Die Haftungsfunktion der Grundrechte: Eine Untersuchung zum anspruchsbewehrten ›status negativus compensationis‹ [1 ed.] 9783428506590, 9783428106592

Zentrale Bereiche des Staatshaftungsrechts sind gesetzlich nicht geregelt. Der Versuch der Rechtsprechung, diese Vakanz

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Die Haftungsfunktion der Grundrechte: Eine Untersuchung zum anspruchsbewehrten ›status negativus compensationis‹ [1 ed.]
 9783428506590, 9783428106592

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DANIEL RÖDER

Die Haftungsfunktion der Grandrechte

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 881

Die Haftungsfunktion der Grundrechte Eine Untersuchung zum anspruchsbewehrten status negativus compensationis

Von Daniel Röder

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Röder, Daniel: Die Haftungsfunktion der Grundrechte : eine Untersuchung zum anspruchsbewehrten »status negativus compensations ' / Daniel Röder. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 881) Zug.: Jena, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10659-8

Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10659-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier

entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Sommersemester 2001 als Dissertation angenommen. Sie entstand in den Jahren 1999 und 2000, Rechtsprechung und Schrifttum konnten bis Juni 2001 Berücksichtigung finden. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Walter Pauly, der die Dissertation in einer Weise betreut hat, wie sie sich ein Doktorand nur wünschen kann: Er stand stets für Rückfragen zur Verfügung und förderte die Arbeit bei aller Freiheit zur eigenen Gestaltung durch wertvolle Anregungen. Die Zeit, die er zur umfangreichen und profunden Begutachtung des Textes benötigte, war rekordverdächtig kurz. Herrn Prof. Dr. Michael Brenner danke ich für die ebenfalls prompte Erstellung des Zweitgutachtens und seinen Anteil an der angenehmen Atmosphäre während der Disputation. Dank hierfür auch an Prof. Dr. Elisabeth Koch. Wichtige Diskussionspartner waren mir Bernd Emanuel und Dr. Stefan Ruppert, vor allem aber Dr. Florian Hermann, Martin Otto und Dr. Johann Christian Pauly, denen ich ihre konstruktive Kritik und den regen Gedankenaustausch hoch anrechne. Danken möchte ich schließlich der Fazit-Stiftung, die die Arbeit durch die Gewährung eines Promotionsstipendiums großzügig gefördert hat. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass auch der „Tango Argentino", der mich während der Doktorandenzeit in seinen Bann zog, zum Gelingen der Arbeit beigetragen hat. Ohne den physisch-seelischen Ausgleich, den er mir beschert hat, wären mir die teilweise komplexen Überlegungen entweder nicht möglich gewesen oder gar noch komplexer ausgefallen. Ich widme die Arbeit meinen Eltern. Frankfurt am Main, September 2001

Daniel Röder

Inhaltsverzeichnis Einleitung

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Α. Problemexposition

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Β. Fallexemplarische Problemillustration

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1. Teil Der Funktionszusammenhang zwischen den Grundrechten und der Aufopferungshaftung - eine kritische Bestandsaufnahme der herrschenden Meinung A. Dogmatische Grundlagen und geschützte Rechtsgüter des Aufopferungsrechts im Überblick I. „Mutationen" eines Rechtmäßigkeitsausgleichs Π. Historisch bedingte Begrenzung des Eingriffsobjekts ΠΙ. Die entschädigungsrechtliche Dogmatik des Bundesgerichtshofs 1. Eine zweifache „Abnabelung" von Art. 14 GG a) Entschädigung bei Eingriffen in die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2GG b) Erzwungene Neuverortung der richterrechtlichen Eigentumsentschädigung 2. Renaissance des „allgemeinen Aufopferungsgedankens" B. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte bei einfachrechtlicher Verortung der Haftungsgrundlage I. Legitimationsdefizite des beschränkten Rechtsgüterkanons 1. Kontinuität des Begründungsmangels: Analyse der BGH-Rechtsprechung 2. Haftungshypertrophie und Gewaltenteilung a) Tatbestandliche Begrenzung der Staatshaftung durch ihre finanziellen Auswirkungen? aa) Wider die Angst vor leeren Staatskassen bb) Kein genereller Vorbehalt staatlicher Leistungsfähigkeit, keine ungeschriebene „Höchstbetragshaftung" im Staatshaftungsrecht b) Dierichterliche Kompetenz zur Erweiterung der Kompensationstatbestände Π. „Rechtsprechungsimmanente" Revision des haftungsrechtlichen status quo

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Inhaltsverzeichnis 1. Aufopferungshaftung bei Eingriffen in die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG a) Entschädigungsrelevante Fälle und Haftungsharmonisierung mit Art. 14 GG b) Fehlende Haftungskodifikation in Art. 12 GG als aufopferungstypisches Phänomen c) Keine Exklusivität der Entschädigung bei Eingriffen in das Eigentum im Bereich wirtschaftlicher Grundrechte aa) Grundgesetzgemäßes „Aufopferungsrecht" ist kein spezifisches Eigentumsschutzrecht bb) Kein Entschädigungsmonopol des Art. 14 Abs. 1 GG bei dessen Verbindung mit dem „allgemeinen Aufopferungsgedanken" d) Herausragende Bedeutung der Berufsfreiheit auch im Vergleich mit Art. 14 GG e) Sekundärer Erwerbsschutz in der Rechtsprechung aa) Schutzbereichsüberlagerungen zwischen Art. 12 und Art. 14 GG unter dem Gesichtspunkt des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs" bb) Sekundärhaftung im Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG durch Vermögensausgleichsnormen 2. Aufopferungshaftung bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts a) Grundrechtliche Verankerung des deliktischen Persönlichkeitsschutzes aa) Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG als Haftungsgrundlage bb) Entschädigungsrechtliche Gleichwertigkeit zwischen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 GG b) Argumentum a fortiori aus dem Mechanismus der grundrechtlichen „Drittwirkung" aa) Das Erfordernis eines „mindestens" gleichwertigen Persönlichkeitsrechtsschutzes im öffentlichen Recht im Verhältnis zum Privatrecht bb) Das de lege lata geringere Schutzniveau im öffentlichen Recht c) Mögliche Extensionshindernisse und Modalitäten der Integration des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in den Aufopferungstatbestand aa) Die Rechtsfolge „Immaterialschadensersatz" bb) Die Tatbestandsvoraussetzungen „objektiv erhebliche", „schuldhaft schwere Persönlichkeitsverletzung" 3. Einbeziehung aller immateriellen Freiheitsrechte in die Aufopferungshaftung a) Die Argumentationslogik der „Impfschadensentscheidung" als umfassende Extensionsstütze

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Inhaltsverzeichnis b) Haftungsausdehnung auf alle Grundrechte durch grundgesetzgemäße Interpretation des Begriffs „Recht" im Sinne der §§ 74 f. EinlALR c) Keine haftungsrechtliche Privilegierung des Art. 2 Abs. 2 GG wegen besonderer verfassungsrechtlicher Wertigkeit d) Keine Beschränkung der Extension auf die Berufsfreiheit des Art. 12 GG aa) Die „partielle Austauschbarkeit" der Schutzbereiche von Art. 14 GG und Art. 12 GG als extensionsbestimmendes Moment? bb) Die Schadensneigung des Rechtsguts als extensionsbestimmendes Moment? 4. Ergebnis der „rechtsprechungsimmanenten" Überprüfung des Aufopferungsrechts C. Fragwürdigkeit des Rechtsprechungsaxioms: Grundrechtswirkungen wider einfachrechtliche Prämissen I. „Janusköpfigkeit" der Anspruchsgrundlage 1. Spannungsfeld zwischen dem ,Aufopferungsgedanken" und den Freiheitsrechten 2. Der „allgemeine Aufopferungsgedanke" als Schmelztiegel disparater Bestandteile Π. Normenhierarchische Friktionen bei der rechtsgutsbezogenen Ausdehnung des Aufopferungstatbestands

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2. Teil Die Grundrechte als Haftungsgrundlagen A. Keine Haftungsfunktion der Grundrechte nach herrschender Meinung I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Π. Kritik „auf den ersten Blick" ΠΙ. Die traditionelle Lehre IV. Kritik „auf den ersten Blick" B. Art. 34 GG als „Entschädigungssperre" für sonstige verfassungsrechtliche Ansprüche gegen den Staat? I. Das „argumentum e contrario" des Bundesverfassungsgerichts Π. Methodologische Überprüfung des Umkehrschlusses aus Art. 34 GG . . 1. Dogmatische Anforderungen an ein „argumentum e contrario" 2. Die Mittelbarkeit des Amtshaftungsanspruchs als Anknüpfungspunkt für den Umkehrschluss a) Historische Auslegung: Die Schuldübernahmekonstruktion als Relikt eines überkommenen Staats- und Haftungsverständnisses . b) Teleologische Auslegung: Kein Schutz des Staates durch die Haftungsmittelbarkeit

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Inhaltsverzeichnis 3. Die Verschuldensabhängigkeit des Amtshaftungsanspruchs als Anknüpfungspunkt für den Umkehrschluss 175 4. Drittnormdependenz des Amtshaftungsanspruchs bei grundrechtlicher Wertsetzung 180 5. Resümee 184

C. Die Inkompatibilität von Staatsunrecht und „Aufopferung" - Trennung heterogener Eingriffssituationen 185 D. Die Freiheitsrechte als Haftungsgrundlagen für rechtswidriges Staatshandeln 199 I. Die Deduktion von Rechtsfolgen aus dem verletzten Grundrecht als methodischer Ansatz 199 1. Staatshaftungsrechtliche Rechtsinstitute als Anspruchsgrundlagenersatz 2. Der Perspektivenwechsel vom „Rechtsinstitut" zur „Rechtsfolge" . . 3. Das Rechtssicherheit schaffende Konfliktlösungspotenzial des Einzelgrundrechts II. Anspruchsbewehrungen des „status negativus" zur Sicherung der grundrechtlichen Eingriffsabwehr 1. Abhängigkeit der Abwehransprüche von einer einfachrechtlichen, ungeschriebenen „Umschaltnorm"? 2. Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche als Garanten der grundrechtlichen Abwehrfunktion a) Die „nichtlogische" Deduktion der Abwehransprüche aus dem Normzweck der Grundrechte b) Die funktionelle Gleichrangigkeit von Unterlassungs- und (Folgen-)Beseitigungsanspruch III. Die Fortsetzung des grundrechtlichen Integritätsschutzes im Kompensationsanspruch 1. Das spezielle Haftungsmodell für Art. 14 GG a) Mögliche Begrenzungen durch Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG aa) Die Junktimklausel als verfassungsrechtliches Hindernis einer Anspruchsgrundlage „Art. 14 Abs. 1 GG"? bb) Die Junktimklausel als allgemeiner Gesetzesvorbehalt für Ersatzansprüche bei Eigentumseingriffen? (1) Teleologisch terminierte Beschränkung der Junktimklausel auf die rechtmäßige Enteignung (2) Art. 14 Abs. 1 GG als Träger der eigentumsrechtlichen Wertentscheidungen b) Sekundäre Eingriffshaftung auf Basis der Wertgarantie des Eigentums aa) Die eigentumsspezifische Folgerung von Kompensationsansprüchen aus der Wertgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG: „Wertersatz weil Wertgarantie" bb) Schwächen des „Wertschutzkonzepts"

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Inhaltsverzeichnis (1) Die kaum mögliche Einordnung nicht eigentumsbezogenen Staatsunrechts (2) Die Unzulänglichkeit eigentumsspezifischer Hilfs- und Zusatzüberlegungen (3) Der Rückgriff auf allgemeine freiheitsrechtliche Erwägungen: Wertersatz wegen Verletzung des „status negativus" 2. Unrechtswiedergutmachung - ein teleologisches Gebot aller Freiheitsrechte a) Eigentumsübergreifende, monetäre Grundrechtshaftung im geltenden Recht aa) Kompensatorische Prolongierungen des Folgenbeseitigungsanspruchs bb) Die Identität von „Folgenentschädigung" und „Rechtswidrigkeits-Aufopferung" b) Der Kompensationsanspruch als Bestandteil des grundrechtlichen Rechtsfolgenprogramms aa) Reaktionsfähigkeit des „status negativus" bei nicht abwehrbaren Eingriffen bb) Art. 1 Abs. 3 GG und die grundsätzliche Unabhängigkeit der Bewehrung von der Rechtsnatur des Eingriffsaktes c) Die Rechtsfolge „Geldersatz" aa) Voller Schadensausgleich als Unrechtskompensation bb) Entgangener Gewinn und Immaterialschadensersatz 3. Immanente Haftungsbegrenzungen und Einschränkungsmöglichkeiten des Gesetzgebers a) Gesetzliche Limitierung des Abwehrgehalts im Rahmen der Schrankensystematik b) Die Subsidiarität des Geldersatzanspruchs innerhalb des grundrechtlichen Bewehrungssystems aa) Anspruchsstufung durch die abwehrrechtliche Regelungsintention bb) Die Berücksichtigung prozessualer Gefahrenlagen c) Der Schutzzweck des verletzten Grundrechts als Haftungskorrektiv d) Weitergehende Regelungsbefugnisse des Gesetzgebers? 4. Resümee

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E. Entschädigung für Opferlagen bei rechtmäßigem Staatshandeln 318 I. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG als Grundlage des Aufopferungsprinzips traditioneller Prägung 319 Π. Verlagerungstendenzen zugunsten der Unrechtshaftung im Grenzbereich zwischen rechtswidrigen und rechtmäßigen Eingriffssituationen . 323 Schlussbetrachtung

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Literaturverzeichnis

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SachWortverzeichnis

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Einleitung Α. Problemexposition Im Kernbereich des Staatshaftungsrechts mangelt es nach dem Scheitern des Staatshaftungsgesetzes 19811 noch immer an einer bundesgesetzlichen Regelung. Obwohl der am 27. 10. 1994 in das Grundgesetz eingefügte 2 Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG dem Bund mittlerweile die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für „die Staatshaftung" zuweist und damit die Ursache für die Nichtigerklärung des Staatshaftungsgesetzes 1981 durch das Bundesverfassungsgericht 3 beseitigt ist, steht eine baldige Kodifikation der Materie nicht zu erwarten. 4 Freilich hat es im Staatshaftungsrecht stets Reformbestrebungen gegeben. 5 Der Versuch einer Neuregelung des Rechtsgebiets wurde allerdings seit 1982 nicht mehr mit Nachhaltigkeit unternommen 6, da finanzpolitische Kalkulationen 7 und kompetenzielle Bedenken solche Ansätze regelmäßig hemmten. Konkrete Gesetzesmodelle scheiterten schon in einem frühen Stadium des Gesetzgebungsverfahrens 8 oder gar in dessen Vorfeld. 9 Die modifizierte Weitergeltung des Staatshaftungsgesetzes der DDR in den neuen 1

Staatshaftungsgesetz vom 26.06.1981, BGBl. I S. 553. BGBl. I S. 3146. 3 Urteil vom 19.10.1982 - 2 BvF 1/81 - BVerfGE 61, 149 ff. (= DÖV 1982, 982 mit Anmerkung Ossenbühl = JZ 1983, 137 m. Anmerkung Peine). 4 Ähnliche Einschätzung z.B. bei Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 3 f.; Schoch, DV 34 (2001), 261/264; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, § 1 I, S. 19 (beide vor der Einfügung der Kompentenzregelung); Windhorst in Detterbeck/Windhorst/ Sproll, StaatshaftungsR, § 1 Rdnr. 16; Stuth, Staatshaftung oder Entschädigung?, S. 9. 5 Vgl. nur Ossenbühl, StaatshaftungsR, 1. Teil ΙΠ 2, S. 4 und 13. Teil, S. 438456. In der 13. Legislaturperiode £ah die damalige Bundesregierung Kohl verstärkten „Handlungsbedarf4 für eine Kodifizierung des Staatshaftungsrechts: Leutheusser-Schnarrenberger, ZRP 1995, 81/84; Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 1998 vom 27.05.1998, BT-Drs. 13/10823, S. 11. Vgl. auch Herbst/Lühmann, Staatshaftungsgesetze, Zweiter Teil § 1 II NR. 6. 6 Ossenbühl, NJW 2000, 2945/2948. 7 Das belegen allein die Widerstände im Gesetzgebungsverfahren zum Staatshaftungsgesetz 1981 und in dessen Vorfeld (Schäfer/Bonk, StHG, Einführung Rdnrn. 41 ff., 83 f., 109, 181, 258, 263 ff.). 8 Sowohl die Bundesratsinitiative des Freistaates Bayern (BR-Drs. 644/89; Diskussion in der 607. Sitzung am 01.12.1989, von der Tagesordnung abgesetzt in der 2

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Einleitung

Ländern 10 hat zwar zu einem unterschiedlichen Rechtsschutzstandard in der Bundesrepublik geführt und deshalb „das Bedürfnis zu einer bundesweiten Reform des Staatshaftungsrechts verstärkt" 11 . Heute diktiert der sprichwörtlich „nur Zahlen verpflichtete Rotstift des Finanzministers" 12 jedoch mehr denn je die Tagespolitik, die „Entlastung" und „Konsolidierung" der Haushalte sind mittlerweile selbstverständliche politische Zielvorgaben und Programm von Bundes- und Landesregierungen. 13 Solchen Leitlinien verpflichtet wird die Bundesregierung nach Auskunft des Bundesministeriums der Justiz aus finanziellen Erwägungen keine Gesetzgebungsinitiative in Bezug auf ein neues Staatshaftungsgesetz ergreifen. 1 4 Obwohl diese Haltung aus finanzpolitischer Sicht nachvollziehbar ist, lässt sie die vehementen Bemühungen um eine Kodifizierung des Staatshaftungsrechts, die ihren erneuten 15 Ausgang auf dem 41. und dem 47. Deut609. Sitzung am 16.02.1990) als auch die der Freien und Hansestadt Hamburg (BR-Drs. 632/90; abgesetzt von der Tagesordnung am 14.12.1990) waren erfolglos. 9 So z.B. die drei Modellvorschläge einer von der 54. und 55. Justizministerkonferenz beauftragten Bund-Länder-Arbeitsgruppe (vgl. deren Berichte in: Zur Reform des Staatshaftungsrechts. Gemeinsame Arbeitsgruppe des Bundes und der Länder zur Neuregelung der Staatshaftung. Berichte, Modelle, Materialien. Herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz, Oktober 1987). 10 Aufgrund einer Vereinbarung im Einigungsvertrag (Ani. Π, Kap. ΙΠ Sachgeb. Β Abschn. ΙΠ Nr. 1, BGBl 1990 Π, 889, 1168) galt eine stark modifizierte Form des Staatshaftungsgesetzes der DDR von 1969 als Landesrecht in den neuen Ländern fort. Allerdings wurden die Staatshaftungsgesetze des Ostteils Berlins im Jahre 1995 (BerlGVBl, S. 607) und Sachsens im Jahre 1998 (SächsGVBl. 151) aufgehoben. In Sachsen-Anhalt wurde die verschuldensunabhängige Haftung 1992 in einen gesetzlichen Anspruch aus „enteignungsgleichem Eingriff 4 umgewandelt (SachsAnhGVBl, S. 655). Beibehalten wurde das Staatshaftungsgesetz in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. 11 Herbst/Lühmann, LKV 1998, 40/50. 12 Ossenbühl, Krise, S. 236/376 f. 13 Vgl. nur den Geschäftsbericht Bundesregierung 1999/2000, Vorwort des Bundeskanzlers S. 4 („Durch konsequentes Sparen bringen wir Deutschland bis 2006 aus der Schuldenfalle."), S. 24 („Um die Politik in einem ersten Schritt überhaupt wieder handlungsfähig werden zu lassen, ... wurde ... eine umfassende Konsolidierung des Bundeshaushalts in Angriff genommen."), S. 25 (ausführlich). 14 Auf einen Appell der Justizministerkonferenz der Länder im November 1996 hin, die Arbeiten an einer umfassenden Regelung des Staatshaftungsrechts „voranzutreiben" (vgl. Herbst/Lühmann, LKV 1998, 49/50), wurden in der 14. Legislaturperiode von dem Bundesministerium der Justiz zwei Gutachten in Auftrag gegeben, welche die durch die Kodifizierung zu erwartende Belastung der Staatskasse klären sollten (vgl. auch v. Danwitz in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 34 Rdnr. 156). Da aber deren nichtveröffentlichem Ergebnis zufolge eine Mehrbelastung für die Haushalte zu erwarten ist, hat die Bundesregierung insofern jede Aktivität eingestellt. 15 Erstmalig stand die Frage der Staatshaftung auf der Tagesordnung des 6. Deutschen Juristentages im Jahre 1867. Konkret wurde von Bluntschli und Zachariä die Gesetzgebungsfrage begutachtet: „Soll der Staat, bzw. die Gemeinde, für Schäden

Α. Problemexposition

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sehen Juristentag nahmen, nach der Nichtigerklärung des Staatshaftungsgesetzes 1981 als ergebnisloses Zwischenintermezzo erscheinen. Bezeichnenderweise zog sich das Reichsjustizamt schon vor mehr als einhundert Jahren bei den Beratungen zum Bürgerlichen Gesetzbuch auf den gleichen Standpunkt zurück. Der Staatssekretär sprach sich damals gegen eine unmittelbare Staatshaftung aus, weil sich die Tragweite dieses gesetzgeberischen Versuchs „gar nicht übersehen lasse. Nicht nur der Staat, sondern die Gemeinden, bis zur kleinsten hinab, würden dabei in Mitleidenschaft gezogen." Das könne, „namentlich bei schwächeren Gemeinden, zu unerträglichen Belastungen führen. ... Darin liegt eine so schreiende Härte, daß jedermann verstehen würde, wenn regierungsseitig dahin gerichtete Vorschläge als unannehmbar bezeichnet würden." 1 6 Angesichts dessen werden wesentliche Teile das Staatshaftungsrecht wohl auch künftig reines Richterrecht sein, selbst wenn man die Zuweisung der Gesetzgebungskompetenz an den Bund als Gesetzgebungsauftrag zur Neuregelung des Staatshaftungsrechts versteht. 17 Diese Vermutung wird bestätigt durch einen Blick in die staatshaftungsrechtliche Literatur. Eine wirklich sinnvolle Reform durch die Legislative scheint sich wie schon 1981 nicht lediglich in der kostenneutralen Transferierung der Rechtsprechung (vor allem des für Staatshaftungssachen zuständigen III. Senats des Bundesgerichtshofs) in die Form eines Gesetzes erschöpfen zu können. Zwar wäre das für sich genommen bereits ein „Gewinn" 1 8 . Ohne eine Erhöhung der Rechtsschutzstandards zugunsten des Bürgers, die allenthalben gefordert wird 1 9 , bliebe ein neues Staatshaftungsgesetz aber „auf halbem Wege stehen" 20 . Allein in den Gesamtdarstellungen fällt die Bewertung der lex lata iudicis bei aller Honorierung der schöpferischen Rechtsprechungsaktivität durchweg schlecht aus. Der derzeitige Zustand des staatlichen Ersatzleistungsrechts wird als „ungeordnet" 21 und „diffus" 2 2 bezeichnet. Es ist und Nachtheile, welche die von ihnen angestellten Beamten durch vorsätzliche oder kulplose Verletzung ihrer Dienstpflichten einem Dritten zufügen, überhaupt haften und bejahenden Falls in erster Reihe unbedingt oder nur subsidiär?". 16 Mugdan II, S. 1308. 17 Maurer, AllgVerwR, § 30 Rdnr. 6. 18 Bonk in Sachs, Art. 34 Rdnr. 31; v. Danwitz in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 34 Rdnr. 157. 19 Vgl. nur Leutheusser-Schnarrenberger, ZRP 1995, 81/84; Schenke, NJW 1991, 1777/1789. 20 Bonk (in Sachs, Art. 34 Rdnr. 31) spricht sich als Kompromiss für eine Art „Zweistufenmodell" aus, das in einem ersten Schritt den haftungsrechtlichen status quo festschreibt, auf einer zweiten Stufe Haftungsverschärfungen normiert. Eine solche Forderung erscheint realpolitisch eherfragwürdig. Kritik gegen die Halbherzigkeit des StHG 1981 z.B. bei Papier, NJW 1981, 2321/2327. 21 Steinberg/Lubberger, Aufopferung, § 1, S. 17. 22 Maurer, AllgVerwR, § 30 Rdnr. 5.

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Einleitung

gar vom „Chaos einer sich weiter ausdifferenzierenden Rechtsmaterie" die Rede. 23 Charakteristisch für das Geflecht der bestehenden Rechtssätze sei deren Unübersichtlichkeit, mangelnde Abstimmung, Lückenhaftigkeit und Starrheit, bedingt durch Verwurzelung in obrigkeitsstaatlicher Denkweise. 24 Die „Vielzahl teils nebeneinander teils in Gemengelage stehender Rechtsinstitute" 25 , das „normativ ungeordnete Nebeneinander von Verfassungs-, Gesetzes-, Gewohnheits- und Richterrecht" 26 sowie „die Unschärfe der zentralen Dogmatik" 2 7 lassen das „case l a w " 2 8 Staatshaftungsrecht nach Ossenbühl gar zu einer Materie mit „esoterischem Charakter" 29 werden. Es hat den Anschein, als sei die Rechtsprechung weder willens noch im Stande, die zumindest von wissenschaftlicher Seite geforderte grundlegende Reform 30 zu bewältigen. Hiergegen stehen auch in der Tat respektable Gründe: Einmal fällt ein derartiges Postulat an die dritte Gewalt bereits deshalb auf wenig fruchtbaren Boden, weil sie für das aus enggrenzigen Anspruchsinstituten bestehende, unvollkommen aufeinander abgestimmte „Haftungssystem" (mit-)verantwortlich zeichnet. Hinzu kommt, dass jede Form richterlicher Rechtsschöpfung die Gefahr kompetenzieller Übergriffe in sich birgt und sich die Judikative dort in Zurückhaltung üben muss, wo die von dem Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) statuierte materielle Funktionstrennung aus dem verfassungsgemäßen Gleichgewicht zu laufen droht. 31 Schließlich sind die Möglichkeiten des primär zur Einzelfallentscheidung verpflichteten Richters, eine stimmige und systematisch fundierte Gesamtregelung zu kreieren, beschränkter als die des Gesetzgebers. 32 23

Ossenbühl, StaatshaftungsR, Vorwort, S. VI. Bender, StaatshaftungsR, 3. Auflage, Rdnrn. 102 ff.; ähnlich ders., Referat, Verh. 47. DJT, Bd. Π., S. L 18; Windhorst in Detterbeck/Windhorst/Sproll, StaatshaftungsR, § 1 Rdnr. 15. 25 Steinberg/Lubberger, Aufopferung, § 1, S. 17. 26 Bonk in Sachs, Art. 34 Rdnr. 31; ähnlich Ossenbühl, DVB1. 1994, 977. 27 Steinberg/Lubberger, Aufopferung, § 1, S. 18. 28 Ossenbühl, StaatshaftungsR, 1. Teil ΠΙ 1, S. 3; ders., NJW 2000, 2945/2948; ebenso v. Danwitz in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 34 Rdnr. 19. 29 Neuere Entwicklungen, S. 5. 30 Nach Maurer (AllgVerwR, § 30 Rdnrn. 1, 6) ist die Reformbedürftigkeit „allgemein anerkannt". Vgl. auch die „Mängelanalyse" bei Bender, ZBR 1978, 41 ff.; Schack, Gutachten, S. 48 ff., 56 ff., die Begründung des StHG-E, BT-Dr 8/2079, S. 17; Kommissionsbericht zur Reform, S. 34-46; sowie die Darstellung bei Schäfer/Bonk, StHG, Einführung Rdnrn. 44 ff.; Schäfer, DB 1980, 1499/1500 f.; Schoch, Jura 1993, 478 f.; H.-J. Vogel, DVB1. 1978, 657 ff. 31 Konkret auf diese Gefahr im staatshaftungsrechtlichen Kontext verweist Windhorst in Detterbeck/Windhorst/Sproll, StaatshaftungsR, § 1 Rdnr. 16. 32 Z.B. Baumeister, Folgenbeseitigungsanspruch, S. 25; Fiedler, NVwZ 1986, 969/977; Prütting, Festschrift Köln, S. 305/317 ff.; Schoch, VerwArch 79 (1988), 1/65. 24

Α. Problemexposition

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Schadensbegrenzung war seit jeher die Intention der Jurisdiktion in einem Rechtsgebiet, in dem sie wegen der gesetzgeberischen Lethargie „bestmögliche Überlebenshilfe" 33 zu gewähren hatte. Es ist unbestreitbar ein Verdienst des Bundesgerichtshofs, vor allem durch seine Rechtsprechung zum „enteignungsgleichen" und „enteignenden Eingriff 4 sowie zum „Aufopferungsanspruch im engeren Sinn" 3 4 Haftungslücken geschlossen und so Mängel des geltenden Amtshaftungsrechts aufgefangen zu haben. 35 Trotz alledem schöpft die Rechtsprechung das rechtlich Zulässige und ihr materiell Mögliche offensichtlich nicht aus. 36 Wer sich aufgrund von „Orientierungslosigkeit" 37 damit begnügt, „außerordentlich dürftige Begründungen ohne nähere Prüfung anzuführen" 38 und „ungeschriebene Rechtsgedanken einfach behauptet" 39 , der muss es sich insgesamt „recht einfach" 4 0 machen. Selbst eine in der Natur der Sache liegende Einzelfallorientierung rechtfertigt zumindest bei obersten Bundesgerichten (Bundesgerichtshof und Bundesverwaltungsgericht) keine Judikatur, die „rechtsdogmatisch schweren Bedenken" 41 ausgesetzt ist und von „Ungereimtheiten" 42 und gar „Rechtsunsicherheit" 43 begleitet wird. Besonders im Staatshaftungsrecht dürfen die 33

Sass, Entschädigungserfordernis, S. 115. Mit der Bezeichnung Aufopferungsanspruch, -recht oder -haftung sollen im Folgenden die richterrechtlichen Entschädigungsansprüche wegen Eigentumsbeeinträchtigungen („enteignungsgleicher" und „enteignender Eingriff*) und der Immaterialrechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG (,Aufopferungsanspruch im engeren Sinn" und „aufopferungsgleicher Anspruch") auch ohne den Zusatz „im weiteren Sinn" terminologisch zusammengefasst werden. Im übrigen werden die jeweiligen Ansprüche konkret benannt. Vgl. zu der nicht nur terminologischen Nähe der Rechtsinstitute W. Schmidt, NJW 1999, 2847 ff. 35 Das hebt auch Ossenbühl in seiner Würdigung zum 50. Jahrestag der Errichtung des Bundesgerichtshofs hervor (NJW 2000, 2945/2948). Ähnlich Scheuner, JuS 1961, 243/246. 36 Ossenbühl, Festschrift für Geiger, S. 475/497: „... es besteht noch ein erhebliches Entwicklungspotential im Raum derrichterlichen Rechtsfortbildung." 37 Schleeh, AöR 92 (1967), 58/62, 67 f. 38 Spanner, DVB1. 1968, 618/621 f. 39 Spanner, DVB1. 1968, 618/622; ähnlich bezglich des Folgenbeseitigungsanspruchs: Au, Anspruch auf Beseitigung, S. 30; Baumeister, Folgenbeseitigungsanspruch, S. 20; Ebsen, DVB1. 1987, 389/392 (zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch). 40 Spanner, DVB1. 1968, 618/621. 41 Schoch, Jura 1989, 529/536; ähnlich ders., Jura 1993, 478/487; Bonk in Sachs, Art. 34 Rdnr. 31 („überholte Dogmatik"). 42 W. Schmidt, NJW 1999, 2847. 43 Pietzko, Folgenbeseitigungsanspruch, S. 48; ähnlich Bonk in Sachs, Art. 34 Rdnr. 31 („Herstellung von Rechtssicherheit"); Kluth in Wolff/Bachof/Stober, VerwR II, § 71 Rdnr. 1; anders Ossenbühl in seiner Würdigung zum 50. Jahrestag der Errichtung des Bundesgerichtshofs (NJW 2000, 2945/2948): „Dennoch herr34

2 Röder

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Einleitung

Anforderungen an die Rechtsprechung hoch sein, weil ihr in diesem Rechtsgebiet nicht nur im Fall einer Gesetzesvakanz die Aufgabe obliegt, rechtsgestaltend tätig zu sein. Denn „selbst bei gelungener Ausformung kann ein Staatshaftungsgesetz nicht anders als kompliziert sein und bedarf deshalb in wesentlichen Partien der richterlichen Ausprägung" 44 . Diese besondere Verantwortung der dritten Gewalt definiert ihren Zuständigkeitsbereich in spezifischer Weise, wodurch a priori die Gefahr einer Usurpation gesetzgeberischer Kompetenzen gemindert wird. Inwieweit sich die Rechtsprechung gar hinter dem Schutzschild „Gewaltenteilung" versteckt, wird zu klären sein. An Unterstützung und Anstößen aus der Wissenschaft mangelte es sicher nicht. Schon für sein Gutachten zum 47. Deutschen Juristentag 1968 musste sich Weyreuther durch eine „geradezu erdrückende Fülle von Stellungnahmen zur Amtshaftung, zur Aufopferung und zum enteignungsgleichen Eing r i f f ' 4 5 kämpfen. Seither hat sich die Menge wissenschaftlicher Abhandlungen noch vervielfacht. Das Gesagte macht ein Dilemma des Staatshaftungsrechts offenkundig: Der Gesetzgeber schiebt ein umfassendes Gesetzeswerk vor sich her, während die Rechtsprechung versucht hat, wenigstens die gröbsten Defizite zu korrigieren, ohne dabei allerdings dogmatisch zu befriedigen. Das wissenschaftliche Schrifttum führt einen rührigen Kampf gegen Windmühlen, rückt dabei aber häufig Detailprobleme in den Vordergrund, worunter der Blick für das Ganze leidet. 46 In Anbetracht eines augenscheinlich nicht idealen Eingriffsschutzes und nur mäßiger Hoffnung auf eine Verbesserung will die vorliegende Arbeit der Frage nachgehen, ob nicht die Verfassung selbst für hoheitliches Unrecht verbindliche haftungsrechtliche Vorgaben macht, die womöglich bislang außer Acht gelassen bzw. nicht ausreichend gewürdigt wurden. Motiviert ist die Aufgabenstellung vor allem durch vier eng miteinander zusammenhängende Problemebenen der gegenwärtigen staatshaftungsrechtlichen Dogmatik: Erstens ist es eigenartig, dass der vielzitierte „moderne Rechtsstaat" ohne Rückgriff auf mehr als zweihundert Jahre alte Vorschriften anscheinend nicht in der Lage ist, den Bürger gegen staatliche Übergriffe kompensatorisch zu sichern. Dessen sekundärer Rechtsschutz gegen rechtswidriges Staatshandeln soll zumindest nach der Judikatur des Bundesgerichtshofs von dem „allgemeinen Aufopferungsgedanken der §§ 74, 75 EinlALR in sehen im Großen und Ganzen im Staatshaftungsrecht nicht weniger Rechtssicherheit und Rechtsfrieden als in anderen kodifizierten Bereichen." 44 Ossenbühl, Neuere Entwicklungen, S. 6; ders., DVB1. 1994, 997/980. 45 Gutachten, S. Β 135. 46 Ebenso Schoch, VerwArch 79 (1988), 1/6.

Α. Problemexposition

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seiner richterrechtlich geprägten Ausformung" 47 abhängen. Aus dieser denkwürdigen Anspruchsgrundlage spricht derselbe relativ gleichgültige Umgang mit staatshaftungsrechtlichen Rechtsgrundlagen, den das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich des Folgenbeseitigungsanspruchs an den Tag legt. Dessen Vorhandensein wird mehr oder weniger unterstellt, ohne sich mit der Rechtsgrundlage, den Anspruchsvoraussetzungen, dem Umfang oder dem Rechtscharakter des Anspruchs näher auseinanderzusetzen. 48 Dieses Desinteresse an dogmatischer Überzeugungsarbeit, verbunden mit der eher induktiven Etablierung von Rechtsinstituten, verrät implizit den zweiten überprüfenswerten Aspekt. Scheinbar gründet sich die dogmatische Gleichgültigkeit auf eine Art kollektiver Gerechtigkeitsvorstellung 49 , die eine Haftung bei rechtswidrigem Staatshandeln unentbehrlich macht. So sieht v. Danwitz „die Grundprinzpien einer Neuregelung im Sinne einer originären Verbandshaftung für staatliches Unrecht unter gleichzeitiger Aufgabe des Verschuldensprinzips" als „zum Allgemeingut geworden" 50 . Das unabweisbare Bedürfnis nach einer Haftung ist offenkundig so stark, dass es die Rechtsprechung aus ihrer Sicht dem Anschein nach von einer überzeugenden normativen Rückbindung und argumentativen Deduktion entbindet. Im Sinne der Methodenlehre und entsprechend zeitgemäßer Anspruchssystematik gilt es demgegenüber, Rechtssätze aufzudecken, welche die Rechtsfolgen „Restitution" und „Kompensation" anordnen können. Die vorliegende Untersuchung hat demzufolge keinen rechtspolitischen Charakter und will nicht lediglich zu einem durchdachteren Haftungssystem de lege ferenda anregen. In Rechtsprechung und Lehre werden die genannten rechtspolitischen Gerechtigkeitsvorstellungen häufig mittels des Rechtsstaatsprinzips als Transmitter „verrechtlicht". Beispielsweise fasste der damalige Bundesjustizminister H.-J. Vogel die Reformziele des Staatshaftungsgesetzes 1981 unter dem Leitthema „Die Verwirklichung der Rechtsstaatsidee im Staatshaftungsrecht" zusammen. 51 Das Rechtsstaatsprinzip war entscheidender Anstoß für die damaligen Reformarbeiten 52 und dient nicht selten als Rechtsgrundlage für die staatshaftungsrechtlichen Rechtsinstitute (vor allem des Folgenbesei-

47

BGHZ 90, 17/29 ff. („enteignungsgleicher Eingriff 4) = DVB1. 1984, 391; BGHZ 91, 20/26 ff. („enteignender Eingriff 4); BGHZ 92, 34/36; BGH, JZ 1984, 741/743 = NJW 1984, 1876/1878 f.; NJW 1986, 1107/1108; BGHZ 99, 24/29; 100, 136/145; 102, 350/357; BGH NJW 1990, 3260/3261; DVB1 1991, 84/87 f. 48 Baumeister, Folgenbeseitigungsanspruch, S. 20; ähnlich Au, Anspruch auf Beseitigung, S. 30. 49 Sass, Entschädigungserfordernis, S. 109. 50 In v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 34 Rdnr. 157. 51 DVB1 1978, 657 ff. und inhaltsgleich „Die Verwirklichung der Rechtsstaatsidee im Staatshaftungsrecht44, 1977. 2*

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Einleitung

tigungsanspruchs und der Aufopferungsansprüche) 53. Die Richtigkeit dieser Verortung erscheint jedoch von vornherein zweifelhaft, da der Rückgriff auf das Rechtsstaatsprinzip aus rechtsmethodischen Gründen zu unterbleiben hat, wenn speziellere Normen des Grundgesetzes einschlägig sind, denen ein rechtsstaatlicher Gehalt zu attestieren ist. 5 4 Diese Konkretisierung des generellen Verhältnisses von einer allgemeinen Vorschrift zu einer spezielleren lenkt den Blick im vorliegenden Zusammenhang auf die Grundrechte. Konkret wird zu überprüfen sein, ob sie bei Eingriffen des Staates mittels Art. 1 Abs. 3 GG zu einem Schutzniveau bis hin zu Kompensationansprüchen 55 des Bürgers zwingen. Dieser Ansatz ist aufgrund des subjektiv-rechtlichen Abwehrcharakters der Grundrechte und des von ihnen bezweckten Eingriffsschutzes naheliegend. Das Augenmerk fällt - drittens - auch deswegen auf die Grundrechte, weil die Rechtsprechung im Staatshaftungsrecht einen unangemessen willkürlichen Umgang mit ihnen pflegt und sich verschiedentlich in normenhierarchische Friktionen verstrickt: Während der Bundesgerichtshof einerseits den einfachrechtlichen Charakter von „enteignungsgleichem" und „enteignendem Eingriff 4 hervorhebt, spricht allein die nach wie vor enge Anbindung der Anspruchsinstitute an Art. 14 GG für deren grundrechtliche Ausrichtung.56 Unter grundrechtsdogmatischem Blickwinkel ist es ebensowenig befriedigend, wenn der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts „den Folgenbeseitigungsanspruch als Rechtsinstitut für mit den Freiheitsgrundrechten bzw. - was insoweit keinen prinzipiellen Unterschied macht ... - dem Vorbehalt des Gesetzes ... gegeben" 57 hält. Aufklärungsbedarf besteht auch hinsichtlich des vierten und letzten Punktes: Warum gibt es bei hoheitlichen Eingriffen in alle grundrechtlich geschützten Rechtsgüter in Form des Folgenbeseitigungsanspruchs einen Restitutionsanspruch, wohingegen Kompensation nur gewährt wird bei Eigentumsverletzungen und Eingriffen in die Rechte aus Art. 2 Abs. 2 GG? Bewahrheitet sich in Bezug auf die übrigen Freiheitsrechte hier tatsächlich 52

Vgl. nur BR-Drs. 215/78, S. 40; BT-Drs. 8/2079, S. 40; Kommissionsbericht zur Reform, S. 63 f.; Bender, DÖV 1979, 109/110; Schäfer, DB 1980, 1499/ 1501 f.; ders., DÖV 1982, 10/16. 53 Vgl. nur Stern I, § 20 ΙΠ 4, S. 784 mit IV 6, S. 855 ff. und unten 1. Teil C I 2, S. 140 ff. und 2. Teil D I 1 S. 199 ff. 54 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, insbes. S. 151 ff., 162 f., 311, 336 ff., 469 f.; Schoch, DVB1. 1988, 861/871. 55 Der Begriff „Kompensation" wird in unterschiedlicher Weise gebraucht: teils als Synonym für „Entschädigung", teils für „Schadensersatz" (Stern I, § 20 IV 6 vor a, S. 855). Im Folgenden wird er statt dessen als Oberbegriff für jede denkbare Form monetärer Wiedergutmachung verwendet. 56 Vgl. hierzu unten 1. Teil C, S. 134 ff. 57 NJW 1972, 269 f. = DÖV 1971, 857/858 = DVB1. 1971, 858/859.

Α. Problemexposition

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die Erkenntnis, die Walter Pauly in anderem Zusammenhang äußerte, dass nämlich „die Rechtsordnung ... mit Rechtswidrigkeiten ihrer Organe leben und fehlerhafte Rechtsakte in der Wirklichkeit stehen lassen" 58 kann? Gerade im Staatshaftungsrecht ist das wenig wünschenswert. Besondere Aktualität gewinnt dieser Problemkreis durch die jüngste Dynamik in der Rechtsfolge des Folgenbeseitigungsanspruchs. Angesichts der „schleichenden" Etablierung einer „Folgenentschädigung" scheint sich für alle Freiheitsrechte ein Rechtsinstitut zu formen, welches je nach Verletzungssituation sowohl restitutorisch als auch kompensatorisch reagieren kann. 59 Die Frage nach dessen Verhältnis zum „Aufopferungsrecht" drängt sich geradezu auf. Mehr noch: Das staatshaftungsrechtliche Denken in Rechtsinstituten steht an sich auf dem Prüfstand. Eingedenk der Unpopularität von Erweiterungen staatlicher Haftung in Zeiten allgemeiner Sparpolitik soll dennoch die Beschränkung „aufopferungsrechtlicher" Kompensationsansprüche auf bestimmte Rechtsgüter einer Legitimationskontrolle unterzogen werden. Sie ist Bestandteil der kritischen Bestandsaufnahme der herrschenden Meinung zum „Aufopferungsrecht" im ersten Teil, der daneben die Relation zwischen den sich dahinter verbergenden Entschädigungsinstituten und den Grundrechten auf Basis der Judikatur beleuchtet. Im zweiten Teil der Arbeit soll eine Auslegung der Grundrechte zu Tage fördern, inwieweit sie selbst Reaktionen gegen staatliche Eingriffe hervorbringen. Mit anderen Worten wird zu klären sein, ob es so etwas wie einen anspruchsbewehrten grundrechtlichen „,status negativus compensationis" 60 gibt.

58

Anfechtbarkeit, S. 9. Vgl. auch Schoch, DV 34 (2001), 261. Vgl. hierzu unten 2. Teil D ΠΙ 2a aa, S. 265 ff. Zu entsprechender Ausrichtung des Folgenbeseitigungsanspruchs bereits Schleeh, AöR 92 (1967), 58 ff. 60 Die Einteilung grundrechtlicher Inhalte und Wirkungen in verschiedene Status geht zurück auf G. Jellinek (System der subjektiven öffentlichen Rechte). Sie wird häufig verwendet, im Detail ist ihr Systematisierungswert aufgrund unscharfer Trennungslinien zwischen Status und Recht einerseits und den verschiedenen Status jedoch nicht unproblematisch (z.B. Stern ΠΙ/1, S. 427 ff.). Gerade die Bewehrung des negativen Status trägt Züge, die ihre Zuordnung zum status positivus nahelegen (so z.B. auch bei G. Jellinek, System, S. 105). Systemtheoretische Feinanalysen und mögliche Theorieergänzungen können im Folgenden allerdings außer Betracht bleiben (vgl. hierzu Alexy, Theorie, vor allem S. 233 ff.; ders., Grundrecht und Status, in: Paulson/Schulte, S. 209 ff.; W. Pauly, Georg Jellineks „System der subjektiven öffentlichen Rechte, in: Paulson/Schulte, S. 227 ff.). Auf eine Zuordnung der Bewehrungen des Status negativus zu einem der Status wird verzichtet, weil sie zu einer inhaltlichen Konkretisierung grundrechtlicher Abwehransprüche nicht beiträgt. 59

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Einleitung

Β. Fallexemplarische Problemillustration Rechtswidriges Staatshandeln kann im Schutzbereich verschiedener Grundrechte zu Vermögensnachteilen des Grundrechtsträgers führen. Spricht z.B. eine Behörde Warnungen vor einer Glaubensgemeinschaft aus, die sich unter anderem aus dem Verkauf religiöser Artikel finanziert, geht mit einem Popularitätsverlust womöglich ein materieller Schaden für einen angegeliederten Unternehmensteil einher (Art. 4 GG). Finanzielle Einbußen können auch entstehen, wenn der Staat etwa datenschutzwidrig oder unter Verstoß gegen Art. 10 GG oder Art. 13 GG erlangte Erkenntnisse zum Nachteil des Bürgers verwendet. Verletzt ist hier neben den genannten Vorschriften das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Eine widerrechtliche Beschlagnahme von Presseerzeugnissen verhindert unter Umständen den Verkauf einer schon konzipierten oder gar gedruckten Zeitung oder Zeitschrift (Art. 5 Abs. 1 GG). Ergeht ein rechtswidriges Versammlungsverbot sozusagen in letzter Minute (Art. 8 GG), kommt häufig selbst der vorläufige Rechtsschutz vor dem Verwaltungsgericht zu spät. 61 Ein Folgenbeseitigungsanspruch geht in einem solchen Fall ins Leere. Die Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß bzw. analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO ist nicht geeignet, die grundrechtliche Integrität vollständig wiederherzustellen, wenn durch das Verbot materielle Einbußen entstanden sind. Diese sind denkbar z.B. in Form von nutzlosen Aufwendungen des Veranstalters (Mietzins für angemietete Räume, Ausgaben für Werbung, Personal, Transparente, Handzettel etc.) oder Anreisekosten von Versammlungsteilnehmern. Freilich ist die „Schadensneigung" der Berufsfreiheit am größten 62 , sieht man einmal von der des Eigentums (Art. 14 GG) ab, welches aufopferungsrechtlich geschützt ist. Eingriffe wirken sich im Schutzbereich des Art. 12 GG wegen der regelmäßig monetären Ausrichtung beruflicher Betätigung nicht selten vermögensmindernd aus. Die insofern exponierte Stellung der Berufsfreiheit belegen bereits die genannten Fallkonstellationen, in denen häufig auch Art. 12 GG einschlägig ist: Viele Versammlungen werden gewerblich organisiert, Presseunternehmen partizipieren mit Gewinnerzielungsabsicht am Markt, diverse Religionsgemeinschaften betreiben aus Finanzierungsgründen nebenbei ein Gewerbe, Abhörfälle werden auch Unternehmen betreffen. Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen waren bislang vor allem rechtswidrige Verzögerungen des Berufseinstiegs. So hatte der Bundesge61 Dieses Beispiel führen auch an: Püttner, Festschrift für H. Lange, S. 697/702; Schenke, NJW 1991, 1777/1782. 62 Vgl. zu den denkbaren Fallgruppen auch unten 1. Teil Β II 1 a, S. 70 f.

Β. Fallexemplarische Problemillustration

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richtshof über Klagen zu entscheiden, mit denen die Kompensation von Schäden begehrt wurde, die durch die rechtswidrige Einberufung zum Wehr- 63 oder Ersatzdienst 64 entstanden waren. Hierauf wird noch einzugehen sein. 65 Der Einführung in die Thematik soll der folgende Beispielsfall 66 dienen, der ebenfalls dem Problemkreis „widerrechtliche Verzögerung des Berufseinstiegs" entstammt. Obwohl er auf erste Sicht womöglich weniger an das „Gerechtigkeitsgefühl" appelliert als die Einberufungsfälle, ist er in besonderer Weise zur Veranschaulichung prädestiniert - nicht nur, weil er einer der jüngsten einschlägigen Sachverhalte ist. Davon abgesehen findet sich in dem zugrundeliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren die immer noch knappe, aber derzeit doch ergiebigste Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts zu der hier behandelten Materie. Vor allem aber hängt die Lösung des Falles weitgehend von den einleitend aufgeworfenen Rechtsfragen ab, die sich anhand seiner facettenreich illustrieren lassen. Insbesondere wird er auch Beleg dafür sein können, dass mit einer Anhebung des staatshaftungsrechtlichen Rechtsschutzstandards nicht in jedem Fall eine Mehrbelastung der Staatskasse einhergeht: Die Klägerin, die 1976 den ersten und 1978 den zweiten Teil der Ärztlichen Prüfung bestanden hatte, nahm im April 1980 zum dritten Male am dritten Teil des Staatsexamens teil. Für die Wiederholung von Prüfungen bestimmte § 20 Abs. 1 der Approbationsverordnung für Ärzte in der damals gültigen Fassung vom 28.10.1970: „Jede Prüfung und jeder Prüfungsabschnitt kann im ganzen oder; im Fall des Dritten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung, in den einzelnen Teilen insgesamt zweimal wiederholt werden. Eine weitere Wiederholung ist auch nach erneutem Studium der Medizin nicht möglich. " § 14 Abs. 5 der Approbationsverordnung für Ärzte in der damals gültigen Fassung der Zweiten Änderungsverordnung zur Approbationsverordnung vom 24.02.1978 lautete: „Die schriftliche Prüfung ist bestanden, wenn der Prüfling mindestens 60 vom Hundert der gestellten Prüfungsfragen zutreffend beantwortet hat. " 63

Urteil vom 23.10.1975 - ΠΙ ZR 97/73 - , BGHZ 65, 196 ff. Urteil vom 10./11.03.1976 - ΙΠ ZR 130/73 - , BGHZ 66, 118 ff. 65 Vgl. unten 1. Teil Β I 1, S. 44 ff. 66 Es handelt sich um eine erstinstanzlich beim LG Berlin (Urteil vom 06.02.1992 - 13 Ο 322/91) erhobene Klage. Die gegen das klageabweisende Urteil eingelegte Berufung wies das Kammergericht mit Urteil vom 30.10.1992 - 9 U 2569/92 - zurück. Der Bundesgerichtshof lehnte die Annahme der Revision mit Beschluss vom 21.10.1993 - ΠΙ ZR 170/92 - ab. Auch die anschließende Verfassungsbeschwerde (BVerfG, Kammerbeschluss vom 20.11.1997 - 1 BvR 1068/93 - , NVwZ 1998, 271 f.) wurde nicht zur Entscheidung angenommen. 64

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Einleitung Mit Bescheid vom 23.04.1980 teilte das Landesprüfungsamt für Gesundheitsberufe als zuständige Behörde der Klägerin mit, dass sie ohne Erfolg am schriftlichen Teil des dritten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung teilgenommen habe. Die Klägerin hatte lediglich 58,9 % der Fragen zutreffend beantwortet. Gegen diesen Bescheid beschritt die Klägerin erfolglos den Verwaltungsrechtsweg. Auf eine Verfassungsbeschwerde erklärte das Bundesverfassungsgericht die „absolute Bestehensregel" des § 14 Abs. 5 AppOÄ für mit der Verfassung nicht vereinbar 67 . Die Regelung sei nichtig, da sie die Beschwerdeführerin wegen unverhältnismäßigen Inhalts in ihrem Grundrecht aus Art. 12 GG verletze. Infolgedessen erklärte das Landesprüfungsamt für Gesundheitsberufe mit Bescheid vom 15.01.1990 den von der Klägerin im April 1980 abgelegten schriftlichen Teil der Prüfung des dritten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung für bestanden. Die Klägerin, die im gesamten Jahr 1981 als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei einer Aktiengesellschaft in der Abteilung „Wissenschaftliche Produktbetreuung" und von April 1982 bis 1989 als Pharmareferentin anderer Gesellschaften tätig war, wurde zum 01.01.1991 als Assistenzärztin für Anästhesie eingestellt. Mit ihrer Klage vor dem Landgericht Berlin verlangt die Klägerin von dem beklagten Land Entschädigung für ihr durch den Prüfungsbescheid vom 23.04.1980 entstandene Schäden in Höhe von 100.000 DM. Die Entschädigungspflicht des Staates leitet die Klägerin daraus ab, dass sie infolge des Bescheids vom 23.04.1980 basierend auf der verfassungswidrigen Prüfungsregelung nicht unmittelbar im Anschluss an den dritten Prüfungsabschnitt in dem angestrebten Beruf als Assistenzärztin hätte arbeiten können. Dadurch sei ihr ein um 240.524,94 D M höheres Einkommen entgangen, von dem sie den genannten Teilbetrag als Ersatz verlangt. Die Lösung des Falls stellt sich knapp skizziert wie folgt dar:

Als Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist zunächst an einen Amtshaftungsanspruch gemäß Art. 34 GG i . V . m . § 839 BGB zu denken. Ungeachtet der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen scheitert der Anspruch im vorliegenden Fall aber am Verschulden der Behörde. 68 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs handelt ein Beamter nämlich grundsätzlich dann nicht schuldhaft, wenn ein mit mehreren Rechtskundigen besetztes Kollegialgericht sein Verhalten als objektiv nicht beanstan67 BVerfGE 80, 1/26 ff. (= NVwZ 1989, 850 f.). Bezüglich der Verfassungsbeschwerde der Klägerin traf das Bundesverfassungsgericht damals wegen des Sonderstatus von Berlin keine Entscheidung. Die Nichtigerklärung erfolgte auf eine von anderen Prüflingen erhobene Verfassungsbeschwerde. 68 LG Berlin (FN 66), S. 5 der Entscheidung.

Β. Fallexemplarische Problemillustration

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dungswürdig angesehen hat. 6 9 Das war hier der Fall, da die Verwaltungsgerichte aller Instanzen die Regelung des § 14 Abs. 5 AppOÄ für rechtmäßig erachteten. Zwar hat der genannte Grundsatz durch die Rechtsprechung eine Fülle an Einschränkungen erfahren. 70 Doch selbst wenn man ihn nur noch dann zur Anwendung brächte, wenn die kollegialgerichtliche Bestätigung der als rechtswidrig erkannten Amtshandlung als „vertretbar" erscheint 71 oder gar der Sache nach als durch eine eigene Vertretbarkeitskontrolle des jeweiligen Obergerichts abgelöst ansieht 72 , änderte das nichts an dem gefundenen Ergebnis: § 14 Abs. 5 AppOÄ war eine klar gefasste Norm, die dem Landesprüfungsamt keinen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum ließ. Die Behörde durfte sich auf die Wertentscheidung des Verordnungsgebers verlassen, weil die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit nicht durch einfache Subsumtion erfolgen konnte. Es mussten sich den handelnden Beamten deshalb auch keine rechtlichen Zweifel aufdrängen. Sie waren keine Experten in einem breit gestreuten Prüfungsspektrum, so dass der Vergleich mit anderen prozentualen Bestehenshürden fehlte. Im übrigen war die Einschätzung der Quote als verfassungsgemäß juristisch sicher vertretbar. Da ein Amtshaftungsanspruch mangels Verschulden ausscheidet, hängen die Erfolgsaussichten der Klage davon ab, ob die Voraussetzungen eines Aufopferungsanspruchs tatbestandlich erfüllt sind. Bei der Anspruchsprüfung sieht man sich mit verschiedenen Problemen konfrontiert, von denen jedes für sich genommen eine intensive wissenschaftliche Behandlung erfahren hat: Einmal ist der Problemkreis der Haftung bei sogenanntem „legislativem" bzw. „normativem Unrecht" 73 tangiert. Konkret geht es um die staatliche Ersatzpflicht im Fall der Anwendung und des Vollzuges einer nichtigen Norm. 7 4 In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 75 bejaht das Landgericht Berlin im vorliegenden Fall die Einstandspflicht des Landes unter diesem Gesichtspunkt:

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BGHZ 27, 338/343; 73, 161/164; 97, 97/107; 117, 240/250. BGH NJW 1962, 793/794; VersR 1968, 371/373; NJW 1971, 1699/1701; NJW 1984, 168/169; NJW 1986, 2954; NVwZ 1987, 258/259 f.; WM 1988, 1639/ 1641; BGHZ 117, 240/250; NJW 1991, 2824/2826; NJW 1993, 3065/3066; NVwZ 1994, 405/407; NVwZ 1996, 512/515; NJW 1998, 751. 71 BGH, VersR 1989, 184; VersR 1983, 783; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 2. Teil ΙΠ 5 c, S. 76. 72 Ossenbühl, StaatshaftungsR, 2. Teil ΠΙ 5 c, S. 76; B. Schmidt, NJW 1993, 1630 f. 73 Vgl. nur die Nachweise bei Ossenbühl, StaatshaftungsR, 2. Teil IV 5, S. 103. 74 Ob es sich hierbei noch um das Problem des „legislativen Unrechts" handelt, wird unterschiedlich gesehen, vgl. nur BGHZ 100, 136/143 f. einerseits, Schenke/ Guttenberg, DÖV 1990, 945/948 andererseits. 70

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Einleitung

„Die Entscheidung, der Klägerin das Bestehen der Prüfung zu versagen und diese vom Arztberuf fernzuhalten, war allein deshalb rechtswidrig, weil die Vorschrift des § 14 Abs. 5 Approbationsordnung für Ärzte in der Fassung von 1978 nichtig war. Für normatives Unrecht und seinen Vollzug haftet die öffentliche Hand unter dem Gesichtspunkt der Aufopferung aber nur dann nicht, wenn es sich um formelle Gesetze handelt, da nur insoweit eine hinreichende Legitimation für eine richterliche Ausgestaltung der Staatshaftung fehlt (BGH NJW 1987, 1875 (1878)). Das gilt aber nicht für untergesetzliche Normen und ihren Vollzug, wenn die Nichtigkeit der untergesetzlichen Norm nicht auf Fehler ihrer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage zurückgeht, sondern diese untergesetzliche Norm an eigenen Nichtigkeitsgründen leidet wie vorliegend der Fall. Denn solche Normsetzungen sind der vollziehenden Gewalt zuzuordnen."76 Der zweite komplexe Themenkreis, auf den man bei der Prüfung des Aufopferungsanspruchs stößt, ist die aufopferungsrechtliche Relevanz eines „Eingriffs durch Unterlassen" 77 . Aber auch diesbezüglich stellt sich die Problematik nicht in aller Schärfe. Ein Aufopferungsanspruch der Klägerin scheitert nach Ansicht des Landgerichts Berlin definitiv nicht an dem Tatbestandsmerkmal des „Eingriffs": setzt ein Eingriff ein positives Handeln der Behörde voraus. Das einfache, schlichte Unterlassen der öffentlichen Hand stellt keinen Eingriff in ein geschütztes Recht dar. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob in der das Bestehen der Prüfung ausdrücklich versagenden Entscheidung der Behörde überhaupt noch ein Unterlassen und nicht vielmehr schon ein Eingriff zu sehen ist: denn auch ein Unterlassen ist einem Handeln im Sinne eines Eingriffs dann gleichgestellt, wenn es sich wie ein in den Rechtskreis des Betroffenen eingreifendes Handeln „qualifizieren" läßt (BGHZ 102, 350 (364)) (sogenanntes qualifizierendes Unterlassen). Das gilt aber immer dann, wenn die Behörde gegenüber dem Betroffenen eine Rechtspflicht zu einem bestimmten Handeln hatte. Das aber war vorliegend der Fall. Die Beklagte bzw. seine Mitarbeiter waren bereits im April 1980 verpflichtet, die Klägerin entsprechend dahingehend zu bescheiden, daß sie den Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung bestanden hatte. Zwar führt die Tatsache, daß die Regelung des § 14 Abs. 5 Approbationsordnung für Ärzte (1978) nichtig ist, nicht dazu, daß die Beklagte zu einer positiven Prüfungsentscheidung verpflichtet war. Die Nichtigkeit der Bestehensregelung führt nur zu einer im Rahmen der Verfassung auszufüllenden Regelungslücke. Die Ausfüllung der Regelungslücke konnte vorliegend im Fall der Klägerin aber nur so geschehen, daß die von der Klägerin im April 1980 abgelegte Prüfung für bestanden erklärt wurde; denn die Beklagte hat unstreitig mit Bescheid vom 15.01.1990 entsprechend entschieden"7^ „Zwar

75 BGHZ 111, 349/352 (= BGH NJW 1990, 3261 f. = DVB1. 1990, 1348 f. = JZ 1991, 36/37 m. Anm. Maurer); ebenso Schenke/Guttenberg, DÖV 1990, 945/948; Schäfer in Schäfer/Bonk, StHG, § 5 Rdnrn. 56 ff. 76 LG Berlin (FN 66), S. 5 f. der Entscheidung. 77 Vgl. nur die Nachweise bei Ossenbühl, StaatshaftungsR, 5. Teil ΙΠ 3e, S.255 ff. 78 LG Berlin (FN 66), S. 6 f. der Entscheidung.

Β. Fallexemplarische Problemillustration

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Drittens stellt sich die Frage, ob die Klägerin ein Sonderopfer erlitten hat. Aufgrund des nichtigen materiellen Gesetzes sieht das Landgericht auch dieses Tatbestandsmerkmal als unproblematisch erfüllt an: „... die Rechtswidrigkeit einer Maßnahme ist im Bereich des Entschädigungsrechts stets zwingendes Indiz für ein Sonderopfer. Eine rechtswidrige Maßnahme geht immer über das Maß dessen hinaus, was allen Bürgern zugemutet werden kann."79 Auf das Verhältnis von rechtswidrigem Hoheitshandeln und Aufopferungsrecht wird in abstracto ebenso einzugehen sein 80 , wie auf die konkrete Subsumtion des Landgerichts Berlin 8 1 . Der Fallbezug wird im Folgenden punktuell an den geeigneten Stellen im Rahmen der abstrakt-dogmatischen Abhandlung hergestellt werden. 82 Da nach Einschätzung des Landgerichts Berlin alle sonstigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, war in erster Instanz streitentscheidend, ob das beklagte Land in eine aufopferungsrechtlich geschützte Rechtsposition der Klägerin eingriffen hatte. Dieser Anspruchsvoraussetzung widmet sich vor allem der erste Abschnitt des folgenden Teils.

79

LG Berlin (FN 66), S. 7 der Entscheidung. Vgl. sogleich 1. Teil, A I., S. 30 ff. sowie unten 2. Teil, C, S. 185 ff. und D, S. 199 ff. 81 Vgl. hierzu insbesondere unten 2. Teil C, Text zu FN 235 und D III 3 c, S. 305 ff. 82 Vgl. vor allem die Einführung zum 2. Teil, S. 150. 80

1. Teil

Der Funktionszusammenhang zwischen den Grundrechten und der Aufopferungshaftung eine kritische Bestandsaufnahme der herrschenden Meinung Der Rechtsgüterkanon der Entschädigungsansprüche gehört zu den umstrittensten Tatbestandselementen des Aufopferungsrechts. Verständlich ist die Rechtslage nur vor dessen historisch-dogmatischem Hintergrund. Deshalb werden zunächst die wesentlichen Entwicklungslinien überblicksartig nachgezeichnet. Da die Dogmengeschichte des Aufopferungsrechts vielfach wissenschaftlich aufgearbeitet worden ist 1 , genügt hier eine von der Zielsetzung der Arbeit geleitete Konzentration auf das Wesentliche.

A. Dogmatische Grundlagen und geschützte Rechtsgüter des Aufopferungsrechts im Überblick Das heutige Aufopferungsrecht ist eine rein richterrechtlich entwickelte Rechtsmaterie. Man kann sie neben dem Amtshaftungsrecht als die „zweite Säule" des Staatshaftungsrechts 2 bezeichnen.3 Die ursprüngliche Zielrichtung dieses Rechtsinstituts war jedoch eine völlig andere, als die deliktisch ausgerichtete Amtshaftung für rechtswidrig-schuldhafte Amtshandlungen. 4 Das belegen die Wurzeln des Aufopferungsrechts 5. Kodifikatorischen Aus1

Aus dem älteren Schrifttum z.B.: grundlegend Stödter, Entschädigung, S. 52 ff.; Boehmke, Die staatliche Entschädigungspflicht auf Grund der §§ 74/75 Einl.z.ALR; Forsthoff, VerwaltungsR I, S. 327 ff.; Heidenhain, Amtshaftung, S. 65 ff., 87 ff.; Janssen, Entschädigung, S. 22 ff.; Scheuner in Reinhardt/Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums, S. 80 ff.; aus dem neueren Schrifttum z.B.: Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 6 ff.; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 3. Teil, S. 124 ff. und 5. Teil, S. 213 m.w.N.; Rüfner in Erichsen/Martens, AllgVerwR, §49 m.w.N.; SchmittKammler, JuS 1995, 473 ff. 2 Der Begriff ist hier nicht auf hoheitliches Unrecht beschränkt, sondern im weitesten Sinne verwendet. Vgl. zur Terminologie Jaschinski, Fortbestand, S. 16 ff.; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 1. Teil I, S. 1 f.; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, § 1 I, S. 18 ff. 3 Stern I, § 20 IV 6 vor a, S. 856 f. 4 Maurer, AllgVerwR, § 26 Rdnr. 3; Schoch, Jura 1989, 529.

Α. Dogmatische Grundlagen im Überblick

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druck hat der Aufopferungsgedanke erstmals 6 in §§ 74, 75 der Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten (ALR) von 1794 gefunden. Diese Vorschriften lauteten wie folgt: § 74. Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staates muessen den Rechten und Pflichten zur Befoerderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beiden ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, nachstehn. § 75. Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besonderen Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genoethigt wird, zu entschaedigen gehalten. Zusammengenommen lösen die Normen einen Interessenkonflikt zwischen der Allgemeinheit auf der einen und Individualrechten auf der anderen Seite.7 Letztere stehen im Konfliktfall hintan, die Rechtsbeeinträchtigung zugunsten des gemeinen Wohls ist aber zu entschädigen. Hier ist ausschließlich der sachliche Anwendungsbereich der Entschädigungsregel von Interesse. Nach seinem Wortlaut kann man § 75 EinlALR Einschränkungen weder in Bezug auf die Art der Rechtsbeeinträchtigungen („Nötigung") noch der aufgeopferten Rechtsgüter („Rechte und Vorteile") 8 entnehmen. Dennoch wurde die Norm in beiden Punkten 9 restriktiv ausgelegt. Als entschädigungspflichtig erachtete man alsbald nur rechtmäßige Eingriffe in Vermögenswerte Rechte. 5

Allgemein zur Verrechtlichung des Verwaltungshandelns in Preußen: J. C. Pauly, Entstehung des Polizeirechts, S. 30 ff. 6 Hervorgegangen ist die Idee der Lastengleichheit aller Bürger insbesondere aus dem Naturrecht, vgl. nur Stödter, Entschädigung, S. 52 ff.; grundlegend zu der Normentstehung der Vorschriften Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen Allgmeinen Landrechts von 1794, S. 296 ff., 320 ff., Hinweise auf die geistigen Vorläufer der Normen S. 323. 7 Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 9 f.; Maurer, AllgVerwR, § 26 Rdnr. 5, § 27 Rdnr. 1; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 3. Teil I 1, S. 124. 8 Der Begriff „besonderen" ist nicht Adjektiv zu „Rechte und Vorteile", sondern als Adverb im Sinne von „in besonderer Weise" aufopfern gebraucht (Boehmke, Die staatliche Entschädigungspflicht auf Grund der §§ 74/75 Einl.z.ALR, S. 26; Janssen, Entschädigung, S. 40 ff.; Stödter, Entschädigung, S. 29; Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 10). Eine Beschränkung der Rechtsgüter ergibt sich daraus folglich nicht. 9 Durch die Preußische Kabinettsorder „betreffend die genauere Beobachtung der Grenzen zwischen landeshoheitlichen und fiskalischen Rechtsverhältnissen" vom 04. 12. 1831 (Gesetzessammlung für die königlichen Preußischen Staaten 1831, 5. 255, abgedruckt bei Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1, Nr. 24, S. 73 ff.) wurde der Anspruch drittens auf Eingriffe der Staatsverwaltung beschränkt. Bei unmittelbaren Eingriffen durch Gesetz sollte eine Entschädigung nur bei entsprechender (spezial)gesetzlicher Regelung gewährt werden. Konkreter Anlass für den Erlass der Order war, eine Massenschädigung für Kriegsfolgen abzuwenden. Vgl. auch Janssen, Entschädigung, S. 88 ff.

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

I. „Mutationen46 eines Rechtmäßigkeitsausgleichs Die Beschränkung auf rechtmäßige Eingriffe wurde bereits aus dem systematischen Zusammenhang mit § 74 EinlALR abgeleitet: Die Äußerung der öffentlichen Gewalt „zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls" konnte man sich jedenfalls ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem fortschreitenden Konstitutionalismus 10 nicht als rechtswidrige Maßnahme vorstellen. 11 Es bestand überwiegend Einigkeit darüber, dass der in dieser Vorschrift verankerte grundsätzliche Vorrang des Gemeinwohls vor Individualinteressen bei rechtswidrigen Eingriffen keine Gültigkeit beansprucht, da die durch diese Eingriffsmodalität erzwungene Duldungspflicht dem Inhalt des Rechts zuwider läuft: „§ 75 EinlALR gewährt den Entschädigungsanspruch nicht, weil die Staatsgewalt sich im Unrecht befindet, sondern weil und obgleich sie sich im Rechte befindet." 12 Als weiterer normativer Beleg für diese Auslegung fungierte beispielsweise das Gesetz über die Zulässigkeit des Rechtsweges in Beziehung auf polizeiliche Verfügungen vom 11.05.1842 13 , das die formelle Ergänzung zu den §§ 74 f. EinlALR darstellte. Es unterschied deutlich zwischen einem Ersatzanspruch wegen rechtswidriger Ausübung öffentlicher Gewalt und dem Aufopferungsanspruch bei rechtmäßiger Staatstätigkeit, was auf eine Disparität beider Handlungsformen auch im systematischen Zusammenhang der §§ 74 f. EinlA L R rückschließen lässt. Die Konzentration dieser Normen auf rechtmäßige Verwaltungstätigkeit entspricht auch der heute gängigen Auslegung. 14 Mitunter wird sie bereits aus dem naturrechtlichen Vorläufer der Entschädigungsregelung abgeleitet 15 : Griff der Landesherr in die „wohlerworbenen 10

Stern I, § 20 IV 6, S. 858. Stödter, Entschädigung, S. 19; ders., DÖV 1953, 139 f. 12 Anschütz, PrVBl. 18 (1896/1897), 153/155; vgl. auch ders., VerwArch 5 (1897), 1 ff. und hierzu W. Pauly, Zu Leben und Werk von Gerhard Anschütz, S. XXI ff.; ebenso Drews, Preußisches Polizeirecht, S. 94; Drews/Lassar, Allgemeines Polizeirecht, in v. Brauchitsch Π/1, S. 1 Bern. 2 zu §§ 74, 75; Friedrichs, Schadensersatzansprüche gegen Reichs-, Staats- und Kommunalbehörden nach Reichsund preußischem Recht, S. 62; Furier, VwArch 33 (1928), 340/407; W. Jellinek, VerwR, S. 330; Kraft, Gruchot 60, 392/417 f.; Scheuner, JW 1932, 2796. 13 Gesetzessammlung für die königlichen Preußischen Staaten 1842, Nr. 2273, S. 192 ff. 14 Vgl. z.B. Jaschinski, Fortbestand, S. 19 f.; Konow, JR 1964, 410/411; ders., JR 1966, 16/17; ders., JR 1967, 245; Kreft, DÖV 1955, 517/519; Maurer, AllgVerwR, § 27 Rdnr. 4; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 3. Teil I 1, S. 127; ders., Neuere Entwicklungen, S. 15, 27; Scheuner, DÖV 1955, 545/547, Schoch, Jura 1989, 529; Schmitt-Kammler, JuS 1995, 473/474, 476; Schulze-Osterloh, Eigentumsopferentschädigung, S. 90 ff.; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, § 1 I, S. 18 f. 15 Friedrichs, PrVBl. 45 (1924), 2; v. Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. I, S. 195; von Stein, Die Verwaltungslehre, Band VII: S. 301; Stödter, Entschädigung, S. 18, 11

Α. Dogmatische Grundlagen im Überblick

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Rechte" (iura quaesita) des Untertanen aus Gründen der Notwendigkeit und zum öffentlichen Nutzen (necessitas et utilitas publica) kraft seiner Befugnis (ius eminens) ein, war er zur Entschädigung verpflichtet. 16 Da die Staatsgewalt als unrechtsfähig galt 1 7 , stand das ius eminens nicht außerhalb der Rechtsordnung, sondern war ihr Bestandteil; die Beeinträchtigung der iura quaesita war damit nicht „rechtswidrig". Zwingend ist der genannte Rückschluss aus der vor(rechts)staatlichen Epoche allerdings nicht, weil man bei der Übertragung rechtsstaatlicher Denkmuster an methodische Grenzen stößt. 18 Kategorien wie „rechtmäßig" und „rechtswidrig" waren jener Begriffswelt schlicht fremd, der Fürst stand schlechthin für Eingriffe in Privatrechte. 19 Unter dem Einfluss der Aufklärung, vor allem aber der Philosophie der Romantik 2 0 wandelte sich das Staatsdenken zwar allmählich. 2 1 Die Auffassung, dass der Staat ein gewachsener Verband sei, nicht nur ein „künstliches willkürliches Werk von Menschen" 22 bzw. der Summe seiner Individuuen, hielt fortan Einzug in die Erkenntnis über das Wesen des Staates. Dennoch konnte das im Absolutismus und Naturrecht verwurzelte monarchische Prinzip, das den Staat in der Person des Herrschers aufgehen ließ, nur schrittweise überwunden werden. 23 Obwohl man mit dem beginnenden Frühkonstitutionalismus ab Ende des 18. Jahrhunderts juristisch erstmals verschiedene hoheitliche Handlungsmodalitäten trennen konnte 24 , wurde der Staat an sich auch im 19. Jahrhundert nicht allgemein als unrechtsfähig angesehen.25 Die Aufopferungsentschädigung ist aus der 52 ff.; Tschacksch, Die öffentlich-rechtliche Entschädigung bei schuldlos rechtswidrigen Verwaltungsakten, S. 18; i.E. ebenso Kreft, DÖV 1955, 517/519; Scheuner, DÖV 1955, 545 ff.; Trimbach, Möglichkeiten einer Kodifikation, S. 27. 16 Erichsen, Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen, S. 42 ff.; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 3. Teil I 1, S. 125. 17 „The king can do no wrong", hierzu Kohl, Die Lehre von der Unrechtsfähigkeit des Staates, S. 39 ff.; Forsthoff, VerwaltungsR I, S. 112 ff., 453; Haas, System, S. 57; Janssen, Entschädigung, S. 41, 45. 18 Vgl. zu den methodischen Schwierigkeiten auch Kohl, Die Lehre von der Unrechtsunfähigkeit des Staates, S. 5. 19 Janssen, Entschädigung, S. 41. Demgemäß folgern Janssen (a.a.O., S. 118 f.) und Schack (Gutachten, S. 1, 10 ff.) aus der fehlenden „vorrechtsstaatlichen" Unterscheidung zwischen „rechtmäßigen" und „rechtswidrigen" Eingriffen, dass im rechtsstaatlichen Sinn beide Eingriffsmodalitäten entschädigungspflichtig gewesen seien. Problematisch ist an diesem Schluss, dass er entgegen der eigenen Prämisse letztlich doch auf rein rechtsstaatlichem Denken beruht. 20 Kohl, Die Lehre von der Unrechtsunfähigkeit des Staates, S. 48 ff. 21 Vgl. nur Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, § 25, S. 181 ff.; weitere Nachweise unten 2. Teil Β II 2a, S. 162 ff. 22 Kohl, Die Lehre von der Unrechtsunfähigkeit des Staates, S. 49. J. Chr. Pauly, Artikel „Staat" in Schneider, Lexikon der Aufklärung, S. 387 f. 23 Kohl, Die Lehre von der Unrechtsunfähigkeit des Staates, S. 48 ff. 24 Vgl. J. Chr. Pauly, Entstehung des Polizeirechts, S. 100, 145 ff.

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

Tradition des unfehlbaren, also nach heutigem Begriffsverständnis „rechtmäßig" handelnden, Staates zu verstehen. Die folgende Feststellung Städters spiegelt die herrschende Meinung 2 6 bis in die Weimarer Zeit wieder: „Öffentlich-rechtliche Entschädigung bedeutet den Vermögenswerten Ausgleich von Schäden, die infolge rechtmäßiger Ausübung der Staatsgewalt entstanden sind. Die öffentlich-rechtliche Entschädigungspflicht des Staates ist keine Deliktsobligation; sie ist eine auf rechtmäßiger Schadensverursachung beruhende Ausgleichsverbindlichkeit. ... Allein unter öffentlich-rechtlicher Entschädigung im eigentlichen, hergebrachten Sinn ist lediglich die durch rechtmäßige hoheitliche Tätigkeit ausgelöste Schadensersatzpflicht, der Aufopferungsanspruch, zu verstehen. Die Verantwortlichkeit des Staates für rechtswidrige Handlungen seiner Organe, die Staatshaftung fällt aus Begriff und Problemkreis der öffentlich-rechtlichen Entschädigung heraus".27 Neues brachte erst die Judikatur des Reichsgerichts. Im Rahmen einer zunächst sehr schwankenden Rechtsprechung 28 gewährte das Gericht in einigen Entscheidungen einen Aufopferungsanspruch erstmals auch für rechtswidrige staatliche Eingriffe. 29 Als grundlegende Wende 30 in der Rechtsprechung wird oft die Entscheidung vom 11.04.1933 31 herausgegriffen, in der einem Grundstückseigentümer eine Entschädigung wegen rechtswidriger Verweigerung einer Baugenehmigung im wesentlichen mit folgender Begründung zugesprochen wurde: »Allerdings hat § 75 Einl.z.ALR die Entschädigungspflicht gerade für solche Fälle eingeführt, in denen das Gemeinwohl einen Eingriff in die Rechte des einzelnen erfordert, der Eingriff also nach dem öffentlichen Recht zulässig ist. Aber es würde zu einem widersinnigen Ergebnis führen, dem Geschädigten, der von 25 Kohl, Die Lehre von der Unrechtsunfähigkeit des Staates, S. 48 ff., 57 ff. Siehe auch unten 2. Teil Β Π 2 a, S. 162 ff. 26 Z.B. Anschütz, VerwArch 5 (1897), 1/4, 33, 66; Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, S. 293 f.; v. Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 195; Hatschek, Institutionen des deutschen und preußischen Verwaltungsrechts, S. 319; Loening, Haftung des Staates, S. 94; Schanze, FischersZ 36 (1909), S. 1/46; Tschacksch, Die öffentlich-rechtliche Entschädigung bei schuldlos rechtswidrigen Verwaltungsakten, S. 9. 27 Stödter, Entschädigung, S. 15 f. Vgl. auch Scheuner, JuS 1961, 243 ff. 28 Vgl. hierzu Heidenhain, Amtshaftung, S. 81 ff. m.w.N. 29 RGZ 26, 265; RG Gruchot 26, 935; RG JW 90, 260 Nr. 14; RG JW 96, 41, Nr. 56; RG JW 00, 812, Nr. 20; RG JW 03, 252, Nr. 42; 79, 427; RGZ Gruchot 56, 1119; RGZ 102, 390; RGZ 140, 276. Teilweise finden sich konträre Entscheidungen, in denen das Gericht die Anwendung des § 75 EinlALR auf rechtswidrige Eingriffe kategorisch ablehnte, z.B. RGZ 26, 337; RG JW 92, 320, Nr. 37; RG PrVwBl 30 (1908), 579; RGZ 34, 294/298; RGZ 112, 95/98; 135, 308/311; 137, 163/167. 30 Z.B. Schoch, Jura 1989, 529; ebenso: Ossenbühl, StaatshaftungsR, 5. Teil I 1, S. 215: „erstmalige" Anerkennung einer „RechtsWidrigkeitsaufopferung". 31 RGZ 140, 276 ff. und RG HHR 36, Nr. 665.

Α. Dogmatische Grundlagen im Überblick

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der Obrigkeit zufolge ihrer Machtbefugnis zur Aufopferung von Rechten zum Wohl der Allgemeinheit gezwungen worden ist, die im § 75 vorgesehene Entschädigung dann zu versagen, wenn sich die Obrigkeit über ihre gesetzlichen Befugnisse geirrt hat, die von ihr vorgenommene Handlung aber dem Staat oder dem sonstigen öffentlich-rechtlichen Verband den erstreben Vorteil erbracht hat. Der Staat oder die Gemeinde, die ein solches Ergebnis herbeigeführt haben, können also insoweit den Aufopferungsanspruch nicht durch nachträgliche Berufung auf einen tatsächlichen oder rechtlichen Irrtum zu Fall bringen. ... Dem Wortlaut wie Sinn und Zweck des § 75 Einl.z.ALR. wird nur die Auffassung gerecht, daß dem rechtmäßigen Eingriff in die Rechte des einzelnen zum allgemeinen Wohl der unrechtmäßige solange gleichzuachten ist, als er von den Betroffenen hingenommen werden muß, dieser also gezwungen worden ist, etwas aus seinem Vermögen zu Lasten des Gemeinwohls aufzuopfern". 32 Methodisch legitimierte das Gericht die „Rechtswidrigkeitsaufopferungshaftung" mit einem argumentum a fortiori 33 aus der seit Herausbildung entsprechender Begriffskategorien 34 nur auf „zulässige Eingriffe", also rechtmäßig abverlangte Opfer bezogene Anspruchsgrundlage: Wenn der Staat schon rechtmäßige Eingriffe zu entschädigen hat, dann erst recht rechtswidrige. Mit exakt dem gleichen Begründungsmuster 35 perpetuierte der Bundesgerichtshof diese Rechtsprechung, wenn auch zunächst unter Auswechselung der rechtsdogmatischen Grundlage. In seiner Grundlagenentscheidung vom 10.06.1952 36 stützte der Große Zivilsenat die Haftung für rechtswidrigschuldloses Hoheitshandeln nicht mehr auf § 75 EinlALR, sondern direkt auf Art. 14 GG: „Es ist aber geboten, unrechtmäßige Eingriffe der Staatsgewalt in die Rechtssphäre eines einzelnen dann wie eine Enteignung zu behandeln, wenn sie für den. Fall ihrer gesetzlichen Zulässigkeit sowohl nach ihrem Inhalt wie nach ihrer Wirkung dem Betroffenen ein besonderes Opfer auferlegt haben. Die Beschränkung 32

RGZ 140, 276/283, 285. Diese Argumentation fand in der Literatur teils Zuspruch, z.B. von Peters, Lehrbuch der Verwaltung, S. 180; Giese, Der öffentlich-rechtliche Aufopferungsanspruch, S. 20, teils heftige Ablehnung, z.B. Stödter, Entschädigung, S. 15 ff. 34 Für G. Janssen, der aus dem Naturrecht eine umfassende Aufopferung auch für rechtswidrige Eingriffe herleitet, stellt diese Rechtsprechung nach zwischenzeitlicher Verengung des Prinzips konsequenterweise „eine Rückkehr zum alten Begriffsumfang" dar (Entschädigung, S. 119). Das Eingriffsobjekt war in dem vom Reichsgericht entschiedenen Fall das Eigentum, weshalb Ossenbühl (StaatshaftungsR, 5. Teil I la, S. 215) hier zu Recht den Vorläufer des „enteignungsgleichen Eingriffs" ausmacht. 35 Sproll in Detterbeck/Windhorst/Sproll, StaatshaftungsR, § 16 Rdnrn. 23 ff.; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 5. Teil I 2, S. 217. Die „Erst-recht-Logik" zog der Bundesgerichtshof ebenfalls zur Erweiterung des „enteignungsgleichen Eingriffs" auf rechtswidrig-schuldhafte Eingriffe heran (BGHZ 7, 296/298). 36 BGHZ 6, 270 ff. 33

3 Röder

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

des Tatbestandes der Enteignung in Art. 153 WRV und in Art. 14 GG auf rechtmäßige Eingriffe des Staates bedeutet ihrem Sinn nach eine Beschränkung für die Zubilligung eines Entschädigungsanspruchs. Der entscheidende Grundgedanke für die Zubilligung eines Entschädigungsanspruchs ist bei einem unrechtmäßigen Staatseingriff, der in seiner Wirkung für den Betroffenen einer Enteignung gleichsteht, mindestens in dem gleichen Maße gegeben wie bei einer rechtmäßigen, also gesetzlich zulässigen Enteignung. Es kann insoweit auf die überzeugenden Ausführungen des Reichsgerichts in RGZ 140, 276 (283) hingewiesen werden, mit denen das Reichsgericht die Notwendigkeit einer entsprechenden Anwendung des § 75 Einl.ALR bei unrechtmäßigen Eingriffen dargelegt hat, und die in gleicher Weise bei unrechtmäßigen Eingriffen mit Enteignungscharakter auch die Notwendigkeit einer entsprechenden Anwendung des Art 153 WRV und des Art. 14 GG begründen und damit zu Gunsten des Betroffenen die Zubilligung eines Entschädigungsanspruchs nach Art. 153 WRV und nach Art. 14 GG erfordern."37

IL Historisch bedingte Begrenzung des Eingriffsobjekts Bereits diese Rechtsprechung im Verbund mit den Verfassungsnormen Art. 153 S. 2 WRV und Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG zeigt, dass das Rechtsinstitut der öffentlich-rechtlichen Entschädigung sehr eng verwoben ist mit dem Rechtsgut „Eigentum". Die besondere Bedeutung dieses Rechtsguts für das Individuum entstammt naturrechtlichen Vorstellungen. Ihnen zufolge war das Eigentum die vorstaatliche Äußerungsform der Persönlichkeit schlechthin, es füllte die „wohlerworbenen Rechte" im wesentlichen aus, war Sammelbegriff für den dem staatlichen Eingriff entzogenen individuellen Rechtsbestand.38 Die „wohlerworbenen Rechte" umfassten „all diejenigen Befugnisse, in denen eine im objektiven Recht wurzelnde Willensmöglichkeit durch irgendeinen Vorgang, sei dieser ein Rechtsgeschäft, eine sonstige rechtsbegründende Tatsache oder ein Gesetz, als konkret bestimmte Rechtszuständigkeit eines individuellen Subjekts realisiert worden ist." 3 9 Diese auf speziellen Rechtstiteln beruhenden iura quaesita waren Gegenbegriff zu der „natürlichen Freiheit", die „vorstaatlicher" Ausdruck der Persönlichkeit war, jedoch keine Entschädigungsansprüche bei Verletzung hervorbringen konnte. 40

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BGHZ 6, 270/290. Stödter, Entschädigung, S. 52 ff., 91. Vgl. auch Anschütz, VerwArch 5 (1897), 1/47 ff.; Kreft, Aufopferung und Enteignung, S. 6; Pirson, Art. „Jura quaesita", in Erler/Kaufmann, Band 2, Sp. 472-476; Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Brandenburg-Preußen von 1749 bis 1892, S. 32 ff. 39 C. F. Gerber, Grundzüge des Deutschen Staatsrechts, 3. Auflage, 1880, S. 39. 40 Erichsen, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Grundlagen, S. 42 ff.; Stödter, Entschädigung, S. 59 f., 79. 38

Α. Dogmatische Grundlagen im Überblick

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Ob jene Theorie von den „wohlerworbenen Rechten" in den Entschädigungsregeln des Allgemeinen Landrechts niedergelegt wurde, war - ideengeschichtlich bedingt - vor allem ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts umstritten. Wenn man nur Eingriffe in die Jura quaesita" als entschädigungsrelevant ansehen wollte, durfte man dem Begriff „Vorteile" im Sinne des § 75 EinlALR keine eigenständige Bedeutung beimessen, sondern musste die Phrase „Rechte und Vorteile" pleonastisch verstehen. Die herrschende Ansicht bejahte diese Lesart 41 , andere maßen dem Begriff „Vorteil" Selbständigkeit bei und befürworteten so einen weiterreichenden aufopferungsrechtlichen Vermögensschutz. 42 Freilich spiegelte der Streit eine gewisse Modifizierung der naturrechtlichen Grundidee der „wohlerworbenen Rechte" mit Beginn des bürgerlichen Rechtsstaats im 19. Jahrhundert wieder. Der Schutz des Jus quaesitum" wandelte sich zum Schutz des subjektiven Rechts, das von den reinen Interessen und Rechtsreflexen des objektiven Rechts abgegrenzt wurde. 43 Die Konzentration des sekundären Rechtsgüterschutzes im wesentlichen auf das Eigentum basierte nunmehr darauf, dass reine Freiheitsbetätigungen, die z.B. lediglich Erwerbsmöglichkeiten schufen, nicht als subjektive Rechte, zumindest nicht als solche im heutigen Sinn, angesehen wurden. Von ihnen sprach man nur in Bezug auf den Vermögensbestand. 44 Entsprechend diesem Begriffsverständnis reduzierte wie schon zuvor das Preußische Obertribunal 45 dann auch das Reichsgericht den Aufopferungsanspruch auf das Eigentum und lehnte 41 Z.B. RG JW 1884, 283: RGZ 19, 355; 35, 237; RG JW 1900, 168; RGZ 64, 27; RG JW 1915, 40; RGZ 101, 289; RGZ 126, 96; 137, 163; Anschütz, VerwArch 5 (1897), 1/9, 104; Dreyer, VerwArch 20 (1912), 161/187; Hatschek, Institutionen des deutschen und preußischen Verwaltungsrechts, S. 320; Kleeberg, § 75 EinlALR und die Rechtsprechung des RG, S. 70 ff.; Scheicher, FischersZ 52 (1921), 1/138; von Stengel, HirthsAnn. 1901, S. 481/561; Stödter, Entschädigung, S. 29 m.w.N. 42 Z.B. RG JW 1884 Bd. 13, S. 283; Friedrichs, PrVBl. 45 (1924), S. 2/3; ders., Schadensersatzansprüche gegen Reichs-, Staats- und Kommunalbehörden nach Reichs- und preußischem Recht, S. 63; Scheuner, JW 1932, 2796/2797. Nach Anschütz (VerwArch 5 (1897), 1/48) wäre ein Ersatzanspruch aus der Handhabung des „ius eminens" „nichts mehr und nichts weniger als die Ausdehnung der Entschädigungspflicht auf alle vermögensbeeinträchtigenden Eingriffe der Staatsgewalt". 43 Kreft, Aufopferung und Enteignung, S. 8; Stödter, Entschädigung, S. 27 ff. 44 Z.B. RGZ 109, 310/319 f.; v. Gierke, Deutsches Privatrecht, Band I, S. 251; G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 44; W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 201; Schenke, NJW 1991, 1777/1781; Stödter, Entschädigung, S. 27 ff., 151 ff m.w.N. Anders z.B. Anschütz, VerwArch 5 (1897), 1/105, der zwar die „natürliche Freiheit" infolge gewandelter Anschauungen von Staat und Recht als „subjektives Recht positiven Inhalts" ansieht, aufgrund „unabweisbarer Auslegungsgrundsätze gleichwohl die ehedem zur »natürlichen Freiheit4 (dem Gegensatze des erworbenen Rechts) gerechneten Befugnisse nicht unter den , besonderen Rechten* des § 75" zu verstehen können glaubt. In diesem Sinn unterscheidet er doch wieder zwischen „besonderen Rechten" und „bloß angeborener natürlicher Freiheit" (a.a.O., S. 106).

3*

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

eine Entschädigung für Eingriffe in immaterielle Rechte ab, weil sie nicht unter § 75 EinlALR subsumierbar seien. 46 In dieser herrschenden Auslegung setzte sich im Kern zunächst der naturrechtliche Inhalt der Jura quesito" fort. 4 7 Insofern spiegeln diese Vorschriften den Geist des Allgemeinen Landrechts als „preußisches Naturrecht" 48 wider. Die entschädigungsrechtliche Fixierung auf das Eigentum wurde im übrigen in Form der Etablierung der Enteignung als Rechtsinstitut begünstigt. Bedingt durch die Industrialisierung deckte der Staat seinen wachsenden Bedarf an Liegenschaften zunehmend durch Enteignungen, deren Voraussetzungen, Verfahren und Entschädigung in speziellen Enteignungsgesetzen 4 9 geregelt wurden. Der Kodifizierungsprozess setzte sich dann in Form von Art. 9 der Preußischen Verfassung von 1850 50 , Art. 153 WRV und Art. 14 Abs. 3 GG auf verfassungsrechtlicher Ebene fort. Hierdurch wuchs sich die Enteignung zum eigenständigen Rechtsprinzip aus und etablierte sich als die aufopferungsrechtliche Spezialmaterie. 51 Der Anwendungsbereich des § 75 EinlALR schmolz mit der steten Ausdehnung des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs durch das Reichsgericht auf ein Minimum zusammen. 52 Enteignung und Entschädigung verbanden sich in der Rechtspraxis und -Wissenschaft derart miteinander, dass bereits zum Teil in der Weimarer Rechtslehre die Fortgeltung der §§ 74 f. EinlALR neben Art. 153 WRV verneint wurde. 53 45

Nachweise bei Scheuner in Reinhardt/Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums, S. 84. 46 RGZ 156, 305 ff. Auch die Preußische Kabinettsorder vom 04. 12. 1831 trug zu der Beschränkung der Vorschrift auf das Sacheigentum bei. Sie enthielt nämlich die Formulierung, „daß, wenn das Interesse der Gesamtheit der Einwohner des Staates eine Einrichtung in der Verwaltung fordert, die das Privateigentum des Einzelnen gefährdet, die Entschädigung aus dem Gesamtvermögen zu leisten sei", vgl. auch Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 14. 47 Anschütz, VerwArch 5 (1897), 1/70, 103 ff.; Dreyer, VerwArch 20 (1912), 161/187. 48 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, § 19, S. 322 ff., speziell S. 331 ff. m.w.N. 49 Z.B.: Bayerisches Gesetz die Abtretung von Grundeigentum für öffentliche Zwecke betreffend vom 17. 11. 1837 (Bayerisches Gesetzblatt, S. 109 mit 128), abgedruckt bei Rehm, Quellensammlung, S. 92 ff.; Preußisches Gesetz über die Enteignung von Grundeigentum vom 11.06.1875 (Gesetzessammlung für die königlichen Preußischen Staaten, S. 221). 50 Gesetzessammlung für die königlichen Preußischen Staaten, S. 17, abgedruckt in Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit I, S. 210. 51 BGHZ 13, 88/91; Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 14 ff.; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 3. Teil I 1 c, S. 128 f. 52 RGZ 104, 137/140; 107, 370/375; 109, 310/319 im Anschluss an M. Wolff, Festgabe für Kahl, S. 1/23 ff. Vgl. auch Stödter, Entschädigung, S. 151 ff.; W. Weber in Neumann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte, S. 331/338 ff.

Α. Dogmatische Grundlagen im Überblick

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Die Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde vom Bundesgerichtshof fortgesetzt und unter dem Geltungsbereich des Art. 14 GG zu einem umfassenden entschädigungsrechtlichen Eigentumsschutz ausgebaut54: Zu der genannten Schöpfung des „enteignungsgleichen Eingriffs" a fortiori Art. 14 Abs. 3 GG gesellte sich die Kreation des „enteignenden Eingriffs" 5 5 . Dieser trat als Haftungsinstitut neben die Enteignungsentschädigung, sanktioniert aber (meist) atypische und unbeabsichtigte Folgen eines „an sich" rechtmäßigen Verwaltungshandelns. 56

ΙΠ· Die entschädigungsrechtliche Dogmatik des Bundesgerichtshofs 1. Eine zweifache

„Abnabelung"

von Art. 14 GG

Dieses durch den Bundesgerichtshof vollständig an Art. 14 Abs. 3 GG ausgerichtete und insofern in sich geschlossene Entschädigungssystem wurde durch zwei verschiedene Entscheidungen aufgelöst. Zum einen beendete der Bundesgerichtshof die entschädigungsrechtliche Beschränkung auf das Rechtsgut Eigentum, indem er eine entsprechende Sekundärhaftung auch bei staatlichen Eingriffen in die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG statuierte. 57 Zum anderen erzwang das Bundesverfassungsgericht eine Entkopplung des „enteignungsgleichen" und „enteignenden" Eingriffs von Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG. 5 8 a) Entschädigung bei Eingriffen in die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG Angesichts der traditionellen Beschränkung von Entschädigungsansprüchen auf das Eigentum war die Erweiterung der Haftung auf die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG durch den Bundesgerichtshof systemfremd. Konkret stand sie gegen die bis dahin herrschende Meinung, denn noch das Reichsgericht hatte eine Haftung bei Eingriffen in diese Immaterialgüter expressis verbis abgelehnt. 59 53 Z.B. Stödter, Entschädigung, S. 239 ff. m.w.N., auch für die damals herrschende Gegenansicht. 54 Maurer, AllgVerwR, § 26 Rdnrn. 12 ff. 55 BGHZ 57, 359/366; der Sache nach bereits BGH NJW 1965, 1907 ff. 56 Zu den Schwierigkeiten, welche sich aus der Definition ergeben, vgl. unten 2. Teil Ε Π, S. 323 ff. 57 Grundlegend: BGHZ 9, 83 ff. („Impfschaden"); 13, 88 ff.; 111, 349. Die „Impfschadensfälle" sind heute in §§ 51 ff. BSeuchenG spezialgesetzlich geregelt. 58 BVerfGE 58, 100 ff. (= NJW 1982, 745 ff., „Nassauskiesung").

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

Einen Bruch mit der Entschädigungstradition musste demgemäß auch die dogmatische Konzeption darstellen, auf die eine solche Extension haftungsrelevanter Rechtsgüter gestützt wurde. Als Rechtsgrundlage für den Entschädigungsanspruch bei Eingriffen insbesondere in die körperliche Unversehrtheit zog der Bundesgerichtshof nunmehr die §§ 74 f. EinlALR heran. Das Neuartige an dieser dogmatischen Verortung war, dass noch nach Ansicht des Reichsgerichts der Aufopferungsgedanke streng eigentumsbezogen sein sollte. Bemerkenswert war diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs deshalb, weil das Verhältnis von Innovation und Konstanz völlig ambivalent war: Mit der Neubewertung entschädigungsrelevanter Eingriffsobjekte ging nämlich eine Reaktivierung der §§ 74 f. EinlALR, d.h. eine (versteckte) Rückanbindung an die reichsgerichtliche Dogmatik einher. Das Reichsgericht hatte den heutigen „enteignungsgleichen Eingriff 4 ja „erst recht" als einen Unterfall des allgemeinen Aufopferungsrechts (§ 75 EinlALR) angesehen und nicht als „A-fortiori-Enteignung" im Sinne des Art. 153 W R V . 6 0 Insbesondere weil die Enteignung auch nach Ansicht des Bundesgerichtshofs eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Aufopferungsgedankens ist 6 1 . hätte die Erweiterung des Rechtsgüterkanons Anlass sein können, alle Ansprüche für rechtswidriges Hoheitshandeln unter dieser Chiffre systematisch zu vereinen. Dies gilt umso mehr, als ein Begründungsstrang für die Extension von Sekundäransprüchen auf Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit deren „dem Eigentum mindestens ebenbürtige Entschädigungswürdigkeit" 6 2 war. Mit dieser argumentativen Gleichstellung hatte es allerdings sein Bewenden. Anstelle einer Harmonisierung der Haftungsgrundlagen leitete der Bundesgerichtshof den sekundären Eigentumsschutz vorerst weiterhin aus Art. 14 Abs. 3 GG ab, die Entschädigungspflicht bei Eingriffen in die Rechte des Art. 2 Abs. 2 GG hingegen aus dem Aufopferungsgedanken der §§ 74 f. EinlALR. 6 3 Die (scheinbare 64 ) Stimmigkeit seines dogmatischen Konzepts war damit aus den Fugen geraten: Zum einen war die Extension des Art. 14 Abs. 3 59

Z.B. RGZ 72, 85/90 ff.; 103, 423/426; 122, 298/301; 144, 325/333; 149, 34/ 36; 156, 305 ff. 60 Vgl. oben den Text zu 1. Teil FN 31 ff. 61 BGHZ 9, 83/89 ff.; 13, 88/91; Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 14 ff.; Maurer, AllgVerwR, § 27 Rdnr. 2; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 3. Teil I 1 c, S. 128 f. 62 BGHZ 9, 83/89 ff. In anderem Zusammenhang wird auf die Entscheidungsgründe noch näher einzugehen sein, vgl. unten 1. Teil Β II 3 a, S. 115 f. 63 Diese unsystematische Einordnung ist Ursache für die künstliche Aufspaltung des Haftungsrechts in die „Aufopferung im weiteren" und „im engeren Sinn", Maurer, AllgVerwR, § 27 Rdnr. 2; W. Schmidt, NJW 1999, 2847 und oben Einleitung FN 34.

Α. Dogmatische Grundlagen im Überblick

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GG als einer aufopferungsrechtlichen Spezialvorschrift anstelle einer Rückbindung an den reaktivierten „allgemeinen Aufopferungsgedanken" methodisch nicht kohärent. Gewichtiger war allerdings das zweite Manko: Die haftungsrechtliche Zweigleisigkeit bedingte einen normenhierarchischen Dualismus. Den Aufopferungsanspruch im engeren Sinn richtete die Rechtsprechung nämlich nicht so deutlich verfassungsrechtlich aus wie den „enteignungsgleichen" und später auch den „enteignenden Eingriff 4 . 6 5 Art. 2 Abs. 2 GG fungierte nicht wie Art. 14 Abs. 3 GG als Haftungsgrundlage. In Form der Rückkopplung an §§ 74 f. EinlALR sollte sie augenscheinlich einfachrechtliches Gepräge erhalten. Das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG dient dem Bundesgerichtshof noch heute eher der tatbestandlichen Konturierung des Eingriffsobjekts denn als Anspruchsgrundlage. Statt explizit auf die grundrechtliche Dimension zu rekurrieren, zog der Bundesgerichtshof in einer seiner frühen Entscheidungen als zusätzliche Legitimation der Haftung bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit den „sozialen Rechtsstaat" (Art. 20 Abs. 1 GG) heran. 66 Eine Systematisierung des Entschädigungsrechts auf rein grundrechtlicher Basis erfolgte demzufolge ebenfalls nicht. 6 7 Folgeprobleme der genannten dogmatischen „Geburtsfehler" 68 sind noch offenzulegen. 69 b) Erzwungene Neuverortung der richterrechtlichen Eigentumsentschädigung Durch externen Einfluss wurde dann später zumindest formal eine dogmatische Harmonisierung des nicht kodifizierten Entschädigungsrechts erreicht. Das Bundesverfassungsgericht veranlasste den Bundesgerichtshof in Form der „Nassauskiesungsentscheidung"70 zu einer Abkopplung des „enteignungsgleichen" und „enteignenden Eingriffs" von Art. 14 Abs. 3 GG, 64 Auf die Probleme, die das Bundesverfassungsgericht letztlich zur Beendigung dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs veranlasste (vor allem das Verhältnis von Inhaltsbestimmung und Enteignung sowie von Primärrechtsschutz und Entschädigung) kommt es an dieser Stelle nicht an (vgl. insofern BVerfGE 58, 100 ff.). 65 Ossenbühl, StaatshaftungsR, 5. Teil, I 2 a, S. 217. 66 BGHZ 25, 238/241. 67 Als weitere Vereinheitlichungsalternative wurde vorgeschlagen, den Begriff der „Enteignung" weit zu fassen und auch auf nichtVermögenswerte Rechte zu erstrecken (z.B. Bauschke/Kloepfer, NJW 1971, 1233/1236, unter Geltung der Weimarer Reichsverfassung bereits Stödter, Entschädigung, S. 229 ff.). Das ist sowohl aus normlogischen als auch begrifflichen Gründen nicht haltbar (ganz herrschende Meinung). 68 Bezogen auf den „enteignungsgleichen Eingriff 4 Ossenbühl, Neuere Entwicklungen, S. 17. 69 Vor allem unten 1. Teil C, S. 134 ff.

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

obgleich diese Rechtsinstitute in der Entscheidung keine Erwähnung fanden 71 . Diese Reaktion war folgerichtig, weil das Bundesverfassungsgericht die Enteignungsentschädigung in groben Zügen wie folgt neu ordnete: Diese soll nur noch auf Grundlage einer gesetzlichen Regelung möglich sein. Fehlt sie, müsse der Eigentümer gegen die dann rechtswidrige Maßnahme Primärrechtsschutz ergreifen; ein Verzicht auf die Anfechtung des Eingriffsakts bei gleichzeitigem Entschädigungsverlangen sei nicht möglich. Während angesichts dessen Teile der Literatur den Fortbestand des „enteignungsgleichen" und „enteignenden Eingriffs" zunächst in Frage stellten 7 2 , hielt der Bundesgerichtshof mit der überwiegenden Lehre 7 3 an den Rechtsinstituten fest. Allerdings sah er sich veranlasst, sie fortan nicht mehr aus Art. 14 Abs. 3 GG abzuleiten.

2. Renaissance des „allgemeinen Aufopferungsgedankens" Ihren Grund soll die Entschädigung für „enteignungsgleiche" und „enteignende Eingriffe" nunmehr in dem „allgemeinen Aufopferungsgedanken der §§ 74, 75 EinlALR in seiner richterrechtlich geprägten Ausformung" 7 4 haben. In dieser Form wurde dem Anschein nach auf der Ebene des einfachen Rechts 75 eine gemeinsame Basis für die Entschädigung sowohl bei Eingriffen in das Eigentum als auch in die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2

70 BVerfGE 58, 300 ff. Die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts war tendenziell schon erkennbar in BVerfGE 24, 367/421; 46, 268 ff.; 51, 1 ff.; 56, 249 ff.; 58, 137 ff. 71 Vgl. auch Goppert, Enteignungsgleicher Eingriff, S. 89 ff. 72 Baur, NJW 1982, 1734/1735 f.; Berkemann, JR 1982, 229/232; v. Brünneck, Eigentumsgarantie, S. 414 f.; Dolde, NJW 1982, 1785/1796 f.; Kreft, NJW 1982, 1578; Rupp, NJW 1982, 1731/1733; Scholz, NVwZ 1982, 337/347; Schrödter, DVB1. 1982, 323/328; Schröer, NJW 1984, 1864 ff.; Sendler, DVB1. 1982, 812/ 816; H. Weber, JuS 1982, 852/855. 73 Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Maurer, AllgVerwR, § 26 Rdnrn. 33, 122; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 5. Teil I 4 b, S. 222 mit Fußnote 21. 74 BGHZ 90, 17/29 ff. („enteignungsgleicher Eingriff0 = DVB1. 1984, 391; BGHZ 91, 20/26 ff. („enteignender Eingriff 4); BGHZ 92, 34/36; BGH, JZ 1984, 741/743 = NJW 1984, 1876/1878 f.; NJW 1986, 1107/1108; BGHZ 99, 24/29; 100, 136/145; 102, 350/357; BGH NJW 1990, 3260/3261; DVB1 1991, 84/87 f. Vgl. hierzu auch die ehemaligen Bundesrichter Boujong, UPR 1984, 137 ff.; ders., Festschrift für Geiger, S. 430/435; Krohn, WM 1984, 825 ff.; Krohn/Löwisch, Eigentumsgarantie, Enteignung, Entschädigung, Rdnrn. 233, 235a; Nüßgens/Boujong, Eigentum, Sozialbindung, Enteignung, Rdnr. 430. 75 Z.B. BGHZ 76, 375/384; 90, 17/29 f.; Boujong, UPR 1984, 137 f.; J. Ipsen, DVB1. 1983, 1029/1035 f.; Papier in Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 632; Schenke/ Guttenberg, DÖV 1991, 945/953; Schenke, NJW 1991, 1777/1781.

Α. Dogmatische Grundlagen im Überblick

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GG gefunden. Repräsentativ für die gängige Einschätzung fasst Leisner 76 die dogmatische Wende der Rechtsprechung wie folgt zusammen: „Wenn in diesen Fällen die Entschädigungsregelung nicht mehr unmittelbar Art. 14 Abs. 3 GG entnommen werden kann - und das Bundesverfassungsgericht hat diesen Weg versperrt - so bleibt nur eines: Abkopplung der Entschädigungsregelung von der Verfassung, die Entschädigung muß auf eine eigenständige Rechtsgrundlage gestellt werden. Der Bundesgerichtshof hat dies durch richterrechtliche Rechtsfortbildung geleistet. Entschädigung gewährt er nun bei (rechtmäßigem) enteignendem wie bei (rechtswidrigem) enteignungsgleichem Eingriff nach wie vor, aber nicht (mehr) aufgrund eines Verfassungsgebots, sondern eines ungeschriebenen Rechtsgrundsatzes, dem in der Zivilrechtsprechung entwickelten und hinreichend präzisierten Aufopferungsgedanken." Ob nach der „Nassauskiesungsentscheidung" die Abkopplung von der Verfassung - wie Leisner meint - tatsächlich zwingend war, ist schon deswegen zweifelhaft, weil womöglich gar keine echte Abkopplung erfolgt ist. Die oben angesprochenen normenhierarchischen Friktionen sind im Zuge der dogmatischen Neuverortung nicht beseitigt worden, sondern haben sich allenfalls verlagert. Obwohl der Aufopferungsgedanke nach ständigem Bekunden des Bundsgerichtshofs im einfachen Recht beheimatet sein soll, erhält er zugleich eine Anbindung des „enteignungsgleichen Eingriffs" an Art. 14 Abs. 1 GG aufrecht. Durch den Rückgriff auf den Aufopferungsgedanken sei der Anspruch zwar von Art. 14 Abs. 3 GG, „nicht aber von Art. 14 Abs. 1 GG abgekoppelt worden". 77 Dementsprechend geht eine weitere Standardformel des Gerichts und seiner (ehemaligen) Richter dahin, dass der Anspruch zwar aus dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG abgeleitet sei, seine Ausgestaltung nach Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen im einzelnen aber auf der Ebene des einfachen Rechts liege. 78 Diese Umschreibung verwendete der Bundesgerichtshof vereinzelt bereits vor der „Nassauskiesungsentscheidung".79 Neben dem zentralen argumentum a fortiori aus Art. 14 Abs. 3 GG gab es nämlich bereits zu dieser Zeit deutliche 76

Handbuch des Staatsrechts, Band VI, § 149 Rdnr. 176. BGHZ 99, 24/30; ebenso der Vorsitzende Richter am BGH Rinne, DVB1. 1993, 869/870; vgl. auch Ossenbühl, StaatshaftungsR, 5. Teil ΠΙ 2 a, S. 242; ders., Festschrift für Geiger, 475/495; W. Schmidt, NJW 1999, 2847. 78 Z.B. BGHZ 90, 17/29 ff.; BGH NJW 1984, 1878/1879; BGHZ 91, 243/252; 92, 34/36; NJW 1986, 1107/1108; UPR 1986, 261/262; BGHZ 99, 24/29; BGHZ 100, 136/145; BGH, NVwZ 1987, 1115; BGHZ 102, 350/357; Boujong, UPR 1984, 137 ff.; Engelhardt, NuR 1986, 185 f.; Krohn, WM 1984, 825; Krohn/Löwisch, Eigentumsgarantie, Enteignung, Entschädigung, Rdnrn. 233, 235a; Nüßgens/ Boujong, Eigentum, Rdnrn. 337, 342; Rinne, DVB1. 1993, 869/870; ebenso Ossenbühl, Krise, S. 236/380: „Ihre Verwurzelung findet diese Staatsunrechtshaftung im Verfassungsrecht; die Ausformung der Tatbestandsvoraussetzungen und der Rechtsfolgen findet jedoch auf der Ebene des einfachen Rechts statt." 79 BGHZ 76, 375/384. 77

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

Tendenzen, die richterrechtliche Haftung Art. 14 GG in seiner Gesamtheit zu entnehmen. 80 Trotz der (durch das Bundesverfassungsgericht) erzwungenen dogmatischen Neuorientierung zeigt sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Sache nach konstant. 81 Die Analyse in der Literatur geht mitunter sogar soweit, die Umwandlungen des richterrechtlichen Entschädigungsrechts nach der „Nassauskiesungsentscheidung" als marginal oder polemischer: als „Sturm im Wasserglas" 82 bzw. „Etikettenschwindel" 83 zu titulieren. Da das Haftungsinstitut tatbestandlich nahezu unverändert geblieben ist, kann in der Tat von einem „Seebeben" 84 nicht die Rede sein. Allerdings verlangt die Vermengung von Art. 14 GG mit der recht unbestimmten Wendung des „allgemeinen Aufopferungsgedankens der §§ 74, 75 EinlALR in seiner richterrechtlich geprägten Ausformung" nach klärender Entwirrung 85 : Ist das Grundrecht - wie Kr eft behauptet - so etwas wie eine „mittelbare Rechtsgrundlage" 86 ? Was würde das dogmatisch bedeuten? Wenn das Grundrecht im Verletzungsfall schon für sich genommen einen Kompensationanspruch bedingt, bedarf es dann überhaupt des Rückgriffs auf den Aufopferungsgedanken? Wie beliebig darf mit dem Normprogramm eines Grundrechts umgegangen werden? Nach Kreft soll es beispielsweise im Ergebnis „unerheblich (seil.: sein), ob man noch an der Verbindung mit Art. 14 GG ... festhalten oder die in Rede stehenden Entschädigungsansprüche völlig von Art. 14 GG abkoppeln w i l l " 8 7 . Was verbirgt sich im Übrigen hinter dem „allgemeinen Aufopferungsgedanken"? Jüngst lokaliserte Walter Schmidt dessen „Ob", d.h. seine Existenz, in Art. 3 Abs. 1 GG, was seiner Ansicht nach „den Rückgriff auf eine als Gewohnheitsrecht behauptete Fortgeltung der §§ 74, 75 Einl-PrALR" erübrigt. 88 Eine solche Verortung wirft ein weiteres Problem auf: Sollte sich nämlich der verfassungsrechtliche Bezug des „Aufopferungsgedankens" bestätigen, ist das Verhältnis der möglichen Haftungsgrundlagen „Freiheitsrecht" und „allgemeiner Gleichheitssatz" zu klären. 89 80

BGHZ 6, 270/291; ebenso der ehemalige Vorsitzende des ΙΠ. Zivilsenats Kreft, Aufopferung und Enteignung, S. 30. 81 Vgl. Kreft, Bedeutung der Naßauskiesungsentscheidung, S. 173/179 ff.; ders., Festschrift für Geiger, S. 399/410. 82 Ossenbühl, Festschrift für Geiger, S. 475/494. 83 Schoch, Jura 1989, 529/534. 84 Trimbach, Möglichkeiten einer Kodifikation, S. 22. 85 Vgl. zu den nachfolgend aufgeworfenen Problemen unten 1. Teil C I, S. 134 ff. und zu dem Versuch einer Lösung 2. Teil, S. 150 ff. 86 Kreft, Bedeutung der Naßauskiesungsentscheidung, S. 173/206 f. 87 Kreft, Bedeutung der Naßauskiesungsentscheidung, S. 173/207. 88 NJW 1999, 2847 f.

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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An dieser Stelle ist als Essenz des Überblicks festzuhalten: Der Bundesgerichtshof gewährt einen Entschädigungsanspruch nur für hoheitliche Eingriffe in die von Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 14 GG geschützten Rechtsgüter. Dogmatische Komplikationen bestehen in beiden Fällen. In Bezug auf den Eigentumsschutz hat die „Nassauskiesungsentscheidung" die Ansprüche wegen „enteignungsgleichen" und „enteignenden Eingriffs" als solche völlig unberührt gelassen, die Haftungsgrundlagen aber verkompliziert. Ohne Auswirkungen blieb der Beschluss demgegenüber für die Sanktionierung von Verletzungen vor allem der körperlichen Integrität. 90 Diese ist allerdings an sich ein „Novum" im Aufopferungsrecht und deshalb überprüfungsbedürftig. Für den Ausgang des einführend geschilderten Rechtsstreits 91 heißt das: Die Klage wird abgewiesen, weil das beklagte Land „lediglich" in die Berufsfreiheit der Klägerin eingegriffen hatte. Dieses Grundrecht ist nach der eben dargestellten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aufopferungsrechtlich nicht geschützt. In Übereinstimmung hiermit führt das Landgericht Berlin in seinem Urteil deshalb aus: „Vielmehr liegt die Ausgestaltung des Aufopferungsanspruchs im einzelnen nach Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen auf der Ebene des einfachen Rechts und nicht des Verfassungsrechts. Rechtsgrundlage ist dabei einzig und allein an den Rechtsgedanken der §§ 74, 75 EinlPrALR von 1794 anknüpfendes Gewohnheitsrecht". Die Aufopferung eines „Rechts" im Sinne des § 75 EinlALR sei aber „denknotwendigerweise bei einem Eingriff in den von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Bereich ausgeschlossen"92.

B. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte bei einfachrechtlicher Verortung der Haftungsgrundlage Der Klägerin könnte - zumindest auf dem Papier - doch noch zu ihrem Recht verholfen werden, sofern sich die rechtsgutsbezogene Beschränkung des Aufopferungsrechts als unhaltbar erweisen sollte. Immerhin hat der Bundesgerichtshof die Tür zur Entschädigung für Eingriffe in immaterielle Rechtsgüter einen Spalt breit aufgestoßen (Art. 2 Abs. 2 GG), was ohne weiteres die Frage nach der Legitimation dieser „erweiterten Exklusivität" aufwirft.

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Siehe hierzu insbesondere unten 2. Teil E, S. 317 ff. Bender, BauR 1983, 1/11; Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 23. Vgl. oben S. 28. LG Berlin (FN 66), S. 8 f. der Entscheidung.

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

Die Überprüfung des beschränkten Rechtsgüterkanons soll zunächst auf Basis der Dogmatik des Bundesgerichtshofs erfolgen. Ziel ist hierbei, die „innere" Stringenz der Judikatur zu beleuchten, ohne deren Grundthesen anzuzweifeln. Demnach fußt die folgende Analyse auf der Prämisse, dass die Entschädigungsansprüche einfachrechtlicher Natur sind. Diese regelmäßig hervorgehobene Grundannahme der Rechtsprechung wird axiomatisch vorausgesetzt. Erst im Anschluss an den „rechtsprechungsimmanenten" Rekurs kann das Axiom als solches, also die Verwurzelung der Ansprüche im einfachen Recht, einer eigenständigen Kontrolle unterzogen werden. 93 Bereits angeklungene Grundrechtsbezüge der Aufopferungsansprüche, vor allem der zu Art. 14 GG, sind somit vorerst beiseite zu lassen.

I. Legitimationsdefizite des beschränkten Rechtsgüterkanons 1. Kontinuität des Begründungsmangels: Analyse der BGH-Rechtsprechung In der Judikatur des Bundesgerichtshofs finden sich durchaus einzelne Urteile, deren streng dogmatische Analyse die tatbestandliche Erweiterung der Aufopferungsentschädigung über die durch die Schutzbereiche der Art. 14 und Art. 2 Abs. 2 GG gezogenen Grenzen hinaus nahe legt: 9 4 In einem Fall 9 5 begehrte der Kläger Ersatz der Schäden (Verdienstausfall, Schmerzensgeld), die ihm durch die unberechtigte Einziehung zum Grundwehrdienst entstanden waren. Er habe - so ließ er vortragen - seine Ausbildung zum Diplomingenieur erst ein Jahr später abschließen können und erreiche jede Berufsstellung und jede berufliche Einkommenssteigerung ein Jahr später, als wenn er nicht eingezogen worden wäre. Der Bundesgerichtshof verneinte einen Entschädigungsanspruch unter dem Gesichtspunkt der Aufopferung mit der Begründung, es fehle ange93

Vgl. unten ab 1. Teil C, S. 134 ff. Abgesehen von den beiden Entscheidungen, auf die im Folgenden näher eingegangen werden wird, stand das Gericht vor allem in den sechziger Jahren einer vorsichtigen Erweiterung der Schutzgüter relativ aufgeschlossen gegenüber: Im Urteil vom 31.06.1966 (BGHZ 45, 58/76 f.) hielt es einen Aufopferungsanspruch auch bei hoheitlichem Eingriff der Verwaltung in die körperliche Bewegungsfreiheit für möglich. In einer anderen Entscheidung (NJW 1962, 2347/2348 = DVB1. 1962, 24 f.) ließ es das Gericht immerhin dahinstehen, ob die rechtswidrige Versagung einer Konzession für den Betrieb einer Apotheke einen Aufopferungsanspruch wegen Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 12 GG zu begründen vermag (Urteilskritik z.B. bei Löwer, Unterlassenes Verwaltungshandeln, S. 433 f.). Ebenfalls offengelassen wurde die Entschädigungspflicht bei Erwerbsschädigungen (VersR 1965, 693/695) und bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (NJW 1968, 989). 95 Urteil vom 23.10.1975 - ΠΙ ZR 97/73 - , BGHZ 65, 196 ff. 94

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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sichts der allgemeinen Wehrpflicht (§ 1 Abs. 1 WehrpflG) an einem Sonderopfer des Klägers. 96 Prüft man den Anspruch in schulmäßiger Reihenfolge, so geht der Frage nach dem Sonderopfer die Bejahung eines Eingriffs in ein tatbestandlich relevantes Rechtsgut logisch vor. Unterstellt man dem Gericht diese Prüfungsstrenge, ist es richtig und nur konsequent anzunehmen, der Bundesgerichtshof habe inzident einen Eingriff in die Berufsfreiheit des Art. 12 GG bejaht und hätte dem Kläger die Entschädigung zugesprochen, wenn er das Sonderopfer an Freiheit bejaht hätte. 97 Diese Interpretation der Entscheidung liegt um so näher, als der Bundesgerichtshof die aufopferungsrechtlich geschützten Rechtsgüter als „ . . . nicht Vermögenswerte Güter, insbesondere 9* Leben, Gesundheit, Freiheit" 9 9 definierte und sie damit gerade nicht auf den Kanon des Art. 2 Abs. 2 GG zu beschränken schien. 100 Bezieht man in die Entscheidungsanalyse ein Urteil 1 0 1 aus der gleichen Zeit mit ein, das der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs in einer ver96

BGHZ 65, 196/206 ff. Ossenbühl, StaatshaftungsR, 5. Teil ΠΙ 2c, S. 245; ders., Krise, S. 236/368. 98 Hervorhebung durch den Verfasser. Eine ähnliche Umschreibung findet sich bereits in BGHZ 45, 58/76: „Als Aufopferungsanspruch bezeichnet die Rechtsprechung den Entschädigungsanspruch für Sonderopfer durch hoheitliche Eingriffe in nicht Vermögenswerte Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Freiheit.". 99 BGHZ 65, 196/206; dagegen Löwer, Unterlassenes Verwaltungshandeln, S. 436. 100 In Anbetracht des engeren Begründungszusammenhangs könnte man hinter ein solches Verständnis der Entscheidung durchaus auch ein kleines Fragezeichen setzen. Die Frage nach dem geschützten Rechtsgut des Aufopferungsanspruchs kann man auf Grundlage dieser Passage der Entscheidungsgründe prüfungstechnisch ebensogut als stillschweigend offengelassen wie als inzident bejaht ansehen. Der Bundesgerichtshof lenkte die Prüfung nämlich von vornherein auf das Sonderopfer und zitierte unter diesem Blickwinkel lediglich die Rechtsauffassung des Klägers zu dem Eingriffsobjekt: „Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß bei einem hoheitlichen Eingriff in nicht Vermögenswerte Rechte, insbesondere Leben, Gesundheit und Freiheit, dem Betroffenen ein Aufopferungsanspruch zusteht, wenn der Eingriff ihn im Verhältnis zu anderen ungleich belastet, ihm also ein Sonderopfer aufgebürdet hat, und wenn der Eingriff ihm einen Vermögensschaden zugefügt hat. Im vorliegenden Fall macht der Kläger einen Eingriff in seine Freiheit geltend, indem er darlegt, da er nicht wehrdiensttauglich gewesen sei, hätten die gesetzlichen Voraussetzungen für seine Heranziehung zum Wehrdienst und die damit verbundene Beschränkung seiner grundgesetzlich verbürgten Freiheitsrechte nicht vorgelegen. Der zu beurteilende Sachverhalt rechtfertigt jedoch nicht die Feststellung, daß der Kläger ein Sonderopfer an Freiheit gebracht hat." (a.a.O.) Missverständlich ist die Formulierung, dass es in dem zu beurteilenden Fall an der Verletzung eines geschützten Rechtsguts fehle (a.a.O., S. 209). Der Senat behandelt die Frage des (Sonder-) Opfers nämlich unter dem Gesichtspunkt der „Beeinträchtigung einer Rechtsposition in ihren Schutzgrenzen" (a.a.O., S. 208). Gemeint ist also, dass die „Schutzgrenzen" des Rechtsguts überschritten sind. 97

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

gleichbaren Konstellation 102 fällte, verfestigt sich der Eindruck, dass der Senat die Erstreckung des Aufopferungstatbestands auch auf andere Rechtsgüter, namentlich die Berufsfreiheit, voraussetzte. 103 In relativ detaillierter Begründung verneinte er nämlich die Rechtswidrigkeit des Eingriffs in das Recht der Berufsfreiheit, was er sich hätte ersparen können, wenn dieses Recht vom Aufopferungsanspruch tatbestandlich gar nicht mitumfasst wäre. In dieser Entscheidung war das Offenlassen des rechtsgutdefinierten Schutzumfangs also noch fernliegender als in der zuvor erwähnten. Wenn diese beiden Urteile eine Entschädigungspflicht des Staates bei Verletzung der Berufsfreiheit jedenfalls nicht ausgeschlossen haben, lehnt der Bundesgerichtshof seither in ständiger Rechtsprechung eine Ausdehnung der Haftung auf das Grundrecht aus Art. 12 GG und andere Rechte unmissverständlich ab. Erstaunlicherweise lassen sämtliche späteren Entscheidungen eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Problemkreis „Ausdehnung der Entschädigungspflicht auf andere als die durch die Schutzbereiche der Art. 14 und Art. 2 Abs. 2 GG vorgezeichneten Rechtsgüter" vermissen. 104 Dabei wäre eine dogmatische Stellungnahme dringend angezeigt gewesen, weil die kategorische Beschränkung aufopferungsrelevanter Schutzgüter entgegen der Offenheit der beiden genannten Urteile fast schon einer Rechtsprechungsänderung gleichkam. Die Begründungsbedürftigkeit dieser Judikatur hat sich infolge der dogmatischen Abkopplung des „enteignungsgleichen Eingriffs" von Art. 14 Abs. 3 GG als Reaktion auf den „Nassauskiesungsbeschluss" des Bundesverfassungsgerichts noch erhöht. Denn gerade die Verortung des Entschädigungsanspruchs im Enteignungsrecht musste im System des Bundesgerichtshofs eine Erweiterung auf andere Rechte verhindern. 105 „Entschädigung" war - wie gesehen - dogmatisch zunächst untrennbar verbunden nicht nur mit dem Eigentum, sondern seit Geltung des Grundgesetzes ganz konkret mit Art. 14 Abs. 3 GG, wie die Namensgebung der praeter legem entwickelten Rechtsinstitute („enteignungsgleicher" und „enteignender Eingriff 4 ) erkennen lässt. 1 0 6 Setzt man die Rückbindung an den „Aufopferungsgedanken" entsprechend der Rechtsprechung axiomatisch voraus, drängt sich die Extension von Entschädi101

Urteil vom 10./11.03.1976 - ΙΠ ZR 130/73 - , BGHZ 66, 118 ff. Verkürzt dargestellt begehrte der Kläger Ersatz wegen Verdienstausfalls, weil er zu Unrecht zum zivilen Ersatzdienst einberufen wurde. 103 Auch hier ist die Formulierung missverständlich, der Aufopferungsanspruch des Klägers scheitere bereits daran, „daß die Einberufung nicht in ein insoweit geschütztes Rechtsgut eingegriffen hat" (a.a.O., S. 122). Die Betonung liegt auf „Eingriff* und bezieht sich auf die fehlende Rechtswidrigkeit desselben. 104 BGHZ 111, 349/355 ff.; BGH NJW 1994, 1468; NJW 1994, 2229; WM 1996, 1109/1111; BGHZ 132, 181/188. 105 Vgl. nur BGHZ 8, 273/274; 23, 157/161. 106 Zur Terminologie vgl. unten 1. Teil Β II, S. 68 f. 102

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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gungsansprüchen auf andere Grundrechte geradezu auf. 1 0 7 Einer Beschränkung des Aufopferungsrechts auf eigentumsmäßig verfestigte Rechtspositionen wie im gemeinen Recht 1 0 8 hat der Bundesgerichtshof durch die Einbeziehung der Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG selbst den Boden entzogen. Statt sich damit in adäquater Form zu konfrontieren, ging der Bundesgerichtshof dazu über, seinen Begründungsaufwand auf feststellende Behauptungen und Aussagen ohne argumentativen Unterbau zu minimieren: In der „Kakaoverordnungsentscheidung" 109 überprüfte der Bundesgerichtshof einen Anspruch der Klägerin aus „enteignungsgleichem Eingriff 4 . Diese betrieb ein Unternehmen, welches Puffreisriegel mit Bindemasse aus Kakaopulver herstellte, die farblich nicht von dem Schokoladenüberzug zu unterscheiden war. Deswegen wurde ihr unter Hinweis auf § 4 Nr. 2, 11 Abs. 1 L M G i.V.m. § 6 Nr. 2 der Verordnung über Kakao und Kakaoerzeugnisse 110 die Herstellung untersagt. Daraufhin stellte sie ihre Produktion um, wodurch ihr erhebliche Mehrkosten entstanden. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die im wesentlichen inhaltsgleiche Nachfolgeregelung 111 der Verordnung als mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht vereinbar erklärt hatte 1 1 2 , begehrte die Klägerin Ersatz der Mehrkosten. Vor allem im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war eine Prüfung des „Aufopferungsanspruchs 44 wegen Verletzung der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG mehr als naheliegend. 113 Statt dessen prüfte das Gericht - ganz traditionell - lediglich, ob die Versagung des Vertriebes als eigentumsrelevanter Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb zu werten ist und verneinte das: „Durch das absolute Verkehrsverbot der Kakaoverordnungen 1933 und 1975 ist eine eigentumsmäßig geschützte Rechtsposition der Firma R. nicht verletzt worden; die verfassungswidrige Berufsausübungsregelung war für sich allein genommen eigentumsrechtlich nicht relevant. 44114 Man möchte dem letzten Halbsatz die 107

Ähnlich z.B. Engelhardt, NVwZ 1985, 621/628; Maurer, JZ 1991, 38/39; Papier in Handbuch des Staatsrechts VI, § 157 Rdnr. 60; ders. in Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 679 und Art. 34 Rdnr. 42; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 948; Schenke, NJW 1991, 1777/1779; Schmitt-Kammler, NJW 1990, 2515/2518; Schoch, Jura 1989, 529/534; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, § 6 II 2, S. 352; Wieland in Dreier, Art. 14 Rdnr. 128. 108 Vgl. hierzu oben 1. Teil A II, S. 34 ff. und unten 1. Teil Β II 3 b, S. 117 ff. 109 BGHZ 111, 349 ff. = BGH NJW 1990, 3261 = DVB1. 1990, 1348 = JZ 1991, 36 m. Anm. Maurer. 110 Vom 15.07.1933, RGBl. I, S. 504. 111 § 14 Nr. 2 Satz 1 der Kakaoverordnung vom 30.07.1975 (BGBl. I, S. 1760). 112 BVerfGE 53, 135 ff. 113 Ähnlich Maurer, JZ 1991, 38/39: Der vorliegende Fall habe zu einer Prüfung dieser Frage „Anlaß gegeben".

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

Frage anschließen: „War sie aber vielleicht sonst kompensatorisch relevant?" Dass sich das Gericht die Frage nicht gestellt hat, impliziert zugleich deren Beantwortung mit „Nein". Mehr als dieses eine, konkludent gesprochene Wort beinhaltet die Entscheidung unter diesem Gesichtspunkt aber nicht. 1 1 5 In einem anderen F a l l 1 1 6 wurde der Bundesgerichtshof deutlicher. Der von dem Kläger geltend gemachte Entschädigungsanspruch wegen einer verfassungswidrigen Prüfungsentscheidung wurde mit der Feststellung abgelehnt, die Beeinträchtigung der Berufsfreiheit vermöge für sich allein genommen einen Entschädigungsanspruch nicht auszulösen. Die tragenden Gründe lauteten wie folgt: „In der Rechtsprechung des BGH werden derartige Ansprüche (seil.: wegen rechtswidrigen Eingriffs in das Grundrecht des Art. 12 GG) bisher jedoch stets verneint. Auch der vorliegende Fall gibt zu einer abweichenden Beurteilung keinen Anlaß. Die Entschädigungssanktion ist auf solche Rechtspositionen ausgerichtet und beschränkt, die dem Schutz der Eigentumsgarantie unterstehen. Daher stellen Eingriffe in die Freiheit der Berufsausübung einen entschädigungspflichtigen Eingriff nicht dar, ausgenommen, die hoheitliche Einwirkung beeinträchtigt konkrete »Rechtspositionen4, die in eine berufliche Betätigung bereits einbezogen sind. Die Entschädigungssanktion erstreckt sich - entsprechend der Unterscheidung zwischen den Schutzbereichen der Art. 14 und 12 GG - nur auf das »Erworbene, nicht auf das erst zu Erwerbende4. Für eine Ausdehnung des richterrechtlich entwickelten Rechtsinstituts des enteignungsgleichen Eingriffs auch auf den durch Art. 12 GG gegebenenfalls gewährleisteten Erwerbsschutz gibt es keine Grundlage; ebensowenig für die Zuerkennung eines analogen Entschädigungsanspruchs wegen aufopferungsgleichen Eingriffs." 117 Die Folgeentscheidungen zeichnen sich durch eine inhaltsgleiche Wiederholung dessen aus 1 1 8 , Neues beinhalten sie nicht. 114 Urteil vom 07.06.1990 - ΙΠ ZR 74/88 - , BGHZ 111, 349/355. In diesem Duktus z.B. auch Rinne/Schlick, NVwZ 1997, 34/37: „Die rechtswidrige Prüfungsentscheidung tangiert keine eigentumsmäßig geschützte Rechtsposition und löst deshalb keinen Entschädigungsanspruch ... aus." 115 Eine „ausdrückliche Ausklammerung" des Schutzbereichs des Art. 12 Abs. 1 GG aus dem Anspruchsinstitut des „enteignungsgleichen Eingriffs" ist entgegen Ossenbühl (StaatshaftungsR, 5. Teil ΙΠ 2c, S. 246) also nicht erfolgt, sondern nur eine indirekte. 116 Beschluss vom 27.05.1993 - III ZR 142/92 - , NJW 1994, 1468. 117 BGH NJW 1994, 1468; ebenso Krohn, Enteignung, Entschädigung, Staatshaftung, Rdnr. 34. 118 Identisch ist der Beschluss vom 21.10.1993 - ΠΙ ZR 14/93 - BGH NJW 1994, 2229; Urteil vom 14.03.1996 - III ZR 224/94 - , BGHZ 132, 181/187 = BGH NJW 1996, 2422/2423 = JZ 1996, 1122/1124 = WM 1996, 1109/1111 f.: „Für eine Ausdehnung desrichterrechtlich entwickelten Rechtsinstituts des enteignungsgleichen Eingriffs auch auf den durch Art. 12 GG gegebenenfalls gewährleisteten Erwerbsschutz gibt es keine Grundlage, ebensowenig für die Zuerkennung

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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Die Begründung für die Ablehnung einer Entschädigungspflicht bei Verletzung des Art. 12 GG ist nichtssagend und inhaltsleer. Neben der Berufung auf seine eigene, zu keiner Zeit stichhaltig begründete Entschädigungstradition behauptet der Bundesgerichtshof schlicht das Fehlen einer Erweiterungsgrundlage, ohne vor allem die Rechtsgrundlage der etablierten Aufopferungsansprüche auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Im übrigen erschöpfen sich die Entscheidungsgründe in einer unzulässigen petitio principii: Dass sich die Entschädigungspflicht nur auf solche Rechtsgüter bezieht, die von der Eigentumsgarantie erfasst sind, ist gerade zu verifizierende These und kann deshalb keinesfalls Bestandteil der Begründung gegen die Ausdehnung der Haftung auf Schutzgüter des Art. 12 GG sein. 1 1 9 Vor allem bleibt die Berufsfreiheit stets eine „konkrete Rechtsposition", auch wenn der Begriff in Anführungzeichen gesetzt wird. Auf den Punkt gebracht sagt der Bundesgerichtshof nichts anderes, als dass er das eigene Richterrecht nicht ausdehnen will} 10 Die ansatzweise Tendenz vor allem im 65. und 66. Band der amtlichen Entscheidungssammlung, nichtvermögensrechtliche Rechtsgüter jenseits der Art. 14, 2 Abs. 2 GG in die Haftung einzubeziehen, wird seither völlig außen vorgelassen. Deswegen ist der Argumentationswert, der sich aus der dort formulierten Phrase (bei hoheitlichem Eingriff in nicht Vermögenswerte Rechte, insbesondere Leben, Gesundheit und Freiheit, stehe dem Betroffenen ein Aufopferungsanspruch z u 1 2 1 ) für eine Haftungserweiterung ziehen lässt, zweifelhaft. Zwar kann sie isoliert durchaus als Ansatzpunkt hierfür dienen. W i l l man hingegen die Rechtsprechung aus heutiger Sicht in der Gesamtschau bewerten, muss die Wendung angesichts der Festigkeit und Kontinuität der Judikatur im übrigen wohl unter der Rubrik „lapsus linguae " verbucht werden. In der Summe der Urteile bedeutet sie nicht mehr als ein stilistisches Versehen, einen „Schönheitsfehler". Von „deutlichen Ansätzen für einen Erwerbsschutz via Aufopferung" 1 2 2 in der Rechteines analogen Entschädigungsanspruchs wegen aufopferungsgleichen Eingriffs." Vgl. auch BGH NJW-RR 2000, 744 f. 119 Insofern ist Bender zu widersprechen, der zwar im Ergebnis nicht mit dem Bundesgerichtshof übereinstimmt, aber meint, gegen diese Argumentation sei von ihrem Ansatz her nichts einzuwenden (StaatshaftungsR, 3. Auflage, Rdnr. 408). Auch die Anmerkung von Riifner (in Erichsen/Martens, AllgVerwR, § 48 Rdnr. 83) geht fehl, durch die Einbeziehung anderer grundrechtlich geschützter Positionen, insbesondere der Berufsfreiheit, in die Aufopferungsentschädigung ließen sich Beschränkungen der Entschädigung wegen enteignungsgleichen Eingriffs „überspielen", die der BGH bisher mit seinem Abstellen auf den Bestandsschutz aufrechterhalten habe. 120 Das stellen in ähnlicher Form fest: Ossenbühl, StaatshaftungsR, 5. Teil III 2c, S. 246; Schenke/Gutenberg, DÖV 1991, 945/952; Maurer, JZ 1996, 1124/1125; Kritik auch bei Schoch, DV 34 (2001), 261/279 f. 121 BGHZ 65, 196/206; 66, 118/119. 4 Röder

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

sprechung kann keine Rede sein - hier ist wohl eher Zurückhaltung angebracht. 123 Sie hält den Anwendungsbereich des aufopferungsgleichen Eingriffs nämlich nicht mehr ausdrücklich offen 1 2 4 , sondern hat sich nunmehr deutlich auf die Exklusivität der anerkannten Rechtsgüter festgelegt. 125 Obwohl der Bundesgerichtshof eine wirkliche Begründung für die aufopferungsrechtliche Exklusivität der Art. 14 GG und Art. 2 Abs. 2 GG schuldig bleibt 1 2 6 , steht eine Kehrtwende der Rechtsprechung in nächster Zeit nicht 127 zu erwarten.

2. Haftungshypertrophie und Gewaltenteilung Der eigentliche Grund für die Zurückhaltung der Rechtsprechung wird in Stellungnahmen des ehemaligen Mitglieds des zuständigen III. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs Boujong und dessen derzeitigem Vorsitzenden Rinne deutlich ausgesprochen. Man fürchtet sich davor, ein „Super-Haftungsinstitut" 128 zu kreieren, welches „ein erhebliches Haftungspotential eröffnen könnte" 1 2 9 . Diese Angst vor einer ausufernden Einstandspflicht des Staates führt zu der Berufung auf die fehlende eigene Rechtssetzungskompetenz. Die Ausdehnung der Entschädigungspflicht auf die Verletzung von sonstigen Rechtsgütern, vor allem des Art. 12 GG, sprenge die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung bei weitem, es fehle insofern an einer hinreichenden Legitimation der rechtsprechenden Gewalt. 1 3 0 Sachlich hiermit übereinstimmend übte sich auch das Landgericht Berlin im Ausgangsfall in Zurückhaltung: Eine Haftungserweiterung „hielte sich nämlich nicht mehr im Rahmen des gewohnheitsrechtlich Gewachsenen, sondern stellte unter 122

Ossenbühl, StaatshaftungsR, 5. Teil III 2c, S. 245 f.; ders., Krise, S. 236/ 368 f. („treffliche Präjudizien"); Schenke, NJW 1991, 1777/1780 („eine Vielzahl von Topoi für eine Ausdehnung"). 123 Ebenso Maurer, AllgVerwR, § 27 Rdnr. 3. 124 So noch Ossenbühl, Krise, S. 236/365. 125 Falsch wiedergegeben ist die Rechtsprechung von Kluth in Wolff/Bachof/ Stober, VerwR II, § 71 Rdnr. 4, nach dem in der Rechtsprechung und Lehre „allgemein anerkannt" sein soll, dass Eingriffe auch in sonstige Grundrechte, insbesondere Art. 12 Abs. 1 GG, einen „aufopferungsgleichen Eingriff 4 auslösen. Die korrekte Wiedergabe findet sich demgegenüber a. a. O., § 72 Rdnr. 78. 126 Maurer, JZ 1996, 1124/1125. 127 Dieselbe Einschätzung äußert Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 243. 128 Rinne, DVB1. 1993, 869/871. 129 Boujong, Festschrift für Nirk, S. 61/67. Dieselbe Ursache für die Zurückhaltung der Rechtsprechung vermuten auch Schenke/Guttenberg, DÖV 1991, 945/954. 130 Boujong, Festschrift für Nirk, S. 61/67; Rinne, DVB1. 1993, 869/871; vorsichtig auch Bender, Referat, 47. DJT, Bd. Π, S. L 17 f.; Kreft, Festschrift für Geiger, S. 399/411; Schäfer in Schäfer/Bonk, StHG, § 2 Rdnr. 56; Tettinger in Sachs, Art. 12 Rdnr. 147 b; Mann, JR 1997, 110/112.

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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Bruch des für die Demokratie schlechthin konstitutiven Grundsatzes der Gewaltenteilung über den Kopf der Legislative hinweg eine eigenmächtige Anspruchsschöpfung dar." 1 3 1 Diese Bedenken sind sicherlich gewichtig. Unbestreitbar handelt es sich um eine äußerst schwierige Aufgabe, die sich der Rechtsprechung stellt: den eigentumsrechtlich geprägten „enteignungsgleichen Eingriff 4 und sein aufopferungsrechtliches Pendant in eine umfassendere Haftung für staatliches Unrecht zu überführen. 132 Dennoch fragt sich, inwiefern die beiden teilweise ineinandergreifenden Argumente gegen eine extensive Rechtsfortbildung den Rechtsstandpunkt der Judikative tatsächlich tragen. Das hängt erstens davon ab, welcher argumentative Wert der behaupteten übermäßigen Mehrbelastung des Staatshaushalts im Haftungsrecht grundsätzlich zukommt, und zweitens davon, ob die Rechtsprechung den Staat in Form von Richterrecht überhaupt oder nur im Rahmen eines bestimmten Haftungsvolumens zum Schuldner machen darf. a) Tatbestandliche Begrenzung der Staatshaftung durch ihre finanziellen Auswirkungen? Der Einwand nicht tragbarer finanzieller Konsequenzen einer Haftungserweiterung ist seinerseits unter zwei verschiedenen Aspekten überprüfungsbedürftig: Einmal in Bezug auf die Fakten, welcher einer solchen Prognose zugrunde liegen. Lassen sie tatsächlich ein nicht zu schulterndes Haftungsvolumen befürchten? Zum zweiten in Bezug auf die methodische Zulässigkeit des Einwandes an sich: Existiert ein Rechtssatz, nach dem sich der Staat auf mangelnde Leistungsfähigkeit berufen darf oder die Staatshaftung eine „Höchstbetragshaftung" ist? aa) Wider die Angst vor leeren Staatskassen Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Ausmaß einer möglichen Mehrbelastung der öffentlichen Haushalte ist nur bedingt möglich, weil der Einwand überwiegend spekulativ ist. Solange es keine aktuelle, auf das gesamte Bundesgebiet bezogene juristisch-volkswirtschaftliche Untersuchung zu dieser Sachfrage g i b t 1 3 3 , gestaltet sich die Beurteilung finanzieller Auswirkungen einer Haftungserweiterung je nach Standpunkt als nicht stringent 131

LG Berlin (FN 66), Seite 10 der Entscheidung. Ossenbühl, Neuere Entwicklungen, S.19 f. 133 In der 14. Legislaturperiode sind zwei entsprechende Gutachten durch das Bundesministerium der Justiz in Auftrag gegeben worden (vgl. auch v. Danwitz in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 34 Rdnr. 156), die dem Ministerium zwar vorliegen, von dieser Seite allerdings nicht zur Veröffentlichung stehen. 132

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

widerlegbare „Glaubensfrage". Aus diesem Grund kann es hier nur darum gehen, die „Hypertrophie des Staatshaftungsrechts" 134, das Horrorszenario leerer Staatskassen infolge allumfassender „Gefährdungshaftung" als das Produkt einer nicht faktengestützten Übertreibung zu enttarnen. Sicher ist nicht in Zweifel zu ziehen, dass die Eröffnung neuer Haftungstatbestände den Umfang der Gesamthaftung steigern würde. 1 3 5 Hingegen stützt das zur Verfügung stehende relativ umfassende 136 statistische Material die Befürchtung exorbitanter Haushaltsdefizite nicht 1 3 7 : Die sogenannten „Rechtstatsächlichen Erkenntnisse in Staatshaftungssachen", auf der Grundlage von Verwaltungserhebungen und einer Gerichtsaktenauswertung in der Vorbereitungsphase zum Staatshaftungsgesetz 1981 zusammengestellt 138 , lassen im Gegenteil den Schluss zu, dass sich die finanziellen Mehrbelastungen in einem akzeptablen Rahmen halten dürften. Die Erhebungen bei Bund, Ländern und Kommunen haben damals ergeben, dass „die Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland auf allen staatlichen Ebenen in hohem Maße rechtsstaatlich arbeitet ... und die Staatshaftungsausgaben im Durchschnitt der Erhebungsjahre 1972 - 1974 nach absoluten und relativen Beträgen in den öffentlichen Haushalten von minimaler Bedeutung sind." 1 3 9 Der Haushaltsausschuß des Bundestages 1981 schätzte die jährlichen Gesamtausgaben aus der Erfüllung von Staatshaftungsansprü134

H.-J. Vogel, DVB1. 1978, 657/662. Ein Ausgleich durch die Reduzierung administrativer Fehlentscheidungen ist realitätsfern (Ossenbühl, Krise, S. 236/376). Als möglichen Weg, die Kostenfrage rational zu beurteilen, hat Ossenbühl eine Art „ E x p e r i m e n t i e r p h a s e " vorgeschlagen, in der de lege ferenda lediglich die Rechtsfolgen der Aufopferungstatbestände erweitert (Schadensersatz statt Entschädigung, Schmerzensgeld) werden, um „dem Ressentiment der Finanzminister gegen eine voll durchgebildete Staatsunrechtshaftung gewiß besser zu begegnen" (Krise, S. 236/374 f.). 136 Vgl. die Beschreibung des statistischen Volumens bei Schäfer/Bonk, StHG, Einführung, Rdnrn. 265 f. 137 Diese Einschätzung teilend Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 198; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 5.Teil ΠΙ 2, S. 247; ders., Krise, S. 236/370 ff.; Schäfer/ Bonk, StHG, Einführung Rdnr. 303. Eine Mehrbelastung von lediglich 15 Millionen DM erwarteten Bender, DÖV 1979, 109/111 und Ossenbühl, JuS 1978, 720/721; Kluth in Wolff/Bachof/Stober, VerwR Π, 6. Auflage, § 67 Rdnr. 8 („Die Blockadehaltung des Gesetzgebers gegenüber der nunmehr kompetenzrechtlich möglichen Grundsatzreform des Staatshaftungsrechts ist sachlich nicht zu begründen und auch unter finanziellen Gesichtspunkten kaum nachvollziehbar."). 138 Zur Reform des Staatshaftungsrechts. Rechtstatsächliche Erkenntnisse, 1976, insbesondere S. 46 f.; sowie Zusammenfassung der rechtstatsächlichen Erkenntnisse, 1977. Vgl. auch die zusammenfassende Übersicht bei Schäfer/Bonk, StHG, Einführung, Rdnrn. 263 ff. 139 Schäfer/Bonk, StHG, Einführung, Rdnr. 303; ebenso Ossenbühl, Krise, S. 236/376. Auch Löwer (Unterlassenes Verwaltungshandeln, S. 437) bezweifelt, dass die Staatshaftung wegen Rechtswidrigkeitshaftung emstlich ins Gewicht fallen 135

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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chen nach damals wie heute geltendem Recht wie folgt: Bund 3,5 Mio. DM, damalige Bundespost 5 Mio. DM, Länder 2,1 Mio DM, Gemeinden und Gemeinde verbände 12 bis 15 Mio D M . 1 4 0 Angesichts dieser an die Inflationsrate anzupassenden Zahlen behinderte auch eine Ausdehnung der Haftung keinesfalls „die sachgerechte staatliche Funktionsausübung" 141 . Die Posten blieben in den öffentlichen Haushalten eher „unbedeutend" 142 . Dafür spricht auch, dass die Entschädigungsrelevanz im Bereich des Eigentumsgrundrechts ohnehin am größten sein dürfte, zumal der Schutzbereich des Art. 14 GG in der Rechtsprechung vor allem unter dem Topos des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs" mehr und mehr ausgedehnt wurde. Damit ist ein wesentlicher Teil aller in diesem Ausschnitt des Staatshaftungsrechts denkbaren Rechtsbeeinträchtigungen bereits de lege lata iudicis in Form des „enteignungsgleichen" und „enteignenden Eingriffs" entschädigungspflichtig. 143 Zudem sind mittlerweile etliche einfachgesetzliche Vorschriften in Kraft getreten, die Rechtsverletzungen im Immaterialgüterrecht sanktionieren und ihrerseits keine Überbelastung der Haushalte bewirkt haben. 1 4 4 Dass im Anwendungsbereich der meisten immateriellen Rechtsgüter kompensationsrelevante Eingriffe eher selten sind, lässt sich ebenfalls anhand der „Rechtstatsächlichen Erkenntnisse in Staatshaftungssachen" dokumentieren: Mehr als 97% aller Schadensmeldungen und fast 99% der Schadensforderungen betrafen im Erhebungszeitraum auf Kommunalebene den Vermögensgüterbereich (davon 71 % aus Eigentumsverletzungen), bei den nichtVermögenswerten Rechten fielen 0,5% auf die Berufsfreiheit. 145 Bezüglich der Staatshaf-

wird, weil man „doch nun wirklich nicht unterstellen kann, daß die Verwaltung massenhaft rechtswidrig entscheidet". 140 BT-Drs. 9/152. Die Schätzungen beziehen sich auf den Kernbereich des Staatshaftungsrecht ohne die Verkehrsunfallsachen mit Behördenfahrzeugen und Heilbehandlungsfälle. 141 Ebenso Schäfer/Bonk, StHG, Einführung, Rdnr. 303. 142 Schäfer/Bonk, StHG, Einführung, Rdnr. 303. Ossenbühl geht von einem „lächerlichen Betrag von 15 Mio DM" aus (JuS 1978, 720/721; DVB1. 1994, 977/ 979). Schäfer (DB 1980, 1499/1502) nennt diese Summe im Verhältnis zu dem Gesamtvolumen aller Haushalte „eine Winzigkeit". 143 Vgl. nur BGHZ 9, 83/86: „Die im Grundgesetz enthaltene besondere Hervorhebung der Entschädigungspflicht bei Enteignungen erklärt sich daraus, daß es sich bei den Eingriffen kraft Hoheitsrecht in die Rechtssphäre des einzelnen in der Regel um Eingriffe in das Eigentum oder sonstige Vermögenswerte Rechte handelt." Ähnlich Bender, Referat, 47. DJT, Bd. II, S. L 23; Scheuing, Festschrift für Bachof, S. 343/377; Rüfner, Jura 1982, 1; Schenke, NJW 1991, 1777/1787. 144 Darauf weisen zu Recht hin Ossenbühl, Krise, S. 236/376 f.; Schenke/Gutenberg, DÖV 1991, 945/955, bezogen auf Art. 12 GG. 145 Zusammenfassung der rechtstatsächlichen Erkenntnisse, 1977, S. 64, 83.

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

tungsklagen ergibt sich ein ähnliches Bild: 78% hiervon betrafen den Eigentums- und Vermögensschadensbereich. 146 Diese Ergebnisse werden bestätigt durch eine im 1. Halbjahr 1996 durchgefühlte „Pilotstudie zu einem rechtstatsächlichen Forschungsprojekt über die finanziellen Auswirkungen der verschuldensunabhängigen Staatshaftung" zu den Staatshaftungsgesetzen in den neuen Bundesländern. 147 Obwohl die Staatshaftungsgesetze der Länder Brandenburg, MecklenburgVorpommern, Thüringen sowie zur Zeit der Erhebung auch Sachsen eine verschuldensunabhängige Schadensersatzhaftung für Staatsunrecht normieren 1 4 8 , fielen die daraus entstehenden Belastungen im Erhebungszeitraum kaum ins Gewicht. 1 4 9 Das Fazit der für die Rechtstatsachenforschung Verantwortlichen ist eindeutig: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt läßt sich sagen, daß die Anwendung der Staatshaftungsgesetze keine finanziellen Schreckgespenster r u f t . " 1 5 0 Wenn beide Erhebungen vielleicht auch nicht „in jeder Beziehung sämtlichen Ansprüchen an absolute Zuverlässigkeit und Genauigkeit genügen" 1 5 1 , ist ihre Aussagekraft dennoch nicht „gering einzuschätzen" 152 . Der oben dargestellten bemerkenswerten Überbewertung des potenziellen Haftungsvolumens stehen sie jedenfalls entgegen. Die These vom Staatsbankrott erweist sich auch ansonsten als undifferenzierter Pauschaleinwand, vor allem, weil die Erweiterung kompensatorisch einschlägiger Schutzgüter per se mit einer vollumfänglichen Haftung des Staates beim Eingriff in diese Rechte gleichgesetzt w i r d . 1 5 3 Allzu großzügig bleiben relevante haftungsausschließende oder -beschränkende Tatbe146

Rechtstatsächliche Erkenntnisse, 1976, S. 171, 253. Herbst/Lühmann, Die Staatshaftungsgesetze der neuen Länder, Zweiter Teil, S. 149 ff., die die Erhebung unter Leitung von Prof. Dr. G. F. Schuppert durchführten. 148 Der inhaltsgleiche § 1 Abs. 1 der Staatshaftungsgesetze lautet. „Für Schäden, die einer natürlichen oder juristischen Person hinsichtlich ihres Vermögens oder ihrer Rechte durch Mitarbeiter oder Beauftragte staatlicher oder kommunaler Organe in Ausübung staatlicher Tätigkeit rechtswidrig zugefügt werden, haftet das jeweilige staatliche oder kommunale Organ." Vgl. hierzu die Zusammenstellung der Gesetze bei Herbst/Lühmann, Die Staatshaftungsgesetze der neuen Länder, Anhang S. 509 ff. 149 Herbst/Lühmann, Die Staatshaftungsgesetze der neuen Länder, Zweiter Teil § 2, S. 154 ff. 150 Herbst/Lühmann, Die Staatshaftungsgesetze der neuen Länder, Zweiter Teil § 2, S. 167. 151 So die Bewertung des Bundesministeriums der Jusitz zu den rechtstatsächlichen Erkenntnissen zum StHG 1981, Rechtstatsächliche Erkenntnisse, S. 2 f. 152 Rechtstatsächliche Erkenntnisse, S. 3. 153 Diese Sichtweise klingt z.B. auch an bei Jaenicke, VVDStRL 20 (1961), 135/ 277. 147

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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standsmerkmale und mögliche prozessuale Hindernisse außer acht. 1 5 4 Beispielsweise stellt bei einer Klage wegen der Verletzung der Berufsfreiheit die schlüssige Darlegung (und gegebenenfalls der Beweis) der regelmäßig nur hypothetisch zu beurteilenden Vermögenseinbuße 155 für den Kläger eine erhebliche Hürde dar. 1 5 6 Darüberhinaus sieht er sich dem Einwand der verletzten Schadensminderungspflicht entsprechend § 254 Abs. 2 B G B 1 5 7 oder den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung ausgesetzt, sofern er es unterlassen hat, durch anderweitigen zumutbaren Einsatz seiner Arbeitskraft Verdienste zu erzielen. 158 Die Berufung auf eine übermäßige Belastung der Staatskasse büßt weiterhin an Überzeugungskraft ein, wenn man die typischen finanziellen Wirkungen der Nichtigerklärung von Gesetzen und der Folgenbeseitigung in die „Rechnung" einbezieht. 159 Aufgrund des regelmäßig großen Adressatenkreises bedingt die flächendeckende Wirkung nichtiger Gesetze regelmäßig enorm kostenintensive Umstrukturierungsmaßnahmen. Eine Beseitigung rechtswidriger Folgen kann im Verhältnis zur Kompensation die Staatskasse mehr belasten, beispielsweise bei der Stilllegung von Anlagen. 1 6 0 Vor allem ist der Folgenbeseitigungsanspruch tatbestandlich nicht auf das Eigentum beschränkt, sondern setzt die Verletzung irgendeines subjektiven Rechts voraus. 161 Insofern ist besonders zu berücksichtigen, dass sich der An154 Ebenso Trimbach, Möglichkeiten einer Kodifikation, S. 95. Vgl. hierzu unten 2. Teil D ΠΙ 3 c, S. 305 ff. 155 Z.B. die hypothetische Erwirtschaftung eines bestimmten Umsatzes auf Grundlage der rechtswidrig versagten Gewerbeerlaubnis oder wie im Ausgangsfall das hypothetisch erzielte Einkommen bei rechtmäßiger Zulassung zum Beruf. 156 Der Umstand, dass solche Schäden oft nur anhand eines hypothetischen Verlaufs festgemacht werden können, steht einer Haftungserweiterung vor allem auf die Berufsfreiheit nicht entgegen. Probleme, die eine Schadensberechnung mit sich bringen, hat die zivilrechtliche Rechtsprechung gemeistert. Gleiches wird im Staatshaftungsrecht gelingen, zumal die Zivilgerichte entsprechende Vorarbeit geleistet haben (vgl. auch Ossenbühl, StaatshaftungsR, 5. Teil ΙΠ 2c, S. 247; Löwer, Unterlassenes Verwaltungshandeln, S. 420 ff.). 157 Für den „enteignungsgleichen Eingriff 4 BGHZ 45, 290/295; BGHZ 56, 57/ 64 ff. 158 Schenke, NJW 1991, 1777/1785; Scheuing, Festschrift für Bachof, S. 343/ 362, der am Beispiel der versagten Apotheker-Konzession einen „aufopferungsgleichen Eingriff 4 bejaht und eine übermäßige Belastung der öffentlichen Hand gerade wegen der haftungsbeschränkenden Tatbestandsmerkmale negiert; Wolff/Bachof, VerwR I, 9. Auflage, § 61 ΙΠ, S. 540. 159 Sass, Entschädigungserfordernis, S. 223 f. mit Beispielen aus der Rechtsprechung für die Kostenintensität der Folgenbeseitigung im Bereich des Eigentumsgrundrechts. 160 BGHZ 91, 20 ff. Sass (Entschädigungserfordernis, S. 223 f.) merkt hierzu an: „20 Millionen DM nutzlos aufgewendeter Baukosten sind eine größere Belastung des Staatshaushaltes, als 1-2 Millionen DM Entschädigungskosten/4

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

spruch unter bestimmten, noch näher zu bezeichnenden Umständen 162 in einen Kompensationsanspruch umwandeln kann, die Haushalte also bereits jetzt eine Kompensationslast durch die Verletzung von Immaterialgütern zu tragen haben. Eine von den öffentlichen Haushalten nicht zu bewältigende, geradewegs in den Staatsbankrott führende finanzielle Belastung würde eine Ausdehnung des Aufopferungsrechts nach dem Gesagten nicht bewirken. bb) Kein genereller Vorbehalt staatlicher Leistungsfähigkeit, keine ungeschriebene „Höchstbetragshaftung" im Staatshaftungsrecht Man kann also den Einwand finanzieller Folgewirkungen nicht ernsthaft als Berufung auf diese staatliche Ausnahmesituation verstehen. 163 Abgesehen von einer solchen notstandsähnlichen Lage ist es zweifelhaft, ob die finanzielle Über- bzw. Mehrbelastung der öffentlichen Haushalte als Folge einer möglichen Haftung überhaupt staatshaftungsrechtliche Tatbestände konturieren kann. In Form der möglichen Überbelastung der Staatskasse ist die Leistungsfähigkeit des Staates als mögliche Schranke seiner Haftung angesprochen, in Form der Mehrbelastung eine ungeschriebene, betragsmäßige Limitierung staatlicher Einstandspflichten. A. Leisner hat den Nachweis geführt, dass es keinen geschriebenen oder ungeschriebenen Rechtssatz gibt, nach dem sich der Staat gegenüber Verpflichtungen generell auf seine mangelnde Leistungsfähigkeit berufen darf. 1 6 4 Vor allem existiert kein Verfassungsgrundsatz, nach dem die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates stets erhalten werden müsse. 165 Die Mittelmehrung oder -erhaltung ist als Selbstzweck sicherlich keine verfassungsrechtliche Staatsaufgabe. 166 Denkbar ist allenfalls, der Verfassung eine bestimmte Rangfolge von Staatsaufgaben zu entnehmen, die zugleich nachrangige Aufgaben unter einen Mittelvorbehalt und damit den der Leistungsfähigkeit stellen. Es erweist sich jedoch als äußerst problematisch, eine entsprechende Prioritätenstufung festzulegen und auf diese Weise die 161

Ossenbühl, StaatshaftungsR, 7. Teil IV 1, S. 307 f. Vgl. unten 2. Teil D Π 2, S. 260 ff. 163 Vgl. zu der Leistungsbegrenzung im Fall der Staatsinsolvenz A. Leisner, Die Leistungsfähigkeit des Staates, S. 47-62. 164 Die Leistungsfähigkeit des Staates, durchgängig, speziell S. 163. 165 A. Leisner, Die Leistungsfähigkeit des Staates, S. 31-117; a.A. z.B. SchmidtPreuß und Schmidt-Jortzig, Sten. Prot, der Öffentlichen Sitzung des Finanz- und Rechtsausschusses des Bundestages (02.02.1994, Prot. Nr. 68 und Nr. 111). Vgl. auch Schmid-Preuß, NJW 1994, 3249/3255. 166 A. Leisner, Die Leistungsfähigkeit des Staates, S. 41. 162

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grundsätzliche Aufgabenbestimmungsfreiheit des Staates 167 einzuschränken. Selbst wenn man das annähme, ließe sich die Nachrrangigkeit staatshaftungsrechtlicher Verpflichtungen ernsthaft bezweifeln. Im Vergleich zeigt sich nämlich hier eine Diskrepanz zweier verfassungsrechtlich strukturell gleichwertiger Strukturgrundsätze: des Sozialstaats- und des Rechtsstaatsprinzips. Wenn nämlich die immense Belastung der Staatskasse durch Umsetzung des Sozialstaatsprinzips trotz aller Spartendenzen in vielfältiger Form dem Grunde nach als selbstverständlich erachtet wird, der Ausgleich von Staatsunrecht hingegen als Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips an monetären Erwägungen scheitert, tritt eine Verfassungswidersprüchlichkeit offen zutage. 168 Ossenbühl 169 bringt sie auf den Punkt: „Verglichen mit den Milliardenbeträgen des Sozialhaushalts sind die bisher in den öffentlichen Haushalten ausgewiesenen Staatshaftungsausgaben Pfennigbeträge, geradezu quantité negligéable. Wenn man bedenkt, daß der Staat im sozialen Bereich nicht nur notwendige Existenzsicherung betreibt, sondern auch, namentlich im Subventionswesen, in Milliardenhöhe Wohltaten erbringt, deren politische Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit vielfach umstritten sind, es andererseits im Staatshaftungsrecht um die Wiedergutmachung staatlichen Unrechts geht, so dürfte auch eine signifikante Erhöhung der Staatshaftungsausgaben noch als nicht nennenswert zu erachten sein. Der Staat sollte sich auch überlegen, bei wem er mehr Enttäuschung und Staatsverdrossenheit erzeugt, bei demjenigen, dessen Subventionsforderung er nicht oder nur teilweise erfüllt, oder bei demjenigen, den er mit dem ihm zugefügten Unrecht allein läßt." Nicht nur der Sozial-, sondern auch der Rechtsstaat hat seinen Preis. 1 7 0 Selbst die haushaltsrechtlichen Vorschriften des Grundgesetzes (Art. 109 ff. GG) enthalten kein allgemeines Überbelastungsverbot und damit keine allgemeine Leistungssperre zugunsten des Staates. 171 Da staatliche Leistungsverpflichtungen ohnedies auf außerbudgetären Rechtsgrundlagen beruhen, ist der Haushalt diesen Verpflichtungen anzupassen und nicht umgekehrt. Nur in dem Maße, in dem staatliche Verpflichtungen noch nicht begründet wurden, kann der Staat den Haushalt an dem zur Verfügung stehenden Budget ausrichten. 172 Sollte also die Verfassung normative Vorgaben für die Staatshaftung machen, besteht insofern keine legislative Dispositionsbefugnis. 173 Auch der Haushaltsgesetzgeber ist der Grundrechtsbin167 168

S. 28. 169

Vgl. hierzu H. Krüger, Allgmeine Staatslehre, 2. Auflage, S. 760. Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 198; Ossenbühl, Neuere Entwicklungen,

Krise, S. 236/377 f. Klein in Soergel, Anh § 839 Rdnr. 223. 171 A. Leisner, Die Leistungsfähigkeit des Staates, S. 63 ff. 172 A. Leisner, Die Leistungsfähigkeit des Staates, S. 142 ff. 173 Das Argument des Bundesverfassungsgerichts, der Gesetzgeber habe bei der Gewährung von Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher 170

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

dung des Art. 1 Abs. 3 GG unterworfen. 174 Welche Regelungen die Grundrechte für die Staatshaftung konkret festlegen, wird zu überprüfen sein. Der pauschale Vorbehalt staatlicher Leistungsfähigkeit ist jedenfalls nicht haltbar. Ebensowenig kann der Staat die Kompensation staatlichen Unrechts mit dem Hinweis auf eine Mehrbelastung der Haushalte verweigern. 175 Dogmatisch haltbar wäre ein solches Leistungsverweigerungsrecht allein dann, wenn sich dem geltenden Recht irgendeine Form von „Höchstbetragshaftung" zugunsten der öffentlichen Hand entnehmen ließe. Das ist allerdings nicht der Fall. Weder existiert eine entsprechende gesetzliche Regelung, noch legt die Verfassung selbst ein bestimmtes Volumen fest, welches die staatliche Haftung limitiert. Ohne eine konkrete Anordnung kann eine Marge rein tatsächlich auch gar nicht festgelegt werden. Es ist absolut beliebig, den Ausgleich von Eigentums-, Gesundheits- und Freiheitsverletzungen als finanziell unbedenklich einzustufen, dem von Verletzungen der Berufsfreiheit hingegen haushaltsrechtliche Bedenken entgegenzuhalten. Entsprechende Differenzierungen sind problematisch. Bestimmte Margen festzulegen, obliegt dem Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers oder Richters jedenfalls dann nicht, wenn die Verfassung selbst Haftungsverbindlichkeiten anordnet. Da sie nämlich nicht gleichzeitig eine Haftungshöchstgrenze normiert, wären untergesetzliche Limitierungen verfassungswidrig. Es existiert also kein genereller Rechts(grund)satz, der ausgerechnet den grundrechtsgebundenen Staat wegen finanzeller Auswirkungen seines Tuns aus einer Schuldnerstellung entlässt bzw. die Begründung derselben verhindert. Deshalb sollte der Einwand staatlicher Überbelastung dringend aufgegeben werden. Die negative Vorbildwirkung für die allgemeine Zahlungsmoral, die davon ausgehen kann, ist nicht zu unterschätzen und auch nicht durch zweifelhafte Novellierungen wie z.B. das „Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen" 1 7 6 zu korrigieren. Auch A. Leisner hat diese Gefahr erkannt, wenn sie die Wichtigkeit betont, „daß die rechtlich organisierte Gemeinschaft ihren Bürgern ein Vorbild der Verpflichtungstreue ist; nur dann darf sie sich als Rechtsstaat bezeichnen, wenn sie sich nicht häufioder besatzungshoheitlicher Grundlage einen weiten Entscheidungsspielraum, der auch die Erfüllung neuer Aufgaben in Rechnung stellen könne (BVerfG, 1 BvR 2307/94 vom 22.11.2000, Absatz-Nr. 255, http://www.bverfg.de), steht und fällt also mit der Prämisse, die Verfassung verlange keine entsprechende Wiedergutmachung. 174 Vgl. hierzu umfassend Elles, Die Grundrechtsbindung des Haushaltsgesetzgebers. 175 Ähnlich, allerdings bezogen auf die Haftung für „normatives Unrecht": v. Arnim, Haftung der Bundesrepublik Deutschland für das Investitionshilfegesetz, S. 69 ff. 176 Vom 30. 03. 2000 (BGBl. I, 330).

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ger, sondern seltener als Private auf (drohende) Überbelastung beruft." 1 7 7 Der Bürger muss sich darauf verlassen können, dass der Staat „ein guter, ja exemplarischer Schuldner sein werde, der nicht durch die Berufung auf sein ,Wesen4 eine exceptio pecuniam non habendi vorbringen will, wie sie keinem anderen zu Gebote stünde. Jede begründete Besorgnis, es könnte hier doch irgendeinen, nicht definierten, ja gar nicht definierbaren Vorbehalt staatlicher Leistungsfähigkeit ergeben, gefährdet nicht nur die Rechtssicherheit und damit die Rechtsstaatlichkeit, sondern die Glaubwürdigkeit des Staates schlechthin - seine Legitimität." 1 7 8 Der Glaubwürdigkeitsverlust wird verstärkt durch die gleichzeitigen „Fehlausgaben" des Staates. Der Bund der Steuerzahler schätzt den von Bund, Ländern und Gemeinden jährlich mühelos einzusparenden Betrag auf 60 bis 70 Milliarden M a r k . 1 7 9 Diese Summe kann keineswegs monokausal auf die naturgemäßen Verschleißerscheinungen eines großen Verwaltungsund Staatsapparates zurückgeführt werden. 1 8 0 Beispielhaft sei hier genannt die verspätete Umsetzung der EG-Richtlinie über Pauschalreisen 181 durch die Bundesrepublik Deutschland. Diese sollte Reisende gegen Schäden im Fall der Insolvenz des Reiseveranstalters absichern. Da die Bundesrepublik die Richtlinie nicht fristgerecht umsetzte, kamen Reisende zu Schaden. In der verspäteten Umsetzung sah der EuGH bekanntlich eine zum Schadensersatz verpflichtende Verletzung von Gemeinschaftsrecht. 182 Durch den gerichtlich erzwungenen Schadensausgleich entstanden dem Bund vermeidbare Kosten in Höhe von 14, 6 Mio D M . 1 8 3 Es gibt freilich noch wesentlich krassere Beispiele für unnötige Staatsausgaben184, wie etwa die Kosten für die Wahl der Selbstverwaltungsorgane der Sozialversicherungsträger vom 26. Mai 1999. Trotz der nur marginalen Kompetenzen der Versichertenvertreter wurden über 100 Millionen D M für die Wahl Werbung ausgege177

A. Leisner, Die Leistungsfähigkeit des Staates, S. 164. A. Leisner, Die Leistungsfähigkeit des Staates, S. 164. 179 Vgl. die Website des Bundes der Steuerzahler http://www.steuerzahler.de/ verschwendtext.htm. 180 Der Bund der Steuerzahler führt (a. a. O.) folgendes aus: „Die Gründe der Verschwendung sind vielfältig. Nicht nur, dass sich fremder Leute Geld leichter ausgibt als das eigene, auch ein nicht mehr zeitgemäßes Haushaltsrecht, fehlende Kostenund Leistungsrechnung, veraltetes Dienst- und Besoldungsrecht, übertriebener Perfektionismus und ungehemmte Regelungswut tragen zur Verschwendung bei. Vor allem aber müssen Verschwender bisher so gut wie keine Sanktionen befürchten." 181 Richtlinie 90/314/EWG des Ministerrates vom 13.06.1990, ABl. EG L 158, 59 ff. 182 EuGH Slg. 1996, 4845 ff. = NJW 1996, 3141 („Dillenkoffer"). 183 Vgl. den Bericht des Bundesrechnungshofs 1999 (Kapitel 07 01 Titel 698 01 oder http: / /www.bundesrechnungshof.de/bem 1999/bem_l 9.html). 184 Vgl. das jährlich erscheinende sogenannte „Schwarzbuch" des Bundes der Steuerzahler „Die öffentliche Verschwendung". 178

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

ben. 1 8 5 Angesichts solcher Zahlen mutet die Berufung des Staates auf eine finanzielle Überbelastung bei Erweiterung der Aufopferungshaftung widersprüchlich an. Die durch Einsparung frei werdenden Mittel deckten die erweiterte Staatshaftung problemlos, ohne annähernd aufgebraucht zu sein. Legte man hier unmittelbar juristische Maßstäbe an, müsste man dem Staat den haushaltspolitischen Einwand allein unter dem Gesichtspunkt des „venire contra factum proprium" versagen. Finanzielle Bedenken gegen eine Haftungserweiterung begründen kein entsprechendes Leistungsverweigerungsrecht. Damit bleibt zu beantworten, ob auch die Rechtsprechung eventuelle verfassungswidrige Haftungslücken schließen darf. b) Die richterliche Kompetenz zur Erweiterung der Kompensationstatbestände Angesichts der rein richterlichen Etablierung des geltenden Aufopferungsrechts mutet die jetzige Selbstrestriktion des Bundesgerichtshofs seltsam a n . 1 8 6 Mit Recht vermisst Löwer den „kühnen M u t " 1 8 7 des Bundesgerichtshofs, der ihn vor allem in den 50er und 60er Jahren antrieb, richterrechtlich ein zeitgemäßes Staatshaftungsrecht auf den Weg zu bringen. Ohne Zweifel befindet sich die Rechtsprechung in einer rechtsstaatlichen Zwickmühle. Einerseits läuft sie Gefahr, Zuständigkeiten der gesetzgebenden Gewalt zu usurpieren, andererseits ihre Justizgewährungspflicht zu verletzen 1 8 8 , vor allem, weil die Wiedergutmachung hoheitlichen Unrechts weithin als Essential des Rechtsstaatsprinzips angesehen w i r d . 1 8 9 Und doch ist die Legitimierung des haftungsrechtlichen status quo mit dem materiellen Gewaltenteilungsprinzip nicht frei von Widersprüchen: „Entweder ist die gerichtlich zugesprochene Entschädigung ohne gesetzliche Grundlage also außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 14 Abs. 3 GG - unzulässiges Richterrecht, dann gilt dies auch für den enteignungsgleichen oder enteignenden Eingriff; oder es liegt kein unzulässiges Richterrecht vor, dann ist eine grundrechtliche Exklusivität des Sekundärschutzes ... nur bei 185

Vgl. http : / / ww w. Steuerzahler .de / fall .cfm?id=267. 186 Ygi a u c h Ossenbühl, Neuere Entwicklungen, S. 16. 187

Löwer, Unterlassenes Verwaltungshandeln, S. 429. Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 195; Stem ΠΙ/2, § 95 II 3, S. 1669, 1671; I I I / l § 75 ΙΠ 2 b, S. 1475. 189 Vgl. nur Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 198; Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, S. 289; Forsthoff, VerwaltungsR I, S. 317; Heidenhain, Amtshaftung, S. 74; H.P. Ipsen, VVDstRL 20 (1962), 74/266; Jaenicke, WDStRL 20 (1962), 135/143; W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Auflage, S. 321; Ossenbühl, Krise, S. 236/377 f.; Schäfer/Bonk, StHG, Einleitung, Rdnr. 303; Stern I, § 20 IV 6 vor a, S. 855; H.-J. Vogel, DVB1. 1978, 657/661. 188

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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Eingriffen in Art. 14 Abs. 1 GG nicht länger haltbar." 1 9 0 Eine dritte Möglichkeit ist kaum denkbar. Die Kompensationspflicht erfordert bei der Verletzung zusätzlicher Schutzgüter nämlich kein qualitatives Mehr an Rechtsschöpfung. Es wird allein die Quantität realisierbarer Ansprüche gesteigert. Wie gesehen sind wesentliche Bereiche des in Rede stehenden Teils des staatlichen Haftungsrechts bereits sanktioniert, das relevante Quantum an Rechtsschöpfung hat stattgefunden. Soll die bloße Erweiterung relativ fest strukturierter, anerkannter Haftungstatbestände, das Fass des kompetenziell Zulässigen tatsächlich zum Überlaufen bringen? Die Bedenken hiergegen sind offenkundig. Trefflicher als im vorliegenden Zusammenhang kann die „schizophrene Einstellung zum Richterrecht" 191 nicht zutage treten. Wer wie das Landgericht Berlin das „richterrechtlich Gewachsene" zum Maßstab des Zulässigen erhebt, läuft Gefahr, etwaige „Geburtsfehler" oder eine nicht mehr zeitgemäße Rechtsprechung unumkehrbar zu verstetigen und sich einer Selbstkontrolle zu verschließen. Warum soll Richterrecht im Gegensatz zu Gesetzesrecht für die Ewigkeit gemacht sein? Das Bundesverfassungsgericht hebt ausdrücklich hervor, dass sich der Richter einem „möglichen Konflikt der Norm mit den materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen einer gewandelten Gesellschaft ... nicht mit Hinweis auf den unverändert gebliebenen Gesetzeswortlaut entziehen (seil.: kann)." Er sei „zu freierer Handhabung der Rechtsnorm gezwungen, wenn er nicht seine Aufgabe, ,Recht4 zu sprechen, verfehlen w i l l . " 1 9 2 Der Bundesgerichtshof ist bislang den Nachweis schuldig geblieben, mit Art. 14 Abs. 1, 2 Abs. 2 GG zu Recht einen abschließenden Kanon sekundärrelevanter Rechtsgüter festgelegt zu haben. Gelänge eine Falsifizierung seiner Rechtsprechung, kann man erwägen, die Verweigerung der Einbeziehung weiterer Rechte in den Aufopferungstatbestand als Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG anzusehen. 193 Auch die richterliche Rechtsfortbildung ist - zumindest im Rahmen des Willkürverbots - an diese Verfassungsnorm gebunden. 194 Weil es jedoch eine „Gleichbehandlung im Unrecht" nur in 190 Schoch, Jura 1989, 529/534 f. Widersprüchlich Schenke, der einerseits eine Einbeziehung aller immateriellen Grundrechtsgüter in den Aufopferungstatbestand richterrechtlich für möglich, gar für nötig hält (NJW 1991, 1777 ff.), andererseits die Entwicklung eines „Folgenentschädigungsanspruchs" durch das Bundesverwaltungsgericht als Mißachtung der der Judikative funktionellrechtlich gesetzten Grenzen ansieht (JuS 1990, 370/377). Er verkennt, dass es sich letztlich um die gleiche Sachfrage handelt, vgl. unten 2. Teil D ΠΙ 2a bb, S. 265 ff. 191 Sendler, DVB1. 1988, 828/835. 192 Jeweils BVerfGE 34, 269/289. 193 Schenke, NJW 1991, 1777/1786. 194 Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG); BVerfGE 18, 224/240; BVerfGE 70, 93/97; 86, 59/ 62 f.

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

sehr engen, hier nicht einschlägigen Grenzen g i b t 1 9 5 , kann der Gleichheitssatz nicht zu der Erweiterung von Haftungstatbeständen zwingen, welche bereits unter Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip entwickelt wurden. Um die Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung in Bezug auf den „enteignungsgleichen" und „enteignenden E i n g r i f f vollständig nachzuweisen, bedarf es einer Auslegung der Reichweite der Junktimklausel (Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG). Da dieses Kapitel zunächst nur die innere Stringenz der Rechtsprechung überprüfen will, deren Prämissen dazu axiomatisch vorausgesetzt werden, ist vorerst von der Zulässigkeit der genannten Institute auszugehen. 196 Abgesehen von diesem verfassungsrechtlichen Sonderproblem gestaltet sich die Kompetenzverteilung zwischen den beiden Gewalten folgendermaßen: Die Befugnis zu „schöpferischer Rechtsfindung" ist dem Richter unter Geltung des Grundgesetzes im Grundsatz nie abgesprochen worden. 1 9 7 Die obersten Gerichtshöfe haben sie von Anfang an in Anspruch genommen 198 , den großen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat der Gesetzgeber die Aufgabe der „Fortbildung des Rechts" ausdrücklich zugewiesen (z.B. in § 137 GVG, § 11 Abs. 4 V w G O ) . 1 9 9 Das Bundesverfassungsgericht hat stets anerkannt, dass die rechtsfindende Lückenfüllung im modernen Rechtsstaat zur echten richterlichen Aufgabe geworden i s t . 2 0 0 „Fraglich können nur die Grenzen sein, die einer solchen schöpferischen Rechtsfindung mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung gezogen werden müssen." 201 Limitiert wird die Rechtsetzungsbefugnis des Richters durch eine abschließende gesetzliche Regelung, die keine der Ausfüllung durch Richterrecht zugängliche Regelungslücke aufweist. 202 Gesetzeskorrigierendes Richterrecht ist unzulässig. 203 195

Vgl. hierzu W. Pauly, JZ 1997, 647 ff. Eine Überprüfung erfolgt später (2. Teil D, I 1, S. 230 ff.). 197 Vgl. nur Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 351, 353; Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnormen in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 71 ff., 149 ff.; Prütting, Festschrift Universität Köln, S. 305/310 f. 198 Z.B. BGHZ 3, 308/315; 4, 153/158; BAG 1, 279/280 f. 199 Hierauf verweist auch BVerfGE 34, 269/287 f. 200 BVerfGE 3, 225/242 ff.; 13, 153/164; 18, 224/237 ff.; 25, 167/183; 34, 269/ 286 ff.; 49, 304/319; 65, 182/190; 69, 182/203; 82, 6/11 ff.; 84, 212/226; 88, 145/166 f.; ebenso z.B.: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 370; Pawlowski, Methodenlehre, Rdnrn. 461 ff.; Stern ΙΠ/2, § 95 Π 3, S. 1668 ff.; Schulze-Filitz in Dreier, Art. 20 Rdnr. 70; Sendler, DVB1. 1988, 828/833. 201 BVerfGE 34, 269/288. 196

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte Eine ausfüllungsfähige Lücke des kodifizierten Staatshaftungsrechts könnte man bereits aus dem in Form des Staatshaftungsgesetzes 1981 hinreichend konkretisierten Willen des Gesetzgebers ableiten, weil es lediglich aus formellen Gründen verfassungswidrig war. Vor allem § 2 Abs. 2 StHG, der eine verschuldensunabhängige Haftung für rechtswidrige Grundrechtseingriffe normierte, zielte darauf ab, die Rechtsgüterbeschränkung des „enteignungs-" und „aufopferungsgleichen Eingriffs" aufzuheben. 204 Zumindest die Motive, welche den Gesetzgeber zu der Grundrechtseingriffshaftung bewogen haben, können als nach wie vor aussagekräftig herangezogen werden. 205 So heißt es beispielsweise in der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs zu § 2 Abs. 2 E-StHG: „Rechtfertigung für diese Risikoabwälzung auf den Staat ist, daß die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit dafür sprechen, den im rechtswidrigen Eingriff und seinen Folgen liegenden schweren Verstoß gegen verfassungsrechtliche Schutzpflichten auch haftungsrechtlich mit der Wiedergutmachung für den Staat zu verbinden und das im Eingriff liegende Opfer nicht dem Bürger zuzumuten. Diese Weitung folgt aus dem Verständnis der Grundrechte und ihres Ranges im Verfassungsgefüge" 206. Wenn sich diese Einschätzung bewahrheitete und die Grundrechte tatsächlich eine kompensatorische Eingriffshaftung erforderten, wäre eine Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips zwingend zu verneinen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann die „Aufgabe der Rechtsprechung ... es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsanordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des berwertenden Erkennens ... ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren." 207 In Bezug auf gesetzesvertretendes Richterrecht hat das Gericht die Fachgerichte sogar zur Lückenschließung beauftragt, sofern die Lücke durch eine Nichtigerklärung seinerseits entsteht und/oder eine Lückenschließungspflicht unmittelbar aus dem grundrechtlichen Schutzgehalt folgt 2 0 8 . Dann „müssen die Gerichte, wollen sie nicht selbst verfassungswidrig handeln, die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten fortführen und verfassungskonform entscheiden" 209 . 202

BVerfG NJW 1997, 2966/2967; Sachs in Sachs, Art. 20 Rdnr. 120. BVerfGE 65, 182/191 ff.; 69, 315/369; 71, 354/362 ff.; 73, 206/254 ff. 204 Schäfer/Bonk, StHG, Einführung Rdnr. 61; Bender, StaatshaftungsR, 3. Auflage, Rdnr. 357. 205 Ähnlich Fetzer, Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht, S. 145. 206 BT- Drs. 8/2079, S. 40. 207 BVerfGE 34, 269/287; 49, 304/318; 65, 182/190; 84, 212/226. 208 Vgl. z.B. den Fall des sich aus dem grundrechtlichen Abwehrrecht ergebenden, gesetzlich nicht näher ausgeformten Restitutionsanspruchs (Rückerwerbsrecht des Grundstückseigentümers bei NichtVerwirklichung des Enteignungszwecks), BVerfGE 38, 175 ff./185. 203

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung Das hat ebenfalls zu gelten, wenn ein grundrechtliches Haftungsgebot vom Gesetzgeber nicht umgesetzt wird. In diesem Fall konstituiert Art. 1 Abs. 3 GG nicht nur die Legitimation, sondern angesichts der Untätigkeit der Legislative, sogar die Verpflichtung zur richterrechtlichen Schaffung entsprechender Institute; denn die Grundrechte binden nach dieser Norm eben auch die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Setzte die Rechtsprechung das inhaltlich noch zu überprüfende verfassungsrechtliche Gebot um, wäre dieser Transformationsvorgang keine unzulässige Kompetenzanmaßung, sondern trüge de lege artis dem grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt Rechnung. 210 Versagt nämlich der parlamentarische Gesetzgeber, fällt den Gerichten zur Verhinderung eines „Regelungsvakuums" eine subsidiäre Rechtsetzungskompetenz z u . 2 1 1 Die grundgesetzliche Funktionsteilung zwischen reiner Jurisdiktion einerseits und reiner Rechtssetzung andererseits lässt sich nämlich dort nicht aufrechterhalten, wo das von der Verfassung eingesetzte Organ seine Organkompetenz nicht pflichtgemäß ausübt. 212 Es ist die aktivierte „Notkompetenz" der Judikative, die bisherige Kompensationsansprüche gegen den Staat hervorgebracht h a t 2 1 3 und daher in gleicher Weise zu Erweiterungen dieser Materie legitimiert. 2 1 4 Dieser Vorgang bedeutet schon deshalb keinen Eingriff in die Organbefugnis der Legislative, weil sie „jederzeit die Regelung des Staatshaftungsrechts an sich ziehen und selbst gestalten kann" 2 1 5 . Dagegen steht auch nicht die 209

BVerfGE 82, 126/155. In Bezug auf Art. 14 GG ausführlich Sass, Entschädigungserfordernis, S. 212214. Vgl. auch Wahl, NVwZ 1990, 426/440, der die Ausgleichsansprüche aus § 17 IV 2 FStrG, 74 II 3 VwVfG auf Art. 14 Abs. 1 GG zurückführt und dem Gesetzgeber ein Wahlrecht abspricht, solche Normen zu erlassen oder nicht. 211 Ossenbühl in Handbuch des Staatsrechts III, § 61 Rdnr. 41; ebenso z.B. Bieback, DVB1. 1983, 159/164; Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 200; Gerhardt in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb § 113 Rdnr. 5. Insofern hat die Judikative in der Tat die Rolle des „Ersatzgesetzgebers" inne (dies gegen Schenke, JuS 1990, 370/377). 212 Ossenbühl, DVB1. 1994, 977/979; Scherzberg, DVB1 1991, 84/88 f. 213 Die Rechtsprechung hat „seit langem die Rolle des Gesetzgebers übernommen", Ossenbühl, NJW 2000, 2945/2948. 214 Ebenso z.B. D. Ehlers, WDStRL 51 (1992), S. 211/243; Fetzer, Haftung des Staates, S. 143 ff; Gerhardt in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb §113 Rdnr. 5: „Nach dem Scheitern des Staatshaftungsgesetzes sind die erforderlichen Rechtssätze - letztlich von der Rechtsprechung - zu entfalten und fortzubilden."; Sass, Entschädigungserfordernis, S. 376. Vgl. auch Bender, StaatshaftungsR, 2. Auflage, Rdnr. 115: „Das Rechtsinstitut der Staatshaftung aus aufopferungsgleichem Eingriff leidet darunter, dass der bisher durch Art. 2 II GG gekennzeichnete Schutzbereich der Aufopferung von der Rechtsprechung noch nicht erweitert wurde, so dass z.B. schuldlos rechtswidrige Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder der Berufsfreiheit bisher keine Entschädigungspflicht auslösen.". Noch weitergehender Schoch, DV 34 (2001), 261/287 ff. Vgl. auch Hermes, DV 31 (1998), 371/388 ff. 210

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte Haushaltsprärogative des Parlaments. 216 Zum einen kann nicht jede finanzielle Auswirkung bereits zur juristischen Barriere für Richterrecht werden. 217 Die durch eine Haftungsextension entstehenden Mehrbelastungen halten sich prognostisch in vertretbarem, nicht zum Staatsbankrott führenden Rahmen. 218 Unter haushaltspolitischen Aspekten kann sich die Rechtsprechung allenfalls dann in Zurückhaltung üben, wenn „ein qualitatives Übergewicht an dezisiven Entscheidungselementen in aller Regel zu der Einschätzung führt, daß der gestaltungspolitische Charakter der erforderlichen Festlegungen im Vordergrund steht." 2 1 9 Beispielsweise sah der Bundesgerichtshof einen Anspruch wegen emittentenferner Waldschäden vor allem deshalb dem Parlamentsgesetzgeber vorbehalten, weil „hier verschiedene, nicht unerheblich voneinander abweichende Lösungen denkbar sind und daher dem politischen Gestaltungswillen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein weiter Spielraum offen steht." 2 2 0 Daran fehlt es jedoch, wenn die Grundrechte für staatliche Eingriffe ein bestimmtes Reaktionsprogramm festlegen. Denn wo kein legislativer Gestaltungsspielraum vorhanden ist, kann er von der Judikative auch nicht eingeschränkt werden. 221 Der Umstand, dass der Normtext der Verfassung im ersten Abschnitt in Bezug auf sekundäre Staatshaftung kaum Anhaltspunkte gibt, eröffnet nicht etwa eine nur dem Gesetzgeber vorbehaltene Gestaltungsentscheidung. 222 Es handelt sich lediglich um die Konkretisierung einer vorgegebenen Wertung im Bereich der tatbestandlich ohnehin offenen Grundrechtsnormen. 223 Als Rechtsvorschriften setzen sich die Grundrechte strukturell aus Tatbestand und Rechtsfolge zusammen, welche bei Erfüllung des Tatbestands ausgelöst w i r d . 2 2 4 Bei der Ermittlung der Rechtsfolge vollzöge die Rechtsprechung eine interpretatorische Leistung, die ihr ungeachtet der zu beurteilenden Rechtsmaterie bei generalklauselartigen Tatbeständen stets anheimfällt 225 und sogar ihre spezifische Aufgabe i s t . 2 2 6 Die Schließung 215

Ossenbühl, DVB1. 1994, 977/979. Grundsätzlich ist sie sicher beachtenswert, vgl. v. Danwitz in v. Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 34 Rdnr. 26; Ossenbühl, DVB1. 1994, 977/979. 217 Ossenbühl, DVB1. 1994, 977/979. 218 Vgl. oben 1. Teil Β I 2 a, S. 51 ff. 219 ν. Danwitz in ν. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 34 Rdnr. 26. 220 BGHZ 102, 350/362. Bestätigt wurde die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch BVerfG NJW 1998, 3264 ff. Relevant sind in diesem Kontext auch BGHZ 55, 229/232 f.; 56, 40/43; 100, 136/146; 106, 323 ff. 119, 365 ff. 221 Sass, Entschädigungserfordernis, S. 388. 222 A.A. v. Brünneck, Eigentumsgarantie, S. 416 ff. 223 Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 15 f., 43. 224 Roth, Faktische Eingriffe, S. 94 f. 225 Signifikant ist die Ausfüllung von Generalklauseln durch die Rechtsprechung bei den privatrechtlichen Normen, die tatbestandlich eine „sittenwidrige" Handlung voraussetzen (z.B. §§ 138 Abs. 1, 826 BGB, 1 UWG). 216

5 Röder

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung von Haftungslücken wäre nicht als völlig freie Rechtsschöpfung zu beurteilen. Die Gerichte wären an grundrechtliche Vorgaben gebunden und könnten sich in gewissem Umfang sogar an den gesetzgeberischen Vorarbeiten orientieren. Abgesehen davon muss die Judikative, wie schon in der Einleitung angeklungen, im Staatshaftungsrecht naturgemäß stark schöpferisch tätig sein. Auch im Fall der Wirksamkeit des Staatshaftungsgesetzes 1981 hätte sie ein hohes Maß an Lückenfüllung und Gesetzeskonkretisierung übernehmen müssen, denn „für die Rechtsanwendung wirft § 2 I I StHG eine Reihe von Problemen auf; es ist zu hoffen, dass es der Rechtsprechung gelingen wird, den normativen Gehalt dieser in mancher Hinsicht sicherlich dunklen Vorschrift schrittweise zu entfalten." 228 Die Regelungsdichte der Grundrechtseingriffsnorm war so gering, dass sie nicht nur viele Fragen ungeklärt gelassen, sondern umgekehrt sogar neue aufgeworfen hätte. 2 2 9 Folglich unterscheidet sich die heute in Rede stehende Leistung der Judikative zwar von derjenigen, die ihr trotz wirksamen Gesetzes zugekommen wäre. Der Unterschied wäre aber nicht fundamental. Das Maß an eigenständiger judikativer Rechtsschöpfung hat in anderen Bereichen ohne entsprechendes legislatives Leitbild mitunter eine deutlich höhere Qualität erreicht, ohne als unzulässig eingestuft zu werden. 2 3 0 Wenn sich also in der nachfolgenden Prüfung erweisen sollte, dass entweder Art. 3 Abs. 1 G G 2 3 1 oder die Freiheitsrechte selbst eine Kompensations226

Sass, Entschädigungserfordernis, S. 214; Sendler, DVB1. 1988, 828/832. Da das Staatshaftungsgesetz lediglich aus formellen Gründen gescheitert ist, liegt es fern, eine materielle Angleichung an die intendierte Regelung seitens der Rechtsprechung als unzulässig anzusehen (so aber Rüfner in Erichsen/Martens, AllgVerwR, § 53 V 2, S. 604 bezogen auf den Folgenbeseitigungsanspruch). Die Untätigkeit in der Zwischenzeit kann man wohl nicht als echten „actus contrarius" des legislativen Willens ansehen, auch wenn das Prinzip parlamentarischer Diskontinuität insofern Vorsicht gebietet. 228 Bender, StaatshaftungsR, 3. Auflage, Rdnr. 354; vgl. auch ders., ZBR 1981, 325/327; Jacobs, StaatshaftungsR, Rdnr. 317: Die Vorschrift wird diejenige sein, „die in der Praxis die meisten Auslegungsprobleme aufwirft und zu erheblichen Unsicherheiten über ihren Inhalt und Umfang führt". 229 Ossenbühl, Neuere Entwicklungen, S. 6. 230 Als klassisches Beispiel bezeichnet Ossenbühl (Handbuch des Staatsrechts ΠΙ, § 61 Rdnr. 38) das Arbeitskampfrecht, das im wesentlichen auf der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts beruht. 231 Für die Unzulässigkeit einer tatbestandlichen Erweiterung auf das Niveau des StHG 1981 z.B. Rüfner in Erichsen/Martens, AllgVerwR, § 49 V 2 Rdnr. 29; Ossenbühl, Neuere Entwicklungen, S. 19 f., 28 (bezüglich der Erweiterung der Entschädigungspflicht auf vollen Schadensersatz anstelle von Entschädigung); ders., Festschrift fiir Geiger, 475/496; für die Zulässigkeit einer Erweiterung hingegen: Ferschl, Aufopferungsanspruch, S. 200; Sass, Entschädigungserfordernis, S. 212 ff. 227

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte pflicht begründen, wäre die Nichtumsetzung dieses grundrechtlichen Postulats nichts weniger als eine verfassungswidrige Rechtsschutzverweigerung. 2 3 2 Zusammenfassend bleibt bis hierher festzuhalten: So begrüßenswert und dringlich die richterrechtliche Etablierung der Aufopferungsansprüche im deutschen Staatshaftungsrecht unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten auch war, so inkonsistent und angreifbar sind die gegen die Haftungserweiterung vorgetragenen Argumente. Kompetenzprobleme stellten für die Rechtsprechung keinen Hinderungsgrund dar, bestimmte Haftungstatbestände zu schaffen und dürften diese Schaffenskraft bei einer einfachen Tatbestandsausdehnung konsequenter Weise erst recht nicht bremsen. Die kompetenziellen Einwände seitens der Judikative sind widerlegbar. Die ihnen wohl zugrundeliegende Befürchtung, Urheber eines Staatsbankrotts zu werden, ist unbegründet. Die inhaltliche Auseinandersetzung, der sich die Rechtsprechung entzieht, soll unter Berücksichtigung der Stellungnahmen in der Lehre Gegenstand des folgenden Abschnitts sein. Allein die Erkenntnis, dass der Bundesgerichtshof in dieser Hinsicht eine plausible Begründung schuldig bleibt, beinhaltet nicht, dass es eine solche gar nicht gibt. Umgekehrt erfordert gerade die Einbeziehung anderer Rechtsgüter in die Entschädigungspflicht eine dogmatische Stütze. Insofern kann es nicht ausreichend sein, die Zurückhaltung der Rechtsprechung als inkonsequent zu qualifizieren. Eine solche Feststellung weist für sich genommen keinen positiven materiellen Gehalt auf. Der Falsifikationsversuch des beschränkten Rechtsgüterkanons soll wie gesagt zunächst „rechtsprechungsimmanent" versucht werden. Ausgangshypothese ist also die Verortung der Entschädigungsansprüche als Ausprägung des Aufopferungsgedankens im einfachen Recht. Es sei noch einmal betont, dass es nicht um eine Extension de lege ferenda geht, die sich an der Kategorie der „wünschens-" 233 bzw. „begrüßenswerten" 234 Rechtslage orientiert. Maßstab ist allein, ob die Rechtsprechung de lege lata haltbar ist oder nicht.

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Insofern wirkte sich die richterliche Abstinenz in Form der „Rechtsfortbildungsblockade" schlimmer aus, als eine kühne richterrechtliche Rechtsfortbildung, Sendler, DVB1. 1988, 828/836. 233 Trimbach, Möglichkeiten einer Kodifikation, S. 94; Vorschläge de lege ferenda z.B. auch bei Ferschl, Aufopferungsanspruch S. 243 ff.; Pfab, Staatshaftung, S. S. 160. 234 Goppert, Enteignungsgleicher Eingriff, S. 28 f. 5*

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

Π. „Rechtsprechungsimmanente44 Revision des haftungsrechtlichen status quo Eine Beschränkung der Sekundärrelevanz auf bestimmte Rechtsgüter kann ihre Legitimation nur aus dem Haftungstatbestand selbst, insbesondere dem spezifischen Gehalt der integrierten Schutzgüter beziehen. Das bedeutet umgekehrt: Wenn der Nachweis gelingt, dass bislang nicht für entschädigungsrelevant erachtete Rechtsgüter hinsichtlich der Entschädigungspflichtigkeit entweder dem Eigentum oder den Immaterialgütern des Art. 2 Abs. 2 GG gleichstehen, wäre ein Festhalten an dem bisherigen Rechtszustand nicht mehr möglich. Es müsste eine entsprechende Erweiterung stattfinden. In den Mittelpunkt rückt bei grundsätzlich einfachrechtlicher Natur der Aufopferungsansprüche damit die Frage nach einem sachlichen Differenzierungsgrund zwischen den entschädigungsrechtlich akzeptierten und den nichtakzeptierten Rechtsgütern. Verfassungsrechtlich ist es nicht fernliegend, von einer Aktivierung des Art. 3 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab zu sprechen. 235 Bezugspunkt des anzustellenden Rechtsgütervergleichs ist die entschädigungsrechtliche Bedeutung der gegenübergestellten Grundrechte. Genau besehen wird dabei implizit zugleich nach dem kompensatorischen Gehalt jedes zu überprüfenden Grundrechts gefragt. Sofern das Institut „Aufopferung" nicht sonst eigenständige Vorgaben für den Kreis der von ihm umfassten Schutzgüter macht, kann der Grund für eine Einbeziehung in seinen Tatbestand nur in den Rechten selbst liegen. Dann wäre es aber konsequent, eine Kompensationspflicht nicht über den Umweg des Aufopferungstatbestands zu begründen, sondern sie aus dem Rechtsgut selbst abzuleiten. Eines richterrechtlichen Umsetzungsmodus bedürfte es nur, wenn die tatbestandlichen Vorgaben des Rechts selbst nicht ausreichend sind. Zunächst stehen - „rechtsprechungsimmanent" - die Begrenzungen des Aufopferungsrechts im Vordergrund. Reduziert hierauf kann eine Extension der geschützten Rechtsgüter argumentativ in zweierlei Weise versucht werden: entweder in Form einer Erweiterung des „enteignungsgleichen" bzw. „enteignenden Eingriffs" 2 3 6 oder des „aufopferungsgleichen bzw. Aufopferungs-Anspruchs" 237 . Inhaltlich ist das jedoch ein und dasselbe: Hinsichtlich der gängigen dogmatischen Verortung als Fortgeltung der §§ 74, 235

Schenke, NJW 1991, 1777/1781, 1786 und oben 1. Teil Β I 2, S. 50 ff.; im Ergebnis hiergegen Kunig, Jura 1992, 554/557. 236 So offenbar z.B.: Engelhardt in NVwZ 1985, 621/628; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 3. Teil I 3c, S. 133 ff.; ders., Neuere Entwicklungen, S. 19 ff.; Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rdnr. 948; Schoch, Jura 1989, 529/534. 237 Bender, StaatshaftungsR, 2. Auflage, Rdnr. 115; Klein in Soergel, Anh § 839 Rdnr. 223; Mayer/Kopp, AllgVerwR, § 54 ΙΠ, S. 479 und § 55 I, S. 484; Schenke, NJW 1991, 1777/1786 f.; Wieland in Dreier, Art. 14 Rdnr. 128: „Konsequent wäre es, über die in Art. 2 II GG geschützten Rechtsgüter hinaus alle anderen immateriel-

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte 75 EinlALR in richterrechtlicher F o r m 2 3 8 und hinsichtlich der Rechtsfolge 2 3 9 unterscheiden sich die Ansprüche nicht. Es gibt eine gemeinsame Basis für beide Entschädigungsansprüche 240; die Trennung in verschiedene Tatbestände 241 ist rein entwicklungsgeschichtlich bedingt und heute im Grunde nicht mehr als ein terminologisches Phänomen. 242 Die Divergenz zwischen „Anspruchsbegründung („Aufopferung i.w.S.") und Anspruchssystematisierung („Aufopferung i.e.S.")" hat keine Berechtigung. 243 Der einzige strukturelle Unterschied zwischen „aufopferungsgleichem" und „enteignungsgleichem Eingriff 4 besteht darin, dass der zu entschädigende Vermögensverlust nur im letzten Fall mit der Verletzung des geschützten Rechtsguts übereinstimmt, bei der Verletzung immaterieller Rechte jedoch auseinanderfällt. 244 Das heißt: Die Gesundheitsbeeinträchtigung (Art. 2 Abs. 2 GG) führt erst in Form von Kosten des ärztlichen Heileingriffs, von Lohnausfällen oder sonstigen Folgen zu einem Vermögensschaden. Die Sachbeschädigung hingegen ist Rechtsgutsverletzung und Vermögenseinbuße zugleich. Dieser Unterschied stellt jedoch eine zu vernachlässigende Größe dar, weil er sich nur auf Rechtsfolgenseite bei der Feststellung des Schadens bzw. Nachteils auswirkt. Dass die sekundäre Sanktionierung beider Rechtsgüter innerhalb eines Tatbestands problemlos erfolgen kann, zeigt bereits die gemeinsame zivilrechtliche Behandlung im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB. Sieht man einmal davon ab, dass die Begriffe „enteignungsgleich" und „enteignend" zu keiner Zeit überzeugend waren und spätestens seit der „Nassauskiesungsentscheidung" irreführend, ja sogar falsch sind 2 4 5 , würde len Rechte wie etwa das Persönlichkeitsrecht oder Belange der Bildung, Ausbildung und des beruflichen Fortkommens als Schutzgüter der Aufopferung anzuerkennen." 238 Vgl. oben und grundlegend BGHZ 9, 83/86 ff. 239 Papier in Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 679. 240 Schenke, NJW 1991, 1777/1781. 241 Sie wird aufgegeben von Selmer, Aufopferungsanspruch; Schneider, Diskussionsbeitrag in Kreft, Aufopferung und Enteignung, S. 30 f. im Sinne einer allgemeinen Aufopferungshaftung. 242 Ossenbühl, StaatshaftungsR, 3. Teil I 3, S. 131, der zudem auf den Modell I eines Staatshaftungsgesetzes verweist, in dem die Aufopferungshaftung ganz im Sinne der §§ 74, 75 EinlALR alle rechtmäßigen Eingriffe unabhängig von dem betroffenen Rechtsgut erfassen soll; K. Vogel Diskussionsbeitrag in Kreft, Aufopferung und Enteignung, S. 32 f.; vgl. auch Bryde in v. Münch/Kunig, Art. 14 Rdnr. 108; Maurer, AllgVerwR, § 27 Rdnr. 2; inkonsequent Trimbach, Möglichkeiten einer Kodifikation, S. 119. 243 W. Schmidt, NJW 1999, 2847. 244 Ossenbühl, Krise, S. 269/365. 245 Z.B. Ossenbühl, Neuere Entwicklungen, S. 18, der aus Gründen der Klarheit eine Umbenennung des „enteignungsgleichen Eingriffs" in »Anspruch aus rechtswidriger Eigentumsverletzung" vorschlägt. Schmitt-Kammler (Festschrift für E.

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

eine Erweiterung der Schutzgüter wegen der Identität von Tatbestand und Rechtsfolgen 246 die terminologische Differenzierung obsolet machen. Aber nicht nur das. Sie böte darüber hinaus Anlass, die dogmatische Grundlage der Haftung neu zu überdenken. 247 Bevor diese Fragen vertieft werden, soll eine Erweiterung des Aufopferungstatbestands auf sonstige Rechtsgüter nach der skizzierten Methode überprüft werden, wobei die Aufmerksamkeit in einem ersten Schritt der Berufsfreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, im Anschluss hieran den übrigen Grundrechten gilt.

1. Aufopferungshaftung bei Eingriffen in die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG a) Entschädigungsrelevante Fälle und Haftungsharmonisierung mit Art 14 GG Im Zentrum der Diskussion um eine Erweiterung des aufopferungsrechtlichen Rechtsgüterkanons steht die Berufsfreiheit des Art. 12 GG. Sie bildet sozusagen den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Bemühungen in diese Richtung. Besonders folgende praktische Fallkonstellationen zeugen von einer Entschädigungsbedürftigkeit bei Eingriffen in die Berufsfreiheit, haben demgemäß entscheidenden Anstoß zur Debatte gegeben und würden zugleich den Großteil der zu erwartenden haftungsrelevanten Sachverhalte bilden. Zum einen geht es um die eingangs schon genannten 248 Hoheitsakte im Rahmen der Ausbildung, die den Berufseinstieg rechtswidrig hinauszögern. Zu denken ist hier an die rechtswidrige Nichtversetzung in die nächsthöhere Klasse, vor allem an die unrechtmäßige Verweigerung des Schuloder Hochschulzugangs oder - wie im Ausgangsfall - des Ausbildungsabschlusses (Staatsexamen) 249 sowie an die rechtswidrige Einberufung zum Wehr- oder Ersatzdienst 250 . Zum anderen sind alle rechtswidrigen Maßnahmen von Bedeutung, welche die intendierte oder ausgeübte unternehmeriWölf, S. 595/610) spricht sich für „rechtswidrige Grundrechtsbeeinträchtigung" bzw. „Eigentumsunrechtshaftung" aus. Lege (NJW 1990, 864/872) will demgegenüber „enteignungsgleichen" und „enteignenden Eingriff 4 als „Eigentumsaufopferung" zusammenzufassen. Dagegen stehen materielle Bedenken, die aus den Unterschieden zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Staatshandeln resultieren, vgl. hierzu unten 2. Teil, C, S. 185 ff. 246 Papier in Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 679/699. 247 Ossenbühl, Neuere Entwicklungen, S.17, sieht Anlass hierfür zu Recht schon im „Nassauskiesungsbeschluss". 248 Vgl. oben Einleitung B, S. 22 ff. 249 So z.B. der eingangs geschilderte Sachverhalt (FN 66). 250 So z.B. die Sachverhalte BGHZ 65, 196 ff.; 66, 118 ff.

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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sehe Betätigung, z.B. in Form der rechtswidrigen Versagung der Gewerbeerlaubnis oder einer rechtswidrigen Nebenbestimmung im Sinne des § 36 VwVfG, betreffen. Beeinträchtigungen des Produktionsablaufs oder Absatzbeschränkungen sind ebenfalls diesem Bereich zuzuordnen. Auch die rechtswidrige Zustimmung einer Behörde zur Kündigung eines Arbeitsverhältnisses (z.B. nach § 9 Abs. 3 MuSchG, § 15 SchwerbhG) verhindert die grundrechtlich gewährleistete Betätigung. Zu nennen sind schließlich noch die rechtswidrige Erhebung von Steuern, öffentlich-rechtlicher Abgaben sowie die rechtswidrige Auferlegung sonstiger öffentlich-rechtlicher Geldleistungspflichten. 251 Diese sind jedenfalls dann von dem Schutzbereich des Art. 12 GG umfasst, wenn sie in engem Zusammenhang mit der Ausübung des Berufs stehen und eine objektiv berufsregelnde Tendenz haben. 2 5 2 Es drängt sich die Frage auf, aus welchem Grund diese Rechtsverletzungen im Gegensatz zu Eigentumseingriffen keine Kompensationspflichten begründen sollen. Gibt es legitimierende Umstände für eine entschädigungsrechtliche Privilegierung des Art. 14 GG gegenüber Art. 12 GG? b) Fehlende Haftungskodifikation in Art. 12 GG als aufopferungstypisches Phänomen Der Wortlaut des Art. 12 GG enthält keinen Hinweis auf eine Entschädigungsdimension der Berufsfreiheit. 253 Mangels expliziter grundgesetzlicher Regelung bzw. grammatikalischen Anknüpfungspunkts wird mitunter als Voraussetzung für eine „entschädigungsrechtliche Einbeziehung" des Erwerbsschutzes ein „umfassendes dogmatisches Konzept" als nötig erachtet, dessen Entwicklung die der dritten Gewalt verliehenen Möglichkeiten der Rechtsfortbildung allerdings überschreite. 254 Obwohl der Grenzverlauf zwischen den Kompetenzen der zweiten und dritten Gewalt gerade im hier interessierenden Zusammenhang wie gesehen schwer zu ziehen i s t 2 5 5 , vermag diese allein auf den Wortlaut des Grund251

Papier in Handbuch des Staatsrechts VI, § 157 Rdnr. 60; ders. in Maunz/ Dürig, Art. 34 Rdnr. 42 und Art. 14 Rdnr. 679; keine Haftung auf Basis der bisherigen Rechtsprechung („Bardepotfall"), BGH WM 1982, 663; BGHZ 83, 190/191 f. 252 BVerfGE 37, 1/17; BVerfGE 81, 108/121 f.; Wieland in Dreier, Art. 12 Rdnr. 170. Geringere Anforderungen werden gestellt von Manssen in v. Mangold/Klein/ Starck, Art. 12 Rdnr. 267. 253 Gleiches gilt - abgesehen von Art. 14 Abs. 3 GG - für alle anderen Grundrechte. Die auf den Wortlaut des Art. 12 GG bezogenen Ausführungen können daher auf alle sonstigen Grundrechte, auf die sich die Überlegungen hinsichtlich der Extension beziehen, übertragen werden. 254 Tettinger in Sachs, Art. 12 Rdnr. 147 b; Mann, JR 1997, 110/112. 255 Vgl. oben 1. Teil Β I 2, S. 50 ff.

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung rechts gestützte Argumentation nicht zu überzeugen. Ließe man dem Wortlautargument die für Art. 12 GG proklamierte Bedeutung auch sonst zukommen, könnte der Aufopferungstatbestand insgesamt nicht aufrecht erhalten werden. Eine Stütze für die Entschädigungspflicht der aufopferungsrechtlich anerkannten Rechtsgüter bietet nämlich der Wortlaut der entsprechenden Grundrechte ebenfalls nicht. Während Art. 2 Abs. 2 GG die Entschädigungspflicht nicht einmal streift, normiert Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG eine solche lediglich für Enteignungen. Seitdem der Bundesgerichtshof infolge der „Nassauskiesungsentscheidung" die Enteignung von sonstigen Eingriffen in das Eigentum deutlich unterscheidet 256 , verbietet sich auf Grundlage dieser Rechtsprechung ein solcher interpretatorischer Rückgriff auf die Junktimklausel. Insbesondere das früher zur Legitimation des „enteignungsgleichen Eingriffs" herangezogene argumentum a fortiori - wenn schon Entschädigung bei rechtmäßiger Enteignung, dann erst recht bei rechtswidrigem Eingriff 2 5 7 - ist in dieser Form nicht (mehr) möglich. Es stellt also zumindest eine Inkonsequenz dar, einerseits Entschädigungsansprüche aufgrund fehlender ausdrücklicher grundrechtlicher Regelung und Regelungsdichte im Rahmen der Berufsfreiheit de lege ferenda iudicis abzulehnen, sie für die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 14 Abs. 1 GG aber andererseits als rechtmäßige lex lata iudicis zu akzeptieren. Die fehlende Kodifikation ist geradezu Voraussetzung einer richterrechtlichen Rechtsschöpfung. Es wäre sinnwidrig, gesetzesvertretendes Richterrecht nur dann als zulässig anzusehen, wenn eine gesetzliche Regelung einen Anhaltspunkt zur Rechtsschöpfung bietet. Faktisch liefe das darauf hinaus, diese Kategorie des Richterrechts insgesamt als unzulässig und lediglich die gesetzeskonkretisierende Interpretation als möglich zu erachten. Das wäre das Ende auch des geltenden Aufopferungsrechts. Sicherlich ist es nicht unvertretbar, die Grundlagen des geltenden Rechts anzuzweifeln. 258 Ihr Schöpfer, der Bundesgerichtshof, tut das jedoch nicht, und allein darauf muss es bei der hier vorgenommenen Prüfung der Schlüssigkeit der Rechtsprechung ankommen.

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BGH DVB1. 1982, 950; NJW 1982, 1090; grundlegend: NJW 1984, 1169 und JZ 1984, 741; BGHZ 1986, 152/159; NJW 1990, 3260/3261. 257 BGHZ 6, 270/290 und oben 1. Teil A II, S. 34 ff. 258 Scherzberg, DVB1 1991, 84/88; Schmitt-Kammler, Festschrift für E. Wolf, S. 595/609; Schoch, Jura 1989, 529/534; Stöhr, Verfassungsrechtliche Aspekte, S. 155 ff.; a. A. z.B. Hendler DVB1. 983, 873/881.

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte c) Keine Exklusivität der Entschädigung bei Eingriffen in das Eigentum im Bereich wirtschaftlicher Grundrechte aa) Grundgesetzgemäßes „Aufopferungsrecht" ist kein spezifisches Eigentumsschutzrecht Im übrigen ist die Erweiterung des Eingriffsobjekts nicht zwingend abhängig von der Neuschöpfung eines „umfassenden dogmatischen Konzepts". Der Bundesgerichtshof stellt es in Form des Aufopferungsanspruchs selbst zur Verfügung. Allein durch die Anerkennung der Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG als Schutzgüter des Rechtsinstituts hat er die reichsgerichtliche Beschränkung auf das Eigentum aufgegeben. 259 Vor allem die dogmatische Trennung des „enteignungsgleichen" und „enteignenden Eingriffs" von Art. 14 Abs. 3 GG begünstigt die Ausdehnung der Entschädigung auf andere Rechtsgüter. Allerdings findet sich sowohl in der Rechtsprechung 260 als auch in der Literatur 2 6 1 die Hypothese einer naturgemäßen Zusammengehörigkeit von sekundärem Schutz vermögenswerter Rechte und dem Eigentum. Gegen eine Ausdehnung der Entschädigungspflicht auf Art. 12 GG wird regelmäßig das Argument vorgebracht, der Schutzzweck des Aufopferungsrechts umfasse eben nicht Beeinträchtigungen bloßer Erwerbsaussichten. In den Entscheidungsgründen zum Einführungsfall führt das Landgericht Berlin plastisch aus: „Voraussetzung der Pflicht zur Entschädigung ist dabei stets und immer entsprechend §§ 74, 75 EinlPrALR gewesen, daß ,das Mitglied des Staates besondere Rechte und Vorteile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genötigt wird4. Das aber heißt, daß der Staat ... in einen »Gegenstand4, einen vorhandenen und erworbenen Bestand4, eine »Substanz4, eine »Position4, »vorhandene Werte4, »Güter4, ein »Ergebnis4, ein ,Sein und Haben4, einen »Zustand4 etc. eingegriffen haben muß. Das aber ist denknotwendigerweise bei einem Eingriff in den von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Bereich ausgeschlossen; denn dieses Grundrecht schützt als besondere Ausgestaltung der allgemeinen Freiheit zu handeln seinem Wesen nach einen Erwerbsvorgang» eine Betätigung» die Erbringung einer Leistung, nicht aber das Ergebnis dessen. Das in ihm geschützte Rechtsgut ist deshalb als Objekt eines entschädigungsfähigen Eingriffs, der auch schon dem Wortlaut nach etwas Greifbares voraussetzt, ungeeignet. Man kann schon begrifflich nichts aufopfern, was man noch nicht erworben hat. 44262 Dieser Schluss hat bereits im Ansatz eine zirkuläre Tendenz. Solange der „enteignungsgleiche Eingriff 1 ausschließlich Verletzungen von Art. 14 GG 259

Vgl. hierzu oben 1. Teil Α ΙΠ la, S. 37. Zur diesbezüglichen Argumentation des Bundesgerichtshofs vgl. oben 1. Teil Β I 1, S. 44 ff. 261 Rinne, DVB1. 1993, 869/870; Selmer, Aufopferungsanspruch, S. 111. 262 LG Berlin (FN 66), S. 8 f. der Entscheidung zu dem Ausgangsfall. 260

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung sanktioniert, kann selbstverständlich nur der Vermögensbestand im eigentumsrechtlichen Sinn geschützt sein. 2 6 3 Hier scheint „ein sachliches Merkmal (Gegenstand der Aufopferungshaftung) von der veralteten Terminologie („enteignender" bzw. „enteignungsgleicher Eingriff) abhängig" gemacht zu werden. 2 6 4 In der Argumentationsführung entspricht die Begründung der des Bundesgerichtshofs. 265 Auch das Landgericht Berlin sieht die Berufsfreiheit des Art. 12 GG nicht als „konkrete Rechtsposition" an. Diese Sicht verwechselt das Verhältnis zwischen Eingriffsobjekt und Schaden 266 : Unter dem Gesichtspunkt des Art. 12 GG kann man z.B. im Fall der rechtswidrigen Versagung der Gewerbeerlaubnis nicht das erst später auszuübenden Gewerbe als Eingriffsobjekt ansehen. Verletztes Rechtsgut ist die Berufsfreiheit, der Schaden besteht in dem hypothetisch zu ermittelnden ökonomischen Erfolg. Diese „Erwerbsaussicht" ist lokalisiert in der Rechtsfolge. Es ist nicht möglich, darauf eine Tatbestandsbegrenzung zu stützen. Die Konvergenz zwischen Rechtsgutsverletzung und Vermögensverlust ist wie bereits gesehen 267 geradezu Spezifikum der Verletzung immaterieller Rechte und stellte kein Hindernis für die Ausdehnung der Entschädigungspflicht auf Rechte des Art. 2 Abs. 2 GG dar. Maßgeblich ist nicht, „ob die Rechtsverletzung im nichtVermögenswerten oder im Vermögenswerten Bereich eintritt; ausgeglichen werden ohnehin gewöhnlich nur Vermögensschäden - nichtvermögenswert ist nur das verletzte Recht, nicht der zu ersetzende Schaden" 268 . Die dogmatische Fragwürdigkeit dieser Judikatur resultiert letztlich aus einer fehlerhaften Übernahme der Begriffsvorstellungen einer anderen Epoche. Die höchstrichterliche Fixierung auf „konkrete Rechtspositionen", „das Erworbene" etc. transportiert im Haftungsrecht nämlich genau besehen natur- bzw. gemeinrechtliche Vorstellungen des 18. Jahrhunderts in das geltende öffentliche Recht, die hier implantiert einen Fremdkörper darstellen. 269 Der Rechtsgedanke der §§ 74 f. EinlALR, den der Bundesgerichtshof als Grundlage seiner Entschädigungsrechtsprechung heranzieht, scheint für das Gericht Eigentumsschutz zu sein. Diese (scheinbar) kontinuitätswahrende Interpretation ist freilich nur unter Außerachtlassung eines völlig gewandelten Verständnisses von subjektiv-öffentlichen Rechten möglich. 2 7 0 Wenn 263

Ebenso Battis, Erwerbsschutz, S. 103. W. Schmidt, NJW 1999, 2847. 265 Vgl. oben 1. Teil Β I 1, S. 44 ff. 266 Ebenso Löwer, Unterlassenes Verwaltungshandeln, S. 444; W. Schmidt, NJW 1999, 2847/2850. Die Verwechselung setzt sich mitunter im Rahmen des Folgenbeseitigungsanspruchs fort, vgl. nur A. Ehlers, Grundlagen und Leitprinzipien, S. 95. 267 Vgl. oben 1. Teil Β II, S. 68. 268 W. Schmidt, NJW 1999, 2847/2850; ähnlich Maurer, AllgVerwR, § 27 Rdnr. 15. 269 Vgl. oben 1. Teil A I, S. 30 ff. 264

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte sich der Begriff „Rechte und Vorteile" im Anwendungsbereich der landrechtlichen Vorschriften nach der zeitgenössischen herrschenden Meinung im wesentlichen durch das Eigentum definierte, lag das allein an dem teilweise noch naturrechtlich geprägten Begriffsverständnis des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Ohne Zweifel sollten all diejenigen Individualrechte unter die Norm subsumierbar sein, die damals eben als „Rechte" anerkannt waren. Das ergibt sich schon aus einer grammatikalischen Auslegung der Vorschriften, die gerade nicht den Begriff „Eigentum" verwendeten. Die folgende Definition Städters kann als gesicherter Minimalkonsens für das Allgemeine Landrecht und die Weimarer Republik gelten: „Der Aufopferungsanspruch ist Ausgleich für hoheitliche Eingriffe in subjektive Rechte." 2 7 1 Damit führt die mangelnde Anpassung der Entschädigungsjudikatur an eine grundgesetzadäquate öffentlich-rechtliche Dogmatik zu einem logischen Bruch. In Form der Bezugnahme auf die §§ 74 f. EinlALR als Haftungsgrundlage inkorporiert der Bundesgerichtshof automatisch die Definition der „Rechte und Vorteile" als subjektive Rechte. Nur kann damit keine Adaption der damaligen Rechtsdogmatik zu dem subjektiven Recht einhergehen. Methodisch korrekt ist die Übertragung eines Rechtsgedankens vorkonstitutioneller Vorschriften nur, wenn er richtig erfasst und verfassungsrechtlichen Vorgaben angepasst wird. Deshalb ist eine grundrechtsgemäße Subsumtion unter den Begriff der „Rechte" im Sinne des § 75 EinlALR angezeigt. Da die Gewährleistung subjektiver Rechte ein Essenzial der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist, hat der Begriff des subjektiven Rechts nach Erlass des Grundgesetzes eine weitgehende Aufwertung erfahren, die in den Grundrechten ihren besonderen Ausdruck findet. 2 7 2 Normativ kommt ihre wertsetzende Wirkung vor allem in Art. 1 Abs. 3, 19 GG, 93 Abs. 1 Nr. 4a und 100 GG zum Ausdruck, die einen nochmaligen Bedeutungsgewinn der Grundrechte gegenüber der Weimarer Reichsverfassung belegen. Art. 12 GG nimmt selbstverständlich Anteil an diesem Bedeutungsgewinn. Ist dieses Grundrecht aber als subjektives Recht definitionsgemäß ein „Recht" im Sinne der §§ 74, 75 EinlALR, muss die Berufsfreiheit aufopferungsrechtlich geschütztes Rechtsgut sein. Jede andere Definition der Vorschriften geht an deren Rechtsgedanken vorbei. Die haftungsrechtliche Dominanz des Eigentums im Rahmen der wirtschaftlichen Grundrechte lässt sich also nicht einmal durch die in Bezug 270

Schenke, NJW 1991, 1777/1781. Stödter, Entschädigung, S. 30, wobei er nur rechtmäßige Eingriffe meint. Vgl. auch Anschütz, VerwArch 5 (1897), 1/7; Forsthoff, VerwaltungsR I, S. 356; G. Janssen, Entschädigung, S. 65 f.; Maunz in Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 106; Erichsen, Verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Grundlagen, S. 44; Schenke, NJW 1991, 1777/1780 f.; Scheuner, JuS 1961, 243/248; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, § 6 II 2, S. 352. 272 Maurer, AllgVerwR, § 8 Rdnrn. 4, 10 ff.; Schenke, NJW 1991, 1777/1781. 271

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung genommene Rechtsgrundlage rechtfertigen. Als der Bundesgerichtshof den „enteignungsgleichen Eingriff 4 noch auf Art. 14 Abs. 3 GG stützte, schien ihm das klar gewesen zu sein: „In Klarstellung der Entscheidung des erkennenden Senats in BGHZ 8, 273 können Ansprüche auf Aufopferung im Sinne des § 75 EinlALR bei Eingriff in Vermögenswerte Rechte nicht in Frage kommen. Soweit ein hoheitsrechtlicher Eingriff in Vermögenswerte Rechte im weitesten Sinn vorliegt, wird der allgemeine Aufopferungsgrundsatz durch die Sonderregelung verdrängt, die die Enteignung gefunden hat." 7 3 bb) Kein Entschädigungsmonopol des Art. 14 Abs. 1 GG bei dessen Verbindung mit dem „allgemeinen Aufopferungsgedanken" Zur Legitimation der Beschränkung wird schließlich angeführt, dass eine Abkopplung von „enteignungsgleichem" und „enteignendem Eingriff 4 zwar von Art. 14 Abs. 3 GG nicht aber von Absatz 1 dieser Norm stattgefunden habe. 2 7 4 Der Gehalt dieser Argumentation ist jedenfalls solange zweifelhaft, als die Haftungsgrundlage des Aufopferungsrechts nicht näher präzisiert ist. Man gewinnt den Eindruck, dass die Offenheit der Anspruchsgrundlage bestandswahrende Funktion hat, funktionell also gerade der „Verteidigungsfähigkeit" des Richterrechts dient. Wie die Rosinen aus dem Teig greift sich der Bundesgerichtshof als dogmatische Grundlage mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht das einfache Recht, gegenüber Erweiterungsforderungen jedoch Art. 14 Abs. 1 GG heraus. Kreiert ist eine ambivalente und gegenüber Veränderungstendenzen wehrhafte Anspruchsgrundlage, deren Selbstzweck das „Einfrieren" des haftungsrechtlichen status quo ist. Die Loslösung des Anspruchs von dem Grundrecht bei gleichzeitiger Prägung durch das Grundrecht sind Gegensätze, welche sich ausschließen. Auf die Widersprüchlichkeit dieser Dogmatik wird unter dem speziellen Blickwinkel der Normenhierarchie noch im einzelnen zurückzukommen sein. 2 7 5 Erst die darauf aufbauende Trennung von einfachem Recht und Verfassungsrecht wird ein Eingehen auf die Besonderheit des Eigentumsgrundrechts gegenüber den anderen Freiheitsrechten unter rein verfassungsrechtlichen Aspekten erforderlich machen. 276 Die Überprüfung der inneren Logik der Rechtsprechung hat sich jedenfalls dann auf das einfache Recht zu beschränken, wenn man in Einklang mit dem Bundesgerichtshof den „allgemeinen Aufopferungsgedanken" axiomatisch als prägenden Part der Haf273 274 275 276

BGHZ 23, 157/161. Rinne, DVB1. 1993, 869/870. Vgl. unten 1. Teil C I 1, S. 135 ff. Vgl. unten 2. Teil D ΠΙ lb, S. 244 ff.

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte tungsgrundlage ansieht. Denn das nicht reibungsfreie Zusammenspiel zwischen dem Aufopferungsgedanken und dem Grundrecht bietet keine Basis für einen haftungsrechtlichen „numerus clausus" des Art. 14 GG. Wenn die Rechtsprechung ihre eigenen Prämissen ernst nehmen will, muss sie die dogmatischen Maßstäbe des „enteignungsgleichen" und „enteignenden Eingriffs" auch an den „Aufopferungs-" und „aufopferungsgleichen Anspruch" anlegen. Warum in dem einen Fall der Aufopferungsgedanke allein, \in dem anderen Fall nur in Kombination mit dem entsprechenden Grundrecht Haftungsgrundlage sein soll, ist besonders begründungsbedürftig. Verfällt man nicht in den Zirkelschluss der herrschenden Meinung, könnte Art. 12 GG für den entschädigungsrechtlichen Erwerbsschutz ohne weiteres als Analogon zu Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 GG fungieren. Nach Auflösung der (spätestens) dann verfehlten Terminologie würde das jeweils betroffene Grundrecht die „Feinjustierung" der Tatbestandsvoraussetzungen (des Aufopferungsanspruch i.w.S.) vorgeben. Dass einzelne Merkmale im Rahmen einer richterrechtlich entwickelten, gefestigten Anspruchsgrundlage dabei eine rechtsgutsspezifische Prägung erhalten, ist nichts Ungewöhnliches. Das schließt die Kompatibilität der Anspruchsgrundlage nicht aus. Mit anderen Worten: Auch wenn z.B. das Tatbestandsmerkmal „Sonderopfer" letztlich aus dem Enteignungsrecht entwickelt wurde, erfüllt es eine haftungseinschränkende Funktion, die nicht auf das Rechtsgut „Eigentum" beschränkt ist, sondern in Bezug auf andere Rechte in gleicher Weise wirken kann. Seine rechtsgutspezifische Auslegung ist unproblematisch möglich. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass bei einer Haftung für Eingriffe in Art. 12 GG die Rechtswidrigkeit im Rahmen der Aufopferung einen ihr nicht gebührenden Stellenwert einnehmen würde. 2 7 7 Dagegen spricht schon, dass rechtswidrige Eingriffe in das Eigentum nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gleichzeitig ein Sonderopfer darstellen. 278 Sofern die Befürchtung besteht, dass im Fall des Erwerbsschutzes damit die für die Aufopferung typische Zwangslage nicht allein zu erfassen ist, könnte man der Rechtswidrigkeit unter dem Geltungsbereich des Art. 12 GG lediglich Indizwirkung zukommen lassen und eine darüberhinausgehende Prüfung durchführen. Dogmatisch lässt sich das mit der gegenwärtigen Rechtslage vollkommen in Einklang bringen. Es ist nicht erforderlich, der genannten Befürchtungen wegen eine Sekundärhaftung bei Eingriffen in Art. 12 GG gänzlich auszuschließen. Die Integration des sekundären Erwerbsschutzes in den Aufopferungstatbestand ist demzufolge möglich. 2 7 9

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So aber Rinne, DVB1. 1993, 869/871. Vgl. nur BGHZ 32, 208/212 f.; 58, 124/127 f.; 78, 41/43. 279 OVG Münster, NVwZ 1994, 795/796. = NWVB1. 1994, 109/111; Löwer, Unterlassenes Verwaltungshandeln, S. 441 ff. 278

. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung d) Herausragende Bedeutung der Berufsfreiheit auch im Vergleich mit Art. 14 GG Positiv wird für eine Entschädigung bei Eingriffen in den Schutzbereich von Art. 12 GG regelmäßig die herausragende Bedeutung der Berufsfreiheit angeführt. Im Sinne eines Vergleichs mit dem Eigentum heißt das: Die Ausklammerung von Art. 12 GG läßt sich nicht mit einer geringeren Schutzfähigkeit oder einem verringerten Schutzbedürfnis der Berufsfreiheit erklär e n 2 8 0 ; einen verfassungsrechtlich begründeten Vorrang des Eigentumsschutzes vor dem Erwerbsschutz gibt es nicht. 2 8 1 Selbstverständlich stellen Pauschalaussagen dieser Art für sich genommen keine geeignete Basis dar für eine so weitreichende juristische Evolution wie die hier behandelte. Auch ist die bemühte „Bedeutung des Grundrechts" an sich inhaltsleer, es fehlt das „tertium comparationisDer Bezugspunkt der grundrechtlichen Bedeutung ist hier die Kompensationsrelevanz. Und gerade diesbezüglich steckt hinter der Aussage eine richtige Feststellung. Sie kennzeichnet ein faktisches Haftungsgefälle, die kaum begründbare 282 einseitige Privilegierung eines von zwei gleichberechtigten Rechtsgütern auf Sekundärebene. Der Schutzgehalt des Art. 12 GG beschränkt sich nicht auf die bloße Erhaltung der Lebens- und Existenzgrundlage. 2 8 3 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird die herausragende Bedeutung des Grundrechts der Berufsfreiheit für die freie Entfaltung der Persönlichkeit immer wieder hervorgehoben. 284 Art. 12 GG hat wie das Eigentum eine doppelte Schutzrichtung: eine wirtschaftliche und eine persönlichkeitsbezogene. 285 Der grundrechtliche Gehalt umfasst auch die Aufstiegs- und beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten, der Grundrechtsträger darf seine Arbeitskraft bestmöglich ausnutzen und maximale materielle Vorteile daraus ziehen. Genau hierin besteht das Verbindende zwischen Art. 12 GG und Art. 14 GG. Arbeitskraft und berufliche Fähigkeiten sind für den Einzelnen mitunter teuer erkauftes Kapital, die als Mittel zum Erwerb uneingeschränkte grundrechtliche Sicherung genießen und wegen des existenzsichernden Charakters eine deutliche Affinität zu dem durch Art. 14 GG geschützten Sachkapital aufweisen. 286 Gerade die arbeitsmarkt280

Ossenbühl, StaatshaftungsR, 3.Teil I 3, S. 133 und 5. Teil m 2c, S. 246. Dies gesteht auch Rinne (DVB1. 1993, 869/871) zu, der sich deutlich gegen die Erweiterung des Aufopferungsanspruchs auf Art. 12 GG ausspricht. 282 Ossenbühl, StaatshaftungsR, 5. Teil, ΙΠ 2 c, S. 246; Schenke, NJW 1991, 1777/1781 f.; Schoch, DV 34 (2001), 261/280. 283 BVerfGE 16, 294; 30, 292/334; 68, 193/216 ff.; 88, 144/159. 284 BVerfGE 19, 330/336 f.; 30, 292/334; 63, 266/286 f. Vgl. auch Häberle, JZ 1984, 345/350 f. 285 Dies gegen Rinne, der allein die Verdienstmöglichkeiten in den Vordergrund stellt (DVB1. 1993, 869/870). 281

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte politische Entwicklung der letzten Jahre bietet hinreichenden Anlass, die Funktionsteilung beider Grundrechte zu suchen, anstatt beharrlich den Gegensatz zwischen „bloßen Erwerbsaussichten" und dem „Erworbenen" hervorzuheben. In einer Gesellschaft, die geistige und lokale Flexibilität voraussetzt, zunehmend verschiedenste Qualifikationen fordert und in der die Kompetenz und die Kreativität ihrer Menschen als der „wichtigste Rohs t o f f 4 2 8 7 gelten, sind Wissen und Fertigkeiten mehr als bloße Aussichten. In gewisser Hinsicht sind sie selbst bereits „Bestand", geistig oder manuell Erworbenes, wenn auch nicht Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinn. Diese Überlegung verdeutlicht das Problematische an der Begriffsbildung der Rechtsprechung. Es ist kaum möglich, die Schutzbereiche von Art. 14 GG und Art. 12 GG allein anhand der genannten Termini trennscharf auseinanderzuhalten. Die juristischen Abgrenzungsschwierigkeiten korrelieren mit der gesellschaftlichen Aufwertung der Erwerbsfreiheit. Etwas überspitzt, aber in die richtige Richtung weisend, deklariert Löwer den soziologischen Befund, „daß die Arbeitskraft das Eigentum hinsichtlich der Bedeutung der Existenzsicherung abgelöst h a t " 2 8 8 . Staatliche Restriktionen können den Grundrechtsträger mitunter nachhaltiger beeinträchtigen, als Eigentumseingriffe. Das wird - freilich abhängig von Art und Intensität des Eingriffs - quantitativ sogar die Regel sein, weil die Existenzsicherung des größten Teils der Bevölkerung viel stärker abhängig ist von dem Ertrag der Arbeit als von dem des Sachvermögens. 289 Normativen Ausdruck findet der Bedeutungsgewinn der Berufsfreiheit z.B. in der am 08. 12. 2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der E U 2 9 0 , die in Kapitel I I (Freiheiten) allein drei thematisch einschlägige Artikel vorsieht: das Recht auf Bildung (Art. 14), die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten (Art. 15) sowie die Anerkennung unternehmerischer Freiheit (Art. 16). Hinzu kommen in Kapitel I V (Solidarität), vor allem in den Art. 27 bis 31, Grundrechte, die verschiedene Garantien des Arbeitnehmerschutzes festschreiben.

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Vgl. auch Pauly/Hesselbarth, NJ 1999, 464. Geschäftsbericht der Bundesregierung 1999/2000, S. 34. 288 Unterlassenes Verwaltungshandeln, S. 441; ebenso Trimbach, Möglichkeiten einer Kodifikation, S. 93 ff. Sondervotum von Rupp - v. Brünneck zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. 10 1971 - 1 BvR 757/66, BVerfGE 32, 129/ 141 ff.; Bauschke/Klopfer NJW 1971, 1233; Häberle, JZ 1984, 345 ff. 289 BVerfGE 53, 257/290; Löwer, Staatshaftung für unterlassenes Verwaltungshandeln, 1979, 445; Ossenbühl, Krise, 236/365; ders., StaatshaftungsR, 5. Teil, ΙΠ 2 c, S. 246; Schenke, NJW 1991, 1777/1781 f. 290 AB1EG 2000, Teil C, 364/01. Der Text ist abrufbar im Internet unter http:// db.consilium.eu.int/df/default.asp?lang=de. Vgl. außerdem die Sonderbeilage zu Heft 49 der NJW 2000. 287

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung e) Sekundärer Erwerbsschutz

in der Rechtsprechung

aa) Schutzbereichsüberlagerungen zwischen Art. 12 und Art. 14 GG unter dem Gesichtspunkt des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs" Die angesprochene Affinität zwischen dem Eigentumsgrundrecht und dem der Berufsfreiheit besteht nicht nur in abstrakt-theoretischer Hinsicht. Bei der konkreten Rechtsanwendung wächst sie sich mitunter zum Problem aus. Die tatbestandliche Abgrenzung zwischen den Schutzbereichen beider Grundrechte bereitet in Grenzbereichen enorme Schwierigkeiten. Man kann beinahe schon von einer „partiellen Austauschbarkeit der Schutzbereiche" 2 9 1 sprechen. Der Bereich zweifelhafter Grundrechtszuordnung, die „Schnittmenge" zwischen den Grundrechten, konzentriert sich im Wesentlichen auf den Topos „eingerichteter und ausgeübter Gewerbebetrieb". 292 Tatbestandliche Konturen dieser nach der Rechtsprechung als Gegenstand des Eigentums im Sinne des Art. 14 GG geschützten Rechtsposition 293 sind schwer auszumachen. 294 Da naturgemäß ein enger Bezug auch zu der von Art. 12 GG erfassten unternehmerischen Betätigung besteht, ist eine eindeutige Grenzziehung kaum möglich. 2 9 5 Deutlich wird die Problemlage anhand einer Analyse der Rechtsprechung. Allein in der Theorie erscheint die Abgrenzung k l a r 2 9 6 : Das Schutzgut „eingerichteter und ausgeübter Gewerbebetrieb" wird üblicher Weise definiert als die Sach- und Rechtsgesamtheit des Gewerbebetriebs in ihrer 291 Battis, Erwerbsschutz, S. 16, 83 ff.; Wolff/Bachof, VerwaltungsR I, 9. Auflage, § 61 I e, S. 536 f., die mit diesem Argument eine Ausdehnung des Aufopferungsrecht ausschließlich auf Art. 12 GG befürworten; vgl. hierzu unten 1. Teil Β II 3 d, S. 123 ff. 292 Klein in Soergel, Anh § 839 Rdnr. 223; Schenke, NJW 1991, 1777/1782. 293 Vgl. nur BVerfGE 1, 264/277; 13, 225/229; 22, 380/386; 45, 142/173; 77, 84/118 (skeptisch-restriktive Haltung bezüglich der Einbeziehung des Rechtsguts in den Schutzbereich des Art. 14 GG allerdings in BVerfGE 51, 193/221 f.; 58, 300/ 353; 66, 116/145; 68, 193/222 f.; 74, 129/148; 81, 208/228; JZ 1998, 352/353); BGHZ 23, 157/162; 98, 341/350; BVerwG 49, 365/368 f.; 62, 224/225 f.; 66, 307/309; 67, 84/92. 294 Badura, AöR 98 (1973), 153/155; Kreft, WiuVerw 1978/79, 193/196; Sass, Entschädigungserfordernis, S. 398. Vgl. auch Dörr, NJW 1988, 1049 ff., der im Ergebnis die Abgrenzungsschwierigkeiten freilich für „entschärft" hält (a.a.O., S. 1053). 295 Sproll in Detterbeck/Windhorst/Sproll, StaatshaftungsR, § 14 Rdnr. 38: „Das eigentliche Problem liegt in diesen Fällen bei der Abgrenzung der Reichweite des Eigentumsschutzes". 296 Wieland (in Dreier Art. 14 Rdnr. 153) bleibt dabei stehen und geht auf die praktischen Abgrenzungsschwierigkeiten nicht ein.

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

1

Substanz. 297 Die Eigentumsgarantie erfasst nur „vorhandene Werte, die ins Werk gesetzte Unternehmenstätigkeit in ihrer konkreten Vergegenständlichung" 2 9 8 . In diesem Sinne vergegenständlicht sind nicht die bloßen Erwerbsmöglichkeiten und Gewinnaussichten des Gewerbetreibenden. Sie unterfallen der dem Art. 12 GG zuzurechnenden freien Unternehmertätigk e i t . 2 9 9 Allerdings soll nicht nur der eigentliche Bestand des Unternehmens eigentumsrechtlich geschützt sein, sondern auch einzelne Erscheinungsformen des Gewerbebetriebs, „wozu der gesamte gewerbliche Tätigkeitskreis gehört" 3 0 0 . Hier gerät bereits die theoretische Klarheit der Definition ins Wanken. In der Praxis erweist sich die Subsumtion häufig erst recht als ausgesprochener Drahtseilakt; sie ist stringent kaum möglich. 3 0 1 Wann ist das Unternehmen in seiner Funktionseinheit betroffen, wann wird nicht in die Substanz des Gewerbes eingegriffen? Gerichtliche Entscheidungen lassen häufig eine nachvollziehbare Differenzierung zwischen dem einen oder anderen Grundrecht vermissen, verschiedene Urteile sind schwer miteinander in Einklang zu bringen, weil eine deutliche Dogmatik fehlt. 3 0 2 Es ist nicht überzogen, die Rechtsprechung als ein „Sich-Verlieren in schillernder Kasuistik" 3 0 3 zu umschreiben. Infolge dessen können „Zufälligkeiten" zu einem entschädigungsrechtlichen Alles-oder-Nichts werden. Fragwürdige thematische Zuordnungen finden sich in beide Richtungen: So soll kein relevanter Substanzeingriff (sondern „nur" eine Beeinträchtigung der Berufsfreiheit) in der oben bereits angeführten 304 „Kakaoverordnungsentscheidung" vorliegen, wenn der Staat rechtswidrig bestimmte Produktionsvorgänge, konkret: die Herstellung eines Erzeugnisses zu günstigeren Bedingungen, verbietet. 305 Abweichend vom Bundesgerichtshof lässt sich ohne weiteres vertreten, dass sich infolge des staatlichen Eingriffs nicht nur das vom Unternehmer zu tragende Absatzrisiko realisiert. Wird 297 BVerfGE 1, 264/277; 13, 255/229; BGH NJW 1967, 1857; BGHZ 45, 150/ 155; BGHZ 78, 41/44; BGHZ 111, 349/356 = NJW 1990, 3260/3262 = JZ 1991, 36/37 m. Anm. Maurer. 298 Badura, AöR 98 (1973), 153/165. 299 Ossenbühl, StaatshaftungsR, 4. Teil I 4 b, S. 161. 300 BGHZ 45, 150/155. 301 Ossenbühl, StaatshaftungsR, 4. Teil I 4 b, S. 161 f.; Schenke/Guttenberg, DÖV 1991, 945/952. 302 Wie konturlos der Begriff des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs" ist, verdeutlichen breit gefächerte Ansätze in der Literatur. So wird z.B. vertreten, die rechtswidrige Hinderung der Aufnahme des Gewerbebetriebs durch den Staat dem Schutzbereich des Art. 14 GG einzugliedern (Kloepfer, Grundrechte als Entstehungssicherung und Bestandsschutz, S. 35 ff.). 303 Ossenbühl, StaatshaftungsR, 4. Teil I 4 b, S. 160. 304 Vgl. oben 1. Teil Β I 1, S. 44 ff. 305 BGHZ 111, 349/356. 6 Röder

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung die optimale Nutzung einer betrieblichen Anlage unmöglich gemacht, betrifft der Eingriff nämlich nicht lediglich Rahmenbedingungen der unternehmerischen Betätigung, sondern vielmehr die funktionsgemäße Nutzung der Produktionsbasis und also den Gewerbebetrieb selbst. 306 Die Verteuerung von Herstellungskosten in erheblichem Maße kann durchaus ein Substanzund damit „enteignungsgieicher" Eingriff sein, auch wenn die Produktionsanlagen nach der Umstellung betriebswirtschaftlich noch sinnvoll nutzbar sind. 3 0 7 Gleichermaßen fragwürdig ist die Verneinung einer Verletzung des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes", wenn aus dem Programm eines Computer-Herstellers ein Computerspiel rechtswidrig indiziert wird.308 Auf der anderen Seite soll die Behinderung oder Vereitelung einer „geschäftlichen Veranstaltung" ein eigentumsrelevanter Eingriff sein 3 0 9 , obwohl hier die thematische Einschlägigkeit der Berufsfreiheit naheliegt 310 . Konkret wurden Einbußen infolge eines Fluglotsenstreiks geltend gemacht. Funktionswesentliche Unternehmertätigkeiten dieser Art lassen sich ohne weiteres als typische Form der Berufsausübung einstufen 311 und die Einbußen damit dem „originären Gewährleistungsbereich" des Art. 12 GG zuweisen 3 1 2 . Wenn dem aber so ist, bedeutet die Zuerkennung eines Entschädigungsanspruchs nichts anderes als verschleierten sekundären Erwerbsschutz. An weiteren zweifelhaften Judikaten mangelt es nicht. Beispielsweise wurden im Bereich der Innovation und Unternehmensumstrukturierung die staatlich verhinderte Modernisierung eines Tankstellenbetriebes sowie die rechtswidrige Versagung eines Austausches von alten Spielautomaten gegen neue als Substanzeingriff eingeordnet. 313 Hingegen soll die Erweiterung einer Arztpraxis durch Anschaffung eines Computertomographen lediglich eine Betätigung der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG sein. 3 1 4 Bereits diese Entscheidungen - mögen sie selbst bezüglich der Differenzierung zwischen 306

Maurer, JZ 1991, 38/39 in einer Anmerkung zum Urteil des Bundesgerichtshofs; Kritik an diesem Judikat ebenfalls bei Ossenbühl, StaatshaftungsR, 4. Teil 14 b, S. 162; Schenke/Guttenberg, DÖV 1991, 945 ff. 307 Schenke/Gutenberg, DÖV 1991, 945/952, auch zu weiteren Problemen dieser Entscheidung. 308 OLG Köln, NVwZ 1994, 410. Ossenbühl (StaatshaftungsR, 4. Teil I 4 b, S. 162) bezeichnet die Einordnung als „schwer nachvollziehbar". 309 BGHZ 76, 387/394. 310 Löwer, Unterlassenes Verwaltungshandeln, S. 354, 362; Sass, Entschädigungserfordernis, S. 401. 311 Übertragen streitet die Argumentation von BVerfGE 54, 251/271 gegen die Einordnung als Bestandteil des Art. 14 GG, BGHZ 23, 157/163; 81, 22/23; Badura, AöR 98 (1973), 153/160; Friauf, WiuVerw 1986, 87/99; Löwer, Unterlassenes Verwaltungshandeln, S. 354, 362; Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S. 59 f. 312 Sass, Entschädigungserfordernis, S. 401. 313 BGH WM 1972, 371/372; DVB1. 1972, 827.

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte zukunftsgerichtetem Erwerb und gegenwartsbezogener, vergegenständlichter Unternehmertätigkeit vielleicht noch nachvollziehbar sein - machen als konträre Pole einer Fallgruppe potenzielle Zuordnungsschwierigkeiten im Zwischenbereich deutlich. Eines der markantesten Beispiele hierfür 3 1 5 ist der sogenannte „Werbefahrten-Fair: Der Beschwerdeführer wandte sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein behördliches Verbot innerörtlicher Werbefahrten. Das Bundesverfassungsgericht 316 hob dieses Verbot wegen Verstoßes gegen die durch Art. 12 GG geschützte Berufsfreiheit auf. Der anschließenden zivilgerichtlichen Klage auf Ersatz der Einnahmeausfälle gab der Bundesgerichtshof unter dem Gesichtspunkt des „enteignungsgleichen Eingriffs" statt 3 1 7 : Da der Unternehmer sämtliche betrieblichen Vermögensgüter nicht bestimmungsgemäß hätte einsetzen können, sei der Tatbestand des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs" als Schutzgut des Art. 14 GG betroffen. Derselbe Sachverhalt wird mithin unter die Schutzbereiche beider Grundrechte subsumiert, so dass von einer klaren Abgrenzung der Grundrechte keine Rede sein kann. Diese soll nach wohl herrschender Meinung auch nicht immer nötig sein, weil zwischen beiden Normen zumindest partiell eine Idealkonkurrenz bestehe. So gesehen schließen sich beide Grundrechte tatbestandlich nicht zwingend aus, können also unter thematisch verschiedenen Aspekten nicht nur alternativ, sondern auch kumulativ einschlägig sein. 3 1 8 Der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung fehlt insofern die klare Linie. In vielen Entscheidungen neigt das Gericht dazu, beide Grundrechte deutlich voneinander abzugrenzen. 319 Ob man daraus folgern kann, es tendiere zu einem Exklusivitätsverhältnis 320 , ist zweifelhaft. Denn an anderer Stelle wird die Frage einer möglichen Idealkonkurrenz explizit offen gelassen 321 , teilweise sogar bejaht 3 2 2 . Kennzeichnend für den gesamten Themenkomplex ist folgende Urteilspassage: „Zwar sind beide Grundrechte funktionell 314 BGHZ 132, 181/187 = NJW 1996, 2422/2423 = JZ 1996, 1122/1123 m. Anm. Maurer. 315 Als solches ebenfalls angeführt von Sass, Entschädigungserfordernis, S. 400 f. 316 BVerfGE 40, 371 ff. 317 BGHZ 78, 41 ff. 318 Maurer, JZ 1996, 1124/1125; ders., JZ 1991, 38/39; Papier in Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 220; Scholz in Maunz/Dürig, Art. 12 Rdnr. 122; Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S. 265 f.; ders. in Sachs, Art. 14 Rdnr. 186; ausschließende Abgrenzung demgegenüber z.B. bei Wieland in Dreier, Art. 12 Rdnr. 174 und Art. 14 Rdnr. 152. 319 Z.B. BVerfGE 30, 292/334 f.; 38, 61/102. 320 So offenbar Wendt in Sachs, Art. 14 Rdnr. 186. 321 Z.B. BVerfGE 17, 232/248; 22, 380/386; 34, 252/257. 322 Z.B. BVerfGE 8, 71/79 ff.; 21, 150/154 f.; 50, 290/339 ff., 361 ff., 365.

6*

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung aufeinander bezogen; sie haben jedoch selbständige Bedeutung ... Wie die Schutzbereiche dieser Grundrechte im einzelnen gegeneinander abzugrenzen sind, braucht nicht entschieden zu werden." 3 2 3 Damit verkompliziert sich die Verschränkung beider Grundrechte. Es ist nämlich äußerst schwierig, auszumachen, in welchen Fällen die Grundrechte idealiter konkurrieren und wann sie demgegenüber im Verhältnis jeweils funktionaler Selbständigkeit 324 stehen. Generalklauselartige Umschreibungen helfen im konkreten Einzelfall gerade unter dem Gesichtspunkt des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs" kaum weiter. Dass eine „Idealkonkurrenz bei freier Nutzung des Eigentums zu beruflichen Zwekken oder bei einem Eingriff in eine berufliche Tätigkeit, die funktionsnotwendig mit der Nutzung eines bestimmten Eigentumsrechts verbunden i s t " 3 2 5 , in Betracht kommt, ist eine wenig aufschlussreiche Erkenntnis. Außerdem wird die Prämisse partieller Idealkonkurrenz von den Gerichten scheinbar nicht immer wahrgenommen und aufgegriffen. Viele Entscheidungen bemühen sich nämlich ausschließlich um die Markierung einer Grenzlinie zwischen dem Eigentum und der Berufsfreiheit. Zum Beispiel hätte die schon mehrfach erwähnte „Kakaoverordnungsentscheidung" Anlass gegeben, auch eine mögliche Idealkonkurrenz und so das Problemfeld insgesamt differenzierter zu beleuchten als es der Bundesgerichtshof getan hat. Das Bundesverfassungsgericht hatte einen Verstoß der in Rede stehenden Kakaoverordnung gegen Art. 12 GG festgestellt. 326 Es wäre im anschließenden Entschädigungsverfahren angebracht gewesen, einen Anspruch aus „enteignungsgleichem Eingriff 4 unter dem Gesichtspunkt einer rechtswidrigen Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ganz dezidiert zu problematisieren. 327 Und zwar aus folgendem Grund: Eine zulässige Berufsausübungsregelung wird in der Regel als zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung angesehen. 328 Falls auch die umgekehrte Relation zutrifft, hätte der Anspruch bejaht werden müssen. In diesem Kontext stellt sich die Frage nach einer Idealkonkurrenz beider Grundrechte in aller Schärfe. Darüber hinaus setzt der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung das die Entschädigung rechtfertigende Sonderopfer mit der Rechtswidrigkeit eines Grundrechtseingriffs gleich. 3 2 9 Diese

323

BVerfGE 50, 290/361 f. Scholz in Maunz/Dürig, Art. 12 Rdnr. 122. 325 Scholz in Maunz/Dürig, Art. 12 Rdnr. 138. 326 BVerfGE 53, 135 ff. 327 Nach Schenke/Gutenberg, DÖV 1991, 945/951 hätte das Gericht den Anspruch bejahen „müssen". 328 BVerfGE 21, 150/160; 50, 290/364 f.; BGH NJW 1986, 2499/2500; Papier in Maunz/Dürig Art. 14 Rdnr. 220; Wendt in Sachs, Art. 14 Rdnr. 186. 329 BGHZ 32, 208/211 f.; 58, 124/127; 78, 41/43 f. 324

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte Voraussetzung war hier wegen der Verletzung des Art. 12 GG erfüllt. Leider sind die Entscheidungsgründe in Bezug auf die dogmatischen Konturen des Eigentumsgrundrechts inhaltlich unscharf 330 , weshalb dieser spezifische Blickwinkel vom Bundesgerichtshof leichter Hand umschifft wurde. Aus der dargestellten Judikatur lässt sich ersehen, dass der „enge funktionale Zusammenhang" zwischen Berufsfreiheit und Eigentum im Bereich des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs" fast zu einer Untrennbarkeit kulminiert. Es entsteht eine diffuse Grauzone, eine „grundrechtliche Schnittmenge", die bislang nicht durch ein befriedigendes Konzept aufgelöst werden konnte. Weder ist in verbindlichem Maße geklärt, ob eine Idealkonkurrenz zwischen Art. 12 GG und Art. 14 GG grundsätzlich möglich ist und - falls ja - in welchen Fällen beide Grundrechte nebeneinander anwendbar sind; noch existiert ein hinreichend gesicherter und klarer Maßstab dafür, wie Berufsfreiheit und Eigentum bei Realkonkurrenz trennscharf voneinander abzugrenzen sind. Es finden sich also in diesem Grenzbereich auf der Grundrechtslandkarte insgesamt viele „weiße Flecken", die geeignet sind, die Rechtssicherheit im Aufopferungsrecht nachhaltig zu gefährden. Die oft zweifelhafte Zuordnung zu dem einen oder anderen grundrechtlichen Schutzbereich wird zum alles entscheidenden Zünglein an der Waage, das über die Ausgleichspflicht der öffentlichen Hand entscheidet - angesichts der genannten Schwierigkeiten ein kaum erträglicher Befund. 3 3 1 Ein Haftungsprozess bedeutet wird für den rechtsschutzsuchenden Bürger ein nur schwer kalkulierbares Risiko. Die theoretisch denkbare Lösung, den Topos des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs" gemäß der zwischenzeitlichen Tendenz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 332 generell vom Eigentumsschutz auszunehmen, verbietet sich. Auf diese Weise entstünden intolerable Haftungslücken im gewerblichen Bereich. 3 3 3 Solange nicht eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Abgrenzung in anderer, befriedigender Weise gelingt, können Rechtssicherheit und Gerechtigkeit allein dadurch erreicht werden, dass die Entschädigungspflichtigkeit auf Art. 12 GG ausgedehnt wird. Aus diesem Grund ist die Schaffung von Rechtssicherheit für die Ausdehnung des Aufopferungsan330

Schenke/Gutenberg, DÖV 1991, 945/951 mit detaillierter Kritik. Ähnlich Schenke, NJW 1991, 1777/1782: „Es will schwerlich einleuchten, dass die in diesem Streit (seil.: Hinderung der Aufnahme des Gewerbebetriebs als Verletzung von Art. 12 GG oder Art. 14 GG) bezogene Position zugleich ein Verdikt über die Entschädigungspflicht von Rechtsverletzungen beinhalten soll."; auch Bender sieht das Kritische an dem „Überschneidungsbereich" zwischen dem Grundrecht des Art. 14 GG und dem des Art. 12 GG (StaatshaftungsR, 3. Auflage, Rdnr. 408 und 2. Auflage, mit Fußnote 131 und 158). 332 BVerfGE 51, 193/221 f.; 58, 300/353; 66, 116/145; 68, 193/222 f.; 74, 129/ 148; 81, 208/228; JZ 1998, 353. 333 Sass, Entschädigungserfordernis, S. 402. 331

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung spruchs ein Argument von erheblicher Bedeutung. 334 Dies gilt um so mehr, als bereits jetzt unter dem Topos des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs" Eingriffe entschädigungsrechtlich sanktioniert werden, die eher der Berufsfreiheit zuzuschreiben sind. Wenn man so will, entsteht auf diese Weise in Einzelfällen faktisch bereits de lege lata sekundärer Erwerbsschutz. Es ist nur ein kleiner Schritt, diesen über die „Schnittmenge" der beiden Grundrechte hinaus im Kernbereich des Art. 12 GG zu etablieren. Man kann hier fast schon von einem „Gebot der Methodenehrlichk e i t " 3 3 5 sprechen. Auch Gerechtigkeitsgesichtspunkte streiten für eine Einbeziehung des Erwerbsschutzes: Die Verhinderung einer gewerblichen Existenzgründung kann sich für den Grundrechtsträger als weitaus schärfere staatliche Sanktion darstellen, als so mancher Eingriff in den bestehenden Gewerbebetrieb. Eine derartige entschädigungsrechtliche Differenzierung ist ebenso problematisch wie in sozialpolitischer Hinsicht die uneingeschränkte Privilegierung der selbständigen Berufsausübung gegenüber der abhängigen Arbeit. Inwieweit diese „Schnittmenge" zwischen den Schutzbereichen geeignet ist, die Extension des aufopferungsrechtlichen Rechtsgüterkanons auf Art. 12 GG zu limitieren, wird noch zu beleuchten sein. 3 3 6 Sie macht jedenfalls unter verschiedenen Aspekten Friktionen innerhalb der Rechtsprechung deutlich und stellt zugleich deren Fundamt in Frage. bb) Sekundärhaftung im Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG durch Vermögensausgleichsnormen In einem anderem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht im Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG sogar eine Sekundärhaftung etabliert. Nach dieser Rechtsprechung wird unter bestimmten Voraussetzungen eine staatliche Pflicht zur Schaffung von Vermögensausgleichsnormen anerkannt, wenn Private zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden. 3 3 7 Ein monetärer Ausgleich ist bei dieser sogenannten „Indienstnahme Privat e r " 3 3 8 nach der Rechtsprechung vor allem dann geboten, sofern ein Gewerbetreibender kraft Gesetzes zur unentgeltlichen Ausführung von Tätigkeiten verpflichtet wird, die die Kostenbelastung eines Betriebes wesentlich stei334

Dies gegen Rinne, DVB1. 1993, 869, der die schwere Trennbarkeit der Grundrechte ohne nähere Begründung als nicht geeignete „allgemeine Erwägung" abtut. 335 Sass, Enschädigungserfordernis, S. 402. 336 Vgl. unten 1. Teil Β II 3 d, S. 123 ff. 337 BVerfGE 22, 380 ff.; 30, 292 ff.; 33, 240 ff.; 47, 285 ff.; 54, 251 ff. 338 Feger, Ausgleichsansprüche für die Indienstnahme Privater für Verwaltungsaufgaben, vor allem S. 157 ff.; Gallwas, BayVBl. 1971, 245 ff.; H.P. Ipsen, Festschrift für E. Kaufmann, S. 141 ff.; ders., AöR 90 (1966), 383 ff.

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte gern 3 3 9 , die wegen ihrer Eigenart nur im Rahmen einer Berufstätigkeit ordnungsgemäß erbracht werden können 3 4 0 oder die ein vermögenswertes Erwerbsgeschäft zu wirtschaftlich festen Tarifen darstellen 341 . Eine Ausgleichspflicht folgert das Gericht konkret aus Art. 12 GG in Verbindung mit dem Übermaßverbot 342 bzw. dem Gleichheitssatz 343 bei Überschreitung der Zumutbarkeitsgrenze. Diese soll erreicht sein im Fall einer Existenzgefährdung des Betriebes 344 , wenn dem Gewerbetreibenden keine angemessene Rendite verbleibe 345 und schließlich, wenn die Indienstnahme des Bürgers ein typisches Erwerbsgeschäft beinhaltet, das einen eigenen, wirtschaftlich realisierbaren Vermögenswert hat 3 4 6 . Diese Entschädigungspflicht wird also - wenn auch im Zusammenspiel mit anderen Verfassungsgrundsätzen 347 - eindeutig in Art. 12 Abs. 1 GG lokalisiert und primär aus diesem Grundrecht heraus entwickelt. 3 4 8 Ohne an dieser Stelle die Rechtsgrundlage des Ausgleichs näher überprüfen zu wollen, verdeutlicht seine Existenz jedenfalls, dass „Berufsfreiheit" und „Kompensation" keine so wesensfremden Begriffe sind, wie die Aufopferungsrechtsprechung des Bundesgerichtshofs glauben macht. Gerade weil sowohl bei der „Indienstnahme Privater" als auch im Aufopferungsrecht die ungleiche Belastung von Bürgern (Art. 3 Abs. 1 GG bzw. Sonderopfer) mitentscheidende Kriterien sind, zeichnen sich die Entschädigungsvoraussetzungen trotz unterschiedlicher Einordnung durch eine gewisse Parallelität aus. Der Sekundärschutz durch Schaffung von Wertausgleichsnormen sowohl im Gewährleistungsbereich des Art. 14 Abs. 1 GG (als „ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung") als auch des Art. 12 GG spricht für einen ebenfalls gleichgerichteten Sekundärschutz für beide Grundrechte durch Aufopferungsentschädigung. Auch wenn hier ein zwingender Schluss

339

BVerfGE 22, 380 ff; 30, 292 ff. BVerfGE 22, 240 ff; 54, 251 ff. 341 BVerfGE 47, 285 ff; 33, 240 ff. 342 BVerfGE 22, 380/385; 30, 292/325 f.; 33, 240/246 f; 47, 285/321. 343 BVerfGE 30, 292/333 f.; 54, 251/271. 344 BVerfGE 54, 251/271; auch BVerfGE 41, 360/374. 345 BVerfGE 30, 292/313 f.; 47, 285/325. 346 BVerfGE 54, 251/274 ff. 347 Mögliche Folgerungen aus dieser „Melange" im Rahmen des Art. 12 GG und Art. 14 GG in Richtung einer Entschädigung aus übergeordneten, „meta-grundrechtlichen" Verfassungsprinzipien bei Sass, Entschädigungserfordemi s, S. 118 ff. 348 Das verdeutlicht zweifelsfrei der Prüfungsansatz in BVerfGE 22, 380/383; 30, 292/312; 33, 240/244; 47, 285/318. Darauf verweist auch Friauf (Festschrift für Jahrreiß, S. 45/63), der jedoch den Problemschwerpunkt in dem Gleichheitssatz verortet. BVerfGE 54, 251/271: Unvereinbarkeit sowohl mit Art. 12 Abs. 1 GG als auch mit dem Gleichheitssatz. Auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip und den Gleichheitssatz rekurriert Schulze-Osterloh, NJW 1981, 2537/2541 ff. 340

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung von dem einen auf den anderen Bereich nicht ohne weiteres möglich ist, gerät die strikte Ablehung erwerbsrechtlichen Aufopferungsschutzes seitens der Rechtsprechung ins Wanken. Der Umstand, dass Art. 12 GG Formen sekundärer Haftung kennt und bedingt, führt im Aufopferungsrecht ganz akut zu der Frage der Teilbarkeit der „Kompensationsaffinität" eitles Grundrechts. Der Bundesgerichtshof geht sie nicht an, obwohl deren Verneinung auf den ersten Blick näher liegt, als ihre Bejahung. Alle angeführten Argumente sprechen für eine Einbeziehung der Berufsfreiheit in die „Aufopferungshaftung". Im Einführungsfall 349 hätte die Klage demnach nicht mit der Begründung abgewiesen werden dürfen, dass der Klägerin kein aufopferungsrechtlich geschütztes Recht zustehe.

2. Aufopferungshaftung bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Hoheitliche Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts werden von der Rechtsprechung aufopferungsrechtlich nicht sanktioniert. Zwar hat der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung offengelassen, ob der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht „überhaupt einen Aufopferungsanspruch auszulösen vermag" und die Klage mangels Sonderopfers abgewiesen. 3 5 0 Allerdings ist das wie schon bezüglich der Berufsfreiheit 351 auch in diesem Kontext als eine zu vernachlässigende Prüfungsbesonderheit anzusehen, weil sich der Bundesgerichtshof mittlerweile definitiv darauf festgelegt hat, das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht in den Rechtsgüterkanon des Aufopferungsanspruchs aufzunehmen. Gerade bei diesem Rechtsgut verwundert die Zurückhaltung. Vor allem muss die Berufung auf die fehlende judikative Kompetenz zu einer entsprechenden Erweiterung widersprüchlich erscheinen. Sie widerstreitet nämlich der Nachhaltigkeit und dem rechtsschöpferischen Engagement, mit welchem der Bundesgerichtshof den zivilrechtlichen Sekundärschutz des Persönlichkeitsrechts gegen zum Teil heftigen Widerstand in der Lehre 3 5 2 etablierte. Es drängt sich die Vermutung auf, dass die auf den ersten Blick gegensätzliche Behandlung desselben Rechts in den beiden Rechtsgebieten nicht reibungsfrei möglich ist. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. Gegebenenfalls findet sich im Begründungssystem der

349

Vgl. oben Einleitung FN 66. BGHZ 50, 14/18 ff. = NJW 1968, 989/990 = JZ 1968, 463 m. Anm. Leipold; Konow, JR 1969, 6. 351 Vgl. oben 1. Teil Β I 1, S. 44 ff. 352 Vgl. z.B. Larenz, NJW 1965, 1/8 f.; Larenz/Canaris, Schuldrecht Π 2, § 80 I 4 a, S. 494. Kritik neueren Datums z.B. bei Hillgruber, JZ 1996, 118/121. 350

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte Rechtsprechung zur zivilrechtlichen Sekundärrelevanz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eine Stütze auch für die aufopferungsrechtliche Haftung bei hoheitlichen Eingriffen. a) Grundrechtliche

Verankerung

des deliktischen Persönlichkeitsschutzes

aa) Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG als Haftungsgrundlage Mit der „Schachtbrief-" 353 und der „Herrenreiterentscheidung" 354 etablierte der Bundesgerichtshof das allgemeine Persönlichkeitsrecht im privaten Deliktsrecht. Im ersten Urteil erkannte er das Rechtsgut als „sonstiges Recht" im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB a n 3 5 5 , im zweiten bejahte er im Privatrechtsverhältnis in analoger Anwendung des § 847 B G B 3 5 6 erstmals einen Entschädigungsanspruch wegen Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht 357 . Bereits daraus kann man Rückschlüsse auf das öffentliche Aufopferungsrecht ziehen: Die methodengerechte Lückenfüllung durch Analogie bedingt nämlich eine Affinität zwischen den Rechtsgütern des § 847 BGB, die mit denen des Art. 2 Abs. 2 GG im wesentlichen identisch sind, und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Die Übertragung einer gesetzlich geregelten Rechtsfolge auf einen nicht kodifizierten Tatbestand setzt neben der planwidrigen Regelungslücke voraus, dass beide Sachverhalte in den für die rechtliche Einordnung maßgeblichen Punkten gleich zu 353

BGHZ 13, 334 ff. BGHZ 26, 349 ff. 355 In welcher Weise diese Integration erfolgt, ist in der zivilrechtlichen Literatur umstritten. Zum Teil wird es schlicht wie vom Bundesgerichtshof als „sonstiges Recht" angesehen. Andere beschränken die sonstigen Rechte im Hinblick auf die Systematik der Norm auf eigentumsähnliche Rechte. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wird demzufolge - wohl entgegen der ursprünglichen legislativen Konzeption - wie im Reformentwurf 1967 vorgeschlagen den Lebensgütem (Leben, Körper, Gesundheit und Freiheit) zugeordnet (z.B. Mertens in Münchener Kommentar, § 823 Rdnr. 123 ff.; Medicus, Bürgerliches Recht, Rdnr. 615). 356 Diese Analogie erscheint angesichts § 253 BGB als nicht unproblematisch und wurde verschiedentlich als Richterrecht contra legem eingeordnet (z.B. Flume, Richter und Recht, Schlußvortrag, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II, S. Κ 5 ff.; Larenz, Referat zum 42. DJT, Bd. II, S. D 25/34 ff.; ders., NJW 1965, 1/8 f.; Thomas in Palandt, 29. Auflage, § 847 Anm. 1 m. w. N.). Mittlerweile ist die Kritik in diese Richtung jedoch weitgehend (anders z.B. noch Hillgruber, JZ 1996, 118/ 121) verstummt, nicht zuletzt wegen der Bestätigung der Rechtsschöpfung bzw. -fortbildung des Bundesgerichtshofes seitens des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 34, 269/286 ff., „Soraya"). 357 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde bereits durch die Urteile vom 25.05.1954, I ZR 211/53, = BGZ 13, 334/338 und vom 02.04.1957, VI ZR 9/56 = BGHZ 24, 72 ff. in die Privatrechtsordnung integriert und als „sonstiges Recht" im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB anerkannt. 354

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

bewerten sind. 3 5 8 Das hier maßgebliche Vergleichsobjekt ist die immaterielle Haftungsfunktion der betroffenen Rechte. Die Rechtsfolge des § 847 BGB lässt sich nur dann auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht erstrecken, wenn man die Verletzung dieses Rechts und die der Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit (Körper und Gesundheit) und Freiheit als in gleicher Weise entschädigungsbedürftig einstuft. Methodologisch wenig überzeugend 3 5 9 hat sich der Bundesgerichtshof ursprünglich auf einen Vergleich zwischen der körperlichen Freiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht beschränkt, indem er dieses auf die „Freiheit im Geistigen" reduzierte. 3 6 0 Allerdings prüfte er die Analogievoraussetzungen allenfalls beiläufig. Die eigentlich tragende Begründung für die Ausgleichspflichtigkeit bei einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts beinhaltet vor allem folgende Passage der Entscheidungsgründe der „Herrenreiterentscheidung": „Die Art. 1 und 2 des Grundgesetzes schützen, und zwar mit bindender Wirkung auch für die Rechtsprechung, das, was man die menschliche Personhaftigkeit nennt; ja sie erkennen in ihr einen der übergesetzlichen Grundwerte der Rechtsordnung an. Sie schützen damit unmittelbar jenen inneren Persönlichkeitsbereich, der grundsätzlich nur der freien und eigenverantwortlichen Selbstbestimmung des Einzelnen untersteht und dessen Verletzung rechtlich dadurch gekennzeichnet ist, daß sie in erster Linie sogenannte immaterielle Schäden, Schäden, die sich in einer Persönlichkeitsminderung ausdrücken, erzeugt. Diesen Bereich zu achten und nicht unbefugt in ihn einzudringen, ist ein rechtliches Gebot, das sich aus dem Grundgesetz ergibt. Ebenso folgt aus dem Grundgesetz die Notwendigkeit, bei Verletzung dieses Bereichs Schutz gegen die der Verletzung wesenseigentümlichen Schäden zu gewähren. ... Nachdem nunmehr das Grundgesetz einen umfassenden Schutz der Persönlichkeit garantiert und die Würde des Menschen sowie das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit als einen Grundwert der Rechtsordnung anerkennt ... und da ein Schutz der »inneren Freiheit4 ohne das Recht auf Ersatz auch immaterieller Schäden weitgehend unwirksam wäre, würde es eine nicht erträgliche Mißachtung dieses Rechts darstellen, wollte man demjenigen, der in der Freiheit der Selbstentschließung über seinen persönlichen Lebensbereich verletzt ist, einen Anspruch auf Ersatz des hierdurch hervorgerufenen immateriellen Schadens versagen."361 Zentral ist demnach die verfassungsrechtliche Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Ganz im Sinne dieser Erkenntnis und des Gebots der Methodenehrlichkeit leitet der Bundesgerichtshof den Anspruch heute direkt aus „dem Schutzauftrag" der Art. 2 Abs. 1 i . V . m . Art. 1 GG ab. Die Analogie zu § 847 BGB hat er fallengelassen. 362 Obwohl in den darauffolgenden Entscheidungen das Grundrecht nicht immer als Haftungsgrund er358 359 360 361

Laranz, Methodenlehre, S. 202. So auch Hager in Staudinger, § 823 Rdnr. C 2. BGHZ 26, 349/356. BGHZ 26, 349/355 f.

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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wähnt i s t 3 6 3 , sondern sich das Gericht bisweilen mit der Feststellung begnügt, das allgemeine Persönlichkeitsrecht sei als „sonstiges Recht" im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB anerkannt, bedeutet dies keineswegs eine erneute dogmatische Kehrtwende. 364 Sie beschreibt lediglich das Resultat einer verfassungskonformen Auslegung der Norm, ohne den methodischen Vorgang als solchen repetierend darzulegen. Somit ist diese Judikatur das „prominenteste Beispiel" für eine „Appellwirkung" der Grundrechte im haftungsrechtlichen Bereich. 3 6 5 Auch das Bundesverfassungsgericht sieht „keinen Anlaß, dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs von Verfassungs wegen entgegenzutret e n " 3 6 6 . Statt dessen rechtfertigte es in einer neueren Entscheidung beispielsweise die Zahlung höheren Schmerzensgeldes bei Persönlichkeitsverletzungen gegenüber psychischen Gesundheitsschäden mittels Rückgriffs auf die verfassungsrechtliche Ableitung des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes: beiden Fallkonstellationen bestehen jedoch sachlich begründete Unterschiede, die eine unterschiedliche Behandlung als verfassungsrechtlich gerechtfertigt erscheinen lassen. Insoweit ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Anspruch auf Geldentschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen nicht (mehr) unmittelbar auf eine Analogie zu § 847 BGB gestützt wird. ... Vielmehr handelt es sich bei der Zubilligung von Schmerzensgeld um ein Recht, das auf den Schutzauftrag aus Art. 1 und Art. 2 I GG zurückgeht und seine Grundlage in § 823 I BGB in Verbindung mit diesen Vorschriften findet. In materieller Hinsicht beruht die Zubilligung einer Geldentschädigung - der Unterschied zu dem Schmerzensgeld zeigt sich neben der unterschiedlichen Rechtsgrundlage auch in der abweichenden Terminologie - auf dem Gedanken, dass ohne einen solchen Anspruch Verletzungen der Würde und Ehre des Menschen häufig ohne Sanktion „Zwischen

362 BGHZ 128, 1/15 unter Berufung auf BVerfGE 34, 269/292; BGH NJW 1985, 1617; NJW 1996, 984/985; NJW 1996, 985/987. 363 Z.B. in JZ 1979, 102 f. 364 A.A. scheinbar Schwerdtner in Münchener Kommentar, § 12 Rdnr. 156. 365 Stern ΙΠ/1, § 66 III 2, S. 685 mit Fußnote. 282; ebenso: Dunz in RGRK, § 823 Anh. I Rdnr. 7; Löffler in Handbuch des Presserechts, 42. Kap. I 1 Rdnr. 1; a.A. Larenz/Canaris, Schuldrecht II 2, § 80 I 4 a, S. 494. Freilich kann man sich über das Verhältnis von Verfassungsrecht und Privatrecht trefflich streiten und gerade im vorliegenden Zusammenhang eine Überbewertung verfassungsrechtlichen Einflusses auf die Zivilrechtsordnung sehen (vgl. nur Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnormen in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 227 ff., Diederichsens (AcP 198 (1998) S. 171 ff.) vehementes Plädoyer für eine Rückbesinnung auf privatrechtliche Lösungen und Schwerdtner, Persönlichkeitsrecht, S. 255 ff.). Allerdings soll der Blick hier ja allein auf die innere Schlüssigkeit der Rechtsprechung im Verhältnis zwischen Deliktsrecht und Aufopferung gerichtet sein. 366 BVerfGE 34, 269/281 („Soraya").

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung blieben mit der Folge, dass der Rechtsschutz der Persönlichkeit verkümmern würde."367 Diese Rechtsprechung ist unmissverständlich. 368 Wenn nach dem Bundesgerichtshof „aus dem Grundgesetz", konkret dem grundrechtlichen „Schutzauftrag" die „Notwendigkeit" folgt, Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht entschädigungsrechtlich zu sanktionieren, wenn das Bundesverfassungsgericht die „Grundlage" der Entschädigung in dem Grundrecht sieht, handelt es sich hierbei ohne Zweifel um eine grundrechtliche Haftungsfunktion. Ergebnis einer methodengetreuen Auslegung ist die privatrechtliche Entschädigungspflicht nämlich einzig dann, wenn die inhaltlichen Vorgaben des Grundrechts so detailliert sind, dass es selbst die Rechtsfolge „immaterieller Ersatz" terminiert. Stellt einzig die monetäre Sanktionierung eine „Achtung des Grundrechts" dar, muss sie Bestandteil des grundrechtlichen Regelungsprogramms sein. Alternativkonzepte zu dieser Rechtsprechung sind gemäß der Prüfungsmaxime dieses Abschnitts 369 nicht auf ihre Vorzugswürdigkeit hin zu überprüfen. An dieser Stelle ist allein die Erkenntnis maßgeblich, dass es mit der Judikatur nicht zu vereinbaren ist, das Schutzniveau des deliktsrechtlichen allgemeinen Persönlichkeitsrechts unter das verfassungsrechtlich geforderte abzusenken. Beispielsweise könnte die Entschädigung auf Grundlage der Rechtsprechung nicht lediglich durch eine erweiterte strafrechtliche Sanktionierung von Persönlichkeitsrechtsverletzungen ersetzt werden. 3 7 0 Der in der Literatur teilweise unternommene Versuch, die Dogmatik des Bundesgerichtshofs im Grundsatz zu adaptieren, zugleich aber die Zugriffsund Gestaltungsmöglichkeit des bürgerlich-rechtlichen Gesetzgebers „in vollem Umfang" 3 7 1 zu erhalten, ist in sich widersprüchlich. Teilt man die Prämissen der Rechtsprechung, ist eine Unterscheidung zwischen einem verfassungsrechtlichen und einem privatrechtlichen Persönlichkeitsrecht 372

367

BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NJW 2000, 2187 f. Das gegen Schwerdtner in Münchener Kommentar, § 12 Rdnr. 286. 369 Zur Erinnerung: Die Prämissen der Rechtsprechung werden in diesem Abschnitt übernommen, um so innere Widersprüche aufzeigen zu können. 370 So aber Ehmann in Erman, Anh zu § 12 Rdnr. 78; Hager in Staudinger § 823 Rdnr. C 4; Jarass in Jarass/Pieroth, Art. 2 Rdnr. 25; Jarass, NJW 1989, 857/858; Schwerdtner in Münchener Kommentar, § 12 Rdnr. 286; ders., Persönlichkeitsrecht, S. 257; Laranz/Canaris § 80 I 3, S. 492 f., die allerdings die Unvereinbarkeit seines Ansatzes mit der Rechtsprechung deutlich hervorheben („... entgegen der Ansicht des BGH...", § 8 0 1 3b, S. 493). 371 Fragwürdig ist z.B. die Ansicht von Jarass (NJW 1989, 857/858), nach dem die unbegrenzte gesetzgeberische Freiheit Theorie bleibt, da sich die Verkürzung des privatrechtlichen Schutzes an den durch das Grundrecht gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen messen lassen müsse. 372 Vgl. die in FN 370 Genannten. 368

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte in einer solchen Form nicht möglich. Die auf die nur mittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht gestützte Differenzierung negiert und umgeht den spezifisch monetären „Schutzauftrag" der Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 GG. Sie dient ausschließlich dazu, die verfassungsrechtlichen Vorgaben im Privatrecht nicht umsetzen zu müssen, sondern eine legislative Dispositionsbefugnis zu erhalten. In letzter Konsequenz führt sie sogar dazu, dass der privatrechtsgestaltende Gesetzgeber wie auch der Zivilrichter an diesen Norminhalt des Grundrechts nicht unmittelbar gebunden wären. 3 7 3 Denn das konkrete Verfassungsgebot soll ja gerade nicht im Privatrecht transformiert werden. Folglich könnte der durch ein zivilgerichtliches Urteil in seinem Persönlichkeitsrecht Verletzte dagegen nicht mit Aussicht auf Erfolg eine Verfassungsbeschwerde anstrengen. 374 Mäße man dem privatrechtlichen Persönlichkeitsrecht nämlich keinen Verfassungsrang bei, mangelte es an einer Grundrechtsverletzung und damit an einer Voraussetzung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. § 90 BVerfGG. Es bestünde die Gefahr, mit dem Persönlichkeitsrecht kollidierende Grundrechte anderer allein aufgrund ihres Verfassungsrangs einseitig zu bevorzugen, ohne eine Konfliktlösung im Wege praktischer Konkordanz herbeizuführen. 375 Diese Form des Nebeneinander zweier Persönlichkeitsrechte ist mit der Funktion des Art. 1 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren. 376 Ein selbständiges privatrechtrechtliches Persönlichkeitsrecht erweist sich als verfassungswidrig, wenn es den grundrechtlich geforderten Mindestschutz im Zivilrecht nicht gewährt. Dass die Grundrechte nach ganz herrschender Meinung zwischen Privatrechtssubjekten nur „mittelbar" wirken, bedeutet keine mittelbare Wirkung im „Privatrecht" als solchem, da der Privatrechtsgesetzgeber und die Privatrechtsprechung unmittelbar an die Verfassung gebunden bleiben. 3 7 7 Bejaht 373 Dies hebt Hager (in Staudinger § 823 Rdnr. C 4) unter Verweis auf v. Münch in v. Münch/Kunig, Vorbem. Art. 1-19 Rdnr. 33; Dürig in Maunz/Dürig, Art. 3 I Rdnr. 506, 510 u.a. zu Recht hervor. 374 Ebenso Hager in Staudinger § 823 Rdnr. C 4. 375 Noch schärfer Hager in Staudinger § 823 Rdnr. C 10. 376 BVerfGE 52, 203/207: „Im gerichtlichen Verfahren tritt der Richter den Verfahrensbeteiligten formell und in unmittelbarer Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt gegenüber. Er ist daher nach Art. 1 Abs. 3 GG bei der Urteilsfindung an die insoweit maßgeblichen Grundrechte gebunden und zu einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung verpflichtet." Ebenso BGHZ 24, 72/77, hingegen im Sinne einer nur mittelbaren Bindung offenbar noch BVerfGE 7, 198/207 („Lüth") und E 73, 261, wonach eine Bindung des Richters an die Grundrechte bei der streitentscheidenden Tätigkeit auf dem Gebiet des Privatrechts nicht unmittelbar, sondern nur insoweit in Betracht kommt, als das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt zugleich Elemente objektiver Ordnung aufgerichtet hat, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Geltung haben, mithin auch das Privatrecht beeinflussen. 377 Badura, Staatsrecht, Rdnr. C 21; Bleckmann, Staatsrecht Π, § 10 V 7a; Canaris, AcP 184 (1984), 201/210 ff.; ders., JuS 1989, 161/162; Hesse, Grundzüge des

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung man folglich mit der Rechtsprechung den kompensatorischen Schutzgehalt des Grundrechts im Privatrecht, kann er nicht zugleich unter Berufung auf eine verringerte Privatrechtswirkung des Grundrechts der Disposition des Gesetzgebers überlassen werden. Immerhin sind die genannten Folgen von den meisten Verfechtern eines gegenüber der Verfassung verselbständigten zivilrechtlichen Persönlichkeitsrechts wohl nicht intendiert. 378 Mitunter werden sie konstruktiv dadurch unterbunden, dass die Vorgaben des verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsrechts im Fall einer Rechtsverkürzung zum Maßstab für die Reichweite des privatrechtlichen Persönlichkeitsrechts gemacht werden. 3 7 9 Die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers hängen danach letztlich doch wieder von den Parametern des Grundrechts ab. Das stellt den Sinn einer Differenzierung zwischen zwei Arten des Persönlichkeitsrechtes grundsätzlich in Frage. Zwar kann ein unterschiedliches Niveau ohne weiteres dadurch entstehen, dass der Gesetzgeber den privatrechtlichen Schutz des Persönlichkeitsrechts intensiviert und gegenüber den verfassungsrechtlichen Vorgaben anhebt. Dies ist aber gesetzgebungstechnisch unproblematisch und stellt keine Besonderheit dar, da die Verfassung hier wie auch sonst für den bürgerlich-rechtlichen Normgeber nur ein Schutzminimum gebietet. 380 Letztlich reduziert sich der unterschiedliche konzeptionelle Ansatz dann auf einen rein rechtskonstruktiven Unterschied, wenn man in welcher Form auch immer anerkennt, dass das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG den unabänderlichen, auch vom Privatrechtsgesetzgeber und Zivilrichter zu achtenden Mindestbestand des Schutzinhaltes vorgibt. Diese Erkenntnis besagt für sich genommen freilich noch nichts darüber, auf welchem Niveau das nicht zu unterschreitende „Untermaß" 3 8 1 anzusiedeln ist, d.h. welche Transformationsanforderungen das Grundrecht an die Staatsgewalten stellt. Wie gesehen umfasst der grundrechtliche Mindestgehalt nach der höchstrichterlichen Interpretation der Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 G G 3 8 2 auch eine Kompensation für Verletzungen des allgemeinen PersönlichkeitsVerfassungsrechts, Rdnr. 355; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 177 ff; Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte; ders., NJW 1973, 229/230. 378 Hager in Staudinger § 823 Rdnr. C 5. 379 Z.B. Jarass, NJW 1989, 857/858, Larenz/Canaris, Schuldrecht II 2, § 80 I b, S. 493. 380 Hager in Staudinger § 823 Rdnr. C 4; Jarass, NJW 1989, 857/858, Larenz/ Canaris, Schuldrecht II 2, § 80 I b, S. 493. 381 Vgl. zu dem Begriff des Untermaßverbots vgl. z.B. Canaris, AcP 184 (1984), 201/226 f.; ders., JuS 1989, 161/163. 382 Entgegen Jarass (NJW 1989, 857/858) ist aus der Entscheidung des BVerfGE 34, 269/281 keine Aussage zum Rang des allgemeinen Persönlichkeitsrechts an sich abzuleiten (ebenso Hager in Staudinger § 823 Rdnr. C 5).

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte rechts. Zum Schutzminimum gehört nach der Rechtsprechung der Ersatz materieller und immaterieller Nachteile. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben versagen dem einfachen Recht insoweit die Eigenständigkeit 383 , die Entschädigungspflicht ist grundrechtlich vorgegeben. Das setzt dogmatisch keineswegs zwingend eine unmittelbare Drittwirkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts voraus 384 , obwohl noch die „Leserbriefentscheidung" 385 eine derartige Grundrechts Wirkung nahelegte. Dort leitete der Bundesgerichtshof unter Aufgabe der reichsgerichtlichen Rechtsprechung 386 erstmalig die privatrechtliche Wirkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus dem grundrechtlichen Gehalt ab: „Nachdem nunmehr das Grundgesetz das Recht des Menschen auf Achtung seiner Würde (Art. 1 GrundG) und das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit auch als privates, von jedermann zu achtendes Recht anerkennt ..., muß das allgemeine Persönlichkeitsrecht als ein verfassungsmäßig gewährleistetes Grundrecht angesehen werden." Diese Formulierung ist zumindest missverständlich und in dieser Form mit der nach herrschender Meinung nur mittelbaren Grundrechtswirkung im Privatrecht 387 nicht zu vereinbaren. Heute würde der Bundesgerichtshof eine solche Begründung wohl nicht mehr wählen, zumal die von ihm intendierte Privatrechtsrelevanz einer Persönlichkeitsverletzung schlüssig auch auf der Grundlage einer mittelbaren Grundrechtswirkung erklärt werden kann. 3 8 8 Folgerichtig vermied das höchste Zivilgericht in späteren Entscheidungen diese Argumentation und verwies statt dessen auf die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Menschenwürde. 389 Adressat des Grundrechts ist nämlich nicht ein Privatrechtssubjekt, sondern der Staat, der den Schutz des Persönlichkeitsrechts im Privatrecht grundrechtskonform zu transformieren hat.

383

Hager in Staudinger § 823 Rdnr. C 7. Dies sieht Jarass (NJW 1989, 857/858) allerdings als Prämisse einer Identität des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in den beiden Rechtsgebieten - Privatrecht, Öffentliches Recht - an. 385 BGHZ 13, 334 ff. (= NJW 1954, 1404). 386 RGZ 51, 369/372 f.; 69, 401/403; 79, 397/398; 82, 333/334; 94, 1; 102, 134; 107, 277/281; 113, 413/414; 123, 312/320. 387 BVerfGE 7, 198/205 ff.; 18, 85/92 f.; 30, 173/187 f.; 32, 311/316; 34, 269/ 280; 73, 261/269; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 173 ff. 388 Vgl. hierzu sogleich unter bb, S. 96 ff. Nach zunehmend favorisierter Ansicht ist es die Schutzgebotsfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, die im Privatrecht eine materielle und immaterielle Kompensation von nicht gerechtfertigten Persönlichkeitsverletzungen fordert (vgl. z.B. Canaris, AcP 184 (1984), 201 ff.; ders., JuS 1989, 161/169; Larenz/Canaris, Schuldrecht II 2, § 80 I 3b, S. 493; siehe auch BVerfGE 34, 269/282; 35, 202/221). 389 Vgl. z.B. BGHZ 35, 363/367 f.; 39, 124/131 f. 384

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung bb) Entschädigungsrechtliche Gleichwertigkeit zwischen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 GG Neben der direkten Ableitung des Anspruchs aus dem Grundrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG) findet sich in der Rechtsprechung als ergänzendes Argument für die zivilrechtliche Entschädigungspflicht ein Vergleich zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und den Rechtsgütern aus Art, 2 Abs. 2 GG. Anders als in der „Herrenreiterentscheidung" stellte der Bundesgerichtshof die Rechtsgüter in der „Ginsengentscheidung" nicht nur mittelbar, sondern unmittelbar gegenüber und auf eine verfassungsrechtliche Wertungsstufe: „Würde der Deliktsschutz des Persönlichkeitsrechts im geistigen Bereich hinter den Schutz der in Art. 2 Abs. 2 GG genannten besonderen Persönlichkeitsgüter völlig zurücktreten, die Ausfluß des Persönlichkeitsrechts sind, so hätte das Zivilgericht die Wertentscheidung des Grundgesetzes unbeachtet gelassen."390 Die vom Bundesgerichtshof angewandte Argumentationstechnik ist die gleiche wie jene, derer er sich zur Erweiterung der Eigentumsaufopferung auf die Rechte des Art. 2 Abs. 2 GG bediente. 391 Sie gibt Anlass zu einer Folgeüberlegung: Wenn eine haftungsrechtliche Gleichrangigkeit zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und den Rechtsgütern des Art. 2 Abs. 2 GG tatsächlich eine „Wertentscheidung des Grundgesetzes" ist, warum sollte sich dieses Gleichbehandlungsgebot nur im Privatrecht auswirken? Ein sachlicher Differenzierungsgrund gegenüber dem öffentlichen Recht wäre darzulegen. Die argumentative Verquickung beider Rechte, vor allem deren hervorgehobene Gleichwertigkeit, legt es viel eher nahe, das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch im öffentlichen Haftungsrecht zu etablieren. 3 9 2 Speziell eine aufopferungsrechtliche Gleichstufung liegt nahezu „in der Logik der Argumentation" 393 . Sie wird wie schon diejenige der Berufsfreiheit protegiert durch eine veränderte Lebenswirklichkeit: Eine progressive Informationstechnologie dominiert mittlerweile weite Bereiche des privaten und öffentlichen Daseins. Internet, elektronischer Briefverkehr, Mobilfunk usw. machen den Menschen zusehends „gläsern". Das datenverarbeitende Arbeiten und Leben eröffnet 390

BGHZ 35, 363/367 f. Vgl. oben 1. Teil A m i a , S. 37 ff. 392 Richtberg, Ehrenschutz im öffentlichen Recht, S. 20 ff. Vgl. auch Obermayer, Grundzüge des Verwaltungsrechts und Verwaltungsprozessrechts, § 23 Β ΠΙ 2, S. 158: „Der Schutz der freien Entfaltung der Persönlichkeit ... nach Art. 2 Abs. 1 GG sowie der Schutz des Lebens, der Gesundheit, der körperlichen Unversehrtheit und der persönlichen Freiheit sind nur dann effektiv, wenn eine Beeinträchtigung dieser Rechtsgüter von hoher Hand einen Entschädigungsanspruch auslöst." 393 Schenke, NJW 1991, 1777/1781 auch bezüglich der Erweiterung auf die speziellen Freiheitsrechte. 391

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte ein weitreichendes Gefahrenpotenzial für das allgemeine Persönlichkeitsrecht, dem mittels einer aufwertenden Auslegung des Grundrechts begegnet werden sollte. Je „virtueller" der Mensch agiert, desto größer ist seine Anfälligkeit „ i m Geistigen". Die in den letzten Jahren exponential angewachsenen Beeinträchtigungsmöglichkeiten machen eine unterschiedliche Behandlung zwischen Gesundheitsverletzungen und Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht mehr und mehr fragwürdig. 394 b) Argumentum a fortiori aus dem Mechanismus der grundrechtlichen „Drittwirkung " Nicht nur die anlässlich privatrechtlicher Rechtsfortbildung hervorgehobene Wertungsidentität zwischen den Rechten des Art. 2 Abs. 2 GG und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ist Argument für eine äquivalente Behandlung auch im Staatshaftungsrecht. Entsprechendes gilt für die verfassungsrechtlich deduzierte Integration des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in das private Deliktsrecht: Führt eine nicht (auch) monetäre Sanktionierung von Persönlichkeitsverletzungen im Privatrecht zu einem verfassungswidrigen Schutzdefizit, kann dann hinsichtlich positiver staatlicher Grundrechtseingriffe anderes gelten? 395 Wäre andernfalls die Grundrechtswirkung im Privatrecht nicht eine intensivere als im direkten Eingriffsverhältnis zwischen Staat und Bürger? aa) Das Erfordernis eines „mindestens" gleichwertigen Persönlichkeitsrechtsschutzes im öffentlichen Recht im Verhältnis zum Privatrecht Eine im Verhältnis zum Staat „stärkere" Privatrechtswirkung der Grundrechte würde die Funktion der Grundrechte als traditionell in erster Linie gegen den Staat gerichtete Abwehrrechte in jeder Hinsicht verkehren. Ein Schutzgefälle in dieser Richtung wäre theoretisch allenfalls dann denkbar, wenn im öffentlichen Recht spezifische Rechtsgrundsätze einer Sekundärhaftung entgegenstehen oder umgekehrt die Privatrechtsordnung eine Kompensation aus ihr eigenen Gründen erfordert. Focussiert man die Begrün394

Sproll in Detterbeck/Windthorst/Sproll, StaatshaftungsR, 5. Teil II 2a, S. 314. Dies klingt auch in BGHZ 24, 72/76 an: In dieser Entscheidung erkannte das Gericht im Anschluss an BGHZ 13, 334 ff. das allgemeine Persönlichkeitsrecht als „sonstiges Recht" im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB an. In der Begründung führt das Gericht aus, „daß die Bestimmungen in Art. 1 und 2 GrundG ... ein Grundrecht gewährleistet, das sich nicht nur gegen den Staat und seine Organerichtet,sondern auch im Privatrechtsverkehr gegenüber jedermann gilt." (Hervorhebung jeweils durch den Verfasser). 395

7 Röder

1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung dung des Bundesgerichtshofs für die sekundärrelevante Integration des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in das Privatrecht, findet sich ein solcher Anhaltspunkt nicht. Im Gegenteil: Indem das Gericht die Menschenwürde und das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit als Grundwerte der Gesamtrechtsordnung anerkennt, findet eine Beschränkung auf die Privatrechtsordnung gerade nicht statt. Es attestiert dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG eine Haftungsfunktion und müsste konsequenter Weise von deren Unteilbarkeit ausgehen, zumal es sie aus der Bedeutung der Rechtsposition selbst ableitet. Es lässt sich schwer begründen, weshalb der verfassungsrechtliche Wertgehalt eines Grundrechts gegenüber einem Privaten eine stärke Bindungswirkung entfalten soll als gegenüber dem Staat. Stellt nicht umgekehrt der für das Privatrecht festgestellte grundrechtlich verbürgte Mindeststandard zwingend auch das entscheidende Untermaß für den grundrechtsbeschränkenden Hoheitsträger dar? Schon die Kommission zum Staatshaftungsgesetz 1981 rechtfertigte eine verschärfte Haftung des hoheitlich handelnden Staates mit der Überlegenheit der öffentlichen Gewalt über die ihr unterworfenen Bürger: „Das öffentlich-rechtliche Subjektionsverhältnis setzt den Bürger größeren Gefahren aus und macht ihn in höherem Maße schutzbedürftig als im Verkehr mit seinen Rechtsgenossen, denen er grundsätzlich koordiniert ist und gegen deren Unrecht er sich in der Regel leichter schützen kann als gegen das Unrecht der öffentlichen Gewalt." 3 9 6 In juristisch fundierterer Weise wird diese Einschätzung bestätigt durch die allgemeine Dogmatik der „Drittwirkung der Grundrechte". Gemeinsamer Konsens aller theoretischer Begründungsansätze 397 ist nämlich eine „verringerte W i r k u n g " 3 9 8 der Grundrechte im Privatrecht: Nach der „Ausstrahlungslehre", die lange Zeit geradezu Inbegriff der „mittelbaren Drittwirkung" war, müssen bürgerlich-rechtliche Vorschriften im Geiste der Grundrechte als „wertgebundener Ordnung" 3 9 9 ausgelegt werden. Die Grundrechte wirken lediglich als Richtlinien und Impulse 4 0 0 , 396

Kommissionsbericht zur Reform, S. 52. Es ist nicht erforderlich, auf die sehr vielschichtige und disparate Diskussion um die exakte Funktionsweise der (mittelbaren) Grundrechtswirkung im Privatrecht im Detail einzugehen. Sie wird heute zunehmend (auch) auf die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte gestützt (vgl. nur Canaris, AcP 184 (1984), 201/231 f.; Larenz/Canaris, Schuldrecht II 2, § 80 I 3a, S. 493; Ehmann in Erman Anh zu § 12 Rdnr. 77; Hager in Staudinger § 823 Rdnr. C 6; allgemein zur Schutzgebotsfunktion z.B. BVerfGE 39, 1/42 ff.; 49, 304/319 ff.; 88, 203/251; vorsichtiger z.B. Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rdnr. 183, nach denen der Drittwirkungs- und Schutzpflichtgedanke „in engem Zusammenhang stehen"; ähnlich Dreier in Dreier, Vorb. Rdnr. 60: „Hier wirft die neuere Judikatur des Bundesverfassungsgerichts schwierige Abgrenzungsfragen zwischen Drittwirkungs- und Schutzpflichtenseite auf."). 398 Hager, JZ 1994, 373. 399 BVerfGE 6, 32/40 mit Hinweis auf BVerfGE 2, 1/12 und 5, 85/204 ff. 400 BVerfGE 7, 198/208 („Lüth"). 397

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte haben „eine Ausstrahlungswirkung auf das bürgerliche Recht", die sich vornehmlich über die Generalklauseln und Blankettbegriffe des Privatrechts vollziehen soll. 4 0 1 Eine verfassungs- und damit auch grundrechtskonforme Auslegung wird insbesondere virulent bei wertausfüllungsfähigen und -bedürftigen Normen wie z.B. §§ 138, 242, 826 BGB, die deswegen geeignete „Einbruchsteilen" für Grundrechte darstellen. 402 Im Zuge der Transformation der Grundrechte in privatrechtliche Wertmaßstäbe ändert sich die Wirkkraft der Grundrechte, die nicht unter Außerachtlassung der bürgerlichrechtlichen Gleichordnung anzuwenden sind. 4 0 3 Deswegen können nach dem Bundesverfassungsgericht „zur Beurteilung von Grund und Höhe eines zivilrechtlichen Anspruchs, etwa eines Schadensersatzanspruchs, ... diejenigen Erfordernisse, die von Verfassungs wegen im Verhältnis des Bürgers zum Staat bei Eingriffen in die Freiheitssphäre des Einzelnen zu beachten sind, auch nicht entsprechend herangezogen werden. Aufgabe des bürgerlichen Rechts ist es in erster Linie, Interessenkonflikte zwischen rechtlich gleichgeordneten Rechtssubjekten möglichst sachgerecht zu lösen." 4 0 4 401 BVerfGE 7, 198/205; 25, 256/263 („Blinkfüer"); 30, 173/187; 46, 325/ 334 ff.; 49, 89/142; 52, 131/165; 60, 234/239 ff.; 61, 1/16; 66, 116/131; 73, 261/ 269; NJW 1994, 36. 402 Die Verquickung zwischen Grundrechten und zivilrechtlichen Generalklauseln wird teils weniger eng, teils als untrennbar angesehen. Beispielsweise hob Herbert Krüger (NJW 1949, 163) bereits vor Erlaß des Grundgesetzes hervor, dass die Verfassung für das Zivilrecht die „vornehmste Quelle (seil, ist), aus der es seine wertausfüllungsbedürftigen Begriffe und Generalklauseln auszufüllen hat". Eine engere Verknüpfung zu den Generalklauseln stellt beispielsweise Mikat heraus (Festschrift für Nipperdey, S. 581/587, der allerdings nur die mittelbare Drittwirkungslehre referiert), indem er sie bezeichnet als „einzige Möglichkeit", das durch die Grundrechte geschaffene Wertsystem im Rahmen der Privatrechtsordnung zu realisieren. Scholz (in Maunz/Dürig, Art. 12 Rdnr. 73) definiert mittelbare Drittwirkung gar als „Drittwirkung kraft Vermittlung durch die bürgerlich-rechtlichen Generalklauseln". Diese Begrenzung auf offene Rechtsbegriffe und Normen wird an anderer Stelle (z.B. Schwabe, JR 1975, 13/14) deshalb für zu eng gehalten, als z.B. auch bei Gesetzeslücken unter anderem auf grundrechtliche Wertungen zurückgegriffen werden kann und muss. 403 Vor einer Überführung des Zivilrechts in das Verfassungsrecht warnt insbesondere Diederichsen (AcP 198 (1998), 171 ff.) und mahnt die Rückbesinnung auf die Zivilrechtsdogmatik an. Die Differenz zwischen einem staatlichen Eingriff und einer privatautonomen Selbstbeschränkung betonen z.B. auch Dreier (in Dreier, Vorb. Rdnr. 61) und Hesse (Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnrn. 351 ff.). 404 BVerfGE 30, 173/199 in Bezug auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ähnlich BVerfG 7, 198/220: „... Daran ist richtig, daß auch Art. 2 GG zu dem grundrechtlichen Wertsystem gehört und die Vorstellungen davon, was wider die ,guten Sitten4 verstößt, maßgeblich beeinflussen kann. Trotzdem wird hier die Bedeutung des Artikels 2 nichtrichtiggesehen. Daß der Staat, die öffentliche Gewalt, nur in den Schranken der Gesetze gegen Harlan vorgehen durfte und darf, ist selbstverständlich. Daraus folgt aber nichts dafür, was der einzelne Bürger gegenüber Harlan unternehmen darf. Denn hier ist entscheidend, daß jeder einzelne Träger der-

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100 1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung Eine nur abgeschwächte Form der Grundrechtswirkung im Privatrecht kann man auch mit der neueren Lehre 4 0 5 und Rechtsprechung 406 auf Grundlage der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte begründen. Während Grundrechtsverletzungen durch die Staatsgewalten der Abwehrfunktion der Grundrechte zugeordnet werden, bestimmt die Schutzgebotsfunktion, ob und in welchem Umfang die Grundrechte von Gesetzgeber und Richter für die Regelung und Beurteilung der Rechtsverhältnisse zwischen Privatpersonen selbst herangezogen werden können oder gar müssen 407 , mit anderen Worten: wann das Verhalten eines Privatrechtssubjekts als Übergriff in eine grundrechtsgeschützte Position eines anderen und damit als „Auslöser" für die Schutzpflicht des Staates zu qualifizieren ist. Die Verwirklichung dieser Grundrechtsdimension ist in erster Linie Aufgabe des Privatrechtsgesetzgebers und Zivilrichters. 408 Sie besteht konkret darin, eine Abgrenzung grund-

selben Grundrechte ist. Da im Zusammenleben in einer großen Gemeinschaft sich notwendig ständig Interessen- und Rechtskollisionen zwischen den einzelnen ergeben, hat im sozialen Bereich ständig ein Ausgleich und eine Abwägung der einander entgegenstehenden Rechte nach dem Grade ihrer Schutzwürdigkeit stattzufinden." Vgl. auch BVerfGE 66, 116/135: „In dieser Staatsgerichtetheit fällt die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit daher eindeutig in den Schutzbereich der Pressefreiheit. Was demgegenüber »Eingriffe 4 gesellschaftlicher Kräfte oder Privater betrifft, so kann Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG als subjektivem Recht keine der Staatsgerichtetheit entsprechende ,Dritt-Gerichtetheit' zukommen ...; soweit die Einwirkung des Grundrechts auf privatrechtliche Vorschriften in Frage steht, können im Hinblick auf die Eigenart der geregelten Rechtsverhältnisse andere, unter Umständen engere Grenzen gezogen sein als in seiner Bedeutung als Abwehrrecht gegen den Staat." Zum Zivilprozessrecht BVerfGE 52, 131/155 f. Diesen grundsätzlich strukturellen Unterschied stellen andere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht in Frage, nach denen die Einzelabwägung in beiden Bereichen von ähnlichen Maßstäben und Abwägungskriterien geprägt sein kann (z.B. BVerfGE 18, 85/91; 35, 202/221). 405 Vgl. nur Canaris, AcP 184 (1984), 201 ff.; Häberle, WDStRL 30 (1972), 43/ 76, 109; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnrn. 349 ff.; Jarras, AöR 110 (1985), 363/367 ff.; Rüfner, Gedächtnisschrift für W. Martens, S. 215 ff.; Rupp, AöR 101 (1976), 161 ff.; Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 205 ff.; Starck in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Abs. 3, Rdnr. 198; Stern ΙΠ/1, § 76 IV 5, S. 1572 ff. 406 Seit BVerfGE 39, 1/42 ff. ist die Schutzgebotsfunktion nicht nur für Art. 2 Abs. 2 GG integrativer Bestandteil der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtswirkung im Strafrecht; sie wird aber auch für das Zivilrecht z.T. neben der Ausstrahlungslehre herangezogen, vgl. z.B. BVerfGE 42, 163/168; 73, 261/268 f.; 81, 242/256. Zur Schutzgebotsfunktion im übrigen: 46, 160/164; 49, 89/140 ff.; 53, 30/57; 56, 54/73; 75, 40/66; 77, 170/214 f.; 77, 381/402 f.; 79, 174/201 f.; 81, 242/254 ff.; 81, 310/339; 84, 133/147; 85, 191/212; 87, 363/386; 88, 203/251 ff.; 89, 276/286 f.; 90, 107/114 ff.; 91, 335/339; 92, 26/46; 95, 140/ 150. 407 Bleckmann, DVB1 1988, 938/939; Stern ΙΠ/1, § 76 IV 5, S. 1573. 408 Rüfner, Gedächtnisschrift für Martens, S. 215/219; Canaris, JuS 1989, 161/ 163.

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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rechtlich geschützter Rechtssphären unter Beachtung der privatautonomen Freiheiten vorzunehmen, d.h. Interessenkonflikte zwischen rechtlich gleichgeordneten Rechtssubjekten unter Abwägung der jeweils kollidierenden Interessen anhand der maßgeblichen Grundrechtspositionen 409 zu lösen, ohne den Grundsatz der Vertragsfreiheit bzw. sonstiger struktureller Gleichordnung zu beeinträchtigen. Dabei müssen Gesetzgeber und Zivilrichter stets darauf bedacht sein, einerseits nicht hinter dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutzminimum zurückzubleiben, aber andererseits nicht unverhältnismäßig oder in sonst verfassungswidriger Weise in die Grundrechte des anderen Bürgers einzugreifen. Eingriffsverbot und Schutzgebot bedingen sich also wechselseitig und können nur dann zu einem grundrechtskonformen Interessenausgleich führen, wenn sie sich die Waage halten. Anzustreben ist ein möglichst effizienter Anwendungsbereich beider sich entgegenstehender Grundrechte. Dieses Gebot optimaler Wirksamkeit konträrer Grundrechte wird als das Prinzip des „schonendsten Ausgleichs" 4 1 0 oder der „praktischen Konkordanz" 4 1 1 bezeichnet und folgt aus der Erkenntnis, dass die Freiheit des einzelnen sozial eingebunden ist und in einer Interdependenz zu Freiheiten anderer steht. 4 1 2 Aus dieser Wirkungsweise wird deutlich, dass grundrechtliche Schutzgebote durch andere Koordinaten terminiert sind als die Abwehrrechte bei einem hoheitlichen Eingriff. Es geht um die Problematik des gesetzgeberischen bzw. rechtsprechenden Unterlassens. Eine unausgewogene, einseitige Bevorteilung einzelner Rechtsgüter kann zugleich ein verfassungswidriges Schutzdefizit bezüglich eines kollidierenden Rechtsguts bedeuten. Indizien für eine konkordante Konkretisierung von Schutzpflichten sollen die Wertigkeit des bedrohten Rechtsguts 413 , die Intensität der Bedrohung und die Selbstschutzmöglichkeiten des Bürgers sein 4 1 4 . Insbesondere die Legislative hat bei der Umsetzung der Schutzpflicht grundsätzlich einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum 415 , eine Verdichtung zu detaillierten Handlungspflichten ist demgegenüber die Ausnahme. 416 Eine vergleichbare Alternativen wähl hat 409

Gallwas, Grundrechte, Rdnr. 366; ähnlich Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr. 355. 410 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, insb. S. 125 ff. 411 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr. 72. 412 Rupp, AöR 110 (1976), 162/179 f. 413 Bleckmann, Grundrechte, S. 258; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr. 349 ff. 414 Canaris, AcP 184 (1984), 201/228. 415 BVerfGE 39, 1/44; 77, 170/214; 79, 174/202; 85, 191/212; Dreier in Dreier, Vorb. Rdnr. 64; Sachs in Sachs, Vor. Art. 1 Rdnrn. 36 f.; Stern ΙΠ/1, § 76 IV 6b, S. 1580. 416 Mitunter leiten die Gerichte aus den Grundrechten sehr konkrete Handlungspflichten ab, vgl. BVerfGE 88, 203 ff. Ähnlich ist die privatrechtliche Haftungsfunktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einzustufen (Larenz/Canaris, Schuldrecht

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

der eingreifende Hoheitsträger selbstverständlich nicht. Der Eingriffsakt ist schlicht zu unterlassen, aufzuheben oder zu beseitigen. Allein dieser Umstand belegt einen deutlichen dogmatischen Unterschied zwischen der Abwehr- und der Schutzpflichtfunktion. 417 Deren abgeschwächte Handlungsappelle an den Staat sind erforderlich zur Wahrung des eigenständigen Werts der Zivilrechtsdogmatik gegenüber der grundrechtlichen Wertordnung. 4 1 8 Nur so kann eine adäquate Konfliktlösung zwischen gleichgeordneten Rechtssubjekten durch das sachnächste Regelungsprogramm gewährleistet werden. Schließlich berücksichtigte selbst die überkommene „Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte" 419 , dass die Wirkungsstärke der Grundrechte im Verhältnis des einzelnen zum Staat eine andere ist als zwischen Privatrechtssubjekten, die Grundrechte dort uneingeschränkt, hier nur mit Einschränkungen angewandt werden können. 4 2 0 Auch sie erkannte an, II 2, § 80 I 3b, S. 493). An einer grundsätzlichen Zurückhaltung ändert diese jedoch ebensowenig etwas wie der im einzelnen umstrittene Topos des „Untermaßverbots" (im vorliegenden Zusammenhang geht er zurück auf Canaris, AcP 184 (1984), 201/ 228; ders., JuS 1989, 161/163; ebenso: Jarras, AöR 110 (1985), 363/383; kritisch: Dreier in Dreier, Vorb. Rdnr. 64; Sachs in Sachs, Vor. Art. 1 Rdnr. 36. Für das Strafrecht vgl. auch BVerfGE 39, 1/45 ff.; 88, 203/255 ff.; Denninger, Festschrift für Mahrenholz, S. 561/566 ff. 417 Α. A. Hager, JZ 1994, 373/381 f.; ders. in Staudinger § 823 Rdnr. C 8; Alexy, Theorie, S. 427 f.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 204; Pietzcker, Festschrift für Dürig, S. 345/358 ff. 418 Diederichsen, AcP 198 (1998), 171/236. 419 Namhafteste Vertreter dieser Theorie sind HC. Nipperdey (RdA 1950, 121; in Enneccerus/Nipperdey, Allegemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Einl. IV § 15, S. 91 ff.; Grundrechte und Privatrecht; in Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte IV/2, S. 741 ff.), Gamillscheg (AcP 164 (1964), 385 ff.), W. Leisner (Grundrechte und Privatrecht), Hildegard Krüger (RdA 1954, 365 ff.; DöV 1950, 701 ff.) und Ramm (Freiheit der Willensbildung). Ebenso die frühere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und partiell die des Bundesgerichtshofs (z.B. BAG 1, 185/194 f.; 4, 240/243; 274/276; BGHZ 6, 365; 13, 324). 420 Häufig wird die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte als „reine Lehre" lediglich in ihrem dogmatischen Ansatz wiedergegeben. Das heißt: Nicht nur die Grundrechte wirken auch „inter cives " als Eingriffsverbote und Abwehrrechte. Diese Sichtweise ist jedoch verkürzt und hat in der Diskussion um die „Drittwirkung" zu Missverständnissen geführt. In „Reinform" wurde die Lehre nämlich nie vertreten, sondern seit jeher nur mit Einschränkungen (vgl. z.B. Nipperdey in Neumann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte Π, S. 755 und IV/2, S. 752; ders., Grundrechte und Privatrecht, S. 18 f.; Gamillscheg, AcP 164 (1964), 385/ 426 ff.; Ramm, Freiheit der Willensbildung, S. 55). Auch die Vertreter dieser Auffassung sahen die Hauptfunktion einer Privatrechtswirkung der Grundrechte in der „Auslegung unklarer und Überbrückung lückenhafter Regelungen" (Gamillscheg, AcP 164 (1964), 385/403 f.; ähnlich Nipperdey in Neumann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte IV/2, S. 807). Obwohl die „Theorie von der mittelbaren Grundrechtswirkung" mit einer „Theorie der unmittelbaren Grundrechtswirkung" auf den ersten

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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dass wegen der permanenten Kollision von (Grund-)Rechten 421 die (unmittelbare) Wirkung von Grundrechten im Privatrecht in irgendeiner Form relativiert werden muss. 4 2 2 Es wäre undenkbar, dass z.B. die sich aus der Vertragsfreiheit zwangsläufig ergebende Möglichkeit der Einschränkung grundrechtlicher Freiheiten stets als Nichtigkeitsgrund des eingegangenen Vertrages geltend gemacht werden könnte. 4 2 3 Dann bliebe von der Privatautonomie als Fundament des geltenden Zivilrechts de facto nichts mehr übrig. Eine solche Intention verfolgte diese Ansicht zu keiner Zeit. Die Begründungslogik der „verringerten Grundrechtsdrittwirkung" im Privatrecht ermöglicht nunmehr, methodengerecht aus der privatrechtlichen Haftungsfunktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eine Haftungsfunktion im Verhältnis zum eingreifenden Staat auf mindestens dem gleichen Niveau zu folgern. Zur Anwendung kommt folgendes argumentum a fortiori 424: Verlangt das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch einen Pri-

Blick nicht miteinander zu vereinbaren ist und im wissenschaftlichen Schrifttum und der Rechtsprechung jahrzehntelang kontrovers diskutiert wurden, stehen sich die Theorien folglich „gar nicht so fem" (Sendler, NJW 1994, 709), der Gegensatz hat sich in praktischer Hinsicht „weitgehend relativiert" (Canaris, JuS 1989, 161/ 165). Da grundlegende Unterschiede bei einer differenzierten Anwendung der unmittelbaren Drittwirkungslehre „bezweifelt werden können" (Starck in v. Mangoldt/ Klein/Starck Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 194; auch Alexy geht von einer Ergebnisäquivalenz aus: Theorie, S. 477 ff., 490), könnte man fast schon von einem reinen Formulierungs- bzw. Randproblem sprechen (Säcker in Münchener Kommentar, Einl. Rdnr. 56). Gerade diese Erkenntnis hat den Weg freigemacht für eine Besinnung auf eine eher inhaltliche, anstelle der vormaligen theoriengeprägten, fast schon doktrinären Auseinandersetzung. Dass diese noch bei weitem nicht abgeschlossen ist, belegt die Einschätzung Dreiers (in Dreier, Vorb. Rdnr. 57), nach der der „gesamte Komplex der sog. »Drittwirkung4 der Grundrechte" noch einer allgemein konsentierten lüärung harre. 421 Kritik an dem Begriff der „Grundrechtskollision" übt Starck (in v. Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 275), weil er verhindere, das Problem der Einwirkung des Verfassungsrechts auf das Privatrecht angemessen zu erfassen. Die im Privatrecht zu lösende Interessenkollision könne nur mit Hilfe der von den Grundrechten geschützten Rechtsgütern oder den hinter den Grundrechten stehenden Wertungen (= Menschenbild) gelöst werden, während der Begriff des Grundrechts und dessen Trägerschaft von Verfassungs wegen auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat beschränkt sei. Allein diese terminologische Kritik belegt das Gefälle zwischen Privatrecht und dem Staat-Bürger-Verhältnis. 422 Dürig, Festschrift für Nawiasky, S. 157/176, der dies durch eine nur mittelbare Drittwirkung der Grundrechte als garantiert ansieht. 423 Stern ΠΙ/1, § 76 ΠΙ 2b, S. 1555. 424 Ähnlich Richtberg, Ehrenschutz im öffentlichen Recht, S. 23. Dieselbe Argumentationstechnik findet sich im übergeordneten Zusammenhang der Drittwirkung der Grundrechte bei Diederichsen, AcP 198 (1998), 171/235 und Püttner, Festschrift für H. Lange, S. 697/703. Im Ansatz auch Schoch, DV 34 (2001), 261.

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

vaten eine vor allem immaterielle Kompensation, dann führt die Versagung einer äquivalenten Entschädigungspflicht im öffentlichrechtlichen Über-Unterordnungsverhältnis in der Diktion des Bundesgerichtshofs erst recht zu einer „unerträglichen Missachtung" des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Positiv gewendet heißt das: Wenn schon Private haften, dann haftet erst recht der Staat. Die Haftungsschwelle wird also für den grundrechtsverletzenden Staat mittels des privatrechtlichen Haftungsniveaus nach unten begrenzt, ist aber nach oben offen. Allerdings ist dieses mögliche „Mehr" an Haftung 4 2 5 , das man aus dem „Erst-recht-Schluss" ziehen kann, allein anhand des Zivilrechts weder nach Art noch nach Limitierung zu fixieren und daher zunächst hypothetisch. Ob und gegebenenfalls wie das offene Quantum an höherem, also strengerem Haftungsstandard konkret aufzufüllen ist, ist eine Frage der Grundrechtsauslegung, die erst im zweiten Teil der Arbeit vorgenommen werden soll. Naheliegend ist eine reine Unrechtshaftung, da das Verschuldenserfordernis im Zivilrecht der Abgrenzung von freiheitserhaltenden, individuellen Handlungsmöglichkeiten dient 4 2 6 , was im Verhältnis zwischen Staat und Bürger hierdurch gerade nicht erreicht wird. An dieser Stelle ist zunächst nur zu klären, ob das geltende Staatshaftungsrecht zumindest einen dem zivilrechtlichen Schutz ebenbürtigen Schutz gewährt. bb) Das de lege lata geringere Schutzniveau im öffentlichen Recht In gleicher Weise wie im Privatrecht wird im öffentlichen Haftungsrecht lediglich der individuell vorwerfbare, d.h. subjektiv zu vertretende Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht schadensersatzrechtlich sanktioniert: als Amtspflichtverletzung in Form von Art. 34 GG i . V . m . § 839 BGB. Die Amtspflicht zu rechtmäßigem Verwaltungshandeln (Art. 20 Abs. 3 G G ) 4 2 7 umfasst die Pflicht zur grundrechtskonformen Ausübung des Amtes. 4 2 8 Daneben konkretisiert sich das Gebot rechtmäßigen Verwaltungshandelns in der Amtspflicht, unerlaubte Handlungen im Sinne der §§ 823 ff. BGB zu unterlassen. 429 Dabei werden die normativen Voraussetzungen des privaten 425 Auch insofern kann der Persönlichkeitsschutz im Privatrecht und der bei hoheitlichen Eingriffen auseinanderlaufen. In diesem Zusammenhang bereitet es wiederum Schwierigkeiten, von einem selbständigen privatrechtlichen Persönlichkeitsrecht zu sprechen, weil sich eine inhaltliche Trennung de facto nicht vollzieht, das „privatrechtliche Persönlichkeitsrecht" immer noch ein grundrechtliches ist und lediglich das Schutzniveau gegenüber staatlichen Eingriffen angehoben wird. 426 Vgl. auch Morlok, DV 25 (1992), 371/383. 427 BGHZ 16, 111/113; 23, 36/47; 60, 112 (= NJW 1973, 616); NJW 1980, 1679 und 2578; NJW 1985, 1692; NJW 1986, 2309; BGH, NVwZ 1986, 961/962; NJW 1987, 434; BGH, NVwZ 1988, 283; 1989, 287; OLG Saarbrücken, NVwZ 1986, 791; 1987, 170. 428 Stern m/1, δ 66 ΠΙ 2a, S. 684.

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Deliktsrechts auf den Amtshaftungsanspruch übertragen und antezipieren den Maßstab für die „Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht" 4 3 0 . Abgesehen von spezifisch verwaltungsrechtlichen Rechtfertigungsgründen (z.B. in Form der VerwaltungsVollstreckung) stellt somit jeder tatbestandliche und rechtswidrige Eingriff in ein von § 823 BGB geschütztes Rechtsgut eine drittbezogene Amtspflichtverletzung dar. Vergleicht man zunächst nur die Haftungsdogmatik, scheint die verfassungsrechtliche Wirkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Verhältnis zu der privatrechtlichen nicht gleichwertig, sondern tatsächlich abgeschwächt zu sein: Während der grundrechtliche Schutzauftrag der Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG selbst eine deliktische Entschädigungspflicht statuiert, ist eine entsprechende Wirkung des Persönlichkeitsrechts bei Eingriffen durch den Staat abhängig von einer Transformation durch Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB. Diese Vorschriften ordnen die Rechtsfolge „Kompensation" an, nicht das Grundrecht. Dessen Kompensationsgebot wirkt sich folglich im Eingriffsverhältnis Staat-Bürger entgegen der gängigen Grundrechtsdogmatik anders als im Privatrecht nur mittelbar aus, wobei das Amtshaftungsrecht wie auch sonst als „Umschaltnorm" von der primären Pflicht- auf die Sekundärebene fungiert. Mehr als eine Verhaltenspflicht statuiert das Grundrecht im öffentlichen Recht demzufolge nicht. Die Haftungsfunktion des Persönlichkeitsrechts realisiert sich quasi als bloßer Reflex, nicht originär aus sich selbst heraus, sondern drittnormabhängig, also fast schon „zufällig". Staatliche Haftung für Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist keine grundrechtliche, sondern eine amtshaftungsrechtliche, obwohl nach der Rechtsprechung wie dargelegt das Grundrecht selbst eine privatrechtliche Haftung statuiert. Diese Überlegungen wären nicht mehr als ein dogmatisches „Glasperlenspiel", wenn nicht die amtshaftungsrechtliche „Mediatisierung" des sekundären Grundrechtsgebots letztlich auch die praktische Anspruchsrealisierung gegenüber dem Staat im Verhältnis zum privatrechtlichen Deliktsanspruch deutlich erhöhen würde. Vor allem wegen des Verweisungsprivilegs des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB und der Möglichkeit des Haftungsausschlusses gemäß § 839 Abs. 3 BGB wird die prozessuale Durchsetzung des Amtshaftungsanspruchs im Verhältnis zum privatrechtlichen Deliktsanspruch von erschwerten Faktoren abhängig gemacht. Dies gilt unabhängig von vielfälti429 BGHZ 69, 128/138 (= NJW 1977, 1875); BGH NJW 1980, 1679; BGHZ 78, 274/279 (= NJW 1981, 675); BGHZ 97, 97/102; BGH NJW 1992, 1310; BGH, DVB1. 1993, 718/719; BGH NJW 1994, 1950/1952 f. (= LM Nr. 95); Papier in Münchener Kommentar, § 839 Rdnm. 196, 229; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 2. Teil ΙΠ 3 b, S. 62; Wieland in Dreier, Art. 34 Rdnr. 34. 430 BGHZ 16, 111/113; 23, 36/47; BGH WM 1962, 527/529; BGHZ 34, 99/ 104.

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1. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung

gen teleologischen Einschränkungen vor allem des Verweisungsprivilegs seitens der Jurisdiktion. 431 Denn im Grundsatz trägt der klagende Bürger die Darlegungs- und Beweislast für fehlende anderweitige Ersatzmöglichkeiten. 4 3 2 Er wird also mit sämtlichen Schwierigkeiten, die mit der schlüssigen Darlegung negativer Tatsachen bzw. eines Negativbeweises verbunden sind, belastet. 433 Hinzu kommt, dass § 839 Abs. 1 S. 2 BGB nicht auf das Faktum einer anderweitigen Schadensausgleichung, sondern auf eine anderweitige Möglichkeit abstellt ( „ . . . Ersatz zu erlangen vermag."). Wann die Grenze der zumutbaren anderweitigen Anspruchsverfolgung überschritten wird, ist nicht verbindlich festgelegt, sondern kann nur einzelfallabhängig entschieden werden 4 3 4 Allein diese Unsicherheit erhöht das Prozessrisiko gegenüber dem privatrechtlichen Deliktsanspruch. Gleiches gilt für die Rechtsunsicherheit im Bereich des § 839 Abs. 3 BGB, die sowohl aus der nicht unproblematischen Funktion der Norm als auch aus der umstrittenen Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale resultiert. 435 Überdies wird der Begriff des „Rechtsmittels" von der Rechtsprechung untechnisch als „Rechtsbehelf 4 verstanden. 436 Aufgrund der sehr extensiven Interpretation sind darunter sogar formlose Gegenvorstellungen, Erinnerungen, Beschwerden, Einsprüche etc. zu subsumieren. 437 Diese teleologisch kaum begründbare 4 3 8 , fast schon „uferlose Ausdehnung" 439 des Tatbestandsmerkmals 431

Seit seiner Entscheidung in BGHZ 68, 217 ff. hat der Bundesgerichtshof ausgehend von dem Zweck anderweitiger Ersatzansprüche Reduktionen der Subsidiaritätsklausel vorgenommen (Ossenbühl, StaatshaftungsR, 2. Teil, IV lb, S. 80 ff.). 432 Ossenbühl, StaatshaftungsR, 2. Teil IV 1, S. 79. 433 Auch wenn die Klage lediglich als „zur Zeit unbegründet" abgewiesen wird (BGHZ 37, 375/377; BGH NVwZ 1992, 911/912), sofern dem Kläger die schlüssige Darlegung bzw. der Beweis nicht gelingt, eine erneute Klage also bei Wegfall der anderweitigen Ersatzmöglichkeit erhoben werden kann, stellt allein dies ein deutliches Prozessrisiko dar. Die Kosten des verlorenen Erstprozesses werden gemäß § 91 ZPO gleichwohl dem im Zweitprozess erfolgreichen Kläger auferlegt. 434 Dagtoglou in Bonner Kommentar, Art. 34 Rdnr. 287; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 2. Teil IV le, S. 85; Windhorst in Detterbeck/Windhorst/Sproll, StaatshaftungsR, 3. Teil § 10 Rdnrn. 7, 15. 435 Ossenbühl, StaatshaftungsR, 2. Teil IV 2 b, S. 92 ff.; Windhorst in Detterbeck/Windhorst/Sproll, StaatshaftungsR, 3. Teil § 10 Rdnrn. 48 ff. 436 Dem Begriff unterfallen alle „Rechtsbehelfe, die sich gegen die eine Amtspflicht darstellende Handlung oder Unterlassungrichtenund sowohl deren Beseitigung oder Berichtigung als auch die Abwendung des Schadens zum Ziel haben oder herbeizuführen geeignet sind." (RGZ 163, 121/124; BGHZ 28, 104/106; BGH NJW 1978, 1522/1523). 437 Papier in Münchener Kommentar, § 839 Rdnr. 327; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 2. Teil IV 2 b, S. 94. 438 Das gilt unabhängig davon, ob man die Vorschrift als besondere Ausprägung des § 254 BGB und die schuldhafte Versäumung des Rechtsmittels als Obliegenheitsverletzung ansieht (so BGHZ 56, 57/63) oder sie als Ausprägung eines grundsätzlichen Vorrangs des Primär- gegenüber dem Sekundärrechtsschutz einordnet

Β. Ausdehnung des Aufopferungstatbestands auf andere Grundrechte

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wirkt sich insbesondere deshalb empfindlich zum Nachteil des Rechtsschutz suchenden Bürgers aus, weil insofern keine einzelfallgerechte Schadensverteilung nach § 254 BGB erfolgt. Das Gesetz statuiert ein sehr hartes „Alles-oder-Nichts-Prinzip" 440 , das nur teilweise durch die Rechtsprechung zurückgedrängt w i r d . 4 4 1 Die Beschränkungen, denen der Anspruch durch § 839 BGB unterliegt, reduzieren also das sekundäre Schutzniveau im Staatshaftungsrecht gegenüber dem privaten Deliktsrecht; der eingreifende Staat wird gegenüber dem eingreifenden Bürger privilegiert. Der Minimalschutz, welcher a fortiori aus der Grundrechtsdrittwirkung gefolgert worden ist, wird folglich de lege lata unterschritten. Durch die amtshaftungsrechtliche „Mediatisierung" wirkt sich die Haftungsfunktion Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gegenüber dem primären Grundrechtsdressaten Staat nicht in Reinform aus. Die normativen Restriktionen des § 839 BGB entfielen jedoch, wenn das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Schutzgut in den Aufopferungstatbestand integriert würde. Auf diese Weise wäre dem Erst-recht-Schluss Rechnung getragen. Eine verschuldensunabhängige Aufopferungshaftung bei hoheitlichen Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht beinhaltete ein Maß an Haftungsverschärfung, welches als nicht-derivative Umsetzung des grundrechtlichen Haftungsgehalts durch systemkonforme Eingliederung in ein anerkanntes Anspruchsinstitut vollzogen werden kann. Sicherlich bietet dieser Schritt darüberhinaus Anlass, die Haftungsgrundlagen des Aufopferungsrechts zu überdenken. Folgerichtig müsste das Grundrecht wie im Privatrecht auch im öffentlichen Recht Haftungsgrundlage sein. Vorerst ist aber zu klären, ob die Zusammenfügung von Aufopferungshaftung und Persönlichkeitsrecht Schwierigkeiten offenbart, die eine Modifikation der bisherigen Anspruchsstruktur erfordern oder sich gar als Ausdehnungshindernisse entpuppen.

(Papier in Münchener Kommentar, § 839 Rdnr. 326; Schoch, Jura 1988, 648/649 f.; Menzel, DRiZ 1990, 375 ff.; beide rationes legis anerkennend Maurer, AllgVerwR, § 25 Rdnr. 32). 439 Schoch, Jura 1988, 648/650. 440 BGHZ 28, 104 = NJW 1958, 1532; Ossenbühl, StaatshaftungsR, 2. Teil IV 2b, S. 92 f. 441 Dies geschieht dadurch, dass der Tatbestand um ein ungeschriebenes „soweit" ergänzt wird. Die Ersatzpflicht entfällt also nur, soweit die schuldhafte Nichteinlegung eines Rechtsbehelfs hypothetisch für den Schaden kausal geworden ist (BGH NJW 1986, 1924).

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. Teil: Funktionszusammenhang - Grundrechte und Aufopferungshaftung c) Mögliche Extensionshindernisse und Modalitäten der Integration des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in den Aufopferungstatbestand aa) Die Rechtsfolge „Immaterialschadensersatz"

Die vollständige grundrechtliche Verankerung der zivilrechtlichen Ausgleichspflicht bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts beinhaltet gegenüber dem ursprünglichen Analogieansatz der „Herrenreiterentscheidung" nicht nur eine Präzisierung der dogmatischen Grundlage des Anspruchs. Vielmehr hat sie auch Auswirkungen auf dessen Rechtsfolge. Der Bundesgerichtshof destilliert aus dem Gehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einen vom Schmerzensgeld deutlich zu trennenden Entschädigungsanspruch, dem sogar der Charakter eines selbständigen Rechtsbehelfs zugebilligt wird: „Bei einer Entschädigung wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts handelt es sich nicht um ein Schmerzensgeld nach § 847 BGB, sondern um einen Rechtsbehelf, der auf den Schutzauftrag aus Art. 1 und 2 Abs. 1 GG zurückgeht. Die Zubilligung einer Geldentschädigung beruht auf dem Gedanken, dass ohne einen solchen Anspruch Verletzungen der Würde und Ehre des Menschen häufig ohne Sanktion blieben mit der Folge, dass der Rechtsschutz der Persönlichkeit verkümmern würde. Anders als beim Schmerzensgeld steht bei dem Anspruch auf eine Geldentschädigung wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Gesichtspunkt der Genugtuung des Opfers im Vordergrund. ... Außerdem soll der Rechtsbehelf der Prävention dienen."442 Aufgrund eigenständiger Voraussetzungen und Bemessungsfaktoren für die Rechtsfolge „Immaterialentschädigung" ist damit ein grundrechtlich begründetes privatrechtliches Anspruchsinstitut „,sui generis