung in Ost und West (1960er-1980er-Jahre) Die Entfremdung bedingte zahlreiche Trennungsprozesse, mit denen die Teilung der Kirchen in Berlin und Brandenburg wirksam wurde. In einigen kirchlichen Bereichen oder zwischen einzelnen Kirchenmitgliedern in Ost und West wurden zwar weiterhin Verbindungen aufrechterhalten, aber das alltägliche, kirchliche Leben beeinflussten diese Kontakte nur mehr sehr begrenzt. Stattdessen wurde die Entwicklung der Kirchen einerseits von ihren Beziehungen zu staatlichen Akteuren und andererseits von innerkirchlichen Krisen bestimmt, wobei insbesondere intergenerationelle Konflikte hervorstachen.

4.1 Der Rückzug der Kirchen ins Private: Rufe nach Neubesinnung in Ost-Berlin Nicht erst seit dem 13. August 1961 war das kirchliche Leben in Ost-Berlin und der DDR geprägt von Erfahrungen staatlicher Willkür im Umgang mit Religionsgemeinschaften und deren Mitgliedern. Christen aller Konfessionen hatten entweder selbst erlebt oder waren Zeugen davon geworden, dass Kirchenmitglieder aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert wurden. Die Reaktionen darauf waren durchaus vielfältig. Während es Menschen gab, die permanent in Angst vor staatlichen Repressionen lebten und daran zerbrachen oder zu zerbrechen drohten, meinten sich andere gefeit vor Anfeindungen und Unterdrückungen. Die staatliche Ablehnung bestätigte sie in ihren widerständigen Gefühlen und ermutigte sie, ihre Zugehörigkeit zu einer der Kirchen in der DDR etwa durch das Tragen von Aufnähern mit christlichen Symbolen und Ketten mit Kreuzanhängern oder Missionsversuche mehr oder weniger offen zu zeigen. Die Mehrheit aber ging einen Mittelweg: nach außen integriert in die sozialistische Gesellschaft, lebten sie ihren christlichen Glauben zurückgezogen innerhalb privater oder halb-öffentlicher kirchlicher Räume. Nicht alle sahen diese Zweigleisigkeit als Belastung. Insbesondere Menschen, die in der DDR aufgewachsen waren, konnten sie als Normalität empfinden. Der hierin schon angedeuteten Fragmentierung sind daher folgende Fragen voranzustellen: Wer hielt sich in kirchlichen Räumen auf? Welche Selbstbilder entwickelten sich dort im Zeitverlauf? Und schließlich: Wer repräsentierte die Kirchen nach außen? Diese letzte Frage ist dahingehend relevant, als zwischen denen, die Kirchenmitglieder waren und denen, die sich vermehrt in https://doi.org/10.1515/9783111026602-005

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kirchlichen Räumen trafen, zunehmend Diskrepanzen auftraten. Neben der Verfolgung christlicher Kirchenmitglieder durch staatliche Behörden in der DDR werden daher im Folgenden auch innerkirchliche Probleme und Lösungsansätze sowie die schrittweise Öffnung der ostdeutschen Kirchen für nichtchristliche Menschen seit den 1970er-Jahren und damit einhergehende Unsicherheiten erläutert.

Christliche Familien unter Druck Kirchenmitglieder in Ost-Berlin und der DDR waren sowohl in kirchlichen als auch privaten Räumen sehr unterschiedlichen Formen staatlicher Repression ausgesetzt.1 Neben Überwachungsmaßnahmen waren sie von Einschüchterungsversuchen, Erpressungen oder Verhaftungen und Gefängnisstrafen bedroht. Kirchliche Veranstaltungen wurden heimlich sabotiert, offensichtlich gestört oder willkürlich verboten.2 Kirchliche Praktiken wie etwa die Straßenmission, die Gefangenenseelsorge oder der Besuchsdienst von Pfarrern in öffentlichen Einrichtungen wie kommunalen Altersheimen wurden unterbunden oder behindert.3 Die Staats- und Parteiführung der DDR versuchte, die Kirche aus dem öffentlichen Leben zurückzudrängen und sie zielte darauf ab, dass sich eingeschüchterte Kirchenmitglieder in kirchliche Räume zurückzogen, anstatt öffentlich für ungestörte Religionsausübung einzutreten.4 Vor allem Familien und insbesondere Kinder und Jugendliche mussten einem enormen Druck standhalten, weil staatliche Stellen auf vielfältige Weise versuchten, Einfluss auf sie auszuüben.5 Ziel der SED-Funktionäre war es, kirchliche Tradi-

1 Zum Thema Repression gegen die Kirchen in der DDR s. a. Dähn, Horst: Evangelische Kirche und SED-Staat, S. 37. 2 „Er selbst als Pfarrer könne nur das eine sagen, daß immer wieder von staatlichen Stellen die kirchliche Tätigkeit behindert und unterdrückt würde. Erst vor kurzem habe in seinem Dekanat eine Wallfahrt stattfinden sollen, die vom Bezirk genehmigt, aber vom Kreis verhindert worden wäre. Die Bereitstellung von Autobussen sei unter sehr fadenscheinigen Begründungen abgelehnt worden.“ Treffbericht. IM „Meyerbeer“ 25.9.1959. BStU MfS HA XX AP 12065/92. Vgl. Auswertung des Nationalen Jugendfestivals durch die Ev. Kirche Berlin-Brandenburg auf dem Pfarrkonvent am 6.6.1979 Bln.-Stadt I. BStU MfS BV Bln Abt. XX 5562. Siehe außerdem: Engelmann, Roger u. a. (Hrsg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin 2012, S. 194. Sowie Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 146. Schließlich: Heinicker: Kolpingsarbeit, S. 310–315. 3 Vgl. Generalkirchenvisitation Pankow, Gemeinde Buchholz 1962. ELAB 86/64. 4 Ihre Kirchenpolitik manifestierte die SED in der Verfassung der DDR von 1968. 5 Vgl. Abschrift. Vorlage des Berichtsausschusses. [3. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, 2.-6.7.1971] MfS BStU MfS HA XX/4 1254. Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang

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tionslinien zu unterbrechen und nachfolgende Generationen an die eigene Ideologie zu binden. Junge Menschen waren infolge dieser Politik massiven Gewissenskonflikten ausgeliefert. Sie wurden zwischen ideologischen, vermeintlich gesellschaftlichen Interessen und ihrer Religionszugehörigkeit aufgerieben. Man verweigerte ihnen den Zugang zur Erweiterten Oberschule oder zum Studium aufgrund ihrer Kirchenmitgliedschaft und Herkunft oder weil sie mit Verweis auf ihren christlichen Glauben die Mitgliedschaft in staatlichen Massenorganisationen oder eine Teilnahme an der bereits thematisierten Jugendweihe ablehnten.6 Die Ursachen dafür sahen selbstkritische Kirchenvisitatoren jedoch nicht allein bei den staatlichen Organen, sondern auch bei der Amtskirche, der es mancherorts wie etwa auf dem Kietzerfeld – einem dörflich geprägten Bereich in Berlin-Köpenick – nicht mehr gelang, einen Zugang zu den eigenen Mitgliedern zu finden: „Die marxistische Ideologie und ihre Propaganda, die Unkenntnis darüber, was Kirche ist und will, und die Angst vor materieller Benachteiligung, besonders auf Seiten der Väter, ist der Grund für das Fernhalten der Kinder von Taufe und Christenlehre und Konfirmandenunterricht.“7 Der evangelische Kreisjugendkonvent in Berlin-Lichtenberg kam 1980 zu dem Schluss, dass die Kirchenleitung bislang nicht genug auf die Sorgen und Ängste der Jugendlichen eingegangen sei: Die Kirchenleitenden müssten Kenntnis darüber erlangen, welcher Belastung junge Christen ausgesetzt seien.8 Besonders schwierig war es auch für junge Baptisten, erklärte Manfred Preuße, der jahrzehntelang in der freikirchlichen Kinder- und Jugendarbeit aktiv war. Da in baptistischen Gemeinden erst die Erwachsenen getauft werden, verlangten Eltern von ihren Kindern, dem Druck standzuhalten im Wissen darum, der Gemeinde offiziell nicht anzugehören. Preuße erinnerte sich an ein Mädchen, das unter diesen Umständen sehr gelitten habe: „Dieses Mädchen, das erzählte: ‚Ich halte es nicht mehr aus, nicht zur FDJ zu gehören. Ich bin ganz alleine, ich bin so isoliert, […] ich erlebe die Nichtzugehörigkeit.‘“9 Eben dieses Spannungsverhältnis, in Weider 3.4.2017, S. 1. Siehe auch: Interview mit Siegfried Rosemann 2001. OA, ohne Signatur, S. 4. Sowie: Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 3. Und: Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 18. 6 Vgl. Fragebogen Berlin Rosenthal 1962. ELAB 86/65. Siehe auch: Bericht über die Tätigkeit des Superintendenten Brix in der Zeit vom 1.5.1960 bis voraussichtlich zum 31.8.1975 auf Anfordern des Kreiskirchenrates Berlin Stadt I. ELAB 35/7367. Sowie: Heinemann-Grüder: Pfarrer in Ost und West, S. 63. Und: Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 2. Schließlich: Richter: Pietismus im Sozialismus, S. 171–179. 7 Gemeindesituation in Kietzerfeld 1976. ELAB 86/387. 8 Vgl. Bericht über die Generalkirchenvisitation im Kirchenkreis Lichtenberg, die vom 1. bis zum 17. Nov. 1980 stattfand. ELAB 35/9889. 9 Interview mit Manfred Preuße 2000. OA, ohne Signatur, S. 5. Vgl. Interview mit Wolfgang Ruß 2003. OA, ohne Signatur, S. 20. Siehe auch: Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 9.

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dem sich christliche Kinder und Jugendliche befanden, thematisierte Matthias Kohl ebenfalls. Auf einer katholischen Jugendwallfahrt traf er zum ersten Mal eine größere Anzahl „Gleichgesinnter“ und erfuhr diese Begegnung als „unglaubliches Gefühl“. Ihm wurde erst in diesem Rahmen bewusst: „Man ist nicht allein.“10 Aufgrund dieser Zwangssituationen kamen viele christliche Eltern zu dem Schluss, dass sie einer Mitgliedschaft ihrer Kinder in einer staatlichen Organisation zumindest nicht im Wege stehen wollten. Den Kindern ermöglichte eine solche Entscheidung, die eigene Religionszugehörigkeit im Umgang mit Dritten zu retuschieren, um nicht ausgegrenzt zu werden. Allerdings sicherte ein solches Vorgehen keineswegs den Zugang zu einer höheren Schule oder dem erhofften Ausbildungsplatz. Die DDR-Behörden gaben sich vielfach nicht damit zufrieden, ein Kind bei den Pionieren oder in der FDJ zu wissen, wenn es die Jugendweihe trotzdem verweigerte: Als Katholik sah S. T. kein Problem darin, einer Pionierorganisation anzugehören, die Jugendweihe lehnte er aus Gewissensgründen jedoch ab, weil er im Jugendweihegelöbnis einen Widerspruch zu seinem Glaubensbekenntnis sah. Die Folge war, dass sowohl er als auch seine Mutter, die als Lehrerin arbeitete, fortan Anfeindungen in der Schule ausgesetzt waren. Seine jüngeren Geschwister waren davon ebenfalls betroffen, obwohl sie das Jugendweihealter noch gar nicht erreicht hatten.11 Die Schule als staatliche Sozialisationsinstanz war besonders oft der Ort, an dem christliche Kinder wegen ihrer Religionszugehörigkeit offen angefeindet wurden und Demütigungen erfuhren. Paul Plume berichtete, dass seine Tochter nach der Einschulung von einer Lehrerin aufgefordert wurde, sich in eine Ecke zu stellen. Dann habe die Lehrerin auf das Kind gedeutet und den Mitschülern erklärt: „Das ist eine Christin.“12 Für die Tochter habe dieser Moment nicht nur eine Ausgrenzungserfahrung dargestellt. Er bereitete sie außerdem darauf vor, sich jeden weiteren Schritt ihrer schulischen und universitären Laufbahn erkämpfen zu müssen. Diese Erfahrung machte auch Friedhelm Sachse: So begann ich mein Studium für die Verantwortlichen als ein „Fremdkörper“. […] Ich wurde aufgefordert, auf meinem Auto den Aufkleber „Wir glauben an Jesus Christus“ zu entfernen. Als ich mich weigerte, durfte ich diesen „Schandfleck“ nicht mehr auf der öffentlichen Straße vor der Fachschule parken.13

10 Ebenda, S. 4. 11 Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 2. Siehe auch: Furian: Einnerungen an den 13. August 1961, S. 183. 12 Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 7. 13 Sachse, Friedhelm: Ein Christ fällt auf. Gedanken beim Lesen meiner Akte, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 143.

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Immer wieder zeichneten staatliche Institutionen in der DDR christliche Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene als Andere, Fremde und Störende. Nicht nur die Kinder auch christliche Eltern gerieten dabei wie im Fall von S. T. ins Visier der Behörden. Sie wurden für das Auftreten ihrer Kinder verantwortlich gemacht und ihnen wurde vorgeworfen, ihre Vorbildfunktion vernachlässigt zu haben. So wie ihren Kindern eine höhere Schulbildung verweigert wurde, schüchterte man die Eltern ein und drohte ihnen damit, berufliche Aufstiegsmöglichkeiten zu verhindern, wenn sie wegen ihrer Religionszugehörigkeit die Politik der SED kritisch in Frage stellten und ihre Kinder von staatlichen oder staatsnahen Organisationen fernhielten.14 Stattdessen, so der Wunsch der SEDFunktionäre, sollten die Eltern die Jugendlichen dazu animieren, an der Jugendweihe teilzunehmen. Heinemann-Grüder, evangelischer Pfarrer im uckermärkischen Gramzow, erklärte, unter welchem Druck christliche Eltern in seiner Gemeinde standen: „Herr Pfarrer, Sie können sich das erlauben, Ihre Kinder nicht zur JW zu geben, wir aber nicht. Dann verliert mein Mann seine Stellung.“ Diese Auskunft konnte man nur zu oft hören. Schließlich waren es auch Pfarrer und Laienmitglieder der Kirchenleitung, die meinten, ihren Kindern das „Entweder-Oder“ nicht zumuten zu können.15

Das Zitat ist zum einen Beleg für die Machtlosigkeit einfacher Laienmitglieder, die sich der Staatsgewalt ausgeliefert sahen. Zum anderen zeigt es vermutete Machtpositionen innerhalb der Kirchen. Mitglieder an der Kirchenbasis gingen davon aus, dass sich kirchliche Amtsträger anders verhalten konnten als sie selbst.

Kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Visier des MfS Dieser Eindruck täuschte insofern, als die staatlichen Behörden in der DDR und Ost-Berlin Pfarrer und Pfarrerinnen ebenfalls zu einer der Zielscheiben ihrer kirchenfeindlichen Politik machten. Dabei kam das typische MfS-Instrumentarium zum Einsatz: Offizielle und inoffizielle MfS-Mitarbeiter sammelten belastendes Material, um kirchliche Amtsträger erpressen zu können: Katholische Priester wurden beschuldigt, Spendengelder zu unterschlagen, den Zölibat zu brechen 14 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 19–20. Siehe auch: Engelmann: Das MfS-Lexikon, S. 194. Um kritischen Äußerungen zuvorzukommen, sollten christliche Eltern auch nicht in Elternbeiräte gewählt werden. Vgl. Dammann, Rolf: Der Bund im Gegenüber zu staatlichen Stellen und gesellschaftlichen Institutionen, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 54. 15 Heinemann-Grüder: Pfarrer in Ost und West, S. 46. Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 18. Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 11.

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oder als Gegner des Staates in Erscheinung zu treten. Das MfS eruierte die Vermögenswerte der bespitzelten Personen, durchleuchtete deren Privatleben, wobei sich die Geheimdienstler neben möglichen sexuellen Kontakten der Priester etwa auch für deren Alkoholkonsum interessierten. Die vermeintlichen Stärken und Schwächen der bespitzelten Personen wurden danach beurteilt, wie sie für staatliche Interessen ausgenutzt werden könnten. Schließlich arbeitete eine Außenstelle der Abteilung XX/4 im MfS, das Referat Familienforschung beim Zentralarchiv in Potsdam, daran, die Rolle von Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern im Nationalsozialismus zu ermitteln. Die gewonnenen Informationen wollte das MfS im Zweifelsfall gegen missliebige Personen verwenden.16 Die besonders intensive Überwachung katholischer Priester durch das MfS ist darauf zurückzuführen, dass Priester dem Geheimdienst in der Regel weniger angreifbar erschienen als evangelische Pfarrer. Aufgrund ihrer Ehe- und Kinderlosigkeit fehlte dem MfS ein wesentliches Druckmittel, auf das der Geheimdienst im Umgang mit evangelischen Theologen immer wieder zurückgriff.17 Über die Ost-Berliner Gemeinden wurden zudem in regelmäßigen Abständen Berichte angefertigt, in denen nicht nur auf die politische Einstellung der dort tätigen Pfarrer eingegangen, sondern darüber hinaus deren Wirkung auf die Gemeindemitglieder festgehalten wurde. Basierend auf diesen Berichten beriet das MfS dann das weitere Vorgehen. Dort, wo „eine Konzentration von politisch negativen Kräften“ festgestellt wurde, versuchte das Ministerium einzugreifen und diese Gruppen zu zersetzen, wie es in der Sprache des Geheimdienstapparates hieß. In Folge einer solchen Operation habe sich zum Beispiel 1966 eine Gruppe von rund 100 Mitgliedern der Kolpingsfamilie in der katholischen Pfarrei St. Mauritius in Berlin-Lichtenberg selbst aufgelöst, stellten MfS-Mitarbeiter zufrieden fest.18 Neben Observationen und den Berichten Inoffizieller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellten Abhörmaßnahmen eine wichtige Informationsquelle für das MfS dar.19 Immer wieder entdeckten Angehörige der Berliner Kirchenleitungen, Pfarrer oder kirchliche Mitarbeiter entsprechende Vorrichtungen in ihren Büros, die teilweise bereits seit Jahren dort installiert waren.20 In der Regel vermieden es 16 Vgl. Engelmann: Das MfS-Lexikon, S. 196. Siehe auch: Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2011, S. 162–164. 17 Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 14. 18 Vgl. Analyse über die Situation in den Dekanaten der katholischen Kirche in der Hauptstadt der DDR. BStU MfS BV Bln Abt. XX 5579. Zur Überwachung der Kolpingsfamilien in Berlin siehe auch: Heinicker: Kolpingsarbeit, S. 310–323. 19 Engelmann: Das MfS-Lexikon, S. 194. 20 Vgl. Information. IM „Seewald“ 13.5.1977. BStU MfS HA XX AP 12446/92. Siehe auch: Dr. Furian warnte die Gemeindekirchenräte vor Abhöranlagen mit Bezug auf die bei Pfarrer Eppelmann gefundenen drei Geräte, 10.2.1989. ELAB 86/542. Sowie: Wanze im Beichtzimmer, in: Der SPIEGEL

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die Betroffenen jedoch, ihre Entdeckungen öffentlich zu skandalisieren, um keine zusätzliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das MfS sollte glauben, dass sie nichts zu verheimlichen hatten. Stattdessen, so Herbert Morét, Präsident des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR, wurde nach anderen Möglichkeiten gesucht, vermeintlich informelles Wissen weiterzugeben: „Wir haben manchmal bei Gesprächen den Kaffeewärmer übers Telefon gesetzt, um dann miteinander sprechen zu können.“21 Klaus Pritzkuleit, seit 1979 Jugendsekretär des Gemeindejugendwerks in der DDR, erläuterte, dass der Besitz eines Telefons vor diesem Hintergrund durchaus ambivalent gesehen wurde: Aber es war uns auch bewusst, das es keine Selbstverständlichkeit war, in dem gesamtstaatlichen System mit diesen Kommunikationsmöglichkeiten ausgestattet zu sein. Es war natürlich auch eine Möglichkeit, mit der wir auch ganz klar gerechnet haben, daß immer jemand mithört, wenn wir den Telefonhörer abnehmen, den wir zwar nicht angerufen haben, der aber unsere Leitung angezapft hat, um uns einfach auch zu überwachen.22

Das von Pritzkuleit geschilderte Risikobewusstsein war keineswegs so selbstverständlich wie dargestellt. Die Überwachung des MfS war weit umfangreicher als sich viele Kirchenmitglieder vorzustellen vermochten. Es war also gerade nicht möglich, staatliche Überwachungsmaßnahmen umfassend zu erfassen oder gar zu lenken, wie manche Zeitzeugen es rückblickend suggerierten.23 Diese Selbstgewissheit entpuppte sich oft als Selbstbetrug und diente vorrangig der Selbstberuhigung. Weihbischof Weider erinnerte daran, dass es zeitgenössisch nicht möglich war, die Situation zu erfassen: „Wir hatten Angst beim Telefonieren. Immer. Und auch beim, beim Briefeschreiben. […] Wir ham über West-Berlin telefoniert [lacht] oder geschickt, wenn man mal rüberkam. Und ham ja nicht gewusst, dass die auch abgehört wurden. [lacht] Frechheit: Die wussten viel mehr, als wir ahnten.“24 Wie weitreichend die Verfolgung durch das MfS gewesen war, konnte demnach erst nach dem Mauerfall tatsächlich ermessen werden. Nichtsdestotrotz führte die Angst vor dem MfS dazu, dass das Misstrauen nicht nur gegenüber Externen, sondern auch unter den Kirchenmitgliedern selbst wuchs.25 Oftmals vermieden sie es, eindeutig Stellung zu beziehen und sich da2.1.1989, S. 16–17Auch in den evangelischen Freikirchen wusste man, dass das MfS heimlich Abhöranlagen bei Pastoren und kirchlichen MitarbeiterInnen einbauen ließ. Vgl. Bericht. IM „Peter“ 4.7.1967. BStU HA XX/4 2977, Teil 2 von 2. 21 Interview mit Herbert Morét 1999. OA, ohne Signatur, S. 8. 22 Interview mit Klaus Pritzkuleit 2005. OA, ohne Signatur, S. 33. Vgl. Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 16. 23 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 20. 24 Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 15. 25 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 14. Siehe auch: Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 16–17.

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durch angreifbar zu machen. Sie ergriffen Vorsichtsmaßnahmen, indem sie nach subtilen Formulierungen suchten und sich paradoxe Kommunikationstechniken aneigneten, insbesondere dann, wenn es um politische Themen ging.26 In der Folge gerieten gerade diejenigen in Verdacht mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten, die es weiterhin wagten, Kritik offen zu äußern. Auf Kirchenleitungsebene wurde darüber spekuliert, dass Personen vom MfS dazu angestachelt wurden, Unruhe zu stiften.27 Dietmar Linke schilderte die Konsequenzen, die sich daraus ergaben: „Es gab einen Zeitpunkt, wo jeder seine eigenen Wege ging, wo das geschwisterliche Gespräch nicht mehr stattfand, wo es kein Vertrauen mehr gab. Oder manch einer seine Gesprächspartner hatte bis hin zum MfS.“28 Selbst in hitzigen Debatten innerhalb der Studentengemeinde, so der katholische Zeitzeuge C. D., folgte deshalb jede Äußerung dem Imperativ: „Du musst es noch verantworten können!“29 Viele der engagierten Kirchenmitglieder in Ost-Berlin rechneten demnach jeder Zeit damit, allerorts, von unterschiedlichen Personen überwacht werden zu können. Wobei sich dieses Wissen verschiedentlich auf das Handeln der Betroffenen auswirkte: Wir haben, um auch dieses Stichwort aufzugreifen, natürlich in dem Bewusstsein gelebt, dass das, was wir tun, den Augen, den Ohren, den Akten, dem Wissen der Staatssicherheit nicht verborgen bleibt. Ich habe das schon sehr viel früher, lange bevor ich in das Gemeindejugendwerk eingetreten bin und als hauptamtlicher Mitarbeiter in den Dienst des Bundes eintrat, in meiner ersten Phase, sozusagen meiner Berliner ehrenamtlichen Tätigkeit in der Gemeinde Berlin-Köpenick wahrgenommen, dass ich beobachtet wurde, dass an verschiedenen Stellen verschiedene Leute über mich Berichte schreiben mussten. In meinem bürgerlichen Beruf in dem Werkzeugmaschinenwerk, in dem ich gearbeitet habe, hat mir irgendwann mein Vorgesetzter zu verstehen gegeben, ich soll mich mal mit der Jugendarbeit eine Weile zurückhalten, er müsste jetzt mal wieder einen Bericht über mich schreiben.30

Zwei Punkte fallen im Zusammenhang mit Pritzkuleits Aussage auf. Erstens: Es kam vor, dass sich IM gegenüber ihrer Zielperson, in diesem Fall der Vorgesetzte gegenüber einem Mitarbeiter, offenbarten, weil sie darin einen Vorteil für beide Seiten sahen. Eingeschränkt und in kleinem Rahmen wurde über den Verfolgungsapparat des MfS gesprochen. Zweitens: Diese Information änderte aber nichts dar26 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 16. Siehe auch: Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 25. Sowie: Interview mit Siegfried Rosemann 2001, OA, ohne Signatur, S. 4 und S. 7. 27 Vgl. Jung, Ruth: Eine Politik der Skepsis. Alfred Bengsch, das Bistum Berlin und die katholische Kirche in der DDR (1961–1979), in: Kösters, Christoph/Tischner, Wolfgang (Hrsg.): Katholische Kirche in der SBZ und DDR, Paderborn u. a. 2005, S. 185. 28 Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 44. 29 Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 16. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 15. 30 Interview mit Klaus Pritzkuleit 2005. OA, ohne Signatur, S. 33.

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an, dass sich der IM weiterhin in einer intransparenten Machtposition befand. Zu wissen, wer eine Zusammenarbeit mit dem MfS eingegangen war, sagte nichts über den Inhalt der betreffenden Berichte aus oder darüber, wie das MfS diese interpretierte und verwertete. Die Bespitzelten konnten möglicherweise Einfluss auf die Verfasser der Berichte und die durch sie weitergegebenen Informationen nehmen. Aber sie erlangten niemals die Interpretationshoheit über die sie betreffenden Akten oder die Vorgänge, die im Hintergrund abliefen und weder den IM, noch den Betroffenen bekannt waren. Den geschilderten Bedrohungen ausgesetzt, galt es für Kirchenmitglieder abzuwägen, wie sie sich verhielten und ob sie die möglichen Konsequenzen ihres Handelns tragen konnten. Einigen schien es auffallend leicht, Stellung zu beziehen. Sie waren der Ansicht, mögliche Gefahren einschätzen zu können und sich auf diese Weise gegen Einschüchterungsversuche zu wehren. Manche provozierten daher ganz bewusst, unterschätzten den staatlichen Repressionsapparat und hatten Glück, wenn sie persönlich nicht von Verfolgung betroffen waren.31 Andere machten sich ihr Wissen über das System zu nutze. Siegfried Rosemann verwies auf Freiräume, die sich ihm dadurch öffneten: „Nicht erst gefragt – darf man – sondern wir machen’s bis jemand sagt, das ist nicht gestattet so – und wenn es nicht gestattet ist, ja warum eigentlich nicht.“32 Doch diese Momente der Selbstermächtigung waren flüchtig. Sie machten Ängste und Unsicherheiten nicht einfach vergessen, die andere weiterhin belasteten. Manfred Kern schilderte, inwiefern sich die Abhängigkeit von politischen Entscheidungsträgern auf sein Verhalten als Pfarrer in Berlin-Weißensee auswirkte: Zunächst mal gab es eine Situation, der niemand entrinnen konnte, das war die örtliche Situation. Die Leute kamen und du hattest entweder nur die Möglichkeit, sie rauszuschmeißen, wobei man sich fragen musste, ist das klug, oder irgendeine Form zu finden mit ihnen zu sprechen und dich dabei nicht aus der Hand zu geben. Dabei sind einige weitergegangen und andere nicht so weit.33

Kern beschrieb, was in vielen Quellen durchscheint: Es war unmöglich, den staatlichen Stellen in der DDR auszuweichen, woraus sich die Notwendigkeit ergab, mit ihnen zu verhandeln und sich zu arrangieren. Nach 1961, so Rolf Dammann, von 1969 bis 1989 Generalsekretär des Bundes der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden in der DDR, war davon auszugehen, dass die DDR bestehen blieb. Es machte deshalb wenig Sinn, sich den Behörden 31 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 31. Siehe auch: Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 5. Und: Beintker: Nachdenkliche Rückblenden, S. 304. 32 Interview mit Siegfried Rosemann 2001. OA, ohne Signatur, S. 14. 33 Interview mit Manfred Kern 2001. OA, ohne Signatur, S. 30.

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komplett zu verweigern.34 Pritzkuleit fasste die offenbar für viele Mitglieder der evangelischen Freikirchen gängige Position zusammen, wonach zwischen Einzelschicksalen und den Gemeinden differenziert wurde und Kommunikationsbereitschaft nicht mit Opportunismus gleichgesetzt werden sollte: Was es für ein Individuum bedeutet, ist noch einmal eine andere Frage, aber für dieses System, da habe ich dann auch sehr schnell zu einer inneren Haltung gefunden. Erstens habe ich nicht die Absicht und hat auch meine Kirche nicht die Absicht, dieses System zu stürzen. Aber wir müssen mit ihm leben. Und deswegen, wenn es eine Wichtigkeit für dieses System hat, dann muß das System es ermöglichen, mit mir zu kommunizieren und nicht umgekehrt. Ich muß mich nicht dauernd darauf einstellen und mir Gedanken darüber machen, ob dieses System es nun gerade versteht, was ich sage.35

So wie sich Pritzkuleit dagegen aussprach, ein Gespräch mit staatlichen Behörden grundsätzlich abzulehnen, wendete er sich gegen ein Prinzip des vorauseilenden Gehorsams. Zu einem ähnlichen Standpunkt gelangte der Berliner Episkopat. Bischof Bengsch bezog sich auf die Geschichte von Daniel in der Löwengrube. Er gebrauchte die Erzählung als Gleichnis, um eine Handlungsempfehlung auszusprechen, erinnerte sich Prälat Steinke: „Der Daniel hat in der Löwengrube den Löwen nicht am Schwanz gezogen.“36 Daraus schloss Steinke: „Klug verhalten heißt für mich nicht, dass ich mich anpasse, […] aber nicht provozieren.“37 Für die katholische Kirche stand nach dem Mauerbau 1961 ohne Zweifel fest, dass sie sich in einer Zeit ständiger Aushandlungsprozesse befand: „Wir sind eingesperrt. Wir kommen nicht raus. Wir müssen jetzt einen Modus Vivendi finden, wie wir hier aufrecht leben können.“38 Die Geschichte der ostdeutschen Kirchen ist von zwei zentralen Schlagworten geprägt: Anpassung und Distanz. Dabei handelt es sich um zwei Begriffe, die nicht trennscharf sind und spätestens dann zum Problem werden, wenn es um Verbindungen zwischen Kirchenmitgliedern und dem MfS geht. Zunächst muss zwischen verschiedenen Kontaktformen unterschieden werden. Zum einen gab es inoffizielle offizielle Kontakte, die vor allem Personen aus der Kirchenleitung mit dem MfS unterhielten.39 Diese waren in der Regel nicht öffentlich bekannt. Wurden entspre34 Vgl. Interview mit Rolf Dammann 23.5.2001. OA, ohne Signatur, S. 4. 35 Interview mit Klaus Pritzkuleit 2005. OA, ohne Signatur, S. 34. Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 4. 36 Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 17. 37 Ebenda, S. 17. 38 Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 4. Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 33. 39 „Und der Sekretär der Bischofskonferenz, das ist Prälat Dissemond gewesen und später der Prälat Michelfeit, war der Sekretär der Bischofskonferenz, der hatte die Kontakte zur Staatssicherheit. […] Bei uns [in der katholischen Kirche] war also ganz klar, wer wem Bericht erstatten musste. Also ich war und der Prälat Lange und der Michelfeit waren immer dem Vorsitzenden

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chende Gerüchte darüber in den Gemeinden ruchbar, konnte das für die beteiligten Personen schwerwiegende Konsequenzen haben. Pfarrer, die ohne das Wissen der Laien, aber im Auftrag des Bischofs mit dem MfS korrespondierten, wurden des Verrats beschuldigt.40 Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass sich Pfarrer, kirchliche Mitarbeiter oder engagierte Laienvertreter dem MfS freiwillig als Informanten andienten. Sie waren nicht von der Kirchenleitung dazu angehalten worden, sondern handelten nach eigenem Ermessen und verfolgten eigene Interessen.41 Schließlich warb das MfS selbst Personen aus dem Umfeld der Kirchen an. Darunter fielen Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen freiwillig auf diese Kooperation einließen, aber auch solche, die vom MfS erpresst wurden und sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befanden.42 Einen speziellen Fall schilderte Christa Unger in den evangelischen Freikirchen: Gemeindemitglieder hätten sich aus eigenem Antrieb als IM gemeldet, „um die Geschwister zu schützen“. 43 Nach ihrer Anwerbung hätten sie sich gegenüber Pfarrern und Gemeindemitgliedern offenbart: „Nimm dich vor mir in acht. Ich bin dein Spitzel.“44 Dieser Dienst habe eine enorme Entlastung für die Gemeinden bedeutet: Das MfS habe sich informiert gewähnt, aber die Informationen seien kanalisiert worden, weshalb für die übrigen Gemeindemitglieder eine Gefahrenminimierung bestanden habe. Inwiefern solche Ablenkungsmanöver tatsächlich wirksam waren oder nur eine nachträgliche Idealisierung erfuhren, ist nicht zu beantworten. Denn es kann nicht nachgewiesen werden, ob das MfS sie durchschaute oder nicht. Neben der Informationsbeschaffung mittels Inoffizieller Mitarbeiter suchten Angehörige des MfS vor allem Pfarrer in turnusmäßigen – meist jährlichen – Abständen auf.45 Die Gespräche changierten zwischen dem Bestreben der Geistlichen, möglichst wenige Informationen und damit mögliche Angriffsflächen preis zu geben, und dem Bemühen, die MfS-Mitarbeiter dahingehend zufrieden zu stellen, dass sie bald wieder verschwanden. Eine Schwierigkeit bestand für die Befragder Bischofskonferenz in der DDR – und das war der Berliner Bischof – Rechenschaft pflichtig, ja?!“ Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 7. 40 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 27. 41 Ebenda. 42 Vgl. ebenda, S. 4. Siehe auch: Holzbrecher, Sebastian: Der Aktionskreis Halle. Postkonziliare Konflikte im Katholizismus der DDR, Würzburg 2014, S. 285–297. Bezüglich der IM, ihrer Motive und Handlungen liegen abgesehen von den Akten des MfS kaum Quellen vor, weshalb eine quellenkritische Analyse nur eingeschränkt möglich ist. 43 Unger, Christa: Siebzehn Jahre in Ostdeutschland, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/ Kassel 1995, S. 235. 44 Ebenda. 45 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 17–18. Siehe auch: Wolfgang Klempert 2003. OA, ohne Signatur, S. 8.

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ten oftmals darin, dass sie nur begrenzt einschätzen konnten, welche Informationen sich belastend auswirken konnten und welche nicht. Ihnen fehlte die Einsicht in die Arbeitsweise des MfS, wie eine Aussage A.Rs. belegt, der aufgrund beruflicher Auslandsreisen häufiger Kontakt mit den Polizeibehörden in der DDR hatte: „Und ich wollte auch nicht, dass ich irgendwas verschweige, weil ich… ich hatte ja nichts zu befürchten, also ich hab’ nichts zu verschweigen gehabt. Und hab gedacht, wenn die das wollen, dann werde ich denen das mal alles schreiben.“46 A. R. war nicht nur davon überzeugt, dass seine Informationen wertlos waren. Hinzu kam, dass er nicht lügen wollte, weil er damit in einen Gewissenskonflikt geraten wäre. Vor diesem Hintergrund hat Friedrich Wilhelm Graf die Kontakte zwischen Kirchenmitgliedern und dem MfS kritisch bewertet: „Trotz der Trennung von Staat und Kirchen hielten sie daran fest, daß die Kirche der Obrigkeit zu dienen, das Gemeinwohl zu fördern, gesellschaftlichen Protest zu kanalisieren und kritische Geister zu beruhigen habe.“47 Graf sah gerade in den Beziehungen zwischen Klerus und MfS nicht nur eine erzwungene oder notwendige Zusammenarbeit sondern letztlich auch eine „Elitenkooperation“.48

Kontrollieren, um zu stören: staatliche Eingriffe in die innerkirchliche Kommunikation Neben dem MfS unterstanden die Ost-Berliner Kirchen der Aufsicht weiterer Kontrollbehörden, die durch ihre Tätigkeit das kirchliche Leben prägten und dabei vor allem die innerkirchliche Kommunikation beeinflussten.49 Neben den streng zensierten Kirchenzeitungen, den kirchlichen Sendungen im Rundfunk und den seit 1978 ausgestrahlten Fernsehsendungen der evangelischen Kirchen im DDRFernsehen suchten die Gemeinden deshalb nach einfachen und schnellen Mitteln, um ihre Mitglieder direkt und unmittelbar zu informieren.50 Dazu zählten in den evangelischen Kirchen kleinere Drucksachen wie Gemeindebriefe oder Abreißkalender sowie Schaukästen.51 Weil Plakatwerbung verboten war, druckten vor allem die evangelischen Kirchen zudem Umlaufzettel oder Handzettel, die in die

46 Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 4. 47 Graf: Die evangelischen Kirchen, S. 237. 48 Ebenda, S. 236. 49 „Insgesamt war das MfS nur eine von mehreren Institutionen des SED-Staates, die im Rahmen der SED-Kirchenpolitik tätig wurden.“ Engelmann: Das MfS-Lexikon, S. 195. 50 Vgl. Henkys: Gottes Volk im Sozialismus, S. 84–85. Siehe auch: Druckschwierigkeiten, in: Der Christ 4.9.1970, S. 5. 51 Vgl. Interview mit Wolfgang Klempert 2003. OA, ohne Signatur, S. 9.

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Briefkästen von Privathaushalten eingeworfen wurden.52 Im Zeitverlauf wurde das strikte Verbot kirchlicher Plakate im öffentlichen Raum etwas gelockert: Kleine Plakate in privat geführten Läden wurden geduldet.53 Aus Furcht vor staatlichen Zensurmaßnahmen fällt im Zusammenhang mit diesen Medien vorsorgliche Selbstzensur auf. Siegfried Rosemann vom Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR erinnerte sich, dass selbst bei einem relativ geschlossenen Format wie den vom Bund herausgegebenen Mitarbeiterrundbriefen Selbstzensur aus Sorge vor staatlichen Eingriffen eine Rolle spielte: Rosemann wollte zum Beispiel einen Antikriegsfilm im Brief bewerben. Rolf Dammann, zu dieser Zeit Generalsekretär des Bundes, riet ihm jedoch davon ab, weil es sich um eine US-amerikanische Produktion handelte. Diese Tatsache wog bei der Entscheidung über die Veröffentlichung der Filmkritik stärker als deren inhaltliche Übereinstimmung mit der Ideologie der SED.54 Somit hielten sich die Freikirchen selbst in einem für den innerkirchlichen Gebrauch bestimmten Medium an die vermeintlichen Sprach- und Zensurregeln der DDR-Propaganda. Sogar bei privaten Mitschriften habe man deshalb versucht, vermittels bestimmter Formulierungen mögliche Konflikte mit staatlichen Behörden vorsorglich zu vermeiden, erklärte Manfred Preuße: „Du hattest immer die Schere im Kopf, nicht, die berühmte. Du hast auch selbst deine Sachen zensiert.“55 Diese Schere kam ebenso beim evangelischen Abreißkalender zum Einsatz. Die Redakteure achteten penibel darauf, dass die täglichen Bibelzitate nicht als staatsfeindliche Provokationen fehlgedeutet werden konnten. An staatlichen Feiertagen legten sie besonders viel Wert darauf, unkritische Bibelstellen auszuwählen, erläuterte Günter Lorenz. Das Misstrauen der DDR-Behörden, wonach „der Leser was ahnen könnte, daß er aufgefordert würde, irgend etwas Konspiratives oder Kontraproduktives zu tun an solchen Gedenktagen“, übertrug sich gewissermaßen auf die Redaktion des Kalenders.56 Vor diesem Hintergrund ist auch die Skepsis ostdeutscher Kirchenzeitungsredakteure zu sehen, die keine Leserbriefe in Kirchenzeitungen veröffentlichen 52 Vgl. Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 68. 53 Vgl. Interview mit Inge Dreibrodt 2002. OA, ohne Signatur, S. 9. 54 Vgl. Interview mit Siegfried Rosemann 2001. OA, ohne Signatur, S 4. Lorenz Günter, der für den Evangelischen Nachrichtendienst arbeitete, erinnerte sich, dass er in kritischen Fragen ebenfalls Rücksprache mit Personen der Kirchenleitung hielt. „Aber ich war auch so, ich war der Einstellung, daß ich auch nicht kontra unbedingt geben wollte, ja, sondern auch nur da, wo es nötig war und da bin ich auch zu Schönherr gegangen oder zu Stolpe und habe mich vorher vergewissert, ob ich Spielraum habe und so etwas, nicht wahr.“ Interview mit Lorenz Günter 1999. OA, ohne Signatur, S. 10–11. 55 Interview mit Manfred Preuße 2000. OA, ohne Signatur, S. 19. 56 Interview mit Lorenz Günter 1999. OA, ohne Signatur, S. 7.

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wollten. Bei der Wort und Werk, dem Monatsblatt für die Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden in Ost-Berlin und der DDR, kam man intern überein, dass bestimmte Themen wie etwa die Wehrpflicht in der Zeitung unerwähnt blieben, obwohl sie in der Leserpost immer wieder problematisiert wurden.57 Ausschlaggebend für diese Entscheidung war die Frage: „Wollen die Gemeinden das überhaupt, das wir uns äußern? Ist es für die hilfreich im Gespräch am Ort mit den örtlichen Funktionären oder so etwas, daß sie auf etwas sich stützen können oder verweisen können.“58 Folglich wurden Kontroversen vermieden, im Glauben, die Verhandlungsbasis der Gemeinden auf diese Weise zu stärken. Bemerkenswert ist, dass dieses Argument der Leserschaft nicht vermittelt wurde. Stattdessen wurde auch hier, quasi in vorauseilendem Gehorsam, erklärt, dass es in der Zeitung generell nicht möglich sei, auf aktuelle Debatten einzugehen, da sie nur einmal monatlich erscheinen würde.59 Wolfgang Klempert versuchte der staatlichen Zensur von Abreißkalendern und Gemeindebriefen sogar etwas Positives abzugewinnen: Das war ein bisschen unangenehm, daß die das alles erst lesen wollten. Aber dann habe ich wieder gedacht, da kriegen sie wenigstens ein Stück Evangelium auch mit, denn da stand ja auch was drin. Und wer von uns Geburtstag hatte oder welche Versammlungen, Veranstaltungen wir hatten, können sie ja alles wissen. Wir haben nichts Geheimes gemacht.60

Mit dieser einerseits entschuldigenden und andererseits legitimierenden Erklärung für das eigene Handeln ging Klempert über das prinzipielle Problem hinweg, dass staatliche Behörden die Ausübung der Religionsfreiheit durch ihren Zugriff auf kircheninterne Publikationen mit den Mitteln der Zensur immer wieder torpedierten. Kirchliche Schaukästen befanden sich in der Regel nahe der Kirche oder des Pfarrhauses, manchmal auch im Eingangsbereich der Kirchen.61 Sie dienten hauptsächlich zur Bekanntgabe von Terminen, wurden aber auch für die inhaltliche Arbeit genutzt.62 Zunächst wurde die Schaukastenarbeit zentral gesteuert, später kümmerten sich die Gemeinden eigenständig um deren Ausgestaltung.63 Die

57 Vgl. ebenda, S. 18. 58 Ebenda, S. 17. 59 Vgl. ebenda, S. 18. 60 Interview mit Wolfgang Klempert 2003. OA, ohne Signatur, S. 8–9. 61 Vgl. Henkys: Gottes Volk im Sozialismus, S. 87. 62 Vgl. Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 68. 63 Vgl. Zusammenkunft der Gemeindekirchenräte von Blankenfelde, Diedersdorf, Großbeeren, Mahlow, Rangsdorf 28.10.1969. ELAB 86/248.

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Kapitel 4: Entflechtung

Schaukästen wurden von staatlichen Stellen genau beobachtet.64 Aufsehen erregte zum Beispiel das Ausstellen des Emblems „Schwerter zu Pflugscharen“. Gemeinden in Ost-Berlin und Brandenburg wollten sich auf diese Weise mit den Teilnehmern der Friedensbewegung solidarisieren, die staatlicherseits aufgefordert worden waren, das Abzeichen an ihrer Kleidung zu entfernen. In regelmäßigen Abständen forderten die Behörden vor Ort die Verantwortlichen in den Kirchen deswegen auf, politische Stellungnahmen im Rahmen der Schaukastenarbeit zu unterlassen.65 Sie erinnerten die Gemeinden daran, dass sie sich allein zu innerkirchlichen Themen äußern sollten und ein darüber hinausgehendes gesellschaftliches Engagement der Kirchen von der DDR-Führung nicht gewünscht war. Nicht immer wurde Kritik am Inhalt kirchlicher Schaukästen in mündlicher oder schriftlicher Form verbalisiert oder offenkundig von staatlichen Akteuren geäußert. Es kam auch zu mutwilliger Zerstörung, wobei die Täter in der Regel nicht ermittelt wurden. In Luckenwalde etwa wurde der Schaukasten einer evangelischen Gemeinde beklebt und beschmiert. Die Scheiben wurden eingeworfen. Hintergrund war, dass die Frau des Pfarrers anlässlich des Weihnachtsfestes 1976 einen kleinen Tannenbaum im Schaukasten platziert und darunter Kriegsspielzeug verteilt hatte. Diese kleine Installation, die unter der Überschrift „Fest des Friedens“ stand, sollte den staatlichen Versuch konterkarieren, das christliche Weihnachten mit sozialistischer Ideologie zu überformen und auf die Militarisierung in der DDR aufmerksam machen. 1982 hing eine Karikatur in demselben Schaukasten. Diese zeigte drei Männer mit Uniformmützen auf einer Weltkugel stehend. Durch Fernrohre auf denen „Feinde“ stand, blickten sie umher. Auf der Weltkugel war zu lesen: „Nichts als Feinde“. Die Karikatur spielte auf die Propaganda der SED-Führung und die stetig wiederholten Warnungen vor dem kapitalistischen Ausland an. Als Reaktion auf diese Darstellung klebten Unbekannte zwei Aufkleber auf den Schaukasten, die den Blick ins Innere erschwerten. Auf einem der beiden Sticker war Lenin, auf dem anderen das Wappen der DDR zu sehen.66 Mit Hilfe staatlicher Symbole und Symbolträger sollte die kaum verhohlene Kritik an der DDR-Führung offenbar verdeckt werden.

64 Vgl. Bericht über die Tätigkeit des Superintendenten Brix in der Zeit vom 1.5.1960 bis voraussichtlich zum 31.8.1975 auf Anfordern des Kreiskirchenrates Berlin Stadt I. ELAB 35/7367. 65 Vgl. Henkys: Gottes Volk im Sozialismus, S. 87. 66 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 30.

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Veränderungen im kirchlichen Leben Die gezielten und dauerhaften Eingriffe des Staates in das kirchliche Leben sowie die fortwährenden Repressionen, unter denen viele Gemeindemitglieder litten, wirkten sich auch auf die Kirchlichkeit aus. Dazu kamen, wie zu zeigen sein wird, interne Probleme. Nach Kriegsende waren die Gottesdienstzahlen in Berlin und Brandenburg kurzzeitig in die Höhe geschnellt. Danach nahmen sie kontinuierlich ab. Weniger und vor allem ältere Gottesdienstbesucherinnen und -besucher kamen noch in die Kirche.67 „Die Erwachsenen,“ äußerte ein Ost-Berliner Gemeindemitglied besorgt, „haben den totalen Rückzug ins Private angetreten.“68 Vor allem die Zahl der Taufen und kirchlichen Trauungen ging dramatisch zurück. Einzig die Zahl der kirchlichen Bestattungen blieb relativ stabil.69 Tab. 7: Entwicklung der Kirchlichkeit im Kirchenkreis Pankow70 1950

1958

1961

Taufen

664

354

312

Kirchliche Trauungen

262

129

129

Kirchliche Beerdigungen

730

702

676

Aus dieser Übersicht geht hervor, dass vor allem die Einbindung jüngerer Menschen in das kirchliche Leben ein Problem darstellte. In den Kirchenleitungen wurde das darauf zurückgeführt, dass bereits deren Elterngeneration kirchenfern lebte: „Die Eltern zeigen an der Christenlehre wenig Interesse und sind hilflos in Fragen des christlichen Glaubens. Aus der Schule bringen die Kinder stark sche-

67 Vgl. Bericht über die Visitation des Superintendenten in dem Kirchspiel Lichterfelde vom Sonntag Quasimodogeniti (25.4.) bis zum Sonntag Misericordias Domini (2.5.) 1965. ELAB 35/ 12100. Siehe auch: Bericht über die Generalkirchenvisitation des Kirchenkreises Ruppin vom 5.14. Nov. 1966. ELAB 86/212. Sowie: Pollack: Kirche in der Organisationsgesellschaft, S. 511. Eine Ausnahme stellte die Marienkirche in Berlin-Mitte dar. Die Gottesdienstzahlen blieben stabil, was aber vorrangig darauf zurückzuführen ist, dass westdeutsche Besucher während eines Aufenthaltes in Ost-Berlin die dortigen Gottesdienste besuchten. Vgl. Visitationsbescheid St. Nikolai 1981. ELAB 35/7452. 68 Gedanken zur derzeitigen Situation von Kirche und Gesellschaft in der DDR. 1983. ELAB 86/ 542. 69 „Anwachsen der Rentnerzahlen, da seit Anfang der 60iger Jahre keine Neubaukomplexe mehr entstanden sind; somit auch Absinken der Kinderzahlen, spürbar bei Taufen und Christenlehreteilnehmern.“ Vgl. Evangelische Gemeinde Berlin-Baumschulenweg 1984. ELAB 35/8624. 70 Vgl. Generalkirchenvisitation des Kirchenkreises Pankow 21.10.-31.10.1962. ELAB 86/65.

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Kapitel 4: Entflechtung

matisierte Vorstellungen mit, die sich auf die Christenlehre auswirken.“71 Aus Traditionsgründen waren die hier beschriebenen Kinder vielleicht getauft worden, einige hatten die Christenlehre oder vergleichbare Formate besucht, aber das genügte nicht, um ihre Beziehung zu den Gemeinden mittelfristig zu verfestigen. Denn darüber hinaus verfügten sie in ihrem Alltag über keinerlei Bezüge zum kirchlichen Leben, wie etwa dem sonntäglichen Kirchgang.72 Hinzu kamen sowohl kulturelle als auch strukturelle Probleme. Einerseits wurde der Pfarrer als unangefochtene Autorität in den Gemeinden zunehmend in Frage gestellt. Bei einer Visitation im Kirchenkreis Berlin-Oberspree, „hat der Superintendent, sich selbst karrikierend [sic], den ‚aufgeklärten Absolutismus‘ als die beste Regierungsform bezeichnet. Im Gegenzug ist der Wunsch nach breiterer Verantwortungsverlagerung in der Leitung verständlich.“73 Andererseits beklagten sich Pfarrer darüber, dass Gemeindemitglieder sich zu wenig engagierten und nicht bereit waren, Ehrenämter zu übernehmen.74 Gerade in Ost-Berliner Gemeinden stand die fehlende Bereitschaft, ehrenamtlich in der Gemeinde tätig zu werden, in einem Zusammenhang mit hohen Fluktuationszahlen. Dafür gab es unterschiedliche Gründe.75 Im evangelischen Kirchenkreis Lichtenberg etwa führten Visitatoren die häufigen personellen Wechsel darauf zurück, dass „Gemeinden häufig auf den Pfarrer oder kirchliche Mitarbeiter orientiert sind, der sie einmal angesprochen und gewonnen hat. […] Deutlich wird es, wenn der betreffende Pfarrer oder Mitarbeiter die Gemeinde verläßt, dann ziehen sich viele von der Gemeinde zurück.“76 Außerdem waren die Ost-Berliner Gemeinden von umfangreichen stadtplanerischen Veränderungen betroffen, im Zuge derer sich ihre Umgebung wie zum Beispiel rund um den Alexanderplatz, in Teilen Lichtenbergs oder im Umfeld der Leipziger Straße rapide und radikal 71 Vermerk katechetischer Dienst im Kirchenkreis Berlin Stadt I / Kirchl. Erziehungsausschuß Prenzlauer Berg/Mitte 16.5.1973. ELAB 86/543. Vgl. Kirchliche Erziehungskammer Berlin-Brandenburg, Betrifft: Katechetischer Dienst im Unterrichtsjahr 1969/1970 14.7.1971. ELAB 86/543. 72 Vgl. Kirchliche Erziehungskammer Berlin-Brandenburg, Betrifft: Übersicht über die katechetische Arbeit in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg 16.5.1967. ELAB 86/543. Sowie: Vgl. Fragebogen Hennigsdorf 1962. ELAB 86/65. 73 Übersicht über den Kirchenkreis Berlin-Oberspree zur Generalkirchenvisitation 1975 vorgelegt vom Kreiskirchenrat. ELAB 86/387. 74 Vgl. Bericht über die Generalkirchenvisitation im Kirchenkreis Lichtenberg, die vom 1. bis zum 17.11.1980 stattfand. ELAB 35/9889. Siehe auch: Ohne Gängelei und Druck. Dr. Friedrich Winter zur Jugendarbeit, in: Potsdamer Kirche 30.11.1986, S. 6. 75 Zu beachten ist, dass einige dieser Probleme historisch gewachsen sind. Der Norden Berlins galt zum Beispiel anders als der Süden traditionell als weniger kirchlich. Vgl. Winter: Auf dem Weg, S. 165. 76 Bericht über die Generalkirchenvisitation im Kirchenkreis Lichtenberg, die vom 1. bis zum 17.11.1980 stattfand. ELAB 35/9889.

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wandelte. Das führte dazu, dass kirchliche Gebäude aufgegeben und neue Räumlichkeiten gefunden werden mussten. Diese Aufgabe stellte Gemeinden vor enorme Herausforderungen und veranlasste Gemeindemitglieder dazu, Kontakt zu einer anderen Gemeinde aufzubauen, wenn sie sich nicht gänzlich von der Kirche entfernten.77 Ein weiteres Problem sahen gerade Pfarrer in innerkirchlichen Strukturreformen. Die – zuweilen willkürlich erscheinende – Umstrukturierung oder Zusammenlegung von Gemeinden, Dekanaten und Kirchenkreisen, erschwerte, so die Pfarrer, den Aufbau persönlicher Kontakte. Die oftmals umfangreichen administrativen Tätigkeiten verhinderten die Seelsorgearbeit. Andere Gemeinden beklagten durch die Neuordnung von jenen Mitgliedern getrennt worden zu sein, die sich ihnen zugehörig fühlten, weshalb ihre Kirchen nun verwaisten.78 In diesem Zusammenhang drängt sich eine Frage auf: Wer war in den Kirchen tatsächlich noch physisch präsent? Hier liegt es nahe, den Fokus auf die Menschen zu richten, die für die Institution arbeiteten und damit als deren wichtigste Ansprechpartner für Interne wie für Externe fungierten. Zunächst soll der Blick auf kirchliche Mitarbeiter gerichtet werden, bevor die Pfarrer und ihre Familien näher betrachtet werden. Spätestens in den 1970er-Jahren zeichnete sich ab, dass sich der Arbeitsplatz Kirche gerade in Ost-Berlin quasi zu einem Sammelplatz für gesellschaftlich ausgegrenzte oder systemkritische Personen entwickelte.79 Für viele dieser Menschen bedeutete eine Beschäftigung unter dem Dach der Kirche zuerst eine staatsferne Tätigkeit und deswegen eine Entlastung, wie S. T. vermittelte: […], ich hab ja relativ schnell angefangen in der Kirche zu arbeiten und einer der Punkte, die auch immer dabei waren, war: Jetzt bin ich den Staat los. […] Ähm, das war wie ein Aufatmen auch, ja? Das war völlig klar: Ich muss nicht mehr an irgendwelchen Demonstrationen teilnehmen – Maidemonstration. Ich muss nicht mehr Kampfgruppe teilnehmen. Äh, ich muss in Kollektiven nicht mehr politische Diskussion mitmachen geschweige denn gestalten oder so. Äh, das bin ich alles los. Und das war toll.80

So vorbehaltlos wie S. T. sahen die Mitglieder der Kirchenleitungen die Neubeschäftigten in der Regel jedoch nicht. Kritisch bemerkten sie, dass viele der neuen 77 Vgl. Bericht über die Generalkirchenvisitation vom 9. bis 23.4.1978 im Kirchenkreis Friedrichshain. ELAB 35/9206. 78 Vgl. Bericht über die Kreiskirchen-Visitation in der Kirchengemeinde Ahrensfelde mit Mehrow und Trappenfelde in der Zeit vom 28.4. bis 6.5.1963. ELAB 35/8927. Vgl. Katholisches Pfarramt St. Augustinus an bischöfliches Ordinariat 20.6.1984. Pfarreiarchiv St. Augustinus, Akte: 1983– 1989 St. Augustinus, ohne Signatur. 79 Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 4. Siehe auch: Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 51–52. 80 Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 15.

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Mitarbeiter dezidiert nicht gläubig waren und keinerlei Bindung zum Christentum hatten, sondern in den Kirchen nach Auswegen suchten, um nicht in einer staatlichen Institution arbeiten zu müssen.81 1967 mahnte das Evangelische Jungmännerwerk gegenüber der Berlin-Brandenburgischen Kirchenleitung deshalb sogar an, dass „die Kirche nicht dazu da ist, gestrandete Existenzen in ihre Mitarbeiterschaft aufzunehmen. Hier darf keine falsche Barmherzigkeit geübt werden!“82 Dass sich die veränderte Personalstruktur allgemein auf die Arbeitsmoral auswirke, wurde außerdem moniert: „Ein protestantisches Arbeitsethos […] wird durch ein gebrochenes Verhältnis zur Arbeit ersetzt.“83 Schließlich wurde beanstandet, dass wegen der vergleichsweise großen Zahl Ausreisewilliger unter den Mitarbeitern Stellen verhältnismäßig oft neu besetzt werden mussten. Diese häufigen Personalwechsel wirkten sich wiederum gerade im diakonischen oder karitativen Bereich negativ auf die Arbeit aus, weil die dort besonders wichtigen Vertrauensverhältnisse laufend neu aufgebaut werden mussten. Mit dieser Entwicklung ging einher, dass immer mehr Personen für ihr Stellenprofil nicht ausreichend qualifiziert waren. Viele der angestellten Küster verfügten zum Beispiel nicht über eine Küsterausbildung. Weil sie mit kirchlichen Praktiken nicht vertraut waren, mussten sie länger eingearbeitet werden. Ihnen unterliefen häufiger Fehler.84 Gleichzeitig gelang es den Gemeinden oft nicht, genügend Mitarbeiter für ihre Kirchhöfe anzuwerben. Die vom Jungmännerwerk geforderte Nichteinstellung „gestrandeter Existenzen“ war in der Praxis wegen akuten Personalmangels kaum umzusetzen.85 Die Aussicht auf eine kirchliche Anstellung war für potenzielle Wunschkandidaten nicht zwangsläufig eine ausreichende Motivation: Ausstattung beziehungsweise Arbeitsgerät waren oftmals veraltet.86 Die Löhne waren meist niedriger als in kommunalen Einrichtungen. Bei einer Visitation der Sozialdiakonischen Jugendarbeit in Berlin-Lichtenberg 1980 „zeigten Jugendliche immer wie-

81 Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 19. 82 1. Anhörung bei der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg 22.4.1967. Beitrag des Evangelischen Jungmännerwerks. ELAB 35/720. 83 Gedanken zur derzeitigen Situation von Kirche und Gesellschaft in der DDR 1983. ELAB 86/ 542. 84 Vgl. Bericht der Generalkirchenvisitation, die im Kirchenkreis Berlin Stadt III hauptsächlich in der Zeit vom 15. bis 29.5. 1977 stattgefunden hat. ELAB 35/10070. 85 1. Anhörung bei der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg 22.4.1967. Beitrag des Evangelischen Jungmännerwerks. ELAB 35/720. 86 Vgl. Bericht der Generalkirchenvisitation, die im Kirchenkreis Berlin Stadt III hauptsächlich in der Zeit vom 15. bis 29. 5. 1977 stattgefunden hat. ELAB 35/10070. Siehe auch: Generalkirchenvisitation des Kirchenkreises Lichtenberg, 11.11.-20.11.1967. ELAB 86/213.

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der ihr Unverständnis, wie ein vernünftiger Mensch [gemeint war der zuständige Mitarbeiter] für einen ‚Hungerlohn‘ so eine Arbeit tun kann.“87 Auch Ausbildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten konnten nur sehr begrenzt realisiert werden. Dabei fehlte es nicht nur an finanziellen Mitteln sondern ebenso an qualifiziertem Personal, das entsprechende Veranstaltungen hätte durchführen können. In der Folge fand oft nicht mal ein Austausch mit Angehörigen der eigenen Berufsgruppe über die Gemeindegrenzen hinaus statt.88 Die kirchlichen Kindergärtnerinnen und Katechetinnen litten darunter besonders. Nach einer Visitation im Kirchenkreis Berlin Stadt III kam der Berichterstatter 1977 zu dem Schluss: Die Arbeit des Katecheten ist in unserer Zeit, besonders in einem großstädtischen Gebiet, sehr schwierig. Geringe Zahlen machen müde, Mißerfolge entmutigen. […] Von Seiten der Katecheten wurde über mangelnde Zusammenarbeit mit den Pfarrern und geringes Interesse der Pfarrer für die Arbeit der Katecheten geklagt.89

Die fehlende Anerkennung ihrer Arbeit durch Kirchen und Gesellschaft desillusionierte viele Mitarbeiter zusätzlich.90 Zudem gab es kaum Aufstiegschancen, was die Arbeit in diesem Bereich noch unattraktiver machte: Ein Wechsel in eine städtische Einrichtung war für kirchliche Kindergärtnerinnen in der Regel ausgeschlossen. Ihre kirchliche Ausbildung als Kinderdiakoninnen wurde staatlich nicht anerkannt.91 Die Kreissynode Weißensee stellte 1971 dazu fest: „Der kirchliche Mitarbeiter leidet daran, daß er im Beruf kaum sichtbare Erfolge zu verzeichnen hat. Rückschläge können unter Umständen zu Komplexen und zur Resignation führen. Zuweilen kommt es zu einer Flucht in die Krankheit.“92 Ausgehend von dieser Beobachtung forderte die Synode, Mentoren zu bestimmen, die den kirchlichen Mitarbeitern an die Seite gestellt werden sollten. Das Problem war, dass es sich bei diesen Mentoren vorwiegend um Pfarrerinnen und Pfarrer – die Synode nannte 87 Bericht über die Generalkirchenvisitation im Kirchenkreis Lichtenberg, die vom 1. bis zum 17.11.1980 stattfand. ELAB 35/9889. 88 Vgl. Übersicht über den Kirchenkreis Berlin-Oberspree zur Generalkirchenvisitation 1975 vorgelegt vom Kreiskirchenrat. 86/387. 89 Bericht der Generalkirchenvisitation, die im Kirchenkreis Berlin Stadt III hauptsächlich in der Zeit vom 15. bis 29.5. 1977 stattgefunden hat. ELAB 35/10070. 90 „Im Hintergrund der Frage steht, daß der meistens unverheiratete Katechet mit seinen dienstlichen und menschlichen Problemen allein gelassen ist. Diese Situation wird von Pfarrern und Ältesten selten recht erkannt.“ Die Einordnung der Christenlehre in Aufbau und Leben der Gemeinde. (Thema der Jahresberichte 1970/71 über den katechetischen Dienst in der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg). ELAB 86/543. Vgl. Gespräch mit den Leiterinnen der Kindergärten und Horte [Kirchenkreis Oberspree und Köpenick] am 23.10.1975. ELAB 86/387. 91 Vgl. Generalkirchenvisitation des Kirchenkreises Lichtenberg, 11.11.-20.11.1967. ELAB 86/213. 92 Unsere Seelsorge – heute. Thesen zu einem Referat auf [sic!] Kreissynode Weißensee am 15.5.1971 im Rahmen einer Generalkirchenvisitation. ELAB 86/214.

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sie „Beichtväter“ – handeln sollte, die selbst über Überlastung klagten.93 Sie mit einer zusätzlichen Aufgabe zu betrauen, ohne sie anderweitig zu entlasten, erschien also wenig erfolgsversprechend. 94

„Der Pfarrer muß alles können, darum kann er auch alles am besten!“ Berufsbild des Pfarrers im Wandel

– das

Das Berufsbild des ostdeutschen Pfarrers wandelte sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen veränderte sich seine Außenwirkung und damit seine Stellung in der Gesellschaft.95 Es entstand ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen Pfarrern, Kirchenmitgliedern und Dritten. Zum anderen veränderte sich aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen und neuer theologischer Strömungen das Bild des Pfarrers selbst, was vor allem kirchenintern zu Auseinandersetzungen führte – meist zwischen den Generationen. In der Regel liefen diese darauf hinaus, dass ältere Pfarrer Kritik daran übten, dass jüngere Kollegen sich zu wenig an ihren Vorgängern orientierten und traditionelle Praktiken in Frage stellten.96 Die besondere Situation, in der sie sich befanden, schien diesen Konflikt noch zu verstärken: Anders als in West-Berlin und der Bundesrepublik galten Pfarrer in Ost-Berlin und der DDR als gesellschaftlich isoliert. Eine Tatsache, die, wie auch Gemeindemitglieder bemerkten, den Geistlichen einerseits bestimmte Freiheiten in der Amtsführung ermöglichte, sofern ihre Kirchenleitungen das zuließen.97 An93 Vgl. Fragebogen Berlin Rosenthal 1962. ELAB 86/65. Siehe auch: Unsere Seelsorge – heute. Thesen zu einem Referat auf [sic!] Kreissynode Weißensee am 15.5.1971 im Rahmen einer Generalkirchenvisitation. ELAB 86/214. 94 Theologischer Nachwuchs. Erste Anhörung bei der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg. Beitrag des Evangelischen Jungmännerwerkes 22.4.1967. ELAB 35/720. 95 „Vom ‚Zeugen‘ über den ‚Berater‘ zum ‚Krisenagenten‘ – mit diesen Begriffen lässt sich die Entwicklung des Pfarrerbildes zum Kriegsende bis in die 1970er Jahre charakterisieren, wie es sich in den Selbstbeschreibungen, aber auch in den Erwartungen an diesen Berufsstand zeigt.“ Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 245. 96 „Die Verkündigung leidet darunter, daß die sogenannte moderne Theologie in unverdienter Form zutage tritt. Die jungen Theologen müßten mehr und besser geführt werden als bisher.“ Fragebogen Pfarrsprengel Teltow 1969. ELAB 86/248. Siehe auch: Bericht der Generalkirchenvisitation, die im Kirchenkreis Berlin Stadt III hauptsächlich in der Zeit vom 15. bis 29.5.1977 stattgefunden hat. ELAB 35/10070. Sowie: „Ich kämpfe um meinen Pfarrer“. Gemeindemitglieder protestieren gegen eine Versetzung, in: Potsdamer Kirche 30.7.1989, S. 8. 97 „Die Stellung des Pfarrers im heutigen Leben, durch die Selbstständigkeit und die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit dem Staat gegenüber, macht den Beruf interessant.“ Stadtjugendkonvent der Jungen Gemeinde Berlin. Antworten auf die 5 Fragen zum Berufsbild des Pfarrers in der jüngeren Generation 10.12.1966. ELAB 35/720. Vgl. Fragebogen Pfarrsprengel Teltow 1969. ELAB 86/248. Zur katholischen Kirche vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 16. Siehe

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dererseits brachte ihnen diese Wahrnehmung auch immer wieder den Vorwurf ein, weltfremd zu sein und den Bezug zu ihrer Umwelt verloren zu haben.98 Der Stadtjugendkonvent der Jungen Gemeinde in Ost-Berlin führte 1966 eine Umfrage zum Berufsbild des Pfarrers durch. Die Antworten fielen aus Sicht der evangelischen Kirchenleitung besorgniserregend aus. Die jüngere Generation störte sich vor allem an den überkommenen Autoritäts- und Hierarchievorstellungen vieler älterer Pfarrer, die den Anforderungen ihrer Zeit nicht mehr gewachsen waren.99 Auch wirkten sich Differenzen unter den Pfarrern, die häufig in Streit ausarteten, negativ auf die Arbeit in der Gemeinde aus. Inhaltlich übten die Jugendlichen Kritik am moralisierenden Auftreten der Theologen. Auf der Basis dieser Antworten entwickelte der Konvent ein aus seiner Sicht zeitgemäßes Pfarrerbild. Demnach sollten sich Pfarrer verstärkt mit den Problemen der Menschen im Alltag auseinandersetzen. Veränderungsbedarf sah die jüngere Generation etwa bei der Gestaltung der Gottesdienste. Der Konvent forderte dazu auf, sonntägliche Routinen zu durchbrechen und dem Gottesdienst auf diese Weise zu neuer Bedeutung zu verhelfen. Die Pfarrer sollten sich sprachlich an ihren Zuhörern orientieren und deren Themen verhandeln. Darüber hinaus sollten Laien in die Gemeindearbeit einbezogen werden und Mitverantwortung übernehmen. Die Jugendlichen schlugen des Weiteren eine „lebensnahe“ Ausbildung der evangelischen Pfarrer vor und hielten im Zuge dessen ein verpflichtendes Praktikum in einem Volkseigenen Betrieb oder einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft für sinnvoll.100 Schließlich, ergänzte die Kreissynode Weißensee auch: Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 20. Sowie: Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 30–31. 98 Vgl. Gedanken zu dem Bericht über die Zusammenkünfte der Kirchenältesten des Kirchenkreises Teltow 1969. ELAB 86/248. 99 Bei einer Anhörung der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg 1967 stellte das Evangelische Jungmännerwerk dem Pfarrstand ebenfalls ein schlechtes Zeugnis aus: „Das Amtsverständnis (Selbstverständnis) des Pfarrers. (Herausgehobene Schlüsselstellung, die in sehr verschiedenen Symptomen erkennbar wird: Talarträger – Kirchliche Hierarchie – Der Wert, der auf die Anrede mit der Amtsbezeichnung gelegt wird (wird als antiquiert betrachtet) – Jeder Pfarrer will eigengeprägte Persönlichkeit sein; darum kommt es so häufig zu den höchst unerquicklichen Spannungen zwischen Pfarrern an einer Gemeinde. – In den äußeren Lebensumständen rangiert zuerst der Pfarrer, danach alle übrigen Gemeindeangestellten; z. B. Wohnung, Garten, Auto, Altersversorgung. – Hier liegt auch ein neuralgischer Punkt dafür, daß mancher junge Mann sich nicht entschließen kann, Diakon zu werden, weil er das Mißverständnis zwischen Gemeindepfarrer und Gemeindediakon in der Heimatgemeinde erlebt hat. – Der Pfarrer muß alles können, darum kann er auch alles am besten! (‚Wenn man sich nicht alles selbst macht!‘)“ Theologischer Nachwuchs. Erste Anhörung bei der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg. Beitrag des Evangelischen Jungmännerwerkes 22.4.1967. ELAB 35/720. 100 Vgl. Stadtjugendkonvent der Jungen Gemeinde Berlin. Antworten auf die 5 Fragen zum Berufsbild des Pfarrers in der jüngeren Generation 10.12.1966. ELAB 35/720. Siehe auch: Die zwei

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1971, sei eine verstärkte Teamarbeit in den Gemeinden unumgänglich, um den Herausforderungen der Zeit gerecht werden zu können.101 Weniger kritisch als in den evangelischen Kirchen reflektierten die Ost-Berliner Katholiken das gängige Priesterbild: Der Primat des Papstes gab ein strenges Hierarchieverständnis vor, das auf Gemeindeebene seine Fortsetzung fand: „Alle Pfarrer, die wir [sic!] DDR-Zeiten und vor sowieso hatten, waren ganz klar der Pfarr-Herr. Also der Chef, der sich nicht […] die Butter vom Brot nehmen lässt. Der sagt, wo’s langgeht. Bums. Basta.“102 Diesem Autoritätsprinzip konnten viele Gemeindemitglieder überwiegend Positives abgewinnen, wie der Ost-Berliner Katholik S. T. zum Ausdruck brachte. Er nahm die Bischöfe als „Wegbereiter“ und „Wegmarken“ wahr.103 An ihnen habe er sich orientieren können. Im Umkehrschluss bedeutete das zwar, dass ihre Richtungsvorgaben nicht in Frage gestellt werden durften, aber dazu habe es auch keinen Anlass gegeben. Die Sicherheit, die diese Ordnungsvorstellung versprach, beruhigte viele Laien offenbar. Und dieser Rückhalt bestärkte die Priester. Im Vergleich ist „es den Priestern in der DDR [ohnehin] überhaupt nicht schlecht ergangen, nicht?“, erklärte Weihbischof Weider.104 Das lag nicht zuletzt an einem günstigen Personalschlüssel. Prozentual waren Priester in Ost-Berlin und der DDR für weniger Gläubige zuständig als in West-Berlin oder der Bundesrepublik.105 Die freiwillige oder erzwungene Neupositionierung des Pfarrers in einer sich wandelnden Gesellschaft ging mit Veränderungen seines Aufgabenprofils einher: Die Bedeutung der seelsorgerlichen Arbeit nahm zu. Dabei waren oftmals keine genuin kirchlichen oder religiösen Probleme Gegenstand der Gespräche. Die in Ost-Berlin und der DDR relativ hohe Zahl von Ehescheidungen war ein Thema, das immer häufiger an die Pfarrer herangetragen wurde.106 Außerdem galten Pfarrer als wichtige, weil neutrale Zeugen bei Auseinandersetzungen mit staatlichen Behörden. Sie waren Ansprechpartner für Gemeindemitglieder, die in Konflikt mit dem Staat geraten waren, und wurden als Vermittler zwischen den Parteien eingesetzt.107

großen Sündenfälle der evangelischen Kirchen in der DDR. Dietrich Mendt sprach in Berlin, in: Potsdamer Kirche 24.5.1987, S. 4–5. 101 Vgl. Unsere Seelsorge – heute. Thesen zu einem Referat auf [sic] Kreissynode Weißensee am 15.5.1971 im Rahmen einer Generalkirchenvisitation. ELAB 86/214. Vgl. Das Problem der vakanten Superintendenturen, in: Die Kirche 30.3.1986, S. 4. 102 Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 27. 103 Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 19. 104 Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 12. 105 Vgl. ebenda, S. 13. 106 Vgl. Pfarrer Huhn: Ev. Kirchengemeinde Marzahn-Nord. 12.10.1983. ELAB35/9889. 107 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 20.

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Weil es Kirchenmitglieder zudem vermieden, kirchliche Räume aufzusuchen, kam der Pfarrer immer häufiger zu ihnen nach Hause. Hausbesuche erfuhren in Ost-Berlin und der DDR eine Aufwertung.108 Die Hürde war offenbar niedriger: Wer den Pfarrer zu Hause empfing, konnte nicht auf dem Weg in die Kirche oder im Gottesdienst beobachtet werden. Das entsprach dem Sicherheitsbedürfnis vieler Kirchenmitglieder, die sich wegen eines Kirchganges nicht in Gefahr bringen wollten. Gerade in den großen Neubaugebieten gingen viele Pfarrer deswegen dazu über, Zugezogene bald nach ihrem Umzug zu besuchen, um sie in der Gemeinde willkommen zu heißen, anstatt darauf zu warten, dass sie den Kontakt suchten:109 „Der Beruf des Pfarrers entwickelte sich zu einem modernen Dienstleistungsberuf.“110 Die Tätigkeitsfelder der Pfarrer setzten also einen besonders hohen Grad an Flexibilität und Mobilität voraus. Angesichts der daraus resultierenden Aufgaben und Herausforderungen, überrascht es nicht, dass viele Theologen beklagten, überarbeitet zu sein und an psychischen Erkrankungen zu leiden.111 „Es ist nicht zu übersehen: Die Empfindungen von Angst und Resignation haben unter den Nichtpfarrern einen weniger geeigneten Nährboden als unter den Pfarrern“, beobachtete Max Geiger 1975.112 Teilnehmer einer Visitation in Berlin-Lichtenberg stellten nach dem Besuch des Pfarrkonvents 1980 fest: „Wie auch anderswo, leiden die meisten Pfarrer offensichtlich an einer gewissen Orientierungslosigkeit. Es ist nötig, gründlich und praktisch gewisse zentrale Punkte ihres Dienstes zu reflektieren.“113 Derlei Beobachtungen beschäftigten auch den Konvent der Jungen Gemeinde in seiner Umfrage zum Berufsbild des Pfarrers. Die Jugendlichen sammelten Gründe dafür, warum junge Christen den Pfarrberuf nicht ergreifen wollten. Neben der „Schwierigkeit, den Menschen seelsorgerlich beizustehen“, nannten sie „die Angst vor der sozial ungesicherten Zukunft“, die verhältnismäßig schlechte Bezahlung der Pfarrer, fehlende Aufstiegschancen und unregelmäßige Arbeitszeiten. Außerdem mangele es an Zurüstung und Motivation. Es gebe keine Supervision oder an-

108 Vgl. Le Grand, Sylvie: Kirchenalltag in Ost und West: die Gemeinden, in: Lepp, Claudia/Nowak, Kurt (Hrsg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945–1989/90), Göttingen 2001, S. 233. 109 Vgl. Pfarrer Huhn: Ev. Kirchengemeinde Marzahn-Nord. 12.10.1983. ELAB35/9889. 110 Kleßmann: Einleitung, S. 20. 111 Vgl. Bericht über eine Kreiskirchen-Visitation in der Kirchengemeinde Ahrensfelde mit Mehrow und Trappenfelde in der Zeit vom 28.4. bis 6.5. 1963. ELAB 35/8927. 112 Geiger: Christsein, S. 23. 113 Bericht über die Generalkirchenvisitation im Kirchenkreis Lichtenberg, die vom 1. bis zum 17.11.1980 stattfand. ELAB 35/9889.

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dere etablierte Beratungsformate für Pfarrer.114 Nicht allein der staatliche Druck, der auf Pfarrer ausgeübt werde, sei dafür verantwortlich zu machen, dass sich potenzielle Interessenten gegen diesen Beruf entschieden, schlussfolgerte der Konvent: „Der Bürokratismus innerhalb der Kirche“ trage ebenfalls dazu bei.115 Die Unattraktivität des Pfarrberufs schlug sich schließlich darin nieder, dass es immer schwieriger wurde, Geistliche für leitende Funktionen in Ost-Berlin zu gewinnen. In den 1980er-Jahren schilderte die evangelische Zeitung Die Kirche […] das Problem der vakanten Superintendenturen. Nicht erst seit dem letzten Generalkonvent des Sprengels Berlin geht bei den kirchlichen Mitarbeitern der „böse“ Witz um, daß nur noch ein „Dummer Hund“ Superintendent werden will.116

Nicht zuletzt wegen solcher Missstände trafen Überlegungen wie die des Konvents auf einen fruchtbaren Nährboden: Seit den 1960er-Jahren traten gerade in der evangelischen Kirche Pfarrer auf, die deutlich progressiver als ihre Amtsvorgänger agierten: Diese Pfarrer fanden häufig auf dem zweiten Bildungsweg in ihr Amt.117 Sie entsprachen nicht den bürgerlichen Idealen des protestantischen Pfarrhauses und verkörperten keine intellektuellen Stereotype. Im Gegenteil: Im Sinne der sozialistischen DDR-Regierung könnte beinahe von einer Proletarisierung des Pfarrstandes gesprochen werden. Diesen Eindruck vermittelte auch Paul Plume, der den Ahrensfelder Pfarrer Peter Engel beschrieb: Ein Klempnergeselle, den der Gott, der liebe Gott, vom Dach geholt hatte. […] und der hatte seinen Habitus als Dachklempner nicht abgelegt. Das heißt, er war auffällig in vielerlei Hinsicht. Seine Sprache war die des Volkes. Schau den Leuten auf’s Volk [sic] und er, er nahm einfach keine theologischen Wörter wirklich in den Mund.118

Plume deutete an, dass dieser neue Führungsstil von anderen Pfarrkollegen durchaus kritisch gesehen wurde. Sie sahen ihre Autorität in Frage gestellt und fürchteten die Destabilisierung scheinbar gefestigter, bürgerlicher Strukturen, die einen Bedeutungsverlust der Kirchen nach sich ziehen konnte: „Zwar sei das Kirchenrecht nach dem Kriege dem biblischen Modell des ‚Leibes Christi‘ angepaßt worden, im Bewußtsein der Gemeinden und vieler leitender Gremien und Kirchenfüh114 Vgl. Das Problem der vakanten Superintendenturen, in: Die Kirche 30.3.1986, S. 4. 115 „Pfarrer = Beamte“ Theologischer Nachwuchs. Erste Anhörung bei der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg. Beitrag des Evangelischen Jungmännerwerkes 22.4.1967. ELAB 35/720. 116 Das Problem der vakanten Superintendenturen, in: Die Kirche 30.3.1986, S. 4. 117 Der in Luckenwalde und in der Ost-Berliner Offenbarungsgemeinde tätige Pfarrer Gerhard von Essen war gelernter Zimmermann: „[…] also nen Mann, […] von der Tat […] und der war… der Mann ist och akzeptiert wurden von der Gemeinde und ist auf die Leute zugegangen.“ Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 27. 118 Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 10–11.

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rer aber herrsche das alte Bild von ‚Hirt und Herde‘ vor“, stellte Dietrich Mendt, Oberlandeskirchenrat aus Sachsen, während eines Vortrags in Berlin 1987 fest.119 Die neuen Pfarrer stellten dieses Ordnungsprinzip in Frage. In den Pfarrhäusern geriet also einiges in Bewegung. Der Pfarrberuf änderte sich auch deshalb, weil sich die Rolle der Pfarrfrauen wandelte: „Die Frau des Pfarrers ist nicht mehr Pfarrfrau, sondern Ärztin, Lehrerin, Rechtsanwältin. Das Pfarrhaus verliert seine gläsernen Wände, rückt aus dem Zentrum der Gemeinde und wird eine normale Wohnung,“120 konstatiert Kleßmann. Er beschreibt, wie Pfarrfrauen, die über Jahrhunderte die inhaltliche und organisatorische Arbeit des Pfarrers mitgetragen, das Pfarrhaus als zentrale Anlaufstelle der Gemeinde verwaltet und die Pfarrfamilie versorgt hatten, aus dem Schatten ihrer Ehemänner hervortraten und Selbstverwirklichungsansprüche geltend machten.121 Doch der Weg dorthin war steinig. Denn nicht alle Pfarrer und Gemeinden unterstützen die Ambitionen der Pfarrfrauen. Viele reagierten ambivalent auf diesen Trend. Einige Gemeindevertreter zeigten sich zwar durchaus einsichtig und forderten eine Anerkennung ihrer Leistungen: „Zum Pfarrkonvent gehören auch die Pfarrfrauen in gewisser Weise. Sie haben durchweg gemeindliche Kontakte und sind oft als voll eingeplante Mitarbeiter tätig, die eigentlich eine Vergütung erhalten müssten.“122 Im Kirchenkreis Zossen wurde in den 1970er-Jahren sogar diskutiert, ob das Dasein als Pfarrfrau nicht als Beruf anerkannt und dementsprechend entlohnt werden sollte.123 Aber das hieß nicht, dass den Pfarrfrauen ein Beruf zugebilligt wurde, der über eine Zuarbeit für den Ehemann hinausging.124 Die meisten Gemeindemitglieder waren sich darin einig, dass die Pfarrfrau aktiv am Gemeindeleben teilnehmen sollte. Ob dieser Wunsch den Interessen der Pfarrfrauen

119 Die zwei großen Sündenfälle der evangelischen Kirchen in der DDR. Dietrich Mendt sprach in Berlin, in: Potsdamer Kirche 24.5.1987, S. 5. „Viele DDR-Theologen, die gerade die traditionalen Strukturen ihrer Gesellschaft positiv würdigten, hielten deshalb an überkommenen politisch-ethischen Organisationsmustern des kirchlichen Protestantismus relativ ungebrochen fest. Die spezifischen Bedingungen der politischen Diskurse prägten in hohem Maße auch den ‚Denkstil‘ […] der Theologen.“ Graf: Die evangelischen Kirchen, S. 235. 120 Kleßmann: Einleitung, S. 20. Vgl. Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 57. 121 Vgl. Bericht über eine Kreiskirchen-Visitation in der Kirchengemeinde Ahrensfelde mit Mehrow und Trappenfelde in der Zeit vom 28.4.-6.5.1963. ELAB 35/8927. 122 Bericht über die Tätigkeit des Superintendenten Brix in der Zeit vom 1.5.1960 bis voraussichtlich zum 31.8.1975 auf Anfordern des Kreiskirchenrates Berlin Stadt I. ELAB 35/7367. Vgl. Bericht über die Generalkirchenvisitation des Kirchenkreises Ruppin vom 5.-14.11.1966. ELAB 86/212. 123 Vgl. Kirchenkreis Zossen 1976. ELAB 35/23041. 124 „Zu den ‚Mitarbeitern‘ unserer Kirche gehörten ganz gewiss auch die Frauen der Pastoren. Sie wurden ganz selbstverständlich in die Aufgaben ihrer Männer mit hineingenommen.“ Rathke: „Wohin sollen wir gehen?“, S. 108.

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entsprach, reflektierten hingegen die Wenigsten.125 Es wurde vorausgesetzt, dass sie die Berufswahl ihrer Ehemänner nicht nur befürworteten, sondern diese bei der Ausübung persönlich und umfänglich unterstützten, egal ob sie darüber hinaus beruflich tätig waren oder nicht. Für Pfarrer wie Hans-Otto Furian stand fest, dass „das ‚Privatleben‘ eines Pastors und seiner Familie, einschließlich seiner persönlichen Freiheit, dem Verkündigungsauftrag, dem Weitersagen der Botschaft Jesu bzw. dem Willen Gottes ein- und unterzuordnen ist.“126 Als ein weiteres Argument gegen die Berufstätigkeit von Pfarrfrauen wurde angeführt, dass diese einen möglichen Ortswechsel der Pfarrfamilie erschwere. Pfarrer, die Rücksicht auf die berufliche Laufbahn ihrer Ehefrauen nahmen, würden tendenziell eher vor einer Versetzung zurückschrecken und seien deshalb für den kirchlichen Dienst weniger geeignet.127 Damit einher ging die Angst vieler Gemeindemitglieder vor einem unumkehrbaren Traditionsbruch. Die Berufstätigkeit der Pfarrfrauen führe zum Auseinanderfallen der Pfarrfamilien und darin sahen (meist männliche) Skeptiker eine massive Gefahr für den Zusammenhalt in den Gemeinden. Denn diese orientierten sich gerade in Ostdeutschland an einem traditionellen Familienbild. Eine berufliche Tätigkeit der Pfarrfrauen bewerteten die Kritiker deswegen nicht als Reform, sondern als eine Annäherung an den Sozialismus. Schließlich rühmte sich die DDR-Regierung immer wieder damit, die Emanzipation der Frauen zu stärken und für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie einzutreten.128 Tab. 8: Zahl der berufstätigen Pfarrfrauen in einzelnen Kirchenkreisen der EKiBB129 Ort

Pfarrfrauen Insgesamt berufstätig Davon Davon insgesamt (davon im kirchlichen teilbeschäftigt vollbeschäftigt Bereich)

Kirchenkreis Falkensee

13

10 (7)

Kirchenkreis Lichtenberg

26

16 (N. N.)

Kirchenkreis Luckenwalde

11

4 (4)

Kirchenkreis Potsdam

24

16 (11)

7

3

11

5

4

0

13

3

125 Vgl. Stadtjugendkonvent der Jungen Gemeinde Berlin. Antworten auf die 5 Fragen zum Berufsbild des Pfarrers in der jüngeren Generation 10.12.1966. ELAB 35/720. 126 Furian: Erinnerungen an den 13. August 1961, S. 182. 127 Vgl. Forschungsbericht des Kirchenbundes, in: Die Kirche 13.2.1972, S. 1. 128 Vgl. Kaminsky, Anna: Frauen in der DDR, 2. Auflage, Berlin 2017. 129 Vgl. Superintendentur Luckenwalde an Konsistorium 28.1.1976. ELAB 35/720. Sowie: Superintendent des Kirchenkreises Potsdam an Evangelisches Konsistorium Berlin-Brandenburg 29.1.1976. ELAB 35/720. Und: Superintendentur Lichtenberg an Evangelisches Konsistorium Berlin-Brandenburg 6.2.1976. ELAB 35/720. Siehe auch: Superintendent des Kirchenkreises Falkensee an das Konsistorium Berlin-Brandenburg 29.1.1976. ELAB 35/720.

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Die Ansicht der evangelischen Kirchenleitung, wie selbstverständlich über die Arbeitskraft der Pfarrfrauen verfügen zu können, ohne vertragliche Vereinbarungen und Sicherheiten zu garantieren, stieß auf Widerstand. Vor allem junge Pfarrfrauen protestierten gegen diese Praxis. Von einer Kirchenleitung, die ihre freiwillige und unentgeltliche Mitarbeit voraussetzte, erwarteten sie eine entsprechende Würdigung. Neben Partizipationsrechten zählte eine gesicherte Alters- und Witwenversorgung dazu. 1976 stellte die Pfarrfrau Rosemarie Reder gegenüber der EKiBB unmissverständlich klar: „Die Kirche kann heute weniger denn je auf den Rat und die Bereitschaft zur Mitverantwortung erfahrener Pfarrfrauen verzichten.“130 Sie sah die Pfarrfrauen auch dahingehend diskriminiert, dass es ihnen laut Grundordnung noch immer verboten war, Ältestenämter in Berlin und Brandenburg zu übernehmen. Pfarrfrauen, so Reder, dürften ihren Ehemännern zwar als Katechetinnen und Organistinnen aushelfen, aber es sei ihnen nicht gestattet, offizielle Ämter in der Gemeinde zu bekleiden.131 Folgerichtig sah Reder die Kirchenleitung in der Verantwortung. Diese sollte strukturelle Veränderungen durchsetzen und in den Gemeinden kommunizieren. Die Personalnot beziehungsweise der in Teilen nur unzureichend qualifizierte Personalstand der EKiBB sowie die rückläufige Bereitschaft engagierter Laien kirchliche Ehrenämter zu übernehmen, erlaube ohnehin keine andere Vorgehensweise, schloss Reder. Die Kirchenleitung sei schließlich auf die Pfarrfrauen angewiesen und nicht umgekehrt.

Intergenerationelle Auseinandersetzungen Der Streit um die Rolle der Pfarrfrauen ist beispielhaft für viele innerkirchliche Richtungskämpfe um die zukünftige Gestalt der Kirchen in Berlin und Brandenburg. Auch in anderen Bereichen häuften sich (oft intergenerationelle) Konflikte zwischen konservativem und progressivem Lager.132 Wobei die zunehmende Entfremdung zwischen Kirchenleitungen und Basis besonders auffiel: Als die evangelische Kirchenleitung im Kirchenkreis Berlin Stadt I 1972 eine Visitation der Jungen Gemeinden initiierte, zögerten die Jugendlichen eine Terminvereinbarung lange hinaus. Die Visitatoren waren nicht willkommen und schon ihre Besuchsankündigung wurde als Störung empfunden. Schließlich baten die Jugendlichen ihre Gäste, 130 Rosemarie Reder an die Evangelische Kirchenleitung Berlin-Brandenburg 23.8.1976. ELAB 35/ 720. 131 Rosemarie Reder an Herrn Konsistorialpräsident Kupas 17.12.1976. ELAB 35/720. 132 „Der Konflikt zwischen Basis und Leitung der Kirche war in diesen Jahren auch ein Generationskonflikt. Während die Alten erst gelernt hatten, den Sozialismus zu akzeptieren und anzunehmen, ihre Loyalität zu bekunden, ging es den Jüngeren um dessen Reform.“ Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist“, S. 74.

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das Erlebte nicht unmittelbar an die Kirchenleitung weiterzugeben.133 Denn „die ‚Beamtenkirche‘“, erklärte die Potsdamer Kirche 1987, „ist ein Stich- und Reizwort für Jugendliche.“134 Diese Erfahrung hatten die kirchlichen Visitatoren bereits 1972 gemacht: Sie schilderten in ihrem Bericht, dass sich viele Jugendliche von der Kirchenleitung permanent kritisiert fühlten. Diese zeige wenig Verständnis für alternative Lebensstile und nehme die Ansichten der Jugendlichen nicht ernst. Der Kreisjugendpfarrer des Kirchenkreises Lichtenberg konstatierte schon 1967: „Die Junge Gemeinde wird soweit in die Gemeinde zu integrieren sein, wie die Alten bereit sind zu den Jungen zu kommen.“135 Es bedurfte offenbar dringend eines Vermittlungskonzepts zwischen den Generationen sowie zwischen Leitung und Basis.136 Die Folgen dieser ungelösten Konflikte waren da aber längst abzusehen. Viele Gemeinden überalterten, wie Matthias Kohl, Mitglied in der katholischen Gemeinde Herz Jesu, Berlin-Prenzlauer Berg, berichtet: Also im Gegensatz zu [lacht] zu heute war das Leben dann schon sehr,… verstaubt. [...] zu DDR-Zeiten waren wir so überaltert. Das war unglaublich. Wir hatten so viele Rentner, wir ham sogar in den letzten Jahren während der DDR-Zeit als Gemeinde Altenpflegerinnen angestellt, damit die alten Leute bei uns betreut werden können.137

Gemeinden mit diesem Profil waren für junge Menschen denkbar unattraktiv. Hinzu kam, dass diese Gemeinden ihre Fähigkeit zur Veränderung meist eingebüßt hatten. Dort, wo junge Menschen fehlten, waren die von den Kirchenleitungen oft bewusst vermiedenen Basisdiskussionen über Frömmigkeitsformen und kirchliche Traditionen nahezu ausgeschlossen.138 Als 1968 in der Evangelischen Akademie in Ost-Berlin ein Vortrag zum Thema „Die Kirche der Zukunft“ stattfand, kommentierte ein Teilnehmer den Titel der Veranstaltung dementsprechend: „An sie [die Kirche der Zukunft] zu glauben, ist schwer, weil wir in einer ‚Kirche von gestern‘ leben.“139 133 Vgl. Visitation der Jungen Gemeinden, Berlin Stadt I 1972. ELAB 35/7367. 134 Das ABC der Gemeinde. Berichte, Reportagen, Interviews aus dem kirchlichen Alltag. J. Jugend, in: Potsdamer Kirche 10.5.1987, S. 8. 135 Generalkirchenvisitation Kirchenkreis Lichtenberg, Bericht des Kreisjugendpfarrers, Pfarrer Reymann, 18.11.1967. ELAB 86/213. 136 Vgl. Generalkirchenvisitation Sprengel Potsdam Kkr. Jüterbog 26.2.-14.3.1967. 137 Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 26. 138 Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 18. Siehe auch: Schäfer: Selbstbehauptungsstrategie, S. 274. 139 Eine Tagung der Evangelischen Akademie, in: Die Kirche 25.2.1968, S. 3. Vgl. „Wir haben bis heute keine ‚offene‘ und auch keine sich ‚offenlegende Kirche.‘“ Die zwei großen Sündenfälle der evangelischen Kirchen in der DDR. Dietrich Mendt sprach in Berlin, in: Potsdamer Kirche 24.5.1987, S. 5.

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Ein zentrales intergenerationelles Streitthema war in allen christlichen Konfessionen die Frage der Empfängnisverhütung.140 Doch vor allem unter jungen Katholikinnen und Katholiken sorgte die Haltung des Berliner Episkopats und älterer Gemeindemitglieder für erheblichen Unmut. Ausgangspunkt der Debatte war die päpstliche Enzyklika Humanae Vitae. In diesem Text unterstrich Papst Paul VI. 1968 seine konservative Haltung zur Empfängnisverhütung und kritisierte die Einführung der Antibabypille. Während die westdeutschen Bischöfe sich in der Königsteiner Erklärung von der Enzyklika distanzierten, unterstützten die ostdeutschen Bischöfe, allen voran der Berliner Bischof Bengsch, den Papst.141 Dabei ging es nicht nur um ethische Fragen, theologische Probleme oder die Treue der ostdeutschen Episkopate zum Pontifex. Entscheidend war für die Bischöfe auch, eine Gegenhaltung zur staatlichen Ideologie in der DDR einzunehmen. Die Antibabypille sahen sie, genau wie später den sogenannten Abtreibungsparagraphen von 1972, als sozialistische Projekte, die unvereinbar mit katholischen Glaubensüberzeugungen waren. Während die Königsteiner Erklärung darauf abzielte, Gewissensfragen nicht pauschal beantworten zu wollen, signalisierten die ostdeutschen Bischöfe das Gegenteil: Sie und nicht der Einzelne entschieden über richtig und falsch.142 Gerade bei jüngeren Kirchenmitgliedern traf dieses rigorose Vorgehen auf Unverständnis, Es schien ihre realen Sorgen zu Gunsten einer Machtdemonstration gegenüber der DDR-Regierung auszublenden. Die katholische Studentengemeinde in Ost-Berlin bezog daher öffentlich Stellung gegen den Episkopat. In einem offenen Brief forderten die Mitglieder der Studentengemeinde die Kirchenleitung dazu auf, beim Papst vorstellig zu werden und die generelle Ablehnung empfängnisverhütender Mittel erneut zu prüfen.143 Dieser Brief war in zweierlei Hinsicht 140 Die evangelischen Kirchen in der DDR akzeptierten den Einsatz empfängnisverhütender Mittel, lehnten Schwangerschaftsabbrüche aber ab. Vgl. Reaktion auf Beschluß des Politbüros vom 23.12.1971, in: Die Kirche 20.2.1972, S. 1. Siehe auch: Innerkirchliche Konflikte in der DDR, in: Der Christ 30.10.1970, S. 4. Sowie: Visitation der Jungen Gemeinden Berlin Stadt I 1972. ELAB 35/7367. 141 Zur sogenannten Königsteiner Erklärung: Vgl. Wort der deutschen Bischöfe zur seelsorglichen Lage nach dem Erscheinen der Enzyklika HUMANAE VITAE, in: Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz, Band 1 1965–1968, Köln 1998, S. 465–471. Siehe auch: Humanae Vitae – umstrittene Enzyklika, in: Die Kirche 1.9.1968, S. 1. Sowie: Jung: Politik der Skepsis, S. 182–183. 142 Vgl. Fischer, Martin: Zwischen Gehorsam und Autoritätsverlust. Reaktionen auf „Humanae Vitae“ in der DDR, in: Aschmann, Birgit/Damberg, Wilhelm (Hrsg.): Liebe und tu, was du willst? Die „Pillenenzyklika“ Humanae vitae von 1968 und ihre Folgen. Paderborn 2021, S. 269–308. Und: Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 21. Siehe auch: Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 14. 143 Vgl. Brief der Katholischen Studentengemeinde an die Berliner Ordinarien-Konferenz zur Enzyklika „Humanae Vitae“, in: St. Hedwigsblatt 8.12.1968, S. 6–7.

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besonders. Zum einen widersprach eine Gruppe von Ost-Berliner Katholikinnen und Katholiken der Kirchenleitung. Zum anderen war es das erste Mal seit dem Mauerbau, dass die Ost-Berliner Kirchenzeitung St. Hedwigsblatt einen kritischen Beitrag abdruckte und auf diese Weise das Bild einer homogenen, katholischen Gemeinschaft in Ost-Berlin und der DDR öffentlich in Frage stellte, auch wenn der Brief Bengsch nicht zu einem Kurswechsel in punkto Empfängnisverhütung bewog.144 Zwar ist hier festzuhalten, dass Humanae Vitae in Ost-Berlin und den Diasporagebieten der Diözese nicht die Breitenwirkung erzielte, die die Enzyklika in den West-Berliner Gemeinden erfuhr. 145 Ruth Jung führte diese Tatsache unter anderem auf das Fehlen freier Medien in Ost-Berlin und der DDR zurück – doch das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in den katholischen Gemeinden im Osten der Diskussionsbedarf zunahm. Im Zusammenhang mit Humanae Vitae wurde deutlich, dass nicht allein staatliche Institutionen Zweifel bei Gemeindemitgliedern ob ihrer Religionszughörigkeit auslösten, sondern innerhalb der katholischen Kirche Missstände offenbar wurden, die Abkehrprozesse beschleunigten.146 Die Vielzahl dieser Einzelfälle verdeutlicht deshalb, dass auch in Ost-Berlin und der DDR längst Fragmentierungsprozesse begonnen hatten, die zu ignorieren den Kirchen auf Dauer schadete. Die Visitatoren einer Visitation im Ost-Berliner Kirchenkreis Weißensee 1971 erkannten das: Daß wir uns auseinanderdividierten, mag schon geraume Zeit wie unter der Decke geschmort haben, offenkundig wurde es bei den Zusammenkünften mit den Ältesten, sei es in den Rand- oder in den Stadtgemeinden, als es um die Frage des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR ging. (…) Seit jener Zeit brodelt es zwischen den Ältesten und Pfarrern, einmal stärker, einmal schwächer.147

144 Bischof Bengsch hatte der Veröffentlichung des Briefes im St. Hedwigsblatt laut eines IMBerichts zugestimmt, weil er glaubte, dass die „Tatkraft der Studenten bei einer einmaligen Veröffentlichung schnell erlahmen wird – was in diesem Falle auch eingetreten war.“ Treffbericht IM „Otto“ 23.11.1969. BStU MfS AIM 2716/75, abgedruckt in: Dolata, Werner: Operativer Vorgang „Schwarze Kapelle“. Katholische Kirche und Katholische Jugend im Visier der Stasi. Überwachung und Beeinflussung durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR / MfS – Linie XX/4, Berlin 2008, S. 390. Vgl. Ostberliner Studentengemeinde kritisiert Enzyklika, in: Der Christ 13.12.1968, S. 1. Siehe auch: Innerkirchliche Konflikte in der DDR, in: Der Christ 30.10.1970, S. 4. 145 Vgl. Jung: Eine Politik der Skepsis, S. 183. Siehe auch: Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 21. 146 Vgl. Kösters: Sozialistische Gesellschaft, S. 137. Siehe auch: Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 140. In diesem Zusammenhang ist des Weiteren auf den Aktionskreis Halle hinzuweisen, der als wichtigste innerkatholische Impulsgruppe galt. Vgl. Holzbrecher: Der Aktionskreis Halle. 147 Generalkirchenvisitation im Kk. Weißensee Mai 1971. ELAB 86/240.

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Während die Kirchenleitungen sich nur äußerst langsam aus ihren starren Haltungen herauslösten, die sie eingenommen hatten, um jegliche Versuche einer Einflussnahme von außen abzuwehren, ging man an der Basis dazu über, die Dinge, auch ohne Zustimmung von oben, selbst in die Hand zu nehmen. Vor dem Hintergrund der geschilderten Probleme und Herausforderungen entwickelten und etablierten sich, oft unterhalb des Radars der Kirchenleitungen, neue Praktiken, die neue Formen der Gemeindearbeit begründeten, andere Zielgruppen ansprachen und andere Orte miteinbezogen.148 Das kirchliche Leben verlagerte sich dabei noch stärker in den kirchlichen und schließlich auch in den privaten Raum. Besonders im Bereich der Jugendarbeit setzten sich auf Gemeindeebene Reformgedanken durch. Viele Gemeinden erweiterten die Öffnungszeiten und passten ihr Angebot den Erwartungen und Bedürfnissen der Jugendlichen an.149 Neben Gesprächsangeboten ermöglichten die Gemeinden den Jugendlichen die Durchführung von Konzertveranstaltungen oder Spieleabenden.150 Ein wichtiger Schritt war in diesem Zusammenhang die Aufhebung des Rauchverbots.151 Dort, wo in kirchlichen Räumen geraucht werden durfte, erhöhte sich die Verweildauer der Jugendlichen in der Regel. Außerdem entwickelten sich die Räume der kirchlichen Jugendarbeit vielerorts zum einzigen Alternativangebot gegenüber staatlichen Jugendclubs:152 „Man unterhält sich, trinkt Limonade, raucht, einige spielen Karten, Tischtennis, Billard oder andere Spiele. Es war ein ständiges Kommen und Gehen.“153 Einige Gemeinden nahmen sogar räumliche Umbauarbeiten vor.154 Das MfS beobachtete in der Ost-Berliner Pfarrei St. Josef: „Ein Luftschutzraum wurde zu einem Tanzlokal und Bar modern ausgestattet. An diesen Tanzveranstaltungen 148 „Das Desinteresse an der Gestalt der Kirche war bei den Gemeindemitgliedern schon weit verbreitet. Auch innerkirchlich konnte man den Satz hören: ‚Die tun da oben ja doch, was sie wollen.‘“ Heinemann-Grüder: Pfarrer in Ost und West, S. 107–108. Vgl. Pollack: Funktionen von Religion, S. 81. 149 Vgl. Ohne Gängelei und Druck. Dr. Friedrich Winter zur Jugendarbeit, in: Potsdamer Kirche 30.11.1986, S. 6. 150 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 30–31. 151 Zum Rauchen in kirchlichen Räumen: Vgl. Schmidtmann Siegfried: Offene Jugendarbeit in der Gemeinde Berlin-Köpenick von 1967–1971, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 245. 152 In vielen Gemeinden mit einem hohen Neubauanteil profitierten die Kirchen dabei oft vom Bau neuer Gemeindezentren, die es ihnen räumlich überhaupt erst ermöglichten, im Bereich der offenen Jugendarbeit tätig zu werden. Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 821. 153 Bericht über die Generalkirchenvisitation im Kirchenkreis Lichtenberg, die vom 1.-17.11.1980 stattfand. ELAB 35/9889. Vgl. Schmidtmann: Offene Jugendarbeit, S. 244–248. 154 Vgl. Le Grand: Gemeindealltag in Ost und West, S. 245.

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nehmen auch Gäste aus anderen Pfarreien teil.“155Ziel der Gemeindepfarrer, Kapläne und Diakone war es, möglichst niederschwellige Angebote zu schaffen, wie der evangelische Publizist Henkys notierte: „Vorbedingungen werden nicht gestellt. Kirchliches und biblisches Wissen fehlt bei vielen Teilnehmern. Man ist bemüht nicht zu indoktrinieren, sondern geistliche Erkenntnisse im Zusammenleben zu vermitteln.“156 An der Spitze der Berliner Kirchenleitungen trafen solche Konzepte auf Skepsis. Evangelische Visitatoren berichteten argwöhnisch, dass etwa die religiöse Schwerpunktarbeit der Jungen Gemeinde im Berliner Dom „kultisch umrahmt“ sei: „Im übrigen haben Basteln und Spielen das Übergewicht.“157 Probleme sahen sie vor allem darin, dass eine Junge Gemeinde, die so geführt wurde, die Bindung zu ihrer Heimatgemeinde verlieren beziehungsweise gar nicht erst aufbauen würde. Sie fürchteten, der Entkirchlichung innerhalb der Kirche werde auf diese Weise Vorschub geleistet und offenbarten damit auch ihre Abneigung gegenüber Modernisierungsmaßnamen. 158 Neben den gut frequentierten Angeboten der offenen Jugendarbeit und der Jungen Gemeinde, nahm außerdem die Nachfrage nach Rüstzeiten und kirchlichen Freizeiten stark zu.159 Sie blieben den Teilnehmenden als außeralltägliche Ereignisse besonders im Gedächtnis. Viele Gemeinden unterhielten eigene Rüstzeitheime in ländlichen Regionen.160 Im Kirchenkreis Berlin Stadt I herrschte der Grundgedanke vor: „Es müssen Gemeinden oder wenigstens der Kirchenkreis ein Freizeithaus oder auch einen Zeltplatz in der Umgebung Berlins haben.“161 Der Charakter der oft mehrtägigen Ausflüge wandelte sich gegenüber früheren Fahrten deutlich. Neben dem klassischen Repertoire, zu dem Andachten, Bibelarbeit und kirchenmusikalische Abende zählten, fanden nun auch Diskussionsrunden 155 Gliederung zur Analyse über die Situation in den Dekanaten der katholischen Kirche in der Hauptstadt der DDR. Gemeinde St. Josef. BStU MfS BV Bln Abt. XX 5579. 156 Henkys: Gottes Volk im Sozialismus, S. 91–92. 157 Visitation der Jungen Gemeinden Berlin Stadt I 1972. ELAB 35/7367. 158 Vgl. Bericht der Generalkirchenvisitation, die im Kirchenkreis Berlin Stadt III hauptsächlich in der Zeit vom 15. bis 29.5.1977 stattgefunden hat. ELAB 35/10070. 159 „Die Zahl der Rüstzeiten stieg [in Berlin und Brandenburg] in den letzten fünf Jahren von 1286 (1981) auf 1375 (1986).“ Statistisches aus Berlin-Brandenburg, in: Potsdamer Kirche 24.5.1987, S. 4. Vgl. Sprengel Berlin II. Sammlung der Kinder im Unterrichtsjahr 1972/73. ELAB 86/543. Siehe auch: Henkys: Gottes Volk im Sozialismus, S. 92. 160 Die Paul-Gerhard Gemeinde in Berlin-Prenzlauer Berg unterhielt zum Beispiel zwei Rüstzeitenheime in Grünheide und Wünsdorf. Vgl. Bericht der Generalkirchenvisitation, die im Kirchenkreis Berlin Stadt III hauptsächlich in der Zeit vom 15. bis 29.5.1977 stattgefunden hat. ELAB 35/ 10070. 161 Bericht über die Tätigkeit des Superintendenten Brix in der Zeit vom 1.5.1960 bis voraussichtlich zum 31.8.1975 auf Anfordern des Kreiskirchenrates Berlin Stadt I. ELAB 35/7367.

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statt, die sich inhaltlich nicht auf innerkirchliche Themen beschränkten. Gesamtgesellschaftliche und alltägliche Probleme wurden nicht länger tabuisiert beziehungsweise ignoriert, sondern bewusst zur Sprache gebracht. Die Fahrten, erklärte der Lichtenberger Kreisjugendpfarrer Reymann, standen unter dem Leitsatz: „Nicht mehr im eigenen Saft kochen!“162 Als Reaktion auf die sinkenden Teilnehmerzahlen bei Kindergottesdiensten, in der Christenlehre und im Konfirmandenunterricht gingen evangelische Gemeinden außerdem dazu über, neue Gottesdienstformate zu etablieren.163 Immer häufiger fanden Familiengottesdienste statt, die als eine Zusammenführung von Erwachsenen- und Kindergottesdienst zu verstehen sind. Die Predigten in diesen Gottesdiensten fielen kürzer aus und sollten auch Kinder ansprechen.164 Eine besondere Rolle kam zudem einmal mehr der Kirchenmusik zu. Kirchenmusikalische Veranstaltungen sprachen nicht nur Gemeindemitglieder an, sondern erfreuten sich darüber hinaus auch bei einem nichtkirchlichen Auditorium großer Beliebtheit. Der evangelische Landeskirchenmusikdirektor von Berlin und Brandenburg sprach ihr „neben der künstlerischen Aufgabe auch eine diakonischmissionarische Funktion zu.“165 Eine besondere Mischung aus kultureller und religiöser Veranstaltung stellten außerdem die evangelischen Bluesmessen dar, die erstmals 1979 in der Ost-Berliner Samariterkirche stattfanden und über die Grenzen der Stadt hinaus Bekanntheit erlangten.166 Die Gottesdienste mit Bluesmusik hatten überdies eine ökumenische Wirkung. Katholische Jugendliche entdeckten hier alternative Freiräume, die sie in ihrer eigenen Kirche vermissten.167

162 Generalkirchenvisitation Kirchenkreis Lichtenberg, Bericht des Kreisjugendpfarrers, Pfarrer Reymann, 18.11.1967. ELAB 86/213. 163 Vgl. Statistisches aus Berlin-Brandenburg, in: Potsdamer Kirche 24.5.1987, S. 4–5. 164 Vgl. Bericht über die Generalkirchenvisitation des Kirchenkreises Ruppin vom 5.-14.11.1966. ELAB 86/212. Zur selben Zeit erfreuten sich sogenannte Jugendgottesdienste in den evangelischen Freikirchen großer Beliebtheit. Vgl. Assmann, Reinhard: Das Evangelisten-Duo Jörg & Theo, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund EvangelischFreikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 206. Vgl. Schmidtmann: Offene Jugendarbeit, S. 247. 165 Kirchenmusik in Berlin-Brandenburg, in: Potsdamer Kirche 24.5.1987, S. 5. 166 „Das sind meditative Jugendgottesdienste, an denen beliebte Musikgruppen mitwirken und die inhaltlich von Interessen, Problemen und Gemeinschaftsbedürfnis junger Leute ausgehen. Wenn eine Bluesmesse angekündigt ist, was etwa alle Vierteljahr der Fall ist, kommen Tausende zum Teil von weit her, so daß der Gottesdienst einen ganzen Nachmittag und Abend lang immer wiederholt werden muß.“ Henkys: Gottes Volk im Sozialismus, S. 91. Vgl. Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 137. Siehe auch: „Wir wollen euren Friedhofsfrieden nicht“, in: Der SPIELGEL 14.3.1983, S. 93–104. Sowie: Hochmuth: Kiezgeschichte, S. 224–236. 167 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 13 und S. 16.

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Klein statt Groß: Kirche in halb-öffentlichen und privaten Räumen Abgesehen von den herausragenden, öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen wie den Bluesmessen, die vor allem junge Personen anzogen, nahm die Bedeutung kleiner Gruppenaktivitäten im kirchlichen Alltag zu. Diese knüpften häufig an die Arbeit der in der DDR verbotenen kirchlichen Vereine an:168 Bibel- oder Ehekreise, Chöre und Mutter-Kind-Gruppen fanden in Gemeindezentren, in Pfarrhäusern oder in privaten Haushalten statt und scheinen für die Aufrechterhaltung des kirchlichen Lebens in Ost-Berlin und der DDR elementar gewesen zu sein.169 Der Pfarrer Dietmar Linke beschrieb die Zusammenkünfte: „In der Wohnstube saßen wir um einen langen Tisch; die letzten Stühle wurden herbeigetragen, bis alle Platz hatten.“170 In den Ost-Berliner Stadtrandgemeinden erkannten evangelische Visitatoren bereits 1962 den besonderen Wert dieser häuslichen Zusammenkünfte. Sie verwendeten den Begriff „Stützpunkte“, um ihren Charakter zu beschreiben: „Innerhalb der Siedlungen sind kleine Stützpunkte in Privathäusern, wo man ebenso regelmäßig zu Bibelarbeit und Gesprächen über aktuelle Fragen der Kirche zusammenkommt.“171 Hauskreise oder damit vergleichbare Zusammenkünfte existierten in allen christlichen Konfessionen. Die Teilnehmenden versammelten sich in Privathaushalten oder Gemeindehäusern zu Familien-, Eltern- oder Spielkreisen und tauschten sich über aktuelle Themen aus.172 Besonders populär waren Hauskreise in freikirchlichen Gemeinden, wie das MfS in Ost-Berlin feststellte. Zum Missfallen der Staatssicherheit erhielt der Geheimdienst aber nur sehr begrenzt Einblick in diese Kreise. Das MfS vermutete daher, dass im Rahmen der Treffen „Teufelsaustreibun168 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 26–28. 169 Das in private Räume ausgewichen wurde, ist kein genuin kirchliches Phänomen. Auch Dissidenten gingen zum Beispiel dazu über, Konzerte, Lesungen und andere Veranstaltungen in den eigenen Wohnungn durchzuführen.Vgl. Mergel, Thomas: Zweifach am Rande. Die Dissidenten vom Prenzlauer Berg, in: Sabrow, Martin (Hrsg.): ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2009, Göttingen 2010, S. 112. Siehe auch: Heinrich: Alte Ordnungen, S. 822. Oder: Winter: Auf dem Weg, S. 143. Über das Pfarrhaus als wichtigen Treffpunkt der Gemeinde in der DDR schreibt u. a. Kleßmann. Vgl. Kleßmann: Einleitung, S. 22. Und: Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 58. Sowie: Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 71. Und: Winter: Auf dem Weg, S. 143. 170 Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 60. 171 Kirchengemeinde Blankenburg 1962. ELAB 86/64. Matthias Kohl verwendete in diesem Zusammenhang die Formulierung „Elfenbeinturm“. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 12. Hans Dieter Hein erklärte, „die Kirche stellte eine Art Überdruckventil dar.“ Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 118. 172 Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 1–2. Siehe auch: Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 3. Und: Le Grand: Kirchenalltag in Ost und West, S. 234–236.

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gen“ stattfanden und die Teilnehmenden auf Missionseinsätze vorbereitet wurden.173 Besorgniserregend sei außerdem, dass in den freikirchlichen Hauskreisen besonders viele westliche Medien kursierten.174 Letztlich deuten solche Informationsberichte darauf hin, dass die Strategie der Gemeinden aufging: Wenn sich möglichst kleine, exklusive Gruppen in weitestgehend geschützten Räumen trafen, schien es der Staatssicherheit schwerer zu fallen, in diese Kreise einzudringen. Hinzu kam, dass sich die Teilnehmenden aufgrund der Gruppenstärke in der Regel besser kannten und deshalb auch besser einschätzen und kontrollieren konnten. Die Hauskreise stellten eine der wenigen Möglichkeiten dar, dem kirchlichen Leben in Ost-Berlin und der DDR weitestgehend ungestört nachzugehen. Sie waren damit auch eine Alternative zu den staatlich überwachten Großveranstaltungen der Kirchen wie Kirchen- und Katholikentagen, die gemeinhin als wichtige Austragungsorte für religiöse und kirchenpolitische Debatten angesehen wurden.175 Überdies handelte es sich bei den Hauskreisen vorwiegend um von der Kirchenbasis initiierte Aktivitäten, die sich als Reaktion auf das veränderte Freizeitverhalten der Kirchenmitglieder lesen lassen: Hauskreise trafen sich meist in den Abendstunden, nach Feierabend. Sie waren weniger formalisiert und dafür geselliger, was den Bedürfnissen vieler Kirchenmitglieder mehr zu entsprechen schien als der öffentliche Gottesdienst am Sonntagvormittag.176 Folgerichtig sah der Generalsuperintendent von Eberswalde in der Einrichtung von Hauskreisen einen Wert, der „nicht hoch genug zu veranschlagen ist“, wenn es darum geht, Menschen an die Kirchen zu binden.177 Die symptomatische Ablehnung öffentlicher Aufmerksamkeit, die die Hauskreise geradezu symbolisierten, schlug sich darüber hinaus in der schon beschriebenen Bedeutung des Hausbesuchsdienstes nieder, der in Ost-Berlin und der DDR als traditionelle kirchliche Praxis ebenfalls wiederbelebt wurde.178 In der breiten Öffentlichkeit waren die Kirchen immer weniger sichtbar, dafür erschienen sie vielen Mitgliedern unmittelbarer. Die vertrauliche Atmosphäre, die in den Hauskreisen oder während des Besuchsdienstes vorzuherrschen schien, verstärkte den Eindruck, sich in kirchlichen 173 Information zur Tätigkeit des charismatischen Hauskreises FEHR/MOLZAHN/Berlin 28.5.1989. BStU MfS BV Bln Abt. XX 3255. 174 Vgl. ebenda. 175 Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 2. 176 Vgl. Wolf, Christian: Christliche Staatsbürgerschaft in einer sozialistischen Gesellschaft (1988), in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 38. 177 Generalsuperintendent von Eberswalde an den Gemeindekirchenrat Bernau anlässlich der erfolgten Visitation 2.1.1974. ELAB 35/11521. 178 Vgl. Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 73.

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Schutzräumen offen austauschen zu können: „Ja, hier in den Kirchen können wir so reden, aber wenn wir das draußen sagen, werden wir sofort verhaftet,“ erklärte Siegfried Schmidtmann die Doppeldenkweise vieler Christen.179 Dieser Logik folgend wurden auch Gremiensitzungen auf Gemeindeebene, wie Pfarrgemeinderäte oder Gemeindekirchenräte, als privat empfunden: „Hier kam man zur Sache, weil is ja nen geschützter Raum,“ erläuterte Matthias Kohl: „Man hat nie, nie dran gedacht, dass da einer, einer von den Leuten Spitzel is, weil das alles wirklich Gemeindemitglieder sind.“180 Dass diese Abschottungspraxis ihren Preis hatte, liegt auf der Hand: Formen der Zusammenarbeit über die Grenzen der eigenen Gemeinde hinaus kamen nur selten zustande: „Die familienartige Bindung hemmt die Bereitschaft zur Kooperation […],“ konstatierte daher ein Bericht über die Arbeit des Superintendenten Brix im Kirchenkreis Berlin Stadt I. 181 Personelle Einschränkungen und räumliche Enge bedingten schließlich auch eine gewisse geistige Enge.182 Einerseits zogen sich die Gemeinden – wie letztlich der Großteil der DDR-Gesellschaft – in private Räume zurück:183 Ferien in kircheneigenen Unterkünften, Gesprächsabende in privaten Haushalten, Hausbesuche des Pfarrers. C. D. resümierte: „[…] die Kirche in der DDR sollte wenn möglich nicht öffentlich sein. Das war klar. Religion ist bestenfalls Privatsache.“184 Andererseits lässt sich beobachten, dass Hauskreise und andere Initiativen, nachdem sie sich fest etabliert hatten, wieder dazu übergingen, Externe in dieser geschützten Atmosphäre zu empfangen. Vor dem Hintergrund einer entspannten politischen Großwetterlage begannen sie zum Beispiel Expertinnen und Experten aus der Bundesrepublik zu Vorträ-

179 Interview mit Siegfried Schmidtmann 2005. OA, ohne Signatur, S. 13. In Teilen galt das sogar für die Synoden der EKiBB. Sie übernahmen die Funktion einer Ersatzöffentlichkeit und wurden positiv als Forum des freien Meinungsaustauschs angesehen. Linke bezeichnete sie sogar als das „Ersatzparlament der Gesellschaft“. Linke: Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist, S. 45. 180 Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 31. 181 Bericht über die Tätigkeit des Superintendenten Brix in der Zeit vom 1.5.1960 bis voraussichtlich zum 31.8.1975 auf Anfordern des Kreiskirchenrates Berlin Stadt I. ELAB 35/7367. 182 Vgl. Winter: Auf dem Weg, S. 105. 183 „Ansonsten zog man sich im Privatleben dorthin zurück, wo Staat und Partei keinen oder wenig Einfluss hatten, auf seine Datsche oder auf einen engen Freundeskreis. […] Es entstand die für die DDR so typische ‚Nischenkultur‘, deren System stabilisierende Wirkung allerdings nicht unterschätzt werden sollte.“ Hoffmann, Erwin: Die ersten Jahre, in: Dodt, Christine/Klemp, Manfred (Hrsg.): Das beinahe verpasste Jubiläum. 50 Jahre Kurt-Huber-Kreis. Katholische Akademikerseelsorge in Berlin (Ost), Berlin 2010, S. 38. 184 Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 18. „Also man konnte relativ viel machen, solange es keine Auswirkungen außerhalb der Kirchenmauern hatte. Ja, sowohl geräuschmaßig, als auch optisch […].“ Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 5.

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gen und Gesprächsgruppen einzuladen.185 Dabei ging diese Arbeit häufig über die klassische Bibelexegese hinaus. Politische und gesellschaftliche Themen wurden genauso diskutiert wie wissenschaftliche Beiträge und theologische Probleme. Die Gäste fungierten als Inputgeber, oft auch als Ratgeber und wurden vor allem in Bezug auf alltagsweltliche Fragen konsultiert. Dieses verstärkte Bedürfnis nach Beratungs- und Informationsformaten in den Gemeinden nahm die Leitung der EKiBB durchaus wahr und versuchte auf diesen Notstand zu reagieren. Einerseits wollte sie Vertrauensverluste an der Basis Wett machen. Andererseits hoffte sie auf diese Weise, kontrollieren zu können, wer Einfluss auf die Kirchenmitglieder nahm:186 1967 veranstaltete die evangelische Kirchenleitung in Ost-Berlin deshalb die erste von mehreren themenbezogenen Anhörungen. Bei dieser Veranstaltungsreihe ging es unter anderem um den theologischen Nachwuchs, die Berufstätigkeit von Pfarrfrauen oder Finanz- und Verwaltungsfragen, die Kirchenmitglieder an die Kirchenleitung herantrugen. Die Kirchenleitung erhielt auf diese Weise einen Einblick in die realen Problemlagen ihrer Mitglieder.187 Die Anhörungen wurden als Rationalisierungsschritt verstanden. Es ging darum, konkrete Probleme zu erkennen und auf dieser Basis Beratungsangebote und Lösungsvorschläge zu erarbeiten.188 Nicht überall wurde diese Entwicklung jedoch positiv gesehen. Auf der Kirchenleitungsebene gab es Kritiker, die in solchen themenbezogenen Anhörungen, Arbeitsgruppen, Initiativen oder Hauskreisen die Gefahr einer Fragmentierung sahen: Der Zusammenhalt der Gemeinden werde von innen heraus zerstört, weil sie sich inhaltlich immer stärker von kirchlichen Themen entfernten.189 Solche Hypothesen deuten an, in welchem Spannungsfeld sich die Gemeinden befanden. Einerseits versuchten sie sich der staatlichen Überwachung so gut als möglich zu entziehen, andererseits wurden sie auch von Teilen der Kirchenleitung kritisch gesehen. Der evangelische Publizist Reinhard Henkys konnte der Tatsache, dass sich kirchliche Gruppen mehr und mehr verselbstständigten, durchaus etwas Positives abgewinnen. Er betonte, dass in den Hauskreisen eine Durchmischung von Perso185 Vgl. Gedanken zu dem Bericht über die Zusammenkünfte der Kirchenältesten des Kirchenkreises Teltow 25.10.-4.11.1969. ELAB 86/248. 186 Vgl. Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 60. 187 Vgl. Theologischer Nachwuchs: 1. Anhörung bei der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg 22.4.67. ELAB 35/720. Siehe auch: Finanz- und Verwaltungsfragen: 2. Anhörung bei der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg 29.9.1967. ELAB 35/720. Sowie: Anhörung der Katecheten 4.1.1969. ELAB 35/720. Oder: Anhörung für Kirchenälteste 15.11.1969. ELAB 35/720. 188 Aufgrund der positiven Resonanz auf die themenspezifischen Anhörungen fanden in der EKiBB ab 1968 außerdem Fragestunden ohne thematische Festlegung statt. Vgl. Aus den Kirchen in der DDR, in: Die Kirche 28.7.1968, S. 3. 189 Vgl. Die zwei großen Sündenfälle der evangelischen Kirchen in der DDR. Dietrich Mendt sprach in Berlin, in: Potsdamer Kirche 24.5.1987, S. 4.

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nen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen stattfand, die die Kirchen sonst nicht erreichten: Wo ein solcher Hauskreis entstanden ist, bleibt er oft nicht auf bewußte Christen oder Kirchenmitglieder beschränkt. Die Frau ist christlich erzogen, der Mann Parteigenosse, oder umgekehrt. Sie treffen sich gemeinsam mit anderen im Hauskreis, und manchmal kommen Nachbarn hinzu, die beide nicht mit der Kirche zu tun haben, aber Anschluß suchen.190

Henkys Beobachtung weist dabei auch auf ein Problem hin, dass vor allem die evangelische Kirchenleitung in Berlin beunruhigte: Gruppen, die sich unter dem Dach der Kirche trafen, entfalteten ein integratives Potenzial, auf das die Leitungsebene nicht zugreifen konnte. Der Amtskirche gelang es nicht, diese Kreise zu steuern. Die Kirchenleitung war deshalb unschlüssig, ob es klüger war, diese Gruppen weiter an sich zu binden und Konflikte mit staatlichen Behörden zu riskieren oder deren Abkopplung zu fokussieren. Diese Unsicherheit kam auch im Umgang der Berliner Kirchenleitung mit den Friedenswerkstätten zum Ausdruck: 1986 erklärte der Ost-Berliner Generalsuperintendent, dass die Friedenswerkstatt 1987 ausfallen müsse. Das Vertrauen zwischen Kirchenbasis und Kirchenleitung sei zu schwer erschüttert, als dass die Kirchenleitung eine Veranstaltung unterstützen könne, die es an theologischem Anspruch fehlen lasse.191 Der Ost-Berliner Pfarrer Rudi Pahnke, Sprecher und Mitglied im Vorbereitungskreis der Friedenswerkstatt, bezeichnete diese Begründung in einem offenen Brief an die Kirchenleitung als kontraproduktiv und schädlich. Die Kirchenleitung offenbare mit dieser Entscheidung ihre Angst vor einem Autoritätsverlust. Sie müsse sich endlich mit den Basisgruppen auseinandersetzen, anstatt diese zu unterdrücken.192 Als eine Antwort auf dieses Verbot sind die Geschehnisse rund um den evangelischen Kirchentag anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins 1987 zu lesen. Evangelische Basisgruppen entschieden, zeitgleich einen alternativen Kirchentag von Unten zu veranstalten, um sich organisatorisch und inhaltlich von der Berliner Kirchenleitung zu distanzieren. Die Veranstalter dieses Kirchentags nahmen eine kritische Haltung gegenüber der Staatsführung und der Amtskirche ein.193 Den Mitgliedern der Kirchenleitung warfen sie vor, sich mit den SED-Funktionären arrangiert zu haben und bezeichneten sie außerdem als „Dauerwestvisabesitzer“, die Themen und Nöte der vermeintlich unmündigen Basisgruppen ignorierten 190 Henkys: Gottes Volk im Sozialismus, S. 90. 191 Vgl. Thron und Altar, in: Der SPIEGEL 8.12.1986, S. 57–60. 192 Vgl. Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 60. 193 „Dabei handele es sich, wie er [Konsistorialpräsident Stolpe] sagte, um junge menschen, die von kirche und gesellschaft enttäuscht seien, vor allem aber um verhaltensauffällige jugendliche wie punks und rocker, die in gefahr sind, sich abzusondern und gegen kirche und gesellschaft zu stellen.“ ADN-Information 17.6.1987. BStU MfS ZOS 2478.

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oder verklärten.194 Derlei Behauptungen missfielen der Ost-Berliner Kirchenleitung und dem MfS gleichermaßen.195 Trotzdem gelang es den Initiatoren des Kirchentags von Unten, sich mit der Leitung der EKiBB darauf zu einigen, dass die Alternativveranstaltung in den Gemeindehäusern der Pfingst- und Galiläagemeinde in Berlin-Friedrichshain, also in kirchlichen Räumen stattfinden durfte.196 Die Kirchenleitung ließ sich auch deshalb auf diese Lösung ein, weil sie fürchtete, dass die Veranstalter des alternativen Kirchentags andernfalls Räume besetzen und damit eine noch größere Aufmerksamkeit in westdeutschen Medien erzielen könnten.197 Zudem unterstrich der thüringische Landesbischof Leich, dass „es nicht zugelassen werden könne, daß sich eine ‚Zusatzkirche‘ bildet.“198 In Leichs Aussage trat abermals die amtskirchliche Angst vor einem Autoritätsverlust hervor, sollten einzelne Basisgruppen ihre Aktivitäten verstärken und ihre Mitgliederkreise erweitern. Leich sprach in diesem Zusammenhang von der Vielzahl unterschiedlicher Gruppen, die sich seit den 1960er-Jahren im Umfeld der Kirchen gebildet hatten und riet dazu, zwischen diesen zu differenzieren: Die Gruppen hätten sich aus allen politischen Lagern heraus rekrutiert, waren mehr oder weniger eng an die Amtskirche gebunden und erreichten unterschiedliche Organisationsgrade. Einigen der Gruppen gelang es, sich so weit zu institutionalisieren, dass sie sich als feste Größen in kirchlichen Gremien etablierten. Andere agierten zwar in kirchlichen Räumen, fühlten sich den evangelischen Kirchen aber nur begrenzt verbunden. Ein Großteil davon, auch konfessionsübergreifende Gruppen wie die Friedenskreise oder die Umweltbibliothek wurden der oppositionellen Bewegung in 194 ADN-Information. streit innerhalb der evangelischen kirche in der ddr – basisgruppen verweigern sich einem kirchentag nach „westlichem muster“ 19.5.1987. BStU MfS HA IX 4110. Vgl. Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 139. Siehe auch: Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 60 und S. 138. Und: Eklat auf dem Ostberliner Kirchentag. Abendmeldung AP/sz/rm/rg Juni 1987. BStU MfS HA XX/AKG 210. 195 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Wortwahl des MfS, das sich um einen „Mißbrauch“ des Kirchentages zu sorgen vorgab. Vgl. Pläne und Absichten zum Mißbrauch des Kirchentages der Evangelischen Kirche durch feindliche Personen aus der Hauptstadt 27.4.1987. BStU MfS BV Berlin Abt. XX 4902. Sowie: Pläne und Absichten zur Störung bzw. zum Mißbrauch des Kirchentages 1987 der Evangelischen Kirche in Berlin Brandenburg 12.5.1987. BStU MfS HA XX/ 4 2843. Siehe auch: Information der HA XX vom 11.8.1987 über beachtenswerte Aspekte zum „Kirchentag Berlin ’87“ der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (24.-28.6.1987). BStU MfS HA IX 4110. 196 Vgl. Bericht über den Kirchentag, in: Potsdamer Kirche 5.7.1987, S. 1. 197 Vgl. Operativinformation über Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte im Zusammenhang mit dem Kirchentag 1987 IM „Hermann Schneider“ 29.5.1987. BStU MfS BV Berlin Abt. XX 4902. 198 Information über die Zusammenkunft zwischen leitenden kirchlichen Amtsträgern des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR und der „Evangelischen Kirche in Deutschland“ (EKD) in der BRD am 23. Januar 1988 in der Hauptstadt der DDR, Berlin 8.2.1988. BStU MfS HA XX/4 3347.

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der DDR zugerechnet,199 wohingegen der evangelische Weißenseer Arbeitskreis oder der Redaktionskreis um die katholische Monatszeitschrift begegnung als staatsnah galten.200 Sie alle suchten gleichermaßen „nach neuen Wegen“.201 Was diese Gruppen miteinander verband, war ihr Wille zur Veränderung. In diesem Punkt unterschieden sie sich von den Kirchenleitungen. Zeitgenössisch und auch in der Forschung haben viele dieser Kreise große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Mit Blick auf die Mehrheit der Kirchenmitglieder scheinen sie zahlenmäßig aber nur begrenzt relevant zu sein, weshalb sie hier nicht näher betrachtet werden. Ihre Existenz weist aber auf ein Grundproblem der Kirchen in Ost-Berlin und in der DDR hin: Zur Frage stand nicht mehr nur, wie weit es den Kirchen gelingen konnte, in die Gesellschaft vorzudringen, sondern auch wie viel Raum oder welche Nischen diese Gesellschaft in den Kirchen erhalten sollte?202 Der Ost-Berliner Bischof Albrecht Schönherr antwortete darauf 1971 auf einer Bundessynode der evangelischen Kirchen in Eisenach, wo er die Formulierung „Kirche im Sozialismus“ prägte.203 Obwohl oft unterstellt wurde, dass diese Formel nicht umfassend oder einseitig interpretiert worden sei, gibt sie doch eindeutig Auskunft darüber, wo Schönherr seine Kirche verortet sah. Das galt nur begrenzt für die Kirchenbasis. Paul Plume zum Beispiel erläuterte, was Christsein in der „Kirche im Sozialismus“ für ihn bedeutete: „Jedenfalls waren wir nicht die Implementierten, die Gerngesehenen, die Christen, die Vorzeigeleute, sondern einfach die Anderen, manchmal die Meckerer, manchmal die Störenfriede, Fragesteller.“204 Der katholische Bischof Bengsch gab frühzeitig zu verstehen, dass er eine Öffnung der Kirchen, wie sie vor Schönherr schon andere ins Spiel gebracht hatten, äußerst skeptisch sah. Er bezeichnete den Wunsch der Kirchenmitglieder, ihre Umwelt mit Hilfe von Gesprächen, wissenschaftlichen Methoden und der Unterstützung von Experten erklären und verstehen zu wollen, als „Dialogbesoffenheit“.205 Jeder Versuch, das Verhalten der DDR-Regierung aus katholischer Per199 Vgl. Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 99–127. 200 „Diese Zeitschrift wird von den katholischen Laien für die katholische Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik herausgegeben.“ Zum Geleit, in: begegnung 1.10.1961, S. 1. Vom Berliner Bischof forderte die Zeitung ein „loyales Verhältnis zum sozialistischen Staat“. Bischof von Berlin, in: begegnung 1.10.1961, S. 23. 201 Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 29. 202 „Mit anderen Worten: Können wir uns getrost in den Sozialismus hinein auflösen oder haben wir eine unbedingte Botschaft auch für den Sozialismus.“ Bericht des Kreiskirchenrates zur Kreissynode [Kirchenkreis Weißensee] 15.5.1971. ELAB 86/240. 203 Vgl. Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 89. Siehe auch: Kleßmann: Zwei Staaten, S. 394–395. 204 Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 2. Vgl. Boyens: Gespräche im Schaufenster, S. 218. 205 Ehm: Die kleine Herde, S. 103. Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 249.

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spektive rationalisieren zu wollen, müsse zum Scheitern verurteilt sein. Trotzdem reagierte der katholische Episkopat auf die veränderten Erwartungen der Kirchenmitglieder: Das karitative Angebot wurde – im Rahmen der staatlich begrenzten Möglichkeiten – sukzessive ausgebaut. Dazu zählte vor allem die Arbeit mit behinderten Menschen, an der die DDR-Regierung kein Interesse hatte, weshalb die Kirchen dieses Handlungsfeld besetzen konnten. Das galt auch für Altenheime oder den Bereich der Suchthilfe. So unterhielt die katholische Kirche eine eigene Arbeitsstelle für an Alkoholismus erkrankte Personen, die dem sozialistischen Idealbild eines Menschen nicht entsprachen.206 In der evangelischen Kirche entstanden vergleichbare Initiativen. Anlass dafür stellte, wie im Kirchenkreis Berlin Stadt I, unter anderem die Verfasstheit der eigenen Kirchhofmitarbeiter dar: „Besondere Nöte verursacht ein grösserer Teil der Kirchhofsarbeiter, die nur an einzelnen Stellen voll einsatzbereit und in ihrer Zugehörigkeit beständig sind. Neigung zum Trunk ist oft zu beobachten und nötigt oft zum Einsatz eines sachkundigen Fürsorgers.“207 Die Notwendigkeit, die die christlichen Kirchen der Auseinandersetzung mit Alkoholismus in der DDR beimaßen, schlug sich nicht zuletzt darin nieder, dass die evangelischen Kirchen in der DDR 1987 beschlossen, neben Wein auch alkoholfreie Getränke beim Abendmahl auszuteilen, um so auch alkoholkranken oder gefährdeten Kirchenmitgliedern die Teilnahme daran zu ermöglichen.208

Nichtchristen in kirchlichen Räumen Selbsthilfegruppen, Friedensinitiativen oder Offene Jugendarbeit – all diese Formate führten dazu, dass Kirchenmitglieder zunehmend gefordert waren, sich innerhalb kirchlicher Räume mit nichtchristlichen Personen auseinanderzusetzen. Die Reaktionen auf diese Veränderung fielen unterschiedlich aus. Während die Öffnung der Kirchen für viele Mitglieder keine existentielle Bedrohung darstellte, fürchteten andere ein Elitenprojekt, das kirchliche Belange verwässerte und Auflösungserscheinungen nach sich ziehen würde. Das Hauptproblem war, dass die Gemeinden schrumpften, potenzielle Neumitglieder sich aber nur begrenzt in die traditionellen Gemeinschaften einfügen wollten und konnten. 206 Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 3. 207 Bericht über die Tätigkeit des Superintendenten Brix in der Zeit vom 1.5.1960 bis voraussichtlich zum 31.8.1975 auf Anfordern des Kreiskirchenrates Berlin Stadt I. ELAB 35/7367. In der Jungen Gemeinde war Alkohol beziehungsweise Alkoholmissbrauch ebenfalls ein wichtiges Thema. Vgl. Ohne Gängelei und Druck. Dr. Friedrich Winter zur Jugendarbeit, in: Potsdamer Kirche 30.11.1986, S. 6. 208 Vgl. Nun auch Traubensaft beim Abendmahl, in: Potsdamer Kirche 1.2.1987, S. 2.

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Ironisch kommentierte der Baptist Jörg Swoboda den Umgang der evangelischen Kirchen mit Nichtchristen in den eigenen Räumen: „In den evangelischen Kirchen der DDR sind Bemühungen erkennbar, die Grenzen der Kirchengemeinden nach außen zu versetzen. Wer kirchliche Veranstaltungen besucht und nicht widerspricht, wird quasi schon der Kirche zugerechnet.“209 Swoboda glaubte jedoch nicht daran, dass die Kirchen mit dieser Strategie langfristig Erfolg haben würden: Man bastelt an einem Konzept der abgestuften Kirchenmitgliedschaft, um so die Schwelle der Kirchentür abzuhobeln. Man glaubt, so Menschen in die Kirche eingemeinden zu sollen und zu dürfen, die zwar die Kirche als Freiraum in der Gesellschaft schätzen und den Pfarrer sympathisch finden, mit Jesus aber im Grunde nichts anzufangen wissen.210

Tatsächlich kam es immer wieder vor, dass Personen(gruppen), die zunächst freudig in den Gemeinden begrüßt worden waren, diese wenig später wieder verließen oder dazu gedrängt wurden, sie zu verlassen. Das Bedürfnis religiöser Gemeinschaften, sich von der sozialistischen Gesellschaft abzugrenzen, bedeutete im Umkehrschluss also nicht zwangsläufig, offen für Andere zu sein. Das galt auch für die sogenannten Gammler. Der Begriff Gammler wurde in den 1960er-Jahren geprägt und bezog sich auf jugendliche Personen, die bestimmte gesellschaftliche Konventionen ablehnten und als Unruhestifter bezeichnet wurden. Ihr nonkonformes Auftreten und die gerade in konservativen Kirchenkreisen unkonventionellen Ansichten der Gammler veranlassten viele Pfarrer bald dazu, sich von ihnen zu distanzieren. In der evangelischen St.-Bartholomäus Gemeinde in Berlin-Friedrichshain stellten Visitatoren deshalb zufrieden fest, dass „ein ganz verständiger Gesprächskreis entstanden war, [nachdem] man die ausgesprochenen Gammler allmählich hinauskomplimentiert hatte.“211 Die Gammler wurden aus amtskirchlicher Perspektive aber auch dann zum Problem, wenn das MfS den Aufenthalt dieser Personen in den Kirchengemeinden argwöhnisch kommentierte und zum Anlass nahm, Sanktionen anzustrengen. Der Baptist Siegfried Schmidtmann, von 1968 bis 1972 Jugendleiter der Offenen Jugendarbeit in Berlin-Köpenick, schilderte, wie 1968 Gammler in seine Gemeinde kamen. Die mit ihren langen Haaren auffälligen Jugendlichen waren von einem älteren Gemeindemitglied in den Gemeindekeller eingeladen worden. Im Zentrum der Aktivitäten stand das gemeinsame Singen, Tischtennisspielen und die Durchführung 209 Swoboda, Jörg: Baptistisches Selbstverständnis in sozialistischen Ländern Europas, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 374. 210 Ebenda, S. 374. 211 Visitation der Jungen Gemeinden Berlin Stadt I 1972. ELAB 35/7367.

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von Bibelstunden. Zwölf der Jugendlichen, erinnerte sich Siegfried Schmidtmann, entschlossen sich sogar zur Taufe.212 In der Gemeinde traf dieses Engagement auf ein geteiltes Echo. Das Aussehen und Verhalten der Jugendlichen weckte Vorbehalte: „Viele rümpften buchstäblich die Nase über den Zigarettenduft aus dem Keller, auch über diese Art von Jugendlichen, die nun auf dem Kapellengrundstück zahlreich anzutreffen waren. Sie […] hatten sich das Ergebnis einer Evangelisation so nicht vorgestellt.“ 213 Ein viel größeres Problem war jedoch, dass die Erfolge der baptistischen Jugendarbeit – zwischenzeitlich verkehrten bis zu 150 Jugendliche auf dem Gelände der Gemeinde – sich nachteilig auf einen staatlichen Jugendclub auswirkte. Dieser befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Gemeinde und wurde kaum mehr frequentiert. Staatliche Behörden übten deshalb Druck auf die Gemeindeleitung aus. Schmidtmann erhielt vom Gemeindeleiter schließlich die Weisung, dass „das mit den Gammlern sofort aufhören muss.“214 Der Gemeindeleiter befürchtete, die Gemeinde könne zur Auflösung gezwungen werden, wenn die Jugendarbeit in gleicher Weise fortgesetzt würde. Siegfried Schmidtmann sah keinen Handlungsspielraum: „Ich musste mich dem beugen und habe dann meine Funktion als Jugendleiter niedergelegt und die Arbeit ist dann auch bald eingeschlafen.“215 Aus Sicht des MfS sprach die Reaktion der Gemeindeleitung für sich. Der Hinweis darauf, dass es fremde Personen beziehungsweise Nichtchristen waren, die die Gemeinden in Misskredit bei staatlichen Organen brachten und die kirchliche Arbeit gefährdeten, wurde systematisch als Druckmittel eingesetzt, um oppositionelle Aktivitäten unter dem Dach der Kirchen zu unterbinden und die Kirchenleitungen auf Linie zu halten. Erleichtert wurde dem MfS die Arbeit dadurch, dass die Kirchenleitungen sich nicht eindeutig positionierten. Ihre Unsicherheit und ihre Vorbehalte im Umgang mit Anderen sowie die Furcht vor möglicher Rufschädigung machte es dem MfS leicht. Bei kirchlichen Veranstaltungen wurden Anwesende nicht nur registriert, sondern auch kategorisiert.216 In Gesprächen mit kirch212 Vgl. Interview mit Siegfried Schmidtmann 2005. OA, ohne Signatur, S. 7. An anderer Stelle schreibt Siegfried Schmidtmann, dass 9 Jugendliche getauft wurden. Vgl. Schmidtmann: Offene Jugendarbeit, S. 247. 213 Vgl. ebenda, S. 245. 214 Interview mit Siegfried Schmidtmann 2005. OA, ohne Signatur, S. 8. 215 Ebenda. Vgl. Schmidtmann: Offene Jugendarbeit, S. 244. Zur offenen Jugendarbeit in evangelischen Gemeinden in der DDR siehe auch: Le Grand: Gemeindealltag in Ost und West, S. 241– 242. 216 „Die übergroße Mehrzahl des Publikums war zwischen 25–35 Jahren alt. Der Kleidung nach zu urteilen, handelt es sich um Intellektuelle bzw. Typen aus dieser Szene, es herrschten Jeans und Bärte vor.“ IM-Bericht. Veranstaltung der ESG-Berlin 12.7.1979. BStU MfS BV Bln Abt. XX 5562. Üblich waren die Bezeichnungen „Kulturschaffende“ oder „Intellektuelle“ sowie „negativ-feindliche Kräfte“.

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lichen Vertretern wurde dann darauf hingewiesen, dass es häufig kirchenfremde Personen waren, die Unruhe stifteten und staatliche Behörden erst auf den Plan riefen. In einem Bericht über ein Punkkonzert der Band Spermaband auf dem Kirchentag von Unten wies das MfS darauf hin, dass die anwesenden Punker „Scheiß Christen! Scheiß Christen!“ gerufen hätten und von den Veranstaltern nur mit Mühe des Kirchengeländes hätten verwiesen werden können.217 Diese Darstellungen überzeugten zumindest Teile der Kirchenleitung. Der Ost-Berliner Superintendent Walter Delbrück erklärte: „Immer mehr Leute von außen drücken Probleme in die Kirche, die mit ihr eigentlich nichts zu tun haben, so daß die Kirche in die Situation kommt, missbraucht zu werden.“218 Allerdings fürchtete die evangelische Kirchenleitung in Ost-Berlin nicht nur politisierte, möglicherweise widerständige Jugendliche oder oppositionelle Gruppen, die sich unter ihrem Dach versammelten. Die Tatsache, dass immer mehr ungetaufte Kinder die Christenlehre besuchten oder am Religionsunterricht teilnahmen, wurde ebenfalls kritisch zur Kenntnis genommen. Dabei fällt auf, dass gerade diese Kinder von kirchlichen Mitarbeitern als „sozial auffällig“ beschrieben wurden. 219 Innerkirchlich wurde außerdem darüber diskutiert, ob diese Kinder sich später taufen lassen und sich in den Kirchen engagieren würden, was häufig bezweifelt wurde. Bei der durchaus betriebswirtschaftlich formulierten Frage, ob sich diese als Investition gedachten Tätigkeiten rentieren würden, ging es letztlich auch darum, ob es sich bei der Kinder- und Jugendarbeit um eine missionarische Aufgabe und religiöse Erziehung handelte oder diese dem Selbstverständnis nach eher einer Form von Sozialarbeit entsprach.220 Für die Kirchenleitungen galt: Mission sollte sein, aber nur dann, wenn sie die richtigen Personen ansprach. Potenzielle Unruhestifter, Menschen, die mit staatlichen Behörden in Konflikt geraten waren und Kinder, die schwierigen sozialen Verhältnissen entstammten, zählten offenbar nicht zu den Menschen, die die OstBerliner Kirchenleitungen gerne in ihren Räumen sahen. Die Leitungsebene der evangelischen Freikirchen befürchtete vor allem negative Konsequenzen, die sich aus der offenen Arbeit ergaben:

217 Bericht 27.6.1987. BStU MfS HA XX/4 2851. 218 Bericht 15.2.1988. BStU MfS HA XX/4 1452. 219 Ohne Gängelei und Druck. Dr. Friedrich Winter zur Jugendarbeit, in: Potsdamer Kirche 30.11.1986, S. 6. Vgl. Generalkirchenvisitation Weißensee 15.-23.5.1971. ELAB 86/214. Siehe auch: Generalsuperintendent von Eberswalde an den Kreiskirchenrat des Kirchenkreises Bernau 2.1.1974. ELAB 35/11521. 220 „Wieso sie zur Kirche kommen? [lacht] Naja, weil da gab’s Matchboxautos!“ Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 31. Vgl. Ungetauft beim Abendmahl?, in: Potsdamer Kirche 8.6.1986, S. 4–5.

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Weil sie eine Menge von frustrierten Nichtchristen anziehen, entsteht die Gefahr einer asymmetrischen Einstellung gegenüber der Gesellschaft in dem Sinne, daß das Staatsbürgersein als total negativ betrachtet und die Kirche in eine (diesmal nicht staatsverbundene, sondern antistaatliche) politische Bewegung verwandelt würde.221

Zwei Punkte beunruhigten die Kirchenleitenden: Zum einen die nicht kalkulierbare Wirkung auf die eigenen Mitglieder, was in der Sorge vor gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und religiöser Indifferenz zum Ausdruck kam, und zum anderen der Eindruck, der bei staatlichen Behörden entstehen konnte, die die Anwesenheit systemkritischer Akteure in kirchlichen Räumen überwachten und sanktionierten.222 Was von den meisten Kirchenmitgliedern hingegen selten reflektiert wurde, waren die Interessen der Nichtchristen. Der evangelische Pfarrer Linke wies darauf hin, dass auch „diejenigen, die in diesen Jahren die Räume der Kirchen füllten, sich nicht als Christen vereinnahmen, missionieren lassen wollten.“223 Vorbehalte gab es demnach auf beiden Seiten und die Beziehung zwischen Basisgruppen und Kirchengemeinden schien viel öfter einer Zwangsehe als einer Liebesheirat zu entsprechen. Das Problem der kirchlichen Standortunsicherheit kulminierte im Umgang der Kirchen mit Ausreisewilligen. Diese kamen in der Regel nicht in die Kirchen, weil sie sich für kirchliche Angelegenheiten interessierten oder um religiösen Beistand baten, sondern weil sie nach einem Forum suchten. Prälat Steinke schilderte, dass das veränderte Verhalten von Personen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, aus Sicht der Kirchenleitungen hoch problematisch war. Anders als die Amtskirchen hatten sie, so Steinke, anscheinend nichts mehr zu verlieren und äußerten sich dementsprechend ablehnend über staatliche Institutionen. Sie ignorierten den Fakt, dass sich die Kirchen – anders als einzelne Individuen – nicht aus ihrem Umfeld herauslösen konnten.224 Auf der persönlichen Ebene habe er viele Menschen verstanden, die sich dazu entschlossen hatten, die DDR zu verlassen. Steinke berichtete, dass er sich darum bemühte, Personen, die ihren Arbeitsplatz wegen eines Ausreiseantrags verloren hatten, bis zu ihrer Ausreise eine Anstellung bei der Kirche zu verschaffen.225 Offiziell sah Steinke aber davon ab, Ausreisewillige zu unterstützen, weil er seine Kirche vor staatlichen Sanktionen schützen wollte. Dieser Standpunkt wurde auch in der EKiBB vertreten. Konsistorialpräsident Manfred Stolpe erklärte, dass die Gemeinden Ausreisewillige seelsor221 222 223 224 225

Wolf: Wie verhält man sich, S. 38. Vgl. Graf: Die evangelischen Kirchen, S. 226 und S. 236. Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 74–77. Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 12–13. Vgl. ebenda, S. 4. Siehe auch: Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 11–12.

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gerlich begleiten könnten, sich darüber hinaus aber zurückhalten sollten. Die Kirche, meinte Stolpe, ist „kein Ausreisebüro“.226 Radikaler äußerte sich eine Gruppe progressiver Christen, die 1988 einen offenen Brief an den Ost-Berliner Bischof Forck schrieb: Wenn sich die Kirche als eigenständige gesellschaftliche Kraft, als Forum für Aussteiger und Auswanderer zu profilieren sucht, müssen wir widersprechen. Die Kirche ist weder dazu berufen, die bestehende Gesellschaftsordnung zu rechtfertigen, noch die Kritiker des Sozialismus in ihrer Kritik zu bestätigen. Vor allem kann die Kirche nicht „die Gegenseite“ sein, auf die solche überlaufen, die sich vom Sozialismus abgewandt haben und ihn nun untergraben wollen.227

Der Arbeitskreis evangelischer Seelsorger bei der Generalsuperintendentur Berlin war der Ansicht, dass Stolpe und andere Personen der Kirchenleitung eine wesentliche Tatsache verkannten: Viele Antragsteller sprachen Probleme an, die auch Kirchenmitglieder betrafen, die in Ost-Berlin und der DDR bleiben wollten: Wehrdienst und Wehrkundeunterricht oder die Verhinderung freier Wahlen, fehlende Pressefreiheit und die eklatante Mangelwirtschaft beschäftigten nicht nur Personen, die das Land verlassen wollten.228 Dieser Fakt könne nicht einfach ignoriert werden. Stattdessen sollte sich die Berliner Kirchenleitung darüber Gedanken machen, was sie einerseits unternehmen könne, um die Menschen langfristig zu halten. Andererseits erklärte der Arbeitskreis „muß sehr bald Klarheit darüber herbeigeführt werden, daß die Kirche weder eine Agentur für Ausbürgerung noch eine Beschwerdestelle ist und sein kann. Die Kirche kann aber auch nicht die Rolle einer moralischen Instanz spielen; deshalb werden sich die Seelsorger einer Be-

226 „Wir brauchen die Kultur des Meinungsstreits“, in: Der Spiegel 14.2.1988, https://www.spiegel.de/politik/wir-brauchen-die-kultur-des-meinungsstreits-a-5aac6fb7-0002-0001-0000000013527789?context=issue [9.1.2023]. 227 Gerhard Bassarak, Hanfried Müller, Rosemarie Müller-Streisand u. a. an Bischof Forck 7.2.1988, abgedruckt in: Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 145. 228 Seelsorge an Antragstellern. Erfahrungen und Überlegungen 8.9.1988. LA Rep 002/14277. Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 12. Sowie: Interview mit Siegfried Rosemann 2001, OA, ohne Signatur, S. 4. Wahlboykott gehörte zu den Formen des Widerstands, der sowohl für kirchliche Laien als auch Geistliche in seiner Bedeutung oftmals hoch eingeschätzt wurde, sofern es sich nicht um Mitglieder der CDU handelte. Vgl. Interview mit Wolfgang Ruß 2003, OA, ohne Signatur, S. 10–11. Oder: Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 17–18. Anders verhielt es sich mit der Wehrpflicht. Der Wehrdienst wurde durchaus ambivalent beurteilt, oft ablehnend, zuweilen aber auch positiv. Vgl. Gratz, Dietmar: Mein Dienst in der Nationalen Volksarmee der DDR, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 260.

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wertung oder gar Verurteilung der Antragssteller versagen.“229 Andernfalls drohe den Kirchen ein massiver Reputationsschaden. Mit Blick auf die Ausreisewilligen war die Kirchenbasis ähnlich gespalten wie die Amtskirche. Neben zugeneigten Gemeindemitgliedern, die Verständnis für eine solche Entscheidung äußerten, gab es Christen, die sich distanzierten und deutlich machten, dass sie die Beweggründe nicht nachvollziehen konnten. Die Antragsstellenden wurden als Andere markiert. Für manchen Gemeindekirchenrat wog der Verlust eines Pfarrers stärker als die Systemfrage. Nachdem der Pfarrer Wolfgang Schulz 1989 mit seiner Ehefrau und Tochter über Ungarn in die Bundesrepublik geflohen war, erhielt er vom Superintendenten aus Wusterhausen einen Brief, in dem dieser die Reaktionen auf Schulzes Weggang mit eigenen Worten zusammenfasste: Allerdings ist ihre Flucht hier mit der Flucht des Mietlings aus dem Evangelium verglichen worden, der seine Herde im Stich läßt, wenn er den Wolf kommen sieht. […] Ich möchte dazu dies bemerken: Ich meine, daß die Solidarität mit den Schwachen, mit Alten und Wehrlosen entscheidend ist. Wer diese Solidarität nicht aufbringen kann, aus welchen Gründen auch immer, wer Alte, Wehrlose, Behinderte im Stich läßt, sollte seine Berufung als Arzt oder Pastor aufgeben. Korczak ist mit den Kindern in die Gaskammer gegangen.230

Der Superintendent nahm mit diesem drastischen Vergleich keineswegs Anstoß daran, dass Schulze Kritik an den vorherrschenden Umständen geübt hatte, sondern er geißelte seinen Umgang damit. Viele Kirchenmitglieder, die sich auf diese Weise von den Ausreisewilligen distanzierten, wollten die Verhältnisse in der DDR verändern und reagierten deshalb mit Unverständnis. Das Diakonische Werk appellierte noch 1989 in einem offenen Brief an das Solidaritätsempfinden seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Er war mit den vorwurfsvollen Worten überschrieben: „Wer weggeht, enttäuscht Menschen.“231 Obwohl von den Kirchenleitungen nicht intendiert, sorgten Ausreisende, die sich letztlich in einer überschaubaren Zahl evangelischer Leuchtturmgemeinden mit engagierten Pfarrern sammelten, dafür, dass die Kirchen als Institutionen wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein rückten.232 Die Feststellung der Kirchen-

229 Seelsorge an Antragsstellern. Erfahrungen und Überlegungen 8.9.1988. LA Rep 002/14277. 230 Superintendent an Wolfgang Schulz 18.12.1989, abgedruckt in: Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist“, S. 170. 231 Wer weggeht, enttäuscht Menschen, in: Potsdamer Kirche 6.8.1988, S. 4. 232 Für die Ausreisenden wichtige Gemeinden in Ost-Berlin waren unter anderem die Samaritergemeinde, die Sophiengemeinde und die Zionskirche. Vgl. Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 116.

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Kapitel 4: Entflechtung

zeitung Potsdamer Kirche von 1987, wonach „Kirche im Leben des ‚normalen‘ DDR-Bürgers kaum noch vorkommt“ war überholt.233 Die westlichen Medien berichteten ausführlich über diese Gemeinden und die dort tätigen Pfarrer.234 Und das, obwohl die Botschaft der Ausreisewilligen, wie geschildert, oft im Widerspruch zu den persönlichen Überzeugungen vieler Kirchenmitglieder stand. Beispielhaft dafür ist der Kommentar eines evangelischen Gemeindemitglieds aus Luckenwalde. A. R. hatte Ende der 1980er-Jahre die OstBerliner Sophienkirche besucht: „Die Kirche war rappelvoll von […] Ausreisewilligen, die also überhaupt nichts mit der Kirche zu tun hatten.“235 A. R. erläuterte, dass sich die Luckenwalder durchaus für die Belange der Personen, die Ausreiseanträge gestellt hatten, interessierten, aber er betonte auch, dass sie sich nicht mit ihnen identifizierten. Diesen Eindruck teilte der katholische Weihbischof Weider: „Und es kamen dann eben viele Leute, die eigentlich mit Kirche gar nichts am Hut hatten, aber die die Kirche als Brücke brauchten, um ihren Protest gegen […] den Staat auszudrücken.“236 A. R. zog daraus den Schluss, die Ausreisewilligen nicht als Teil der eigentlichen Religionsgemeinschaft anzusehen: Aus seiner Sicht war ihnen die Zugehörigkeit zur Kirche allein deswegen abzusprechen, weil sie tradierte kirchliche Praktiken offensichtlich nicht kannten beziehungsweise nicht zelebrierten.237 Aufgrund des äußeren Drucks hatten sich die Gemeinden in den 1960er-Jahren immer stärker in den innerkirchlichen Bereich und private Räume zurückgezogen. Dieser Rückzug bedeutete gleichzeitig eine Stabilisierung, da sich relativ exklusive Gruppen bildeten, die den innerkirchlichen Zusammenhalt stärkten. Ihr symbolischer Orientierungspunkt war das urchristliche Bild von der Kirche als Familie.238 Vor dem Hintergrund der politischen Entspannung im Ost-West-Konflikt gab es aus diesen Gruppen heraus schließlich Impulse, die Kirchen inhaltlich und personell wieder zu öffnen. Basisgruppen entdeckten alternative Handlungsfelder, die kirchliche Initiativen auch außerhalb des eigenen Mitgliederkreises interessant und anschlussfähig machten. Diesen Prozess einer neuerlichen Politisierung von außen begleiteten die Kirchenleitungen skeptisch. Sie fürchteten einen Kontrollverlust und das Auseinanderbrechen der politisch gespaltenen Gemeinden sowie Sanktionen staatlicher Behörden. Differenzierung deuteten sie folglich als Auflösungserscheinung und Angriffsfläche. In den 1990er-Jahren wurde der evangelischen Kirche in der DDR die Rolle zugeschrieben, Hort der Opposition gewesen zu 233 234 235 236 237 238

Sprechende Bilder, in: Potsdamer Kirche 2.8.1987, S. 1. Vgl. Pubertäre Reaktion, in: Der SPIEGEL 30.11.1987, S. 29–30. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 18. Interview mit Weihbischof Weider 3.4.2017, S. 11. Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 18. Siehe auch: Henkys: Gottes Volk im Sozialismus, S. 82. Vgl. Interview mit Herbert Morét. OA, ohne Signatur, S. 23.

4.2 Wahlmöglichkeiten: Reformen in West-Berlin 

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sein. Doch offenbar hatte sie diese Rolle nur widerwillig angenommen und begrenzt ausgefüllt. Das politische System der DDR bildete den Rahmen und auch den Grund für viele Entwicklungen in den ostdeutschen Kirchen. Gleichzeitig gab es Generationskonflikte, die systemübergreifend auftraten. Auch sie veränderten das kirchliche Leben nachhaltig.

4.2 Wahlmöglichkeiten: Reformen in West-Berlin Seit den 1960er-Jahren entstanden in Ost- und West-Berlin neue Wohnviertel. Riesige Trabantenstädte für mehrere tausend Bewohner wuchsen an den Rändern der geteilten Stadt empor. In Ost-Berlin unternahmen die Kirchen enorme Anstrengungen, um entgegen der Staatsdoktrin den Bau von Kirchen und Gemeindezentren in diesen Siedlungen zu verwirklichen und kirchliche Arbeit zu gewährleisten. Sie erhielten finanzielle und materielle Unterstützung vor allem aus der Bundesrepublik. In West-Berlin hingegen war das keineswegs selbstverständlich. Wenn es um Berlin ging, dann konzentrierte sich auch der westliche Blick auf OstBerlin, wodurch der Westteil der Stadt immer häufiger übersehen wurde. Zwar gab es in West-Berlin keine politischen Bedenken gegen die Errichtung kirchlicher Gebäude und es entstanden bald Gemeinden zwischen den neu errichteten Wohnblöcken. 239 Doch Kosten und Nutzen dieser Investitionen wurden umso kritischer abgewogen.240 Meist mit dem Ergebnis, dass der finanzielle Aufwand zu groß, der Personalmangel zu belastend und die Mitgliederverluste zu gravierend seien, um die kirchliche Infrastruktur weiter auszubauen. Die Gemeinden wurden regelmäßig dazu angehalten, ihre Angebote einzuschränken und die Personalkosten zu senken.241 An der Kirchenbasis regte sich nicht nur gegen diesen Sparkurs Widerstand. Laienmitglieder fragten nach Alternativen zu andauernden Kürzungen und brach239 Zusammenfassend lassen sich die Kontakte zwischen den Kirchen in West-Berlin und dem Berliner Senat als relativ konfliktarm beschreiben. 1970 unterzeichneten Generalvikar Walter Adolph und der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz ein „Abschließendes Protokoll“, dass die Beziehungen zwischen dem Bistum und dem Land Berlin regelte. Ein vergleichbares Dokument signierte auch der West-Berliner Bischof Kurt Scharf. Vgl. Hanky: Im Zeichen des Kreuzes, S. 117. Siehe auch: Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 18–19. Sowie: Simon: Kirche in der Stadt, S. 127. 240 Grußwort des Pfarrers Günter Renner, in: Der gerade Weg. Pfarrnachrichten der St.-Dominicus-Gemeinde 1.9.1968, abgedruckt in: Chronik der katholischen Gemeinde St. Dominicus in der Gropiusstadt (1968), aufgezeichnet von Norbert Blach, Berlin 2005, S. 6–7. 241 Vgl. Berlins evangelische Kirche vor der Finanzkrise, in: Berliner Morgenpost 6.8.1988, S. 27. Siehe auch: Le Grand: Gemeindealltag in Ost und West, S. 251.

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ten eigene Initiativen auf den Weg. Sie forderten Reformen und verlangten Mitspracherechte. Viele drohten aus der Kirche auszutreten, sollten ihnen Partizipationsmöglichkeiten verwehrt bleiben. Tatsächlich sanken die Mitgliederzahlen vor allem in der evangelischen Kirche rapide.242 Im Zuge dieser innerkirchlichen Demokratisierungsbestrebungen wurde die Frage nach dem Standpunkt der West-Berliner Kirchen in der Gesellschaft mitverhandelt: Wie politisch sollte Kirche sein? Die Meinungen darüber gingen auf allen Ebenen weit auseinander. Auch in den Kirchen war das gesamte politische Spektrum vertreten.243 Massive Konflikte waren die Folge. Doch schufen diese Auseinandersetzungen Raum für Neues: Richtungsstreitigkeiten ermöglichten und Skandale verlangten einen Kurswechsel. Die West-Berliner Kirchen avancierten zu einem Labor, in dem mit verschiedenen Modellen experimentiert wurde.244

Leben auf der Insel West-Berlin Spätestens nach der Bischofswahl 1972 und der Spaltung der evangelischen Kirche in eine Ost- und Westregion war nicht länger zu leugnen, dass auch die Kirchenmitglieder endgültig auf der Insel West-Berlin gestrandet waren.245 Die Katholiken hielten formell freilich an der Einheit des Bistums fest. Im kirchlichen Alltag spielte diese de facto aber allenfalls noch eine untergeordnete Rolle. Eine besondere Belastung für alle Bewohner stellte hingegen der nach wie vor ungeklärte völkerrechtliche Status West-Berlins dar. Das Viermächteabkommen 1971 hatte zwar den bisherigen Status festgeschrieben und praktische Erleichterungen ermöglicht, das änderte aber nichts daran, dass der Eindruck eines Provisoriums haften blieb. Vor diesem Hintergrund entfalteten sich in der Stadt ganz eigene Dynamiken. Entfernt von der Bundesrepublik, umgeben von der DDR entstanden Freiräume an einem letztlich doch immer überschaubaren Ort. Diese räumliche Enge prägte das städtische Leben und damit auch den kirchlichen Alltag.246 Zweifellos war die Stadt mit charakteristischen Problemen der urbanen Mo-

242 1969 traten 9.000 Personen aus der evangelischen Kirche in West-Berlin aus. 1970 waren es knapp 28.000 Menschen. Vgl. Fitschen: Berliner Kirchengeschichte, S. 146. 243 Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 130. 244 Vgl. Schwane, Daniel: Das „Laboratorium“ West-Berlin: Hansjakob Stehle und die Passierscheinverhandlungen 1962/63, in: Lemke, Michael (Hrsg.): Schaufenster der Systemkonkurrenz. Die Region Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 85–106. 245 Zum Begriff der Insel vgl. Eisenhuth/Sabrow: „West-Berlin“, S. 8–10. 246 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 159.

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derne konfrontiert: Anonymität, Isolation, Vereinzelung.247 Trotzdem war WestBerlin immer etwas weniger Weltstadt und etwas mehr Provinz.248 Immer wieder war zu hören, dass sich die Lebensbedingungen in der Stadt verschlechterten, was mit einer zunehmenden Perspektivlosigkeit im Hinblick auf das eigene Leben einherging. Vor allem in der Stadtentwicklung offenbarten sich Defizite. Einerseits drohten ganze Kieze zu verfallen und es mangelte an Wohnraum. Andererseits entstanden neue Stadtteile, die aufgrund ihrer eindimensionalen Funktionalität neue Probleme generierten. In sanierungsbedürftigen Innenstadtbereichen witterten Investoren günstigen Baugrund und forderten Kahlschlagsanierungen, oftmals unterstützt von korrupten Lokalpolitikerinnen und -politikern.249 Den Plänen widersetzte sich eine erstarkende und sich zunehmend radikalisierende Hausbesetzerszene, was zu gewaltvollen Protestaktionen und einer verschärften Innenpolitik führte. Zudem stieg die Arbeitslosenrate. Unternehmen zogen sich aus West-Berlin zurück, ohne dass sich neue Firmen ansiedelten.250 Leerstehende Gebäude und Brachen prägten das Stadtbild. Obwohl die Nahtstelle der Systeme in West-Berlin immer sichtbar war, „traten die Mauer und die hieraus resultierenden Probleme [im Alltag der Stadtbevölkerung] hinter andere Fragen zurück.“251 Die Stadtentwicklung ging nicht ohne gesellschaftliche Folgen einher. Für die Einen war West-Berlin „Insel der Glücklichen“, weil der Verfall eine zuweilen regelrecht dekadente, aber kreativ genutzte Untergangsstimmung hervorrief in der Kulturprojekte prosperierten.252 Die Anderen brachte der Zerfall in eine prekäre Lage. Sie waren von Arbeitslosigkeit und Armut bedroht, während die Kriminalitätsrate stieg.253 Dazu kamen eine hohe Zahl an Ehescheidungen sowie Probleme in den Familien.254 Viele Bewohner West-Berlins sahen einen direkten Zusammenhang zwischen der Stadtentwicklung und der sozialen Situation der Stadt. Im Kirchenkreis Kölln wurden die stadtplanerischen Veränderungen entsprechend kritisch gesehen: „Durch die Sanierung besteht die Gefahr, daß Teile Kreuzbergs zum Ghetto für 247 Vgl. Simon: Kirche in der Stadt, S. 73. 248 Vgl. Der ausgeschlossene Dialog, in: Der CHRIST 25.9.1970, S. 3. 249 Vgl. Rott: Die Insel, S. 377–384. 250 Vgl. Kotowski, Georg: Geschichte Berlins seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Langguth, Gerd (Hrsg.): Berlin: Vom Brennpunkt der Teilung zur Brücke der Einheit, Bonn 1990, S. 57. 251 Halbrock: Zwischen Himmel und Mauer, S. 323. 252 Vgl. Schilling, Kerstin: Insel der Glücklichen. Generation West-Berlin, Berlin 2004. 253 Vgl. Entwicklung der Drogenszene in Neukölln 1974. ELAB 36/527. Siehe auch: Eisenhuth/Sabrow: „West-Berlin“, S. 15. 254 Vgl. Erste Bilanz des Evangelischen Zentrums BBR. (Haus der Mitte) 1.7.1971–25.6.1972. ELAB 36/527.

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Ausländer und zum Slum werden für die, die an der Leistungsgesellschaft scheitern.“255 Die Kirchen, aber auch die großen Tageszeitungen in West-Berlin und der Bundesrepublik zeichneten ein düsteres Bild von der Gesamtsituation. Die Stadt, die vor allem Wehrdienstverweigerer und Studierende aus der Bundesrepublik als Zufluchtsort bezeichneten, litt dabei auch unter dem Wegzug von Einwohnern der mittleren Alterskohorten, was in summa eine Überalterung der Bevölkerung nach sich zog und die Berliner Kirchengemeinden weiter schrumpften ließ.256 „Die Gemeinden“, so Generalsuperintendent Hans-Martin Helbich 1969 „spiegeln das Bild unserer Stadt wider: Zumeist sind es alte Menschen. Ein geringer Prozentsatz Jugendlicher. Aber das sog. ‚Mittelalter‘ fehlt weithin.“257 Aus dieser Ausgangssituation ergaben sich vor allem seelsorgerliche Aufgaben in der kirchlichen Arbeit. Zur Situation in der evangelischen Friedenskirchgemeinde in Berlin-Westend bemerkten Visitatoren: „Nicht genug, daß die Gemeinde völlig überaltert ist; sie besteht in ihrer sozialen Struktur überwiegend aus Arbeitern und Rentnern, denen es oft schwerfällt, sich in dem totalen Umwandlungsprozeß des Wohnungssanierungsprogrammes zurecht zu finden.“258 Neben der Überalterung der Gemeinden zeitigte der Wegzug vieler Kirchenmitglieder Effekte. Die Gemeinden befanden sich immer häufiger in einer bis dahin unbekannten Minderheitensituation, weil sich die soziale Zusammensetzung innerhalb ihrer Einzugsgebiete stark veränderte. Vor allem in sanierungsbedürftigen Kiezen übernahmen nichtchristliche Mieterinnen und Mieter die Wohnungen vormaliger Gemeindemitglieder.259 Der Rat der EKD stellte 1980 fest, dass in Berlin-Kreuzberg „das Zerbrechen der volkskirchlichen Strukturen […] als exemplarisch für Großstadtgebiete in vergleichbarer Situation anzusehen ist.“260

255 Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über das Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt Dezember 1973 – Oktober 1974 – Bericht. ELAB 36/524. 256 Die evangelisch-freikirchliche Gemeinde in Berlin-Neukölln verließen 1961 36 Mitglieder aufgrund eines Wegzugs in die Bundesrepublik. 1962 waren es 23 und 1963 11 Personen. Vgl. Prescher, Dietrich: Gemeinde in der Welt. Eine Zeitgeschichte. Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde BerlinNeukölln 1905–2005, S. 25. 257 Bescheid über die Generalkirchenvisitation im Kirchenkreis Steglitz vom 23.10. bis 28.11.1969 von Generalsuperintendent Hans-Martin Helbich. 1/7377. Vgl. Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über das Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt, Dezember 1973 – Oktober 1974 – Bericht. ELAB 36/524. 258 Kreiskirchenvisitation in der Friedenskirchgemeinde im Kirchenkreis Berlin Stadt IIIa vom 2.-9.11.1969. ELAB 1.2/4294. 259 Vgl. Duntze, Klaus: Die Ev. Kirche in Berlin (West). Situation und Aufgabe in der Stadt. Aspekte zur Gemeinde- und Gemeinwesensarbeit, in: Theologia Practica 3/4 (1981), S. 79. 260 Duntze: Die Ev. Kirche in Berlin (West), S. 78.

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Da die Integration nichtchristlicher Migranten aus dem Ausland in die Stadtbevölkerung oftmals fehlschlug, entstanden neue Konfliktherde.261 Nach einem Besuch im Kreuzberger Katechetenkonvent notierten Visitatoren: „Durch mehrere Berichte zieht sich als roter Faden das ‚Ausländerproblem‘.“ 262 Die Katecheten beobachteten eine zunehmende Ausländerfeindlichkeit deutscher Jugendlicher gegenüber „ausländischen, nicht-christlichen Schülern“. 263 Ebenso wurde „unter den Senioren eine militante Ausländerfeindlichkeit“ festgestellt, die jegliche Dialogversuche zum Scheitern verurteilt habe.264 Bewusst auf Verständigung ausgerichtete Veranstaltungen nahmen die kirchlichen Mitarbeiter vor Ort ebenfalls ambivalent wahr: „Deutsch-Türkische Straßenfeste […] werden von deutschen Kreuzberger Bürgern nicht besucht. Von den Deutschen geht dort nur die Berliner Sozial-Schickeria hin.“265 Die Probleme der türkischen Bewohner seien für diese Personen nur dann interessant, wenn sie einer besseren Außenwirkung dienten. Es gelänge zudem nicht, gute Erfahrungen auf der nachbarschaftlichen Ebene auf die städtische Gesellschaft zu übertragen. Integrationsschwierigkeiten gab es jedoch nicht nur im Hinblick auf muslimische Migranten. Das West-Berliner Ordinariat stellte fest, dass die katholischen Arbeitsmigranten – ca. 15,5 Prozent der West-Berliner Katholiken waren Ausländer – nur schwer einen Zugang in die Berliner Gemeinden fanden. Erich Klausener jun. mahnte daher im Petrusblatt an, „auch in diesem Punkt Wege zu einer besser gelebten Gemeinschaft in der Kirche zu suchen.“266

Kirchlicher Alltag in West-Berlin nach dem Mauerbau Die gesellschaftlichen Veränderungen brachten ein Konglomerat an Herausforderungen mit sich, die alle ineinander wirkten. Die Reaktionen darauf fielen unterschiedlich aus: Manche Kerngemeinden resignierten, zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück und konzentrierten sich auf kirchliche Kernthemen. Sie suchten keinen Austausch mit ihrer Umgebung und schotteten sich ab. Andere Gemeinden analysierten die Probleme sehr genau und versuchten Lösungsstrategien zu entwickeln. Aufgrund komplexer Situationen und fehlender Unterstützung von Kirchen261 Vgl. Duntze: Die Ev. Kirche in Berlin (West), S. 87. 262 Bericht über die Visitation des Kirchenkreises Kreuzberg vom 19.-26.9.1982. ELAB 36/524. 263 Ebenda. 264 Ebenda. Siehe auch: Gesprächsprotokoll der Sitzung des Visitationskollegiums „Haus der Mitte“ 2.7.1975. ELAB 36/527. 265 Bericht über die Visitation des Kirchenkreises Kreuzberg vom 19.-26.9.1982. ELAB 36/524. 266 Klausener [jun.] fordert brüderliche Hilfe, in: Petrusblatt 24.10.1969, S. 5. Vgl. Simon: Kirche in der Stadt, S. 75 und S. 130.

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leitungen und politischen Stellen waren sie jedoch besonders häufig mit Überforderung sowie internen Meinungs- und Machtkämpfen konfrontiert. Unsicherheit herrschte in allen Gemeinden im Hinblick auf Fragen der Qualifikation und Zuständigkeit bei der Problembewältigung, wie eine evangelische Visitationskommission im Kirchenkreis Kölln-Stadt Mitte der 1970er-Jahre feststellte: „Es gibt Unterschiede in der Einschätzung einzelner Bevölkerungsgruppen in der Gropiusstadt sowie in den Ansichten über eine theologisch und politisch verantwortbare Antwort darauf.“267 Schließlich gab es Gemeinden, deren Gemeindegebiete nicht direkt von Veränderungen betroffen waren. Sie reagierten in aller Regel distanziert, um zu verhindern, dass die Probleme anderer Gemeinden zu ihren eigenen wurden. Das entsprach einer Handlungsstrategie, die sich auch in Ost-Berlin nachweisen ließ.268 Das katholische Ordinariat in West-Berlin sah in dieser Fragmentierung ein Problem. Die Kirchenleitung appellierte daher an alle Gemeinden, die Widerstandsfähigkeit der katholischen Gemeinschaft West-Berlins insgesamt zu stärken. Die Insel West-Berlin sollte dem katholischen Selbstverständnis nach ein Bollwerk gegen den Atheismus sein, der als Feind nicht länger nur in der DDR verortet wurde.269 Es galt daher neue, gemeinschaftsstiftende Narrative zu finden beziehungsweise alte Narrative neu zu interpretieren: Nun waren es nicht mehr die Ost- und West-Berliner Katholiken, die daran erinnert werden mussten, eine Einheit zu bilden, sondern einzelne katholische Gruppierungen innerhalb des Westteils, deren Zusammenhalt gefährdet war. Diesem Vorhaben stand jedoch die Tatsache entgegen, dass die West-Berliner Gemeinden generell meist nur lose miteinander verbunden waren und untereinander selten Kontakte pflegten, die über persönliche Beziehungen hinausgingen. Zwar führte die Vereinzelung im besten Fall dazu, dass sich Pfarrbezirke selbstständig und ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend entwickeln konnten. Trotzdem waren auch negative Folgen zu beobachten.270 In Kreuzberg bemerkten evangelische Visitatoren „einen starken Selbstbehauptungswillen der einzelnen Gemeinden, der die Tendenz zum Egoismus hat. Das hat positive und negative Züge.

267 Erste Bilanz des Evangelischen Zentrums BBR. (Haus der Mitte) 1.7.1971–25.6.1972. ELAB 36/ 527. Vgl. Duntze: Die Ev. Kirche in Berlin (West), S. 80. 268 Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über das Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt, Dezember 1973 – Oktober 1974 – Bericht. ELAB 36/524. 269 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 64. 270 Vgl. Bericht über das Ergebnis der Visitation in der Gemeinde Dahlem in der Zeit vom 14.21.6.1964. ELAB 1/8519.

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Aber im Konfliktfall wird es schwierig.“271 Das hieß nichts anderes, als dass sich Gemeinden im Zweifelsfall ignorierten oder als Konkurrenten und nicht als Verbündete wahrnahmen. Die Gemeinden selbst machten dafür oftmals die Kirchenleitungen verantwortlich: Sie fühlten sich von diesen allein gelassen und deshalb unfähig, Kontakte nach außen zu pflegen oder aufzubauen.272 Implizit verwiesen die Gemeinden mit solchen Verlautbarungen auch auf Priorisierungen innerhalb der West-Berliner Kirchen, die sie als ungerecht wahrnahmen. So existierten in manchen Dekanaten oder Kirchenkreisen wie dem Kirchenkreis Neukölln reiche Gemeinden mit eigenen Liegenschaften neben armen Gemeinden, die auf Zuzahlungen angewiesen waren. Die St. Dominicus-Gemeinde in der Gropiusstadt zählte zu letzteren. Ihr Pfarrer hielt 1968 Bettelpredigten in der wohlhabenden Gemeinde St. Ludwig in Wilmersdorf.273 Dort sammelte er Spenden für den Kirchenbau in seiner eigenen Gemeinde.274 Der finanzielle Zustand der Gemeinden gab zudem oft Auskunft über die Zusammensetzung der Mitglieder.275 Eine Vermischung verschiedener sozialer Gruppen fand selten statt. Nach einer Visitation in Kreuzberg forderte der evangelische Bischof in West-Berlin Martin Kruse deshalb: „Die Zusammenarbeit zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, Ausländern und Deutschen, Arbeitslosen und Beschäftigten muß gefördert werden, muß immer wieder durch neue Ideen belebt werden.“276 Überdies machten Gemeinden mit relativ geringen Mitgliederzahlen die Erfahrung, dass der Zusammenhalt dort besser funktionierte als in vielen Großgemeinden, die bis zu 10.000 Mitglieder und mehr verzeichneten. Die Jerusalemsund Neue Kirchengemeinde in Berlin-Kreuzberg zum Beispiel zählte 1970 nur 700 Mitglieder. Diese überschaubare Anzahl ermöglichte es, ohne viel Aufwand Gemeindemitglieder in schriftlicher oder mündlicher Form persönlich zu Gottesdiensten und Gemeindeveranstaltungen einzuladen. Der Erfolg dieser Bemühungen sprach für sich. Die Gemeinde galt als ausgesprochen lebendig und engagiert: „Man ist sich,“ notierte ein Visitator 1970, „des familiären Charakters der kleinen Gemeinde als eines großen Vorzugs bewußt und nutzt die damit gegebenen Chan271 Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über das Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt, Dezember 1973 – Oktober 1974 – Bericht. ELAB 36/524. 272 Vgl. Bericht über die Visitation der Gemeinde zum Heiligen Kreuz vom 19. bis 26.9.1982. ELAB 36/524. 273 Bei Bettelpredigten handelt es sich um eine tradierte Praxis in der katholischen Kirche, die unter anderem dazu dient, Spenden für den Bau neuer Kirchen zu sammeln. 274 Vgl. Chronik der katholischen Gemeinde St. Dominicus in der Gropiusstadt (1968), S. 11. 275 Vgl. Kreiskirchenrat des Kirchenkreises Neukölln schreibt am 21.1.1976 an den Visitationsausschuss Martin-Luther z. H. von Herrn Propst Dr. Dittmann. ELAB 36/526. 276 Bericht über die Visitation der Gemeinde zum Heiligen Kreuz vom 19. bis 26.9.1982. ELAB 36/ 524.

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cen fleißig aus.“277 Kleine Gemeinden dieser Art entsprachen jedoch nicht dem Ansinnen der Kirchenleitungen, die zu Zusammenlegungen tendierten, um die laufenden Kosten etwa für Mitarbeiterstellen zu senken.278 Die seit dem Mauerbau oft wiederholten Ankündigungen der evangelischen Kirchenleitung, in West-Berlin weitere Stellen kürzen zu müssen, stieß an der Kirchenbasis daher allgemein auf Unverständnis: „Im christlichem [sic] Abbau sehe ich eine ernsthafte Gefahr für unsere Gesellschaft“, schrieb Wilfried E. Hallbauer 1979 an die Kirchenleitung der evangelischen Kirche in West-Berlin.279 Die Kirche dürfe sich in der Stadt nicht weiter auf die Bereiche Gottesdienst und kirchliche Unterweisung zurückziehen, mahnte er. Sie müsse ihre Gemeinwesensarbeit vielmehr ausbauen und solle diese nicht länger als möglichen, aber nicht notwendigen Zusatz betrachten.280 Ähnlich besorgt wie dieses Laienmitglied bewerteten Gemeindepfarrer und kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Situation. Sie fühlten sich aufgrund ihrer seelsorgerlichen Tätigkeit und der steigenden Zahl administrativer Aufgaben ohnehin oft überlastet und konnten die finanzpolitischen Entscheidungen des Konsistoriums in West-Berlin nicht nachvollziehen.281 Ihr Arbeitsalltag rechtfertigte keine weiteren Sparmaßnahmen. 1966 notierte ein besorgter Berichterstatter nach einer Visitation in der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche: „Der Gemeindepfarrer bedarf in der Ausübung seines pfarramtlichen Dienstes dringend der Unterstützung, wenn er nicht eines Tages an der Arbeitsfülle, die auf ihm lastet, zusammenbrechen soll.“282 Schon zwei Jahre zuvor beklagten Visitatoren in Berlin-Spandau „die gesundheitliche Situation in der Pfarrergemeinschaft“.283 Unter den Pfarrern waren gehäuft Leberleiden, Herzerkrankungen, Karzinome sowie psychische Erkrankungen aufgetreten. 277 Visitationsbericht über die Kreiskirchenvisitation in der Jerusalems- und Neuen Kirchengemeinde Kirchen Kreis Friedrichswerder 7. bis 14.6.1970. ELAB 1.2/4568. 278 Die Kritik an der Bildung von Großpfarreien ist Teil eines historischen Konflikts zwischen Gemeinden und Kirchenleitungen, der sich bis in die Gegenwart zieht. Vgl. Frank, Wilhelm: Rosen und Dornen in der Berliner Seelsorgsarbeit in zwanzigjähriger Tätigkeit (1887–1907), zitiert in: Simon: Kirche in der Stadt, S. 85. 279 Wilfried E. Hallbauer an die Kirchenleitung und das Konsistorium der Evangelischen Kirche Berlin-West 25.2.1979. ELAB 36/2607. 280 Vgl. Duntze: Die Ev. Kirche in Berlin (West), S. 81. 281 Vgl. Kirchenkreis Wilmersdorf, Unterlagen zur Besprechung am 22.7.1964. ELAB 1/8183. Siehe auch: Pfarrkonvent Spandau an den Bischof 15.4.1969. ELAB 1/3702. Und: Vgl. Bericht über die Visitation des Kirchenkreises Kreuzberg vom 19.-26.9.1982. ELAB 36/524. 282 Visitationsbericht. Kreiskirchenvisitation Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche 6.-12.6.1966. ELAB 1.2/4609. 283 Gesundheitliche Situation der Pfarrergemeinschaft im Kirchenkreis Spandau 14.4.1964. ELAB 1/6838.

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Unter den evangelischen Gemeinden entbrannte basierend auf diesen Erfahrungen ein teils erbitterter Konkurrenzkampf um den Erhalt einzelner Stellen, der die Stimmung in den Pfarrkonventen spürbar drückte. Auch im Kreuzberger Pfarrkonvent waren die Fronten verhärtet: Das Gespräch unter uns ist gestorben. Wir blocken gegenseitig ab. […] Wir haben pauschale Urteile, die sich in Begriffen äußern („Mittelschicht“, „Kreuzberger Normalbürger“), über die wir gar nicht mehr reden lassen. Wir haben als Theologen gelernt, zu polarisieren und zu analysieren, aber nicht, uns zu verständigen.284

Die Überforderung vieler Pfarrer kam in solchen Kommunikationsproblemen deutlich zum Ausdruck. Die Folge war eine hohe Fluktuation, oftmals zu Lasten der kirchlichen Mitarbeiter: „Ein neuer Pfarrer bringt so oft neue Methoden und Schwerpunktsetzungen mit, daß alles Bisherige durcheinander gerät, daß Mitarbeiter verunsichert werden, daß ganze Arbeitszweige plötzlich wegfallen.“285 Die Motivation der Mitarbeiter und Laienvertreter litt unter diesen ständigen Wechseln besonders, erklärten Mitglieder bei einem Gemeindeabend in der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirchengemeinde.286 Gleichzeitig gerieten einige der Mitarbeiter in den Verdacht, die kirchliche Arbeit nicht allumfassend zu unterstützen. Auch wenn sie sich loyal gegenüber ihren Gemeindepfarrern verhielten, wurde vielen ein distanziertes Verhältnis zum christlichen Glauben unterstellt. Diese Distanz, so die Annahme auf der Leitungsebene, beeinflusste ihr Wirken in den Gemeinden negativ. Die Kirchenleitungen befürchteten, dass Glaubenspraktiken vor diesem Hintergrund an Bedeutung verlieren würden und kirchliche Arbeit nicht mehr als solche zu erkennen wäre.287 Als Antwort darauf verwiesen evangelische Katecheten auf die fehlende Unterstützung der Kirchenleitung vor Ort und erklärten diese für den Verlust kirchlicher Handlungsfelder verantwortlich. Ihre Einschätzungen und Wünsche blieben seit Jahren ungehört, lautete einer ihre Vorwürfe. Dass die Katecheten weder eine Bücherbeihilfe, noch eine Amtszimmervergütung oder eine Wohnungsvermittlung erhielten, bestätigte, dass sie von Gemeinde- und Kirchenleitung nur unzurei-

284 Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über das Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt, Dezember 1973 – Oktober 1974 – Bericht. ELAB 36/524. 285 Ebenda. Vgl. Bericht über die Visitation des Kirchenkreises Kreuzberg vom 19.-26.9.1982. ELAB 36/524. 286 Vgl. Bericht über die Visitation der Gemeinde zum Heiligen Kreuz vom 19. bis 26.9.1982. ELAB 36/524. 287 Vgl. Bericht über den Verlauf der Visitation des Evangelischen Zentrums BBR – „Haus der Mitte“ 1975. ELAB 1/6838.

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chend anerkannt wurden.288 Nach einer Visitation in Steglitz notierte Generalsuperintendent Helbich 1969: „Der Katechet vertritt die Kirche an vorderster Front. Er erkennt, daß die Kirche Raum verliert. Weithin haben aber die katechetischen Mitarbeiter den Eindruck, als würde die Kirche sie nicht unterstützen und ihr den nötigen Rückhalt geben für ihren starken Dienst.“289 Helbich selbst überraschte das alles nicht. Nach seiner Amtseinführung 1961 hatte er irritiert festgestellt, dass „diese Art des Besuches [gemeint sind hier Visitationsbesuche] in West-Berlin über ein Jahrzehnt und länger völlig ausgefallen war. Der unmittelbare persönliche Kontakt zwischen Gemeinde und Kirchenleitung hatte sich auf gelegentliche Teilnahme an Feiern und Begegnungen beschränkt.“290 Mitglieder der Kirchenleitung, so Helbich, machten sich meist gar nicht erst die Mühe, das Gespräch mit kirchlichen Mitarbeitern zu suchen, deren Arbeitserfahrungen zu erfragen und daran angepasste Verbesserungsvorschläge zu diskutieren.291 Diese Einblicke in innerkirchliche Entwicklungen zeigen, in welchem Dilemma sich die Kirchen befanden. Einerseits wollten sie Miglieder halten und ihre Stellung in der Gesellschaft verteidigen. Andererseits versuchten die Kirchenleitungen möglichst effizient zu agieren. Dieses Streben nach Effizienz wiederum, das mit Stellenstreichungen, überlasteten Mitarbeitern und Fluktuation einherging, wurde an der Kirchenbasis oft als Führungsschwäche gedeutet. Das sorgte für Unsicherheit und generierte Vertrauensverluste. Die daraus folgenden Auseinandersetzungen fanden vielfach vor dem Hintergrund der Frage statt, inwieweit sich die Gemeinden gegenüber Anderen öffnen sollten, um das Eigene zu bewahren oder ob eine Öffnung dieses Eigene obsolet machen würde.

Für wen soll die Kirche da sein? – Streit um die Zielgruppen kirchlicher Arbeit Helbichs Beobachtungen sowie die Schilderungen anderer Visitatoren lassen darauf schließen, dass es in West-Berlin zwei grundlegende Typen von evangelischen Gemeinden gab. Zum einen fromme, meist exklusive Gemeinden, die nur sehr eingeschränkt diakonisch tätig waren. Zum anderen offene Gemeinden, in denen Frömmigkeit tendenziell eine nachgeordnete Rolle spielte, die aber durch eine um288 Vgl. Katechetenhearing 8.1.1967. ELAB 1/3702. 289 Bescheid über die Generalkirchenvisitation im Kirchenkreis Steglitz vom 23.10. bis 28.11.1969 von Generalsuperintendent Hans-Martin Helbich. 1/7377. 290 Ebenda. 291 Ähnliche Probleme gab es in katholischen Gemeinden. Auch dort fehlte es an Katechetinnen und der Personalmangel belastete die kirchliche Arbeit erheblich. Vgl. Chronik der katholischen Gemeinde St. Dominicus in der Gropiusstadt (1971), aufgezeichnet von Norbert Blach, Berlin 2005, S. 3.

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fangreiche Diakonietätigkeit auffielen. Gerade am Beispiel dieser Gemeinden wurde die zunehmende Diskrepanz zwischen diakonischer und missionarischer Tätigkeit deutlich. Personen, die Angebote der kirchlichen Arbeit in Anspruch nahmen, waren nicht unbedingt religiös gebunden oder interessiert. Die Leiterin einer evangelischen Kindertagesstätte in Berlin-Wilmersdorf beklagte in diesem Zusammenhang „die Konsumhaltung mancher Eltern gegenüber der kirchlichen Aufgabe“.292 Nachgefragt wurden vor allem unverbindliche Formate mit wechselnden Programmen, die den Arbeitszeiten und dem Freizeitverhalten der Stadtbevölkerung gerecht wurden.293 Pfarrer, die versuchten, sich diesen Trends anzupassen, wurden kirchenintern nicht selten argwöhnisch betrachtet. Konservative Kreise fürchteten den Verlust religiöser Grundwerte. Die Gestaltung kirchlicher Beerdigungen durch progressive Pfarrer etwa bot immer wieder Anlass für kritische Kommentare, weil bestimmte Elemente des Ritus – nicht selten auf Wunsch der Verstorbenen – verkürzt oder weggelassen wurden.294 Umgekehrt kam es andernorts zu Streit, weil konservative Pfarrer kirchliche Amtshandlungen verweigerten. Der Pfarrer der Kapernaum-Gemeinde, Jürgen Aporius, lehnte 1972 eine Taufe ab, weil er im Elternhaus des Täuflings keine Grundlage für eine christliche Erziehung sah. Hintergrund war, dass der Vater des Täuflings aus der evangelischen Kirche ausgetreten war.295 In einem Brief an die Eltern schilderte Aporius seine Beweggründe: „Nach meinem Verständnis ist die Taufe eines Kleinkindes nur dann sinnvoll, wenn beide Eltern als Christen dem Kind Vorbild sein können. Es wäre mir unverschämt, wollte ich einem nichtchristlichen Vater zumuten, sein Kind christlich zu erziehen.“296 Aporius bot den Eltern an, die Taufe aufzuschieben bis der Täufling selbst darüber entscheiden könne. Zwar ist die Reaktion der Eltern in diesem Fall nicht dokumentiert, aber es gibt andere Beispiele, die in gleicher Weise zeigen, dass die Kirchen nicht mehr über die gesellschaftliche Machtfülle verfügten, mit der sie zuvor Einfluss auf Mitglieder und Nichtmitglieder hatten nehmen können: Die Verweigerung einer Amtshandlung stellte für Kirchenmitglieder nicht zwangsläufig eine Drohung dar, sondern brachte eher die Kirche in die Gefahr, ein weiteres Mitglied zu verlieren. 1965 beschwerte sich W. M. beim Superintendenten des Kirchenkreises Schöneberg, Julius Rieger, darüber, dass seine Tochter die Konfirmandenprüfung nicht 292 Visitationsbericht Daniel-Gemeinde 1971. ELAB 1/8478. 293 Vgl. Vgl. Bericht über die Visitation des Kirchenkreises Kreuzberg vom 19.-26.9.1982. ELAB 36/ 524. Siehe auch: Notizen zur Visitation der Martin-Luther-Gemeinde 1975. ELAB 36/529. Sowie: Bericht. Kreiskirchenvisitation Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche 6.-12.6.1966. ELAB 1.2/4609. 294 Vgl. Superintendent des Kirchenkreises Reinickendorf an das Konsistorium 28.3.1966. ELAB 1/6312. 295 Vgl. Knut Rebentisch an das Evangelische Konsistorium 20.6.1972. ELAB 1.2/4066. 296 Jürgen Aporius an Knut Rebentisch 1.6.1972. ELAB 1.2/4066.

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bestanden hatte. Sie hatte nicht genug Eintragungen auf der Kirchgangskarte – einer Auflistung der besuchten Gottesdienste – nachweisen können. W. M. empörte sich über diese Vorgehensweise und erklärte gegenüber Rieger, der als engagiertes Mitglied der Bekennenden Kirche bekannt war, dass die Entscheidung des Pfarrers auf einer Kann-Vorschrift aus der Zeit des Nationalsozialismus beruhe und allein deswegen abgelehnt werden müsse. Zudem machte er geltend, dass andere Gemeinden auf diese Praxis verzichteten. Der Superintendent versuchte, diplomatisch zu reagieren und bot der Konfirmationskandidatin an, die Prüfung unter einem anderem Prüfungsvorsitz zu wiederholen. W. M. lehnte eine solche Kompromisslösung jedoch ab: Seine Tochter wurde nicht konfirmiert.297 Oftmals fanden die Gegensätze zwischen konservativen und progressiven Kirchenmitgliedern Ausdruck in der Beziehung der Jungen Gemeinde zur Kerngemeinde. Vor allem in besonders exklusiven, zurückgezogenen Gemeinden mehrten sich Generationskonflikte.298 1968 wendete sich der Pfarrer der Nazarethkirchengemeinde im West-Berliner Wedding diesbezüglich an den Superintendenten seines Kirchenkreises: Da es in unserer Kirche heute geradezu üblich geworden ist, daß gewisse Personen ältere Pfarrer schwer provozieren, wäre ich Ihnen im übrigen dankbar, wenn Sie sich in diesen und anderen möglichen Fällen solcher Art für die älteren Amtsbrüder einsetzten und damit auch unerträglichen, die Amtsausübung hemmenden Ärger von dem Betroffenen fern hielten.299

Der Pfarrer war offensichtlich nicht an einem Dialog mit der Konfliktpartei interessiert. Ihm ging es nur mehr darum, Auseinandersetzungen dieser Art von der Kerngemeinde fernzuhalten und an höhere Stellen abzutreten. Zuspruch erhielt er vom konservativen Generalsuperintendenten Helbich, der in einem Schreiben an das Konsistorium unterstrich: „Die Umgangsformen der Jugend sind zum Teil sehr rüde. Wir müssen unsere Pfarrer vor solchen Methoden schützen. Es reißt immer mehr ein, daß man den Pfarrer mürbe machen will bis ins Physische hinein.“300 Der Generalsuperintendent wies die Verantwortung also weg von der Amtskirche und sah stattdessen die Jugendlichen in der Pflicht sich älteren Ge-

297 Vgl. W. M. an Superintendent Dr. Rieger 22.11.1965. ELAB 1/5525. Siehe auch: M. an Superintendent Dr. Rieger 19.12.1965. ELAB 1/5525. 298 Vgl. Votum des Superintendenten des Kirchenkreises Berlin Stadt IIIa anläßlich der kreiskirchlichen Visitation der Friedenskirchgemeinde in der Zeit vom 2.-9.11.1969. ELAB 1.2/4294. 299 Dr. theol. Friedrich Weichert an den Superintendenten des Kirchenkreises Berlin-Stadt II 9.12.1968. ELAB 1.2/4129. 300 Generalsuperintendent von Berlin, Sprengel 1, an das Evangelische Konsistorium 15.1.1969. ELAB 1.2/4129.

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meindemitgliedern, die er offenbar allein aufgrund ihres Alters als Autoritäten einstufte, zu beugen. Letztlich war es nichts Neues, dass das Interesse an tradierten kirchlichen Praktiken gerade unter Jugendlichen begrenzt war.301 Neu war, dass diese Beobachtung nicht nur den Missmut älterer Gemeindemitglieder und der Geistlichkeit erregte, sondern zuweilen regelrecht Panik auslöste und als weiteres Indiz für den drohenden Niedergang einer christlichen Leitkultur gewertet wurde. Die vorangegangenen Fallbeispiele deuten bereits darauf hin, dass Konflikte mit oder unter Pfarrern das kirchliche Leben erheblich belasten konnten. Die Insellage West-Berlins schien die Sicht mancher Kirchenmitglieder zusätzlich einzuschränken und Auseinandersetzungen größer werden zu lassen als sie waren. Ein Beispiel dafür ist der Weggang Adolf Würthweins, der als Dekan bis 1965 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche tätig gewesen war. Die Entscheidung Würthweins, die Gemeinde zu verlassen, zog jahrelange Streitigkeiten nach sich: Gemeindemitglieder warfen dem verbliebenen Pfarrer Günter Pohl vor, den Dekan aus der Gemeinde heraus gedrängt zu haben. Günter Pohl seinerseits wies diese Behauptung entschieden zurück, wurde aber von Gemeindemitgliedern trotzdem weiter beschuldigt, Würthwein unter Druck gesetzt zu haben. Daraufhin schaltete G. Pohl einen Anwalt ein und drohte mit einer Klage wegen Beleidigung. Als Reaktion darauf ersuchten die Beschwerdeführenden das Konsistorium um die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Im März 1966 fanden erste Anhörungen statt. Diese führten jedoch zu keinen neuen Erkenntnissen, weshalb das Verfahren alsbald eingestellt wurde. Trotzdem kam die Gemeinde nicht zur Ruhe. Obwohl ein Gemeindemitglied der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche die Vorgänge bereits 1965 als „nichtig und kleinlich“ bezeichnet hatte, wurde schließlich sogar der Bischof in die Angelegenheit involviert. 1967, also zwei Jahre nachdem Würthwein die Gemeinde verlassen hatte, nahm Bischof Scharf als Schlichter an einer Aussprache zwischen den Konfliktparteien teil. Ihm ging es dabei vor allem darum, einen Wunsch Würthweins, der nicht mehr in West-Berlin lebte, auszurichten: Die Gemeinde solle endlich aufhören, ihn verteidigen zu wollen und die Sache auf sich beruhen lassen.302 Die Kritik an der Person G. Pohl weist auf strukturelle Probleme hin. Allein die Vermutung, es handele sich bei einer Entscheidung um den „patriarchalischen Alleingang“ eines autoritären Pfarrers, konnte evangelische wie katholische Ge-

301 Vgl. Fragebogen für die Visitation der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche 1966. ELAB 1.2/4609. Bericht. Kreiskirchenvisitation Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche 6.-12.6.1966. ELAB 1.2/4609. 302 Vgl. Beschwerden – Pf. Pohl 1965–1967. ELAB 1.2/5153. Streitereien über „Kleinigkeiten“ charakterisierten auch die katholische Kirche West-Berlins. Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 40.

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meinden in den 1960er-Jahren aufbringen.303 Sie stellten tradierte Hierarchievorstellungen immer häufiger in Frage: West-Berliner Protestanten forderten von der Kirchenleitung deshalb, die Schwerpunktsetzung in der theologischen Ausbildung zu verändern.304 Katholiken verwiesen darauf, dass die Richtlinien des Zweiten Vatikanischen Konzils vom Bistumsklerus nur unzureichend umgesetzt wurden. Vom Konzil ausgehend sei eine stärkere Einbindung der Laien in innerkirchliche Diskussionen vorgesehen. Doch diese Forderung wurde von der Bistumsleitung weitestgehend ignoriert. 1969 wendete sich der West-Berliner Kaplan Burkhard Hennig in der alternativen Kirchenzeitung Der CHRIST deshalb an den Episkopat: Warum geben sie den „Laien“ nicht die Möglichkeit, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen? Halten sie die „Laien“ für zu dumm dafür? Das Konzil hatte offensichtlich mehr Vertrauen zu den „Laien“, […]. Wenn die Forderungen des Konzils mehr sein sollen als bloße Lippenbekenntnisse, dann muß jeder von uns anfangen, sie in seinem Bereich zu erfüllen.305

Personen wie Hennig riefen die Bistumsleitung dazu auf, Laien als mündige Mitglieder endlich anzuerkennen. In seiner Weihnachtsansprache 1968 hatte Generalvikar Adolph noch dafür geworben, aufeinander zuzugehen. Gemessen an vorherigen Stellungnahmen hatte er einen gemäßigten, geradezu versöhnlichen Ton angeschlagen, als er auf die Situation der katholischen Kirche in West-Berlin einging: „An diesem Weihnachtsfest fühlen wir uns wohl alle bedrückt von den Gegensätzen, dem Streit, die unter uns aufgebrochen sind und uns gegenseitig zu entfremden drohen.“306 Doch die Mahnung Adolphs fand da schon kein Gehör mehr. Die Fronten verhärteten sich weiter. Selbst das Ost-Berliner St. Hedwigsblatt schaltete sich nun in die West-Berliner Querelen ein. Bischof Bengsch könne sich auf den Rückhalt der katholischen Bevölkerung im Ostteil seiner Diözese verlassen, bekräftigte die Zeitung und unterstellte den Katholiken in West-Berlin damit fehlende Treue zur Amtskirche.307 Der Bischof selbst erklärte derweil, dass die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe haltlos seien. Er sei offen gegenüber Reformen.308 Auch Hubert Bengsch sprach seinen bischöflichen Bruder frei von jeder Schuld. Über die Angriffe gegen ihn schrieb er: „Die Auswüchse falschen Demokratiebewusstseins in der Kirche berei303 Pfarrkonvent Spandau an den Bischof 15.4.1969. ELAB 1/3702. 304 Vgl. Kirche als Gemeinde von Schwestern und Brüdern. Empfehlungen der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Berlin West) für den künftigen Weg der Kirche., in: Berliner Sonntagsblatt (Sonderdruck) 25.4.1982. 305 Fehlerhafte Ausbildung, in: Der CHRIST 10.1.1969, S. 5. 306 Stetiger Ansporn, in: Der CHRIST 27.12.1968, S. 3. 307 Vgl. Zustimmung für Bengsch, in: Der CHRIST 20.2.1970, S. 2. 308 Vgl. Bengsch: Kirche nicht ängstlich gegenüber Neuerungen, in: Der CHRIST 20.2.1970, S. 5.

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teten ihm ernste Sorgen. Die brüderliche Einheit erlebte Gefährdungen, die nicht durch Grenzziehungen verursacht wurden.“309 Die Gräben verliefen im Bistum Berlin folglich nicht nur entlang der Systemgrenze, sondern gleichermaßen zwischen progressiven und konservativ-reaktionären Kirchenmitgliedern. Solche Differenzen und häufige Pfarrerwechsel, die nicht selten im Zusammenhang standen, führten dazu, dass sich neben den üblichen Ortsgemeinden quasi Personalgemeinden etablierten. Kirchenmitglieder besuchten nicht die Kirchen, denen sie laut Kirchenbuch angehörten, sondern wählten nach persönlichen Interessen aus:310 Man wusste, wo’n sehr konservativer Pfarrer war, wo die Messe immer noch in Lateinisch gelesen wurde. […] Und, und in Berlin isses ja sowieso so, dass man – das wurde ja immer auch nicht nur positiv gesehen von den Ostleuten – dass man im Westen also wirklich sich die Gemeinden aussuchte nach, nach Predigtqualität, sagen wir mal, ja?311

E. F. erklärte, dass West-Berliner Katholiken ihre Wahlfreiheit in diesem Bereich unabhängig von der Kirchenleitung durchsetzten. Ohne, dass die katholische Kirchenleitung Veränderungen intendiert oder offen thematisiert hätte, vollzog sich in der Praxis ein demokratisches Ermächtigungsmoment. Gleichzeitig stellte diese neu errungene Freiheit eine Gefahr für die Kerngemeinden dar. Diese, so die Befürchtung konservativer Kreise, drohten ausgehöhlt zu werden, wenn feste Bindungen zu einer bestimmten Gemeinde von Wahlverwandtschaften abgelöst wurden. Vor allem die West-Berliner Kirchenleitungen befanden sich also seit dem Mauerbau in einem permanenten Zustand der Unruhe und Unsicherheit, wohingegen zumindest Teile der Basis die damit einhergehenden Dynamiken in der Hoffnung auf Veränderung durchaus begrüßten.

Demokratisierung wider Willen Die West-Berliner Amtskirchen litten in diesen Jahren unter einem enormen Image-Problem. „Es gehört nicht mehr zum guten Ton, der Kirche anzugehören,“

309 Bengsch: Kirche zwischen Elbe und Oder, S. 156. Vgl. Ehm: Die kleine Herde, S. 102. 310 Die Idee der Personalgemeinde ist in der Geschichte der evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg spätestens seit dem Konfessionswechsel des Kurfürsten Johann Sigismund 1613 zum reformierten Bekenntnis angelegt. Seitdem existieren in Berlin neben den lutherischen, reformierte Gemeinden. Durch die 1817 geschlossene Union konnten die Mitglieder der beiden Bekenntnisse außerdem gemeinsam am Abendmahl teilnehmen. Sie unterstanden einer gemeinsamen Kirchenverwaltung und hatten eine gemeinsame Agende. 311 Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 11.

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konstatierte Generalsuperintendent Helbich 1969.312 In seiner Aussage manifestierte sich ein Grundproblem, dass die Kirchenleitungen zu lange ausgeblendet hatten: In einer Stadt wie West-Berlin war Kirchenmitgliedschaft nichts, woran aus Traditionsgründen unbedingt festgehalten wurde. Im Gegenteil: Es ging nun viel häufiger darum, sich für oder gegen eine Mitgliedschaft zu entscheiden und diese Entscheidung individuell begründen zu können. Kirchenmitgliedschaft war damit nicht länger eine Voraussetzung oder Notwendigkeit für gesellschaftliche Zugehörigkeit, sondern Ausdruck einer persönlichen Überzeugung.313 Mit Blick auf die Austrittszahlen wuchs der Reformdruck auf die Kirchenleitungen. Sie konnten Konflikten mit der Basis nicht länger kategorisch ausweichen. Eine Verbesserung der innerkirchlichen Kommunikation erschien angesichts der zunehmenden Kritik an überkommenen Strukturen zwingend erforderlich. Gemeindepfarrer berichteten den Kirchenleitungen, dass viele Laien darauf drängten, Kompetenzbereiche neu zu verhandeln, weil sie stärker partizipieren wollten.314 „Es muß,“ schrieben Pfarrer in einem Brief an die evangelische Kirchenleitung in West-Berlin, „auf jede Weise erreicht werden, daß in das Nachdenken über die anzugehenden Lebensfragen der Kirche ein möglichst weiter Kreis von Mitgliedern der Kirche einbezogen wird. […] Wir sind der Meinung, daß über einen längeren Zeitraum hin kirchliche Öffentlichkeit erst noch geschaffen werden muß und rufen Sie dazu auf, den begonnen Weg fortzusetzen.“315 Die Verantwortlichen im West-Berliner Ordinariat sahen sich mit ähnlichen Forderungen konfrontiert und wiesen diese zurück. „Sollen wir die Kirche demokratisieren?“, fragte Erich Klausener jun. 1970.316 Seine Antwort fiel eindeutig aus. Er lehnte die geforderten Demokratisierungsbestrebungen ab. „Demokratie“, war Klausener jun. überzeugt, „ist von Haus aus ein politischer Machbegriff.“317 Wer in der Kirche dafür eintrete, unterstütze eine innerkirchliche Parteienbildung, gefährde die Geschlossenheit der Institution und riskiere einen „Klassenkampf“ unter den Mitgliedern.318 Kirche müsse sich ihrem Wesen nach deshalb immer von einem Parlament unterscheiden. Sie sei gerade nicht der Ort demokratischer Ent312 Bescheid über die Generalkirchenvisitation im Kirchenkreis Steglitz vom 23.10. bis 28.11.1969 von Generalsuperintendent Hans-Martin Helbich. 1/7377. 313 Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 830. 314 Vgl. Duntze: Die Ev. Kirche in Berlin (West), S. 91. Siehe auch: Niederschrift über die erste Anhörstunde (Hearing) der Kirchenleitung für Superintendenten und Pfarrer vom 23.5.1967. ELAB 1/3702. 315 15 Pfarrer an die Kirchenleitung Berlin-Brandenburg 18.11.1969. ELAB 1/3702. 316 Vgl. Klausener jun., Erich: Katharina nicht im Pfarrgemeinderat. Sollen wir die Kirche demokratisieren?, Berlin (West) 1970, S. 7–8. Siehe auch: Klausener warnt vor Demokratisierung, in: Der CHRIST 11.9.1970, S. 5. 317 Klausener jun.: Katharina nicht im Pfarrgemeinderat, S. 11. 318 Vgl. ebenda, S. 12.

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scheidungen, sondern dem Bild vom Herrn und seiner Herde verhaftet.319 Klausener jun. erklärte den zeitgenössischen, offenkundig von der marxistisch-leninistischen Theorie geprägten Ruf nach Mitbestimmung in der Kirche deshalb zu einer vorschnellen Antwort auf real existierende Probleme. Zweifellos war das Vertrauen vieler Laien in die Amtskirche erschüttert. Die Ursachen dafür sah Klausener jun. aber vor allem bei den Laien selbst. Den Vorschlag, eine politische Herrschaftsform in der Kirche zu implementieren, nannte er fatal. Klausener jun. erinnerte daran, dass viele Katholiken nach 1933 der Idee gefolgt seien, das nationalsozialistische Führerprinzip auf die katholische Kirche zu übertragen. Er selbst hege seither „eine tiefe Abneigung gegen jede theologische Anpassung an herrschende Zeitmeinungen“.320 Die Lehre, die Klausener jun. aus dem Nationalsozialismus zog, war demnach, dass politische Legitimationsweisen nicht auf die Kirche übertragen werden dürfen, nur weil sie en vogue waren. Unabhängig vom kirchlichlichen Selbstverständnis wertete er die Demokratie damit im direkten Vergleich mit der Diktatur de facto ab. Zudem sah Klausener jun. in der Implementierung demokratischer Elemente die Stellung der Kirche in der Gesellschaft gefährdet. Eine Religionsgemeinschaft dürfe sich nicht in einen demokratischen Wettbewerb begeben, da sie sich dann in einem Konkurrenzverhältnis mit anderen, nicht gleichwertigen, weil weltlichen Wettbewerbern befände.321 Alternativ schlug Klausener jun. vor, das Verhältnis zwischen Basis und Episkopat zu stärken. Laien, welche den Episkopat all zu oft der „Geheimniskrämerei“ bezichtigten, müssten umfangreicher informiert werden.322 Klausener jun. empfahl auf sämtliche Mittel der modernen Kommunikationstechnik zurückzugreifen. Ziel müsse es sein, Einblicke in innerkirchliche Prozesse zu gewähren, Wissen zu vermitteln und Vertrauen neu aufzubauen, ohne das Wesen der Kirche zu verändern.323 Für die Laien sah Klausener jun. in punkto Mitbestimmung also weiterhin eine passive Rolle vor. Entscheidungsprozesse sollten für die Kirchenbasis transparenter werden, ohne sie aber direkt zu beteiligen. Dabei war in der evangelischen Kirche zu beobachten, dass sich die Einbeziehung der Laienmitglieder trotz aller Befürchtungen durchaus positiv auswirkte:324 319 Vgl. Klausener jun.: Katharina nicht im Pfarrgemeinderat, S. 8–9 und S. 24. 320 Ebenda, S. 13. 321 Vgl. ebenda, S. 27–29. 322 Leserbrief. Dank für die Offenheit, in: Der CHRIST 27.12.1968, S. 10. 323 Vgl. Klausener jun.: Katharina nicht im Pfarrgemeinderat, S. 30. In diesem Zusammenhang griff die Bistumsleitung auch auf Meinungsumfragen zurück. Vgl. Ziemann, Benjamin: Meinungsumfragen und die Dynamik der Öffentlichkeit. Die Katholische Kirche in der Bundesrepublik nach 1968, in: Historisches Jahrbuch 126 (2006), S. 493–520. 324 In der evangelischen Kirche sind demokratische Elemente deutlich älter als in der katholischen Kirche. In Berlin und Brandenburg kamen unter der Regentschaft des Preußenkönigs

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Ortsbezogene Gremien, wie etwa die Gemeindekirchenräte, brachten dank der Beteiligung fachkundiger Laien fundierte Sachkenntnisse in innerkirchliche Debatten ein, die manche Gemeinde vor Fehlentscheidungen bewahrte: Mit Blick auf die seit Jahren rückläufigen Gottesdienstzahlen kippte der Gemeindekirchenrat der Daniel-Gemeinde in Berlin-Wilmersdorf 1970 zum Beispiel den Bau einer neuen, repräsentativen Kirche und setzte sich stattdessen für die Errichtung eines kleineren Kirchenraums ein.325 Gemeindepfarrer diagnostizierten zudem „vielerorts ein gewisses Unbehagen gegenüber den etablierten Machthabern der Kirche“, das durch die Stärkung synodaler Elemente von den Laienmitgliedern abfalle.326 Daneben versuchte sich die evangelische Kirche in West-Berlin des Problems der wahrgenommenen Informationsdefizite anzunehmen. Im Spätherbst 1970 beschloss die Regionalsynode deshalb an Hearings anzuknüpfen, die die Kirchenleitung 1967 als thematisch nicht festgelegte Anhörungsstunden für West-Berliner Pfarrer eingeführt hatte.327 Dieses Angebot wurde sehr wohlwollend rezipiert. 1973 gaben die „kirchlich interessierten Berliner“ an, dass „die Kirche versucht, sich zu erneuern und ‚modern‘ zu sein.“328 Teil dieser Erneuerung war auch, dass sich der Charakter kirchlicher Visitationen änderte. Die Visitationskommissionen wollten nicht mehr „als Besserwisser in eine Gemeinde kommen, um sie zu belehren oder nach [eigenen] Anschauungen zu ändern.“329 Dahinter verbarg sich die Vorstellung, hierarchische Strukturen im Dialog zumindest hinterfragen zu können. Das gelang freilich nicht immer. Vielerorts hebelten dominante Pfarrer die Funktionen demokratischer Gremien auch in den evangelischen Kirchen einfach wieder aus. Im Vergleich zu den Bemühungen der evangelischen Kirche fiel das Zögern des West-Berliner Episkopats besonders negativ auf. Die katholische Kirchenleitung stellte beunruhigt fest, dass „die Kritik am Kardinal und dem Ordinariat zunimmt.“330 Außerdem wurden „Unruhe, Unsicherheit, Kritikfreudigkeit, Dialogverliebtheit und Kampfstellung gegen die ‚Amtskirche‘, wie sie in westdeutschen Bistümern zu finden sind“ als Symptome der Laienbewegung auch in Berlin dia-

Friedrich Wilhelm IV. erstmals Provinzialsynoden zusammen, deren Wirkungskreis aber noch deutlich beschränkt war. Zur Demokratieskepsis in der evangelischen Kirche vgl. 20 Pfarrer an Bischof Scharf 20.1.1970. ELAB 1/3702. 325 Vgl. Bericht über das kirchliche Leben in der Daniel-Kirchengemeinde 1970. ELAB 1/8478. 326 Niederschrift über die erste Anhörstunde (Hearing) der Kirchenleitung für Superintendenten und Pfarrer vom 23.5.1967. ELAB 1/3702. 327 Vgl. Auszug aus dem Protokoll der Kirchenleitung 21.21967. ELAB 1/3702. 328 Evangelischer Pressedienst. Landesdienst Berlin, Nr. 188 13.11.1973. ELAB 222. 329 Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über da Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt Dezember 1973 – Oktober 1974. ELAB 36/524. 330 Vertraulich. Analyse der Wochenzeitung „Der Christ“ vom 15.11. bis 6.12.1968. DAB I/12–4a.

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gnostiziert.331 Als Antwort darauf griff die offizielle Bistumszeitung Petrusblatt die Reformer, zu denen vor allem Schüler, Studierende und Kapläne gehörten, wiederholt öffentlich an.332 Das führte dazu, dass sich unter den West-Berliner Katholiken eine regelrechte „Antibengschstimmung“ verbreitete, wie das MfS vermerkte.333 Teile der Kirchenbasis machten den in Ost-Berlin residierenden Bischof für den Zustand der West-Berliner Kirche verantwortlich. Das durch die Insellage WestBerlins hervorgerufene Gefühl der Isolation verstärkte offenbar den Eindruck, auch vom Bischof vernachlässigt worden zu sein: Die drei, später zehn Tage im Monat, welche Bengsch in West-Berlin verbrachte, genügten aus Sicht vieler WestBerliner Katholiken jedenfalls nicht, um sich ein umfassendes Bild von der Situation vor Ort zu machen. Hinzu kam, dass die Kommunikation zwischen Bischof und West-Berliner Ordinariat ebenfalls als mangelhaft beschrieben wurde.334 Eine endgültige Teilung des Bistums stand auch in diesen Jahren nicht zur Diskussion, aber es mehrten sich Stimmen, die einen eigenen Weihbischof in WestBerlin forderten.335 Zudem wurde der Führungsstil des Bischofs in Frage gestellt, der im Ostteil der Diözese demonstrativ autoritär auftrat: „Kann Kardinal Bengsch noch als Oberhirte aller Katholiken bezeichnet werden?“, fragte Gudrun Wilke in einem Leserinnenbrief, der 1969 in der alternativen Kirchenzeitung Der CHRIST abgedruckt wurde. „Repräsentiert er nicht in Wirklichkeit nur noch die einem autoritären Amtsstil vergangener Zeiten nachtrauernden Glaubensgenossen?“336 Der CHRIST-Redakteur Alfons Fischer stellte daraufhin klar: „In keinem deutschen Bistum wird die Kirche so weit rechts gesteuert wie in Berlin. Kardinal Bengsch ist in seiner Auffassung im Hinblick auf Zölibat und Demokratisierung der Kirche päpstlicher als der Papst.“337 Das Ordinariat in West-Berlin reagierte empfindlich auf solche Äußerungen und bemühte sich, derlei Unterstellungen zu entkräften: Kritische Kommentare seien auf einen kleinen Urheberkreis zurückzuführen, versuchte man den Bischof zu beruhigen. Trotzdem begann in der Kirchenleitung die Suche nach Unruhestiftern in den eigenen Reihen. Ins Visier geriet ihr dabei unter anderem das Berliner Büro der Katholischen Nachrichten Agentur (KNA).338 Das West-Berliner Ordinariat warf der KNA vor, neben den offiziellen Presseorganen

331 Ebenda. 332 Vgl. Überall Flagellanten, in: Der CHRIST 20.12.1968, S. 5. 333 Information. 19.9.1978. BStU MfS HA XX AP 12446/92. 334 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 40. 335 Vgl. Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 14. Siehe auch: Generalvikar gesucht, in: Der CHRIST 2.5.1969, S. 1. 336 Fall Bengsch, in: Der CHRIST 8.8.1969, S. 6. 337 Schlafen Berlins liberale Priester?, in: Der CHRIST 20.2.1970, S. 3. 338 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 152.

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des Bistums alternative Stimmen in der Berichterstattung berücksichtigt zu haben: Diese Praxis stellt einen Affront gegen die Bistumsleitung und Kardinal Bengsch dar […] Es ist unverständlich, daß ein Bezirksredakteur der KNA durch Auswahl seiner Meldungen eine eigene Informationspolitik betreibt, von der er weiß, daß sie im Widerspruch zu Bischof und Bistumsleitung steht. Auch die Berufung auf die Unabhängigkeit des Redakteurs darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß KNA ein Instrument ist, das im Dienst der Kirche steht und Vorgänge ihren entsprechenden Tatsachen […]berichten muß.339

Der Ost-West-Informationsdienst des katholischen Arbeitskreises für zeitgeschichtliche Fragen war der Berliner Amtskirche ebenfalls ein Dorn im Auge. 1978 berichtete Michael Albus für den Dienst über ein Treffen des evangelischen Bischofs Albrecht Schönherr mit Erich Honecker. Albus kritisierte die Begegnung und bemerkte außerdem, dass es auch in der katholischen Kirche Personen gebe, die eine solche Annäherung zwischen Kirche und DDR-Staat befürworteten. Rückblickend erinnerte er sich 1996 daran, welche Reaktionen sein Kommentar auslöste. Albus hatte das offizielle Selbstbild, wonach die katholische Kirche in der DDR keine Kompromisse einging, in Frage gestellt: Mir wurde kirchlicherseits zwar eingeräumt, daß ich im Prinzip die „Wahrheit“ gesagt, aber gleichzeitig auch vorgeworfen, daß ich die Grenzen der gebotenen Zurückhaltung überschritten hatte. Ich war in ein Minenfeld geraten und wurde für diesen Übertritt entsprechend „bestraft“. In der Folge wurde ich von jeder substantiellen Information ausgeschlossen.340

Der Verlust des Informationsmonopols und damit der Verlust der Deutungshoheit versetzte das West-Berliner Ordinariat regelrecht in Panik. Wann immer eine Konfrontation drohte, forderte es Zurückhaltung im Interesse des Episkopats. Die bischöfliche Autorität sollte in keinem Fall gefährdet werden. Gegen vermeintlich Andersdenkende in den eigenen Reihen ging die Kirchenleitung restriktiv vor: 1968 stimmte der Kirchenzeitungsredakteur Günter Renner der Veröffentlichung eines kritischen Leserbriefs341 im Petrusblatt zu. Der Verfasser erhob darin schwere Vorwürfe gegen die Bistumsleitung. Unter anderem boykottiere diese systematisch die Arbeit von Laiengremien in West-Berlin.342 Sofort nach Erscheinen des Briefes entband das Ordinariat Redakteur Renner umgehend

339 Aktennotiz 13.10.1969. DAB I/12–4a. 340 Albus: Eine kleine Klammer, S. 78. 341 Leserbriefe wurden im Petrusblatt seit 1966 veröffentlicht. Vgl. Das aktuelle Thema, in: Petrusblatt 2.1.1966, S. 1. 342 Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 147–148.

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von seinen Aufgaben.343 Dieses übereilte Vorgehen erwies sich jedoch als Fehler. Die Ablösung Renners – offiziell hatte er um Urlaub gebeten – stieß bei vielen Laienmitgliedern auf Unverständnis und erregte mediales Aufsehen.344 Auch Bengsch selbst geriet dabei erneut in die Kritik und sah sich schließlich gezwungen, einen offenen Brief an Renner zu veröffentlichen, in dem er die Arbeit des ehemaligen Redakteurs einerseits würdigte und die Entscheidung, ihn abzulösen, andererseits rechtfertigte. Er stellte den Fall so dar, dass Renner sich zwar stets bemüht habe, seiner Aufgabe letztlich aber nicht gewachsen gewesen sei: „Die redaktionelle Leitung eines Diözesanblattes ist eine schwierige Aufgabe, weil der Redakteur sehr unterschiedlichen, vielleicht manchmal sogar gegensätzlichen Anforderungen gerecht werden muß,“ erklärte Bengsch. „Ich muß in meinem Amt darauf achten, daß das Diözesanblatt nicht auf eine Generation oder eine mehr oder weniger große Schicht unter den Gläubigen zielt, sondern seine breiten Leserschichten angesprochen bleiben.“345 Bengsch machte unmissverständlich klar, dass das Petrusblatt kein Ort sein sollte, an dem innerkirchliche Debatten ausgetragen wurden, sondern die Vorgaben des Episkopats den Ton angaben. Dennoch sah sich der Bischof zu weiteren Maßnahmen veranlasst. Er setzte einen Ausschuss ein, der Vorschläge zur Verbesserung der Bistumszeitung erarbeiten sollte.346 Die Ergebnisse dieses Gremiums bestätigten ihn: Mit Verweis auf den „offiziösen Charakter“ des Blattes hielten die vier Ausschussmitglieder fest, dass „der Chefredakteur eigener freier Entscheidungen bedarf, selbstverständlich im Rahmen seiner Gesamtverpflichtung.“347 Der Ausschuss kam zu dem Schluss, dass Veränderungen des publizistischen Selbstverständnisses somit obsolet seien. Die alternative West-Berliner Kirchenzeitung Der CHRIST sah in dieser Stellungnahme den Beweis dafür, dass der Ausschuss nicht mehr als ein Feigenblatt war. Zwar änderten sich vor dem Hintergrund sinkender Auflagenzahlen Layout und Rubriken des Petrusblattes, aber die inhaltliche Ausrichtung blieb dieselbe. Ein gemäßigter Tonfall war kein Ersatz für Debattenvielfalt. Die Veränderungen machten den Anschein, unter dem Motto alter Wein in neuen Schläuchen zu stehen.348 In Erwartung solcher Ablenkungsmanöver hatten sowohl die Katholische Hochschulgemeinde als auch der Männerring des Bund Neudeutschland (ND) alternative Vorschläge erarbeitet, die dem Petrusblattausschuss vorlagen. Zu den Kernpunkten ihrer Forderungen zählten die Einstellung von Berufsjournalisten, 343 Vgl. Verfahrene Kiste, in: Der CHRIST 13.12.1968, S. 5. 344 Vgl. Unduldsam, in: Die Welt 19.2.1968, S. 2. 345 Erzbischof Alfred Kardinal Bengsch an den Pfarrer Günter Renner 14.2.1968, abgedruckt in: Brief zur Klärung, in: Der CHRIST 18.2.1964, S. 5. 346 Vgl. Petrusblatt-Ausschuß gebildet, in: Der CHRIST 3.3.1968, S. 5. 347 Aufgaben der Berliner Bistumszeitung, in: Der CHRIST 31.3.1968, S. 5–6. 348 Vgl. Petrusblatt-Ausschuß tagt wieder, in: Der CHRIST 6.12.1968, S. 3.

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welche die Arbeit der geistlichen Redakteure ergänzen sollten, sowie die stärkere Einbindung freier Mitarbeiter, darunter auch Laien. Kommentare und Meinungsäußerungen sollten eindeutig von Nachrichten unterschieden werden und die Arbeit der Redaktion unabhängig vom Ordinariat erfolgen. „Kommentare“, so der Männerring des ND weiter, „zu außerkirchlichen Angelegenheiten werden erst wirklich glaubhaft, wenn auch die grundsätzliche Bereitschaft zur innerkirchlichen Auseinandersetzung besteht.“ Voraussetzung dafür sei, „die Leser als mündige Christen“ anzusehen, die sich mithilfe ausreichender Informationen eine eigene Meinung bilden könnten.349 Obwohl es an Hinweisen nicht mangelte, verkannte der Berliner Episkopat das wachsende Bedürfnis vieler Katholikinnen und Katholiken, auch in der Kirche eine offene Gesprächskultur zu etablieren.350 Zwar veranlasste das West-Berliner Ordinariat nach einer weiteren Strafversetzung die Auswertung der deswegen beim Petrusblatt eingegangen Leserbriefe, doch wurde in der Analyse abfällig festgestellt, dass die Mehrzahl der kritischen Briefe polemisch urteilt, getragen von den Wellen eines allgemeinen Unbehagens gegenüber sogenannten „autoritären“ Maßnahmen in Gesellschaft und Kirche. […] Die latent in unserer Gesellschaft und auch in der Kirche vorhandenen Protesthaltungen beziehen sich dabei zumeist auf äußere Umstände und Verhaltensweisen von Bischof und Ordinariat.351

Jede Kritik an der Amtskirche wurde damit abgetan. In diesem Klima war es schwierig, konstruktive Diskussionen anzustoßen. Das gegenseitige Misstrauen der Gesprächsparteien erschien größer als ihre Dialogbereitschaft. Die schon erwähnten Meinungsverschiedenheiten zwischen dem WestBerliner Ordinariat und dem Bischof belasteten das kirchliche Leben im Bistum zusätzlich.352 Unter dem Vorwand, die Einheit der Diözese nicht gefährden zu wollen, wurden Konflikte von der Kirchenleitung oftmals verschwiegen oder ausgesessen. Neun Monate nach ihrem Ersterscheinen zog die alternative Kirchenzeitung Der CHRIST eine ernüchterte Bilanz: „Das ‚Petrusblatt‘ […] vermeidet es, mit uns hier in Berlin in ein Gespräch zu kommen. […] Stattdessen wird die Politik der

349 Reformvorschlag des ND, in: Der Christ 6.12.1968, S. 3. 350 Vgl. Damberg: Katholizismus und pluralistische Gesellschaft, S. 127. 351 Auswertung kritischer Leserbriefe zum Fall Hebler. DAB I/12–4a. Hebler wurde wegen angeblich kritischer Äußerungen unter anderem der Gemeindespaltung und Häresie bezichtigt und deswegen strafversetzt. Grundlage für das Verfahren gegen ihn war eine Tonbandaufnahme, die heimlich in einem seiner Gottesdienste angefertigt worden war. Vgl. Kaplan strafversetzt!, in: Der CHRIST 7.3.1969, S. 1. Siehe auch: O Jungfrau, in: Der SPIEGEL 23.6.1969, S. 78–79. 352 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 137 und S. 148–159.

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Nichtanerkennung fortgesetzt – ob aus Mangel an Argumenten oder aus Arroganz –, beides dient nicht dem Dialog.“353

Die alternative Kirchenzeitung Der CHRIST Die Unzufriedenheit mit der amtskirchlichen Informationspolitik führte an der Basis dazu, nach alternativen Nachrichtenkanälen zu suchen: Die bereits zitierte katholische Kirchenzeitung Der CHRIST erschien erstmals im November 1968 mit einer Auflage von 30.000 Exemplaren. Das Blatt verstand sich als alternative Bistumspresse und versuchte ein Gegengewicht zum Petrusblatt in West-Berlin darzustellen. Nach Meinung der Redakteure sollte eine Kirchenzeitung „nicht eine ‚zweite Kanzel‘ sein, sondern ein ‚Organ der Kommunikation‘, also ein Werkzeug der besonderen geistigen Durchblutung des kirchlichen Organismus.“354 Diesem Selbstverständnis entsprechend griff die Zeitung das Petrusblatt immer wieder scharf an. Die Kirchenbasis reagierte gespalten auf diese Attacken. Einerseits befürworteten viele West-Berliner Katholiken den Versuch, die katholische Medienlandschaft diverser zu gestalten. Andererseits beobachteten nicht nur konservative Kirchenmitglieder das radikale Auftreten der Redakteure kritisch. Sofort nach Erscheinen der Erstausgabe distanzierten sich Gemeindemitglieder und Teile des Diözesanklerus demonstrativ von der Zeitung. Geistliche untersagten den Verkauf des Blattes in ihren Kirchen.355 Der Pfarrer der St. Markus Gemeinde in Berlin-Spandau lehnte es ab, der Redaktion die erbetenen Pfarrnachrichten zu übermitteln. In der Gründung einer alternativen Kirchenzeitung sah er den Versuch, die katholische Gemeinschaft West-Berlins zu spalten.356 Ein Organist erklärte, dass er die musikalische Gestaltung der Gottesdienste erst dann wieder aufnehmen würde, wenn der Pfarrer ein Verkaufsverbot für die Zeitung ausspreche. Eine besonders aufgebrachte Katholikin empfahl den Zeitungsmachern „allesamt zur protestantischen Kirche überzutreten“.357 Infolgedessen entwickelte sich die Kritik am Petrusblatt und der Informationspolitik des West-Berliner Ordinariats zum zentralen Thema der Zeitung. Zu den Hauptkritikpunkten zählten „Harmonisierung, Selektion, Verfälschungen, Unterschlagung von Informationen, Verflechtung des Petrusblattes mit dem Bischöflichen Ordinariat […], personelle Abhängigkeit vom Bischof […] und Degradierung 353 „Tendenziös“, in: Der CHRIST 18.7.1969, S. 3. 354 Zum Petrusblatt, in: Der CHRIST 15.11.1968, S. 10. 355 Vgl. Fehlerhafte Ausbildung, in: Der CHRIST 10.1.1969, S. 5 Sowie: Letzte Meldung. Organist erpresst Pfarrer, in: Der CHRIST 22.11.1968, S. 1. 356 Pfarrer Gawol an die Redaktion von Der CHRIST, in: Der CHRIST 29.11.1968, S. 10. 357 Charlotte Koschinski an die Redaktion von Der CHRIST, in: Der CHRIST 29.11.1968, S. 10.

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der Laien.“358 Das West-Berliner Ordinariat registrierte das alles sehr genau, kommentierte das Erscheinen der Zeitung zunächst aber nicht. Stattdessen verständigte man sich hinter verschlossenen Türen im März 1969 darauf, Dialogversuche kategorisch abzublocken. Fortan sei aber auch auf Gemeindeebene ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass sich die Amtskirche nicht mit diesem „Käseblatt“ identifiziere, postulierte Bischof Bengsch.359 Diese ablehnende Haltung erhöhte das Frustrationspotenzial in der CHRISTRedaktion und demotivierte die Zeitungsmacher.360 Die Folge war eine hohe Fluktuation bei den Redakteuren. Dazu kamen finanzielle Probleme, weil Investoren absprangen. Auch sie sahen, dass der Versuch, eine alternative Bistumspresse zu etablieren, an der Kooperationsbereitschaft der Amtskirche scheiterte. Derart bedrängt, radikalisierte sich die verbleibende Redaktion weiter. Immer häufiger erschienen polarisierende Beiträge. So veröffentlichte Der CHRIST im Oktober 1969 ein diffamierendes, freilich doppelbödiges Gedicht mit dem Titel: „Gebet der Pharisäer“. Darin hieß es unter anderem: „Wir danken dir, Gott, daß wir nicht sind wie das Petrusblatt. Wir hetzen nicht gegen andere, geben nur der Wahrheit die Ehre und manipulieren nie.“361 Diese Angriffe auf die offizielle Bistumszeitung erzielten nicht den gewünschten Effekt: Die Auflagenzahlen sanken weiter und die Türen des Ordinariats blieben der Redaktion verschlossen. Schließlich entschieden Herausgeber und Verleger der Zeitung, gegen das Ordinariat zu prozessieren, um presserechtliche Ansprüche geltend zu machen. Konkret warf Der CHRIST dem Ordinariat vor, amtliche Informationen dem Petrusblatt vorab zur Verfügung zu stellen. Diese Praxis widerspreche einer Wettbewerbsklausel des Berliner Pressegesetzes,362 wonach amtliche Bekanntmachungen erst im Amtsblatt des Bischöflichen Ordinariats Berlin zu veröffentlichen waren, bevor sie in anderen Medien publiziert werden durften. Das Berliner Verwaltungsgericht gab dem Kläger Recht. Das Ordinariat wurde „verpflichtet, seine amtlichen Bekanntmachungen, die nur den innerkirchlichen Bereich betreffen, dem Kläger nicht später als seinen Mitbewerbern zuzu-

358 Der innerkirchliche Dialog im Spiegel des Petrusblattes, in: Der CHRIST 29.11.1968, S. 7. 359 Die Sache mit dem Dialog, in: Der Christ 27. Februar 1970, S. 1.Vgl. Gesprächsprotokoll (vertraulich) 12.3.1969. DAB I/12–4a. 360 Aktennotiz. SFB-Kirchenfunksendung 6.3.1970, 16:05 Uhr. DAB I/12–4a. 361 Gebet der Pharisäer, in: Der CHRIST 3.10.1969, S. 4. 362 Berliner Pressegesetz § 4 Abs. 4: „Diese Vorschrift bestimmt, daß der Verleger einer Zeitung oder Zeitschrift von den Behörden verlangen kann, daß ihm deren amtliche Bekanntmachungen nicht später als seinen Mitbewerbern zur Verwertung zugeleitet werden.“

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leiten.“363 Der CHRIST feierte dieses Urteil als einen „Punktsieg“.364 Dabei handelte es sich eigentlich um einen Pyrrhussieg. Die Zeitung ging finanziell und personell erheblich geschwächt aus dem Verfahren. Nur zwei Monate nach Verkündung des Urteilsspruchs stellte sie ihr Erscheinen ganz ein.365 Die Amtskirche erlangte ihre publizistische Deutungshoheit vorerst zurück. Trotzdem ging von dem Prozess eine Signalwirkung aus. Der Rechtsanwalt Wolfgang Zoller, den das Ordinariat als Prozessbevollmächtigen bestellt hatte, wies darauf hin, dass es bei dem Rechtsstreit nicht nur um presserechtliche Belange gegangen war, sondern die seit der Weimarer Republik geltende kirchliche Autonomie offen in Frage gestellt worden war. Er befürchtete, dass das Urteil Folgeklagen nach sich ziehen könnte, die etwa die Bereiche Kirchensteuereinzug oder Konfessionsschulen beträfen.366 Der Konflikt zwischen dem West-Berliner Ordinariat und der Zeitung Der CHRIST entwickelte mit seinen einzelnen Eskalationsstufen eine Dynamik, die symptomatisch für die zeitgenössischen Probleme der katholischen Kirche in West-Berlin und anderswo war. Der Episkopat neigte dazu, Laieninitiativen offiziell zu ignorieren und inoffiziell genau zu beobachten. Wenn Gespräche nicht mehr möglich erschienen, versuchte die Kirchenleitung vermeintliche Gegner mittels Polemiken zu diffamieren. Genügte das nicht, um die entsprechenden Akteure zu diskreditieren, griffen Bischof und Ordinariat restriktiv durch. Die Versetzung oder Entlassung progressiver Kapläne sind nur Beispiele, die in einer langen Reihe von Skandalen stehen, welche den Westteil des Bistums seit Ende der 1960er-Jahre erschütterten.367

Die Repolitisierung der evangelischen Kirche in West-Berlin Kircheninterne Konflikte gingen seit dem Ende der 1960er-Jahre oft über Fragen hinaus, die allein kirchliche Praktiken oder die Amtskirche betrafen. Für Streit sorgten außerdem politische Meinungsverschiedenheiten, die aus dem Gemeindeleben nicht mehr herauszuhalten waren.368 Die gesellschaftliche Politisierung en363 Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin, III. Kammer, Geschäftszeichen VG III A 194.70 14.1.1971. DAB I/12–4a. 364 Vgl. Punktsieg für den CHRIST, in: Der CHRIST 22.1.1971, S. 1. 365 Vgl. An unsere Abonnenten und Leser, in: Der CHRIST 19.3.1971, S. 1. 366 Vgl. Rechtsanwalt und Notar Wolfgang Zoller an das Bischöfliche Ordinariat Berlin 9.3.1971. DAB I/12–4a. Siehe auch: Mitteilung KNA 8.8.1970. DAB I/12–4a. 367 Vgl. Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 149. 368 Vgl. Superintendentur Zehlendorf an das Konsistorium 18.7.1964. ELAB 1/8519. Siehe auch: Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 127–128.

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dete nicht an den Türschwellen der Kirchen. Die beschriebenen Skandale boten reichlich Zündstoff für eine zunehmende Radikalisierung der einzelnen Lager.369 Irritiert nahmen konservative Kirchenmitglieder wahr, dass der kirchliche Raum von Teilen der Kirchenbasis durchaus auch als politischer Raum begriffen wurde. Ein aufgebrachtes Gemeindemitglied schrieb 1967 an das Evangelische Konsistorium in West-Berlin und bekundete sein Unbehagen darüber, dass das Gemeindehaus Eichkamp in Charlottenburg als Ort für eine Wahlkampfveranstaltung der SPD vorgesehen war: „Nicht nur ich, sondern auch viele Bekannte waren darüber bestürzt, daß die Kirche zur politischen Arena werden soll und werden prüfen, ob eine solche Kirche noch unsere Kirche sein kann.“370 Das Konsistorium gab dem Verfasser insofern Recht als ein Beschluss aus dem August 1945 vorgab, politische Veranstaltungen in kirchlichen Räumen nicht mehr zu genehmigen. Allerdings, so das Konsistorium weiter, gehe diese Soll-Bestimmung auf Erfahrungen im Nationalsozialismus zurück, weshalb von einem Verbot der Veranstaltung abgesehen wurde.371 In der Folge beriet die Kirchenleitung darüber, den Beschluss von 1945 gänzlich zu kippen. Der Superintendent von Kölln Stadt riet jedoch eindringlich von einem solchen Schritt ab: „Eine klare räumliche Scheidung zwischen politischen und kirchlichen Veranstaltungen wäre dagegen in unserer Stadt sehr erwünscht.“372 Die Kirchenleitung habe die Pflicht, Veranstaltungen, die für Propagandazwecke missbraucht werden könnten, zu unterbinden, erklärte der Superintendent. Dieser Aufforderung konnte eine Kirchenleitung, die selbst immer häufiger politisch Stellung bezog, jedoch nur bedingt nachkommen. Doch das Thema blieb haften. Auch die evangelische Kirchenzeitung in WestBerlin, bemängelten Kritiker rund zehn Jahre später, 1979, „ist von einer oft peinlichen Linkslastigkeit geprägt.“373 Anhand von drei Themen versuchten die Verfasser deutlich zu machen, weshalb sie sich nicht mehr mit der Kirchenzeitung und den dafür Verantwortlichen identifizierten: Dazu gehörte der Umgang der Zeitung mit dem Terror der Roten Armee Fraktion (RAF). In der Berichterstattung sahen die Beschwerdeführer „eine nicht zu vertretende Verharmlosungstendenz.“374 Des Weiteren würde die Zeitung hinsichtlich des Bürgerkriegs im Libanon Argumente der radikalen Linken übernehmen, die eine feindliche Einstellung gegenüber Israel vermuten ließen, von der sie sich ausdrücklich distanzierten. Schließlich sei 369 Vgl. Weber: Getrennt und doch vereint, S. 777. 370 Dr. H. J. Schenck an das Evangelische Konsistorium 25.2.1967. ELAB 1.2/5119. Vgl. Dr. H. J. Schenck an Pfarrer Dr. Nikolitsch 25.2.1967. ELAB 1.2/5119. 371 Vgl. Dr. H. J. Schenck an das Evangelische Konsistorium 4.3.1967. ELAB 1.2/5119. 372 Superintendent Kölln Stadt an das Evangelische Konsistorium 28.6.1967. ELAB 1.2/5119. 373 Evangelisches Gemeindeblatt Berlin (Der Herausgeberkreis) an Reinhard Henkys (Berliner Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Publizistik) 13.5.1979. ELAB 222. 374 Ebenda.

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die Redaktion nur oberflächlich dazu bereit, sich mit dem Islam auseinanderzusetzen, womit die Kritiker meinten, dass „Beschreibungen […] eines militanten Mohammedanismus […] nur als naiv und schönfärberisch bezeichnet werden können.“375 Die Verfasser des Beschwerdebriefes kamen deshalb zu dem Schluss, dass das Berliner Sonntagsblatt aufgrund seiner einseitigen politischen Ausrichtung einen Großteil der evangelischen Kirchenmitglieder West-Berlins nicht mehr repräsentierte. Diese, so ergänzte ein Leserbriefschreiber, „würden lieber eine unpolitische Kirchenzeitung lesen.“376 Für das Berliner Sonntagsblatt bedeutete diese Kritik vor allem finanzielle Einbußen: Abonnements wurden gekündigt, offene Rechnungen nicht beglichen. Zwar gingen bei der Redaktion neben Beschwerden auch Solidaritätsbekundungen ein, dennoch häuften sich Fälle in denen das „Nachporto für Bestellscheine gezahlt werden mußte, die statt der Unterschrift den lapidaren Vermerk trugen: ‚Kein Geld für kommunistische Unterwanderung!‘“377 Wie war es soweit gekommen? Die evangelische Kirche in West-Berlin war im 20. Jahrhundert tief gespalten zwischen konservativen-evangelikalen Kräften und links-liberalen Kreisen.378 Die Ende der 1960er-Jahre verbreiteten Gerüchte, wonach die Kirchenleitung zum Beispiel RAF-Terroristen finanziell unterstütze oder konservative Pfarrer ehemalige NSDAP-Mitglieder waren, verweisen auf vorherrschende Ressentiments. Bei den schon erwähnten Hearings prallten diese aufeinander: Bischof Kurt Scharf und das Konsistorium wurden dabei immer wieder der Komplizenschaft mit linksradikalen Gruppen verdächtigt.379 Tatsächlich stand der überwiegend kleinbürgerlich geprägten Basis in der „Rentnerstadt“ West-Berlin eine Amtskirche gegenüber, die das Gespräch mit linken Protestgruppen suchte und sich offen für die Forderungen der sogenannten 68er-Generation zeigte:380 „Scharf galt als ‚linker‘ oder ‚roter‘ Bischof.“381 Die Bezeichnungen links und rechts gewannen auch auf Gemeindeebene zunehmend an Bedeutung und dienten dazu, Kirchenmitglieder einzuordnen, zu diffamieren, auszugrenzen. 375 Ebenda. Vgl. Scharf: Brücken und Breschen, S. 160–162. 376 A. Kupsch an die Redaktion des „Berliner Sonntagsblattes“ 1979. ELAB 222. 377 Die eigene Sache, in: Berliner Sonntagsblatt 21.1.1979, S. 3. Andere Unzufriedene forderten etwa in der West-Berliner Kirchenzeitung das Gegenteil und noch „mehr Mut zu brisanten Themen, zum Beispiel Frauenunterdrückung, Gewerkschaft und Kirche, Homosexualität und Sexualität allgemein.“ Fragebogenaktion, in: Berliner Sonntagsblatt 15.1.1978, S. 3. 378 Vgl. Fragebogenaktion, in: Berliner Sonntagsblatt 15.1.1978, S. 3. 379 Vgl. Kirchenkreis Berlin-Schöneberg. Themen-Katalog für Gespräch mit der Kirchenleitung am 9.3.1971. ELAB 1/3702. 380 Radatz: Auf der Insel, S. 42. Vgl. Heinrich: Alte Ordnungen, S. 830. 381 Fitschen: Berliner Kirchengeschichte, S. 145.

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Als linke Demonstranten am Silvestertag 1967 den Abendmahlsgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche störten und die Protestaktion von der Polizei beendet werden musste, verurteilte Bischof Scharf diesen Vorfall als Gewaltakt.382 Gleichzeitig besorgten ihn die Reaktionen vieler konservativer Gottesdienstbesucher, die laut gejubelt hatten, nachdem die Protestierenden der Kirche verwiesen worden waren. „Die Flut der Zuschriften, die ich danach erhalten habe“, erinnerte er sich später, „ist von flammendem Zorn diktiert, gelegentlich auch von glühendem Haß, in dem für die eine oder andere Seite Partei ergriffen und jeweils die Kirche als Bannträger der Revolution oder als Hort der Reaktion beschimpft wurde.“383 Scharf lehnte die Beteiligung evangelischer Kirchenmitglieder an friedlichen Demonstrationen nicht grundsätzlich ab: In allen Auseinandersetzungen habe ich immer wieder öffentlich erklärt, daß die Kirche Gewaltanwendung in den gesellschaftlichen Kämpfen nicht befürworten kann. Aber ich bin gleichzeitig auch immer dafür eingetreten, mit denen zu reden, die in Opposition zur Gesellschaft stehen, besonders mit der Jugend.384

Gegenüber der breiten Basis musste Scharf sich für solche Aussagen rechtfertigen, obwohl er betonte, dass seine Aufgabe darin bestehe, zwischen den Parteien und vor allem zwischen den Generationen zu vermitteln und nicht darin, sie gegeneinander aufzubringen.385 Auch auf Kirchenleitungsebene formierte sich zunehmend Widerstand gegen den amtierenden Bischof. Tonangebend war dabei Generalsuperintendent HansMartin Helbich. Bei dessen Ankunft in Berlin hatte die Neue Zeit 1961 geradezu vorrausschauend gefragt: „‚Neuer Mann‘ aber alter Geist?“386 1968 gehörte Helbich dann zu denjenigen, die die Einberufung einer Sondersynode forderten, um Scharf zur Rede zu stellen und abzumahnen. Helbich und der Schöneberger Superintendent Reinhold George, im Nationalsozialismus engagiertes Mitglied in der Bekennenden Kirche, hielten Scharf vor, durch sein Verhalten für einen Kirchenaustritt zu werben und die Säkularisierung der Gesellschaft voranzutreiben.387 Vier Jahre später, 1972, war Helbich eines der Gründungsmitglieder der Gruppe Berliner Pro382 Vorausgegangen war diesem Protest ein Eklat am Heiligabend. Rudi Dutschke hatte die Kanzel in der Kirche besetzt. Aufgrund von Gewaltandrohungen anderer Gottesdienstbesucher floh Dutschke schließlich aus der Kirche. Vgl. Radatz: Auf der Insel, S. 42–43. 383 Scharf: Brücken und Breschen, S. 163. 384 Ebenda, S. 150. 385 Vgl. Fitschen: Berliner Kirchengeschichte, S. 144. Siehe auch: Scharf: Brücken und Breschen, S. 150. Und: Radatz: Auf der Insel, S. 42. Sowie: Bruder General, in: Der SPIEGEL 22.4.1974, S. 65–66. 386 „Neuer Mann“ aber alter Geist?, in: Neue Zeit 27.6.1961, S. 2. 387 Vgl. Fitschen: Berliner Kirchengeschichte, S. 145.

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testanten, die Scharf dafür verantwortlich machten, dass die evangelische Kirche in West-Berlin von Marxisten unterwandert werde. George war zu diesem Zeitpunkt schon seit fünf Jahren in der konservativen Arbeitsgemeinschaft Evangelische Sammlung Berlin aktiv, die sich gegen moderne Strömungen in der evangelischen Theologie einsetzte. Die Berliner Protestanten und die Evangelische Sammlung Berlin gingen gemeinsam mit anderen evangelisch-konservativen und evangelikalen Gruppen 1974 bei einer Bekenntnisversammlung in der Evangelischen Aktion Berlin auf. 388 Dem Selbstverständnis nach befand sich diese Gruppe in Anlehnung an die Zeit des Nationalsozialismus in einem „zweiten Kirchenkampf“, der auch als „Berliner Kirchenstreit“ oder „Berliner Kirchenkampf“ bekannt wurde.389 Von dieser Seite war Scharf ständigen Angriffen ausgesetzt, was bei der ohnehin verunsicherten Kirchenbasis zunehmend für Beunruhigung sorgte. Vor allem die Kontakte von Mitgliedern der evangelischen Studentengemeinde und einiger Vikare zur Studentenbewegung und zu Mitgliedern der RAF sowie die vermeintliche Duldung dieser Beziehungen durch Bischof und Konsistorium nannten Kirchenmitglieder als Grund für ein belastetes Verhältnis zur Amtskirche.390 Aufsehen erregte in diesem Kontext ein Treffen Scharfs mit der inhaftierten RAF-Terroristin Ulrike Meinhof 1974. Nachdem sein Besuch öffentlich geworden war, gab Scharf an, als Ersatzmann eingesprungen zu sein und verwies darauf, dass „Gefängnisseelsorge ein unaufgebbarer pastoraler Dienst ist.“391 Das Treffen mit Meinhof bezeichnete er als „politische Diakonie“.392 Außerdem machte Scharf geltend „in den Gefängnissen keineswegs nur ‚linke‘, sondern genauso ‚rechte‘, rechtsradikale Inhaftierte besucht“ zu haben.393 Gerüchte, wonach sein Besuch bei Ulrike Meinhof in einem direkten Zusammenhang mit dem Mord am Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann stand, der von der RAF wenige Tage später ermordet worden war, bezeichnete Scharf als „hanebüchen“.394 Trotzdem brachte ihm das Gespräch mit Meinhof in weiten Teilen der Öffentlichkeit den Vorwurf ein, sich mit Terroristen gemein gemacht zu haben.395 Die 388 Vgl. Bruder General, in: Der SPIEGEL 22.4.1974, S. 65–66. Siehe auch: Fitschen: Berliner Kirchengeschichte, S. 146. Oder: IM-Bericht IM Werner 16.8.1973. BStU MfS 11697/92. 389 Fitschen: Berliner Kirchengeschichte, S. 146. Vgl. Radatz: Auf der Insel, S. 41. 390 Vgl. Scharf: Brücken und Breschen, S. 175. Siehe auch: Radatz: Auf der Insel, S. 41. 391 Scharf: Brücken und Breschen, S. 178. 392 „‚Politische Diakonie‘ […] geschieht dadurch, daß die Kirche Stellung nimmt zu bestimmten Notständen, auch zu Interessen-Konflikten, und daß sie ihre Mithilfe zur Verfügung stellt.“ Scharf: Brücken und Breschen, S. 173. Vgl. S. 177–186. Siehe auch: Radatz: Auf der Insel, S. 59–63. 393 Scharf: Brücken und Breschen, S. 172. Vgl. Radatz: Auf der Insel, S. 59. 394 Ebenda, S. 172. 395 Vgl. ebenda, S. 175. Siehe auch: Fitschen: Berliner Kirchengeschichte, S. 146.

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Medien berichteten ausführlich über die Begegnung und fachten damit auch die Stimmungsmache gegen den Bischof weiter an, allen voran die Bild-Zeitung.396 Deren Verleger Axel Springer hatte bereits 1970 erklärt, dass er wegen Scharf die evangelische Kirche verlassen habe und zu den Alt-Lutheranern konvertiert sei.397 Die Ost-Berliner Presse mischte ebenfalls mit. Das Neue Deutschland erklärte, dass Scharf nach seinem Treffen mit Meinhof aus West-Berliner Polizei- und Justizkreisen aufgefordert worden sei, zurückzutreten.398 Wenngleich die DDR-Zeitung mit derlei Meldungen vorrangig ihre Kritik an den West-Berliner Behörden deutlich machen wollte, unterstützte sie auf diese Weise dennoch die Gegner des Bischofs. Diese waren sich sicher, dass Scharf der Reputation der Kirche schade. Schließlich gingen Scharfs innerkirchliche Gegner dazu über, die kontinuierlich ansteigenden Austrittszahlen auf seine Person zurückzuführen. Rückblickend betrachtet gibt es jedoch keine belastbaren Anhaltspunkte für einen solchen Kausalzusammenhang. Ungeachtet dessen stand die West-Berliner Synode weiter hinter ihrem Bischof und wies alle Rücktrittsforderungen zurück. Dass Superintendent George derweil in CDU-Kreisen bereits als Nachfolger von Scharf gehandelt wurde, änderte nichts daran.399 Erst Ende 1976 ging Scharf wie geplant in den Ruhestand.400 Ihm folgte Martin Kruse, der als ein Kandidat der Mitte galt und die unterschiedlichen Lager in der evangelischen Kirche West-Berlins wieder zusammenführen sollte.

Katholische Kirche und Politisierung Umgekehrt verhielt es sich in der katholischen Kirche. Anders als das Evangelische Konsistorium warnte die West-Berliner Amtskirche davor, die Kirche für politische Diskussionen zu öffnen. Eine von Teilen der Kirchenbasis geforderte Politisierung der Geistlichen sah der Episkopat ebenfalls kritisch.401 Ein Beispiel für diesen Widerwillen ist die Auseinandersetzung zwischen Kirchenleitung und katholi-

396 Vgl. Kampagne gegen Westberliner Bischof Scharf angeheizt, in: Neues Deutschland 23.11.1974, S. 2. Siehe auch: Scharf: Brücken und Breschen, S. 172–173. 397 Vgl. Bruder General, in: Der SPIEGEL 22.4.1974, S. 65–66. Vgl. Wieder auf Vordermann, in: Neue Zeit 28.3.1969, S. 2. 398 Kampagne gegen den Westberliner Bischof Scharf, in: Neues Deutschland 22.11.1974, S. 7. Siehe auch: Kampagne gegen Westberliner Bischof Scharf angeheizt, in: Neues Deutschland 23.11.1974, S. 2. 399 Vgl. Bruder General, in: Der SPIEGEL 22.4.1974, S. 65–66. 400 Vgl. Bischofswahl in Westberlin, in: Neue Zeit 5.6.1976, S. 8. 401 Vgl. Das aktuelle Thema. Politisierung?, in: Petrusblatt 15.12.1968, S. 1.

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scher Studentengemeinde, die Ende der 1960er-Jahre in Protesten rund um das katholische Studentenwohnheim eskalierte und wesentliche Probleme aufzeigt.402 Während der Osterfeiertage 1968 fanden in West-Berlin Demonstrationen statt, die die Kirchenleitung zu einem Kurswechsel im Sinne des Konzils aufriefen. Doch das Petrusblatt tat den Protest wie üblich als „fehlgeleitet“ ab, während sich das Ordinariat in Schweigen hüllte.403 Nach dem Katholikentag in Essen, der im September 1968 stattfand, fasste die Katholische Studentengemeinde (KSG) in West-Berlin jedoch neuen Mut: Katholische Laien hatten ihre Kritik an der Amtskirche in Essen ungewöhnlich deutlich zur Sprache gebracht.404 Für konservative katholische Kreise war das ein Indiz dafür, dass das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das das überregionale Treffen ausrichtete, „schon genug links steht“405 – für die Studentengemeinde in West-Berlin hingegen ein Beleg dafür, dass Amtskirche und kirchliche Medien „die Pluralität der Meinungen innerhalb der Kirche nicht genügend widerspiegelten.“406 Im Folgenden entwickelte sich West-Berlin zu einem Zentrum der katholischen Studentenbewegung. Hier wurden Praktiken erprobt, die Vorbildcharakter für andere Studentengemeinden in der Bundesrepublik hatten. Den West-Berliner Studierenden ging es vor allem darum, Protestformen, die sie im universitären Bereich kennengelernt hatten, in den kirchlichen Raum zu übertragen. Ein zentraler Ort des studentischen Protests war das Wilhelm-Weskamm-Haus in der Charlottenburger Suarezstraße. Dabei handelte es sich um ein katholisches Studentenwohnheim, das 1956 fertig gestellt worden war. Rechtsträger des Wohnheims war das Bischöfliche Ordinariat, Trägerorganisation der Verein katholisches Studentenwohnheim. Den Studentenpfarrer sowie den Heimleiter stellte der Jesuitenorden. Nachdem ein Bewohner des Hauses 1966 an einem teach-in an der Freien Universität teilgenommen hatte, organisierte er ein sit-in im Wilhelm-Weskamm-Haus. Die Hauptforderung der Studenten bei dieser Demonstration war ein Ende des Verbots von Damenbesuch nach 22 Uhr. Das wurde abgelehnt. Im Februar 1967 fand ein weiteres sit-in – dieses Mal im Bischöflichen Ordinariat – statt. Etwa ein Drittel der Bewohner des Wilhelm-Weskamm-Hauses setzte sich bei dieser Aktion dafür ein, dass das Wohnheim künftig zumindest in Teilen von den Studierenden selbstverwaltet werden sollte. Doch auch mit diesem Anliegen fanden die Protestierenden kein Gehör bei der Bistumsleitung. Stattdessen

402 403 404 eint, 405 406

Vgl. Enttäuschte Erwartungen, in: Petrusblatt 18.2.1968, S. 5. Kommentar, in: Petrusblatt 28.4.1968, S. 3. Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 137. Siehe auch: Weber: Getrennt und doch verS. 778. Das aktuelle Thema. Blick nach Essen, in: Petrusblatt 21.7.1968, S. 1. 82. Katholikentag in Essen, in: Petrusblatt 15.9.1968, S. 1.

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drohte das Ordinariat mit einer Klage und kündigte an, die Mietverträge einiger Bewohner nicht zu verlängern. Der gewaltvolle Tod Benno Ohnesorgs 1967 und der Mordanschlag auf Rudi Dutschke 1968 belasteten das Verhältnis zwischen Amtskirche und katholischen Studierenden zusätzlich, weil beide Ereignisse vom Episkopat nicht kommentiert wurden. Die Studierenden hatten erwartet, dass die Kirchenleitung diese Gewalttaten verurteilte. Hinzu kam, dass Angebote der katholischen Studierenden, in einen Dialog mit der Amtskirche zu treten, wiederholt abgelehnt wurden.407 Im Februar 1969 drohte die Situation im Wilhelm-Weskamm-Haus deshalb zu eskalieren. An der Vorderfront des Wohnheims brachten die Bewohner ein Transparent an, auf dem in großen Lettern das Wort „MITBESTIMMUNG“ stand. 408 Sie forderten die Einführung gemischter Etagen, die Festsetzung von Höchstmieten und die Anschaffung einer Waschmaschine. Doch das Ordinariat war weiterhin nicht bereit, auf die Studierenden zuzugehen. Die Heimleitung erklärte, dass die studentischen Forderungen in einem katholischen Haus nicht umzusetzen seien.409 Zwei Monate später, im April 1969, wurde auf einer Hausversammlung bekannt gegeben, dass das Wohnheim im Wintersemester 1969/1970 wegen umfangreicher Reparatur- und Renovierungsarbeiten geschlossen werden sollte. Viele Bewohner reagierten empört auf diese Ankündigung und sahen darin einen Versuch des Ordinariats missliebig gewordene Mieter loszuwerden. Außerdem verwiesen sie auf die soziale Dimension dieser Entscheidung: Wo sollten die Studierenden unterkommen? Als im Mai 1969 das Bischöfliche Ordinariat mit Hakenkreuzen beschmiert wurde, mutmaßte die jesuitische Heimleitung, dass unzufriedene Bewohner des Wilhelm-Weskamm-Hauses für die Aktion verantwortlich waren. Das Ordinariat erklärte daraufhin am 22. Mai, dass der Entschluss, das Haus zu entmieten, unumstößlich sei. Acht Tage danach, am 1. Juni 1969, traten 92 von insgesamt 172 Bewohnern in einen Mietstreik. Diskussionen zwischen dem Träger des Hauses und den Studierenden, die in den Folgetagen stattfanden, blieben erfolglos. Die Bewohner konnten weder eine neue Hausordnung durchsetzen noch die Sanierungspläne stoppen. Der Konflikt griff auch auf die West-Berliner Fronleichnamsprozessionen dieses Jahres über.410 Am 5. Juni 1969 mischten sich Protestierende unter die Prozessionsteilnehmenden. Sie hielten Transparente in die Höhe auf denen ihre Kritik an

407 Vgl. Hampel, Benedikt: Geist des Konzils oder Geist von 1968? Katholische Studentengemeinden im geteilten Deutschland der 1960er Jahre, Berlin 2017, S. 226–228. 408 WWH probt Aufstand, in: Der CHRIST 14.2.1969, S. 1. 409 Vgl. ebenda. 410 Vgl. Hampel: Geist des Konzils, S. 230.

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der Bistumsleitung deutlich zum Ausdruck kam. Zu lesen war: „WWH-Wohn-KZ“, „Gegen Demokraten helfen nur Prälaten“ und „Bengsch-Kreuzzug gegen Rote – die Kirche braucht mehr Tote“.411 Am Rand der Prozession kam es außerdem zu Handgreiflichkeiten. Teilnehmende versuchten den protestierenden Studierenden die Plakate aus den Händen zu reißen. Mehrere Personen wurden verletzt.412 Den Höhepunkt des Konflikts stellte schließlich die Besetzung des WilhelmWeskamm-Hauses dar, die offiziell am 11. Juni 1969 begann und das Ziel hatte, das Haus von der Kirche zu übernehmen. Angesichts dieser Eskalation verließ der jesuitische Heimleiter das Wohnheim wenige Tage nach Beginn der Besetzung. Das Petrusblatt griff die Besetzer hart an, bezichtigte sie des Diebstahls und des Vandalismus.413 Parallel zur Berichterstattung im Petrusblatt machte das Ordinariat abermals deutlich, dass es nicht einlenken werde. Bei einer Polizeiaktion Anfang September 1969 wurden die Räume des Hauses durchsucht und mehrere Bewohner festgenommen. Der Trägerverein hatte die Polizei zuvor über vermeintlich „strafbare Handlungen“ informiert.414 Am Monatsende wurde das Haus dann wie angekündigt geräumt und geschlossen. Die angekündigte Wiedereröffnung im Sommersemester 1970 fand nicht statt.

Problemangepasste Lösungen – Umdenken in der evangelischen Kirche nach 1968 Für die Ortsgemeinden ergaben sich aus dieser Gemengelage zwei zentrale Handlungsfelder: Einerseits war es notwendig, die politischen Differenzen der Kirchenmitglieder im kirchlichen Raum einzuhegen. Andererseits mussten sie auf gesamtgesellschaftliche, vorrangig soziale Probleme reagieren, die vom kirchlichen Leben nicht mehr zu trennen waren. In der evangelischen Kirche gab es eine starke Tendenz dazu, möglichst präzise auf spezifische Fragestellungen vor Ort zu reagieren. Nach einer Visitation in Kreuzberg resümierten die Berichterstatter 1982: „Es gibt für die Kreuzberger Gemeinden und ihre Arbeit keinen Generalnenner und kein Patentrezept.“415 Die Mehrzahl der evangelischen Gemeinden in Kreuzberg, das zum Kirchenkreis Kölln gehörte, hatte ihre Arbeit zu diesem Zeitpunkt bereits schwerpunktmäßig auf Be411 Schlägereien bei Prozession, in: Der CHRIST 13.6.1969, S. 3. 412 Ebenda, S. 1. 413 Vgl. Hampel: Geist des Konzils, S. 230–231. Siehe auch: Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 154–156 und S. 168. 414 400 Polizisten stürmten Westberliner Studentenwohnheim, in: Berliner Zeitung 10.9.1969, S. 2. Vgl. Razzia im Weskamm-Haus in Westberlin, in: St. Hedwigsblatt 16.9.1969, S. 4. 415 Gesamtauswertung der Visitation 1982. ELAB 36/524.

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ratungsangebote und Begegnungsmöglichkeiten verlegt. Es entstanden neue beziehungsweise angepasste Hilfsangebote für Menschen mit Problemen in Ehe und Familie oder in den Bereichen Mieten, Wohnen und Stadtentwicklung sowie Suchtprävention.416 Die Kontaktaufnahme mit ausländischen, nichtchristlichen Anwohnern entwickelte sich daneben zu einer Kernaufgabe der Gemeinden. Voraussetzung dafür war, dass sich die Gemeinden mit den Schwierigkeiten in ihrem Umfeld auseinandersetzten, sich entsprechend informierten und über die notwendigen Kapazitäten und Qualifikationen verfügten.417 Ergebnisse einer solchen Bestandsaufnahme waren zum Beispiel die Eröffnung neuer kirchlicher Einrichtungen wie des TAMs – Treff am Mehringplatz, des Jugendzentrums Wille oder des Deutsch-Türkischen Kinderclubs in der Gemeinde Heilig-Kreuz, der so gut angenommen wurde, dass das Gemeindehaus regelmäßig an seine Kapazitätsgrenzen stieß.418 Zudem etablierten sich regelmäßige Diskussionsveranstaltungen mit der wachsenden Hausbesetzerszene im Stadtteil sowie das Frauen-Café der Martha-Ölberggemeinde, das als wichtiger „Freiraum im Vorfeld der Gemeindearbeit“ verstanden wurde.419 Gemeindeleitungen, die solche Initiativen auf den Weg brachten, öffneten nicht nur Kirchenräume, sondern stellten gleichzeitig tradierte Vorstellungen von kirchlicher Arbeit in Frage. Der Missionsgedanke trat dabei deutlich zurück und nichtchristliche Menschen als Adressaten kirchlichen Wirkens rückten in den Vordergrund. Darüber hinaus übernahmen diese Einrichtungen eine visionäre Funktion, denn sie wurden auch als Vorbilder für eine mögliche Umnutzung kirchlicher Räume betrachtet: Für die „übergroßen Innenstadtkirchen (Heiligkeuz, Passion, St. Thomas, Tabor), die aus volkskirchlichen Vorstellungen heraus entstanden waren“ bedurfte es dringend neuer, pragmatischer Nutzungskonzepte.420 Für einige Gemeinden hatte der stetige Mitgliederschwund bereits zu diesem Zeitpunkt eine existenzielle Dimension erreicht, erklärte der Kreuzberger Pfarrer Klaus Duntze: „Das Bestehen der Kerngemeinden ist […] bei vielen […] Gemeinden bis an die Grenze des Existierens gefährdet.“421 Vor diesem Hintergrund fanden 416 Vgl. Duntze: Die Ev. Kirche in Berlin (West), S. 78–79. 417 Vgl. Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über das Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt Dezember 1973-Oktober 1974. ELAB 36/524. Siehe auch: Radatz: Auf der Insel, S. 47. 418 Vgl. Bericht über die Visitation des Kirchenkreises Kreuzberg vom 19.-26.9.1982. ELAB 36/524. Siehe auch: Bericht über die Visitation der Gemeinde zum Heiligen Kreuz vom 19. bis 26.9.1982. ELAB 36/524. Und: Bericht des Kreiskirchenrates für die Visitation 1982. ELAB 36/524. Sowie: Duntze: Die Ev. Kirche in Berlin (West), S. 80. 419 Bericht über die Visitation des Kirchenkreises Kreuzberg vom 19.-26.9.1982. ELAB 36/524. Vgl: Duntze: Ev. Kirche in Berlin (West), S. 83. Sowie: Hochmuth: Kiezgeschichten, S. 215–221. 420 Bericht des Kreiskirchenrates für die Visitation 1982. ELAB 36/524. 421 Duntze: Die Ev. Kirche in Berlin (West), S. 78.

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schon seit den späten 1960er-Jahren von den Gemeinden initiierte Arbeitsgruppen in Kreuzberg zusammen, die sich mit der stadtplanerischen Entwicklung und ihren Folgen im Kiez auseinandersetzten.422 Zu den viel diskutierten Themen zählten unter anderem die geplante Kahlschlagsanierung am Kottbusser Tor sowie die Sanierungspläne rund um den Chamissoplatz im Bergmannkiez. Daran anknüpfend stand die Synode des Kirchenkreises 1969 unter dem Motto „Kirche in der Stadt – Diakonie in Kreuzberg“.423 Sie gab auch den Anstoß zur Gründung eines Ausschusses für Fragen der Stadtveränderung und Gemeindeplanung. Alle Kreuzberger Gemeinden gehörten diesem Gremium an.424 Von den kirchlichen Arbeitsgruppen gingen später Stadtteilinitiativen und Planungsgruppen aus.425 Die Zusammenarbeit vor Ort funktionierte gut. Probleme gab es hingegen mit staatlichen Stellen. Vorschläge und Nachfragen, die die Initiativen einbrachten, blieben häufig unbeantwortet. Die Kirchen wurden nur begrenzt als Vermittler zwischen verschiedenen Interessengruppen akzeptiert.426 Für Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter bedeutete dieser sehr ortsangepasste, spezialisierte Ansatz eine enorme Herausforderung. Positiv reagierten Pfarrer und Mitarbeiter daher auf die schon lange geforderte Einrichtung von Konventen, bei denen die einzelnen Berufsgruppen miteinander ins Gespräch kommen konnten.427 Generell setzte ein Umdenken im Bereich der Mitarbeiterpolitik ein. Das schlug sich auch sprachlich nieder. So sollte zum Beispiel nicht mehr zwischen Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern unterschieden werden, sondern allgemein von Mitarbeitern gesprochen werden.428 Die Kirchenleitung wollte außerdem weniger als Kontrolleurin und mehr als Beraterin in Erscheinung treten, was wie bereits erwähnt, auch Einfluss auf den Charakter der Visitationen nehmen sollte. Solche Vorsätze unterstrichen den Willen, innerkirchliche Kommunikationskulturen zu verändern – sie demokratischer, dialogoffener zu gestalten und die nach wie

422 Viele dieser Initiativen brachte der bereits zitierte Kreuzberger Pfarrer Klaus Duntze auf den Weg. Vgl. Duntze, Klaus: Der Geist der Städte baut, Stuttgart 1972. Siehe auch: Hochmuth: Kiezgeschichten, S. 202–208. 423 Duntze: Die Ev. Kirche in Berlin (West), S. 79. 424 Vgl. ebenda, S. 80. 425 Fitschen: Berliner Kirchengeschichte, S. 145. 426 Vgl. Duntze: Ev. Kirche in Berlin (West), S. 80. 427 Vgl. Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über das Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt Dezember 1973-Oktober 1974. ELAB 36/524. Siehe auch: Radatz: Auf der Insel, S. 46. 428 Vgl. ebenda, S. 47.

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Kapitel 4: Entflechtung

vor gängigen Top-Down-Prozesse in Frage zu stellen: „Wir wollen aufmerksame Gesprächspartner sein, die mehr hören und fragen als selber reden.“429 Trotz der oftmals positiven Aufmerksamkeit, die das kirchliche Engagement im Sozialbereich erfuhr, sah die Kirchenleitung – zum Missfallen der Ortsgemeinden – diese veränderte Schwerpunktsetzung kritisch.430 Sie befürchtete, dass sich neue, innovative Projekte von der Amtskirche separierten. Regelmäßig ergingen deshalb Aufforderungen an diese Einrichtungen, wonach „die Zusammenarbeit mit der Gemeinde, mit dem Kirchenkreis, mit anderen Gruppierungen des kirchlichen Lebens intensiviert werden sollte, damit die Gefahr der Isolierung und Selbstgenügsamkeit […] rechtzeitig gesehen wird.“431 Kreuzberg, so Visitatoren 1982, dürfe „nicht eine Mentalität verstärken ‚bei uns ist alles anders‘ und: Kreuzberg braucht personelle Verklammerungen mit ehrenamtlichen Kräften aus dem weiteren Raum der Kirche.“432 Zudem wiesen die Visitatoren darauf hin, dass es der Kirche beziehungsweise einzelnen Gemeinden unmöglich gelingen konnte, die Vielzahl der komplexen Probleme allein zu bewältigen. Die kirchliche Infrastruktur stoße bei solchen Versuchen unweigerlich an ihre Grenzen, mahnten sie: „Kirche kann nicht einfach zum Retter für gesellschaftlich bedenkliche Entwicklungen reklamiert werden, weder von innen noch von außen.“433 Diese These war mehr als eine Entschuldigung oder Ausrede. Es handelte sich vielmehr um eine realistische Einschätzung vorhandener Ressourcen, die auf einen Wandel im Selbstverständnis der evangelischen Kirche in West-Berlin hindeutete: Diese begriff sich immer mehr – auch – als Unternehmerin und agierte dementsprechend. Sie war nicht nur in der Demokratie, sondern auch im Kapitalismus angekommen.434 Ein Grund dafür war unter anderem der Rückgang des Kirchensteueraufkommens infolge hoher Mitgliederverluste. In vielen Gemeinden kam dieser Wandel zum Beispiel im veränderten Freizeitangebot zum Ausdruck.435 Die Einkünfte aus Reisen, die Gemeinden anboten, oder Freizeiten, die sie organisierten, trugen dazu bei, die finanzielle Situation vor Ort zu stabilisieren und erwiesen sich damit als ökonomische Stütze in einer 429 Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über das Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt Dezember 1973-Oktober 1974. ELAB 36/524. 430 Vgl. Duntze: Ev. Kirche in Berlin (West), S. 85. 431 Bericht über die Visitation des Kirchenkreises Kreuzberg vom 19.-26.9.1982. ELAB 36/524. Vgl. Duntze: Ev. Kirche in Berlin (West), S. 81. 432 Gesamtauswertung der Visitation 1982. ELAB 36/524. 433 Ebenda. 434 Vgl. Radatz: Auf der Insel, S. 46–47. 435 Vgl. Bericht über die Visitation der Gemeinde zum Heiligen Kreuz vom 19. bis 26.9.1982. ELAB 36/524.

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von zahlreichen Kürzungen geprägten Kirche. Umgekehrt basierten Entscheidungen, sich aus bestimmten Bereichen zurückzuziehen, ebenfalls auf der Ökonomisierung der kirchlichen Arbeit. Der Rückzug aus der offenen Jugendarbeit oder andere Einschränkungen im Bereich der Sozialarbeit sind hier als Beispiele zu nennen.436 Mit ökonomischen Restriktionen waren insbesondere junge Gemeinden konfrontiert, die im Zuge der Erschließung neuer Wohnviertel entstanden waren. In der Gropiusstadt, einem Neubauviertel im Südosten West-Berlins für 60.000 Einwohner, 47.000 davon evangelisch, konnte sich die Kirchenleitung zunächst nicht darauf festlegen, welche Form die kirchlichen Strukturen vor Ort haben sollten. Der Theologe Franz von Hammerstein sprach sich dagegen aus, traditionelle Parochialgemeinden zu gründen, in denen jede Seelsorgerin oder jeder Seelsorger für bestimmte Kirchenmitglieder zuständig waren. Er plädierte für die Bildung eines Gemeindeteams und riet dazu, neben Pfarrern auch „Sozialsekretäre, Jugendleiter, Fürsorger, Psychologen und Soziologen“ einzustellen.437 Die Evangelische Kirche in West-Berlin machte dafür im Juli 1970 den Weg frei. Sie erließ ein Kirchengesetz „über den Erlaß von Rechtsverordnungen zur Erprobung neuer Formen kirchlichen Lebens und Handelns (Erprobungsgesetz).“438 In der Gropiusstadt entstand eine Mischform mit Modellcharakter. Das Gebiet wurde in zwei parochiale Gemeinden aufgeteilt, die gemeinsam ein Evangelisches Zentrum als überparochiale Einrichtung unterhielten. In regelmäßigen Abständen sollten die Gemeindekirchenräte der beiden Parochien gemeinsam tagen, um ihre Arbeit aufeinander abzustimmen. Die Gemeindearbeit sollte sich auf die Bereiche Kinder-, Jugend- und Familienarbeit konzentrieren. Dazu gehörte die Einrichtung eines Miniklubs, einer Kinderbücherei und einer Kindertagesstätte.439 In der Jugendarbeit standen Freizeitaktivitäten im Vordergrund. Neben Beat-Abenden waren Sportveranstaltungen und Filmvorführungen geplant. Für die Elterngeneration sollten Kochkurse für Mütter, ein Briefmarkenclub und Schulungen der Johan-

436 Vgl. Duntze: Die ev. Kirche in Berlin (West), S. 82. 437 Erste Bilanz des Evangelischen Zentrums BBR. (Haus der Mitte) 1.7.1971–25.6.1972. ELAB 36/ 527. 438 4. Kirchengesetz über den Erlaß von Rechtsverordnungen zur Erprobung neuer Formen kirchlichen Lebens und Handelns (Erprobungsgesetz), in: Kirchliches Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, 20.7.1970, S. 49–50. 439 „Der Mini-Club ist ein Angebot für 3–5 jährige Kinder. Er stelle eine Alternative zum Kindergarten da. Wichtiger Bestandteil der Mini-Club-Einrichtung ist die Elternmitarbeit. Diese ist dadurch gewährleistet, daß die Kinder hauptsächlich aus Familien stammen, in denen die Mütter (seltener auch die Väter) nicht berufstätig sind.“ Seit den 1960er-Jahre waren Mini-Clubs in WestBerlin populär. Kirchenvisitation Wilmersdorf 1983–1984. ELAB 36/530.

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Kapitel 4: Entflechtung

niterunfallhilfe angeboten werden. Kirchliche Themen traten demgegenüber in den Hintergrund. Der Ansatz, das Evangelische Zentrum übergemeindlich zu gestalten, stieß jedoch bald an seine Grenzen. Es erwies sich für viele Gemeindemitglieder als überaus schwierig, tradierte parochiale Denkmuster abzulegen. Das war vor allem deshalb ein Problem, weil „die Arbeit parochialer Gemeinden nur scheinbar auf die Gesamtbevölkerung […] ausgerichtet ist, in Wahrheit findet der Bezug nur zu wenigen, bestimmten Terminen statt.“440 Der Leiterkreis des Zentrums schlug deshalb 1975 vor, das Haus nicht länger im Verantwortungsbereich der Ortsgemeinden zu belassen, sondern direkt an den Kirchenkreis anzubinden.441 Mit anderen Worten: die evangelische Gropiusstadt war für ein „Modell mit Experimentiercharakter“ nicht bereit gewesen.442 Viele der ursprünglichen Ideen wurden deshalb nur in Teilen umgesetzt. Laienmitglieder reagierten oft überfordert auf neue Formen. Sie wollten sich nicht von eingeübten Praktiken lösen oder diese neuen Zielgruppen anpassen. Veränderungen schienen ihrem Bedürfnis nach Abgrenzung und Zuordnung nicht gerecht zu werden. Umgekehrt verhielt es sich nicht anders. „Überhaupt,“ so lautete es in der ersten Bilanz des Evangelischen Zentrums, „entspricht es dem Wesen der meisten geschlossenen Gruppenangebote, daß Form und Inhalt instinktiv oder aus eigener Erfahrung von Arbeiterjugendlichen abgelehnt werden, weil sie die Ansprüche bürgerlicher Freizeitpädagogik ohnehin als fremd oder für sie als unerfüllbar ablehnen mussten.“443 Viele Kirchenmitglieder spiegelten diese Wahrnehmung. Angebote, die sich an die nichtchristliche Bevölkerung richteten oder Kirchenmitglieder ansprachen, die sich nicht in den Gemeinden engagierten, verorteten sie weiterhin separat vom traditionellen Kirchenalltag. Was als Miteinander gedacht worden war, geschah tatsächlich nebeneinander. Experimentiert wurde auch in anderen Bereichen des kirchlichen Lebens. Es fanden zum Beispiel zunehmend Gottesdienste statt, an denen neben dem Pfarrer andere Gemeindemitglieder aktiv partizipierten.444 Am Brunsbüttler Damm in Berlin-Spandau mietete der Pfarrer Ernst Lange eine ehemalige Bäckerei an und eröffnete dort 1960 eine sogenannte Ladenkirche. Dieses Format hatte er in den USA kennengelernt. Während des Gottesdienstes saß die Gemeinde mit dem Pfarrer um einen runden Tisch. Im Anschluss an die Predigt diskutierten dann alle zu440 527. 441 442 527. 443 444

Erste Bilanz des Evangelischen Zentrums BBR. (Haus der Mitte) 1.7.1971–25.6.1972. ELAB 36/ Vgl. Entwurf. Thesen zur Visitation in der Gropiusstadt 9.5.1975. ELAB 36/527. Erste Bilanz des Evangelischen Zentrums BBR. (Haus der Mitte) 1.7.1971–25.6.1972. ELAB 36/ Forderungen an den Kreiskirchenrat 1971/1972. ELAB 36/527. Vgl. ebenda, S. 46.

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sammen deren Inhalte.445 Diese Gesprächsgottesdienste sollten dazu dienen, die oft durch eine Autoritätsdifferenz bedingte Lücke zwischen Pfarrer und Gemeinde zu verkleinern und den innerkirchlichen Dialog anzuregen.446 Obwohl darauf ausgerichtet, die Beziehung der Gottesdienstbesucher zur Kirche zu stärken, sahen insbesondere konservative Pfarrer in Initiativen wie der Ladenkirche die Gefahr, dass der Gottesdienst zum politischen Stammtisch werde. Im Evangelischen Zentrum in der Gropiusstadt drehte sich letztlich alles um die Frage, „wie weit die Arbeit im Haus der Mitte kirchliche Arbeit ist bzw. kirchliche Arbeit sein muß?“447 Die einzelnen Gemeinden fanden darauf sehr unterschiedliche Antworten. Wenig erfreut nahm eine evangelische Visitationskommission in der Grunewald-Gemeinde zur Kenntnis, dass das kirchliche Profil dort völlig abgenutzt und kaum mehr zu erkennen sei: „Sie will eine ‚moderne‘ Gemeinde sein mit ihrem ganzen ‚make-up‘ bis hin zu dem Versuch so zu tun, als ob man nicht Kirche sei; deshalb die Vielzahl von Veranstaltungen bis zur Gefahr des Aktionismus.“448 Dass die Gemeinde Zulauf erfuhr, war für die Visitatoren offenkundig nebensächlich. Stattdessen bemerkten sie, dass die Jugendarbeit von Konsummechanismen geprägt war: Die Jugendlichen fragten die Freizeitangebote zwar nach, waren darüber hinaus aber nicht am kirchlichen Leben interessiert. Außerdem fielen offensichtlich säkularisierte Lesekreise und Gemeindeabende der Visitationskommission negativ auf. Die Gemeindemitglieder bemühten sich um ein hohes intellektuelles Niveau in den Gruppengesprächen, vernachlässigten aber religiöse Themen und tradierte kirchliche Praktiken. Die üblichen Gebete oder Verweise auf die Bibel fanden nicht statt. Ironisch resümierte die Kommission ihre Eindrücke: „Die Feuerzangenbowle […] war spitze!“449 Der Bericht war typisch für die Zeit. Die Amtskirche reagierte aus Angst vor Entkirchlichung zurückhaltend oder gar ablehnend auf innerkirchliche Reformbestrebungen an der Basis. Dieses Verhalten war insofern inkonsequent, als die Kirchenleitung, wie schon erläutert, in anderen Gemeinden dringend zur Erprobung neuer Praktiken riet. Außerdem sprachen die Ergebnisse der Modellversuche für sich. Nicht überall wurden sie so kritisch bewertet wie in der Gropiusstadt. Die Einführung eines Gruppenpfarramtes in der Neuköllner Gemeinde Martin-Luther galt zum Beispiel als großer Erfolg. Während Visitatoren dort 1969 noch eine „zer445 Vgl. Fitschen: Berliner Kirchengeschichte, S. 144–145. 446 Vgl. Ladenkirche. Ev. Gemeinde St. Nikolai, https://nikolai-spandau.de/page/5231/ladenkirche [2.10.2020]. Siehe auch: Auswertung der Visitation der Evangelischen Gemeinde am Brunsbüttler Damm durch den Kreiskirchenrat Spandau im November 1965. ELAB 1/6838. 447 Entwurf. Thesen zur Visitation in der Gropiusstadt 9.5.1975. ELAB 36/527. 448 Bericht über die kreiskirchliche Visitation in der Grunewald-Gemeinde, Kirchenkreis Wilmersdorf 17.3.1983. ELAB 36/530. 449 Ebenda.

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Kapitel 4: Entflechtung

strittene Kirchengemeinde“ vorgefunden hatten, in der laut Gemeindekirchenrat „ein völlig neuer Anfang“ notwendig geworden war, berichtete die Visitationskommission 1975 von einer lebendigen Gemeinde und empfahl unbedingt die Modellsicherung.450 Die Idee eines teamorientierten Gruppenpfarramts, dem neben Pfarrern auch Nicht-Theologen angehörten, ging auf Beschlüsse der Kreissynode zurück.451 In der Martin-Luther-Gemeinde waren insgesamt fünf Pfarrstellen vorgesehen. Zwei davon besetzten Nicht-Theologen. Anfang der 1970er-Jahre waren das eine Psychologin und ein Politologe. Parallel dazu wurde die Zusammensetzung im Gemeindekirchenrat und im Kreis der kirchlichen Mitarbeiter verändert. Im kirchlichen Leben bemühte sich das Team dezidiert darum, auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einzelner Interessengruppen einzugehen. In der Jugendarbeit wurden ganz konkret „Räume für Feten“452 geschaffen: Der Kirchenraum wurde dazu verkürzt, um dort neue Gemeinderäume einzurichten. Außerdem entstand eine Kindertagesstätte.453 Nach den vorweihnachtlichen Gottesdiensten veranstaltete die Gemeinde Adventsbasare, die sich vor allem an Familien richteten, und bei Gesprächskreisen legte die Gemeindeleitung Wert darauf, unterschiedliche Positionen darzustellen und mehrere Generationen zusammenzubringen. Ein Mitglied der Visitationskommission notierte: Die lockere, einladende Atmosphäre wird sicher auf alle übertragen, die das Gemeindehaus betreten, ob Straßenkinder oder alteingesessene Senioren. […] Ein weiterer Beleg: die zunächst polarisierten und gegenüberstehenden Traditionskreise auf der einen Seite und Offnen [sic] Martin-Luther-Stuben auf der anderen Seite konnten zu einer Wechselbeziehung und Transparenz gebracht werden, ohne ihre jeweilige Identität aufgeben zu müssen.454

„Das Experiment“ war geglückt und so erging diese Meldung auch an das Konsistorium, das „dem Versuch“ als leitendes Organ einst zugestimmt hatte.455

450 Visitationsbericht zur Visitation des Gruppenpfarramtes und der Kirchengemeinde MartinLuther, Kirchenkreis Neukölln 13.11.-7.12.1975. ELAB 36/526. 451 Zur Idee des Gruppen- oder auch Teampfarramts vgl. Le Grand: Gemeindealltag in Ost und West, S. 236–241. 452 Ebenda. 453 Vgl. Chronik der Martin-Luther-Gemeinde, https://www.martin-luther-neukoelln.de/martinluther-gemeinde/chronik/ [5.10.2020]. Seit der Zusammenlegung der Martin-Luther-Gemeinde mit der Gemeinde Genezareth im November 2020 ist ein Zugriff auf die hier zitierte Pfarrchronik nicht mehr möglich. Im Rahmen einer Geschichtswerkstatt soll die Geschichte beider Gemeinden erarbeitet werden. 454 Notizen zur Visitation der Martin-Luther-Gemeinde 1975. ELAB 36/526. 455 Visitationsbericht zur Visitation des Gruppenpfarramtes und der Kirchengemeinde MartinLuther, Kirchenkreis Neukölln 13.11.-7.12.1975. ELAB 36/526.

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Umso irritierter reagierten die Gemeindemitglieder 1976 auf die Ankündigung, dass der Weggang zweier Theologen nicht automatisch zu einer Nachbesetzung der beiden Stellen führen sollte. Einzelnen Initiativen wie dem Stützpunkt Harzer Straße, einer Betreuungs- und Beratungseinrichtung für Kiezanwohner, drohte daraufhin die Schließung. Ein frühzeitiger Abbruch des „Experiments“ wurde diskutiert.456 Tatsächlich gelang es der Gemeinde nicht, die Kürzungen abzuwenden, doch sie hielt an ihrem Konzept fest und kompensierte den Wegfall hauptamtlicher Stellen in den Folgejahren durch Ehrenämter.457 Vor dem Hintergrund solcher Modellversuche verbesserte sich das Ansehen der evangelischen Kirche in der öffentlichen Wahrnehmung allmählich. Insbesondere das „gängige Image von der ev. Familien-Bildungsarbeit“ veränderte sich. 458 „Wir denken,“ notierten die Initiatorinnen einer Trödel-Tee-Stube in der Moabiter Heiland-Gemeinde, „an den Vorwurf, Familien-Bildungsstättenarbeit manifestiere durch Kurse im hauswirtschaftlichen Bereich die traditionelle Frauenrolle und sei mittelschichtenorientiert.“459 Das Ziel der Frauen war es, evangelische Gemeindearbeit von diesem Bild zu lösen und Angebote zu schaffen, die sich an der Lebenswirklichkeit der Familien orientierten. In ihrem Bezirk waren das „Bildungsdefizite, Armut, schlechte Wohnverhältnisse, Isolation, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Kriminalität“.460 Phänomene also, die eng verknüpft mit der Geschichte WestBerlins in den 1970er- und 1980er-Jahren waren. Dort, wo die Kirche den Mut und die personelle Kraft hatte, sich dieser Probleme anzunehmen und sie als Probleme ihrer eigenen Mitglieder anzuerkennen, reüssierte ihre diakonische Arbeit. Dezentrale, ortsspezifische Lösungsansätze erwiesen sich nicht zuletzt mit Blick auf die Erfolge und Misserfolge der einzelnen Modellversuche als zukunftsweisend. Zunächst war es in den evangelischen Gemeinden West-Berlins darum gegangen, neben den Gläubigen auch die übrigen Kirchenmitglieder zu erreichen. Nun ging man dazu über, die Gemeinden außerdem für Nichtchristen zu öffnen, um im Austausch mit Anderen, die zum persönlichen sozialen Umfeld gehörten, das Eigene zu erfahren und zu sichern.461 456 Vgl. Kreiskirchenrat Neukölln schreibt am 21.1.1976 an den Visitationsausschuss Martin-Luther z.H von Herrn Propst Dr. Dittmann. ELAB 36/526. 457 Vgl. Chronik der Martin-Luther-Gemeinde, https://www.martin-luther-neukoelln.de/martinluther-gemeinde/chronik/ [5.10.2020]. Seit der Zusammenlegung der Martin-Luther-Gemeinde mit der Gemeinde Genezareth im November 2020 ist ein Zugriff auf die hier zitierte Pfarrchronik nicht mehr möglich. Im Rahmen einer Geschichtswerkstatt soll die Geschichte beider Gemeinden erarbeitet werden. 458 Benecke, Renate/Bornkamm, Heidrun/Ratzeburg, Giesela: Trödel-Tee-Stube in Berlin-Moabit. Ein Versuch offener Familienbildungsarbeit, in: Theologica Practica 1/2 (1980), S. 41. 459 Ebenda. 460 Ebenda, S. 40. 461 Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 167–168 und S. 194.

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Kapitel 4: Entflechtung

Auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen wirkte sich dieser Wahrnehmungswandel jedoch nicht aus.462 Weiterhin traten mehr Menschen aus der evangelischen Kirche aus als hinzukamen. Die Austrittskurve flachte allerdings zeitweilig etwas ab.463 Für erhebliche Verstimmungen sorgte unter Laienmitgliedern die Weigerung der Kirchenleitung, das Kirchensteuereinzugsverfahren zu verändern. Immer mehr Kirchenmitglieder plädierten für ein System der freiwilligen Abgabe. In den Pfarrkonventen wurde diese Möglichkeit ebenfalls diskutiert, da Pfarrer die strikte Haltung der Kirchenleitung in dieser Frage als entscheidenden Grund für die Austrittszahlen betrachteten.464 Eine Einigung wurde jedoch bis zum Mauerfall nicht erzielt. Anstelle eines veränderten Verfahrens beriet die evangelische Kirchenleitung Ende der 1980er-Jahre sogar darüber, den Kirchensteuersatz in West-Berlin anzuheben.465 Vom Mauerbau bis zum Mauerfall ziehen sich somit zwei Dilemmata durch die Geschichte der evangelischen Kirche West-Berlins. Erstens: das ausdauernde Ringen um Veränderungen zwischen Basis und Leitung sowie zwischen konservativen und progressiven Lagern. Zweitens: die Frage, ob diese Veränderungen finanzierbar waren beziehungsweise, ob die Veränderungen den finanziellen Aufwand rechtfertigten.

Suche nach allgemeinen Lösungen: katholische Kirche in West-Berlin Derweil die Forderungen nach mehr Mitbestimmungsrechten im westlichen Teil des Bistums nicht verstummten, suchte der Episkopat im Unterschied zur evangelischen Kirche nicht nach spezifischen, sondern nach allgemeinen Lösungen. Gemäß einem Beschluss der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland kündigte die Bistumsleitung für den 16. März 1969 die Wahl von Pfarrgemeinderäten in West-Berlin an.466 An diesem Tag wurden in den katholi462 Vgl. West-Berliner sehen Kirche vorwiegend positiv, in: Evangelischer Pressedienst, Landesdienst Berlin, Nr. 188, 13.11.1973. ELAB 222. 463 Vgl. Anzahl der Kirchenaustritte im Kirchenkreis Kreuzberg 1975–1982. ELAB 36/525. Oder: Lindenkirche Berlin-Wilmersdorf. Gemeindebericht zur Visitation durch den Kirchenkreis, gleichzeitig Bericht für die Kreissynode am 12./13.3.1982. ELAB36/530. Siehe auch: Fortwährendes Problem sinkender Mitgliederzahlen, in: Berliner Sonntagsblatt (Sonderdruck) 25.4.1982, S. 16. Sowie: Duntze: Ev. Kirche in Berlin (West), S. 86–87. 464 Vgl. Niederschrift über die erste Anhörstunde (Hearing) der Kirchenleitung für Superintendenten und Pfarrer vom 23.5.1967. ELAB 1/3702. 465 Berlins evangelische Kirche vor der Finanzkrise, in: Berliner Morgenpost 6.8.1988, S. 27. 466 Den Pfarrgemeinderäten gehörten neben dem Pfarrer, den Kaplänen und den Seelsorgehelfern in der Gemeinde je nach Mitgliederzahl 9, 12 oder 15 weitere Laienmitglieder an. Ein Drittel der Mitglieder des Pfarrgemeinderates wurden direkt durch die Gemeindemitglieder gewählt. Das zweite Drittel bestimmten die in der Gemeinde tätigen Organisationen. Das dritte Drittel

4.2 Wahlmöglichkeiten: Reformen in West-Berlin 

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schen Gemeinden zum ersten Mal demokratische Laiengremien gewählt. Aufgabe der Pfarrgemeinderäte sollte es sein, den Pfarrer in seinem Amt zu unterstützen, die Arbeit einzelner Organisationen in der Gemeinde zu koordinieren, gemeinsame Aktivitäten anzuregen und durchzuführen sowie die Gemeinde nach außen zu vertreten.467 Obwohl progressive katholische Kreise fürchteten, nicht genügend Mitglieder mobilisieren zu können, beteiligten sich viele Katholikinnen und Katholiken an der Abstimmung.468 Die daran anschließende Konstituierung der zwölf West-Berliner Dekanatsräte hingegen gestaltete sich schwieriger. Der Tempelhofer Dekanatsrat konnte seine Arbeit erst verspätet aufnehmen, da der Pfarrgemeinderat der Mariendorfer Gemeinde Maria Frieden auch im Mai 1969 immer noch keine Delegierten bestimmt hatte. Laienvertreter werteten diese Verzögerung als „Brüskierung der anderen Gemeinden“.469 „In Mariendorf,“ so Alfons Fischer, „ist die Uhr in Bezug auf eine Mitarbeit und Mitverantwortung für Laien stehengeblieben.“470 In der Folge verzögerte sich auch die Bildung des neuen Diözesanrats der Katholiken im Bistum Berlin (West), dem Vertreter der Dekanatsräte angehörten. Erst am 10. September 1969 trat dieses Gremium erstmals zusammen.471 Doch kaum, dass sich der Diözesanrat gebildet hatte, kritisierten Kirchenmitglieder bereits dessen Reichweite. Auch Berliner Protestanten meldeten sich zu Wort und gaben zu bedenken, dass die Befugnisse der katholischen Laiengremien nicht weitreichend genug seien.472 Dialogikus, eine von evangelischen und katholischen Jugendlichen herausgegebene Monatsschrift, kam zu dem Schluss:473 „Es wird den Laien also dort Verantwortung zugesprochen, wo die innerkirchlichen Machtverhältnisse unangetastet bleiben.“474 Der Wirkungskreis der Räte, so meinten die Verfasser, sei marginal und damit zu vernachlässigen. Dass ein Drittel der Mitglieder des Pfarr-

bestimmte der Pfarrer. Vgl. Chronik der katholischen Gemeinde St. Dominicus in der Gropiusstadt (1969), aufgezeichnet von Norbert Blach, Berlin 2005, S. 4. Siehe auch: Hanky: Im Zeichen des Kreuzes, S. 116. 467 Vgl. Chronik der katholischen Gemeinde St. Dominicus in der Gropiusstadt (1969), S. 4. 468 Vgl. Wahlreport, in: Der Christ 28.2.1969, S. 3. In der Gemeinde St. Dominicus beteiligten sich 78 Prozent der Wahlberechtigten an der Wahl. Vgl. Chronik der katholischen Gemeinde St. Dominicus in der Gropiusstadt (1969), S. 12. 469 Maria Frieden blockiert Katholikenausschuß und Diözesanrat, in: Der Christ 16.5.1969, S. 5. 470 Ebenda. 471 Vgl. Hanky: Im Zeichen des Kreuzes, S. 116. 472 Vgl. Alter Zopf, in: Der CHRIST 19.9.1969, S. 6. Siehe auch: Der ausgeschlossene Dialog, in: Der CHRIST 25.9.1970, S. 3. Und: Klausener warnt vor Demokratisierung, in: Der CHRIST 11.9.1970, S. 5. Sowie: Klausener jun.: Katharina nicht im Pfarrgemeinderat. 473 Zur Zeitschrift Dialogikus: Höllen: Kirchenpolitische Probleme, S. 182–183. 474 Freiheit und Verantwortung, in: Dialogikus 11/12 1971, S. 2.

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Kapitel 4: Entflechtung

gemeinderats vom örtlichen Pfarrer bestimmt wurde, der dem Gremium darüber hinaus selbst angehörte, werteten sie als Farce. Rückblickend drängt sich der Eindruck auf, dass dem Episkopat mit der Wahl von Pfarrgemeinderäten dennoch ein kluger Schachzug gelang: Diese von der Kirchenleitung geförderte Demokratisierung in den Gemeinden führte dazu, dass der Ruf nach Entpolitisierung und Zentralismus entgegen früheren Forderungen wieder lauter wurde. Die Laien waren von der Kirchenleitung so lange als unmündig dargestellt worden, dass vielen in dem Moment, wo sie Debatten selbstbestimmt beeinflussen konnten, Selbstbewusstsein und Durchhaltevermögen fehlten. Zufrieden stellte der Berliner Episkopat fest, dass ein Großteil der Laien, konfrontiert mit jenen Kontroversen, die die Basis beschäftigten, freiwillig in den Schoß der Amtskirche zurückkehrte. Das Petrusblatt begleitete diesen Prozess. Noch vor den Pfarrgemeinderatswahlen hatte die West-Berliner Kirchenzeitung vorhergesagt: Ohne Propheten kann man voraussagen: es wird in unseren Gemeinden jetzt mehr geredet werden als früher. Manche haben Angst davor. Sie sehen das Gespenst endloser, ermüdender Diskussionen, bei denen das Ergebnis in keinem Verhältnis steht zum Aufwand an Zeit, Stimmstärke und Wortreichtum.475

Zudem hatte die Gremienarbeit den Effekt, dass engagierte Laien nun wieder mehr an die eigene Gemeinde gebunden waren und darüber hinausgehende Probleme seltener thematisieren und bearbeiten konnten.476 Ähnliche Tendenzen ließen sich auch in der evangelischen Kirche beobachten, wo sich Gemeindemitglieder über ausufernde, schier endlose Sitzungen aufgrund großer Teilnehmerzahlen und aufwendiger Kompromissfindungen beklagten.477 Ähnlich wie die evangelische Kirche entwickelte das Bistum in West-Berlin seit den 1970er-Jahren verstärkt unternehmerische Ambitionen. Veränderungen im Petrusblatt deuten darauf hin. Der Anteil von Rubriken wie „Unterhaltung“, „Fernsehen“, „Rundfunk“, „Reportage“ oder „Feuilleton“ wuchs stetig. Die zunehmende Häufigkeit von Reiseberichten und Reisetipps ließ keinen Zweifel daran, dass Freizeit und Freizeitgestaltung mittlerweile zu einem der wichtigsten Themenfelder der Zeitung gehörten. Die Vermarktung touristischer Ausflüge und 475 Das aktuelle Thema, in: Petrusblatt 1. Juni 1969, S. 1. 476 Vgl. Großbölting: Der verlorene Himmel, S. 157. 477 Vgl. 20 Pfarrer an Bischof Kurt Scharf 20.1.1970. ELAB 1/3702. Siehe auch: Hochmuth: Kiezgeschichte, S. 194–196. Und: Visitation der Kreuzberger Gemeinden mit gegenseitiger Beratung über das Thema „Stadtveränderung und Gemeindeplanung“ Kirchenkreis Kölln Stadt Dezember 1973 – Oktober 1974. ELAB 36/524. Sowie: Bericht über die Visitation des Kirchenkreises Kreuzberg vom 19.-26.9.1982. ELAB 36/524. Oder: Visitationsbericht zur Visitation des Gruppenpfarramtes und der Kirchengemeinde Martin-Luther, Kirchenkreis Neukölln, vom 13.11.-7.12.1975. ELAB 36/526. Schließlich: 15 Pfarrer an die Kirchenleitung Berlin-Brandenburg 18.11.1969. ELAB 1/3702.

4.2 Wahlmöglichkeiten: Reformen in West-Berlin 

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ganzjährig erscheinende Anzeigen kirchlicher Reiseveranstalter passen ebenfalls in dieses Bild. Die Amtskirche schloss damit offen an kapitalistische Praktiken an, während sie gleichzeitig daran festhielt, die Konsumkultur der Kirchenmitglieder zu kritisieren. So zögerlich Episkopat und kirchliche Verwaltung auch auf laikale Forderungen nach mehr Mitbestimmung reagierten, ihre Aktivitäten im Bereich der Publizistik ließen keinen Zweifel daran, dass die Kirchenleitung die unabdingbare Notwendigkeit einer Neuaufstellung in West-Berlin längst erkannt hatte.478 Aber das genügte vielen nicht. Kritische Laien vermissten seitens der Amtskirche weiterhin die Bereitschaft zu wirklicher Erneuerung und zogen daraus ihre Konsequenzen. Die katholische Kirche in West-Berlin verlor seit den 1960er-Jahren viele Mitglieder. Dieser Verlust wurde zahlenmäßig durch den Zuzug katholischer Arbeitsmigranten ausgeglichen.479 Doch konnte diese Tatsache nicht darüber hinwegtäuschen, dass die katholische Kirche in West-Berlin erhebliche Nachwuchssorgen hatte, weil es ihr nur schwer gelang, junge Generationen dauerhaft an sich zu binden. Nicht nur im Hinblick auf eklatante Mitgliederverluste fallen Parallelen zwischen evangelischer und katholischer Kirche in West-Berlin auf. Beide Kirchen standen unter einem enormen Reformdruck. Die Versuche, Veränderungen herbeizuführen, wurden von einzelnen Gruppen oftmals behindert oder ganz blockiert: Einerseits wendeten sich kleinbürgerliche Kirchenmitglieder in der evangelischen Kirche gegen die Pläne einer überwiegend progressiven Kirchenleitung. Andererseits bremsten Kirchenleitungsmitglieder Laieninitiativen aus, wenn sie eine Schwächung des kirchlichen Profils befürchteten. Der katholische Episkopat sperrte sich lange dagegen, überhaupt eine Diskussion über laikale Mitspracherechte und Selbstbestimmung zu führen, nahm aber nach der Einführung demokratisch gewählter Laiengremien zur Kenntnis, dass in den Gemeinden durchaus ein Interesse an einer autoritären Kirchenleitung bestand. Seit den 1960er-Jahren waren die West-Berliner Gemeinden hin- und hergerissen zwischen andauernden Richtungsstreitigkeiten und den Erfolgen wie Misserfolgen bei der Erprobung neuer Ansätze und Praktiken. Diese Wechselhaftigkeit erklärt die auffallend starke Selbstbezogenheit der Gemeinden. Meist wagten sie nur dann einen Blick nach außen, um sich abzulenken. In dieser angespannten Atmosphäre, die durch die Insellage West-Berlin zusätzlich verdichtet wurde, entschieden zuweilen Kleinigkeiten über richtungsweisende Urteile, fielen Erfolge der Pedanterie Einzelner zum Opfer und wurden Mei-

478 Vgl. Hannig: Die Religion, S: 389. 479 Vgl. Kirchenaustritte, in: Der Christ 4.9.1970, S. 5. Siehe auch: 705 mehr Kirchenaustritte, in: Der Christ 8.1.1971, S. 4.

364  Kapitel 4: Entflechtung

nungsverschiedenheiten zu Skandalen stilisiert.480 Manche Auseinandersetzungen glichen im Aufbau einem Drama. Der ehemalige Propst der EKiBB, Friedrich Winter, resümierte: „Zeitweise ging es in West-Berlin […] (kirchen)politisch so aufregend zu, daß darüber die Ereignisse im Osten bei der Berichterstattung zurücktraten und West-Berliner Besucher sich neidvoll darüber wunderten, wie ruhig es im Osten zuginge.“481

4.3 Resümee Die lange vor dem Mauerbau einsetzende Trennung der Ost- und West-Berliner Kirchen wurde in den 1960er- und 1970er-Jahren zunehmend als Normalität wahrgenommen. In Ost-Berlin und der DDR war ein Rückzug der Kirchen und ihrer Mitglieder ins Private zu beobachten. Ursächlich dafür waren gesellschaftliche und politische sowie persönliche Gründe: Einerseits etablierte sich die DDR als Staat in der internationalen Gemeinschaft. Andererseits waren auch in den Kirchen immer mehr Menschen aktiv, die in der DDR aufgewachsen waren und die Umstände, in denen sie lebten, als Gegebenheiten annahmen und oftmals akzeptierten. Die Kirchen waren in diesem Zusammenhang nicht nur als Glaubensgemeinschaften gefordert, sondern übernahmen außerdem eine wichtige soziale Funktion, weil sie alternative Räume in einer mehr oder weniger geschlossenen Gesellschaft anboten. Umgekehrt verhielt es sich in West-Berlin, wo der Streit ums Politische dezidiert in die Kirchen hinein getragen wurde. Die Kirchenbasis setzte die Kirchenleitungen unter Druck. Die Bischöfe wurden von den Kirchenmitgliedern dabei nicht nur als kirchliche Autoritäten, sondern ebenso als politische Akteure wahrgenommen. Interessant sind beim Vergleich des kirchlichen Lebens in West-Berlin mit dem in Ost-Berlin aber vor allem die Parallelen, die von den Zeitgenossen in den allermeisten Fällen weder registriert noch kommentiert wurden und zudem selten einen direkten Bezug zum Kalten Krieg und seinen Systemfragen aufwiesen. Generationskonflikte und Überalterung, Personalmangel und überlastete Mitarbeiter, Unzufriedenheit mit der Kirchenleitung oder fehlendes Laienengagement sowie Kommunikationsprobleme und die damit einhergehende Kritik an einer schlechten Informationspolitik sind quasi als Konstanten in die moderne Kirchengeschichte christlicher Konfessionen eingeschrieben. Debatten über die Politisierung der Kirche gehören zum kirchlichen Alltag. 480 Vgl. Bericht über die Visitation der Gemeinde zum Heiligen Kreuz vom 19. -26.9.1982. ELAB 36/524. 481 Winter: Auf dem Weg, S. 106.

4.3 Resümee



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Auch andere inhaltliche Übereinstimmungen fallen auf. Dazu zählen etwa Genderfragen und feministische Themen. Zwar wurde darüber in Ost und West nicht gleich intensiv diskutiert, doch lässt sich zweifelsohne eine grenzübergreifende Sensibilisierung für diese Fragen beobachten. Selbst die wiederholt problematisierte Isolationssituation teilten Ost- und West-Berliner Kirchenmitglieder als Erfahrung. Christen im Ostteil der Stadt beschrieben die Distanz zur atheistischen Mehrheitsbevölkerung. Wohingegen Gemeindemitglieder auf der Insel West-Berlin per Definition eine Sonderstellung einnahmen. Und auch die Erprobung neuer Formate – wie der Bluesmessen im Osten oder der Ladenkirche im Westen – sowie die Zunahme karitativer und diakonischer Initiativen diente sowohl in Ost- als auch in West-Berlin dazu, kirchlichen Alltag den sich wandelnden gesellschaftlichen Bedürfnissen anzupassen.482 In Finanzfragen kamen die Systemunterschiede hingegen deutlich zum Tragen. Es fällt auf, dass Geldmangel bei der Umsetzung neuer Modelle im Westteil der Stadt sehr viel häufiger thematisiert wurde als im Osten. In West-Berlin hatte Geld einen anderen Wert. Es galt als Selbstverständlichkeit, Geld direkt in materielle oder immaterielle Werte umsetzen zu können. War kein Geld vorhanden, stand die Realisierung jedweder Projekte folglich schnell vor dem Aus. Für den Osten galt das nicht in gleicher Weise. Es war nicht selbstverständlich, Geld direkt gegen Dienstleistungen oder Sachwerte eintauschen zu können. Geld nutzte also nur dann, wenn man etwas damit kaufen konnte – andernfalls war es wertlos. Die Analyse der kirchlichen Quellen zwischen Mauerbau und Mauerfall hat gezeigt, dass sich hinsichtlich des kirchlichen Lebens trotz der Teilung durchaus Vergleichsansätze anbieten. Trotzdem erscheint es kaum möglich, überzeugende Vergleichskategorien zu finden, die der spezifischen Situation in Ost- und WestBerlin gerecht werden. Parallelitäten oder Ähnlichkeiten erweisen sich in diesem Entflechtungsprozess daher als die treffenderen Begriffe, auch weil sie Raum für die zufälligen oder institutionstypischen Gemeinsamkeiten lassen, die eine Bezugnahme nicht voraussetzen. Das kirchliche Leben in Ost- und West-Berlin verselbstständigte sich nach dem Mauerbau weiter und orientierte sich dabei nicht an Sektoren-, Bistums- oder landeskirchlichen Grenzen, sondern in erster Linie an den Parochialgebieten. Die Gemeinden fokussierten sich auf die komplexen Probleme ihrer eigenen, räumlich meist sehr begrenzt gedachten Gegenwart. Die nur mehr symbolisch verstandene Einheit der Kirchen gehörte gefühlt längst der Vergangenheit an. Der Nächste war ein Anderer geworden.

482 Vgl. Le Grand: Kirchenalltag in Ost und West, S. 228–254.

Kapitel 5 Rück- und Neuverflechtung: Annäherung an den Anderen (1960er-1980er-Jahre) So wie der Mauerbau ein Ende der Einheit manifestiert hatte, ermöglichte er den Kirchenmitgliedern in den Folgejahren, sich als Andere wiederzubegegnen. Denn spätestens Ende der 1960er-Jahre zeichnete sich ab, dass sich Ost- und West-Berliner Christen einander entfremdet hatten: Familiäre oder freundschaftliche Beziehungen waren abgebrochen. Gemeinsame Erfahrungen hatten an Bedeutung verloren. Aktivitäten, die die Gemeinden in Ost und West im Alltag miteinander verbunden hatten, fanden nicht mehr statt. Parallel dazu erfolgte die internationale Anerkennung der beiden deutschen Staaten. Ihre Aufnahme in die Vereinten Nationen 1973 sowie die Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, kurz KSZE, in Helsinki 1975 veränderten das Gesprächsklima. Auf deutsch-deutscher Ebene waren erste Annäherungsversuche zu beobachten. Nach dem Mauerbau 1961 und der strikten Abschottungspolitik der DDR-Regierung bedeuteten das Viermächteabkommen (1971) und der Grundlagenvertrag (1973) die Wiederaufnahme einzelner, wenn auch weiterhin beschränkter Kontakte zwischen den beiden deutschen Staaten. Dazu zählten Erleichterungen im Besuchs- und Reiseverkehr sowie die Wiederaufnahme der Telefonverbindung zwischen Ost- und WestBerlin.1 Diese Entspannungspolitik änderte jedoch nur unwesentlich etwas am Charakter des SED-Regimes. Die Behörden in der DDR gingen weiter restriktiv gegen Oppositionelle und andere vermeintlich staatsfeindliche Personen vor. Mit Blick auf die Kirchen sah die DDR-Regierung in der Wiederbelebung beziehungsweise dem Neuaufbau grenzübergreifender Kontakte vor allem Möglichkeiten zur Beschaffung notwendiger Devisen. Unter Erich Honecker richtete die SED ihre Aktivitäten immer häufiger nach rational-ökonomischen Überlegungen aus: Wenn westdeutsche Kirchen bereit waren, Baumaterialien für Kirchengemeinden in der DDR mit Valutamark zu zahlen, wurden kirchliche Bauprojekte nicht mehr grundsätzlich abgelehnt. Wenn das Lutherjahr 1983 zu einer Verbesserung des staatlichen Images beitragen konnte und die DDR dadurch als touristisches Reiseziel auch im Westen interessanter wurde, durfte die evangelische Kirche Veran-

1 Vgl. Rott: Die Insel, S. 273–287. Siehe auch: Hanky: Im Zeichen des Kreuzes, S. 118. Und: Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 15–16. Sowie: Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 134. https://doi.org/10.1515/9783111026602-006

Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung



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staltungen zum 500. Geburtstag Martin Luthers ausrichten.2 Wenn westliche Medien positiv über große Laientreffen berichteten und damit von Bürgerrechtsverletzungen und dem drohenden Staatsbankrott ablenkten, fanden Katholikentreffen und evangelische Kirchentage in der DDR statt. Nach außen vermittelten die SEDFunktionäre weiterhin angestrengt das Bild, mithalten zu können. In der DDR selbst sollte die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der wirtschaftlichen und politischen Situation auf diese Weise abgefedert werden. Kirchenmitglieder in Ost-Berlin und in der DDR interpretierten diese Veränderungen indes nicht nur als ideologische respektive staatliche Inanspruchnahme, sondern deuteten sie als Beweis dafür, dass selbst eine sozialistische Gesellschaft nicht ohne Religion auskommen könne. Religionsgemeinschaften, so die Hoffnung der Kirchenmitglieder, hatten ihren Platz darin gefunden, markiert und verteidigt. Davon zeugten nach Meinung vieler auch die Gespräche, welche zwischen Kirchenleitungen und staatlichen Behörden stattfanden. Mehrmals traf sich der katholische Bischof Berlins, Kardinal Bengsch, mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser. 1972 kam er außerdem mit dem Vorsitzenden des Ministerrats, Willi Stoph, zum Spitzengespräch zusammen. Zwar distanzierte sich Bengsch bei diesen Treffen ausdrücklich von der SED-Politik. Gleichzeitig signalisierte er aber allein durch seine Teilnahme Verhandlungsbereitschaft.3 Ähnlich gedeutet wurde das Treffen der evangelischen Kirchenleitungen in der DDR mit Erich Honecker auf der Wartburg 1978.4 Passend dazu berichtete die Neue Zeit im Anschluss an das Spitzengespräch, dass Kirche und Staat in der DDR „gemeinsame Anliegen“ hätten.5 Aus westlicher Perspektive wurde diese Entwicklung, wenn auch unter anderen Vorzeichen, ebenfalls positiv bewertet. Angelehnt an tradierte Narrative wurden die Kirchen in der DDR einerseits als Opfer einer restriktiven Staatsmacht beschrieben und andererseits als widerständige Akteurinnen charakterisiert, die sich im Kampf gegen staatliche Willkür und Verbote bewiesen und ihre Position behaupteten. Neben den Entwicklungen auf staatlicher Ebene spielten übergeordnete gesellschaftliche sowie innerkirchliche Reformprozesse eine gewichtige Rolle in den Beziehungen zwischen ost- und westdeutschen Kirchenmitgliedern nach 1970. Neue theologische Strömungen, die Selbstermächtigungsversuche von Laienmit-

2 3 4 5

Vgl. „Mit Herrn Luther ist alles in Butter“, in: Der SPIEGEL 7.3.1983, S. 103–113. Vgl. Czerny-Werner, Roland: Vatikanische Ostpolitik und die DDR, Göttingen 2011, S. 148–151. Vgl. Boyens: Gespräche im Schaufenster. Gemeinsames Anliegen, in: Neue Zeit 9.3.1978, S. 1

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gliedern und Anstrengungen im Bereich der Ökumene, bewirkten ein Umdenken.6 Dieser Wandel war die Grundvoraussetzung für den (Wieder-)Aufbau von Kontakten.7 Dabei galt die Europäisierung als ein wichtiger überstaatlicher Anknüpfungspunkt.8 An der Kirchenbasis liefen die ersten Wiederannäherungsversuche dennoch denkbar zaghaft an. Vor allem zwischen den Berliner Gemeinden herrschte weithin Funkstille. Tatsächlich datierte der Ost-Berliner Katholik S. T. den Zeitpunkt persönlicher Kontaktaufnahmen im Interview fälschlich erst in den 1980er-Jahren anstatt zu Beginn der 1970er-Jahre.9 Bis dahin waren die Beziehungen zwischen ost- und westdeutschen Gemeinden besonders durch karitative Aktivitäten gekennzeichnet. Dieses Engagement wurde bis zum Mauerfall fortgeführt, trat aber gegenüber anderen Motiven häufig in den Hintergrund: Die organisierten Hilfsaktionen wurden als Selbstverständlichkeit kaum mehr hinterfragt und liefen quasi nebenher: „Wo sie die Kontakte herhatten? Wo sie das Geld herbekamen? Ich weiß es nicht. Irgendwie Caritas…“10 S.Ts. unscharfe Erinnerung an die finanzielle und materielle Unterstützung durch westdeutsche Gemeinden ist typisch. Gleichzeitig wuchs das Interesse an Gemeinden, die unter anderen Bedingungen existierten als die eigenen. Diese Einsicht in die Existenz von Unterschieden, die aus Nächsten Andere machte, ist mit Blick auf das Verhältnis zwischen ost- und westdeutschen Kirchenmitgliedern nicht zu unterschätzen. Denn sie bedeutete eine Abkehr vom Einheitsmotiv. Dabei stellte diese Differenzierung auch einen Ausgleich dar. Die Beziehungen standen nicht mehr unter dem Druck, die Gleichheit der Kirchenmitglieder in Ost und West betonen zu müssen. Dieses Umdenken sollte im Idealfall eine Aufnahme von Beziehungen auf Augenhöhe ermöglichen und nahm Abstand vom bis dahin innerkirchlich geltenden Ost-West-Gegensatz: Hilfsbedürftige und Hilfespendende. Wesentlich geprägt waren diese Beziehungen von einem Dreiklang: Was wurde den Kirchen ermöglicht? Welche Möglichkeiten erkannten sie? Und was unternahmen/unterließen die Kirchen, um etwas möglich zu machen?

6 Vgl. Kunter, Katharina: Die Kirchen – Europa – die Ökumene, in: Lepp, Claudia/Nowak, Kurt (Hrsg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945–1989/90), Göttingen 2001, S. 264–273. Siehe auch. Silomon: Anspruch und Wirklichkeit, S. 11. 7 Vgl. Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 5–6. 8 Vgl. Murken: Westfälische Kontakte, S. 42. 9 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 21–22. 10 Ebenda, S. 21. Tatsächlich war die Caritas in diesem Rahmen die entscheidende Geldgeberin. Sie gab Gelder weiter, die sie unter anderem von der Bundesregierung, von der Deutschen Bischofskonferenz, aus der Diaspora-Caritashilfe und vom Bonifatiuswerk erhielt. Vgl. Thiel: Aufgaben und Handlungsspielräume, S. 43.

5.1 Was bleibt: etablierte Kontakte im Wandel



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Unter den aus diesen Möglichkeiten hervorgegangenen Beziehungen lassen sich viele Formen und Formate subsumieren. Dazu gehörten Gruppenbegegnungen und persönliche Kontakte ost- und westdeutscher Kirchenmitglieder, Treffen kirchlicher Mitarbeiter und Informationsveranstaltungen kirchlicher Institutionen, Briefkontakte und Paketaktionen. Daneben rücken Akteure in den Blick, die kein Interesse an solchen Beziehungen hatten, diese ablehnten oder wie im Fall des MfS zu beeinflussen beziehungsweise zu verhindern suchten. Verbunden damit sind die offiziellen und geheimen Orte der Ost-West-Kontakte, wobei Berlin als Treffpunkt eine entscheidende Rolle einnahm. Schließlich ist der Blick auf herausragende Ereignisse wie das Berliner Stadtjubiläum 1987 zu richten, die sich von alltäglichen Erfahrungen abhoben und eine besondere Dynamik entfalteten.

5.1 Was bleibt: etablierte Kontakte im Wandel Kontakte zwischen den Kirchen in Ost und West gab es auch im Kalten Krieg immer. Das galt für die Zeit vor dem Mauerbau genauso wie für die Jahre bis zum Mauerfall. Differenzierte Aussagen über die kirchlichen Beziehungen in diesem Zeitraum lassen sich somit nur treffen, wenn sie im Hinblick auf Quantitäten und Qualitäten untersucht werden. Und selbst bei traditionellen Kontaktformen handelte es sich nicht um starre Formate, sondern um sich wandelnde Praktiken.

Grenzübergreifende Kontakte kirchlicher Mitarbeiter Die Spitzen der Berliner Kirchenleitungen waren institutionell konstant miteinander verbunden. Der Berliner Bischof war Mitglied der Deutschen Bischofskonferenz. Die EKiBB pflegte landeskirchliche Partnerschaften mit evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik und unterhielt andauernde Kontakte zur EKD. Das galt ebenso für die Führungsebenen von Caritas und Diakonie.11 Die Mitglieder dieser Institutionen trafen sich in regelmäßigen Abständen. Auch die Bundesleitung der evangelischen Freikirchen kam turnusmäßig mindestens einmal im Jahr in Ost-Berlin zusammen. Anstelle von „gemeinsamen Sitzungen“ einigten sich die Teilnehmenden jedoch nach dem Mauerbau darauf, nur mehr von „Begegnungen“ zu sprechen, um die DDR-Behörden nicht auf den Plan zu rufen.12

11 Vgl. Murken: Westfälische Kontakte, S. 39. Siehe auch: Maser: Die evangelischen Kirchen, S. 18. 12 Interview mit Rolf Dammann 2000. OA, ohne Signatur, S. 2.

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Die Kontakte, die Mitglieder der Kirchenleitungen unterhielten, waren oft gleichermaßen dienstlicher und privater, formeller und informeller sowie inhaltlicher und materieller Natur.13 Neben den Beratungen über kirchliche Themen unterhielten die Kirchenführenden einen regen Warenverkehr. Das war möglich, weil sie an der innerdeutschen Grenze selten oder gar nicht kontrolliert wurden. In den vorherigen Kapiteln wurde bereits über die illegale Einfuhr von Literatur-, Nahrungs- und Genussmitteln oder medizinischen Geräten sowie Medikamenten nach Ost-Berlin und in die DDR berichtet. Im Zeitverlauf änderte sich die offizielle Berichterstattung über die Zusammenkünfte der Kirchenleitungen. Lange wurden die Treffen als Notwendigkeit oder Selbstverständlichkeit des amtskirchlichen Arbeitsalltags dargestellt. In den 1980er-Jahren fällt demgegenüber auf, dass die Begegnungen dezidiert als Besonderheit beschrieben wurden. „Mitglieder der Rheinischen Kirchenleitung [waren] zu Gast in der Berlin-Brandenburger Kirche.“ – die westdeutschen Besucher wurden als Gäste markiert, die einer Einladung gefolgt waren, um sich „im Dialog“ über „Gemeinsamkeiten und Unterschiede“ auszutauschen.14 Diese Beschreibung reduzierte die Beziehung auf „informative gegenseitige Besuche“ und signalisierte, dass Mitspracherechte oder andere institutionell begründete Formen und Möglichkeiten der Einflussnahme kein Thema waren.15 Der offizielle Austausch bezog sich stattdessen auf Sachthemen, die beide Kirchen betrafen. So wurde zum Beispiel die Erhaltung von Dorfkirchen unter Berücksichtigung unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Vorzeichen diskutiert. Davon abgesehen agierten kirchliche Mitarbeiter in den allermeisten Arbeitsfeldern jedoch schon seit 1949 nahezu getrennt voneinander, ohne sich auszutauschen. Abseits der Leitungsebene pflegte der Großteil von ihnen keine grenzübergreifenden institutionellen Kontakte.16 Eine bedeutende Ausnahme stellte allerdings die Jungendarbeit der evangelischen Kirchen dar. Die hier tätigen Akteure blieben fortwährend in Verbindung. Neben der Organisation von Begegnungstreffen für Jugendliche wurde dabei vor allem Wert auf den Austausch zwischen den Jugendmitarbeitern gelegt.17 Schon in den 1950er-Jahren trafen sich Bezirksjugendpfarrer aus der Bundesrepublik regelmäßig mit ihren ostdeutschen Kollegen in West-Berlin. Neben den Arbeitsgesprächen gehörten touristische Ausflüge fix zum Programm. Nach dem Mauerbau wurden die Treffen nach Ost-Berlin verlegt.18 In den evangelischen Freikirchen bildeten sich in den Bereichen Jugendarbeit und 13 14 15 16 17 18

Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 7. Gegenseitiges Besuchen wünschenswert, in: Die Kirche 11.8.1985, S. 1. Ebenda. Vgl. Furian: Erinnerungen an den 13. August 1961, S. 184. Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 330–367. Vgl. Schönbucher, Alfred: Unentwegt Wege. Erinnerungen, Prignitz 2002, S. 168 und S. 214.

5.1 Was bleibt: etablierte Kontakte im Wandel



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theologische Ausbildung ebenfalls grenzübergreifende Arbeitsgruppen, die in unregelmäßigen Abständen zusammentrafen.19 In Kontakt kamen kirchliche Mitarbeiter schließlich auch im Rahmen von Hilfsprogrammen, wobei es sich meist um zentral gesteuerte, einseitig gerichtete Maßnahmen handelte. Gelder und Güter wurden von West nach Ost transferiert. Die Ostarbeit der katholischen Caritas lief vor allem über das West-Berliner Büro des Deutschen Caritasverbandes in der Ahornallee.20 Hier wurde gemeinsam mit den Zuständigen aus Ost-Berlin und der DDR über Geldtransfers und Importe von Kraftfahrzeugen, Baumaterialien und anderen sogenannten Genexwaren beraten und entschieden.21 Außerdem organisierte die Caritas den Transfer von Wissen. Gemeint sind Ausbildungs- und Fortbildungsveranstaltungen, die meist in Ost-Berlin stattfanden: In den Räumen des katholischen St. Josefheims in der Pappelallee in Berlin-Prenzlauer Berg sprachen westdeutsche Referenten vor ostdeutschem Auditorium über neue Ansätze in der Fürsorgearbeit oder in der Krankenpflege.22 Die Referenten übernachteten in West-Berlin und reisten als Tagesbesucher in den Ostteil der Stadt. Sie durften ihre Unterrichtsmaterialien nicht mit sich führen, sondern waren aufgefordert, diese in der Hauptvertretung des Deutschen Caritasverbandes in West-Berlin abzugeben. Von dort aus wurden sie „auf dem kirchlichen Dienstweg“, das heißt ohne Grenzkontrolle, an den Vortragsort in Ost-Berlin gebracht.23 Einmal mehr profitierten die Kirchen hier vom Berliner Sonderstatus. Trotz der Mauer waren die Dienstwege zwischen Ost und West relativ kurz, was die Anwerbung von Referenten enorm erleichterte.

Postalische und private Kontakte an der Kirchenbasis An der Kirchenbasis wurden Ost-West-Beziehungen meist mittels postalischer Kontakte aufrechterhalten. Zwischen ost- und westdeutschen Kirchenmitgliedern existierten zum Beispiel Brieffreundschaften. Diese kamen auf denkbar unter19 Vgl. Dammann, Rolf: Trennung, Gemeinsamkeit, Eigenständigkeit. Vom ehemaligen Bund in der DDR, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 164. 20 Vgl. Puschmann, Hellmut: Arbeit und Bedeutung der Zentralstelle Berlin des Deutschen Caritasverbandes, in: Kösters, Christoph (Hrsg.): Caritas in der SBZ/DDR 1945–1989. Erinnerungen, Berichte, Forschungen, Paderborn u. a. 2001, S. 47–58. 21 Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 5. 22 Vgl. ebenda, S. 5–6 und S. 11. Siehe auch: Steinke, Roland: „St. Josefsheim, Berlin, Pappelallee 61“ – Ein Zentrum kirchlich-caritativer Aus- und Weiterbildung, in: Kösters, Christoph (Hrsg.): Caritas in der SBZ/DDR 1945–1989, Paderborn u. a. 2001, S. 229–233. 23 Steinke: Das St. Josefsheim, S. 3.

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schiedlichen Wegen zustande. Solange Kirchenzeitungen unabhängig vom Erscheinungsort in Ost und West vertrieben werden konnten, suchten Kirchenmitglieder zum Beispiel per Anzeige nach potenziellen Brieffreunden. Ebenso konnten familiäre Verbindungen, Kriegsbekanntschaften oder eine gemeinsame Ausbildung die Basis für solche Kontakte bilden.24Neben diesen privaten Initiativen gab es organisierte Brieffreundschaften. In kirchlichen Jugendgruppen oder Erwachsenenkreisen wurden Adressen gesammelt, die geschlossen an eine Person überreicht wurden, welche die Anschriften jenseits der Grenze an eine bestimmte Gemeinde oder einen bestimmten Gemeindekreis weiterreichte, wo sie dann wiederum verteilt wurden. In der katholischen Kirche kamen Kontakte außerdem über Klöster und Ordensgemeinschaften zustande.25 S. T. berichtete, dass seine Familie Kontakte zu einer westdeutschen Bekannten unterhielt, die Schwester A. genannt wurde. Er selbst wusste nichts Näheres über diese Frau und lernte sie persönlich niemals kennen. In den 1960er- und 1970er-Jahren schickte Schwester A. regelmäßig Pakete „mit Nescafé, Majala-Pudding, mit Keksen, mit Sarotti-Schokolade.“26 Zwar wies S. T. darauf hin, dass Schwester A. der Familie keine teuren Güter zukommen ließ – er spekulierte sogar darüber, ob die Bekannte für die Kosten selbst aufgekommen war oder die Caritas diese übernommen hatte – aber die Detailgenauigkeit seiner Erinnerung belegt, welche Bedeutung den Päckchen in der Familie beigemessen wurde.27 Grundsätzlich ist im Fall der postalischen Kontakte zwischen Brief- und Paketsendungen zu unterscheiden. Briefe dienten der Information, Pakete hingegen tendenziell der materiellen Bedürfnisbefriedigung. Die Kontakte konnten auf eines der Formate beschränkt bleiben, es etablierten sich aber auch Mischformen und aus zentral organisierten Paketaktionen entwickelte sich manche tiefergehende Brieffreundschaft. Einige Kirchenmitglieder unterhielten intensive Ost-West-Briefwechsel, die teilweise über Jahrzehnte aufrechterhalten wurden. Die westdeutschen Kirchenleitungen instruierten ihre Gemeindemitglieder, Systemunterschiede auch bei privaten Briefwechseln immer mitzudenken.28 Dazu gehörte zum Beispiel die Möglichkeit einer unerwünschten Lektüre der Briefe durch Dritte. Sie sollten eine Antwort ihrer ostdeutschen Brieffreunde stets abwarten, bevor sie diese erneut kontaktierten. Außerdem wurden die Westdeutschen dazu angehalten, sich bei Beschreibungen von Urlaubsreisen und Auslandsaufenthalten zurück24 Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 2. 25 Vgl. Information. Baptisten 1958–1973. BStU MfS MfS HA XX/4 2977 (Teil 1 von 2). Siehe auch: Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 21. 26 Ebenda. 27 Vgl. Härtel, Christian/Kabus, Petra (Hrsg.): Das Westpaket. Geschenksendung, keine Handelsware, Berlin 2000. 28 Vgl. Murken: Westfälische Kontakte, S. 40.

5.1 Was bleibt: etablierte Kontakte im Wandel



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zuhalten, um die ostdeutschen Adressaten nicht zu deprimieren oder Neid zu erregen.29 Zusammengefasst handelte es sich bei den postalischen Kontakten also oft um Beziehungen, die das Praktisch-Karitative mit dem Persönlichen verbanden. Aus kirchlichen Verbindungen konnten sich private Beziehungen entwickeln, die losgelöst von ihren ursprünglichen Rahmenbedingungen und Organisationsstrukturen weiter existierten. Deutsch-deutsche Liebesbeziehungen, Freundschaften oder auch Patenschaften zeugen davon.30 Umgekehrt wurden private Kontakte genutzt, um kirchliche Verbindungen aufrecht zu erhalten: In den 1980er-Jahren erklärte der Ahrensfelder Protestant Paul Plume seine in Hamburg lebende Mutter, die sich einen Knochenbruch zugezogen hatte, zu einer todkranken Frau und erhielt deswegen die Erlaubnis, in die Bundesrepublik reisen zu dürfen. Diese nutzte er nicht nur um die längst genesene Mutter in Hamburg zu besuchen, sondern auch um nach Süddeutschland zu fahren, wo er freundschaftliche Kontakte zu Mitgliedern einer Kirchengemeinde in Britzingen pflegte.31

Institutionalisierte Kontakte junger Menschen Dass grenzübergreifende Kontakte zwischen ost- und westdeutschen Jugendlichen und Studierenden von den Kirchen durchgängig gefördert wurden, klang bereits an.32 Dieses besondere Engagement in der Jugendarbeit lässt sich einerseits mit einem verstärkten Kontrollbedürfnis der Kirchenleitungen erklären. Die Kirchen wollten den Jugendlichen die Organisation von Begegnungstreffen und Studienfahrten nicht in Eigenregie überlassen. Andererseits galten jüngere Generationen als besonders gefährdet, den Kontakt zwischen Ost und West zu verlieren: Jugendliche konnten in der Regel nicht auf gemeinsame Erfahrungen aufbauen und sollten sich daher durch Begegnungen als Einheit begreifen lernen. Den politischen Akteuren im Osten missfielen solche Ansätze erwartungsgemäß. Vor allem die FDJ-Leitung hatte kein Interesse daran, dass ostdeutsche Jugendliche mit Menschen aus anderen politischen Systemen in Berührung kamen. Die staatliche Jugendorganisation unterstützte deshalb die Bemühungen des MfS, den Einfluss kirchlicher Jugendorganisationen aus Westdeutschland auf christli29 Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 142. 30 Vgl. Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 8. 31 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 20. Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 7. 32 Umfangreich erforscht hat Claudia Lepp die organisierten deutsch-deutschen Beziehungen evangelischer Jugendlicher und Studierender bis 1969. Vgl. Lepp: Tabu der Einheit? Siehe auch: Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 29.

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che Jugendgruppen in der DDR und Ost-Berlin zu unterbinden.33 Entsprechend argwöhnisch nahmen MfS-Mitarbeiter im April 1963 den Besuch von Mitgliedern der Katholischen Jugend Hannover in Ost-Berlin zur Kenntnis. Die Jugendlichen befanden sich auf einer sogenannten Zweckreise, die vom Kuratorium Unteilbares Deutschland und dem Katholischen Jugendverband Hannover finanziert wurde. Sie übernachteten in West-Berlin und passierten von dort aus täglich die Sektorengrenze, um die Katholische Jugend in der Ost-Berliner Pfarrei Heilige Familie zu besuchen. Dem MfS fiel auf, dass die Hannoveraner große Mengen an Nahrungsund Genussmitteln mitbrachten und sich zudem intensiv darum bemühten, Wissen über die DDR zu akkumulieren. Sie interessierten sich speziell für den Kultursektor, das Publikationswesen und die Arbeit in den Volkseigenen Betrieben. Aus Sicht des MfS hatte die Reise den Charakter einer Exkursion.34 In den Folgejahren entwickelte sich die Gemeinde Heilige Familie zu einer wichtigen Anlaufstelle für katholische Jugendgruppen aus Westdeutschland. 1964 war zum Beispiel eine Gruppe aus Westfalen zu Besuch. Der MfS-Bericht vermerkt, dass die Teilnehmenden aus Angst vor den staatlichen Behörden Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatten: Die genaue Herkunft sowie die vollständigen Namen der Besucher wurden geheim gehalten.35 Aus dem Bericht ist außerdem herauszulesen, dass es sich um gesellige, weitestgehend unbeschwerte Treffen handelte, bei denen politische Themen gegenüber persönlichen und gesellschaftlichen Anliegen nur eine untergeordnete Rolle spielten. Gerade diese Darstellungen eines harmonischen Miteinanders riefen das MfS auf den Plan. Dass es unter den Jugendlichen kaum Streit gab, beunruhigte die Staatssicherheit. Aber auch evangelische Begegnungsleiter aus der Bundesrepublik waren mit dem Verlauf der Treffen zusehends unzufrieden. Sie beanstandeten, dass die ostdeutschen Jugendlichen das System, in dem sie lebten, zu selten kritisierten. Ihre Art zu denken, die in der Tendenz zum Generalisieren und Pauschalisieren zum Ausdruck käme, mache einen tiefgründigen Dialog nahezu unmöglich. Die Begegnungsleiter führten das darauf zurück, dass die in der DDR sozialisierten Jugendlichen Argumente der Staatsführung unbewusst übernommen hatten und weitertrugen.36 Die dem MfS verdächtige Unbeschwertheit bei den Treffen werteten die Betreuer aus der Bundesrepublik als Oberflächlichkeit oder Ergebnis ideologischer Indoktrinierung. Ein weiterer Deutungsansatz ist hier außerdem denkbar: Das selbstbewusste Auftreten mancher ostdeutscher Jugendlicher und die daraus

33 34 67. 35 36

Vgl. Halbrock: Basisarbeit, S. 543. Vgl. Informationsbericht. Betrifft: Feindtätigkeit der Kath. Jugend 24.4.1963. BStU MfS AS 2510/ Vgl. Bericht über westdeutschen Besuch in der Pfarrei „Heilige Familie“. BStU MfS AS 2510/67. Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 490.

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resultierenden Eindrücke entsprachen nicht mehr den Erwartungen der westdeutschen Organisatoren, weshalb sie die Begegnungstreffen insgesamt in Zweifel zogen. Tatsächlich schwand das Interesse an den zentral organisierten Jugendbegegnungen der Kirchen seit Mitte der 1960er-Jahre immer mehr. Der Plan, die deutsch-deutsche Jugend vermittels gemeinsamer Erlebnisse zu vereinen, schien nicht aufzugehen. Ende der 1960er-Jahre hatten viele junge, engagierte Kirchenmitglieder aus dem Westen den Eindruck, dass sich ihre eigenen Probleme zu sehr von denen in der DDR und Ost-Berlin unterschieden. Es fehlte ihnen an Motivation, um diesen Unterschieden nachzugehen. Gleichzeitig distanzierten sich die Ostdeutschen.37 Erneuten Auftrieb erhielten die Jugendkontakte erst wieder in den späten 1970er- und 1980-Jahren. Zum einen, weil sich die Jugendlichen nun stärker selbst in die Organisation einbringen konnten. Die Begegnungen folgten nicht mehr streng vorgegebenen Schemata. Zum anderen wurde das kirchliche Personal anders ausgebildet und auf die Treffen vorbereitet. Für evangelische Jugendmitarbeiter aus Ost und West fanden gemeinsame Seminare statt, in denen die Rolle der kirchlichen Mitarbeiter als Moderatoren unterstrichen wurde.38 Zudem wurde bei diesen Treffen ausgelotet, wo Anknüpfungspunkte bestanden und was junge Generationen tendenziell abschreckte.39 Inhaltlich rückten historische, soziale und gesellschaftspolitische Themen in den Vordergrund, die beide Gesellschaften gleichermaßen betrafen: Antisemitismus, Homophobie oder der Umgang mit dem Nationalsozialismus in beiden deutschen Nachkriegsstaaten zählten zu den Problemen, über die debattiert wurde.40 Ebenso beschäftigte Jugendliche aus Ost und West die Friedens- und Umweltbewegung. Im Vergleich mit früheren Begegnungen fielen die Gespräche offenbar deutlich selbstkritischer aus als in den 1960erJahren.41 Diese Beobachtungen gelten auch für die Kontakte christlicher Studierender. Die evangelische Hochschulgemeinde in Ost-Berlin unterhielt Verbindungen nach Westfalen. Die Katholische Studentengemeinde in Ost-Berlin hatte studentische Partnergemeinden in in Niedersachsen.42 Institutionalisierte Beziehungen der Studierenden bestanden also nur zu Hochschulgemeinden in der Bundesrepublik.

37 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 13. 38 Vgl. Murken: Westfälische Kontakte, S. 40. 39 Vgl. Besuch von Mitarbeitern der kirchlichen Jugendarbeit der DDR vom 16.-24.2.1980 in der BRD. BStU MfS HA XX/4 1256. 40 Vgl. Seminar von Jugendmitarbeitern aus der DDR und der BRD, in: Die Kirche 25.5.1986, S. 2. 41 Vgl. Murken: Westfälische Kontakte, S. 40. 42 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 2–3.

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Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

Der Austausch mit West-Berliner Studierenden basierte hingegen auf persönlichen Bekanntschaften.43 Laut den Zeitzeugen veränderte sich die Diskussionskultur innerhalb der Studentengemeinden Ende der 1960er-Jahre. Unter dem Eindruck der 68er-Bewegung wurde fortan „politisch miteinander debattiert“: 44 Das waren sehr […] politische Debatten, intellektuelle Debatten, Auseinandersetzungen mit dem Marxismus etc. und zwar immer in diesem, in diesem eigentümlichen Gegenüber, dass wir natürlich den Marxismus besser kannten, weil wir ihn auch erlebt haben und nicht nur aus paar Buchfetzen kannten, sondern für uns war das ein existenzielles Problem.45

Das oftmals zum Scheitern verurteilte Bestreben, gemeinsame Positionen zu entwickeln, gaben die Studierenden infolgedessen auf. Das führte jedoch auch dazu, dass sich die Ost-Berliner Studierenden in den 1970er-Jahren weiter von den katholischen Studierenden in West-Berlin distanzierten.46 Sie lehnten das Auftreten der West-Berliner KSG als zu radikal ab. Bischof Bengsch begrüßte diese Entwicklung. Vor dem Hintergrund der studentischen Proteste hatte er engere Kontakte zwischen Ost- und West-Berliner Hochschulgemeinden ohnehin nicht gutgeheißen. Die vor allem von West-Berliner Studierenden angebrachte Kritik an seiner konservativen Haltung und seinem autoritären Führungsstil bestärkte ihn in dieser Haltung.47 Stattdessen rückten für die Ost-Berliner KSG partnerschaftliche Aktivitäten wie gemeinsame Urlaube mit den Hochschulgemeinden aus Hannover und Münster wieder in den Vordergrund. Während dieser Reisen fanden zwar ebenfalls Auseinandersetzungen mit kritischen Inhalten statt, gleichzeitig ging es aber ebenso um touristische Erlebnisse, den Austausch von Literatur und das gemeinsame Miteinander. Einzelne KSG-Generationen trafen sich auch nach ihrer aktiven Studierendenzeit weiter. Bezeichnenderweise sprach S. T. in diesem Zusammenhang losgelöst vom kirchlichen Rahmen der KSG von einer Stimmung wie bei einem „Klassentreffen“, was den Charakter der Begegnungen in den 1970erJahren treffend zu umschreiben scheint.48 Die evangelischen Freikirchen traten auf dem kirchenpolitischen Parkett in der Regel denkbar zurückhaltend auf. Eine Ausnahme stellte der Evangelisch-Freikirchliche Studentenkreis Berlin dar. Seine Ost- und West-Berliner Mitglieder agierten aus Angst vor dem MfS besonders vorsichtig, hielten aber an ihrer Ge43 Vgl. Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 1–2. Siehe auch: Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 12. 44 Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 5. 45 Ebenda. 46 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 13. 47 Vgl. Treffbericht IM „Otto“ 23.1.1969. BStU MfS AIM 2716/75, abgedruckt in: Dolata: Operativer Vorgang „Schwarze Kapelle“, S. 389–391. 48 Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 3. Vgl. Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 8.

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meinschaft fest. Um mögliche Gefahren zu minimieren, fanden die Diskussionen zum Beispiel in Ruderbooten auf dem Weißen See statt. Dort konnte das MfS die Studierenden nicht abhören. Der Studentenkreis war 1961 in Ost-Berlin als Reaktion auf den Mauerbau gegründet worden und hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Verbindung nach West-Berlin aufrechtzuerhalten. Im Onken-Archiv der Freikirchen kann das handschriftlich verfasste Berichtsheft der Vereinigung eingesehen werden. Der erste Eintrag datiert vom November 1961. Aus den Protokollen und den beigefügten Fotografien ist zu schließen, dass es sich in erster Linie um ausgelassene, fröhliche Treffen handelte. Bemerkenswert ist, dass bei den Problemgesprächen augenscheinlich nicht dezidiert zwischen Ost und West unterschieden wurde. Der allgemeine Mitgliederschwund, rückläufige Gottesdienstzahlen oder das schwierige Verhältnis zwischen Gemeinden und Öffentlichkeit wurden als grenzübergreifende Entwicklungen problematisiert. Die unterschiedliche politische Ausgangslage, in der sich die freikirchlichen Gemeinden befanden, war dafür kein Hinderungsgrund.49

Eine Frage des Geldes Ein zentrales Thema während des Kalten Kriegs war auch im kirchlichen Rahmen das Geld. Zwar haben Forschung und Zeitzeugen schon in den 1990er-Jahren darauf hingewiesen, die grenzüberschreitenden Beziehungen der Kirchen nicht auf Geldtransfers zu beschränken. 50 Doch Begegnungstreffen und Weiterbildungen mussten finanziert, Personalkosten gedeckt werden. Und schon zeitgenössisch beanstandeten Kirchenmitglieder, dass die deutsch-deutschen Kontakte zu stark von finanziellen und materiellen Interessen geprägt waren.51 Von Baumaterialien, über Einrichtungsgegenstände, PKW und liturgische Geräte bis hin zur Aufbesserung der Pfarrgehälter: Wie erläutert kamen die westdeutschen Kirchen während des Kalten Kriegs in erheblichem Maß und im Rahmen unterschiedlicher Geschäftsmodelle für Kosten der ostdeutschen Kirchen auf.52 Maser schreibt, dass allein in den Jahren zwischen 1957 und 1990 rund 8,5

49 Berichtsheft. Evangelisch-Freikirchlicher Studentenkreis Berlin 1961–1969. OA, ohne Signatur. 50 Vgl. Homeyer: Die katholische Kirche, S. 28. 51 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 500. 52 Der Transfer der Gelder wurde über die Kirchengeschäfte A, B und C geregelt, wobei nur die evangelische Kirche in das Kirchengeschäft B, den Häftlingsfreikauf, involviert war. Vgl. Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 101–104. Vgl. Interview mit Rolf Dammann 2000, OA, ohne Signatur, S. 4. Siehe auch: Halbrock: Basisarbeit, S. 540.

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Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

Milliarden DM über EKD-Konten in die DDR transferiert wurden.53 Die katholische Kirche, die sich mit Transfergeschäften zunächst zurückgehalten hatte, erhöhte die Beträge sukkzessive. Während der Jahresbetrag 1966 bei 3,4 Millionen DM lag, waren es 1983 bereits 40 Millionen DM.54 Generell bemühten sich die Amtskirchen darum, die Wertverluste durch den Transfer möglichst gering zu halten. Die DDRRegierung sollte so wenig wie möglich an den Kirchengeschäften verdienen. Manche kirchlichen Mitarbeiter wurden aus dieser Not heraus erfinderisch. Dabei agierten sie nahezu immer in Graubereichen. Die Caritas in der DDR half zum Beispiel jenen Kirchenmitgliedern ihre Ersparnisse zu sichern, die nach Eintritt ins Rentenalter in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin verziehen wollten. Ihr angespartes Ost-Geld war aufgrund des Wechselkurses in der Bundesrepublik nahezu wertlos. Die katholische Caritas bot daher eine Lösung an, von der sowohl sie als Institution, die für Investitionen oder Lohnzahlungen Ostmark benötigte, als auch die jeweiligen Privatpersonen profitieren konnten: Ostdeutsche Rentner spendeten ihre Rücklagen an eine kirchliche Einrichtung, zum Beispiel ein Altenpflegeheim in der DDR oder Ost-Berlin. Nachdem die Gelder eingegangen waren, erstattete der Ost-Berliner Caritasdirektor, Roland Steinke, dem West-Berliner Büro der Caritas Meldung darüber.55 Im nächsten Schritt wurden die Ersparnisse den Spendern auf einem Konto in West-Berlin zu einem Wechselkurs von 3,5:1 in D-Mark gutgeschrieben. Später erfolgten auch Barauszahlungen. Auf diese Weise war es ostdeutschen Rentnern möglich, zumindest Teile ihrer Sparanlagen in den Westen mitzunehmen. Auf diese „Devisenschieberei“, so die Bezeichnung der DDR-Behörden, wurde das MfS Anfang der 1980er-Jahre aufmerksam.56 Zu diesem Zeitpunkt waren es längst nicht mehr nur Personen, die die DDR verlassen wollten und deswegen auf die Caritas zukamen. Auch andere DDR-Bürger, etwa katholische Handwerker, wollten auf diese Weise Vermögenswerte sichern. Dem MfS war aber nicht daran gelegen, den Fall öffentlich zu skandalisieren. Stattdessen setzte der Geheimdienst sein Wissen um die Devisengeschäfte gegenüber dem Bistum Berlin als Druckmittel ein. Der Episkopat wurde zu regelmäßigen Gesprächen mit dem MfS genötigt, zuzüglich der 250.000 D-Mark in bar, die der Ost-Berliner Prälat Gerhard Lange zwei Mitarbeitern des MfS im September 1982 zur Wiedergutmachung überreichte.57

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Vgl. Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 100. Vgl. ebenda, S. 104. Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 8–9. Weiß der Teufel, in: Der SPIEGEL 25.5.1992, S. 63. Vgl. ebenda, S. 63–64.

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Bei vielen dieser Transfers entstanden Abhängigkeitsverhältnisse, allein weil finanzielle Hilfen aus der Bundesrepublik bei ostdeutschen Planungen immer mitgedacht, das heißt eigentlich vorausgesetzt wurden.58 Der Trabi oder Wartburg kommt normalerweise in die Pfarrei, ohne daß sich der Kirchenvorstand die Haare raufen muß, woher denn das Geld für solch ein Seelsorgefahrzeug zu nehmen sei. […] Mancher in der Kirche hält dieses Beschenktwerden für so selbstverständlich, daß das Gespür für den Wert dieser außergewöhnlichen Geschenke verloren geht – und damit leider häufig auch das Gespür für die ganz normalen Belange der Pfarrei.59

Doch bezogen sich derlei Überlegungen nicht nur auf große, von der Potsdamer Kirche als überzogen oder unverhältnismäßig gekennzeichnete Bauprojekte oder institutionalisierte Lohntransfers. Seit den Lockerungen im Reiseverkehr war damit auch immer öfter der Waren- und Finanzaustausch bei Begegnungen zwischen Kirchenmitgliedern gemeint: Wenn der Ost-Berliner Matthias Kohl gemeinsam mit katholischen Gemeindemitgliedern aus der Bundesrepublik Urlaub in Polen machte, dann beglichen Letztere die Rechnung häufig nicht nur für sich, sondern – quasi selbstverständlich – auch für Kohl. Der nahm diese Einladung gerne, aber mit gemischten Gefühlen an: Gott, das sind schon ganz andere Welten, ja? Wenn die kommen mit ihrem Geld, die können alles kaufen, und wir konnten nichts. Das war schon sehr bedrückend, wat sag ich… bedrückend ist vielleicht übertrieben, aber das ham wir schon gemerkt, dass das irgendwie, tne, na, nicht, dass die am längeren Hebel sitzen, sondern, dass wir immer so „Danke“ sagen müssen oder dankbar sein müssen.60

Inwiefern Kohls Wahrnehmung tatsächlich den Erwartungen der Westdeutschen entsprach oder eine Projektion SED-typischer Propaganda war, kann nicht abschließend beantwortet werden. Vermutlich traf beides zu. Fest steht aber, dass nach dem Mauerbau ostdeutsche Kirchenmitglieder die beschriebenen Mechanismen vor dem Hintergrund der physischen Abschottung der DDR häufiger kritisch in Frage stellten: Sollten die Kirchen in der DDR nicht versuchen, entsprechend ihrem eigenen Finanzaufkommen zu wirtschaften? Waren Subventionen in dieser Größenordnung wirklich nötig? Lebten die Kirchen in der DDR über ihre Verhältnisse? Die Kirchenzeitung Potsdamer Kirche griff das Thema in den 1980er-Jahren wiederholt auf: „Wozu braucht die Kirche Geld? Wo kommt es her? Wie gehen wir damit um?“61 Rittberger-Klas sieht hier „den Erhalt überdimensionierter Struktu58 59 60 61

Vgl. Rittberger-Klas, S. 266. Gedanken über den schnöden Mammon, in: Potsdamer Kirche 10.1.1988, S. 2. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 7. Vgl. Gedanken über den schnöden Mammon, in: Potsdamer Kirche 10.1.1988, S. 1.

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Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

ren sowie die Lähmung der Eigeninitiative“ in den evangelischen Kirchen Ost-Berlins und der DDR begründet.62 Hinzu kam, ursprünglich als Ausgleich verstanden, nahmen ostdeutsche Christen die andauernden Finanzhilfen als Ausdruck eines kaum überwindbaren Gegensatzes wahr: Der reiche Westen ermöglichte dem armen Osten die Aufrechterhaltung des kirchlichen Lebens. Außerdem befürchteten ostdeutsche Kirchenmitglieder, dass die teilweise essentiell wichtig gewordenen Geldbeträge eine Einflussnahme westdeutscher Kirchen in ihren eigenen Bereich darstellten und damit eine andauernde Abhängikeit manifestierten: Welche Erwartungen waren an die Hilfen geknüpft? Die finanzielle West-Ost-Unterstützung wurde in den Kirchen also durchaus kontrovers diskutiert, wenngleich nicht alle Mitglieder darin grundsätzlich ein Problem sahen.63 Einige meinten, dass von dieser finanziellen Stärke ein klares Signal an die SED-Funktionäre ausgehe: Ein neu gedecktes Kirchendach oder die Errichtung eines Gemeindezentrums habe deutlich gemacht, dass die kirchliche Infrastruktur auch ohne staatliche Unterstützung ausgebaut werden konnte.64 Entsprach das nicht den Interessen der Westdeutschen? Irritiert reagierten manche ostdeutschen Gemeindemitglieder deshalb, wenn das wie selbstverständlich eingeplante Westgeld nicht so floss, wie sie sich das vorstellten. Hierbei fällt auf, dass weder die Skeptiker noch die Befürworter der Transfers die Herkunft der Gelder reflektierten oder auch nur in Betracht zogen, dass westdeutsche Kirchenmitglieder sich selbst in Verzicht übten, wenn sie Spenden für die Gemeinden in Ostdeutschland sammelten. In diesem Punkt war das ostdeutsche Selbstverständnis bemerkenswert einheitlich: Das größere Opfer erbrachte man selbst. Egal wie die Kirchenmitglieder also zu den Finanzhilfen standen, in jedem Fall verdeutlichten sie einen Unterschied. Jenseits der Grenze war Kirche und Gemeindeleben anders, weil vermögend. Die finanziellen Voraussetzungen, so die Vorstellung, bestimmten in erheblichem Maß über die Ausgestaltung des kirchlichen Lebens. Der Blick auf die etablierten, traditionellen Kontakte – Kirchenleitungen, kirchliche Mitarbeiter, Jugendliche oder Studierende – deutet darauf hin, dass die Beziehungen zwischen ost- und westdeutschen Kirchenmitgliedern immer wieder an die Grenzen des Vermittelbaren stießen. Dabei verschoben sich nicht nur die Grenzen selbst andauernd, sondern auch der Umgang mit ihnen wandelte sich, wie im Folgenden deutlich wird. Hier ist vorerst festzuhalten, dass sich die Anerkennung bestehender Ungleichheiten als Grundvoraussetzung für eine Fortführung des Ost-West-Dialogs herauskristallisierte. Insbesondere Personen aus Ost62 Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 266. Vgl. ebenda, S. 264–265. 63 Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 11. 64 Vgl. Halbrock: Basisarbeit, S. 540.

5.2 Horizonterweiterung: neue Akteure, neue Orte, neue Formate



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Berlin und der DDR, die eine Reisegenehmigung erhalten und die Bundesrepublik selbst kennengelernt hatten, mussten feststellen, dass sie bestimmte Erfahrungen nach ihrer Rückkehr in den Osten nicht vermitteln konnten. Wiederholt wurde in diesem Zusammenhang die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik als Beispiel genannt. Es fiel Ost-Berlinern und DDR-Bürgern offenbar schwer, sich vorzustellen, keiner Erwerbstätigkeit nachzugehen.65 Ebenso führte der Austausch nicht zwangsläufig dazu, dass sich Kirchenmitglieder bis dato fremde oder fremdgewordene Praktiken aneigneten. Dass westdeutsche Laien offen Kritik an ihren Kirchenleitungen äußerten, veranlasste ostdeutsche Gemeindemitglieder nicht dazu, diese Art der Kommunikation zu übernehmen. Die Prägungen der Teilnehmenden wogen oft schwerer als der Wunsch nach Veränderung. Unverständnis evozierte in der Regel aber keinen lautstarken Protest. Eher zogen sich die beteiligten Akteure zurück. Oder die Beziehungen wurden vertieft, um Kenntnisse über wahrgenommene Untiefen zu erlangen.66 Neu war seit den 1970er-Jahren, dass es nun ein Problembewusstsein dafür gab und Missverständnisse vermieden werden sollten.67

5.2 Horizonterweiterung: neue Akteure, neue Orte, neue Formate Neben allen zeitgenössischen Bedenken hinsichtlich eines fortschreitenden Auseinanderdriftens der ost- und westdeutschen Kirchen ist gleichzeitig eine Aufbruchsstimmung zu beobachten. Der Nächste wurde als Anderer (wieder) interessant. Bei der Informationsvermittlung und dem Aufbau neuer Kontakte spielten aus der DDR ausgereiste oder ausgewiesene Personen eine wichtige Rolle.68 Die grundlegende Erkenntnis, dass das Wissen über den Anderen erst (wieder) generiert werden musste, war die Basis für neue Informations- und Vermittlungskonzepte: Informationen mussten aufbereitet werden, weil nicht vorausgesetzt werden konnte, dass Transfers von Ost nach West und umgekehrt ohne eine solche Übersetzungsleistung gelingen würden. Für das Berliner Sonntagsblatt hieß das zum Beispiel: „Nach bisherigen Erfahrungen sind Berichte – gerade aus DDR-Kir65 Vgl. Interview mit Klaus Pritzkuleit 2005, OA, ohne Signatur, S. 16. Siehe auch: Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 11. Oder: Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 2. 66 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 8–9. 67 Vgl. Wolf, Christian: Wie ich „Reisekader“ wurde und blieb, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 350. 68 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 22.

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Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

chenzeitungen – vom Stil und von der Verstehbarkeit für westliche Leser nicht übernehmbar. Daraus ergibt sich die Aufgabe, ausgewählte Berichte, verbunden mit intensiver Archivarbeit, jeweils umzuschreiben.“69 Diese zielgruppenorientierte Anpassung in der Sprache und Argumentation sollte helfen, die Ost-West-Kontakte auf eine neue Ebene zu heben. Dabei ging es weniger um die Einheit als Maxime, sondern vor allem um Kommunikation als einem andauernden Prozess.

Wissensvermittlung in Ost- und West-Berlin In Berlin leistete die in den Nachkriegsjahren gegründete und nach 1961 geteilte evangelische Akademie einen wesentlichen Teil dieser Vermittlungsarbeit. Seit den 1970er-Jahren veranstaltete die West-Berliner Akademie die „Informationsabende DDR“.70 Ziel dieser Veranstaltungen war es, den Zuhörern Einblicke in das politische System der DDR und die DDR-Gesellschaft zu ermöglichen.71 So fand im November 1971 zum Beispiel ein Themenabend über „Jugend und Freizeit in der DDR“ statt. Der aus Frankfurt angereiste Referent, Mitarbeiter im Kirchlichen Außenamt der EKD, legte auffällig viel Wert darauf, nicht nur Systemunterschiede hervorzuheben. Er versuchte vielmehr die Gemeinsamkeiten im Leben ost- und westdeutscher Jugendlicher herauszuarbeiten und bemühte sich auf diese Weise konkrete Anknüpfungspunkte zu schaffen. Dabei verwies er unter anderem auf die Benachteiligung von Frauen und Mädchen. Diese hätten in beiden Gesellschaften deutlich weniger Freizeit als Jungen und Männer. Des Weiteren lag ihm daran, sein Publikum für Logiken der DDR-Propaganda zu sensibilisieren. Das erschien ihm notwendig, weil er unter westdeutschen Jugendlichen gehäuft eine Verklärung des politischen Systems der DDR beobachtet hatte.72 Anderthalb Jahre später, im Mai 1973, führte die Akademie eine Veranstaltung mit dem Titel „Schule und Gesellschaft in der DDR – Wie werden die Verbindungen zwischen Schule und Gesellschaft organisiert?“ durch.73 Referentin an diesem Abend war eine Dozentin der Freien Universität in West-Berlin. Zu Beginn, so ver69 DDR-Informationen im „Berliner Sonntagsblatt“ 1977. ELAB 222. 70 Die Evangelische Akademie Berlin-Brandenburg hatte ihren Sitz in Ost-Berlin. Die Evangelische Akademie Berlin (West) residierte dem Namen entsprechend im Westteil der Stadt. Vgl. Silomon, Anke: An der Nahtstelle. Evangelische Akademie in Berlin und Brandenburg seit 1945, Berlin 2019, S. 86–102. 71 Vgl. Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 126. 72 Vgl. Information. „Informationsabend DDR“ der Evangelischen Akademie Westberlin am 3.11.1971 5.11.1971. BStU MfS HA XX/4 1246. 73 Information. „Informationsabend DDR“ der Evangelischen Akademie Westberlin am 2. Mai 1973 4.5.1973. BStU MfS HA XX/4 1250 (Teil 1 von 2).

5.2 Horizonterweiterung: neue Akteure, neue Orte, neue Formate



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merkt es der MfS-Bericht, unterstrich diese ihre wissenschaftliche Herangehensweise an das Thema. Als Quellen für ihren Vortrag benannte die Referentin neben Unterrichtsmaterialien und Zeitschriften „persönliche Erlebnisse und Kontakte“.74 Ihr war wichtig, die Anwesenden darauf hinzuweisen, dass viele Jugendliche in der DDR und in Ost-Berlin mit dem Kurs ihrer Regierung nicht einverstanden waren und deshalb nach inneren wie äußeren Fluchtmöglichkeiten suchten. Die bis dato durchaus erfolgreiche politische Agitation an den Schulen, unterstrich die Vortragende, stoße zunehmend auf Kritik. Allerdings sei auch bei den Parteifunktionären ein Umdenken zu beobachten. Diese Feststellung rief laut MfS-Bericht im Auditorium heftige Reaktionen hervor. Viele Zuhörer widersprachen dieser Aussage und beharrten darauf, dass die DDR-Regierung noch immer restriktiv gegen andersdenkende Jugendliche vorgehe und ein Kurswechsel nicht erkennbar sei. Einigkeit herrschte unter den Anwesenden dahingehend, dass viele Jugendliche den Sozialismus nicht pauschal ablehnten, sondern vor allem seine Ausprägungen in der DDR kritisierten. Es sei besorgniserregend, so die Referentin, dass sich die Jugendlichen im Osten – anders als die junge Generation in Westdeutschland – aufgrund dieser Enttäuschungen zunehmend entpolitisierten, anstatt sich selbst als politische Akteure zu begreifen. Beide Beispiele zeigen, dass sich die Evangelische Akademie um eine differenzierte Auseinandersetzung mit der DDR bemühte und dieser Ansatz auch in der Auswahl der Referentinnen und Referenten erkennbar wurde. Besonders interessiert scheinen die West-Berliner an der Veranstaltungsreihe über die DDR aber nicht gewesen zu sein. Laut MfS kamen zu dem Informationsabend über „Schule und Gesellschaft in der DDR“ 24 Personen, von denen nur 15 regelmäßig an den Informationsabenden teilnahmen.75 Beim Informationsabend DDR über „Jugend und Freizeit in der DDR“ zählten die MfS-Informanten 35 Teilnehmende.76 Dennoch hielt die Evangelische Akademie an dem Format fest. Der „Themenbereich DDR“ wurde sogar sukzessive erweitert.77 Neben dem einmal im Monat stattfindenden DDR-Informationsabend traf sich alle vier Wochen ein DDR-Arbeitskreis von 10–15 Personen, der Zeitungsartikel und Bucherscheinungen mit DDR-Bezug besprach. Die Akademie organisierte überdies Studienwochen für junge Menschen aus der westfälischen Partnerkirche, die während ihres Aufenthaltes Ost- und West-Berlin kennenlernten. Schließlich veranstaltete die Akademie, oft in Koope74 Ebenda. 75 Vgl. Information. „Informationsabend DDR“ der Evangelischen Akademie Westberlin am 2. Mai 1973, 4.5.1973. BStU MfS HA XX/4 1250 (Teil 1 von 2). 76 Vgl. Information. „Informationsabend DDR“ der Evangelischen Akademie Westberlin am 3.11.1971, 5.11.1971. BStU MfS HA XX/4 1246. 77 Vorläufige Arbeitskonzeption für den Themenbereich DDR an der Evangelischen Akademie Berlin (West) 1988. BStU MfS HA XX/4 1851.

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ration mit anderen Institutionen, einmal jährlich eine Tagung mit dem Themenschwerpunkt DDR.78 Das Programm wurde immer wieder überarbeitet und angepasst. Aber erst eine „vorläufige Arbeitskonzeption für den Themenbereich DDR an der Evangelischen Akademie Berlin (West)“ von 1988 sah schließlich vor, den Dialog mit Personen aus der DDR und anderen Ostblockstaaten zu vertiefen.79 Die Akademie sollte den gesellschaftlichen Aufbruch in diesen Ländern nun aktiv unterstützen. Zu diesem Zweck, so der Verfasser des Papiers, müsse die Öffentlichkeitsarbeit der Akademie offener gestaltet werden. Plakate und Faltblätter sollten überarbeitet werden. Der DDR-Informationsabend sollte in „DDR konkret“ umbenannt werden, um das Interesse neuer Zielgruppen zu wecken.80 Wichtig sei es, „authentische Informationen über die DDR zu vermitteln.“81 Vor allem Vortragende aus der DDR sollten deshalb zu den Veranstaltungen eingeladen werden. 1989 startete des Weiteren die Reihe „DDR-Literatur heute“, im Rahmen derer DDR-Autoren ihre Bücher vorstellten. Schließlich war die Einrichtung eines „jour fixe DDR“ angedacht, der den Austausch von Wissenschaftlern und Journalisten, die in diesem Themenbereich arbeiteten, anregen sollte.82 Die bereits erwähnten Studienwochen waren in der bisherigen Form hingegen nicht mehr vorgesehen, da sie zu viele Kapazitäten banden und nur einen überschaubaren Kreis erreichten. Zudem, so wurde in dem Papier argumentiert, müsse sich die Akademie nicht als einer von vielen Reiseveranstaltern, die Berlinreisen organisierten, verdient machen. An der Tagungsarbeit wollte die Akademie festhalten, nach Möglichkeit sollte dieser Bereich ebenfalls ausgebaut werden. Ein Blick auf die Titel der unterschiedlichen Veranstaltungen zeigt, dass sich in der Akademiearbeit im Zeitverlauf thematische Schwerpunkte herausbildeten. Die Situation von Minderheiten wie der jüdischen oder sorbischen Bevölkerung in der DDR gehörte dazu. Neben konkreten Alltagserfahrungen rückte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Sozialismus als einem wandelbaren Konzept in den Vordergrund. Aktuelle Beobachtungen wie Reformbestrebungen wurden in einen Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte und den Strukturen sozialistischer Systeme gestellt. Die DDR wurde dabei in den allermeisten Fällen im Ostblock verortet und als Teil des Warschauer Paktes verstanden. Die Existenz zweier deutscher Staaten beziehungsweise eines geteilten Landes rückte demgegenüber in den Hintergrund.

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Vgl. ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

5.2 Horizonterweiterung: neue Akteure, neue Orte, neue Formate



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Die Vorschläge des Positionspapiers, das vor allem auf eine Programmerweiterung abzielte, geben freilich nur bedingt Auskunft über die reale Nachfrage nach solchen Veranstaltungen. Es wird aber deutlich, welcher Bedarf an Informationsveranstaltungen über die DDR in West-Berlin gesehen wurde und dass die Akademie in diesem Bereich große Defizite vermutete. Zudem betonte das Papier die Notwendigkeit einer veränderten Kommunikationsstrategie: Es sei wichtig, mit Menschen aus der DDR zu sprechen, anstatt über sie. Angesichts der Reformprozesse im Ostblock unterstrich der Studienleiter der Akademie, Hubertus Knabe, im Juni 1989 deshalb noch einmal die „besondere Verantwortung der Christen und der Kirchen für die Versöhnung mit den östlichen Nachbarn, den Abbau von Feindbildern und das Brückenschlagen zwischen den Systemen. Nirgendwo sonst ist diese Verantwortung so spürbar wie in Berlin.“83 Er appellierte an die Evangelische Akademie in Berlin (West), diese Entwicklung als Chance zu begreifen und nutzbar zu machen. Die Akademie verfüge als einer von wenigen Akteuren über die notwendige Kompetenz, Erfahrung und Offenheit auf diesem Feld.84 Knabe knüpfte mit diesem Appell an den evangelischen Bischof Kurt Scharf an. Dieser hatte mit Blick auf die Akademie schon 1965 erklärt, dass sie „keine neuralgische Frage ausläßt, sie ist bemüht sachkundig dazustellen und versucht an Darstellung und Erörterung der Problematik die Sachverständigen aus ganz Europa in West und Ost zu beteiligen.“85 Aber auch in Ost-Berlin gab es grenzübergreifende Informations- und Bildungsangebote. In der katholischen Gemeinde St. Augustinus in Berlin-Prenzlauer Berg kamen zum Beispiel regelmäßig Katholiken aus Ost und West zusammen, die in der Familienpastoral tätig waren. Sie tauschten sich über kirchliche Ehe- und Familienarbeit aus. Häufig nahmen die ostdeutschen Teilnehmenden die Treffen als Fortbildungen wahr.86 Die Bedeutung, die diesen Veranstaltungen beigemessen wurde, wird an der Tatsache deutlich, dass im Dachstuhl der Pfarrkirche eigens für diese Ost-West-Treffen eine illegale Gästewohnung ausgebaut wurde. Teilnehmende aus der DDR wurden dort untergebracht, während die westdeutschen Besucher in West-Berlin übernachteten und jeden Morgen mit Tages-Visa einreisten.87 St. Augustinus diente als geheimer Treffpunkt und Aufenthaltsort für diese Gruppen. Die Gemeindemitglieder selbst waren nicht in die Bildungsarbeit involviert. Die Treffen fanden dort statt, weil Ost-Berlin Standortvorteile bot, die in der DDR nicht gegeben waren. 83 Arbeit der Evangelischen Akademie Berlin (West) 5.6.1989. BStU MfS HA XX/4 1851. 84 Vgl. ebenda. 85 Bericht der Kirchenleitung gegeben durch Bischof D. Scharf am 5. Dezember 1966. BStU MfS 12889/92. 86 Vgl. Interview Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 24. 87 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 23.

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Abseits dieser Fortbildungsformate kamen in den 1980er-Jahren Austauschprogramme für kirchliche Mitarbeiter hinzu, die es angehenden Theologen aus der Bundesrepublik zum Beispiel ermöglichten, ihr Vikariat in Ost-Berlin oder der DDR zu absolvieren.88 Außerdem unternahmen westdeutsche Vikare Besuchsreisen in die DDR.89 Ab 1984 konnten Theologiestudierende der westfälischen Landeskirche Gemeindepraktika in der DDR absolvieren. Überrascht stellte die Landeskirche nach einer Sichtung der Praktikumsberichte fest, dass die Praktikanten im Vergleich von west- und ostdeutschem Gemeindeleben insgesamt wenige Unterschiede wahrnahmen. Dieses Ergebnis entsprach nicht den Erwartungen. Mehr noch, die Praktikanten übten in ihren Berichten Kritik an den Darstellungen der Kirchenleitung. Die von ihr reproduzierten Bilder hätten oft nicht der Wirklichkeit an der ostdeutschen Kirchenbasis entsprochen.90 Neben diesen kirchlichen Kontakten wurde der Austausch mit Dritten wie Kulturschaffenden aus West-Berlin und der Bundesrepublik für die ostdeutschen Gemeinden immer wichtiger. Dabei spielten kirchliche Themen in der Regel eine untergeordnete Rolle. Die Kirchen dienten vorrangig als Räume, in denen die Treffen stattfanden: Öffentliche Aufmerksamkeit erregte 1987 ein Konzert der WestBerliner Band Element of Crime, die in der Zionskirche auftrat. Das Konzert selbst verlief ohne besondere Vorfälle. Jedoch griffen im Anschluss Rechtsextreme die Konzertbesucher an. Mehrere Personen wurden verletzt, außerdem gab es Sachbeschädigungen in der Kirche. Der folgende Prozess war ein DDR-Propagandastück. Der Ost-Berliner Richter kam zu dem Schluss, dass West-Berliner Skinheads für den Überfall verantwortlich seien. Sie hätten die beteiligten Ost-Berliner „Sympathisanten“ zu dem Angriff angestachelt. Dabei ging es bei diesem offen antisemitischen Angriff – unter anderem war die Parole „Juden raus aus deutschen Kirchen!“ skandiert worden – nicht um Ost oder West, sondern um die Frage nach dem Umgang mit Rechtsextremen, die in der angeblich antifaschistischen DDR offiziell gar nicht existierten.91 Obwohl der Vorfall ein grenzübergreifendes mediales Echo erfuhr, blieb die DDR-Justiz sowie die Regierung eine offizielle Antwort darauf schuldig. Zwar wurden einige der ostdeutschen Täter zu Haftstrafen verurteilt, allerdings negierte der Urteilsspruch die politische Dimension dieser Straftat völlig.92

88 Vgl. Paul-Gerhard Achenbach an Generalsuperintendent Günter Krusche 16.11.1986. ELAB 86/ 542. 89 Vgl. Murken: Westfälische Kontakte, S. 40–41. 90 Vgl. ebenda, S. 41–42. 91 Gemeindekirchenrat der Zionskirche an den Regierenden Bürgermeister von Berlin (West) 18.12.1987. LA B Rep 002/14277. 92 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, Bonn 2009, S. 170–171.

5.2 Horizonterweiterung: neue Akteure, neue Orte, neue Formate



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Die Kirchen waren nicht mehr nur ein religiöser Ort, sondern auch ein Raum, in dem gesellschaftliche und politische Standpunkte verhandelt wurden. Kirchliche Gruppen unterhielten außerdem Kontakte zu westdeutschen Politikern und Journalisten. Die Umweltbibliothek in der Zionskirchgemeinde hatte über den zwangsausgebürgerten Roland Jahn, der in West-Berlin lebte, Kontakte zur Partei die Grünen und zur Tageszeitung taz aufgebaut.93 Mitglieder der Partei und Redakteure der Zeitung kamen regelmäßig nach Ost-Berlin und berichteten dann in West-Berliner Medien über das Leben im Ostteil der Stadt. Überhaupt entdeckten westdeutsche Politiker die Kirchen im Osten als Bühne, auf der sie ihre Kritik an der DDR und gleichzeitig ihre Dialogbereitschaft vor Ort darstellen konnten. In diesem Rahmen erschien selbst ein Zusammentreffen mit DDR-Funktionären möglich, ohne in den Verdacht zu geraten, gegenüber der SED-Regierung Zugeständnisse zu machen. Da die ostdeutschen Kirchen für Menschen aus der Bundesrepublik weiterhin einen Ort der Unterdrückung und gleichzeitig der Opposition und des Widerstands symbolisierten, wurde ein Besuch allenfalls als distanziertes Gesprächsangebot gegenüber der SED gewertet.94 Kirchen erhielten in diesem Zusammenhang die Funktion eines Forums; ostdeutsche Kirchenmitglieder agierten als Leumund für eine realistische Darstellung des Lebens in der DDR in den Westmedien.95

Dritte Orte: Begegnungen im internationalen Kontext Als entscheidend für die Aufrechterhaltung der kirchlichen Ost-West-Kontakte erwies sich die Verlagerung von Treffen an Orte im Ausland. Eine besondere Bedeutung bei der Verlegung inoffizieller deutsch-deutscher Begegnungstreffen erlangten die Ostblockstaaten, insbesondere Bulgarien, Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn. Dort trafen sich Personen der Kirchenleitungen genauso wie Mitglieder von Studentengemeinden oder Laien, deren Gemeinden durch eine Partnerschaft miteinander verbunden waren. Es handelte sich dabei sowohl um private Initiativen oder Arbeitstreffen als auch Programme, die von kirchlichen oder staatlichen Stellen in der Bundesrepublik gefördert wurden.96 Neben der mehr oder weniger 93 Vgl. Kirchentag von unten. Pfingstgemeinde Berlin 1987. BStU MfS BV Bln XX 4902. 94 Vgl. Wer Toleranz will, muß Dialog wollen, in: Die Kirche 16.11.1986, S. 1. 95 Vgl. Rathke: „Wohin sollen wir gehen?“, S. 120. 96 Vgl. Bericht über einige Aspekte zum Forum in der Marienkirche am 27.6.1987. BStU MfS HA XX/4 2852. Siehe auch: Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 5–6. Oder: Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 2–3. Sowie: Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 5. Und: Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 2. Zu den Jugendbegenungen in Drittländern: Lepp: Tabu der Einheit?, S. 752. Schließlich: Radatz: Auf der Insel, S. 25.

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intensiven inhaltlichen Arbeit bei Laientreffen standen der gemeinsame Urlaub und mit ihm einhergehende touristische Praktiken oftmals im Vordergrund der Reisen. Matthias Kohl schilderte, wie ostdeutsche Kirchenmitglieder ihren Aufenthalt mit Hilfe der Westdeutschen zu verschleiern versuchten und auf Grundlage dieses Geheimnisses ein Gefühl von Gemeinsamkeit entstand: Ham uns dann dort vor Ort getroffen und sind nicht erkennbar gewesen als gesamtdeutsche Jugendliche […] sondern als westdeutsche Gruppe fuhren wir, weil die Autos hatten westdeutsche Kennzeichen, wir sprachen alle Deutsch, also sind wir ne westdeutsche Gruppe. Wenn wir uns irgendwo angemeldet haben auf’m Zeltplatz, die […] Ostdeutschen waren immer ne Minderheit, die Westdeutschen waren mehr, da wurden nur die Westdeutschen angemeldet und die Ostdeutschen liefen so mit. Das wir nirgendwo praktisch aufgeschrieben wurden. Das hat super funktioniert.97

Wichtige Voraussetzung für solche Erfahrungen war, dass Personen aus Westdeutschland bereit waren, in den Ostblock zu reisen. Denn es gab durchaus Kirchenmitglieder, so Werner Radatz, die eine solche Unternehmung aus ideologischen Gründen kategorisch ablehnten.98 Der in West-Berlin lebende Ratsvorsitzende der EKD und spätere Berliner Bischof Kurt Scharf gehörte nicht zu diesen Personen. 1965 erfuhr das MfS, dass Scharf in einem West-Berliner Reisebüro eine Urlaubsreise nach Varna in Bulgarien gebucht hatte. Doch offenbar reiste der Bischof nicht nach Bulgarien, um dort seine Ferien zu verbringen. Das MfS stellte fest, „daß im gleichen Zeitraum ca. 15 Geistliche bezw. kirchliche Angestellte aus der DDR in Reisegruppen des Deutschen Reisebüros nach Bulgarien fahren.“ Für das MfS galt es als erwiesen, dass Scharf mit dieser Gruppe zu Arbeitstreffen zusammenkommen wollte, weshalb der Geheimdienst umgehend die bulgarischen Sicherheitsbehörden kontaktierte und um Unterstützung bei der Überwachung dieser Personen bat.99 Scharfs Reisen und die Erinnerungen Matthias Kohls machen zwei Punkte deutlich. Erstens suchten Kirchenmitglieder – Laien wie Theologen – nach Möglichkeiten, persönliche Treffen trotz der innerdeutschen Reisebeschränkungen zu arrangieren. Zweitens galt das Ausland als vergleichsweise sicherer Begegnungsort. Zwar waren die Treffen dem MfS in den allermeisten Fällen bekannt, häufig wurden sie auch überwacht, aber mit dem Unterschied, dass das MfS die Begegnungen nicht per se verhindern konnte, beziehungsweise auf die Kooperation mit einem anderen Geheimdienst angewiesen war, um aktiv eingreifen zu können. 97 Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 5. 98 Vgl. Radatz: Auf der Insel, S. 26. 99 Absprache mit den bulgarischen Sicherheitsorganen 3.9.1965. BStU MfS HA XX/4 124. Siehe auch: Vorschlag für die Überwachung der Reise des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Scharf, nach Warna/Bulgarien. 3.9.1965. BStU MfS HA XX/4 124.

5.2 Horizonterweiterung: neue Akteure, neue Orte, neue Formate



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Diese aus Sicht des Geheimdienstes erschwerten Bedingungen machten die ausländischen Trefforte für Mitglieder der Kirchen besonders interessant. Sie blieben auch dort Gefahren ausgesetzt, weil Verhaltensweisen und Handlungen, die das MfS als staatsfeindlich interpretierte, in Ost-Berlin und der DDR auf sie zurückfallen konnten. Trotzdem hatten sie aus den genannten Gründen das Gefühl, sich freier als im eigenen Land bewegen zu können. Das MfS interessierte sich außerdem für das Auftreten ostdeutscher Kirchenvertreter auf internationalen Tagungen.100 Zum einen, weil es am Rande solcher Konferenzen immer wieder zu geheimen, auch deutsch-deutschen, Begegnungen kam. Im Zuge solcher Treffen wurden zum Beispiel Absprachen über Hilfsaktionen getroffen, die der Geheimdienst als konspirativ und illegal betrachtete.101 Zum anderen, weil die Teilnehmenden bei solchen Veranstaltungen nicht nur als Personen der Kirche, sondern, gerade im Ausland, als nationale Delegationen beziehungsweise Reisekader auftraten und wahrgenommen wurden. Sie agierten als Angehörige einer Religionsgemeinschaft und als Staatsbürger. Zwar verwies Christian Wolf, der von 1981 bis 1991 unter anderem zum Books and Translation Committee der Europäischen Baptistischen Föderation gehörte und Reisekader war, darauf, dass er dieses „häßliche DDR-Wort [Reisekader, Anmerkung der Verfasserin] nicht mochte und es in unseren Gemeinden auch kaum gebraucht wurde.“102 Doch auch wenn die Bezeichnung vermieden wurde, blieb die Doppelfunktion – Kirchenvertreter und Reisekader – erhalten und stellte für Personen aus Ost-Berlin und der DDR eine Herausforderung dar. Wolf beschrieb folgerichtig den Zwiespalt, einerseits als Christ und DDR-Bürger an Veranstaltungen im Ausland teilzunehmen und sich andererseits nicht von der DDR-Regierung vereinnahmen zu lassen. Denn diese versprach sich von der Erlaubnis solcher Auslandsaufenthalte internationale Prestigegewinne. Wolf erinnerte sich in diesem Zusammenhang daran, dass er vor einer Reise nach Großbritannien beim Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, erscheinen musste: „Ein Satz seiner Ausführungen ist mir im Gedächtnis geblieben: ‚Wir können von Ihnen nicht erwarten, daß Sie 100 Die meisten dieser internationalen Tagungen fanden im Ausland statt, es wurden aber auch in Ost-Berlin und in der DDR Veranstaltungen mit internationalem Publikum ausgerichtet. Vgl. Interview mit Rolf Dammann 1999. OA, ohne Signatur, S. 11. Sowie: Interview mit Rolf Dammann 2000. OA, ohne Signatur, S. 3. Siehe auch: Interview mit Klaus Pritzkuleit 2005. OA, ohne Signatur, S. 18. Außerdem: Besuch einer lutherischen Delegation aus der DDR beim LWB in Genf, in: Die Kirche 2.1.1972, S. 4. Und: Rathke: „Wohin sollen wir gehen?“, S. 93. Schließlich: Steinke: „St. Josefsheim, Berlin, Pappelallee 61“, S. 231. 101 Vgl. Otto, Manfred: „Über Tagebuchaufzeichnungen verfüge ich nicht“, in: Balders, Günter/ Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 182. Siehe auch: Wolf, Christian: Wie ich „Reisekader“ wurde und blieb, S. 350. 102 Ebenda, S. 348.

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Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

im Vereinigten Königreich die Politik der SED vertreten, aber wir möchten Sie bitten, sich dort als Staatsbürger der DDR zu bewegen.‘“103 In seinen Erinnerungen überging Wolf die Möglichkeit, dass Kirchenmitglieder in der DDR und Ost-Berlin das Verhältnis zu dem Staat, in dem sie lebten, und damit zur eigenen Staatsbürgerschaft auch neutral oder sogar positiv bewerten konnten. Der Baptist Lorenz Günter etwa, der häufig an internationalen kirchlichen Tagungen teilnahm, beobachtete an sich selbst einen Wandel: Er habe sich nicht als „Repräsentant der DDR“ gefühlt, wohl aber als „Betroffener“, der die Teilung zu akzeptieren gelernt hatte und „sein’s dazu beitragen will, daß alles, Annäherung und so weiter, passieren“ könne.104 Rolf Dammann, seit 1969 Generalsekretär des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR, erklärte, dass ihm bei internationalen Konferenzen „immer sehr daran lag, durch Berichte, meistens eben durch Lichtbild-Vorträge, die internationalen Verbindungen unserer Gemeinden und unseres Bundes bekannt zu machen.“105 Auf diese Weise unterstrich er quasi nebenbei die Souveränität der DDR. Vorsichtshalber führte er außerdem stets eine DDR-Flagge bei Tagungen im Ausland mit sich, um Teilnehmende aus der DDR als selbstständige Mitglieder ausweisen zu können, die nicht zur westdeutschen Delegation gehörten.106 Für den Bund der Freikirchen galt, Konflikte mit staatlichen Behörden in der DDR unbedingt zu vermeiden, um die internationalen Aktivitäten der Freikirchen nicht zu gefährden. Auch die Auswahl der Delegierten fand vor diesem Hintergrund statt, was innerhalb des Bundes durchaus zu Auseinandersetzungen führte. Nicht alle Kirchenmitglieder zeigten sich damit einverstanden, nur vermeintlich unkritische Personen zu entsenden.107 Ausländische Gäste, die zu Besuch in der DDR waren, bat Dammann aus demselben Grund von politischen Äußerungen abzusehen.108 Keinesfalls sollte der Eindruck entstehen, dass die Besucherinnen und Besucher die Teilung Deutschlands oder die Teilung des Bundes der Freikirchen nicht akzeptierten oder als eine Lösung auf Zeit erachteten. Bei Begegnungen mit Menschen im Ausland ging es also nicht nur um den Kontakt zu westdeutschen Kirchenvertretern. Die ostdeutschen Kirchenvertreter suchten vermehrt das Gespräch mit Teilnehmenden aus Drittländern. In einer sich zunehmend globalisierenden Welt nahm das Interesse an multilateralen Kon103 Ebenda, S. 349. 104 Interview mit Lorenz Günter 1999. OA, ohne Signatur, S. 9. 105 Interview mit Rolf Dammann 2000. OA, ohne Signatur, S. 2. 106 Vgl. ebenda, S. 3. Siehe auch: Dammann, Rolf: Internationale Verbindungen, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 343. 107 Vgl. Interview mit Karin Knospe und Ruth Proske 2003. OA, ohne Signatur, S. 12–13. 108 Vgl. Interview mit Rolf Dammann 2000. OA, ohne Signatur, S. 9–10.

5.2 Horizonterweiterung: neue Akteure, neue Orte, neue Formate



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takten zu und damit der Wunsch, diese aufzubauen und fortzuführen beziehungsweise nicht abbrechen zu lassen. Die Einbindung in globale Netzwerke, wie den Ökumenischen Rat der Kirchen, wurde von evangelischen Religionsgemeinschaften in Ostdeutschland dementsprechend betont:109 „Durch diese ökumenischen Kontakte kam Weite in die Enge der DDR-Gesellschaft. Über die ökumenische Diskussion hatte die DDR-Kirche teil an den weltweiten Problemen und war nicht nur mit sich selbst beschäftigt.“110 Dietmar Linke machte deutlich, welchen Wert ostdeutsche Christen einer Außenwahrnehmung beimaßen, bei der sie in erster Linie nicht als Opfer oder Unterdrückte charakterisiert wurden, wie es im deutsch-deutschen Verhältnis oft der Fall war. Zudem ließen sich Entscheidungen und Empfehlungen, die etwa auf die Arbeit des Ökumenischen Rates zurückgingen, gegenüber der DDR-Regierung, die sich gleichzeitig um internationale Anerkennung bemühte, besser vertreten als bilaterale Verhandlungsergebnisse mit der Bundesrepublik: Konferenzen auf der Ebene des Baptistischen Weltbundes oder der Europäischen-Baptistischen Föderation boten durch ihre Erklärungen zitierfähige Aussagen, die wir uns als Bund zu eigen machten. Diese Erklärungen hatten ihr unverwechselbares Eigengewicht, weil sie auf internationale Positionen und Stellungnahmen verweisen konnten. Zum anderen waren sie inhaltlich so angelegt, daß sie Positionen des Ostens und des Westens zur Sprache brachten und in der Regel an beide Seiten Anfragen stellten. Zugleich bewahrten sie vor der Gefahr einseitiger Stellungnahme.111

Die Loslösung vom deutsch-deutschen Fokus wurde in den ostdeutschen Kirchen also durchaus auch als Entlastung wahrgenommen. Alle christlichen Konfessionen in der DDR unterhielten bilaterale Beziehungen mit westlichen Drittstaaten.112 Neben dem inhaltlichen Austausch sprachen pragmatische Gründe für den Aufbau dieser Kontakte: Es war vielfach leichter, eine Einreiseerlaubnis für niederländische oder schweizerische Kirchenmitglieder beim zuständigen Staatssekretär für Kirchenfragen in der DDR zu erwirken.113 Hinzu kam, dass Ostdeutsche das Gespräch mit ausländischen Kirchenmitgliedern im Vergleich zu ihren Erfahrungen mit Personen aus Westdeutschland oft als angenehmer und konstruktiver empfanden. Der vorherrschende Systemwettbewerb, der nach Begegnungen mit Personen aus Westdeutschland häufig kritisiert wurde, spielte bei diesen Treffen eine deutlich untergeordnete Rolle. 109 Vgl. Interview mit Lorenz Günter 1999. OA, ohne Signatur, S. 5. Siehe auch: Besuch einer lutherischen Delegation aus der DDR beim LWB in Genf, in: Die Kirche 2.1.1972, S. 4. 110 Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 55. 111 Sult: Der Geruch unumgänglicher Pflichterfüllung, S. 111–112. 112 Vgl. Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 80. 113 Vgl. Dammann: Internationale Verbindungen, S. 344.

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Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

Ende der 1970er-Jahre legte der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR gemeinsam mit dem Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund ein Programm zur Erwachsenenbildung auf. An diesem Austauschprogramm, das Besuche in ostdeutschen wie auch in schweizerischen Gemeinden vorsah, nahmen vor allem kirchliche Mitarbeiter teil. Besonders hervorgehoben wurde von den Teilnehmenden die sachliche Auseinandersetzung mit kirchlichen Fragen im Rahmen der Veranstaltungen. Der Austausch habe dazu beigetragen, vielfältiger auf Probleme reagieren zu können.114 Besonders intensive Beziehungen pflegten die evangelischen Kirchen in der DDR zu niederländischen Gemeinden.115 Diese Kontakte basierten auf einem rein inhaltlichen Austausch und umfassten keine finanziellen Hilfen.116 Laurens Hogebrink beschrieb den Charakter der Treffen in Abgrenzung zu den deutsch-deutschen Beziehungen: „Das Prinzip ‚ohne Geld‘ bedeutete Gleichheit, statt Abhängigkeit […].“117Gleichheit wurde laut Dietmar Linke, der als DDR-Bürger in die Niederlande reiste, auch über die strikte Unterscheidung zwischen Bundesrepublik und DDR hergestellt: Als Besuch aus der DDR genoß ich einen enormen Vertrauensvorschuß. Man begegnete mir mit großer Herzlichkeit. Einmal wurde mir das so erklärt: wir sehen in dem, was ihr in der DDR macht, etwas Neues, durch das die gräßliche Vergangenheit überwunden wurde. Wir verstehen eure Situation besser.118

In Linkes Erinnerung scheint ein Narrativ durch, das die teilweise Übernahme sozialistischer Propaganda auch in westeuropäischen Ländern belegt: Die DDR wurde mit Blick auf die Entnazifizierung als das bessere, wirklich antifaschistische Deutschland gesehen, während die Bundesrepublik als Nachfolgerin des nationalsozialistischen Staates kritisch betrachtet wurde. Ihr Interesse an ostdeutschen Gemeinden begründeten die Kirchen in den Niederlanden oder auch in Großbritannien damit, dass sie dort einen ehrlicheren Umgang mit aktuellen Problemen vermuteten: In der DDR und in Ost-Berlin „konnten wir lernen, was Kirche in einer säkularen Gesellschaft bedeutet. In der Bundesrepublik war diese Erfahrung weni-

114 Vgl. Kirchliche Erwachsenenbildung, in: Die Kirche 20.1.1985, S. 2. 115 Vgl. Kunter: Erfüllte Hoffnungen, S. 93–104. 116 Laurens Hogebrink schreibt, dass insgesamt 400 kirchliche Partnerschaften zwischen ostdeutschen und niederländischen Gemeinden existierten. Vgl. Hogebrink, Laurens: Die armen Verwandten – oder der bessere Teil Deutschlands? Was haben wir voneinander gelernt, was hat uns an den DDR-Kirchen beeindruckt oder irritiert?, in: epd Dokumentation 14/15 (2013), S. 27. Siehe auch: Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 118. 117 Hogebrink: Die armen Verwandten, S. 27. 118 Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 123.

5.2 Horizonterweiterung: neue Akteure, neue Orte, neue Formate



393

ger prägnant.“119 Die Niederländer fühlten sich den Gemeindemitgliedern in der DDR näher als denen in der Bundesrepublik. In den beschriebenen bilateralen Beziehungen galten offenbar neue, andere Zuordnungskriterien, die sich stärker an der Gegenwart beziehungsweise den Jahren nach 1945 orientierten, während das Verhältnis der deutsch-deutschen Kirchen lange von der Vergangenheit, das heißt der Vorkriegszeit, geprägt wurde. „Für Großbritannien zählte die DDR zu Osteuropa, und die Situation der DDR-Kirchen wurde mit anderen Kirchen in Osteuropa und der Sowjetunion verglichen, nicht mit der Bundesrepublik,“ konstatierte Stephen Brown.120 Die in den deutschdeutschen Beziehungen zuweilen als enorm belastend beschriebene Suche nach nationaltypischen Gemeinsamkeiten fiel unter diesen Voraussetzungen weg. Das ist ein Erklärungsansatz dafür, warum der Austausch mit Drittstaaten von deutschen Kirchenmitgliedern in Ost und West als unkomplizierter und freier erlebt wurde. Besonders fällt dabei auf, dass sich viele Ost-Berliner Kirchenmitglieder spätestens seit den 1970er-Jahren selbst als Kirchenmitglieder in der DDR beschrieben und sich nicht im geteilten Berlin verorteten. Das veränderte zwangsläufig ihren Blick auf West-Berlin. Umgekehrt galt das auch für die West-Berliner Kirchen. Dort war das Interesse an der DDR und Ost-Berlin deutlich abgeebbt. Manche Kirchenmitglieder verdächtigten die ostdeutschen Gemeinden, mit der DDR-Regierung gemeinsame Sache zu machen und lehnten eine Reise in die DDR oder nach Ost-Berlin, wie erwähnt, ab. Wer etwa auf Einladung einer SED-nahen Organisation trotzdem in die DDR fuhr, konnte innerkirchlich in den Verdacht geraten, den eigenen, das hieß antikommunistischen Standpunkt im Osten nicht vehement genug zu vertreten.121 Stattdessen suchten auch die West-Berliner Gemeinden seit den 1960er-Jahren verstärkt die Westanbindung. Sie entwickelten vor diesem Hintergrund ein besonderes Interesse an den Gästen, die aus den Westsektoren weiter nach Ost-Berlin oder in die DDR reisten. Wolfgang Lorenz, der unterschiedliche Leitungspositionen im Bund der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden innehatte, griff diesbezüglich einen Gedanken des evangelischen Bischofs Kurt Scharfs auf:

119 Hogebrink: Die armen Verwandten, S. 27. Siehe auch: Brown: Die evangelischen Kirchen, S. 57. 120 Brown, Stephen: Die evangelischen Kirchen in der DDR und die internationale Politik – Fallbeispiele Großbritannien und der Ökumenische Rat der Kirchen/Konziliarer Prozess, in: epd Dokumentation 14/15 (2013), S. 55. 121 Vgl. Walter, Karl Heinz: Kontakte zur FDJ, in: Balders, Günter/Materne, Ulrich (Hrsg.): Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Wuppertal/Kassel 1995, S. 253.

394  Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

Wir müssen von einer ökumenischen Schlafstätte [West-Berlin] zu einer ökumenischen Wirkungsstätte werden. Wir müssen Umschaltfunktionen wahrnehmen, Scharnierfunktionen. Wir müssen die Gäste, die hier nach Berlin einreisen, um weiterzureisen, nutzen, um ihre ökumenischen Erfahrungen auch für die Arbeit der Kirchen in Berlin-West, der Inselsituation wirksamer zu gestalten.122

Überlegungen dieser Art deuten darauf hin, dass West-Berlin selbst von Personen der Amtskirche nicht mehr dezidiert als Teil eines Berliner Kirchengebietes gedacht wurde, sondern als Ort, der sich in einem besonderen Nahverhältnis zu OstBerlin befand.

Engagement in Entwicklungsländern So, wie sich Blocksysteme und Nationalstaaten im Kalten Krieg der sogenannten Dritten Welt zuwendeten, richteten auch die Kirchen in Ost und West ihren Blick seit Mitte der 1960er-Jahre immer häufiger auf den sogenannten globalen Süden. Im Zuge der Globalisierung war die Welt ein Stück weit näher zusammengerückt. Die damit einhergehende Perspektiverweiterung offenbarte eklatante Unterschiede und machte starke Kontraste im Vergleich mit eigenen Lebenswirklichkeiten sichtbar. Das kirchliche Engagement in Entwicklungsländern bedeutete für die deutschen Kirchen dabei auch Ablenkung von den eigenen Problemen. 1966 erläuterte der evangelische Bischof von Berlin, Kurt Scharf, im Bericht der Kirchenleitung: Unsere Gemeinden sind begierig, von draußen zu hören, an dem Geschehen draußen teilzunehmen, Opfer zu bringen für die Gruppenbesuche drüben, auch regelmäßige materielle Leistungen für Patenprojekte in anderen Ländern, im Süden Europas und fernen Erdteilen über große Zeiträume durchzuhalten.123

Auf diese Weise war es möglich, sich als kirchliche Institution positiv hervorzutun, ohne die Bedeutung von Abhängigkeitsverhältnissen kritisch zu reflektieren und Zugehörigkeiten verhandeln zu müssen. Die Not schien nicht danach zu fragen. Für den Westen hieß das: weniger Diskussionen, weniger Rücksichtnahme, weniger Zurückhaltung als im Umgang mit den Ostdeutschen. Dagegen waren Kirchenmitglieder im Osten froh darüber, endlich selbst als Helfer und Retter auftreten zu können und nicht die Rolle der dankbaren Empfänger einnehmen zu müssen. Ent-

122 Interview mit Wolfgang Lorenz 2004. OA, ohne Signatur, S. 8. 123 Bericht der Kirchenleitung gegeben durch Bischof D. Scharf am 5. Dezember 1966. BStU MfS 12889/92.

5.2 Horizonterweiterung: neue Akteure, neue Orte, neue Formate



395

wicklungshilfe beziehungsweise humanitäre Hilfe und missionarische Aktivitäten wurden oftmals als verschiedene Teile eines Programms gedacht.124 Vor diesem Hintergrund gründete sich in der EKiBB ein ökumenischer Arbeitskreis, der die Kirchenleitung inhaltlich beriet und sie unter anderem bei der Auslandskorrespondenz unterstützte.125 Kirchenmitglieder wurden dazu aufgefordert, „Menschen in benachteiligten Ländern“ zu unterstützen:126 „Wir sind auch unseren Mitchristen dort ein eindeutiges wirksames Opfer an Haushaltsmitteln unserer Kirche und persönliche Gaben schuldig,“ begründete die Amtskirche ihre Aufrufe.127 Überschrieben war einer dieser Texte mit den Worten „Eine Frage nach der Einheit der Christen“.128 Diese Überschrift fällt auf, weil sie sich leicht auf die Situation der Kirche in der geteilten Stadt Berlin übertragen ließe. Doch offenbar wurde die „Frage nach der Einheit“ nun in einem anderen, neuen Kontext verortet.129 Viele West-Berliner Gemeinden folgten den Aufforderungen der Kirchenleitungen. Die evangelische Kirchengemeinde Grunewald veranstaltete zum Beispiel einen Weihnachtsmarkt für karitative Zwecke. Dort wurden unter anderem Gelder für ein Internat in Bolivien gesammelt.130 Die katholische Gemeinde St. Ludwig in West-Berlin organisierte Basare für eine Gemeinde in Brasilien. Die Erträge aus dem Verkauf wurden dem Pfarrer der brasilianischen Gemeinde übergeben, welcher regelmäßig nach Berlin kam. Das Zustandekommen dieser Kooperation konnten auch zeitgenössische Akteure rückblickend nicht mehr rekonstruieren.131 Gleichzeitig bauten ostdeutsche Christen Beziehungen mit Gemeinden in Afrika und Asien auf. Baptisten aus dem brandenburgischen Oranienburg unterhielten Kontakte zu Missionaren in Tansania. Sie knüpften an Verbindungen aus der Kolonialzeit an, als die Region zur Kolonie Deutsch-Ostafrika gehört hatte.132 Hinzu kam, dass die DDR ebenfalls Beziehungen zum sozialistischen Tansania pflegte, was die Kontaktaufnahme in der Praxis deutlich erleichterte. Die ostdeutschen Kirchenmitglieder sendeten seit Ende der 1960er-Jahre vor allem Textilien, Verbandsmaterial und Kurzwaren in das ostafrikanische Land. Aber auch persönliche 124 Vgl. Richter: Pietismus im Sozialismus, S. 309–321. 125 Vgl. Bericht der Kirchenleitung gegeben durch Bischof D. Scharf am 5. Dezember 1966. BStU MfS 12889/92. 126 Die Frage nach der Einheit der Christen, in: Die Kirche (Sonderdruck) 25.4.1982, S. 5. 127 Ebenda. 128 Ebenda. 129 Ebenda. 130 Visitation der Evangelischen Kirchengemeinde Grunewald 1983–1984. ELAB 36/530. 131 Vgl. Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 4 und S. 20. 132 Kontakte existierten unter anderem auch nach Kamerun, ebenfalls eine ehemalige deutsche Kolonie. Vgl. Interview mit Rolf Dammann 2000, S. 1.

396  Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

Briefe wurden ausgetauscht. Hierüber entwickelten sich Beziehungen in die Bundesrepublik, da die in Tansania ansässigen Missionare mehrheitlich in Westdeutschland ausgebildet worden waren. Diese wiederum besuchten die baptistischen Gemeinden in der DDR gelegentlich, um über ihre Arbeit vor Ort zu sprechen. Der Umweg über Ostafrika führte in der Folge also dazu, dass neue Verbindungen zwischen ost- und westdeutschen Baptisten entstanden.133 Abgesehen von den postalischen, materiellen Kontakten gelang es den Freikirchen in der DDR, zuweilen auch Personal in afrikanische Länder zu entsenden. 1987 reisten zum Beispiel zwei Krankenschwestern nach Sierra Leone.134 Doch die Freikirchen wurden auch im eigenen Land aktiv. Sie bemühten sich seit den 1980er-Jahren verstärkt um die sogenannten Vertragsarbeiter in der DDR. Weil es verboten war, mit den ausländischen Arbeitern aus Mosambik, Angola, Vietnam oder China Bibelstunden oder Gebetsstunden durchzuführen, fanden Treffen mit baptistischen Gemeindemitgliedern in den Wohnheimen der Arbeitskräfte statt.135 Klaus Pritzkuleit, von 1983 bis 1987 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Jugend in der DDR mit Sitz in Ost-Berlin, organisierte und leitete solche Zusammenkünfte. Er betonte den religiösen, seelsorgerlichen Charakter der Treffen, bei denen politische Themen keine Rolle gespielt hätten: […] mir wurde durch die Gespräche deutlich, es sind in der Regel junge Menschen, junge Erwachsene, die zum ersten Mal überhaupt von zu Hause weg sind und dann eben auch so weit weg sind, das die Kontaktaufnahme mit Familie, mit Gemeinde, mit Freunden so was von kompliziert war, dass sie hier plötzlich sich in einer neuen isolierten Gemeinschaft und Gesellschaft wiederfanden und das Bedürfnis auch gerade nach geistlichem, spirituellem Austausch in einer Weise wuchs, wie sie es sich nicht selbst vorgestellt hatten.136

Bemerkenswert ist, dass Pritzkuleit diese Angebote für christliche Vertragsarbeiter nicht als Evangelisation in der DDR verstand, sondern darin einen Dienst an den Kirchen ihrer Herkunftsländer sah. Damit blieb Pritzkuleit der Logik der DDRRegierung verhaftet, die die Vertragsarbeiter als Fremde, Nichtzugehörige charakterisierte, und er verortete sie zudem in den Missionsgemeinden der sogenannten Entwicklungsländer.137 133 Vgl. Baptisten 1958–1973. BStU MfS HA XX/4 2977 (Teil 1 von 2). 134 Vgl. Interview mit Klaus Pritzkuleit 2005. OA, ohne Signatur, S. 22. 135 Vgl. ebenda, S. 20–21 und S. 23. Siehe auch: Tradition und neue Wege, in: Die Weltmission Oktober 1991, S. 19–21. 136 Interview mit Klaus Pritzkuleit 2005. OA, ohne Signatur, S. 23. 137 Vgl. Ausgegrenzt, geprellt, vergessen. Mosambikanische „Vertragsarbeiter“ in der DDR, in: Der SPIEGEL 12.5.2021. https://www.spiegel.de/geschichte/ddr-vertragsarbeiter-aus-mosambik-ausgegrenzt-geprellt-vergessen-a-fb81c960-6da3-4e92-8678-89ad62ae482d?utm_source=pocket-newtabglobal-de-DE [19.5.2021].

5.2 Horizonterweiterung: neue Akteure, neue Orte, neue Formate



397

Mit Blick auf die missionarischen und humanitären Aktivitäten im Ausland und das Engagement für die Vertragsarbeiter in der DDR wird deutlich, dass die Kontakte oft ganz bewusst einseitig angelegt waren.

Kirchen als touristische Attraktion im Osten Zur selben Zeit, wie das kirchliche Interesse an Gemeinden im Ausland wuchs, setzte gerade in Ost-Berlin und der DDR, ganz anders als im Westteil der Stadt, ein Nachdenken über das Potenzial der eigenen, hiesigen Kirchen ein. Die Ost-Berliner Gemeinden profitierten davon, dass sich die DDR als touristisches Ziel entdeckte. Daraus leiteten sie eine kulturelle Bedeutung ab, die die DDRRegierung in ihren Bemühungen um eine bessere Außenwahrnehmung wiederum für sich nutzbar machen wollte. Dieses Konzept ging durchaus auf. Laut dem ehemaligen Ost-Berliner Propst Winter „nahm die Zahl der Besuche von West-Berlinern wieder zu, die anfingen, sich das Brandenburger Land anzuschauen und sich für seine Kirchen und andere Kulturstätten, aber auch für die schöne Landschaft zu interessieren.“138 Die West-Berliner Kirchengemeinde Grunewald berichtete: Mehrmals haben wir in vergangenen Jahren Ausflüge mit der ganzen Gemeinde in der Form angeboten, daß wir in mehreren privaten Wagen in die DDR gefahren sind (ca 8–10 PKW’s), wobei wir Wittenberg, Potsdam, den Spreewald besuchten. Von der Seniorengeneration wurden diese Angebote sehr gern wahrgenommen.139

Das Erstinteresse galt also dem Ort. Aber im zweiten Schritt konnten sich davon ausgehend neue persönliche Beziehungen entwickeln. Das MfS registrierte zum Beispiel besorgt, dass Städtepartnerschaften von westdeutschen Reisegruppen dazu genutzt wurden, Kontakte zu Kirchengemeinden aufzubauen.140 Zwei herausragende Ereignisse stellten in diesem Zusammenhang das Lutherjubiläum 1983 und die 750-Jahrfeier der Stadt Berlin 1987 dar. Für die ostdeutschen Kirchen bedeuteten diese beiden Großereignisse einen Balanceakt, der von westdeutscher Seite skeptisch beobachtet wurde. Die evangelische Kirchenleitung in Ost-Berlin fiel dabei einmal mehr durch ihre wohlwollende Nähe zur DDR-Regierung auf. Die von anderen Kirchenmitgliedern kritisierte Vereinnahmung Luthers durch die SED – der Reformator wurde etwa als „frühbürgerlicher Revolutionär

138 Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 134. 139 Visitation der Evangelischen Kirchengemeinde Grunewald 1983–1984. ELAB 36/530. 140 Vgl. Einschätzung der politisch-operativen Situation in der katholischen Kirche innerhalb der Diözese Berlin. BStU MfS BV Bln XX/11332.

398  Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

entdeckt“141 – interpretierte der Ost-Berliner Bischof Schönherr als „Aufarbeitung des kulturellen Erbes“.142 Für die DDR-Führung ergab sich daraus eine lange Kontinuitätslinie, die von Luther und der Reformation über Thomas Müntzer und den sogenannten Bauernkrieg bis zu Friedrich Engels und Karl Marx sowie schließlich zur modernen Arbeiterklasse führte. Die Geschichte der kommunistischen Ideologie reichte in dieser Erzählung bis ins 16. Jahrhundert zurück, was die geschichtspolitische Bedeutung des Luthergeburtstages aus SED-Sicht verdeutlicht und damit auch den großen Aufwand erklärt, den staatliche Behörden rund um das Jubliäum betrieben. Tatsächlich waren die Veranstaltungen anlässlich des 500. Geburtstags von Martin Luther echte Publikumsmagneten, auch wenn die evangelischen Kirchen ihren ursprünglichen Plan, einen großen Kirchentag auszurichten, nicht verwirklichen konnten und stattdessen nur sechs regionale Kirchentage stattfanden. Im Westen wurde das Jubiläum ebenfalls gefeiert. Dort fielen die Feierlichkeiten insgesamt allerdings sehr viel kleiner aus. Das lag vor allem daran, dass die DDR über einen Standortvorteil verfügte, den die Bundesrepublik nicht wettmachen konnte. Die meisten Orte des lutherischen Wirkens befanden sich auf dem Staatsgebiet der DDR. Also luden die ostdeutschen evangelischen Kirchen die westdeutschen Landeskirchen in die DDR ein, um dort an den großen Festveranstaltungen teilzunehmen. Die DDR-Regierung verteilte großzügig Reiseerlaubnisse für diese Besuchsreisen und meinte, im Wettbewerb der Systeme an der Seite der evangelischen Kirchen endlich einmal einen sicheren Sieg errungen zu haben.143 Ähnliche Effekte versprachen sich die Parteifunktionäre daher von der Einbindung der Kirchen in das Stadtjubiläum 1987.144 Den Höhepunkt sollte der evangelische Kirchentag in Ost-Berlin darstellen, auf den bereits eingegangen wurde. Das Nebeneinander staatlicher und kirchlicher Feierlichkeiten sah der evangelische Bischof in Ost-Berlin, Gottfried Forck, offiziell darin gerechtfertigt, dass nicht nur die Stadt, sondern ebenso die Kirche 750 Jahre Geschichte in Berlin feierten.145 Davon distanzierte sich das Berliner Bistum. Die Diözese beiteiligte sich nicht an den Vorbereitungen für die Feierlichkeiten. Der Versuch, mit staatlicher Erlaubnis möglichst viele westdeutsche Besucher nach Ost-Berlin zu locken, missfiel dem Episkopat, der sich nicht von der SED vereinnahmen lassen wollte. Kirchenmitglieder sollten den Systemwettbewerb nicht noch befeuern. Die flüchtigen Eindrücke

141 Schönfelder, Jan: Nationale Neubesinnung in der DDR, in: https://www.mdr.de/nachrichten/ thueringen/kultur/zeitgeschehen/wartburg-refjahr-lutherjahr-ddr-100.html [27.1.2023]. 142 „Mit Herrn Luther ist alles in Butter“, in: Der SPIEGEL 7.3.1983, S. 111. 143 Vgl. Wendebourg, Dorothea: Doppelte Konkurrenz – die Reformationsjubiläen in der Zeit der deutschen Teilung, in: Deutschland Archiv 27.10.2017, www.bpb.de/258560 [6.11.2020]. 144 Zu den Feierlichkeiten in West-Berlin: Rott: Die Insel, S. 384–395. 145 Vgl. „Wir sind eine unabhängige Vertrauensinstanz“, in: Der SPIEGEL 18.5.1987, S. 76.

5.3 Fallbeispiel: Gemeindepartnerschaften



399

touristisch motivierter Besucher bargen demnach die Gefahr einer Entfremdung: Die Unterschiede im Vergleich von Ost und West waren sichtbar, wohingegen die Gemeinsamkeiten erst freigelegt werden mussten. Und dem Episkopat fiel es nach wie vor schwer, auf eine Einheit zu vertrauen, die auf der Akzeptanz von Unterschieden basierte.

5.3 Fallbeispiel: Gemeindepartnerschaften Zu den an der Kirchenbasis am intensivsten wahrgenommenen Kontakten zählen die vielen Partnerschaften, die einzelne Gemeinden in Ost und West miteinander verbanden.146 An ihrem Beispiel lassen sich die Erfolge, Probleme und Grenzen in den deutsch-deutschen Kirchenbeziehungen durchexerzieren. In den grenzübergreifenden Partnerschaften verbanden sich alltägliche Momente mit außeralltäglichen Elementen, (teil)öffentliche Ereignisse mit privaten Erfahrungen. Sie stellten eine Befreiung der ostdeutschen Gemeinden aus ihrer oft vorausgesetzten Isolation dar und waren daher Ausdruck einer andauernden, sich wandelnden Konfrontation mit dem Anderen, bei gleichzeitiger Reflexion des Eigenen. Gemeindepartnerschaften existierten in allen hier untersuchten Konfessionen. Darunter werden die Kontakte zwischen Gemeinden aus Ost-Berlin und West-Berlin, Ost-Berlin und der Bundesrepublik sowie Brandenburg und WestBerlin beziehungsweise Brandenburg und der Bundesrepublik gefasst. Es handelte sich um bilaterale, verstetigte Paten- und Partnerschaftsverhältnisse, die basisnah agierten. Eine übergemeindliche Koordination der Beziehungen in Berlin und Brandenburg ist nicht bekannt. Es ist davon auszugehen, dass die Gemeinden weitestgehend autonom handelten und nicht von den Kirchenleitungen angeleitet wurden. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich, exakte Zahlen zu nennen. In der EKiBB sind nachweislich 252 Gemeindepartnerschaften dokumentiert.

146 Vgl. Neumann: Der Nächste ist ein Anderer, S. 224–253.

400 

Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

Tab. 9: Ost-West-Partnerschaften der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (N = 252)147 Gemeindepartnerschaften (nach Herkunft) Brandenburg und West-Berlin Brandenburg und Bundesrepublik

absolute Zahlen 11

4,37 %

204

80,95 %

7

2,78 %

30

11,9 %

Ost-Berlin und West-Berlin Ost-Berlin und Bundesrepublik

in %

Für die evangelischen Freikirchen liegt eine Übersicht vor, die die Partnerschaften zwischen Ost-Berliner und Brandenburger Gemeinden mit Gemeinden in WestBerlin und der Bundesrepublik festhält. Über die Vollständigkeit dieser Aufzählung kann jedoch ebenfalls keine Aussage getroffen werden. Auffällig ist, dass die Statistik keine Gemeindepartnerschaft zwischen Ost- und West-Berliner Gemeinden verzeichnet. Tab. 10: Ost-West-Partnerschaften der evangelischen Freikirchen in Berlin und Brandenburg (N = 18)148 Gemeindepartnerschaften (nach Herkunft)

absolute Zahlen

in %

Brandenburg und West-Berlin

6

33,34 %

Brandenburg und Bundesrepublik

7

38,34 %

Ost-Berlin und West-Berlin

-

-

Ost-Berlin und Bundesrepublik

5

27,78 %

Für das Bistum Berlin liegen keine detaillierten Zahlen vor. Daher können nur Fallbeispiele angeführt werden. Hervorzuheben ist, dass einzelne Gemeinden mehrere Partnerschaften führen konnten und die Gesamtzahl der Beziehungen freilich nichts über die Qualität der

147 Die Zahlen stützen sich auf die genannte Studie von Gesine Hefft, Beiträge auf der Tagung „Wir sind einander begegnet. Grenzüberschreitende Gemeindepartnerschaften in Ost und West“ der Evangelischen Akademie zu Berlin im September 2015, Zeitzeugeninterviews und Recherchen im Evangelischen Zentralarchiv sowie im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv Berlin. Vgl. Hefft, Gesine: Was eint uns, wenn uns nichts mehr trennt? Kirchliche Gemeindepartnerschaften vor und nach 1989, Berlin 1996. 148 Vgl. Gemeinde-Partnerschaften DDR-Bundesrepublik, Stand: 7.5.1990. OA, Gemeindepartnerschaften, ohne Signatur. Die Ost-Berliner Gemeinden wurden in der Auflistung unter dem Begriff DDR subsumiert.

5.3 Fallbeispiel: Gemeindepartnerschaften 

401

Verhältnisse aussagt, sei es mit Blick auf die Intensität, die Zahl der Teilnehmenden oder die Art der Aktivitäten.

Beginn der Partnerschaften Für die partnerschaftlichen Beziehungen auf Gemeindeebene kann kein fixer Entstehungszeitraum oder Kontext benannt werden. Über den Beginn der Partnerschaft zwischen der katholischen Gemeinde Herz Jesu in Ost-Berlin und der West-Berliner Gemeinde St. Ludwig konnten auch Gemeindemitglieder nur spekulieren. Matthias Kohl, Mitglied in der Ost-Berliner Gemeinde Herz Jesu, ging davon aus, dass die Amtskirche den Aufbau von Gemeindepartnerschaften angeordnet hatte. 149 Dieser Vermutung widersprach jedoch Prälat Roland Steinke. Seiner Erinnerung nach entstanden die Partnerschaften in Eigeninitiative und beruhten auf der Bekanntschaft einzelner Pfarrer oder verwandtschaftlichen Beziehungen von Gemeindemitgliedern.150 Diese Aussage deckt sich mit der von E. F., die die Partnerschaft der Gemeinden Herz Jesu und St. Ludwig mehrere Jahrzehnte lang begleitete. Auf Anweisung ihres West-Berliner Pfarrers nahm sie in den 1970er-Jahren Kontakt zu Herz Jesu auf. Der Pfarrer hatte sie darum gebeten, weil sie mit einigen der Ost-Berliner Gemeindemitglieder privat bekannt war. Mit ihrem Ansuchen knüpfte sie an eine ältere Beziehung der beiden Gemeinden an, deren Ursprung ihr aber nicht bekannt war.151 Im Fall der evangelischen Gemeindepartnerschaften gilt gemeinhin eine Paketaktion des Hilfswerks der EKD 1949 als Ausgangspunkt für den Aufbau der Partnerschaften. Hintergrund der Aktion war, dass westdeutsche Gemeinden ostdeutsche Partnergemeinden mit gezielten Hilfen konkret unterstützen sollten. Im Zuge dessen wurden einzelnen Landeskirchen Partnerkirchen zugewiesen. Die Partnerkirchen der EKiBB waren die Landeskirchen im Rheinland und in Westfalen. Diese Wahl folgte historisch gewachsenen Verbindungen. Bei den beiden Landeskirchen handelte es sich um unierte Kirchen, die mit der EKiBB außerdem durch die Evangelische Kirche der Altpreußischen Union, ab 1953 Evangelische Kirche der Union, grenzübergreifend verbunden waren.152 Dafür, dass sich der Aufbau von Partnerschaften aber bald vom Hilfswerk verselbstständigte, sprechen die unterschiedlichen Entstehungszeiträume. Partner-

149 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 20. 150 Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 10–11. Vgl: Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider em. 3.4.2017, S. 7. 151 Vgl. Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 2–3. 152 Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 47–48.

402 

Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

schaften kamen in der gesamten Zeit der Teilung zustande. Weitere zentral organisierte Vermittlungsaktionen erscheinen vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich. Auch die Zeitzeugen konnten sich nicht daran erinnern. Generell scheint sich die Kirchenleitung mit Eingriffen in die partnerschaftlichen Beziehungen zurückgehalten zu haben. Sie wollte es offenbar vermeiden, den Anschein übergemeindlich organisierter Strukturen zu wecken. Die Gemeindepartnerschaften waren auf diese Weise vermutlich besser vor Zugriffen durch die staatlichen Behörden der DDR geschützt.153 Tab. 11: Beginn der Ost-West-Partnerschaften der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (N = 252) 154 Beginn der Partnerschaft

Anzahl der Partnerschaften (absolut)

Anzahl der Partnerschaften (in %)

Vor 1950

13

5,16

1950er-Jahre

47

18,65

1960er-Jahre

43

17,06

1970er-Jahre

43

17,06

1980er-Jahre

40

15,87

8

3,17

58

23,02

nach 1989 ohne Angaben

Zusammengefasst gab es unterschiedliche Anlässe, die zu einer Kontaktaufnahme führten. Neben familiären und beruflichen Verbindungen konnten gemeinsame Studienjahre oder eine gemeinsame Militärzeit der betreffenden Pfarrer sowie der zufällige Besuch einer Veranstaltung Ausgangspunkte für den Aufbau gemeindepartnerschaftlicher Beziehungen sein. Häufig versuchten Personen, die aus der DDR in die Bundesrepublik geflohen oder ausgereist waren, mit Hilfe einer Gemeindepartnerschaft den Kontakt zu ihrer ostdeutschen Gemeinde aufrechtzuerhalten.155 In der Regel beruhten die Kontakte auf den Sympathiebeziehungen von

153 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 12–13. 154 Die Zahlen stützen sich auf die genannte Studie von Gesine Hefft, Beiträge auf der Tagung „Wir sind einander begegnet. Grenzüberschreitende Gemeindepartnerschaften in Ost und West“ der Evangelischen Akademie zu Berlin im September 2015, Zeitzeugeninterviews und Recherchen im Evangelischen Zentralarchiv sowie im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv Berlin. 155 Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 6–7. Siehe auch: Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 7.

5.3 Fallbeispiel: Gemeindepartnerschaften 

403

Einzelpersonen, die erst in einem zweiten Schritt die Gemeinde einbezogen. Wo sich Antipathien herausbildeten, scheiterten Partnerschaften schnell.156 Divers waren auch die oft nicht trennscharf voneinander zu unterscheidenden Beweggründe, die aus Sicht der Akteure für Gemeindepartnerschaften sprachen. Neben dem christlichen Gebot der Nächstenliebe konnten ökonomische, ideologische, nationalistische, pädagogische und intrinsische Motive eine Rolle spielen.157 Nationalistische Bezugspunkte verloren nach dem Mauerbau jedoch zunehmend an Bedeutung, was sich auf die Partnerschaften durchaus entlastend auswirkte. Verweise auf die Neugier, das Interesse am Anderen und Fremden sowie das Bedürfnis nach Abwechslung und Abenteuern belegen darüber hinaus, dass eine Eingrenzung auf rein religiöse oder ideologische Motive nicht zutreffend ist.158 Gegenseitigkeit war dabei keine unbedingte Voraussetzung.

Partnerschaftliche Praktiken Die praktische Aufrechterhaltung der Partnerschaften erfolgte direkt über postalische Kontakte und persönliche Begegnungen sowie indirekt, etwa durch das wiederkehrende Besinnen auf die Partnergemeinde in Gebeten wie den Fürbitten.159 In den 1950er- und 1960er-Jahren prägten materielle und finanzielle Hilfen die Partnerschaften. Persönliche Treffen fanden nur vereinzelt statt.160 Es handelte sich bei den Gemeindepartnerschaften somit mindestens auch um Zweckbeziehungen. Dafür spricht ebenfalls, dass persönliche Kontakte bisweilen als irrelevant erachtet wurden und infolgedessen eine Anonymisierung beziehungsweise Abstrahierung der Partner als Hilfespendenden und Hilfsbedürftigen stattfand. E. F. bezeichnete ihr Engagement für die Ost-Berliner Partnergemeinde als „Erledigung von Aufgaben“.161 Dass die Hilfen einseitig von West nach Ost flossen, blieb nicht ohne Effekte auf den zwischenmenschlichen Umgang. Den Bund der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden beunruhigte, dass einzelne Beziehungen allein von Spendenverhältnissen geprägt waren, wie ein Bericht von 1991 aufzeigt:

156 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 1–2. Siehe auch: Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 1. 157 Vgl. Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 126–127. 158 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 2–3. Siehe auch: Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 15. 159 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 5. 160 Vgl. Halbrock: Basisarbeit, S. 543. 161 Interview mit E. F. 21.6.2017 S. 8.

404 

Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

Nach wie vor problematisch ist allerdings das auf beiden Seiten teilweise immer noch bestehende Mißverständnisse von Partnerschaften als einer „Patenschaft“ einer Westgemeinde für eine Ostgemeinde. Dies gilt ganz besonders für den Bereich finanzieller Zuwendung. Wir haben ganz bewußt darum gebeten, keinerlei größere finanzielle Unterstützung zu leisten, dennoch ist dies an manchen Orten geschehen.162

Anspruch und Wirklichkeit klafften offenbar auseinander: „Weil es uns bei den Gemeindepartnerschaften innerhalb unseres Bundes in erster Linie um menschliche Begegnungen und ein gleichwertiges Miteinander geht“, heißt es im Bericht außerdem, „wird es weiterhin wichtig sein, darauf zu achten, daß sich nicht unmäßige Erwartungshaltungen bilden und unsererseits kein gönnerhaftes Verhalten gepflegt werden kann.“163 Die Leitung des Bundes beobachtete eine Schieflage in den Partnerschaftsverhältnissen, die sie in den ständigen Hilfsleistungen von West nach Ost begründet sah. Von den Hilfsleistungen profitierten Einzelpersonen, bestimmte Gruppen wie Konfirmanden oder die gesamte Gemeinde. Dabei agierten die Partnergemeinden sowohl im legalen als auch illegalen Bereich: Güter, von westdeutschen Printmedien bis hin zu Matrizendruckern, die nicht legal in die DDR oder nach Ost-Berlin eingeführt werden durften, wurden geschmuggelt.164 Bei den Beschreibungen solcher Transfers fällt auf, dass die Westdeutschen selten die damit einhergehenden Gefahren schilderten, sondern den Nervenkitzel und die Schadenfreude betonten, die sie beim Täuschen der DDR-Grenzer empfanden.165 Nach dem Mauerbau rückten vermehrt seelsorgerliche, psychosoziale und informative Aspekte in den Vordergrund. Deshalb gewannen seit Ende der 1960erJahre Begegnungstreffen, die aufgrund der eingeschränkten Reisefreiheit für DDRBürger nur in Ost-Berlin und später in der DDR stattfinden konnten, an Bedeutung. Auch in diesem Fall bewegten sich die Teilnehmenden häufig in rechtlichen Grauzonen, weil ostdeutsche Kirchengemeinden keine Gruppen einladen durften und deswegen Einzelpersonen individuelle Einladungen aussprechen mussten.166 Nicht unüblich war in diesem Zusammenhang die Konstruktion verwandtschaftlicher Beziehungen. Gemeindemitglieder aus Westdeutschland wurden von ostdeutschen Christen kurzum zu entfernten Cousins oder Großtanten erklärt, um eine Besuchserlaubnis für sie zu erwirken.167

162 Partnerschaften zwischen den Gemeinden in Ost- und Westdeutschland – Abschlußbericht am 31.12.1991. OA, Gemeindepartnerschaften, ohne Signatur. 163 Ebenda. 164 Vgl. Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 6 und S. 8. Vgl. Interview mit J. K. 24.6.2017, S. 3. 165 Vgl. Schönbucher: Unentwegt Wege, S. 224. 166 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 14. 167 Vgl. Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 129.

5.3 Fallbeispiel: Gemeindepartnerschaften 

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Sofern die Treffen in Berlin stattfanden, übernachteten die westdeutschen Gruppen in West-Berlin und kamen als Tagestouristen nach Ost-Berlin, wo sie ihre Partnergemeinden trafen.168 Bereits das Abholen der Westdeutschen am Grenzübergang wurde von den Ostdeutschen aufgrund der bestehenden Rechtsordnung als aufregend beschrieben. Im Vorhinein wurde verabredet, zunächst Abstand zu halten und nur Blickkontakt aufzunehmen, um nicht die Aufmerksamkeit der DDR-Behörden zu erregen. Erst in ausreichender Entfernung vom Grenzübergang sollten sich die Teilnehmenden begrüßen.169 Sofern Gemeinden aus der DDR in die Partnerschaft involviert waren, dienten Gemeinderäume in Ost-Berliner Kirchen, kirchliche Einrichtungen wie das katholische Josefsheim oder die evangelische Stephanusstiftung, Privatwohnungen und gelegentlich auch Großveranstaltungen wie Kirchentage oder Messen als Treffpunkte.170 Außerhalb Ost-Berlins verlagerten sich die Begegnungen hingegen verstärkt in den privaten Bereich, in die Wohnzimmer von Gemeindemitgliedern.171 Die Zahl der Teilnehmenden verringerte sich infolgedessen. Die Westdeutschen wurden in der Provinz nicht mehr in Hotels, sondern überwiegend in den Privathaushalten von Gemeindemitgliedern untergebracht, was den Charakter der Begegnungen, so der Brandenburger Paul Plume, veränderte: „[…] die eigentliche, ich sag mal so, feeling-Gemeinschaft, die kam, als die Britzinger hier in der Gemeinde waren.“.172 Die gemeinsame Zeit in Privatbereichen habe Nähe erzeugt. Die regelmäßigen, oft jährlichen Treffen der Partnerschaftsgemeinden in OstBerlin oder in der DDR wurden von langer Hand und mit viel Aufwand von Pfarrern und/oder engagierten Gemeindemitgliedern vorbereitet und geplant.173 Vor allem die Versorgungssituation beschäftigte die ostdeutschen Gemeindemitglieder. A. R., Mitglied der Petri-Gemeinde in Luckenwalde, berichtete aus der Zeit, als Partnerschaftstreffen nur in Ost-Berlin möglich waren: Da ham wir schon… wochenlang vorher wurde dann schon überlegt, was machen wir da? Wie machen wir das? Und da wurde meist dann ne Soljanka gekocht oder irgendsowas… 168 Vgl. Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 1. Siehe auch: Rathke: „Wohin sollen wir gehen?“, S. 116–117. 169 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 10. 170 Vgl. ebenda, S. 10, S. 12 und S. 17. Siehe auch: Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 3. Sowie: Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 129. 171 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 17. Und: Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 2. Siehe auch: Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 131. 172 Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 10. Vgl. Erste Fahrt des Britzinger Frauenkreises nach Berlin-Ahrensfelde [1984] zum Besuch bei der „Patengemeinde“, Broschüre, Gemeindearchiv der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Ahrensfelde, Mehrow und Eiche, ohne Signatur. 173 Vgl. Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 4. Siehe auch: Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 1. Und: Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 8 und S. 12.

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[…] und Schnittchen vorbereitet. […] Das wurde eingekauft und die nen Auto hatten, es hatten ja nicht alle Auto, […] die ham die Autos vollgepackt und sind dann Richtung Berlin gefahren.174

Die Treffen erforderten also einen erheblichen logistischen Aufwand. Im Fokus der Begegnungen standen die Organisation und Durchführung von Gruppenaktivitäten wie gemeinsame Gottesdienste, Gesprächskreise und Seminare. Zentral war der persönliche Austausch sowie die Auseinandersetzung mit inhaltlichen Themen wie der Geschichte des Nationalsozialismus. Viele Partnergemeinden besuchten zum Beispiel gemeinsam KZ-Gedenkstätten in der DDR.175 Hinzu kam ein touristisches Rahmenprogramm, das im Zeitverlauf deutlich ausgeweitet wurde. Dazu gehörten Stadtrundgänge, Opernbesuche und Landausflüge: Ähm, thematisch war keine richtige Struktur erkennbar, außer: Wir kommen. Wir essen Frühstück. Wir sprechen miteinander. […] und dann alle ins Mack und Froh, Frack und Smoking rein in die Staatsoper. Das war Programm. Wir haben […] gewollt, dass wir plötzlich als Berliner erkannt werden.176

Die Begegnungsteilnehmer trafen sich nicht nur als Kirchenmitglieder, sondern auch als Personen unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Staatsangehörigkeiten, geprägt von regionalen Unterschieden, die von den Teilnehmenden weitestgehend akzeptiert wurden.177 Der kulturelle Austausch, der als Horizonterweiterung wahrgenommen wurde, verdrängte kirchliche Themen oftmals.178 Bekenntnisfragen, so der westdeutsche Pfarrer Löwenbrück, spielten bei den Treffen keine Rolle.179 Die katholische Gemeinde, in der S. T. aktiv war, unterhielt eine Partnerschaft mit einer Gemeinde im Saarland. Viele der dortigen Kirchenmitglieder sprachen Französisch. Die Erinnerungen S.Ts. an die Treffen mit der Partnergemeinde sind davon bestimmt: Und dann saßen wir abends zusammen und die, und die ham mir irgendwelche französischen Begriffe vorgegeben und ich sollte probieren, ob ich die fran… auf französische Art 174 Vgl. ebenda, S. 16. 175 Vgl. Murken: Westfälische Kontakte, S. 39. Siehe auch: Generalkirchenvisitation Weißensee 15.-23. Mai 1971. ELAB 86/214. Und: Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 3. Sowie: Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 237. Außerdem: Information 12.4.1989. BStU MfS AG XVII 3827. Schließlich: Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 4. 176 Ebenda, S. 18. Vgl. Schönbucher: Unentwegt Wege, S. 226. Siehe auch: Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 4. Und: Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 5. 177 Vgl. Maser: Die evangelischen Kirchen, S. 17. 178 Vgl. Lepp: Tabu der Einheit?, S. 763. 179 Vgl. Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 1.

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nachsprechen kann, ja? War ein Kinderspiel im Grunde genommen. […] Aber einfach, ähm, den Horizont erweitern durch so ne Kontaktmöglichkeiten ist immer sehr, sehr positiv und auch nachhaltig180

Gegenüber der vormaligen Suche nach dem Gemeinsamen rückten also die Unterschiede in den Blickpunkt. Diese Akzentverschiebung wirkte sich auf das Selbstverständnis der Partnergemeinden aus: „Irgendwann in den 60er-Jahren habe ich ne Reiseerlaubnis bekommen zu dieser speziellen Pfarrergemeinde. […] Und das war aber im Grunde nicht mehr ne Frage von also Hilfe oder Partnerschaft, das war sozusagen Besuche bei ner befreundeten Familie […].“181 Anstelle der Hilfsaktionen zeichneten nun die zwischenmenschlichen Beziehungen die Partnerschaften aus, im Zitat durch den oft bewusst von kirchlichen Kontexten abgegrenzten Begriff „Freundschaft“ ausgedrückt. Wobei neben den Freundschaften hier außerdem deutsch-deutsche Ehen zu nennen sind, die aus den Gemeindepartnerschaften hervorgingen.182 Gleichzeitig wurden aus den vormaligen Hilfspaketen in der Quellensprache Geschenke.

Materielle und monetäre Transfers: Hilfsaktionen und Geschenkpakete Die Bedürfnisse der ostdeutschen Partnergemeinden änderten sich entsprechend der Versorgungslage im eigenen Land. In den Nachkriegsjahren benötigten sie vor allem Nahrungsmittel und Gegenstände des täglichen Gebrauchs wie Kaffee oder Textilien, die die Westgemeinden per Paket schickten. Der Umgang mit diesen Paketen, die seit der „Verordnung über den Geschenkpaket- und -päckchenverkehr auf dem Postwege mit Westdeutschland, Westberlin und dem Ausland“ von 1954 offiziell nur mehr von Privatperson zu Privatperson verschickt werden durften, unterschied sich von Ort zu Ort.183 Die Güter kamen sowohl kirchlichen Einrichtungen als auch Privathaushalten zugute. In einigen Gemeinden, wie in Ahrensfelde, wurden die Pakete im Pfarrhaus gesammelt und vom Pfarrer verteilt. Das verlief nicht immer konfliktfrei. In Berlin-Kaulsdorf etwa kam es in der evangelischen Gemeinde zum Streit um eine Bohrmaschine, weil diese nicht nur für den Hausge180 Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 5–6. 181 Interview mit J. K. 24.6.2017, S. 2–3. 182 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 14. Siehe auch: Halbrock: Basisarbeit, S. 542. Und: Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 11. Sowie: Przybilski, Helmut: Erfahrungen mit Ost-West-Partnerschaften, Vortrag, https://www.eaberlin.de/nachlese/chronologisch-nach-jahren/2015/ost-westpartnerschaft/przybilski-helmut-ost-west-partnerschaften-2015.pdf, [8.6.2016]. 183 Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 49.

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brauch dienlich war, sondern ebenso die Grundlage für einen Nebenverdienst darstellen konnte.184 Andernorts schickten westdeutsche Kirchenmitglieder ihre Spenden direkt an Einzelpersonen aus der Gemeinde.185 Sehr lebendig ist außerdem die Erinnerung der Zeitzeugen an Kosmetika und Nylonstrümpfe, die westdeutsche Gemeindemitglieder zu den Treffen in Ost-Berlin mitbrachten sowie Süßigkeiten und Matchboxautos, die sie für die ostdeutschen Kinder bereithielten.186 Nachdem sich die Versorgungslage in der DDR stabilisiert hatte, äußerten ostdeutsche Gemeindemitglieder seit den 1960er-Jahren häufiger konkrete, individualisierte Wünsche. In der Regel handelte es sich um Mangelwaren, von Literaturtiteln über Kraftfahrzeuge bis hin zu speziellen Wandfarben.187 Darüber hinaus wurden immer öfter direkte Finanzhilfen der Partnergemeinden in Anspruch genommen. Die westdeutschen Gemeinden halfen bei der Finanzierung neuer Fenster, neuer Heizungen oder ganzer Gemeindehäuser aus.188 Gleichzeitig wandelten sich die Ansprüche der Ostdeutschen an die Produktqualität. Unter dem Eindruck der Werbung, die sie im Westfernsehen sahen, fragten sie zum Beispiel bestimmte Marken nach, erläuterte die West-Berlinerin E. F.: […] ich hab für uns Schokolade von Aldi gekauft, aber wenn’s Ostler waren, dann sollte es Milka sein. So, ja? Weil, das kannten sie aus der Werbung und wenn ich da dran denke, die [lacht], die Gemeinde Herz Jesu, die brauchten dringend Mikrophone, glaube ich, für die Kirche. Bin sicher, die ham sie immer noch. Es musste aber Sennheiser sein, […].189

Die finanziellen Verhältnisse der westdeutschen Gemeinden oder die Einkommensverhältnisse westdeutscher Kirchenmitglieder scheinen dabei nur insofern reflektiert worden zu sein, dass Gemeinden, die besondere materielle Vorteile mit sich brachten, als begehrte Partner galten: „Schon allein Winzerinnen waren für uns hoch attraktiv, weil die auch Wein mitbrachten.“190 Die westlichen Gemeinden kommentierten die von ihnen zuweilen als übersteigert wahrgenommenen Wünsche der Ostdeutschen in der Regel nicht und bemühten sich, diese mit Hilfe von Kirchengeldern, Einnahmen aus Spendenverkäu184 Vgl. Murken: Westfälische Kontakte, S. 40. Siehe auch: Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 145. 185 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 11. 186 Vgl. Schönbucher: Unentwegt Wege, S. 217. Siehe auch: Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 20–21. Und: Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 11. 187 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 11. Siehe auch: Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016 S. 2. 188 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 11. 189 Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 5. 190 Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 10. Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider em. 3.4.2017, S. 6–7.

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fen und privaten Mitteln zu erfüllen.191 Die dabei implizierte Selbstverständlichkeit, mit der Ostdeutsche Geschenke aus dem Westen annahmen, war in Wirklichkeit sehr fragil: Aus der Perspektive des Ostberliners Matthias Kohl stellte das Gefühl, sich nicht angemessen bedanken zu können, ein Dilemma dar, an das er sich aber gewöhnt habe: „[…] wenn se kamen, uns in Berlin besucht haben und so weiter, ham se auch immer was mitgebracht. […] Das war für die überhaupt kein Problem, ja? Und wir konnten […] schlecht ja denen was mitbringen.“192 Anders erging es A. R.: „[…] man ist gar nicht glücklich, wenn man nur beschenkt wird. Wir ham uns ja nicht arm gefühlt.“193 Gemeindemitglieder aus der DDR und Ost-Berlin suchten nach Möglichkeiten sich zu revanchieren. Sie schickten Kunsthandwerk und Bücher in die Bundesrepublik oder besorgten Eintrittskarten für begehrte Kulturveranstaltungen wie Aufführungen in der Komischen Oper in Ost-Berlin, die dann die Westdeutschen während ihres Aufenthaltes in der Stadt besuchten.194 In den westdeutschen Gemeinden wurden diese Bemühungen mit ambivalenten Gefühlen registriert. Einerseits verstanden dortige Gemeindemitglieder den Wunsch der Ostdeutschen, sich für die Hilfsleistungen bedanken zu wollen: „Natürlich hat es auch ein bisschen was Beschämendes oder Überhebliches, wenn da immer diese Westpakete kommen“, versuchte J. K. die ostdeutschen Versuche einer Gegenleistung zu erklären.195 Die Frau von Pfarrer Löwenbrück brachte zur Sprache, dass es ihr „peinlich“ gewesen sei „Care-Pakete zu schicken“.196 Andererseits sahen die Westdeutschen ihre Spendenaktivitäten in den begrenzten Möglichkeiten der Anderen durchaus begründet. Die im Interview mit A. R. mehrmals wiederholte Formulierung „Wir haben uns nicht arm gefühlt“ sowie die Unsicherheit im Hinblick auf adäquate Gaben, die von den Westdeutschen nicht als „Plunder“ abgetan wurden, deuten darauf hin, dass es bei den Geschenken auch auf ostdeutscher Seite um mehr als ein Dankeschön ging.197 Die Ost-West-Pakete sollten eine Korrekturfunktion übernehmen und ein Bild geraderücken, das die Ostdeutschen in den Westpaketen und Finanzhilfen symbolisiert sahen. Fraglich bleibt, inwieweit die Gelder an der Kirchenbasis als ein Signal der Selbstbehauptung gegenüber der SED verstanden wurden,

191 Vgl. Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 4. 192 Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 7. 193 Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 14. Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 197. 194 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 14. Siehe auch: Interview mit J. K. 24.6.2017, S. 3. Und: Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 14–15. 195 Interview mit J. K. 24.6.2017, S. 3. 196 Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 3. 197 Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 15.

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wie Halbrock schreibt.198 Naheliegender ist, dass die SED eine politische Bedeutung vermutete, wo die Gemeinden nur ein neugedecktes Kirchendach sahen. Fest steht, dass die Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Gemeinden im Hinblick auf die Verfügbarkeit finanzieller Mittel die primär Beschenkten oftmals mehr beschäftigten als die Schenkenden. Ostdeutsche Gemeindemitglieder artikulierten, dass sie in der Ungleichheit eine Schwächung der eigenen Position und damit die Gefahr einer ungleichberechtigten Partnerschaft sahen.199 Anders die Westdeutschen, die anhand dieses Unterschieds nicht den generellen Wert der Beziehungen bemessen wollten. Eine mögliche Begründung nannte der rheinlandpfälzische Pfarrer Arnold Löwenbrück: Seine Gemeinde in Kirn unterhielt eine Partnerschaft mit der evangelischen Petri-Gemeinde in Luckenwalde. Für die Kirner Seite galt: „Wir bringen Geld ein, das ist, was wir haben.“200 Die Spenden wurden nicht als Opfer oder Tauschgeschäft betrachtet, sondern als eine notwendige Großzügigkeit. Konterkariert wurde diese Erklärung allerdings davon, dass insbesondere mit den finanziellen Hilfen in der Praxis durchaus Ansprüche verbunden waren: In den 1980er-Jahren bat die Petri-Gemeinde in Luckenwalde ihre westdeutschen Partnergemeinden, darunter die Gemeinde in Kirn, um finanzielle Zuschüsse für den Bau eines neuen Gemeindehauses. Insgesamt kamen 90.000 DM zusammen.201 Die Gemeindeleitung in Luckenwalde beschloss daraufhin, einen Teil der Gelder für den Einbau von Kunstglasfenstern zu verwenden. Bei den Kirner Gemeindemitgliedern stieß dieses Missverständnis auf Unverständnis. Warum investierte eine arme Gemeinde in der DDR so viel Geld in Glasmalerei? „Die Kirner verstanden das nicht“, so Pfarrer Löwenbrück, „[aber] die Luckenwalder wollten eben ein schönes Gemeindezentrum haben.“202 Mit dem westdeutschen Selbstverständnis als Geber und Wohltäter ging die Idee einher, dass Hilfsgelder einem bestimmten Zweck zugute kommen sollten. Die westdeutschen Gemeinden wollten sich nicht ausgenutzt fühlen, ihre Anstrengungen sollten Sinn machen. In den Erzählungen der Westdeutschen sticht in diesem Zusammenhang hervor, dass die Beziehungen zu Ost-Berlin und der DDR häufig ganz ähnlich beschrieben wurden wie die Partnerschaften mit Gemeinden in Entwicklungsländern. Diese Beobachtung erlaubt den Rückschluss, dass die Finanzhilfen je nach Situation auch von westdeutschen Gemeinden keinesfalls nur als Selbstverständlichkeit gedeutet wurden, sondern darüber hinaus ein gefühltes Machtgefälle manifestierten. Der Nächste war dabei 198 Vgl. Halbrock: Basisarbeit, S. 540. 199 Vgl. Maser: Die evangelischen Kirchen, S. 18. 200 Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 2. 201 Vgl. 120 Jahre St. Petri von 1892–2012, Veröffentlichungen in den Gemeindebriefen 2010–2012 der Evangelischen Kirchengemeinde Luckenwalde, S. 27. 202 Interview mit Arnold Löwenbrück, 29.1.2016, S. 3.

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ein Anderer unter vielen. Die Herausforderung, eine gefühlte Patenschaft als Partnerschaft zu leben, blieb im Verhältnis der ost- und westdeutschen Gemeinden virulent.

Stimmungslagen: Akteure und ihre Imaginationen vom Anderen Die Atmosphäre bei den Partnerschaftstreffen wurde in den Quellen größtenteils positiv bewertet. Er erlebte den Umgang mit den Westdeutschen als gleichberechtigt und höflich, erklärte der Brandenburger Paul Plume.203 „Es war von beiden eine sehr freudige Erwartung, die auch immer erfüllt worden ist.“, resümierte auch A. R. aus Luckenwalde.204 Den Erfolg der Begegnungen führte er darauf zurück, dass „das ne andre Welt war. Das war, als wenn Sie mal in nen Ausland gefahr’n sind und ham irgendwas Neues erlebt. Das ist ebend bereichernd.“205 A. R. verwies mit Blick auf die Teilnehmenden nicht auf die geteilte Geschichte oder die Zugehörigkeit zur selben Religionsgemeinschaft. Er rückte stattdessen ihr Anderssein in den Vordergrund, das er einerseits voraussetzte und andererseits bestätigt fand. Doch wer waren die Teilnehmenden? Welche Bilder und Erfahrungen prägten ihre Erwartungen? Inwiefern reflektierten sie diese? Mit wem sprachen sie über ihre Eindrücke und Wahrnehmungen und welche Dissonanzen offenbarten sich dabei? Gemeindepartnerschaft hieß nicht, dass alle Mitglieder einer Gemeinde daran teilnahmen. Oftmals handelte es sich um eine Minderheit, die an den Paketaktionen und Begegnungstreffen mitwirkte. Die Mehrheit der Gemeindemitglieder wusste nichts von der Existenz solcher Beziehungen oder kannte allenfalls die Eckdaten. Die katholische Gemeinde St. Ludwig im West-Berliner Bezirk Wilmersdorf zählte in den 1970er-Jahren mehrere tausend Mitglieder. E. F. schilderte, wie viele von ihnen sich in die Partnerschaft mit der Gemeinde Herz Jesu in Berlin-Prenzlauer Berg einbrachten: Ach, das war nen Händchen voll. Also, das kommt jetzt drauf an, was beteiligt heißt, also, was Sie darunter verstehen. Ob Sie jetzt darunter verstehen, äh, richtig sammeln und, äh, packen und rüber bringen und so, oder eben einfach nur unterstützend. Ähm, da wer’n das so – mehr oder weniger intensiv – 15 bis 20 gewesen sein. Ähm, so’n harter Kern waren nur drei oder vier.206

203 204 205 206

Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 12. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 7. Vgl. S. 11. Ebenda, S. 11. Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 3.

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Ähnlich verhielt es sich in Herz Jesu. Auf die Frage, ob er Anteil an der Gemeindepartnerschaft genommen habe, antwortete C. D.: Nein, da kann ich nicht,… Nein, da hab ich nie teilgenommen an so was, ich weiß auch nicht wie das… da müssen Sie andere aus unserer Gemeinde fragen. […] hat keine so große Rolle gespielt oder es waren dann wieder kleinere Kreise innerhalb der Gemeinde, weil ja solche Sachen dann auch immer gewissermaßen vorsichtig, nicht all zu laut begangen, weil man ja auch immer Angst hatte, die Stasi durchsetzt das, das wird dann gestört oder so, nicht? Also es ist auch vieles dann so – in Anführungsstrichen – im Geheimen, […] Man muss nicht alles wissen.207

A. R. erklärte, dass große Teile der Gemeinde bewusst nicht in die Partnerschaften einbezogen wurden und Eltern selbst ihre Kinder darüber im Unklaren ließen, dass sie sich mit Mitgliedern der Partnergemeinde in Ost-Berlin trafen. In der Luckenwalder Petri-Gemeinde beschränkte sich der Kreis der Aktiven auf zehn Personen.208 Bemerkenswert ist, dass C. D. und A. R. – genau wie die Kirchenleitungen – Sicherheitsaspekte als Grund für die insgesamt kleine Zahl der Teilnehmenden nannten, nicht aber das Desinteresse von Gemeindemitgliedern, das ebenfalls gegen ein Engagement sprechen konnte.209 Zudem deckt sich diese Begründung nur bedingt mit den Aussagen anderer Teilnehmer. Fraglos war das MfS für die Partnergemeinden immer wieder ein Thema, aber sie fühlten sich gegenüber dem Geheimdienst relativ sicher, weil sie glaubten, vermeintliche Risiken einschätzen zu können. Tatsache ist jedoch auch, dass aufgrund von Sicherheitsbedenken Gemeindemitglieder gezielt vom inneren Kreis ausgeschlossen wurden. Hier ist auf einen grundlegenden Unterschied bei der Auswahl von Gemeindemitgliedern für die Begegnungstreffen hinzuweisen: In Ost-Berlin und der DDR entschied in der Regel der Gemeindekirchenrat, welche Personen an den Treffen teilnehmen durften, wohingegen die Teilnahme in Westdeutschland weitestgehend auf der Eigeninitiative einzelner Kirchenmitglieder beruhte. A. R. vermutete, dass das Interesse der Westdeutschen dadurch vergrößert wurde, dass Gruppenreisen in die DDR von bundesdeutschen Institutionen oft subventioniert wurden. Trotzdem blieb der Teilnehmerkreis auch im Westen überschaubar. Pfarrer Löwenbrück erinnerte sich daran, dass im Zeitverlauf nicht mehr als 15 bis 20 Familien involviert gewesen waren. Nach Luckenwalde fuhren in der Regel nicht mehr als drei oder vier Personen.210 207 Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 7–8. 208 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 9. 209 Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 172. 210 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 17. Siehe auch: Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 9 und S. 15. Und: Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 2 und S. 3.

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Folglich handelte es sich um sehr kleine Personenkreise, sodass die Gemeindepartnerschaften nicht repräsentativ für die Beziehungen von Ost- und Westdeutschen waren. Im Umkehrschluss heißt das aber nicht, dass sich die Teilnehmenden von Mehrheitspositionen der Restgesellschaften abgrenzten: Westdeutsche Begegnungsteilnehmer setzten eine Fundamentalopposition ostdeutscher Christen quasi als gegeben voraus. Ostdeutsche Christen gingen hingegen meist davon aus, dass die westdeutschen Partner hinsichtlich der Gegebenheiten in der DDR und OstBerlin völlig unwissend waren. Sie baten westdeutsche Kirchenmitglieder darum, ihre Kritik am Staat nicht als oppositionelle Haltung zu interpretieren.211 Entscheidend für die Aufrechterhaltung der Partnerschaften waren in vielen Fällen die beteiligten Frauen. Zwar wurde das selten explizit erwähnt, aber aus den Quellen geht eindeutig hervor, dass es vorwiegend Frauen waren, die die Pakete packten und die Ausgestaltung der von Männern initiierten Begegnungstreffen maßgeblich verantworteten.212 Sie trugen dafür Sorge, dass die Partnerschaftstreffen als festliche, außeralltägliche Ereignisse wahrgenommen wurden. Die Begegnungen fanden nicht im luftleeren Raum statt. Sie waren geprägt von politisch und ideologisch gefärbten Vorstellungen und Klischees. Teilnehmende verbanden bestimmte Erwartungen damit. Bei der Darstellung ihrer Eindrücke griffen sie oftmals vergleichend auf frühere Erfahrungen zurück. Wer herausfinden möchte, inwiefern die partnerschaftlichen Beziehungen dazu beitrugen, dass sich Bilder veränderten, muss also auch die Geschichte von Stereotypen im Blick behalten. Ein solcher Versuch kommt kaum ohne Widersprüche aus. Denn das Sprechen über den Anderen war abhängig vom Gegenüber. Rittberger-Klas zeigt, dass westdeutsche Kirchenmitglieder sich in den 1980er-Jahren verstärkt darum bemühten, in Ost-Berlin und der DDR zurückhaltend und verständnisvoll aufzutreten. Sie betonten gegenüber den Ostdeutschen, dass es sich um gleichberechtigte Partnerschaften handele.213 Doch Verständnis oder Mitgefühl erzeugten nicht zwangsläufig Gefühle der Gleichheit. In den Berichten, die Gemeindemitglieder in Westdeutschland über die Partnerschaftstreffen anlegten, klangen diese Punkte folgerichtig selten an. Stattdessen wurden die Reisen zur Partnergemeinde mit einem Besuch im Krankenhaus oder im Gefängnis verglichen.214 Der Fokus lag damit 211 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 17–18. Siehe auch: Halbrock: Basisarbeit, S. 536. Und: Lepp: Tabu der Einheit?, S. 498. 212 Vgl. Erste Fahrt des Britzinger Frauenkreises nach Berlin-Ahrensfelde [1984] zum Besuch bei der „Patengemeinde“, Broschüre, Gemeindearchiv der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Ahrensfelde, Mehrow und Eiche, ohne Signatur. Siehe auch: Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 11. Sowie: Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 113. 213 Vgl. Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 3. Siehe auch: Murken: Westfälische Kontakte, S. 42. 214 Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 223.

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auf der Beschreibung kranker, eingesperrter Menschen, deren Sehnsuchtsorte außerhalb ihrer Lebenswirklichkeit verortet wurden. Ausdruck fanden solche Einstellungen darüber hinaus sowohl im Erstaunen als auch in der Selbstgewissheit westdeutscher Akteure. Wie schon erwähnt spielte der Wein in der Partnerschaft der evangelischen Gemeinden Britzingen im Markgräfler Land und Ahrensfelde in Brandenburg eine wichtige Rolle. Der ehemalige Britzinger Pfarrer Schönbucher erinnerte sich in seinen Memoiren daran, dass die Süddeutschen die Brandenburger für die Qualitäten guter Weine sensibilisieren mussten: Als dann die Markgräfler den Wein erst berochen, seine Farbe prüften und schmatzend probierten, wurden die Freunde neugierig. Natürlich dauerte es eine gewisse Zeit, bis sie so richtig auf den Geschmack kamen, aber dann bevorzugten die meisten doch die trockenen Weine und verzichteten auf ihren „Himbeersaft“ […] Der Wein hatte zumeist ganz erfreuliche Auswirkungen.215

Nachdem die Gemeindemitglieder aus Ahrensfelde vom Geschmack des Weines überzeugt worden waren, ging der Frauenkreis der Partnergemeinde dazu über, die passenden Trinkmanieren zu vermitteln: „Wir hatten natürlich einige Flaschen Wein im Gepäck und 2 Kartons Probiergläser. Etwas Unvergessliches ist für uns – der Pastor, ein tapferer Biertrinker, setzte die Flasche an [sic!] um daraus zu trinken, ein Entsetzensschrei einer Markgräfler Winzerin: ‚aber doch nicht aus der Flasche!‘“216 Nicht immer wurden derartige Korrekturen von Ostdeutschen als bereichernd oder pädagogisch wertvoll erachtet. Manche empfanden sie stattdessen als überheblich. Teilhabe konnte also durchaus neue Distanzen erzeugen. Ambivalenzen dieser Art kamen auch in anderen Beschreibungen zum Ausdruck. Die Verwunderung westdeutscher Begegnungsteilnehmer über vollgedeckte Tische, schmackhaftes Essen oder das Kaffeeangebot zählte dazu: „Im Gemeinderaum des Pfarrhauses wurden wir sehr liebevoll willkommen geheißen und mit einem guten Frühstück und gutem [sic!] Kaffee“ versorgt.217 Die Erzählung über die erste Reise des Frauenkreises aus Britzingen ins brandenburgische Ahrensfelde liest sich stellenweise wie ein Abenteuerbericht: „Erst kam der aufregende Übergang in die DDR auf dem Bahnhof Friedrichstraße (es wurde etwas gezittert). Nun war der Weg frei, der Osten stand uns offen.“218 Dominiert wird der Text von der Aufregung der Besucherinnen über das Erlebte. Passend dazu schilderte Paul 215 Schönbucher: Unentwegt Wege, S. 233. 216 Erste Fahrt des Britzinger Frauenkreises nach Berlin-Ahrensfelde [1984] zum Besuch bei der „Patengemeinde“, Broschüre, Gemeindearchiv der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Ahrensfelde, Mehrow und Eiche, ohne Signatur, S. 11. 217 Ebenda, S. 10. 218 Ebenda.

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Plume seine Eindrücke vom Auftreten der Frauen in der Brandenburger Gemeinde: „Und jetzt kommt diese wunderbare, kultivierte Pfarrfrau mit ihren Frauen herein und allet schick und sauber und super gekleidet: ‚Wir fahr’n in den Osten. Natürlich zieh’n wir uns besonders hübsch an.‘“219 Zwar übte der Frauenkreis auch mehr oder weniger subtil Kritik an den ostdeutschen Verhältnissen, diese erscheint jedoch entschärft und mutet oft ironisch an: „Frau Gabler und ich blieben im Pfarrhaus. Lustig war, dass sie immer auf Reisen Lappen und ‚Vim‘ [ein Putzmittel] mit sich führte. Wir konnten es gut gebrauchen.“220 Dass die Frauen ihre offenbar unsaubere Unterkunft als „lustig“ empfanden, lässt erahnen, auf welche Vergleichsfolien westdeutsche Kirchenmitglieder bei ihren Besuchen in ostdeutschen Partnergemeinden zurückgriffen:221 Sie erwarteten dezidiert keine mit der Bundesrepublik vergleichbaren Standards, auch nicht in punkto Hygiene und Ordnung. Dieses Abgrenzungsbedürfnis der Westdeutschen gegenüber ihren ostdeutschen Partnergemeinden wird auch daran deutlich, dass die Ostdeutschen immer wieder als „exotisch“ beschrieben wurden.222 Mit den ostdeutschen Gemeindemitgliedern offen über die wahrgenommene Hässlichkeit, die belastende Luftverschmutzung oder ihr Desinteresse an Brandenburger Kleinstädten zu sprechen, fiel den Mitgliedern der westdeutschen Partnergemeinden hingegen schwer. Während sich die Ostdeutschen darum bemühten, die Westdeutschen für ihre Umgebung zu begeistern, rangen diese manches Mal um eine angemessene Haltung, weil sie die Partnergemeinde nicht enttäuschen wollten: „Ost-Berlin war trist. […] Immer Rauchluft. Das hat einem die Luft genommen. […] [Aber] Ost-Berlin war Stadt. Es gab interessante historische Gebäude. Luckenwalde war nicht so interessant“223, erinnerte sich Pfarrer Löwenbrück. Der auch in den westdeutschen Berichten hervorstechende Fokus auf die ostdeutschen Teilnehmenden wurde von einigen Westdeutschen durchaus kritisch gesehen. Sie beklagten die Einseitigkeit der Begegnungen. Westdeutschen Kirchenmitgliedern blieb es oft vorbehalten, Fragen zu stellen. An einer Schilderung ihrer Lebenswirklichkeiten schienen die Ostdeutschen nicht interessiert. Sie suggerierten, aufgrund ihres Medienkonsums ohnehin gut über die Bundesrepublik und West-Berlin informiert zu sein.224 219 Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 10. 220 Erste Fahrt des Britzinger Frauenkreises nach Berlin-Ahrensfelde [1984] zum Besuch bei der „Patengemeinde“, Broschüre, Gemeindearchiv der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Ahrensfelde, Mehrow und Eiche, ohne Signatur, S. 11. 221 Ebenda. 222 Vgl. Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 3. 223 Ebenda, S. 3–4. 224 Vgl. Senator für Kulturelle Angelegenheiten an den Regierenden Bürgermeister von Berlin 17.3.1988. LA B Rep 002/14277.

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Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

Was in westdeutschen Erinnerungsberichten negativ ausgedrückt wurde, beschrieben ostdeutsche Gemeindemitglieder hingegen als Qualität. Dass ihre westdeutschen Partner so ausdauernd zuhörten, bewerteten sie als Anteilnahme und Vertrauensbeweis.225 Materielle Hilfen wurden dementsprechend als uneigennützige Liebesgaben bezeichnet. Ein Hinweis auf dieses Vertrauensverhätnis ist auch die Tatsache, dass ostdeutsche Gemeindemitglieder die Zusammenkünfte mit den Partnergemeinden oft als konspirativ bezeichneten. Für sie handelte es sich bei den Begegnungen nicht nur um ein Abenteuer, sondern um eine echte Gefahrensituation. Die Bereitschaft, sich zu treffen, setzte Vertrauen in das Gegenüber voraus und erzeugte Gefühle der Verbundenheit.226 Das änderte aber nichts daran, dass ostdeutsche Gemeindemitglieder davon überzeugt waren, bestimmte Inhalte trotz aller Erklärungsversuche nicht vermitteln zu können: „Die konnten sich nicht in ein System von, eines 8.000 Menschen Großbetriebes, DDR-Muster, hineinversetzen.“227 Aus Sicht Paul Plumes bestand westdeutsche Anteilnahme deshalb auch darin, die Unmöglichkeit, sich in andere Lebenswirklichkeiten hineinzuversetzen, zu akzeptieren, anstatt daran etwas ändern zu wollen. Das funktionierte freilich nicht immer. Deswegen verlegten sich viele Ostdeutsche quasi vorauseilend darauf, komplexe Themen gegenüber westdeutschen Besuchern gar nicht erst anzusprechen, um das Verhältnis zueinander nicht zu gefährden, meinte der Pfarrer Dietmar Linke: Die Gäste aus dem Westen waren gefragt, sehr gefragt. Warum eigentlich? „Der ist aus dem Westen“ – mit diesen Worten wird mir jemand bei einem Besuch vorgestellt. Die Worte signalisieren Einverständnis: „Du weißt schon“, will mir der andere damit sagen. […] Aber jeder Einheimische weiß, was das für den Gastgeber bedeutet: Dem Gast aus dem Westen will man den Aufenthalt so angenehm wie möglich gestalten. Für ihn wird alles vorbereitet, beschafft, was man nur beschaffen kann. Nichts wird er spüren von den Versorgungsproblemen, die sonst den Alltag bestimmen. Herzlichkeit, Wärme, Zuneigung und Vertrauen, ja eine Gastfreundschaft, wie man sie – so wird der Gast später feststellen – eben nur im Osten noch erleben kann. „Hier ist der Gast noch König“, sagte mir einmal ein Besucher. „Und die Gastgeber sind die Untertanen?“ entgegnete ich. Er lachte.228

Linkes Kritik berührt mehrere Ebenen. Erstens unterstellte er, dass die Beziehungen aufgrund der vorherrschenden Bilder nicht über eine gewisse Oberflächlichkeit hinauskamen.229 Klischeehafte Zuschreibungen seien nicht in Frage gestellt, sondern allenfalls kaschiert und sogar bedient worden: Das christliche Individu225 226 227 228 229

Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 26. Siehe auch: Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 19. Vgl. ebenda, S. 5. Siehe auch: Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 7. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 21. Linke: Niemand kann zwei Herren dienen, S. 179. Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 196.

5.3 Fallbeispiel: Gemeindepartnerschaften



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um sei allein aufgrund seiner Staatsbürgerschaft verdächtig gewesen, wohingegen die Kirche als eine Institution verherrlicht wurde, die fortwährend Widerstand gegen den DDR-Staat leistete.230 Linke erhob deshalb den Vorwurf, dass sich die Westdeutschen ignorant, gönnerhaft und überheblich verhielten. Zweitens deutete Linke an, dass ostdeutsche Akteure die Bilder kannten, die westdeutsche Besucher auf sie projizierten und darauf reagierten. Versuche, diese zu erweitern oder zu korrigieren, seien jedoch mit der Gefahr einhergegangen, falsch eingeordnet zu werden. Die westdeutschen Blicke hätten nach Kontrasten gesucht. Positive Darstellungen der eigenen Lebenswirklichkeit in der DDR drohten folgerichtig als unzureichende Abgrenzung von der SED-Politik fehlinterpretiert zu werden. Doch genau diese Distanzierung sei von den Ostdeutschen grundsätzlich erwartet worden. Drittens konnten alle Bemühungen ostdeutscher Kirchenmitglieder, die Westdeutschen vom Gegenteil zu überzeugen, letztlich nur ins Leere laufen. Die Besucher aus dem Westen hätten nicht das Interesse gehabt, den Osten wirklich kennenzulernen, sondern nach einer Bestätigung ihrer vorgefertigten Bilder gesucht. Entweder wurden die Ostdeutschen als naiv und staatsnah bezeichnet oder bemitleidet und als Opfer des Systems gesehen. Arnold Löwenbrück, der in den 1980er-Jahren Pfarrer in Rheinland-Pfalz war, bestätigte das: „Für viele Gemeindemitglieder in Kirn galt: Die DDR ist ein Unterdrückerstaat, der Christen quält.“231 Die beschriebene Gratwanderung zeigt, dass bei den Partnerschaftstreffen neben dem Thema der Gleichberechtigung immer auch Fragen des Selbstbewusstseins und der Selbstbestimmtheit verhandelt wurden. Die wiederholte Kritik an der Selbstgewissheit der Westdeutschen gab somit gleichzeitig Aufschluss über die Einstellungen der Ostdeutschen. Zudem hatten ostdeutsche Kirchenmitglieder von westdeutschen Lebenswirklichkeiten fixe Vorstellungen, die sie genauso selten hinterfragten. Das alles wurde aber in den wenigsten Fällen, wie oben angedeutet, offen diskutiert. Die Kluft zwischen der (vermeintlichen) Außenwahrnehmung und den Selbstbildern der Akteure blieb meist bestehen. In der Regel bedurfte es längerer und wiederholter Aufenthalte in der DDR oder Ost-Berlin, um Bilder nachhaltig zu ändern.232 Die Verlagerung der Partnerschaftstreffen in den Privatbereich trug fraglos dazu bei, Eindrücke und Wahrnehmungen anders einzuordnen. Das ging abhängig von der eigenen Ausgangsposition mit positiven Überraschungen wie auch Enttäuschungen einher. Insbesondere

230 Vgl. ebenda, S. 224–225. 231 Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 2. Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 12–13. Siehe auch: Linke: „Streicheln bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 175. 232 Vgl. Murken: Westfälische Kontakte, S. 40.

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Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

politisch links orientierte Kirchenmitglieder schreckte der Anblick des „real existierenden Sozialismus“ häufig ab.233

Grenzen des Vermittelbaren: Probleme in den Partnerschaften Die Existenz der starken Bilder beeinflusste den praktischen Umgang miteinander nicht zwangsläufig negativ. Es gelang Partnergemeinden, wahrgenommene Ungleichgewichte zu akzeptieren, indem sie Unterschiede nicht problematisierten beziehungsweise das Gespräch darüber vermieden: „Die waren ja so unterschiedlich […] und wir ham uns eigentlich immer bemüht, das nicht zu thematisieren. […] Das eben im Osten also tatsächlich von Anfang an eine gewisse politische Indoktrination stattfand.“234 Der Brandenburger Paul Plume konstatierte offenbar wertfrei: „Wir haben einen geprägten Blick behalten oder gehabt.“235 Das Schweigen über die angenommenen wie wahrgenommenen Unterschiede war mehrdeutig, weil es genauso als Bestätigung oder Zustimmung, als Unsicherheit oder Zögern sowie als Ablehnung interpretiert werden konnte. Die Uneindeutigkeit des Schweigens als Reaktion auf Unstimmigkeiten konnte demnach eine stabilisierende Funktion übernehmen und kommunikative Störungen in den Partnerschaftsverhältnissen deeskalieren helfen. Im Schweigen konnte das Gemeinsame implizit verborgen sein. Die Gemeinschaft der Anderen blieb damit und trotz allem eine mögliche Option, an der die meisten Partnergemeinden bis zum Mauerfall festhielten.236 Umgekehrt erwies es sich als Herausforderung, die Akzeptanz der deutlich wahrnehmbaren Unterschiede zum Ausdruck zu bringen. Greifbar wurde das von Beginn an bei der Benennung der Beziehungsverhältnisse. Der charakterisierende Begriff Partnerschaft löste die Bezeichnung Patenschaft im Zeitverlauf nicht einfach ab, obwohl der in Ost-Berlin ansässige evangelische Propst Winter das suggerierte: Das Wort „Patenschaft“ wurde ohne viel Aufhabens um 1965 in „Partnerschaft“ umgewandelt, um zum Ausdruck zu bringen, daß sich kein mißverständliches patriarchalisch einseitiges Kontaktieren vollziehen sollte, sondern gleichberechtigte Christen als Partner miteinander die Verbindung aufrechterhalten wollten.237

233 Vgl. Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 2–3. 234 Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 7. Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 6–7. 235 Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 20. 236 Von den 252 bekannten Ost-West-Partnerschaften evangelischer Gemeinden in Berlin und Brandenburg sind bis 1989/1990 nur vier offizielle Trennungen bekannt. Jedoch ist nicht überliefert, wie viele der Kontakte quasi unkommentiert einschliefen. 237 Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 128. Vgl. Halbrock: Basisarbeit, S. 538.

5.3 Fallbeispiel: Gemeindepartnerschaften 

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Tatsächlich existierten offenbar Diskrepanzen zwischen dem gesprochenen Wort und seiner Bedeutung. Auf der Ebene der Kirchenleitungen wurde der nun verwendete Begriff Partnerschaft unter anderem auf die veränderte Schwerpunktarbeit zurückgeführt, die anstelle materieller und monetärer Hilfen den geistigen Austausch in den Mittelpunkt rückte. Dem entgegnete der Ost-Berliner Katholik S. T., dass in seiner Gemeinde in den 1970er- und 1980er-Jahren zwar von Partnerschaft gesprochen wurde, aber „natürlich waren das Patenschaften.“238 Diesen Eindruck teilten auch Gemeindemitglieder, die nicht in die Partnerschaft involviert waren, weil sie davon ausgeschlossen waren oder diese Kontakte ablehnten: Während die einen neidvoll auf die Geschenke der Westdeutschen blickten, kritisierten andere, vor allem jüngere Kirchenmitglieder, die Abhängigkeitsverhältnisse, die die Partnerschaften aus ihrer Perspektive darstellten.239 Sowohl die sprachlichen Ungenauigkeiten als auch die angedeuteten intergenerationellen Konflikte deuten somit darauf hin, dass die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen sich die Gesellschaften und mit ihnen die Religionsgemeinschaften in Ost und West entwickelten, die Gemeindepartnerschaften insgesamt stark herausforderten.240 Die relativ offenen Gemeinden im Westen, die viel stärker in die Gesellschaft hineinwirkten, stellten einen starken Kontrast zu den tendenziell geschlossenen Gemeinschaften im Osten dar. Das unterschiedliche Laienverständnis, das Katholiken in Ost- und West-Berlin beobachteten, womit zum Beispiel das ostdeutsche Festhalten an streng hierarchischen Prinzipen gemeint war, sei „einer der Gründe, warum man sich eben nicht so nahe kam“ und das Verhältnis unterkühlt blieb, meinte die West-Berlinerin E. F..241 Ostdeutsche Gemeindemitglieder irritierte demgegenüber der auch in den Kirchengemeinden spürbare, für sie typisch westdeutsche Klassismus sowie der relativ offene, aber unzureichend problematisierte Umgang mit unterschiedlichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen.242 Das Wissen darum in unterschiedlichen Gesellschaften zu leben und die Aussicht darauf, dass sich daran nichts ändern würde, konnte auf Dauer ermüdend wirken.243 Diese Paradoxie prägte das Verhältnis der Partnerschaften: Je besser sie einander kennenlernten, desto mehr wussten sie über ihre Unterschiede.

238 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 7. Siehe auch: Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 194–196. 239 Vgl. Fragebögen. EZA 172/8. Siehe auch: Murken: Westfälische Kontakte, S. 40. 240 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 2–3. 241 Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 13. 242 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 12 und S. 26–27. 243 Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 179. Siehe auch: Winter: Kirchliche Wege zwischen Ost und West, S. 138.

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Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

Als in den 1980er-Jahren immer mehr DDR-Bürger Ausreiseanträge stellten, verstanden die Westdeutschen oft nicht, warum so viele Mitglieder in den ostdeutschen Partnergemeinden davon absahen.244 Wieso sollten ausgerechnet sie bleiben? A. R. versuchte zu erklären: „Da waren schon positive Dinge hier, die auch, die wir auch vertreten hatten und irgendwie ist man ja auch stolz auf seine Arbeit und da hat’s jeder auch berichtet und das war ja sein Leben, nicht?!“245 In seinen Ausführungen wird eine gewisse Verbundenheit zur ostdeutschen Heimat deutlich: Wobei wir oftmals so gesagt haben: Wir sind hier her gestellt worden… das ist eigentlich… das würde, dass wir hier in dieser Gesellschaft leben und hergestellt wurden. Und wir können nicht aus unserem eigenen Wohlstand nach dem Westen abhau’n. Wir waren zum Beispiel damals stolz, dass unsere Kinder nicht abgehau’n sind, sondern dass sie sich einfach auch damit zufrieden gegeben haben.246

Das Zitat zielt auf einen Punkt, über den die Gemeindepartnerschaften nie gänzlich hinwegkamen: Obwohl sich die Partnergemeinden als dezidiert nicht politisch verstanden, fand immer auch eine vergleichende, in der Regel normative Bewertung der anderen – nationalen – systemabhängigen Lebensverhältnisse statt. Diese wurde nur eingeschränkt von realen Eindrücken und mehr von den Bildern bestimmt, die vom Anderen existierten. Vor diesem Hintergrund waren die Partnergemeinden weit davon entfernt, eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten als Zielvorstellung zu beschreiben, wie A. R. deutlich machte: „[…] man hat eigentlich die Hoffnung gehabt, dass da mal ne gute Zusammenarbeit zwischen den zwei deutschen Staaten wird. Das war eigentlich unser Ziel. An eine Einheit Deutschlands, daran hatten wir zu Lebzeiten, hatte ich da nicht dran gedacht.“247 An der Kirchenbasis galt: Der Nächste würde ein Anderer bleiben.

5.4 Resümee Die Wiederannäherung der christlichen Kirchen steht paradoxerweise in engem Zusammenhang mit der endgültigen Abriegelung der DDR und Ost-Berlins durch den Mauerbau. Für die Kirchen bedeutete dieser Moment insofern eine Entlastung, als durch die Teilung der beiden deutschen Staaten der Charakter eines Pro244 245 246 247

Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 194. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 13. Ebenda, S. 19. Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 28. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 19.

5.4 Resümee



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visoriums endgültig verloren ging. Die Existenz zweier deutscher Staaten war Wirklichkeit und eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der DDR auch für die Kirchen unumgänglich. Dafür sprachen im folgenden Jahrzehnt nicht nur der Grundlagenvertrag oder die internationale Anerkennung der beiden deutschen Staaten, sondern gleichsam die Entwicklung der kirchlichen Institutionen selbst: 1969 wurde der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR gegründet. 1976 wurde die Berliner Ordinarienkonferenz – der Zusammenschluss aller Bischöfe in der DDR und des Berliner Bischofs – in Berliner Bischofskonferenz umbenannt. Diese sollte dem Namen nach nicht den Status einer nationalen Bischofskonferenz einnehmen, de facto agierte sie aber als solche. Für die Kirchenbasis in Berlin und Brandenburg ging von solchen Entscheidungen eine starke Signalwirkung aus: Die Kirchenleitungen anerkannten die Existenz des Anderen öffentlich, anstatt sie zu negieren. Infolgedessen sprachen Kirchenmitglieder viel offener über längst gewandelte Zuordnungskriterien: Westdeutsche ordneten Ost-Berliner Gemeindemitglieder der DDR und die DDR dem Ostblock zu. Ost-Berliner Christen verorteten sich selbst in der DDR, die sie als Teil des Ostblocks verstanden. Die Grenzen wurden nicht eigentlich verschoben, aber der Betrachungswinkel änderte sich und gab gleichzeitig den Blick auf eine immer stärker globalisierte Welt frei: Die Kirchen lösten sich in diesem Zusammenhang zumindest ein Stück weit aus ihrer Fixierung auf das deutsch-deutsche Verhältnis. Immer wichtiger waren nun auch Beziehungen zu internationalen und konfessionsübergreifenden Organisationen, wie dem Ökumenischen Rat der Kirchen, oder Kontakte zu religiösen Gruppen und Kirchen im Ausland. Es lassen sich zwei entscheidende Gründe für diese Entwicklung anführen. Erstens: Die Einheit als Metaerzählung spiegelte sich in der Praxis nicht wider. Es war gerade an der Kirchenbasis anstrengend, dieses Narrativ weiter zu bedienen. Einerseits waren Gemeindemitglieder sensibilisiert dafür, Konfliktsituationen und Störungen wahrzunehmen. Doch Vorsicht war nicht mehr nur hinsichtlich externer Akteure wie dem MfS geboten, das grenzübergreifende Beziehungen zu sabotieren versuchte, sondern die innerkirchliche Kommunikation selbst geriet zum Minenfeld: Worte mussten sehr genau abgewogen werden, viele Faktoren waren zu berücksichtigen, damit sich ost- und westdeutsche Kirchenmitglieder als Gleichberechtigte sahen. Oft scheiterten solche Bemühungen an den Grenzen des Vermittelbaren. Andererseits machten Kirchenmitglieder die Erfahrung, dass ihre Selbstbilder nicht den Stereotypen entsprachen, die Andere auf sie projizierten. Ihre zentrale Leistung bestand in dieser Situation darin, diese Beobachtung nicht zu problematisieren, sondern ein Interesse an diesen Unterschieden zu entwickeln und sie als Vielfalt zu akzeptieren oder als Bereicherung zu erfahren. Voraussetzung dafür war, die Einheit nicht einfach anzunehmen, sondern sie zu hinterfragen, um sich im Laufe dieses Prozesses einander wieder anzunähern.

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Kapitel 5: Rück- und Neuverflechtung

Zweitens trug die unmittelbare Auseinandersetzung der Gemeinden mit ihrem sozialen Umfeld dazu bei, dass Religionsgemeinschaften keine geschlossenen Gesellschaften blieben. Das Wissen über soziale Ungleichheit ließ in West-Berlin massive Zweifel auch an kirchlichen Einheitsbekundungen aufkommen. In OstBerlin und der DDR machte zum Beispiel der Umgang mit Vertragsarbeitern deutlich, dass nicht alle Menschen gleichermaßen zur Gesellschaft und den Religionsgemeinschaften dazugehörten. Im Kontext der ost-westdeutschen Kirchenkontakte schlugen sich solche Erfahrungen derart nieder, dass Gemeindemitglieder eine Notwendigkeit darin sahen, sich Wissen über den Anderen (wieder) anzueignen. Dieser Austausch sollte nicht von vorgefertigten Antworten geprägt sein, sondern offene Fragen zulassen und, viel wichtiger noch, einen offenen Ausgang haben. Einzelne Institutionen und Gruppen nahmen dabei intern eine wichtige Vermittlerrolle ein. Dazu gehörten etwa die Evangelische Akademie in West-Berlin oder Veranstaltungen der Studierendengemeinden in Ost-Berlin, bei denen westdeutsche Referenten auftraten. Hinzu kam die wachsende Bedeutung des Kirchenraums als gesellschaftlichem Ort in Ost-Berlin und der DDR. Seit dem Ende der 1970er-Jahre fanden neben der Religionsausübung immer häufiger politische Diskussionen und Kulturveranstaltungen in Kirchen statt, die den Diskussionsbedarf in der Regel steigerten. Das Resultat dieser Bemühungen waren Neu- und Rückverflechtungen, die vielfach auf einem tradierten Repertoire basierten: Postalische Kontakte sowie Begegnungstreffen und die Veranstaltungsarbeit im In-und Ausland gehörten weiterhin zu den wichtigsten Formaten, um den Dialog zwischen Ost und West anzuregen und zu fördern. Teilweise wurden sie überarbeitet beziehungsweise reformiert und durch neue Ansätze ergänzt. So war die Nachfrage nach Jugendbegegnungen in den evangelischen Kirchen in den 1960er-Jahren stark zurückgegangen. Nachdem die Kirchenleitungen jedoch entschieden hatten, die Jugendlichen stärker in die Ausgestaltung der Treffen einzubeziehen, stiegen die Teilnehmerzahlen wieder. Hier drängt sich die Frage nach der finanziellen Grundlage der Beziehungen auf. Die materiellen und monetären Hilfsleistungen der westdeutschen Kirchen für die Gemeinden im Osten waren einerseits Selbstverständlichkeit und wurden andererseits durchaus kritisch gesehen. Ostdeutsche Gemeinden fürchteten in Abhängigkeitsverhältnisse zu geraten, manche westdeutschen Gemeindemitglieder sahen in den Hilfen die künstliche Aufrechterhaltung überdimensionierter Strukturen in Ost-Berlin und der DDR. Die Themen Reichtum und Armut wurden auch in den Kirchen verhandelt, wobei zur Diskussion stand, ob der wahrgenommene Überfluss beziehungsweise die ständige Mangelerfahrung sich auf das kirchliche Leben positiv oder negativ auswirkten. Solche Debatten zeugen letztlich von einer Normalisierung oder Verstetigung der Verhältnisse. Sie sind in akuten Notsituationen, in denen die eigene Existenz dauerhaft bedroht ist, kaum denkbar.

5.4 Resümee 

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Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten zu tolerieren oder sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ist kein Garant für eine Erfolgsgeschichte. Beziehungen sind genauso oft von Schwierigkeiten und Konflikten geprägt, die zu Trennungen führen. Am Beispiel der Gemeindepartnerschaften ist das eigentlich Neue deutlich geworden: die Bereitschaft Verbindungen unter anderen Vorzeichen einzugehen. Die Gemeindepartnerschaften agierten basisnah und wurden nicht von den Kirchenleitungen orchestriert. Die Partnergemeinden suchten nach Möglichkeiten, mit Hilfe derer sich Missverständnisse vermeiden, enttäuschte Erwartungen verbergen und überraschende Erfahrungen einhegen ließen. Das Schweigen erwies sich dabei als eine stabilisierende kommunikative Praktik. Das Ziel war nicht eine Einheit nach nationalem Vorbild, sondern ein Miteinander von Gemeindemitgliedern aus Ost und West, die Ähnlichkeiten wie Unterschiede im Zweifelsfall klar benennen konnten.248 Die Partnerschaften wurden – im Guten wie im Schlechten – nicht vom kirchlichen Einheitsnarrativ bestimmt.

248 Vgl. Silomon: Anspruch und Wirklichkeit, S. 660–662.

Kapitel 6 Religiöse Gemeinschaften und die deutsche Einheit (1989/1990er-Jahre) Den Mauerfall feierten viele Kirchenmitglieder in Ost-Berlin und der DDR euphorisch, fast wie im Siegestaumel. Aber damit endete die Geschichte nicht und so kann auch diese Darstellung nicht am Abend des 9. Novembers 1989 abbrechen. Sobald sich eine Rückkehr zu einem mehr oder weniger (neu)geordneten Alltag abzeichnete, kehrte Ernüchterung ein. Zwar beschlossen die Kirchenleitungen die zügige Wiedervereinigung getrennter Institutionen, jedoch genügte das nicht, um die tiefen Gräben zwischen den Gemeinden zu überbrücken und die Kirchenbasis zu einen. Die großen Unterschiede waren deutlich sichtbar und ließen sich in der Praxis, nun da die Mauer gefallen war, nicht länger ignorieren. Nicht wenige Kirchenmitglieder bewerteten die Wiedervereinigung kirchlicher Organisationen daher als vorschnell und unüberlegt. Die großen Brüche wurden paradoxerweise erst sichtbar, als die Amtskirchen offiziell wiedervereint waren. Insofern stellen die Jahre 1989/90 nur bedingt eine Zäsur da. Tatsächlich stehen sie am Beginn eines langen Prozesses der Wiederannäherung, der bis heute andauert.1 Zu diesem gehört sowohl die kritische Auseinandersetzung mit den Jahren vor dem Mauerfall als auch die Abkehr vom übergeordneten Einheitsnarrativ in der Zeit danach. Beide Punkte kristallisierten sich als unbedingte Notwendigkeit für das Zusammenwachsen der Kirchen in Ost und West heraus.

6.1 Der Blick nach vorn: das zögerliche Zusammenwachsen von Ost und West Für die große Mehrheit der Kirchenmitglieder kam der Mauerfall genauso überraschend wie für die übrige Bevölkerung. Entsprechend unvorbereitet waren sie. Der Ost-Berliner Katholik S. T., der wie viele andere auch die Demonstrationen im Sommer und Herbst 1989 mehr beobachtet als aktiv begleitet hatte, sprach von einem „Paukenschlag“.2 Er erinnerte sich daran, dass am 9. November 1989 zufällig 1 Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 15. 2 Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 26. Zur Chronologie des Mauerfalls vgl. Wilke, Manfred: Der 9. November: Fall der Berliner Mauer, in: Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 224– 237. Sowie: Kowalczuk: Endspiel. https://doi.org/10.1515/9783111026602-007

6.1 Der Blick nach vorn: das zögerliche Zusammenwachsen von Ost und West 

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ein Freund aus Westdeutschland zu Besuch war. Nachdem die beiden im Radio von den Neuigkeiten erfahren hatten, machten sie sich gemeinsam auf den Weg nach West-Berlin. Sie fuhren durch die Stadt und landeten schließlich in einer Kneipe, wo sie die weiteren Stunden zubrachten: Es war also nachts um 11 ungefähr. Hm, und gehört und gequatscht und „Och, nee!“ und gestaunt und Richtung [Grenzübergang] Heinrich-Heine-Straße und kommen Heinrich-Heine-Straße an und die, ich sehe die Autoschlange, die also sich über diesen Grenzübergang will und da sind Ladas dabei und da sind Wartburgs dabei und Berlin, Ost-Berliner Kennzeichen. Ich stell mich einfach mal mit an. Zehn Minuten später, Grenzer, und lässt sich den Pass geben, lässt sich meinen Ausweis geben und knallt auf mein Passbild im Ausweis einen Zollstempel oder Passierstempel. Ich hab Jahre später erst erfahren, dass dieses Kennzeichen dienen sollte dafür, um zu verhindern, dass die Leute zurückkommen. Das wusste ich nicht. Der Abend ging weiter. Wir sind zum Zoo gefahren, also durch die Straßen, dit war also, ja, unbeschreiblich, wie die Leute da an den Straßen standen und die Autos hupten und die Sektgläser knallten, äh, die Sektflaschen knallten und die hauten auf’s Dach und überall rannten und ich hatte och Angst um meinen Lack an dem kostbaren Auto. [lacht] Jut, äh, eingeparkt, Nähe Elefantentor am Zoo, ähm, dann da hingegangen, […] ins Europacenter in’ Irish Pub unten im Keller. Irish Pub. Und kommen da rein und der Wirt ruft grade: „Alle Ossis Freibier!“3

Auch im Rückblick schienen S. T. diese Stunden nach der Grenzöffnung unwirklich. Er schilderte die damit verbundenen Ereignisse losgelöst von den Erfahrungen der darauffolgenden Wochen und Monate. Die politischen Konsequenzen des Mauerfalls sind in den individuellen Erinnerungen an diese Nacht und die Folgetage nicht vordergründig. Im Gedächtnis blieben vor allem persönliche Begegnungen.4 Paul Plume berichtete dem Pfarrerehepaar der süddeutschen Partnergemeinde am 21. November 1989 ebenfalls von überwältigenden Gefühlen. Er betonte die emotionale Bedeutung des Mauerfalls. Gleichzeitig trieben ihn die zu erwartenden Schwierigkeiten um; Plume fürchtete die eigenen Wünsche angesichts des kapitalistischen Wohlstands. Dabei ließ er es nicht aus, über seinen Glauben und die Versäumnisse der Kirchen in diesem Prozess zu reflektieren. Über einen Besuch in West-Berlin schrieb Plume: Benjamin [der jüngste Sohn des Verfassers] lief durch einen Lichtertraum, auch für uns war der Kurfürstendamm, als ob man in Lichtglas schwimmt. Ja, ja ich weiß, es ist gefährlich, was ich da an uns entdecke, aber ich habe es euch so geschildert, weil diese Empfindungen zu uns gehören. […] Ich analysiere, dass es da in uns Dinge gibt, die wir nicht kannten, vielleicht waren sie durch die Verschüttung unter Druck gekommen und wir haben noch keine

3 Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 26. 4 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 5.

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Kapitel 6: Religiöse Gemeinschaften und die deutsche Einheit

eigenen Instrumente damit umzugehen. Soll es doch nicht unser Heil sein. Aber ehrlich – wann haben mich Dinge in unserer Kirche so intensiv berührt? Ja, das gab es, aber selten.5

Viele ostdeutsche Gemeindemitglieder teilten Ende der 1980er-Jahre den Eindruck, dass Reformen im politischen System der DDR unumgänglich waren. Dass die Mauer fallen würde, hatten aber die wenigsten überhaupt für möglich gehalten. Der Baptist Wolfgang Klempert legte dar, dass er 1989 vor allem mit der Sanierung des Gemeindehauses und der Suche nach den dafür notwendigen Handwerkern beschäftigt gewesen war, anstatt in Erwartung eines politischen Wandels zu leben: Wir haben dann nur immer wieder gestaunt, wenn Gäste kamen und sagten, wir haben schon seit Jahren auf der anderen Seite dafür gebetet, daß die Mauer fällt. Und wir konnten eigentlich immer nur sagen, wir haben wohl eigentlich gar nicht mehr damit gerechnet. Vielleicht ganz tief innerlich die Sehnsucht gehabt, das wäre doch schön, wenn die Mauer nicht da wäre. Aber daß wir jetzt direkt so wie andere dafür gebetet hätten „Herr, reiß die Mauer ein“, das kann ich nicht sagen.6

Klempert zeigte einen Punkt auf, der sich mit den Aussagen vieler Zeitzeugen deckt: Weder der Fall der Mauer noch ein Beitritt der DDR zur Bundesrepublik standen Ende der 1980er-Jahre weit oben auf der Tagesordnung vieler Ost- und Westdeutscher. Der Mauerfall kam für die meisten völlig unerwartet. Diese Erfahrung teilten sie alle, so der rheinlandpfälzische Pfarrer Löwenbrück.7 Deshalb waren im Herbst 1989 auch viele kirchliche Institutionen zunächst gar nicht in der Lage, die Tragweite der Ereignisse einzuordnen.8 Ein Jahr später, im Dezember 1990, versuchte der schon zitierte Paul Plume einer alten Schulfreundin in der Bundesrepublik die Dynamiken der zurückliegenden Monate zu beschreiben: Ich habe immer mehr den Eindruck, daß die „Revolution“ vom November des vergangenen Jahres eine Umwandlung in diesem Herbst nach sich zieht, die noch tiefgreifender ist und noch mehr den einzelnen Menschen, als auch uns, erfaßt und in einen unbekannten Wirbel mit hineinzieht, fast einen Strudel, dessen Ende des Trichters keinem bekannt ist und von dem man nicht weiß, ob man, ohne mitgestalten zu können, nach oben oder nach unten getragen wird.9

5 Paul Plume an Elisabeth und Otto Landes 21.11.1989, in: Briefe in die Freiheit 1988–1990. Privat. 6 Interview mit Wolfgang Klempert 2003. OA, ohne Signatur, S. 13. Vgl. Interview mit Klaus Pritzkuleit 2005. OA, ohne Signatur, S. 22. 7 Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 11. Siehe auch: Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 4. Sowie: Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 28–29. 8 Vgl. Interview mit Klaus Pritzkuleit 2005. OA, ohne Signatur, S. 22. 9 Paul Plume an Hannelore 9.12.1990, in: Briefe in die Freiheit 1988–1990. Privat.

6.1 Der Blick nach vorn: das zögerliche Zusammenwachsen von Ost und West



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Die Kirchen und der Weg zur staatlichen Wiedervereinigung: November 1989Oktober 1990 Besonders rasant entwickelte sich das Tempo im Hinblick auf die sogenannte Wiedervereinigung. Dabei waren die Kirchenmitglieder in Berlin und Brandenburg bezüglich der nationalen Einheit tief gespalten. Während die einen keine Alternative zu einer schnellen Wiedervereinigung sahen, waren andere äußerst skeptisch. Der Dritte Weg wurde gerade in den Kirchen breit diskutiert. Das zeigt auch die Berichterstattung in den Kirchenzeitungen. Es „wächst die Erkenntnis, daß auch die westliche Konsumgesellschaft das Bedürfnis des Menschen nach spirituellen Werten unbefriedigt läßt.“, schrieb Vera Wollenberger in der Potsdamer Kirche. 10 Sie befürchtete, dass die DDR aufgrund des politischen Drucks, den die Bundesrepublik auf das Land ausübe, „ganz geschluckt werden soll. […] Und der Aufbau einer wirklichen sozialistischen Gesellschaft“ auf diese Weise verhindert werden würde.11 Wollenberger argumentierte, dass nicht der Sozialismus gescheitert war, sondern seine Umsetzung. Wie andere evangelische Kirchenmitglieder befürwortete sie deshalb „den Aufbau einer wirklichen sozialistischen Gesellschaft“. Einen Gegensatz zu ihrem religiösen Bekenntnis sah sie darin nicht.12 Generell fällt in den Ausgaben der Potsdamer Kirche nach dem Mauerfall ein tiefes Misstrauen gegenüber dem kapitalistischen System auf. Anders als zuvor bezog die Zeitung nun offen Stellung gegen aus ihrer Sicht verfehlte Entwicklungen in Politik und Gesellschaft. Im Februar 1990 veröffentlichte das Blatt ein Foto, das eine Straßenansicht in Potsdam zeigt. Die Bildunterschrift lautete: „Die ‚Wende‘ machte es möglich: Fast-Food-Reklame auf Westberliner Doppelstockbussen nach Wannsee vor den historischen Fassaden des vom Verfall bedrohten Holländischen Viertels in Potsdam.“13 In dieser Bildbeschreibung kam sowohl Konsumkritik zum Ausdruck als auch der Vorwurf einer verfehlten inhaltlichen Schwerpunktsetzung. Überdies fällt in diesen Debatten auf, dass viele Ostdeutsche ihr eigenes Demokratieverständnis in den Monaten nach dem Mauerfall nur selten reflektierten. Eine Diskussion darüber schien nicht notwendig zu sein: Die Anschlussfähigkeit an die Bundesrepublik wurde in diesem Punkt offenbar als gegeben angenommen.14 Dass ostdeutsche Kirchenmitglieder in dieser Zeit immer häufiger auch als politische Akteure auftraten, wurde in den Gemeinden vor Ort gleichermaßen als

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Die Chance der Erneuerung, in: Potsdamer Kirche 14.1.1990, S. 2. Ebenda. Vgl. Wilke: Der 9. November, S. 236. Siehe auch: Kowalczuk: Endspiel, S. 461. Die Chance der Erneuerung, in: Potsdamer Kirche 14.1.1990, S. 2. Die „Wende“ machte es möglich, in: Potsdamer Kirche 4.2.1990, S. 6. Vgl. Kunter: Erfüllte Hoffnungen, S. 263.

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Chance und Herausforderung gesehen. Was in West-Berlin als selbstverständlich galt, musste im Osten erst verhandelt werden. Vor dem Mauerfall war es nicht gelungen, die Frage, wie politisch Kirche sein sollte, eindeutig zu beantworten. Nach dem 9. November 1989, schrieb Wolfgang Thierse 25 Jahre danach, „hätten die Katholiken nur darauf gewartet, endlich guten Gewissens mitmischen zu können.“15 Er betonte, dass die Ostdeutschen aufgrund ihrer Erfahrungen in der DDR wichtige Impulse in den gesamtdeutschen Politikbetrieb einbringen konnten. Die Ostdeutschen hätten den Westdeutschen Courage und Solidaritätsempfinden beigebracht.16 Der Ost-Berliner Bischof Forck plädierte mit Blick auf die evangelische Kirche schon wenige Monate nach dem Mauerfall gegen einen „Rückzug aus der Politik“.17 Er war allerdings weniger optimistisch als Thierse. Forck beobachtete, dass Kirchenmitglieder, die politische Ämter besetzten, ihr religiöses Profil schnell verloren. Die Kirchen als Institutionen sollten allein deshalb politisch sein, weil sich sonst niemand mehr ihrer Themen annahm. Als Beispiel nannte er den kirchlichen Einsatz für soziale Gerechtigkeit.18 Daran anknüpfend regte ein Berliner Pfarrer an, dass „die [evangelische] Kirche ihr Verhältnis zum Sozialismus noch einmal überdenken [sollte]. […] Die Kirche müsse sich jetzt auch an die Seite derer stellen, die ihren Traum von einem Sozialismus mit menschlichem Angesicht noch nicht aufgeben können und nicht aufgeben wollen.“19 Konkret appellierte er damit an die Kirchenleitung, die Anliegen eines Teils der Kirchenbasis stärker zu berücksichtigen und gesellschaftliche Gruppen zu inkludieren, die kirchenfern lebten. Die Potsdamer Kirche lehnte derlei Vorschläge ab. Die Zeitung warnte davor, politische Ämter unter kirchlichen Mitarbeitern und Pfarrern aufzuteilen: „Engagiert sein, aber nicht Partei sein.“ sollte das Credo kirchlicher Mitarbeiter vielmehr lauten. Das Blatt betonte die Rolle der „Kirche als Moderatorin, Anwältin der Besonnenheit, Garantin für Humanität des Gesprächs und die Konstruktivität des Streits.“20 Von der Übernahme politischer Ämter oder der Besetzung von Spitzenpositionen mit kirchlichen Mitarbeitern hielt das Blatt nichts. De facto waren aber viele Bürgerrechtsorganisationen im Umfeld der Kirchen entstanden, wodurch die personelle Aufstellung der politischen Parteien im Osten 15 Thierse: 25 Jahre Friedliche Revolution, S. 305. 16 Vgl. ebenda, S. 307. 17 Aus Kirchenleitung und Konsistorium, in: Potsdamer Kirche 22.7.1990, S. 2. 18 Ebenda. 19 Begegnung mit dem ökumenischen Arbeitskreis der Gemeinden St.-Petri-Luisenstadt/Kirchenkreis Berlin Stadt I, St. Jacobi-Luisenstadt/Kirchenkreis Kreuzberg, St. Thomas, St. Michael-West (röm.-kath.), St. Michael-Ost (röm.-kath.) im Gemeindezentrum der Gemeinde St. Michael-Ost, Michaelkirchplatz 20.9.1990. ELAB 86/542. 20 Vermitteln und Versöhnen, in: Potsdamer Kirche 4.2.1990, S. 1.

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1989/1990 beeinflusst wurde.21 Vor diesem Hintergrund legte Paul Plume einem befreundeten Ehepaar aus Westdeutschland dar, wie schwer es ihm fiel, zwischen den einzelnen Gruppierungen zu unterscheiden: „Oft gleichen sich die Dinge in den Verlautbarungen der verschiedenen Gruppen. Und jeder der neu gebildeten Gruppen (Neues Forum, SPD, Demokratie jetzt) sagt man nach, sie wäre eine ‚Pfarrerpartei‘. Dass die CDU-Ost auch wieder christlicher sein will, kommt dazu.“22 Wie die Potsdamer Kirche sah Plume in dieser Entwicklung eine Verfehlung. Die Menschen seien verunsichert und würden zu falscher Parteinahme verleitet, weil sie sich auf Personen und nicht auf politische Inhalte konzentrierten. Außerdem leide die Seelsorge unter dieser Verschmelzung von Kirche und Politik. Diese von Plume angedeutete politische Orientierungslosigkeit vieler Kirchenmitglieder registrierte die Potsdamer Kirche ebenfalls mit Unbehagen. Im Vorfeld der Bundestagswahlen 1990 beobachtete die Zeitung eine wachsende politische Indifferenz vieler Ostdeutscher. Diese seien nicht in der Lage, sich kritisch mit der Wahlwerbung westdeutscher Parteien auseinanderzusetzen. Aus Sicht der Potsdamer Kirche war das fatal. Sie mutmaßte, dass westdeutsche Parteien nicht eigentlich ostdeutsche Interessen verträten, sondern nur darauf abzielten, ihre Wahlergebnisse mit Hilfe ostdeutscher Stimmen zu verbessern.23 Dabei wurde in der Zwischenzeit deutlich, dass die ostdeutschen Kirchen selbst Probleme hatten, demokratischen Ansprüchen zu genügen. Im Vorfeld der Kirchenwahlen 1990 bemühte sich die Kirchenleitung daher, Gemeindemitgliedern die Bedeutung demokratischer Wahlen zu erklären. Die Potsdamer Kirche erinnerte die Gemeinden im März 1990 noch einmal daran, dass sich mehr Kandidaten zur Wahl stellen sollten, als Ämter verfügbar waren und die Abstimmung geheim zu halten war. Zudem wurde an die Gemeinden appelliert, mehr Frauen zu nominieren, da sie in kirchlichen Gremien bislang völlig unterrepräsentiert waren.24 Im Idealfall, so hoffte die Kirchenleitung, hatten die Kirchenwahlen einen Vorbildcharakter für die folgenden politischen Wahlen. Spätestens nach dem 3. Oktober 1990 war die nach dem Mauerfall intensiv diskutierte Frage nach einer spezifischen Rolle der Kirchen im politischen System Ostdeutschlands obsolet. Während in den Kirchen noch über einen Dritten Weg diskutiert wurde, hatten sich die Forderungen auf der Straße mehr und mehr davon entfernt. Aus der Formel „Wir sind das Volk“ war „Wir sind ein Volk“ geworden. Diese inhaltliche Verschiebung wirkte sich auf die kirchlichen Einflussmög21 Vgl. Jessen, Ralph: Massenprotest und zivilgesellschaftliche Selbstorganisation in der Bürgerbewegung von 1989/90, in: Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 169–172. 22 Paul Plume an Ilse und Dieter 17.12.1989, in: Briefe in die Freiheit 1988–1990. Privat. 23 Vgl. Vermitteln und Versöhnen, in: Potsdamer Kirche 4.2.1990, S. 1. 24 Vgl. Erste Aufgabe für neue Kreissynoden, in: Potsdamer Kirche 11.3.1990, S. 1.

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lichkeiten erheblich aus. Das kurzzeitige Bündnis zwischen den Kirchen und großen Teilen der nichtkirchlichen Bevölkerung in der DDR zerfiel rasch wieder.25 Pollack unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass die 1980er-Jahre für die ostdeutschen Kirchen eine Ausnahme von der Norm darstellten. Nach dem 3. Oktober 1990 habe daran kein Zweifel mehr bestanden: „Stellten sie [die Kirchen] in der DDR, insbesondere in ihrer Endphase eine einzigartige Alternative zu dem verkrusteten und ineffizienten DDR-System dar, […], wurden sie nun funktional ausdifferenziert und damit auf jenen Ort in der Gesellschaft eingeschränkt, den sie durch ihre religiöse Funktionserfüllung zu besetzen vermögen.“26 Der Baptist Johannes Kübler, Mitglied der CDU in Ost-Berlin, war 1990 für die DDR-Regierung de Maiziere tätig. Er erinnerte sich an den Beschluss zur Wiedervereinigung und die Stimmung in der ostdeutschen Regierung in den Tagen danach: „Die Sitzung in Bonn am Montag darauf werde ich nicht vergessen, es war eindeutig, da waren wir alle schon draußen, hm.“27

Wiedervereinigungen in der EKiBB Ähnlich wie bei der Frage nach der staatlichen Einheit zeichneten sich nach dem 9. November 1989 ebenfalls zwei Positionen im Hinblick auf die Einheit der Kirchen ab. Einerseits galt die Wiedervereinigung kirchlicher Institutionen gerade auf den Leitungsebenen als obligatorisch. Es konnte, salopp formuliert, gar nicht schnell genug gehen. Andererseits äußerten vor allem Personen an der Kirchenbasis ihre Kritik an den Plänen für eine schnelle Wiedervereinigung oder lehnten diese sogar dezidiert ab. Die Frage nach einer Wiedervereinigung der evangelischen Kirchenbünde wurde dabei oft mit der nationalen Einheit vermischt. Das war schon vor dem Mauerfall absehbar: Auf dem West-Berliner Kirchentag im Juni 1989 zeichnete der West-Berliner Radiosender RIAS ein Gespräch mit Vera Wollenberger auf, damals als Bürgerrechtlerin in der DDR aktiv und Mitglied des Pankower Friedenskreises. Im Interview äußerte Wollenberger ihr Unbehagen im Hinblick auf eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten: Also die deutschen Träume sind in der verschiedensten Form zur Sprache gekommen. Entweder als ausgeträumte Träume oder als Alpträume. Aber auf jeden Fall in der einen oder anderen Form als real vorhandene Träume, über die unbedingt gesprochen werden muß. Sicherlich war ein Traum nicht so sehr vertreten. Das war der Traum von der Wiedervereinigung und einem starken Deutschland. Ich glaube, die Referenten haben darin übereinge25 Vgl. Jessen: Massenprotest, S. 176–177. 26 Pollack: Funktionen von Religion, S. 90. 27 Interview mit Johannes Kübler 2001. OA, ohne Signatur, S. 10.

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stimmt, daß es heute nur noch um ein gemeinsames Europa von Ost und West gehen kann.28

Wollenberger war der Meinung, dass die Kirchen sich selbstbestimmt mit ihren eigenen Zukunftserwartungen auseinandersetzen sollten. Aber gerade diesem Anspruch genügte die evangelische Kirche in Berlin nach dem Mauerfall nicht, schrieb Albrecht Barthel in einem Leserbrief an die Potsdamer Kirche. Er unterstellte der evangelischen Kirchenleitung in Berlin „tagespolitische Opportunität“.29 Die Wiedervereinigung werde aus „emotionalen Gründen“ vorangetrieben, ohne das Für und Wider einer solchen Entscheidung gründlich abzuwägen.30 Barthel kritisierte wie auch andere Leser der Zeitung, dass sich die Berliner Kirchenleitung auf die Notverordnung von 1959 stützte, die nach dem Mauerbau in Kraft getreten war. Dabei, so der Leser Dietrich Gülzow aus Potsdam, sollte klar sein, dass „die Notverordnung […] keine Richtlinie sein kann. […] Wir können heute nicht einfach da weitermachen, wo wir damals getrennt wurden.“31 Gülzow schlug vor, das Tempo zu drosseln und die vergangenen Jahrzehnte intern aufzuarbeiten, bevor eine Wiedervereinigung der Kirchen überstürzt herbeigeführt werde. Die bei Wollenberger schon angedeutete europäische Perspektive auf den Wiedervereinigungsprozess ist in der Erinnerung an die Jahre 1989/1990 bald von der nationalen Einheit überlagert worden. Das ändert jedoch nichts daran, dass Europa zeitgenössisch durchaus als Alternative zu nationalstaatlichen Konzepten auch im Hinblick auf das kirchliche Selbstverständnis diskutiert wurde.32 Es erschien bis dato nicht plausibel, warum die nationale Einheit zwangsläufig die Wiedervereinigung der Kirchen zur Folge haben müsse. Warum sollten Kirchengrenzen gerade jetzt wieder entlang der Staatsgrenzen gezogen werden? Auch wenn die besondere Gemeinschaft der ost- und westdeutschen Kirchen über Jahrzehnte betont wurde, schien nun der Zeitpunkt gekommen, den Zustand dieser Beziehung ehrlich zu überprüfen, mahnten kritische Stimmen an. Andernfalls laufe man Gefahr, Entscheidungen zu treffen, die sich an einem alten, möglicherweise überkommenen Narrativ orientierten. Damit verbunden war der Gedanke, dass diesund jenseits des Eisernen Vorhangs unterschiedliche Strukturen entstanden waren, die erhalten bleiben sollten. Bei einem schnellen Zusammenschluss war das jedoch unwahrscheinlich. Im Winter 1990 mutmaßten viele kritische Beobachter 28 RIAS-Studiogespräch. 23. Deutscher Evangelischer Kirchentag vom 7.-11.6.1989 in West-Berlin. BStU MfS ZOS 3703. 29 Albrecht Barthel an Potsdamer Kirche. Leserbrief, in: Potsdamer Kirche 14.1.1990, S. 6. 30 Ebenda. 31 Dietrich Gülzow an Potsdamer Kirche. Leserbrief, in: Potsdamer Kirche 14.1.1990, S. 6. 32 Vgl. Die Kirchen bleiben ein „unbequemer Partner“, in: Neue Zeit 1.2.1990, S. 2. Siehe auch: Kunter: Die Kirchen – Europa – die Ökumene, S. 274–275.

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in Ost und West, die Wiedervereinigung bedeute nichts anderes als die Übertragung westdeutscher Strukturen auf die ostdeutschen Landeskirchen.33 Die Potsdamer Kirche griff in diesem Zusammenhang Worte des sächsischen Theologen Dietrich Mendt auf: Während wir in politischen Fragen den mühsamen Weg von unten nach oben gehen und die „Basis“ an den Entscheidungen zu beteiligen versuchen, scheint es in der evangelischen Kirche umgekehrt vor sich zu gehen. Ich jedenfalls gehöre zu diesen Rufern nicht. Im Gegenteil! Ich habe Angst. Angst, daß unter der Hand verlorengeht, was Gott uns in 45 Jahren beigebracht hat, […].34

Mendt fürchtete, dass anstatt der versprochenen Wiedervereinigung ein Anschluss erfolgen würde. Seine Ausführungen sind beispielhaft für das tiefe Misstrauen ostdeutscher Gemeindemitglieder gegenüber den westdeutschen Landeskirchen. Sie zeugen zudem von Verwerfungen und Vertrauensverlusten zwischen den evangelischen Kirchenleitungen und den Gemeinden in Ostdeutschland. Tatsächlich stützte sich die evangelische Landeskirche in Berlin-Brandenburg bei ihren Zukunftsentwürfen nicht auf basisnahe, kritische Beiträge, sondern orientierte sich an der sogenannten Loccumer Erklärung. 35 Im Januar 1990 waren in der Evangelischen Akademie Loccum bei Hannover ost- und westdeutsche Kirchenvertreter zusammengekommen, die sich darauf verständigten, unabhängig von der nationalstaatlichen Entwicklung, die kirchliche Trennung von EKD und dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR aufzuheben.36 Am 27. Juni 1991 trat ein entsprechendes Kirchengesetz dazu in Kraft. Einen Tag später kam die erste gesamtdeutsche Synode seit der Teilung im fränkischen Coburg zusammen. An der berlin-brandenburgischen Kirchenbasis sorgte diese Entscheidung für erhebliche Unruhe. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Loccumer Erklärung regte sich Widerstand. Der Zusammenschluss wurde von Kirchenmitgliedern im Ost- und Westteil der Stadt als übereilt empfunden.37 Die Studentenvertretung an der Kirchlichen Hochschule in West-Berlin wendete sich in einem offenen Brief an den West-Berliner Bischof Martin Kruse und den Vorsitzenden des Bundes der Evange33 Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 44–45. 34 Erfahrungen nicht preisgeben, in: Potsdamer Kirche 11.3.1990, S. 5. 35 Vgl. Schiller, Thomas: „Nüchtern und dankbar vereint“. Vor 25 Jahren schlossen sich die evangelischen Kirchen in Ost- und Westdeutschland zusammen 25.6.2016, https://archiv.ekd.de/aktuell/ edi_2016_06_25_ekd_wiedervereinigung.html [2.12.2020]. 36 Vgl. Gemeinschaft in einer Kirche, in: Neue Zeit 18.1.1990, S. 1. Siehe auch: Wir danken Gott für Freiheit, in: Neue Zeit 20.1.1990, S. 5. Und: Subklew, Marie Anne: Konsequenzen der Erinnerung der DDR-Kirchen für die Gegenwart in Deutschland und in der Ökumene,in: epd-Dokumentation 14/15 (2013), S. 63. 37 Vgl. Vereinigung nicht unter Zeitdruck, in: Potsdamer Kirche 18.3.1990, S. 2.

6.1 Der Blick nach vorn: das zögerliche Zusammenwachsen von Ost und West



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lischen Kirchen in der DDR, Werner Leich. Die Studierenden baten die beiden Bischöfe darum, eine vorschnelle Wiedervereinigung zu verhindern. Sie argumentierten, dass die Kirchen in der DDR und in der Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten eine eigene Entwicklung durchgemacht hätten. […] Diese Identität werde durch eine Vereinigung trotz gegenteiliger Absichtserklärungen leichtfertig aufs Spiel gesetzt. […] Die mühsamen Demokratisierungsbestrebungen würden zur Farce. Die Loccumer Beschlüsse seien gefaßt worden, ohne einen Diskussions- und Meinungsbildungsprozeß in Gemeinden und Synoden abzuwarten.38

Die Studentenvertretung wehrte sich gegen eine von der Leitungsebene oktroyierte Zwangsvereinigung der Kirchen. Demokratische Errungenschaften würden auf diese Weise in Frage gestellt. Außerdem seien negative Auswirkungen auf das kirchliche Leben zu befürchten. Diese Position teilten Mitglieder der Heilig-KreuzGemeinde in Potsdam. Auch sie bemängelten das undemokratische Vorgehen der Kirchenführung und kritisierten, dass sie aus den Medien von den Plänen der Kirchenleitung erfahren hatten: Wir möchten fragen, ob unsere Kirchenleitungen jetzt einen Führungsstil fortsetzen, den wir im politischen Bereich unseres Landes gerade zu überwinden hoffen. […] Wozu haben wir Synoden, wenn Bischöfe und Beauftragte solche schwerwiegenden Entschlüsse frei entscheiden und öffentlich aussprechen können?39

Die evangelische Kirche, lautete es weiter, „darf nicht zu einem unverantwortlichen Tempomacher werden.“40 Aufsehen erregte insbesondere der Passus der Loccumer Erklärung, in dem die Absicht zur Einheit festgeschrieben wurde: Nicht ein einziges Mal erscheint das Wort „DDR“. Der Ort, an dem wir Christen hier seit vierzig Jahren leben, wird nur (noch) als „geteiltes Deutschland“, „gespaltenes Land“, „Land mit einer langen Trennungszeit“ beschrieben. Der Eindruck drängt sich auf, als hätten wir die ganze Zeit nur überwintert und nichts anderes im Kopf gehabt als die schnellstmögliche Vereinigung mit der bundesdeutschen Kirche.41

Die Potsdamer Kirchenmitglieder sahen sich durch die Loccumer Erklärung nicht repräsentiert, mehr noch, sie fühlten sich in eine Rolle gedrängt, die mit ihrem Selbstbild nicht übereinstimmte. Der Loyalitätskonflikt, dem viele ostdeutsche Christen als Kirchenmitglieder und DDR-Bürger ausgesetzt waren, sei von den 38 39 40 41

Keine Wiedervereinigung, in: Potsdamer Kirche 11.2.1990, S. 2. Betroffenheit statt Beifall, in: Potsdamer Kirche 4.3.1990, S. 4. Ebenda. Ebenda.

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westdeutschen Landeskirchen gezielt instrumentalisiert worden. Die als widersprüchlich beschriebene Existenz sei benutzt worden, um ostdeutsche Positionen zu schwächen und einen Anschluss statt einer Wiedervereinigung zu initiieren. Das wollten die Potsdamer nicht akzeptieren: „Nach dem Tenor der Loccumer Erklärung hätten wir nur im Widerspruch zu unserer Gesellschaft leben müssen. Und das entspricht einfach nicht den Tatsachen.“42 Vor diesem Hintergrund tagten vom 16. bis 17. März 1990 die beiden Regionalsynoden der EKiBB – Ost und West – erstmals seit 1962 wieder gemeinsam. Formal traten die Regionalsynoden als zwei getrennte Gremien zusammen. Jedoch konstituierten sie sich bereits bei diesem ersten Treffen als Gemeinsame Synode. Nur 17 der 224 anwesenden Synodalen stimmten gegen diese richtungsweisende Entscheidung. Neben den standardmäßigen Sitzungen gab es im Rahmen der Synode viel Raum und Zeit für informelle Gespräche zum Kennenlernen. Auch wenn eine unmittelbare Wiedervereinigung wegen der verschiedenen Grundordnungen im März 1990 noch nicht möglich war, wurden hier bereits wichtige Grundlagen für einen baldigen Zusammenschluss geschaffen. Symbolisch unterstrichen wurde dieses Vorhaben durch den Austragungsort: Die Synode begann in Ost-Berlin und wurde in West-Berlin fortgesetzt.43 Auf der folgenden zweiten Gemeinsamen Synode im Dezember 1990, die sich aus allen Mitgliedern beider Regionalsynoden zusammensetzte, beschlossen die Synodalen dann, dass die organisatorische Trennung in den folgenden zwölf Monaten schnellstmöglich zu beenden sei. 1991 waren Synode, Kirchenleitung und Konsistorium wiedervereint. Der Bischof der Region-Ost, Gottfried Forck, trat in den Ruhestand. Der West-Berliner Bischof Martin Kruse wurde Bischof der wiedervereinten Landeskirche. Parallel dazu erfolgte die Wiedervereinigung weiterer kirchlicher Institutionen. So gaben zum Beispiel die Kirchengeschichtliche Arbeitsgemeinschaft in Berlin-Brandenburg (Ost) und die Arbeitsgemeinschaft für BerlinBrandenburgische Kirchengeschichte (West) im November 1990 an, fortan wieder gemeinsam zu arbeiten.44 Eine relativ unkomplizierte Wiedervereinigung erwartete auch der Beauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg West für Rundfunkfragen, Helmut Giese, im Bereich des Kirchenfunks: Da es Kirchenmitglieder in Ost-Berlin und der DDR schon vor dem Mauerfall gewohnt gewesen seien, die kirchlichen Sendungen im westlichen Rundfunk zu verfolgen, rechnete Giese nicht mit Anpas-

42 Ebenda. 43 Vgl. Gemeinsame Synode Berlin-Brandenburg, in: Potsdamer Kirche 14.1.1990, S. 2. Siehe auch: Vor einer gemeinsamen Synode, in: Potsdamer Kirche 18.2.1990, S. 1–2. Sowie: Der Einheit verpflichtet, in: Potsdamer Kirche 25.3.1990, S. 1. 44 Vgl. Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg (Berlin West) 8.9.1990. ELAB 86/542.

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sungsschwierigkeiten. Die Berliner Sender sollten jedoch zukünftig weniger überregionale und mehr regionale Themen bringen. Anders als vor dem Mauerfall „werden Sendegebiet und Zuhörerschaft im Hörfunkbereich [nun] fast identisch sein“, notierte Giese 1990.45 Dass es im Rundfunk der DDR kirchliche Sendungen gegeben hatte, thematisierte er nicht. Ein Anknüpfen an Traditionen, die sich dort etabliert hatten, wurde damit ausgeschlossen. Auch hier hatte die angekündigte Zusammenführung eher den Charakter einer Übernahme. Fusionen erfolgten außerdem im Bereich der Berliner Kirchenzeitungen. Zunächst fusionierten 1991 das Berliner Sonntagsblatt (West-Berlin) und die Potsdamer Kirche zum Berlin-Brandenburgischen Sonntagsblatt.46 Aufgrund ihrer ähnlichen kirchenpolitischen Ausrichtung verlief diese Fusion weitestgehend unkompliziert. 1994 erfolgte dann jedoch der Zusammenschluss mit der Ost-Berliner Kirchenzeitung Die Kirche. Unter dem Namen Die Kirche sollte das Blatt fortan mit einer Auflage von 36.000 gedruckten Exemplaren erscheinen. Diese zweite Zusammenlegung war unter anderem aufgrund inhaltlicher Streitpunkte allerdings nur widerwillig zustande gekommen und vor allem aus ökonomischen Gründen vorangetrieben worden. Die ostdeutschen Landeskirchen, zu denen die EKiBB gehörte, mussten sparen, um nicht mehr auf die wirtschaftlichen Hilfen der westdeutschen Kirchen angewiesen zu sein. Zwei Kirchenzeitungen waren da kaum zu rechtfertigen. Hinzu kamen gestiegene Druck- und Materialkosten.47

Das Bistum Berlin nach dem Mauerfall Obwohl das Bistum Berlin staatskirchenrechtlich nie getrennt war, wurde nach dem Mauerfall auch dort wie selbstverständlich von Wiedervereinigungen gesprochen. Im Januar 1990 verkündete das Petrusblatt, jene West-Berliner Kirchenzeitung also, die jahrzehntelang gegen die Trennung angeschrieben hatte, dass „das Bistum Berlin nach und nach zusammenwächst. Schneller als man es noch vor kurzem für möglich gehalten hätte.“48 Entsprechende strukturelle Anpassungen in der Bistumsverwaltung erfolgten im Spätsommer 1990. Die beiden Ordinariate Ost und West wurden wieder zu einem Ordinariat unter der Leitung eines Generalvi45 „Kirche im Rundfunk – Überlegungen für die Zukunft“ von Pfarrer Helmut Giese (Beauftragter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg West für Rundfunkfragen) 28.8.1990. ELAB 86/ 542. 46 Vgl. Zwei Jahre Berlin-Brandenburgisches Sonntagsblatt. Beispiel für eine gelungene OstWest-Fusion, in: Berlin-Brandenburgisches Sonntagsblatt 21.11.1993, S. 6–7. 47 „die kirche“ und „Berlin-Brandenburgisches Sonntagsblatt“ unter einem Dach. Evangelischer Pressedienst, Landesdienst Ost, Faxdienst 28.12.1994. ELAB 223. 48 Ost-West-Begegnungen in vielen Pfarrgemeinden, in Petrusblatt 28.1.1990, S. 24.

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kars zusammengeführt. Zudem kündigte der Berliner Bischof im selben Monat die Auflösung der Berliner Bischofskonferenz und die Wiedereingliederung der ostdeutschen Bistümer in die Deutsche Bischofskonferenz an.49 Die Aktivitäten der katholischen Kirche zielten 1990 also schwerpunktmäßig darauf ab, notwendig gewordene Sonderregelungen der letzten 40 Jahre rückgängig zu machen. Dabei bemühten sich die deutschen Bischöfe, auf den Improvisationscharakter der Teilungsmomente hinzuweisen und das offizielle Einheitsnarrativ zu unterstreichen. Der ehemalige Berliner Bischof Joachim Meisner, seit 1989 Erzbischof von Köln, erklärte, „daß sie [die katholische Kirche] über 40 Jahre lang kompromisslos Nein sagte zu diesem menschenverachtenden System“.50 Der Mainzer Bischof Karl Lehmann erinnerte daran, dass „die größte Klammerfunktion freilich immer schon das Bistum Berlin hatte, das freilich dadurch auch die Last der Trennung am stärksten zu spüren hatte. […] Die Einheit des Bistums Berlin blieb über Jahrzehnte ein wichtiges Symbol dafür, daß sich die Kirche nicht von politischen Systemen zerteilen läßt, auch wenn sie schwer darunter leidet.“51 Diese Darstellungen trafen auf der Ebene der Gemeinden auf ein geteiltes Echo. Zwar wuchs die Mehrheit der Gemeinden, die durch die Mauer getrennt worden waren, nach dem Mauerfall wieder zusammen. Trotzdem regte sich auch Widerspruch gegen solche Fusionen: Die Gemeinde St. Augustinus war durch den Mauerbau 1961 geteilt worden. Die im Westteil der Gemeinde liegende Kirche St. Afra wurde daraufhin eigenständig. Nach dem Mauerfall sollten St. Augustinus und St. Afra wiedervereint werden. In den Gemeinden selbst wurde diese Entscheidung kritisch gesehen. Mitglieder beider Gemeinden berieten deshalb bei einer gemeinsamen Weihnachtsfeier darüber, wo die zukünftigen Gemeindegrenzen gezogen werden sollten. Die Mehrzahl der Gemeindemitglieder sprach sich dafür aus, die seit 1961 geltenden Grenzen aufrechtzuerhalten und keine Wiedervereinigung der Gemeindeteile anzustreben. Der 1989 geweihte Berliner Bischof Sterzinsky verzichtete schließlich auf eine Zusammenlegung der Gemeinden, obwohl diese Entscheidung dem Einheitsgedanken zuwiderlief.52 Ebenso scheiterte die Zusammenführung der beiden Gemeindeteile St. Michael (Ost) und St. Michael (West) am Widerwillen der Gemeindemitglieder. Zwischen den beiden Gemeinden war es schon vor dem Mauerfall immer wieder zu Unstimmigkeiten gekommen.53 49 Vgl. Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 221. 50 Streben nach Einheit, in: St. Hedwigsblatt 28.1.1990, S. 1–2. 51 Ebenda, S. 2. 52 Vgl. Katholisches Pfarramt Sankt Augustinus an Herrn Bischof Sterzinsky 22.4.1991. Pfarreiarchiv St. Augustinus, Akte: 1990–1992 St. Augustinus, ohne Signatur. 53 Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 9–10. Siehe auch: Halbrock: Zwischen Himmel und Mauer, S. 322. In der evangelischen Kirche wurden ebenfalls nicht alle Ge-

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Prälat Steinke beobachtete, dass im Bistum Berlin generell „sehr stark die Strukturen vom Westen eingeführt wurden, zum Teil auf Wunsch der Leute im Osten auch, aber zum Teil auch – na, wie sagen wir mal –, weil die Leute das nicht anderes kannten und da ist ja auch manches verloren gegangen.“54 Es habe um den Jahreswechsel 1989/1990 nur einen kurzen Moment gegeben, in dem die Zukunft wirklich offen erschienen war. Winfried Hinze mutmaßte im Januar 1990 sogar: „Vielleicht wird man bald im Westen von ihr [der Kirche in der DDR] lernen können.“55 Doch dieser Eindruck währte nicht lange. Die Kräfteverhältnisse veränderten sich zu Ungunsten der ostdeutschen Gemeinden. Steinke meinte, dass sie – möglicherweise ohne böse Absicht oder Hintergedanken – überrumpelt worden seien. In der DDR gewachsene Strukturen, von denen viele westdeutsche Akteure keinerlei Kenntnis gehabt hätten, seien im Freudentaumel der Wiedervereinigung vorschnell zerstört worden, so Steinke. Als Beispiel nannte er die Forderung der Westdeutschen, ehrenamtliche Tätigkeiten in den Kirchen einzuschränken: Ostdeutschen Gemeinden wurde vorgehalten, Kirchenmitglieder, die unbezahlt oder gegen eine geringe Aufwandsentschädigung in einer Gemeinde tätig waren, auszunutzen. Stattdessen sollten diese Personen entsprechend ihrer tariflichen Eingruppierung entlohnt werden. Derartige Anstellungsverhältnisse, erläuterte Steinke weiter, überforderten die relativ armen Diasporagemeinden finanziell, weshalb vielerorts Hausmeister oder Kirchenmusiker nicht weiter beschäftigt werden konnten. Zwar protestierten ostdeutsche Katholiken dagegen, westdeutsche Grundsätze eins zu eins auf ostdeutsche Gemeinden zu übertragen, aber allein die Zahlenverhältnisse sprachen gegen sie. Eine Million Katholiken auf dem ehemaligen Gebiet der DDR und in Ost-Berlin konnten sich nicht gegen 30 Millionen Katholiken in der alten Bundesrepublik durchsetzen.56 Und deswegen, schloss Steinke, habe nach der Wiedervereinigung „sozusagen alles ’n bisschen nach der Westpfeife tanzen müssen.“57 Für den Episkopat und die Führungsebenen katholischer Organisationen verlief die Wiedervereinigung weitestgehend problemlos. Die handelnden Akteure kannten sich in der Regel bereits aus der Zeit vor 1990 und schlossen an diese Kontakte an.58 Hierin lagen auch im Bistum Berlin massive Wahrnehmungsunterschiede zwischen Kirchenbasis und Kirchenleitung begründet: Ostdeutschen Gemeindemeinden wiedervereint. Eine Zusammenführung der Gemeinden in Staaken gelang erst 1999 nach Beendigung eines „Siebenjährigen Kriegs“. Rauer: Die kirchlichen Verhältnisse in West-Staaken von 1990–1999, S. 173. 54 Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 12. 55 Kirche in der DDR, in: Petrusblatt 7.1.1990, S. 3. 56 Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 12. 57 Ebenda, S. 11. 58 Vgl. ebenda, S. 28–29.

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mitgliedern waren die neuen Strukturen fremd, wohingegen sie Personen der Kirchenleitung zumindest nicht unbekannt waren. Wie in der evangelischen Kirche verlief die Fusion der beiden Kirchenzeitungen im Bistum ebenfalls nicht reibungslos. Im Dezember 1990 stellten die bisherigen Bistumszeitungen St. Hedwigsblatt und Petrusblatt ihr Erscheinen ein. Zu Weihnachten 1990 erschien erstmals die Katholische Kirchenzeitung für das Bistum Berlin. Petrusblatt – St. Hedwigsblatt, ab 1996 Katholische Kirchenzeitung. Wochenzeitung für das Erzbistum Berlin.59 Dem Namen nach versuchte die Diözesanleitung Kontinuitäten zu beiden Zeitungen herzustellen. Tatsächlich erinnerte das neue Blatt jedoch gestalterisch, stilistisch und inhaltlich stark an das Petrusblatt. Dieses offensichtliche Ungleichgewicht versuchte Sterzinsky abzufangen, indem er die Berliner Katholiken in der ersten Ausgabe der neuen Zeitung dazu aufforderte, den „Blick auf die Gegenwart und Zukunft zu richten“ und die Vergangenheit hinter sich zu lassen.60 Der Bischof betonte einen vermeintlichen Bruch mit vergangenen Traditionen. Er hoffte, die tiefen Gräben zwischen den Gemeinden auf diese Weise überbrücken zu können.

Chancen und Hindernisse bei den Wiedervereinigungen Im Zusammenhang mit den kirchlichen Wiedervereinigungen – keine der Kirchen hatte einen anderen Weg gewählt – ergaben sich zahlreiche praktische Probleme. Das Leben in den Gemeinden war vom politischen Wandel unmittelbar betroffen. Allein die Tatsache, dass nach dem Mauerfall viele Gemeindemitglieder von Ost nach West zogen, wirkte sich erheblich auf das kirchliche Leben aus. Die ostdeutschen Gemeinden schrumpften. Gleichzeitig stellte die Integration ostdeutscher Gemeindemitglieder die Westgemeinden vor Herausforderungen und Konflikte. Während einige, aber nicht alle westdeutschen Gemeinden vor der Aufgabe standen, neue Mitglieder zu intergrieren, standen die Berliner und ostdeutschen Gemeinden vor massiven strukturellen Veränderungen und der Frage, wie diese den Gemeindemitgliedern zu vermitteln und umzusetzen waren.61 Eng damit verknüpft sind die vom Berliner Episkopat beschlossenen Gemeindereformen. Infolge 59 Vgl. Der Bischof von Berlin zur ersten Ausgabe der Katholischen Kirchenzeitung für das Bistum Berlin, in: Katholische Kirchenzeitung für das Bistum Berlin. Petrusblatt – St. Hedwigsblatt 23. Dezember 1990, S. 3. 60 Ebenda. 61 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 7–8. Siehe auch: Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 11. Sowie: Erlebnisbericht. Offenheit bringt Betroffenheit. Lust und Last der offenen Grenze für Ost und West, in: Potsdamer Kirche 18.2.1990, S. 6–7.

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der Wiedervereinigung mussten viele Gemeinden des Bistums fusionieren. S. T. beschrieb diesen „grauenhaften Entwicklungsprozess“ als „Schrumpfungsprozess“. 62 Die Gemeinden hätten sich „gegängelt“ gefühlt.63 Der Episkopat habe durch die Schaffung von Großgemeinden selbst dazu beigetragen, das kirchliche Leben in der Diözese lahmzulegen, meinte S. T.: „Das war nur noch Managertum. Ja, und die Kirche als der reine Manager, der die Gläubigen managt. Das, das hatte nix mehr mit Christentum zu tun.“64 Vergleichbare emotionale Reaktionen auf die Reformprozesse deuten auf massive innerkirchliche Kommunikationsprobleme in den 1990er-Jahren hin. Erschwerend kam hinzu, dass die strukturellen Veränderungen von ostdeutschen Laienmitgliedern häufig auf den Einfluss westdeutscher Akteure zurückgeführt und als Verlust lokaler beziehungsweise regionaler Traditionen gedeutet wurden. Die hier geschilderten Diskrepanzen zwischen Kirchenleitungen und Basis sind auffällig. Sie scheinen auch darin begründet zu liegen, dass die ostdeutschen Kirchenleitungen durch ihre Aktivitäten in den wiedervereinten Kirchenbünden wieder näher an die Idee der Volkskirche heranrückten. Die gesellschaftliche Bedeutung, über welche die Kirchen in der Bundesrepublik weiterhin verfügten, übertrugen sie auf ihr Selbstbild. Das entsprach aber in den seltensten Fällen der Situation in den ostdeutschen Gemeinden, die sich gerade in den Jahren nach 1990 erst recht als Minderheitenkirche wahrnahmen. Dementsprechend kam das Institut für Demoskopie zu dem Ergebnis, dass in der DDR nicht nur die Zahl der Kirchenmitglieder im Vergleich zur Bundesrepublik niedriger war, sondern dass darüber hinaus „ein eklatanter Mangel an christlicher Religiosität herrscht.“65 Vor allem bei den unter 45-Jährigen war der Anteil der Kirchenmitglieder gering. Stimmen, die auf diese Probleme aufmerksam zu machen versuchten, fanden tendenziell nur in ostdeutschen Zeitungen Gehör. Sie standen deshalb im Verdacht, anstatt konstruktiver Kritik allein ihren Widerwillen gegen die Wiedervereinigung zum Ausdruck bringen zu wollen.66 Die ostdeutschen Kirchen als bloße Verliererinnen darzustellen, wäre aber verkürzt. Die andauernde Kritik an den Umstrukturierungen der Folgejahre überschattete häufig positive Erfahrungen der frühen 1990er-Jahre: „Das war total interessant, festzustellen, […] dass Kirche und Politik sich überhaupt nicht wider-

62 Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 19. 63 Ebenda, S. 20. 64 Ebenda. 65 Wie stabil ist die Volkskirche, in: Potsdamer Kirche 26.8.1990, S. 1. Vgl. Gemeinde soll Schwerpunkt sein, in: Potsdamer Kirche 4.11.1990, S. 4 66 Vgl. Zeit der Volkskirche ist vorbei, in: Potsdamer Kirche 18.11.1990, S. 14. Siehe auch: Es gibt kein Zurück zur Volkskirche, in: Neue Zeit 27.10.1990, S. 18.

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spricht“, erklärte Matthias Kohl einen wichtigen Erkenntnisgewinn.67 Das Engagement ostdeutscher Christen in der Politik erlebte er als bahnbrechend. Zwei Punkte fallen dabei auf. Erstens beschrieb Kohl einen demokratischen Lernprozess, den er unmittelbar mit dem Mauerfall verknüpfte. Die oppositionellen Bewegungen in der DDR verstand er in diesem Sinne nicht als politisch. Das lässt einerseits auf einen relativ engen Politikbegriff schließen, zeigt aber andererseits, dass die Demokratisierung Ostdeutschlands für ihn mit der Wiedervereinigung erst richtig Fahrt aufnahm. Zweitens idealisierte Kohl das Verhältnis von Kirche und Politik in der DDR, indem er sie als zwei Antagonisten darstellte und deren Zusammenarbeit in der Praxis negierte. Dass Kirchenmitgliedschaft und politisches Engagement seit dem Mauerfall Hand in Hand gehen konnten, wirkte sich auf das kirchliche Leben vor Ort durchaus positiv aus, rekapitulierte auch der Ost-Berliner Weihbischof Weider. Die Gemeinden öffneten sich, oft gezwungenermaßen. Weider verwies unter anderem auf Reformen im Bereich der Liturgie: „[…] was wir als liberal empfunden haben, rutschte dann – die Ministrantinnen und wie Frauen und, und so die ganze Liturgie – und das rutschte dann bei uns rein.“68 Gleichzeitig fiel es vielen ostdeutschen Gemeindemitgliedern schwer, sich vom alten Ritus zu lösen und neue Formen zu erproben. Die damit einhergehenden Streitigkeiten waren für die Ost-Berliner Gemeinden eine völlig neue Erfahrung, erklärte Weider: „Also sagen wir mal diese Polarisierung zwischen progressiv und konservativ, die ist mir eigentlich erst bewusst geworden nach der Wende, ja? Auch im innerkirchlichen Bereich. Das… vorher war das eigentlich gar nicht so unser Thema [im Osten]. Da waren alle, waren alle gleichgeschaltet sozusagen, ja?“69 Der Kalte Krieg hatte derlei Auseinandersetzungen unnötig oder sogar gefährlich erscheinen lassen. Doch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war es quasi unmöglich ihnen länger auszuweichen. Schwierigkeiten gab es auch im Bereich der Organisations- und Vereinskultur. Der westdeutsche Verbandskatholizismus traf auf den ostdeutschen Gemeindekatholizismus.70 Die Hoffnung der Westdeutschen, ostdeutsche Kirchenmitglieder für die Arbeit in katholischen Verbänden zu gewinnen, wurde bald enttäuscht. Die West-Berliner Katholikin E. F. erläuterte, dass es im Osten durchaus ein Interesse an den Angeboten der katholischen Verbände gab. Es sei aber selten gelungen, die Menschen von einer Mitgliedschaft zu überzeugen: „Die Leute im Osten, die ham sich zwar gerne so alle möglichen Dienstleistungen angenommen, […] aber […] die

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Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 25. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 8. Ebenda. Vgl. Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 20–21.

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sind jetzt keine Mitglieder geworden.“71 Zwangsmitgliedschaften in den staatlichen Organisationen der DDR hielten die Menschen nach 1990 davon ab, sich verbindlich zu engagieren, meinte E. F. Darüber hinaus deutete sie andere Ursachen an: Ihr fiel die Bequemlichkeit und die Selbstverständlichkeit auf, mit der Ostdeutsche kostenlose Materialien und personelle Unterstützung auch nach 1990 wie gewohnt in Anspruch nahmen, sowie die fehlende Bereitschaft, Eigeninitiative zu entwickeln und Verantwortung zu übernehmen. Von der Kirchenleitung sei keine Hilfe zu erwarten gewesen. Während E. F. im Bereich der katholischen Familienarbeit rasch Kontakte zu politischen Stellen in Ostdeutschland knüpfen konnte, hielt sich die Amtskirche auffällig zurück.72 Die West-Berliner Katholikin beschrieb eine überforderte Kirche, die nur eingeschränkt in der Lage war, mit den vielen neuen, alternativen Angeboten umzugehen. Das führte dazu, dass viele ostdeutsche Kirchenmitglieder und kirchliche Gruppen das Gewohnte oftmals umso vehementer verteidigten.73 Darstellungen, wie die von E. F., deuten darauf hin, welche Rolle oftmals medial geprägte Vorbehalte im Wiedervereinigungsprozess übernahmen und warum sich das Zusammenwachsen von Ost und West derart schwierig gestaltete. Werner Hilse, evangelischer Pfarrer in Berlin-Treptow, machte nach 1990 außerdem die Erfahrung, dass gerade ostdeutsche Gemeindemitglieder ein Engagement für nichtkirchliche Personen ablehnten. Gemeinsam mit Studierenden hatte der Pfarrer in der Ost-Berliner Bekenntnisgemeinde eine Obdachlosenhilfe organisiert, was viele Gemeindemitglieder äußerst kritisch kommentierten. Den Versuch Hilses in Gemeinderäumen ein Kirchenasyl einzurichten, blockierte der Gemeindekirchenrat gänzlich. Hilse erkannte, dass karitative Tätigkeiten in ostdeutschen Gemeinden nicht (mehr) tradiert waren. Die Öffnung der Kirchentüren für Ausreisewillige und Oppositionelle, die der Pfarrer wenige Jahre zuvor erlebt hatte, blieb eine absolute Ausnahme. Nach 1990 machten viele Ostgemeinden hingegen schnell wieder dicht, meinte Hilse. Hintergrund war, in den 1980er-Jahren hatten sich fromme, reaktionäre Kreise zurückgezogen, weil sie die Anwesenheit nichtkirchlicher Gruppen in kirchlichen Räumen ablehnten. Nach dem Mauerfall konnten sie das kirchliche Leben nicht zuletzt aufgrund der massiven Mitgliederverluste wie-

71 Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 12. 72 Vgl. ebenda, S. 19–20. 73 Vgl. ebenda, S. 22. Ein Beispiel dafür ist die Ost-Berliner Akademikerseelsorge. Vgl. Ackermann, Manfred: Die Akademikerseelsorge von 1985–1998, in: Dodt, Christine/Klemp, Manfred (Hrsg.): Das beinahe verpasste Jubiläum. 50 Jahre Kurt-Huber-Kreis. Katholische Akademikerseelsorge in Berlin (Ost), Berlin 2010, S. 54–55. Siehe auch: Schmidt, Renate: Die ersten Jahre nach der Wende: in: Dodt, Christine/Klemp, Manfred (Hrsg.): Das beinahe verpasste Jubiläum. 50 Jahre Kurt-Huber-Kreis. Katholische Akademikerseelsorge in Berlin (Ost), Berlin 2010, S. 59.

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der dominieren. Sie versuchten die Gemeinden vom Rest der Gesellschaft abzuschotten, so wie sie es in der DDR gewohnt gewesen waren.74 Gewohnheiten spielten auch im Fall der Übernahme des westdeutschen Verfahrens zum Kirchensteuereinzug eine Rolle. Diese Entscheidung sorgte für massive Proteste an der ostdeutschen Kirchenbasis. Kirchenmitglieder waren es bis dato gewohnt, ihre Kirchensteuer freiwillig abzugeben. Dass diese fortan zentral von den Finanzämtern eingezogen werden sollte, „wird bei vielen den Anschein erwecken, als ob die Kirche mit staatlicher Hilfe nun wirksamer an das Geld kommen will“, schrieb ein aufgebrachter Leser im November 1990 an die Potsdamer Kirche.75 Er schilderte lange Warteschlangen vor den Standesämtern, weil erboste Kirchenmitglieder aus der Kirche austreten wollten. Die Skepsis gegenüber dem neuen Verfahren begründeten ostdeutsche Kirchenmitglieder damit, dass sie kein Vertrauen in die staatlichen Institutionen hatten, welche die Kirchensteuer einziehen sollten. Selbst Personen der Kirchenleitung empfanden die Einführung des neuen Systems als unglücklich. Manfred Stolpe etwa lehnte eine allgemeine Überprüfung aller Kirchenmitglieder ab und schlug vor, dass die Abgabe weiterhin freiwillig erfolgen sollte. Niemand solle gezwungen werden, evangelisch auf der Lohnsteuerkarte einzutragen. Tatsächlich verfügten die staatlichen Behörden in der DDR ohnehin nicht über ein aktuelles Verzeichnis der Kirchenmitglieder, da die Konfessionszugehörigkeit zuletzt 1964 abgefragt worden war. Doch die westdeutschen Kirchen sowie die Bundesregierung drängten darauf, eine entsprechende Statistik anzulegen. Die ostdeutschen Christen sollten sich entweder zu ihrer Kirchenmitgliedschaft bekennen und Kirchensteuern zahlen oder offiziell aus der Kirche austreten. Einen Mittelweg duldeten sie nicht.76 In der Folge machten gerade ostdeutsche Laienmitglieder die Kirchensteuerfrage für den Mitgliederschwund in ihren Kirchen verantwortlich. Zwar versuchte der Potsdamer Generalsuperintendent, Günter Bransch, mit Blick auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen 1990 zu beruhigen: Die evangelische Kirche verliere durch die Einführung des neuen Verfahrens zwar Mitglieder. Im Gegenzug würden sich aber viele Menschen, die in der DDR aus Angst vor Benachteiligung, ihre Kirchenmitgliedschaft verschwiegen hatten, nun dazu bekennen und die Kirchensteuer fortan zahlen.77 Doch Branschs Darstellung war nicht mehr als eine Momentaufnahme. Die enormen Mitgliederverluste, unter denen die evangelische Kirche genauso wie das Bis-

74 Vgl. Keiner wird abgewiesen, in: Sonntagsblatt 2.5.1997, S. 25. EZA 172/5. Über die Rückkehr zu kirchlichen Traditionen in Ost und West vgl. Le Grand: Gemeindealltag in Ost und West, S. 252– 253. 75 Lange Schlangen vor den Standesämtern. Leserbrief, in: Potsdamer Kirche 4.11.1990, S. 6. 76 Vgl. Frei von Zwang, in: Der SPIEGEL 17.9.1990, S. 170. 77 Vgl. Nur fünf Prozent Mitglieder verloren, in: Potsdamer Kirche 16.12.1990, S. 5.

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tum Berlin in den Folgejahren litt, konnten dadurch nicht abgefangen werden.78 Während in der DDR 1989 circa 12.000 Kirchenaustritte verzeichnet worden waren, wurden 1992 rund 100.000 Austritte in Ostdeutschland gezählt.79 Die ostdeutschen Gemeinden verloren ihre Mitglieder aus diversen Gründen. Zentral war, wie in der evangelischen Gemeinde St. Petri in Luckenwalde, die Migration von Kirchenmitgliedern nach Westdeutschland: Aber bei aller Freude, der Ansturm der verlorenen Gemeindemitglieder bleibt aus. Es gibt außerhalb der Kirche so viele Möglichkeiten sich zu entfalten, dass die Kirche nicht der gewünschte Sammelpunkt war. Auch zogen viele von Luckenwalde aus beruflichen Gründen oder Studium weg oder hatten durch den weiten Weg zur Arbeit weniger Möglichkeiten sich zu engagieren.80

Bereits vier Monate vor der Einführung des neuen Verfahrens zum Kirchensteuereinzug war im Juli 1990 die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion verwirklicht worden, was ebenfalls zu einer Verschärfung der kirchlichen Finanzsituation in Ostdeutschland geführt hatte, da in dem zugrundeliegenden Staatsvertrag keine Sonderregelungen für kirchliche Vermögenswerte vorgesehen waren. Die im Zuge der kirchlichen Hilfsprogramme in die DDR transferierten Geldwerte, die noch nicht ausgegeben worden waren, verloren beim nun folgenden Rücktausch deutlich an Wert. Für sie galt ebenfalls der Umtauschwert 2:1.81 Währungsunion und finanzielle Umstrukturierungen hatten außerdem Auswirkungen auf die Personalpolitik der Kirchen in Ostdeutschland. Eine Angleichung der Löhne an das Westniveau, die schrittweise erfolgen sollte, war nicht ohne Kürzungen zu realisieren. Zunächst einigten sich die evangelischen Landeskirchen darauf, die Löhne der 18.000 kirchlichen Mitarbeiter in der DDR um rund 500 DM im Monat zu erhöhen. 1991 betrug das monatliche Nettogehalt eines ostdeutschen Pfarrers dementsprechend 1300 DM. Die EKD erklärte sich zudem dazu bereit, die ostdeutschen Landeskirchen vorerst weiter finanziell zu unterstützen, allerdings nur unter der Bedingung, „daß die Kirchen in der DDR sich bemühen, ‚ihre Finanzen in Ordnung zu bringen‘.“82 Der kirchliche Finanzreferent in West-Berlin empfand derlei Zurechtweisungen als kontraproduktiv und wirklichkeitsfremd. Die EKD solle sich zu 78 Vgl. Katholisches Pfarramt St. Augustinus (Hrsg.): Festschrift. Zum 75. Weihetag der St. Augustinuskirche am 16. September 2003. 100 Jahre Gemeinde am 25. Oktober 2003, S. 35–36. 79 Vgl. Pollack: Funktionen von Religion, S. 89. 80 Bohmann, Wolfgang: 120 Jahre St. Petri, Vortrag, Luckenwalde 2012, S. 17. 81 Vgl. Keine Sonderregelung für DDR-Kirchen, in: Potsdamer Kirche 22.7.1990, S. 4. Siehe auch: Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 53. 82 Mehr Geld für kirchliche Mitarbeiter, in: Potsdamer Kirche 25.3.1990, S. 2. Siehe auch: Keine Sonderregelung für DDR-Kirchen, in: Potsdamer Kirche 22.7.1990, S. 4. Sowie: Auch Kircheneinheit kostet viel Geld, in: Neue Zeit 7.11.1990, S. 1.

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langfristigen Finanzhilfen bekennen, um zu verhindern, „daß es zu unkontrollierten Abbrüchen in Arbeitsbereichen kommt, oder aus Mangel an Mitarbeitern ganze Landstriche kirchlich veröden.“83 Das Versprechen der Kirchenleitungen, trotz der flächendeckenden Anpassung an das Tarifsystem möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten, ließ sich auf der Basis der verfügbaren Mittel trotz finanzieller Hilfen nicht einlösen. Stellenstreichungen waren die Folge.84 Oftmals waren Personen davon betroffen, deren Berufsabschlüsse in der Bundesrepublik nicht anerkannt wurden. Für viele kirchliche Mitarbeiter, so der Baptist Klaus Pritzkuleit, war nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern vor allem die fehlende Anerkennung der bisherigen Arbeitsleistung eine enorme Belastung, die das Zusammenwachsen der ost- und westdeutschen Kirchen empfindlich störte.85 Diese Ablehnung seitens der westdeutschen Kirchen habe deren Unverständnis für das kirchliche Leben und das politische System in der DDR einmal mehr unter Beweis gestellt. Um die Kritik an seinem beruflichen Werdegang zu entkräften, erklärte Pritzkuleit, dass für bestimmte Berufe eine Qualifikation nach westdeutschem Vorbild nicht möglich gewesen war. Aber seine Darstellung alternativer Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten konnte nicht überzeugen. Im Zuge der Rationalisierungsprozesse der 1990er-Jahre waren die Westdeutschen nicht mehr bereit, solche Spezifika zu berücksichtigen, schilderte Pritzkuleit: Es waren teilweise dieselben Menschen, dir mir vor 1989 bei offiziellen und inoffiziellen Besuchen auf die Schulter klopften und sagten, gut, dass ihr hier bleibt, gut, dass ihr das macht, dass ihr euern Rücken gerade macht in diesem System und was wir tun können für euch, unseren Beitrag von außen leisten können etc. mir einige Jahre später dann gegenüberstanden und sagten, Klaus, tut mir leid, aber wir können dich nicht beschäftigen, du passt in keine Kategorie. […] Dieses, ja wie soll ich sagen, unflexible und unkreative Verhalten und Benehmen, das hat mich lange sehr belastet, viel weniger als die Tatsache, dass ich arbeitslos bin.86

Die Nichtanerkennung ihrer Abschlüsse nahmen kirchliche Mitarbeiter aus Ostdeutschland als Diskriminierung wahr. Am 28. November 1990 riefen „KinderdiakonInnen, FürsorgerInnen, SozialdiakonInnen, Psychatrie- und Wirtschaftsdiako83 Unterschiedliche Regionen, in: Potsdamer Kirche 16.12.1990, S. 8. 84 Vgl. Röder: Die armen Verwandten, S. 21. 85 Das galt in erheblichem Maße auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der katholischen Caritas, deren pädagogische Ausbildungen nach 1990 nicht anerkannt wurden, obwohl sie in den 1980er-Jahren in großem Umfang von bundesdeutschen Referenten fort- und weitergebildet wurden. Vgl. Thiel: Aufgaben und Handlungsspielräume, S. 44–45. 86 Interview mit Klaus Pritzkuleit 2005. OA, ohne Signatur, S. 29. Winter beschrieb in diesem Zusammenhang eine „depressive und enttäuschte Grundstimmung“ unter den kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Osten. Winter: Zeitgeschichtliche Forschung, S. 169.

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nInnen, KatechetInnen, AltenpflegerInnen, ParamentikerInnen, GemeindehelferInnen“ und kirchliche Verwaltungsangestellte deshalb zu einer Demonstration vor dem Roten Rathaus auf.87 Sie forderten die Pfarrer auf, sich mit ihnen zu solidarisieren und für die Anerkennung ihrer Berufe einzutreten. Dabei waren auch ostdeutsche Pfarrer weiterhin von Berufsausübungsverboten betroffen. Zwar war es ihnen ab 1990 möglich ihre Heimatkirche zu verlassen und Pfarrstellen in Westdeutschland zu übernehmen. Doch galt diese von den Landeskirchen getroffene Vereinbarung nicht für Pfarrer, die vor dem Mauerfall aus der DDR und Ost-Berlin ausgereist waren. Sie erhielten ihre Ordinationsrechte nicht automatisch zurück. Die EKD verwies wiederholt darauf, dass diese Personen den kirchlichen Dienst freiwillig verlassen hatten und eine solche Entscheidung nicht leichtfertig rückgängig gemacht werden könne. Im Zweifelsfall sollten Einzelentscheidungen getroffen werden.88 Die Vehemenz, mit der die westdeutschen Kirchen ihr System auf den Osten zu übertragen schienen, empörte und verunsicherte ostdeutsche Gemeindemitglieder aller Konfessionen. Anders als in den Jahren vor 1989 wollten sie im Prozess des Zusammenwachsens dezidiert als Andere behandelt werden. Hinzu kam, so der West-Berliner Wolfgang Lorenz, Mitglied in der Bundesleitung der evangelischen Freikirchen, „dass immer so durch einzelne Voten durchsickerte, wir fühlen uns vereinnahmt.“89 Viele Ostdeutsche standen unter dem Eindruck, sich anpassen zu müssen, wenn sie ihre Position nicht verlieren wollten. Bis dato waren die ostdeutschen Kirchen nur sehr begrenzt in ihrer Funktion als Arbeitgeberinnen in Erscheinung getreten. Eine Anstellung bei der Kirche bedeutete in der Regel, die Beschäftigung bei einer staatlichen Institution zu vermeiden und wurde deswegen häufig mit dem Rückzug in einen Schutzraum, aber auch mit Freiheiten assoziiert.90 Dieses Bild veränderte sich nun rapide, wie S. T. darlegte: „Die Kirche hatte plötzlich ne neue Rolle als Arbeitgeber, der von oben herab seine Leute managt […].“91 Laienmitglieder und kirchliche Angestellte warfen den Kirchenleitungen deshalb vor, kapitalistische Mechanismen unreflektiert zu übernehmen. Umgekehrt nahmen Personen, deren Arbeitsplatz nicht bedroht war, eine kirchliche Anstellung in der Umbruchsphase nach 1989 oft als Privileg wahr. Matthias Kohl schilderte, dass er vor dem Mauerfall immer wieder darauf angesprochen wurde, warum er als Küster und Hausmeister für die Kirche arbeitete, die besonders niedrige Löhne auszahlte. Nach 1990 beneideten ihn dieselben Perso87 Aufruf für eine Demonstration, in: Potsdamer Kirche 25.11.1990, S. 2. 88 Vgl. Nicht automatisch wieder ins Amt, in: Potsdamer Kirche 16.9.1990, S. 2. Siehe auch: Kurz berichtet, in: Potsdamer Kirche 23.9.1990, S. 10. 89 Interview mit Wolfgang Lorenz 2004. OA, ohne Signatur, S. 23. 90 Vgl. Kunter: Erfüllte Hoffnungen, S. 145–147. 91 Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 18.

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nen um seinen sicheren Arbeitsplatz.92 Doch auch dieses Sicherheitsgefühl konnte von den zeitgleich beginnenden innerkirchlichen Reformprozessen überschattet werden, wie im Fall von S. T.: „Dann, ähm, und ich bei einem Arbeitgeber, der diese Wende, joa, ziemlich schadlos übersteht, ja? Der nicht abgewickelt wird, Risiko besteht ja gar nicht. ‚Unterm Krummstab ist gut leben.‘ Ja, dass se dann so’n Manager wurde der gute Arbeitgeber, dat konnte man [1989] nicht ahnen.“93 In der Unzufriedenheit vieler ostdeutscher Kirchenmitglieder und dem beschriebenen Anpassungsdruck schwang der Vorwurf mit, von den Kirchen im Westen bevormundet zu werden. Der Ost-Berliner Katholik C. D. sah darin eine Entschuldigung für das eigene Unvermögen: „Aber da sag ich, uff: Selber schuld. Selbstbewusstsein soll man sich nicht abkaufen lassen, man muss es entwickeln. Es hilft nichts. Man kann nicht erwarten, dass die andern einem das Selbstbewusstsein, äh, stärken oder geben, […]?“94 Der Berliner Generalvikar Johannes Tobei führte die geradezu reflexhafte Zurückweisung innerkirchlicher Reformen im Ostteil des Bistums hingegen auf die jahrzehntelang angeeigneten Verhaltensweisen vieler ostdeutscher Katholiken in der DDR zurück: Die totale Anti-Haltung, die ja in der DDR ihre Berechtigung hatte, prägt aber auch ungewollt bestimmte Züge dieses Gebildes auf das Gegenüber ein. So erklärte ich mir bestimmte Ängste, die gegen den „Staat an sich“ vorhanden sind. Sie basieren m. E. auf Unkenntnis und Unerfahrenheit als auf wirklicher Ablehnung oder Reserve.95

Tobei ging einerseits davon aus, dass Wissenslücken das Zusammenwachsen der Berliner Bistumshälften erschwerten und eine engagierte Aufklärungsarbeit dazu beitragen würde, diese zu schließen. Andererseits verwies der Berliner Generalvikar auf das tradierte Widerstandsnarrativ, um die Reaktionen der Ostdeutschen gegenüber den West-Berlinern zu erklären.

Enttäuschte Erwartungen Während die organisatorischen und institutionellen Wiedervereinigungen trotz aller Hürden und Widersprüche von den Kirchenleitungen entschlossen umgesetzt wurden, blieben die Kirchen innerlich zerrissen:96 Über das Miteinander der evangelischen Gemeinden im vormals geteilten Staaken schrieb Norbert Rauer: 92 93 94 95 96

Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 7–8. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 27. Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 20. Probleme mit der Einheit?, in: St. Hedwigsblatt 16.12.1990, S. 7. Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 44–45.

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„Die Ansprüche und Methoden der West-Gemeinde löste Entsetzen aus und ein völlig anderes Kirchen- und Gemeindeverständnis schien sich darin auszudrücken.“97 Zwar glichen sich viele Alltagsprobleme einander an, aber es war schwierig, diese gemeinsam zu bewältigen. Die Darstellung des Eigenen im Gegensatz zum Anderen wurde genutzt, um die Verantwortung für wahrgenommene Missstände von sich zu weisen. Fehlentwicklungen wurden mit enttäuschten Erwartungen erklärt. Siegfried Rosemann verglich die Beziehung zwischen ost- und westdeutschen Christen nach 1990 mit einer Ehe: Vorher ist man verliebt auf Distanz und jetzt muß man zusammenleben. Das gibt ganz andere Konflikte. Und die Probleme sind aus meiner Sicht einfach auch, daß wir dann plötzlich in unterschiedlicher Wahrnehmung und Prägung merkten, wir sind – wir sind ganz anders gestrickt.98

Was in den 1970er- und 1980er-Jahren positiv konnotiert als besondere Spannung beschrieben wurde, galt nach 1990 als Unvereinbarkeit. Den Ruf nach Normalität assoziierten gerade ostdeutsche Kirchenmitglieder mit Anpassung und Verlust. Bei einem ökumenischen Treffen von Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern aus Ostund West-Berlin berichteten Teilnehmende aus dem Ostteil, von „verdeckten Aggressionen“ und einer „Wut auf Wessis“, die manche Gemeindemitglieder zum Ausdruck brachten.99 Die Westdeutschen „kämen in der Manier von Kolonialoffizieren herüber und träten mit dem Anspruch auf, Unwissende herausführen zu müssen aus ihrer (selbstverschuldeten) Unwissenheit.“100 Das klang mehr nach Okkupation als nach einer gleichberechtigten Wiedervereinigung. Die Teilnehmenden aus West-Berlin betonten im Gegenzug, dass Versuche, auf Gemeindeebene miteinander ins Gespräch zu kommen, immer wieder scheiterten. Vorurteile und Ängste dominierten die Beziehungen und erschwerten das Zusammenwachsen in erheblichem Maße. Es sei, so die West-Berliner, nicht zu unterschätzen wie unterschiedlich Akteure aus Ost und West denselben Gegenstand, dasselbe Ereignis oder dieselbe Entwicklung beurteilten. Was West-Berliner als Initiative beschrieben, interpretierten Kirchenmitglieder in Ost-Berlin als übergriffiges Verhalten.101 Der katholische Bischof Sterzinsky führte diese Gegensätzlichkeit 1991 auf die Unfähigkeit zurück, sich in den jeweils anderen hineinzuversetzen: 97 Rauer: Die kirchlichen Verhältnisse in West-Staaken, S. 172. 98 Interview mit Siegfried Rosemann 2001. OA, ohne Signatur, S. 6. 99 Begegnung mit dem ökumenischen Arbeitskreis der Gemeinden St.-Petri-Luisenstadt/Kirchenkreis Berlin Stadt I, St. Jacobi-Luisenstadt/Kirchenkreis Kreuzberg, St. Thomas, St. Michael-West (röm.-kath.), St. Michael-Ost (röm.-kath.) im Gemeindezentrum der Gemeinde St. Michael-Ost, Michaelkirchplatz 20.9.1990. ELAB 86/542. 100 Ebenda. 101 Vgl. ebenda.

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[…] auch in unserem Bistum haben viele im bisherigen Ostteil den Eindruck, im „Westen“ fühle man sich in einer „Position der Stärke“, was man vor allem aus einem selbstbewußten Auftreten schlußfolgert. Ich weiß, daß diese Haltung oft nicht bewußt und meist auch nicht gewollt ist. Jene aber, die lange genug in der Rolle von Bevormundeten waren, empfinden dies als Arroganz.102

Sterzinsky bat die West-Berliner Katholiken um Geduld mit den Ostdeutschen. Siegfried Rosemann sah in diesen Verständigungsschwierigkeiten vor allem Anzeichen von Überforderung, die nicht ohne die existenziellen Ängste der Menschen im Osten zu verstehen waren. Eine sachliche Diskussion sei auf dieser Grundlage nicht möglich gewesen: „Das waren tiefe Momente – also sehr emotionale Momente – und richtig Frustration – Enttäuschung. […] Hier ging es jetzt an Existenzen ran – Parallelstrukuren waren nicht möglich und jemand mußte so zurückstecken […].“103 Gefühle der Unterlegenheit weckten bei vielen Ostdeutschen den Eindruck, ausgeliefert worden zu sein. Die Westdeutschen besetzten allein deswegen eine entscheidende Machtposition, weil sie nicht existenziell betroffen waren. Rosemanns Überlegungen decken sich mit dem Bericht über eine Ortsbegehung im Berliner Norden. Die durch den Mauerbau getrennten evangelischen Gemeinden Frohnau und Stolpe hatten schon vor 1989 wieder Kontakte zueinander aufgebaut. Nach dem Fall der Mauer registrierten die Pfarrer in Frohnau regelmäßige Gottesdienstbesuche der Brandenburger in ihren Kirchen: „Die Befreiung wird so intensiv erlebt und man ist dankbar für diese.“104 Diese positive Atmosphäre sei jedoch aufgrund der existenziellen Ängste von Kirchenmitgliedern im landwirtschaftlich geprägten Stolpe verloren gegangen. Die Abwicklung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft vor Ort und der drohende Verlust zahlreicher Arbeitsplätze leistete Vorurteilen Vorschub: „Der geldgierige, kapitalistische ‚Wessi‘“ wurde für die Veränderungen verantwortlich gemacht.105Umgekehrt führten die West-Berliner die wahrgenommene Reformverweigerung auf „den leistungsunfähigen, faulen ‚Ossi‘“ zurück.106 Der West-Berliner Baptist Wolfgang Lorenz äußerte sich ähnlich: Während die westdeutschen Kirchenmitglieder eine sachliche Auseinandersetzung suchten, hätten die ostdeutschen Gemeinden um den Verlust ihrer Gemütlichkeit befürchtet.107 102 Sand im Getriebe?, in: Katholische Kirchenzeitung für das Bistum Berlin. Petrusblatt – St. Hedwigsblatt 7.4.1991, S. 3. 103 Interview mit Siegfried Rosemann 2001. OA, ohne Signatur, S. 18. 104 Ortsbegehung, beginnend in Frohnau, Zeltinger Platz, Kirche und Gemeindehaus 19.9.1990. ELAB 86/542. 105 Ebenda. 106 Ebenda. 107 Vgl. Interview mit Wolfgang Lorenz 2004. OA, ohne Signatur, S. 23.

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Oft kam es überhaupt nicht erst zu Annäherungsversuchen. Die beiden Berliner Bistumshälften wurden bei der Vergabe finanzieller Mittel nun erst recht als direkte Konkurrentinnen wahrgenommen. Als das Ordinariat 1991 die Renovierung eines Fußbodens in einem Kreuzberger Pfarrsaal nicht bezuschusste, kommentierte das zuständige Dekanat die Entscheidung: „Alle Gelder gehen in den Ostteil des Bistums.“ Die Katholische Kirchenzeitung für das Bistum Berlin. Petrusblatt – St. Hedwigsblatt ergänzte: „So muß die Gemeinde schweren Herzens das Geld […] selbst aufbringen.“108 Das Ordinariat wurde offenbar verdächtigt, bei der Mittelvergabe politischen Interessen den Vorrang zu geben. Auch im West-Berliner Ortsteil Lichtenrade fiel die Freude über die Grenzöffnung verhalten aus, wie bei einer Begegnung von Vertretern lokaler evangelischer Kirchengemeinden deutlich wurde: Die für viele Lichtenrader durch die Grenzanlage entstandene Idylle ist vorbei. Straßen, Parkplätze und Läden sind voll. Ärger und aggressive Abwehrreaktionen sind nicht zu übersehen. Nicht wenige Lichtenrader hatten im Vertrauen auf die Endgültigkeit der Grenze in unmittelbarer Nähe zur stillgelegten S-Bahn ihre Häuser gebaut. Sie müssen jetzt mit unliebsamen Konsequenzen rechnen.109

Die Lichtenrader hatten sich auf ihrem Teil der Insel West-Berlin gut eingerichtet. Der Mauerfall störte sie in ihrer Ruhe und rief Unzufriedenheit hervor. Dass ihr Rückzugsort für Andere zugänglich wurde, gefiel vielen Gemeindemitgliedern nicht und sorgte für hitzige Diskussionen. Dabei ging es in erster Linie nicht um Fragen, die das kirchliche Leben betrafen, sondern um die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung. Die Teilnehmenden an dem Begegnungstreffen im Süden Berlins schilderten Gefühle der Ermüdung und Ernüchterung: „Es zeigte sich, daß jeder mit sich selbst zu tun habe.“110 Die Weitergabe kirchlicher Traditionen war vor diesem Hintergrund ebenfalls schwierig. E. F. erinnerte sich daran, dass die Familienwallfahrt nach Alt-Buchhorst in Ost-Berlin sehr populär war. West-Berliner Katholiken wollten nach dem Mauerfall ebenfalls daran teilnehmen. Die Wallfahrt sollte als symbolisches Ereignis im Kirchenjahr des wiedervereinten Bistums etabliert werden: Es ist nie gelungen. […] die Westler, die da jetzt dazu kamen, […] viele davon sind einmal hingefahren und denn aber nicht mehr, weil sie gesagt haben: „Hmm, irgendwie gehör’ ich 108 Aus den Berliner Stadtdekanaten, in: Katholische Kirchenzeitung für das Bistum Berlin. Petrusblatt – St. Hedwigsblatt 17.2.1991, S. 12. 109 Begegnung mit Vertreterinnen und Vertretern der Kirchengemeinden Mahlow/Kirchenkreis Teltow und Lichtenrade/Kirchenkreis Tempelhof im Gemeindehaus Goltzstraße 33 17.9.1990. ELAB 86/542. 110 Ebenda.

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nicht zu.“ Und es war auch nicht so organisiert, also vielleicht von den Organisatoren aber nicht von den Menschen her, dass sie jetzt die Westler mit offenen Armen auf ihre Decken gebeten hätten, ja?111

Von der Kirchenleitung fühlten sich die Gemeindemitglieder zusätzlich unter Druck gesetzt. Deren Drängen darauf eine besondere Nähe zwischen den Ost- und Westgemeinden herzustellen, wurde zunehmend als idealisiertes Wunschdenken bezeichnet und als Belastung empfunden: „Es wäre [daher] nur natürlich, wenn sich die Beziehungen der Nachbargemeinden diesseits wie jenseits ‚normalisierten‘,“ hielt ein Begegnungsbericht fest. 112 „Natürlich“ meinte in diesem Zusammenhang, dass „man sich keine Illusionen machen solle. Auch zwischen benachbarten Gemeinden desselben Kirchenkreises seien die Beziehungen normalerweise locker.“113Die übersteigerten Ansprüche, denen sich die Gemeinden zu Beginn der 1990er-Jahre ausgesetzt sahen, erschwerten demnach das Zusammenwachsen von Ost und West zusätzlich. Oder anders: Die Bereitschaft und das Interesse am gegenseitigen Kennenlernen sowie die damit verknüpfte Auseinandersetzung mit gewachsenen Unterschieden war auf der Gemeindeebene möglicherweise nicht in dem Ausmaß gegeben, wie von den Kirchenleitungen suggeriert. Peter Maser bilanziert: „Die innere Entfremdung zwischen den Kirchen im geteilten Deutschland war zum Schluss wohl doch größer, als manche kirchenleitende und synodale Lyrik erkennen ließ.“114 Während auf der Gemeindeebene der beidseitig beschriebene Zustand einer Überforderung vorherrschte – Überforderung durch Unwissenheit, Überforderung durch Veränderung usw. – fallen mit Blick auf die kirchlichen Mitarbeiter in Ostdeutschland Begriffe wie Bevormundung, Frustration und Demütigung auf. Vor 1990 wurden Fort- oder Weiterbildungen in kirchlichen Einrichtungen in der DDR, die von westdeutschen Referenten geleitet wurden, oft als Bereicherung beschrieben. Im diametralen Gegensatz dazu liest sich die Mehrzahl der ostdeutschen Erinnerungen an solche Schulungen nach dem Mauerfall. Die Beiträge der Fachleute aus Westdeutschland wurden nicht mehr als Erkenntnisgewinn dargestellt. Stattdessen erinnerten ostdeutsche Angestellte wie Walli Schmidtmann, die als Diakonische Schwester in der DDR gearbeitet hatte, das aus ihrer Sicht arrogante Auftreten der Referenten: „Wir hatten da einen Mann aus Westdeutschland, so einen ganz jungen […] Und der hat ganz frech gesagt, wir sollten erst einmal 111 Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 9–10. 112 Begegnung mit Vertreterinnen und Vertretern der Kirchengemeinden Mahlow/Kirchenkreis Teltow und Lichtenrade/Kirchenkreis Tempelhof im Gemeindehaus Goltzstraße 33 17.9.1990. ELAB 86/542. 113 Ebenda. 114 Maser: Die evangelischen Kirchen, S. 19.

6.1 Der Blick nach vorn: das zögerliche Zusammenwachsen von Ost und West



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Vokabeln lernen, was […] Sozialarbeiter ist.“115 Darüber hinaus habe der Redner es, darauf deutet ihr Verweis auf sein junges Alter hin, am nötigen Respekt gegenüber älteren und damit wohl erfahreneren Personen fehlen lassen. Zusammengenommen waren all diese Punkte für Walli Schmidtmann Belege einer „massiven Kränkung“.116 Siegfried Rosemann, der als baptistischer Jugendpastor tätig gewesen war, hatte ebenfalls den Eindruck, dass seine Expertise von westdeutschen Kollegen als wertlos angesehen wurde. Er sei als ostdeutscher Pfarrer stigmatisiert worden: „Und das hat mich wieder frustriert. Plötzlich [1990] diese Zurückhaltung – weißte – jahrelang herzliches Einvernehmen und jetzt wo es um das gemeinsame Nachdenken geht – kam es bei uns an – daß Ängste signalisiert wurden.“117 Rosemann fühlte sich dabei offenbar nicht nur in der Gegenwart diskriminiert, er hegte außerdem Zweifel daran, wie ernst gemeint das immer wieder bekundete Interesse der Westdeutschen an der kirchlichen Arbeit in der DDR tatsächlich gewesen war. Basierend auf diesen Erfahrungen wollte er nicht von einer Zusammenarbeit nach dem Mauerfall sprechen. Das Jugendwerk der evangelischen Freikirchen in der DDR sei vom westdeutschen Jugendwerk de facto übernommen worden. Fortan hätten die westdeutschen Diskurse auch die Jugendarbeit der Freikirchen in Ostdeutschland bestimmt.118 Für Rosemann ein Indiz dafür, dass die weiterhin bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West einfach ignoriert wurden. Beim Reflektieren darüber sprach Rosemann letztlich nicht mehr nur über die Probleme in der gesamtdeutschen Jugendarbeit, sondern brachte auch sein eigenes, unerfülltes Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Zugehörigkeit in den Jahren nach 1990 zum Ausdruck: Wenn du in der DDR deine Entscheidung getroffen hast als Christ zu leben und du hast es konsequent gemacht – war ne Weiche gestellt für dich und manches wurde einfacher – das heißt schwarz-weiß war viel klarer zu unterscheiden. Hier [in der Bundesrepublik] gibt’s das Schwarz-Weiß in dem Gegensatz viel weniger und es gibt viel mehr Mischtöne und Grau und das macht [es] schwieriger – aus meiner Sicht – um Profil zu gewinnen – alternativ zu sein.119

Ob Rosemann die Situation der Kirchenmitglieder in der DDR vor dem Mauerfall ähnlich geschildert hätte, ist Spekulation. Nach 1989 schien seine Deutung für viele ostdeutsche Gemeindemitglieder konsensfähig zu sein. Rosemann kam zu dem

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Interview mit Walli Schmidtmann 2008. OA, ohne Signatur, S. 12. Ebenda. Interview mit Siegfried Rosemann 2001. OA, ohne Signatur, S. 18. Vgl. ebenda, S. 20. Ebenda, S. 22.

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Kapitel 6: Religiöse Gemeinschaften und die deutsche Einheit

Schluss, dass „jede Gesellschaft den Glauben mitprägt.“120 Im Gegensatz zu Rosemann, der den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Glauben betonte, begegneten die Kirchenleitungen solchen Überlegungen sehr ambivalent. Sie wollten den Eindruck vermeiden, dass sich die Kirchen in der DDR mit dem Staat gemein gemacht hätten und hielten deswegen an einer Darstellung fest, die sie als Gegenüber zur staatlichen Macht auswies. Diese Identität in Frage zu stellen, konnte nach 1990 auch nicht im Interesse der ostdeutschen Kirchenbasis sein, meinten die Kirchenleitenden. Denn die eigene Position neu zu bestimmen, wurde als Anstrengung empfunden, gerade wenn unbequeme Ergebnisse drohten, die wiederum legitimiert werden mussten.121 Eine Gegenperspektive zu Rosemann nahm der West-Berliner Baptist Wolfgang Lorenz ein. Er deutete die Reaktionen der Ostdeutschen auf die Vorschläge der Westdeutschen als Unsicherheit. Der schnelle Zusammenschluss der Kirchenbünde habe dieses Gefühl noch verstärkt. Die Ost-Gemeinden entfremdeten sich von ihren Leitungsgremien und gerieten dabei in eine Identitätskrise, weil sie sich nicht länger zugehörig fühlten:122 Der Vorwurf, dass der Westen, […], doch mehr oder weniger die Ostarbeit absorbiert und mit seinen Erfahrungen überhäuft hat und bestimmt hat, ist aus meiner Sicht und meinen Erfahrungen der Mitarbeit so jedenfalls generell nicht aufrecht zu erhalten. Es war mein Bemühen, es war unser Bemühen, so viel wie möglich an identitätsstiftenden Aufgabenbereichen, Orten des ehemaligen DDR-Bundes zu erhalten, zu fördern, weiter zu führen.123

Auf das Scheitern einer als gerecht empfundenen Aufgabenteilung antworteten Teile der ostdeutschen Kirchenbasis mit einer fundamentalen Hierarchiekritik. Diese richtete sich nicht nur gegen die westdeutschen Kirchenleitungen, sondern inkludierte die eigene Führungsspitze: „[…] das Gefühl ‚die da oben – die da unten‘, das hat sich entwickelt seit der Wende,“ konstatierte der Ost-Berliner S. T..124 Das Miteinander in den Kirchen in der DDR wurde als unkompliziert dargestellt und nachträglich verklärt. In die beschriebene Identitätskrise spielte die Angst vor dem Verlust eigener Traditionen und Grundsätze hinein. Im Dezember 1990 kündigte der Landeskirchenmusikdirektor für die Ostregion der EKiBB, Gottfried Weigle, an, dass die Landeskirchenmusiktage im Folgejahr ausfielen. „In einem Rundschreiben nannte Weigle die ‚veränderte politische Situation‘, die wirtschaftliche Lage, leere Kirchen

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Ebenda. Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 469. Vgl. Interview mit Wolfgang Lorenz 2004. OA, ohne Signatur, S. 18. Ebenda, S. 18–19. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 18.

6.1 Der Blick nach vorn: das zögerliche Zusammenwachsen von Ost und West



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und Arbeitslosigkeit als Gründe.“125 Den Wegfall dieser kirchenmusikalischen Tradition führte Weigle somit auf einen Zustand des Ausgeliefertseins zurück. Er habe den systemabhängigen Fremdzwängen aktiv nichts entgegensetzen können. In ähnlicher Weise sprach der Ost-Berliner Katholik Kohl über seine Befürchtung, „dass […] die Sache verweltlicht. Was wir hier über die DDR-Zeit gerettet haben, unsern Glauben, wie wir ihn gelebt haben.“126 Verbunden damit waren, neben dem Wissen um die Unterschiede, Vorurteile, die ostdeutsche Kirchenmitglieder gegenüber westlichen Praktiken hatten: „Wenn man hier nen Kreis hatte, ging’s schon um Glauben, um Kirche, um ganz spezifische Themen. Und dort [im Westen] waren irgendwelche Sportkreise und so weiter. Das war für uns auch total neu, ja? Wir waren froh, dass wir unseren Glauben leben konnten…“127 Zwar interessierte sich auch Kohl durchaus für die neuen Angebote, gleichzeitig wollte er aber die eigene, in Ost-Berlin gelebte Religiosität nicht verraten. Für ihn bedeutete das einen ständigen Balanceakt.128 Zudem waren es die Gemeinden in der DDR nicht gewohnt, sich andauernd mit neuen Menschen und neuen Handlungsoptionen auseinanderzusetzen. Matthias Kohl stellte heraus, dass westdeutsche Kirchenmitglieder per se als Andere galten. 129 Er sah darin ein historisch gewachsenes Problem: Alles Andere sei in den ostdeutschen Gemeinden tendenziell als eine Gefährdung des Eigenen wahrgenommen worden. Und dieses Eigene habe es auch nach 1990 zu verteidigen gegolten. In Identitätsfragen rückten die ostdeutschen Kirchenmitglieder nach dem Mauerfall noch einmal deutlich näher an die restliche DDR-Gesellschaft heran. Diese und die Gemeinschaft der Kirchenmitglieder in der DDR wurden rückblickend oft mit denselben Attributen charakterisiert. Anhand von S.Ts. Schilderung der Gemeindefusionen lässt sich das zeigen: „Es sind zwei völlig verschiedene Menschenschläge gewesen, die da plötzlich wieder zusammen-, äh, geschmissen wurden, fusioniert wurden sozusagen, ja? Das ist ne Ellenbogengesellschaft und ne Gesellschaft die auf Grund ihrer inneren Notlage Hand in Hand arbeitete.“130 Passend dazu führte Weihbischof Weider die Probleme beim Zusammenwachsen der Gemeinden auch auf die unterschiedliche Sozialisation der Kirchenmitglieder in Ost und West zurück.131 Dass die mentalen Unterschiede derart schwer wogen, setzten Zeitgenossen oft in einen Zusammenhang mit dem Tempo, in dem sich der Wandel vollzog. Die 125 126 127 128 129 130 131

Landeskirchenmusiktage fallen 1991 aus, in: Potsdamer Kirche 16.12.1990, S. 5. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 22. Ebenda. Vgl. ebenda. Ebenda. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 27. Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 469. Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 9.

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schnelle Abfolge der Entscheidungen ermöglichte es kaum, einzelne Schritte abzuwägen.132 Die Wiedervereinigungen – nationale wie kirchliche – seien zuerst inszeniert und viel später tatsächlich vollzogen worden: Meine Gedanken, Eindrücke und Gefühle schwanken zwischen Freude, Traurigkeit und Scham bis Zorn über das Schauspiel, das sich uns im Fernsehen bietet. […] Die Arroganz der Vertreter des Kapitals widert mich an und beschämt mich… Freiheit/Gleichheit/Brüderlichkeit (Schwesterlichkeit) verkommt zu dem Dreiklang „Jetzt kommen wir – Wir zeigen euch, wo es lang geht – Wehe ihr wollte nicht, wie der neue große Bruder!“133

Dieses Zitat aus der Potsdamer Kirche lässt keinen Zweifel daran, dass auch nach dem Mauerfall tiefe Gräben zwischen Ost und West verliefen. Auf der Basis der wiederkehrenden Kritik an Managertum, Kapitalismus und Konsumgesellschaft manifestierte sich die Vorstellung einer anderen, mutmaßlich sogar besseren Gesellschaft in Ostdeutschland, die durch westliche Versuchungen Schaden zu nehmen drohte. Die wenigsten Ostdeutschen konnten sich in ihrer Kritik am westdeutschen System vorstellen, dass Westdeutsche dem Mauerfall und seinen Folgen möglicherweise gar nicht dieselbe Bedeutung beimaßen wie sie selbst. Ostdeutsche tendierten dazu, Desinteresse oder Indifferenz grundlegend als Abwertung zu interpretieren, während Westdeutsche eben diese Indifferenz eher als Toleranz und Nicht-Einmischen-Wollen ins private Leben Anderer interpretierten, mithin also als gelebte Liberalität. Diese unterschiedlichen Sichtweisen prägten die Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen in den Folgejahren wesentlich.134

Fallbeispiel Gemeindepartnerschaften Kirchliche Reaktionen auf den Mauerfall und die Wiedervereinigungen lassen sich am Beispiel der Gemeindepartnerschaften aufzeigen. Der Großteil der Partnerschaften zerbrach in den Jahren nach 1990: Was kann daraus geschlossen werden, dass sich viele Partnergemeinden nach der sogenannten Wiedervereinigung trennten?135 Den Mauerfall begrüßten auch viele Partnergemeinden mit großer Freude. Die neu gewonnene Reisefreiheit der Ostdeutschen sorgte kurzzeitig für eine Belebung der Beziehungen. Eine Vielzahl von Spontanbesuchen ostdeutscher Kirchenmitglieder – Individual- wie Gruppenreisen – bei ihren Partnergemeinden in 132 Vgl. Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 207. Siehe auch: Jessen: Massenprotest, S. 167–168. Und: Kowalczuk: Endspiel, S. 459. 133 Liebe Leserinnen und Leser! Die Stimmung schlägt um!, in: Potsdamer Kirche 4.3.1990, S. 2. 134 Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 463. 135 Vgl. Kunter: Erfüllte Hoffnungen, S. 258–261.

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West-Berlin und der Bundesrepublik ist für den Winter 1990 belegt. 136 Doch brach diese Bewegung bald ab. Der erhoffte Mitgliederzuwachs in Ostdeutschland blieb nach der Wiedervereinigung aus. Kirchliche Aktivitäten mussten sich, ähnlich wie in den Nachkriegsjahren, in der Konkurrenz mit alternativen Freizeitmöglichkeiten behaupten. Dieses Vorhaben misslang häufig, wie auch westdeutsche Gemeindemitglieder feststellten.137 Die in die Höhe geschnellten Teilnehmerzahlen bei den Begegnungstreffen waren deshalb bald wieder rückläufig. Die Migrationsbewegungen in vielen ostdeutschen Gemeinden führten zudem dazu, dass personelle Kontinuitäten abbrachen. Nachwuchs fand sich oft nicht. Neue Pfarrer und wechselnde Gemeindemitglieder interessierten sich häufig nicht für alte Gemeindepartnerschaften.138 Schließlich trug die neue Reisefreiheit dazu bei, dass das Interesse ostdeutscher Kirchenmitglieder an ihren westdeutschen Partnergemeinden merklich nachließ. Während die Partnergemeinden in den Jahren vor 1989 einen exklusiven Kontakt für viele Ostgemeinden darstellten, stand diesen nun eine Vielzahl neuer Reiseziele offen. Der Ost-Berliner Katholik S. T. erklärte: Der Mauerfall „war so irgendwie der Schlusspunkt auch, weil die Globalität hat Einkehr gehalten und man, hm, brauchte die Patenschaft [sic!] nicht mehr. Man hat sich bedankt: Das war ne total schöne Sache.“139 Die westdeutschen Gemeinden reagierten irritiert darauf, dass sich die Ostdeutschen von ihnen abwendeten. Erklärungen wie die von S. T. wollten sie nicht akzeptieren. Sie bewerteten das Verhalten der Ostdeutschen als einen Ausdruck von Undankbarkeit für die geleisteten Hilfen in den vergangenen Jahrzehnten: „Auf überwiesene Gelder kam kein Dank, bezw. mußte quasi abgepreßt werden,“ konstatierte die baden-württembergische Partnergemeinde von Hennickendorf, östlich von Berlin.140 Die Auferstehungsgemeinde in Heidelberg bemerkte das „Desinteresse der Ostgemeinde [im brandenburgischen Dallmin], die keine Melkkuh mehr brauchte.“141 Zwar sprachen die Partnergemeinden in der Regel nicht offen darüber, gemeindeintern äußerten viele westdeutsche Kirchenmitglieder aber sehr wohl, dass sie im Verhalten der ostdeutschen Partner eine enorme Belastung für die bestehenden Beziehungen sahen. Löwenbrück, damals Pfarrer in Kirn, beschrieb den Zwiespalt, in dem sich viele seiner Gemeindemitglieder mit Blick auf die Brandenburger Partnergemeinde befanden: „Die Lucken-

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Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 19. Siehe auch: Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 11. Vgl. Fragebögen EZA 172/10. Siehe auch: Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 23–24. Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 24. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 21. Fragebögen. EZA 172/10. Ebenda.

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walder fuhren [jetzt] nach Schweden, statt nach Kirn. […] Das hat an der Ehre gekratzt. [Aber] man hat das nicht sagen können, man konnte das ja verstehen.“142 Die Partnerschaften waren immer auch Patenschaften geblieben. Dass sich die Ostdeutschen nun umorientierten, kränkte die westdeutschen Partner und ließ die Verhältnisse „sinnentleert“ erscheinen, so Löwenbrück.143 Dabei liegt es nahe, dass das Abkühlen der Beziehungen in einem Zusammenhang mit jenen Bildern stand, die die Westdeutschen nach wie vor auf die Ostgemeinden projizierten. Jürgen Schwark, Pfarrer in Recklinghausen, befand: „Die Kirchen im Osten sind ja irgendwie immer noch die armen Brüder und Schwestern, denen man ein bißchen unter die Arme greifen muß.“144 Diese fortwährende Betonung der Hilfsbedürftigkeit und damit einhergehend der Defizite sowie der Unterschiede zwischen Ost und West wurde in vielen Ostgemeinden nicht als Motivation, sondern als Arroganz und Herabwürdigung interpretiert. Eine solche Darstellung entsprach nicht der erhofften Außenwahrnehmung beziehungsweise dem eigenen Selbstbild. A. R. stellte klar: „Hilfe war jetzt nicht mehr so notwendig.“145 Die fehlende Kommunikation über diese unterschiedlichen Wahrnehmungen, das Unvermögen miteinander ins Gespräch zu kommen, erschwerte es letztlich, Missverständnisse auszuräumen und die Brüche in den Beziehungen wieder zu kitten. Umgekehrt verbreitete sich in ostdeutschen Gemeinden die Auffassung, dass es die Westdeutschen waren, die sich aus den Beziehungen herauszogen. Weil sich das kirchliche Leben in Ost und West auf Dauer immer mehr angleiche, hätten die ostdeutschen Gemeindemitglieder ihre Anziehungskraft als exotische Andere verloren. Die evangelische Kirchengemeinde in Zehlendorf-Schönow (West-Berlin) machte eine ähnliche Beobachtung: „Der Alltag hat uns eingeholt. Gewiß bestehen die Beziehungen [zur Partnergemeinde im brandenburgischen Teltow] noch, indem Gemeindemitglieder Gottesdienste, musikalische oder andere Veranstaltungen der Partnergemeinde besuchen. Aber genauso verhält es sich eben auch mit den anderen Nachbargemeinden.“146 Damit wurden nicht die bestehenden Unterschiede, sondern die wahrgenommenen Gemeinsamkeiten als Ursache für das Auseinanderbrechen der Beziehungen genannt. Für diesen Ansatz sprach außer-

142 Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 2–3. Siehe auch: Fragebögen. EZA 172/10. Sowie: Fragebögen. EZA 172/11. 143 Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, S. 4. 144 Keiner wird abgewiesen, in: Sonntagsblatt 2.5.1997, S. 25. EZA 172/5. 145 Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 23. Siehe auch: Begegnung mit dem ökumenischen Arbeitskreis der Gemeinden St.-Petri-Luisenstadt/Kirchenkreis Berlin Stadt I, St. Jacobi-Luisenstadt/Kirchenkreis Kreuzberg, St. Thomas, St. Michael-West (röm.-kath.), St. Michael-Ost (röm.-kath.) im Gemeindezentrum der Gemeinde St. Michael-Ost, Michaelkirchplatz 20.9.1990. ELAB 86/542. 146 Fragebögen. EZA 172/13. Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 23.

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dem, dass zur selben Zeit der Aufbau von Partnerschaften mit Gemeinden in Drittstaaten forciert wurde.147 Wie bereits erwähnt sahen ostdeutsche Gemeindemitglieder vor allem in der Rolle als Hilfsempfänger eine Herabwürdigung. Diese Charakterisierung verdeutlichte, dass es sich bei Paten- wie Partnerschaften immer auch um Abhängigkeitsverhältnisse handelte und die westdeutschen Gemeinden scheinbar kein Interesse an einem gleichberechtigten Verhältnis hatten. In West-Berlin reagierten Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter empfindlich auf solche Beschreibungen: Sie „hielten entgegen, daß man eine Form der Partnerschaft, die sich im Wesentlichen auf Gruppenreisen mit touristischem Charakter und damit verbundenen Geschenkaktionen beschränkte, entschieden abgelehnt hätte. Man habe politisch ins Gespräch kommen wollen, Brücken bauen wollen, durch politische Verständigung.“148 Die Melanchthongemeinde im westdeutschen Lahr erinnerte außerdem daran, dass die „letzten Kontakte“ zu ihrer Partnergemeinde im brandenburgischen Brunn, einem Ortsteil von Wusterhausen/Dosse, „von der Forderung nach einem Auto für den Pfarrer geprägt waren.“149 Offenbar waren sich die Kirchenmitglieder in Ost und West uneinig darüber, wer die Ausgestaltung und davon abgeleitet den Sinn der Beziehungen geprägt hatte. Generell auffällig sind die Kontraste und Brüche in den Beschreibungen. Die in den Jahren vor 1989 geschilderte Ungleichheit wog im Vergleich zu den Jahren nach 1990 sehr viel leichter. Statt den Problemen wurde das harmonische Miteinander der Partnergemeinden vor dem Mauerfall betont. Erst danach habe sich eine „gegenseitige Fremdheit“ Bann gebrochen und „die neuen Bundesländer waren gefühlsmäßig weiter weg als zu Zeiten der Grenze.“150 Auf der Basis dieser oftmals von Vorwürfen geprägten Atmosphäre war es schwierig, stabile Beziehungen aufrechtzuerhalten. Die meisten Partnergemeinden trennten sich in den frühen 1990er-Jahren. In vielen Fällen, wie zwischen den Gemeinden Rheinsberg (Brandenburg) und Walldorf (Baden-Württemberg), wurde das Ende der Partnerschaft nicht einmal mehr offen kommuniziert.151 Die Kontakte brachen wortlos ab. Andere Gemeinden einigten sich darauf, die Partner-

147 Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 23. Siehe auch: Fragebögen. EZA 172/10. Sowie: Gemeinde soll Schwerpunkt sein, in: Potsdamer Kirche 4.11.1990, S. 4. 148 Begegnung mit dem ökumenischen Arbeitskreis der Gemeinden St.-Petri-Luisenstadt/Kirchenkreis Berlin Stadt I, St. Jacobi-Luisenstadt/Kirchenkreis Kreuzberg, St. Thomas, St. MichaelWest (röm.-kath.), St. Michael-Ost (röm.-kath.) im Gemeindezentrum der Gemeinde St. MichaelOst, Michaelkirchplatz 20.9.1990. ELAB 86/542. 149 Fragebögen. EZA 172/10. 150 Ebenda. Vgl. Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften, S. 206. 151 Vgl. Fragebögen. EZA 172/10.

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schaft mit einem Festakt offiziell zu beenden.152 Manchenorts entwickelte sich aus der Gemeindepartnerschaft eine Städtepartnerschaft, wodurch die Akzentverschiebung in den Beziehungen, also der Verlust des kirchlichen Profils, deutlich zum Ausdruck kam.153 Schließlich gelang es wenigen Gemeinden die Partnerschaften fortzuführen. Die evangelische Gemeinde Michendorf und die Melanchthongemeinde in Pforzheim oder die Gemeinden Ahrensfelde/Mehrow und Britzingen pflegen bis in die Gegenwart partnerschaftliche Beziehungen. Im Zeitverlauf hat sich an ihren Praktiken wenig geändert. Begegnungstreffen, gemeinsame Gottesdienste und gegenseitige Fürbitten gehören nach wie vor zu den zentralen Elementen ihrer Beziehungen.154 Dieses Panorama zeigt, dass es viele Möglichkeiten gibt, 1989 und die Folgejahre zu beschreiben. Der Begriff Wende trifft es aber sicher nicht.

6.2 Der Blick zurück: die Last des Vergangenen Die Spuren der Vergangenheit waren überall. Einen angemessenen Umgang mit ihnen zu finden, stellte die Kirchenmitglieder vor enorme Herausforderungen. Mit dem Fall der Mauer begann die Suche nach Schuldigen und mit ihr einher ging die Frage, wer die Urteile über sie sprechen sollte. Während die einen nach Versöhnung riefen, plädierten die anderen für eine Bestrafung, wobei in vielen Fällen der Grund für die Anklage auffällig diffus blieb: Hatte sich, wer Kontakte zum MfS unterhalten hatte, automatisch schuldig gemacht? Wie groß war das Bedürfnis nach Aufarbeitung in den Kirchen? Welche Schritte unternahmen die Kirchenleitungen? Wie wurden diese an der Basis diskutiert? Und wie passte der Ruf nach Aufklärung zu den kirchlichen Selbstbildern?

Die Schuldfrage Dass jüngere Ereignisse auf die Deutung zurückliegender Entwicklungen Einfluss nehmen, ist banal. Auch nach dem Mauerfall baute sich eine Druckwelle auf, die die Kirchen in Ostdeutschland dazu zwang, ihre Narrative zu überdenken und den neuen Gegebenheiten anzupassen. Eng damit verknüpft war die Frage nach

152 153 dorf 154

Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 24. Beispiele sind Trebbin und Weil am Rhein oder die Partnerschaft zwischen Hohen Neuenund Müllheim. Vgl. Interview mit A. R. 21.1.2016, S. 28–29. Sowie: Fragebögen. EZA 172/10. Vgl. Fragebögen. EZA 172/13.

6.2 Der Blick zurück: die Last des Vergangenen



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Schuld und Mitverantwortung, die insbesondere westdeutsche Kirchenmitglieder unmittelbar nach dem 9. November 1989 stellten, erinnerte sich Wolfgang Lorenz: Eine markante Situation, an die ich mich erinnere, war und das in einer gewissen Peinlichkeit, dass von westlicher Seite sofort die Frage der Schuld auftauchte, ob es beispielsweise an der Zeit sei auch über die begangenen Verbrechen der DDR-Regierung… […] Ich erinnere mich daran, dass die Bundesleitung DDR fast schockiert war, dass diese Frage nach der Schuld und dem Schuldbekenntnis sofort in der ersten Zusammenkunft auftauchte. Begründet wurde diese Fragestellung […] mit der Erfahrung, die wir als Deutscher Bund insgesamt mit der verdrängten Vergangenheit des NS-Regimes gemacht hatten […].155

„Mit Unmut“, schrieb der Ost-Berliner Propst Friedrich Winter, „nahmen viele kirchliche Mitarbeiter im Osten den Vorwurf falscher Anpassung bzw. der Kumpanei mit dem Staat im Osten auf.“156 Der Jurist und Kirchenanwalt Reymar von Wedel sprach vor allem der westdeutschen Presse in diesem Zusammenhang ein schlechtes Zeugnis aus. Von Wedel meinte, viele Zeitungen berichteten tendenziös und ließen sich zu unpassenden Vergleichen hinreißen. Die Kontakte kirchlicher Mitarbeiter zu staatlichen Stellen in der DDR könnten nicht einfach mit der Bereitschaft ostdeutscher Sportler, an Dopingprogrammen teilzunehmen, verglichen werden.157 Das Ost-Berliner St. Hedwigsblatt stellte in einem Interview mit dem Berliner Bischof Sterzinsky ebenfalls fest, dass „es in manchen westlichen Medien […] ein Interesse daran gibt, die katholische Kirche als ‚mitverantwortlich‘ für die Zustände in dem Staat DDR […] zu erklären.“158 Tatsächlich zogen vor allem westdeutsche Akteure Parallelen zwischen dem Kriegsende 1945 und dem Mauerfall 1989. Die Kirchenleitungen in der Bundesrepublik wollten es offenbar vermeiden, erneut in den Ruf zu kommen, nachsichtig oder zögerlich zu agieren. Problematisch daran war, dass die Schuldfrage gänzlich in den Verantwortungsbereich der ostdeutschen Kirchen übertragen wurde, die Debatte darüber aber von den westdeutschen Kirchen angeregt und dominiert wurde. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der westdeutschen Kirchen im Kalten Krieg etwa erschien in diesem Kontext völlig nebensächlich. Dieses Ungleichgewicht prägte die Folgejahre. Wenig überraschend konstatierte das St. Hedwigsblatt: „Katholische Christen, die zusammen mit ihren Bischöfen und Priestern in dieser Zeit das praktiziert haben, was man als ‚passiven Widerstand‘ bezeichnet, und die dafür Zurücksetzung und Diskriminierung in Kauf 155 Interview mit Wolfgang Lorenz 2004. OA, ohne Signatur, S. 16–17. 156 Winter: Zeitgeschichtliche Forschung, S. 169. 157 Vgl. Wedel, Reymar von: Als Kirchenanwalt durch die Mauer. Erinnerungen eines Zeitzeugen, Berlin 1994, S. 139. 158 Bischof Georg Sterzinsky: „Wo soviel Hoffnung ist, da möchte man doch dabeisein!“, in: St. Hedwigsblatt 11.3.1990, S. 3.

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genommen haben, finden diese Versuche [der Schuldzuweisung] empörend.“159 Der Berliner Bischof Sterzinsky konnte diese Empfindung nachvollziehen. Er beanstandete, dass die von den Westdeutschen angeregte Schulddebatte verkürzt war und einmal mehr das Nichtwissen der Anklageführenden über das politische System in der DDR entlarvte: „Es ärgert mich aber, daß sich manche heute anscheinend nicht mehr in die bedrückende Lage, die noch vor einem Jahr herrschte, hineindenken können und so reden, als wäre offener Widerstand eine Sache des menschlichen Anstands gewesen.“160 Für den Bischof stand außerdem fest, dass sich die katholische Kirche in der DDR nichts zu Schaden kommen ließ: „Wir haben immer nein zum Sozialismus und nein zur ‚Kirche im Sozialismus‘ gesagt und wir haben nein gesagt zu Bemühungen um eine Verbesserung des Sozialismus. Wir wollten den Sozialismus abschaffen.“161 Einzig in den Jahren 1988 und 1989 habe der Episkopat geirrt. Die katholische Kirche hätte die Proteste gegen die SEDRegierung entschiedener unterstützen sollen. In Sterzinskys Ausführungen kristallisierten sich zwei Positionen heraus, die den Umgang mit der Geschichte der Kirchen in der DDR, letztlich mit der Geschichte der DDR allgemein, in den folgenden Jahrzehnten prägten: Erstens: Wer nicht aktiv Widerstand geleistet hatte, hatte sich schuldig gemacht. Zweitens: Wer Widerstand geleistet hatte, war frei von Schuld. Dieser Dualismus, der nur Opfer und Täter kannte, war nicht nur stark vereinfacht, er kam auch ohne weitere Erklärungen aus und ermöglichte es daher nicht, unterschiedliche, widersprüchliche Wirklichkeiten abzubilden. Denn die Mehrheit der Kirchenmitglieder in Ostdeutschland ließ sich weder der einen noch der anderen Seite eindeutig zuordnen: Wer anders war, konnte sich trotzdem zugehörig fühlen. Wer sich zugehörig fühlte, konnte trotzdem zu einem Anderen gemacht werden. Das war ein Problem, das sich mit zwei Kategorien nicht beschreiben ließ. Diese Ungenauigkeit in der Beweisführung kam schließlich darin zum Ausdruck, dass die Beweislast fortan bei den Beschuldigten lag. Viele suchten in ihren MfS-Akten akribisch nach Beweisen für die eigene Unschuld und nicht nach Schuldigen. Dass ihre Recherchen dabei größtenteils auf denunziatorische Geheimdienstakten rekurrierten, reflektierten hingegen die wenigsten. Dieses Verfahren half nicht einen Begriff für Täterschaft zu definieren oder Täter tatsächlich zu verfolgen, es diente auch nicht der Anerkennung der Opfer oder dem Verständnis der DDR-Gesellschaft, sondern bedingte in erster Linie Vertrauensverluste und Enttäuschungen. Schon die Erfahrungen in den Monaten nach dem Mauerfall bestärkten viele ostdeutsche Kirchenmitglieder 159 Ebenda. 160 Ebenda. 161 Bischof Sterzinsky auf der Abschlußkonferenz des Berliner Katholikentages 26.5.1990, abgedruckt in: Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften, S. 220.

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in der Annahme, dass es nicht genügte, sich von der DDR zu distanzieren, um sich der Bundesrepublik zugehörig zu fühlen. Die ostdeutschen Kirchen erkannten das daraus resultierende Konfliktpotenzial durchaus, wie ein Brief der evangelischen Kirchenleitung in Berlin und Brandenburg an die Gemeinden aus dem Januar 1990 zeigt: Auch als einzelne waren wir mannigfach in das Unrechtssystem verstrickt. Um des sozialen und beruflichen Aufstiegs willen oder einfach nur, um Ruhe zu haben und ständigen Anfragen auszuweichen, haben wir uns angepaßt und mitgemacht, wo wir uns hätten verweigern sollen. Dadurch sind wir mitschuldig geworden, auch wenn das strafrechtlich nicht greifbar ist. Darum warnen wir vor der Versuchung „Sündenböcke“ zu benennen, die an allem Schuld sein sollen, und Menschen auszugrenzen. […] Manchmal hören wir die traurige Feststellung: Die vergangenen 40 Jahre waren verlorene Jahre. Demgegenüber fragen wir: Was ist bewahrenswert? Einige für uns wichtige Erfahrungen seien genannt: […] Äußerer Druck stärkt das Gefühl der Zusammengehörigkeit. […] Das Gespräch mit Menschen anderer Weltanschauung hat uns bereichert und geholfen, den eigenen Glauben verständlich zu formulieren.162

Die evangelische Kirchenleitung bemühte sich vor dem Hintergrund der kirchlichen Wiedervereinigung darum, einen möglichst weiten Bogen zu schlagen. Wie schon nach 1945 wurde die Schuldfrage einerseits individualisiert, vor allem in Bezug auf nichtkirchliche Täter, und andererseits einer anonymen Masse übertragen, wenn es um kirchliche Mitschuld ging. Das wirkte sich auf die Mehrheit der Kirchenmitglieder entlastend aus. Demgegenüber erschien der Aufruf zu Vergebung und Versöhnung allgemeingültig, aber trotzdem persönlich. Aus dem Text trat die spezifisch ostdeutsche Furcht vor einer Fremddeutung und Vorverurteilung hervor, doch versuchten die Kirchenleitenden einem drohenden Pauschalurteil beschwichtigende vor allem aber ermutigende Deutungsangebote entgegenzusetzen. Dieses Vorgehen war Vorsichtsmaßnahme und Warnung zugleich. Die Kirchenleitung erinnerte Ost- und West-Berliner Mitglieder daran, dass der Zugang zur jüngeren Vergangenheit in aller Regel über die eigene Biografie erfolgte und sie selbst vulnerabel waren. Die Menschen sollten sich bewusst machen, dass der angestoßene Prozess nicht nur auf die Aufarbeitung der Geschichte zielte, sondern in erheblichem Maß Bedeutung und Konsequenzen für ihre persönliche Gegenwart und Zukunft haben würde. Daneben lässt sich eine interkonfessionelle Konkurrenz in der Erinnerungsarbeit ausmachen, die nicht nur entlang der Berliner Mauer zwischen Ost und West verlief. So sah es der Berliner Bischof Sterzinsky als erwiesen an, dass die katholische Kirche in der DDR einen „geradlinigeren Weg“ gegangen sei als die evangeli162 Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg an die Gemeinden der Evangelischen Kirche in Berlin Brandenburg 26.1.1990. ELAB 86/542.

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sche Kirche.163 Von Einzelfällen abgesehen, könne der katholischen Kirche nicht vorgeworfen werden, mit der SED gemeinsame Sache gemacht zu haben. Führende Persönlichkeiten in der evangelischen Kirche hätten solche Versuche hingegen immer wieder unternommen. Der Ost-Berliner Bischof der evangelischen Kirche, Gottfried Forck, fand sich in dieser Beschreibung nicht wieder, wie die Potsdamer Kirche berichtete: „Die Kirchen hätten bisher eine positive Rolle als ‚hilfreiche Kritiker‘ ihres Staates gespielt. Sie hätten das sein können, weil sie nicht so sehr wie andere Kirchen mit dem Staat verschränkt gewesen wären.“164 In der Bundesrepublik sah Forck diese Rolle hingegen gefährdet. Die enge Verbindung zwischen Kirchen und Politik und vor allem Personen, die gleichzeitig kirchliche und politische Ämter übernahmen, erachtete er als falsch.

Aufarbeitung kirchlicher MfS-Kontakte Es war das Eine, zu beweisen, nicht mit dem MfS zusammengearbeitet zu haben – wie aber wurde mit Personen verfahren, die eine solche Zusammenarbeit eingegangen waren? Die ostdeutschen Kirchen bemühten sich in dieser Frage um Diskretion. Eine systematische oder gar juristische Aufarbeitung der MfS-Vergangenheit von Kirchenmitgliedern gab es nicht. Ebenso wenig wurde thematisiert, ob Kooperationen schon vor dem Mauerfall bekannt und geahndet wurden. Die ostdeutschen Kirchenleitungen operierten mit Blick auf diese Fragen mehrheitlich so, als sei alles Wissen über das MfS erst nach dem Mauerfall generiert worden.165 Das Bistum Berlin legte den Fokus darauf, alle kirchlichen Amtspersonen zu überprüfen.166 In den meisten Fällen hatten diese Überprüfungen jedoch keine weitreichenden Konsequenzen. „Es war nachher sehr billig,“ kommentierte Prälat Steinke die Vorgehensweise. „Da hat man denn gesagt: ‚In Ruhestand‘.“167 Der Ost-Berliner Weihbischof Weider ergänzte, dass es bei einer überschaubaren Anzahl von Personen geblieben war, die infolge einer IM-Tätigkeit ihre Posten räumen mussten. Die Gemeinden hätten diesbezüglich keinen Druck auf den Episkopat ausgeübt.168 Auch die EKiBB bemühte sich darum, alle kirchlichen Mitarbeiter zu überprüfen. Am 1.1.1992 wurde ein Überprüfungsausschuss eingesetzt, der bis 1996 arbeitete.169

163 164 165 166 167 168 169

Aus den Kirchen, in: Potsdamer Kirche 25.2.1990, S. 2. Kirche bleibt gegenüber zum Staat, in: Potsdamer Kirche 1.4.1990, S. 5. Vgl. Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 49. Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 32. Ebenda. Siehe auch: Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 14. Vgl. ebenda, S. 15. Vgl. Winter: Zeitgeschichtliche Forschung, S. 169.

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Von diesen Aktivitäten ausgeschlossen blieb jedoch die Frage, wie Gemeinden mit ehemaligen IM in den eigenen Reihen umgehen sollten. Die Antwort darauf verantworteten sie selbst. An eine Direktive der Kirchenleitungen konnte sich keiner der Zeitzeugen erinnern, obwohl solche Fälle bereits unmittelbar nach dem Mauerfall bekannt wurden. In den westdeutschen Gemeinden war man offenbar der Meinung, dieses Kapitel der Aufarbeitung allein den ostdeutschen Kirchen zu überlassen. Für die West-Berlinerin E. F. war klar, dass „das Sache der Ostgemeinden war. Das, ich war da oder wir waren da außen vor. […] Und ich hätte es als Einmischung empfunden, wenn ich da in Herz Jesu aufgeschlagen wär und gesagt hätte: ‚Was iss’n mit dem oder dem?‘“170 Dennoch forderte sie frühzeitig ihre eigene Akte an, um festzustellen, dass ihre kirchlichen Aktivitäten darin nicht erfasst waren. Diese Tatsache schien E. F. beinahe zu enttäuschen. Rückblickend führte sie diesen Umstand darauf zurück, dass nicht alle Dokumente ihre Person betreffend ausgehoben oder zum Zeitpunkt der Einsichtnahme bereits vernichtet worden waren. Dass das MfS von ihrem kirchlichen Engagement tatsächlich nichts gewusst oder sich nicht dafür interessiert hatte, schloss sie hingegen aus. In diesem Punkt argumentierten ost- und westdeutsche Betroffene oftmals ähnlich: Wenn die Stasiunterlagenbehörde nichts fand, musste es daran liegen, dass nicht richtig oder rechtzeitig gesucht worden war. Anders als viele ostdeutsche Kirchenmitglieder begründete E. F. ihre Einsichtnahme in die Akten jedoch nicht damit, Repressionen oder Unschuld beweisen zu wollen. Vielmehr wollte sie im Hinblick auf eine zukünftige Zusammenarbeit Gewissheit über ihre Gegenüber in der Partnergemeinde haben.171 Anders als in den Kirchenleitungen war das öffentliche Interesse an kirchlichen Mitarbeitern, die als IM tätig gewesen waren, in den ersten Jahren nach dem Mauerfall besonders groß.172 Zwei Beispiele aus dem Bistum Berlin sollen hier genannt werden: Der Ost-Berliner Studentenpfarrer Joachim Berger hatte seit Ende der 1960er-Jahre freiwillig und ohne Auftrag des Episkopats Informationen an das MfS weitergegeben. Unter anderem hatte er den Geheimdienst über ausreisewillige Studierende in Kenntnis gesetzt.173 Nach dem Mauerfall wurde sein Fall publik. Berger geriet öffentlich in Misskredit. S. T., Mitglied der Katholischen Studentengemeinde in Ost-Berlin zur Zeit Bergers, fand die öffentliche Empörung über dessen 170 Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 13. Vgl. Interview mit J. K. 24.6.2017, S. 1. 171 Vgl. Interview mit E. F. 21.6.2017, S. 12–13. 172 Vgl. Auch hinter dem Altar lauerte die Stasi, in: Neue Zeit 8.11.1990, S. 3. Siehe auch: „Ich war zu ängstlich“, in: Der SPIEGEL 13.4.1992, S. 20–24. 173 Vgl. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 33. Siehe auch: Busch, Friedrich W./ Straube, Peter-Paul: Im Visier der Stasi: Katholische Studentengemeinden, in: EINBLICKE 24 (1996), https://uol.de/einblicke/24/im-visier-der-stasi-katholische-studentengemeinden [1.6.2021].

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Tätigkeit für das MfS jedoch überzogen. Er relativierte den Fall: Pfarrer hätten abwägen müssen. Berger sei es im Interesse der Studentengemeinde offenbar notwendig erschienen, so zu handeln. Dass seine Tätigkeit für das MfS in den 1990erJahren aufgedeckt wurde, änderte nichts an seiner Meinung über Berger, unterstrich S. T.: „[…] also Berger, umstritten wie er war, aber ich hab ihn sehr geschätzt.“174 Ähnlich äußerte sich Roland Steinke über Berger. Er verwies darauf, dass der ehemalige Studentenpfarrer als Professor für Homiletik begeistert habe. Angesprochen auf Bergers Tätigkeit als IM kürzte Steinke ab: „Aber gut, der ist auch jetzt schon längst tot.“175 Anders verhielt es sich im Fall von Norbert Kaczmarek, Pfarrer in der Gemeinde Herz Jesu und Caritasdirektor in Ost-Berlin. 1993 wurde öffentlich, dass Kaczmarek als IM Norbert dem MfS Informationen zugetragen hatte. Das Ordinariat ebenso wie Bernd Schäfer von der Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung der Tätigkeit staatlicher und politischer Organe/MfS gegenüber der katholischen Kirche wiesen darauf hin, dass Kaczmarek von der Bistumsleitung aufgrund seiner Position aufgefordert worden war, Kontakte zum MfS zu unterhalten. Er habe sich dabei aber immer im Rahmen seines kirchlichen Auftrags bewegt.176 Dass der mediale Blick auf Kaczmarek trotz bischöflicher Erklärungsversuche und öffentlicher Loyalitätsbekundungen von Gemeindemitgliedern denkbar undifferenziert ausfiel, sah C. D. in der Unwissenheit westdeutscher Journalisten begründet: Der war von Berufs wegen gezwungen mit staatlichen Stellen zusammenzuarbeiten. […] Er musste Geschäfte machen, um der Caritas Willen, um der Fürsorgeleistung, der medizinischen Leistung Willen und ihm das vorzuwerfen halt ich für… Das is ein typischer WessiVorwurf gewesen.177

Solche Darstellungen schadeten der katholischen Kirche insgesamt, daran hatte C. D. keinen Zweifel. Er deutete außerdem an, dass Kaczmarek, der ebenfalls von seiner Unschuld überzeugt war, unter den Vorwürfen stark gelitten habe.178 Zwar bemühte sich der Berliner Episkopat um eine Rehabilitierung:179 Die Kirchenleitungen wollten in jedem Fall verhindern, dass Personen diskreditiert wurden, die in ihrem Auftrag Kontakte zum MfS hergestellt hatten. Doch die ausgedrückte Sorge war grenzwertig missverständlich. Sie suggerierte manchen Opfern gleich oder sogar weniger wichtig zu sein als die möglichen Täter.180 174 175 176 177 178 179 180

Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 12. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 32. Vgl. Der Beschuldigte hat Urlaub und hüllt sich in Schweigen, in: Neue Zeit 7.7.1993, S. 3. Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 17. Ebenda. Vgl. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 14. Vgl. ebenda 3.4.2017, S. 14–15. Vgl. Rathke: „Wohin sollen wir gehen?“, S. 183.

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Tatsächlich war die Frage, inwiefern von der Amtskirche autorisierte Personen bei ihrer Kooperation mit dem MfS Grenzen überschritten und anderen Kirchenmitgliedern Schaden zugefügt hatten, nicht immer eindeutig zu klären.181 Der Kirchenanwalt von Wedel plädierte in den 1990er-Jahren deshalb dafür, nicht pauschal über ehemalige IM zu urteilen, sondern die Konsequenzen ihres Handelns in den Blick zu nehmen. Jedoch liest sich dieser Ansatz auch wie eine Vermeidungstaktik, bei der die Motive der handelnden Personen ausgeklammert werden.182 Ob kirchliche Täter auch aus ideologischer Überzeugung handelten, war auf diese Weise nicht zu klären. Stattdessen wurde suggeriert, dass Täter von außen in die kirchlichen Räume eindrangen, aber Menschen aus den Gemeinden heraus nicht zu Tätern wurden. Aus diesem Grund entsteht bei der Lektüre der Quellen rasch der Eindruck, dass der Diskurs über IM und Täterschaft im kirchlichen Bereich nach 1989 von Vergebung bestimmt wurde.183 Der Ost-Berliner Matthias Kohl beschrieb, wie schwer es ihm fiel, diesen oft als Forderung formulierten Ansatz auf seine persönlichen Beziehungen zu übertragen: „Man sagte: ‚Ja, du musst vergeben. Man muss vergeben.‘ Und dann hab ich für mich immer gesagt: ‚Ja, man kann ja vergeben, aber wenn man vergeben will, muss derjenige doch erst mal um Verzeihung bitten.‘“184 Kohls Widerwille bezog sich auf einen konkreten Fall. Ein Mitglied aus seiner Gemeinde hatte über Jahrzehnte Informationen an das MfS weitergegeben und mutmaßlich auch den Fluchtversuch eines Onkels von Kohl vereitelt. Der Onkel sei nicht nachtragend gewesen und habe dem Spitzel vergeben, aber Kohl gelang das nicht. Er fragte sich weiterhin, was den Mann dazu bewogen haben mochte, Menschen zu verraten und mit dem MfS zusammenzuarbeiten.185 Ähnliche Gefühle schilderte der Ahrensfelder Protestant Plume. Als zu Beginn der 1990er-Jahre Kontakte einzelner Synodaler zum MfS publik wurden, habe er enttäuscht reagiert. Die Leitung der EKiBB drängte darauf, diesen Menschen zu vergeben, aber Plume fiel es schwer, ihnen zu verzeihen.186 Für ihn gab es keinen vertretbaren Grund, der dafür sprach als Synodaler mit dem MfS zusammenzuarbeiten. Es fällt in diesem Kontext auf, dass die Zeitzeugen vielfach davon ausgingen, dass sich wenige Kirchenmitglieder tatsächlich überzeugt dem MfS angedient 181 Vgl. Kösters, Christoph: Staatssicherheit und Caritas 1950–1989, in: Kösters, Christoph (Hrsg.): Caritas in der SBZ/DDR 1945–1989. Erinnerungen, Berichte, Forschungen, Paderborn u. a. 2001, S. 130–135. 182 Vgl. von Wedel: Als Kirchenanwalt durch die Mauer, S. 146. 183 Vgl. Auch hinter dem Altar lauerte die Stasi, in: Neue Zeit 8.11.1990, S. 3. 184 Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 29. Vgl. Der Beschuldigte hat Urlaub und hüllt sich in Schweigen, in: Neue Zeit 7.7.1993, S. 3. 185 Vgl. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 29. 186 Vgl. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 6.

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hatten. Stattdessen wurden „Erpressungen“ und „Verlockungen“ als mutmaßliche Beweggründe genannt.187 Abgesehen von einigen herausragenden, oft prominenten Fällen blieb das Thema auf der Gemeindeebene weitestgehend außen vor. In Predigten etwa fand es keinen Eingang.188 Die Kirchenleitungen waren offenbar nicht daran interessiert, eine offene Debatte über die Verwicklung von Kirchenmitgliedern in die Machenschaften des MfS anzustoßen. Und in den Gemeinden selbst wurde aus diversen Gründen nicht darüber diskutiert: Selbstschutz, Scham und Desinteresse gehörten sicher dazu.189 Gemeindemitglieder schreckten deshalb auch davor zurück, Akteneinsicht zu beantragen. S. T. kam zu dem Schluss: Ich will gar nicht wissen, wer von meinen guten Bekannten unter Umständen oder meinen persönlichen Freunden, wer da IM war, […]. Gute Erinnerungen sind gute Erinnerungen. Und wenn der, wenn der Mensch, äh, aus welchen Gründen auch immer Scheiße gebaut hat, dann muss er selber schon genug damit zu Recht kommen, jetzt wo’s sozusagen öffentlich gemacht sein könnte, ja?190

Die öffentlich bekannt gewordenen Fälle stellten in diesem Zusammenhang eine Entlastung dar. Erstens gaben sie Personen wie S. T. das Gefühl, das Aufklärung stattfand, wo sie notwendig war. Oft, so Prälat Steinke, bestätigte sich, was in den Gemeinden schon vor dem Mauerfall gerüchteweise vermutet worden war. Wer „so’n bisschen schleimscheißerisch auftrat“ oder häufiger Reisen nach West-Berlin und in die Bundesrepublik unternehmen konnte, wurde mit Vorsicht behandelt.191 Zweitens lenkten diese wenigen Skandale, die die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen, von den vielen Verdachtsmomenten ab. Als Einzelfälle entlasteten sie die Mehrheit der Kirchenmitglieder. Die Frage nach der Mitverantwortung wurde auf diese Weise regelrecht ausgelagert. Gemeindemitglieder sollten, wollten und konnten sich damit nicht auseinandersetzen: „Das können Sie alles nachlesen. Da müssen Sie nicht nach’m Gemeindeleben [fragen]. Da gab’s Kommissionen, die danach gesucht haben und das, gibt’s ja Bericht drüber und, und, äh Dokumentensammlungen und ähnliches,“ resümierte C. D.192 Das Problem an dieser Darstellung ist, dass mit dem Benennen der Schuldigen die Aufarbeitung nicht ge-

187 Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 32. Und: Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 17. 188 Vgl. ebenda, S. 33. 189 Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 16–17. Siehe auch: Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 33. 190 Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 17. 191 Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 32. 192 Interview mit C. D. 24.4.2017, S. 17.

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tan war, schon gar nicht, wenn die übrigen Betroffenen – vor allem die Opfer – damit von den Amtskirchen allein gelassen wurden. Drittens setzte das öffentliche Bekanntwerden ehemalige IM selbst unter Druck, da sie fortwährend der Gefahr ausgesetzt waren, ebenfalls enttarnt zu werden. Aus Sicht B.Ks. kam diese permanente Drohung einer Ersatzstrafe gleich.193 Allein das Durchsickern eines Verdachtsfalls rief teils heftige Reaktionen hervor, erklärte Steinke: „Die taten einem fast leid, ja? Weil sie, weil die also Spießruten laufen mussten. Die konnten sich ja kaum noch in der Gemeinde sehen lassen, ja?“194 Steinke beschrieb dabei allerdings Stimmungslagen. Direkte Gespräche über konkrete Vorkommnisse habe es in den Gemeinden seines Wissens nach gar nicht gegeben.195 Auch Weihbischof Weider erinnerte sich nicht daran, dass von der Kirchenbasis ausgehend die Frage gestellt wurde: „Was ist in unserer Gemeinde passiert?“196 Für Paul Plume in der evangelischen Gemeinde in Ahrensfelde war diese Frage ohnehin hinfällig. Was passiert war, hätten Gemeindemitglieder, nicht nur weil sie ihre Akten bei der Stasiunterlagenbehörde eingesehen hatten, schnell herausgefunden. Aber wie sollten sie darauf reagieren, wenn ehemalige IM in die Kirche kamen? War es einem Gemeindekirchenrat möglich, ehemalige Spitzel aus der Gemeinschaft auszuschließen? Mussten sie die Anwesenheit dieser Personen hinnehmen? In der evangelischen Gemeinde in Ahrensfelde einigte man sich darauf, niemandem die Tür zu verschließen. Nicht mehr und nicht weniger.197 Einen anderen Weg ging die Erlösergemeinde in Berlin-Lichtenberg. Dort bildete sich 1991 ein Gesprächskreis, in dem sich Opfer und Täter miteinander austauschen konnten. Begleitet wurde diese Gesprächsreihe von einer Publikation. Bis 1999 erschienen 31 Hefte der Zwie-Gespräche, in denen unter anderem vom Aufeinandertreffen kirchlicher Mitarbeiter mit ehemaligen hauptamtlichen Angestellten des MfS berichtet wurde.198 Einen ähnlichen Versuch gab es in der evangelischen Bekenntnisgemeinde in Berlin-Treptow. Der dortige Pfarrer, Werner Hilse, „wollte kein Tribunal, er wollte die Sprachlosigkeit überwinden.“ Das Unternehmen missglückte insofern, als ein holländisches Filmteam 1994 feststellte, dass weiterhin „Hilflosigkeit und Wut im Umgang mit den ehemaligen Stasi-Offizieren und untereinander in der Gemeinde“ vorherrschten.199

193 194 195 196 197 198 199

Vgl. Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 16–17. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 33. Vgl. ebenda. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, S. 16. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, S. 8. Vgl. Winter: Zeitgeschichtliche Forschung, S. 170. Fremd im eigenen Land, in: Neue Zeit 31.1.1994, S. 7.

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Angesichts der geschilderten Ausgangssituation kann es kaum verwundern, dass die Aufarbeitung der Kontakte, die Kirchenmitglieder zum MfS unterhielten, bis heute andauert. Es gelang nur begrenzt, die zum Teil sehr persönlichen Problembeziehungen mit moralisierenden Allgemeinaussagen zu erfassen. Diese Form der Aufarbeitung verfolgte zwar einen konkreten Zweck, aber sie war eben nicht besonders tiefgründig. Als Dietmar Linke 1993 die Geschichtsschreibung in der DDR einzuordnen versuchte, machte er eine Feststellung, die zumindest in Teilen noch immer aktuell zu sein scheint: Die Geschichte der DDR und auch der Kirche in diesem Land wird noch einmal neu geschrieben werden müssen. Die Zeit der Konspiration, der Geheimniskrämerei ist vorbei. Wir müssen es der Öffentlichkeit zumuten, daß wir ans Licht bringen, was bisher verborgen war. Alte Bilder, wie das von der Kirche als Träger der Revolution des Herbstes 1989, werden dabei zerbrechen. Es wird ein neues Bild entstehen.200

Abgrenzung zur Schulddebatte Unter diesen Vorzeichen begann in Ostdeutschland die verstärkte Suche nach Narrativen, die an die Erzählungen vor 1989 anschlossen und nicht im Widerspruch zu diesen standen. Neben dem Rückgriff auf das Einheitsmotiv fällt dabei vor allem auf, dass vormalige Probleme oder Defizite in Privilegien umgeschrieben wurden. Am Beispiel der Gemeindepartnerschaften ist das bereits deutlich geworden: Die vor 1989 als Problem beschriebene Entfremdung wurde nach dem Mauerfall vermehrt als Bereicherung gedeutet. Dem Druck, den die DDR-Behörden auf kirchliche Einrichtungen ausgeübt hatten, wurden positive Effekte zugesprochen: „Wenn ich […] diesen Druck von außen hab, dann is natürlich nen schönes Gefühl hier […] sich wohlzufühlen. Man macht sich’s ja auch, kuschelig. Is ja schön. Alle ticken gleich. Und, äh, klar, diese […] Nische, die Kuschligkeit ist natürlich dann weg, wenn normale Umstände sind,“ erläuterte Matthias Kohl die Entwicklung seiner katholischen Gemeinde in Ost-Berlin.201 Die EKiBB befand, dass „das Gespräch mit Menschen anderer Weltanschauung uns bereichert und geholfen hat, den eigenen Glauben verständlicher zu formulieren.“202 Im Vorteil war nun, wer sich nicht kategorisch verweigert und abgegrenzt hatte, sondern offen für Dialog geblieben war. Das kirchliche Leben in der DDR und Ost-Berlin wurde als lebendig und harmonisch beschrieben. Dabei sollte in den vorangegangenen Kapiteln deut200 Linke: „Streicheln, bis der Maulkorb fertig ist.“, S. 11. 201 Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 23. 202 Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg an die Gemeinden der Evangelischen Kirche in Berlin Brandenburg 26.1.1990. ELAB 86/542.

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lich geworden sein, dass freilich nicht alle „gleich tickten“, obwohl das in den sogenannten Nachwendejahren vielfach Kirchenmitglieder suggerierten. 203 Gemeinden wurden außerdem als Solidargemeinschaften beschrieben, in denen der Zusammenhalt stärker ausgeprägt gewesen sei als in den Westgemeinden. Pollack schildert die gängige Haltung vieler ostdeutscher Kirchenmitglieder: „Typisch […] war daher das Bestehen darauf, daß es sich gelohnt habe, in der DDR zu leben, daß nicht alles schlecht an der DDR gewesen sei und daß man auch unter diktatorischen Bedingungen ein vollgültiges Leben geführt habe.“204 Doch ist in dieser Argumentation mehr als die Reaktion auf eine Zurückweisung zu sehen, wie Pollack meint. Denn es hatte freilich schon vor 1989 ostdeutsche Kirchenmitglieder gegeben, die unabhängig von ihren Erfahrungen mit westdeutschen Akteuren zu dieser Überzeugung gelangt waren. Sie verteidigten ihre Position nach dem Mauerfall nicht, weil sie sich abgewertet fühlten, sondern weil sie der Meinung waren, die schlagkräftigeren Argumente auf ihrer Seite zu haben. Man sollte sie als Akteure durchaus ernst nehmen. Abhängig von der Situation bestand zwischen der Selbstbeschreibung ostdeutscher Kirchenmitglieder als Opfer und der Überzeugung, die „besseren Christen“ gewesen zu sein, nicht unbedingt ein Widerspruch. Auch im Bereich der kirchlichen Fürsorgearbeit lassen sich solche Momente greifen. Als Reaktion auf die fehlende Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse verwiesen kirchliche Mitarbeiter auf ihre Arbeitserfahrung und ihr schwieriges Arbeitsumfeld. Anstatt auf Anerkennung zu warten, hätten sich die Ostdeutschen ihren Aufgaben gewidmet: „Wir im Osten früher zu DDR-Zeiten haben alles gemacht. […] Aber wir haben nicht um diese Anerkennung gerungen. Ich hatte da innerliche Ruhe. Ich wusste, wer ich bin, was ich kann und das war genug für mich,“205 erklärte die Diakonische Schwester Walli Schmidtmann ihre Abneigung gegenüber dem westdeutschen System. Neben der Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes entwickelte sie Strategien, um ihr Handeln in der DDR moralisch zu rechtfertigen und suchte nach Möglichkeiten, sich zu verteidigen. Dementsprechend rekapitulierte auch der Anwalt von Wedel seine Tätigkeit 1994: „Ganz ohne Falsch bin ich nicht gewesen. Aber ich glaube heute noch, daß es besser war, den Menschen zu helfen, als immer saubere Hände zu haben.“206 Die Folgen dieses Rechtfertigungsdrucks beobachtete der katholische Theologe Michael Albus mit Sorge. 1996 stellte er fest, dass die Kommunikation zwischen

203 Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, S. 23. 204 Pollack: Funktionen von Religion, S. 87–88. Vgl. Interview mit Walli Schmidtmann 2008. OA, ohne Signatur, S. 16. Siehe auch: Interview mit S. T. 11.4.2017, S. 27. 205 Interview mit Walli Schmidtmann 2008. OA, ohne Signatur, S. 12–13. 206 von Wedel: Als Kirchenanwalt durch die Mauer, S. 147.

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ost- und westdeutschen Kirchen in der Zeit der Teilung massiv gestört worden sei und die mit dem Mauerfall verbundene Hoffnung, wieder offen miteinander sprechen zu können, sich nicht erfüllt habe. Zwar hätten sich die Umstände geändert, aber gerade die ostdeutschen Akteure hätten sich nicht einfach von ihrer Sozialisation befreien können. Westdeutsche hingegen hätten es nicht vermocht, sich in diese andere Situation hineinzuversetzen. Anstatt des erhofften Austauschs habe Schweigen geherrscht und die Erwartungen an das Gegenüber seien enttäuscht worden. „Wir stellen fest,“ erinnerte sich Albus, daß viele von denen, die jetzt eigentlich reden könnten, ohne mit Konsequenzen an Leib und Leben zu rechnen, weiter schweigen. Es ist nicht einfach, Menschen dazu zu bewegen, über die Erfahrungen jener Zeit offen zu berichten. Viele, die damals trotz aller Einschränkungen in der Lage dazu waren, zu handeln, sind heute damit beschäftigt, sich für ihr damaliges Verhalten zu rechtfertigen.207

Albus deutete an, dass nach 1989 aufgrund dieser Unkenntnis die falschen Themen verhandelt worden seien. In der Schulddebatte, wie sie geführt wurde, sah er keine konstruktive Diskussion. Der Ost-Berliner Baptist Uwe Dammann verwies ebenfalls auf die Fehler dieser Herangehensweise: Die Ostdeutschen hatten nicht die Möglichkeit, darüber nachzudenken, wer sich in welcher Form schuldig gemacht hatte und die Westdeutschen übertrugen vorgefertigte Kategorien auf den Osten. Die daraus resultierende „Verdrängung oder Verharmlosung von Schuld ist der falsche Weg“ meinte Uwe Dammann. Er sah dieses Moment „als Trotzreaktion auf gelegentlich arrogant daherkommende westliche Forderungen nach Schuldbekenntnissen.“208 Trotz wiedervereinter Kirchenbünde wurde zu Beginn der 1990er-Jahre also weiterhin trennscharf zwischen Ost- und Westdeutschen unterschieden. Mehr noch: Anhand der Herkunft sollte darüber entschieden werden, wer legitimiert war, die vorangegangenen Ereignisse zu deuten und zu beurteilen beziehungsweise wer nicht. Viele Ostdeutsche vertraten die Ansicht, dass nur sie selbst in der Lage seien, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Kritik am Verhalten ostdeutscher Kirchenmitglieder sollten dementsprechend Ostdeutsche üben, wobei kritische Äußerungen häufig als westdeutsch charakterisiert wurden. Westdeutsche Akteure tendierten dazu, eben in dieser Zeitzeugenschaft der Ostdeutschen ein hinlängliches Argument gegen deren Autorenschaft zu sehen, wobei sie ihre eigene Rolle als Zeitgenossen oft nicht problematisierten. Letztlich waren beide Positionen insofern illegitim, als

207 Albus: Eine kleine Klammer, S. 80–81. 208 Dammann: Gemeinde unter ideologischem Druck, S. 386.

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nicht die Staatsbürgerschaft vor 1990 zur Aufarbeitung befähigen sollte, sondern das Reflektieren darüber und ein kritisches Quellenstudium.209 Dass sich diese häufig sehr emotional geführte Diskussion überhaupt dergestalt entfaltete, liegt sicher auch in dem ihr zugrunde liegenden Fragenkatalog und den dazu konsultierten Quellen begründet. Sowohl ost- als auch westdeutsche Akteure wiesen den MfS-Akten als Quellen nach dem Mauerfall – nicht zuletzt in Ermangelung alternativen Materials – eine erhöhte Priorität zu. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf die verhandelten Themen: MfS-Akten sind weder objektiv noch verlässlich. In den Akten steht, wofür sich das MfS interessierte. Nicht immer waren die Mitarbeiter des Geheimdienstes in der Lage, die gesammelten Informationen zu verstehen und zu deuten. Es handelt sich bei ihren Darstellungen also um Interpretationen mit Schwerpunkten, die einer institutionellen Eigenlogik folgten und das kirchliche Leben in der DDR deshalb nicht umfassend abzubilden vermögen.210 Hinzu kam die Enttäuschung über das Fehlen einzelner, als brisant wahrgenommener Themen in den kirchlichen Quellen. Ein bereits erwähntes Beispiel ist der Mauerbau, den die katholischen Kirchenzeitungen Berlins 1961 nicht kommentierten. Der evangelische Pfarrer Hans-Otto Furian schrieb im Jahr 2003 über den Sommer 1961: „Zuerst muß betont werden, es war nicht so, als ob im Sommer 1961 alles von der Frage ‚Bleiben‘ oder ‚Gehen‘ bestimmt war. […] Die Erntearbeiten forderten die Menschen; aber auch das persönliche Leben, z. B. die Ferien mit den Familien, verlangten ihr Recht.“211 Das allein ist freilich schon ein Befund, entsprach aber in den 1990er-Jahren oftmals nicht den Erwartungen an die Überlieferung. Josef Pilvousek erinnerte sich rückblickend an einen jungen Forscher aus der Bundesrepublik, der sich auf einer Tagung über Fragen kirchlicher Zeitgeschichte 1991 darüber empörte, dass die ostdeutschen Vortragenden den 17. Juni 1953 nicht thematisierten.212 Pilvousek wies diesen Vorwurf zurück. Der 17. Juni war nicht vergessen worden: „Tatsächlich […] spielte der Volksaufstand weder in

209 Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 18. 210 Vgl. Döpmann, Hans-Dieter: Vergangenheitsbewältigung in den Ländern Ost- und Südosteuropas, in: Dähn, Horst/Heise, Joachim (Hrsg.): Staat und Kirchen in der DDR. Zum Stand der zeithistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschung, Frankfurt u. a. 2003, S. 237. Siehe auch: von Wedel: Als Kirchenanwalt durch die Mauer, S. 132 und S. 140. Und: Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 9. 211 Furian: Erinnerungen an den 13. August 1961, S. 179. 212 Vgl. Pilvousek, Josef: Die Katholische Kirche und die Anfänge einer historischen Aufarbeitung 1990–1996. Anmerkungen zu einem fortwährenden Prozess, in: Kirchliche Zeitgeschichte 22 (2009), S. 648–649.

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der Erinnerung der katholischen Kirche in der DDR eine dominierende Rolle, noch sind in den kirchlichen Archiven ausreichend Quellen darüber vorhanden.“213 2013 stellte der Theologe Konrad Raiser, in den 1990er-Jahren Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, fest, dass die Erinnerung der Zeitzeugen und die Ergebnisse der jüngeren Forschung kaum mehr übereinzubringen seien. Anstatt die Erinnerungen der Zeitzeugen als Quelle einzuordnen oder als Zeitzeugen zur Historisierung beizutragen, schienen sich die Fronten zwischen den beiden Gruppen immer weiter verhärtet zu haben.

Wie und wessen Gedenken Welche Gedenktraditionen lebten also in der wiedervereinten Kirche fort? 1990 herrschten wenig Zweifel darüber vor, dass die Kirchen möglicherweise als Orte der Revolution, nicht aber als deren Initiatorinnen hervorgetreten waren: „Unter unseren Dächern und vor unseren Türen versammelten sich kleine Gruppen, mit denen die Gemeinden oft ihre liebe Not hatten.“214 In der Potsdamer Kirche wurde das schwierige Verhältnis zwischen oppositionellen Gruppen und den Kerngemeinden als Konfliktgeschichte beschrieben. Für die evangelische Kirchenzeitung war klar, dass der Mauerfall sich mitnichten als kirchliche Erfolgsgeschichte bezeichnen ließ. Eine solche Erzählung habe zudem im Kontrast zu dem Bild gestanden, das in weiten Teilen der ostdeutschen Bevölkerung vorherrschte: „Den Gemeinden und Gremien war der mühsam ausgehandelte Burgfrieden mit den staatlichen Behörden heiliger als das Engagement für eine nach Machtlage aussichtslose Aktivität.“215 Die Potsdamer Kirche befand den im Kalten Krieg immer wieder verwendeten Begriff „Widerstand“ folglich nur eingeschränkt brauchbar, um die Geschichte der ostdeutschen Kirchen zu erzählen. Aus Sicht der meisten Zeitgenossen erschien er unglaubwürdig: Im großen und ganzen lagerten wir recht bequem in der Nische, die die Gesellschaft uns zugebilligt hatte, und leisteten nur dann Widerstand, wenn wir dort mal aufgescheucht wurden von einer Obrigkeit, die bei so vielen Gelegenheiten die Trennung von Staat und Kirche anmahnte, sich aber so selten selbst daran hielt.216

Weil die Kirchenmitglieder um dieses besondere Verhältnis wussten, hätten sie sich nach 1990 von den Kirchen abgewendet, analysierte die Kirchenzeitung: Sie 213 214 215 216

Ebenda. Wo kommen wir her? Wohin gehen wir?, in: Potsdamer Kirche 30.12.1990, S. 1. Ebenda. Ebenda.

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hätten die kirchliche Selbstdarstellung als scheinheilig empfunden und im gängigen Dualismus von Gut und Böse keine dem amtskirchlichen Verhalten gerecht werdende Beschreibung gesehen. Irritationen hätten im Besonderen die Inszenierungen mancher kirchlicher Führungspersonen hervorgerufen, die sich als Antikommunisten stilisiert hätten. An der Kirchenbasis hätten sie im Verdacht gestanden, sich öffentlichkeitswirksam zu politisieren, um einen Schulterschluss mit der CDU in der Bundesrepublik nicht zu gefährden. Dabei konnte der Kommunismus allein kaum genügen, um die Missstände in der DDR zu erfassen, resümierte die Potsdamer Kirche: […] so viele bequeme Vereinfachungen setzen sich in den Köpfen fest: An allem Unangenehmen, was uns heute bedrückt, sei die vierzigjährige Mißwirtschaft der SED und die Allgegenwart ihrer Stasi schuld – kurz: „Der Sozialismus“. Jeder weiß, daß es so einfach nicht ist; und doch macht sich so mancher ein gutes Gewissen, auf den am Boden Liegenden zu treten.217

Knapp zehn Jahre später bot Pollack einen Kompromiss an, um die Rolle der ostdeutschen Kirchen in den 1980er-Jahren zu umreißen: „Die Kirchen waren zwar nicht die Initiatoren der Wende, wohl aber gaben sie in den meisten Städten der DDR den Kristallisationspunkt für die Massenproteste ab.“218 Pollack betonte die emotionale Bedeutung der Kirchen in der späten DDR, die sich nur sehr begrenzt an konkreten Ereignissen festmachen ließ. Deswegen sei es schwierig, an die Kirche als Akteur zu erinnern. Mit anderen Worten: Es war kompliziert. Das wurde zum Beispiel auch an der Diskussion um die Erinnerung an den Mauerfall deutlich. Die christlichen Jugendverbände Berlins warnten schon 1990 vor einer Überschreibung des 9. November. Dieser Tag, meinten die Jugendlichen, sollte der Erinnerung an das Novemberpogrom und die Verbrechen der Nationalsozialisten an der jüdischen Bevölkerung in Deutschland vorbehalten bleiben und dürfte nicht vom Mauerfall überlagert werden.219 Die Erfahrung, dass der Umgang und das Erinnern an die Zeit der Teilung problembehaftet waren, leistete nicht nur dem Schweigen sondern auch dem Vergessen Vorschub. Rolf Dammann irritierte es nachhaltig, dass bei der Wiedervereinigung der beiden freikirchlichen Bundesleitungen 1991 „nach der Geschichte der Trennung nicht gefragt wurde. War sie jetzt Nebensache?“220 Für die ostdeutsche Theologin und Politikwissenschaftlerin Marie Anne Subklew stand dahinter ein 217 Ebenda, S. 2. Vgl. Maser: Die Kirchen in der DDR, S. 150. 218 Pollack: Funktionen von Religion, S. 82. 219 Vgl. Keine Jubelfeiern, in: Potsdamer Kirche 14.10.1990, S. 8. 220 Dammann: Die Teilung des Bundes, S. 174. Siehe auch: Interview mit Klaus Pritzkuleit 2005. OA, ohne Signatur, S. 27.

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letztlich pragmatischer Gedanke: „Sehr schnell wurde gesagt, dass die Erfahrungen, die die Kirche in dem geschlossenen Raum eines totalitären Systems gesammelt hat, für die offene Gesellschaft nicht taugten.“221 Subklew unterstellte, dass die westdeutschen Kirchen keinen Wert darin sahen, spezifisch ostdeutsche Traditionen zu bewahren. Diese hingegen zu vergessen sollte die Wiedervereinigung vereinfachen und die Rückkehr zu einer kaum definierbaren Normalität erleichtern. In Berlin, schreibt Gerhard Sälter, wurde dieser symbolische Prozess etwa durch das schnelle Verschwinden der Mauer zusätzlich beschleunigt. Nach einer kurzen Debatte darüber, ob Teile der Anlage als Denkmal erhalten bleiben sollten, begann der Abriss. Auch einige Kirchengemeinden hatten diesen entschieden befürwortet, um ihre von den Grenzanlagen besetzten Liegenschaften wieder nutzbar machen zu können. Bis November 1990 war ein Großteil der Mauer verschwunden, die öffentliche Diskussion darüber ebbte bald ab.222 Bei der Suche nach einem leitenden Narrativ für die Geschichte der Kirchen in der Zeit der Teilung erlebten bereits historisierte Begriffe wie Kirchenkampf eine erneute Konjunktur. Der damit verbundene Anschluss der jüngsten Vergangenheit an die Geschichte der Kirchen im Nationalsozialismus sollte es ermöglichen, zäsur- und grenzübergreifende Aspekte in den Vordergrund zu rücken. Die Neue Zeit sah „den Glaubens- und Kirchenkampf der letzten Jahrzehnte als Feldzug der Ideologie gegen einen Gott, den es angeblich überhaupt nicht gab.“223 Der Kirchenanwalt von Wedel bezeichnete die Bildung eines eigenen evangelischen Kirchenbundes in der DDR rückblickend sogar als „Fortsetzung des Kirchenkampfes mit anderen Mitteln“.224 Die Gründung des Bundes wollte er als ein taktisches Moment verstanden wissen, das die Einheit der evangelischen Kirche in Deutschland nicht beeinträchtigt habe. Im SPIEGEL empörte sich Klaus von Dohnanyi über solche Vergleiche. Er zog die westdeutschen Kirchen als Treiberinnen solcher Narrative zur Verantwortung: Wir, im Westen Deutschlands, ziehen – offenbar, ohne uns an die Nazi-Jahre zu erinnern – den Frauen und Männern der früheren DDR selbstgerecht die moralischen Grenzen. Wir urteilen und verurteilen, als hätten wir nicht erfahren, was es heißt, Verantwortung unter Diktatoren zu tragen.225 221 Subklew: Konsequenzen der Erinnerung, S. 64. 222 Vgl. Sälter, Gerhard: Das Verschwinden der Berliner Mauer, in: Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 359. 223 Wir haben seinen Stern gesehen, in: Neue Zeit 5.1.1991, S. 18. Siehe auch: Leipziger Studentenpfarrer Schmutzler rehabilitiert, in: Neue Zeit 11.7.1991, S. 19. 224 von Wedel: Als Kirchenanwalt durch die Mauer, S. 137. 225 Pakt mit dem Teufel, in: Der SPIEGEL 27.1.1992, S. 36.

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Dohnanyi bemühte sich zwar, die ostdeutschen Interpretationsansätze zu erklären, trotzdem verurteilte er Analogien, die etwa Manfred Stolpe in eine Reihe mit Menschen stellte, die von den Nationalsozialisten ermordet worden waren: „Manfred Stolpe war kein Märtyrer wie Dietrich Bonhoeffer. Er hat überlebt. […] Die SED; wie abscheulich totalitär sie auch war, kann nicht auf eine Stufe gestellt werden mit der NSDAP. Und auch die perfektionistische Stasi war nicht die brutale Gestapo.“226 Nichtsdestotrotz blieben (und bleiben) solche Vergleiche populär. Denn die Herstellung einer erinnerungskulturellen Kontinuität schien hierarchieübergreifend zu funktionieren. Sie band auch die Kirchenbasis mit ein. Diese Versuche eine Einheits- anstatt einer Trennungsgeschichte fortzuschreiben, erzielten in der Praxis einen überschaubaren Erfolg. In ihrem Buch über das Bistum Berlin im Kalten Krieg konstatiert Ruth Jung 2003, dass „selbst nach über einem Jahrzehnt die Gegensätze der Trennung […] unübersehbar“ geblieben sind.227 Prälat Roland Steinke erklärte im Interview 2017, dass er „heute noch immer merke“, ob er in einer Ost- oder Westgemeinde sei.228 Die mentalen Unterschiede seien nach wie vor groß. Nur dass es zwischenzeitlich aufgrund der vielen Zugezogenen auch „Westgemeinden“ in Teilen Brandenburgs geben würde.229

Der 9. November 1989 als Wegmarke 2009 stellte Paul Plume, Mitglied der evangelischen Gemeinde in Ahrensfelde bei Berlin, für seine Enkelkinder eine Briefsammlung aus den Jahren 1988 bis 1990 zusammen und gab dieser die Überschrift „Briefe in die Freiheit“. In einem kurzen Begleittext schrieb er, dass er diesen Titel nicht nur gewählt habe, um die nach dem Mauerfall gewonnene politische Freiheit zu umreißen. Er wollte damit auch die geistige Freiheit beschreiben, die er als gläubiger Christ in der DDR erfahren habe. Die Wahl des Titels ist folglich nicht ohne den erinnerungskulturellen Diskurs zu denken, der zwischen dem Datum ihrer Niederschrift und der Aufnahme der Briefe in die kleine Sammlung steht. Plume markierte den Mauerfall nicht als Fluchtpunkt, sondern als Wegmarke. Auffällig sind die Dynamiken, die der Briefwechsel mit Verwandten, engen Freunden und Mitgliedern der westdeutschen Partnergemeinde offenlegt sowie das Reflektieren darüber. Religiöse und kirchliche Themen wurden allenfalls im

226 Ebenda. 227 Jung: Ungeteilt im geteilten Berlin?, S. 174. 228 Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, S. 31. 229 Vgl. ebenda. Rauer berichtete über ähnliche Entwicklungen in der evangelischen Gemeinde Staaken. Vgl. Rauer: Kirchliche Verhältnisse in West-Staaken, S. 174.

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Zusammenhang mit organisatorischen Fragen verhandelt.230 Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen wurden als Selbstverständlichkeit dargestellt und schienen keiner weiteren Erklärung zu bedürfen. Vor dem Mauerfall spielte Politik in Plumes Briefen eine untergeordnete Rolle. Er stellte sich selbst als interessierten, aber passiven Beobachter dar, der die Ahrensfelder Partnergemeinde über die Vorgänge in der DDR in Kenntnis setzte. Die Westdeutschen kommentierten Plumes Ausführungen nicht, beziehungsweise beschränkten sich darauf, ihre Anteilnahme auszudrücken. Nach dem Mauerfall lesen sich die Briefe schlagartig anders. Sie erscheinen viel persönlicher. Plumes Ausführungen lassen keinen Zweifel daran, dass er um staatliche Überwachungsmaßnahmen und die Gefahr von Repressionen in der DDR wusste. Sein Wissen beeinflusste die Kommunikation mit den Westdeutschen und führte dazu, dass sich der Verfasser der Briefe vor dem 9. November 1989 selbst zensierte. Im Dezember 1989 zeigte sich Plume dann beeindruckt und überrascht davon, dass die Ostdeutschen es innerhalb weniger Wochen gelernt hatten, Hoffnungen aber auch Ängste explizit zu äußern.231 Dass die Ereignisse rund um den Mauerfall und die sogenannte Wiedervereinigung 1990 für die Akteure mit Chancen und Enttäuschungen einhergingen, ist alles andere als überraschend. Die These allein hat keinen Mehrwert. Interessant ist vielmehr, die zeitgenössischen Wahrnehmungen mit späteren Deutungen zu vergleichen. Die Briefe, die Paul Plume in diesen Jahren schrieb, belegen beispielhaft, dass wirkliche Zäsuren eben oftmals erst nach dem eigentlichen historischen Ereignis Wirkkraft entfalten. 1991 schrieb Plume an eine alte Schulfreundin in der Bundesrepublik und schilderte ihr sein Unbehagen: Ich glaube nach so schnellem Wandel und Austritt aus der Partei keinem die schnelle Entdeckung der Demokratie allein, sondern will auch das reale Leben umgestellt wissen. Später, wenn in einer gewonnenen Einheit es sich demokratisch verfestigt hat, werde ich mir meine prinzipiell mehr sozial-demokratische Gesinnung „leisten“.232

Den Mauerfall nahm Plume nicht als Bruch, sondern als Konsequenz wahr. Dabei sah er aber freilich nicht voraus, dass die Unterschiede zwischen Ost und West, die er mit dem Kalten Krieg verband, 30 Jahre später weiterhin diskutiert werden würden.

230 Vgl. Paul Plume an Elisabeth und Otto Landes 16.6.1989, in: Briefe in die Freiheit 1988–1990. Privat. 231 Vgl. Paul Plume an Sylvia, Christfried und Patricia 30.12.1989, in: Briefe in die Freiheit 1988– 1990. Privat. 232 Paul Plume an Hannelore 21.3.1990, in: Briefe in die Freiheit 1988–1990. Privat.

6.3 Resümee



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6.3 Resümee Für die Amtskirchen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bedeuteten der Mauerfall und die folgenden Jahre enorme personelle, organisatorische und strukturelle Veränderungen. Trotz allem beeinflusste dieser Wandel die Praktiken in den Gemeinden vor Ort zunächst nur begrenzt. Viele Kirchenmitglieder sind noch immer der Meinung, dass die mentalen Unterschiede zwischen Ost und West im kirchlichen Leben bis in die Gegenwart deutlich erkennbar sind. Der Mauerfall war für Ost- und Westdeutsche ein überraschendes Ereignis. Die anfängliche Euphorie, die in gelebter Wiedersehensfreude zum Ausdruck kam, kehrte sich bald in Ernüchterung um. Gerade ostdeutsche Kirchenmitglieder begegneten den politischen Entwicklungen skeptisch und sprachen sich für Alternativen zur Wiedervereinigung aus. Viele Ostdeutsche waren unsicher, ob die Kirchen beziehungsweise ihre Mitglieder als politische Akteure auftreten sollten oder nicht. Sie hatten diese Frage bereits vor dem Mauerfall nicht eindeutig beantworten können. Eine Antwort darauf erübrigte sich schließlich. Denn das kurzweilige Bündnis, das die Kirchen in den 1980er-Jahren mit der nichtkirchlichen Bevölkerung in Ostdeutschland eingegangen waren, zerfiel rasch wieder. Zwischen den lauten Rufen nach der Einheit waren leise Zwischentöne kaum mehr vernehmbar. Der völkerrechtliche Sonderstatus Berlins fand zum Zeitpunkt des Mauerfalls auf der emotionalen Ebene schon lange keine Beachtung mehr. Der Ost- und Westteil der Stadt wurden hier wie dort getrennt voneinander gedacht. Die evangelische Kirchenleitung in Berlin trug dieser Entwicklung jedoch nicht Rechnung. Sie orientierte sich 1990 an der Loccumer Erklärung, in der sich die evangelischen Kirchen in Ost und West unbedingt für eine zügige Wiedervereinigung ausgesprochen hatten. Dieses Vorgehen stand im scharfen Kontrast zu gespaltenen Gefühlen an der Kirchenbasis, wo sich rasch Widerstand gegen die Pläne der Kirchenleitung regte. Viele Ost-Berliner und Brandenburger Kirchenmitglieder sahen in einem schnellen Zusammenschluss einen Anschluss an die westdeutschen Kirchen. Sie fürchteten die Zerstörung gewachsener Strukturen in ihren eigenen Gemeinden. Auch West-Berliner Gemeindemitglieder meldeten Bedenken an. Sie hatten sich auf der Insel West-Berlin gut eingerichtet und wollten ihre Privilegien weder teilen noch verlieren. Zudem verwiesen sie auf die gestörte Kommunikation zwischen den Gemeinden in Ost und West und warnten die Kirchenleitung vor übersteigerten Ansprüchen: Der Wunsch, eine Einheit zu bilden, überfordere die Gemeinden. Die Leitung des staatskirchenrechtlich nie getrennten Bistums Berlin bestätigte die Skeptiker. Der Episkopat gestand ein, dass die Diözese im Kalten Krieg praktisch getrennt gewesen sei und erst wieder zusammenwachsen müsse. De facto be-

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deutete das, dass die Strukturen im Ostteil des Bistums auch 1989/1990 noch als Provisorien dargestellt wurden, weshalb ein Neuanfang nach West-Berliner Vorbild fokussiert wurde. Dabei handelte es sich nicht nur um eine System-, sondern ebenso um eine Mehrheitsfrage. Die ostdeutsche Diaspora richtete sich nach den mitgliederstarken Bistümern Westdeutschlands. Auf der Grundlage dieser Richtungsentscheidungen begann die eigentliche Arbeit für die Kirchen also erst, nachdem ihre Institutionen offiziell wiedervereint waren. Die ostdeutschen Kirchenmitglieder waren es gewohnt, finanziell und materiell von den westdeutschen Kirchen zu profitieren. Das änderte sich nach dem Mauerfall. Nun waren sie aufgefordert, auf eigenen Beinen zu stehen. Dieser Wandel gestaltete sich aus mehren Gründen schwierig. Erstens: Viele ostdeutsche Gemeindemitglieder hegten große Skepsis gegenüber Vereinen oder Mitgliedschaften in Organisationen. Das westdeutsche System kirchlicher Verbände war ihnen fremd. Die Kirchenmitglieder waren es mehrheitlich gewohnt, in geschlossenen Gemeinden zu agieren. Diese sollten sich jetzt öffnen, um als Religionsgemeinschaften gesellschaftlich zu partizipieren. Doch ein solches Engagement war in den Ostgemeinden weder tradiert noch positiv konnotiert. Es stand im Verdacht, von religiösen Fragen abzulenken, den Glauben zu verwässern und das kirchliche Profil abzunutzen. Zweitens: Die Finanzsituation der ostdeutschen Kirchen war im Kalten Krieg immer angespannt. Nach dem Mauerfall wurden die Geldprobleme aber noch größer. Zwar stiegen zum Beispiel die Löhne der kirchlichen Mitarbeiter. Doch um diese dringend notwendige Lohnerhöhung finanzieren zu können, waren Stellenstreichungen notwendig. Die Kirchen als Arbeitgeberinnen veränderten sich und an der Basis trafen Rationalisierungsmaßnahmen auf Unverständnis. Die Mitgliederverluste in den 1990er-Jahren führten Kirchenmitglieder deshalb auch darauf zurück, dass die ostdeutschen Kirchen scheinbar widerspruchslos in ein kapitalistisches System wechselten. Drittens: Diskriminierungserfahrungen, die Kirchenmitglieder in der DDR aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit erlebt hatten, übertrugen sie auf die Zeit nach 1990: Sie fühlten sich nun wegen ihrer staatlichen Herkunft ausgegrenzt. Die Nichtanerkennung beruflicher Qualifikationsabschlüsse durch die westdeutschen Kirchen enttäuschte nicht nur ihre Erwartungen, sondern kränkte sie. Viele kirchliche Mitarbeiter aus der DDR und Ost-Berlin hatten darauf gehofft, dass die besonderen Umstände ihres Werdegangs bei den Westdeutschen Rücksicht finden würden. Sie stellten das Gegenteil fest: Ihre Voraussetzungen waren andere, aber sie wurden als Gleiche behandelt. Auf dieser Basis gediehen Vorbehalte. Die ostdeutschen Kirchen gerieten in eine Identitätskrise. Diese beruhte auf der Angst, weitere Mitglieder zu verlieren, die an die Sorge vor dem Verlust eigener Traditionen gekoppelt war, weil man

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sich den als übermächtig wahrgenommenen westdeutschen Kirchen ausgesetzt fühlte. Aus ostdeutscher Perspektive ging die Wiedervereinigung somit gleichzeitig mit Versuchungen und Bedrohungen einher: Die Versuchung lag darin, Mitglieder zu halten, auch wenn das eine vermeintliche Entkirchlichung bedeutete. Eine Bedrohung war sie, weil das kirchliche Leben in der DDR und Ost-Berlin vor diesem Hintergrund bedeutungslos zu werden schien und zu einer Erinnerung gerann. Besonders ins Gewicht fiel, dass die Konsequenzen, die sich aus der Wiedervereinigung ergaben, in Ost und West unterschiedlich schwer wogen und dementsprechend verschieden bewertet wurden. Die existenzielle Dimension, die diese Veränderungen für die Menschen in Ostdeutschland hatte, spielte im Westen keine große Rolle. Der Riss zwischen Ost und West trat auch im Umgang mit der Kirchengeschichte nach 1990 hervor. Es begann ein regelrechter Wettbewerb um Deutungshoheiten: Die Aufarbeitung in Ostdeutschland geschah unter scheinbar emotionalen Vorzeichen, während die Westdeutschen eine vermeintlich objektive Historisierung der Geschehnisse vorantrieben. Aber hier wie dort gab den Ton der Auseinandersetzung meist das Erbe des MfS an. Die Wiedervereinigung erzeugte ein großes Bedürfnis nach Zugehörigkeit und entsprechenden Zuordnungskategorien. Vereinfacht galt folgende Formel: Wer zur Bundesrepublik dazugehören wollte, durfte sich in der DDR nicht schuldig gemacht haben und frei von Schuld war, wer Widerstand geleistet hatte. Die Akten des Geheimdienstes entfalteten daher eine doppelte Beweislast: Sie dienten dazu, Schuldige zu benennen und wurden gleichzeitig angeführt, um (die eigene) Unschuld nachzuweisen. Die Kirchen gingen insofern auf dieses Problem ein, als sie für Vergebung und Versöhnung warben, anstatt nach Schuld zu suchen und Bestrafung einzufordern. Das galt auch für die eigenen Mitglieder und deren Kontakte zum MfS, die nicht systematisch aufgearbeitet wurden. Stattdessen wurde geschwiegen und die Erinnerungen daran überlagert. Das ändert aber nichts daran, dass die fehlende Auseinandersetzung mit der Frage, wie eng verwoben Christen mit der DDR-Gesellschaft und staatlichen Institutionen waren, weiterhin als Lücke wahrgenommen wird. Das kommt auch in gängigen Narrativen zum Ausdruck. Mit Blick auf die Kirchen in Deutschland liegt es daher nahe, für die Zeit nach 1990 ebenfalls von Verflechtung in Abgrenzung zu sprechen.233 Ursprünglich prägte Kleßmann diese Formel für das besondere Verhältnis der beiden deutschen Staaten im Kalten Krieg. Tatsächlich umschreibt sie die kirchlichen Beziehungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs genauso treffend. Abgrenzungs- und Kon233 Vgl. Kleßmann, Christoph: Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 29–30 (1993), S. 30–41.

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kurrenzmomente sowie damit einhergehend der Kampf um Deutungs- und Handlungsmacht waren für die Jahre nach der Wiedervereinigung weit prägender als positive Identifikationsmomente.

Schluss Als mich der Küster im März 2017 in das Dachgeschoss der Kirche St. Augustinus in Berlin-Prenzlauer Berg führte, wollte er mir nicht zeigen, dass es dort eine geheime Wohnung gab, in der sich vor 1990 über 30 Jahre lang ost- und westdeutsche Katholiken getroffen hatten. Er sah seine Aufgabe darin, mir das kleine Pfarreiarchiv zugänglich zu machen, das hier heute seinen Platz hat. Erst auf Nachfrage erzählte er mir etwas über die Geschichte dieses Ortes. In der Existenz der Wohnung und ihrem Zweck sah er nicht eigentlich etwas Besonderes. Er stellte nicht in Frage, dass kirchliches Leben in Ost-Berlin und der DDR oft in halböffentlichen und privaten Räumen stattfand. Und er wusste, dass diese Räume nicht eingerichtet worden waren, um dort einen politischen Umsturz zu planen oder ein System zu sprengen. Katholikinnen und Katholiken trafen sich hier, um über Glaubensfragen und gesellschaftliche Entwicklungen zu sprechen. Dass sie gezwungen waren, sich unter diesen besonderen Umständen zusammenzufinden, verweist deshalb vor allem auf den Repressionscharakter des DDR-Regimes. Über die Gesprächsrunden selbst sagt es nichts. Stärker als der Druck von außen war offensichtlich das Bedürfnis der Anwesenden, sich mit Menschen auszutauschen, die in einem anderen System lebten, unterschiedlicher Herkunft waren und gerade deshalb über einen anderen Erfahrungsraum verfügten als sie selbst. Ihre Motive waren verschieden: Für die einen war das geteilte Wissen eine Bereicherung, für die anderen Bestätigung. Einzelne Positionen erfuhren Zustimmung oder Ablehnung. Die Teilnehmenden verstanden sich selbst oft nicht als politische Akteure, aber ihr Handeln wurde von außen als genuin politisch gedeutet. Auch wenn der Inhalt ihrer Gespräche nicht unbedingt typisch für den Kalten Krieg war – der Rahmen, in dem diese Gespräche stattfanden, war es jedenfalls. Nach wie vor wird Religion von der Zeitgeschichtsforschung in erster Linie mit Glaubensfragen und Frömmigkeitsformen assoziiert. Ihr wird ein tendenziell autoritärer Charakter unterstellt, der in einer vermeintlich liberalen und aufgeklärten Gesellschaft unzeitgemäß erscheint. Diese enge Begriffsführung neigt dazu, die soziale und gesellschaftliche Bedeutung von Religion zu unterschätzen. Denn aus der Beschäftigung mit Religionsgemeinschaften lassen sich nicht nur Erkenntnisse über Religion ziehen, sondern eben auch über Gesellschaften. Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, dass es für eine Geschichte der Religionsgemeinschaften im Kalten Krieg nicht ausreicht, zwischen Ost und West zu unterscheiden oder die überstaatliche Einheit der Kirchen als gegeben anzunehmen. Stattdessen wird nach grenzübergreifenden Verflechtungen gefragt, wobei der Tatsache Rechnung getragen wird, dass die „geteilte Geschichte“ dieser Ge-

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meinschaften nicht erst 1945 begann, noch endete sie 1990.1 Genauso wie die Trennungsgeschichte der Ost- und West-Berliner Kirchen im Kontext des Kalten Kriegs nicht auf die Zeit zwischen Mauerbau und Mauerfall begrenzt werden kann. Intergenerationeller Streit, Interessenkonflikte zwischen Amtskirche und Kirchenbasis, zwischen Geistlichen und Laienmitgliedern, zwischen Stadt- und Landgemeinden, Raummangel, Personalnot oder Reformskepsis beherrschten kirchliche Diskurse in Ost und West über die bekannten Zäsuren hinaus. Manche regionalen oder konfessionellen Prägungen konterkarierten nationale Interessen oder ideologische Prämissen. Die oftmals suggerierte Trennschärfe wird außerdem durch einen konfessionsübergreifenden Blick auf die Geschichte der Kirchen im geteilten Berlin in Frage gestellt. Dass heißt nicht, die Unterschiede zwischen den Konfessionen zu negieren, aber es ermöglicht outside the box zu denken. Die einzelnen Konfessionen beobachteten sich fortwährend, sie antizipierten die Entscheidungen der anderen und verstanden sich – gerade im Osten – als Einheit gegenüber einem gemeinsamen staatlichen Feind. Gleichzeitig standen die Konfessionen traditionell in einem Konkurrenzverhältnis zueinander: Einerseits waren sie Verbündete, andererseits blieben sie Kontrahenten. Diese Verbindung erzeugte ein eigenes Spannungsverhältnis, das nach dem Ende des Kalten Kriegs in der Streitfrage zum Ausdruck kam, welche Akteure mehr Widerstand gegenüber der SED-Führung geübt beziehungsweise welche Kirchenmitglieder sich opportunistischer verhalten hatten. Diese komplexe Vielfältigkeit von Ost, West, Protestantismus, Katholizismus kommt also einer vorschnellen Homogenisierung des Kirchlichen ebenso zuvor, wie derjenigen angeblich streng getrennter politischer Systeme. So ist es möglich, die Befunde dahingehend zu befragen, was an ihnen strukturell, was regional, was konfessionell oder was Ergebnis des Handelns Einzelner ist. Fraglos ist es vor diesem Hintergrund notwendig, die Grenzen des tradierten kirchlichen Einheitsnarrativs zu benennen. Das heißt nichts anderes, als offen mit Widersprüchen umzugehen: Denn die fortwährende Suche nach Legitimität, die die Einheitsidee verlangte, offenbarte gleichzeitig massive Loyalitätskonflikte. Hinsichtlich der hier betrachteten Verflechtungen stechen vier Dynamiken konfessionsübergreifend hervor. Erstens: Die Suche der Kirchen nach einer grenzübergreifenden Identität bedeutete eine permanente Anstrengung. Das zentrale Problem lag darin begründet, dass zwischen selbsterklärten und zugeschriebenen Identitäten Widersprüche existierten, die die vermeintlich eindeutigen Zuordnungskriterien immer wieder unterminierten. In der Parallelität von Einheitserfahrungen und Trennungsmomenten kamen hybride Identitäten im Kalten Krieg zum Ausdruck: Loyalitäten überlagerten sich oder konkurrierten miteinan1 Bösch, Frank (Hrsg.): Geteilte Geschichte: Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015.

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der. Kirchenmitglieder waren auch Staatsbürger, Familienmitglieder, Berufstätige. Zugehörigkeit bezog sich gleichermaßen auf Systeme und Staaten, wie auf den kirchlichen Raum, wo wiederum Gegensätze zwischen Basis und Leitung oder konservativen und progressiven Gruppen vorherrschten. Dies- und jenseits der Mauer etablierten sich Institutionen und Netzwerke, die grenzübergreifende Beziehungen verstetigten – während sich zur selben Zeit eigene, systemimmanente Standpunkte in Ost und West herauskristallisierten, die die innerkirchliche Kommunikation prägten. Bestimmte Begriffe und Praktiken sowie deren symbolische Verwendung sind dafür charakteristisch. Wörter wie Einheit oder Widerstand waren spezifisch konnotiert: Einheit relativierte die Existenz zweier deutscher Staaten und bezog sich auf die dauerhafte Verbindung der ost- und westdeutschen Kirchen. Während zu Beginn des Kalten Kriegs damit vor allem auch persönliche Kontakte assoziiert wurden, wurde die Einheit später von der Handlungs- auf die Metaebene verlagert, weil sie im kirchlichen Alltag fortwährend an Bedeutung verlor. Widerstand meinte zunächst die Ablehnung der nationalsozialistischen und der kommunistischen Ideologien, bevor der Begriff im Verlauf der 1950er-Jahre vor allem im Osten konkret mit der politischen Führung in der DDR und ihren staatlichen Institutionen in Verbindung gebracht wurde. Doch zwischen den 1960er- und den 1980erJahren änderte sich diese Zuschreibung abermals. Einzelne Personen und Führungszirkel, vor allem das MfS, standen nach wie vor für den Missbrauch staatlicher Gewalt in der DDR, aber der sozialistische Staat als Idee erfuhr auch in kirchlichen Kreisen in Ostdeutschland eine Aufwertung. In West-Berlin und der Bundesrepublik war tendenziell eine umgekehrte Entwicklung zu beobachten. Die oftmals idealisierten Erwartungen linksorientierter Kirchenmitglieder wurden beim Anblick des real existierenden Sozialismus vielfach enttäuscht. Sie stellten die Institutionen und mit ihnen das System in Frage, weshalb sie widerständige Bewegungen in den ostdeutschen Kirchen unterstützten.2 Trotz oder gerade wegen dieser Wechsel griffen die Kirchen durchgängig auf beide Begriffe – Einheit und Widerstand – zurück und markierten sie als grenzübergreifende Identitätsmerkmale. Solange diese Markierung stillschweigend hingenommen wurde, funktionierte sie als Kitt zwischen Kirchenleitung und Kirchenbasis, zwischen Ost und West. Die Bedingung war also das Schweigen über die Zweifel. Tatsächlich stellte aber die Wahrnehmung unterschiedlicher Alltagswirklichkeiten in Ost und West den Einheitsanspruch immer wieder in Frage. Das Aussehen, das Verhalten, die Sprache der Anderen wurden mit Blick auf das Eigene als verschieden beschrieben. Bereits vor dem Mauerbau entfernten sich Ost- und West-Berliner Gemeindemitglieder räumlich und gedanklich voneinander. Auf2 Vgl. Weber: Getrennt und doch vereint, S. 1040–1042.

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grund von Informationsdefiziten traten Verständigungsschwierigkeiten und Kommunikationsprobleme auf. Vertrauensverluste waren die Folge. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der 13. August 1961 rückblickend ambivalent bewertet wurde: Anders als heute oft angenommen, manifestierte er einen Zustand der Teilung, der für viele Zeitgenossen schon lange zuvor alltägliche Realität war. Erst nach dem Mauerbau schien es vielen Kirchenmitgliedern möglich, offen über wahrgenommene Unterschiede und die mit ihnen einhergehenden Probleme zu sprechen beziehungsweise sich von ihnen loszusagen. Vor allem für die WestBerliner Christen galt, dass sie nun eigene Wege einschlagen konnten, ohne Rücksicht auf den anderen Stadtteil nehmen zu müssen. Umgekehrt empfanden es OstBerliner Kirchenmitglieder jetzt als legitim, über das Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR neu nachzudenken. Das geteilte Deutschland war kein Provisorium mehr, das die Kirchen, wenn sie nur durchhielten, ignorieren konnten. Seit dem Ende der 1960er-Jahre ist mit Blick auf die kirchlichen Verhältnisse zwischen Ost und West außerdem eine wichtige Akzentverschiebung zu beobachten, die nicht ohne die politischen Weichenstellungen dieser Zeit verstanden werden kann: Die deutsch-deutschen Beziehungen wurden in einem größeren Kontext bilateraler und internationaler Kontakte verortet. Der Bezugsrahmen erweiterte sich auf diese Weise und die relativ starren Verhältnisse in den deutschen Kirchen wurden anders gesehen und neu bewertet. Im Zuge dieses Differenzierungsprozesses traten die Grenzen des Gemeinsamen deutlich hervor, aber sie wurden nicht mehr ausschließlich als Defizit beschrieben: Trotz ständig wechselnder Verhältnisse von Nähe und Distanz blieben die ost- und westdeutschen Kirchen einander verbunden, ohne eine Einheit zu bilden, die Gleichheit verlangte: der Andere oder der „Fremde provozierten [nicht] ausschließlich krisenhafte Begegnungen.“3 In der Praxis bedeutete das, dass einige Gemeinden grenzübergreifende Kontakte dezidiert suchten und andere kein Interesse daran bekundeten, wobei losgelöst vom tradierten Einheitsnarrativ beide Optionen zumindest auf der Gemeindeebene legitim waren. Eng verknüpft mit dieser Möglichkeit, sich abzugrenzen, waren, zweitens, andauernde Generationskonflikte. Meinungsverschiedenheiten zwischen jüngeren und älteren Kirchenmitgliedern sind in Religionsgemeinschaften nichts Ungewöhnliches, Richtungswechsel und Reformen gehen oft von ihnen aus. Kirchliches Leben ist keine statische Angelegenheit. Diese Beobachtung ist gerade nicht spezifisch, vielmehr der Befund, dass es sich um eine eher unspezifische Dynamik handelt: Die suggerierte Beständigkeit wurde durch diese intergenerationellen Konflikte also aufgebrochen. Vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs ist das vor allem

3 Reuter: Ordnungen des Anderen, S. 11.

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relevant, weil es junge Menschen waren, die Zweifel an der kirchlichen Einheit anmeldeten und eine Trennung in Betracht zogen. Dabei wurde der Jugend kirchlicherseits immer eine herausragende Rolle zugewiesen, wenngleich sich die Handlungsmacht junger Menschen im Zeitverlauf veränderte. Waren Jugendliche zunächst angehalten, die Interessen der Kirchenund Gemeindeleitungen zu vertreten, wuchs ihr Misstrauen gegenüber diesen. Auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen war ein Festhalten an der kirchlichen Einheit, das Beharren auf kirchlichen Autoritätsprinzipien oder der Ausschluss nichtkirchlicher Akteure aus kirchlichen Räumen nicht länger nachvollziehbar. Dagegen begehrten junge Kirchenmitglieder auf, was sie aus Sicht der Kirchenleitungen wiederum verdächtig machte, die in ihnen die Treiber von Entkirchlichung zu erkennen glaubten. Hinzu kam, dass in den Gemeinden vor Ort historische Zäsuren mit personellen Kontinuitäten korrelierten. Der Elitenwechsel erfolgte zeitlich verzögert und entzerrt. 1945 bedeutete keinen Bruch. Der Einzug von in der DDR sozialisierten Theologen in die ostdeutschen Pfarrhäuser hingegen sehr wohl. Gleichzeitig stellte in West-Berlin die erste Generation von Nachkriegstheologen das traditionelle Pfarrerbild in Frage. Die Kritik junger Christen am Einheitsnarrativ war verbunden mit dem Verweis auf strukturelle Schwächen und verpasste Demokratisierungsschritte. Jüngere Generationen zielten verstärkt darauf ab, innerkirchliche Gegebenheiten vor Ort zu verändern und sie erkannten, dass der ideologische Überbau solche Veränderungen verzögerte, wenn nicht gar verhinderte. Ihnen leuchtete nicht ein, warum sie in West-Berlin auf Partizipationsrechte verzichten sollten, die Christen in Ost-Berlin verwehrt blieben. Ihr Verständnis von kirchlicher Einheit schloss derlei Unterschiede mit ein: Innerkirchliche Reformen sollten aufgrund der politischen Teilung nicht per se unmöglich sein. Beim Vergleich des kirchlichen Lebens in beiden Stadthälften fallen deshalb auch Parallelentwicklungen auf, die nicht zwangsläufig in einem Zusammenhang zum Kalten Krieg standen. Sie sind quasi zufällig, aber trotzdem typisch – nicht für den Systemkonflikt, sondern für die darin verorteten Religionsgemeinschaften. Entscheidend ist deswegen: Das synchrone Auftreten dieser Themen oder Probleme verlangte oder erforderte nicht unbedingt eine grenzübergreifende Bezugnahme. Drittens: Als die Mauer fiel, waren die Kirchenräume gut gefüllt. Aber die Vorstellungen der Menschen, die dort zusammenkamen, unterschieden sich oft in erheblichem Maß von den Absichten der ostdeutschen Kirchenleitungen und einer Mehrzahl von Laien. Die von den Ost-Berliner Kirchen nach außen immer wieder kommunizierte Homogenität war aufgrund dieser Entwicklung zweifelhaft. Stattdessen waren die Berliner Kirchen im Kalten Krieg von massiven Loyalitätskonflikten geprägt.

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In Ost-Berlin wurde grundlegend darüber verhandelt, inwiefern sich die Amtskirchen, aber auch einzelne Kirchenmitglieder an ihr sozialistisches Umfeld anpassen und mit ihm interagieren sollten oder mussten. Zwar schotteten sich die Gemeinschaften aufgrund staatlicher Repressionsmaßnahmen nach außen überwiegend ab und zogen sich in halböffentliche und private Bereiche zurück, wo exklusive und relativ geschützte Kommunikationsräume entstanden. Doch ist das auch der Grund dafür, warum die Kirchen als Orte für Personen interessant wurden, die sich vielleicht nicht alle einer Religionsgemeinschaft zugehörig fühlten, aber Meinungen vertraten, die von der offiziellen Staatsdoktrin abwichen: Oppositionelle, Menschen aus der Friedens- und Umweltbewegung, Punks und Ausreisewillige kamen in die Kirchen, um sich informell auszutauschen, um alternative politische und gesellschaftliche Ideen zu diskutieren und auszuleben. Die Anwesenheit dieser Anderen führte in den Gemeinden zu erheblichen Spannungen zwischen linken, basisnahen und konservativen oder evangelikalen Gruppen. Nicht selten standen Gemeindemitglieder denen, die sich unter dem Dach der Kirchen trafen, äußerst skeptisch, wenn nicht gar ablehnend gegenüber. Entfremdung in Ost-Berlin meinte also nicht nur Entfremdung vom Westen, sondern auch Entfremdung zwischen kirchlicher Leitungsebene und Teilen der Kirchenbasis. Das kirchliche Leben in West-Berlin wurde von der Insellage der Stadt und der damit verbundenen Isolationssituation geprägt, die mit einer Vielzahl von Problemen einherging. Im Zuge der Studentenbewegung Ende der 1960er-Jahre politisierten sich viele, vor allem junge Kirchenmitglieder. Der Streit zwischen progressiven und konservativen Kräften bestimmte den kirchlichen Alltag. Bei den Versuchen der Kirchenleitungen, die Vielzahl politischer, sozialer und ökonomischer Konflikte einzuhegen, schlugen sich ganz anders als in Ost-Berlin kapitalistische Denkweisen nieder. Die Kirchen agierten hier auch als Unternehmerinnen. Bei der Problemlösung wurde folgerichtig mit unterschiedlichen Modellen experimentiert, die auf rationalen, wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren sollten. Effizienzkriterien entschieden darüber, welche der Versuche fortgeführt und welche abgebrochen wurden. Das galt ebenso für die steigende Zahl der Integrationsprojekte. Anders als in den Ost-Berliner Gemeinden, die sich lange systematisch absonderten, bemühten sich die West-Berliner Kirchen verstärkt darum, einer von Migration geprägten Stadtbevölkerung gerecht zu werden. Sie suchten dabei den Kontakt zu Christen, die aus dem Ausland zugezogen waren, zu Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften und zu nichtkirchlichen Akteuren. Insofern fand in den West-Berliner Gemeinden eine genuin andere Auseinandersetzung mit dem Anderen und Fremden statt. Diese Offenheit und die Bereitschaft zur Kooperation sowie die Tendenz zur Konfrontation standen im diametralen Gegensatz zum Gemeindeleben in Ost-Berlin.

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Dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit entsprachen diese Entwicklungen freilich nicht, weshalb hybride Identitäten verdeckt wurden: In den Erinnerungen vieler Zeitzeugen und in der Historiographie spiegelte sich das nach 1945 im scheinbar trennscharfen Dualismus von Bekennender Kirche und Deutschen Christen. Nach dem Mauerfall 1989 kam das in der Dichotomie von Opposition und Opportunismus zum Ausdruck. (Weil Täterschaft als Problem weitestgehend ausgeblendet beziehungsweise in den Bereich des MfS ausgelagert wurde.) In Zweifel gezogen wurden diese Darstellungen jedoch schon zeitgenössisch von innerkonfessionellen und grenzübergreifenden Spannungen: Auf die Frage, warum Kirchenmitglieder in Ost-Berlin blieben, wenn für sie die Möglichkeit der Ausreise bestand, gab es keine allgemeingültige Antwort, was westdeutsche Christen zuweilen frustrierte. Politische, berufliche, familiäre oder religiöse Gründe konnten dagegen sprechen. Denn Zugehörigkeit setzte Abgrenzung voraus und die Vorstellungen davon, wer anders war, wandelten sich im Zeitverlauf. Während Christen in Ost und West zunächst die DDR als das signifikant Andere bestimmten, veränderte sich das Verhältnis in den folgenden Jahrzehnten stetig. So bezeichneten sich etwa viele Kirchenmitglieder nicht erst nach 1989 dezidiert als ostdeutsch und distanzierten sich auf diese Weise von den westdeutschen Kirchen. Das berührt, viertens, eine Ebene des diskursiven Verhandelns über die kirchliche Deutung von Opfer- und Schuldnarrativen sowie damit einhergehend die Rolle der Kirchen als Instanzen der Versöhnung und Vergebung. Nach 1989/ 1990 folgten die Kirchenleitungen einem anderen Narrativ als weite Teile der Kirchenbasis: Die Wiedervereinigung der Amtskirchen verlief weitestgehend problemlos und wurde als Erfolgsgeschichte gedeutet. Doch der emotionale Wiedervereinigungsprozess dauerte für viele Kirchenmitglieder wesentlich länger als die amtskirchlichen Fusionen. Der anfänglichen Euphorie stand angesichts der mentalen Unterschiede bald Ernüchterung gegenüber. Anders als nach 1945 gelang es den Kirchen in Ostdeutschland nicht, sich als Zufluchtsorte in einer Umbruchszeit zu beweisen. Enttäuschte Erwartungen einerseits und bemerkenswertes Desinteresse (in Ost und West) andererseits verweisen stattdessen auf komplexe Entfremdungsprozesse und offenbarten darüber hinaus tiefsitzende Ressentiments. In den Jahren nach dem Mauerfall wurde die Frage nach Zugehörigkeit anhand der beiden Kategorien Ost und West beantwortet, regionale oder konfessionelle Unterschiede wurden demgegenüber, ganz anders als in der Nachkriegszeit, marginalisiert. Die Kirchen in Ost- und Westdeutschland wurden quasi über Nacht institutionell vereinheitlicht, während sie gleichzeitig als kategorisch anders wahrgenommen wurden, was das Zusammenwachsen zu einer Gemeinschaft erheblich erschwerte.4 Vor allem der Umgang mit der jüngsten Vergangenheit erwies sich 4 Kunter: Erfüllte Hoffnungen, S. 242–249.

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dabei als Bürde. Die besondere Gemeinschaft wollte die Geschichte nicht teilen. In die kirchliche Wiedervereinigung war somit von Beginn an eine gespaltene Identität eingeschrieben. Seither sind mehr als 30 Jahre vergangen. Trotzdem sind die Spuren der Teilung in den Berliner Kirchen weithin sichtbar und spürbar. Darauf deuten auch die vorherrschenden Erzählungen vor Ort, die wiederum von massenmedialen Bildern geprägt sind. In West-Berlin werden die Erfolge basisnaher Initiativen betont, die als selbstbewusster und gerade auch mit Blick auf die Kirchenleitungen selbstbestimmter Einsatz gesehen werden. Der Fokus liegt auf der Handlungsmacht einzelner Gemeindemitglieder. Die Selbstdarstellung vieler Ost-Berliner wird demgegenüber von einem Opfernarrativ dominiert, das situationsabhängig dazu dient, die eigene Handlungsohnmacht oder oppositionelles, widerständiges Verhalten zu beschreiben. Fatalerweise wird dieses Narrativ oft mit einer historischen Legitimationsstrategie gleichgesetzt. Aber Geschichte kann Zusammenhänge nur erklären, sie soll und will sie nicht rechtfertigen. Dass sich diese Darstellung durchgesetzt hat, ist vielmehr auf einen Lernprozess zurückzuführen: Zeitgenössisch hatten sich Christen in Ost-Berlin und der DDR trotz staatlicher Repressionen nicht per se als Opfer definiert. Sie waren Akteure mit einer eigenen Handlungsmacht und nahmen sich selbst auch so wahr. Viele lebten angepasst in der sozialistischen Gesellschaft. Doch eine solche Erzählung war nach 1990 gesellschaftlich nicht akzeptiert. Sie kannte zu viele Widersprüche und war deshalb zu uneindeutig. Nach dem Zweiten Weltkrieg erklärten die christlichen Religionsgemeinschaften, dass Staatsgrenzen keine Kirchengrenzen seien. Während des Kalten Kriegs beriefen sich die Amtskirchen trotz institutioneller Trennungen und massiver Entfremdungserfahrungen an der Kirchenbasis immer wieder auf dieses Postulat und erhoben es zum Alleinstellungsmerkmal. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands war dieser Einheitsanspruch jedoch schlagartig uninteressant und aus der Besonderheit wurde etwas Gewöhnliches. Das bis dahin stark beanspruchte Einheitsnarrativ ging deshalb nach 1990 bald in die Geschichtsbücher ein. In den Gemeinden vor Ort aber dauerte die Suche danach weiter an. Bis heute. Mit Religion gehen nicht nur Glaubensfragen einher. Religionsgemeinschaften sind vielmehr Orte, an denen über Ordnungssysteme, Hierarchievorstellungen, das Verhältnis der Generationen, vor allem aber auch über Legitimität, Loyalität und Solidarität verhandelt wird. Fragen also, die gesamtgesellschaftlich, konfessionsübergreifend und global von Bedeutung waren und sind. Aufgrund des Glaubens aber haben Religionsgemeinschaften einen besonderen Status. Frömmigkeit ist eine der vergemeinschaftenden Praktiken, mit denen sich Kirchen als Institutionen hervorbrachten, als die sie wiederum gesellschaftliche und politische Geltung beanspruchten und erlangten.

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Im Kalten Krieg waren die Kirchen ein besonderer Ort, weil sie von Beginn an die Einheit in Zeiten von Trennung thematisierten und damit permanent die Vergemeinschaftung Einzelner forcierten. Dabei befanden sie sich in einem ständig wechselnden Verhältnis von Nähe und Distanz zu Politik und Staat. Die Kirchen waren deshalb nicht nur der Ort, an dem Konflikte ausgetragen wurden. Vielmehr sind diese Deutungskämpfe und ihre Rückwirkungen mindestens als Irritationsmomente im Kalten Krieg zu lesen. Dazu gehört auch die Beobachtung, dass gerade Verflechtungsschübe die Beziehungen nicht unbedingt festigten, sondern neue Entfremdungen zur Folge hatten und zwar sowohl im Hinblick auf das Verhältnis von Kirchenleitungen und Kirchenbasis, Kirchen und Staat oder Ost und West. Das führt letztlich zu der Frage zurück, inwieweit es den Kirchen gelang, nachhaltig und über die Grenzen ihrer eigenen Institutionen hinaus Einfluss zu üben. Die Antwort darauf ist mit Blick auf den eingangs formulierten Anspruch ernüchternd: Im Kalten Krieg stellten christliche Religionsgemeinschaften keine Ausnahme dar. Wo die gesellschaftliche Einheit um sie herum verloren ging, konnten die Kirchen allein sie nicht (wieder)herstellen.

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Interviews1

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Interview mit A. R. 21.1.2016, Luckenwalde. Interview mit Arnold Löwenbrück 29.1.2016, Berlin. Interview mit C. D. 24.4.2017, Berlin. Interview mit E. F. 21.6.2017, Berlin. Interview mit J. K. 24.6.2017, Berlin. Interview mit Matthias Kohl 22.2.2017, Berlin. Interview mit Paul Plume 2.2.2016, Ahrensfelde. Interview mit Prälat Roland Steinke 23.5.2017, Berlin. Interview mit S. T. 11.4.2017, Berlin. Interview mit Weihbischof Wolfgang Weider 3.4.2017, Berlin.

Zeitungen und Zeitschriften Amtsblatt des Bischöflichen Ordinariats Berlin begegnung Berlin-Brandenburgisches Sonntagsblatt Berliner Morgenpost Berliner Sonntagsblatt Berliner Zeitung Der CHRIST Der SPIEGEL Der Tagesspiegel Dialogikus Die Gemeinde

1 Die Transkripte der Interviews liegen der Autorin vor. Die interviewten Personen haben einer Veröffentlichung der Transkripte nur eingeschränkt oder gar nicht zugestimmt. https://doi.org/10.1515/9783111026602-009

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Gedruckte Quellen und Sekundärliteratur Abmeier, Karlies: Heinrich Krone (1895–1989), in: Höhle, Michael (Hrsg.): 75 Jahre Bistum Berlin. 20 Persönlichkeiten, in: Wichmann-Jahrbuch des Diözesangeschichtsvereins Berlin 8 (2004/2005), S. 186–201. Ackermann, Manfred: Die Akademikerseelsorge von 1985–1998, in: Dodt, Christine/Klemp, Manfred (Hrsg.): Das beinahe verpasste Jubiläum. 50 Jahre Kurt-Huber-Kreis. Katholische Akademikerseelsorge in Berlin (Ost), Berlin 2010, S. 52–55. Adolph, Walter: Erich Klausener, Berlin 1955. Adolph, Walter: Kardinal Preysing und zwei Diktaturen. Sein Widerstand gegen die totalitäre Macht, Berlin 1971. Adolph, Walter: Sie sind nicht vergessen. Gestalten aus der jüngsten deutschen Kirchengeschichte, Berlin 1972. Arendt, Hannah: The Origins of Totalistarism, New York 1951. Akten deutscher Bischöfe. Über die Lage der Kirche 1933–1945, Band VI 1943–1945, bearbeitet von Ludwig Volk, Mainz 1985. Akten Deutscher Bischöfe seit 1945. DDR 1957–1961, bearbeitet von Thomas Schulte-Umberg, Paderborn 2006. Alberigo, Giuseppe/Wittstadt, Klaus (Hrsg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959– 1965), 5 Bände, Mainz 1997–2009. Albus, Michael: Eine kleine Klammer. Zur Geschichte des Ost-West-Informationsdienstes, in: Hehl/ Ulrich von, Hockerts, Hans Günter: Der Katholizismus – gesamtdeutsche Klammer in den Jahrzehnten der Teilung? Erinnerungen und Berichte, Paderborn u. a. 1996, S. 69–81.

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Personenregister Abmeier, Karlies 185 Adenauer, Konrad 73, 156, 238 Adolph, Walter 31, 110, 127–128, 130, 139– 140, 178, 332 Albus, Michael 338, 469–470 Altenhöner, Florian 44 Andler, Erich 206 Aporius, Jürgen 329 Barth, Karl 229, 250 Barthel, Albrecht 431 Baumgart, Jürgen 163 Beer, Karl Willy 23 Bengsch, Alfred 135, 181, 208–210, 212–214, 217, 223, 266–267, 279, 299–300, 310, 332, 337–339, 342, 351, 367, 376 Bengsch, Hubert 332 Berger, Joachim 463 Beyling, Fritz 132 Biedrzynski, Richard 119 Bonhoeffer, Dietrich 174–175, 182, 475 Bransch, Günter 442 Braun, Walter 76, 99 Braune, Martin Paul Hermann 159 Breitscheid, Rudolf 182 Brix, Ernst Otto Eckhardt 306 Brown, Stephen 393 Brüsewitz, Oskar 197 Buchholz, Peter 137, 191 Burgess, John P. 248–249 Chruschtschow, Nikita 218 Coppenrath, Albert 177 Dähn, Horst 108 Dammann, Rolf 149, 170, 243–244, 252, 278, 282, 390, 470, 473 Dammann, Uwe 248, 470 Delbrück, Walter 314 Dibelius, Otto 2, 32, 40, 44, 50, 63–65, 67– 68, 72–74, 78, 83, 89, 94, 98–99, 103– 104, 110, 119, 124, 147, 159–160, 163, 168–169, 172, 183–185, 190, 195–196, 199, 218–221, 228, 230, 235, 237–238, 249, 255, 264 Dohnanyi, Klaus von 474–475

https://doi.org/10.1515/9783111026602-010

Döpfner, Julius 131–135, 180–181, 185–186, 188–190, 193, 195–196, 209, 212–213, 220, 228, 267 Drenkmann, Günter von 347 Duntze, Klaus 352 Dutschke, Rudi 350 Ebert, Ingrid 251 Engel, Peter 294 Engels, Friedrich 398 Eppelmann, Rainer 261 Fehlhaber, Herta 150 Fischer, Alfons 337, 361 Fischer, Martin 39 Forck, Gottfried 234, 247, 316, 398, 428, 434, 462 Forster, Karl 215–216 Fuchs, Ernst 166 Furian, Hans-Otto 296, 471 Galen, Clemens August Graf von 177 Geiger, Max 196, 293 George, Reinhold 346, 348 Gerber, Hans 161–163 Giese, Helmut 434 Graf, Friedrich Wilhelm 281 Graham, Billy 147–149 Grieb, Ferdinand 195 Groß, Otto 131–132 Großbölting, Thomas 7, 11 Große Kracht, Klaus 70, 176 Grüber, Heinrich 76–77, 145, 196, 230 Gülzow, Dietrich 431 Günter, Lorenz 246, 390 Halbrock, Christian 125, 170, 234, 410 Hallbauer, Wilfried E. 326 Hallmann, Dorothea 199 Hammelsbeck, Oskar 78 Hammerstein, Franz von 355 Havemann, Robert 242–243 Heinemann, Gustav 170–171, 238, 274 Heinemann-Grüder, Curt Jürgen 170 Heinemann-Grüder, Curt-Jürgen 107, 169– 171, 274

510  Personenregister

Heinrich, Gerd 12, 28, 45, 51, 76, 89, 110, 145, 185, 196, 230, 237, 242, 262, 425 Helbich, Hans-Martin 223–224, 322, 328, 330, 334, 346 Henkys, Reinhard 242, 249–250, 302, 307– 308 Hennig, Burkhard 332 Hilse, Werner 441, 467 Hinze, Winfried 437 Hogebrink, Laurens 261, 392 Honecker, Erich 338, 366–367 Ide, Ernst-August 231, 261 Jacobi, Gerhard 34, 38–39, 46, 57, 78 Jäger, Jens 53 Jahn, Roland 387 Jean Paul 173 Jung, Ruth 210, 300, 325, 475 Kaczmarek, Norbert 464 Keitel, Wilhelm 23 Kern, Manfred 85, 167, 237, 278, 411 Kipp, Herbert 35, 159 Klausener jun., Erich 189, 323, 334–335 Klausener, Erich 174, 176–179, 184, 189, 323, 334–335 Klempert, Wolfgang 283, 426 Kleßmann, Christoph 4, 8, 188, 295, 479 Knabe, Hubertus 385 Knauft, Wolfgang 25, 109 Kohl, Matthias 135, 234, 239, 246, 273, 298, 306, 379, 388, 401, 409, 440, 445, 453, 465, 468 König, Arno 35 Kösters, Christoph 65 Krone, Heinrich 185–186 Kronika, Jacob 24 Krummacher, Friedrich-Wilhelm 207 Kruse, Martin 325, 348, 432, 434 Kubiak, Georg 27 Kübler, Johannes 169, 430 Kühne, Michael 49 Lange, Ernst 356 Lange, Gerhard 255, 370, 378 Lehmann, Helmut 158 Lehmann, Karl 208, 436 Leich, Werner 309, 433 Lenin, Wladimir Iljitsch 284 Lepp, Claudia 11, 170–171, 221, 256

Lichtenberg, Bernhard 174, 178–179, 182, 286 Lilje, Hanns 257 Linke, Dietmar 160, 171, 239, 241, 249, 261, 277, 304, 315, 391–392, 416, 468 Lorenz, Friedrich 178 Lorenz, Wolfgang 393, 445, 448, 452, 459 Löwenbrück, Arnold 240, 406, 409–410, 412, 415, 417, 426 Luther, Martin 123, 254, 367, 397 Maiziere, Lothar de 430 Majewski, M. 30 Marx, Karl 398 Maser, Peter 125, 239, 377, 450 Meinhof, Ulrike 347 Meisner, Joachim 436 Mendt, Dietrich 295, 432 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch 81 Morét, Herbert 166, 265, 276 Munter, Arnold 124 Müntzer, Thomas 398 Nasdala, Albrecht 164 Neumann, Käthe 41 Niemöller, Martin 62, 67–68, 238 Nikles, Bruno W. 156 Nuschke, Otto 41, 129 Ohnesorg, Benno 350 Pahnke, Rudi 308 Paul VI. 299 Pieck, Wilhelm 81, 238 Pilvousek, Josef 471 Pius XII. 102 Plume, Paul 182, 237, 252, 273, 294, 310, 373, 405, 411, 415–416, 418, 425–426, 429, 465, 467, 475–476 Pohl, Günter 331 Pollack, Detlef 48, 63, 430, 469, 473 Prange, Maximilian 132 Preuße, Manfred 265, 272, 282 Preysing, Konrad von 31, 60, 62, 70–71, 81, 89, 94, 127, 129–130, 138, 174, 178, 192 Pritzkuleit, Klaus 276–277, 279, 396, 444 Radatz, Werner 244, 388 Raiser, Konrad 472 Rathke, Heinrich 45, 89, 242–243 Rauer, Norbert 446 Reder, Rosemarie 297

Personenregister

Reichardt, Sven 24 Renner, Günter 338 Rieger, Julius 329 Rittberger-Klas, Karoline 379, 413 Röhm, Ernst 176 Rommel, Erich 161–163 Rommel, Erwin 161 Rosemann, Siegfried 107, 278, 282, 447– 448, 451–452 Rössler, Egon 168 Sachse, Friedhelm 273 Sälter, Gerhard 474 Schädler, Verena 117, 119 Schäfer, Bernd 464 Scharf, Inge 150 Scharf, Kurt 8, 64, 103, 150, 181, 206, 219– 224, 236, 256, 331, 345–348, 385, 388, 393–394 Schmidtmann, Siegfried 231, 306, 312–313 Schmidtmann, Walli 252, 450, 469 Schönbucher, Alfred 414 Schönherr, Albrecht 182, 222–224, 310, 338, 398 Schorlemmer, Friedrich 153 Schröder, Alfred 74 Schulz, Wolfgang 317 Schwark, Jürgen 456 Seidel, J. Jürgen 40, 67, 89, 196 Seigewasser, Hans 266, 367, 389 Simoleit, Herbert 178 Springer, Axel 125, 348 Springer, Philipp 125 Spülbeck, Otto 134 Stalin, Joseph 81 Stambolis, Barbara 53, 63 Stammler, Eberhard 112 Steinke, Roland 102, 115, 151, 234, 240, 246–247, 279, 315, 378, 401, 437, 462, 464, 466–467, 475 Sterzinsky, Georg 216, 436, 438, 447–448, 459–461



511

Stolpe, Manfred 246, 315, 442, 475 Stoph, Willi 367 Subklew, Marie Anne 473 Sult, Manfred 263 Swoboda, Jörg 312 Thälmann, Ernst 182 Thierse, Wolfgang 428 Tischner, Wolfgang 94 Tkotsch, Paul 209 Tobei, Johannes 446 Tomberge, Heinrich 110 Trawnik, Viktor 52 Treblin, Heinrich 237, 262 Tschetschog, Erich 23 Ueberschär, Ellen 64, 77 Ulbricht, Walter 73, 81, 187 Unger, Christa 280 Wachsmann, Alfons Maria 178 Wackwitz, Andreas 25, 65 Weber, Paul 122 Wedel, Reymar von 459, 465, 469, 474 Weider, Wolfgang 131, 135, 207, 213, 232, 234, 245, 247–248, 254, 260, 276, 292, 318, 440, 453, 462, 467 Weigle, Gottfried 452 Weskamm, Wilhelm 94, 99, 130–131, 180, 210–211, 349–351 Wierling, Dorothee 6 Wilke, Manfred 337 Wilm, Ernst 246 Winter, Friedrich 152, 169, 205, 208, 224, 237–238, 248, 364, 397, 418, 459 Witt, Michael 216 Wolf, Christian 317, 389–390 Wollenberger, Vera 427, 430–431 Würthwein, Adolf 331 Zahorak, Hans 109 Zierenberg, Malte 24 Zinke, Johannes 55, 130 Zoller, Wolfgang 343