Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß: Zugleich eine Studie zum Menschenwürdegehalt der Grundrechte [1 ed.] 9783428475599, 9783428075591

Ein wesentliches Ziel des Strafprozesses ist die Erforschung der Wahrheit. Dahinter steht die Erkenntnis, daß nur eine d

139 9 20MB

German Pages 221 Year 1992

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß: Zugleich eine Studie zum Menschenwürdegehalt der Grundrechte [1 ed.]
 9783428475599, 9783428075591

Citation preview

DIRKLAMMER

Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß

Schriften zum Strafrecht Heft 94

Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß Zugleich eine Studie zum Menschenwürdegehalt der Grundrechte

Von Dirk Lammer

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek: - CIP-Einheitsaufnahme Lammer, Dirk: Verdeckte Ermittlungen im Strafprozess: zugleich eine Studie zum Menschenwürdegehalt der Grundrechte / von Dirk Lammer. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zum Strafrecht; H. 94) Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 1991/92 ISBN 3-428-07559-5 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-07559-5

Meinen Eltern

Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung........................................................................................................................................... 13

B. Heimliche Inlormationseinpiffe und Orpnisierte Kriminalität......•....•..............•••••.......••...•16

I.

Heimliche, technikgestützte Informationseingriffe ........................................................... 16 1. Technische Möglichkeiten heimlicher Überwachung .................................................. 16 2. Anwendung verdeckter und technikgestützter Ermittlungsmethoden durch die Strafverfolgungsbehörden................................................................................................ 17 3. Eingrenzung der zu untersuchenden Methoden .......................................................... 19

11.

Organisierte Kriminalität....................................................................................................... 20

c. GrundrechtUche Grenzen Verdeckter ErmittIangea.................................................................. 23 I.

Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung .................................. 23

11.

Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ...................•.................... 2S

111.

Eingriffsrechtfertigung........................................................................................................... 29 1. Vorbehalt des Gesetzes.................................................................................................... 29 2. Zulässigkeit der Eingriffe trotz Fehlens einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage? .......................................................................................................................... 31 a) Die ·Schwellentheorie·............................................................................................ 31 b) ·Vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht·............................................................ 31 c) Zulässigkeit in einer Übergangsfrist? ................................................................... 32 d) Ergebnis ..................................................................................................................... 38 3. Geeignetheit von Verdeckten Ermittlungen...............................................•................. 38 4. Erforderlichkeit - Prävention als Alternative? ............................................................. 38 a) Prävention durch "Vorbeugende Verbrechensbekämpfung" ............................ 39 b) Gesellschaftspolitische Präventionsmöglichkeiten ..............................................40 5. Zwischenergebnis und erste Konsequenzen ................................................................. 42 6. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn ............................................................................45

8

Inhaltsverzeichnis

a) Strafverfolgungsinteresse contra Beschuldigtenschutz - Die kollidierenden Verfassungsgüter......................................................................................................45 b) Orundsätze der Kollisionslösung ...........................................................................51 IV. Abwägungsfreie Bereiche - Orenzen der Abwägung. ........................................................57

1. Unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung ...................................................... 57 2. Durchgängige Abwägung .................................................................................................58 3. Wesensgehalt, Menschenwürde und Art. 79 III 00 ...................................................58 a) Wesensgehaltsgarantie des Art. 1911 00 ............................................................59 b) Menschenwürde und Menschenwürdegehalt des Orundrechts......................... 63

c) Art. 79 111 00 ........................................................................................................... 67 4. Das Verhältnis von Wesensgehalt und Menschenwürdegehalt der Orundrechte .................................................................................................................................. 69 5. Zwischenergebnis .............................................................................................................. 70 V.

Die Sphärentheorie des Bundesverfassungsgerichts ......................................................... 72 1. Begründung der Sphärentheorie ...................................................................;................ 72 2. Abkehr und Wiederbelebung? ........•........................................•...................................... 73

VI.

Brauchbare und unbrauchbare Abgrenzungskriterien ...................................................... 75 1. Sozialbezug......................................................................................................................... 75 2. Der Kembereich als anthropologische Konstante ....................................................... 78 . 3. Oeheimhaltungswille und Oeheimhaltungsmöglichkeit ..............................................80 4. Höchstpersönlichkeitssphäre und Persönlichkeitskonstitution .................................81 a) Theorien zum proze8 der Persönlichkeitskonstitution ......................................82 b) Tauglichkeit der Theorien zur Persönlichkeitskonstitution zur Bestimmung des unantastbaren Bereichs .................................................................................... 83 5. Höchstpersönlichkeitssphäre als räumlich- gegenständlicher Bereich ..................... 85 a) Freiräume als Bedingung der Persönlichkeitskonstitution ................................ 85 b) Anthropologische Notwendigkeit räumlicher Höchstpersönlichkeitsbereiche .......................................................................................................................... 85 6. Höchstpersönlichkeitssphäre und Öffentlichkeit ......................................................... 86 7. Heimlichkeit der Informationserlangung als eingriffSkonstituierendes Merkmal.....................................•....................................................................................... 87 8. Integration Außenstehender in höchstpersönliche Bereiche ..................................... 87 9. Höchstpersönlichkeitsmanifestationen und Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen ................................................................................................................. 88

Inhaltsverzeichnis

9

a) Höchstpersönlichkeitsmanifestationen .................................................................88 b) Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen........................................... 89 c) Räumliche Herrschaft und Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen...............•................................................................................................. 92 10. Teilergebnis und Zusammenfassung.............................................................................94 VII.

Leitstrukturen bei der Bestimmung des Kernbereichs ..................................................... 9S 1. Räumliche Sphäre ............................................................................................................. 96 2. Soziale Sphäre ................................................................................................................... 96 3. Nutzung von Telekommunikationsmedien .........................:......................................... 96

D. BestinunulII der Grenzen im Einzelfall ....................................................................................... 97 I.

Höchstpersönlichkeitsmanifestationen ................................................................................ 97 1. Unantastbarkeit des forum internum ............................................................................ 97 2. Unantastbarkeit von Manifestationen des forum internum am Beispiel von Tagebüchern ...................................................................................................................... 97 a) Die Behandlung von Tagebüchern durch die Rechtsprechung. ........................ 98 b) Einordnung bei Art. 4 oder Art. 2 1,1 I OO? ..................................................... 99 c) Kontrollierte Oeheimhaltung als notwendiges Merkmal von Manifestationen des forum internum .......................................................................................... 99 d) Identifikation als Tagebuch .................................................................................. 100 3. Sonstige Höchstpersönlichkeitsmanifestationen ........................................................ 101 4. Verwertung zu Präventionszwecken ............................................................................. 101

S. Ergebnis............................................................................................................................ 103 11.

Die Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen in speziellen Orundrechtsschutzbereichen ..................................................................................................................... 104 1. Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 1300 und Integration Verdeckter Ermittier ........................................................................................................................... 104 a) Schutzbereich von Art. 13 00 ............................................................................. 104 b) Heimliche Informationseingriffe und Schrankensystematik des Art. 13 00 .............................................................................................................. 106 c) Eindringen durch unbeteiligte Außenstehende .............................................•... 108 d) Voraussetzungen und Auswirkungen der wirksamen Integration eines Verdeckten Ermittiers ........................................................................................... 109 e) Unantastbarkeit von Höchstpersönlichkeitsmanifestationen in der Wohnung ................................................................................................................. 115 f)

Einzelfälle ................................................................................................................ 116

10

Inhaltsverzeichtlis

g) Zusammenfassung.................................................................................................. 118 2. Unverletzlichkeit des Brief- und Femmeldegeheimnisses..............................•......... 120 3. Schutz der Ehe................................................................................................................. 124 a) Bedeutung der Ehe für die Pel"SÖnlichkeitsentfaltung ..................................... 124 b) Berücksichtigung von Art. 6 GG in der Rechtsprechung ................................ 125 c) Absoluter Schutz der Ehe ..................................................................................... 127 d) Eheähnliche Partnerschaften................................................................................ 130 e) Zweifel bezüglich des Vorliegens einer Ehe .....•••................•............................. 132 f)

III.

Grenzen des unantastbaren Bereichs.................................................................. 132

Die Realisierung von Höchstpel"SÖnlichkeitspotentialen im von Art. 2 I, 1 I GG geschützten Bereich .............................................................................................................. 133 1. Erkennbar-vertrauliche Bereiche in der Öffentlichkeit ............................................ 134 a) Räumlich eindeutig abgegrenzte Bereiche ......................................................... 134 b) Räumlich nicht eindeutig abgegrenzte Bereiche ............................................... 136 c) Integration Dritter .................•............................................................................... 136 2. Der nur relativ geschützte Bereich............................................................................... 136 3. Verbot der Erstellung von Pel"SÖnlichkeitsprofilen ......•..........................................•. 137

IV.

Präventivmaßnahmen und Höchstpel"SÖnlichkeitspotentiale ......................................... 138

V.

Zusammenfassung von C. und D ........................................................................................ 139

E. Vercleclde Ermittlungen und strafprozessuale Grundsätze .................................................... 142 I.

Das Gebot der Offenheit des Ermittlungsverfahrens ..................................................... 142 1. Rechtsstaatsprinzip und Offenheitsgebot ................................................................... 143 2. Das Gebot der Trennung von Verfassungsschutz und Polizei................................. l46 3. Heimlichkeit im geltenden Strafverfahrensrecht ....................................................... 150 4. Ergebnis............................................................................................................................ 154

11.

Nemo tenetur und Verdeckte Ermittlungen..................................................................... 155 1. Herkunft und Einordnung des nemo-tenetur-Satzes ................................................ 156 2. Reichweite des nemo-tenetur-Satzes ...............................•........................................... 157 a) Nemo tenetur als Ausdruck der Eigenverantwortlichkeit ............................... 157 b) Restriktive Auslegung des nemo-tenetur-Satzes..•............................................ 159 3. Ergebnis............................................................................................................................ 161

111.

Täuschungsverbot und Verdeckte Ermittlungen ............................................................. 162

Inhaltsverzeichnis

11

1. Situative Reichweite des Täuschungsverbots.............................................................. 162 2. Sachliche Reichweite des Tauschungsverbots ............................................................ 164 a) Schlicht heimliches Vorgehen der Strafverfolgungsorgane ......••.••.................. I64 b) Einsatz Verdeckter ErmittIer ............................................................................... 166 3. Ergebnis..............................................................•....•....••••......................••.............•.......•.. 169 IV.

Strafverfolgungspflicht und Verdeckte Ermittlungen ..................................................... 170 1. Die grundsätzliche Problematik.................................................................................... 170 2. Umfang und Reichweite der Strafverfolgungspflicht ................................................ 171 a) Die endgültige Nichtverfolgung von Straftaten ................................................. 171 b) Zeitliche Zurückstellung der Strafverfolgung.................................................... 176 3. Ergebnis............................................................................................................................. 182

V.

Verdeckte Ermittlungen und Unverdächtige ................................................................... 183

1. Ermittlungsverfahren ohne konkreten Verdächtigen................................................ 184 2. Ermittlungsverfahren mit konkretem Verdächtigen ................................................. 186

3. Ergebnis............................................................................................................................ 187 VI.

Verdeckte Ermittlungen und Rechtsstellung des Beschuldigten .................................. 188 1. Herkunft und Bedeutung des Fair-trial-Prinzips ....................................................... 188 2. Waffengleichheit ............................................................................................................. 193 a) Keine Waffengleichheit im formellen Sinn .................••...................................•. 195 b) Waffengleichheit als Strukturprinzip .................................................................. 197 c) Verwirklichung der Waffengleichheit in den einzelnen Verfahrensabschnitten ..•..•.•.•....................••..•...•............................•..•.................•.••..............•... 198 d) Waffengleichheit bei Einführung verdeckter Ermittlungsmethoden ...••....••.. 200 e) Möglichkeiten zur Herstellung von Waffengleichheit beim Einsatz verdeckter Ermittlungsmethoden.............................................................................. 200 3. Zusammenfassung...............•.••............•................•.......................................................... 207

F. Ergebnisse ........................................................................................................................................ 208 Literatur................................................................................................................................................ 211

A. Einleitung Ein wesentliches Ziel des Strafprozesses ist die Erforschung der Wahrheitl . Die §§ 155, 244 11 StPO machen die höchstmögliche Erreichung dieses Zieles sogar zu einer Pflicht der Strafverfolgungsbehörden. Die Bedeutung der Wahrheitserforschung wird auch von der Rechtsprechung immer wieder betont2• Dahinter steht die Erkenntnis, daß nur eine dem wahren Sachverhalt entsprechende Durchsetzung des materiellen Strafrechts zur Gerechtigkeit und damit zum Rechtsfrieden führen kann3. Der wahre Sachverhalt kann einerseits durch Kooperation der am Strafverfahren Beteiligten (Zeugen, Opfer, Verdächtige) festgestellt werden. Andererseits und ergänzend können die Strafverfolgungsbehörden, sollte Kooperationsbereitschaft nicht bestehen oder nicht möglich sein, von sich aus Ermittlungen anstellen und müssen dies nach dem Amtsermittlungsgrundsatz auch tun (vgl. §§ 161, 163 StPO). Dabei können Maßnahmen notfalls auch gegen den Willen des Betroffenen als Zwangsmaßnahmen4 (vgl. etwa die §§ 81 ff, 94 ff, 102 ff StPO) durchgeführt werden. Aber es gibt auch Ermittlungsmaßnahmen, denen der unmittelbar erkennbare Zwangscharakter fehlt. Hier ist vor allem an heimliche Maßnahmen zu denken, also Maßnahmen, die für den Betroffenen zumindest im Zeitpunkt ihrer Vornahme nicht zu erkennen sind. Da es den Strafverfolgungsbehörden hierbei in erster Linie um die Erlangung von im Strafverfahren verwertbaren Informationen geht, nennt man diese Ermittlungsmaßnahmen heimliche Infonnationseingrif/e5• Gesetzlicher Prototyp hierfür ist die Telefonüberwachung nach §§ 100a ff StPO. Die Möglichkeiten und Grenzen solcher Verdeckten Ermittlungen will diese Untersuchung bestimmen. Da die Erforschung der Wahrheit eine unerläßliche Voraussetzung einer von allen Bürgern akzeptierten Durchsetzung des materiellen Strafrechts ist, 1

Vgl. nur BVerfG 63, 61; Kühl JuS 1986, 116; Wolter SK-StPO, Rn 49 vor § 151.

2

Vgl. nur zuletzt BGHSt 35, 34; BVerfG n,76 m.w.N.; SO, 375.

3

RieB, f'S.Schäfer, 170 ff; Wolter GA 1985, 53.

7

Ähnlich Joerden Jura 1990, 644, der bei der Bestimmung des Kembereichs in· erster

Linie den äußeren Rahmen berücksichtigen will. 268 Dazu Dalakouras, Beweisverbote, 20 f. 269 Zum ganzen Amelung 'ZStW 98 (1986), 384 ff. 270 Vgl. Amelung 'ZStW 98 (1986), 387 m.w.N.

C. Grundrechtliche Grenzen Verdeckter Ermittlungen

86

tisch umwehrten, dreidimensionalen Örtlichkeiten im allgemeinen Sprachgebrauch. Ein solcher Raum kann auch ein Tagebuch sein, da es formal-gegenständlich als Tabuzone begriffen werden kann. Mit der Anlage eines Tagebuches schafft sich der Autor also einen Bereich, der einem besonderen Schutz unterliegen muß.

6. Höchstpersönlichkeitssphäre und Öffentlichkeit Nach dem bisher Gesagten verliert auch der Begriff der Öffentlichkeit als Kriterium für die Bestimmung des Intimbereichs an Bedeutung. Wenn man Öffentlichkeit als den Bereich der Allgemeinzugängllchkeit begre~71, so wird sofort offenbar, daß Höchstpersönliches auch in diesem Bereich stattfmden kann. Man kann nun natürlich im Rahmen der Sphärentheorie eine "Sphäre anonymen Verhaltens" in der Öffentlichkeit anerkennen. Damit wird aber der Boden der Sphärentheorie grundsätzlich verlassen2'n. Der auf die Persönlichkeitskonstitution verweisende Ansatz geht dagegen von vornherein davon aus, daß der Prozeß der Persönlichkeitsbildung auch im sozialen Kontakt in der Öffentlichkeit stattfindet. Dieses Verständnis der Öffentlichkeit erlaubt schließlich auch die Integration eines demokratisch-funktionalen Grundrechtsverständnisses273• Danach ist die Partizipation an der politischen Willensbildung unmittelbare Entfaltung der Persönlichkeit, die notwendigerweise als öffentliches Verhalten stattfindet274• Die staatliche Registrierung solchen Verhaltens kann dazu führen, daß der Bürger aus Furcht vor Konsequenzen auf die Partizipation verzichtet275: Dies zeigt, daß auch Verhalten in der Öffentlichkeit Schutz genießt. Als Bestätigung des Einbezugs der Öffentlichkeit in die Privatheit kann schließlich auch auf die neue Sicht des Gemeingebrauchs im öffentlichen Straßen- und Wegerecht hingewiesen werden, die neuerdings in der Erkenntnis, daß öffentliche Straßen und Wege auch Orte der Kommunikation,

271

Vgl. Rohlf, Privatsphäre,44 m.w.N.

Kritisch und m.N. auch Rohlf, Privatsphäre, 45 f. 27J Grundlegend zu einer demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie Böckenförde NJW 1974, 1529 ff; vgI. auch Rohlf, Privatsphäre,46 f. 274 Schwan VerwArch 1975, 148; Weßlau, Vorfeldermittlungen, 176 f. 27S BVerfGE 65, 43; 69, 345. 272

VI. Brauchbare und unbrauchbare Abgrenzunpkriterien

87

der Persönlichkeitsentfaltung sind, auch den sogenannten "kommunikativen Verkehr" als Ausprägung des Gemeingebrauchs akzepiert276•

7. Heimlichkeit de, Informationserlangung als eingriffskonstituierendes Merkmal

Die Erkenntnis, daß Eingriffe in den Intimbereich auch in der Beeinträchtigung höchstpersönlicher Vorgänge, also gerade ablaufender Prozesse liegen können, führt zu einer Differenzierung bei der Bestimmung des unantastbaren Bereichs. Informationseingriffe können offen und heimlich vorgenommen werden. Usurpiert der Staat nun einen räumlichen Bereich, den der Bürger zur Vornahme höchstpersönlicher Handlung nutzt, offen, so kann die Kenntnisnahme höchstpersönlicher Vorgänge auch vermieden werden, indem der Bürger den höchstpersönlichen Vorgang beendet oder abbricht. Allein die staatliche Anwesenheit nimmt dem räumlichen Bereich den Charakter der Unantastbarkeit, da der staatlichen Kenntnisnahme offenstehende Bereiche ungeeignet zur Vornahme höchstpersönlichen Verhaltens sind. Als Beispiel mag wiederum die Wohnung gelten: Ihre offene, verfahrensrechtlich gebundene Durchsuchung mag zulässig sein, während der gleiche Vorgang bei Heimlichkeit ein Verstoß gegen den Menschenwücdegehalt sein kann. Damit wird die Heimlichkeit des Vorgehens zum eingriffskonstituierenden Merkmal.

8. Integration Außenstehende, in höchstpersiJnliche Bereiche Aus dem zur Autonomie des Betroffenen gesagten und der Erkenntnis, daß auch Kommunikationsvorgänge höchstpersönlich sein können, folgt, daß die bewußte Integration Außenstehender in höchstpersönliche Vorgänge als solche nicht zu einer Kernbereichsverletzung führen kann. Der Außenstehende wird durch die Integration zum Bestandteil oder Beteiligten des höchstpersönlichen Bereiches. Damit entfällt zwar dessen Schutz gegen diesen notwendig Beteiligten, nach wie vor Außenstehende müssen ihn aber weiterhin beachten. Diese Erkenntnis bekommt im Zusammenhang mit dem Einsatz Verdeckter Ermittler besondere Bedeutung und wird im ein%76 Vgl. dazu Steiner, in: Besonderes Verwaltunprecht (hrsg. v. Steiner), V. Rn 115 ff; Stock, Straßenkommunikation als Gemeingebrauch, passim.

88

C. Grundrechtliehe Grenzen Verdeckter Ermittlungen

zelnen noch dargestellt werden. Bereits jetzt kann aber festgehalten werden, daß die Frage nach der Unantastbarkeit eines bestimmten Bereiches für verschiedene Personen je nach deren Beziehung zu diesem Bereich unterschiedlich zu beantworten sein wird.

9. Höchstpersönlichkeitsmanifestationen und Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen Aus dem Vorhergehenden folgt eine wesentliche Differenzierung der unantastbaren Bereiche in Höchstpersönlichkeitsmanifestationen, in denen Höchstpersönliches bereits konserviert ist und Bereiche, die die Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen ermöglichen sollen, in denen Höchstpersönliches also gerade geschehen kann. a) Höchstpersönlichkeitsmanifestationen Bei diesen Artefakten, die in Form von schriftlichen Aufzeichnungen, Tonaufzeichnungen oder auch fIlmischen und fotografischen Dokumentationen vorliegen können, kann es sich sowohl um Manifestationen des forum internum (Beispiel: Tagebuch), als auch um Manifestationen sonstiger höchstpersönlicher Vorgänge handeln. Hier sind Eingriffe immer unzulässig, gleich ob offen oder heimlich. Die höchstpersönliche Information ist bereits vorhanden und beansprucht absoluten Schutz. Deshalb muß auch einer Argumentation in der Tagebuch-Entscheidung des BVerfG entschieden widersprochen werden. Nach Ansicht der die Entscheidung tragenden Gruppe von Verfassungsrichtern verbietet es die schriftliche F'uäerung und damit Loslösung höchstpersönlicher Sachverhalte vom Einzelnen, diese Dokumente dem absolut geschützten Bereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen, da sie aus dem beherrschbaren Innenbereich entlassen und der Gefahr des Zugriffs preisgegeben seien277. Diese Argumentation ist jedoch nicht haltbar. Sie begrenzt den Intimbereich auf das forum internum, den Bereich, der nicht von anderen zur Kenntnis genommen werden kann. Mit diesem "Entäußerungsprinzip"278 wird der unantastbare Bereich privater Lebensgestaltung zum für die Rechtswirklichkeit

m

BVerfGE SO, 376.

m

Begriff bei Amelung NJW 1990, 1756.

VI. Brauchbare und unbrauchbare Abgrenzunpkriterien

89

wertlosen Programmsau279• Die Tatsache, daß der Bürger das Risiko eines Zugriffs schafft, kann diesen Zugriff nicht rechtfertigen. Wer eine Information für verwertbar hält, weil sie erlangt werden kann, der schließt unzulässigerweise von der tatsächlichen Möglichkeit auf die Befugnis280. Wer zum Kernbereich nur das zählt, was unaufdeckbar ist, verkennt, daß es bei der Frage nach dem Kernbereich nicht um die tatsächliche Möglichkeit der Aufdeckung geht, sondern um die Frage, ob ein Sachverhalt enthüllt werden darf oder nicht. Was nicht aufgedeckt werden kann, bedarf auch keines Schutzes vor Antastung. Die Begrenzung des Intimbereiches auf den beherrschbaren Innenbereich des forum internum vermag dann nur noch Schutz vor Extremmaßnahmen wie Inquisition, Gehirnwäsche oder Persönlichkeitsmanipulationen zu gewähren. b) Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen Zur Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen bedarf der Einzelne des Schutzes eines räumlichen Bereiches, den er zum Schauplatz und Ort dieses Vorganges machen kann. Hier liegt ein Eingriff nur vor, wenn diese Vorgänge heimlich zur Kenntnis genommen werden. Bei offener Usurpation des für die Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen reservierten Bereiches werden die Realisierungsmöglichkeiten des Betroffenen beschränkt oder ganZ entzogen. Der Betroffene kann einen höchstpersönlichen Bereich gar nicht erst konstituieren, sondern wird gleichsam mit seinem Verhalten in den Bereich der "Öffentlichkeit" gestellt. Damit wird ihm gleichzeitig die Verfügungsmacht über die weiterhin von ihm produzierten Informationen genommen. Dagegen läßt sich auch nicht vortragen, daß in einer öffentlichen Äußerung nicht automatisch eine Einwilligung in die Erhebung dieser Information oder gar deren Speicherung oder weitere Verwendung enthalten isrs1. Diese Argumentation ist nur berechtigt, wenn sie das Verbot einer völlig schrankenlosen Verwertung solcher Äußerungen begründen soll. Die Erhebung und Verwendung solcher Daten durch den Staat bedarf aber immer einer gesetzlichen Grundlage. Zwar mag auch die Verknüpfung vieler öffentlich erhobener Daten insgesamt gegen die MenSo auch Störmer NStZ 1990, 399. Geis JZ 1991, 116. 281 So W. Schmidt JZ 1974, 247; Schwan VerwArch 1975, 133, WeBlau, Vorfeldermittlungen,I77. rt9

280

c. Grundrechtliche Grenzen Verdeckter Ermittlungen

90

schenwürde verstoßen (Persönlichkeitsprofi1282). Insofern kann unter dem Aspekt der Datenverwendung tatsächlich kein Datum mehr als belanglos angesehen werden. Deshalb ist aber nicht jedes Datum dem unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen. Im Bewußtsein staatlicher Kenntnisnahme produzierte Vorgänge können nicht dem Intimbereich zugeordnet werden. Daß weitere Verwendungen solcher Erkenntnisse als eigenständige Eingriffe auch eigenständig - und gegebenenfalls als Kernbereichsverstöße oder unverhältnismäßig - zu bewerten sind, wird dadurch nicht ausgeschlossen. Dies darf natürlich nicht dazu führen, daß durch eine allumfassende staatliche Überwachung keinerlei Bereiche für Höchstpersönliches mehr bleiben. Der offene Eingriff in Bereiche, die grundsätzlich als Refugium für Höchstpersönliches geschützt sind, muß die Ausnahme bedeuten und bedarf eines erheblichen Rechtfertigungsaufwandes. Eine lückenlose Überwachung der öffentlichen, das heißt allgemeinzugänglichen Sphäre, wäre völlig unzulässig, da sie jede Möglichkeit der Produktion höchstpersönlicher Vorgänge in diesem Bereich von vornherein verhindert. Ein umfassender und andauernder Entzug der Möglichkeit der Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen wäre allerdings ohne Zweifel ein Wesensgehalts- und Menschenwürdeverstoß. Im Rahmen der Untersuchung heimlicher Ermittlungsmethoden kann hier aber nicht abschließend festgestellt werden, unter welchen Voraussetzungen die Strafverfolgungsbehörden offen in die für Höchstpersönliches reservierten Bereiche eindringen können. Der Zusammenhang dieser Unterscheidung zwischen Geheimhaltungswillen und Geheimhaltungsmöglichkeit mit der Differenzierung zwischen Höchstpersönlichkeitsmanifestationen und Höchstpersönlichkeitspotentialen läßt sich am besten an einem praktischen Beispiel zeigen. Sieht man Wohnung und Tagebuch als absolut geschützte Bereiche, so ergibt sich für die Bewertung einer Tagebuchentdeckung bei einer Wohnungsdurchsuchung folgendes: Der mit der Durchsuchung verbundene Entzug der Geheimhaltungsmöglichkeit nimmt der Wohnung den Charakter des unantastbaren Bereiches für die Dauer der Durchsuchung unter dem Aspekt des Entzugs der Möglichkeit zur Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen. Das Tagebuch, als abgeschlossene Höchstpersönlichkeitsmanifestation, behält aber seinen absoluten Schutz. Tagebuchaufzeichnungen dürfen 282

vgl. dazu Benda, ~eiger, 23 ff.

VI. Brauchbare und unbrauchbare Abgrenzungskriterien

91

daher weder während der Durchsuchung zur Kenntnis genommen werden, noch darf das Tagebuch beschlagnahmt werden. Ganz ähnlichen Überlegungen folgt auch die Lösung von Wolter283 bei der Bestimmung des unantastbaren Kernbereichs, der diesen Bereich durch eine Vereinigung des eher statischen Rechts auf Privatheit und ein forum intemum284 und des dynamischen Rechts auf Selbstdarstellung und Kommunikation28S festgelegt sieht. Die Überschneidung beider Bereiche, nämlich die Möglichkeit von Selbstdarstellung und Kommunikation im Privatbereich wird zwar zutreffend dargestellru, - umgekehrt ist übrigens auch ein Rückzug in einen Privatbereich in der Öffentlichkeit durch räumliche Distanzierung möglich -, gleichzeitig wird aber die Differenzierung zwischen dem Privatbereich als Rückzugsbezirk und der Kommunikation und Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit zu stark betont, indem in erster Linie auf die Bedeutung des Rückzugs in den ersten Bereich zur Vorbereitung oder Ermöglichung einer gelungenen Selbstdarstellung im zweiten Bereich abgestellt wird. Überhaupt scheint eine Differenzierung zwischen dem Rückzug aus der Gemeinschaft auf der einen und dem Prozeß von Kommunikation auf der anderen Seite auch gar nicht edorderlich, weil beide Verhaltensweisen letztlich soziale Relevanz haben. Auch die Verweigerung von Kommunikation ist Vermittlung von Information, nämlich daß der Betroffene die Freiheit von Kommunikation wünscht. Sie ist passiv vermittelte Selbstdarstellung und damit ebenfalls die Übernahme einer bestimmten sozialen Rolle. Auch die Differenzierung von Podlech nach Handlung und Information287 bringt für unsere Frage keinen entscheidenden Gewinn. Zwar kann jeweils einer der Aspekte bei einem Sachverhalt im Vordergrund stehen und mit Hilfe dieser Differenzierung läßt sich auch die Rechtsprechung des BVedG systematisieren288• Bezüglich des jeweiligen 283 284

SK-StPO Rn 132 ffvor § ISI. Dieser Aspekt steht etwa bei Dalakouras, Beweisveroote, 44, 48 und Graf Vitzthum JZ

1985, '1JY7 im Vordergrund. 2&S Besonders betont bei Rohlf, Privatsphäre, 240; vgI. auch Richter/Schuppert, Casebook, 78. 286

24f.

Wolter SK-StPO, Rn 132 vor § 1S1; vgI. auch Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 17 Rn

2II1

Vgl. AK-Podlech, Art. 2 I Rn 41 ff.

2M

AK-Podlech, Art. 2 I Rn 17 ff.

92

C. GrundlCChtliche Grenzen Verdeckter Ermittlungen

Schutzumfangs lassen sich aber keine Erkenntnisse aus dieser Differenzierung ableiten289, weil, wie Podlech selbst feststell~, bei der Konstruktion eines einheitlichen Rechts nur die Kongruenz und nicht die Unterschiede der einzelnen Aspekte interessieren. Die Gemeinsamkeit von Handlung und Information besteht aber gerade darin, daß jede Handlung auch Informationen vermittelt, und sei es nur die, daß die Handlung vorgenommen wurde, während praktisch jede Informationsvermittlung einer Handlung bedarf. Welcher Gesichtspunkt nun im Vordergrund steht, ist eine eher willkürliche Entscheidung; die völlige Vernachlässigung des jeweils einen Aspekts zugunsten des anderen ist nicht gerechtfertigt. Während beide Lösungen die Erkenntnis vermitteln, daß unantastbare Bereiche nicht ausschließlich von einem Sozialbezug des Verhaltens abhängen, sondern bei verschiedenen Graden des Sozialbezugs und überall existieren können, vermögen sie doch nicht, das entscheidende Kriterium bei der Systematik der unantastbaren Bereiche unmittelbar zu erfassen, sondern können nur die Vorbedingungen abklären. Die entscheidenden Unterschiede sind einmal, daß es auf der einen Seite Manifestationen des Höchstpersönlichen gibt, von ihrem Produzenten verselbständigte, Höchstpersönliches konservierende Informationsträger, die von der Situation unabhängigen absoluten Schutz beanspruchen, während es auf der anderen Seite den aktuellen Ablauf des höchstpersönlichen Vorganges gibt, wobei hier dieser Entstehungsprozeß absoluten Schutz beansprucht. Bei der Umsetzung dieses Schutzanspruchs ist dann weiter zwischen der heimlichen Überwachung dieses Prozesses der Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen und der Verhinderung der Entstehung dieses Prozesses bzw. seines Abbruches zu unterscheiden. c) Räumliche Herrschaft und Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen Anband des entscheidenden Charakteristikums der Bereiche zur Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen läßt sich auch die Grundstruktur der Verletzung dieser Bereiche erkennen. Diese Realisierung ist 281' Auch wenn das Bundesverfassungsgericht Art. 1 GG nur bei informationsorientierten Entscheidungen mit heranzieht, vgI. AK-Podlech, Art. 2 I Rn 41. 290 AK-Podlech, Art. 2 I Rn 42.

VI. Brauchbare und unbrauchbare Abgrenzungskriterien

93

dem Einzelnen nur möglich, weil er die Umstände des Vorgangs und damit den ganzen räumlichen Bereich, in dem er stattfindet, behemcht. Der grundgesetz1ich in Art. 2 I, 1 I GG und den speziellen Grundrechten garantierte Anspruch auf die Möglichkeit der Konstitution von Höchstpersönlichkeitsbereichen ist der Anspruch auf Beherrschung und Kontrolle dieser Räume, insbesondere was die Integration Dritter in diese Bereiche be~l. Heimliche Informationseingriffe von außen entziehen dem Betroffenen die tatsächliche Kontrolle über den Bereich, den er zur Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen nutzen will und darf, ohne daß dieser den Kontrollverlust überhaupt bemerkt. Mit diesem unbemerkten Entzug der Kontrolle, die für die Höchstpersönlichkeitsbereiche konstituierend ist, wird dieser Bereich in seinem Kern getroffen. Völlig hilflos ist der Betroffene schließlich, wenn dieser Herrschaftsentzug für ihn gänzlich unbemerkbar durch den Einsatz moderner technischer Hilfsmittel (Richtmikrofone, Nachtsichtgeräte, Interferenzträger, etc.) ermöglicht und bewerkstelligt wird, also mit Mitteln, mit denen man schon normalerweise nicht rechnet. Dabei ist dieser Herrschaftsanspruch in unterschiedlichen Schutzbereichen auch unterschiedlich stark geschützt. Während er in der Wohnung und auch in sonstigen räumlich eindeutig abgegrenzten Bereichen ohne weiteres geltend gemacht werden kann, muß dies in Bereichen scheitern, die schon tatsächlich vom Betroffenen nicht beherrscht werden können. Dieser tatsächliche Mangel an Behemchbarkeit muß aber von Anfang an und objektiv erkennbar bestanden haben. Da die Erkennbarkeit der fehlenden Beherrschbarkeit ausreicht, gehen diesbezügliche Irrtümer zu Lasten des Betroffenen. Spricht er laut bei geöffnetem Fenster oder in Hörweite von Außenstehenden, ist dieser Vorgang gegenüber den Personen, die am Fenster vorbeigehen oder die sich in Hörweite befinden, nicht absolut geschützt, wenn der Betroffene diese Kenntnisnahmemöglichkeiten hätte erkennen müssen. Für eine solche auch unbewußte Preisgabe292 reicht die Feststellung der objektiven Unbeherrschbarkeit des betroffenen Bereichs. Damit muß der Betroffene die Tauglichkeit von Schutzmaßnahmen überprüfen 291 Wobei dieser Herrschaftsanspruch z.B. durch das Recht am gesprochenen Wort, den Schutz des räumlich-gegenständlichen Bereichs der Ehe und das Hausrecht regelmäßig auch gegenüber Privaten Schutz genießt. 292 In diesem Sinne Wolter SK-StPO, Rn 115 vor § 151.

94

C. Grundrechtliche Grenzen Verdeckter Ennittlungen

und gegebenfalls den die Beherrschbarkeit des Bereichs garantierenden Schutz selbst herstellen293• Die auch bei Einhaltung von Schutzvorkehrungen weiterhin bestehende Möglichkeit einer gezielten heimlichen Kontrolle muß bei der Frage der Beherrschbarkeit allerdings unberücksichtigt bleiben. Eine solche Kontrolle ist gerade wegen der modemen technischen Hilfsmittel nie ausgeschlossen. Insofern gibt es heutzutage überhaupt keinen einzigen Bereich mehr, den der Betroffene tatsächlich beherrschen und kontrollieren kann. Wollte man also die tatsächliche Beherrschbarkeit zum Maßstab machen, so gäbe es keine Bereiche zur Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen. Die wegen des Menschenwürde- und Wesensgehalts der Grundrechte berechtigte Forderung nach dem absoluten Schutz dieser Bereiche ist also die Forderung nach einem Bereich, auf dessen Beherrschung der Einzelne einen Anspruch hat, nicht nach einem Bereich, den der Einzelne tatsächlich unumschränkt beherrschen kann.

10. Teilergebnis und Zusammenfassung Was zunächst die Höchstpersönlichkeitspotentiale betrifft, so hat die Untersuchung ergeben, daß weder der Sozialbezug eines Verhaltens, noch der Informationsinhalt, noch der Geheimhaltungswille für sich allein den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung hinreichend bestimmen können. Vielmehr ist offenbar geworden, daß alle diese Elemente nur einzelne Facetten dessen aufzeigen, was höchstpersönlich ist. Intimität ist sowohl eine Qualität sozialen Verhaltens als auch die Möglichkeit, sich aus jedem Sozialbezug zurückzuziehen. Bestandteil der Menschenwürde ist sowohl die Möglichkeit der freien, selbstbestimmten Darstellung und Konstitution der Persönlichkeit als auch die Verweigerung (der Darstellung) dieses Prozesses. Der unantastbare Bereich privater Lebensgestaltung kann auch nicht inhaltlich verbindlich bestimmt werden. Was intim ist, muß vielmehr der Einzelne nach eigenen Maßstäben bestimmen und wählen können. Intimsphärenschutz kann deshalb nur der Schutz dieser Wahlmöglichkeit sein, kann nur der Schutz von räumlich eingegrenzten Bereichen sein, Reservaten, Refugien, in denen das Individuum von dieser Wahl293 Siehe auch Rogall Schutzvorkehrungen.

JZ

1987, 8S3 zur Bedeutung der Möglichkeit von

VII. Leitstrukturen bei der Bestimmung des Kembereichs

9S

möglichkeit unbeansprucht von der Allgemeinheit Gebrauch machen kann; Bereiche, in denen es autonom übeT Inhalt und Qualität von Kommunikation entscheiden kann oder in denen es jegliche Kommunikation unterlassen und verweigern darf. Diese Rückzugsbereiche sind Tabuzonen für die Gemeinschaft. Der Einzelne kann sie nutzen oder nicht. Sie bieten die Möglichkeit der Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen. Diese Bereiche können grundsätzlich überall bestehen, auch im allgemein zugänglichen Bereich der Öffentlichkeit. Die Manifestation ihrer Grenzen durch physikalische Absperrungen erleichtert ihre Erkennbarkeit und ist Kennzeichen für traditionelle, kulturhistorisch gewachsene Höchstpersönlichkeitsbereiche; ihre Grenzen können aber auch rein ideeller Art sein, sich aus den Umständen der konkreten Situation ergeben. Im letzten Fall vor allem gewinnt wieder der Sozialbezug an Bedeutung, denn Umstände der konkreten Situation sind die soziale Relevanz und der soziale Kontext der Situation. Entscheidendes Kennzeichen dieser Bereiche ist die Inanspruchnahme von Herrschaftsbefugnissen durch den Einzelnen. Diese Bereiche werden in ihrem Wesen beeinträchtigt durch den heimlichen Entzug der Herrschaftsund Kontrollmöglichkeiten des Betroffenen. Den gleichen absoluten Schutz genießen als Dokumentationen von höchstpersönlichen Vorgängen auch alle Höchstpersönlichkeitsmanifestationen. Keine Verletzung eines unantastbaren Bereiches ist der offene Entzug von tatsächlichen Geheimhaltungsmög1ichkeiten. Der Entzug der Möglichkeit zur Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen ist aber ein Eingriff in Art. 2 I, 1 I GG und muß deshalb verhältnismäßig sein. Ein übermäßiger Entzug der Möglichkeit, höchstpersönliche, unantastbare Bereiche zu konstituieren, ist deshalb unzulässig. In den Kernbereich der Grundrechte greift schließlich der alle Lebensbereiche umfassende vollständige Entzug dieser Möglichkeit ein. VII. Leitstrukturen bei der Bestimmung des Kernbereichs Bevor die Möglichkeiten des Bestehens von Höchstpersönlichkeitsmanifestationen und -potentialen in einzelnen Lebensbereichen überprüft werden, seien zunächst kurz einige Leitstrukturen für dieses Vorgehen dargestellt. Danach kann man grundsätzlich von zwei Ebenen sprechen, die sich berühren und kombiniert werden können.

96

C. OrundleCbtlicbe Grenzen Verdeckter Ermittlungen

1. Räumliche Sph~

Für die räumliche Verortung von Intimsphären können grundsätzlich die Bereiche der Wohnung, sonstige umschlossene Räume, die beschränkte Öffentlichkeit und die unbeschränkte Öffentlichkeit in Frage kommen. 2 Soziale Sphäre Unter dem Aspekt des sozialen Kontakts ist zu beachten, ob der Betroffene allein ist, mit einem (Ehe-)Partner oder innerhalb einer Gruppe kommu-

niziert.

Entscheidende Bedeutung für die Untersuchung besitzt in diesem Zusammenhang die Integration von Verdeckten Ennittlem durch den Betroffenen. Gemeint ist die Ermöglichung der Kenntnisnahme von höchstpersönlichen Vorgängen durch Verdeckte Ermittler oder gar deren aktive Beteiligung an solchen Vorgängen, besonders bei Gesprächen und bei der Integration in bestimmte räumliche Sphären. Es macht einen Unterschied, ob die Strafverfolgungsorgane einen höchstpersönlichen Vorgang von außen überwachen und zur Kenntnis nehmen, oder ob sie selbst zum Bestandteil und Beteiligten dieses Vorgangs werden.

3. Nutzung von Telekommunikationsmedien Einen Sonderf~ der sich nicht ohne weiteres in die beiden ersten Kategorien einordnen läßt, stellt die Kommunikation mithilfe von Telekommunikationsmitteln und deren Überwachung durch die Strafverfolgungsbehörden dar.

D. Bestimmung der Grenzen im Einzelfall I. Höchstpersönlichkeitsmanifestationen 1. Unantastbarkeit des forum intemum

Das forum internum des Menschen ist seine Gedankenwelt. Entgegen der sogar in Volksliedern zum Ausdruck kommenden Überzeugung, ist die Freiheit der Gedanken keine unabänderliche tatsächliche Gegebenheit. Neuro-medizinische und psychologische Methoden erlauben es vielmehr, auch die Gedanken des Menschen zu kontrollieren und zu bestimmen. Drogen und andere pharmakologische Substanzen, chirurgische Maßnahmen, Hypnose, Suggestion, Gehirnwäsche und andere psychologische Beeinflußungen bis hin zu völligen Persönlichkeitsveränderungen, wie sie zum Teil bei Jugendsekten zu beobachten sind, lassen die Möglichkeit einer Gedankenpolizei nicht mehr als völlig abwegig erscheinen. Staatliche Eingriffe in die innere Gedankenwelt des Menschen sind absolut unzulässig1. Gedanken haben keinerlei Außenwirkung, solange sie nicht gegenübet: anderen kundgegeben werden. Mit einer solchen. Kundgabe wäre aber bereits das forum internum verlassen. Das forum internum ist also der der Kenntnisnahme durch Dritte entzogene innere Diskurs, die Bildung von Überzeugungen und Werturteilen, die Auseinandersetzung mit sich selbst, die Selbstreflexion und Selbsterkenntnis.

2. Unantastbarkeit von Manifestationen des forum internum , am Beispiel von Tagebüchern Ebenfalls ohne jede Außenwirkung sind aber auch solche Manifestationen des forum internum, die nicht zur Kenntnisnahme durch Außenstehende bestimmt sind, wie dies bei Tagebüchern, persönlichen Notizen, auf Tonband festgehaltenen Selbstgesprächen, Video- und Filmdokumentatio1 Ganz einhellige Meinung; vgI. statt vieler v.Mangoldt/KIein/Starck, Art. 4 Rn 19; Rohlf, Privatsphäre, 140.

7 Lommer

98

D. Bestimmung der Grenzen im Einzelfall

nen bestimmten Verhaltens oder künstlerischen Umsetzungen und Verarbeitungen innerer Vorgänge der Fall sein kann. Sie sind depl forum internum zuzurechnen2• Solche Manifestationen sind zwar der Gefahr eines Zugriffes von außen ausgesetzt, dies vermag ihnen aber noch keinen Sozialbezug zu verleihen3• Sie sind ebenfalls absolut geschützt. Für ihren Schutz im Strafverfahren gelten die gleichen Regeln, die beispielhaft am Fall der Tagebücher, die auch wiederholt Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen waren4, dargestellt werden sollen. a) Die Behandlung von Tagebüchern durch die Rechtsprechung Der BGH hat in beiden Entscheidungen zur Verwertbarkeit von Tagebüchern eine Einordnung der Tagebücher in den unantastbaren Bereich der privaten Lebensgestaltung nicht erörterf, sondern hat jedesmal eine Abwägung mit den StrafverfoJgungsinteressen vorgenommen. Diese führte im ersten Fall zur Unverwertbarkeit der Tagebuchaufzeichnungen6, im zweiten Fall hielt der BGH eine Verwertung für zulässig7. Die gegen die zweite Tagebuch-Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde bei Stimmengleichheit zurückgewiesen8• Dabei wurde eine generelle Zuordnung von Tagebüchern zum unantastbaren Bereich von allen Richtern abgelehnt. Diese Zuordnung sahen die unterlegenen Richter nur im konkreten Fall als gegeben. Bei Berichten über konkrete Straftaten sei eine Verwertung möglich9• Maßstab bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts waren Art. 2 I, 1 I GG. 2 So auch Dalakouras, Beweisverbote, 213; Rohlf, Privatsphäre, 141; tendenziell auch Geis JZ 1991, 115 ff. 3 Anders die vier die Tagebuch-Entscheidung tragenden Richter in BVerfGE SO, 376. .. Vgl. BGHSt 19, 325 ff; 34, 397 ff; BVerfGE SO, 367 ff. S Anders das BayObLG NJW 1979, 2624 ff, das Tagebücher wegen des fehlenden Sozialbezugs zum absolut geschützten Bereich rechnet. 6 Ablehnend unter einseitiger Betonung der Strafverfolgungsintercsscn die Anmerkungen von Dünnebier MDR 1964,965 ff (der aber auf S. 967 einschränkend auf die Unzuverlässigkeit von Tagebüchern als Beweismittel hinweist); Händel NJW 1964, 1139 ff; Heinilz JR 1964,441 ff; Sax JZ 1965, 1 ff; zustimmend Peters,46. DIT, S. 153 f. 7 Ablehnend die Anmerkungen von Amelung NJW 1988, 1002 ff; Geppcrt JR 1988, 471 ff; Plagemann NStZ 1987, 570 ff; zustimmend Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24 III 2 d. 8 BVerfGE SO, 367 ff. 9 BVerfGE SO, 374 f.

I. Höchstpenönlichkeitsmanifestationen

99

b) Einordnung bei Art. 4 oder Art. 2 1,1 I GG? Neuerdings wird teilweise eine Einordnung der Tagebücher bei Art. 4 GG vertretenlO• Dies erscheint selbst dann fraglich, wenn das Tagebuch der "Gewissenserforschung" dient. Ein Tagebuch enthält aber nicht nur moralische, sittliche Wertungen wie gut oder bösell, sondern ist auch der Ort rein emotionaler, stimmungsabhängiger Äußerungen. Die Verknüpfung mit der Gewissensfreiheit engt den Begriff des Tagebuchs unnötig ein. Auch das forum internum wird so durch Art. 4 GG thematisch beschränkt (Glaubensund Gewissensfragen), durch Art. 2 I, 1 I GG dagegen in vollem Umfang geschützt. Die Zuordnung bringt auch keinen praktischen Gewinn, da Art. 4 GG nicht schrankenlos gilt, sondern den allgemeinen Regeln über verfassungsimmanente Schranken unterworfen istl2, das Strafverfolgungsinteresse also grundsätzlich Berücksichtigung finden kann. Entscheidend ist vielmehr, ob man das Tagebuch als Manifestation des forum internum diesem selbst zuordnet, denn dann bieten sowohl Art. 4 GG als auch Art. 2 I, 1 I GG absoluten Schutz. c) Kontrollierte Geheimhaltung als notwendiges Merkmal von Manifestationen des forum internum Schriftliche Aufzeichnungen bleiben aber nur Bestandteil des forum internum, wenn der Betroffene sie nur für sich selbst angefertigt hat. Bezüglich der Aufzeichnungen muß ein Geheimhaltungswille bestehen. Tagebücher, die von vornherein zur Veröffentlichung bestimmt sind, die nach einer Phase der Geheimhaltung veröffentlicht wurden oder die der Autor Außenstehenden zur Kenntnisnahme überläßt, sind insoweit nicht mehr Bestandteil des forum internuml3• Der Autor muß also sicherstellen, daß er die Möglichkeit der Einsichtnahme durch die nötigen Sicherheitsvorkehrungen ausschließt. Deshalb muß er die Aufzeichnungen aber nicht notwendig wegschließen oder verstecken, auch ein herumliegendes, für andere 10 Vgl. Amelung NJW 1988, 1004 ff; ders NJW 1990, 1758 ff; kritisch dazu Ronn, Strafverfahrensrecht, § 24 Iß 2 d; im konkreten Fall auch Störmer NStZ 1990, 397. 11 So die Umschreibung des Begriffs "Gewissen"; vgI. BVerfGE 12, 55; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn 595. 12 Vgl. Jarass, in: Jarass/pieroth, Art. 4 Rn 16; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn 618; v.Mangoldt/Kiein/Starck, Art. 4 Rn 47. 13 So auch Dalakouras, Beweisverbote, 204.

100

D. Bestimmung der Grenzen im Einzelfall

sichtbares Tagebuch bleibt Bestandteil des forum internum, wenn der Autor darauf vertrauen kann, daß die Aufzeichnungen als Tagebücher erkannt und respektiert werden, wie dies etwa in der Familienwohnung der Fall sein kannl4• Auch wenn der Autor sein Tagebuch nur einer einzigen Person zur Lektüre überläßt, ist der Bereich des forum internum verlassen. Daraus folgt noch nicht, daß das Tagebuch von beliebigen anderen Außenstehenden zur Kenntnis genommen werden darf, wenn der Autor die Verfügungsgewalt über seine Aufzeichnungen behält. d) Identifikation als Tagebuch Beim Tagebuch stellt sich mit aller Deutlichkeit das Problem, daß die Einordnung als Tagebuch nicht völlig unabhängig vom sachlichen Gehalt der Aufzeichnungen erfolgen kannlS • Die schlichte Bezeichnung als "Tagebuch" auf dem Einband oder die Tatsache, daß es sich um handschriftliche Aufzeichnungen handelt, kann nicht ohne weiteres zu einer Einordnung als Tagebuch führen. Mithilfe eines solchen rein formalisierten Schutzes ließen sich die verschiedensten Aufzeichnungen, die gar keinen Bezug zur Person des Autors haben, als Tagebuch oder tagebuchartige Notizen deklarieren und dem Zugriff durch die Strafverfolgungsbehörden entziehenl6. Gleichzeitig ist das Lesen eines echten Tagebuchs aber bereits einer Verletzung des unantastbaren Kernbereichs, da ja jede Kenntnisnahme bereits Eingriffscharakter hat. Ein Durchlesen der Aufzeichnungen ist damit auf jeden Fall absolut unzulässig. Die Strafverfolgungsbehörden dürfen deshalb nur eine äußere Besichtiguni7 vornehmen. Diese Überprüfung kann lediglich dazu führen, daß Schriftstücke auszusondern sind, die offensichtlich keine höchstpersönlichen Aufzeichnungen sind, wie dies bei eindeutig als Geschäftspapieren oder sonstigen beruflichen Schriftstücken wie Protokollen oder auch privaten Mitschriften von Vorträgen oder ähnliches erkennbaren Unterlagen der Fall ist. Wenn der Tagebuchcharakter festgestellt 14 Vgl. den Sachverhalt in BVerfGE SO, 368, wo der Betroffene die Aufzeichnungen in Büchern und Regalen seines Zimmers im elterlichen Haus aufbewahrte. 15 So deutlich Evers JZ 1965, 665. 16 So auch Dalakouras, Beweisverbote, 212 mit Fußn. 52; Küpper JZ 1990, 420; Störmer NStZ 1990, 398. 17 So auch Dalakouras, Beweisverbote, 212.

I. Höchstpersönlichkeitsmanifcstationen

101

ist, hat jede weitere Untersuchung zu unterbleiben. Dabei ist vor allem auch die Auffindesituation entscheidend. Je eindeutiger diese Situation auf den Tagebuchcharakter hinweist, desto oberflächlicher muß die Besichtigung bleiben. Die im verschlossenen Nachttisch als "Tagebuch" beschriftete Kladde, darf allenfalls durchblättert werden, um festzustellen, ob sonstige Schriftstücke zwischen den Seiten stecken. Wird diese äußere Besichtigung nicht gleich bei der Beschlagnahme durchgeführt, weil dies etwa wegen der großen Menge an Unterlagen nicht möglich war, muß das Tagebuch sofort und ungelesen zurückgegeben werden, wenn der nach § 110 StPO zur Durchsicht berechtigte Staatsanwalt bzw. Richter den Tagebuchcharakter erkennt18• Dabei ist die Forderung nach der ausschließlichen Zuständigkeit des Ermittlungsrichters nachdrücklich zu befürworten19•

3. Sonstige Höchstpersönlichkeitsmani/estationen Soweit Höchstpersönlichkeitsmanifestationen nicht in den Schutzbereich von Art. 4 GG fallen, genießen sie als Bestandteile des Kernbereichs von Art. 2 I, 1 I GG den in diesem Bereich gewährleisteten aktuellen Schutz. Auch hier sind als Informationsträger Ton- oder Bildaufnahmen oder schriftliche Aufzeichnungen denkbar. Manifestationen von Höchstpersönlichem sind sie dann, wenn sie einen der noch näher zu untersuchenden Prozesse der Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen zum Gegenstand haben. Dabei ist unbeachtlich, wer die Manifestation hergestellt hat. Höchstpersönlichkeitsmanifestationen sind damit nicht nur Fixierungen des forum internum einer Einzelperson, sondern auch Dokumentationen höchstpersönlicher Vorgänge mit mehreren Beteiligten.

4. Venvertung zu Präventionszwecken Die Möglichkeit einer Verwertung von Höchstpersönlichkeitsmanifestationen zu präventiven Zwecken soll wieder am Beispiel des Tagebuchs erörtert werden. An der Tatsache, daß bereits die Lektüre des Tagebuchs den unantastbaren Kernbereich verletzt, muß letztlich auch eine Verwertung von

18

Vgl. Dalakouras, Beweisverbote, 216.

19

So deutlich Amelung NJW 1988, 1006; ders. NJW 1990, 1759, der § 110 StPO für ver-

fassungswidrig hält; Küpper JZ 1990,420; Stönner NStZ 1990, 398; Wolter StrafV 1990,177 m.w.N.; ders.,GS-Armin-Kaufmann, 780.

102

D. Bestimmung der Grenzen im Einzelfall

Tagebüchern zu präventiven Zwecken in weiten Bereichen scheitern20• Eine solche Verwendungsmöglichkeit wird mit dem Hinweis auf den aus Art. 1 I 2 GG abgeleiteten Gleichrang der staatlichen Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde und der Pflicht zur Verhinderung von Menschenwürdeverletzungen durch Dritte gefordert. Die dafür erforderliche Durchsicht ist in jedem Fall mehr als die äußerliche Besichtigung, da sie eine Kenntnisnahme des Inhalts verlangt. Das Verbot einer präventiven Verwertung gilt auf jeden Fall, solange nur der Verdacht einer Gefahr besteht und kann auch nicht mit dem Hinweis darauf gerechtfertigt werden, daß es in diesem Fall um den Widerstreit zweier Ausprägungen der Menschenwürdegarantie gehrt, denn ein solcher Widerstreit besteht bei Vornahme. des Eingriffs überhaupt nicht. Das Bestehen einer solchen Gefahr kann möglicherweise das Ergebnis der Lektüre des Tagebuchs sein; genausogut kann sich aber auch herausstellen, daß gar keine Gefahr besteht. Der Eingriff gilt dann nicht der Gefahrenabwehr, sondern er erfolgt, um festzustellen, ob eine Gefahr überhaupt existiert. Der Widerstreit ist also der zwischen Tagebuchlektüre (= definitivem Menschenwürdeverstoß) und dem Verdacht einer Gesundheits- oder Lebensgefahr (= Möglichkeit des Bestehens einer Pflicht zum Schutz der Menschenwürde). Der bloße Verdacht einer Gesundheits- oder Lebensgefahr kann die Kernbereichsverletzung durch die Tagebuchlektüre nicht rechtfertigen. Solche "Gefahrenerforschungseingriffe" sind absolut unzulässig. Gefahren, die nur anhand der Lektüre von Tagebüchern erkannt werden können, für die es also keine anderen Anzeichen gibt, müssen dann eben hingenommen werden22• Das gleiche gilt aber grundsätzlich auch dann, wenn eine Gefahr bereits auf anderem Wege erkannt wurde. Die Lektüre eines Tagesbuches ist in jedem Fall unzulässig, wenn sie nur eine Bestätigung der bereits auf andere Art vorgenommenen Gefahreinschätzung bringen kann. In diesem Fall könnte die Tagebuchlektüre überhaupt keinen eigenständigen Beitrag zur Gefahrenabwehr leisten. 20 Anders BVerfGE SO, 367 ff; vgI. auch Wolter StrafV 1990, 119, der dies bei schwerwiegenden und konkreten Gesundheits- oder Lebensgefahren für möglich hält. 21 So Wolter, StrafV 1990, 119. 22 Dies ist ein Beispiel dafür, wie rechtsstaatliche Garantien die Lösung sozialer Probleme behindern können; vgI. in diese Richtung Keller StrafV 1984, 521, 526.

I. Höchstpersönlichkeitsmanifestationen

103

Ohne die Frage hier erschöpfend beantworten zu können, kann eine Abwägung von Menschenwürde gegen Menschenwürde wohl nur in den praktisch wohl sehr selten vorliegenden Fällen erfolgen, in denen eine konkrete und gegenwärtige Gesundheits- oder Lebensgefahr besteht (der Tagebuchautor hat eine Geisel genommen) und die SicherheirD besteht, daß anband des Tagebuchinhalts die Gefahr abgewehrt werden kann. Die Möglichkeit, daß das Tagebuch Hinweise zur Abwehr der Gefahr liefert, reicht wieder nicht aus, da dann bei Vornahme des Eingriffs noch nicht einmal feststeht,. ob die Kernbereichsverletzung überhaupt zur Gefahrabwehr geeignet ist. Aber auch sonst erscheint grundsätzlich Skepsis angebracht. Geht man davon aus, daß kein qualitativer Unterschied zwischen dem reinen Gedanken und der Eintragung ins Tagebuch besteh~, dann birgt die Zulässigkeit der Verwertung von Tagebüchern in diesen Fällen die Gefahr, daß mit der gleichen Rechtfertigung schließlich auch andere Methoden zur Offenlegung der noch nicht manifestierten Gedankenwelt angewendet werden2S •

5. Ergebnis Das Tagebuch gehört zum absolut geschützten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung. Soweit es der Gewissenserforschung oder der Gewissensübung dient, wird dieser absolute Schutz auch von Art. 4 GG gewährleistet. Eine generelle Zuordnung von Tagebüchern zu Art. 4 GG ist jedoch nicht möglich, da Tagebücher auch der Raum für gewissensindifferente persönliche Ansichten und Gedankengänge sind. Das Tagebuch ist damit jeglichem Zugriff durch die Strafverfolgungsbehörde entzogen, sei dieser nun heimlich oder offen, technikgestützt oder nicht. Auch eine weitere Verwendung zu präventiven Zwecken ist regelmäßig ausgeschlossen. Das gleiche gilt auch für sonstige Höchstpersönlichkeitsmanifestationen. 23 Allenfalls erscheint eine auf Tagebücher begrenzte Ausnahme von der Unverwertbarkeit von Höchstpersönlichkeitsmanifestationen dann hinnehmbar, wenn die durch bestimmte Tatsachen begründete Möglichkeit besteht, daß die Kenntnisnahme des Tagebuchinhalts die Abwehr der Gefahr ermöglicht. Andere Abwehrmöglichkeiten dürfen dann aber nicht bestehen. 24 So etwa auch Dalakouras, Beweisverbote, 213; Dünnebier MDR 1964, 967. 2S Wolter Strarv 1990, 179 will hier die Grenze der extremen Menschenrechtswidrigkeit ziehen.

104

D. Bestimmung der Grenzen im Einzelfall

11. Die Realisierung von Höchstpersönlichkeitspotentialen in speziellen Grundrechtsschutzbereichen 1. Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG und Integration

Verdeckter Ennittler

Zunächst soll der zur Exemp1ifizierung der gerade zum Schutz von höchstpersönlichen Bereichen herausgearbeiteten Grundsätze in besonderem Maße geeignete grundrechtliche Wohnungsschutz dargestellt werden. Gleichzeitig sollen beispielhaft auch die Auswirkungen der Integration eines Verdeckten Ermittlers in höchstpersönliche Bereiche aufgezeigt werden. a) Schutzbereich von Art. 13 GG Die Wohnung ist der Prototyp eines räumlichen Schutzbereiches. Sie gehört zur ureigensten Privatsphäre des Menschen und weist einen deutlichen Bezug zum Schutz der Menschenwürde aur26. Sie gewährleistet den engsten Bereich der persönlichen Lebensführung und steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der freien Entfaltung der Persönlichkeir7• Die Bedeutung dieses Grundrechts ist angesichts der zunehmenden Vermassung der Gesellschaft und einer eindeutigen Verhäuslichungstendenz des individuellen Lebens groß. Deutlich wird auch die völlige Irrelevanz jeglicher inhaltlicher Bezüge des Schutzbereiches. Der Schutz der Wohnung ist völlig unabhängig von dem, was intra muros geschieht28• Der Schutz der Wohnung ist formalisiert, er gilt einem räumlich-gegenständlichen Dispositionsspielraum29• Die Wohnung ist ein Bereich, der für den Wohnungsinhaber in besonderem Maße behemchbar ist, wobei dieser Aspekt noch dadurch verstärkt wird, daß sein Hausrecht Dritte schon am Betreten der Wohnung ohne seine Einwilligung hindert.

26 BK-Dagtoglou Art. 13 Rn 1; den, JuS 1975, 753.

zr BVerfGE 42, 219; 51, 110; 65, 40; 75, 328; Hesse, Verfassungsrecht, Rn 373;

Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn 966. 28 So auch Krauß, FS-Gallas, 386. 29 AK-Berkemann, Art. 13 Rn 3.

11. HöchstpelSÖnlichkeitspotentia1c in speziellen Schutzbereichen

105

Schon früh wurde die Notwendigkeit des Schutzes einer räumlichen Privatsphäre erkannt30 und ebenfalls schon früh wurde der Schutz der Wohnung auf die Geschäftsräume ausgedehnt31 • Dieser weiten Auslegung des Wohnungsbegriffs folgen auch die Rechtsprechung und die Literat~2. Wesentliche Unterschiede zwischen Wohn- und Geschäftsräumen werden aber betont und als Ansatzpunkte für eine differenzierte Schutzreichweite erkannt33• Als unantastbarer höchstpersönlicher Bereich können Geschäftsräume nur in Frage kommen, wenn sie einen gesteigerten, typischen Bezug zur privaten Lebensgestaltung aufweisen34, wie dies etwa bei Behandlungsräumen von Ärzten und Psychologen, den Kanzleiräumen von Anwälten oder den Arbeitszimmern von Wissenschaftlern der Fall ist. Damit wird auch Art. 12 GG und, soweit er einen Bezug zum Erwerbsleben aufweist, Art. 14 GG Rechnung getragen, die zeigen, welch hohen Stellenwert die berufliche Tätigkeit im Rahmen der Persönlichkeitsentfaltung ha~ und die für viele Menschen, die sprichwörtlich auf ein Privatleben verzichten, der einzige Bereich der Selbstverwirklichung ist. Der Widerspruch zwischen dem weiten Wohnungsbegriff und dem Sinn und Zweck des Privatsphärenschutzes36 läßt sich also beseitigen, indem man Geschäftsräumen, die einer unbeschränkten Öffentlichkeit offenstehen, wie Ladenräumen und solchen, über die der Betroffene nicht selbständig verfügen kann, wie Bücoräumen eines Angestellten, von vornherein die Möglichkeit eines absoluten Schutzes versagt. Grundsätzlich gelten die folgenden Überlegungen also nur für die Privatwohnung.

Zur historischen Entwicklung AK-Berltemann, Art. 13 Rn 1 ff. VgI. AK-Berkemann, Art. 13 Rn 3 m.N. aus der Rechtsprechung des PrOVG 32 Vgl. BVerfGE 32, 71; 42, 219; 44, 371; AK-Berltemann, Art. 13 Rn 23 f; Dagtoglou JuS 1975, 753 f; v.Münch-Pappermann, Art. 13 Rn 12; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 13 Rn 2. 33 Dagtoglou JuS 1975, 753 f; AK-Berkemann, Art. 13 Rn 23 f, der ausdrücklich zwischen dem Bereich privater Lebensgestaltung und dem Bereich der BeNfs- und Arbeitswelt unterscheidet; ausdrücklich für unterschiedliche Schutzintensitäten Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 30 31

13 Rn 5; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn 970; im Ansatz auch de Lazzer/Rohlf JZ 1977, 208 mit Fußn. 16. 34 So auch Rohlf, Privatsphäre, 162. 3S

36

Pieroth/Schlink, GNndrechte, Rn 970; Rohlf, Privatsphäre, 154. Auf diesen WiderspNch weist auch Rohlf, aaO, hin.

106

D. Bestimmung der Grenzen im Einzelfall

b) Heimliche Informationseingriffe und Schrankensystematik des Art. 13 GG (1) Heimliche Informationseingriffe als Eingriffe in Art. 13 GG Ein Eingriff in das Wohnungsgrundrecht ist jedes Eindringen in die Wohnung durch staatliche Organe und die Kenntnisnahme wohnungsinterner Vorgänge, ganz gleich, ob die staatlichen Organe dazu physisch eindringen oder die Wohnung mit technologischen Mitteln von außen transparent machen37• Jegliche heimliche Überwachung oder Aufzeichnung von Vorgängen innerhalb einer Wohnung ist damit ein Eingriff in Art. 13 GG. (2) Einordnung in die Schrankensystematik des Art. 13 GG Art. 13 GG nennt als Eingriff in seinem Abs. 2 zunächst die Durchsuchung. Durchsuchung ist das ziel- und zweckgerichtete Suchen staatlicher Organe in einer Wohnung, um dort etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung von sich aus nicht offenlegen oder herausgeben will38• Die Durchsuchung ist ein Unterfall der sonstigen Eingriffe in Abs. 3, als gezieltes Eindringen in die Privatsphäre, als momentane Totalaufnahme des Privatbereichs aber ein besonders schwerer E~9. Die Definition stellt klar, daß Durchsuchung nur die Suche nach Sachen oder Personen ist, eine elektronische Überwachung ist keine "akustische Durchsuchung..40 und dies erst recht nicht, wenn sie geheim vorgenommen wir~t, da der Durchsuchung die Offenheit des Vorgehens wesenseigen ist42•

37

Einhellige Meinung; vgI. z.B. BVerfGE 605, 40; Seier, Überwachungsmaßnahmen, 39 fj

AK-Serkemann, Art. 13 Rn 30j Dalakouras, Beweisverbote, 267 fj de Lazzer/Rohlf JZ 1977, 208j v.Münch-Pappermann, Art. 13 Rn 46j Pieroth-Schlink, Grundrechte, Rn 973 fj Rohlf, Privatsphäre, 156 fj Schlink NVwZ 1986, 251 f. 38 BVerfGE 51, 106 fj 75, 327. 39 Rohlf, Privatsphäre, 158 f.