Die >familia dei< in den synoptischen Evangelien: Eine redaktions- und sozialgeschichtliche Untersuchung zu einem urchristlichen Bildfeld 9783666539374, 3525539371, 3727811560, 9783525539378

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Die >familia dei< in den synoptischen Evangelien: Eine redaktions- und sozialgeschichtliche Untersuchung zu einem urchristlichen Bildfeld
 9783666539374, 3525539371, 3727811560, 9783525539378

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NTOA37 Taeseong Roh Die familia dei in den synoptischen Evangelien

NOVUM TESTAMENTUM ET ORBIS ANTIQUUS (ΝΤΟΑ) Im Auftrag des Departements für Biblische Studien der Universität Freiburg Schweiz herausgegeben von Max Küchler in Zusammenarbeit mit Gerd Theissen

Zum

Autor

Taeseong Roh, geboren 1962 in Busan, Korea, studierte Germanistik, Anglistik und Pädagogik an der Hankook University for Foreign Studies in Seoul (BA.), ev. Theologie an der Universität Heidelberg (1985-1989), University Yonsei Graduate School, Seoul (Th. M.). Anschliessend Promotion bei Prof. G. Theissen mit vorliegender Arbeit (1994-1997).

Novum Testamentum et Orbis Antiquus

37

Taeseong Roh

Die familia dei in den

synoptischen Evangelien Eine redaktions- und sozialgeschichtliche Untersuchung zu einem urchristlichen Bildfeld

Universitätsverlag Freiburg Schweiz Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Roh, Taeseong: Die familia dei in den synoptischen Evangelien: eine redaktions- und sozialgeschichtliche Untersuchung zu einem urchristlichen Bildfeld / Taeseong Roh. - Freiburg, Schweiz: Univ.-Verl.; Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2001 (Novum testamentum et orbis antiquus; 37) Zugl.: Diss. ISBN 3-525-53937-1 ISBN 3-7278-1156-0

Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates Freiburg Schweiz und des Rektorates der Universität Freiburg Schweiz Die Druckvorlagen der Textseiten wurden vom Autor reprofertig zur Verfügung gestellt.

© 2001 by Universitätsverlag Freiburg Schweiz Herstellung: Paulusdruckerei Freiburg Schweiz ISBN 3-7278-1156-0 (Universitätsverlag) ISBN 3-525-53937-1 (Vandenhoeck & Ruprecht) ISSN 1420-4592 (Novum Testam. orb. antiq.)

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1997 von der theologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie überarbeitet. Viele Menschen haben zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen. Bei ihnen allen möchte ich mich herzlich bedanken. An erster Stelle zu nennen ist mein Doktorvater, Herr Prof. Dr. Gerd Theißen, der die Arbeit angeregt und intensiv gefordert hat. Ohne seine ständige Ermutigung, seinen ausführlichen fachlichen Rat und nicht zuletzt seine Mühe, mein eher stolperndes Deutsch in ein fließendes zu verwandeln, wäre diese Arbeit überhaupt nicht entstanden. Herrn Prof. Dr. Christoph Burchard danke ich herzlich für die Übernahme des Korreferates und seine Verbesserungsvorschläge. Frau Dr. Annette Merz bin ich zu großem Dank verpflichtet. Sie hat die Arbeit zweimal (1997 und 2000) gelesen, und dabei sowohl fachlich als auch sprachlich wertvolle Verbesserungsvorschläge gemacht. Herrn Gunnar Garleff, der ebenfalls Korrektur gelesen hat, möchte ich auch sehr danken. Meiner Frau, Kyeongseon Rhie, und meinen beiden Töchtern, Jaeeun und Jaedok, schulde ich großen Dank, vor allem meiner Frau, die meinetwegen während des Aufenthaltes in Deutschland auf ihre berufliche Laufbahn als Lehrerin verzichtete und mir die ganze Zeit beistand. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Rotary International Foundation danke ich für die mir gewährten Stipendien. Dank gilt auch denen, die mit ihrem Druckkostenzuschuß dieses Buch erscheinen ließen. Schließlich möchte ich Prof. Dr. Max Küchler und Prof. Dr. Gerd Theißen für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe NOVUM TESTAMENTUM ET ORBIS ANTIQUUS herzlich danken.

Wilhelmsfeld, im Februar 2001

Taeseong Roh

INHALTSVERZEICHNIS ERSTES KAPITEL: EINLEITUNG

1

I. Themenstellung

1

II. Entfaltung des Themas

1

(1) Gott als Vater Philos Verständnis von Gott als Vater

(2) Gott (Weisheit) als Mutter (3) Kinder (Söhne) Gottes (4) 'Geschwister' ('Bruder' bzw. 'Schwester') Pagane Analogie zu der familia-dei- Vorstellung im NT?

III. Methodik und forschungsgeschichtliche Einordnung (1) Der metaphorologische Ansatz (2) Der redaktionsgeschichtliche Ansatz (3) Der sozialgeschichtliche Ansatz

3 6

9 13 18 22

22 22 30 32

ZWEITES KAPITEL: DIE VORSTELLUNG DER FAMILIA DEI IN Q 39 I. Gott als Vater (1) Inhaltliche Merkmale der Vorstellung von Gott als Vater a) Das Bild vom fursorgenden Vater a. Q-Lk 12,22-31 b.Q-Lk 11,9-13 c. Q-Lk 11,2-4 b) Das Bild vom nachzuahmenden Vater mit königlicher Hoheit (2) Der Sitz im Leben der vier Texte a) Q-Lk 11,9-13 b) Q-Lk 12,22-31 c) Q-Lk 6,27-36 d) Q-Lk 11,2-4 a. Die Brotbitte b. Die Versuchungsbitte c. Die Vergebungsbitte

40 40 41 41 41 42 43 44 44 53 61 68 68 70 72

vm (3) Die Funktion der Vorstellung von Gott als Vater

74

II. Gott als Mutter 79 (1) Inhaltliche Merkmale der Vorstellung von Gott als Mutter 80 a)Q-Lk 7,31-35 80 b) Q-Lk 13,34f 83 a. Die Frage nach dem Sprecher des Logions 83 b. Konkretisierung der Vorstellung von Gott als Mutter 86 (2) Der Sitz im Leben der Vorstellung von Gott als Mutter in Q 87 a) Q-Lk 7,31-35 87 a. Die Kinder der Weisheit 88 b. Dieses Geschlecht 92 c. Das Verhältnis der Kinder der Weisheit zu diesem Geschlecht94 b) Q-Lk 13,34f 96 Exkurs: Der Heilandsruf in Mt 11,28-30 103 Zusammenfassung

104

DRITTES KAPITEL: DIE VORSTELLUNG DER FAMILIA DEI IM MKEV 107 I. Mk 3,31-35 107 (1) Diachronische Überlegung 108 (2) Historizität? 111 (3) Die Bedeutung des Verses 35: 113 a) Offenheit 113 b) Die Gemeinschaft unter den Sympathisanten 115 (4) Die sozialgeschichtliche Bedeutung der Hinzufugung des Wortes 'Schwester'in v35 116 (5) Synchronische Überlegung: Die Bedeutung des ganzen Textes für die mk Gemeinde(situation) 118 II. Mk 10,28-31 126 (1) Ein ergänzendes Bild 126 (2) Sozialgeschichtliche Überlegung zur Entstehung des Textes 130 (3) Das Fehlen des Wortes „Vater" in v30 136 Exkurs: Zum Wesen von ortsansässigen Sympathisantengruppen\36 (4) Die Bedeutung des Textes auf der Ebene der mk Gemeinde 139

Iχ (5) Der mk Sitz im Leben von Mk 10,28-31

142

Zusammenfassung Die Metapher Sklave in der familia dei

143 144

Exkurs: Die Ablösung der Ortsgemeinde von den Wandercharismatikern 1)Mk 10,13-16 2) Mk 9,33-37 3) Mk 7,9-13 4) Mk 10,1-12

145 145 150 154 158

VIERTES KAPITEL: DIE VORSTELLUNG DER FAMILIA DEI IM MTEV 164 I. Die familia-dei-Vorstellung in Traditionen der Logienquelle und des MkEv 164 (1)MkEv 164 a) Mt 12,46-50 (Mk 3, 31-35) 165 b) Mt 19,27-30 (Mk 10,28-31) 168 (2) Logienquelle 171 Exkurs: Die mt Gemeinde 174 II. Die familia-dei-Vorstellung im mt Sondergut und von Mt geschaffenen Texten (1) Bergpredigt a) Mt 5,16 Die Feindesliebe als Modell für Mt 5,16? b) Mt 6,1 c) Mt 6,2-6.16-18 d) Mt 6,14f e) Mt 6,7f f) Mt 5,9 g) Zusammenfassung Exkurs: Der sozialgeschichtliche Hintergrund der Vorstellung familia dei in der Bergpredigt (2) Mt 17,24-27 (3) Mt 23,8-10

185 186 187 190 190 192 193 195 195 196 der 196 201 206

χ Exkurs: Abrahams Kindschaft für Heiden? (4) Mt 18 Exkurs Vergebung unter Brüdern (5)Mt 13,36-43 /Mt25,31-46 a) Mt 13,36-43 b) Mt 25,31-46 (6) Mt 6,26; 10,20.29 Zusammenfassung

213 214 216 217 217 218 222 223

FÜNFTES KAPITEL: DIE VORSTELLUNG DER FAMILIA DEI IM LKEV 226 I. Die familia-Dei-Vorstellung in Traditionen der Logienquelle und des MkEv 226 (1)MkEv 226 a) Lk 8,19-21 (Mk 3,31-35) 227 b) Lk 18,28-30 (Mk 10,28-31) 230 (2) Logienquelle 233 Exkurs: Die lk Gemeinde im Vergleich zur mt Gemeinde 235 II. Die familia-dei-Vorstellung im lk Sondergut und von Lk geschaffenen Texten 237 (1) Lk 3,38 237 Exkurs: Die Herkunft der universalen Konzeption der familia-deiVorstellung im LkEv 240 (2) Lk 2,41-52 245 (3) Lk 15,11-32 246 Die Buße im lk Doppelwerk 256 (4) Lk 22,32 257 Exkurs: Die Verwendung des Wortes 'Brüder (Bruder) ' in der Apostelgeschichte 260 (5) Lk 1 l,27f 265 (6) Lk 12,32 266 (7) Lk 20,36 267 Zusammenfassung

268

XI Exkurs: Die familia-dei-Vorstellung im Thomasevangelium 1) Die Vorstellung von Gott als Vater 2) Die Vorstellung der Bruderschaft a) Log. 25 und 26 b) Log. 99 3) Zusammenfassende Überlegung

SECHSTES KAPITEL: ZUSAMMENFASSUNG

270 270 275 275 276 283

284

I. Der historische Jesus und die familia dei: Differenzierungen unter den Anhängern Jesu 284 II. Q und Mk als älteste Quellen: Von der Teilverwirklichung des Bildfeldes der familia dei zum vollen Bildfeld 287 (1) Logienquelle 287 (2) MkEv 288 III. Die großen synoptischen Evangelien: Zwei Synthesen im MtEv und LkEv aufgrund der älteren Quellen 289 (1) MtEv 289 (2) LkEv 290 IV. Die Geschichte der familia-dei-Vorstellung in den synoptischen Evangelien 291 Literaturverzeichnis Stellen register

293 304

Für Kyeongseon

Die Vorstellung der familia dei in den synoptischen Evangelien

1

Erstes Kapitel: Einleitung I. Themenstellung In der Kirche sprechen wir oft von Gott als 'Vater' Dieser Sprachgebrauch bringt unsere Beziehung zu Gott zum Ausdruck: Er ist unser Vater, und wir sind seine Kinder. Zugleich nennen wir unsere Mitchristen 'Brüder' oder 'Schwestern' Diese Metaphern hängen sachlich eng miteinander zusammen. Denn aus einer gemeinsamen Vaterschaft ergibt sich logischerweise eine Geschwisterschaft} Da hinter den Wörtern, 'Vater' ('Mutter'), 'Kinder' ('Sohn', 'Tochter') und 'Geschwister' ('Bruder', 'Schwester') die Vorstellung einer Familie steht, können wir die Vorstellung2 hinter diesen sachlich zusammenhängenden Metaphern 'familia dei' 3 nennen. Der bibelwissenschaftlichen Forschung liegen bereits zahlreiche Untersuchungen über einzelne Metaphern, z.B. Vaterschaft Gottes oder Gotteskindschafit, vor. Erstaunlicherweise fehlt aber bis jetzt eine diese Metaphern in ihrem Zusammenhang darstellende Untersuchung. Eine Arbeit, welche die Vorstellung der familia dei zu ihrem Gegenstand hat, ist ein Desiderat. Die vorliegende Arbeit soll diese Lücke ausfüllen.

II. Entfaltung des Themas Die Vorstellung der familia dei bezieht sich in der paganen Welt in erster Linie nicht auf die Menschen, sondern auf die Bewohner des Himmels. 1

Ein gutes Beispiel dafür stellt die etymologische Erklärung des griechischen Wortes αδελφός dar, das aus δελφύς (Mutterschoß) und alpha kopulativum gebildet ist und etwa soviel wie „aus demselben Mutterschoß geboren" bedeutet (vgl. W. Günther, Art. Bruder, Nächster, in: TBLNT I, Wuppertal 1967, 146149, dort 146). 2 P. Busch, Der gefallene Drache. Mythenexegese am Beispiel von Apokalypse 12, TANZ 19, Tübingen 1996, 7, äußert einen Vorbehalt gegen die Benutzung des Begriffs 'Vorstellung', weil er „in vielen auch nicht wissenschaftlichen Kontexten unpräzise" sei und schlägt vor, statt dessen den Ausdruck 'Thema' zu gebrauchen. Ich sehe allerdings keine Notwendigkeit, auf den Begriff 'Vorstellung' zu verzichten, weil sein Vorschlag keine Präzisierung bringt. 3 Der Begriff 'familia dei' wird u.a. von J. Schniewind, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 6 1952, 72, benutzt.

2

Einleitung

Das heißt, zur familia dei gehören nach paganem Verständnis nur die Götter. Dies zeigt sich deutlich bei Homer. Zwar wird Zeus von ihm als Vater von Menschen und Göttern beschrieben, 4 aber eine familiäre Verbundenheit lässt sich nur unter Göttern beobachten. 5 Die Vaterschaft des Zeus gegenüber den Menschen bedeutet nur deren göttliche Herkunft, d.h. die Menschen haben ihm ihre Entstehung zu verdanken, 6 sie bedeutet nicht, dass die Menschen mit ihm eine göttliche Familie bilden. Anders als mit den Göttern verkehrt Zeus als Gott mit Menschen fast niemals direkt, sondern wirkt stets mittels Zeichen oder Boten etc. auf das Schicksal der Menschen ein. 7 Bei Piaton zeigt sich dasselbe Bild. Gott ist zwar für ihn Schöpfer des menschlichen Körpers und Erzeuger der Seele,8 aber das Verhältnis von Gott und Mensch ist kein familiäres. Eine Götterfamilie bilden nur die Götter, wobei der Schöpfer-Gott als Vater allen anderen Göttern vorsteht. 9 Von dieser paganen Vorstellung der familia dei unterscheidet sich die familia-dei-Vorstellung in Israel, die im Alten Testament überliefert ist. Hier gehören zur familia dei auch Menschen, nämlich die Israeliten. Gott ist der Familienvater, Menschen wie die Israeliten sind Kinder in seiner Familie. Im Unterschied zur paganen Vorstellung ist hier eine Verlagerung des Gewichtes vom Himmel auf die Erde sichtbar. Die familia dei ist im AT nicht mehr eine Angelegenheit himmlischer Wesen allein, sondern himmlischer und irdischer Wesen. Der Grund für diesen Unterschied dürfte im Gottesbild liegen: Der monotheistische Glaube in Israel erlaubt nicht, dass Götter eine Familie bilden. 10 Es existiert für die Israeliten (zumindest seit der Exilszeit) nur ein Gott. 4

Vgl. z.B. Odysee 1,28; Ilias 1,544. Vgl. H. Erbse, Untersuchungen zur Funktion der Götter im homerischen Epos, UALG 24, Berlin u.a. 1986, 224. 6 Vgl. D. Rusam, Die Gemeinschaft der Kinder Gottes. Das Motiv der Gotteskindschaft und die Gemeinden der johanneischen Briefe, Β WANT 133, Stuttgart u.a. 1991, 17. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. z.B. Timaios 37c. 9 Vgl. Rusam, Gotteskindschaft, 19. 10 Das AT kennt zwar die Vorstellung von einem Pantheon und einer Götterversammlung, „nach der eine Reihe göttlicher Wesen - unter denen man wenigstens teilweise die Götter anderer Völker verstand - unter Jahwe als dem höchsten Gott existierten" (G. Fohrer, υιός κτλϊη: ThWNT VIII, Stuttgart u.a. 1969, 340-355, dort 349), aber diese Götterversammlung hat keinen familiären Charakter. 5

Die Vorstellung der familia dei in den synoptischen Evangelien

3

Wie aber sah diese monotheistisch orientierte familia-dei-Vorstellung im A T konkret aus? Welche charakteristischen Züge lassen sich in ihr beobachten? Und wie wurde sie in den zwischentestamentlichen Schriften weitergeführt? Wurde sie in diesen Schriften verändert? Diesen Fragen wenden wir uns zunächst zu, bevor wir zum eigentlichen Anliegen übergehen.

(1) Gott als Vater Die Metapher ' V a t e r ' für Gott begegnet im A T selten. Insgesamt taucht sie, direkt auf Gott bezogen, 1 1 15mal auf (Dtn 32,6; Jes 63,16 (2mal); 64,7; Jer 3,4.13; 31,9; Mal 1,6; 2,10; 2Sam 7,14; I C h r 17,13; 22,10; 28,6; Ps 89,27; 68,6). Wenn man berücksichtigt, dass das Wort ' V a t e r ' im Sinne von leiblichem Vater im ganzen A T etwa 1180mal verwendet wird, ist der spärliche metaphorische Gebrauch des Wortes im A T als Zurückhaltung gegenüber diesem Bild zu beurteilen. 1 2 Diese Zurückhaltung ist wohl darauf zurückzuführen, dass im A T im Unterschied zum paganen Verständnis der Vater-Gott nicht als biologischer oder mythologischer Erzeuger verstanden wird, sondern als Erlöser und Erwähler (Hos 11,1; D t n M ^ f 1 3 ) . 1 4 Selbst dort, wo vom ' S c h a f f e n ' oder ' Z e u g e n ' Gottes gesprochen wird (Dtn 32,6; Ps 2,7), ist nicht ein „verwandtschaftliches Verhältnis" 1 5 gemeint, sondern stets eine Adoption, die „das geschichtliche, erwählende Handeln Gottes" 1 6 als Basis hat. Dementsprechend ist die Vaterschaft Gottes im A T hauptsächlich auf das Volk Israel bezogen. Erlöst und erwählt wurde j a das Volk Israel als Ganzes. Dies zeigt sich besonders in Jer 31,9: „Sie werden weinend kommen, aber ich will sie trösten und leiten. Ich will sie zu Wasserbächen führen auf ebenem We11 Die Stellen, wo die Menschen Kinder (Söhne bzw. Töchter) Gottes genannt werden, werden hier nicht berücksichtigt. Dazu s.u. 12 Vgl. O. Hofius, πατήρ κτλ, in: TBLNT II/2, Wuppertal 1971, 1242-1247, dort 1243; O. Michel, πατήρ κτλ, in: EWNT III, Stuttgart u.a. 1983, 125-135, dort 127. 13 Zu Hos 11,1 s.u.; Dtn 14,lf: „Ihr seid Kinder des Herrn, eures Gottes Denn der Herr hat dich erwählt " Das Kindsein Israels wird hier unmissverständlich dadurch begründet, dass Gott Israel erwählt hat. 14 Vgl. J. Jeremias, Abba, in: ABBA. Studien zur Neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 15-67, dort 16f. 15 Jeremias, Abba, 16. 16 Hofius, πατήρ κτλ-1244.

4

Einleitung ge, dass sie nicht zu Fall kommen; denn ich bin Israels ter, und Efraim ist mein erstgeborener Sohn."

Va-

Die von mir hervorgehobenen Wörter zeigen: Gott ist Israels Vater, Israel (Efraim) ist sein Sohn. An eine persönliche Beziehung zwischen Gott und einem einzelnen Menschen ist dabei nicht gedacht. 17 Die ersten acht der oben genannten Stellen weisen denselben Zug auf. 18 Ist im AT von einer persönlichen Beziehung zwischen Gott und Menschen die Rede, so ist der betreffende Mensch der Repräsentant des Volkes, nämlich der König,19 wie in IChr 28,6 deutlich zu sehen ist: „... Dein Sohn Salomo soll mein Haus und meine Vorhöfe bauen; denn ich habe ihn mir erwählt zum Sohn, und ich will sein Vater sein Wenn die Vaterschaft Gottes in seinem erlösenden und erwählenden Handeln begründet ist, so versteht es sich von selbst, dass sie sowohl von seiner für den Sohn sorgenden Liebe als auch von seiner Forderung an

17

Dazu vgl. das Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei in Q' Dtn 32,6: „Dankst du so dem Herrn, deinem Gott, du tolles und törichtes Volk? Ist er nicht dein Vater und dein Herr? Ist's nicht er allein, der dich gemacht und bereitet hat?"; Jes 63,16: „Bist du doch unser Vater, denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater, unser Erlöser, das ist von alters her dein Name."; 64,7: „Aber nun, Herr, du bist doch unser Vater\ Wir sind Ton, du bist unser Töpfer, und wir alle sind deiner Hände Werk."; Mal 1,6: „Ein Sohn soll seinen Vater ehren und ein Knecht seinen Herrn. Bin ich nun Vater, wo ist meine Ehre? Bin ich Herr, wo furchtet man mich? spricht der Herr Zebaot zu euch "; 2,10: „Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht ein Gott geschaffen? Warum verachten wir denn einer den anderen und entheiligen den Bund mit unsern Vätern?" Alle von mir hervorgehobenen Wörter zeigen, dass nicht der einzelne Mensch, sondern das Volk Israel unter der Vaterschaft Gottes steht. Das Gleiche ergibt sich bei den beiden Jeremia-Stellen aus ihrem Kontext. Jer 3,3f: „... du willst dich nicht mehr schämen und schreist jetzt zu mir: 'Lieber Vater '" (Jer 2,31: „Du böses Geschlecht "); 3,19: „Und ich dachte: Wie will ich dich halten, als wärst du mein Sohn, und dir das liebe Land geben, den allerschönsten Besitz unter den Völkern! Und ich dachte, du würdest mich dann 'Lieber Vater' nennen und nicht von mir weichen." (v20: „Aber das Haus Israel "). 18

19

Zu dieser Kategorie gehören außer Ps 68,6 die restlichen oben genannten Stellen. 2Sam 7,14: „Ich will sein Vater sein, und er soll mein Sohn sein IChr 17,13: „Ich will sein Vater sein "; 22,10: „Der soll meinem Namen ein Haus bauen. Er soll mein Sohn sein, und ich will sein Vater sein Ps 89,27: „Er wird mich nennen: Du bist mein Vater, mein Gott und Hort, der mir hilft."

Die Vorstellung der familia dei in den synoptischen Evangelien

5

den Sohn zu einem dieser Liebe entsprechenden Verhalten geprägt wird. 20 So veranschaulicht die oben zitierte Jeremiasteile (31,9) besonders mit den Stichwörtern 'trösten', 'leiten' und 'fuhren' die Liebe des Vater-Gottes, während die beiden Maleachistellen die Forderung, dem Vater mit Ehrfurcht zu begegnen (1,6) sowie sich ihm entsprechend zu verhalten (2,10), betonen. Ähnlich sind auch die beiden Stellen Dtn 32,6 und Jer 3,19 zu beurteilen. In den zwischentestamentlichen Schriften wird die alt. Vorstellung von Gott als Vater weitergeführt. Genauso wie im AT ist Gott hier der Vater der Israeliten. So heißt es in Jub 1,28: „Und der Herr wird erscheinen dem Auge eines jeden, und jeder wird erkennen, dass ich der Gott Israels bin und der Vater für alle Kinder Jakobs und der König auf dem Berge Sion in die Ewigkeit der Ewigkeit. Und es werden Sion und Jerusalem heilig sein."21 Dass sich der Ausdruck 'alle Kinder Jakobs' auf das vorhergehende Wort 'Israel' bezieht, versteht sich von selbst. Vorher heißt es in Jub l,24f: Und ich werde ihnen Vater[Gott] sein, und sie werden meine Kinder sein. / Und sie alle werden genannt werden Kinder des lebendigen Gottes. Und es werden sie kennen alle Engel und alle Geister. Und sie sollen sie kennen, dass sie meine Kinder sind und ich ihr Vater in Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit und dass ich sie liebe."22 Es ist unverkennbar, dass in diesen Versen atl. Traditionen (2Sam 7,14; Hos 2,1; Sach 8,8) übernommen und weitergeführt werden. 23 In 2Sam 7,14 bezieht sich die Gotteskindschaft auf den König. Dies wurde in Jub auf das ganze Volk umgedeutet. Die Bezugnahme auf Hos 2,1 (Kinder des lebendigen Gottes) zeigt, dass dabei in Jub eine atl. Vatermetaphorik für die Beziehung zwischen Gott und Israel übernommen wurde. In Sach 8,8 ist nicht von

20

Vgl. Hofius, πατήρ κτλ, 1244. Zitiert nach der Übersetzung von K. Berger, Das Buch der Jubiläen, in: Unterweisung in erzählender Form, JSHRZ II, Gütersloh 1981, 319f. 22 Übersetzung von Berger, Jubiläen, 318. 23 Vgl. G. Delling, Die Bezeichnung 'Söhne Gottes' in der jüdischen Literatur der hellenistisch-römischen Zeit, in: J. Jervell/W.A. Meeks (Hg.), God's Christ and His People, Oslo u.a. 1977, 18-28, dort 19f. 21

6

Einleitung

Gott als Vater die Rede, sondern nur davon, dass Israel Gottes Volk ist. Die Aussage über ihr Verhältnis - „in Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit" - wird in Jub jedoch auf die Vatermetaphorik Gottes bezogen. 24 Die Übernahme atl. Traditionen (besonders die von Sach) zeigt, dass die Vater-Metaphorik hier vom Erwählungsgedanken geprägt ist, der in dem Ausdruck 'mein Volk ihr Gott' zum Vorschein kommt. Gott ist also Vater aufgrund der Erwählung Israels. Gerade das ist eine charakteristische Eigenschaft der familia-dei-Vorstellung im AT, wie wir oben gesehen haben. Philos Verständnis von Gott als Vater Dem atl. Verständnis vom Vater-Gott fern, dagegen paganem Vater-GottVerständnis nahe steht der jüdische Philosoph Philo. Er leitet die Vatermetaphorik nicht wie das AT aus dem Erlösungs- und Erwählungsgedanken, sondern aus dem Schöpfungsgedanken her. Gott hat die Welt erschaffen und ist daher Vater für alle Geschöpfe, wie es in Ebr 30 heißt: „... So werden wir z.B. den Meister, welcher unser Weltall geschaffen hat, mit Recht zugleich auch als Vater des Erschaffenen bezeichnen " 25 Ferner es heißt in Mut 29: „... Denn mittels dieser Kraft ordnete alles der zeugende und werkende Vater, so dass die Worte 'Ich bin dein Gott' die Bedeutung haben von: Ich bin Schöpfer und Werkmeister." 26 Bei Philo findet man sogar das pagane Verständnis von Gott als Vater aller, wie es in SpecLeg 2,165 heißt: „Wenn anders aber Er in Wahrheit existiert, dessen Dasein alle, Hellenen und Barbaren, einmütig zugeben, der höchste 'Vater der Götter und Menschen' "27 Für Philo ist allerdings nicht jeder 'Kind Gottes', sondern nur derjenige, der „väterlicher Fürsorge und Pflege (sc. des Vater-Gottes) gewürdigt" ist, weil er das „Wohlgefällige" und „Schöne" tut (SpecLeg 1,3 1 828), d.h. Gott als Vater

24

Vgl. ebd. Übersetzung von M. Adler, Über die Trunkenheit, in: L. Cohn u.a. (Hg.), Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung V, Berlin 2 1962, 17f. 26 Übersetzung von W Theiler, Über die Namensänderung, in: Cohn u.a. (Hg.), Philo VI, Berlin 2 1962, 115. 27 Übersetzung von I. Heinemann, Über die Einzelgesetze Buch I-IV, in: Cohn, Philo II, Berlin 2 1962, 153. 28 „... Es wird aber meine Ausführung bestätigt durch das Gesetzeswort, dass die Menschen, die 'das' der Natur 'Wohlgefällige' und 'das Schöne' tun, Kinder Gottes sind; denn so heisst es: 'Kinder seid ihr des Herrn eures Gottes' offenbar, 25

Die Vorstellung der familia dei in den synoptischen Evangelien

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anerkennt.29 Offensichtlich versucht Philo, atl. Verständnis von Gott als Vater und paganes Verständnis miteinander zu verbinden. 30

Wie im A T ist die Liebe und Zuneigung Gottes als Vater zu seinem Sohn, dem Volk Israel, auch in zwischentestamentlichen Schriften zu beobachten. Im Fragment 3 des Apokryphons Ezechiel heißt es: „Tut Buße, Haus Israel, von eurer Gesetzlosigkeit. Ich habe zu den Söhnen meines Volkes gesagt: Wenn eure Sünden von der Erde bis an den Himmel reichten, wenn sie röter wären als Scharlachbeeren oder schwärzer als ein Sack, ihr euch aber zu mir bekehrtet von ganzem Herzen und sagtet: 'Vater!', so würde ich euch erhören als ein heiliges Volk."' 31 Selbst die von der Erde bis an den Himmel reichenden Sünden der Söhne Israels machen Gottes Liebe und Zuneigung zu seinen Söhnen nicht ungültig. Wie ein geduldiger, liebevoller Vater wartet Gott auf die Umkehr seiner Söhne und reagiert auf seine Anrufung als Vater durch seine Söhne ohne Verzögerung. Ist in Jub Gott Vater des ganzen Volkes Israel, wie es im AT üblich war, so begegnet in Schriften wie Sir oder SapSal Gott auch als Vater eines Einzelnen. So heißt es in Sir 51,10: „Da erhob ich meine Stimme: Herr, mein Vater bist du; denn du bist der Held meiner Hilfe, nicht mögest du ablassen von mir am Tage der Not, am Tage des Verderbens und des Entsetzens." 32 Der Beter ruft hier Gott als 'seinen Vater' an. In SapSal 2,16 heißt es ferner:

weil sie gleichsam väterlicher Fürsorge und Pflege gewürdigt werden " (Übersetzung von Heinemann, 99). 29 Vgl. Rusam, Kindschaft, 20. 30 Dafür spricht auch, dass in SpecLeg 1,318 die beiden atl. Verse Dtn 13,19; 14,1 als Begründung gebraucht werden. 31 Übersetzung von K.-G. Eckart, Das Apokryphon Ezechiel, in: Apokalypsen, JSHRZ V, Gütersloh 1974, 53. 32 Übersetzung von G. Sauer, Jesus Sirach (Ben Sira), in: Unterweisung in lehrhafter Form, JSHRZ III, Gütersloh 1981, 635.

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Einleitung

„Für Falschgeld hält er uns, und er meidet unsere Wege wie Schmutz. Er preist das Ende der Gerechten und prahlt, dass Gott (sein) Vater (sei)."33 Dass Gott Vater eines Einzelnen ist, begegnet uns bereits im AT, jedoch ist Gott dort Vater des Königs. Hier jedoch redet kein Repräsentant des Volkes Gott als seinen Vater an bzw. hält Gott für seinen Vater, aber es ist auch kein einfacher Mensch. Da es im Buch Sir um die Weisheit bzw. die sie Suchenden geht, lässt sich in dem Beter vielmehr ein Weiser vermuten. Ähnlich ist es in SapSal: Derjenige, der sich als Sohn Gottes versteht, ist ein Gerechter, wie die beiden folgenden Verse (SapSal 2,13.18) zeigen: „Er behauptet, Erkenntnis Gottes zu besitzen, und nennt sich ein Kind des Herrn." „Denn wenn der Gerechte ein Sohn Gottes ist, wird er sich seiner annehmen, und er wird ihn erlösen aus der Hand seiner Widersacher."34 Es sind also die religiösen Eliten (die Weisen und Gerechten), die Gott als ihren Vater verstanden haben. Wenn Gott hier als Vater nicht nur für den Repräsentanten des Volkes, sondern auch für eine, wenn auch nur kleine Elite im Volk verstanden wird, so bedeutet das eine Weiterentwicklung der atl. Tradition. Der individualisierende Zug in der Beziehung zwischen Gott und Mensch dürfte wohl auf weisheitliche Tradition zurückzufuhren sein.35 Die Weiterentwicklung der atl. Tradition in zwischentestamentlichen Schriften betrifft nicht nur ihren Inhalt, sondern auch ihre Häufigkeit. Denn der Gebrauch der familia-dei-Vorstellung nimmt in zwischentestamentlichen Schriften gegenüber dem AT zu. Nach A. Strotmann kommt „das Nomen 'Vater' als Metapher für Gott" in den von ihr untersuchten 16 „frühjüdischen Schriften und Fragmenten" 51 mal vor.36 Das ist mehr 33

Übersetzung von D. Georgi, Weisheit Salomos, in: Unterweisung in lehrhafter Form, JSHRZ III, Gütersloh 1980, 408. 34 Übersetzung von Georgi, ebd. 35 S.u. den Abschnitt '(2) Gott (Weisheit) als Mutter' 36 A. Strotmann, „Mein Vater bist Du!" (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, FTS 39, Frankfurt 1991, 360. Die 16 Schriften, die sie untersuchte, sind Tobit, Jesus

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als das dreifache Vorkommen des Wortes verglichen mit dem AT, denn dort ist es insgesamt nur 15mal bezeugt.

(2) Gott (Weisheit) als Mutter Die Metapher ' M u t t e r ' für Gott begegnet im A T besonders 3 7 dort, w o von der 'hypostasierten' Weisheit die Rede ist. Gemeint sind Texte wie Spr 1; 8; 9 (vielleicht noch Hiob 28). Diesen Texten könnte ein fremder Weisheitsmythos zugrundeliegen, 3 8 der „an die besondere Struktur israelitischen Glaubens" adaptiert ist. 39 Nach dem Weisheitsmythos, der in äthHen 42 am deutlichsten sichtbar wird, kam die Weisheit, um unter den Menschen W o h n u n g zu nehmen, da sie j e d o c h keine W o h n u n g fand, kehrte sie an ihren Ort in den Himmel zurück. 4 0 Die weisheitliche Bemühung, unter den Menschen Wohnung zu nehmen, zeigt sich in den Texten in Form eines Rufes der Weisheit. So heißt es in Spr l,20f: „Die Weisheit ruft laut auf der Straße und lässt ihre Stimme hören auf den Plätzen. Sie ruft im lautesten Getümmel " Genauso heißt es in 8,Iff: „Ruft nicht die Weisheit, und lässt nicht die Klugheit sich hören? Öffentlich am Wege steht sie

Sirach, Sapientia Salomonis, Apokryphon Ezekiel, Testamente der Zwölf Patriarchen, Testament Hiob, Testament Abraham, Jubiläen, Joseph und Aseneth, Apokalypse des Mose, 3 Makkabäer, Diphilos/Menandros-Zitat, das (verfälschte) Pythagoraszitat, Gebet des Jakob, hebräische Textfragmente aus Qumran (4Q) und 1QH. 37 Die Metapher 'Mutter' fiir Gott ohne Verbindung mit der Weisheit begegnet auch. In Jesaja 66,13 heißt es: „Ich (sc. der Herr) will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet 38 Vgl. R. Bultmann, Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Prologs zum Johannes-Evangelium, in: Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments (E. Dinkier Hg.), Tübingen 1967, 10-35, dort 13-32. Die Annahme eines Weisheitsmythos ist jedoch nicht unumstritten. Einen Überblick über die Forschung gibt H. v. Lips, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament, WMANT 64, Neukirchen-Vluyn 1990, 153-166. 39 Vgl. U. Wilckens, σοφία κτλ.ΐη: ThWNT VII, Stuttgart u.a. 1966, 497-528, dort 508. 40 „Die Weisheit fand keinen Platz, wo sie wohnen konnte, da hatte sie eine Wohnung in den Himmeln. Die Weisheit ging aus, um unter den Menschenkindern zu wohnen, und sie fand keine Wohnung; die Weisheit kehrte an ihren Ort zurück und nahm ihren Sitz unter den Engeln " (äthHen 42). Die Übersetzung stammt von S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, in: Apokalysen, JSHRZ V, Gütersloh 1984, 584.

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Einleitung

und an der Kreuzung der Straßen; an den Toren am Ausgang der Stadt und am Eingang der Pforte ruft sie."

Diese Weisheit war nach Spr 8,22-31 bei Gott von Anfang an, bevor die Welt geschaffen wurde. Zieht man daraus die Konsequenz, die Weisheit als mit Gott identisch zu betrachten, so haben wir in der Weisheit eine 'Mutter'-Metapher für Gott, denn in Spr 8,32 heißt es: „So hört nun auf mich (sc. die Weisheit), meine Wohl denen, die meine Wege einhalten!"

Söhnel

Ist die Weisheit eine weibliche Gestalt, so besagt der von mir hervorgehobene Ausdruck in der Rede der Weisheit unmissverständlich, dass sie eine Mutter für die Menschen ist. Die Mutter-Metaphorik der Weisheit in SapSal 41 sieht anders aus. Dort ist sie nicht nur Mutter - das wird nur indirekt angedeutet!-, 42 sondern auch Ehefrau dessen, der die Weisheit sucht. In 8,2f heißt es: „In sie verliebte ich mich, erprobte (sie) von meiner Jugend an, suchte sie als meine Braut heimzuführen und wurde ein Bewunderer ihrer Schönheit. / Dadurch, dass sie (eheliche) Gemeinschaft mit Gott hat, verklärt sie ihre vornehme Herkunft, und der Herr des Alls liebt sie (wirklich)." Selbst dort, wo von der (ehelichen) Gemeinschaft der Weisheit mit Gott die Rede ist, wird von der Intention des Redners, sie zur Braut zu nehmen, gesprochen! Weiter heißt es in 8,9.16: „Ich beschloss deshalb, sie in die Ehe zu fuhren „(Immer wenn) ich nach Hause komme, werde ich mit ihr schlafen; denn der Beischlaf mit ihr hat keine Bitterkeit Offenbar ist die Anwendung der miteinander schwer zu vereinbarenden beiden Metaphern 'Mutter' und 'Ehefrau' für den Autor der SapSal kein Problem, für ihn dürfte die Beziehung des Menschen zur Weisheit (als einer engen familiären Beziehung) im Mittelpunkt stehen.

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Alle unten zitierten Übersetzungen von SapSal-Versen stammen von Georgi, Weisheit, 429f.431.432. 42 Etwa so, dass Gott der Vater Israels ist (z.B. in 9,7) und die Weisheit zum ehelichen Partner (8,3) und zur Throngenossin hat (9,4).

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Im Unterschied zur Vaterschaft Gottes basiert die Mutterschaft der Weisheit allerdings nicht auf einem 'erlösenden bzw. erwählenden' Handeln Gottes. Von einem errettenden Akt der Weisheit ist ja in den älteren Schriften des AT nirgends die Rede. 43 Dies lässt vermuten, dass bei der Mutterschaft der Weisheit wohl nicht das ganze Volk Israel als Sohn im Blick ist, sondern eher der einzelne Mensch. Dafür spricht auch der plurale Ausdruck 'Söhne' in Spr 8,32. Dies darf jedoch im AT nicht überbetont werden, als stünden bei dieser Mutterschaft die Menschen im Allgemeinen im Vordergrund. 44 Denn die Weisheit ist im AT unmissverständlich von israelitischem Glauben geprägt, wie in Spr 9,10 mit aller Deutlichkeit gesagt wird: „Der Weisheit Anfang ist die Furcht des Herrn, und den Heiligen erkennen, das ist Verstand." Das heißt, die Mutterschaft der Weisheit betrifft grundsätzlich alle Israeliten - denn von allen wird die Furcht des Herrn verlangt. Gefragt wird aber, ob der Einzelne unter den Israeliten bereit ist, die Weisheit zu lieben, sie zu suchen (Spr 8,17), kurz: ihrem Ruf entgegenzukommen. Derjenige, der diese Bereitschaft hat, gehört zu den Söhnen der Weisheit. Denn der Ausdruck 'meine Söhne' in Spr 8,32 nimmt offensichtlich Bezug auf die folgenden Sätze 8,32b-35: Wohl denen, die meine Wege einhalten! Höret die Mahnung und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore! Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom Herrn." Wer von den Israeliten das alles tut, ist also einer der Söhne der Weisheit. Vielleicht kann man hier von einem individualisierenden Zug in der Beziehung zwischen Gott und Mensch sprechen, der bei der Metapher Vater für Gott noch nicht zu beobachten war. In zwischentestamentlichen Schriften sind einige Akzentverschiebungen bzw. Entwicklungen in der Vorstellung von der Weisheit als Mutter zu 43

Anders ist das in der Sapientia Salomonis. In SapSal 10 wird das rettende Wirken der göttlichen Weisheit in der Geschichte Israels dargestellt. 44 Dies ist jedoch in den zwischentestamentlichen Schriften wie Bar oder SapSal anders. S.u.

Einleitung

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beobachten. Sowohl in Sir als auch in Bar ist das Gesetz die Weisheit, die man suchen soll. In Sir 24,23 heißt es nach dem Ruf der Weisheit und nach der Verheißung ihres Lohns 45 : „Dies alles gilt vom Buch des Bundes des höchsten Gottes, das Gesetz, das uns Mose auferlegt hat, als ein Erbteil für die Gemeinden Jakobs." 46 Ferner heißt es in Bar 3,37-4,1: „Er (sc. Gott) hat erkundet jeden Weg zur Erkenntnis und sie gegeben Jakob, seinem Knecht, und Israel, seinem Liebling; / danach erschien sie auf Erden und wandelte unter den Menschen. / Sie ist das Buch der Gebote Gottes und das Gesetz, das in Ewigkeit besteht; alle, die daran festhalten, gewinnen das Leben, aber die sie verlassen, sterben dahin." 47 Auch was die Empfänger der Weisheit bzw. ihre Kinder anbetrifft, ist eine Veränderung zu beobachten. In Bar werden auch die Oberen der Völker bzw. deren Nachkommen als potentielle Adressaten der Weisheit angesprochen, auch wenn sie nicht zu ihr gelangen. In Bar 3,20f heißt es: „Jüngere (sc. die Jüngeren der Oberen der Völker) erblickten das Licht und wohnten auf Erden, aber den Weg zur Erkenntnis erkannten sie nicht / noch verstanden sie ihre Pfade und erfassten sie nicht; ihre Söhne waren fern von ihrem Weg,"48

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Sir 24,18ff: „Ich bin Mutter der schönen Liebe und der Erkenntnis und der heiligen Hoffnung, ich gebe aber allen meinen Kindern ewiges Werden, denen, die von ihm genannt sind./Kommt her zu mir, die ihr mich begehrt, und an meinen Früchten sättigt euch!/Denn der Gedanke an mich geht über süßen Honig, und das, was ich zu Besitz gebe, geht über Honigwaben./Die, die mich essen, wird noch mehr dürsten./Wer auf mich hört, wird nicht zuschanden werden, und die, die ihr Werk in mir verrichten, werden nicht sündigen." 46 Übersetzung von Sauer, Sirach, 565. 47 Übersetzung von A.H.J. Gunneweg, Das Buch Baruch, in: Unterweisung in lehrhafter Form, JSHRZ III, Gütersloh 1975, 177. 48 Übersetzung von Gunneweg, Baruch, 176.

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In SapSal 49 sind die Tyrannen die Adressaten des Redners, die durch die Weisheit Nutzen für ihr Regieren ziehen sollen. In 6,9 heißt es: „Euch nun, ihr Tyrannen, (gelten) meine Worte, damit ihr Weisheit lernt und nicht zu Fall kommt; Weiter in 6,21 heißt es: „Folglich, wenn ihr Lust nach Kronen und Szeptern habt, ihr Tyrannen der Völker, (dann) ehrt die Weisheit, damit ihr bis in Ewigkeit herrscht."

(3) Kinder (Söhne) Gottes Die metaphorische Rede von den „Kindern Gottes" hängt mit der Vaterschaft Gottes zusammen. Es ist die andere Seite derselben Medaille. Da wir jedoch oben die Metapher 'Vater' für Gott getrennt behandelt haben, konzentrieren wir uns hier auf die Metapher 'Kinder' (Söhne) für das Volk Israel. Wie bereits gesagt wurde, basiert die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Gott und Menschen im AT hauptsächlich auf der Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel als Ganzem. Israel ist Sohn Gottes. Einer der ältesten Belege dafür ist Hos 11,1-3:50 „Als Israel jung war, hatte ich ihn lieb und rief ihn, meinen Sohn, aus Ägypten; aber wenn man sie jetzt ruft, so wenden sie sich davon und opfern den Baalen und räuchern den Bildern. Ich lehrte Efraim gehen und nahm ihn auf meine Arme; aber sie merkten's nicht, wie ich ihnen half." Neben der Beziehung zwischen dem Vater-Gott und dem Volk Israel lässt uns der erste Vers an einigen wenigen Ausdrücken, nämlich 'jung', 'liebhaben' und 'aus Ägypten rufen', erkennen, dass die Kindschaft Israels nicht durch Zeugung Gottes entsteht (gegen Zeugung spricht der Ausdruck 'als Israel jung war', was zeigt, dass Israel bereits vorhanden war, bevor es von Gott lieb gewonnen wurde). Gottes Beziehung zu Israel beruht vielmehr auf einem erlösenden Handeln durch Adoption: Gott

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Die unten zitierten Übersetzungen von SapSal 6,9.21 stammen von Georgi, Weisheit, 420,422. 50 Vgl. Rusam, Gotteskindschaft, 32. Eine wohl von Hos 11,1-3 abhängige Stelle ist nach Rusam, ebd., 35f, Ex 4,22: „Und du sollst zu ihm sagen: So spricht der Herr: Israel ist mein erstgeborener Sohn."

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hatte Israel lieb und rief ihn deshalb, indem er ihn aus Ägypten herausholte. 5 ' Es gehört sich, dass ein Kind von seinen Eltern aufgezogen und erzogen wird, und dabei deren Zuneigung erfahrt. So findet sich die Metapher 'Kind' im AT mit solchen Motiven verbunden, wie die oben zitierte Hoseastelle zeigt. In v3 wird gesagt, dass das Kind Efraim von seinem Vater-Gott gehen gelernt und der Vater ihm seine Liebe - er nahm es „auf die Arme" - gezeigt hat. Den gleichen Zug weisen auch Jes 1,2 sowie Dtn 8,5 auf. 52 Ein Ziel der Erziehung eines Kindes ist, dass es sich recht verhält. So finden wir an einigen Stellen, wo die Metapher 'Kind' ('Sohn') auftaucht, die Aufforderung des Vaters zu rechtem Verhalten. 53 In Jes 30,lf heißt es: „Weh den abtrünnigen Söhnen, spricht der Herr, die ohne mich Pläne fassen und ohne meinen Geist Bündnisse eingehen, um eine Sünde auf die andere zu häufen, die hinabziehen nach Ägypten und befragen meinen Mund nicht, um sich zu stärken mit der Macht des Pharao und sich zu bergen im Schatten Ägyptens!"

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Rusam, Gotteskindschafit, 37, möchte in Num 11,12 den Gedanken rezipiert sehen, wonach Vater- bzw. Mutterschaft auf Zeugung zurückgehen. Dies wird m.E. dem Text nicht gerecht, denn dort geht es in erster Linie um die Beziehung zwischen Mose und dem Volk Israel, nicht aber um die zwischen Gott und Israel. Selbst wenn die rhetorische Form der Rede des Mose den Verdacht, die Vaterschaft Gottes als Zeugung zu verstehen, hervorrufen könnte, ist die Ansicht Rusams nicht akzeptabel, da sich das AT grundsätzlich von solch einem Gedanken distanziert. Wie Rusam, ebd., 36, selbst zeigt, fehlt z.B. in Jes 1,2, wo vom gebrauchten Wortschatz her ein Wort von einer Zeugung oder Geburt zu erwarten wäre, ein solches. 52 Jes 1,2: „Höret, ihr Himmel, und Erde, nimm zu Ohren, denn der Herr redet! Ich habe Kinder großgezogen und hochgebracht, und sie sind von mir abgefallen."; Dtn 8,5: „So erkennst du ja in deinem Herzen, dass der Herr, dein Gott, dich erzogen hat, wie ein Mann seinen Sohn erzieht." 53 Vgl. Rusam, Gotteskindschaft, 47-51.

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Die obige Beschreibung des Fehlverhaltens der Söhne Gottes besagt unmissverständlich, wie sie sich recht verhalten sollen: Sie sollen mit dem Vater Pläne fassen, mit seinem Geist Bündnisse eingehen usw. 54 Es gehört auch zu einer Vater-Kind-Beziehung, dass sich der Vater seines vom rechten Verhalten abgefallenen Kindes erbarmt. So zeichnet sich ein Bild des barmherzigen Vater-Gottes an einigen Stellen deutlich ab. In Jer 31,20 lesen wir: „Ist nicht Efraim mein teurer Sohn und mein liebes Kind? Denn sooft ich ihm auch drohe, muss ich doch seiner gedenken; darum bricht mir mein Herz, dass ich mich seiner erbarmen muss, spricht der Herr." 55 Die barmherzige Liebe des Vaters zeigt sich an anderen Stellen in Form einer Verheißung. 56 So heißt es in Hos 2,1: „Es wird aber die Zahl der Israeliten sein wie der Sand am Meer Und es soll geschehen, anstatt dass man zu ihnen sagt: 'Ihr seid nicht mein Volk', wird man zu ihnen sagen: Ό ihr Kinder des lebendigen Gottes!'" 57 Gilt die Vaterschaft Gottes in zwischentestamentlichen Schriften in erster Linie für das Verhältnis Gottes zum Volk Israel als Ganzem, so ist es nur konsequent, wenn sich auch die metaphorische Rede von den Kindern Gottes in zwischentestamentlichen Schriften hauptsächlich auf das ganze Volk Israel bezieht. Israeliten sind Gottes Kinder. Eine interessan54

Vom rechten Verhalten der Kinder Gottes ist auch in Dtn 14,1 sowie Jer 3,19 die Rede. In Dtn 14,1 heißt es: „Ihr seid Kinder des Herrn, eures Gottes. Ihr sollt

euch um eines Toten willen nicht wund ritzen noch kahl scheren über den Augen." 55 In Ps 103,13 heißt es: „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn furchten" In Jer 3,14.22 lesen wir: „Kehrt um, ihr abtrünnigen Kinder, spricht der Herr, denn ich bin euer Herr! Und ich will euch holen, einen aus einer Stadt und zwei aus einem Geschlecht, und will euch bringen nach Zion" (14); „Kehrt zurück, ihr abtrünnigen Kinder, so will ich euch heilen von eurem Ungehorsam" (22). 56 Zu Gotteskindschaft und Zukunftshoffhung siehe Rusam, Gotteskindschaft, 41 45(47). 57 In Jes 43,6 heißt es: „Ich will sagen zum Norden: Gib her! und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde."

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te Akzentsetzung in zwischentestamentlichen Schriften ist dabei die Hervorhebung des Gotteskindschafts-Status, indem Kinder Gottes von den Nichtkindern unterschieden und abgehoben werden. Dieser Gegensatz war im Grunde schon immer implizit in der familia-dei-Vorstellung vorhanden. Dies zeigt sich im AT deutlich in Hos 2,1. In der zweiten Hälfte des Verses heißt es: „Und es soll geschehen, anstatt dass man zu ihnen sagt: 'Ihr seid nicht mein Volk', wird man zu ihnen sagen: 'Ihr Kinder des lebendigen Gottes!'" Der Kinder-Status Israels wird hier von Dritten anerkannt. Es geht also nicht nur allein um die Beziehung zwischen Gott und Israel, sondern auch um die Anerkennung Israels als Kind Gottes durch andere, hier wohl durch die Heiden. In Dtn 14,1 f 58 ist auch das Volk Israel als Sohn Gottes hervorgehoben: Ist in vi vom SohnGottes-Sein die Rede, so wird dieser Status in v2 damit erläutert, dass Gott das Volk Israel aus allen Völkern auf Erden erwählt hat. Der Sohn-Gottes-Status basiert auf Erwählung.

Dieser Aspekt tritt in zwischentestamentlichen Schriften besonders deutlich hervor. In der oben bereits angeführten Jubiläen-Stelle (l,24f) ist davon die Rede, dass der Gotteskindschaft-Status von allen Engeln und allen Geistern anerkannt wird. Der gleiche Aspekt zeigt sich in PsSal (17,26f): „Und er wird versammeln ein heiliges Volk, das er fuhren wird in Gerechtigkeit, und er wird richten die Stämme des Volkes, das geheiligt ist vom Herrn, seinem Gott; / Und er wird nicht erlauben, dass Ungerechtigkeit ferner in ihrer Mitte wohnt, und kein Mensch, der mit Bösem bekannt ist, wird mit ihnen zusammen wohnen; denn er wird sie kennen, dass sie die Söhne ihres Gottes sind."59 Der Status als Gottes Söhne ist der Grund dafür, dass die Israeliten nicht mit den bösen Menschen zusammen wohnen können.

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„Ihr seid Söhne fur JHWH, euren Gott. Ihr sollt euch um eines Toten willen nicht wund ritzen noch kahl scheren über den Augen./Denn du bist ein heiliges Volk für JHWH, deinem Gott, und JHWH hat dich erwählt, dass du sein Eigentum seist aus allen Völkern, die auf Erden sind." 59 Übersetzung von S. Holm-Nielsen, Die Psalmen Salomos, in: Poetische Schriften, JSHRZ IV, Gütersloh 1977, 102f.

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Das Gleiche findet sich auch in 3Makk 6,2860 Dort wird der GottesSohn-Status Israels von einem heidnischen Machthaber erkannt und dadurch hervorgehoben, dass die Überlegenheit des Vater-Gottes mit drei Gottesprädikaten verdeutlicht und seine Güte gegenüber den Heiden von einem Heiden eingeräumt wird. Der Kinderstatus Israels wird ferner dadurch betont, dass der Vater-Gott für seine Kinder Vergeltung an den Heiden übt. In Jdt 9,4 sowie in äthHen 62,11 heißt es: „Du gibst ihre Frauen zur Plünderung frei und ihre Töchter zur Gefangenschaft. All ihren Besitz gabst du zur Verteilung an die von dir geliebten Söhne, denn sie glühten vor Eifer für dich, empfanden Abscheu über die Befleckung ihres Blutes" (Jdt 9,4).61 „Und er wird sie den Strafengeln ausliefern, damit sie Vergeltung an ihnen üben (dafür), dass sie seine Kinder und Auserwählten unterdrückt haben" (äthHen 62,11).62 Wird der Gotteskindschaft-Status des Volkes Israel in zwischentestamentlichen Schriften hauptsächlich im Blick auf seine Anerkennung durch Heiden hervorgehoben, so ist daneben eine mögliche Ausweitung dieses Status, wenn auch nur indirekt, zu beobachten. In PsSal 17,30f heißt es: „Und er wird Heidenvölker ihm fronen lassen unter seinem Joch, und den Herrn wird er verherrlichen vor den Augen der ganzen Welt und er wird reinigen Jerusalem durch Heiligung wie von Anfang an, / so dass Heiden kommen von den Enden der Erde, um seine Herrlichkeit zu sehen " 63

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„Befreit die Kinder des allmächtigen, himmlischen, lebendigen Gottes, der

seit unseren Vorfahren bis heute unserem Staate ununterbrochen glanzvolles Gedeihen gab!" (Übersetzung von P. Riessler, Das Dritte Buch der Makkabäer, in: ders., Altjüdisches Schrifttum ausserhalb der Bibel, Darmstadt 1966, 696). 61 Übersetzung von E. Zenger, Das Buch Judit, in: Historische und legendarische Erzählungen, JSHRZ I, Gütersloh 1981, 493. 62 Übersetzung von Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, 615. 63 Übersetzung von Holm-Nielsen, Psalmen Salomos, 103f.

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Während hier mit dem 'Kommen der Heiden nach Jerusalem' eher indirekt eine Ausweitung des Status angedeutet wird, ist in JosAs 12,8 viel deutlicher von dessen Ausweitung die Rede. „Wie nämlich ein unmündiges Kindchen, sich fürchtend, flieht zu seinem Vater, und der Vater, ausstreckend seine Hände, reißt es (weg) von der Erde und umarmt es an seiner Brust, und das Kindchen schlingt seine Hände um den Nacken seines Vaters und atmet auf von seiner Furcht und ruht aus an der Brust seines Vaters, der Vater aber lächelt über die Bestürzung seiner Unmündigkeit, so auch du (selbst), Herr, strecke aus deine Hände auf mich wie ein kinderlieber Vater und reiß mich (weg) von der Erde." 64 Kommt hier die Beziehung zwischen Gott und der Heidin Aseneth, die sich von den ägyptischen Göttern zu Gott bekehrte, im Vergleich 'VaterKind' zum Ausdruck, so wird Aseneth in 21,4 vom Pharao selbst Tochter des Höchsten genannt. „... denn gerechterweise Herr, der Gott des Joseph, erwählte dich aus zu einer Braut dem Joseph, da er (selbst) ist der Sohn Gottes der erstgeborene, und du (selbst) wirst Tochter (des) Höchsten gerufen werden und Braut Josephs von dem Jetzt (an) und bis in die Ewigkeit." 65 Demnach ist Gott nicht nur Vater fur die Israeliten, sondern auch Vater für die Proselyten.

(4) 'Geschwister' ('Bruder' bzw. 'Schwester') Das Wort 'Bruder' bzw. 'Schwester' wird im AT hauptsächlich im Sinne leiblicher Geschwister gebraucht. Daneben ist diese Bezeichnung auch für Mitisraeliten belegt.66 In Ex 2,1167 sind z.B. mit dem Wort 'Brüder' die Volksgenossen gemeint. Hinter diesem Wort steht die Vorstellung, dass alle Israeliten gemeinsame Väter haben Abraham, Isaak, Jakob, 64

Die Übersetzung stammt von Chr. Burchard, Joseph und Aseneth, in: Unterweisung in erzählender Form, JSHRZ II, Gütersloh 1983, 665f. 65 Übersetzung von Burchard, ebd., 696. 66 Vgl. Günther, Art. Bruder, 146. „Zu der Zeit, als Mose groß geworden war, ging er hinaus zu seinen Brüdern und sah ihren Frondienst und nahm wahr, dass ein Ägypter einen seiner hebräischen Brüder schlug."

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und unter ihnen besonders Jakob. Eine 'Geschwister'-Metapher, deren Voraussetzung das Bild Gottes als Vater des Volkes Israel ist, findet sich im AT nicht. Hos 2,1-3 kommt dem nur scheinbar nahe, weil dort die Kindschaft des Volkes Israel und die Geschwisterschaft im Text unmittelbar nebeneinander stehen. „... wird man zu ihnen sagen: Ό ihr Kinder des lebendigen Gottes!' ( v i ) Sagt euren Brüdern, sie seien mein Volk, und zu euren Schwestern, sie seien in Gnaden" (v3). Aber die Geschwisterschaft ist hier nicht aus der Beziehung Gottes zu seinem Volk herzuleiten. Denn die Kindschaft des Volkes ist eine zukünftige Verheißung („wird man sagen"), während die Geschwisterschaft unter den Volksgenossen eine gegenwärtige Realität ist. Die Zusammenstellung der beiden Elemente ist also nicht durch eine gemeinsame Vorstellung der familia dei bedingt, sondern lediglich ein Zufall. 68 Auch Mal 2,10 69 könnte man als Beleg für eine familia dei verstehen. Denn dort wird die Beziehung der Israeliten untereinander im Hinblick auf die Gottvaterschaft angesprochen. Allerdings begegnet kein Wort, das die Geschwisterschaft der Israeliten benennt. Außerdem steht nicht die Beziehung der Israeliten untereinander im Vordergrund, sondern ein der Vaterschaft Gottes entsprechendes Verhalten der Israeliten. Denn ihr Fehlverhalten wird als 'Entheiligung des Bundes (Gottes) mit unseren Vätern' bezeichnet. Es ziemt sich nicht für ein Volk Israel, dessen Vater Gott ist. Im Blickfeld liegt nur die Vaterschaft Gottes.

Im Königsgesetz (Dtn 17,14-20) kommt auch das Wort 'Bruder' als Ausdruck für die Volksgenossen vor, wie seine Opposition 'Ausländer' es verdeutlicht. „... Du sollst aber einen aus deinen Brüdern zum König über dich setzen. Du darfst nicht irgendeinen Ausländer, der nicht dein Bruder ist, über dich setzen"(vl5). Es ist schwer vorstellbar, dass das Wort 'Bruder' hier aus der familiadei-Vorstellung hergeleitet ist. Denn nirgends ist von Gott als Vater des 68

Gegen Günther, Art. Bruder, 147: „Bei Hosea finden wir die Verwandtschaftsbezeichnung Sohn und Br. im Bilde des Verhältnisses Gottes zu seinem Volk (Hos 2,1-3). Hier ist der Übergang von der Blutverwandtschaft zur geistlichen Br.schaft zu erkennen." 69 „Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht ein Gott geschaffen? Warum verachten wir denn einer den andern und entheiligen den Bund mit unsern Vätern?"

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Volkes Israel die Rede, sondern nur von Gott, dem Herrn, der das Volk aus Ägypten geführt hat (ν 16)70 und ihm das zu bewohnende Land geben wird (vl4) 71 Das Gleiche findet sich auch in Dtn 15,12ff, wo von den hebräischen Sklaven die Rede ist.72 Auch hier ist Gott der Herr, der das Volk Israel aus Ägypten erlöst hat (vl5). 73 Dennoch war das atl. Verständnis von der Volksgenossenschaft als Geschwisterschaft insofern die Grundlage der ntl. familia-deiVorstellung, als man im NT aus der Gotteskindschaft die Geschwisterschaft in der familia dei abgeleitet hat. Das ist nur ein kleiner Schritt über das AT hinaus, denn schon im engeren Kontext innerhalb des Dtn ist ein Nebeneinander der Vorstellung von der Gotteskindschaft (Kap. 14) sowie des Verständnisses von Volksgenossen als Geschwistern (Kap. 15.17) zu beobachten. Auf diesem Entwicklungsweg bilden die Testamente der zwölf Patriarchen, eine zwischentestamentliche Schrift, eine Zwischenstation. In ihnen wird die Bedeutung der Geschwisterschaft und der Liebe untereinander am Beispiel Josefs dargestellt. Um seine Brüder nicht zu beschämen, schweigt er über seine Herkunft als edelgeborener Sohn eines großen Mannes, selbst als es ihm gelingt, wieder seinen Status als freier Mann zu erlangen (TestXII.Jos 10,6; 13, 3-9; 15,1-3). Es ist unverkennbar, dass hinter dieser Schrift ein starkes Interesse an geschwisterlichen Beziehungen sowie an Eintracht unter den Geschwistern steht.74 Die Geschwisterschaft im TestXII.Jos ist dabei wie im AT nicht von der familia-dei70

Dies wird dort allerdings nicht ausdrücklich gesagt, sondern nur angedeutet: „Nur dass er nicht viele Rosse halte und führe das Volk nicht wieder nach Ägypten, um die Zahl seiner Rosse zu mehren, weil der Herr euch gesagt hat, dass ihr hinfort nicht wieder diesen Weg gehen sollt." 71 „Wenn du in das Land kommst, das dir der Herr, dein Gott, geben wird, und es einnimmst und darin wohnst " 72 VI2: „Wenn sich dein Bruder, ein Hebräer oder eine Hebräerin, dir verkauft, so soll er dir sechs Jahre dienen 73 „Und (sc. du) sollst daran denken, dass du auch Knecht warst in Ägyptenland und der Herr, dein Gott, dich erlöst hat 74 TestXII.Jos 17,1-3: „Seht, Kinder, wie Schweres ich erduldete, damit ich meine Brüder nicht beschämte./Und ihr nun, liebt euch gegenseitig und verbergt in Langmut gegenseitig eure Verfehlungen./Denn Gott hat Gefallen an der Eintracht von Brüdern und an dem Vorsatz eines Herzens, das an Liebe Gefallen hat" (Übersetzung von J. Becker, Die Testamente der zwölf Patriarchen, in: Unterweisung in lehrhafter Form, JSHRZ III, Gütersloh 1974, 128).

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Vorstellung hergeleitet, aber das starke Interesse an den geschwisterlichen Beziehungen dürfte eine Voraussetzung für die Weiterentwicklung der atl. familia-dei-Vorstellung gewesen sein, die dazu geführt hat, dass im NT die Geschwisterschaft mit der Gotteskindschaft in Verbindung gebracht werden konnte. Wir fassen unsere Überlegungen zur Vorstellung der familia dei im AT sowie in den zwischentestamentlichen Schriften zusammen, indem wir sie in drei Punkten mit der entsprechenden Vorstellung im NT vergleichen. Der Vergleich weist auf eine Intensivierung, Ausweitung und Integration der familia-dei-Vorstellung im NT: 1. Intensivierung: Im Unterschied zum AT wird die Vater-SohnMetaphorik im NT in beachtlichem Maße intensiviert. Sie begegnet fast überall im NT, die alttestamentliche Zurückhaltung bei ihrer Anwendung ist im NT nicht mehr zu beobachten. Diese Intensivierung ist allerdings nicht das Proprium des Urchristentums, sondern eine Weiterentwicklung dessen, was sich bereits im zwischentestamentlichen Zeitraum angebahnt hat. 2. Ausweitung: War die Gotteskindschaft im AT auf das Volk Israel beschränkt, so ist im NT ihre Ausweitung zu beobachten: Zur familia dei gehören nun alle Glaubensangehörigen, seien es Judenchristen oder Heidenchristen. Menschen aus allen Völkern können die Gotteskindschaft erhalten. Diese Ausweitung der Gottes-Kind-Metaphorik lässt sich auch in einigen zwischentestamentlichen Schriften (PsSal sowie JosAs) 75 beobachten, jedoch nur ansatzweise. 3. Integration: Die so neu gewonnenen Kinder Gottes werden mit der Bezeichnung 'Geschwister' ('Brüder und Schwestern') in die familia dei integriert. Diese Verwendung der Bezeichnung 'Brüder und Schwestern' 75

Man könnte hier noch das Testament Hiobs anführen. Allerdings handelt es sich bei Hiob nicht um einen Proselyten, sondern um eine Person, die mit den Israeliten kaum in Verbindung gesetzt wird - nach THiob 1,6 ist allerdings seine Frau eine Israelitin. Darin, dass die heidnische Herkunft Hiobs im rabbinischen Judentum umstritten ist (vgl. B. Schaller, Das Testament Hiobs, in: Unterweisung in lehrhafter Form, JSHRZ III, Gütersloh 1979, 3 2 6 Anm. 6), spiegelt sich das Verständnis wider, dass es sich bei ihm um eine Ausnahme handelt. Es ist daher angemessen, die Konzeption des THiobs nicht auf einer Ebene mit JosAs zu betrachten, als könnte auch dort eine Ausweitung der Gotteskindschaft beobachtet werden.

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Einleitung

im N T ist im G e g e n s a t z zum A T ein Novum. Die Geschwisterverbind u n g beruht nicht m e h r auf einer g e m e i n s a m e n A b s t a m m u n g von M e n schen, sondern auf der g e m e i n s a m e n B e z i e h u n g zu Gott. Pagane Analogie zu derfamilia-dei-Vorstellung im NT? Dass für die Menschen paganer Welt die familia dei eine Familie aus Göttern bedeutet, wurde oben bereits erwähnt. Die Vorstellung einer Familie aus Göttern und Menschen liegt ihnen fern. Zeus ist zwar Vater aller, aber eine göttliche Familie mit Menschen ist in der paganen Welt nicht vorstellbar. Trotz dieses markanten Unterschiedes ist eine gewisse Nähe zwischen der ntl. familia-deiVorstellung und einem paganen Verständnis der Gott-Menschen-Beziehung feststellbar. Wir finden sie in der Stoa. Nach Epiktet, dessen Vorstellung von Gott stark von allgemeinen stoischen Traditionen geprägt ist, sind die Menschen mit ihrer vernunftbegabten Natur Gottes Kinder und aufgrund dessen alle Menschen Geschwister. 76 Diss. 1,13,3: „Willst du deinen Bruder nicht dulden, der Zeus zum Vater hat, der wie ein Sohn aus gleichem Samen wie du geboren ist und der von der gleichen göttlichen Abkunft ist?" 77 Angesichts solcher paganer Analogien ist es verständlich, dass die ntl. Vorstellung der familia dei die atl. familia-dei-Vorstellung 'intensiviert' und integrativ 'ausweitet' Sie war auch Heiden vertraut. Da die Vatermetaphorik in den beiden Konzepten aber auf unterschiedlichen Gedanken, einerseits auf auf Erlösung und Erwählung, andererseits auf Zeugung basiert, ist von Abhängigkeit der einen von der anderen nicht zu reden. Vielmehr dürfte der Grund für die Nähe beider Vorstellungen in einer gemeinsamen Mentalität liegen, die damalige Menschen über das Gott-Menschen-Verhältnis mit Hilfe familiärer Metaphorik nachdenken ließ.

III. Methodik und forschungsgeschichtliche

Einordnung

Die V o r g e h e n s w e i s e dieser Arbeit umfasst drei m e t h o d i s c h e Ansätze: einen metaphorologischen, redaktionsgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Ansatz.

(1) Der metaphorologische Ansatz H . Weinrich 7 8 hat in Bezug auf die M e t a p h e r n l e h r e eine M e t h o d o l o g i e entwickelt, die mit dem von ihm geprägten Begriff ' B i l d f e l d ' 7 9 e n g ver-

76 77 78

Rusam, Gotteskindschaft, 22-25. Zitiert nach Rusam, ebd., 25. Sprache in Texten, Stuttgart 1976.

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bunden ist. Der Begriff 'Bildfeld' besagt, „dass Metaphern in 'sprachinternen Zusammenhängen' stehen" 80 Als Beispiel nimmt Weinrich eine Metapher von Goethe, der die Sprache mit Wörtern aus dem Bereich des Finanzwesens, nämlich der Münze und verwandter Begriffe, zu beschreiben suchte. 81 Nach Weinrich ist in dieser Metapher (Wortmünze) „nicht nur die Sache 'Wort' mit der Sache 'Münze' verbunden, sondern jeder Terminus bringt seine Nachbarn mit, das Wort den Sinnbezirk der Sprache, die Münze den Sinnbezirk des Finanzwesens" 82 Daher soll man nach ihm bei der Untersuchung einer solchen Metapher berücksichtigen, dass sie nicht vom Sprachsystem isolierbar ist, sondern „in sprachinternen Zusammenhängen mit anderen Metaphern, die deskriptivsystematisch dargestellt werden können", steht. 83 Diese Theorie des Bildfeldes von Weinrich hat für unser Untersuchungsvorhaben insofern Bedeutung, als wir uns nicht nur mit einzelnen isolierten Metaphern, nämlich Vater, Kinder (Sohn und Tochter), Bruder und Schwester, beschäftigen, sondern mit Metaphern, die aufgrund eines gemeinsamen Sinnbezirks, der familiären Beziehung zwischen Gott und Menschen, das 'Bildfeld' der 'Familie Gottes' bilden. Die methodische 79

Weinrich erklärt die Entwicklung des Begriffs so: „Ich verwende den Begriff des Bildfeldes in Anlehnung an Paul Claudel, der allerdings in anderem Zusammenhang - von einem champ de figures spricht, und ich benutze ihn in Analogie zu dem in der Linguistik bekannten Begriff des Wortfeldes oder Bedeutungsfeldes" (Sprache, 283). 80 R. Hoberg, Die Lehre vom sprachlichen Feld, Düsseldorf 1970, 124. 81 „Es geht mir damit wie einem, der in seiner Jugend sehr viel kleines Silberund Kupfergeld hat, das er während dem Lauf seines Lebens immer bedeutender einwechselt, so dass er zuletzt seinen Jugendbesitz in reinen Goldstücken vor sich sieht" (Goethe zu Eckermann über den zweiten Teil seines „Faust": Zitiert nach Weinrich, Sprache, 276). 82 Sprache, 283. Ähnlich bei K. Berger, Exegese des Neuen Testaments. Neue Wege vom Text zur Auslegung, UTB 658, Heidelberg u.a. 3 1993, 138: „Den literarischen Kontext hat man bisher durch Verflechtung der Sätze untereinander, durch die Technik der Satzverknüpfung und Textabgrenzung zu beschreiben versucht. Doch es gibt eine Kontextualität, die gewissermaßen quer zu den Sätzen und literarischen Formen liegt. Diese Kontextualität ist semantisch organisiert, nicht als Satzgeflecht, sondern als Wortgeflecht. Wir nennen diese Wortbildungen 'semantische Felder' Unter 'Feld' verstehen wir einen abgrenzbaren Bereich, in dem sich mehrere zusammengehörige Elemente befinden. Semantische Felder sind mehr oder weniger konventionelle Wortverbindungen." 83 Sprache, 279.

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Einleitung

Konsequenz ist damit klar: Die familiären Metaphern sollen als zusammengehörig betrachtet und als Metaphern eines Bildfeldes behandelt werden.84 Zu einer antiken familiären Hausgemeinschaft gehören allerdings nicht nur Eltern und Kinder wie heute, sondern auch Sklaven, Tagelöhner und sogar „abhängige Verwandte und Klienten" 85 Selbst die neutestamentlichen Haustafeln kennen Sklaven als Hausangehörige, 86 und Jesus benutzt Sklaven als Metapher für seine Hörer. In den synoptischen Reden Jesu fungieren die Metapher Sklave, Tagelöhner usw. jedoch hauptsächlich in einem bilateralen Verhältnis zu ihren Herrn, so dass der familiäre Aspekt eher unbedeutend im Hintergrund bleibt (z.B. Mt 25,14-30). So wird die Metapher Sklave im Rahmen einer Familie, d.h. unter Miteinbeziehung anderer Familienmitglieder, z.B. Kinder, entweder kaum benutzt oder begegnet höchstens als ein Nebenelement der Erzählung (Lk 15,1132). Ein metaphorisches Kompletbild der antiken familären Hausgemeinschaft begegnet bei Jesus nicht. Daneben finden sich einige wenige synoptische Reden Jesu, die Beziehungen unter den Sklaven im Hinblick auf ihren Herrn besprechen und damit Beziehungen unter den Christen metaphorisch darstellen, (z.B. Mt 18,23-35). Hier ist der Aspekt einer Großfamilie unverkennbar. Es empfiehlt sich daher, solche Texte (Mk 10,43f; Mt 18,23ff; Lk 12,42ff) in unsere Untersuchung mit einzubeziehen. Dies wird allerdings in einem Exkurs geschehen, da die Texte unabhängig von ihrer Herkunft einen gemeinsamen Charakter aufweisen.

Die Betrachtung des Bildfeldes „familia dei" als Ganzes hat eine schon hier zu benennende Konsequenz: Wo ein ganzes Bildfeld erkennbar ist, sind auch unvollständige Bildfelder (d.h. nur teilweise in den Texten realisierte, virtuelle Bildfelder) identifizierbar, die von sich her auf Ergänzung weisen. So werden wir in der folgenden Arbeit in Q ein unvollständiges Bildfeld nachweisen, in dem nur die vertikale Beziehung von Vater und Kindern realisiert ist. Bei Mk wiederum wird insbesondere die horizontale Geschwisterbeziehung betont. Erst Mt und Lk entfalten beide in jeweils besonderer Weise das ganze Bildfeld.

84

Eine von solch einem methodischen Ansatz aus durchgeführte Untersuchung ist die Dissertation von P. von Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt. Eine Bildfelduntersuchung, NTOA 18, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1993. 85 Vgl. P. Weigandt, ο ί κ ο ς κτλ, in: EWNT II, Stuttgart u.a. 2 1992, 1226. 86 Es ist allerdings zu erwähnen, „dass schon in der griech.-röm. Antike die meisten Menschen in einer Kleinfamilie gelebt haben," die aus Eltern und Kindern besteht (E. Dassmann, Art. Haus II (Hausgemeinschaft), in: RAC Bd XIII, Stuttgart 1986, 805).

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Damit ist allerdings nicht gemeint, dass das bildspendende Feld (der familiären Bezeichnungen) von seinem bildempfangenden Feld (der Gemeinschaft Gottes) getrennt betrachtet werden soll. Da die familiären Bezeichnungen und die Gemeinschaft Gottes zusammen das Bildfeld 'die familia dei' bilden, sollen beide Felder immer zusammen untersucht werden. 87

Wie eingangs erwähnt, fehlt es in der Exegese an Untersuchungen, welche die familiären Metaphern in ihrem Zusammenhang behandeln, während sich viele Arbeiten finden, die sich mit einzelnen Metaphern beschäftigen. Da wir uns um eine Zusammenschau der familiären Metaphern bemühen wollen, hat es wenig Sinn, Untersuchungen zu einzelnen Metaphern ausfuhrlich zu referieren. M.E. dürfte es ausreichen, wenn wir eine exemplarische Arbeit näher betrachten und dabei einige Tendenzen in solchen Untersuchungen aufzeigen. J. Jeremias 1966 erschienener Aufsatz 'Abba' 8 8 ist m.E. exemplarisch für viele Untersuchungen über einzelne Metaphern. Sie hat auf viele Exegeten großen Einfluss ausgeübt. Jeremias geht es darum, zu zeigen, dass die auf das Aramäische zurückgehende Gottesbezeichnung 'abba' (also die Metapher Vater für Gott) ein exklusives Gottesverständnis Jesu anzeigt, das sich vom Gottesverständnis des damaligen Judentums deutlich unterscheidet. Jesus habe, so Jeremias, Gott „euren Vater" genannt, und zwar nur den Jüngern gegenüber; zu Außenstehenden habe er dagegen außerhalb von Gleichnissen und Bildworten nie von Gott als Vater gesprochen, jedenfalls nie von „eurem Vater" 89 Dieses kurz zusammengefasste Ergebnis seiner Untersuchung zeigt zwei Tendenzen: 1) Das Interesse am historischen Jesus: 90 Es wird danach gefragt, ob eine be87

Vgl. Weinrich, Sprache, 284: „Denn konstitutiv fur die Bildfelder ist ja, dass zwei Sinnbezirke durch einen geistigen, analogiestiftenden Akt zusammengekoppelt sind. Das Wortwesen und das Münzwesen bilden zwar jedes für sich bereits Sinnbezirke der Sprache, getrennt gehören sie aber noch nicht zur Metaphorik Es wäre eine unzulässige und trügerische Abstraktion, das bildspendende Feld vom bildempfangenden Feld zu isolieren." 88 Vgl. oben Anm. 14. 89 Vgl. Jeremias, Abba, 45f. 90 Gerade darum geht es bei den Untersuchungen von H.F.D. Sparks (The Doctrine of the Divine Fatherhood in the Gospels, in: D.E. Nineham, Studies in the Gospels, Oxford 1957, 241-262) und W Montefiore (God as Father in the Synoptic Gospels, N T S 3 (1956/1957), 31-46). Beiden geht es darum, ob Jesus die universale Vaterschaft gelehrt hat. Sparks stellt nach einer eingehenden Untersuchung von neutestamentlichen Evangelienstellen, wo von Gott als Vater

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stimmte Metapher wirklich auf den historischen Jesus zurückzuführen ist. 91 2) Die Hervorhebung des Spezifischen: Geht eine familiäre Metapher auf Jesus zurück, so fragt man weiter danach, was das Spezifische an ihr ist, welche Prägung die Metapher durch Jesus im Unterschied zum Sprachgebrauch des damaligen Judentums bekommen hat. Diese Tendenzen haben m.E. unvermeidbar bestimmte Schwächen: 1) Wegen des Interesses am historischen Jesus vernachlässigt man die Bedeutung der Metaphern in den einzelnen Schriften, die sie bezeugen. Welche Bedeutung hat z.B. die Metapher 'Vater' fur Gott im MtEv oder im MkEv? 2) Wegen des Interesses am spezifisch Christlichen, das oft durch dogmatisches Interesse geleitet wird, schenkt man dem Sprachpotential zu wenig Beachtung, das im damaligen Judentum vorhanden war und Jesus beeinflusst haben könnte. 92 Daraus ergibt sich eine zweifache

gesprochen wird, fest: „... God, in the first place, is the Father of Jesus because Jesus is the Messianic Son, but, in the second place, He is also Father of those who follow Jesus, who have perceived and acknowledged his Messianic status, and who are, in consequence, members of the Messianic (or Christian) community" (260). So kommt er zu dem Schluss: „In spite of what is commonly supposed, there is no ground whatever for asserting that Jesus taught a doctrine of 'the Fatherhood of God and the Brotherhood of man' There is no hint anywhere, either that he (sc. Jesus) himself believed, or that Jesus taught a doctrine of Universal Fatherhood" (260). Diese Ansicht Sparks stellt W. Montefiore in Frage, indem er zu zeigen versucht, dass die Vaterschaft Gottes beim historischen Jesus allen Menschen gilt. Wenn man sein Ergebnis so verstehen darf - was angesichts seiner Formulierung allerdings nicht sicher ist dass die universale Vaterschaft Gottes beim historischen Jesus als Ansatz, der jedoch nicht explizit zum Ausdruck gekommen ist, zu finden ist, könnte man es positiv beurteilen. Was sein methodisches Vorgehen angeht, sind jedoch Vorbehalte anzumelden. Seine Methode, z.B. aufgrund von drei Charakteriska, die für den Gedanken der universalen Vaterschaft Gottes wesentlich sein sollen, aus dem MkEv den Schluss zu ziehen, 'that Jesus does teach that all men are sons of God' (36), ist wenig überzeugend und schwer nachvollziehbar. 91

In der zweiten Hälfte des Aufsatzes Jeremias' (33-67) geht es eben darum, zu zeigen, dass 'abba' auf Jesus zurückgeht. 92 Die bis heute einflussreiche Untersuchung Jeremias wird aus diesem Grund zu recht kritisiert. Jeremias berücksichtigt z.B. den Sprachgebrauch von Gott als Vater im sogenannten 'hellenistischen Judentum' nicht, wohl weil nach seiner Ansicht kein Einfluss von dort auf den historischen Jesus vorstellbar ist, aber gerade das lässt sich nicht rechtfertigen. Jesus bewegte sich vielmehr in einem zeitlichen und räumlichen Raum, in dem Einflüsse sowohl vom palästinischen,

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Aufgabe für die hier vorgestellte metaphorologische Untersuchung: 1) Die Bedeutung der Metaphern - d.h. in unserer Untersuchung eines zusammenhängenden Metaphernfeldes soll für die jeweilige Schrift erfragt werden. 2) Eine sorgfältige Bestandsaufnahme der Metaphern im Rahmen eines tradierten Metaphernschatzes des Judentums ist das Ziel dieser Untersuchung und Vorsicht gegenüber der exklusiv christlichen Inanspruchnahme jüdischer Traditionen ihre methodische Leitlinie. Im Zusammenhang mit dem metaphorologischen Interesse dieser Arbeit sind zwei Untersuchungen zu nennen: R.C. Douglas' 1990 abgeschlossene Dissertation 'Family, Power, Religion. A Discussion of The Background and Functions of References to God as Father in the Gospel of Matthew' 93 und D. Rusams 1991 erschienene Monographie 'Die Gemeinschaft der Kinder Gottes. Das Motiv der Gotteskindschaft und die Gemeinden der johanneischen Briefe' Beide Untersuchungen sind insofern hier zu nennen, als es ihnen um die unter 1) genannte Aufgabe geht: Wie die Untertitel erkennen lassen - bei dem erstgenannten deutlicher als bei dem letztgenannten -, ist es für beide Exegeten ein Anliegen, herauszuarbeiten, welche Bedeutung der Metapher 'Vater' für Gott im MtEv bzw. der Vorstellung von Gotteskindschaft in den joh. Briefen zukommt. Das Positive bei beiden Autoren ist ferner, dass sie die Bedeutung der Metapher bzw. der Vorstellung in einer Schrift(gruppe) auch auf sozialgeschichtlicher Ebene herausarbeiten, d.h. sie fragen danach, in welchem Verhältnis eine Metapher bzw. eine Vorstellung zur (konkreten) Situation der Gemeinde(n), die sie benutzt hat (haben), steht. So sieht Douglas z.B. in der Metapher 'Vater' für Gott im MtEv eine Bemühung, „to resolve the experience of inchoateness by providing a central metapher around which communal identity could be organized" 94 Auch für Rusam ist das Motiv der Gotteskindschaft bzw. das sich daraus ergebende Familienmodell „der hermeneutische Schlüssel zum Welt- und Gemeindever-

als auch vom hellenistischen Judentum wirksam waren. So ist Jeremias mit Luz, Mt I, 341, zu korrigieren: „Man darf, ja muss von einem besonderen Gottesverständnis Jesu sprechen, sollte dies aber nicht mit einem unjüdischen Gottesverständnis verwechseln." 93 Claremont (California) 1990 (masch.). 94 Family, 434.

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ständnis des Uoh", 95 der sowohl innere als auch äußere Probleme der Gemeinde lösen hilft.96 Neben Arbeiten über einzelne Metaphern gibt es schließlich Untersuchungen, die zwar nicht die Zusammenschau aller familiären Metaphern zum Gegenstand haben, die sich aber mit Teilaspekten unseres Themas beschäftigen. Es lohnt sich, auf solche Untersuchungen einen Blick zu werfen, um unsere Arbeit forschungsgeschichtlich näher einzuordnen. An erster Stelle ist hier H.-H. Schroeders 1972 erschienene Monographie „Eltern und Kinder in der Verkündigung Jesu"97 zu nennen. Schroeder untersucht in ihr synoptische Texte, „die möglicherweise ein neues Verständnis der Beziehungen der Eltern zu ihren Kindern und umgekehrt erkennen lassen",98 unter der Frage, „welche Auswirkung die Verkündigung Jesu auf das konkrete Eltern-Kind-Verhältnis in der besonderen eschatologischen Situation hatte"99 Die Relevanz dieser Arbeit für uns besteht vor allem darin, dass sich die meisten Texte, die Schroeder behandelt, mit den Texten unserer Untersuchung überschneiden; so z.B. Mk 3,31-35; 10,28-31; 7,9-13 usw. Einer seiner Ausgangspunkte war, wie die oben zitierte Frage verrät, „dass die eschatologische Erwartung zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Verkündigung Jesu gehört"100 So wird der Ruf Jesu, auf alle familiären Bindungen um der Nachfolge willen zu verzichten (Lk 14,26), z.B. als Auftrag zum „Dienst des nahen Gottesreiches"101 interpretiert, der keinen allgemeinen Charakter hat, sondern durch die konkrete Verkündigungssituation Jesu zeitlich begrenzt ist.m Darum wird nach Schroeder das vierte Gebot durch Lk 14,26 nicht in Frage gestellt.103 Wenn in Mk 7,9-13 die Korban-Praxis kritisiert wird, so gehe es nicht um „die unabdingbare Gültigkeit des mosaischen Gesetzes", sondern um „den Rechtswillen Gottes, der sich in der rechten Prak95

Gotteskindschaft, 186. Dies wird in ebd. 170-232, entfaltet. 97 ThF 53, Hamburg-Bergstedt 1972. 98 Ebd., 10. 99 Ebd., 14. 100 Ebd., 13. 101 Der Ausdruck geht auf M. Hengel, Nachfolge und Charisma, BZNW 14, Berlin 1968, 81, zurück. Im Original heißt es „Dienst an der Sache des nahen Gottesreiches" 102 Schroeder, Eltern, besonders 97 und 109. 103 Ebd., 109. 96

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tizierung realisieren soll" 104 Das Verdienst Schroeders ist m.E. dass er auf die Spannung zwischen Jesu Nachfolgeruf und dem vierten Gebot, dessen unbedingte Gültigkeit in Mk 7,9-13 unterstrichen wird, aufmerksam gemacht und eine Lösung gesucht hat. Seine Schwäche ist aber, dass er die Konkretheit der Situation, in der der Nachfolgeruf Jesu erging, nicht konsequent genug berücksichtigt hat. Er argumentiert apologetisch, eine Spannung zwischen den beiden Texten bestehe an sich nicht. Im Gegensatz zu ihm muss man eine überzeugendere Lösung für diese Spannung suchen. Dabei ist die soziale Situation, die oben mit dem Wort 'Konkretheit' angedeutet ist, stärker zu berücksichtigen. Neuerdings hat sich S.C. Barton mit einem ähnlichen Thema beschäftigt. Sein Interesse war, wie der Titel seiner Monographie „Discipleship and Family Ties in Mark and Matthew" 105 verrät, herauszuarbeiten, in welchem Verhältnis Jüngerschaft und familiäre Bindung in den beiden ersten Evangelien des NT stehen, und zu erklären, wie ihr Verhältnis im jeweiligen Evangelium zu verstehen ist. Im Unterschied zu Schroeder steht bei ihm nicht der historische Jesus im Vordergrund, sondern das jeweilige Evangelium bzw. die jeweilige Gemeinde hinter dem Evangelium. Einige für uns wichtige Ergebnisse seiner Untersuchung lassen sich so zusammenfassen: 1) Für Barton ist die Relativierung bzw. Unterordnung familiärer Bindung zugunsten der Nachfolge in den Evangelien nicht ohne Vorbild. Jüdische und griechisch-römische Quellen bestätigen das.106 2) Das MkEv hat ein großes Interesse an der Nachfolge, aber es lässt sich trotz Relativierung familiärer Bindung sowie pessimistischer Haltung gegenüber Verwandtschaftsbeziehungen, die durch das Interesse an der Nachfolge verursacht sind, nicht per se als 'anti-family' oder 'hostile to ties of natural kinship' beurteilen. So spricht etwa das Scheidungsverbot Jesu im MkEv für die dauernde Gültigkeit familiärer Bindungen. Die markinische Darstellung der Nachfolge und der familiären Bindungen gibt soziologisch zu erkennen, dass das mk Christentum „a social world in the making" ist.107 3) Das MtEv, das ein über das MkEv hinausgehendes Interesse an der Nachfolge zeigt, lässt sich ebensowenig als 'anti-family' bezeichnen, denn die Genealogie Jesu und seine Geburtsgeschichte sind im MtEv z.B. Indizien für das Interesse an der blei104 105 106 107

Ebd., 160. M S S N T S 80, Cambridge 1994. Ebd., 23-56. Ebd., 121-124.

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benden Gültigkeit familiärer Bindungen. Im Unterschied zum MkEv zeigt das MtEv in Bezug auf das Thema a) „a more explizit communal", d.h. ein ekklesiologisches Interesse, b) „a more clear-sighted focus" auf missionarische Aktivitäten, c) eine grössere Drohung seitens der Landsleute des Evangelisten und d) eine selbstbewusstere („a more selfconscious and deliberate") Darbietung des Inhalts von Jesu neuer autoritativer Lehre. 108 Der Verdienst Bartons liegt darin, herausgearbeitet zu haben, was die Darstellung über Nachfolge und familiäre Bindung in den Evangelien über ihre Gemeinde aussagt. Einige seiner Erklärungen sind allerdings zu modifizieren. Der Nachfolgegedanke im MkEv ist z.B. von bestimmten sozialen Situationen der mk Gemeinde geprägt, 109 die Barton noch zu wenig berücksichtigt hat.

(2) Der redaktionsgeschichtliche Ansatz Die familiären Metaphern, die wir zu untersuchen haben, begegnen in kleinen Texteinheiten. Sie sind der elementare Gegenstand unserer Untersuchung. Durch Analyse jeder Texteinheit in ihrer Endgestalt gewinnen wir ein Bild davon, wie die familiären Metaphern im Text realisiert sind und welchen Sinn sie innerhalb dieser kleinen Einheiten haben. Wir untersuchen also Texte zunächst als synchrone Gebilde. Lässt sich darüber hinaus eine Texteinheit diachronisch auf Tradition und Redaktion hin unterscheiden, so werden wir durch deren Unterscheidung ein schärferes Bild der Verwendung von Metaphern gewinnen können. Es ist also unentbehrlich, dass wir uns für unsere Untersuchung der redaktionsgeschichtlichen Methode bedienen. Angemerkt sei jedoch, dass in dieser Arbeit nicht für jeden Text die Unterscheidung von Tradition und Redaktion durchgeführt wird, sondern vor allem für Texte aus dem MtEv und dem LkEv, zu denen wir Traditionen aus Q oder dem MkEv vergleichen können. Die Texte aus Q werden dagegen nicht durchgehend in dieser Weise behandelt, weil eine Scheidung von Tradition und Redaktion bei Q-Texten auf unsicherem Boden steht. 110 Bei Texten im MkEv wird die redakti-

108

Ebd., 215-219. Näheres darüber s.u. in dem Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei im MkEv' 110 Vgl. G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, NTOA 8, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1989, 212-215, dort besonders Anm. 3 und 4. Eine Schich109

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onsgeschichtliche Fragestellung nur so weit angewandt, dass die redaktionelle Intention des Evangelisten erkennbar wird. Das heißt, wir bemühen uns nicht um Feststellung eines genauen Wortlauts der Tradition in unserer Untersuchung des MkEv, versuchen aber redaktionelle Elemente und Akzente möglichst genau zu bestimmen.

Mit Hilfe der redaktionsgeschichtlichen Methodik werden wir hinsichtlich der Vorstellung der familia dei die besonderen Akzente der verschiedenen Evangelien herausstellen und sie im Rahmen der jeweiligen Theologie zu deuten suchen. Die redaktionsgeschichtliche Fragestellung, die im deutschsprachigen Raum zuerst auf das MtEv sowie das LkEv angewendet wurde, hat in Verbindung mit der sogenannten Zweiquellentheorie die Konsequenz, dass die beiden Evangelien als eine Synthese der beiden großen Quellen, der Logienquelle und des MkEv, zu beurteilen sind. Allerdings wurde dieser Konsequenz - dem Synthesecharakter der beiden großen Evangelien aus zwei verständlichen Gründen bisher kaum Beachtung geschenkt, 111 : 1) Die beiden Evangelien verarbeiten neben den erwähnten beiden Quellen noch andere Traditionen, so dass ihre Zusammensetzung aus Q und Mk nur ein Aspekt des jeweiligen Evangeliums darstellt. 2) In einer redaktionsgeschichtlichen Untersuchung fallt das Hauptgewicht darauf, das (theologische) Profil der beiden Evangelisten bzw. ihrer Gemeinden als einer ganzheitlichen Größe herauszuarbeiten. Dadurch wird die Spannung zwischen beiden Quellen und der Aufgabe der beiden Evangelisten, sie in einen literarischen und theologischen Zusammenhang zu bringen, manchmal zu wenig berücksichtigt. Zu den wenigen, die die Bedeutung der Zusammensetzung von Q und MkEv durch den Evangelisten Matthäus klar gesehen haben, gehört U. Luz." 2 Nach ausfuhrlicher Erörterung der Quellen des Evangelisten Mattenanalyse sowohl bei einem einzelnen Q-Text als auch bei der Logienquelle als Ganzer wäre eine „Überschätzung unserer Erkenntnismöglichkeit" 111 Dies zeigt sich besonders dort deutlich, wo von der Quellennutzung der beiden Evangelisten Matthäus und Lukas gesprochen wird. Viele Kommentatoren der beiden Evangelien machen klar, dass und wie die beiden Evangelisten die beiden großen Quellen benutzt und verarbeitet haben, aber so gut wie niemand sieht diese nahe liegende Konsequenz. Das gilt auch für Kommentatoren wie F. Bovon, J. Kremer, G. Schneider, W Wiefel, R. Schnackenburg, und J. Gnilka. 112 Das Evangelium nach Matthäus 1. Teilband. Mt 1-7, EKK I, NeukirchenVluyn u.a. 1985.

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thäus stellt er fest, dass Matthäus „der Schüler, oder besser: der Erbe seiner theologischen Väter Markus und Q" ist.113 Luz arbeitet heraus, was der Evangelist Matthäus von seinen beiden „theologischen Vätern" geerbt hat: Die zentrale Bedeutung des Gerichtes, die Menschensohnchristologie, die Auseinandersetzung mit Israel (alle drei Themen begegnen bereits in Q), den Erzählentwurf, den Gottessohntitel, die Geschichte Jesu als „eine fur die eigene Situation der Gemeinde transparente" Geschichte usw. (die zuletzt genannten Themen finden sich bereits im MkEv). 114 Im Hinblick auf unser Thema fragen wir daher: Wie verhalten sich die familia-dei-Vorstellungen des MtEv und des LkEv zu denen der Logienquelle und des MkEv? Stellen sie eine Synthese der familia-deiVorstellung von Q und der des MkEv dar?

(3) Der sozialgeschichtliche Ansatz Die urchristlichen Texte sind in religiösen Gruppen aus deren konkreten Lebenssituationen heraus entstanden. 115 Hinter den Texten steht ein Stück sozialer Realität. Wenn wir einen Text aus dem Urchristentum heraus zu verstehen suchen, werden wir mit dieser Realität konfrontiert, unabhängig davon, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Es ist daher unentbehrlich, dass wir uns bemühen, die Realität hinter dem jeweiligen Text herauszuarbeiten, wenn wir einem auszulegenden Text gerecht werden wollen. Die urchristlichen Texte geben allerdings fast keine direkte Auskunft darüber, welche Realität hinter ihnen steht.116 Das methodische Problem der sozialgeschichtlich orientierten Exegese besteht in der Frage, wie man aus den Texten die hinter ihnen stehende Realität erschließen kann. 117 Drei methodische Verfahren haben sich dafür bewährt: a) das 113

Ebd., 57. Ebd., 57f. 115 Vgl. Theißen, Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung der soziologischen Fragestellung, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 3 1989, 3-34, dort 13: „Die urchristliche Literatur ist Literatur religiöser Gruppen und muss im Zusammenhang mit deren Leben verstanden werden." 114

116

Vgl. Theißen, Die soziologische Auswertung religiöser Überlieferungen. Ihre methodologische Probleme am Beispiel des Urchristentums, in: ders., Studien, 35-54, dort 36. 117 Ebd.

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konstruktive, b) das analytische und schließlich c) das vergleichende Verfahren. 118 a) Das konstruktive Verfahren: Es handelt sich um die „Auswertung aller Aussagen mit (vorwissenschaftlichen) soziologischen Elementen" 119 Bei der Auswertung solcher Aussagen sind ihre Überprüfungen auf Reliabilität, Validität und Repräsentativität hin notwendig, wie es „bei jeder sozialwissenschaftlichen Auswertung empirischer Daten" der Fall ist.120 b) Das analytische Verfahren: Es handelt sich um den „Rückschluss von historischen Ereignissen, sozialen Normen und religiösen Symbolen" 121 Bei Rückschlüssen aus religiösen Symbolen ist darauf zu achten, 1) ob „zwischen Symbolen und sozialer Wirklichkeit eine Symmetrie oder eine Asymmetrie" besteht, 122 2) dass bei soziologischen Auswertungen mythischer Symbolik verschiedene Ansatzpunkte zu wählen sind: „Semantik, Syntagmatik und Paradigmatik des Mythos" 123 c) Das vergleichende Verfahren: Es handelt sich um ein Heranziehen von Texten, „die weder urchristliche Gruppen zum Gegenstand haben noch aus ihnen stammen" 124

In unserer Arbeit werden wir uns dieser methodischen Verfahren bedienen, um die hinter dem jeweiligen Text stehende Realität zu erhellen. Es werden aber nicht immer alle drei Verfahren angewendet werden, sondern nur jene Verfahren, die helfen können, den realen Hintergrund eines Textes sichtbar zu machen. Was hat dieser methodische Ansatz konkret ftir unser Thema zu bedeuten? Diese Frage lässt sich dadurch beantworten, dass wir uns die Lebensbedeutung der familia-dei-Vorstellung bewusst machen: Sie bedeutet Nähe Gottes zu den Menschen, weil Gott ihr Vater ist und sie seine Söhne sind, und sie verheißt Zusammengehörigkeit von Menschen, die in diese Familie hineingehören, weil sie miteinander eine Familie bilden. Wenn solche Vorstellungen in einer Gemeinschaft lebendig sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie dazu dienen, bestimmte Probleme der Gemeinschaft - seien es Probleme in ihrem Inneren oder in ihrer Beziehung zur Außenwelt - zu bearbeiten. Unsere Aufgabe ist dann, herauszu118 119 120 121 122 123 124

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

36-54. 37. 37f. 40. 46. 47. 37.

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Einleitung

finden, welche konkreten Situationen die Gemeinschaft mit Hilfe der familia-dei-Vorstellung zu bewältigen versucht. Dabei wird vor allem die besondere Prägung der familia-dei-Vorstellung in der jeweiligen Schrift, wie sie die redaktionelle Fragestellung herausarbeitet, zu berücksichtigen sein. G. Theißen 125 hat die Entstehung des Urchristentums damit erklärt, dass an ihrem Anfang wandernde Charismatiker standen, die wie Jesus von Ort zu Ort reisten, das Reich Gottes verkündigten und Kranke heilten. Diese versuchten in ihrem radikalen Wanderleben, das durch Heimatlosigkeit, Familienlosigkeit, Besitzlosigkeit und Schutzlosigkeit bestimmt war, die Wortüberlieferung Jesu zu verwirklichen. 126 Die Erhaltung von Jesus(wort)überlieferungen hat das Urchristentum vor allem ihnen zu verdanken. 127 Ihr Wanderleben war allerdings nur durch die Existenz einer weiteren Gruppe möglich, nämlich durch sesshafte Sympathisanten. 128 Sie nahmen die Wanderradikalen in ihre Häuser auf und gewährleisteten ihnen eine Grundversorgung Essen und Übernachtungsmöglichkeit.129 Die Entstehung des Urchristentums ist also nach Theißen durch eine Symbiose von zwei Gruppen gekennzeichnet. Diese knapp dargestellte These von Theißen bildet eine Rahmenhypothese unserer vorliegenden Untersuchung. In Anlehnung an diese Rahmenhypothese stellen wir in unserer Untersuchung vor allem die Frage, welche (sozialgeschichtliche) Bedeutung der familia-dei-Vorstellung in der Entwicklung des Urchristentums zukommt. Welche Auswirkung hat die

125

Die für seine Wandercharismatikerthese grundlegende Arbeit ist: Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, in: ders. Studien, 79-105. Für die These relevante, weitere Arbeiten sind: „Wir haben alles verlassen" (Mc. X. 28). Nachfolge und soziale Entwurzelung in der jüdisch-palästinischen Gesellschaft des 1. Jahrhunderts n.Ch., in: ders. Studien, 106-141, und: Legitimation und Lebensunterhalt. Ein Beitrag zur Soziologie urchristlicher Missionare, in: Studien, 201-230. In dem Buch: Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, TEH 194, München 1977, stellt Theißen seine Wandercharismatikerthese systematisch dar. 126 Vgl. Theißen, Soziologie, 14-21. 127 Vgl. Theißen, Wanderradikalismus, 79-92. 128 Vgl. Theißen, Soziologie, 21-26. 129 Ebd.

Die Vorstellung der familia dei in den synoptischen Evangelien familia-dei-Vorstellung f ü r die Wanderradikalen Sympathisanten?

und die

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sesshaften

Theißens Wandercharismatikerthese wurde kontrovers diskutiert. Beachtenswert sind insbesondere die Bedenken von Th. Schmeller. Sie bestehen vor allem darin, dass die urchristlichen Wandercharismatiker „nur ein Phänomen in einem vielgestaltigen hermeneutischen Prozess" waren: „sie hatten nie ein Rezeptions-, Traditions- und Realisationsmonopol des Ethos Jesu." 130 Schmeller will zeigen, dass für die Wortüberlieferung Jesu, die durch das radikale Ethos Jesu geprägt ist, nicht die Wanderradikalen allein verantwortlich waren, sondern auch die sesshaften 'Gläubigen' dieser Begriff würde seiner Ansicht mehr entsprechen als 'Sympathisanten' Schmeller versucht dies in vier Punkten zu zeigen: 1) Präventivzensur, 2) Wandercharismatiker und die sesshaften Sympathisanten vor Ostern, 3) die Bedeutung von Ostem und schließlich 4) die Vielfältigkeit des Wanderlebens im Urchristentum. Da der vierte Punkt eine umfangreiche Diskussion benötigt, beschränke ich mich auf die erstgenannten drei Punkte. 1) Präventivzensur: Gegen Theißens Überlegung, dass mündliche Jesusüberlieferung, z.B. Lk 14,26, kaum lange (über 30 Jahre) überliefert worden wäre, wenn sie niemand ernst genommen hätte und „wenigstens ansatzweise" praktiziert hätte, erhebt Schmeller folgende Bedenken, 131 a) dass „Logien, die soziale Randständigkeit fordern oder voraussetzen," „auch ohne diese Voraussetzung aufgrund näher zu bestimmender ideeller Motive rezipiert und tradiert werden" können, b) dass aufgrund der „Pietät, die schon allein durch das Verhältnis des Schülers zum Lehrer oder des Jüngers zum Meister begründet wurde," anzunehmen ist, dass alle Worte Jesu, „auch unangenehme, störende, vielleicht nicht lebbare Worte", „allen Christen wichtig waren", so dass sie tradiert werden konnten, c) dass es schon „am Anfang des Christentums" die Möglichkeit gegeben hat, dass „die radikalen Forderungen Jesu" „sicher auch in nicht-wörtlichem, übertragenem Sinn verstanden und erfüllt werden konnten" Kritik: Die Bedenken Schmellers basieren bedauerlicherweise auf einem Missverständnis dessen, was Theißen schreibt. Schmellers Wiedergabe lautet: „Die mündliche Überlieferung solcher Worte setzt, Theißen zufolge, ihre tatsächliche Verwirklichung durch die Tradenten voraus: was nicht gelebt wird, wird in mündlicher Überlieferung durch 'Präventivzensur' ausgeschieden."132 Das von mir hervorgehobene Wort steht bei Theißen allerdings nicht allein, sondern er schreibt: „Was deren Interesse und Einstellung widerspricht, wird ausgeschieden

130

Brechungen. Urchristliche Wandercharismatiker im Prisma soziologisch orientierter Exegese, SBS 136, Stuttgart 1989, 116. 131 Ebd., 63-66. 132 Ebd., 63.

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Einleitung

oder modifiziert."133 Die von mir hier hervorgehobene präzisierende Wendung hat Schmeller ausgelassen. So ist es kein Wunder, dass er mögliche Modifizierungen nicht mitberücksichtigt. Das heißt konkret: Wenn man z.B. dem unter b) und c) Gesagten zustimmen würde, wäre zu erwarten, dass die radikalen Anweisungen Jesu mit Modifikationen versehen überliefert wurden. Die radikalen Anweisungen in Q, wie z.B. das Wort Lk 14,26, dem eine zentrale Bedeutung in der Jesubewegung zukommt, weisen aber keine Modifikationen auf, die den Abstand der Tradenten von ihnen, weil sie nicht (mehr) am Wanderleben teilnehmen, verraten. 2) Die Wandercharismatiker und die sesshaften Sympathisanten vor Ostern:134 „Die sesshaften Adressaten der Verkündigung sind keineswegs nur potentielle Sympathisanten, sondern sie sind das potentielle Gottesvolk, über dem Gott seine Herrschaft aufrichtet, sie sind das Ziel der ganzen Bewegung. Wenn es auch die wandernden Charismatiker sind, die die Bewegung repräsentieren und die ihre Autoritätsträger vorstellen, so hat diese herausgehobene Rolle doch nur die Aufgabe, die neue Gemeinschaft des Gottesvolks zu vermitteln, sich also letzlich selbst überflüssig zu machen." 135 Kritik: Die radikalen Anweisungen Jesu lassen keineswegs erkennen, dass sie eine auf Zeit begrenzte Lehre darstellen, die später aufgehoben werden soll. Das Wanderleben ist die einzige Möglichkeit, in der die radikalen Anweisungen Jesu verwirklicht werden können - Jesus selbst lebte ja ein Wanderleben -, d.h. man kann nicht das Gottesvolk, von dem Schmeller spricht, vom Wanderleben trennen. Überflüssig wird aus der Perspektive der ersten Anhänger Jesu nicht das Wanderleben, sondern der sesshafte Zustand, wenn die Herrschaft Gottes aufgerichtet wird. 3) Die Bedeutung von Ostern:136 Es sei „unbestreitbar, dass an Ostern die Person Jesu Christi in die Mitte von Glaubenden und Verkündigung rückt und dass der so Verkündigte die Persönlichkeit des historischen Jesus von Nazareth zwar mehr oder weniger erkennen lässt, sie aber jedenfalls in ein neues Licht stellt."137 Das bedeute a) „Die zentrale Stelle der Person Jesu Christi macht den persönlichen Anschluss jedes Glaubenden an ihn unerlässlich",138 b) „Der irdische Jesus und seine Lebensweise werden im Licht des Erhöhten zu etwas Einmaligem, Unwiederholbarem; Nachfolge kann deshalb nicht mehr im eigentlichen Sinn als

133

Wanderradikalismus, 81 Anm. 8. Brechungen, 66-70. 135 Ebd., 69. 136 Ebd. 71-76. 137 Ebd., 72. 138 Ebd. 134

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Schicksalsgemeinschaft verstanden werden" 139 Das Fazit: Ostern bringe „ein Interesse aller Christen an allen Überlieferungen des Christus notwendig mit sich",140 „alle Anhänger Jesu stehen jetzt vor der Notwendigkeit, den Anspruch Jesu neu auf ihre jeweilige Situation beziehen und mit ihr vermitteln zu müssen" 141 Kritik: Geht die Bedeutung, die Schmeller Ostern beimessen möchte, doch nicht eher auf eine heutige bzw. zur Zeit der Synoptikern bereits dogmatisch geprägte Perspektive zurück als auf die damalige Realität? Die Gewichtsverlagerung auf die Person Jesu Christi ändert doch nichts daran, dass sein Ruf in die Nachfolge seine zentrale Bedeutung in seiner Verkündigung behält. Die Bedeutung des Nachfolgegedankens im MkEv bestätigt dies indirekt.142 Die gesteigerte Bedeutung der Person Jesu Christi aufgrund des Ostergeschehens veranlasst ja vielmehr, seine Worte und Taten - besonders seine Lebensweise als Wanderprediger noch ernster zu nehmen. D.h. das Ostererlebnis ermöglicht und ermutigt das Fortsetzen der Nachfolgeexistenz als Wanderleben. Es gibt also keinen Grund, die mit dem Leben Jesu verbundene Nachfolgeexistenz nur als einmaliges Geschehen zu betrachten, selbst wenn es im Licht von Ostern neu gesehen wurde. Dennoch greifen wir einige Aspekte der Wanderradikalismusthese, wie sie Th. Schmeller vertritt, auf: Richtig ist, dass die Wandercharismatiker nur in Symbiose mit den ortsansässigen Sympathisanten existenzfähig waren und dass diese Sympathisanten als erste christliche Ortsgemeinden ein wachsendes Gewicht erhielten. Unsere Untersuchung wird zeigen, dass in der Tat von A n f a n g an neben der Nachfolgebeziehung zwischen nicht-sesshaften Jüngern und Jesus eine zweite Beziehung zwischen allen Anhängern Jesu (einschließlich der Jünger i.e.S.) existierte: die Zugehörigkeit zur familia dei. Alle Hörer der Predigt Jesu gehören zu ihr - auch die sesshaften Sympathisanten. Die schriftliche Fixierung der Jesusworte in den Evangelien wendet sich an sesshafte Ortsgemeinden. Daher ist in ihnen von vornherein eine Ausweitung der familia-dei-Vorstellung zu vermuten. Die redaktionsgeschichtliche Untersuchung vollzieht sich auf dem Hintergrund der These einer wachsenden Eigenständigkeit der Ortsgemeinden gegenüber den Wandercharismatikern.

139

Ebd. Ebd., 75. 141 Ebd., 73. 142 Der Nachfolgegedanke im MkEv ist bereits von einer anderen Perspektive aus modifiziert als der ursprünglichen. Dazu s.u. das Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei im MkEv'. 140

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Fazit: Die vorliegende Arbeit wird eine metaphorologisch orientierte, redaktions- und sozialgeschichtliche Arbeit sein.143 Gegenstand dieser Arbeit sind, wie dem Titel 'Die Vorstellung der familia dei in den synoptischen Evangelien'' zu entnehmen ist, die ersten drei Evangelien des NT. Da sich aus den beiden Evangelien, Mt und Lk, eine weitere gemeinsame Quelle neben dem MkEv herausarbeiten lässt, und diese weitere Quelle Q auch die Vorstellung der Familie Gottes aufweist, wenn auch nur in eingeschränkter Form, wird auch die Logienquelle behandelt. So gliedert sich unsere Untersuchung in vier Hauptteile: Die Vorstellung der familia dei in der Logienquelle (II), im MkEv (III), im MtEv (IV) und schließlich im LkEv (V). Hinzu kommen neben kleineren zwei große Exkurse, 'Die Ablösung der Ortsgemeinde von den Wandercharismatikern' (nach dem Kapitel III) und 'Die Vorstellung der familia dei im Thomasevangelium' (nach dem Kapitel V).

143

Ph.F. Esler nannte in seinem Buch: Community and Gospel in Luke-Acts. The Social and Political Motivations of Lucan Theology, MSSNTS 57, Cambridge u.a. 1987, die Zusammensetzung von Redaktionsgeschichte und Sozialgeschichte 'socio-redaction criticism' (6). Diese Benennung solcher Methodik ist neu, die Methodik ist jedoch keineswegs neu, und so liegt z.B. der 1979 entstandenen Arbeit von G. Theißen, Gewaltverzicht und Feindesliebe (Mt 5,38-48/Lk 6,2738) und deren sozialgeschichtlicher Hintergrund, in: ders., Studien, 160-197, bereits diese Methodik zugrunde.

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Z w e i t e s K a p i t e l : D i e V o r s t e l l u n g d e r f a m i l i a d e i in Q Familiäre B e g r i f f e f ü r die Beziehung von M e n s c h e n zu Gott b e g e g n e n in Q in den Texten Q - L k 11,9-13; 11,2-4; 12,22-31; 6,27-36; 7,31-35, 13,34-35. D a v o n bezeugen die vier zuerst genannten Texte ' G o t t als Vat e r ' , w ä h r e n d die letztgenannten Texte nur in sehr indirekter W e i s e von ' G o t t als M u t t e r ' sprechen. 1 Sie handeln von der ' W e i s h e i t G o t t e s ' , also einer weiblichen Gestalt, die in Lk 13,34 mit dem Bild von der H e n n e und ihren K ü k e n dargestellt wird. Diese Weisheit hat zweifellos mütterlichen Charakter. Insofern kann man sagen: Gott begegnet in Q sowohl als Vater als auch als Mutter. Es empfiehlt sich w e g e n dieser unterschiedlichen Gottesbilder, die letztgenannten Texte von den anderen gesondert zu behandeln. Im Folgenden untersuche ich daher zunächst die Texte mit der Vorstellung von Gott als Vater, dann diejenigen, in denen die Vorstellung von Gott als Mutter begegnet. 2 Danach folgt eine Zusammenfassung. In Q finden sich zwei Texte, wo von einer Bruderschaft der Hörer Jesu gesprochen wird. Es sind Q-Lk 6,41t 3 und Q-Lk 17,3 t 4 In Bezug auf unser Thema wäre von Bedeutung, ob sie sich auf die Vaterschaft Gottes bzw. die Kindschaft gegenüber Gott beziehen oder auf Volksgenossen, die einen gemeinsamen Vorfahren haben. Wenn die erstgenannte Möglichkeit zutrifft, wären beide Texte bei unserer Untersuchung heranzuziehen. Die Frage ist allerdings nicht mit Sicherheit zu beantworten, weil in den Texten nirgendwo eine Beziehung der Hörer zu Gott ausdrücklich angesprochen wird. Die Texte selbst lassen beide oben genannte Möglichkeiten zu, wobei die zweite eher wahrscheinlich zu sein scheint. 5

1

Zur allgemeinen Orientierung über das Thema (Gott als Vater) vgl. K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, UTB:WG, Tübingen u.a. 2 1995, 28-33. Die Vorstellung von Gott als Mutter wird allerdings von ihm nicht berücksichtigt. 2 Dabei wird bewusst - weil es hier nicht darum geht - darauf verzichtet, den ganzen Wortlaut des jeweiligen Q-Textes zu rekonstruieren. Die Entscheidungen bei voneinander abweichenden Texten werden auf das Notwendigste zur Diskussion unseres Themas beschränkt und sind in Fußnoten angemerkt. 3 „Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders ...?/Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen! 4 „Wenn dein Bruder sündigt, so weise ihn zurecht 5 J. Beutler, άδελφός κτ^.ϊη: EWNT I, Stuttgart u.a. 2 1992, 67-72, besonders 68f, fasst das Wort 'Bruder' in den beiden Texten im Sinne von 'Nächster' auf.

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Um jedoch Unsicherheiten zu vermeiden, lassen wir die beiden Texte in unserer Untersuchung außer Acht.

/. Gott als Vater Die Vorstellung von Gott als Vater ist eindeutig in Q-Lk 11,9-13; 12, 2231; 6,27-36; 11,2-4 vorhanden: Gott wird entweder als Vater bezeichnet (als „der Vater im Himmel" (11,13); „euer Vater" (12,30) und „Vater!" (11,2)), oder den Hörern wird die Gottessohnschaft zugesprochen. Sie gelten als „Söhne eures Vaters" (Mt 6,45) bzw. „Söhne des Allerhöchsten" (Lk 6,35). Unser Interesse richtet sich auf die Frage, welche inhaltlichen Merkmale diese Vorstellung aufweist, d.h.: als was fur ein Vater Gott dargestellt ist. Damit werden wir uns im Folgenden zuerst befassen und dann fragen, welcher Sitz im Leben hinter der Vorstellung von Gott als Vater zu vermuten ist. Anschließend wird ein Versuch unternommen zu klären, welche Funktion diese Vorstellung im damaligen Urchristentum - in der Zeit der Logienquelle - gehabt hat.

(1) Inhaltliche Merkmale der Vorstellung von Gott als Vater Das Bild von Gott als Vater umfasst in den vier Texten Q-Lk 11,9-13; 12,22-31; 6,27-36; 11,2-4 hauptsächlich zwei Aspekte: das Bild vom fursorgenden Vater und das vom nachzuahmenden Vater mit königlicher Hoheit. 6 Das erste Bild tritt in den drei Texten Q-Lk 11,9-13; 12,22-31 und 11,2-4 in Erscheinung, während das andere in Q-Lk 6,27-36 begegnet. Entsprechend werden zunächst die Texte mit dem Bild vom fursorgenden Vater behandelt und danach der Text mit dem Bild vom nachzuahmenden Vater.

Da er jedoch diesen Begriff des 'Nächsten' vom 'Stammes- und Volksgenossen' unterscheidet (68), ist seine Auffassung missverständlich. 6 Vielleicht könnte man dazu noch das Bild vom vergebenden Vater nennen. Da dieses Vaterbild jedoch nur in der fünften Bitte des Vaterunsers kurz zur Sprache kommt und sich dem Bild des fursorgenden Vaters unterordnen lässt, verzichte ich auf eine separate Behandlung dieses Bildes.

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a) D a s Bild vom fürsorgenden Vater a. Q-Lk 12,22-31

Ein für die Auslegung des Textes wichtiges Schlüsselwort ist das griechische Wort (μή) μεριμνάω Es wird im Text mehrfach (insgesamt viermal 7 ) verwendet und stellt damit klar, worum es in erster Linie geht: um das 'Nicht-sorgen' Am Schluss des Textes wird ein neues Wort, nämlich ζητέω, das zuvor durch das Kompositum έπιζητέω in v30 vorbereitet war, eingeführt, und dieses neue Wort korrespondiert mit dem bereits genannten Schlüsselwort des Textes. Beide zusammen ergeben als grundlegende Forderung des Textes: Sorgt nicht, sondern sucht!* Die Vorstellung von Gott als Vater ist mit dieser zweigliedrigen Forderung eng verbunden. Denn diese Bezeichnung Gottes taucht gerade dort auf, wo das zweite Schlüsselwort ζητέω als Abschluss des Textes eingeführt wird. Zunächst wird in v30 Gott, der Vater, als derjenige dargestellt, der von allen Bedürfnissen der den angesprochenen Menschen weiß; dann wird in v31 sein Handeln durch das Passivum divinum beschrieben. Demnach ist seine Existenz zugleich Grund und Garantie dafür, dass man das geforderte Verhalten des 'Nicht-sorgens' ausführen soll und kann. Der Vater-Gott weiß ja von allen Bedürfnissen seiner Kinder, und er wird ihnen alles zukommen lassen, was sie brauchen; sie sollen daher nur das Reich Gottes suchen, ohne sich Sorgen um andere Dinge zu machen. Gerade dadurch zeichnet sich also das Vaterbild aus: Der Vater-Gott ist ein fürsorgender Vater, der über alle Bedürfnisse seiner Kinder Bescheid weiß und sie befriedigt. b. Q-Lk 11,9-13

Das Schlüsselwort für den Text ist das griechische Wort αϊτέω. Das Wort wird mehrfach (fünfmal 9 ) verwendet, und seine Wiederholung signalisiert, dass es dem Text um das 'Bitten' geht. Der Imperativ αιτείτε

7

Vv22.25.26.29; in v29 ersetzt der Evangelist Lk das ursprüngliche Verbum μεριμνάω mit ζητέω; mit A. Polag, Fragmenta Q. Textheft zur Logienquelle, Neukirchen-Vluyn 1979, 62f, anders bei J. Schmid, Matthäus und Lukas. Eine Untersuchung des Verhältnisses ihrer Evangelien, BSt 23,2-4, Freiburg i.B. 1930, 236. 8 O. Wischmeyer, Matthäus 6,25-34 par. Die Spruchreihe vom Sorgen, ZNW 85 (1994), 1-22, dort 4, spricht daher von „der Zweipoligkeit" des Textes. 9 VV9.10.11. 12.13.

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am Eingang des Textes (v9) macht das geforderte Handeln deutlich. Gegenüber dieser Forderung wird Gott unter Verwendung des Passivum divinums als derjenige, der gibt, dargestellt (v9). Dieser Gott ist aber noch mehr: Er ist Vater der Bittenden (vi3). Das wird in w l lf mit einem Bild vom menschlichen Vater erläutert: Derjenige ist ein fürsorglicher Vater, der die Bitte seines Kindes nicht übersieht. Diesem menschlichen Vater wird der Vater-Gott in vi3 gegenübergestellt und dabei seine väterliche Eigenschaft betont: Er ist ein vielfach („um wieviel mehr") besserer Vater als die „bösen" menschlichen Väter; seine Gabe ist daher gewiss. Der Vater-Gott ist also ein mit dem menschlichen Vater unvergleichbarer, besser fürsorgender Vater. c. Q-Lk 11,2-4J0 Die Vorstellung von Gott als Vater tritt ganz am Anfang des Textes ans Licht: Gott, an den das Gebet gerichtet wird, ist Vater, denn der Betende darf ihn mit πάτερ anreden.11 Das konkrete Bild dieses Vater-Gottes spiegelt sich in den einzelnen Bitten wider. Gott ist demnach ein Vater, der seinen Namen heiligen (erste Bitte) und seine Herrschaft aufrichten wird (zweite Bitte);12 er ist aber noch mehr, ein Vater, der seinen Kindern Brot gibt (vierte Bitte), ihre Schuld vergibt (fünfte Bitte) und sie auf ihrem Weg13 führt (sechste Bitte). In der vierten und sechsten Bitte begegnet ein Vaterbild, das schon in den zwei vorigen Texten festzustellen

10

Der ursprüngliche Wortlaut des Vaterunsers dürfte in Anlehnung an die oft vertretene These gewonnen werden, dass „im ganzen Lk in der Zahl der Bitten und in der Anrede, Mt dagegen im Wortlaut ursprünglicher ist" (Luz, Mt I, 335). 11 J.C. O'Neill, The Lord's Prayer, JSNT 51 (1993), 3-25, dort 6, behauptet unter Berufung auf einige (späte) Handschriften, die andere Gebete Jesu bezeugen (z.B. Mt 11,25 oder Lk 22,42), aber denen die Vater-Anrede fehlt, dass die Vater-Anrede von Schreibern nachträglich hinzugefügt worden sei. Es ist mir aber unverständlich, warum O'Neill mehr Wert auf die wenigen Handschriften, die nicht das Gebet des Vaterunsers, sondern andere Gebete Jesu bezeugen, legen will als auf die Handschriften, die das Vaterunser selbst bezeugen, obwohl er sich mit dem Gebet des Vaterunsers beschäftigt. Seine Ansicht wäre dann akzeptabel, wenn die Mehrheit der Handschriften, die das Vaterunser selbst bezeugen, ohne Vater-Anrede wäre. Das ist aber nicht der Fall. 12 Damit bleibt jedoch die Problematik, ob mit den ersten beiden Bitten des Vaterunsers auch menschliches Handeln gemeint ist, unberührt. Näheres darüber bei Luz, Mt I, 341-344. 13 S.u. im Abschnitt 'Der Sitz im Leben der vier Texte'.

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war: Der Vater-Gott, der seinen Kindern Brot gibt und sie auf ihrem Weg führt, ist Konkretisierung des Bildes vom fürsorgenden Vater. b) Das Bild vom nachzuahmenden Vater mit königlicher Hoheit Q-Lk 6,27-36 bietet ein anderes Vaterbild als die drei bisherigen Texte. Das Bild vom fursorgenden Vater14 tritt zurück. Stattdessen wird Gott als ein Vater dargestellt, der nachzuahmen ist. Dies geschieht in zweifacher Weise. Zunächst ist in v36 (Mt 5,48) davon die Rede, dass die Kinder Gottes seine Eigenschaften 15 ) nachahmen sollen: Sie sollen so vollkommen oder so gütig sein wie Gott. Ferner wird die Hauptforderung des Textes, die Feindesliebe, damit begründet, dass Gott gegenüber Bösen und Ungerechten gütig ist (Mt 5,45/Lk 6,35). Das heißt, die geforderte Handlung, die Feinde zu lieben, ist ursprünglich Gottes Handlung; seine Kinder sollen sie nachahmen. Dadurch erweisen sie sich als Kinder Gottes („ihr werdet Kinder Gottes sein" v36). Vorausgesetzt ist das Bild des die Welt regierenden Gottes. Gott ist derjenige, der die Sonne aufgehen und regnen lässt. Lukas gibt dieses Gottesbild schon dadurch zu erkennen, dass er statt von 'Söhnen Gottes' von 'Söhnen des Allerhöchsten' schreibt, also ein Wort benutzt, das die Bedeutung von Rang und Status unmittelbar in sich trägt. Das gleiche Gottesbild begegnet übrigens im Aristeasbrief, wo das Verhalten eines Idealkönigs beschrieben wird. Das Modell für eine ideale Herrschaft ist Gottes Regieren. Zum Beispiel: „... Dabei schlägt Gott sie nicht nach ihren Verfehlungen oder nach seiner Machtfülle, sondern lässt Milde walten." (Aristeasbrief 192); Denn auch Gott führt alle Menschen mit Milde." (Aristeasbrief 207); „... Man muss aber erkennen, dass Gott die Welt gütig und ohne jeden Zorn regiert " (Aristeasbrief 254) 16 Hier wird Gott eindeutig als der die Welt regierende Idealherrscher verstanden.

Das Bild vom Vater mit königlicher Hoheit17 begegnet noch in Q-Lk 11,2-4. In der zweiten Bitte des Vaterunsers wird von seinem 'Reich' 14

V35d stellt zwar Gott als einen für Menschen sorgenden Gott dar, jedoch wird er dort nicht Vater der betreffenden Menschen genannt! 15 Pluralform deswegen, weil im Mt-Text von 'Vollkommenheit' geredet wird und damit alle göttlichen Eigenschaften in Anspruch genommen werden. 16 Alle zitierte Übersetzungen stammen von N. Meisner, Aristeasbrief, in: Unterweisung in erzählender Form JSHRZ II, Gütersloh 1973, 70.71f.77. 17 Nach Wischmeyer, Spruch, 13, „verbindet sich das Vaterverständnis von Gott ... (sc. bereits) im Judentum mit dem Königsverständnis".

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gesprochen. Der Vater-Gott, an den das Gebet gerichtet wird, verfugt offenkundig über ein 'Reich' Seine Kinder sollen beten, dass dieser Vater seine Herrschaft antritt. Fazit: Der Vater-Gott, der in Q-Lk 6,27-36 begegnet, ist ein nachzuahmender Vater, der zugleich die Welt regiert und damit königliche Hoheit besitzt.

(2) Der Sitz im Leben der vier Texte a) Q - L k 1 1 , 9 - 1 3 Für Überlegungen zum Sitz im Leben von Q-Lk 11,9-13 scheint es mir angebracht zu sein, von den drei Imperativen auszugehen, die am Texteingang artikuliert werden: Bittet, sucht und klopft an! Von diesen drei Verben ist das erste Verbum 'Bitten', wie bereits oben erwähnt, das Schlüsselwort des Textes. Wen aber soll man bitten? Das Passivum divinum 'gegeben werden' und v l 3 geben die Antwort: Man soll Gott, den Vater, bitten! Damit wird klar: Es geht ums Beten. Das Thema des Textes wird durch die an den ersten Imperativ parallel angeschlossenen weiteren Verben näher erläutert18: Man soll suchen und

18

D. Goldsmith, 'Ask, and it will be given Toward writing the history of a logion, NTS 35 (1989), 254-265, will in dem ersten Satz in Mt 7,7: „Bittet, so wird euch gegeben", ein ursprünglich selbständiges Logion sehen, an das zwei ebenfalls selbständige Logien im Lauf der Zeit angeschlossen worden seien. Als Begründung dafür nennt Goldsmith, Logion, 255-257, 1) dass die letzten beiden Sätze in Mt 7,8 (nota bene! nicht v7) nur einfache Wiederholung von den Wörtern in v7 sind, so dass ihre originale Zusammengehörigkeit in Frage zu stellen sei, 2) dass der Gleichnisteil sich nicht auf alle drei Logien in v7, sondern nur auf das erste Logion beziehe, 3) dass die drei Logien nur hier in Q vorkommen, während das erste Logion und seine entwickelte Form oft begegnen; wenn aber diese Logien von apostolischen Vätern zitiert wurden, dann oft nur zu zweit oder einzeln, selbst wenn sie komplett begegnen, so doch nur in einer anderen Reihenfolge als hier in Q. Diese Argumentation von Goldsmith reicht jedoch für eine Annahme der ursprünglichen Selbständigkeit des ersten Logions nicht aus, denn a) das unter 1) genannte Argument führt keineswegs dazu, die Zusammengehörigkeit der drei Logien in Frage zu stellen; b) ein sowohl inhaltlich als auch situativ enger Zusammenhang zwischen dem Gleichnisteil und den drei Logien kann beobachtet werden, wie (gegen das unter 2) genannte Argument) gezeigt werden wird; c) weder die Einmaligkeit des gemeinsamen Vorkommens der drei Logien in Q, noch die vom Original in Q abweichende Art und Weise der Zitation in

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anklopfen! Dabei ist nicht zu übersehen, dass mit den beiden Imperativen zunächst nur das aktive menschliche Handeln in den Vordergrund gerückt wird: Man soll sich um das, worum man Gott bittet, abmühen, indem man es selber sucht und an Türen klopft, während man von Haus zu Haus geht. Das geforderte Beten impliziert aktives menschliches Handeln. Dass jedoch letzten Endes alles von Gott abhängt, zeigt sich im zweiten Teil des jeweiligen Satzes, insbesondere in dem Passiv 'geöffnet werden' (einem Passivum divinum). Der eigentlich Handelnde ist Gott, denn er allein sorgt dafür, dass das Gesuchte gefunden und die Tür geöffnet wird. Das heißt, der Gott bittende Mensch soll sich um das Erbetene in einem absoluten Vertrauen abmühen, dass Gott seine Bitte erhört und seine Bemühung erfolgreich sein lässt. Ist somit ein Grundverständnis der drei Imperative gewonnen, so wenden wir uns nun der eigentlichen Frage nach dem Sitz im Leben des Textes zu. Zu ihrer Beantwortung dient m.E. die Erörterung einer weiteren Frage, nämlich, was das im Text fehlende Objekt der jeweiligen Imperative ist. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sind die Imperative 1) eher auf einer bildhaften Ebene zu verstehen oder 2) auf einer wörtlichen Ebene? Ein Beispiel für (1) ist, dass man das Reich Gottes als Objekt der drei Verben annimmt. H. Schürmann 19 begründet das so: Das zweite und dritte Glied, „suchen" und „anklopfen" weisen fur ihn auf das Gottesreich. Für „suchen" weist er auf das Suchen des Gottesreichs in Lk 12,31, für „anklopfen" auf die Tür zum Festsaal (vgl. Lk 13,25; Mt 25,11). Daraus schließt er: „Wenn so die Metaphern des zweiten und dritten Gliedes unter

späteren urchristlichen Schriften erzwingen die von Goldsmith gewollte Annahme, denn 1) die apostolischen Väter waren ja nicht verpflichtet, das Original zu zitieren, die unterschiedliche Art und Weise der Zitation zeigt, was für eine unterschiedliche Aufnahme die drei Logien bei ihnen gefunden haben, 2) dass die drei Logien nur in Q einmalig gemeinsam vorkommen, während das erste Logion in unterschiedlicher Form in den anderen neutestamentlichen Schriften mehrmals begegnet, kann auch so erklärt werden, dass der historische Jesus das erste Logion in unterschiedlichen Situationen gesprochen hat, während die drei Logien nur im jetzigen textuellen Zusammenhang zusammengestellt wurden. Für die Behauptung der ursprünglichen Selbständigkeit des ersten Logions braucht man also neue Argumente. 19 Das Lukasevangelium, Zweiter Teil, Erste Folge. Kommentar zu Kapitel 9,5111,54, HThK III, Freiburg 1993, 215f.

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unterschiedlichen Bildern - das Gottesreich meinen sollten, kann die erste bildlose Aufforderung ebenfalls in gleiche Richtung zielen. Ist doch das Gottesreich z.B. Mk 4,11; Lk 12,32, vgl. 22,38f - als Gabe vorgestellt. Wem es - in Jesu Worten und Taten aufgeleuchtet und zugekommen ist, der wird nun darum zunächst bitten, dann auch danach suchen, auch anklopfen, und am Ende wird ihm geöffnet werden." 20 Der Schwachpunkt dieser Auslegung ist, erklären zu müssen, warum man die wörtliche Ebene verlassen muss: Lassen sich die drei Verben nicht viel unbefangener wörtlich verstehen? Beginnen wir mit dem dritten Verbum. Das Wort κ ρ ο ύ ω lässt auf einer wörtlichen Ebene eindeutig erkennen, was sein Objekt ist: eine Tür. Ein Blick in die Konkordanz des Neuen Testaments bringt uns eine weitere Information. Insgesamt neunmal 21 kommt das Wort κ ρ ο ύ ω im N T vor (darunter viermal in unserem Text: Mt 2mal/Lk 2mal), jedesmal in Verbindung mit dem Wort ά ν ο ί γ ω , auffällig ist dabei, dass alle anderen Stellen in den synoptischen Evv und der Apg außer einer (Lk 13,25) eine Nachtsituation voraussetzen (Lk 12,36 22 ; Apg 12,13f.l6 2 3 ). Die Türen werden in der Nacht zugeschlossen, daher muss an sie angeklopft werden, wenn man durch sie hinein will (vgl. Lk 11,5.7) 24 Zwar ist es nach Billerbeck eine gute Sitte in Israel, dass man - selbst am Tag - anklopft, wenn man in einem Haus eine Angelegenheit zu erledigen hat. 25 Wie

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D.R. Catchpole, The Quest For Q, Edinburgh 1993, 220, bestreitet diese Ansicht wie folgt: „But this (sc. diese Ansicht von Schürmann u.a.) will not work on the Q level! For in Matt 25:11-12 (cf. 7:22-23) Luke 13,25-26 those who knock in unmistakably eschatological circumstances are by no means admitted. Rather they are summarily dismissed with a melancholy message of exclusion." 21 Mt 7,7.8; Lk 11,9.10; 12,36; 13,25; Apg 12,13.16; Apk 3,20. 22 Lk 12,35ff. „Umgürtet euch und lasst eure Lichter brennen und seid den Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten, wenn er von der Hochzeit aufbricht, um ihm zu öffnen, sobald er kommt und anklopft. Selig sind die Knechte, die der Herr wach findet 23 Apg 12,13 „Als er (Petrus sc.) an das Hoftor klopfte, kam eine Magd 12,16 „Petrus aber klopfte weiter an. Als sie nun öffneten 12,6 ,Jn der Nacht, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten 24 „... Wenn jemand von euch einen Freund hat und um Mitternacht zu ihm geht und zu ihm sagt (Lk 11,5); „... Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen, und meine Kinder liegen schon mit mir zu Bett " (Lk 11,7). 25 Kommentar Zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I. Das Evangelium nach Matthäus, München 2 1926, 45 8f: „Nidda 16b wird aus dem Buch des

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aber ein anderes von ihm angeführtes Beispiel zeigt, in dem ohne Anklopfen ein Haus betreten wird,26 ist diese Sitte zwar erwünscht, entspricht aber nicht der Alltagspraxis. Darum haben wir einen guten Grund, beim dritten Verbum in v9 auch an eine Nachtsituation zu denken. Wie ist es aber mit dem zweiten Verbum? Die Wortkombination ζητέω ευρίσκω ist so verbreitet, dass man für sie nur schwer eine bestimmte Situation postulieren kann. Sucht man eine Situation, die mit dem dritten Verbum in Zusammenhang steht, so findet man sie vielleicht innerhalb der Logienquelle in Q-Lk 11,24-26. Dort ist davon die Rede, dass ein unreiner Geist einen Platz zur Ruhe 'sucht', nachdem er aus seinem Haus weggegangen ist, aber keinen Ort 'findet' Das eigentliche Objekt der beiden Verben 'suchen finden' könnte daher ein Ort zum Ausruhen sein. Nimmt man die beiden Objekte zusammen, so wird die Situation der Suche nach einer Bleibe sichtbar: Findet man sie tagsüber nicht, so sucht man weiter, obwohl es schon dunkel ist, indem man von einem Haus zum anderen geht und an die Türen klopft. Wo ist solch eine Situation im Leben des Urchristentums zu finden? Mt 10,11 gibt die Antwort. Dort heißt es nämlich, „Wenn ihr aber in eine Stadt oder ein Dorf geht, da erkundigt euch, ob jemand darin ist, der es wert ist Es geht hier um eine Anweisung für Wandercharismatiker, die ohne Besitz und Familie von Ort zu Ort ziehen. Der Ausdruck 'sich erkundigen' besagt, dass diese Wandercharismatiker zuerst ein Haus zum Übernachten suchen müssen, wenn sie in eine neue Ortschaft kommen.27 Ihre SuBen Sira ein Zahlenspruch zitiert: 'Drei hasse ich u. den Vierten liebe ich nicht.' Dieser Vierte ist: 'Wer in das Haus eines anderen plötzlich (ohne Anruf oder Anklopfen) eintritt.'" Das Zitat aus Ben Sira lässt sich so in Jesus Sirach nicht nachweisen. Wahrscheinlich liegt ein Bezug zu Sir 21,22 vor: „Der Fuß eines Toren tritt schnell ins Haus." 26 R. Acha: „Manche Frau versteht zu borgen u. manche versteht nicht zu borgen Die aber nicht zu borgen versteht, geht zur Nachbarin, reißt die Tür, auch wenn sie geschlossen ist, auf (ohne anzuklopfen) u. spricht: Hast du den u. den Gegenstand? Dann sagt jene: Nein" (Billerbeck u.a., ebd.). 27 Diese Feststellung ändert nichts an der Tatsache, dass diese mt Version eine Bearbeitung des mk Texts (Mk 6,10) im Hinblick auf „Erfahrungen einer späte-

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che ist oft mühsam, so dass sie von Haus zu Haus ziehen müssen. Dies zeigt auch Mt 10,14: „Und wenn euch jemand nicht aufnehmen und eure Rede nicht hören wird, so geht heraus aus diesem Haus "(Mt 10,14). 2 8

In diesen Versen wird vorausgesetzt, dass sich die Wandercharismatiker bereits in ein Haus hinein begeben haben, wahrscheinlich in dessen Eingang. Wenn der Hausherr sie jedoch nicht aufnehmen will, müssen sie das Haus wieder verlassen und weiter suchen. Wie ist es aber dann mit dem ersten Verbum? Was ist das Objekt des Verbums? Lässt sich das Verbum zusammen mit dem gesuchten Objekt mit der gerade geschilderten Situation in Einklang bringen? Die Wortkombination 'bitten - geben' findet man im NT sehr oft, und unterschiedliche Situationen werden dabei sichtbar. Eine ist die des Bettlers,29 wie sie in Apg 3,2ff begegnet. Stellt man sich diese Situation für das erste Verbum vor, dann ist das Erbetene das Elementarste zum Leben, nämlich das Essen. Die Frage ist dann, was dieses Objekt mit den anderen Objekten gemeinsam hat. Die Aussendungsrede, ermöglicht auch hier eine Antwort. In Lk 10,8f heißt es,

ren Missionspraxis" ist (P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle, NTA:NF 28, Münster 3 1982, 273). Unabhängig davon, dass die mt Version nicht ursprünglich ist, lässt die Wendung 'sich erkundigen' eindeutig erkennen, dass das Suchen nach einer Bleibe für Wandercharismatiker etwas Selbstverständliches, aber oft sehr Mühsames war. 28 Allgemein wird angenommen, dass der Ausdruck 'aus diesem Haus' (genauer aus 'dem' Haus) auf den Evangelisten Matthäus zurückgeht (so Hoffmann, Studien, 270; Polag, Q, 46). Es ist wenig von Bedeutung, ob der Ausdruck aus Q oder von einem Evangelisten stammt, denn der Evangelist wird sich darum bemühen, sich die konkrete Situation von Wandercharismatikem zu vergegenwärtigen, wenn er einen Zusatz in die Anweisungen für sie - in die Aussendungsrede einfügt. Bestimmte Erfahrungen bzw. die reale Praxis von Wandercharismatikem können sich darum in dem Ausdruck niedergeschlagen haben. 29 Von einer Bettlersituation sprach bereits J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 7 1965, 159: „Wenn schon der Bettler, obwohl zuerst hart abgewiesen, weiß, dass Zähigkeit im Bitten die Hände seiner hartherzigen Mitmenschen öffnet - wieviel mehr dürft Ihr wissen, dass Euer Anhalten am Gebet die Hände Eures himmlischen Vaters öffnet!"

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„Und wenn ihr in eine Stadt kommt und sie euch aufnehmen, dann esst, was euch vorgesetzt wird,30 und heilt die Kranken, die dort sind, und sagt den Leuten: Das Reich Gottes ist nahe zu euch gekommen." Demnach bringt die gesuchte Bleibe auch Nahrung und Speise mit sich. Ist das Essen also das Erbetene,31 so wird es im Vertrauen auf Erhörung der Bitte durch Gott beim Finden einer Unterkunft empfangen. Somit wird eine gemeinsame Situation hinter den drei Imperativen bzw. deren Objekten sichtbar. Es handelt sich um eine alltägliche Situation von Wandercharismatikern. Falls diese Ansicht auch dem Gleichnisteil des Textes ( w l 1-13)32 gerecht wird, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Deutung zutrifft. 30

Hoffmann, Studien, 282; Polag, Q, 46, nehmen an, dass der Ausdruck „dann esst, was euch vorgesetzt wird" auf den Evangelisten Lukas zurückgeht. Hier gilt auch das oben in Anm. 28 Gesagte. 31 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Catchpole, Quest, 22If, allerdings auf einem methodisch problematischen Weg, nämlich unter Berufung auf Lk 11,5-8, einer Perikope, die er als zu Q gehörig betrachtet. Catchpole ist deshalb genötigt, nachzuweisen, warum Lk 11,5-8 zu Q gehört. 32 Die ursprüngliche Zusammengehörigkeit dieses Gleichnisteils und des Logions in v9 wird seit R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition. Mit einem Nachw. von G. Theißen, FRLANT 29, 10 1995, 90, immer wieder bestritten. Gegen die ursprüngliche Zusammengehörigkeit äußern sich Exegeten wie Schürmann, Lk II, 220; J.S. Kloppenborg, The Formation of Q. Trajectories in Ancient Wisdom Collections, Philadelphia 1987, 204; Catchpole, Quest, 218f, um nur einige zu nennen. Dagegen lehnen aber D. Zeller, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern, FzB, Würzburg 1977, 127f, und U. Luz, Mt I, 383, eine derartige traditionsgeschichtliche Dekomposition ab. Als Begründung nennt Zeller, 1) die inhaltliche Abhängigkeit des Passives 'gegeben werden' in v9 von vl3, und 2) die durchgehende Stichwortverbindung mit aixEoound δίδωμι Gerade dieses zweite Argument ist für Catchpole nicht ausreichend fur die Ansicht der ursprünglichen Zusammengehörigkeit der beiden Teile, weil die Stichwortverbindung „a literary device favoured by Q" ist. Als weitere Gegenargumente nannte Chatchpole, 1) dass außer der Stichwortverbindung von αϊτέω und δίδωμϋίείηε andere Verbindung z.B. für κρούω + α ν ο ί γ ω zu beobachten ist, 2) dass die w l l - 1 3 für sich allein einen „perfekten Sinn" hervorbringen und, wie andere Einheiten, die mit τίς έξ ύμών beginnen, „selfcontained" sind und keine andere Einleitung benötigen. Diese Argumente reichen allerdings nicht zur Widerlegung der ursprünglichen Zusammengehörigkeit aus, denn die Situation im Gleichnisteil zeigt eine enge Gemeinsamkeit mit der, die

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Im Mittelpunkt unserer Erörterung dieses Teils steht die Frage, wie das ά γ α θ ά 3 3 am Schluss des Textes zu verstehen ist. Dazu gibt es zwei M ö g lichkeiten: 1) eine bildhafte oder 2) eine wörtliche D e u t u n g . Zu 1) gehört z.B. die Deutung, hinter ά γ α θ ά die Heilszeit 3 4 zu sehen. Ihr ist die Frage entgegenzusetzen, w a r u m das gemeinte O b j e k t nicht konkret formuliert, sondern nur bildhaft zum A u s d r u c k gebracht ist. Diese Frage entfallt bei der zweiten Möglichkeit. Hier steht das e i n g e f ü h r t e Beispiel ' B r o t ' und ' F i s c h ' 3 5 im Mittelpunkt. Denn mit ά γ α θ ά ( v l 3 a ) ist zunächst nichts

hinter allen drei Imperativen zu vermuten ist, wie wir sehen werden. Dass vvl ΙΟ fur sich allein eine Einheit bilden, ist m.E. fraglich, da der Schluss, besonders der Ausdruck „um wieviel mehr", einer Einleitung bedarf - etwa: dass Gott im Gegensatz zu den Menschen unvergleichbar gut ist. Aber selbst wenn v v l l - 1 3 für sich allein eine Einheit bilden sollten, fuhrt dies nicht unbedingt dazu, dass sie erst im Stadium der Q-Redaktion mit v9 verbunden worden sind. Eine derartige Verbindung könnte schon vorher, z.B. beim historischen Jesus, geschehen sein (für Luz entstammt der Text als Ganzer außer geringen Spuren einer QRedaktion von Jesus). Angesichts dieses Diskussionsstandes scheint es mir angemessen zu sein, keine voreilige Entscheidung über die Frage der Zusammengehörigkeit zu fällen, solange keine neuen überzeugenden Argumentation zu finden sind. Für unsere obige Erörterung spielt die Diskussion über die ursprüngliche Zusammengehörigkeit keine bedeutende Rolle, da wir uns auf die Ebene von Q konzentrieren. 33

Allgemein wird diese mt Version zu Recht als ursprünglich angesehen. J. Gnilka, Das Matthäusevangelium Erster Teil, HThK I, Freiburg u.a. 1986, 261, nennt als Begründung dafür: „Bekanntlich schenkt Lk in seinem Doppelwerk dem Wirken des Geistes seine besondere Aufmerksamkeit." Nach Schürmann, Lk II, 218, ist dadurch der ursprüngliche Gegensatz 'Gutes - Böses' überflüssig geworden. 34 Vgl. J. Jeremias, Gleichnisse, 144. Ähnlich F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas 2. Teilband, EKK III, Zürich u.a. 1996, 156 Anm. 71: „Die ά γ α θ ά von Mt 7,11 haben eine eschatologische Konnotation: Es handelt sich um die 'guten Dinge', die dem Gottesreich angehören." 35 Die lk Kombination 'Ei-Skorpion' dürfte gegenüber der mt sekundär sein. Vgl. Gnilka, Mt I, 261; Bovon, Lk II, 153f. Schürmann, Lk II, 219, erklärte diese lk Abweichung im Zusammenhang mit der lk Abänderung 'Heiliger Geist' Lk wolle mit dieser Abweichung den schädlichen Charakter der genannten Dinge hervorheben. Unterschiedliche Positionen von Exegeten über die ursprünglichen Bestandteile werden von Kloppenborg, Formation, 205f Anm. 145, knapp referiert.

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anderes gemeint als diese beiden konkreten Gegenstände, 3 6 die als Grundnahrung der Israeliten gelten 37 , und es liegt am nächsten, das zweite α γ α θ ά ( v l 3 b , genauer Mt 7,1 l b ) auf das erste zu beziehen: Es ist eine Selbstverständlichkeit, 38 dass der Vater-Gott, der unvergleichbar 'besser' ist als der menschliche, seinen Kindern 'Gutes', nämlich 'Brot und Fisch', 3 9 geben wird, w o doch der - böse - Menschenvater das Gleiche tut. Die Vergleichspunkte sind also nicht nur das Vater-Kind-Verhältnis, sondern auch die erbetenen Dinge und die Gabe. Darum fehlt in ν 13b (genauer Mt 7,1 l b ) eine Konkretisierung des 'Guten' In diesem Gleichnisteil wird etwas vom Leben eines Bettlers, eines Wandercharismatikers, der Gott um Essen bittet, sichtbar. 40 Damit wird der Stoff des Gleichnisses nicht überinterpretiert. Denn es findet sich in ihm ein aussagekräftiges Indiz, das Gegenbeispiel, dass ein Kind von seinem Vater nicht 'Stein und Schlange' bekommen wird. Das sind Dinge, die ein hungriger Wanderer in Palästina unterwegs reichlich fin36

Dafür spricht auch die Erklärung Catchpoles: „Many texts in Jewish tradition use τά ά γ α θ ά ί η the sense of unspecified, not eschatological, blessings. Some place distinct emphasis on the material. A sizable group understands τά ά γ α θ ά as food, alongside those which see τά ά γ α θ ά as God's provision for the needy" (Quest, 214, Textbelege siehe dort Anmerkungen). 37 Siehe Mk 6,34-44 parr; 8,1-10, wonach Jesus mit Brot und Fisch den Hunger der Menschenmenge stillte. 38 Diese Selbstverständlichkeit bringt das 'um wieviel mehr' in v l 3 zum Ausdruck. 39 Eine ähnliche Ansicht äußert auch Zeller, Mahnsprüche, 130f: „Nichts deutet daraufhin, dass etwa die erbetenen ά γ α θ ά erst in der messianischen Zukunft liegen (sc. gegen J. Jeremias). Vielmehr sollen die Angeredeten ihre alltäglichen, gerade die materiellen Nöte vor Gott tragen." 40 Eine ähnliche Meinung äußern auch Catchpole, Quest, 212: the illustration is moulded by the specific situation of those addressed and not simply by the general and commonplace situation. That means, first, that those addressed need ordinary food, and, second, that God as the provider of ordinary food is going to be seen to do so specially in his capacity as Father. To make this even more precise, it means that those addressed are disciples committed to the cause of Jesus and the kingdom", und vor ihm schon Schürmann, Die vorösterlichen Anfänge der Logientradition, in: ders. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien, Düsseldorf 1968, 37-65, dort 62, wenn auch mit Vorbehalt: manche Aufforderungen zum Bitten scheinen (nur in der 'Bildhälfte'?) um die im erwerblosen Jüngerkreis besonders aktuelle Brotfrage zu kreisen (vgl. Mt 7,9ff.; Lk 11,5-8; Mk 11,24, vgl. Lk 11,3)."

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det, aber nicht essen kann.41 Der Q-Bericht über Jesu Versuchung (Lk 4,3 par.) macht klar, was ein hungriger Mensch mit Steinen, die er in der Wüste vorfindet, assoziiert.42 Wir erhalten hier Einblick in die Erfahrungswelt derjenigen, die hinter unserem Text stehen: Es sind Wanderer, die oft unterwegs hungern, aber zum Essen nur Unnützes wie z.B. Schlangen oder Steine finden. Die Nennung dieser Gegenstände als Gegenbeispiel zur liebenden Fürsorge eines menschlichen Vaters ist für die Wandercharismatiker eine Zusage, dass Gott als der bessere Vater ihnen wirklich Essbares und damit 'Gutes' geben wird, wenn sie um Speise bitten. Bewegen wir uns mit diesen Überlegungen auf halbwegs sicherem Boden, dann können wir den Sinn des Textes etwa so erklären: Jeder Wandercharismatiker, der von Ort zu Ort zieht, soll Gott um das Essen bitten. Seine Bitte bringt er dadurch zum Ausdruck, dass er im Vertrauen auf Gott, dass er ihn erhören wird, seinerseits handelt: durch Suche nach einer Bleibe für den Tag, in der er mit Essen versorgt wird und seine eigentliche Aufgabe, Heilen und Verkünden, erfüllen kann. Diese Bitte von Wandercharismatikern um das Essen steht mit der Brotbitte im Vaterunser43 im Einklang. Das Fazit: Der Sitz im Leben von Q 11,9-13 ist das alltägliche Leben von Wandercharismatikern. In Bezug auf den Sitz im Leben von Q 11,9-13 schenkt Catchpole 44 seine besondere Aufmerksamkeit dem Vers 10, wo der Inhalt von v9 fast wiederholt wird. Für ihn ist diese Wiederholung ein Zeichen dafür, dass für die Q-Christen eine wiederholte Bekräftigung der göttlichen Vorsorge notwendig geworden ist. Catchpole vermutet, dass der Grund dafür in der Verspätung der Ankunft des Reichs Gottes liege. Seine Ansicht ist überlegenswert, jedoch nicht zwingend, denn die Wiederholung in vlO könnte auch von Jesus selbst stammen. 45 41

Nicht selten wird die Frage nach dem Sinn des Vergleichs (Brot-Stein, FischSchlange) gestellt, z.B. von Gnilka, Mt I, 62: „Warum wird ein Wechsel zu Stein und Schlange vollzogen?" Man wird jedoch zu keiner überzeugenden Antwort kommen, solange der inhaltliche und damit situative - Situation des Wanderlebens - Hintergrund von vi lf nicht berücksichtigt wird. 42 Die Ansicht, dass es sich bei den eingeführten Beispielen um Verwechselbares handele (z.B. Gnilka, Mt I, 262), könnte man so uminterpretieren. 43 S.u. im betreffenden Abschnitt. 44 Quest, 211-228, besonders 217.220. 45 Vgl. Luz, Mt I, 383.

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b) Q - L k 12,22-31

Bei Überlegungen zum Sitz im Leben von Q-Lk 12,22-31 steht die Frage im Vordergrund: Wem galt der Text ursprünglich? War er an eine bestimmte Menschengruppe, genauer an einen Kreis von Wandercharismatikern gerichtet oder an alle Menschen ohne Unterschied? Einige Exegeten 46 sprechen sich für die erstgenannte Möglichkeit aus, und damit ist die Frage nach dem Sitz im Leben des Textes für sie beantwortet. Andere Exegeten 47 bestreiten diese Möglichkeit und suchen nach einem anderen Sitz im Leben. Die Hauptgründe, die zu unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach den ursprünglichen Adressaten führen, sind zwei: 1) Wie sind die im Text eingeführten Beispiele Vögel und Lilien zu verstehen? 2) Wie ist die Forderung, nach dem 'Reich Gottes zu trachten', 48 zu interpretieren? Wir beginnen mit der ersten Frage. Die Vögel und Lilien sind für O. Wischmeyer Beispiele, an denen Gottes Fürsorge für alle seine Geschöpfe sichtbar werden soll. Darum seien die Vögel und Lilien als Muster für jeden Menschen aufzufassen. 49 Ob diese Ansicht von Wischmeyer dem Text gerecht wird, ist zu prüfen. „Seht die Raben an: sie säen nicht, sie ernten auch nicht, sie haben auch keinen Keller und keine Scheune, und Gott ernährt sie" (Lk 12,24f). „Seht die Lilien an, wie sie wachsen: sie spinnen nicht, sie weben nicht. Ich sage aber, dass selbst Salomo in seiner 46

P. Hoffmann, Studien, 326-329, sowie ders., Tradition und Situation. Studien zur Jesusüberlieferung in der Logienquelle und den synoptischen Evangelisten, NTA.NF 28, Münster 1995, 105; G. Theißen, Wanderradikalismus, 85.94, sowie Gewaltverzicht und Feindesliebe (Mt 5,38-48/Lk 6,27-38) und deren sozialgeschichtlicher Hintergrund, in: ders., Studien, 160-197, dort 185; M. Sato, Q und Prophetie. Studien zur Gattungs- und Traditionsgeschichte der Quelle Q, WUNT.2R 29, Tübingen 1988, 218f.224, und Luz, Mt I, 370f. 47 O. Wischmeyer, Spruch, 14-16; J. Kloppenborg, Formation, 220f; R.A. Piper, Wisdom in the Q-Tradition. The Aphoristic Teaching of Jesus, MSSNTS 61, Cambridge u.a. 1989,33-35. 48 Das mt την δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ν αύτοϋ geht auf mt Redaktion zurück. Nach Wischmeyer, Spruch, 6, will Mt damit „die Verbindung des Q-Textes zum Thema des zweiten Teils der Bergpredigt sicherstellen". 49 Spruch, 14f.

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ganzen Herrlichkeit nicht so gekleidet gewesen ist wie auch nur eine von ihnen. Wenn denn Gott das Gras, das heute auf dem Feld steht und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet, " ( L k l 2 , 2 7 f ) . Wenn man im Licht der oben von mir unterstrichenen Sätze die beiden Beispiele vom Raben 50 und von den Lilien betrachtet, scheint die Ansicht Wischmeyers akzeptabel zu sein. Aber störend für sie sind die kursiv gesetzten Sätze, die zwischen den beiden Beispielen und den Aussagen über Gottes Fürsorge für Raben und Lilien stehen. Folgt man der Ansicht Wischmeyers, dann hat man den Eindruck, für sie stünde im Text etwa nur so viel wie: „Seht die Raben an, Gott ernährt sie doch! Seht die Lilien an, Gott kleidet sie doch wunderbar!" Wischmeyer berücksichtigt die kursiv hervorgehobenen Sätze zu wenig. Kann man so dem Text gerecht werden? Die Frage ist aus folgenden Gründen zu verneinen: 1) O. Wischmeyer trägt in ihrem Aufsatz die Texte zusammen, die motivgeschichtlich unserem Text verwandt sind.51 Es sind Hiob 38,41; Ps 147,8f; PsSal 5,8-10.18. Vergleicht man sie mit unserem Text, dann ist es augenfällig, dass in ihnen nirgends ein Passus zu finden ist, der ausdrücklich sagt, dass die Tiere nicht arbeiten. In PsSal 5,8f heißt es z.B.: „Denn wenn ich hungere, werde ich zu dir rufen, ο Gott, und du wirst mir geben. / Vögel und Fische nährst du ,.."52 Die durch Gottes Fürsorge ernährten Tiere werden ohne Betonung ihrer Untätigkeit genannt. Die Beispiele in unserem Text sind dagegen mit fünf Verben, die ihre Untätigkeit unterstreichen, versehen. Man kann nicht die so auffallig betonte Untätigkeit übergehen, wenn man dem Text gerecht werden will. 2) Die Beschreibung der Untätigkeit der Vögel ist keine selbstverständliche Sache. Zieht man einen Text wie 4 Makkabäer 14,15-17, wo auch 50

Diese lk Version verdient aufgrund ihrer Konkretheit gegenüber der mt Lesart 'Vogel' den Vorzug. So Luz, Mt I, 363; Polag, Q, 60f; Wischmeyer, Spruch, 5, und Bovon, Lk II, 297, dagegen votieren S. Schulz, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972, 150; A. v. Harnack, Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas, Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament, Leipzig 1907, 10. 51 Spruch, 12. 52 Übersetzung von S. Holm-Nielsen, Die Psalmen Salomos, in: Poetische Schriften, JSHRZ IV, Gütersloh 1977, 74.

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Vögel als Beispiel verwandt werden, zum Vergleich heran, dann wird das deutlich: „Nehmen wir nur die Vögel. Die zahmen beschirmen ihre Jungen, indem sie unter den Dächern der Häuser nisten. / Die anderen bauen ihre Nester auf die Gipfel der Berge, an die felsigen Abhänge der Schluchten, in die Spalten und Wipfel von Bäumen. Dort brüten sie ihre Jungen aus und versuchen, Eindringlinge am Näherkommen zu hindern. / Wenn ihnen das nicht gelingt, flattern sie aufgeregt um ihre Brut herum, von Liebe und Sorge erfüllt, zwitschern in ihrer eigenen Sprache und stehen ihren Jungen bei, so gut sie nur können."53 Ein Bild von untätigen Vögeln ist hier nirgends zu finden, statt dessen begegnet uns ein Bild von Vögeln, die Nester bauen, ihre Jungen ausbrüten und sie schützen, kurz gesagt, ein Bild von sich eifrig ihrer Arbeit widmenden Vögeln. Hier kommen wir wiederum zu dem gleichen Schluss wie oben: Die Betonung der Untätigkeit von Vögeln und Lilien ist bei der Auslegung des Textes in Rechnung zu stellen. 3) Zu demselben Ergebnis kommt man, wenn man vom Imperativ 'Sorgt nicht!' aus das doppelte Beispiel betrachtet. Denn nach diesem Imperativ würde man statt der Beschreibung der Untätigkeit der Vögel und Lilien Aussagen darüber erwarten, wie sorglos sie leben, etwa so: „Seht die Vögel an, sie sorgen nicht, was sie essen, trinken sollenl Seht die Lilien an, sie sorgen nicht, was sie anziehen sollen!" Dass im Text aber solche Aussagen fehlen und statt ihrer eine Beschreibung der Untätigkeit der Raben und Lilien begegnet, spricht dafür, dass hinter dieser Formulierung eine bestimmte Intention steht. Wie ist aber dann der Text auszulegen? Im Anschluss an G. Theißen54 hält U. Luz es für wahrscheinlich, dass „hier ein Berührungspunkt zu den Angeredeten (sc. den ursprünglichen Adressaten) liegt," die auch nicht

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Übersetzung von H.-J. Klauck, 4. Makkabäerbuch, in: Unterweisung in lehrhafter Form, JSHRZ III, Gütersloh 1989, 742. 54 Wanderradikalismus, 85.

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säen, ernten, sammeln, und auch nicht spinnen und weben, kurz: die nicht arbeiten.55 Diese Ansicht bedarf jedoch einer weiteren Erklärung dafür, wie dieser Hinweis auf die ursprünglichen Adressaten im Textzusammenhang zu verstehen ist, in dem es in erster Linie um die Sorge bzw. das NichtSorgen geht. Umfasst der Imperativ 'Sorgt nicht!' etwa auch aktives Handeln von Menschen, so dass der Imperativ etwa so viel bedeutet wie: „Bemüht euch nicht um euer Essen sowie eure Kleidung!"?56 Diese Frage ist zu verneinen. Denn der Gebrauch des Wortes 'Sorgen' im Text zeigt, dass ein aktives Handeln für den Verfasser des Textes in diesem Wort nicht enthalten ist.57 Ein Beleg dafür ist Mt 6,31 f. „Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Denn nach dem allen trachten die Heiden Für den Verfasser beinhaltet das Wort 'Trachten' offenbar aktives Handeln von Menschen, darum vermeidet er es, dieses Wort dort zu gebrauchen, wo es vom Textzusammenhang her denkbar ist, nämlich in v31. Dies lässt sich auch auf andere Weise bestätigen: Wenn das Wort 'Sorgen' in unserem Text aktives menschliches Handeln beinhalten würde, hätte man in v32 statt des neuen Wortes 'Trachten' das alte Wort 'Sorgen' gebrauchen können etwa so: „Denn um das alles sorgen sich die Heiden " Dass in unserem Text ein neues Wort statt 'Sorgen' gebraucht wird, spricht fur unser Verständnis des Wortes 'Sorgen'

Wenn mit dem Wort 'Sorgen' nicht aktives Handeln gemeint ist, dann kommen wir auf die Frage zurück, wie die Auskunft über die Untätigkeit der ursprünglichen Adressaten im Textzusammenhang zu verstehen ist?

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Mt I, 368.371. Ähnlich D. Zeller, Kommentar zur Logienquelle, SKK.NT 21, Stuttgart 1984, 80 (siehe auch unten Anm. 63). 56 Vgl. J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil. Die Verkündi-gung Jesu, Gütersloh 1971, 226f: „... ihre Schärfe wird deutlich, wenn man erkennt, dass μ ε ρ ι μ ν α ν in diesem Abschnitt nicht 'sich sorgende Gedanken machen' heißt, sondern 'sich sorgend abmühen' (vgl. Mt 6,27 par.), so dass Mt 6,25 par. besagt: 'Müht euch nicht ab, um (euch Geld für) Nahrung und Kleidung (zu verdienen).' Jesus untersagt also jegliche Erwerbstätigkeit." 57

Anders als Luz, Mt I, 367, der in dem Wort 'Sorgen' auch aktives menschliches Handeln impliziert sieht.

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Diese Frage lässt sich m.E. dann beantworten, w e n n m a n sich klar macht, dass es hier nicht um die Sorge j e d e s M e n s c h e n um Essen und K l e i d u n g geht. Die Sorge um Essen und Kleidung kann man zumindest kurzfristig, wenn auch mühsam, 5 8 bewältigen, indem m a n z.B. arbeitet. Hier geht es aber um die Sorge dessen, der nicht arbeitet, d.h. die Sorge eines W a n dercharismatikers. Da die Wandercharismatiker nicht arbeiten können und dürfen, weil sie einer anderen A u f g a b e verpflichtet sind, zu heilen und zu predigen, 5 9 machen sie sich Sorge um Leib und Leben. Ihre Sorge ist berechtigt, denn einerseits können sie keinem anderen Berufsleben nachgehen, andererseits ist nicht j e d e s H a u s bereit, sie a u f z u n e h m e n und ihnen den notwendigen Unterhalt zu g e w ä h r e n . Das Leben eines W a n dercharismatikers kann kaum sorgenfrei sein. Vielleicht könnte man den Vers: „Wer ist unter euch, der der Länge seines Lebens eine Spanne zusetzen kann, wie sehr er sich auch darum sorgt?" in diesem Zusammenhang etwa so verstehen: Das Wanderleben der Charismatiker ist so mühsam, dass sie sich manchmal ernsthaft sorgen, ob sie nicht in kurzer Zeit (in 'einer Spanne' ihres Lebens) verhungern werden (siehe den Kontext, wo im vorhergehenden Vers von der Ernährung der Vögel die Rede war). Die Lehre des Verses dazu ist klar: Selbst in einer solchen extremen Situation hilft das Sorgen nichts! 60 G e r a d e von diesen Wandercharismatikern wird aber in unserem Text gefordert, nicht zu sorgen. Derjenige, der diese ' b l i n d e ' Forderung auf-

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Vgl. L. Schottroff/W. Stegemann, Jesus von Nazareth - Hoffnung der Armen, UB 639, Stuttgart u.a. 2 1981, 55-59. Um die damalige Situation Palästinas zu veranschaulichen, sei hier ein Zitat von Seite 58, das von A. Ben-David stammt, wiedergegeben: Der Tagelohn eines Landarbeiters von einem Denar hatte demnach eine Kaufkraft von 12 Broten, und da er bis zu 200 Tagen im Jahr arbeiten konnte, erreichte sein Verdienst gerade das Existenzminimum. Bei einer sechsköpfigen Familie reichte das Minimaleinkommen von 200 Denar zum Erwerb von jährlich 400 Laib Brot pro Kopf der Familie, d.h. von einer täglichen Kalorienmenge von 1400 Kalorien. Eine so niedrige Kalorienmenge liegt an der unteren Grenze menschlichen Nahrungsbedarfs." 59 Vgl. Lk 10,9. 60 Es ist daher aufs Neue zu überlegen, ob der betreffende Vers von manchen Exegeten mit Recht als Zusatz deklariert wird mit der Begründung: „v27 unterscheidet sich in Tenor und sprachlicher Gestalt von den übrigen Versen" (Luz, Mt I, 365). Wenn man aber den Vers im obigen Sinne versteht, dann wird man nicht von einer inhaltlichen Unterschiedenheit des Verses von den übrigen sprechen können, denn er hat im jetzigen Zusammenhang einen verständlichen Sinn.

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stellt, sieht sich daher verpflichtet, ein Beispiel zu präsentieren, das seine Forderung akzeptabel erscheinen lässt. Daher wird im Text das doppelte Beispiel der 'Vögel und Lilien' mit der Intention angeführt: „Seht euch doch die Vögel und Lilien an! Sie arbeiten ja nicht, genauso wie ihr Wandercharismatiker,61 sie werden aber von Gott wunderbar ernährt und gekleidet. Darum sollt ihr nicht sorgen!" 6 2 N u n zu der zweiten Frage: Wie ist die Forderung 'nach Gottes Reich zu trachten' zu interpretieren? Während die Exegeten, die das doppelte Beispiel als Hinweis auf Wandercharismatiker als die ursprünglichen Adressaten des Wortes verstehen, in dieser Forderung ihre Vermutung bestätigt sehen, 6 3 bestreitet J. Kloppenborg 6 4 dies mit folgender Begründung: „Das V e r b u m 'trachten' in 12,31 ist kein passendes Wort dafür, die Aktivität der Verkündigung des Reichs Gottes zu beschreiben." 6 5 Die Abgrenzung der angesproche-

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Bovon, Lk II, 304.307, macht auf mögliche Konnotationen bei dem Doppelbeispiel aufmerksam; nach ihm sind die Raben mit Abfall assoziiert, d.h. mit dem, was verachtet wird, und die Lilien mit dem, was an „die Kürze des Lebens und die Plötzlichkeit des Todes" erinnert. Hält man diese Konnotationen für möglich, dann könnte man aus dem Doppelbeispiel noch weitere Anspielungen auf das Leben von Wandercharismatikern herauslesen: Sie wurden nämlich oft verachtet, weil sie genauso wie Bettler waren, und ihr Leben wurde oft bedroht, nicht nur weil sie ständig unterwegs sein mussten, sondern auch weil ihre Verkündigung oft abgelehnt wurde. 62 Es ist daher nicht korrekt, wenn Schottroff/Stegemann, Jesus, 55-65, die ursprünglichen Adressaten unseres Textes in den Armen sehen wollen. Die im Text gegebene Auskunft über die Wandercharismatiker als Angeredete wird man nicht ignorieren dürfen. Die Nicht-Ausrüstung (Mt 10,8-10) ist nicht die Verwirklichung von Mt 6,25-33 (S. 64), vielmehr ist Mt 6,25-33 eine Ergänzung zu der Nicht-Ausrüstung (Mt 10,8-10). Ähnlich wie Schottroff und Stegemann äußert sich auch R. J. Dillon, Ravens, Lilies, and the Kingdom of God (Matthew 6:2533/Luke 12:22-31), CBQ 53 (1991), 605-627, dort 627: Für ihn ist die Botschaft 'Sorgt nicht' eine Fortsetzung von Jesu „good news to the poor" 63 Z.B. Luz, Mt I, 370; Hoffinann, Studien, 327. Zeller, Mahnspruch, 93, bestreitet zwar, dass unser Text ursprünglich auf die Wandercharismatiker beschränkt war, hält aber es für möglich, „dass die Wanderprediger die Spruchgruppe in besonderer Weise auf sich bezogen, indem sie v33 von ihrer missionarischen Aktivität verstanden" 64 Formation, 220f. 65 Übersetzung von mir.

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nen Gruppe von den Heiden in v30 ist für Kloppenborg im Gegenteil ein Argument dafür, dass es sich hier nicht um einzelne Prediger, sondern um eine Gemeinde handelt, 66 die sich gegenüber anderen existierenden Gruppen definiert. Diese Gemeinde hatte, wie ihre Missionare, einen Bedarf an Trostworten, die ihr versicherten, dass Gott für die physischen Bedürfnisse derjenigen sorgen wird, die sich mit ihrer ganzen Existenz für das Reich einsetzen. Ob diese Ansicht Kloppenborgs unserem Text gerecht wird, ist im Folgenden zu überprüfen. Es ist richtig, wenn Kloppenborg die Forderung, 'nach dem Reich Gottes zu trachten', mit der Bemerkung über die Heiden eng verbunden sieht. Das Wort „vielmehr" 67 verbindet v30 und v31 miteinander, und zwar als Gegensätze: Wonach die Heiden trachten, sollen die Hörer unseres Textes gerade nicht trachten. Was aber ist der Gegenstand des Trachtens der Heiden? V29 gibt die Antwort. Die Heiden trachten danach, was sie es66

Piper, Wisdom, 34; Catchpole, Quest, 39.159f, sprechen sich ebenfalls fiir eine Gemeinde als Sitz im Leben unseres Textes aus. Piper nennt fünf Gründe dafür, warum der Sitz im Leben unseres Textes nicht nur auf die Missionare zu beschränken ist: 1) „there is no reference to mission or missionaries in the sayings themselves", 2) „it is far from clear that paid labour is being prohibited", 3) „the call to 'seek' the kingdom is not necessarily a call to 'proclaim' the kingdom in a missionary sense", 4) „neither Luke nor Matthew associates this instruction with missionary activity", 5) „there is no reason to suppose that anxieties about basic material needs were not present more widely in the early Christian communities, as were anxieties about opposition and persecution" Ihm ist jedoch entgegenzuhalten, dass der Textzusammenhang von v31 eine deutliche Auskunft über die eigentlichen Adressaten, die Wandercharismatiker, gibt, so dass die Forderung in v31 als mahnende Ermutigung zu ihrer Aufgabe zu predigen zu verstehen ist (s.u.). Anders als Piper stimmt Catchpole der These zu, dass die ursprünglichen Adressaten Wandercharismatiker waren, aber auf der Ebene vor Q („the pre-Q stage"). Auf der Q-(Redaktions)Ebene sei jedoch an eine Gemeinde als Adressat gedacht, die eine Basis für weitere Wandercharismatiker bildet. Die Frage, die sich dann stellt, ist, ob die Gemeinde, die zwar Wandercharismatiker unterstützt, aber selber nicht ihr Wanderleben teilt, imstande war, die radikalen Worte Jesu in Q zu überliefern. 67 Die Korrespondenz der beiden Verse wird im lk Text deutlich sichtbar. Die mt Alternative δέ πρώτον ist mit Luz, Mt I, 364, auf mt Redaktion zurückzuführen, und zwar nicht nur weil πρώτον mt Vorzugswort ist, sondern weil es die Intention des ganzen Textes abändert, in dem es nicht um die 'relative' Priorität von „zuerst und dann", sondern um die 'absolute' Priorität geht (gegen Polag, Q, 62f; Gnilka, Mt I, 246, der das Wort πλήν als ein lk Vorzugswort für lk hält).

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sen, was sie trinken und was sie anziehen werden. 68 Das heißt: Die Heiden arbeiten, um zu verdienen, was sie essen, trinken und anziehen. 69 Diese Tätigkeit der Heiden soll jedoch für die eigentliche Hörerschaft unseres Textes ohne Bedeutung sein („vielmehr" in v30)! Damit begegnet uns wiederum ein Hinweis auf die eigentlichen Adressaten: Sie sind diejenigen, die nicht arbeiten, um ihren Unterhalt zu verdienen, sie sind Wandercharismatiker! Es trifft daher nicht zu, wenn Kloppenborg behauptet, dass die Forderung in v31 sich auf eine Gemeinde bezieht, in der sich nicht nur Missionare, sondern auch andere Leute zusammenfinden. Wenn er dem Text gerecht werden will, muss er erklären, wie die Hinweise auf nicht-arbeitende Adressaten zu verstehen sind. Es ist außerdem voreilig, wenn Kloppenborg aus der Bemerkung über die Heiden auf die Existenz einer Gemeinde schließt. Denn die Bemerkung über die Heiden besagt ja nur, dass der Sprechende bzw. seine Hörerschaft aus einer jüdischen Perspektive spricht bzw. hört. Was darüber hinaus aus der Bemerkung über die Heiden erschlossen wird, ist m.E. eine vom Text nicht geforderte (Über-)Interpretation. Der mt Text πάντα γαρ ταΰτρι verdient gegenüber dem lk ταύτα γαρ πάνταΐεη Vorzug (W.D. Davies/D.C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel according to Saint Matthew I, ICC I, Edinburgh 1988, 657f, enthalten sich einer Entscheidung darüber). Das Wort πάντα wird bei Lk im Hinblick auf τά έθνη, das von Lk mit του κόσμου erweitert wurde (vgl. Schulz, Q, 151), zurückgestellt. Dadurch entsteht ein anderer Sinn, der wohl von Lk gewollt ist. Die korrekte Übersetzung der lk Version lautet m.E. so: „Denn nach diesen trachten alle Völker in der Welt " (so auch Bovon, Lk II, 294.310, während die meisten Übersetzungen die lk Version von der mt nicht unterscheiden). Für diese Übersetzung spricht Lk 24,47, wo der gleiche Ausdruck πάντα τά έθνη vorkommt. Der Evangelist Lukas will mit dieser Abänderung vermutlich den ihm vorgegebenen, traditionellen Gegensatz von JudenHeiden verlassen. Ihm geht es in v30 um die Unterscheidung von Christen, die nicht sorgen, und Nichtchristen, nämlich allen Völkern, die sich abmühen, um so ihre Sorge loszuwerden. Wir haben hier also ein Beispiel für den lk Universalismus. Näheres darüber s.u. im Kapitel über die Vorstellung der familia dei im LkEv. 69 Das ergibt sich aus der Logik unseres Textes. Dass dies der paganen Realität damals entspricht, lässt sich aber nicht sagen. Vielmehr finden sich in der paganen Welt Stimmen, die der Lehre unseres Textes nahestehen. Vgl. Epiktet, Diss. 1,9,19.

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Wir halten also daran fest: Die eigentliche Adressaten der Forderung, 'nach dem Reich Gottes zu trachten', sind Wandercharismatiker. Daraus ergibt sich von selbst, was diese Forderung inhaltlich bedeutet: völliger Einsatz für ihre eigentliche Aufgabe, sie sind ja neben der Heilung von Kranken dazu verpflichtet, das Reich Gottes zu predigen. Der Tenor des ganzen Textes ist klar: Die Wandercharismatiker brauchen nicht wie die Kleingläubigen 70 um Leib und Leben zu sorgen, solange sie sich völlig für ihre Aufgabe einsetzen (v31a), denn Gott ihr Vater weiß genau, was sie brauchen (v30b) und wird ihnen alles zufallen lassen (v31b). Unser Fazit ist: Der Sitz im Leben von Q-Lk 12,22-31 ist im Wandercharismatikertum zu suchen. c) Q-Lk 6 , 2 7 - 3 6 Auf die Frage nach dem Sitz im Leben von Q-Lk 6,27-36 lassen sich drei Antwortmöglichkeiten unterscheiden: 1) Für G. Theißen ist der Sitz im Leben unseres Textes das Wandercharismatikertum. 71 Er geht vor allem von der Beobachtung aus, dass Lk 6,29 eine bestimmte Situation von Wandemden bzw. Reisenden voraussetze, einen Raubüberfall auf offener Straße. In Mt 5,1 lf sieht er eine Verfolgungssituation, die nicht als eine Sache sesshafter Christen, sondern nicht-sesshafter Christen, also Wandercharismatiker, anzusehen sei und damit die Beobachtung an Lk 6,29 bestätige. Durch einen Analogieschluss von der Wanderpraxis der Kyniker, die sich allerlei Schlägen sowie Beleidigungen aussetzten, auf die Jesusüberlieferung kommt Theißen zu dem Schluss, dass der Sitz im Leben von Feindesliebe und Gewaltverzicht das urchristliche Wandercharismatikertum sei. 2) Diese Ansicht Theißens ist für Ρ Hoffmann eine Verengung des Sitzes im Leben unseres Textes. 72 Er will den historischen Kontext des 70

Dass die Adressaten „Kleingläubigen" genannt werden, spricht nicht gegen unsere Ansicht, dass die Adressaten Wandercharismatiker gewesen sind (gegen Wischmeyer, Spruch, 14f). Wenn Wischmeyer denkt, dass die Annahme von Wandercharismatikern als ursprünglicher Adressaten dazu führt, das Thema unseres Textes etwa in Besitz- bzw. Arbeitsverzicht zu suchen, dann irrt sie sich. Wie sie betont, ist das Thema unseres Textes die Befreiung von der Sorge um Existenzsicherung, m.E. jedoch nicht bei jedem Menschen, sondern bei Wandercharismatikern, für die die Sorge um die Existenzsicherung in extremer Weise berechtigt ist (s.o.). 71 Gewalt, 183-191.

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Feindesliebegebots in dem Bemühen von Jesus-Anhängern sehen, „in der allgemeinen politisch-religiösen Krisensituation (sc. unter der römischen Kolonialherrschaft) - inspiriert von der Weisung Jesu - für sich und ihre Volksgenossen gangbare Wege der Krisenbewältigung zu finden."73 Diese Ansicht begründet er damit,74 1) dass der Kontext des Gebots in Q einen breiteren Adressatenkreis und eine allgemeinere Problematik erkennen lasse. Z.B. ließen sich die die Q-Komposition eröffnenden Seligpreisungen nicht auf den Kreis der Wanderpropheten einschränken, vielmehr werde in ihnen ein weiterer Personenkreis, z.B. Arme, Hungernde, Trauernde, erkennbar, dem auch in Q nach wie vor die Botschaft Jesu gelte. 2) Die Sprüche ließen sich auch inhaltlich nicht nur auf die Verfolgungssituation der Wanderpropheten beziehen. Die Beispiele in Mt 5,39-41 ('schmähen', 'misshandeln') machten deutlich, dass solchen negativen Erfahrungen eine besondere Aktualität zukäme, die die Adressaten, nämlich die kleinen Leute, in ihrer alltäglichen Lebenssituation träfen. Der Vergleich mit „Zöllnern" und „Heiden" in den Fragen Mt 5,46f spreche allerdings dafür, dass das Gebot in Q nicht nur auf Feindschaft im privaten oder religiösen, sondern auch im gesellschaftlich-politischen Bereich ziele. 3) Im Unterschied zu den beiden bereits genannten Ansichten ist für R. Horsley der soziale Kontext unseres Textes ausschließlich die „lokale Interaktion mit persönlichen Feinden", d.h. unter sesshaften Christen, die aufgrund gesellschaftlicher Verarmung im Misstrauen gegenüber ihren Mitmenschen lebten und durch Vollzug des Gebots der Feindesliebe eine Erneuerung ihrer Gesellschaft suchten.75 Um seine Ansicht zu begründen, versucht Horsley zu zeigen, dass es in unserem (Kon-)Text nicht um Konflikte mit fremden und politischen Feinden, sondern um Konflikte mit Feinden in persönlicher, lokaler Nähe gehe. Daher geht er den 72

Tradition und Situation. Zur „Verbindlichkeit" des Gebots der Feindesliebe in der synoptischen Überlieferung und in der gegenwärtigen Friedensdiskussion, in: K. Kertelge (Hg.), Ethik im Neuen Testament, Freiburg 1984, 50-118, dort 74f. 73 Tradition, 80 (Hervorhebung von mir). 74 Ebd., 74-81. 75 Jesus and the Spiral of Violence. Popular Jewish Resistance in Roman Palestine, San Francisco u.a. 1987, 255-273, besonders 266-269. Ähnlich äußert sich auch Catchpole, Quest, 107: „The intra-Israel situation presupposed here means that we are not dealing with community enemies, along the lines of the Israel/Gentiles confrontation, nor with the Christian church/world polarity of the sort which Matthew would secondarily insert. The problem being treated is internal to Israel and is simply and solely that of how to respond to the brother, any brother, who has acted as an enemy."

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ganzen Text mit der Frage nach der Art und Weise der dort zu vermutenden Konflikte durch. Hier sind einige seiner Beobachtungen am Text zu nennen: a) Lk 6,27-28: Während in der Septuaginta das Wort εχθρός sowohl im Sinne von fremden, politischen Feinden als auch von persönlichen Feinden verwendet wurde, werde es bei Mt und Lk - außer an zwei lk Stellen (1,71.74 und 19,43) nicht im Sinne von politischen Feinden gebraucht. Der 'Feind' sei der persönliche Feind. Nichts im unmittelbaren Kontext von Lk 6,27-8 deute in Q auf fremde oder politische Feinde. Die Ausdrücke wie 'diejenigen, die euch misshandeln' oder 'diejenigen, die euch hassen' sprächen vielmehr für Auseinandersetzungen in einem lokalen Kontext. b) Lk 6,29a: Die Handlung 'jemanden auf die Backe schlagen' sei nicht ein spontaner Akt von Gewalt, sondern eine formale Beleidigung, die als ein extremes Beispiel („focal instance") aufzufassen sei. Es gehe hier um eine Konfrontation in Dorf oder Stadt („local village or town"). c) Lk 6,29b: Der mt Wortlaut fur Lk 6,29b setze ebenfalls eine lokale Interaktion zwischen Gläubigern und Schuldnern voraus. d) Lk 6,32-33(-4): Die Erwähnung der 'Heiden' (Mt 5,47) gehe auf den Evangelisten Mt zurück. Die Logien von Lk 6,32-34 zeigen, dass es sowohl in Q als auch im LkEv um Konfrontation innerhalb der jüdischen Gemeinde gehe. e) Lk 6,36: Die Ausdrücke 'Seid barmherzig' sowie 'Seid vollkommen' deuteten an, dass der Adressat das Volk des Bundes sei, das aufgerufen werde, durch imitatio dei Gerechtigkeit zu vollziehen. Angesichts der unterschiedlichen Auffassungen haben wir nun zu überprüfen, ob eine der drei Auffassungen dem Text gerecht werden kann. Wir beginnen mit der Auffassung Horsleys, der nur an persönliche Feinde denkt. Die Ansicht Horsleys ist problematisch, weil sich das Wort 'Feind' im Text nicht auf persönliche Feinde beschränken lässt, sondern im umfassenden Sinne sowohl persönliche Feinde als auch politische Feinde einschließend - zu verstehen ist,76 wobei mehr Gewicht auf den letztgenannten liegt, wie im Folgenden zu zeigen ist: 76

Im Anschluss an L. Schottroff, Gewaltverzicht und Feindesliebe in der urchristlichen Jesustradition. Mt 5,38-48; Lk 6,27-36, in: Jesus in Historie und Theologie, FS. H. Conzelmann, Tübingen 1975, 197-221, dort 293f, äußert Piper, Wisdom, 83-85, dass die Feinde hier eher im Sinne von religiösen Feinden zu verstehen seien. Diese Ansicht ist allerdings angesichts des gesellschaftlichpolitischen Hintergrunds, den Hoffmann zu Recht betont, eine Verengung des Textsinnes. Für den umfassenden Sinn argumentieren D. Lührmann, Liebt eure Feinde (Lk 6,27-36/Mt 5,39-45), ZThK 69 (1972), 412-438, dort 426; H.-W. Kuhn, Das Liebesgebot Jesu als Thora und als Evangelium. Zur Feindesliebe und

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Zu a): Unser Text bezeugt die Pluralform des Wortes εχθρός. Besonders aus dem mt Text, wo das Wort 'Feind' in der These in Singularform vorkommt und damit im Gegensatz zur Pluralform in der Antithese steht, geht hervor, dass der Plural in unserem Text mehr als den privaten Feind meint. Träfe Horsleys Ansicht zu, so wäre die Pluralform des Wortes völlig überflüssig. Außerdem ist schwer einzusehen, dass mit dem Ausdruck 'jemanden misshandeln' nur Auseinandersetzungen unter sesshaften Menschen gemeint und andere Konflikte, z.B. mit fremden Feinden, ausgeschlossen sein sollen. Möglicherweise verwendet Hosley das Wort 'lokal' nicht ganz eindeutig, wenn er die Auseinandersetzung unter sesshaften Menschen 'lokal' nennt. Eine Auseinandersetzung mit fremden Feinden geschieht ja auch in einer konkreten 'lokalen' Umgebung. Aber es ist deswegen keine Auseinandersetzung mit einem lokalen Feind! Zu b): Die Zusammenstellung von Handlungen wie 'jemanden auf die Backe schlagen' und 'jemandem den Mantel wegnehmen' besagt nicht, dass die erstgenannte Handlung nur als „focal instance", sondern dass sie in Zusammenhang mit einer Situation der Gewaltanwendung aufzufassen ist. Zu c): Ist der mt Wortlaut fiir Lk 6,29b nicht doch sekundär gegenüber dem lk?77 Die Raubsituation bei Lk lässt sich nur schwer als Ausdruck von Feindschaft in einem Dorf deuten. Zu d): Das Wort 'Heiden' (εθνικοί) lässt sich nicht einfach als mt Redaktion deklarieren. Wir finden beispielsweise in Lk 12,30 die Anwendung des synonymen Wortes (έθνη). Akzeptiert man die Ursprünglichkeit des Wortes 'Heiden', das im Gegensatz zu dem Wort 'Brüder' steht,78 dann ist die Front deutlich sichbar: Es sind Feinde außerhalb der jüdischen Gemeinschaft! Zu e): Dass der Adressat das Volk Israel ist, besagt nicht, dass das Wort 'Feind' Menschen innerhalb dieser Volksgemeinschaft meint. Nun zu der an zweiter Stelle genannten Ansicht Hoffmanns, dass auch an politische Feinde gedacht sei. Es ist positiv zu bewerten, dass Hoffmann den zeitgeschichtlichen Hintergrund der römischen Herrschaft bei seinen Überlegungen zum Sitz im Leben unseres Textes miteinbezogen hat. Allerdings kann man fragen, ob die damaligen sesshaften Sympathisanten der Wanderpropheten mit dem Gebot der Feindesliebe etwas für eine Krisenbewältigung in ihrer Situazur christlichen und jüdischen Auslegung der Bergpredigt, in: H. Frankemölle u.a. (Hg.), Vom Urchristentum zu Jesus, FS. J. Gnilka, Freiburg u.a 1989, 194230, dort 229. 77 Vgl. Theißen, Gewalt, 184, 78 So auch Luz, Mt I, 312; Polag, Q, 34; Catchpole, Quest, 102. Keine endgültige Entscheidung darüber treffen L. Schottroff, Gewalt, 217 Anm. 91; D. Lührmann, Feinde, 420.

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tion anfangen konnten, so dass man sie bei Überlegungen zum Sitz im Leben so stark mitberücksichtigen soll, wie Hoffmann es tut. Dass das Gebot der Feindesliebe für die sesshaften Christen eher eine Überforderung war, geht aus zwei Überlegungen hervor: 1) Wie Theißen bereits angemerkt hat,79 ist es gut vorstellbar, dass „der sesshafte Christ durch Nachgeben gegenüber seinem Feind in immer größere Abhängigkeit geriet." Da er damit rechnen müsse, seinem Feind immer wieder neu zu begegnen, bedeute Nachgeben oft: zur Fortsetzung von Übervorteilung und Zurücksetzung aufzufordern. 2) Die Überlieferung des Feindesliebegebots im Neuen Testament lässt erkennen, dass das Gebot schon für die meisten neutestamentlichen Verfasser eine Überforderung war, wie H. Meisinger 80 richtig feststellt: „Außerhalb der Evangelien begegnet das Feindesliebegebot nirgendwo wörtlich im Neuen Testament. Paulus kennt zwar so etwas wie Feindesliebe im weiteren Sinn, leitet diese jedoch aus den alttestamentlichen Schriften ab (Rom 12,14.1721), nicht von diesem Jesuswort. Es scheint, dass sich die urchristlichen Schriftsteller einer Tradierung dieses Gebots weitgehend entzogen oder sie es nur in einer deutlich abgeschwächte(n) 81 Form tradierten, da sie sich und ihre Adressaten praktisch durch dieses schroffe Gebot überfordert sahen." Damit kommen wir vorläufig zu dem Schluss, dass der Sitz im Leben unseres Textes vor allem im Wandercharismatikertum zu suchen ist. Dieser Schluss lässt sich m.E. durch ein textinternes Indiz untermauern: Unsere Aufmerksamkeit verdient besonders der Vers Mt 5,45b, der aufgrund seiner konkreten Darstellung gegenüber Lk 6,35e als ursprünglich anzusehen ist. 82

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Gewalt, 191. Liebesgebot und Altruismusforschung. Ein exegetischer Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft, NTOA 33, Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 1996, 45. 81 Tippfehler im Original. 82 Hoffmann, Tradition, 54; Luz, Mt I, 306; anders Polag, Q, 34f, der nur den ersten Teil des Satzes für ursprünglich hält (ähnlich Schulz, Q, 128), und Schürmann, Das Lukasevangelium Erster Teil. HThK III, Freiburg u.a. 1969, 356. Hingewiesen sei auf den interessanten Vorschlag von Catchpole, Quest, 106, dass der ursprüngliche Vers etwa so gelautet hat: „Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und lässt regnen über Ungerechte." An diese Rekonstruktion des ursprünglichen Wortlauts wäre jedoch die Frage zu richten, was den Evangelisten 80

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Die Vorstellung der familia dei in Q „Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte."

Was für eine Situation ist hier vorgestellt? Angesichts der Agrarkultur Palästinas könnte zunächst an die Situation des Ackerbaus gedacht sein. Jedoch ergibt sich dabei eine sprachliche Schwierigkeit: Man muss erklären, warum hinter der Präposition επί nicht der eigentlich zu erwartende Gegenstand, nämlich ein Acker, steht, sondern stattdessen die Besitzer des Ackers genannt werden, obwohl das nach gängigem Sprachgebrauch nicht zu erwarten ist. Weder im Neuen Testament noch in der LXX findet sich ein Beleg dafür, dass ein mit der Präposition επί eingeleiteter Ausdruck besagt, dass der Regen auf Menschen fällt: Im NT bezeugt Jak 5,17 als einzige Stelle den Sprachgebrauch des Verbums βρέχω mit έπί. Ηλίας άνθρωπος ήν όμοιοπαθής ήμΐν, και προσευχή προσηύξατο του μή βρέξαι, και ούκ έ'βρεξεν έπι της γης ένιαυτούς τρεις καΐ μήνας εξ· Hinter der Präposition steht nicht ein menschliches Objekt, sondern das Objekt 'die Erde' In LXX geben Stellen wie Gen 2,5; 19,24; Ex 9, 23; Am 4,7 das gleiche Beispiel. Die Stellen, wo hinter επί ein menschlicher Adressat folgt, wie z.B. Ez 38,22; Ps 77 (78), 27, bezeugen, dass Feuerregen oder Wachteln direkt auf Menschen fallen, aber eben nicht auf den Acker. καί κρινώ αύτόν θανάτω και αϊματι και ύετω κατακλύζοντι και λίθοις χαλάζης, και πυρ και θεΐον βρέξω έπ'αύτόν και έπι πάντας τους μετ αύτοΰ και έπ' έ'θνη πολλά μ£ταύτου.(Εζ 38,22) και εβρεξενέπ' αύτούς^ο. Israeliten) ώσεί χουν σάρκας και ώσει άμμον θ α λ α σ σ ώ ν πετεινά πτερωτά, (Ps 77,27) Daraus folgt für Mt 5,45b, dass es hier nicht um die Situation des Ackerbaus geht. Die einzige Alternative ist die, den Text wörtlich zu verstehen: Gott lässt seine Sonne über Böse und Gute scheinen und seinen Regen Lukas bewegt haben sollte, das zweite Verb 'regnen' wegzulassen, obwohl er doch das zweite Objekt sinngemäß wiedergegeben hat.

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auf Gerechte und Ungerechte fallen, und zwar auf ihren Kopf und ihren ganzen Körper. An was für eine Situation ist dabei gedacht? In Frage kommt eine Situation, in der man unvermeidlich Sonnenschein und Regen ausgesetzt ist, so dass Kopf und Körper beides abbekommen. Das ist die Situation von wandernden Menschen. Solange die Sonne scheint und keine große Hitze herrscht, kann man bequem wandern, aber wenn es regnet und zuerst der Kopf und später aufgrund der Bekleidung der Körper nass werden, weil man unterwegs keinen Schutz vor Regen hat, wird das Wandern mühsam und eine Strapaze. Ob diese Überlegung richtig ist, soll nun am Text überprüft werden: Der Satz über Sonne und Regen in Mt 5,45 bzw. der entsprechende Satz bei Lk taucht bei beiden Q-Referenten dort auf, wo unmittelbar vorher zur Feindesliebe aufgefordert wird. Er soll die Gnade Gottes gegenüber den Bösen und Ungerechten darstellen. Diese Intention wird im Satz dadurch verwirklicht, dass die miteinander kombinierten Wörter 'Gute'-'Böse' und 'Gerechte'-'Ungerechte' in unterschiedlicher Reihenfolge genannt werden. Da die Gnade Gottes gegenüber den beiden gezeigt werden soll, werden beim 'guten' Sonnenschein - weil er im Allgemeinen das Wandern bequem macht - die 'Bösen' zuerst genannt. Aber beim unbequemen Regen weil er das Wandern mühsam macht - werden zuerst die 'Gerechten' und dann erst die 'Ungerechten' genannt, etwa in dem Sinne, dass Unglück nicht nur die Bösen, sondern auch die Guten trifft. Es ist kein Wunder, dass man bisher kaum über den Sinn des hier vorliegenden Chiasmus nachgedacht hat, obwohl er längst bekannt ist. Denn solange man sich eine agrarkulturelle Situation mit sesshaften Menschen vorstellt, wird man dem Chiasmus keinen Sinn abgewinnen können und in ihm nur ein rhetorisches Ornament sehen.

Hinter Mt 5,45b wird also eine Situation sichtbar, die aus dem Blickwinkel von Wandercharismatikern erlebt und erfahren wurde. Wie Gott sollen sie nicht nur gegenüber den Guten und Gerechten, sondern auch gegenüber den Bösen und Ungerechten fair sein: m.a.W diesen ihre Liebe erweisen. Fazit: Der Sitz im Leben von Q-Lk 6,27-35 ist das Wandercharismatikertum. Dafür spricht unter anderem die Bildlichkeit von Mt 5,45b als ein logieninternes Indiz für das Wanderleben.

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Die Vorstellung der familia dei in Q d) Q - L k 11,2-4

Für die Frage nach dem Sitz im Leben von Q-Lk 11,2-4 ist von der vierten Bitte, der sogenannten Brotbitte, auszugehen, weil sie am ehesten eine bestimmte Situation erkennen lässt. a. Die Brotbitte

Die Schwierigkeit bei der Auslegung der vierten Bitte des Vaterunsers besteht darin, den Sinn des ungewöhnlichen Wortes επιούσιος zu bestimmen. Von etwa fünf Möglichkeiten für das Wort ist die Bedeutung 'morgig' etymologisch am wahrscheinlichsten,83 jedoch konnte der Sinn der ganzen Bitte bisher nicht verständlich gemacht werden. Denn die Bitte um das morgige Brot scheint zu ihrer Dringlichkeit nicht zu passen: Wozu braucht man das morgige Brot heute, wenn schon das heutige Brot fehlt? Ein entscheidender Beitrag zur Lösung dieses Problems wurde von W. Bindemann84 geleistet. Sein Verdienst ist, dass er die bisher in diesem Zusammenhang kaum beachtete, aber für die Menschen in Palästina selbstverständliche Tageseinteilung, nach der ein neuer Tag nicht am Morgen, sondern am Abend nach Einbruch der Dunkelheit beginnt, zum Verständnis der vierten Bitte herangezogen hat. Von dieser (neuen) Erkenntnis ausgehend, versteht W. Bindemann85 die vierte Bitte als ein Dankgebet in einer abendlichen Mahlfeier, die die Wandercharismatiker in einer Hausgemeinde mit einer Familie feiern. Der Sinn des Gebets ist seiner Auffassung zufolge: „Das Brot fur den morgigen Tag der am darauf folgenden Abend beginnt - gib uns heute - also im Laufe des Tages, der soeben begonnen hat." Gerade die doppelte und dringliche Zeitbestimmung von 'morgen - heute' verweist nach ihm auf das Milieu von obdachlosen Wanderpredigern, die

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Eine gute Zusammenfassung von philologischen Diskussionen über den Sinn des Wortes bietet Luz, Mt I, 345-347. Nach ihm gibt es fünf Möglichkeiten: 1) „das Brot, das sich mit unserer Substanz vereinigt", 2) das „existenznotwendige" Brot, 3) das Brot „für den heutigen Tag", 4) das Brot „für den kommenden Tag", 5) das „zukünftige" Brot. Die vierte Möglichkeit, die etymologisch am wahrscheinlichsten ist, basiert darauf, dass das umstrittene Wort επιούσιος von έπιεναι oder ή έπιουσα abzuleiten ist. 84 Das Brot für morgen gib uns heute. Sozialgeschichtliche Erwägungen zu den Wir-Bitten des Vaterunsers, BTZ 8 (1991), 199-215. 85 Brot, 204-206.

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nicht in größeren Zeitabschnitten planen, weil sie ihrer sozialen Lage wegen nur bis zum nächsten Tag denken können. An dieser wertvollen Deutung Bindemanns ist nur ein Punkt zu modifizieren: dass die vierte Bitte als Dankgebet in einer abendlichen Mahlfeier aufzufassen sei. Denn zwei Dinge sind dann wenig verständlich: 1) Es gibt keine Anhaltspunkten dafür, die vierte Bitte als Dankgebet zu verstehen, denn es handelt sich unmissverständlich um eine dringende Bitte um fehlendes Brot. 2) Es ist wenig vorstellbar, dass die Familie der Wandercharismatiker aufnehmenden Hausgemeinde beim Brotbrechen am Abend die vierte Bitte als eigene existenzielle Bitte ausgesprochen haben könnte. Die Bitte um Brot betrifft ja zunächst die Wandercharismatiker selbst, weniger die sie aufnehmende Familie. Denn sie hätte kaum jemanden aufnehmen können, wenn sie selber unter Mangel an Brot für den nächsten Tag gelitten hätte. Das heißt: Die vierte Bitte muss wohl etwas anders aufgefasst werden, als Bindemann sie verstehen will. Die Frage ist dann, wie? Sie ist in jedem Falle eine Bitte von Wandercharismatikern, die für ihren Lebensunterhalt auf die Hilfe Gottes angewiesen sind. Sie wurde wohl nicht am Abend in einer Hausgemeinde gesprochen, als die Bitte faktisch erfüllt war, sondern während des Tages unterwegs. Die vierte Bitte ist also ein Gebet, das unterwegs von Wandercharismatikern gesprochen wurde. Damit wird klar: A u c h hinter der vierten Bitte steht das Leben von W a n dercharismatikern. 8 6 Sie w a n d e r n tagsüber von einem Ort zum anderen, hungern unterwegs, weil sie nichts zu essen und auch kein Geld bei sich haben. 8 7 Sie können erst dann essen und trinken, wenn sie in einer Fami-

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Luz, Mt I, 347, weist auf die Möglichkeit hin, hinter der vierten Bitte „etwa an die Situation eines Tagelöhners" zu denken, „der noch nicht weiß, ob er am folgenden Tag wieder eine Arbeit findet, wovon er mit seiner Familie leben kann" Er bestreitet, dass die Brotbitte die besondere Situation der um der Verkündigung des Gottesreichs willen arm gewordenden Jesusjünger reflektiert. Sein Hauptargument gegen eine Deutung der Brotbitte aus der Situation von Wandercharismatikern ist, dass sie 'heute' für den folgenden Tag nichts mit sich tragen dürfen. Dieses Argument lässt sich aber nicht halten, wie noch zu zeigen ist. K. Berger, Manna, Mehl und Sauerteig. Korn und Brot im Alltag der frühen Christen, 1993, 75-118, erklärt den Gegensatz 'morgig-heute' damit, dass man fürs morgige Brot schon heute das Kom haben muss, und zwar, „wegen der zeitraubenden Vorgänge des Mahlens und insbesondere des Säuerns (sowie auch des Backens im Ofen)" (75). Seiner interessanten Erklärung ist aber entgegenzustellen, dass mit der Brotbitte keineswegs um das Korn fürs Brot gebetet wird, sondern ausdrücklich um das Brot selbst. Seine Erklärung wird m.E. dem Text nicht ganz gerecht. 87

Vgl. Mk 6,8 oder Lk 10,4 (par).

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lie Aufnahme gefunden haben und dort das Abendbrot gebrochen wird wenn alle Familienmitglieder von ihrem Arbeitsplatz, z.B. vom Feld, zurück sind.88 Da der neue Tag am Abend beginnt, ist das erbetene 'Brot für morgen' eigentlich das Brot, das die Wandercharismatiker brauchen, um ihren ganztägigen Hunger zu stillen.89 Die beiden unterschiedlichen Zeitbestimmungen 'morgen' und 'heute' werden von daher verständlich: Finden Wandercharismatiker heute, d.h. während es noch hell ist, keine Aufnahme, dann müssen sie irgendwo unterwegs (möglicherweise im Freien) übernachten, ohne ihren Hunger stillen zu können. Noch „heute" - also vor Einbruch der Dunkelheit, mit der der neue Tag beginnt - brauchen sie Aufnahme in einem Haus, damit sie „morgen" - nach Einbruch der Dunkelheit - zu essen haben. Die Dringlichkeit der vierten Bitte versteht sich daher von selbst. Wandercharismatiker dürften diese Bitte tagsüber, solange es noch hell war, mehrmals - von Morgen an - ausgesprochen haben, damit sie nicht unter freiem Himmel und hungernd übernachten müssen. Diese Ansicht muss nun anhand anderer Bitten des Vaterunsers überprüft werden. Dazu betrachten wir die zwei weiteren Wir-Bitten, die auf die Brotbitte folgen. b. Die Versuchungsbitte Im Mittelpunkt der Auslegung der sechsten Bitte steht im Allgemeinen die Frage, wie das Wort πειρασμός zu verstehen sei: eschatologisch oder alltagsbezogen? Bedeutet es die endzeitliche Versuchung90 oder Versu88

Dass ein Reisender tagsüber, solange es noch hell ist, wandert und erst am Abend in einer Herberge Brot bricht, scheint fiir damalige Verhältnisse ein normales Bild zu sein. Einige Stellen bezeugen dies: Lk 11,5f; 24,28f; vielleicht dazu noch Mk 6,35f parr. 89 Dass die Bitte in Wir-Form konzipiert ist, bereitet fur ein Verständnis der Brotbitte als Bitte von Wandercharismatikern keine Schwierigkeit, denn nach der mk Aussendungsrede wanderten die Charismatiker zu zweit. Das paulinische Beispiel (Paulus und Barnabas/Paulus und Silas) bestätigt dies. 90 Diese Ansicht wird vertreten z.B. von J. Jeremias, Das Vater-Unser im Licht der neueren Forschung, Stuttgart 1962, 27-28; Schulz, Q, 92, in der neueren Forschung auch von Bovon, Lk II, 136. Diese Ansicht wird bestritten z.B. von Luz, Mt I, 348f. Seine Gegenargumente sind: 1) „Weder in der jüdischen Apokalyptik noch im Neuen Testament ist πειρασμός apokalyptischer terminus technicus." 2) Es fehlt auch der eigentlich zu erwartende bestimmte Artikel. 3) Die jüdischen Parallele (siehe seine Anm. 98) sprechen dagegen.

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chungen im Alltag? In der Diskussion darüber fällt auf, dass man das betreffende Wort meist isoliert in Betracht zieht, ohne den Satz, in dem sich das Wort befindet, zu berücksichtigen. Von Bedeutung ist insbesondere das Verbum (είσ)φέρω, das zusammen mit dem Wort πειρασμός den Kern der sechsten Bitte bildet. Wir widmen zunächst ihm unsere Aufmerksamkeit und erörtern danach, wie das Wort πειρασμός aufzufassen ist. Das Subjekt des Verbums ist klar: Gott. Das Objekt ist im Satz angegeben: die Betenden. Die Konstellation der beiden wichtigen Elemente für das Verbum zeigt: Es geht um den Gedanken der Führung von Menschen durch Gott.91 Versucht man, sich das in einer konkreten Situation vorzustellen, anstatt den Gedanken der Führung rein metaphorisch aufzufassen, so kommt man auf eine Reisesituation, in der der Mensch von Gott zu seinem Ziel geführt wird.92 Die Vorstellung, dass Gott die Betenden auf ihrem Weg fuhrt, macht es möglich und sogar wahrscheinlich, bei der sechsten Bitte an die Situation von wandernden Charismatikern zu denken, die unterwegs allen möglichen Gefahren ausgesetzt und deswegen besonders auf die fiirsorgende Führung Gottes angewiesen sind. Wie ist von dieser Sicht her das Wort πειρασμός zu verstehen? Da wir uns eine bestimmte Situation vorstellen, ist es angemessen, von dieser Situation her das Wort πειρασμός zu deuten. Zu fragen ist dann: was könnte für wandernde Charismatiker eine Versuchung sein? Die Antwort können wir vom Sinn des Wortes 'Versuchung' herleiten. 'Versuchung' impliziert die Möglichkeit, dass der versuchte Mensch seinem jetzigen Status untreu wird, indem er die Versuchung nicht besteht. Wenden wir dies auf Wandercharismatiker an, dann weist das Wort πειρασμός auf 91

Diese Feststellung ändert nichts daran, dass das aramäische Original nach Bovon, Lk II, 136, etwa so gelautet hat: „Gib, dass wir nicht in Versuchung hineinkommen." Denn aus diesem aramäischen Original geht auch der Gedanke der Fügung Gottes im menschlichen Leben hervor, der die Führung Gottes einschließt. 92 Bindemann, Brot, 207, sucht diesen Gedanken nur in der zweiten Hälfte der sechsten Bitte, die Mt allein überliefert. Auch W. Popkes, Die letzte Bitte des Vater-Unser. Formgeschichtliche Beobachtungen zum Gebet Jesu, ZNW 81 (1990), 1-20, spricht oft von Gottes Führung auf einem Weg, z.B. 18: „Wenn irgend möglich, solle Gott ihn einen bestimmten Weg nicht führen." Allerdings versteht er darunter nicht die konkrete Situation einer Reise, sondern eine metaphorische Situation, die das ganze Leben des Christen umfasst.

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solche Versuchungen, die die Aufgabe ihres Status verursachen können. Schwere Reisehindernisse könnten solche Versuchungen sein. Denn die Reise an sich ist für Wandercharismatiker nur Mittel für ihre eigentliche Aufgabe, Kranke zu heilen und zu predigen. Begegnet man unterwegs unüberwindlichen Hindernissen, werden sie den Mut verlieren, weitere Reisen zu unternehmen. Das bedeutet aber für Wandercharismatiker, das Leben als Nachfolgende zu verlassen. In diesem Sinne stellt ein unüberwindliches 93 Hindernis auf der Reise für sie eine wirkliche Versuchung dar. Fasst man die sechste Bitte in diesem Licht auf, dann bedeutet sie: Gott bewahre unseren Weg vor allen Hindernissen, die uns davon entmutigen können, unsere Aufgabe auszuführen. Wie ist unsere Deutung in das Spektrum von Interpretationen einzuordnen? Ist sie eschatologisch oder alltagsbezogen? In erster Linie ist sie alltagsbezogen, denn das Wort πειρασμός bezieht sich nach dieser Deutung auf Versuchungen, die im Alltag des Wanderlebens begegnen. Sie kann aber auch als eschatologisch bezeichnet werden, denn die Wandercharismatiker lebten in der Überzeugung, dass das Eschaton bald eintreten wird, 94 und daher bedeutet die Aufgabe des Wanderlebens, das den Ruf Jesu zur Nachfolge verwirklicht, für sie Abfall in der endzeitlichen Versuchung. Die Versuchung, die sie unterwegs nicht bestehen, ist also zugleich eine Versuchung der Endzeit. c. Die Vergebungsbitte Bindemann vertritt die These, 95 dass die Schuldentilgung der fünften Bitte die Situation der Wandercharismatiker widerspiegele, die alles - einschließlich fremder Schulden - erlassen und verlassen haben. Beim Aussprechen der fünften Bitte

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Diese Einschätzung (als „unüberwindlich") entspricht dem Blickwinkel des Betenden, aber nicht des Erhörenden, d.h. Gottes. Der Mensch betet hier um

Vermeidung von Situationen, die er wegen seiner persönlichen Schwäche nicht zu meistern vermag. Der Gedanke, dass Gott den Menschen versucht, liegt also in dieser Auslegung fern. Wie der Mensch um das Brot bittet (vierte Bitte des Vaterunser), obwohl er weiß, dass Gott es ihm doch geben wird (Q-Lk 12,31), betet der Mensch hier um Gottes Führung, weil er seine eigene Schwäche - das Nachfolgeleben aufzugeben kennt. Es ist also ein Hilferuf des Menschen an Gott aufgrund seiner eigenen Schwäche. 94 Schon die zweite Bitte des Vaterunsers spricht dafür. 95 Brot, 207-210.

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hätten die Wandercharismatiker die Verwirklichung des Erlassjahres nach Lev 25, die Rückkehr zu ihren Familien, die Wiederherstellung ihres Besitzes an Grund und Boden in ihrer Heimat und eine allgemeine Entschuldung erhofft. Diese Ansicht Bindemanns ist m.E. insofern akzeptabel, als er auch in der fünften Bitte die Spuren der Wandercharismatiker entdeckt, aber sie entspricht wenig der Realität ihres Lebens. Denn es ist 1) nicht sicher, ob die Wandercharismatiker beim Verlassen ihrer Familie imstande waren, fremde Schulden zu erlassen. Das Verlassen der Familie allein bedeutete ja schon für die Familie finanziell einen großen Schaden, weil sich ein Arbeitsfähiger, 96 d.h. ein für das familiäre Einkommen Verantwortlicher, seiner Verantwortung entzog. Dass der Verlassende darüber hinaus einen weiteren Schaden durch Erlass fremder Schulden anrichtet, ist eher unwahrscheinlich. Fraglich ist auch, ob die verlassene Familie überhaupt so reich war, dass sie Fremden etwas leihen konnte. 2) Es ist auch nicht sicher, ob sich der mögliche Wunsch von Wandercharismatikern, in ihre Heimat zurückzukehren, so, wie Bindemann annimmt, im Vaterunser niedergeschlagen hat. Führt man das Vaterunser auf den historischen Jesus zurück, dann wäre das eher unwahrscheinlich. Für die Wandercharismatiker ist Gott der Vater, und sie alle sind Geschwister. Das heißt: Für sie bedeutet die leibliche Familie nichts mehr. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Jesus die Rückkehr der Jünger in die alte Familie bei der Formulierung des Vaterunsers im Blick hatte. Dass auch hinter der f ü n f t e n Bitte das W a n d e r c h a r i s m a t i k e r t u m stehen könnte, lässt sich vielleicht aus einer anderen Perspektive zeigen. D a s V e r g e b u n g s h a n d e l n , das in der zweiten H ä l f t e dieser Bitte bereits als getan vorausgesetzt wird, ist wie die Feindesliebe nicht j e d e r m a n n s Sache. D e n n m a n w ü r d e durch wiederholten Erlass der S ü n d e n s c h u l d gegenüber seinen M i t m e n s c h e n riskieren, dass diese Großzügigkeit ausgenutzt wird, indem andere fest mit einem Erlass der S ü n d e n s c h u l d rechnen. Sesshaften M e n s c h e n d ü r f t e daher das in der f ü n f t e n Bitte geforderte Handeln schwerer gefallen sein als Wandercharismatikern, weil diese den Ort, an d e m sie ihren Schuldigern die Schuld vergeben haben, verlassen und damit rechnen können, dass sie ihnen nicht m e h r begegnen. Die f ü n f t e Bitte ist daher f ü r heimatlose W a n d e r c h a r i s m a t i k e r etwas besser vorstellbar als f ü r sesshafte Christen, die d a u e r h a f t mit denselben M i t m e n s c h e n rechnen müssen. D a s Fazit: A u c h hinter d e m Vaterunser steht das W a n d e r c h a r i s m a t i k e r tum als Sitz im Leben.

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Mk 1,20 ist ein gutes Beispiel dafür. Die Söhne des Zebedäus hinterlassen ihrem Vater die ganze Arbeit der Familie.

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Weisen die vier Texte bzw. ihre Bestandteile somit mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass sie alle dem Wanderradikalismus zugeordnet werden können, so ist nun zu fragen, wie sich die Vorstellung von Gott als Vater im Wanderradikalismus ausgewirkt hat.

(3) Die Funktion der Vorstellung von Gott als Vater Für die Behandlung der Frage, welche Funktion die Vorstellung von Gott als Vater hat, haben wir von der Situation des Wanderlebens auszugehen. Lk 14,26 (Q) lässt diese Situation deutlich erkennen: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwester, und dazu sich selbst, dann kann er nicht mein Jünger sein." Danach beginnt die Nachfoge Jesu mit einem Bruch mit der eigenen Familie. Es lässt sich nicht mit einem Familienleben, das seiner ganzen Art nach an einen Ort gebunden ist, vereinbaren. Die Wanderradikalen hatten sich vielmehr mit dem sozialen Defizit abzufinden, ohne Familie und Heimat zu sein. Hier ist nun zu fragen, was die Familie für den Menschen im antiken Orient wie in Palästina bedeutet hat. Das häufig mit Namen in Verbindung gesetzte Wort }3/Π3, das faktisch 'Sohn bzw. Tochter von jemandem' bedeutet, zeigt beispielhaft, dass die familiäre Bindung bei einem orientalischen Menschen nicht nur seine Herkunft, sondern auch seinen Status in der Gesellschaft signalisiert. Das aber heißt: Ein Wanderleben ohne familiäre Bindung bedeutete Verzicht auf die Absicherung des eigenen Status durch die Familie. Die Wanderradikalen waren faktisch allerlei Unsicherheiten ausgesetzt, selbst in ihrer Heimat konnten sie sich nicht abgesichert fühlen, weil sie ihre Familie wohl gegen deren Willen - verlassen hatten. 97 Unabhängig davon war ihr Wanderleben schwer: Nach der synoptischen Aussendungsrede durften sie keine Mittel zur eigenen Verpflegung mit sich nehmen; sie mussten wie Bettler wandern. Sie hatten damit zu rechnen, wie Bettler behandelt zu werden, d.h. verachtet, geschmäht und sogar misshandelt zu werden.

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Diese Situation geht aus Mk 6,4 (oder ThEv 31) deutlich hervor. Vgl. Theißen, Wanderradikalismus, 84. Über den ursprünglicheren Charakter des Logions von ThEv gegenüber dem mk Text siehe G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 53.

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Welche Funktionen könnte die Vorstellung von Gott als Vater für Menschen in solcher Situationen haben? Die Antwort dürfte klar sein. Zunächst verschaffte das Verständnis von Gott als (eigenem) Vater den Wanderradikalen eine familiäre Ersatzbindung und damit eine Sicherheit, die zwar von außen unerkennbar war, aber die sich in ihrem Bewusstsein auswirkte; sie dürften in Gott, ihrem Ersatzvater, Geborgenheit 98 und Schutz, wie sie eine Familie gibt, gefunden haben. Vielleicht könnte man als alttestamentlichen Hintergrund fur solch ein Verständnis von Gott Ps 68,6f vermuten, wonach Gott als (Ersatz-)Vater für die Waisen und als Helfer der Witwen dargestellt wird: „Ein Vater der Waisen und ein Helfer der Witwen ist Gott in seiner Wohnung, ein Gott, der die Einsamen nach Hause bringt...

Bei den Wanderphilosophen, deren Situation ähnlich der von Wanderradikalen war, findet man eine Analogie dafür. Der Philosoph Mara bar Serapion schrieb an seinen Sohn, der ein Wanderleben angefangen hatte, Folgendes: „Ergib dich der Weisheit, dem Quell alles Guten und dem Schatze, der nie versiegt; dort kannst du dein Haupt niederlegen und ruhen, denn sie wird dir Vater und Mutter und eine gute Geleiterin durchs Leben sein." 99 Hier wird deutlich ausgesprochen, dass der Wanderphilosoph in der Gottheit, zu deren Dienst er sich berufen weiß, seine Ersatzfamilie findet. In ihr kann er die Geborgenheit der Familie und Ruhe finden; er kann sich daher auch in fremder Umgebung sicher fühlen. Die Ersatzbindung, die Wanderradikale in ihrem Vertrauen auf Gott als Vater fanden, 100 dürfte sich in ihrem Wanderleben effektiv ausgewirkt 98

Von der aus dem Verständnis von Gott als Vater resultierenden Geborgenheit sprachen auch J. Jeremias, Theologie, 178: „Die Kindschaft schenkt die Geborgenheit im Alltag. Der Vater weiß, was die Kinder brauchen (Mt 6,8.32 par. Lk 12,30). Seine Güte und Fürsorge ist ohne Grenzen (Mt 5,45 par.)"; Κ. Berger, Geschichte, 30: „Vaterschaft Gottes wird damit im NT nicht primär autoritär verstanden, sondern im Sinne von Geborgenheit, Nähe und Verähnlichung. Der Abstand oben/unten spielt keine Rolle." 99 Zit. n. J.B. Aufhauser, Antike Jesus Zeugnisse, KIT 126, Bonn 2 1925, 10, Orthographie leicht modernisiert. 100 Auf den den leiblichen Vater ersetzenden Charakter des Verständnisses von Gott als Vater machte auch K. Berger, Geschichte, 33, aufmerksam: „Das He-

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haben. Denn dieser Vater sorgte im Vergleich mit menschlichen Vätern unvergleichbar gut für seine Kinder (Q-Lk 11,13). Wenn sie als Wanderradikale wie Bettler ihr Leben fuhren mussten, durften sie in ihm Trost und Sicherheit finden; ihre Existenz war kein ausgesetztes Leben wie das von Bettlern, sondern ein vom fürsorgenden Vater gesichertes Leben. Dass denjenigen, die aus Glaubensüberzeugung eine Trennung von ihrer Verwandtschaft in Kauf nehmen, eine bessere, nämlich eine göttliche Verwandtschaft als Ersatz101 gewährt wird, findet sich schon bei Philo. In Spec.Leg. 1,317 heißt es: „Denn nur ein Kennzeichen der Verwandtschaft und Freundschaft soll es fur uns geben, das Streben Gott zu gefallen und in Wort und Tat stets für die Frömmigkeit zu wirken - die sogenannten Blutsverwandtschaften und vertrauten Beziehungen infolge von Verschwägerungen oder anderen ähnlichen Ursachen müssen völlig abgeschüttelt werden, wenn sie nicht zu demselben Ziele hindrängen, - der Verehrung Gottes, die das unlösbare Band jeder einigenden Freundschaft ist; denn solche Menschen werden eine erhabenere und heiligere Verwandtschaft zum Ersatz erhalten,"102 Damit ist die Funktion der Vorstellung von Gott als Vater aber noch nicht ganz beschrieben. Oben wurde schon gesagt, dass die Familie für den Menschen im antiken Orient den sozialen Status definiert und sichert. Durch Verlassen ihrer Familie verloren die Wanderradikalen ihren ursprünglichen Status in der Gesellschaft, in der sie lebten. Dafür erhielrausgerissenwerden aus den alten Strukturen geht Hand in Hand mit dem gänzlichen Angewiesensein auf Gottes väterliches Handeln. Er muss all das ersetzen, was man mit der sehr bedeutsamen irdischen Vaterschaft aufgegeben hat." 101 Auch die Qumran-Gemeinde überliefert eine ähnliche Vorstellung, wonach Gott für diejenigen, die ihre familiäre Bindung verloren haben, in die Rolle der Ersatzeltern eintritt. In 1 QH Kol. 17[9],35f heißt es, „meinen Vater habe ich nicht gekannt und meine Mutter hat mich Deinetwegen verlassen. Denn Du bist Vater für alle [Söhne] Deiner Wahrheit und jauchzt auf über sie wie eine liebevolle Mutter über ihr Kind " (Übersetzung von J. Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer, Bd I, Die Texte der Höhlen 1-3 und 5-11, UTB 1862, München 1995, 95). Auch JosAs bezeugt Gott als (Ersatz-)Vater der Waisen und der Verfogten (11,13; 12,13). 102 Übersetzung von I. Heinemann, Über die Einzelgesetze Buch I-IV (de specialibus legibus), in: L. Cohn u.a. (Hg.), Die Werke Philos von Alexandria. In deutscher Übersetzung II, Berlin 2 1962, 98f.

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ten sie durch die Vorstellung von Gott als Vater einen Sonderstatus: Sie waren nun Gottes Söhne. Das Phänomen, durch Verbindung mit einer Gottheit den Status als gesichert zu verstehen, ist auch bei den Kynikern zu beobachten: „Zweitens darf sich der wahre Kyniker, wenn er sich so vorbereitet hat, nicht damit begnügen, sondern er muss wissen, dass er als Bote von Zeus zu den Menschen gesandt ist, um ihnen zu zeigen, dass sie über Gut und Böse im Irrtum befangen sind " (Epiktet, Diss.3,22,23).103 Demnach verstanden sich die kynischen Wanderphilosophen als Boten von Zeus und wollten damit ihren Status gesichert wissen. Weiter in Epiktet, Diss.3,22,95 heißt es noch, „... dass er seine Gedanken als Freund der Götter, als ihr Diener, als Teilhaber an Zeus' Herrschaft gedacht hat, Die Wanderphilosophen dachten demnach, sie seien Freunde der Götter, ihre Diener, ja sogar Mitherrscher Gottes. Das Verständnis von göttlichem Status hat eine weitere Implikation. Wird Gott als der die Welt Regierende verstanden („Gott lässt seine Sonne aufgehen und regnen" (Mt 5,45)), dann impliziert der Status des 'Sohnes Gottes' folgerichtig königliche Würde. Wenn der Vater König ist, versteht sich von selbst, dass königliche Würde auch seinen Kindern zukommt. Dieser königliche Status prägt nicht nur das Bewusstsein der Wanderradikalen, sondern zeigt sich nach außen hin in königlichen Handlungen wie z.B. in der Feindesliebe, die von Wanderradikalen geübt wurde.104 Ihre souveräne Haltung als Könige war aber nur deswegen möglich, weil sich Gott als ihr Vater von seinen Kindern nachahmen ließ. Wie bereits ausgeführt wurde,105 war der Vater-Gott ein nachzuahmender Vater.

103

Übersetzung von M. Billerbeck, Epiktet vom Kynismus, Philosophia Antiqua. A Series of Monographs on Ancient Philosophy, Leiden 1978, 19. Alle unten angeführten Zitate von Diss, sind ihre Übersetzung. 104 Vgl. Theißen, Jesusbewegung als charismatische Wertrevolution, NTS 35 (1989), 343-360, dort 349-352. 105 Siehe den obigen Abschnitt 'Das Bild vom nachzuahmenden Vater mit königlicher Hoheit'.

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Nach der oben zitierten Stelle, Epiktet, Diss.3,22,95, verstanden sich die Wanderphilosophen auch als Teilhaber an Zeus' Herrschaft. Sie sind Könige, die in Zeus' Herrschaft mitregieren werden. Daher wurde auch der Wanderstock, den der Wanderphilosoph in seiner Hand trägt, als Zepter des Königtums gedeutet: Teilhaben muss er am Zepter und am Königtum und ein würdiger Diener sein, wenn er der Freundschaft für würdig befunden werden soll " (Epiktet, Diss.3,22,63) Die Motivverbindung zwischen der Nachfolge des Wanderradikalismus und königlicher Würde ist auch in Q-Lk 22,28-30 106 bezeugt:107 Die den Nachfolgern Jesu zugesprochene Macht, 'auf Thronen zu sitzen und zu richten', ist unverkennbar eine dem König zustehende Macht. Dem Text ist allerdings nicht zu entnehmen, ob bzw. wie die Vorstellung von Gott als Vater bei der Motiwerbindung eine Rolle gespielt hat. Als Grund für die Verleihung der königlichen Macht wird im Text lediglich die Nachfolge genannt. Die königliche Macht ist hier also Belohnung für die Nachfolge. Dass die Bezeichnung 'Söhne Gottes' die Anteilnahme an der Macht Gottes mit sich bringt, bezeugt auch SapSal 5,5. Dort heißt es: „Wieso wurde er unter die Söhne Gottes gerechnet, und (warum) ist sein Los unter den Heiligen?"108 Eine ähnliche Vorstellung bezeugt auch das Testament Hiob, dessen Abfassungszeit allerdings später als die Logienquelle liegen könnte. In THiob heißt es: „Mein 106

„Ihr aber seid's, die ihr ausgeharrt habt bei mir in meinen Anfechtungen.AJnd ich will euch das Reich zueignen, wie mir's mein Vater zugeeignet hat,/dass ihr essen und trinken sollt an meinem Tisch in meinem Reich und sitzen auf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels." 107 M. Sato, Q und Prophetie. Studien zur Gattungs- und Traditionsgeschichte der Quelle Q, WUNT.2R 29, Tübingen 1988, 20.23, bezeichnet die Zugehörigkeit dieses Textes zu Q als „unsicher" Seine bzw. die von ihm aufgenommene Argumente sind 1) der in Q singulare Begriff „zwölf Jünger, 2) Lukas verwende sonst nirgends Material aus Q in einem solch isolierten Zusammenhang wie hier, 3) recht geringe Wortübereinstimmung. Dass aber in dem letzten Vers eine fast wörtliche Übereinstimmung vorliegt und dass v28 überzufällig eine inhaltliche Gemeinsamkeit mit Mt 19,28c - es geht in den beiden Fällen um die Nachfolgeexistenz - aufweist, reicht m.E. doch zu der Annahme, dass der wesentliche Inhalt der beiden Texte auf eine Tradition zurückgeht, die die beiden Evangelisten in ihrer Q-Vorlage (vielleicht schon in verschiedener Form) vorgefunden haben. 108 Übersetzung von D. Georgi, Weisheit Salomos. in: Unterweisung in lehrhafter Form, JSHRZ III, Gütersloh 1980, 416.

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Thron ist im Überirdischen und seine Herrlichkeit und Pracht sind zur Rechten des Vaters." (33,3) und: „mein Reich aber ist in alle Ewigkeit und seine Herrlichkeit und Pracht ist bei den Wagen des Vaters" (33,9). 109

II. Gott als Mutter Eine Vorstellung von Gott als Mutter ist in unseren Texten dort gegeben, wo von einer familiären Beziehung zwischen Gott als Weisheit und den Menschen als ihren Kindern gesprochen wird. Nirgendwo in Q (oder in einer anderen neutestamentlichen Schrift) wird Gott zwar direkt 'Mutter' genannt. Es gibt in Q jedoch zwei indirekte Belege: In Lk 7,35 kommt die Vorstellung von Gott als Mutter implizit vor. Dort heißt es: „Und doch ist die Weisheit gerechtfertigt worden von (allen)110 ihren Kindern111 " Da die Weisheit eine weibliche Gestalt ist, ist ihre Beziehung zu ihren Kindern als eine mütterliche aufzufassen. Im Unterschied zu Q-Lk 7,35 bietet Q-Lk 13,34f darüber hinaus eine bildliche Vorstellung von Gott als Mutter. Entscheidend ist, wer hier spricht. Spricht die Weisheit,112 dann gewinnen wir aus diesem Text eine wichtige Metapher für die Beziehung der Weisheit zu den Menschen, nämlich die Metapher von der 'Henne und ihren Küken' Eine ausführliche Erörterung des Logions wird unten folgen. Wie im vorigen Teilkapitel I werden im Folgenden zunächst die inhaltlichen Merkmale (also die Konkretisierung) der Vorstellung von Gott als Mutter im Mittelpunkt stehen, dann wird die Frage nach dem Sitz im Leben dieser Vorstellung zu beantworten sein. 109

Übersetzungen von B. Schaller, Das Testament Hiobs, in: Unterweisung in lehrhafter Form, JSHRZ III, Gütersloh 1979, 353.354. 110 Das lk Wort πάντων dürfte auf Lukas zurückgehen. Nach Hoffinann, Studien, 197, „fiigte Lk wahrscheinlich uavToovverallgemeinernd und in Korrespondenz zum Zwischenabschnitt (7,29: πας ό λαός) ein" 111 Die mt Alternative 'ihre Werke' geht auf das Konto des Evangelisten Mt, der im Hinblick auf Mt 11,2 diese Änderung vorgenommen hat. So z.B. Gnilka, Mt I, 422; Bovon, Das Evangelium nach Lukas 1. Teilband, EKK III, Zürich u.a. 1989, 372; Schürmann, Lk I, 428; Schulz, Q, 380. Weitere Exegeten werden bei Schulz, Q, 380 Anm. 18, genannt. 112 Ein bedeutender Verfechter für diese Interpretation ist O.H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum, WMANT 23, Neukirchen-Vluyn 1967, besonders 53-56.

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(1) Inhaltliche Merkmale der Vorstellung von Gott als Mutter Da die Vorstellung von Gott als Mutter in dem jeweiligen Text Q-Lk 7,31-35 / Q-Lk 13,31-34 eingebettet ist, müssen wir zunächst einen Blick auf den Inhalt der Texte werfen und dann die Eigenschaften dieser Vorstellung erörtern. Wir beginnen mit Q-Lk 7,31-35. a) Q-Lk 7,31-35 In Q-Lk 7,31-35 geht es um 'dieses Geschlecht' 113 Der Text beginnt mit der Frage nach einer Vergleichsmöglichkeit für dieses Geschlecht (v31); es ist wie Kinder, die einander vorwerfen, Spielverderber zu sein (v32): Zu diesem Geschlecht kamen 114 Johannes der Täufer und der Menschensohn, aber beide wurden von ihm abgewiesen (w33f). Diesem Geschlecht wird am Ende des Textes eine neue Gruppe gegenübergestellt: 'die Kinder der Weisheit' (v35). Aus ihrer Gegenüberstellung geht hervor, dass die Kinder der Weisheit anders als dieses Geschlecht zu definieren sind. Gerade in diesem letzten Vers begegnet Gott als Mutter und als Weisheit, verbunden mit dem Verb 'rechtfertigen' 115 Dem ist zu entnehmen, dass die Weisheit unter irgendeinem Aspekt rechtfertigungsbedürftig ist. Bringt man dies mit der in v33f genannten Abweisung Johannes des Täufers und des Menschensohnes durch dieses Geschlecht in Verbindung, dann ergibt sich folgendes Bild: Gott hat in seinem mütterlichen Wirken als Weisheit Johannes den Täufer und den Menschensohn zu diesem Geschlecht geschickt (zu beachten ist die zweifache ήλθεν-Aussage in Verbindung mit Q-Lk 11,49),116 trotz der Erfolglosigkeit dieses Unternehmens (also trotz Abweisung der beiden Boten, kann

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Die lk Version die Menschen (dieses Geschlechts) dürfte auf den Evangelisten Lk zurückzufuhren sein. So Bovon, Lk I, 372. Nach Harnack, Sprüche, 17, ist die lk Version eine „stilistische, aber pedantische Verbesserung" 114 Das mt ήλθεν ist dem lk έλήλυθεν vorzuziehen. Nach Schulz, Q, 379, „mag die Tempusänderung der Überlegung entsprungen sein, dass die im Präsens gehaltenen Vorwürfe schlecht zu einem abgeschlossenen Rückblick auf das Gekommensein des Täufers und des Menschensohns passen" 115 Zur Bedeutung dieses Verbums siehe Hoffmann, Studien, 228f und Anm. 138. In dieser Anmerkung werden auch andere Übersetzungsversuche erwähnt. Nach ihm ist das Wort aufgrund des in jüdischen Schriften verbreiteten Sprachgebrauchs mit „als gerecht anerkannt zu werden" zu übersetzen. 116 So auch Hoffinann, Studien, 230.

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die Weisheit, die Mutter-Göttin, aufgrund (der Existenz oder des Verhaltens) ihrer Kinder gerechtfertigt werden. Die Kinder der Weisheit sind dann diejenigen, die den Täufer bzw. den Menschensohn aufgenommen haben und deshalb Kinder der Weisheit geworden sind (vgl. Joh l,12f, 117 wo die, die den Logos und das Licht aufnehmen, zu 'Kindern Gottes' werden) 118 Aufgrund dieses Textinhalts können wir vorläufig folgende inhaltliche Merkmale der Vorstellung von Gott als Mutter feststellen: 1) Gott ist eine Mutter, die durch ihre Boten Kinder zu sich ruft. Die Boten-Sendung der Weisheit lässt sich als Spezifikum der Vorstellung von Gott als Weisheit in Q bezeichnen, denn für die alttestamentliche sowie zwischentestamentliche Weisheitstradition ist die Boten-Sendung durch die Weisheit eine Seltenheit. Die Weisheit handelt in fast allen Fällen selbst, wie z.B. Spr 1,20119 zeigt:120 „Die Weisheit ruft laut auf der Strasse und lässt ihre Stimme hören auf den Plätzen." Hier ist kein Bote in Sicht. Eine einzige Ausnahme stellt Spr 9,1-3 dar, wo die Handlung der Weisheit metaphorisch beschrieben wird, und dementsprechend Vermittler der Weisheit auftreten: Die Weisheit baut ihr Haus und lädt die Menschen ein, indem sie ihre Mägde aussendet, die die Menschen rufen sollen. Außer dieser Stelle findet man im Umfeld unseres Textes höchstens SapSal. 7,27 als eine fiir unsere Beobachtung relevante Stelle: „Sie (sc. die Weisheit) ist eins und vermag doch alles. Sie beharrt in sich selbst und erneuert doch alles, und in jeder

117

„Allen aber, die ihn aufnahmen und an seinen Namen glaubten, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden 118 Hinter dem Joh-Prolog steht die Vorstellung von der Weisheit. Vgl. die Kommentare z.St. 119 Auch Spr 8,1-3. 120 F. Christ, Jesus Sophia. Die Sophia-Christlogie bei den Synoptikern, ATh ANT 57, Zürich 1970, 21.26, behauptet ohne nähere Begründung, dass die Weisheit durch ihre Boten Menschen ruft. Die Boten-Sendung der Weisheit ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, obwohl man geneigt ist, es zu vermuten.

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Generation siedelt sie in fromme Seelen über und rüstet Gottesfreunde und Propheten aus. "121 Hier ist jedoch nicht von einer Sendung der Boten durch die Weisheit die Rede, sondern lediglich von einer Ausrüstung von Gottesfreunden und Propheten durch die Weisheit. Das heißt, bestimmte Menschen werden durch die Hilfe der Weisheit zu ihrer Aufgabe qualifiziert. Die Sendung der Boten durch die Weisheit in Q ist also eine Besonderheit der QVorstellung. 2) Das Bild von Gott als Mutter ist vom Konflikt, der durch die menschliche Ablehnung des weisheitlichen Rufs ausgelöst wird, geprägt. Hier ist die Abweisung des Täufers und des Menschensohnes der konfliktauslösende Faktor. Dieses Konfliktmotiv ist bereits in der weisheitlichen Tradition verankert. Nicht jeder reagiert auf den Ruf der Weisheit positiv, und nicht jeder ist fähig, dem Ruf der Weisheit zu entsprechen (Spr 1,7: Die Toren verachten Weisheit und Zucht."). Das Eigenartige in Q ist auch hier, dass die Boten der Weisheit anstelle der Weisheit von diesem Konflikt betroffen sind. 3) Die Beziehung der Weisheit als Mutter zu einem Kreis von Menschen bildet sich dadurch, dass diese ihre Boten, Johannes den Täufer und den Menschensohn, aufnehmen: Dabei ist anzumerken, dass die Worte von Q-Lk 7,31-35 durch Jesus gesagt wurden und dadurch das eigentliche Gewicht auf die Aufnahme des Menschensohnes gelegt wird. Diese Interpretation wird dadurch unterstützt, dass Johannes der Täufer in Q Jesus, dem Menschensohn, untergeordnet wird (Lk 7,18-23).122 Die Aufnahme Jesu, des Menschensohnes, ist also nach dem Verständnis der QÜberlieferer das eigentliche Kriterium für das Zu-Kindern-der-WeisheitWerden.123 Diese vorläufige Feststellung von inhaltlichen Merkmalen der Vorstellung von Gott als Mutter in Q ist nun anhand eines zweiten Textes, Q-Lk 13,34f, zu überprüfen.

121

Übersetzung von Georgi, Weisheit Salomos, 428. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Anfrage des Johannes (v20): „Bist du es, der kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?" 123 Eine ähnliche Definition fur die Kinder der Weisheit findet sich auch bei Hoffmann, Studien, 231: „Die Kinder der Weisheit sind diejenigen, die an Jesus keinen Anstoß nehmen, die sich fur den Menschensohn entschieden haben." 122

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b ) Q - L k 13,34f a. Die Frage nach dem Sprecher des Logions Wie schon erwähnt, ist die Frage nach dem Sprecher des Logions für das Verständnis der Vorstellung von Gott als Mutter im Text wichtig. Daher beginnen wir mit der Erörterung dieser Frage. In der Exegese stehen sich zwei Antwortmöglichkeiten gegenüber: Entweder spricht Jesus oder die Weisheit. P. Hoffmann, ein wichtiger Verfechter der ersten Möglichkeit, 124 bestreitet die zweite Möglichkeit mit folgenden Argumenten: 1) Das Subjekt von ποσάκις ηθέλησα sei nicht im Zusammenhang mit den Partizipialepitheta zu Jerusalem (άποκτείνουσα, λιθοβολούσα) zu sehen. Denn die Partizipien des Präsens in der Anrede (v34a) charakterisierten Jerusalem zunächst in allgemeiner Weise, und der Tempuswechsel zum Aorist (v34b) zeige an, dass der Sprecher nun zu einer persönlichen Erfahrung mit Jerusalem übergehe. 2) Die Unterscheidung zwischen 'Jerusalem', 'deinen Kindern' und 'ihr', spreche für eine differenzierende Perspektive, aus der zunächst die ganze Geschichte Jerusalems (mit 'Jerusalem'), dann die Geschichte der Zeitgenossen (mit 'deinen Kindern') betrachtet würden. Daraus folge: Der Sendende, der hinter dem Partizip Passiv απεσταλμένους steht, lasse sich nicht mit dem Sprecher identifizieren. Vielmehr stelle sich der Sprecher nur in eine Reihe mit den Propheten und Gesandten: Wie jene sei er abgewiesen worden; wie jene sei er zu Jerusalem gesandt gewesen. Diese Argumente sind m.E. nicht durchschlagend: ad 1) Der Tempuswechsel zwingt keineswegs, das Subjekt von ποσάκις ηθέλησα aus dem Zusammenhang der Partizipialepitheta zu lösen. Denn die Wahl eines Aorist-Tempus ist nicht unbedingt durch Differenzierung zwischen zwei Zeiten bedingt. Der Aorist schaut zusammenfassend auf die bisherigen vergeblichen Bemühungen zurück: Ein Präsens würde wenig Sinn machen!125 Um die bisher unternommenen Bemühungen der Weisheit auszudrücken,126 ist die Wahl eines Aorist-Tempus vielmehr unvermeidbar. Der Tempuswechsel ist also durch den Inhalt des Satzes bedingt.

124

Studien, 173f. Die Wahl eines Präsens-Tempus macht m.E. die Bildung eines sinnvollen Satzes unmöglich, denn der Satz würde dann etwa so lauten: „Wie oft will ich deine Kinder sammeln?" 126 Vgl. auch die Interpretation bezüglich des Tempuswechsels unten im Abschnitt 'Der Sitz im Leben'. 125

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ad 2) Der Beobachtung, dass im Gebrauch unterschiedlicher Anreden (Jerusalem, deine Kinder) eine differenzierende Absicht wirksam wird, ist zuzustimmen. 127 Jedoch ist die Ansicht, dass dadurch geschichtlich eine Folge von Vergangenheit und Gegenwart differenziert wird, höchst fraglich. In den Synoptikern findet man nur im LkEv (19,44) eine Stelle, wo noch einmal von Jerusalem 128 und ihren Kindern die Rede ist. Dort wird die Beziehung zwischen ihnen nicht als 'geschichtliche Folge' bestimmt.129 Die beiden Ausdrücke, 'Jerusalem' und 'deine Kinder', sind hier wie dort auf derselben geschichtlichen Ebene zu betrachten: Gemeint ist die Stadt (einschließlich ihrer Architektur) und ihre Bewohner ('die Kinder in dir'). Unser Fazit ist also: Aufgrund der bisher erörterten beiden Gegenargumente liegt es näher, den Sendenden (v34a) mit dem Sprecher zu identifizieren. Damit ist allerdings noch nicht gesichert, dass in v34 die Weisheit spricht. Denn das Logion wird im Unterschied zu Lk l l , 4 9 f f nicht ausdrücklich der Weisheit zugeschrieben. Geht man davon aus, dass alle Logien in der Quelle Q (mit Ausnahme der Worte des Täufers) von ihren Tradenten als Worte Jesu überliefert wurden, dann wird man auch hier zunächst an Jesus als Sprecher denken. Wie ist das aber mit der in der Auseinandersetzung mit Hoffmann gewonnenen Einsicht in Einklang zu bringen, dass Jesus hier zugleich der Sendende und Sprechende ist? M.E. ist diese Schwierigkeit dadurch zu beheben, dass man das Logion von v34 und v35a als prophetische Rede Jesu im Namen der Weisheit auffasst: Jesus vermittelt hier wie die alttestamentlichen Propheten göttliches Wort, nämlich Worte der Weisheit. Sein 'Ich' ist das 'Ich' der Weisheit. 130 Dafür spricht vor allem die prophetische Redeform des Lo-

127

Siehe auch unten im Abschnitt 'Der Sitz im Leben' Allerdings nicht ausdrücklich, sondern nur mit dem Wort 'Stadt' angedeutet. 129 Einige für unser Interesse relevante Stellen sind unten (im Abschnitt 'Der Sitz im Leben') in einem anderen Zusammenhang angeführt. 130 In ähnlicher Weise löst auch W. Wiefel, Das Evangelium nach Lukas, ThHNT III, Berlin 1988, 265, die Schwierigkeit auf. Er spricht allerdings von der Verkörperung der Weisheit in Jesus, was die über die Annahme der Prophetie hinausgeht. Bovon, Lk II, 447f, nimmt an, dass „der historische Jesus sich einmal der weisheitlichen Tradition bedient hat, ohne sich mit der in der ersten Person sprechenden Weisheit zu identifizieren (V34-35a)" Er erklärt jedoch nicht, wie Jesus dies tat. In Bezug auf Lk 1 l,49-52a (Lk II, 235) deutet er jedoch an: „Die Weisheit Gottes ist nicht mit Jesus zu identifizieren. Sie ist vielmehr das Äquivalent des Wortes von YHWH, das durch den Mund des Propheten spricht." M.E. 128

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gions.131 Eine Prophetie im Namen der Weisheit ist Jesus, dem Weisheitslehrer, der mehr als Salomo und Jona ist (Q-Lk 11,31 f), ohne weiteres zuzutrauen. Ein zusätzliches Argument dafür liefert die bereits genannte Stelle Lk ll,49ff, denn dort spricht Jesus ausdrücklich von der Rede (d.h. der Prophetie) der Weisheit. 132 Unsere Annahme vermag eine weitere Komplikation in der Auslegung des Logions zu beheben. O.H. Steck vertritt die Meinung, dass v35b als vorchristlicher Zusatz zu verstehen ist.133 Für ihn ist das ganze Logion von v34f ein Wort der Weisheit. 134 Diese Ansicht bestreitet Hoffmann mit Recht. 135 Nach ihm ist die Rückkehr der Weisheit in die Welt in der Weisheitstradition ohne Analogie, und die Bezeichnung 'der da kommt im Namen des Herrn' ist eindeutig auf den Menschensohn zu beziehen. Sieht man mit Hoffmann in v35b ein Wort Jesu über sich selbst, dann scheint eine Komplikation in der Auslegung des Logions aufzutreten, insofern zunächst die Weisheit spricht und dann Jesus, ohne dass der Sprecherwechsel markiert wird. Diese Komplikation löst sich von selbst, wenn es sich um Prophetie, genauer gesagt, um ein ego divinum handelt. Denn in einer Prophetie spricht nicht Gott allein, sondern der Prophet, ohne dass der Wechsel vom einen zum anderen deutlich gekennzeichnet wird. Ein Beispiel dafür ist Q-Lk 11,51, wenn man den Satz „Ja, ich sage

zielt die Ansicht von Bovon darauf, die Worte Jesu in w 3 4 - 3 5 a als weisheitliche Prophetie Jesu aufzufassen, wie wir es tun. 131 Vgl. Wiefel, Lk, 265; Steck. Geschick, 57f: „V.34 ist das Scheltwort, das seine Verbindung mit der Gattungstradition des prophetischen Gerichtsworts im AT gleichfalls deutlich zu erkennen gibt: so durch die wiederholende Nennung des Adressaten, durch die Charakterisierung der Verfehlung des Adressaten mittels Partizipien, durch das Kontrastmotiv wie auch durch den bildlichen Vergleich." 132 Unser Verständnis von Q-Lk 13,34 und 35a als Prophetie der Weisheit durch Jesus kann ein Argument für die Bestimmung der Makrogattung der Logienquelle darstellen. Die Makrogattung lässt sich sowohl als weisheitlich als auch als prophetisch bezeichnen. Damit entscheiden wir uns gegen die einseitige Einordnung von z.B. Sato, Q, der die Logienquelle als Prophetie verstehen will, oder Kloppenborg, Formation, der Q als weisheitliche Rede auffassen will, indem wir beide Gattungsbestimmungen kombinieren. 133 Geschick, 56-58. 134 Geschick, 274. 135 Studien, 176f.

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euch " als Rede Jesu auffasst. 136 Auch dort wird kein Kommentar zum Sprecherwechsel gegeben: Die Weisheit redet, und der prophezeiende Jesus fuhrt ihre Rede ohne abgrenzende Markierung weiter. 137 Darum wird man auch in Lk 13,35b einen Übergang von den Worten der Weisheit zu den Worten Jesu sehen dürfen. Ist somit wahrscheinlich, dass in v34-35a die Weisheit spricht, dann finden wir hier implizit eine Vorstellung von Gott als Mutter in indirekter, bildlicher Form. Denn die unzähligen Bemühungen der Weisheit um die Kinder Jerusalems werden ja mit der Metapher von der 'Henne und ihren Küken' beschrieben, das heißt, die Weisheit verhält sich hier wie eine Tiermutter zu ihren Kindern. Um zu wissen, wie diese Vorstellung im Text konkretisiert wird, werfen wir nun einen genaueren Blick auf ihn. b. Konkretisierung der Vorstellung von Gott als Mutter

War im vorigen Text, Q-Lk 7,31-35, 'dieses Geschlecht' der Gegenstand des Textes, so stellen Jerusalem bzw. die Kinder Jerusalems sein Pendant in Q-Lk 13,34f dar. Wie dort ist auch hier von Bemühungen der Weisheit um ihre Kinder die Rede: Sie schickte unzählige Male ihre Propheten nach Jerusalem (v34b). Auch hier wird berichtet, dass sie Abweisungen von Menschen erfährt, jetzt sogar in verschärfter Form: Ihre Propheten wurden gesteinigt und getötet. Die Kinder Jerusalems hätten sich als ihre Kinder verhalten (siehe die Metapher 'Küken'), 138 wenn sie ihrem Ruf gefolgt wären. Mit ihrer Abweisung verpassten die Kinder Jerusalems wie 'dieses Geschlecht' im vorigen Text die Chance, Kinder der Weisheit zu werden, denn deren entscheidender Bote, Jesus, kündigt das Verlassen der Stadt (oder des Tempels) durch Gott und damit durch die Weisheit an. Die bei Q-Lk 7,31-35 festgestellten beiden inhaltlichen Merkmale der Vorstellung von Gott als Mutter in Q finden sich auch hier: 1) Der Ruf der Weisheit geschieht auch hier durch Boten der Weisheit. Es ist sogar von unzähligen Boten die Rede.

136

So Schürmann, Lk II, 326; Bovon, Lk II, 236. Wenn man will, kann man den Ausdruck „Ja, ich sage euch" als eine Art von Markierung verstehen. 138 Im Bild „Küken" sind sie schon Kinder. 137

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2) Der Ruf der Weisheit fuhrt auch hier zu Konflikten: Ihre Boten wurden gesteinigt und getötet, also von Menschen abgewiesen - übrigens ein Motiv, das sich so in der Weisheitstradition nicht findet.139 Dabei ist darauf zu achten, dass das Nicht-Mehr-Sehen Jesu im Gerichtswort der Weisheit die Strafe für die sie abweisenden Kinder Jerusalems ist und Jesus dadurch als der für die Beziehung zur Weisheit entscheidende Bote dargestellt wird. M.a.W die Aufnahme Jesu ist auch hier das eigentliche Kriterium dafür, Kinder der Weisheit zu werden. Angesichts dieser inhaltlichen Merkmale stellen wir nun die Frage nach dem Sitz im Leben dieser Vorstellung von Gott als Mutter in Q, also die Frage nach ihrem sozialgeschichtlichen Hintergrund.

(2) Der Sitz im Leben der Vorstellung von Gott als Mutter inQ a) Q-Lk 7,31-35 Für die Frage nach dem Sitz im Leben der Vorstellung von Gott als Mutter in Q sind m.E. zwei Elemente von Q-Lk 7,31-35 genauer zu betrachten: das eine ist die Vorstellung von den Kindern der Weisheit und das andere die Rede von diesem Geschlecht. Dass das erste Element für die Vorstellung von Gott als Mutter wichtig ist, liegt auf der Hand. Dagegen bedarf das zweite Element einer kurzen Erläuterung. Es sei daran erinnert, dass in Q-Lk 7,31-35 die Kinder der Weisheit im Gegensatz zu diesem Geschlecht stehen und dass sich die Definition der weisheitlichen Kinder erst durch Kontrast mit der Abweisung weisheitlicher Boten durch „dieses Geschlecht" ergibt, m.a.W., „dieses Geschlecht" ist für das Verstehen der Vorstellung von Gott als Mutter in Q ein unverzichtbares Element. Daher müssen wir uns nicht nur mit dem Element 'Kinder der Weisheit', sondern auch mit dem Begriff 'dieses Geschlecht' befassen. Dafür sind zwei Q-Texte, die eine gemeinsame Basis mit Q-Lk 7,31-35 aufweisen, zu berücksichtigen: Lk 11,49-51 und 11,29-32. Der erste Text stellt wie Lk 7,31-35 die Beziehung zwischen der Weisheit und diesem Geschlecht dar: Die Weisheit wird ihre Propheten und Apostel zu diesem Geschlecht senden, und dieses Geschlecht 139

Die Tötung der Weisheitsboten stammt aus der Prophetentradition, aus dem im damaligen Judentum verbreiteten Topos vom gewaltsamen Tod der Propheten (vgl. Steck, Geschick, besonders der erste, zweite und dritte Hauptteil des genannten Buches).

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wird sie töten. Die Abweisung der Weisheit durch dieses Geschlecht findet sich auch in Lk 11,29-32. Dass Jesus der weisheitliche Bote ist, ergibt sich hier aus der Aussage, dass er größer als der weisheitliche König Salomo ist. Auch hier findet sich die Abweisung weisheitlicher Boten durch dieses Geschlecht. Aufgrund dieser Gemeinsamkeit dürfen wir im Folgenden weitere Informationen über die Elemente, 'Kinder der Weisheit' sowie 'dieses Geschlecht' beiden Texten entnehmen. a. Die Kinder der Weisheit

Wir beginnen mit dem ersten Element. Die Vorstellung von den Kindern der Weisheit, die ein enges Verhältnis der betreffenden Menschen zur Weisheit voraussetzt, ist im Umfeld des Urchristentums nicht ganz neu. In Sir findet man sie (4,11; 15,2),140 und auch Philo kennt die Vorstellung von der Weisheit als Mutter.141 Die Menschen, die die Weisheit erkannt und sie dadurch erlangt haben, sind nach dem Verständnis von Jesus Sirach Kinder der Weisheit (15,lf). 142 Ein Kind der Weisheit ist zugleich „zum Offenbarungsmittler befähigt,"143 wie SapSal oder Sir bezeugen. In SapSal 7,13f heißt es: „Ehrlich lernte ich, und ohne Neid teile ich mit. Ihren Reichtum verberge ich nicht; denn (sie) ist ein unschöpferlicher Schatz für die Menschen. Die ihn erworben haben, bringen

140

Sir 4,11: „Die Weisheit lehrt ihre Söhne und bezeugt sich allen, die in sie Einsicht haben wollen." 15,2 s.u. Die Übersetzung stammt von G. Sauer, Jesus Sirach. 141 Z.B. Ebr. 30f: „... So werden wir zum Beispiel den Meister, welcher unser Weltall geschaffen hat, mit Recht zugleich auch als Vater des Erschaffenen bezeichnen, als Mutter aber das Wissen des Erzeugers; ihm hat Gott beigewohnt und die Schöpfung erzeugt, allerdings nicht nach Menschenart. Sie aber hat Gottes Samen empfangen und den einzigen und geliebten wahrnehmbaren Sohn, diese unsere Welt, als reife Frucht in Wehen geboren " (Übersetzung von M. Adler, Über die Trunkenheit (de ebrietate), in: L. Cohn u.a. (Hg.), Philo von Alexandria. Die Werke in Deutscher Übersetzung, Berlin 2 1962, 17f). 142 „Wahrlich, wer den Herrn furchtet, handelt so, und der, der sich an das Gesetz hält, wird sie (sc. die Weisheit) erlangen./5/e geht ihm entgegen wie eine Mutter, und wie eine Braut empfängt sie ihn" (Übersetzung von Sauer, Jesus Sirach, 541). 143 U. Wilckens, Art. σ ο φ ί α , in: ThWNT VII, 500.

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Freundschaft fiir Gott zustande, da sie um der aus der Bildung (stammenden) Gaben willen empfohlen waren." 144 Ferner heißt es in Sir 24,33: „So will ich weiterhin Lehre wie Prophezeiung ausgießen, und werde sie hinterlassen ewigen Geschlechtem."145 Weiter lesen wir in Sir 51,23-25: „Wendet euch mir zu, ihr Ungebildeten, und lagert euch im Hause meiner Lehre\ Wie lange noch wollt ihr Mangel haben an diesem und jenem, und wollt ihr so sehr durstig bleiben? Meinen Mund tat ich auf und redete von ihr (sc. der Weisheit), kauft euch die Wahrheit ohne Geld!" 146 Dies Verständnis von Kindern der Weisheit hat sich wohl auf die Vorstellung von den Kindern der Weisheit in Q-Texten ausgewirkt. Jeder Hörer bzw. Leser der Logienquelle dürfte sich an das Verständnis der Weisheit bei Jesus Sirach und in der Sapientia Salomonis erinnert fühlen. Die Entstehungszeit dieser beiden Quellen schließt Beziehungen von Q zu Traditionen in ihnen nicht aus. Sie entstanden Anfang und Ende des 2.Jh.v.Chr. Beide existierten bereits im l.Jh.v.Chr. Es empfiehlt sich daher, die Kinder der Weisheit, die in Lk 7,35 begegnen, im Licht dieses Verständnisses zu bestimmen. Nach unserem Verständnis von Lk 7,31-35 sind die Kinder der Weisheit diejenigen, die die weisheitlichen Boten aufgenommen haben und aufgrund dessen ihre Kinder geworden sind. Interpretiert man dies im Lichte der zitierten Stellen aus Jesus Sirach, dann meint das Kinder-derWeisheit-Sein etwa soviel wie: erkennen, dass Boten der Weisheit gekommen sind, und das Erlangen der Weisheit durch deren Aufnahme. Was ist aber dann mit der Vorstellung, dass die Kinder der Weisheit zugleich zur Offenbarungsvermittlung befähigt werden, d.h., dass sie Vermittler der Weisheit werden? Definiert man die Kinder der Weisheit durch Erkenntnis und Aufnahme der weisheitlichen Boten, dann sind sie zugleich die neuen Boten der Weisheit, denn Weisheit-Vermitteln bedeu144

Übersetzung von Georgi, Weisheit Salomos, 425. Die Hervorhebungen im Text stammen von mir. 145 Übersetzung von Sauer, Jesus Sirach, 566. 146 Übersetung von Sauer, ebd., 637.

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tet Bote-der-Weisheit-Sein. Angesichts dieser neuen Definition stellt sich die Frage, wo in der Logienquelle von solchen Boten die Rede ist. Man findet sie Lk 11,49ff. Unsere Aufmerksamkeit gilt dort den ersten beiden Sätzen von v49. Dort heißt es, dass die Weisheit Propheten und Apostel147 zu den Menschen senden wird.148 Einige Besonderheiten des Textes - er ist eine Rede der Weisheit, die mitten in der Rede Jesu mitgeteilt wird, und spricht von einer Sendung nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft - sprechen dafür, dass hier mit den Propheten und Aposteln nicht Jesus oder Johannes der Täufer oder Propheten vor ihnen gemeint sein können. Vielmehr ist mit „Propheten und Apostel" an urchristliche Propheten und Gesandte, die sich als Boten der Weisheit verstanden, gedacht.149 Wer aber waren solche Boten? Die Antwort dürfte dem Hörer des Q-Textes, dem weisheitliche Traditionen wie in Sir und SapSal bekannt waren, klar gewesen sein: die Kinder der Weisheit!150 Sind also die Kinder der Weisheit zugleich die Boten der Weisheit, dann dürfte es nicht falsch sein, die Eigenschaft der weisheitlichen Boten auf die Kinder der Weisheit in Lk 7,35 zu übertragen. Auch sie trifft die Abweisung, die nach Lk 11,49 in Form von Tötung und Verfolgung der weisheitlichen Boten geschieht. Dann bedeutet das Kinder-der-Weisheit-Sein zugleich Verfolgt-Sein. Näheres dazu wird unten zu besprechen sein.

Nachdem wir das Verständnis der Kinder der Weisheit zur Zeit der Logienquelle besprochen haben, fragen wir, wer diese Kinder der Weisheit sind. Da hinter der Vorstellung von Gott als Vater, wie wir oben sahen, 147

Der mt Alternative 'Weise und Schriftgelehrten' ist die lk Version vorzuziehen, weil es unwahrscheinlich ist, dass Lukas, der das Nebeneinander von Propheten und Aposteln (dazu in dieser Reihenfolge) nicht kennt, sie eingetragen hat (vgl. Schürmann, Lk II, 323 Anm. 125. Einige gleichdenkende Exegeten werden dort auch genannt). 148 Das Futur, das Lk präsentiert, verdient gegenüber dem mt Präsens den Vorzug. Mt selbst bezeugt dies, indem er im Folgenden in Futur formuliert. So auch Schulz, Q, 336. 149 So richtig Schürmann, Lk II, 323f, gegen Schulz, Q, 336-345, und andere Ausleger, die bei Schulz, Q, 336 Anm. 101, genannt sind. 150 In diesem Zusammenhang ist die Ansicht Bultmanns zu erwähnen, unter den Kindern der Weisheit Johannes den Täufer und den Menschensohn zu verstehen (Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Prologs zum Johannes-Evangelium, in: Exegetica, Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments (Hg. E. Dinkier), Tübingen 1967, 10-35, dort 19). Es liegt nahe, dass Bultmann auch die Wechselbeziehung zwischen den Boten und den Kindern der Weisheit erkannt hat.

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Wandercharismatiker stehen, stellt sich die Frage: Sind auch die Kinder der Weisheit Wandercharismatiker gewesen oder schließen sie sesshafte Sympathisanten Jesu mit ein? Diese Fragestellung ist m.E. von Bedeutung, nicht nur weil manche Exegeten hinter Q-Lk 7,35 ohne nähere Begründung ein ortsfestes Gemeindeleben postulieren,151 sondern weil wir uns dadurch dem Sitz im Leben der Vorstellung von Gott als Mutter nähern können. Um die gestellte Frage beantworten zu können, vergleichen wir die Kinder der Weisheit und die Wandercharismatiker miteinander unter Berücksichtigung ihrer typischen Merkmale. Der erste Vergleichspunkt betrifft den Eintritt in diese beiden „Rollen": Zu Kindern der Weisheit werden die Menschen durch Erkennen und Aufnahme der weisheitlichen Boten, besonders des Boten Jesus. Nimmt man den Boten Jesus nicht auf, dann verpasst man (wie dieses Geschlecht!) die Chance, Kind der Weisheit zu werden. Zu den Wandercharismatikern werden die Menschen durch die Annahme des Nachfolgerufes Jesu; weigert man sich, ihm nachzufolgen, kann man nicht sein Jünger und damit kein Wandercharismatiker werden (Lk 14,27 oder Mk 10,17-22). Der zweite Vergleichspunkt betrifft ihre Tätigkeit: Die Kinder der Weisheit werden zu anderen Menschen als ihre Boten gesandt, um weitere Kinder der Weisheit zu sammeln. Die Nachfolger Jesu werden auch zu Menschen geschickt, um sie fur das Reich Gottes zu gewinnen. Wie der Vergleich vermuten lässt, dürften die Kinder der Weisheit und die Wandercharismatiker identisch sein. Dafür spricht vor allem, dass die Kinder der Weisheit zugleich die Boten der Weisheit sind, was bei sesshaften Sympathisanten nicht vorstellbar ist, weil sie nicht in die Welt gesandt wurden.152 Im Unterschied zu den Wandercharismatikern konnten die sesshaften Sympathisanten eben die Worte (die Botschaft) Jesu nur mit Vorbehalt, also nicht im streng wörtlichen Sinne, aufnehmen, weil sie in ihren Heimatorten lebten und für eine Familie durch ihre Arbeit zu sorgen hatten. Darum sind die Kinder der Weisheit eher Wandercharismatiker.

151

Z.B. Hoffmann, Studien, 228; Luz, Mt II, 184. Die Eigenschaft der Vorstellung von Gott als Mutter, dass die Weisheit durch Sendung ihrer Boten ihre Kinder zu sich ruft, spiegelt vermutlich wider, dass hinter dieser Vorstellung auch die Wandercharismatiker, die immer wieder ausgesandt sind, stehen. 152

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b. Dieses Geschlecht Nun wenden wir uns dem zweiten Element 'dieses Geschlecht' zu. Nach Lk 7,31-35 sind darunter diejenigen zu verstehen, die die weisheitlichen Boten, Johannes den Täufer und den Menschensohn Jesus abgewiesen haben. Diese Definition enthält eine weitere Information über dieses Geschlecht: Zu ihm sind Johannes der Täufer und der Menschensohn Jesus gekommen. Demnach ist unter diesem Geschlecht das Volk Israel vorzustellen. Der Text gibt aber noch eine weitere, m.E. bedeutsame Eigenschaft dieses Geschlechts zu erkennen. Sie findet sich in den Begründungen für die Abweisung, besser gesagt in den Vorwürfen gegen die weisheitlichen Boten. Besonders der Vorwurf gegen den Menschensohn Jesus lässt erkennen, dass dieses Geschlecht von bestimmten Frömmigkeitsprinzipien (siehe den Ausdruck 'ein Freund von Zöllnern und Sündern'!) bestimmt ist. Oder anders formuliert, dass innerhalb dieses Geschlechts eine Gruppe von Menschen zu finden ist, die das Denken und die Meinung dieses Geschlechts stark beeinflusst, eine Gruppe, die dieses Geschlecht führt. Aus Mk 2,16153 können wir erschließen, dass diese Gruppe die Pharisäer sind. Diese Vermutung wird durch Josephus unterstützt. Ein „herausragendes Kennzeichen der Pharisäer" ist in seiner Darstellung der Pharisäer im Bellum ihre „Frömmigkeit" 154 Diese Charakterisierung der Pharisäer ermutigt uns, Argumente dafür zu sammeln, dass die Gruppe, die in diesem Geschlecht als Wort-und Meinungsführer wirkt, Pharisäer sein könnten. Ein aussagekräftiges Argument liefert uns der bereits erwähnte Q-Text, Lk 11,49-51: Hier wird gesagt, dass sich dieses Geschlecht für das Blut aller (von der Weisheit gesandten) Propheten wird verantworten müssen. Für uns ist dabei die Beobachtung wichtig, dass dies Wort in Q mitten in 153

„Und als die Schriftgelehrten unter den Pharisäern sahen, dass er mit den Sündern und Zöllnern aß, sprachen sie zu seinen Jüngern: Isst er mit den Zöllnern und Sündern?" 154 P. Schäfer, Der vorrabbinische Pharisäismus, in: M. Hengel & U. Heckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum, WUNT 58, Tübingen 1991, 125-175, dort 170. Z.B. in Bellum 1,5,2 §§ 110 heißt es: „Wachsend nahmen an ihrer Regierung die Pharisäer teil, eine Gruppe von Juden, die in dem Ruf stand, from-

mer zu sein als die anderen und die Gesetze gewissenhafter zu beachten" (Zitiert nach O. Michel u.a. (Hg.), De Bello Judaico, Der jüdische Krieg. Zweisprachige Ausgabe der sieben Bücher Bd I, Darmstadt 1959, 31, Hervorhebung von mir).

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der Rede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten 155 steht und darum als an die Pharisäer und Schriftgelehrten gerichtet zu verstehen ist („Ich will Propheten und Apostel zu ihnen senden, und von ihnen werden sie einige töten " (v49))156 Das heißt, hier (in Q) wird keine Unterscheidung zwischen diesem Geschlecht einerseits und den Pharisäern und Schriftgelehrten andererseits vorgenommen; sie werden vielmehr als Einheit angesehen. Dass trotz dieser Einheit von Pharisäern und Schriftgelehrten einerseits (implizit in v49) und diesem Geschlecht andererseits gesprochen wird, lässt m.E. erkennen, welche Rolle die Pharisäer und Schriftgelehrten innerhalb dieses Geschlechts einnahmen: In v49 werden die zukünftigen Taten den Pharisäern und Schriftgelehrten zugeschrieben, aber zugleich wird dies Geschlecht für ihre Taten zur Verantwortung gezogen. Das heißt, die Initiative zu den Taten wird von den Pharisäern und Schriftgelehrten ergriffen, die Umsetzung der Initiative in die Tat aber wird von der einfachen Bevölkerung getragen, daher ist von beiden, also von „diesem Geschlecht" (ein Begriff, der quasi ein Oberbegriff ist), Rechenschaft zu fordern. Dies Bild ist nicht fremd, es begegnet in Apg 7, wo berichtet wird, wie der Pharisäer Paulus sich verhalten hat, als Stephanus gesteinigt wurde (7,58): Paulus, der wohl als einer der Initiatoren dieser Steinigung dargestellt wird, ergriff demnach selber nicht den Stein, sondern das aufgehetzte Volk tat es (7,57). Ein zweites Argument gewinnt man aus Josephus. Nach seiner Darstellung der Pharisäer in den Antiquitates sind die Pharisäer die Partei des Volkes}51 Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit dort, wo die Bemühungen der Königin Salome um ihre Sympathie und damit um die Sympathie des Volkes beschrieben werden. 158 Obwohl die Historizität dieser Darstellung von Forschern wie Ρ Schäfer in Frage gestellt wird, dürfte die Charakterisierung der Pharisäer als Volkspartei der Realität gerecht wer155

Dass die sieben Weherufe bereits in Q zusammengesetzt waren, wird allgemein angenommen (vgl. Polag, Q, 54-57; Bovon, Lk II, 222). Die Bezeichnungen 'Pharisäer' bzw. 'Schriftgelchrten' kommen in dieser Rede in den Versen Lk 11,39.42.43.(44).52 vor. 156 Im Kontext gelesen, dürfte keine andere Interpretation als diese möglich sein. Die so nur bei Mt vorhandene Darstellung der Verfolgung mit den Sätzen: Die Jünger werden „in euren Synagogen ausgepeitscht und von einer Stadt zu anderen verfolgt zu werden" (Mt 23,34) spiegelt m.E. wider, dass Mt seinen Q-Text als an die Pharisäer und Schriftgelehrten gerichtet verstanden hat. 157 Vgl. Ρ Schäfer, Pharisäer, 166. 158 Ebd.

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den.159 Die Pharisäer hatten also im Volk Israel das Sagen, und das Volk ließ sich leicht von ihnen beeinflussen. Dies Bild schimmert in dem Ausdruck 'dieses Geschlecht' durch. Damit verifizieren wir unsere obige Vermutung, dass in Q innerhalb dieses Geschlechts eine dominierende Gruppe, die Pharisäer und Schriftgelehrten, als Wort- und Meinungsführer zu finden ist. Demnach ist mit dem Ausdruck 'dieses Geschlecht' nicht nur die einfache Bevölkerung Israels gemeint, sondern das Volk zusammen mit seinen Wort- und Meinungsführern, den Pharisäern und Schriftgelehrten. Wenn dieses Geschlecht kritisiert wird, darf man das als Kritik an seinem Führungskreis, an den Pharisäern und Schriftgelehrten, verstehen. c. Das Verhältnis der Kinder der Weisheit zu diesem Geschlecht

Haben wir uns soweit mit dem Wesen dieses Geschlechts befasst, dann ist jetzt die Frage zu stellen, wie sich dieses Geschlecht zu den Kindern der Weisheit verhält. Nach Lk 7,31-35 weist dieses Geschlecht die weisheitlichen Boten ab. Diese Abweisung wird in Lk 1 l,49ff als Tötung und Verfolgung beschrieben. Demnach ist dieses Geschlecht ein die weisheitlichen Boten verfolgendes Geschlecht. Da die Kinder der Weisheit nach der obigen Untersuchung zugleich die weisheitlichen Boten sind, ergibt sich folgendes Bild: Dieses Geschlecht weist die weisheitlichen Boten, die die zu ihm gesandten Kinder der Weisheit sind, ab, indem es sie tötet und verfolgt; dies Geschlecht sind die Verfolger, die anderen sind die Verfolgten. Angesichts dieses Bildes stellt sich die weitere Frage: Wie ist der Konflikt zwischen beiden Gruppen zu erklären? Für ihre Beantwortung bietet m.E. Q-Lk 11,29-32 einen Ansatz: Hier erhebt Jesus den Anspruch, dass 159

In Anlehnung an G. Theißens Argument, dass das zeitgleich entstandene Johannes-Evangelium wie Josephus die Pharisäer eng mit dem Volk der Juden verbunden charakterisiert (vgl. die im Anschluss an das Referat von Schäfer stattgefundene Diskussion, in: M. Hengel, Paulus, 174). Auch M. Hengel und R. Deines, E.P. Sanders' 'Common Judaism', Jesus, and The Pharisees. Review article of Jewish Law from Jesus to the Mishnah and Judaism: Practice and Belief by E.P. Sanders, JThS 46 (1995), 1-70, unterstreichen die Ansicht, dass es keine Gründe gibt, Josephus' Darstellung über die Pharisäer als Volkspartei zu bezweifeln (dort 34f). Nach ihnen hatten die Pharisäer ihren Einfluss auf das Volk während der ganzen Periode zwischen Johannes Hyrkan (135/4-104 v. Chr.) und 70 n. Chr.

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er als Weiser mehr als Salomo ist (v31). Die Erwähnung des exemplarischen Weisen Salomo setzt voraus, dass die Weisheit auch von diesem Geschlecht hochgeschätzt wird. Daher ist zu erwägen, ob der Anspruch der Kinder der Weisheit auf eine enge Beziehung zur Weisheit Gottes für die Pharisäer und ihre Schriftgelehrten anstößig gewesen sein könnte, da sich diese für die Angelegenheiten der Weisheit zuständig fühlten. Dann wäre ein Konflikt zwischen beiden vorprogrammiert. Für diese Vermutung lassen sich einige Indizien sammeln: 1) In IKor nimmt Paulus einen beträchtigen Teil (Kap. 1-2) seines Briefes in Anspruch, um die Weisheit Gottes im Kontrast zur menschlichen Weisheit zu entfalten. Trotz seiner Intention, damit Probleme der gegenwärtigen Gemeinde in Korinth zu lösen, ist es wahrscheinlich, dass sich hier seine frühere, intensive Beschäftigung mit der Weisheit widerspiegelt: In 1 Kor 2,1 schreibt er, dass er zu den Korinthern zur Verkündigung des Geheimnisses Gottes nicht „mit hoher Weisheit" gekommen war. Gleich daran schließt er an, dass er beschlossert habe, unter den Korinthern „nichts zu wissen als allein Jesus Christus" (v2). Verbindet man die beiden von mir kursiv gesetzten Ausdrücke, dann kommt man zu dem Schluss, dass Paulus selber einst mit „hoher Weisheit" zu reden gewusst hat. Möglich ist, dass er sich als Pharisäer intensiv mit der Weisheitstradition beschäftigt hat. Wir dürfen also von den Pharisäern, die nach unserer Annahme als Wort- und Meinungsfuhrer in diesem Geschlecht vorzustellen sind, annehmen, dass intensive Beschäftigung mit der Weisheit für sie eine Selbstverständichkeit war. Hinzu kommt, dass Paulus die Weisheit der Welt, wozu auch die der Schriftgelehrten gehört, als Torheit abwertet (IKor 1,20), während er den gekreuzigten Christus, auf den er sich in seiner Verkündigung konzentriert (vgl. 2,2), als Gottes Weisheit bezeichnet (1,24). Hier zeichnet sich deutlich ab, dass der Anspruch der Christen und des Apostels auf die Weisheit Gottes unvermeidbar mit denjenigen in Konflikt steht, denen traditionell Weisheit zugeschrieben wird. Die Abneigung des Paulus gegenüber seiner früheren Beschäftigung mit der Weisheit und sein Anspruch auf die Weisheit Gottes, die die Klugen, die Schriftgelehrten und die Weisen dieser Welt nicht verstehen können (IKor 1,19f), spiegelt wohl eine christliche Tradition wider, die auch in Q begegnet. Dafür spricht m.E. die auffällige Gemeinsamkeit von IKor 1,22-25 mit Q-Lk 11,29-32, sowohl

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auf der sprachlichen Ebene (σημεΐον, ζητέω, σοφία) 1 6 0 als auch auf der inhaltlichen Ebene (Juden/dieses Geschlecht; Christus als Gottes Weisheit/mehr als Salorno).

2) In Q-Lk 11,52 werden die Schriftgelehrten als die für die Sache der Weisheit Zuständigen dargestellt, aber zugleich wegen ihres mangelnden Willens, anderen den Zugang zur Erkenntnis zu ermöglichen, kritisiert. Will man dies Logion auf die Zeit des historischen Jesus zurückfuhren, so würde dies bedeuten, dass sich die Spannung zwischen dem Führungskreis dieses Geschlechts und den Kindern der Weisheit schon zur Zeit Jesu angebahnt hat. Bezieht man jedoch dies Logion auf die Zeit der Logienquelle, dann wäre dies ein aussagekräftiges Argument für unsere Annahme. Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, gültig bleibt, dass wir hier ein Indiz dafür haben, dass der Anspruch, Kinder der Weisheit zu sein, für den Führungskreis dieses Geschlechts anstößig war. Erhält damit unsere Annahme, dass der Konflikt zwischen diesem Geschlecht und den Kindern der Weisheit auf konkurrierende Weisheitsansprüche zurückgeht, Wahrscheinlichkeit, so können wir nun unsere bisherigen Erörterungen vorläufig so zusammenfassen: Die beiden Elemente, die Kinder der Weisheit und dieses Geschlecht, die für die Vorstellung von Gott als Mutter konstitutiv sind, stellen sich bei näherem Hinsehen als Konfliktparteien heraus. Die Kinder der Weisheit, bei denen an Wandercharismatiker zu denken ist, sind nach Lk 11,49 zugleich die weisheitlichen Boten, die zu diesem Geschlecht gesandt sind. Dieses Geschlecht, dessen Wort- und Meinungsführer wahrscheinlich die Pharisäer und Schriftgelehrten sind, weist sie ab, indem es sie verfolgt. Der Grund der Verfolgung dürfte auf den von beiden Seiten erhobenen Anspruch auf die Weisheit (Gottes) zurückgehen.

b) Q-Lk 13,34f Das oben gewonnene Bild vom Sitz im Leben der Vorstellung von Gott als Mutter lässt sich unter Heranziehung von Q-Lk 13,34 ergänzen.

160

IKor 1,22: „Denn die Juden fordern Zeichen, und die Griechen fragen nach Weisheit." Q-Lk 11,29: „... es (sc. dieses Geschlecht) fordert ein Zeichen 11,31: „Die Königin vom Süden wird im Jüngsten Gericht gegen die Leute dieses Geschlechts auftreten ... denn sie kam vom Ende der Welt, um die Weisheit Salomos zu hören."

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Zunächst zum Bild der zwei Konfliktparteien: Im ersten Satz des v34 sind unverkennbar zwei gegenüberstehende Parteien festzustellen: Jerusalem auf der einen Seite und die Propheten sowie Gesandten auf der anderen Seite. Gegenüber stehen sich also Verfolger und Verfolgte, ein Schema, das dem oben Gesagten entspricht. Interessant ist das Tempus: Wie schon erwähnt, stehen die Partizipien, die diesen Konflikt beschreiben, im Präsens. Die Konflikte, die bereits in der Vergangenheit in Erscheinung traten, begegnen noch heute. Das heißt, die weisheitlichen Propheten und Gesandten werden wie früher (wie Johannes der Täufer und Jesus) noch heute gesandt und verfolgt.161 Stimmt man unserer obigen Ansicht zu, dass hier die Weisheit redet und die weisheitlichen Boten zugleich die Kinder der Weisheit sind, dann können wir die Verfolgten mit den weisheitlichen Kindern identifizieren. Wer aber sind die Verfolger? Ist es die Stadt selbst, sind es ihre Einwohner oder ist es darüber hinaus eine andere Größe? Es gilt hier also die Frage zu beantworten, was das Wort 'Jerusalem' meint. Zu ihrer Beantwortung ziehen wir zwei Texte zum Vergleich heran. Der erste Text stammt aus der Logienquelle (Lk 10,13-15): „Weh dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida! Denn wären solche Taten in Tyrus und Sidon geschehen sind, sie hätten längst in Sack und Asche gesessen und Buße getan Und du, Kapernaum, wirst du etwa bis zum Himmel erhoben werden? In die Hölle wirst du hinuntergestoßen werden." Die Relevanz dieses Textes besteht vor allem darin, dass dort die Städte mit dem Pronomen 'du' angeredet werden. Die Personifizierung der Städte ist jedoch nicht die einzige Gemeinsamkeit der beiden Texte (Lk 10,13-15 und Lk 13,34f). In beiden Texten werden die Städte aufgrund

161

Der Tempuswechsel vom Präsens zum Aorist in v34 ist damit zu erklären, dass er hier zur Aufforderung an die Kinder Jerusalems zu einer dringenden Entscheidung zugunsten der weisheitlichen Boten dient. Durch Benutzung des Aorist-Tempus wird den Hörern mitgeteilt, dass die Geduld der Weisheit nun zu Ende gegangen ist. Die Hörer müssen sich daher dringend entscheiden, damit sie noch vor dem angekündigten Verlassen der Weisheit ihre Kinder werden können. Für diese Interpretation spricht, dass das Verlassen der Weisheit noch nicht geschehen ist - sonst würde wiederum ein Aorist gebraucht -, sondern als bevorstehendes geschildert ist - also im Präsens, das als unmittelbares Futur (vgl. Bovon, Lk II, 456) zu verstehen ist.

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ihres Fehlverhaltens verurteilt. Aber gerade hier liegt m.E. der entscheidende Unterschied zwischen ihnen: In Q-Lk 10,13-15 wird keine Differenzierung zwischen den personifizierten Städten und den Menschen, die in ihnen wohnen, vorgenommen; alle dort genannten Städte repräsentieren zugleich ihre Einwohner, während das in Q-Lkl3,34f nicht der Fall ist: Hier werden Jerusalem und ihre Kinder (wohl die Einwohner) voneinander unterschieden. Unter dem „Jerusalem" in Lk 13,34 sind also nicht einfach die Einwohner dieser Stadt zu verstehen. Als zweiter Text sei Bar 4,5-5,9 zum Vergleich herangezogen: „Sah ich (sc. Jerusalem) doch die Wegfuhrung meiner Söhne und Töchter, die der Ewige über sie gebracht hat" (Bar 4,10). „Niemand freue sich über mich, die Witwe Gewordene und von so vielen Verlassene', vereinsamt bin ich wegen der Sünden meiner Kinder, weil sie abwichen von Gottes Gesetz, seine Satzungen nicht anerkannten, noch wandelten auf den Wegen der Gebote Gottes, noch die Pfade der Zucht in seiner Gerechtigkeit betraten" (vvl2f). „Ihr vergaßt den, der euch ernährte, den ewigen Gott, betrübtet auch, die euch auferzogen, Jerusalem" (v8). „... ausgezogen habe ich das Kleid des Heils und angelegt den Sack meines Trauergebetes, ich schreie zum Ewigen mein Leben lang" (v20). denn sie (sc. Jerusalem) sah den Zorn, der von Gott her auf euch herabkam und sprach: Hört, die ihr um Zion her wohnt, großes Leid hat Gott über mich gebracht" (v9).162 Der Baruch-Text ist zum Vergleich besonders geeignet, weil dort sowohl Jerusalem und ihre Kinder (Söhne und Töchter: vlO)163 als auch der Ausdruck 'verlassen' (vl2) vorkommen. So deutlich die Gemeinsamkeiten sind, so deutlich ist aber auch der Unterschied: In Bar 4,5ff wird nichts Negatives gegen Jerusalem gesagt; Jerusalem ist dort diejenige, die ihre Kinder großgezogen hat (v8) und um ihre Kinder besorgt ist 162

Übersetzungen von A.H.J. Gunneweg, Das Buch Baruch, in: Unterweisung in lehrhafter Form, JSHRZ III, Gütersloh 1975, 177-180. 163 Auch 4,12.15.16.21.25.26.32.37; 5,5.

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(v20), ihre Kinder dagegen sind es, die durch ihr Fehlverhalten vom Gesetz Gottes abgewichen sind (vi3) und den Zorn Gottes auf sich gezogen haben (v9). Jerusalem wird also positiv dargestellt, ihre Kinder dagegen negativ. Anders in Q-Lk: Hier wird Jerusalem zwar negativ, ihre Kinder aber nicht ganz so negativ, sondern etwas abgemildert beurteilt: Jerusalem wird wegen seiner negativen Handlungen, wegen der Tötung von Propheten, verworfen, nicht aber die Kinder Jerusalems; ihnen wird (zusammen mit Jerusalem) lediglich gesagt, dass sie sich von der Weisheit nicht wie Küken sammeln ließen. Angesichts der beobachteten Unterschiede im Sprachgebrauch von Q-Lk 13,34 liegt es nahe, dass unter Jerusalem diejenigen zu verstehen sind, die Macht über das Volk Israel haben. In diesem Fall wären die Kinder Jerusalems die einfache Bevölkerung Israels. Dafür sprechen zwei Überlegungen: 1) Jerusalem repräsentiert traditionell ohnehin das ganze Volk Israel.164 Selbst das Beispiel Bar macht deutlich, dass die dort angewandten Wörter 'Jerusalem' und 'ihre Kinder' das ganze Volk Israel meinen. Dies hängt wohl damit zusammen, dass Jerusalem der Ort des Tempels und der Sitz der Könige Israels war. 2) Nach v34 verfugt Jerusalem über die Macht, jemanden zu töten und steinigen. Diese Macht zur Gewaltanwendung steht allein den Machthabenden zu. Das heißt, mit Jerusalem ist hier der Kreis gemeint, der im Volk Israel die Macht hat.165 Ein ähnlicher Sprachgebrauch begegnet auch in Lk 19,41-44. Zwar wird dort Jerusalem nicht ausdrücklich genannt, aber alles, was zu Jerusalem (im Text zu „der Stadt") gesagt wird, lässt sich als an die Machthabenden in Jerusalem und damit in Israel gerichtet verstehen: Jerusalem (d.h. seine Machtelite) hat nicht erkannt, was zum Frieden dient (v41) und hat auch nicht die Zeit erkannt, in der es heimgesucht worden war (v44), darum wird Jerusalem (seine Machtelite) samt den Kindern (den Untertanen der Machthabenden) von den Feinden besiegt werden (w43f)·

Wer ist dann konkret dieser Kreis? Zu ihm können die Pharisäer und Schriftgelehrten zwar gehören, aber sie sind mit ihm nicht gleichzuset164

In den Synoptikern z.B. Lk 2,38: Mit der Erlösung Jerusalems ist die des ganzen Israel gemeint. 165 Als Sitz des Israel führenden Kreises ist Jerusalem besonders bei Mk beschrieben. Pharisäer bzw. Schriftgelehrte kommen nach Mk aus Jerusalem (Mk 3,21; 7,1).

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zen. Für die (politische) Macht ist eigentlich eine andere Gruppe zuständig: die Sadduzäer. Dass sie an Macht überlegen sind, zeigt sich in Apg 9, lf (26,10): Der Pharisäer Paulus benötigt nach Darstellung der Apostelgeschichte vom Hohenpriester, für dessen Amt die sadduzäische Gruppe zuständig war, eine Genehmigung dafür, gegen Christen quasi hoheitliche Gewalt auszuüben. Damit gewinnen wir ein konkretes Bild von der Front, mit der die Kinder der Weisheit zu tun haben: Sie besteht aus der einfachen Bevölkerung, deren Wort- und Meinungsführern, den Pharisäern und Schriftgelehrten, und schließlich aus Sadduzäern, den Aristokraten. Zum Schluss stellen wir die Frage, ob in Q-Lk 13,34f auch Hinweise darauf zu finden sind, dass die beiden Konfliktparteien Anspruch auf die Weisheit Gottes erheben und darum in Konflikt geraten. Zur Beantwortung der Frage ist ein Text aus Sir heranzuziehen, ein Buch, das wohl auf sadduzäische Kreise in Jerusalem zurückgeht bzw. auf Vorläufer der Sadduzäer. Der gemeinte Text ist Sir 24, wo über die Weisheit und ihre Beziehung zu Jerusalem geschrieben steht. „Ich (sc. die Weisheit) bin hervorgegangen aus dem Munde des Höchsten und wie ein Nebel hüllte ich die Erde ein. Ich wohnte in den höchsten Höhen, und mein Thron stand auf einer Wolkensäule "(24,3-4). „Da befahl mir der, der das All erschaffen hat und der, der mich erschuf, ließ mein Zelt einen Ruheplatz finden, und sprach: In Jakob schlage ich dein Zelt auf, und in Israel sei dein Erbteil!" (24,8). „Im heiligen Zelt vor ihm diente ich, und so wurde ich auf dem Zion fest eingesetzt. In der Stadt, die er in gleicher Weise liebt, ließ er mich ruhen, und in Jerusalem liegt mein Machtbereich. Und ich schlug Wurzeln in einem gepriesenen Volke, im Anteil des Herrn, dem seines Erbbesitzes" (24,10-12). „Ich bin Mutter der schönen Liebe und der Furcht und der Erkenntnis der heiligen Hoffnung, (Ich gebe aber allen meinen Kindern ewiges Werden, denen, die von ihm genannt sind)" (24,18).166 166

Übersetzungen von G. Sauer, Jesus Sirach, 565.

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Aus dem zitierten Text geht unmissverständlich hervor, dass Jerusalem der Sitz der Weisheit ist.167 Sie regiert von Jerusalem aus ganz Israel (siehe die von mir kursiv gesetzten Verse 10-12). Versucht man dies auf einer anderen Betrachtungsebene zu interpretieren, dann lässt sich Folgendes sagen: Hinter diesem Text steht wohl eine Gruppe von Menschen, die an der Legitimation ihres Regierens in Jerusalem interessiert ist. Sie sucht die gewünschte Legitimation durch die Vorstellung, dass die Weisheit Gottes ihren Sitz in Jerusalem genommen habe, welches zugleich bedeutet, dass die Regierenden in Jerusalem - seien es Könige, Aristokraten oder Geistliche die Weisheit Gottes besitzen. Mit dieser Einsicht vor Augen werfen wir nun noch einmal einen Blick auf Q-Lk 13,34f: Als erstes ist es auffällig, dass gerade der Wohnort der Weisheit als Ort der Verfolgung von Propheten und Gesandten, kurz, von weisheitlichen Boten kritisiert wird (v34). Die Pointe des Verses ist klar: Jerusalem, der Führungskreis des Volkes Israel, ist nicht imstande, die Kinder der Weisheit stellvertretend zu sammeln, weil dieser Führungskreis ständig gegen den Willen der Weisheit ihre Boten misshandelt, die mit der Aufgabe kamen, ihre Kinder zu sammeln. Als zweites ist zu beobachten, dass Jerusalem ein geheimnisvolles Verlassen-werden prophezeit wird. Fasst man das Gerichtswort „euer Haus wird euch wüst verlassen" als Aussage dafür auf, dass Gott Jerusalem verlassen wird, 168 dann bedeutet dies den endgültigen Bruch der Weisheit mit ihrem Wohnort. Damit würde die Legitimität des Jerusalemer Führungskreises von Grund auf in Frage gestellt. 169 Denn die Weisheit, deren Wohnen in Jerusalem die Legitimationsbasis der Macht des Jerusalemer Führungskreises bildet, verlässt Jerusalem. 167

Dass die Weisheit in Jerusalem ihren Wohnsitz einnimmt, wird außer Sir 2 4 nur noch in 1 IQ Ps XV1I1, 2 0 bezeugt. Dort heißt es: „Er stellt auf ihre Wohnung in Zion und stellt sie hin in Ewigkeit in Jerusalem" (Übersetzung von Christ, Sophia, 40). 168

In der Exegese ist umstritten, wie „euer Haus" auszulegen ist: Ist damit Gottes Haus gemeint? Oder die Stadt Jerusalem? (vgl. Bovon, Lk II, 4 5 6 f ) · Oder schließlich im weiteren Sinne das ganze Israel? Näheres darüber bei Gnilka, Das Matthäusevangelium, Zweiter Teil, HThK I, Freiburg u.a. 1988, 303f, zur Debatte dort Anm. 34. 169

Der Gegensatz zwischen Prophetie und weisheitlich orientiertem Führungskreis ist schon in atl. Zeit spürbar (G. Fohrer, Art. σ ο φ ί α in: T h W N T VII, 4810-

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Fassen wir Q-Lk 13,34f so auf, dann stellt der Text den Anspruch auf den Besitz der Weisheit von Seiten ihrer Kinder, der Boten der Weisheit, dar. Gerade hier zeichnet sich das Bild ab, das wir suchten: Beide Konfliktparteien erheben einen konkurrierenden Anspruch auf Besitz der Weisheit. 170 Der Text Lk 13,34f darf als Ganzer allerdings nicht nur als Unheilswort verstanden werden, wie M. Sato171 es tut. Der Versteil 35b „... Ihr werdet mich nicht mehr sehen, bis die Zeit kommt, da ihr sagen werdet: Gelobt ist, der da kommt in dem Namen des Herrn!" lässt ja die Möglichkeit offen, dass das Volk Israel doch noch zur Umkehr gelangen wird. Das kann kaum ein vergebliches Begrüßungswort der Ungläubigen sein, sondern ein positives Begrüßungswort derjenigen, die sich über die Wiederkunft ihres Herrn freuen.172 Dass das Wort eigentlich als Segenswort fur die Einziehenden beim Tempel- und Laubhüttenfest benutzt wurde, muss bei seiner Interpretation berücksichtigt werden.173 In Lk 13,34f zeichnet sich eine Praxis von Wandercharismatikern ab, die mit ständiger Ablehnung konfrontiert wurden, aber ihre Hoffnung nicht aufgaben.174

170

Hier zu erwähnen ist die zutreffende Beobachtung von K. Berger und C. Colpe, Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament, NTD.GNT 1, Göttingen u.a. 1987, 111, dass in unserem Text „zwei konkurrierende Mütter" zu finden sind. 171 Q, 157f. 172 Auch Catchpole, Quest, 273f, sieht in Anlehnung an D. Allison, 'Matt. 23:39 = Luke 13:35b' as a conditional Prophecy,' JSNT 18 (1983), 75-84, in v35b eine positive Hoffnung. 173 Eine positive Bedeutung des Begrüßungswortes nimmt auch H. van der Kwaak, Die Klage über Jerusalem (Matth. XXIII 37-39), NT 8 (1966), 156-170, dort 166, an. Interessant ist seine Ansicht, v39 (Lk 13,35b) sei so zu verstehen, dass die Wiederkunft des Herrn von seiner Anerkennung durch die jetzt noch Ungläubigen abhängig gemacht wird. Mit seinen Worten: „... ich möchte folgende Übersetzung vorschlagen: 'denn ihr werdet mich von jetzt an nicht mehr sehen bis ihr (anerkennend) sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn' (Die Trennung wird erst aufgehoben werden, wenn ihr mich als den Messias anerkennen werdet)." Hier ist kritisch zu fragen, wie dann die Aussage in Mt 10,23 mit seinem Verständnis von 23,39 inhaltlich zu vereinbaren ist: Wie können die Israeliten den Herrn als Messias anerkennen, wenn doch die Mission in allen Städten Israels bei seiner Wiederkunft noch nicht abgeschlossen sein wird? Oder denkt van der Kwaak nur an die Ungläubigen in Jerusalem? 174 Vgl. SchottroffStegemann, Jesus, 84-88.

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Exkurs: Der Heilandsruf in Mt 11,28-30 Haben wir uns in diesem Teilkapitel mit der Vorstellung von Gott als Weisheit (Mutter) beschäftigt, so ist es sinnvoll, an dieser Stelle auch den Heilandsruf in Mt 11,28-30 zu behandeln. Denn zum einen gilt dieser „Heilandsruf' als Ruf der Weisheit, zum anderen als eine Überlieferung, die entweder zu Q gehört oder zumindest in einer gewissenen Nähe zu Q (Q-Matthäus ?) steht. Dass Mt 11,28-30 der Logienquelle Q nahesteht bzw. zu ihr gehört, dafür spricht vor allem eine zweifache, sprachliche Beobachtung.175 1) Die Vokabeln weisen eine gewisse Nähe zu Q bzw. zu Texten, die möglicherweise zu Q gehören, auf: κοπιάω (vgl. Mt 6,28/Lk 12,27), φορτίζω bzw. φορτίον (vgl. Mt 23,4/Lk 11,46), πραυς (vgl. Mt 5,5), (ταπεινός) τη Kap5iqt(vgl. Mt 5,8); 2) Es finden sich nicht wenige unmatthäische Vokabeln (ζυγός, κοπιάω, άνάπαυσις, χρηστός, ελαφρός). Dass sich im LkEv dieses Logion nicht findet, geht wohl nicht auf Auslassung durch den Evangelisten Lukas, sondern darauf zurück, dass die Q-Vorlagen der beiden Evangelisten Mt und Lk zum Teil unterschiedlich waren.

Dass es sich bei Mt 11,28-30 um einen Ruf der Weisheit handelt, geht aus Paralleltexten, z.B. Sir 24,19; 51,23176 hervor. So ist auch Mt 11,2830 ein Ruf der Weisheit, der durch ihren Boten Jesus ergeht. Für unser Thema relevant sind die Adressaten dieses weisheitlichen Rufes: Es sind die 'Mühseligen und Beladenen' Mit den Mühseligen sind diejenigen gemeint, die „harte Arbeit leisten müssen, die sich abmühen und abrackern, die sich in angestrengter Arbeit verausgaben und erschöpfen und davon müde werden", und mit Beladenen diejenigen, die „schwere Lasten zu schleppen haben" 177 Die Adressaten sind also die mit ihrem Körper arbeitenden Menschen. An die religiösen Eliten, die traditionell die Adressaten der Weisheit sind, wird hier offensichtlich nicht gedacht. Sie widmen sich ja nicht körperlicher Arbeit. Handarbeit wird von ihnen sogar verachtet (Sir 51,27 LXX). 178 Diese Adressatenänderung führt un175

Vgl. Sato, Q, 51. Sir 24,19: „Kommt her zu mir, die ihr mich begehrt, und an meinen Früchten sättigt euch!"; 51,23: „Wendet euch mir zu, ihr Ungebildeten " Beide Übersetzungen von G. Sauer, Jesus Sirach, 567. 637. 177 K. Wengst, Demut - Solidarität der Gedemütigten. Wandlungen eines Begriffes und seines sozialen Bezugs in griechisch-römischer, alttestamentlichjüdischer und urchristlicher Tradition, München 1987, 71. 178 Vgl. Theißen, Wertrevolution, 354. 176

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vermeidbar dazu, dass die Besitzansprüche der traditionellen Adressaten auf Weisheit von den neuen Adressaten nicht anerkannt werden und dadurch Konflikte entstehen. Gerade diese Situation spiegelt sich in den Texten über die Weisheit und ihre Kinder in Q wider, wie wir oben sahen. Führt man den Heilandsruf auf den historischen Jesus zurück, so ist der Konflikt zwischen den genannten beiden Parteien bereits in der Lehre Jesu vorprogrammiert. Im gleichen Zusammenhang ist der im MtEv dem Heilandsruf vorangestellte Vers (Mt 11,23) aus Q zu erwähnen: „... Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du das den Weisen und Klugen verborgen und den Unmündigen offenbart hast." Gegenübergestellt sind hier die Weisen und Klugen, die als die religiösen Eliten gelten, und die Unmündigen, die keineswegs solche Eliten sind.179 Hier ist das Gleiche zu beobachten: Den traditionellen Eliten wird der Zugang zur göttlichen Offenbarung nicht gewährt, aber diejenigen, die dazu nicht würdig genug waren, erhalten einen privilegierten Zugang zu ihr.

Zusammenfassung Durch die bisherigen Untersuchungen sind wir zu folgenden Ergebnissen gelangt: Zwei Vorstellungen, welche die Beziehung zwischen Gott und Mensch mit familiären Begriffen darstellen, sind in Q zu finden: die eine ist die Vorstellung von Gott als Vater, die in den Texten Q-Lk 11,2-4; 11,9-13; 12,22-31 und 6,27-36 bezeugt ist, und die andere die Vorstellung von Gott als Weisheit und Mutter, die in den Texten Q-Lk 7,31-35 sowie 13,3 4f begegnet. In der erstgenannten Vorstellung lassen sich zwei Gottesbilder feststellen: Gott ist seinen Kindern ein fursorgender Vater (Q-Lk 11,2-4; 11,913; 12,22-31) und zugleich ein nachzuahmender Vater mit königlicher Hoheit (Q-Lk 6,27-36). Der Sitz im Leben dieser Vorstellung ist das Wanderleben der Nachfolger Jesu. Vor allem textinterne Indizien sprechen dafür. Die Wandercharismatiker durften durch die Vorstellung von Gott als Vater in ihrem Wanderleben die Geborgenheit und Sicherheit finden, die in der Antike eine Familie zu gewähren vermochte, die aber die Wandercharismatiker als Menschen, die ihre Familie verlassen hatten, entbehren mussten: Die Geborgenheit und Sicherheit gewährte ihnen Gott, der Vater selbst. Darüber hinaus verlieh die Vorstellung von Gott als Vater ihnen das Bewusstsein, die (künftigen) Mitherrscher im Reich 179

Vgl. Luz, Mt II, 206.

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Gottes zu sein (Q-Lk 22,29f). Denn sie waren ja Kinder Gottes, dem das Reich gehört. Die zweitgenannte Vorstellung von Gott als Weisheit und Mutter weist folgende drei Eigenschaften auf: 1) Gott ruft als Mutter ihre Kinder durch ihre Boten zu sich. 2) Dieser Ruf wird aufgrund menschlichen Versagens stets von Konflikten begleitet und stößt auf Ablehnung. 3) Um Kinder der Weisheit zu werden, ist die Aufliahme der weisheitlichen Boten, insbesondere des Boten Jesus selbst, entscheidend. Die Untersuchung des Sitzes im Leben dieser Vorstellung, insbesondere der beiden für sie wesentlichen Elemente ('Kinder der Weisheit' und 'dieses Geschlecht'), ergab, dass hinter dieser Vorstellung Konflikte stehen, in die einerseits die Kinder der Weisheit, die zugleich deren Boten sind, und andererseits dieses Geschlecht aufgrund des von beiden Seiten erhobenen Anspruches auf Weisheit geraten sind. Zu diesem Geschlecht gehören dabei als Wort- und Meinungsführer die Pharisäer und Schriftgelehrten und als Machthaber die Sadduzäer. Bei den Konflikten mit ihm werden die Kinder der Weisheit, die wohl mit den Wandercharismatikern identisch sind, von diesem Geschlecht verfolgt und getötet. Wie gesehen, stehen hinter beiden Vorstellungen von Gott Wandercharismatiker als gemeinsamer Nenner. 180 Der Unterschied dabei ist wohl der: In der Vorstellung von Gott als Vater spiegelt sich das Wanderleben der Charismatiker im Allgemeinen wider, während in der Vorstellung von Gott als Mutter ein spezieller Fall des Wanderlebens der Charismatiker durchschimmert: ihre Ablehnung und Verfolgung durch die Umwelt. Dass die familia-dei-Vorstellung in der Logienquelle nur durch die vertikalen Beziehungen zwischen Gott und Menschen geprägt ist, hängt wohl 180

Eine enge Verbindung zwischen der Vorstellung der Gotteskindschaft und (dem Besitz) der Weisheit findet sich bereits in der weisheitlichen Tradition. So z.B. in SapSal 2,13: „Er behauptet, Erkenntnis Gottes zu haben, und rühmt sich, Gottes Kind zu sein." Auch nach Sir 51 ist der Betende, der Gott als „mein Vater" anredet (vlO), zugleich der, der seine gewonnene Weisheit nun weiter geben will (vvl3ff, besonders 23). Aufschlussreich sind auch Sir 4,1 Of, wo zunächst von Gotteskindschaft und dann von der Kindschaft der Weisheit die Rede ist: „... so wird Gott dich Sohn nennen, und er wird dir gnädig sein und wird dich herausreißen aus der Grube./Die Weisheit lehrt ihre Söhne und bezeugt sich allen, die in sie Einsicht haben wollen." Die Anwendung der beiden Vorstellungen, die von Gott als Vater und als Mutter, in Q dürfte wohl mit diesen weisheitlichen Traditionen eng zusammenhängen.

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eng mit ihrem Sitz im Leben im Wandercharismatikertum zusammen. Noch fehlt eine bewusste Thematisierung der horizontalen Beziehungen zwischen den Gliedern der familia dei als Brüdern und Schwestern.

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Drittes Kapitel: Die Vorstellung der familia dei im MkEv Das MkEv ist die erste Schrift im Urchristentum, die uns in Form einer zusammenhängenden Erzählung über Jesus überliefert ist. Darin unterscheidet sich das MkEv von der Logienquelle. Ob dieser Unterschied für die Untersuchung der familia dei in den synoptischen Evangelien Konsequenzen hat, werden wir im Lauf bzw. am Schluss der Untersuchung zu überlegen haben. Das MkEv überliefert zur Vorstellung der familia dei drei relevante Texte, Mk 3,(20f.) 31 -35 1 ; 10,28-31; 11,25. Von diesen Texten werden wir die beiden ersten Texte ausführlich betrachten, während der dritte außer Acht bleiben wird, weil er für unseren Zweck m.E. wenig ergiebig ist. Das einzige für uns Wichtige in ihm ist, dass die mk Gemeinde Gott als Vater verstanden hat. 2 Die Vatermetaphorik wird ferner durch Mk 13,32 und 14,36 für das MkEv bezeugt. Sie ist indirekt auch in den Texten vorhanden, die wir im Folgenden besprechen.

/. Mk 3,31-35 Mk 3,31-35 ist ein Text, aus dem die Entwicklung der familia-deiVorstellung im MkEv deutlich hervorgeht. In ihm selbst ist ausdrücklich zwar nur von der neuen Famile Jesu die Rede, aber wenn man den Kontext berücksichtigt vor allem Mk 1,1.11; 3,11, wo Jesu Gottessohnschaft bekannt wird -, dann versteht sich von selbst, dass die neue Familie Jesu mit der familia dei identisch ist, weil Jesus Gottes Sohn und damit seine Familie die Familie Gottes ist. Da wir uns nicht nur für die mk Vorstellung der familia dei, sondern auch für deren geschichtliche Entwicklung interessieren, ist es zweckmäßig, mit einer diachronischen Un1

Ob w 2 0 f hierzu gehört, wird unten zu behandeln sein.

H.F.D. Sparks, The Doctrine o f the Divine Fatherhood in the Gospels, in: D.E. Nineham (Hg.), Studies in the Gospel, Essays in Memory o f R.H. Lightfoot, Oxford 1957, 2 4 1 - 2 6 2 , will in Mk 11,25 eine Interpolation aufgrund des Matthäustextes sehen. Rusam, Gotteskindschaft, 92f, kritisiert seine These zu Recht mit folgenden Argumenten: 1) Es fehlt sowohl die textkritische Grundlage für die Annahme einer Interpolation, als auch ein Grund, warum Mk 11,25 an der jetzigen Stelle interpoliert worden sein soll. 2 ) V 2 5 steht mit v24 durch das Thema 'Gebetserhörung' in einem Zusammenhang: Das in beiden Versen zu findende Verbum προσεύχεσθαι verklammert die beiden Verse, v25 dient im jetzigen Kontext als zweite Bedingung für die Gebetserhörung. 2

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tersuchung zur Vorgeschichte unseres Textes zu beginnen. Dabei geht es nicht um eine Rekonstruktion des ursprünglichen Wortlauts, sondern lediglich um den Nachweis einer geschichtlichen Entwicklung des Erzähltextes vor seiner Endfassung.

(1) Diachronische Überlegung Der Ausgang für eine diachronische Untersuchung des Textes ist die Beobachtung, dass zwischen vv31-34 und v35 eine Spannung vorhanden ist. Sie besteht darin, dass 1) die neue Familie Jesu nach v32 sowie v34 eine bestimmte Menge von Menschen umfasst, nämlich die, 'die um ihn herum waren', während sie nach v35 für alle, die 'Gottes Willen tun', offen steht,3 und dass 2) die Reihenfolge der Familienglieder (Mutter Brüder), die in vv 31-34 vorliegt, in v35 geändert und sogar durch ein neues Element4 ergänzt wurde (Bruder - Schwester - Mutter). Aufgrund von 1) wurde in der Exegese zu Recht angenommen, dass die beiden Teiltexte ursprünglich nicht zusammengehörten.5 In der Frage allerdings, welcher von beiden Teilen ursprünglich war bzw. wie der eine sich zu dem anderen verhält, gehen die Meinungen der Exegeten auseinander. Während Dibelius in v34 den urspünglichen Schluss der Geschichte w31-34 und in v35 ein sekundär angehängtes Predigtwort sieht,6 meint Bultmann,7 v35 sei das ursprüngliche Jesuswort und w31-34 eine sekun3

Im Gegensatz dazu sieht H.H. Schroeder, Eltern und Kinder in der Verkündigung Jesu, ThF 53, Hamburg-Bergstedt 1972, 120, hier eine Verengung des in v34 geschilderten Personenkreises um Jesus, weil der Ausdruck 'Gottes Willen tun' sich auf einen engen gesetzestreuen Kreis beziehen könne. Gegenargumente dazu s.u. 4 Das Problem der Lesart 'Schwestern' in v32 wird unten in Anm. 10 besprochen. 5 Z.B. E. Klostermann, Das Markus-Evangelium, HNT 3, Tübingen 4 1950, 38; E. Lohmeyer, Das Evangelium nach Markus, KEK 1/2, Göttingen 16 1963, 80; W. Grundmann, Das Evangelium nach Markus, ThHK II, Berlin 1959, 115. Die Ansicht, Mk 3,31-35 als ein ursprünglich zusammengehöriges Stück anzusehen, wird gelegentlich auch vertreten. Dazu s.u. Anm. 16. 6 M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 1933, 60f. 7 Bultmann, Geschichte, 29. J. Lambrecht, The Relatives of Jesus in Mark, NT 16 (1974), 241-258, dort 249-251, übernimmt im Grunde diese Ansicht, geht jedoch einen Schritt weiter, indem er behauptet, dass der Evangelist Markus für die Bildung von v31-34 verantwortlich sei. Gegenargumente s.u. (vgl. auch Anm. 11).

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däre Erweiterung, die den Inhalt des Logions v35 in einer idealen Szene darstelle. 8 Gegen Bultmann 9 spricht die Schwierigkeit, die oben unter 2) genannte unterschiedliche Nennung der Familienangehörigen einschließlich ihrer veränderten Reihenfolge zu erklären. Wenn die Szene ( w 3 1 34) nach dem Wort v35 gestaltet wurde, warum werden dann z.B. im szenischen Teil immer zuerst die Mutter und dann die Brüder genannt, nie aber die Schwestern, 10 obwohl die Schwester nach v35 aufgrund ihrer Stellung vor der 'Mutter' noch wichtiger als diese zu sein 11 scheint? Aus demselben Grund ist die traditionsgeschichtliche Erklärung J. Sauers12 abzulehnen, dass v35 das ursprüngliche Logion ausmacht, dem nacheinander v33 sowie v32b, dann v31, 13 und schließlich - vom Evangelisten14 - v34 sowie v32a hinzugefügt worden sei: V33b steht im Gegensatz zu seiner Behauptung keineswegs „in formaler Korrespondenz zu v35" - v33b hätte dann „wer ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter?" lauten müssen. Auch bei v32b stellt 8

Diese beiden Ansichten bestimmen die Forschung bis jetzt. F. Hauck, Das Evangelium des Markus (Synoptiker I), ThHK II, Leipzig 1931, 49, äußert sich auch gegen Bultmanns Meinung: „Die anschauliche Szene, aus der das Wort Jesu naturgemäß herauswächst, hat man schwerlich bloß als 'ideale Szene' (Bultmann) zu betrachten." 10 Eine Lesart mit 'Schwestern' ist für v32 allerdings in einigen wenigen Handschriften (z.B. A D 700 1010) belegt. Diese Lesart dürfte wegen v35 entstanden sein (Näheres s.u. Anm. 38). Diese Erklärung wiegt m.E. schwerer als die Überlegung, dass der Textzeuge D antifeministische Tendenz aufweist und daher seine Lesart nicht einfach zu ignorieren ist. Die Lesart ohne 'Schwestern', wie z.B. von Kodex Β für v32 bezeugt wird, dürfte also mit großer Wahrscheinlichkeit die ursprüngliche sein. 11 Die Erklärung von Lambrecht dazu reicht nicht aus: „The expansion to three terms (+ sisters) as well as the inversion of the sequence in v.35 may well be occasioned by the fact that v.35 functions as the solemn concluding saying" (Relatives, 250 Anm. 23). 12 Rückkehr und Vollendung des Heils. Eine Untersuchung zu den ethischen Radikalismen Jesu, PhTh 9, Regensburg 1990, 153-157, besonders 154f. 13 Sauer, Rückkehr, 156, möchte hinter dieser traditionsgeschichtlichen Entwicklung das Problem „einer Rivalität zwischen Judenchristen und Heidenchristen hinsichtlich der Frage, wer Jesus näher steht" sehen. Diese Annahme Sauers lässt sich jedoch im Text nirgends bestätigen, sie basiert auf einer bloßen Vermutung. Im Text wird nicht die nationale Bindung Jesu, sondern seine familiäre Bindung relativiert! 14 Dazu s.u. Anm. 29. 9

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sich die Frage, warum die Reihenfolge „Bruder-Schwester-Mutter" abgeändert worden ist - eine Frage, die sich Sauer hätte stellen müssen, um seine traditionsgeschichtliche Erklärung akzeptabel zu machen. Hinzu kommt, dass Sauer nicht auch nicht um seine Ansicht zu untermauern - die Möglichkeit diskutiert, dass v35 dem Text hinzugefugt worden sein könnte. Wenn er sagt, 15 dass v35 „in einer allgemeinen, von der konkreten Situation unabhängigen Sentenz" besteht, während v34b „eine auf die vorher beschriebene Szene bezogene Antwort" gibt, so drängt sich die Frage gerade auf, ob v35 eine Hinzufügung zum übrigen Text gewesen sein könnte.

Was die Entwicklung der Tradition des Textes anbetrifft, dürfte daher Dibelius 16 Recht haben: 17 v35 lässt sich als eine Anwendung und Abwandlung von w31-34 im Blick auf die Hörer 18 erklären, 19 wie unten gezeigt wird. 20

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Die beiden folgenden Zitate stammen aus Rückkehr, 154. V Taylor, The Gospel According to St. Mark, London u.a. 1957, 245, hält zwar Dibelius' Meinung für möglich, neigt jedoch eher dazu, dass die ganze Geschichte von w31-35 im Wesentlichen ursprünglich eine Einheit bilde, die wohl auf Augenzeugen zurückgehe (Davies/Allison, Mathew II, 364, schließen sich dieser Ansicht an). Etwas modifiziert äußert Schroeder, Eltern, 117-120, die Ansicht, dass die beiden Teile auf den historischen Jesus zurückgehen, wobei für ihre Ursprünge nicht mit einer einzigen Situation zu rechnen sei, und dass sie in der Überlieferungsphase von vornherein miteinander verbunden tradiert gewesen seien. Für die Zusammengehörigkeit der beiden Teile ( w 31-34 und ν 35) plädiert auch R. Pesch, Das Markusevangelium 1. Teil, HThK II, Freiburg u.a. 4 1984, 22 lf, und zwar mit der Begründung, dass „eine isolierte Tradierung des Logions v35 schwer vorstellbar ist." (so auch Davies/Allison). Im Gegensatz zu Taylor hält Pesch eine Sekundärerklärung der Szene ( w 31-34) für denkbar. Es wundert mich, dass das Argument, das sowohl Pesch als auch Davies/Allison nennen, gegen die Ansicht von Dibelius sprechen soll. Denn v35 ist nach Dibelius nicht als ein ursprünglich isoliertes Logion anzusehen. Außerdem ist mir rätselhaft, wie man die Unebenheiten, die oben erwähnt sind, erklären will, wenn Mk 3,31-35 als ein ursprünglich zusammengehöriges Stück anzusehen wäre. 16

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So auch J. Ernst, Das Evangelium nach Markus, RNT, Regensburg 1981, 121; Grundmann, Mk, 86; Gnilka, Mk I, 147; Marshall, The Gospel of Luke. A Commentary on the Greek Text, The New International Greek Testament Commentary, Exeter 1978,331. 18 Dibelius, Formgeschichte, 60, deutet diesen Vorgang so, es sei darum gegangen, „aus dieser einmaligen Situation einen allgemeinen Grundsatz zu gewinnen".

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(2) Historizität? Lassen sich w31-34 als eine ursprüngliche Einheit betrachten,21 die traditionsgeschichtlich älter ist als v35, dann liegt es nahe, nach der Historizität der Geschichte in w31-34 zu fragen. Die Geschichte an sich bietet zwar keinerlei konkrete historische Angaben. Jedoch hat sie einen eigenartigen Charakter. Sie berichtet, was in einer einmaligen Situation diejenigen, die um Jesus herum waren, für Jesus bedeuteten, ohne eine theologische Erklärung dafür zu geben. Das spricht m.E. für die Authentizität der Geschichte.22 Denn es ist schwer vorzustellen, dass eine Geschichte Jesu ohne theologische Implikation nur um des in ihr berichteten Geschehens willen erfunden und überliefert wurde. Gelingt es uns so, an den Ursprung der Tradition heranzukommen, dann ist Folgendes hinsichtlich der Vorstellung der familia dei festzuhalten: 1) Die Vorstellung der familia dei geht wahrscheinlich auf den historischen Jesus zurück. 2) Ihrer ursprünglichen Form nach ist sie nicht mit Gott verbunden, sondern mit Jesus, d.h. am Anfang steht die Vorstellung der Familie Jesu. 3) Diese Familie Jesu ist ein Ausdruck der Nähe Jesu zu denjenigen, die zu ihm kamen und ihn hörten, kurz gesagt, zu seinen Sympathisanten. Die Beziehungen unter seinen Sympathisanten werden in dem ursprünglichen Stück jedoch nicht thematisiert, d.h. von einer Gemeinschaft unter ihnen ist noch nicht die Rede, obwohl sie eine natürliche Folge ihrer gemeinsamen Beziehung zu Jesus wäre. 23

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E. Schweizer, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 1978, 42, schließt nicht aus, dass der erste Satz von v35 aufgrund seiner „schockierenden Offenheit" auf den historischen Jesus zurückgehen könnte. 20 Grundmann, Mk, 86, will v35 als ein selbständiges Logion betrachten, jedoch schließt er die Möglichkeit,, dass v35 auf Grund der Erzählung gebildet worden ist, nicht aus, widerspricht aber damit seiner eigenen Ansicht. 21 Damit ist jedoch nicht gemeint, dass w 3 1 - 3 4 als Ganze den ursprünglichen Wortlaut der Tradition ausmachen. 22 Gnilka, Mk I, 153, spricht sich auch für die Authentizität der Geschichte aus: „Die ursprüngliche Szene, der man eine historische Erinnerung nicht absprechen darf, wird zu einer idealen Szene." 23 Daraufkommen wir unten zurück.

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4) Für Jesus ist die neue Familie mit einem Bruch mit der leiblichen Familie verbunden, wie die Gegenfrage „Wer sind meine Mutter und meine Brüder?" in v33 signalisiert. Das Gleiche gilt aber nicht für seine Sympathisanten. Bei ihnen wird ein Bruch mit der leiblichen Familie nicht vorausgesetzt. Dies wird oft nicht klar herausgestellt, so dass der Eindruck entsteht, die Pointe von Mk 3,31-35 liege auf dem vorbildlichen Verhalten Jesu, der die Beziehung zu seiner leiblichen Familie abbricht.24 Die Bedingung, die Jesu Anhänger erfüllen müssen, um seine Verwandten zu werden, ist nach w31-34 aber nur die, dass sie um Jesus herum sitzen und ihm zuhören, m.a.W dass sie 'mit ihm sympathisieren' In v35 wird sie ausdrücklich genannt und präzisiert: Seine Anhänger sollen Gottes Willen tun. Jedoch gilt hier das Gleiche: Familienbruch wird als Forderung an die Sympathisanten Jesu nicht vorausgesetzt. 5) Aufgrund von 4) liegt es nahe, unter Jesu wahren Verwandten ortsansässige Sympathisanten zu verstehen. Für diejenigen, die im Unterschied zu ihnen Jesus im wörtlichen Sinne nachfolgten, gilt dagegen die Aufforderung zum Bruch mit der leiblichen Familie, wie sie in Q-Lk 14,26 formuliert wird. Ihr Verhältnis zu Jesus wird im MkEv mit der Bezeichnung 'Jünger' zum Ausdruck gebracht. Wir haben es bei der Familie Jesu dagegen mit Menschen zu tun, die an ihren Ort gebunden waren und mit Jesus sympathisierten, indem sie seine Worte hörten und seine Taten bewunderten. Gnilka meint, 25 dass das Volk 26 in unserem Text erst vom Evangelisten Markus in die Szene gebracht wurde, an dessen Stelle ursprünglich die Jünger gestanden hätten.27 Mt, der den ursprünglichen Kontrast zwischen den leiblichen Verwand-

24

So z.B. Schroeder, Eltern, 116-124; Barton, Disciples, 80f.85f. Siehe auch unten Anm. 27. 25 Ernst, Mk, 121, äußert die gleiche Meinung. 26 Das Thema 'das Volk im MkEv' ist eine exegetische Grundlage für die 'Minjung-Theologie', eine koreanische kontextuelle Theologie. Eine darauf eingehende exegetische Untersuchung bietet V Küster, Jesus und das Volk im Markusevangelium. Ein Beitrag zum interkulturellen Gespräch in der Exegese (BTS 28), Neukirchhen-Vluyn 1996. 27

Gnilka, Mk I, 152. Seine Ansicht fuhrt zu der Auslegung, hier Jesus als Vorbild fur die Jünger zu sehen, die aufgerufen sind, Brüder, Schwestern, Mütter usw. zu verlassen (ebenfalls D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, 77). M.E. liegt hier der Akzent nicht auf Jesus, der seine Familie

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ten und den Jüngern Jesu wiedergebe, habe dann den ursprünglichen Inhalt des Textes aufbewahrt.28 Seine Meinung ist jedoch aus folgenden Gründen zurückzuweisen: 1) Der Text bietet an sich keine Anhaltspunkte für seine Annahme: Weder der Erzählteil noch das Logion v35 stellt eine für die Jünger Jesu allein geltende Bedingung für die Aufnahme in die wahre Verwandtschaft Jesu dar. Jesus erklärt lediglich die um ihn herum Sitzenden zu seiner Familie (v31-34). 2) Teilt man unsere Ansicht, dass die Geschichte in ihrem Kern auf den historischen Jesus zurückgeht, dann wird man für den Evangelisten Mk nicht an solch einen großen Spielraum im Umgang mit seiner Tradition denken können, dass er eine ursprünglich für Jünger bestimmte Tradition einfach einer anderen Gruppe zuschreiben konnte. 3) Die auffallende Dublette von 'die um ihn herum saßen' (v34) und 'das Volk saß um ihn herum' (v32) und die Tatsache, dass es sich hier um mk Vorzugswörter handelt, lassen zwar an redaktionelle Arbeit denken, das heißt jedoch nicht, dass die redaktionelle Arbeit über die Formulierung hinaus auch den Inhalt geändert hätte. Man kann ja die Formulierung variieren, ohne eine inhaltliche Änderung vorzunehmen. Ursprünglich könnte einfach von der Menschenmenge die Rede gewesen sein, ohne dass näher beschrieben wurde, ob sie um Jesus herum oder ihm gegenüber saß. Die wohl vom Evangelisten Mk stammenden Formulierungen in v32 sowie v34 sind dann dadurch veranlasst, die indeterminierte und darum sehr offene Beschreibung der neuen Verwandten Jesu zu präzisieren.29 4) Wie lässt sich traditionsgeschichtlich erklären, dass Matthäus das ursprüngliche Traditionsstück aufbewahrt haben soll, während Markus und Lukas von ihm abwichen? Vielmehr lässt sich die mt Differenz als redaktioneller Eingriff des Evangelisten Mt erklären. Dafür spricht, 1) dass die Jünger Jesu im MtEv im Vergleich zu den anderen synoptischen Evangelien einen besonderen Akzent erhalten,30 2) dass der andere Seitenreferent den für jedermann offenen Charakter der familia dei, den der mk Text bezeugt, erhalten hat (Lk 8,21).

(3) Die Bedeutung des Verses 35: a) Offenheit Die Geschichte w 3 1 - 3 4 erfahrt allerdings durch die Hinzufügung v35 eine gravierende Änderung. Sie war von dem Gesichtspunkt geleitet, zu berichten, was diejenigen, die um Jesus herum waren, einmal für Jesus verlassen hat, sondern auf den Hörern, die aufgrund ihrer Sympathie mit Jesus seine wahren Verwandten werden. Besonders v35 unterstreicht dies. 28 Gnilka, Mk I, 152. 29 Diese Möglichkeit erwägt J. Sauer, Rückkehr, 153f, nicht und beurteilt infolgedessen - zu Unrecht - den ganzen Vers 34 (und v32a auch) als mk Zusatz. 30 Siehe auch unten im vierten Kapitel.

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bedeuteten,31 Und daher spricht sie unter ihren Hörern in der späteren Überlieferungsgeschichte niemanden direkt an. Dies wird durch v35 geändert: Der mit unbestimmtem Relativpronomen (ος) eingeleitete Vers macht deutlich, dass jeder ein wahrer Verwandter Jesu werden kann, wenn sie oder er nur die Bedingung, Gottes Willen zu tun, erfüllt. Das einmalige Geschehen von w 3 1 - 3 4 wurde mit Hilfe von v35 in einem 'Predigtwort' 3 2 verallgemeinert, das jeden Hörer 3 3 jederzeit anspricht. 3 4 Es ändert sich jedoch nicht nur die Funktion der Geschichte, sondern auch die Vorstellung von der Familie Jesu: Die Begriffe, die die Beziehung zwischen Jesus und seinen Sympathisanten zum Ausdruck bringen, dienen nun dazu, die Beziehungen der Sympathisanten untereinander zu bezeichnen. Dies sei im Folgenden gezeigt: 31

Schroeder, Eltern, 119, bestreitet die Möglichkeit, dass w31-34 ohne theologische Implikation überhaupt überliefert worden sein könnten. Wörtlich meint er: wie soll die in den w31-34 geschilderte zufällige Begebenheit in der Erinnerung haften geblieben sein, wenn nicht von Anfang an die theologische Bedeutsamkeit der Szene klar hervorgetreten ist und - so meine ich (sc. Schroeder ) auch klar als allgemeine Sentenz formuliert worden ist." Ihm ist jedoch entgegen zu halten, dass diejenigen, die Jesus selbst erlebt haben, wie hier in w31-34, sich wohl nicht dafür interessiert haben, ob ihr Erlebnis theologisch relevant war oder nicht. Ihr einziges Interesse lag darin, anderen zu erzählen, was sie selber erlebt hatten. Wenn also Schroeder „theologische Bedeutsamkeit" verlangt, muss er den Überlieferern der Geschichte w31 -34 sein theologisches Interesse unterstellen. 32 Vgl. Dibelius, Formgeschichte, 60: „... das geschah, indem man Blick und Geste Jesu, die für den Augenzeugen eindeutig waren, auch dem Hörer der Geschichte eindeutig erklärte: wer Gottes Willen tut, der zählt zu Jesu wahren Verwandten." 33 So auch E. Schweizer, Mk, 43; kürzlich S.C. Barton, Discipleship, 73. Auch J. Blinzler, Die Brüder und Schwestern Jesu, SBS 21, Stuttgart 1967, 80f, dessen Ansicht mit unserer fast identisch ist: „Es scheint, dass die Szene ursprünglich mit v.34 endet und v.35 eine verallgemeinernde Erklärung des Evangelisten ist. Nicht nur die zahlenmäßig begrenzte Gruppe von Menschen, die damals und dort um ihn herumsaßen, bilden seine wahren Verwandten, sondern alle, die Gottes Willen tun, also auch solche, die sich keiner äußeren „Beziehung" zu Jesus rühmen können, ja ihn gar nicht gesehen und gehört haben." Für Blinzler ist v35 jedoch eine Bildung des Evangelisten. 34 Auch die Singularform von αδελφός bzw. άδελφή in v35, die sich auffallend von der Pluralform in w31-34 unterscheidet, dient m.E. dazu. Denn sie hebt die Individualität der Familienangehörigen hervor und spricht somit jeden Einzelnen an.

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b) Die Gemeinschaft unter den Sympathisanten Wie bereits erwähnt, wurden die Familienmitglieder unter Hinzufugung von „Schwester" erweitert und dabei ihre Reihenfolge geändert von 'Mutter - Brüder' zu 'Bruder 35 - Schwester - Mutter' Es fragt sich, was diese Änderung bedeutet. Zu beobachten ist zunächst, dass ein gewisses Gleichgewicht zwischen den beiden in vv31-34 genannten Familienmitgliedern durch die Erweiterung mit „Schwester" aufgehoben und dass aufgrund der Gemeinsamkeit von Bruder und Schwester - ihrer Gleichrangigkeit in der Familie im Vergleich zur Mutter - auf sie als den beiden erstgenannten mehr Gewicht gelegt wird. Der Akzent wird also auf das Geschwisterverhältnis verschoben. Es scheint zwar auf den ersten Blick so, als bestünden keine sinnbedeutenden Unterschiede zwischen 'Mutter und Brüder' sowie 'Bruder und Schwester und Mutter' Dies wäre tatsächlich so, wenn es nur um die Beziehung zwischen Jesus und seinen Sympathisanten ginge. Wenn es aber um Beziehungen unter den Sympathisanten aufgrund ihrer gemeinsamen Beziehung zu Jesus geht, wären die Bezeichnungen 'Mutter und Brüder' ungeschickt. Sie wären zwar alle Verwandte Jesu, stünden aber in einer asymmetrischen Beziehung zueinander: Eine unter ihnen wäre Jesu Mutter, ein anderer Jesu Bruder. Hinzu käme das Problem, dass junge ortsansässige Frauen, die keine Kinder haben, mangels einer passenden Bezeichnung Mutter Jesu genannt würden. Die Hervorhebung des Geschwisterverhältnisses36 löst diese Un35

Der Unterschied zwischen Singular und Plural bedeutet für unser Interesse außer der oben in Anm. 34 genannten Bedeutung allerdings nichts. 36

Pesch, Mk I, 224f, will im Anschluss an E. Schweizer, Mk, 43, in der Hervorhebung der Brüder in v35 einen Hinweis darauf sehen, „dass mit unserer Perikope wohl ursprünglich ein natürlicher Vorrang der 'Herrenbrüder' in der Gemeinde bestritten wurde." Seiner Meinung ist allerdings entgegenzuhalten, 1) dass in v35 nicht nur 'Bruder' allein, sondern Geschwisterschaft überhaupt (wegen des dem 'Bruder' folgenden Wortes 'Schwester') hervorgehoben wird, aber dass uns keine Tradition über einen natürlichen Vorrang der 'Herrenschwestern' überliefert ist. 2) Wenn überhaupt ein natürlicher Vorrang der 'Herrenfamilie' bestritten worden sein sollte, dann könnte höchstens die Notiz in v21 ein gewichtiges Argument dafür sein, aber keineswegs die Reihenfolge in v35 (Bereits J. Schniewind, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 6 1952, 72, lehnte eine solche polemische Erklärung für die geänderte Reihenfolge ab). Jedoch ist die Möglichkeit, einen Streit über einen natürlichen Vorrang der 'Herrenfamilie' in der mk Gemeinde allein auf der Basis von Mk 3,20f zu erschließen m.E. sehr gering. Ausführliche Diskussion s.u.

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stimmigkeiten auf: Alle sind Jesu Bruder und Schwester, und darum sind sie alle auch untereinander Brüder und Schwestern.37 Das Zurückstellen von 'Mutter' hinter 'Bruder und Schwester' ist verständlich, das Wort dient dazu, den erzählerischen Zusammenhang zwischen v35 und w3134 aufrecht zu halten.38 Wichtig bei unseren Beobachtungen zu v35 ist aber vor allem der Akzent auf den gegenseitigen Beziehungen unter den Sympathisanten. Dieser Akzent ist im Vergleich zu vv31-34 neu. Im Blick auf den Sitz im Leben von v35 liegt die Schlussfolgerung nahe: Eine Gemeinschaft unter den Sympathisanten Jesu steht hinter dem Interesse an gegenseitigen Beziehungen untereinander. V35 ist ihr Produkt. Diese Schlussfolgerung lässt sich anhand von Paulusbriefen bekräftigen. Schon bei Paulus ist die Bezeichnung 'Bruder bzw. Schwester' geläufig. In jedem seiner Briefen begegnet uns der Ausdruck άδελφοί die Pluralform von αδελφός -, was sowohl männliche als auch weibliche Mitchristen einschließt, obwohl das Wort ein Maskulinum ist. Dies belegen die vier Stellen, an denen die exklusive Bezeichnung αδελφή für weibliche Mitchristen begegnet (IKor 7,15; 9,5; Phlm 2; Rom 16,1). Niemand kann bestreiten, dass hinter der paulinischen Anwendung der Bezeichnung von 'Brüdern' bzw. 'Schwestern' eine Gemeinschaft steht.

(4) Die sozialgeschichtliche Bedeutung der Hinzufügung des Wortes 'Schwester' in v35 Ist hinter dem Schlussvers 35 die Existenz einer Gemeinschaft sichtbar, so fragen wir nun, ob sich diese Gemeinschaft anhand des in v35 Gesagten näher bestimmen lässt. Diese Frage kann m.E. positiv beantwortet werden. Der Schlüssel für die Beantwortung ist das neu dem Text hinzu37

Anders bei R. Schnackenburg, Matthäusevangelium 1, NEB.NT I, Würzburg 1985, 116, der in dem Zurückstellen der Mutter eine „steigernde Auffuhrung" und damit „Hochschätzung der Mutter" sehen will. 38

In diesem Sinne zu verstehen ist die nur durch einige Handschriften bezeugte Lesart für v32, wo hinter 'Brüder' 'Schwestern' genannt werden. Die Abschreiber dieser Handschriften sahen wohl den Bedarf, die durch das Wort 'Schwester' in v35 aufgetretene Spannung zwischen w 3 1 - 3 4 und v35 zu relativieren, daher dürfte die Korrektur in v32 unternommen worden sein. Jedoch ist die Frage, warum dann nur dort, aber nicht anderswo, nicht zu beantworten. Für eine Korrektur durch Abschreiber spricht übrigens die unveränderte Reihenfolge von 'Mutter-Brüder' in v32.

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gefugte Wort 'Schwester' Wir haben oben davon gesprochen, dass die Hinzufügung von 'Schwester' symmetrische Beziehungen unter den Gliedern der neuen Familie Jesu ermöglicht und die Existenz von jungen Frauen in der Gemeinschaft berücksichtigt. Dies bedeutet in Bezug auf die soziale Situation der betreffenden Gemeinschaft, dass Frauen überhaupt in dieser Gemeinschaft an Bedeutung gewonnen haben. Hätten sie innerhalb der Gemeinschaft eine unbedeutende Rolle gespielt, dann wäre die Notwendigkeit, ihre Existenz in der Gemeinschaft zu berücksichtigen, nicht gesehen und keine symmetrische Beziehung durch Hinzufiigung des Wortes 'Schwester' hergestellt worden. Diese soziale Implikation der Hinzufiigung des Wortes fuhrt uns dazu, die Entstehung der Gemeinschaft hinter Mk 3,35 zeitlich näher zu bestimmen. Hilfreich ist dabei eine Analogie dafür, dass Frauen in einer urchristlichen Gemeinschaft große Bedeutung zukommt. In der Passionsgeschichte begegnen drei Passagen mit Frauen als Augenzeugen (Mk 15,40.47; 16,1); es ist offenbar ein gewichtiges Indiz dafür, dass sie eine wichtige Rolle in der Gemeinschaft spielten, in der die Passionsgeschichte geformt und überliefert wurde. Diese Gemeinschaft können wir mit Theißen zeitlich näher bestimmen. Er hat durch Auswertung von Lokalund Datierindizien wahrscheinlich gemacht, dass die Passionsgeschichte in Jerusalem und in der Zeitspanne von 41 bis 44 nach Christus (in der Regierungszeit Agrippa I.) oder kurz danach unter ihrem Eindruck entstanden sein könnte. 39 Diese ungefähre Zeitbestimmung einer urchristlichen Gemeinschaft, in der Frauen große Bedeutung hatten, erlaubt es uns, die hinter Mk 3,35 sichtbar werdende Gemeinschaft in etwa dieselbe Zeit zu datieren. Sie muss schon sehr früh existiert haben. Dies lässt sich durch zwei weitere Überlegungen unterstützen: 1) Es ist schwer vorstellbar, dass die Geschichte vv31-34 ohne v35, der der Geschichte einen jedermann ansprechenden Charakter verleiht und sie damit weiter tradierbar macht, für lange Zeit überliefert wurde. Denn die Geschichte vv31-34 hatte nur für die unmittelbar Betroffenen selbst einen Sinn, bis sie durch v35 einen offenen Charakter erhielt. 2) Die geläufige Anwendung der Bezeichnung 'Brüder' bzw. 'Schwestern' bei Paulus setzt voraus, dass eine Männer und Frauen in gleicher Weise umfassende Gemeinschaft schon früh existierte, also bereits vor der Abfassung der Paulusbriefe, wohl schon vor seinem Wirken als Apostel. Man darf aufgrund der voröstlichen Zugehörigkeit von Frauen zum Jüngerkreis Jesu anneh39

Lokalkolorit, 210.

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men, dass Frauen in nachösterlicher Zeit von Anfang an zu den entstehenden Ortsgemeinden gehörten.

(5) Synchronische Überlegung: Die Bedeutung des ganzen Textes für die mk Gemeinde(situation) In einem letzten Schritt haben wir uns mit der Frage nach dem Sinn des Textes auf der Ebene der mk Gemeinde zu beschäftigen. Zu ihrer Beantwortung sind einige Beobachtungen zum Kontext wichtig, der vom Evangelisten selbst geschaffen und gestaltet wurde. Wir beginnen mit der Stellung von Mk 3,31-35. Unser Text ist eng mit den beiden vorausgegangenen Versen 20f verbunden: 4 0 In vv31-35 ist von den wahren Verwandten Jesu, die durch ihr Zuhören und Tun des Willens Gottes seine leiblichen ersetzen, die Rede, in w 2 0 f von den leiblichen Verwandten Jesu, die ihn nicht verstanden haben und daher gegen ihn etwas unternehmen wollen. Beide Texte beziehen sich trotz des dazwischen liegenden Textes von w 2 2 - 2 9 eng aufeinander. Daher sollen beide als zusammengehörig betrachtet werden. Die Zusammengehörigkeit der Verse 20f mit w31-35 wird jedoch von einigen Exegeten bestritten.41 Der Hauptgrund liegt darin, dass es eine Ungereimtheit zwischen w20f und vv31-35 gibt: In v20f ist von der Absicht der leiblichen Familie Jesu, ihn festzuhalten, die Rede, während in w31-35 ihr Auftritt eher

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Vgl. Bultmann, Geschichte, 28f. G. Hartmann, Mk 3,20f, BZ 11 (1913), 249-279 (Zitiert nach Schroeder, Eltern, 112); H. Wansbrough, Mark 111.21 Was Jesus out of His Mind?, NTS 18 (1972), 233-235; Schroeder, Eltern, 110-116; D. Wenham, The Meaning of Mark III. 21, NTS 21 (1975), 295-300. Der letztgenannte kritisiert Wansbrough's These, bewertet jedoch seine Ansicht, οί παρ' αύτου als Jünger aufzufassen, positiv. Von diesen Exegeten unterscheidet sich H. Schürmann, Lk I, 471, dadurch, dass er die jetzige Zusammengehörigkeit einräumt, aber die ursprüngliche Einheit der beiden Textteile ablehnt. Für ihn sind w20f 'eine redaktionelle Bildung - in Angleichung an 3,22 - schon im Hinblick auf 3,31-35' Seiner Ansicht ist jedoch entgegenzuhalten, dass 3,31-35 keineswegs „ein formal in keiner Weise ergänzungsbedürftiges Apophthegma ist" Denn allein v31 kann nicht erklären, warum Jesus seine leibliche Familie ablehnt. Das ist nur möglich, wenn die Absicht der Familie Jesu (v21) berücksichtigt wird. In w20f könnte man die redaktionelle Hand des Evangelisten vermuten, das besagt aber nicht, dass w20f ganz auf den Evangelisten zurückgehen. Die feindliche Absicht der leiblichen Familie dürfte einen historischen Gehalt haben (vgl. Theißen/Merz, Jesus, 104.108). 41

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harmlos geschildert wird. Ob man aufgrund dieser Ungereimtheit vv20f und w31-35 nicht als aufeinander bezogen betrachten kann, ist nun zu überprüfen. Wenn man die erwähnte Absicht der leiblichen Verwandten Jesu als die Pointe von w 2 0 f verstehen will, so zeigt sich die Ungereimtheit zwischen den beiden Texten deutlich. Aber beim Heranziehen des nachfolgenden Textes über den Beelzebulvorwurf wird man feststellen müssen, dass die eigentliche Pointe von vv20f nicht auf die Darstellung der Absicht der leiblichen Familie, sondern auf die Darbietung des Unverständnisses der leiblichen Verwandten zielt, denn auch dort ( w 2 2 f ) geht es darum, wie Jesus zu verstehen sei: Die Schriftgelehrten werfen Jesus aufgrund ihres Unverständnisses vor, er sei vom bösen Geist ergriffen. Dass man Jesus als einen geistig Gestörten missversteht, zieht sich also durch beide Texte ( w 2 0 f und w 2 2 f f ) und verbindet beide miteinander. Diesem Unverständnis steht die Sympathie des Volkes gegenüber, das um Jesus herum sitzt und seine Worte hört. 42 Dass Jesus dieses mit ihm sympathisierende Volk zu seinen (wahren) Verwandten, die die leiblichen ersetzen können, erklärt, entspricht diesem Zusammenhang. Ohne die vorausgegangenen w 2 0 f ist schwer verständlich, warum Jesus das um ihn herum sitzende Volk gegenüber seiner leiblichen Familie hochschätzt und seine leiblichen Verwandten verstößt. 43 Die Verstoßung seiner eigenen Familie ist nur dann verständlich, wenn diese ihn missversteht und sein Wirken verhindern will. Gerade dies wird in w 2 0 f beschrieben. Es kann daher nicht von einem „künstlich geschaffenen, inhaltlichen Zusammenhang" 44 die Rede sein, der etwa dazu fuhren könnte, w 2 0 f und w 3 1 - 3 5 nicht als aufeinander bezogen zu betrachten. Für H.-H. Schroeder und H. Wansbrough ist jedoch die Ungereimtheit deutlich genug, die beiden Texte voneinander getrennnt zu deuten. Darum sind sie der Meinung, den Ausdruck οί παρ' αύτου in v21 nicht mit 'die Seinigen', sondern mit 'Jünger' zu übersetzen. Demnach soll v21 ganz anders als gewöhnlich übersetzt werden, etwa so 4 5 „Seine Jünger (die mit ihm im Hause sind) hörten (von dem andrängenden Volk) und gingen hinaus, um es zurückzuhalten; denn sie

42

Dass diese Sympathie in v35 mit 'Gottes Willen zu tun' bezeichnet wird, ist m.E. angesichts des kontextuellen Zusammenhanges - des Unverständnisses der leiblichen Familie und der Führer des Volkes - sehr verständlich. 43 In einem anderen Zusammenhang räumt Schroeder, Eltern, 120, selber ein: „Die bloße Zuwendung von v34 entspricht überhaupt nicht der Prägnanz und Schärfe, mit der Jesus sonst in die Entscheidung ruft. Auch bleibt die Härte gegen die eigenen Verwandten unverständlich." 44 Ebd., 113. 45 Über die Problematik der folgenden Übersetzung siehe Wenham, Meaning, 295f.

120

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sagten: 'Es ist außer sich'" 46 Als Argument dafür wird genannt, dass der Ausdruck οί παρ' αύτου kein terminus technicus für Verwandte sei. 47 Dieses Argument ist für sich betrachtet richtig. Die Bedeutung von 'die Seinigen' für oi παρ' αύτου ist nur selten bezeugt. 48 Jedoch wird die Bedeutung eines Wortes nicht allein von seinem lexikalischen Sinn her, sondern letztlich aus dem Kontext, in den es eingebettet ist, bestimmt. 49 Dieser Einwand gewinnt umso mehr an Bedeutung, wenn die leicht vorstellbare50 Bedeutung eines Wortes in seinem Kontext keinen kohärenten Sinn ergibt 51 und eher Unebenheiten bzw. Fragen in Bezug auf den Textzusammenhang bereitet. Folgende Punkte wird man zu klären haben, wenn man die Bedeutung von 'Jünger' für oi παρ' αύτου akzeptiert: 1) Warum ist das Volk nach w31-35 bereits im Hause, obwohl die Jünger nach w20f versucht haben sollen, es vom Haus fernzuhalten. 52 War ihr Versuch gescheitert?

46

Schroeder, Eltern, 111; ähnlich Wansbrough, Mark 111.21,235. Ebd., 110-116. 48 Vgl. E. Best, Mark 111.20,21,31-35, NTS 22 (1976), 309-319, dort 311. 49 Vgl. Wenham, Mark III, 299, der allerdings daraus eine andere Konsequenz zog als ich. S.o. Anm. 41. 50 Best, Mark III, 311, formuliert: ,,οί παρ' αύτου is certainly more easily understood to refer to the 'adherents' of Jesus than to his 'kinsmen' " 51 Best, Mark III, 312, fragt in Bezug auf das Wort έξέστη: „If the reference is only to the crowd's wonder, and Schroeder does not take any meaning more than this out of the word, what is the purpose of vv20,21 in Mark? Neither Schroeder nor Wansbrough explore this." 52 Schroeder, Eltern, 115f, will in vv20f einen Vorgang geschildert sehen, „der dem ebenfalls von Markus in den vv3,9f. dargestellten entspricht." Nach ihm „wird dort das Boot bereitgehalten, um Jesus zu schützen, hier wird das Volk vom Haus ferngehalten" Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass das in w3,9f Dargestellte bei näherem Hinsehen keine Entsprechung für das in w3,20f Gesagte bildet: Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass nach w20f die Jünger - wenn Schnieders Ansicht zutreffen würde - direkt gegen das bedrängende Volk vorgehen würden, während nach w 9 f die Jünger eine Maßnahme treffen, die zu keiner direkten Konfrontation mit dem Volk führt. Eine direkte Konfrontation mit dem bedrängenden Volk findet sich aber im MkEv nirgends außer in w3,20f, wenn es dort überhaupt um solch eine Situation geht. Dagegen finden sich im MkEv Situationen, wo Jesus und seine Jünger dem Drängen des Volkes nachgeben, ohne direkt in Konfrontation mit ihm zu geraten, obwohl ihre private Sphäre durch das bedrängende Volk gestört wird (Mk 6,30-34; 7,24f). 47

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2) Warum wird das in vv20f so negativ gesehene Volk (von ihm wurde ja gesagt, dass es außer sich geraten ist) in w31-35 von Jesus so positiv beurteilt? Wie ist dieser plötzliche Wandel in seiner Bewertung zu erklären? 3) Warum wurden die beiden Verse 20f zwischen dem Bericht über die Einsetzung der zwölf Jünger und dem über den Beelzebulvorwurf eingebettet statt vor dem Bericht über die Einsetzung, obwohl dort vom rücksichtlosen Bedrängen des Volkes die Rede war? 53 Daher empfiehlt sich, die Bedeutung von 'die Seinigen' fur οί παρ' αύτου zu akzeptieren. Das Fazit: w 2 0 f und vv31-35 gehören zusammen. 54 Gehören w 2 0 f und w 3 1 - 3 5 zusammen, dann können wir auch die Stellung unseres Textes im jetzigen literarischen Kontext besser bestimmen: Unser Text steht unmittelbar hinter dem Bericht über die Einsetzung des Zwölfer-Kreises (3,13-19), der für die mk Darstellung des irdischen Lebens Jesu ein wesentliches Element ist. Die kontextuelle Nähe unseres Textes zur Einsetzung der Zwölf erweckt den Eindruck, dass die neue Familie Jesu eine dem Zwölfer-Kreis ähnliche Größe darstellt. Dieser Eindruck lässt sich durch Mk 4,10 verifizieren, dessen Inhalt auf den Evangelisten zurückgeht: Dort nennt der Evangelist als Träger des Geheimnisses des Reichs Gottes zwei Größen: den Zwölfer-Kreis und 'die, die um ihn waren' Die letztgenannte 55 Bezeichnung bezieht sich auf die neue Familie Jesu, 5 6 denn sie wurde in Mk 3,31-35 zweimal mit dieser Wendung beschrieben (v32 und v34). 5 7 Die neue Familie Jesu ist also für den Evangelisten genauso wichtig wie der Zwölfer-Kreis.

53

Siehe ebd. M. Fander, Die Stellung der Frau im Markusevangelium. Unter besonderer Berücksichtigung kultur- und religionsgeschichtlicher Hintergründe, MThA 8, Altenberge 1989, 323-326, untersucht die beiden Texte traditionsgeschichtlich und kommt zu dem Ergebnis, dass beide Texte als Tradition zusammengehören. „Als redaktionell einzuordnen sind: V20, ά κ ο ύ σ α ν τ ε ς in V21a und έξω στήκοντεςίη VV31,32. Durch die redaktionelle Trennung von V21 und V31 dürfte V31 auch sekundär leicht im Wortlaut verändert worden sein" (326). Auch dieses Ergebnis spricht dafür, dass man beide Texte zusammen behandelt. 55 Damit meine ich nicht die Reihenfolge im mk Text. Dort werden 'die, die um ihn waren' zuerst genannt. 56 Auch Lührmann, Mk, 85, sieht, dass der Ausdruck 'die, die um ihn waren' sich auf die wahren Verwandten Jesu bezieht (Ebenso Pesch, Mk I, 237). 57 v32: „Und das Volk saß um ihn herum ..."; v34: „Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen ... 54

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Die Gleichstellung der neuen Familie Jesu mit dem Zwölfer-Kreis durch den Evangelisten impliziert eine Aufwertung ihres Status, denn der Zwölfer-Kreis war als eine traditionelle Größe im Urchristentum weit und breit bekannt, wie z.B. aus IKor 15,5 hervorgeht, während die Vorstellung von der neuen Familie Jesu, obwohl sie bis auf den historischen Jesus zurückzufuhren ist, relativ unbekannt blieb, so dass sie für uns erst hier im MkEv bezeugt wird. Die Pointe bei der Gleichstellung liegt also allein bei der neuen Familie Jesu, eine Feststellung, für die übrigens auch die Reihenfolge der beiden Größen in 4,10 spricht: Der Zwölfer-Kreis wird nämlich nach 'denen, die um ihn waren' genannt. 58 Nun ist nach dem Grund für diese mk Redaktionsarbeit zu fragen. Zur Beantwortung der Frage müssen wir uns klar machen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede die beiden Größen aufweisen. Gemeinsam ist ihnen: Sie sind eine modellhafte Größe, mit der sich (urchristliche) Leser identifizieren können. 59 Ein klarer Unterschied zwischen ihnen ist aber der, dass die eine mobil, die andere stabil war: Die Zwölf waren diejenigen, die ohne festen Wohnsitz Jesus nachfolgten, während die neue Familie Jesu, wie oben gesehen, aus ortsgebundenen Sympathisanten Jesu bestand. Daraus ergibt sich die Antwort auf die gestellte Frage: Die neue Familie Jesu ist für den Evangelisten eine naheliegende Identi-

58

Schweizer, Mk, 46, sieht in dieser Reihenfolge ein Indiz dafür, dass die Wendung „die, die um ihn waren" ursprünglich allein gestanden hat, und dass der Hinweis auf „die Z w ö l f nachgetragen wurden (vor ihm schon Bultmann, Geschichte, 71). Sollte diese Ansicht von Schweizer (und Bultmann) stimmen, dann dürfte der Evangelist die Wendung „die, die um ihn waren" in 4,11 aufgrund von 3,32 und 3,34 nachgebildet haben (nur formal, da der Inhalt, der Bezug auf das Volk, traditionell war), um die neue Familie Jesu (Gottes) als Geheimnisträger darzustellen. Wenn die Erwähnung der Zwölf in Mk 4,11 auch vom Evangelisten stammen sollte, wie z.B. Gnilka, Mk I, 162, meint, dann ist es wohl seine Intention, ein Gleichgewicht zwischen der neuen Familie Jesu und dem Zwölfer-Kreis, zu schaffen, ohne die eine Größe der anderen überzuordnen. Hier wird wiederum deutlich, dass es dem Evangelisten um die Gleichstellung der neuen Familie Jesu mit dem Zwölfer-Kreis geht. 59

Als eine weitere Gemeinsamkeit könnte man ihre Sympathie mit Jesus nennen: Die Zwölf sympathisierten mit Jesus, indem sie ihm nachfolgten, die neue Familie Jesu sympathisierte mit ihm durch ihr Zuhören, während seine leibliche Familie und die Pharisäer diese Sympathie verweigerten, indem sie ihn für „verrückt" hielten.

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fikationsgröße 60 für seine Gemeinde, die ortsstabil lebte; darum stellt er die neue Familie Jesu der traditionellen Identifikationsgröße für Wandercharismatiker, dem Zwölfer-Kreis, gleichwertig an die Seite. 61 Diese Ansicht lässt sich dadurch bekräftigen, dass der Gedanke der Nachfolge im MkEv erweitert wird, so dass der Nachfolgeruf Jesu nicht nur von mobilen Menschen wie z.B. den Zwölfen, sondern auch von Menschen mit stabilitas loci praktiziert werden kann: Nach Mk 2,15 ist die Nachfolge im Sinne von Tischgemeinschaft, nach 8,34 im Sinne von Leidensbereitschaft und schließlich nach Mk 15,41 im Sinne von Diakonie (Dienstbereitschaft) zu verstehen. 62 Offenbar ist der Nachfolgegedanke für den Evangelisten Markus nicht mehr ein Proprium von Wandercharismatikern, sondern eine allgemeine Lebensform, die für jeden Christen nachvollziehbar ist. Dass diese Erweiterung des Nachfolgegedankens 63 mit unserer obigen Ansicht im Einklang steht, liegt auf der Hand. Ferner lässt sich die obige Ansicht dadurch bekräftigen, dass es in Mk 4, wo vom Geheimnis des Gottesreichs gesprochen wird, um das mk Gemeindeverständnis geht. 64 Die mk Gemeinde ist der Träger des Geheimnisses des Reichs Gottes. Es 60

Um ein mögliches Missverständnis zu vermeiden, sei hier angemerkt, dass das Volk nicht ohne weiteres mit der neuen Familie Jesu identisch ist. Die neue Familie Jesu ist nur das Volk, das mit Jesus sympathisiert, ein Verhalten, das in vv3,20-35 geschildert ist: Im Gegensatz zur leiblichen Familie sowie zu den Volksftihrern (den Schriftgelehrten) ist das sympathisierende Volk von Unverständnis frei, darum sitzt es um Jesus herum und hört ihm zu. 61 E.S. Malbon, Disciples/Crowds/Whoever: Markan Charakters and Readers, NT 28 (1986), 104-130, besonders 126, stellt zu Recht die These auf, „the disciples and the crowd serve to open the story of Jesus and the narrative of Mark outward to the large group - whoever has ears to hear or eyes to read the Gospel of Mark." 62 Vgl. Theißen, Gospel Writing and Church Politics. A Socio-rhetorical Approach, (wird voraussichtlich Hongkong 2001 veröffentlicht), 4If. 63 Vielleicht könnte man mit Theißen, ebd., Anm. 54, noch vermuten, dass der in Mk 2,13f erwähnte Zöllner Levi, den Jesus in seine Nachfolge beruft, indirekt die Nachfolge im weiteren Sinne darstellen soll. Denn er empfängt Jesu Ruf, aber bleibt ansässig - sein Name wird in dem Bericht über die Einsetzung des Zwölfer-Kreises nicht erwähnt - und er dient Jesus und seiner Gefolgschaft durch ein Mahl (Mk 2,15). Dieser Tischdienst ist das, was die ortsansässigen Sympathisanten für die Wandercharismatiker tun. 64 Vgl. K.-G. Reploh, Markus Lehrer der Gemeinde. Eine redaktionsgeschichtliche Studie zu den Jüngerperikopen des Markus-Evangeliums, SBM 9, Stuttgart 1969, 59-74: „Für die Gemeinde geht es darum, in diesen Gleichnissen die Wirklichkeit des Reichs Gottes ... zu erkennen und anzuerkennen" (73).

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ist daher kein Zufall, dass der Evangelist Markus Kap. 4 einer Geschichte folgen lässt, die wichtige Identifikationsfiguren für die mk Gemeinde enthält. Das Fazit: In Mk 3,31-3 5 6 5 ist eine Identifikationsgröße fur die mk Gemeinde zu finden, die die neue Familie Jesu ist, aber die wir vom mk Kontext her 66 familia dei nennen können. 67 Es wird in der Exegese oft die Frage aufgeworfen, warum in Mk 3,31-35 der Vater Jesu nicht erwähnt wird. Eine seit langem vorgeschlagene Lösung ist, dass Jesu Vater zur Zeit dieses Geschehens nicht mehr am Leben gewesen sei. 68 Diese Lösung könnte zutreffen, wenn es nur um die Geschichte von v31-34 ginge, deren Historizität, wie oben gesagt, nicht zu bestreiten ist. Diese Lösung kann aber nicht für die Nicht-Erwähnung des Vaters in v35 gelten. Dafür dürfte vielmehr die Erklärung zutreffen, dass in v35 die geschwisterliche Beziehung in der Gemeinschaft im Vordergrund steht und diese horizontale Beziehung zugleich mit Gott, dessen Willen hier zu tun ist (v35a), eine vertikale Beziehung bildet. M.a.W. weil Gott der Vater Jesu ist, gilt Gott auch für die neuen Geschwister Jesu als Vater. Das Ausbleiben des Wortes 'Vater' in v35 ist also wahrscheinlich mit der Vorstellung der familia dei zu erklären. Man könnte dagegen einwenden, es bestehe keine Notwendigkeit, das Wort 'Vater' in v35 zu erwähnen. Dieser 65

Mk 3,31-35 hat neben den synoptischen Parallelen (Mt 12,46-50; Lk 8,19-21) noch einen Paralleltext im ThEv (Log. 99). Ein Vergleich mit dem Text wird unten im Exkurs 'Die familia-dei-Vorstellung im Thomasevangelium' durchgeführt. 66 Bereits am Anfang dieses Kapitels wurde darauf hingewiesen, dass Jesus im MkEv von vorneherein als Sohn Gottes dargestellt und sein Sohn-Verhältnis zu Gott besonders betont wurde (Mk 1,1.11; 3,11), so dass seine neue Familie zugleich Familie Gottes ist. 67 Dass der Evangelist Markus seine Gemeinde als Familie Gottes versteht, wird bereits von W. Rebell, Zum neuen Leben berufen. Kommunikative Gemeindepraxis im frühen Christentum, Kaiser-Taschenbücher 88, München 1990, 72-78, vertreten. Ihm fehlt allerdings jede exegetisch notwendige Untermauerung der einfach gewagten, aber im Kern richtig gedachten Ansicht. Es ist daher kein Wunder, dass seine Ansicht als „problematisch" kritisiert wurde. In der Begründung für seine Kritik an Rebell schreibt Rusam, Gotteskindschaft, 93 Anm. 148, dass „sich eben im MkEv so gut wie kein einziger Beleg dafür findet, dass Gott als Vater der Jünger, d.h. der Glaubenden, verstanden wird." Unsere Untersuchung von Mk 3,31-35 und dessen Kontext spricht aber deutlich gegen Rusam. 68 So z.B. Lührmann, Mk, 77; Ernst, Mk, 122 und Gnilka, Mk I, 152. Gegen diese Ansicht äußert sich Pesch, Mk I, 224 Anm. 11, weil er die Authentizität der Geschichte w31-34 bestreitet. Seine theologische Erklärung, dass ein Christ nicht Vater Jesu genannt werden kann, trifft höchstens auf v35 zu.

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Einwand ist aber nicht gewichtig, wenn man berücksichtigt, dass in v35b das vorher unerwähnte Familienglied 'Schwester' ohne weiteres genannt wird. Wenn also in der Gemeinschaft, die hinter v35 steht, die vertikale Beziehung zu Gott keine so große Bedeutung gehabt hätte, hätte das Wort 'Vater' in v35b ohne weiteres stehen können. 69 Eine weitere Frage, die in der Exegese in Bezug auf Mk 3,20f.31-35 oft diskutiert wird, ist, ob das negativ dargestellte Bild der leiblichen Familie Jesu eine kirchenpolitische Situation der mk Gemeinde widerspiegelt, in der z.B. die jurisdiktionale und doktrinale Hegemonie der Jerusalemer Gemeinde, hinter der die leibliche Familie Jesu, z.B. Mutter und Brüder Jesu, steht, in Frage gestellt wird (Crossan 70 ). Gegenüber dieser Annahme ist die Frage zu stellen, welch ein Schaden das negative Bild von der leiblichen Familie an ihrer Autorität in der Jerusalemer Gemeinde hätte anrichten können: Dies negative Bild basiert ja auf ihrem vergangenen Verhalten. Wenn sie nach Ostern zum Glauben gekommen ist und im Lauf der Zeit einflussreiche Posten in der Gemeinde übernommen hat, dann 69

Siehe auch unten in II. Mk 10,28-31 den Abschnitt 'Die Bedeutung des Ausfallens des Wortes 'Vater' in v30' 70 J.D. Crossan, Mark and the Relatives of Jesus, NT 15 (1973), 81-113, verbindet das negative Bild der leiblichen Familie Jesu mit der negativen Darstellung der Jünger Jesu und sucht damit seine These zu begründen. J. Lambrecht, Relatives, 241-258, modifiziert sie dahingehend, dass der Streit mit den Repräsentanten der Jerusalemer Gemeinde nicht auf die Zeit des Evangelisten Markus, sondern auf eine vormarkinische Zeit zu beziehen sei; Markus habe ihn in seiner Tradition vorgefunden und mit der Tradition übernommen (Ähnlich E. Best, Mark I I I , besonders 317f). Barton, Disciples, 83-85, kritisiert die Ansicht, die z.B. Crossan vertritt (Seite 83 Anm. 115 nennt Barton Namen weiterer Exegeten, die Crossans Ansicht teilen), mit drei Argumenten: 1) Methodisch ist es bei der mk Erzählung unangemessen, aus ihr eine kirchenpolitische Anspielung herauszulesen, denn es geht dem Evangelisten vor allem darum, die Tradition zu bewahren und in der Weise zu überliefern, dass seine Leser zum Glauben und in die wahre Nachfolge nach dem Modell und der Lehre Christi gefuhrt werden. 2) Die Hypothese Crossans basiert auf dem negativen Bild der leiblichen Familie und der Jünger Jesu. Jedoch sind Mk 3,20f.31-35 und 6,1-6a mit einer positiven Darstellung der Jünger Jesu im Kontext verbunden. Die Darstellung der Jünger Jesu ist im MkEv nicht konsequent negativ; wie 14,28 und 16,7 zeigen, lässt sich auch Positives in ihrer Darstellung finden. 3) Wenn mit der leiblichen Familie Jesu tatsächlich auf die fuhrende Persönlichkeit der Jerusalemer Gemeinde, Jakobus, angespielt würde, würde man erwarten, dass Jakobus auf irgendeine Weise in der Erzählung hervorgehoben würde, aber das geschieht nicht: In Mk 3,31-35 werden nur Brüder genannt, und in 6,3 wird Jakobus nur in Verbindung mit den anderen Brüdern Jesu zusammen erwähnt.

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kann ihr vergangenes Verhalten kaum ihrer jetzigen Autorität schaden, die doch erst durch ihre Bekehrung zum Glauben nach Ostern allmählich entstanden ist. Wenn es wirklich die Absicht gewesen sein sollte, mit dem negativen Bild der leiblichen Familie Jesu ihre Autorität in der Jerusalemer Gemeinde zu bestreiten, wie Crossan meint, dann hätte man eine falsche Strategie gewählt. Unabhängig davon könnte tatsächlich zutreffen, dass gewisse Spannungen zwischen der Jerusalemer Gemeinde und der jeweiligen Ortsgemeinde wie der mk Gemeinde bestanden. Jedoch ist davon in Mk 3,20f.31-35 nichts zu spüren.

II. Mk 10,28-31 (1) Ein ergänzendes Bild Mk 10,28-31 ergänzt das Bild der familia dei im MkEv. Im Mittelpunkt dieses Textes steht das Thema 'Lohn der Nachfolge' Gesprächsauslöser ist Petrus als Sprecher des Zwölfer-Kreises. Seine Äußerung ist der Form nach keine Frage, aber wirkt als solche, so dass Jesus darauf antwortend eingeht. Als Lohn der Nachfolge nennt Jesus zunächst eine 'hundertfache' Rückerstattung ohne nähere Erläuterung (v30a), bringt dann aber eine ausfuhrliche Erklärung zum Inhalt der Rückerstattung, eingeleitet mit einer fast dualistischen Zeitbestimmung: 'jetzt in dieser Zeit' und 'in der zukünftigen Welt' Der zukünftige Lohn der Nachfolge ist das ewige Leben, ihr jetziger Lohn, dass die Nachfolgenden wie Familienglieder in vielen Häusern Aufnahme finden. Die zur Aufnahme bereiten Familien sind ortsansässige Sympathisanten der wandernden Jünger Jesu. 71 Dies Bild ist hochinteressant, wenn man sich die Beziehung Jesu zu ortsansässigen Sympathisanten, wie wir sie in Mk 3,31-35 gesehen haben, in Erinnerung ruft. Die Modellbeziehung zwischen Jesus und seinen ortsansässigen Sympathisanten in 3,31-35 wird in 10,28-31 auf das Verhältnis zwischen den Jüngern Jesu in der Nachfolge und ihren Sympathisanten übertragen. Der Ausdruck 'um meinetwillen' in v29 72 macht deutlich, um

71

So auch Pesch, Das Markusevangelium 2. Teil, HThK II, Freiburg u.a. 3 1984, 145. Anders W. Stegemann, Wanderradikalismus im Urchristentum? Historische und theologische Auseinandersetzung mit einer interessanten These, in: ders. und W. Schottroff (Hg.), Der Gott der kleinen Leute, Sozialgeschichtliche Bibelauslegung Bd. 2. Neues Testament, München u.a. 1979, 94-120. Eine Auseinandersetzung mit seiner These folgt unten. 72

Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung bezüglich dieses Ausdrucks findet sich bei A. Satake, Das Leiden der Jünger 'um meinetwillen', ZNW 67 (1976), 419.

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wessentwillen diese Beziehungsübertragung möglich ist. Sie ist auch in anderen Traditionen bezeugt: In Q-Lk 10,16 heißt es, dass das Hören der Jünger Jesu (also eine Aufnahme von Jüngern Jesu) 73 zugleich ein Hören von Jesus selbst bedeutet. Auch Did 1 1,274 bezeugt diese Vorstellung. Zu den Sympathisanten der Jünger Jesu sei noch eine kurze Anmerkung gemacht. Im Gegensatz zu v29 werden in v30 alle verlassenen Menschen oder Gegenstände mit „und", in v29 dagegen mit „oder" verbunden. Jeder Jünger Jesu, der den Nachfolgeruf durch Wanderleben vollzieht, bekommt also eine vollständige Erstattung von Häusern, Brüdern, Schwestern, Müttern, Kindern und Äckern. Hier ist offensichtlich an eine größere Gemeinschaft unter den Sympathisanten gedacht, denn eine Familie kann über all das nicht immer gleichzeitig verfugen; ein oder zwei Elemente werden oft gefehlt haben. Der Text aber unterstreicht die Vollständigkeit dessen, was die Wandercharismatiker zurückerstattet bekommen: Was sie bei der einen Familie nicht finden, finden sie bei ihren Wanderungen bei der nächsten. Dies lässt sich noch durch eine weitere Beobachtung am Text bekräftigen. In v30 begegnet eine Zusammensetzung von drei Elementen, die uns in Mk 3,31-35 die Erkenntnis gebracht haben, dass hinter ihnen eine Gemeinschaft existiert, nämlich 'Brüder Schwestern Mütter (Mutter).' Dass diese Zusammensetzung von drei Elementen eine Situation wie die in 3,35 vermuten lässt, 75 zeigt sich, wenn wir einen Blick auf v29 werfen. Dort findet sich nämlich die für die damalige Mentalität ungewöhnliche Reihenfolge 'Mutter Vater' Die umgekehrte Reihenfolge wäre zu erwarten, denn, wenn es um Familienangehörige geht, wurde der Mann bzw. der Vater als Repräsentant der Familie betrachtet. Die Parallelstellen in Mt- und LkEv bezeugen, dass die beiden Seitenreferenten diese ungewöhnliche Reihenfolge als

73

Matthäus gibt das Q-Logion so wieder (wohl unter Einfluss von Mk 9,37: vgl. Luz, Das Evangelium nach Matthäus 2. Teilband, EKK I, Zürich u.a. 1990, 149): „Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat" (Mt 10,40). 74

(lehrt er) hingegen, um zu vermehren Gerechtigkeit und Erkenntnis des Herrn, so nehmt ihn auf wie den Herrn." (Übersetzung von A. Lindemann, Lehre der zwölf Apostel, in: ders./H. Paulsen, Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992, 15). 75

Auch Barton, Discipleship, 74, richtete seine Aufmerksamkeit auf diese auffällige Identität der Reihenfolge, zog jedoch keine andere Konsequenz daraus als zu sagen, dass sie den Bezug der Texte aufeinander zu erkennen gibt.

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problematisch empfunden haben, so dass sie diese entweder in die gewöhnliche Reihenfolge abändern (Mt) oder durch den Oberbegriff 'Eltern' ersetzen (Lk). Die ungewöhnliche Reihenfolge verrät also, dass die Dreier-Kombination 'Bruder Schwester Mutter' wahrscheinlich aus einer Situation wie der in 3,35 hervorgegangen ist. Dann ist auch hier mit großer Wahrscheinlichkeit an eine Gemeinschaft unter ortsansässigen Sympathisanten zu denken. Die bisherigen Erörterungen lassen sich nun durch folgendes Schema veranschaulichen. 76

Jesus

ortsansässige Sympathisanten

I v35

Beziehungen unter ihnen (= Gemeinschaft)

1 Jesu Jünger (Wandercharismatiker)

ortsansässige sympathisierende Gemeinschaft(en)

W. Stegemann77 will hinter Mk 10,29f die Situation eines „sesshaften Religionswechslers", der „seine bisherige Lebens- und Familiengemeinschaft aufgrund des Übertritts zu einer anderen Religionsgemeinschaft verlässt," sehen. Als Begrün-

76

Lührmann, Mk, 176, (ähnlich Th. Schmeller, Brechungen, 107f, s.u.) will in v30 eine Reintegrationssituation sehen, in der derjenige, der einmal alles verlassen hat, wieder sesshaft wird. Da der Verlassende selber Vater seines Hauses werde, meint Lührmann, fehle auf der Liste der zu erstattenden Gegenständen 'Vater' Wie Theißen, Gospel Writing, 39 Anm. 51, richtig kritisiert hat, ist angesichts des Ausdrucks 'hundertfach' sowie der Vollständigkeit der zu erstattenden Gegenstände, die durch 'und' zum Ausdruck kommt, Lührmanns These schwer durchführbar. Gegen Lührmanns Deutung vom Fehlen des Wortes 'Vater' in v30 s.u. 77 Wanderradikalismus, besonders 107-110. Im Anschluss an E. Best, Following Jesus: Discipleship in the Gospel of Mark, JSOT, Sheffield 1981, 113, will auch Barton, Discipleship, 106, in Mk 10,29f eine Bekehrungssituation sehen.

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dung fuhrt er zwei nach seiner Ansicht als Parallelen anzusehende Texte von Tacitus und Philo an: 7 8 „Wer zu ihren Riten übergeht, übernimmt diesen Brauch (der Beschneidung); und das erste, was ihm beigebracht wird ist, dass man die Götter verachten, seinem Vaterlande absagen und Eltern, Kinder und Geschwister verleugnen muss" (Tacitus, Historien V,5). „Und dies mit vollem Recht. Da sie - so sagte er (Mose) - Vaterland ('patris') und Freunde ('philoi') und Verwandte ('syngeneis') um der Tugend und der Frömmigkeit willen verlassen haben ('apoleloipotes'), sollen neue Städte ('poleis') und Hausgenossen ('oikeioi') und Freunde ('philoi') ihnen nicht vorenthalten sein" (Philo, De Specialibus Legibus 1,52). 79 Ein Vergleich dieser Texte mit Mk 10,29ff weist allerdings einen kaum zu übersehenden Unterschied auf, dessen Bedeutung eher gegen Stegemanns Ansicht spricht. Gemeint ist der Unterschied, dass in den beiden Texten die verlassenen 'Gegenstände' mit der Konjunktion 'und' miteinander verbunden sind, was einen völligen Abbruch aller bisherigen Beziehungen für den sesshaften Religionswechsler bedeutet. Dagegen werden in Mk 10,29ff die verlassenen Personen und Gegenstände mit 'oder' verbunden. Dies ist für einen sesshaften Religionswechsler nur dann vorstellbar, wenn einige seiner Familienglieder ihre Religion mit gewechselt haben, was wohl selten der Fall war. Die von Stegemann aufgeführten Texte dienen daher nicht zur Erhellung der in Mk 10,29fF geschilderten Situation. M.E. sind statt ihrer die beiden folgenden Texte bessere Parallelen zu Mk 10,29ff. In beiden werden die angeredeten Adressaten für ein Leben als nicht sesshafte Wanderphilosophen belohnt. „Du aber, mein Lieber, lass es dich nicht anfechten, dass du allein von einem Orte zum anderen getrieben wurdest; dazu werden ja die Menschen geboren, dass sie die Wechselfälle des Schicksals erdulden. Vielmehr bedenke das, dass für die Weisen jeder Ort ist wie der andere, und dass sich für die Guten in jeder Stadt viele Väter und Mütter 80 finden. Und sonst nimm von dir selber die Probe, wie viele Männer dich, ohne dich zu kennen, wie ihre Kinder lieben,

78

Die Ansicht Stegemanns wurde bereits von H. W Kuhn, Nachfolge nach Ostern, in: Kirche, FS. G. Bornkamm, Tübingen 1980, 105-132, dort 125f, zurückgewiesen. Eine gut zusammengefasste Darstellung dieser Auseinandersetzung findet sich bei C. Heszer, Lohnmetaphorik und Arbeitswelt in Mt 20,1-16. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg im Rahmen rabbinischer Lohngleichnisse, NTOA 15, Freiburg (Schweiz) u.a. 1990, 267-9. 79

Beide Übersetzungen stammen von Stegemann, Wanderradikalismus, 108. Dass hier nicht von den verlassenen Geschwistern, sondern nur von den Eltern gesprochen wird, ist zu beachten. 80

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und viele Frauen dich wie ihren Geliebten empfangen" (Brief des Mara bar Serapion, S.7). 81 alle Menschen hat er (sc. der kynische Wanderphilosoph) zu seinen Kindern gemacht, die Männer betrachtet er als seine Söhne, die Frauen als seine Töchter. In diesem Geist wendet er sich allen zu, kümmert sich um alle. Oder glaubst du, er weise die Leute, die ihm begegnen, aus übertriebener Geschäftigkeit zurecht? Wie ein Vater tut er es, wie ein Bruder und Diener des Zeus, der Vater aller ist" (Epiktet, Diss. 3,22,81-82). 82 In den beiden Texten geht es um Wanderphilosophen, die von Ort zu Ort wanderten und die ihnen begegnenden Menschen lehrten. Dass die Philosophen wegen dieser Aufgabe bzw. dieses Lebens ihre Familie verlassen haben, ist selbstverständlich, und ebenso ist es wahr, dass ihnen dafür eine Ersatzfamilie an vielen Orten in Aussicht gestellt wird.

(2) Sozialgeschichtliche Überlegung zur Entstehung des Textes N a c h d e m ein allgemeines Bild von M k 10,28-31 e n t w o r f e n w u r d e , lässt sich nun die Frage nach der Entstehung des Textes stellen, w o b e i ein sozialgeschichtliches Interesse im V o r d e r g r u n d steht. A u s g a n g s p u n k t unserer Ü b e r l e g u n g e n sind f o l g e n d e B e o b a c h t u n g e n am Text: 1) Die Z u s a g e des L o h n e s f ü r die N a c h f o l g e in v30 steht in S p a n n u n g zu Jesu A u s s a g e n über die Realität des W a n d e r l e b e n s , die uns in der Q Ü b e r l i e f e r u n g erhalten geblieben sind. D e n n nach Q - L k 9,57-60 herrscht eine Unsicherheit beim W a n d e r l e b e n , b e s o n d e r s w a s die A u f n a h m e durch ortsansässige M e n s c h e n angeht, 8 3 w ä h r e n d die Formulierungen in v30 ( ' h u n d e r t f a c h ' sowie 'jetzt in dieser W e l t ' ) in V e r b i n d u n g mit d e m negativen Subjekt in v29 ( ' n i e m a n d ' ) w i e eine Garantie f ü r eine A u f n a h m e wirken. W i e ist diese S p a n n u n g zu erklären?

81

Zitiert nach J.B. Aufhauser, Antike Jesus-Zeugnisse, 7 (Orthographie leicht modernisiert). Darauf machte mich G. Theißen aufmerksam, der als erster diese Stelle mit der heutigen Diskussion über das Wandercharismatikertum in Verbindung gebracht hat. 82 Die Übersetzung stammt von M. Billerbeck, Vom Kynismus, 31. 83 Besonders v58: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nirgends eine Stelle, wo er sein Haupt hinlegen kann."

Die Vorstellung der familia dei in den synoptischen Evangelien

131

Auch das Logion von Q-Lk 10,7b (Q-Mt 10,10b) 84 kann diese Spannung nicht lösen. Denn der lk, wohl ursprüngliche 85 Mikrokontext, Lk 10,7a, macht deutlich, dass das Logion für Wandercharismatiker eine Erlaubnis bedeutet, jedes vorgesetzte Essen zu sich zu nehmen, aber keineswegs eine Garantie, dass sie niemals hungern werden (der mt Mikrokontext macht eben diesen Eindruck). 86 Ferner ist die vierte Bitte des Vaterunser ein gutes Indiz dafür, dass das tägliche Brot für Wandercharismatiker eine unvermeidbare Sorge darstellte. 87 Auch das Logion von Q-Lk 10,1 Of 88 lässt erkennen, dass für Wandercharismatiker die Unsicherheit, nicht aufgenommen zu werden, zum Alltag gehört. 2) Die Schilderung des Verlassens in v29 weist e t w a s U n g e w ö h n l i c h e s auf. Denn wenn es um den Eintritt in die N a c h f o l g e Jesu geht, k ä m e n beim Verlassen der Familie an erster Stelle die Eltern in Betracht, nicht aber die Geschwister. 8 9 Die Logienquelle bezeugt f ü r diese Situation, dass zwar Eltern und Kinder verlassen werden, schweigt aber von Schwestern und Brüdern. „ W e r Vater oder Mutter m e h r liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und w e r Sohn oder T o c h t e r mehr liebt als mich, der ist meiner nicht w e r t " ( Q - M t 10,37). 9 0 Selbst die mk Ü b e r l i e f e r u n g kennt in Bezug auf die Situation des Verlassens nur den Vater als Verlassenen, aber keineswegs die Geschwister.

84

Lk: „denn dem Arbeiter steht sein Lohn zu."; Mt: „Denn dem Arbeiter steht sein Brot zu." Die lk Version liegt dem ursprünglichen Wortlaut näher (vgl. z.B. Luz, Das Evangelium nach Matthäus 2. Teil, EKK I, Zürich u.a. 1990, 88). 85 So auch z.B. Fander, Stellung, 31 lf, und die Exegeten, die dort in Anm. 74 genannt werden. 86 Lk 10,7a: „In demselben Hause aber bleibt, esst und trinkt, was man euch gibt."; Mt 10,9.10a:„Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben keine Schuhe, auch keinen Wanderstock." 87 Siehe auch oben im Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei in Q' zur betreffenden Stelle. 88 „Wenn ihr in eine Stadt kommt und sie euch nicht aufnehmen, dann geht hinaus 89 Pesch, Mk II, 144, erklärt die jetzige Reihenfolge als Steigerung von Brüdern über Eltern bis zu Kindern. Käme aber bei einer sich steigernden Reihenfolge nicht an erster Stelle 'Kinder'? 90 Dass der lk Q-Text noch mit 'Frau' sowie 'Brüder und Schwestern' versehen ist, geht auf dem Evangelisten Lukas zurück. So auch Polag, Q, 70f.

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„Und sogleich rief er sie und sie ließen ihren Vater Zebädäus im Boot... zurück und folgten ihm nach" (Mk 1,20).91 Unser Text bringt jedoch die Geschwister an erster Stelle in der Liste der verlassenen Familienglieder! Was könnte dahinter stehen? Die unter 1) und 2) geschilderten Probleme scheinen mir durch einen gemeinsamen Grund veranlasst worden zu sein, der mit der Entstehung des wesentlichen Teils des Textes zusammenhängt. Wir beginnen zunächst mit der in 2) geschilderten Problematik. Die Ungewöhnlichkeit92 dessen, dass die Geschwister als die ersten verlassenen Familienglieder genannt werden, wird verständlich, wenn man sich die Aufnahmesituation von Wandercharismatikern durch sympathisierende Familien vorstellt:93 Die Wandercharismatiker dürften in den meisten Fällen wie Brüder bzw. Schwestern94 von den ortsansässigen Sympathisanten aufgenommen worden sein. Eine Beziehung zwischen Wandercharismatikern als Kindern und ortsansässigen Sympathisanten quasi als Eltern könnte zwar vorgekommen sein, jedoch dürfte solch eine Beziehung nicht die vorherrschende gewesen sein, weil die geschwisterliche Beziehung, wenn kein erheblicher Altersabstand vorlag, den beiden betroffenen Parteien angemessener erscheinen musste. Paulus bezeugt dies ganz deutlich: Bei ihm ist die Anrede 'Brüder' die häufigste und allgemeinste, während 'Mutter' nur einmal vorkommt (Rom 16,13). Das heißt, dass die Nennung von Brüdern und Schwestern an der ersten Stelle der verlassenen Familienglieder in v29 nicht von der Situation des Verlassens,95 sondern von der Aufnahmesituation her veranlasst worden ist.96 91

Der Vers mit seinem Kontext (vv 16-20) geht im Wesentlichen auf eine vormk Tradition zurück. Für Pesch, Mk I, 114, „gehört die Entstehung der Erzählung in die frühe nachösterliche Mission" Bultmann, Geschichte, 27, sieht in unserem Text „eine ideale Szene" (so auch Gnilka, Mk I, 75, fur den die Berufung von Jüngern durch Jesus „allmählicher und verwickelter" vorgegangen ist). Man wird allerdings dem Text Historizität nicht ganz absprechen dürfen. Die Konkretheit, z.B. die Angabe über das Zurücklassen von Lohnknechten bei Zebedäus, dem Vater, lässt sich nur schwer erfinden. 92

Siehe auch Anm. 80.

93

So auch Ernst, Mk, 299.

94

Wenn es sich dabei um eine Wandercharismatikerin handelt. 95 Die Vermutung, dass bei den meisten der Jünger Jesu zum Zeitpunkt ihres Eintritts in die Nachfolge wegen der damaligen kurzen Lebenserwartung die Eltern bereits tot waren, so dass deshalb zunächst die Geschwister genannt wer-

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133

D i e s e L ö s u n g führt uns zu der Überlegung, o b der w e s e n t l i c h e Teil unseres T e x t e s , e t w a v v 2 9 f , auf e i n e ortsansässige

Sympathisantengruppe

zurückgehen könnte. Eine s o l c h e Gruppe 9 7 könnte ihre Erfahrungen mit Wandercharismatikern formuliert haben. 9 8 D i e s e A n n a h m e hat vor a l l e m den Vorteil, zu erklären, warum die A u s s a g e in v v 2 9 f zu Jesu A u s s a g e n über die Realität d e s W a n d e r l e b e n s 9 9 in Spannung steht: D a das L o g i o n in v v 2 9 f aus der Sicht v o n ortsansässigen S y m p a t h i s a n t e n , 1 0 0 die zur A u f n a h m e von Wandercharismatikern bereit sind, formuliert ist, k o m m t die Unsicherheit beim Wanderleben hier nicht zum Ausdruck, sondern stattdessen wird eine Garantie für ihre A u f n a h m e formuliert.

101

den, hält schon dem Bericht (Mk 1,20) nicht stand, wonach der Vater Zebedäus verlassen wurde. 96 Daher halte ich es für korrekturbedürftig, wenn man erst in v30 eine veränderte Situation, eine sesshafte Existenz, sehen will und die Beschreibung in v29 als „radikalen Lebensstil" bezeichnet, der der in v30 angesprochenen Gemeinde nicht zugemutet wird (so Th. Schmeller, Brechungen, 107f). 97

Für Lohmeyer, Mk 216, ist der Evangelist Markus für die Nennung von 'Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder' verantwortlich. Dass Lohmeyer allerdings hinter diesen Familiengliedern eine Gemeinschaft (für ihn Gemeinde) vermutet hat, ist hier zu unterstreichen. 98

In eine ähnliche Richtung geht auch Ernst, Mk, 300, für den allerdings das Logion Jesu in v29 „auf die Verhältnisse der Gemeindemissionare, möglicherweise auch auf deren erste Ernüchterungen hin, formuliert ist." 99

Vgl. Luz, Mt II, 22. Nach ihm ist das Wort Mt 8,20 (also Lk 9,58) gut auf den historischen Jesus zurückzufuhren. 100

Für Exegeten wie Reploh, Markus, 205, oder R. Busemann, Die Jüngergemeinde nach Markus 10. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung des 10. Kapitels im Markusevangelium, B B B 57, Bonn u.a. 1983, 85, die Mk 10,28-31 allein unter einem redaktionsgeschichtlichen Aspekt untersucht haben, sind die Formulierungen der Belohnung bzw. der zu verlassenden Gegenstände allein auf den Evangelisten zurückzuführen. Ob der Evangelist allein dafür verantwortlich gemacht werden kann, ist m.E. aber fraglich. 101

Damit ist auch die Entscheidung über die Historizität von Mk 10,28-31 gefallen. Angesichts der Spannung zwischen der Aussage Jesu über die Realität des Wanderlebens in Q sowie der Aussage in der Aussendungsrede (Q-Lk 10,1 Of) einerseits und der Garantie andererseits, die aus Mk 10,29f hervorgeht, wird man schwer annehmen können, dass das Logion in Mk 10,29f auf den historischen Jesus zurückgeht (Gegen Taylor, Mark, 434f, der für die Authentizität des ganzen Textes argumentiert, und Gnilka, Mk II, 93f, der einen Teil des Textes dem historischen Jesus zuschreiben will).

134

Die Vorstellung der familia dei im MkEv

Eine Alternative wäre die Möglichkeit, dass das Logion w 2 9 f von einem Wandercharismatikerkreis stammt, der das Logion dazu benutzen wollte, um „Rekruten" zu ermuntern. 102 Jedoch sprechen gegen solche Möglichkeit neben dem oben genannten Widerspruch zu Q-Traditionen noch folgende Einwände: 1) Die Nennung von Äckern als zu erstattendem Gegenstand ist aus der Sicht von Leuten ohne stabilitas loci kaum denkbar. Für Wandercharismatiker sind die Äcker von keiner Bedeutung, weil sie nur kurze Zeit ein oder zwei Tage - an einem Ort bleiben, d.h. sie haben gar keine Zeit, einen Acker zu bebauen. Hier schlägt sich deutlich eine Sichtweise von sesshaften Menschen nieder, die mit Äckern 103 ihren Unterhalt verdienen. 2) Auch dass die Aufnahme von Wandercharismatikern durch ortsansässige Sympathisanten als deren Lohn mit dem ewigen Leben verglichen wird, spiegelt eher eine Sichtweise von sesshaften Menschen wieder. Von einem Wandercharismatiker ist schwer zu erwarten, dass er die Gemeinschaft mit ortsansässigen Sympathisanten als einen dem ewigen Leben gleichwertigen Lohn versteht. Offenbar steht hinter dem Lohngedanken das große Selbstbewusstsein einer sesshaften Gemeinschaft, 104 die sich selbst wertzuschätzen weiß. 3) Wie schon erkannt wurde, 105 sind v29 und v28 traditionsgeschichtlich von unterschiedlicher Herkunft. Dass v29 im Hinblick auf v28 etwas abrupt wirkt, zeigt sich darin, dass Jesus die Jünger nicht in der 2. Pers PI. anspricht: „Ihr, die alles verlassen und mir nachgefolgt seid", was eigentlich angesichts des Satzes von Petrus („wir haben ") zu erwarten 102

So ähnlich Emst, Mk, 300. T.E. Schmidt, Mark 10.29-30; Matthew 19,29: 'Leave houses and religion'?, NTS 38 (1992), 617-120, stellt die These auf, dass 'die Äcker' in v30 auf eine Fehlübersetzung von x m N oder ΚΠΐηΚ als Äquivalent ΓΤΠΕ7 zurückzuführen sei. Dementsprechend solle in v30 statt 'Äcker' 'Heimatland' stehen. Diese These ist hochhypothetisch und hat die Schwierigkeit, nachweisen zu müssen, dass hinter v30 tatsächlich ein aramäisches Logion gestanden hat. Gerade dies tut Schmidt nicht. 104 Dass es sich hier um eine Gemeinschaftsgröße handelt, bedarf keiner weiteren Erklärung. Siehe die obige Darstellung über die Bedeutung von 'Brüder Schwestern - Mütter' 105 Vgl. Bultmann, Geschichte, 21. 103

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135

wäre, sondern er spricht in der dritten Person und ganz neutral ('niemand'). V29 nimmt also keinen direkten Bezug auf die Situation von Petrus einschließlich seines Zwölfer-Kreises, sondern auf die allgemeine Situation von Wandercharismatikern. D.h: Es besteht keine Notwendigkeit, v29 als eine Tradition aus dem Zwölfer-Kreis, dem Urwandercharismatikertum, zu sehen. Im Anschluss an Bultmann vermutet Gnilka 1 0 6 als eruierte Grundform unseres Textes v29 und v30a, wobei er nicht alle genannten verlassenen Gegenstände und Personen für ursprünglich hält. Die Grundform sieht nach ihm so aus: „Und jeder, der Vater oder Mutter (Schwester oder Brüder?) um meinetwillen verlässt, der wird Hundertfaches dafür empfangen." Ob solch eine Grundform jemals existiert hat, scheint mir angesichts der Verzahnung von v29 und v30 (BrüderSchwester-Mütter) fraglich. Was würde die 'hundertfache' Belohnung konkret bedeutet haben? Würde sie, wie Bultmann meint, jenseitigen Lohn bedeuten, dann wäre zu fragen, warum er mit dem Wort 'hundertfach' umschrieben wird, obwohl weder vom Wort noch vom Textzusammenhang her Jenseitiges nahe liegt. Würde die hundertfache Belohnung Diesseitiges meinen und sich auf die hundertfache Erstattung durch Aufnahme in ortsansässige Gemeinschaften beziehen, dann wäre zu fragen, ob die elterliche Beziehung zwischen Wandercharismatikern und ortsansässigen Sympathisanten tatsächlich so bedeutend war, dass nur diese Beziehung in v29 und v30a unterstrichen wurde, während von ihrer geschwisterlichen Beziehung, die allgemein verbreitet und bekannt war, 1 0 7 geschwiegen würde. Nimmt man aber den ganzen Vers 30 hinzu, dann erklärt sich die Bedeutung von 'hundertfach' von selbst: Der verheißene Lohn wird mit Hilfe des symmetrischen literarischen Schemas - 'jetzt in dieser Zeit und dann in der zukünftigen Welt' - ausführlich illustriert. Außerdem ist nach Pesch die dualistisch wirkende Formulierung keine zeitlich spätere Denkweise, sie ist zur Zeit Jesu denkbar. 1 0 8 Es empfiehlt sich daher, der Kohärenz der Überlieferung den Vorzug zugeben, statt eine willkürliche Hypothese über eine Vorform aufzustellen. Dagegen verdient die Überlegung von R. Busemann 1 0 9 Beachtung, nach der die ältere Form so zu eruieren wäre: „Es gibt niemand, der alles um meinetwillen

106

Gnilka, Mk II, 93 f. Zu erinnern sei hier an das oben angeführte Beispiel bei Paulus. Siehe auch oben Seite 116. 108 Mk II, 145. 109 Jüngergemeinde, 73-85, besonders 85. Für ihn ist allerdings die ältere Form von w 2 9 f einfach vormarkinisch und alles andere markinische Redaktion. Siehe auch Anm. 100. 107

136

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und um des Evangeliums willen verlassen hat, der nicht hundertfach empfangen wird." Diese Form bereitet nicht die Probleme, die wir oben angemerkt haben. Insofern lässt sich diese Ansicht als eine Möglichkeit zur Erklärung der Entwicklung von vv29f vertreten. Unsere obige Ansicht wird dadurch jedoch nicht berührt, denn auch diese Möglichkeit macht deutlich, wie stark die Verse 29f in ihrer Endgestalt von einer sesshaften Gemeinschaft geprägt sind. Die Entstehung der vv29f in einer der jetzigen nahen Form ist also auf die sesshafte Gemeinschaft zurückzufuhren.

Das Fazit: Das Logion vv29f ist wahrscheinlich auf eine Gemeinschaft von ortsansässigen Sympathisanten zurückzufuhren, die mit ihm ihre Erfahrungen mit Wandercharismatikern zum Ausdruck gebracht haben.

(3) Das Fehlen des Wortes „Vater" in v30 In v30 ist in der Liste der zu ersetzenden Personen das Wort 'Vater' ausgefallen. Dies ist angesichts der langen Liste, in der das zuvor Genannte in v29 wiederholt wird, auffallend. Offenbar wird damit eine Distanz zu patriarchalischem Gedankengut signalisiert. Trägt man der in unserer QUntersuchung gewonnenen Erkenntnis Rechnung, dass für jeden Wandercharismatiker Gott Vater ist, dann darf man annehmen, dass das Fehlen des Wortes 'Vater' mit der Vorstellung von Gott als Vater zu tun hat: Weil Gott Vater der Wandercharismatiker und zugleich der ortsansässigen Sympathisanten ist - da ihnen das Wort Jesu durch Wandercharismatiker verkündet wird, z.B. Q-Lk 11,2-4 oder 11,9-13, - ist es verständlich, dass an der Stelle des menschlichen Vaters wie hier in Mk 10,30 eine Lücke entsteht. Weist diese Lücke implizit auf die Vorstellung von Gott als Vater hin, so findet sich deren Explikation in Mk 11,25, wo von 'eurem Vater im Himmel' gesprochen wird. 110 Exkurs: Zum Wesen von ortsansässigen pen

Sympathisantengrup-

Es scheint mir sinnvoll zu sein, an dieser Stelle über das Wesen von ortsansässigen Sympathisantengruppen nachzudenken, da wir schon oft von ihnen sprachen, ohne näher auf sie einzugehen. Aufgrund unserer bisherigen Beobachtungen können wir ihnen folgende Eigenschaften zuschreiben:

110

Gegen Lührmann und Schmeller, siehe Anm. 76.

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137

1) Sie sind familiäre Gemeinschaften, in denen die geschwisterliche Beziehung vorherrscht, aber auch elterliche, genauer mütterliche Beziehungen, freilich viel seltener, zu finden sind. 2) Dabei fehlen unter ihren Gliedern patriarchalische Beziehungen, die in der damaligen Zeit die Familie prägten. Die Vatermetaphorik hat nur für das Verhältnis zwischen den Menschen und Gott Geltung. 3) Diese Gemeinschaften sind Hilfsgemeinschaften, die bereit sind, Wandercharismatiker aufzunehmen und ihnen Unterhalt zu geben. Philo berichtet in seinem vierten Buch de vita contemplativa über das Leben der asketischen Gemeinschaft der Therapeuten. Da diese Gemeinschaft in Bezug auf die oben unter 1) und 2) genannten Eigenschaften eine gewisse Analogie liefert, ziehen wir sie heran, um das Wesen der ortsansässigen Sympathisantengruppen besser verstehen zu können. 1 1 1 Die Therapeuten wohnen nach der Darstellung von Philo außerhalb von Städten 1 1 2 in einzelnen, einfachen Häusern zusammen und lesen die ganze Zeit vom frühen Morgen bis zum Abend die Heiligen Schriften 1 1 3 und „philosophieren in ihrer althergebrachten Philosophie Allegorie treibend." 1 1 4 „Jeweils am siebten Tag kommen sie zu einer gemeinschaftlichen Versammlung zusammen", 1 1 5 beten gen Himmel, 1 1 6 hören Unterweisungen von ihrem Vorsteher. 1 1 7 Danach singen sie einen Hymnus und nehmen die einfachste Speise gemeinsam zu sich. 1 1 8

111

R. Bergmeier, Die Essener-Berichte des Flavius Josephus. Quellenstudien zu den Essenertexten im Werk des jüdischen Historiographen, Kampen (The Netherlands) 1993, 42ff, hält Philos Darstellung der Therapeuten für eine Fiktion. Allerdings stimmt er dem Urteil I. Heinemanns, Therapeutai, PRE V A (1934) 2329, zu, dass zahlreiche Einzelzüge im Bild der Essener bei Philos „weder aus Übertragung feststehender Typen noch aus irgendwelcher Phantasietätigkeit zu erklären sind" 112

De vita contemplativa 2.

113

Ebd., 3.

114

Zitiert nach der Übersetzung von K.. Bormann, Über das betrachtende (oder beschauliche) Leben (de vita contemplativa), in: L. Cohn u.a. (Hg.), Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung VII, Berlin 2 1964, 54. 115

De vita contemplativa 3 (Übersetzung von Bormann, ebd., 55).

116

Ebd., 8.

117

Ebd., 10.

118

Ebd.

138

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Von Bedeutung ist für uns Philos Darstellung dieser gemeinsamen Mahlzeit. Die Teilnehmer wurden von Jünglingen bedient, die man vorher zu diesem Dienst bestimmt hat. Diese dienten den Gemeinschaftsgliedern „wie eheliche Söhne ihren Vätern und Müttern; denn sie betrachten die ältesten Mitglieder der Vereinigung als ihre gemeinsamen Eltern, die ihnen näher stehen als die natürlichen Eltern, da recht gesinnten Menschen nichts näher steht als sittliche Vortrefflichkeit." 119 Offenbar ist die Beziehung unter den Gemeinschaftsgliedern familiär. Zwar wird nirgends expressis verbis davon gesprochen, dass in der Gemeinschaft geschwisterliche Beziehungen zu finden sind, jedoch dürften sie aus der elterlichen Beziehung zu erschließen sein, da sie die unausweichliche Folge einer gemeinsamen Eltern-Beziehung sind. Dass trotzdem geschwisterliche Beziehungen in der ganzen Darstellung der Gemeinschaft unerwähnt bleiben, spiegelt m.E. wider, dass sie in ihr von geringer Bedeutung gewesen sind. Stimmt dies, dann stellt sich die Frage: woran liegt es, dass in dieser Gemeinschaft die elterliche Beziehung von Bedeutung ist, während unter den ortsansässigen Sympathisanten der Jesusbewegung die geschwisterliche Beziehung dominiert? Die Antwort darauf ist m.E. im Wesen dieser Gemeinschaft begründet. Die Therapeuten bilden eine in sich geschlossene Gemeinschaft mit einer hierarchischen Struktur: Sie hat einen Vorsteher, der zugleich Lehrer für Mitglieder ist. Diese hierarchische Struktur ist wichtig für eine Gemeinschaft, die nach außen hin geschlossen bleibt, um ihre Ordnung bewahren zu können. Dagegen sind die ortsansässigen Sympathisantengruppen vom Gedanken der Gleichrangigkeit geprägt: Alle sind Geschwister. Ihre Struktur spiegelt wider, wie aufgeschlossen ihre Gemeinschaft nach außen hin ist. Sie ist zu jeder Zeit bereit, Wandercharismatiker aufzunehmen. Eine hierarchische Gemeinschaft, die in sich geschlossen ist, würde durch Aufnahme von Wandercharismatikern mehr Schaden nehmen als profitieren, weil diese Autorität besitzen, welche die der ortsansässigen 119

Zitiert nach der Übersetzung von K. Bormann, Das betrachtende Leben, 66. Die Geschwistermetaphorik begegnet dagegen in Philos Beschreibung der Essener in Quod omnis probus liber sit 79. Dagegen lehnen die Essener Sklaverei ab, weil die Natur alle Menschen „in gleicher Weise gebar und nährte wie eine Mutter und sie zu wirklichen Brüdern machte, und das nicht nur dem Namen nach, sondern tatsächlich" (Übersetzung: K. Bormann, Über Freiheit des Tüchtigen, in: Philo von Alexandrien. Die Werke in deutscher Übersetzung, VII, Berlin 1964, 24f).

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139

Autoritäten übertrifft, sofern sich diese schon entwickelt haben. Eine egalitäre Struktur dürfte also für ortsansässige Sympathisantengruppen unausweichlich gewesen sein.

(4) Die Bedeutung des Textes auf der Ebene der mk Gemeinde Ist fur die Entstehung von Mk 10,28ff im Wesentlichen eine ortsansässige Sympathisantengruppe verantwortlich, dann ist als nächster Schritt zu fragen, wie dieser Text auf der Ebene der mk Gemeinde verstanden wurde. Zur Beantwortung der gestellten Frage sind zwei weitere Fragen wichtig: 1) Welche Änderungen hat der Evangelist Markus am vorgefundenen Text vorgenommen und wie sind diese Änderungen im Zusammenhang des Textes zu deuten? 2) In welchem Kontext hat der Evangelist diesen Text untergebracht und welche Bedeutung ergibt sich daraus? Wir beginnen mit der ersten Frage: Zu 1): Als mk Zusatz gilt allgemein zu Recht der Ausdruck 'mitten unter Verfolgungen' 1 2 0 in v30. 121 Darüber hinaus geht noch die Hinzufügung des als Wanderlogion bekannten v31 auf das Konto des Evangelisten. 122 Was flir einen Sinn ergibt diese Änderung bzw. Modifizierung? Zunächst zum Ausdruck 'mitten unter Verfolgungen' Die Verfolgungen treffen nach dem Text diejenigen, die alles um Jesu und des Evangeliums willen verlassen haben. Die Frage stellt sich nun, ob auf der Ebene der mk Gemeinde immer noch Wandercharismatiker gemeint sind. Diese Frage ist aufgrund folgender Überlegung eher zu verneinen. Wahrscheinlich ist der mk Zusatz 'mitten unter Verfolgungen' eine Anspielung auf die mk Gemeindesituation. Die mk Gemeinde ist durch Verfolgung gefährdet. Dafür sprechen Stellen wie Mk 4,17 oder 13,9-13. Mit denjenigen, die alles verlasssen haben, sind auf der Ebene der mk Gemeinde wahrscheinlich Gemeindeglieder gemeint, die von Verfolgung betroffen sind. Der Lohn für das Alles-Verlassen ist dann die Zusage, dass die mk Gemeinde ihnen wie eine Familie beistehen wird. Die Frage ist dann, wie der Ausdruck 'alles verlassen um meinetwillen und um des Evangeliums willen' in v29 auf der Ebende der mk Gemein120 Anders bei Pesch, Mk II, 145, der den Ausdruck als vormk ansieht und in ihm „die urchristlichen Missionserfahrungen" sieht. 121

Gnilka, Mk II, 91.

122

Pesch, Mk II, 135; Gnilka, Mk II, 91.

140

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de zu verstehen ist. Der Ausdruck 'um meinetwillen und um des Evangeliums willen' geht wohl nicht auf den Mk-Evangelisten zurück, sondern wurde schon vor ihm geprägt. 123 Dieser vormk Ausdruck findet sich im MkEv auch in Mk 8,35. Im Unterschied zu 10,29 fehlt dort nur die zweite Nennung der Präposition ενεκεν. Dieser auffällige Befund berechtigt uns, die Bedeutung des Ausdrucks dort zur Deutung unseres Verses heranzuziehen. Der Vers 8,35 steht im Zusammenhang mit anderen Einzellogien von der Nachfolge, die als Leidensbereitschaft zu verstehen ist (besonders v34). Nach v35 impliziert diese Leidensbereitschaft auch den Tod. 124 Nach v38 ist diese Leidensbereitschaft konkret als Bekenntnisbereitschaft in der Öffentlichkeit 125 zu verstehen. 126 Mit ihr ist der Ausdruck 'um meinetwillen und um des Evangeliums willen' in Verbindung zu bringen, denn Jesus und das Evangelium sind ja der Inhalt des Bekenntnisses. Das heißt: der Ausdruck 'um meinetwillen und um des Evangeliums willen' ist gleichbedeutend mit 'um des Bekenntnisses zu Jesus und um des Evangeliums willen' Stimmt dies, dann geht es auch in Mk 10,29 um die Bereitschaft, sich zu Jesus und dem Evangelium zu bekennen. 'Alles zu verlassen um meinetwillen und um des Evangeliums willen' bedeutet also die Bereitschaft, alles um des Bekenntnisses willen zu verlassen. Konkret ist dann an die Situation zu denken, dass jedes Gemeindeglied trotz der Gefahr, verfolgt und verhaftet zu werden und infolgedessen Trennung von seinen Familienangehörigen zu erleiden, zum öffentlichen Bekenntnis ermutigt wird. 127 Die mk Gemeinde wird

123

Vgl. G. Dautzenberg, Der Wandel der Reich-Gottes-Verkündung in der urchristlichen Mission, in: ders. u.a. (Hg.), Zur Geschichte des Urchristentums, QD 87, Freiburg u.a. 1979, 11-32. Vgl. auch Busemann, Jüngergemeinde, 78f. Anders Gnilka, Mk II, 91. 124 Hinter der prophezeienden Zusage von Mk 9,1 lässt sich wohl auch eine Situation vermuten, in der das Leben von Gemeindegliedern bedroht ist (Die Anreihung von vi geht ja auf den Evangelisten selbst zurück: vgl. Gnilka, Mk II, 22). 125 Vgl. Theißen, Gospel Writing, 20-33. 126 Für diese Schlussfolgerung spricht vor allem die Feststellung, dass der Evangelist Markus für die Bildung des jetzigen Kontextes (die Zusammenstellung von Einzellogien) wahrscheinlich verantwortlich ist (weil „eine Parallele zu 36 und 37, der Verbindung zwischen 34b. 35 und 38 fehlt", die in Q überliefert sind: so Lührmann, Mk, 151, ähnlich Gnilka, Mk II, 22). 127 Diese Deutung unterscheidet sich von derjenigen, die aus dem Text eine Bekehrungssituation erschließt. M.E. handelt es sich hier auf der mk Ebene nicht

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141

dabei jedem Glied beistehen (v30), wie seine eigene Familie es tun würde. Dieser familiäre Beistand der Gemeinde gilt auch dann, wenn die Gemeinde selbst mitten in Verfolgungen lebt (v30). Wenn schon das öffentliche Bekenntnis eines Gemeindegliedes Leiden zur Folge hat, so wird die Gemeinde als Glaubensgemeinschaft selbstverständlich auch zum Gegenstand von Verfolgung. Schließlich das Logion v31: Dieses Logion beinhaltet eine Warnung für die Ersten und zugleich einen Trost für die Letzten. Das Logion finden wir sinngemäß auch in Mk 9,35 sowie 10,43f als Lehre Jesu. An beiden Stellen bezieht es sich auf einen vorhergehenden Rangstreit der Jünger: Die beste Strategie, Erster zu werden, ist demnach, der Letzte zu sein. Auch die Warnung an unserer Stelle lässt sich in diesem Zusammenhang, d.h. auf dem Hintergrund eines Rangstreits, verstehen. 128 Jedes Gemeindeglied wird mit dem Logion v31 vor ihm gewarnt. Bringt man diese Deutung mit unserer Auslegung von vv29f in Verbindung, dann bedeutet der ganze Text für die mk Gemeinde etwa Folgendes: Jedes Gemeindeglied soll bereit sein, sich vor der Öffentlichkeit trotz der Gefahr von Verfolgung und Verhaftung zum Evangelium zu bekennen, aber zugleich soll es darauf verzichten, aufgrund seiner „Leistungen" in der Nachfolge Jesu - sei es in Form öffentlichen Bekenntnisses und der Hinnahme des sich daraus ergebenden Leidens, sei es in Form familiären Beistandes fur die wegen öffentlichen Bekennens leidenden Gemeindeglieder - anderen vorstehen zu wollen. 129 Zu 2) Mk 10,28-31 ist an einen Kontext angeschlossen, der die Themen Ehe, Kinder und Reichtum behandelt (Mk 10). Dabei steht Mk 10,28-31 in einer gewissen Spannung zu Mk 10,1-12 sowie 13-16: In den beiden um Bekehrung, sondern um ein Bekenntnis, das öffentlich stattfindet. Für die Deutung auf Bekehrung auf der Ebene der mk Gemeinde votiert Pesch, Mk II, 146. Siehe auch oben Seite 128. 128

Im Anschluss an J. Schmid, Mk, 197, sieht Pesch, Mk II, 146, in dem Logion v31 den Schluss für der Perikope von 10,1-31 und interpretiert es als Trostwort für die Jünger, die alles verlassen und deswegen Letzte geworden sind. Gegenüber dieser Deutung ist auf die Schwierigkeit hinzuweisen, dass im Text „viele" steht: Es gibt also welche, die jetzt Erste sind, und weiter solche bleiben werden (Vgl. Gnilka, Mk II, 93). Unverständlicherweise liest Grundmann, Mk, 214, aus dem Vers 35 beide Deutungen (die von Schmid und die von z.B. Gnilka) heraus. 129

Schmeller, Brechungen, 108, sieht hinter v31 das Herrschaftsstreben in der Gemeinde, das die Gemeinde als geschwisterliche Gemeinschaft gefährdet.

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Die Vorstellung der familia dei im MkEv

vorhergehenden Texten wird die Bedeutung der Ehe sowie der Kinder, kurz gesagt, der Familie, betont, während in Mk 10,28-31 die Bereitschaft zum Verzicht auf sie bzw. zum Verlassen der Familie unterstrichen wird. Die Frage, wie diese Textkonstellation zu verstehen ist, ist unausweichlich. Betrachtet man Mk 10,28-31 als Abschluss der vorhergegangenen Lehren Jesu, dann ergibt sich daraus der Sinn, man solle die Ehe und die Kinder nicht gering schätzen, jedoch auf sie verzichten können, wenn es notwendig wird, weil man sich vor der Öffentlichkeit zum Evangelium bekennen muss. Diese Deutung wird bereits in Mk 10,17-27 anhand eines reichen Jünglings vorbereitet, der alle Gebote erfüllt hat bis auf die eine Forderung Jesu, ihm nachzufolgen. Der Grund für sein Versagen war, dass er nicht auf alles zugunsten der Nachfolge verzichten konnte. Die Lehre aus dem Beispiel des reichen Jünglings ist also die: Man soll auf alles, insbesondere auf den Reichtum, verzichten können, wenn es zum Vollzug der Nachfolge notwendig wird. Offensichtlich schließt der Evangelist Markus mit Mk 10,28-31 die Lehre Jesu in den drei vorhergegangenen Texten ab, und zwar mit der klaren Lehre: Priorität soll die Nachfolge - im Sinne von Leidensbereitschaft - haben.

(5) Der mk Sitz im Leben von Mk 10,28-31 Die obige Deutung von Mk 10,28-31 auf der Ebene der mk Gemeinde ist die Grundlage für unsere Überlegungen zum mk Sitz im Leben dieses Textes. Am Anfang stehen zwei Beobachtungen: 1) Für die mk Gemeinde stehen an Stelle der Wandercharismatiker, die mit familiärer Zuwendung aufgenommen wurden, die Gemeindeglieder selbst, die wie jene auf alles verzichten wollen, wenn es auf ein öffentliches Bekenntnis ankommt. 2) Diese mk Gemeinde leidet unter Rangstreitigkeiten. 130 Beginnen wir mit der ersten Beobachtung. Dass der Personenkreis, der familiäre Zuwendung erfährt, geändert bzw. erweitert wurde, bedeutet einen Wandel der Perspektive. Die Bedeutung, die früher dem Wandercharismatikerkreis allein zugekommen war, wird zugunsten der eigenen 130

Daraus, dass ein vor Rangstreit warnendes Logion innerhalb des MkEv dreimal vorkommt (s.o.), darf man mit großer Wahrscheinlichkeit folgern, dass die mk Gemeinde oft Rangstreitigkeiten ausgesetzt war. Sie sind m.E. ein Indiz dafür, dass die Gemeinde sich von der Autorität der Wandercharismatiker löst: In der Ortsgemeinde wird darum gerungen, das dadurch entstehende Autoritätsvakuum wieder zu füllen. Der Rangstreit ist in der mk Gemeinde also auch struktuell bedingt.

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Gemeindeglieder relativiert. Denn Nachfolge vollziehen nun nicht nur Wandercharismatiker, sondern auch mk Gemeindeglieder. Wie ist dieser Perspektivenwandel zu bewerten? Was für eine Situation ist aus ihm zu erschließen? Um darauf zu antworten, wenden wir uns der zweiten Beobachtung zu. Wir haben oben im Exkurs davon gesprochen, dass die ortsansässige Sympathisantengruppen vom Gedanken der Gleichrangigkeit geprägt sind, was angesichts ständiger Besuche von Wandercharismatikern fur das Funktionieren dieser Gemeinschaften angemessen ist. Aus dieser Sicht stellt das Auftreten von Rangstreit in der mk Gemeinde eine Änderung der Situation dar. Denkbar ist m.E. die Situation, dass die Wandercharismatiker nicht mehr ihre traditionelle autoritative Rolle in der Gemeinschaft spielen können, weil das Selbstbewusstsein der Gemeinschaft bzw. ihrer Glieder gewachsen ist: Jedes Glied versteht sich als Nachfolger Jesu, was einst nur Wandercharismatiker taten, darum kommt es zu Rangstreitigkeiten unter den Gemeindegliedern. Dass die Bedeutung der Wandercharismatiker zugunsten der Gemeinschaftsglieder selbst relativiert wird (s.o.), bestätigt dies. Der Sitz im Leben von Mk 10,28-31 ist also wahrscheinlich dort zu suchen, wo die ortsansässige Sympathisantengruppen sich vom autoritativen Einfluss der Wandercharismatiker ablösen. 131

Zusammenfassung Im Vergleich zur Vorstellung der familia dei in Q begegnet uns im MkEv eine Vorstellung, die auf einem vollständigen Bildfeld der Familie basiert: War in Q die Vorstellung der familia dei von einer vertikalen Beziehung zwischen Gott bzw. der Weisheit einerseits und den Menschen andererseits geprägt, so ist die Vorstellung geschwisterlich verbundener Menschen im MkEv sowohl von einer vertikalen Beziehung zwischen Gott und den Menschen (z.B. in Mk 11,25) als auch von horizontalen Beziehungen unter den Menschen bestimmt (wie in Mk 3,31-35; 10,2831). Am Anfang der Entwicklung steht die geschwisterliche Beziehung des historischen Jesus zu seinen ortsansässigen Sympathisanten. Aus ihr entstanden geschwisterliche Beziehungen unter seinen Anhängern. Da Jesus für sie Sohn Gottes war, wurde Gott auch für sie zum Vater. Daneben entstanden Beziehungen zwischen ortsansässigen Sympathisan-

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Ausführlich gehe ich darauf unten im Exkurs ein.

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ten und Wandercharismatikern, die in der Zeit nach Ostern an die Stelle Jesu traten. Für die Ebene der mk Gemeinde sind zwei Feststellungen bezüglich der Vorstellung von der familia dei wichtig: 1) Die familia dei ist eine Identifikationsgröße für die Ortsgemeinde. Denn genauso wie die ortsansässigen Sympathisanten bildet die mk Gemeinde eine ortsgebundene Gemeinschaft. Ihr steht die familia dei näher als der Zwölfer-Kreis, der als Urmodell der Wandercharismatiker zu verstehen ist. 2) Die Distanz zu den Wandercharismatikern konkretisiert sich dort, wo deren Bedeutung zugunsten der Gemeindeglieder relativiert wird. Weil die Nachfolge nun auch von ortsansässigen Gemeindegliedern vollzogen wird, verdienen auch sie verstärkt die familiäre Zuwendung der Gemeinde. Die Relativierung der Bedeutung von Wandercharismatikern spricht dafür, dass die mk Gemeinde eine Ortsgemeinde war, die sich vom autoritativen Einfluss der Wandercharismatiker löste. Die Metapher Sklave in der familia dei Während in Q die Metapher Sklave nur in einem bilateralen Verhältnis zwischen Herrn und Sklaven steht (Q-Lk 19,12-26), begegnet sie im MkEv auch in einem Verhältnis zueinander (Mk 10,43f). Dies hängt wohl damit zusammen, dass im MkEv der horizontale Aspekt hinsichtlich der familia-dei-Vorstellung festzustellen ist. Dort, wo geschwisterliche Beziehungen in der familia dei wichtig geworden sind, ist eine Regel wie die von 10,43f zur Konfliktvermeidung unter den Mitgliedern der familia dei unentbehrlich: Man soll wie der letzte in der Familie, Sklave, sein, damit die ganze Familie untereinander konfliktfrei bleibt. Diese Regel entwickelt sich im MtEv (Mt 18,23-35) weiter. Sie ist dort mit der Beziehung der Sklaven zu ihrem Herrn in Verbindung gesetzt: Wie der Herr seinem Sklaven gegenüber gütig war, so soll jeder Sklave seinem Mitsklave begegnen. Offenbar sind die beiden Aspekte von Q und MkEv hinsichtlich der Anwendung der Metapher Sklave hier miteinander verbunden. 132 Auch im LkEv (Lk 12,4246) findet sich eine Entwicklung, die vom MkEv herkommt. War in Mk 13,34-37 von einer bilateralen Beziehung zwischen dem Herrn und seinen Sklaven die Rede, so ist im LkEv darüber hinaus von Beziehungen der Sklaven untereinander im Hinblick auf dem Herrn die Rede: „Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Leute setzt, damit er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht?" (v42).

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Über das MtEv als Synthese von Q und MkEv s.u. im nächsten Kapitel.

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Exkurs: Die Ablösung der Ortsgemeinde von den Wandercharismatikern W i r haben oben davon gesprochen, dass die m k G e m e i n d e eine Ortsgemeinde war, die sich vom Einfluss der W a n d e r c h a r i s m a t i k e r löste. Das M k E v überliefert Texte, die diesen V o r g a n g dokumentieren. Es sind M k 10,13-16; 9,33-37; 7,9-13; 10,1-12. Wir untersuchen sie im Folgenden auf ihren Sitz im Leben hin und beginnen mit d e m erstgenannten Text.

1) Mk 10,13-16 Die Diskussion um die Frage, o b sich M k 10,13-16 auf ein gemeindeinternes Problem die Legitimität der Kindertaufe bezieht, 1 3 3 schien in der Exegese abgeschlossen zu sein, so dass der Frage nach d e m Sitz im Leben des b e t r e f f e n d e n Textes eine Zeit lang w e n i g A u f m e r k s a m k e i t geschenkt w u r d e . 1 3 4 Es w a r daher an der Zeit, dass m a n sie bei M k 10,13-16 1 3 5 neu a u f n a h m . J. Sauer 1 3 6 w a r einer der Ersten, der M k 10, Π Ι 6 in dieser Hinsicht neu untersucht hat. 1 3 7

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Die Befürworter dieser Deutung sind O. Cullmann, Spuren einer alten Taufformel im Neuen Testament, Anhang zu: ders., Die Tauflehre des Neuen Testament, AThANT 12, Zürich 1984, 65-73, und J. Jeremias, Die Kindertaufe in den ersten vier Jahrhunderten, Göttingen 1958. K. Aland, Die Säuglingstaufe im Neuen Testament und in der alten Kirche. Eine Antwort an Joachim Jeremias, TEH.NF 86, München 1961, lehnt diese Deutung mit guten Gründen strikt ab. 134

Feststellung von J. Sauer, Der ursprüngliche 'Sitz im Leben' von Mk 10,1316, ZNW 72 (1981), 27f. 135 Einen Forschungsüberblick über Mk 10,13-16 bietet G. Ringshausen, Die Kinder der Weisheit. Zur Auslegung von Mk 10 13-16 par, ZNW 77 (1986), 3442. 136 Sitz, 27-50. 137 Weitere Exegeten, die das Gleiche unternommen haben, sind A. Lindemann, Die Kinder und die Gottesherrschaft. Markus 10,13-16 und die Stellung der Kinder in der späthellenischen Gesellschaft und im Urchristentum, WuD 17 (1983), 77-104, der dabei die Deutung auf die Legitimität der Kindertaufe wieder aufgreift, und Ringshausen, Weisheit, 34-63, der Mk 10,13.14.16 als „von einer Weisheitschristologie geprägt" sieht; für ihn ist daher das Wort Jesu in ν 14a der Ruf ihrer Kinder durch die Weisheit. Dementsprechend deutet er den ganzen Text als Mahnung an die Gemeinde(-fuhrung), die Kinder der Weisheit, d.h. Wanderprediger, aufzunehmen.

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Sauers Fragestellung war, „welches Problem in urchristlichen Gemeinden man hier hätte regeln wollen." Nach einer eingehenden Untersuchung von Tradition sowie Redaktion stellte er fest, dass „Markus mit einiger Wahrscheinlichkeit die gesamte Perikope aus den w . 13.14.15 und 16 vorlag, und zwar nicht im Rahmen einer Sammlung, sondern als isolierte Einzelüberlieferung." 138 In der anschließenden traditionsgeschichtlichen Analyse ging er von der Beobachtung aus, dass vl4bc und vi5 konkurrierten, aber zugleich vl4bc auf vi5 angewiesen sei, und kam zu dem Schluss, dass man in Mk 10,15 ein authentisches Herrenwort vor sich habe, aus dem vl4bc hervorgegangen sei, um ein umstrittenes Gemeindeproblem, bei dem es um den Zugang von Kindern zu Jesus ging, zu lösen. In diesem Zusammenhang sei wahrscheinlich die rahmende Szene ( w 13.14a. 16 in seiner ursprünglichen Gestalt) geschaffen worden. Das angesprochene Gemeindeproblem präzisierte Sauer, indem er den ursprünglichen Sitz im Leben von Mk 10,13-16 auf die Diskussion um die Legitimität der Heilung von Kindern zurückführte, und zwar aus folgenden Gründen: 1) Die Perikope beginne mit einer für Heilungswunder typischen Einleitung: dem Herzubringen der Wunderadressaten zum Wundertäter mit dem Wunsche, durch Berührung Heilung zu finden. 2) Die Termini von προσφέρω, άπτομαι, επιτιμάω, κωλύω, εναγκαλίζομαι und τίθημι τάς χείρας επί -ribzw. έπιτίθημι τάς χείρας zeigten eine Nähe zu Heilungswundererzählungen. 3) Spezifische Motive aus Wundergeschichten ließen sich feststellen: die bereits genannte Einleitung (1), „die Erschwernis der Annäherung" in vl3bf, die „pneumatische Erregung" Jesu (ήγανάκτησεν) und die „normative Ablehnung" in vl4f. Diese These ist aus folgenden Gründen problematisch: 1) Man fragt sich, ob es Menschen, die die Heilung von Kindern durch Wundertätigkeit strikt ablehnten, überhaupt gegeben hat, wie Sauer behauptet. Krankheit von Kindern ist etwas völlig anderes als das Problem der Kindertaufe. Es ist schwer vorstellbar, dass man jemandem, dessen Kind schwer krank ist und der auf seine Heilung hofft, sagt, Kinder seien nicht würdig, Wunderheilung zu erfahren, und deswegen seien sie von „Wundertherapien" der Gemeinde auszuschließen. 2) Wenn die Wunderheilung von Kindern ein strittiges Problem gewesen war, warum findet man keine Anspielung darauf in den Wundergeschichten, in denen Kinder Objekt der Wunderheilung waren, worauf Lührmann zu Recht aufmerksam macht? 139 138

Sauer, Sitz, 34. Mk, 172: „Doch eine solche Frage wäre eher an den bereits erfolgten Heilungen von Kindern (5,21-24.35-43 7,24-30 9,14-27) zu entscheiden gewesen; bei denen zeigt sich aber auch nicht ein Ansatz eines solchen Problems." Ähnlich auch Ringshausen, Weisheit, 41. 139

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147

3) Weiter fragt man sich, ob vl4bc wirklich auf v i 5 angewiesen ist, so dass vl4bc aus vi 5 hervorgegangen ist. Anders als Sauer insistiert, bedarf ν 14c keiner Begründung mehr, denn allein die Tatsache, dass hier Jesu Worte zu einem Problem Stellung nehmen, genügt - unabhängig von ihrer Authentizität - für eine urchristliche Hörerschaft, zumal der Versteil eng mit einem authentischen Jesuswort (Mt 5,3) verwandt ist. Die Annahme, dass vl4bc aus v i 5 hervorgegangen sei, ist m.E. eine gewagte Hypothese, die die gravierenden Unterschiede zwischen den beiden Versen bzw. Versteilen ignoriert. Die einfache und allgemein verbreitete Annahme, dass v i 5 zur Erzählung hinzugekommen sei, 1 4 0 ist vielmehr überzeugend, denn auch ohne ν 15 wirkt die Geschichte in sich geschlossen und man kann eine ähnliche Praxis der Kindersegnung im Judentum nachweisen. 141 Man braucht also nicht anzunehmen, dass die Segnung in v l 6 eine spätere Abänderung ist, die den ursprünglichen Sinn des Textes umbog. 1 4 2 Über den Sitz im Leben von M k 10,13-16 ist also aufs N e u e nachzudenken. Drei Beobachtungen am Text sind m.E. d a f ü r wichtig: 1) Es handelt sich um den Z u g a n g von K i n d e m zu Jesus bzw. zur G o t t e s h e r r s c h a f t . 1 4 3 2) Die Jünger kontrollieren diesen Z u g a n g . 1 4 4 3) Die Eltern w ü n s c h e n den Z u g a n g der Kinder zu Jesus. Beginnen wir mit der zweiten Beobachtung. M a n fragt sich, w o im Urchristentum Autoritäten begegnen, die Kontrolle über den Z u g a n g von M e n s c h e n zu J e s u s bzw. zur Gottesherrschaft haben. Die A n t w o r t fällt nicht schwer: Es waren Wandercharismatiker, die durch das Vermitteln der W o r t e Jesu Autorität über ihre Hörer und Kontrolle über den Z u g a n g der M e n s c h e n zu Jesus bzw. zur Gottesherrschaft ausübten. D a s s vom Verhalten der Jünger, die als die ersten W a n d e r c h a r i s m a t i k e r zu verstehen sind, die Rede ist ( v i 3 b ) , unterstützt unsere A n n a h m e . N u r fragt man sich, o b sie ausgerechnet den Z u g a n g von Kindern zu J e s u s kontrolliert 140

Z.B. Bultmann, Geschichte, 32; Lohmeyer, Mk, 202. Weitere Exegeten, die die gleiche Ansicht vertreten, werden von Sauer, Sitz, 30, Anm. 17 genannt. 141 Strack/Billerbeck, Kommentar I, 807. Auch Lohmeyer, Mk, 205; Lindemann, Gottesherrschaft, 93, besonders Anm. 92. 142 So Sauer, Sitz, 42f. 143 v g l Lindemann, Gottesherrschaft, 94, der so formuliert: „Es geht grundsätzlich darum, ob Kindern der Zugang zu Jesus gewährt werden soll oder ob er ihnen im Gegenteil verweigert wird." 144

Für G. Klein, Bibelarbeit über Markus 10,13-16, in: G. Krause (Hg.), Die Kinder im Evangelium, PSA, Stuttgart 1973, 12-30, dort 24, sind die Jünger „die zwischen der Öffentlichkeit und Jesus vermittelnde Instanz," die als Amtsträger verstanden werden können.

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haben. Für eine positive Beantwortung der Frage lassen sich einige Indizien sammeln: 1) Die Hauptaufgabe der Wandercharismatiker bestand nach der Aussendungsrede in zweierlei: im Heilen der Kranken und im Predigen der Gottesherrschaft. 145 Wie wir bei der Diskussion von Sauers These gesehen haben, ist es unwahrscheinlich, dass kranke Kinder von Wandercharismatikern nicht behandelt wurden. Beim Predigen der Gottesherrschaft ist es aber gut vorstellbar, dass Kinder nicht als die eigentlichen Zuhörer galten. Ihre Anwesenheit war zwar nicht vermeidbar, da es in den meist einfachen Häusern nur einen Raum gab, wo man schlief, aß und wohnte. Aber die Kinder wurden bei der Predigt eher als störend erlebt. 146 Außerdem ist schwer vorstellbar, dass gerade Wandercharismatiker für Kinder Verständnis gehabt hätten, so dass sie beim Predigen die kleinen Zuhörer berücksichtigt hätten. Denn sie selbst hatten ihre eigene Familie - darunter wohl auch ihre Kinder - verlassen. Wie konnten sie Verständnis für Kinder haben? 2) Die Wandercharismatiker wurden vom aufnehmenden Haus bewirtet. Zwar geht aus der Aussendungsrede nicht hervor, dass sie beim Brotbrechen das Abendmahl feierten. Aber wenn man diese Rede im Kern auf den irdischen Jesus zurückführt, dann ist gut vorstellbar, dass die Wandercharimatiker nach Ostern beim Brotbrechen in den Häusern das Abendmahl gefeiert haben, wofür neben Brot nur Wein notwendig war. 147 Konnten Kinder dabei als Vollberechtigte angesehen werden, wenn schon die einfache Tatsache, dass Wein für Kinder nicht geeignet ist, den Zugang der Kinder zum Abendmahl erschwert? Aus 1) und 2) ergibt sich die Ansicht, dass die Kinder in den Anfängen des Urchristentums von den Wandercharismatikern vernachlässigt wurden. Dies dürfte den Eltern mit der Zeit Sorge bereitet haben. Wenn die Kinder nicht das bekamen, was den Erwachsenen im religiösen Leben zustand, wie würde es ihren Kindern ergehen? Die eschatologische Nah-

145

Vgl. Mt 10,7f. Das kann man auch heutzutage noch in Gottesdiensten gut beobachten, an denen Kinder teilnehmen. 147 Die Apg ermöglicht dieses Bild. In 20,7-12 begegnet zweimal die Kombination „Predigt und Brotbrechen" (v7.11). 146

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erwartung war noch lebendig, 1 4 8 und die Bedeutung der Abendmahlsfeier war nicht zu unterschätzen. 149 Als Eltern hatten sie bestimmt den Wunsch, dass die eigenen Kinder trotz Unmündigkeit als vollständiges Glied der christlichen Religionsgemeinschaft akzeptiert und angesehen wurden. Dass so ein Wunsch von Seiten der Wandercharismatiker erfüllt wurde, war kaum zu erwarten, wohl aber, dass er in ortsansässigen (DorfGemeinschaften lebendig war, da viele Gemeinschaftsglieder Kinder hatten, die für sie wichtig waren. Unsere Geschichte in Mk 10,13-16 entspricht gerade diesem Wunsch der Eltern: Gegen die Autorität der Wandercharismatiker ordnet Jesus an, dass der Zugang der Kinder zu ihm nicht behindert wird. Stattdessen fuhrt er für sie eine Segenshandlung durch. Sie sagt: Kinder dürfen als Vollmitglieder der christlichen Religionsgemeinschaft akzeptiert werden, (selbst wenn sie aufgrund ihrer Unmündigkeit die Predigt der Wandercharismatiker weder richtig verstehen noch das Abendmahl zu sich nehmen können). Bereits A. Lindemann kommt zu dieser Schlussfolgerung, allerdings ist für ihn die Akzeptanz und Anerkennung von Kindern in der Gemeinde mit der Taufe identisch. 150 Dafür gibt es jedoch keinen überzeugenden Grund. Wie F Hahn vermutet, lässt sich vielmehr die Segnung Jesu als eine im Urchristentum praktizierte Handlung für Kinder 151 betrachten, die die Akzeptanz und Anerkennung von Kindern als Vollberechtigte in der Gemeinde zur Folge hat.

Aus dieser Überlegung ist die Konsequenz hinsichtlich des Sitzes im Leben des Textes zu ziehen, dass unser Text wohl auf diejenigen zurückgeht, die um das religiöse Leben ihrer Kinder besorgt waren und daher die Worte, die sie von Wandercharismatikern empfangen hatten, auf ihre Lebenssituation hin reflektierten. Wir können dann Mk 10,13-16 als eine Tradition sesshafter Sympathisanten bezeichnen. Zu ihrer Entstehung lässt sich soviel vermuten, dass 148

Vgl. Q-Lk 10,9: „... und sagt ihnen: Das Reich Gottes ist nahe zu euch gekommen." oder Mk 13. 149 Die mk Abendmahltradition unterstreicht den 'Bundescharakter' In 14,24 heißt es doch: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird."

150 vgl. Gottesherrschaft, besonders 97ff. 151

Kindersegnung und Kindertaufe im ältesten Christentum, in: H. Frankemölle/K. Kertelge (Hg.), Vom Urchristentum zu Jesus. FS. J. Gnilka, Freiburg u.a. 1989, 497-507 dort 500-502.

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sie erst nach einer Konsolidierungsphase von ortsansässigen Sympathisanten-Gemeinschaften entstanden ist. Ein Blick in die Paulusbriefe 152 bestätigt indirekt unsere Annahme: In den echten Paulusbriefen lässt sich kaum ein Interesse an Kindern feststellen, nur an einer Stelle begegnen sie (IKor 7,14), und zwar in Verbindung mit Ausführungen des Apostels über die Mischehe. Schon in den deuteropaulinischen Briefen ist die Lage anders. Sowohl im Kolosserbrief als auch im Epheserbrief kommt ein Interesse an Kindern zum Vorschein. 153 Die Kinder sind hier Adressaten von Mahnungen des Briefes, ihre Bedeutung innerhalb einer christlichen Gemeinschaft tritt sehr viel klarer hervor. Bis es soweit war, war ein gewisser Zeitraum vergangen.

2) Mk 9,33-37 Mk 9,33-37, besser gesagt vv36f, ist ein Text, der eine gewisse Nähe zu Mk 10,13-16 aufweist: Thematisch geht es hier wie dort um ein Kind, sprachlich findet man das Wort ε ν α γ κ α λ ί ζ ο μ α ι , das im ganzen Neuen Testament nur zweimal belegt ist. Ob diese Nähe auch auf eine Ähnlichkeit in Bezug auf den Sitz im Leben der beiden Texte hinweist, werden wir unten sehen. Der ganze Text (9,33-37) ist kunstvoll gebaut, so dass er einen einheitlichen Sinn ergibt. Der Auslöser der Geschichte ist der Rangstreit der zwölf Jünger (v34). Da dieser Streit unterwegs geschah, wird die Geschichte mit dem Satz eingeleitet, der besagt, dass sie in einen neuen Ort kamen (v33). Angesichts des Streits ruft Jesus seine Jünger zu sich und lehrt sie, wie man der Erste sein kann. Er illustriert seine Lehre anhand eines konkreten Beispiels, nämlich der Aufnahme von Kindern (w36f)· Auf dieses Beispiel wird bereits in v35 mit dem Wort 'Diener' hingewiesen: Derjenige, der der Erste sein will, soll sich durch seinen Dienst als solcher erweisen. Eine Szene mit ähnlicher Thematik begegnet im MkEv auch in 10,35-45. Auch dort sind die Streitenden die zwölf Jünger (v41). Jesus ergreift wieder das Wort, seine Lehre ist vom Sinn her dieselbe: Wer unter ihnen groß sein will, soll ihr Diener sein. Der auffallende Unterschied zu 9,3337 ist aber der, dass Jesu Lebenshingabe selbst das Beispiel für die Lehre 152 153

Vgl. Lindemann, Gottesherrschaft, 79-81.

Es handelt sich hier nicht um schon erwachsene Kinder. Vgl. Lindemann, Gottesherrschaft, 80.

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ist, während es in 9,33-37 die Kinderaufnahme ist. Angesicht dieser Ähnlichkeit beider Texte entsteht der Eindruck, dass der eine (Mk 9,33-37) nach dem Modell des anderen (10,35-45) gebildet wurde. 154 Dafür spricht der verallgemeinernde Charakter des ersten Textes: Im zweiten streiten zehn gegen zwei, im ersten alle Zwölf untereinander; die Lehre Jesu bezieht sich im zweiten zunächst auf die Zwölf ('unter euch\ 'euer Diener'), während sie im ersten deutlicher einen allgemeinen Sinn hat ('jemand', 'der Letzte von allen', 'aller Diener'). 155 Stimmt diese allgemeine Annahme, dann haben wir Grund, das jeweils unterschiedliche konkrete Beispiel genauer zu betrachten, weil auf ihm der Akzent liegen muss, den der Evangelist setzen will. Bei der Beschäftigung mit vv36f ist die Frage wichtig, wie 'Kind' hier zu verstehen ist. Soll man es metaphorisch oder wörtlich auffassen? Diejenigen, die es metaphorisch verstehen wollen, unterscheiden sich dadurch, dass sie das 'Kind' entweder auf die Jünger, die von Ort zu Ort wandern, beziehen 156 oder auf die Kleinen in der Gemeinde, die in Not geraten und daher hilfsbedürftig sind.157 Diejenigen, die das Wort 'Kind' auf wandernde Jünger beziehen wollen, führen als Begründung an 1) die Nähe von 9,37 zur Situation von Wandercharismatikern und 2) den eindeutigen Hinweis von 9,41 auf Wandercharismatiker, während diejenigen, die das betreffende Wort auf die Kleinen beziehen wollen, auf den Kontext und hier besonders auf v42, hinweisen. Wir haben nun zu überprüfen, ob diese Argumente akzeptabel sind. Zunächst zu 1) und 2): v37 weist tatsächlich eine Nähe zu Q-Mt 10,40 auf. Dort geht es um wandernde Jünger, die auf Aufnahme angewiesen 154

Vgl. W. Schmithals, Das Evangelium nach Markus. Kapitel 9,2-16,18, ÖTK 2/2, Gütersloh 1979, 429; H. Fleddermann, The Discipleship Discourse (Mark 9:33-50), CBQ 43 (1981) 55-75, besonders 58-61. 155 Zwar kommt auch im zweiten Text das Wort „alle" vor, wenn auch nur einmal, jedoch wird es wohl so zu verstehen sein, dass es sich konkret auf den vorhergehenden Ausdruck „unter euch" bezieht (10,44). 156

Ringshausen, Weisheit, 56-59, besonders Anm. 131, ähnlich bereits E. Willhelms, Der fremde Exozist: StTh 3 (1949), Lund 1951, 162-71 (Zitiert nach R. Schnackenburg, Mk 9,33-50, in: Synoptische Studien. FS. A. Wikenhauser, München 1954, 184-206, dort 187). 157

Z.B. Gnilka, Mk II, 57f, Lührmann, Mk, 166.

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sind. Darüber hinaus findet man dort, zwei Verse später, das Logion, das in Mk 9,41 eine Entsprechung hat. Sollte man aufgrund dieser Gemeinsamkeit Mk 9,36f im Licht der mt Fassung verstehen? Diese Deutung wäre jedoch eine Deutung im Licht eines anderen Textes. Man könnte so höchstens auf eine traditionsgeschichtliche Entwicklung der im Text benutzten Stoffe zurückschließen, ohne damit den Sinn des mk Textes in seiner Endgestalt herauszuarbeiten. Darüber hinaus fällt es dieser Deutung schwer, zu erklären, was der Sinn des ganzen Textes sein soll: Wie hängt der Streit der Jünger mit der Empfehlung der Aufnahme von wandernden Jüngern zusammen? 158 Die Möglichkeit, „Kind" metaphorisch auf Wandercharismatiker zu deuten, ist also unwahrscheinlich. Wie ist dann die andere Möglichkeit einer metaphorischen Deutung auf die „Kleinen" in der Gemeinde (v42) zu beurteilen? Zwischen vv36f und v42 besteht in der Tat eine gewisse Nähe: 1) Sprachlich weist der Ausdruck 'einer dieser Kleinen, die an mich glauben' in v42 eine Nähe zu v37 auf, wo von 'einem dieser Kinder' gesprochen wird. 2) Das Wort 'klein' lässt sich leicht mit dem Wort 'Kind' assoziieren. Nach dieser Deutung heißt Kinderaufnahme, den Kleinen und Geringen in der Gemeinde helfen. Ist dies der Sinn des Textes, dann stellt sich die Frage: Hätte man nicht einfach formulieren können, dass man den Geringen in der Gemeinde helfen soll, statt sich eines bildlichen Ausdrucks (Kind statt Geringen, helfen statt aufnehmen) zu bedienen? Was war der Grund für diese Umschreibung? Die vorgeschlagene Deutung ist keineswegs zwingend. Eine wörtliche Deutung des Wortes 'Kind' bereitet keine Komplikation beim Verstehen des Textes, wie wir sehen werden. Darum ist auch diese zweite Variante einer metaphorischen Deutung abzulehnen. Die wahrscheinlichste Möglichkeit ist die wörtliche Deutung des betreffenden Wortes. 159 Für diese spricht vor allem die konkrete Tat Jesu, ein Kind zu nehmen und in die Mitte der Jünger zu stellen. Eine metaphorische Dimension wird erst in dem Moment erreicht, als das weitere Handeln Jesu beschrieben wird: Er herzt das Kind. Damit soll die Aufnahme

158

Die Erklärung Ringshausens, Weisheit, 57, hier handele sich um die Kompetenz, die Zugehörigkeit zur Gemeinde festzustellen, wird dem Inhalt des Textes nicht gerecht. Denn im Text geht es nicht um die Kompetenz zu einer bestimmten Handlung, sondern überhaupt um Rangordnung unter den Beteiligten! 159 Vgl. Bultmann, Geschichte, 152; Pesch, Mk II, 106f; Lindemann, Kinder, 90.

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des Kindes durch Jesus selbst symbolhaft zum Ausdruck kommen. Dieser Jesus empfiehlt seinen miteinander streitenden Jüngern, die gleiche Tat zu vollziehen. Durch Aufnahme der Kinder soll jeder, der der Erste sein will, sich als solcher erweisen. Hierbei ist zu fragen, um was für ein Kind es sich handelt. Das Verbum 'aufnehmen' gibt m.E. die Antwort. Aufnehmen kann man nur die Kinder, die eitern- und verwandtenlos allein ihren Unterhalt bestreiten müssen. 1 6 0 Kurz gesagt, es handelt sich um Waisenkinder. Auch dass in v36 von keiner Bezugsperson die Rede ist, 161 spricht dafür. Derjenige, der der Erste sein will, soll also ein Waisenkind adoptieren. Nach diesem Vorklärungen können wir die Frage, die unser eigentliches Anliegen betrifft, stellen, nämlich was für ein Sitz im Leben Mk 9,33-37 hat. Sie kann m.E. auf folgende Weise beantwortet werden. 1) Zur Empfehlung Jesu: Waisenkinder aufnehmen kann nur derjenige, der dazu ausreichende Mittel hat. Ein Wanderer ohne stabilitas loci kann kaum ein Kind aufnehmen, denn das Wanderleben ist schon für den Betroffenen schwer genug und für ein Kind erst recht kein guter Lebensrahmen. Damit wird bereits die Antwort angedeutet: Nur ein Ortsansässiger kann die empfohlene Tat vollziehen. Mk 9,33-37 ist also eine Tradition von ortsansässigen Gemeinschaften. 2) Zu Vers 37: V37 weist eine überraschende Nähe zum Q-Logion von Mt 10,40 auf. H. Fleddermann sieht in v37 das Q-Logion, das Mk zugänglich gewesen sei, das er aber unter dem Einfluss der Kinderszene (vvl0,13-16) abgeändert habe, während Mt es treu bewahrt habe. 1 6 2 Das lk Logion (Lk 10,16) sei eine von Lk redaktionell geprägte Abwandlung. 1 6 3 Sollte Fiedermann Recht haben, dann hätten Mk und seine Ge-

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Eben so Reploh, Markus, 143f. Er erschließt aus der Tatsache, dass der Evangelist Mk auf dieses Thema zu sprechen kommt, „auf die Aktualität dieser Problematik im Leben seiner Gemeinde" (147). 161 Dagegen ist in Mk 10,13 die Bezugsperson von Kindern im Blick, selbst wenn sie nur durch die passive Form des Verbums angedeutet wird. Daher dürfte es sich in Mk 9,36 im Unterschied zu Mk 10,13 wohl um Kinder ohne Bezugsperson handeln. 162 163

Discipleship, 61-63.

Wie in Lk 7,29-30, wo Lk den Kontrast bei der Reaktion auf den Täufer mit den beiden Verben 'hören-verachten' redaktionell geformt hat, bediene sich Lk in 10,16 der gleichen Wortkombination, um den Kontrast zwischen den die Jünger

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meinde die Zuwendung, die ursprünglich den Wandercharismatikern galt, auf Waisenkinder übertragen. Diese Übertragung wäre Ausdruck einer selbstbewussten Haltung von ortsansässigen Sympathisanten, die im Lauf der Zeit ihre Zuwendung zu Wandercharismatikern auch gegenüber anderen praktizierten. Fleddermanns Meinung muss nur in einem Punkt korrigiert werden: Es war wohl Mt, der ein Q-Logion, dessen ursprüngliche Form in Lk 10,16 zu finden ist, im Hinblick auf Mk 9,37 modifiziert hat. 164 Selbst in diesem Fall ändert sich an unserer Schlussfolgerung nichts. Denn das 'Hören Verachten' im lk Q-Logion (10,16) bedeutet nichts anderes als 'Aufnahme - Nichtaufnahme', und dies deutet auf eine gewisse Nähe des lk Logions zu Mk 9,37; in beiden Fällen geht es um Aufnahme bzw. Nichtaufnahme, im lk Logion von Wandercharismatikern, im mk von Waisenkindern. Es bleibt also dabei, dass im Mk 9,37 die Zuwendung zu Wandercharismatikern auf Waisenkinder übertragen wird. Fazit: Auch der Sitz im Leben von Mk 9,33-37 ist in der Ablösung der ortsansässigen Gemeinschaften von Wandercharismatikern zu suchen.

3) Mk 7,9-13 Mk 7,9-13 ist ein Teiltext, der in eine große Perikope (7,1-23) eingebettet ist. Er enthält ein Beispiel, das dem Leser bzw. Hörer zeigen soll, dass die Satzungen von Menschen dazu dienen, Gottes Gebot aufzuheben, statt es zu halten (vi3). Wenn man davon ausgeht, dass es in Mk 7,1 -23 um die Problematik der Reinheitsgebote der Juden geht, wirkt Mk 7,9-13 wie ein Fremdkörper. Denn nirgends ist in v9-13 von Reinheit die Rede, sondern lediglich von Satzungen der Menschen (genauer von 'euren Satzungen'). Dies führt zu Recht zu der Annahme, dass Mk 7,9-13 ursprünglich aus einer anderen Situation stammt als das Streitgespräch über das Reinheitsgebot. 165 Jesu und ihre Predigt Aufnehmenden und den sie Ablehnenden auszuzeichnen. Dabei werde das ursprüngliche Wort 'aufnehmen' mit 'hören' verdeutlicht (Discipleship, 62). 164 Vgl. U. Luz, Mt II, 149. 165

So Lührmann, Mk, 126. Dass vv9-13 ursprünglich eine andere Tradition gewesen ist, wurde bereits von vielen erkannt; um nur einige zu nennen: Bultmann, Geschichte, 15; Dibelius, Formgeschichte, 220; Schniewind, Mk, 98, Grundmann, Mk, 189; Schweizer, Mk, 82; Gnilka, Mk 1, 277. Dagegen hält

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Jedoch ist Mk 7,9-13 in die große Perikope in ihrer Endgestalt voll integriert, so dass ohne diesen Text ihr Sinn unvollständig wäre. Dies zeigt sich schon in der Verbindung von w 6 f f mit unserem Text. In v8 wird z.B. gesagt, dass das Volk („ihr") Gottes Gebot verlässt und die Satzungen von Menschen hält. Das in v8 Gesagte erfordert notwendigerweise ein konkretes Beispiel, weil es sonst nicht verifiziert werden könnte. Dazu dient unser Text. Das Korban-Beispiel macht die in v8 behauptete Aussage überzeugend. 166 V8 bezieht sich aber seinerseits auf das Zitat in vv6f. V8 ist also eine wiederholte Bekräftigung des vorhergehenden Zitats („... Vergeblich dienen sie mir, weil sie solche Lehren überliefern, die nichts sind als Menschengebote"). Damit erweist sich, dass w 6 - 8 und vv9-13 in einem engen logischen Zusammenhang stehen. 167 Blickt man aber auf den Anlass des ganzen Gesprächs, nämlich die Frage der Pharisäer und Schriftgelehrten nach dem Händewaschen, dann ist sie mit der doppelten Antwort, vv6-8 und vv9-13, noch nicht ausreichend beantwortet. Denn mit der Antwort (vv6-13) tut Jesus nur kund, wie er die Satzungen der Ältesten beurteilt, geht aber nicht auf die Frage „warum?" in v5 ein. 168 Man bekommt eine Antwort erst in vl5: Weil es nichts gibt, was von außen in den Menschen hineinkommt, das ihn unrein machen könnte, darum braucht man sich nicht die Hände zu waschen. 169 Diese eigentli-

Pesch, Mk I, 368 (so auch chen für eine einheitliche als Einschub hinaus keine möchte sogar in w l - 1 6 vorgelegen hat.

Ernst, Mk, 200), die Perikope Mk 7,1-13 im WesentliTradition, die „über die Qualifizierung von VV2b.3f literarische Sonderung" braucht. Schmithals, Mk, 342, einen Text sehen, der dem Evangelisten schriftlich

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Dies wird nochmals durch den wohl sekundären Zusatz „und derlei tut ihr viel" in v i 3 unterstrichen. 167

Es ist daher zwar verständlich, dass Pesch, Mk, 368, behauptet, vv6-8 und vv9-13 gehörten thematisch zusammen (so bereits Lohmeyer, Mk, 141, der eine Zusammenüberlieferung der beiden Teile annimmt), aber diese Erkenntnis führt nicht selbstverständlich zur Annahme, vvl-13 sei (im Wesentlichen) eine einheitliche Tradition. Gegenargumente s.u. 168

Anders Pesch, Mk I, 376, der in v l 3 einschließlich der vorhergehenden Verse (vv6ff) die Frage von v5 beantwortet sieht. 169

Insofern hat Gnilka, Mk I, 276, Unrecht, wenn er die Ansicht K. Bergers, Gesetzesauslegung. Ihr historischer Hintergrund im Judentum und im alten Testament Teil I: Markus und Parallelen, WMANT 40, Neukirchen-Vluyn 1972, 461-483, w 1.5.15 seien Grundbestand der Tradition, mit der Begründung kritisiert, v i 5 sei nicht die Antwort auf v5 (diese Ansicht Gnilkas wurde bereits von

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che Antwort bringt jedoch eine weitere Lehre mit sich: Was den Menschen unrein macht, ist, was aus dem Menschen herauskommt (vi5), darum muss man sich vor bösen Gedanken, Unzucht, Mord, Ehebruch usw. hüten (v21f), statt Satzungen von Menschen zu halten. Unser Teiltext dient also der Perikope Mk 7,1-23 als ein wichtiges Element, ohne das die gesamte Logik der Geschichte in ihrer Endgestalt 170 hinfallig würde. Unter Berücksichtigung dieses ambivalenten Stellenwerts von Mk 7,9-13 für die ganze Perikope wenden wir uns nun unserem eigentlichen Interesse zu, den Sitz im Leben hinter Mk 7,9-13 zu bestimmen. Auszugehen ist von der Beobachtung, dass es im Grunde nicht um Auseinandersetzungen mit Befürwortern der Korbanpraxis geht, sondern um Kritik an einem sich widersprechenden Verhalten der Gegner: Sie wollen das Gebot des Mose halten, aber was sie erlauben bzw. tun (die Korbanpraxis), verstößt gegen das Gebot. Die erwähnte Korbanpraxis ist ein Beispiel für das sich widersprechende Verhalten der Gegner. Angesichts dieser Beobachtung fragt man sich, worauf unser Teiltext zielt. Da unser Text Teil einer Apologetik ist (vi sowie v5), liegt es nahe, auch für ihn mit einer apologetischen Intention zu rechnen. Da es um Verhalten gegenüber den Eltern geht, dürfte dies das Thema der Apologetik sein. Denkbar ist, dass die radikale Nachfolgepraxis im Urchristentum verteidigt wird. Wahrscheinlich wurde sie als Verstoß gegen das vierte Gebot 171 kritisiert. Unser Text dürfte dann als Apologetik gedient und den Vorwurf zurückgegeben haben: Nicht wir brechen das vierte Gebot, sondern ihr! Dass das Logion w9b-13 im Kern auf den historischen Jesus zurückgehen könnte, ist dabei nicht unwahrscheinlich, denn die Korbanpraxis war

Klostermann, Mk, 77, geäußert). Das Händewaschen vor dem Essen impliziert ja die Absicht, Unreines nicht in den Mund hineinkommen zu lassen. Darum kann man v i 5 auf v5 bezogen sehen. 170 Damit meine ich keineswegs, dass die ganze Perikope ursprünglich eine einheitliche Tradition sei. Was ich damit meine, ist lediglich die Logik, die in Mk 7,1-23 dargestellt wird. 171 Vgl. Mt 8,18-22/Lk 9,57-60.

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1) zur Zeit Jesu unter den Schriftgelehrten umstritten 172 und Jesu Kritik der Korbanpraxis basierte 2) auf der radikalen Erfüllung des Gotteswillens, was seiner Lehre voll und ganz entspricht. Es ist allerdings wenig wahrscheinlich, dass Jesus mit der Kritik der Korbanpraxis seinen radikalen Nachfolgeruf verteidigen wollte. Denn der apologetische Zug unseres Teiltextes ergibt sich erst aus seinem literarischen Zusamenhang, nicht aber aus dem Inhalt des Textes selbst: Wenn sein radikaler Ruf zu verteidigen wäre, wäre zu erwarten, dass darauf im Text selbst direkt Bezug genommen wird. Wer aber könnte dann die Gruppe gewesen sein, die Jesu Logion über die Korbanpraxis als Apologetik in den heutigen literarischen Zusammenhang gebracht hat? Zu denken ist m.E. an diejenigen, die das radikale Ethos des Rufes Jesu in einer gewissen Distanz praktizierten. Von den Wanderradikalen ist dies nicht zu erwarten, denn von ihnen wurde der radikale Ruf Jesu wörtlich genommen. Dagegen ist dies bei ortsansässigen Sympathisanten vorstellbar: Sie sympathisierten mit dem radikalen Ethos, praktizierten es aber nicht wörtlich, sondern hatten dafür Stellvertreter, die Wanderradikalen. Dass sie als Ortsansässige der Kritik ausgesetzt sind, sie würden das vierte Gebot vernachlässigen und sogar brechen, ist wahrscheinlich. Sie verließen zwar nicht ihre Eltern, lösten sich aber von väterlichen Traditionen. Auch sie brechen mit ihren Eltern. Sie haben wahrscheinlich unseren Text in einen apologetischen literarischen Zusammenhang gestellt, um sich zu rechtfertigen. Es dürfte vor allem dann notwendig gewesen sein, als sie sich von den Wandercharismatikern abzulösen begannen, d.h. als sie den Nachfolgegedanken auf ihre Lebenssituation hin uminterpretieren konnten. Sobald der Nachfolgeruf Jesu auch in ihrer sesshaften Lebenswelt befolgt werden konnte, hatten sie einen Bedarf für solch eine Apologetik. 173 Wie verhielten sich diese Sympathisantengruppen zur mk Gemeinde? Dass sie entweder die jüngste Vergangenheit und Vorstufe der mk Ge172

Vgl. Gnilka, Mk I, 284 Anm. 40 und 286f (auch so Pesch, Mk I, 375), im Anschluss an H. Hübner, Das Gesetz in der synoptischen Tradition, Witten 1973, 150f. 173

Die Korban-Thematik legt nicht unbedingt die Vermutung nahe, dass die Tradition aus der palästinischen Gemeinde stammt (gegen Gnilka, Mk I, 277), denn schon die Übereinstimmung des Zitates des vierten Gebotes mit der LXX (Dtn 5,16) lässt einen Ort außerhalb Palästinas vermuten. Die kritische Haltung gegenüber der Korbanpraxis legt die heidenchristliche Herkunft des Textes nahe.

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meinde oder diese selbst waren, dürfte klar geworden sein, weil es sich bereits aus unserer bisherigen Untersuchung des MkEv ergab, nämlich daraus, 1) dass die ortsansässige Sympathisantengruppe im MkEv für die mk Gemeinde eine Identifikationsgröße war und 2) dass diese mk Gemeinde bzw. der Evangelist Markus dafür verantwortlich war, den Nachfolgegedanken umzuinterpretieren, so dass er auch für sesshafte Christen nachvollziehbar wurde. Zusammenfassend lässt sich sagen: Mk 7,9-13 weist daraufhin, dass die hinter dem Text stehende Gruppe eine ortsansässige christliche Gemeinschaft war, die nicht mehr unter starkem Einfluss der Wandercharismatiker stand. Sie ist wohl mit der jüngsten Vergangenheit der mk Gemeinde bzw. mit ihr selbst identisch.

4) Mk 10,1-12 Als letzter Text im Rahmen unseres Exkurses ist Mk 10,1-12 zu behandeln. Der Text besteht aus zwei Teilen; einer Volksbelehrung 174 in Form eines Streitgesprächs175 (vvl-9) und einer Jüngerbelehrung (vlO-12). Der zweite Teil, besonders v l l , hat eine Entsprechung in Q (Lk 16,18/Mt 5,32). Entweder gehen die beiden Logien in Q und in v l l auf eine gemeinsame Tradition zurück, oder das eine hängt vom anderen ab. Wie dem auch sei, es ist für uns von hohem Interesse, dass in der Logienquelle nur ein kurzes Logion Jesu über die Ehescheidung für sich überliefert wurde, während im MkEv ein Streitgespräch mit dem Logion verbunden wurde. Was dieser Befund hinsichtlich des Sitzes im Leben der mk Perikope (vvl-12) bedeutet, ist das Thema dieses Abschnittes. Beginnen wir unsere Untersuchung mit dem ersten Teil der Perikope. Die Gesprächsaus löser sind die Pharisäer, die mitten im Volk (vi) an Jesus die Frage stellten, ob ein Mann seine Frau entlassen darf (v2). Diese Frage wird von Jesus in zweifacher Weise beantwortet. Zunächst wird zur mosaischen Scheidungsregelung Stellung genommen: Sie wurde um des verhärteten Herzens der Menschen willen gegeben (v5). Dann wird die eigentliche Antwort auf die gestellte Frage erteilt, nachdem argumentativ aus der Schrift begründet worden ist: Gott hat bei der Schöpfung die Menschen als Mann und Frau gemacht, damit sie ein Leib werden, wenn sie ihre Eltern verlassen haben (vv 6-8); darum darf der Mensch nicht 174

Vgl. Gnilka, Mk II, 69.

175

Vgl. Gnilka, Mk II, 70.

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scheiden, was Gott zusammengefügt hat. Zu beachten ist hier das Wort Jesu für 'Scheiden' Das von den Pharisäern gebrauchte Wort ά π ο λ ύ ε ι ν wird durch χωρίζειν ersetzt. Die Intention des Wortwechsels ist klar: Die Antwort Jesu geht über die gestellte Frage hinaus. Es geht Jesus nicht nur darum, die formale Scheidung zu untersagen, 176 sondern darum, jegliche Trennung in der Ehe - von Tisch und Bett - zu verbieten. Dass die negative Stellungnahme Jesu zur mosaischen Regelung der eigentlichen Antwort vorausgeht, hängt damit zusammen. Es ist also ein generelles Verbot jegliche Trennung in der Ehegemeinschaft, nachdem sie „ein Fleisch" geworden sind. Hingegen geht es in der Jüngerbelehrung um den konkreten Fall des Ehebruchs: Wann geschieht ein Ehebruch? Dies geschieht nach der Jüngerbelehrung dann, wenn ein Geschiedener bzw. eine Geschiedene eine weitere Ehe eingeht. Die Jüngerbelehrung fungiert also als eine weiterführende, konkrete Erklärung zur Volksbelehrung, die eher einen allgemeinen Charakter hat. Was für ein Sitz im Leben könnte hinter diesen beiden Belehrungen gestanden haben? Stellt man das generelle Verbot der Trennung in der Ehe in Rechnung, so ist es schwer vorstellbar, dass die Volksbelehrung unter den Wandercharismatikern weitergegeben wurde. Denn sie selbst hatten 'um des Reichs Gottes willen' alles Besitz, Familie usw. verlassen, darunter auch ihren Ehepartner. Wie hätten sie in ihrer Situation das generelle Trennungsverbot weiter tradieren können? Sie hätten sich dem Vorwurf ausgesetzt, gegen das Wort Jesu zu verstoßen. Dagegen ist die Tradierung des Logions unter den Menschen mit stabilitas loci gut vorstellbar, solange sie sich von ihren Ehepartnern nicht getrennt hatten. Das generelle Trennungsverbot ist also unter ortsansässigen Menschen praktizierbar. Darum ist der Sitz im Leben der Volksbelehrung unter ortsansässigen Sympathisanten Jesu zu suchen. In der Exegese begegnet die Ansicht, dass die Volksbelehrung aufgrund der Jüngerbelehrung zu deren argumentativer Rechtfertigung im Urchristentum entstanden sei. 1 7 7 Als Argument dafür werden genannt: 1) Die Frage entspricht nicht

176

Das Wort ά π ο λ ύ ε ι ν ist in dem griechischen Text Mur 115,3f als terminus technicus für die Scheidung durch Entlassung belegt (vgl. Lührmann, Mk, 169). 177

Vgl. Pesch, Mk II, 120 und 126; Gnilka, Mk II, 76. Von der „Künstlichkeit der Konstruktion" von w l - 9 sprach schon Bultmann, Geschichte, 25f.

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jüdisch-pharisäischen Prämissen, 2) der auf der LXX basierende Schriftbeweis, 3) die Rücksichtsnahme der Beweisführung auf die Jüngerbelehrung. 178 Gegen diese Ansicht sprechen folgende Überlegungen: 1) Warum gibt es in der Volksbelehrung einen Wortwechsel von ά π ο λ ύ ε ι ν zu χωρίζειν in v9: Wäre es bei einer sekundären Bildung nicht naheliegend, dass das Wort ά π ο λ ύ ε ι ν auch in v9 gebraucht würde, zumal es auch in der Jüngerbelehrung vorkommt? 2) Die pharisäische Frage ist damals nicht unvorstellbar. Die Scheidungsmöglichkeit war damals nicht unumstritten. Die Qumran-Gemeinde lehnte z.B. eine Scheidungsmöglichkeit überhaupt ab (CD 4,21; 5,1 f). 3) Die Volksbelehrung dient nicht nur der schriftlichen Beweisführung für die Jüngerbelehrung, sondern sie stellt über diese hinaus eine Grundsatzerklärung hinsichtlich der Scheidung dar, wie wir oben gesehen haben. Die Jüngerbelehrung ist dagegen nur eine weiterfuhrende Konkretisierung der Volksbelehrung. 4) Die Anlehnung des Schriftbeweises an die LXX zwingt nicht zur Annahme der hellenistischen Herkunft der Volksbelehrung. Denn der auf die LXX basierende Schriftbeweis könnte auch auf einen hebräischen Text von damals zurückgehen. Fazit: Die Annahme einer urchristlichen Bildung der Volksbelehrung aufgrund der Jüngerbelehrung ist zurückzuweisen. 179 W i e verhält es sich aber mit der Jüngerbelehrung? Ist ihre Ü b e r l i e f e r u n g nur unter ortsansässigen M e n s c h e n vorstellbar? G e w i s s nicht! A n d e r s als die V o l k s b e l e h r u n g ist sie auch unter Wandercharismatikern tradierfahig. Für sie stellt das Logion Jesu sogar eine R e c h t f e r t i g u n g f u r ihr Verhalten dar. Denn sie sind durch das Verlassen ihres Ehepartners - um des Reichs Gottes willen - der Kritik, sie hätten das sechste G e b o t gebrochen, ausgesetzt. G e g e n diese Kritik fungiert das Logion Jesu über den E h e b r u c h als Schutz, indem es sagt: Solange sie keine weitere E h e an einem anderen Ort eingegangen sind, haben sie durch Verlassen ihres Ehepartners kein G e b o t gebrochen. Der Sitz im Leben der J ü n g e r b e l e h r u n g ist daher unter Wandercharismatikern gut vorstellbar. V o n dieser A n n a h m e her ist verständlich, dass die Jüngerbelehrung in der Logienquelle eine Entspre178 vgl. Pesch, Mk II, 120. 179

Vielmehr könnte man der Volksbelehrung Historizität zusprechen. 1) Denn die Radikalität der Lehre Jesu - das generelle Trennungsverbot - sowie die Souveränität der Lehre - die souveräne Stellungnahme Jesu zum mosaischen Gesetz passen gut zu seiner sonstigen Lehre z.B. zur Bergpredigt (Die Radikalität gleicht etwa der thoraverschärfenden Haltung Jesu, die Souveränität etwa dem Ausdruck Jesu: „Ich aber sage euch"). 2) Dass sich der Ausdruck χωρίζειν in v9 sich in 1 Kor 7,10, wo Paulus vom Wort des Herrn spricht, wiederfindet, spricht für die Historizität der Volksbelehrung.

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c h u n g hat, denn hinter der Logienquelle stehen m ö g l i c h e r w e i s e W a n d e r charismatiker als Tradenten, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben. Die Frage nach der Ursprünglichkeit des Logions Jesu über den Ehebruch stellt sich angesichts der beiden unterschiedlichen Texte in Mk 10,1 lf und in Q-Lk 16,18. Sie hängt mit der Frage zusammen, ob die Frauen damals in Palästina die Möglichkeit zur Scheidung besaßen, die B. Brooten 1 8 0 im Anschluss an E. Bammel 181 mit einer Reihe von wichtigen Belegen 182 positiv beantwortet hat. 1 8 3 Nach ihrer Ansicht basiert der mk Text auf der einer Rechtsauffassung, die den Frauen das Scheidungsrecht einräumte, während der Text in Q auf einer anderen Rechtsauffassung, die nur das Scheidungsrecht der Männer vorsah, beruht. Der entscheidende Punkt ist nun, welche von den beiden Rechtsauffassungen sich Jesus zu Eigen gemacht hat, wenn das Logion über den Ehebruch auf den historischen Jesus zurückgeht 184 . 1st die Volksbelehrung unabhängig von der Jüngerbelehrung entstanden, so spricht die Lehre Jesu in ihr für die Ursprünglichkeit des mk Textes. Denn die Lehre Jesu setzt dort voraus, dass die Frauen die Möglichkeit zur Scheidung hatten: In der Argumentation (vv6-8) sind stets 'Mann und Frau' im Blick; das Wort άνθρωπος in v7 wird im Hinblick auf Gott (in v6) im Sinne von 'der Mensch' gebraucht, 185 was durch den Ausdruck 'die zwei' in v8 180 Yg] β Brooten, Konnten Frauen im alten Judentum die Scheidung betreiben? Überlegungen zu Mk 10,11 -12 und 1 Kor 7,10-11, EvTh 42 (1982), 65-80. 181

Markus 10,1 lf und das jüdische Eherecht, ZNW 61 (1970), 95-101. Die aufgeführten Quellen erstrecken sich von den im 5 Jh v.Chr. entstandenen Elephantinepapyri bis zu einem mittelalterlichen karäischen Beleg, dessen Überlieferung älter als die rabbinische sein könnte. Eine davon sei hier zitiert: „Wenn morgen oder an einem anderen Tag Anai ihretwegen (?) aufsteht und sagt: 'Ich scheide mich von Tamut, meiner Frau', muss er das Scheidungsgeld bezahlen. Er soll sieben Silberschekel, zwei K. geben, und alles, aber auch alles, was sie mit in die Ehe gebracht hat, soll sie mitnehmen. Wenn morgen oder an einem anderen Tag Tamut aufsteht und sagt: 'Ich scheide mich von meinem Ehemann Anani', soll sie die gleiche Summe bezahlen" (Dies jüdische Papyrus-Dokument aus Elephantine wird zitiert nach Brooten, Frauen, 68). 182

183

Vgl. M. Fander, Die Stellung der Frau im Markusevangelium. Unter besonderer Berücksichtigung kultur- und religionsgeschichtlicher Hintergründe, 200-257, untersucht eingehend die These Brootens mitsamt der Kritik an ihr und bestätigt schließlich ihre Ansicht. 184 Vgl. z.B. Gnilka, Mk II, 76. 185 V7b, ein Sekundärzusatz, ist in Handschriften wie D W 0 / 1 bezeugt, während die kurze Lesart in den Handschriften Κ Β Ψ892* 2427 sys bezeugt ist. Erst durch den sekundären Zusatz in v7 wird άνθρωπος als „Mann" im Unterschied zur Frau verstanden.

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näher erklärt wird. In der eigentlichen Antwort (v9) wird diese Sichtweise durchgehalten; mit dem Wort άνθρωπος in v9 ist nichts anderes gemeint als 'der Mensch' im Gegenüber zu Gott. Geht die Volksbelehrung bzw. die Lehre Jesu in ihr im Kern auch auf den historischen Jesus zurück, 1 8 6 dann liegt es nahe, dass auch die Jüngerbelehrung des mk Textes ursprünglicher ist als die des Q-Textes.

Wichtig für uns ist aber, dass die Jüngerbelehrung im MkEv mit der Volksbelehrung verbunden überliefert ist. In welcher Überlieferungssituation ist die Zusammensetzung der beiden Traditionen mit heterogener Herkunft vorstellbar? Dass die Volksbelehrung unter den Wandercharismatikern schwer tradierfahig ist, erschwert die Annahme, dass Wandercharismatiker beide Belehrungen verbunden haben. Dagegen ist gut vorstellbar, dass ortsansässige Sympathisanten für die Zusammensetzung verantwortlich gewesen sind. Denn auch für sie ist die Jüngerbelehrung ohne Bedenken tradierbar, solange sie keine weitere Ehe eingehen. Für sie wird das generelle Trennungsverbot in der Volksbelehrung durch seine Erläuterung im Logion vom Ehebruch konkretisiert. Die Kombination der beiden Belehrungen durch ortsansässige Sympathisanten spiegelt m.E. das erhöhte Selbstbewusstsein der Ortsansässigen, ihr Problem bzw. Interesse mittels Traditionen theologisch zu reflektieren, wider. Für die Wanderradikalen spielen Eheprobleme fast keine Rolle, weil sie den Ehepartner verlassen haben. Für die Ortsansässigen ist das anders. Sie sind mit alltäglichen Eheproblemen konfrontiert und müssen sie meistern. Dafür sind alle Traditionen Jesu über die Ehe bzw. Scheidung für sie wichtig. Die Zusammensetzung der beiden Belehrungen ist allerdings weniger vorstellbar in einer Zeit, in der die ortsansässigen Sympathisanten noch unter der Autorität von Wanderradikalen stehen. Das Tradieren der Volksbelehrung ist erst dann problemlos, wenn die Tradenten sich von den Wanderradikalen abgelöst haben. An dieser Stelle ist die Ansicht Busemanns, 187 zu erwähnen, dass Mk 10,2-11 (ohne ν 10) zusammen mit den Perikopen von der Kindersegnung ( w l 3 - 1 6 ohne ν 15), vom reichen Jüngling (17-27b ohne 26a,27a) und den Zebedaiden ( w 3 5 45) eine vormarkinische Sammlung war, deren Sitz im Leben beim „Übergang der christlichen Gemeinde in ihrer Organisationsform als Hausgemeinde hin zur Ortsgemeinde" zu suchen ist. Er begründet seine Ansicht hauptsächlich damit, dass diese vormarkinische Sammlung aus zwei Themen bestehe, einem auf der familiären Ebene (Ehe, Kinder) und einem auf der Gemeindeebene (Verhalten in

186

S.o. Anm. 179. 187 Ygj Jüngergemeinde, 198f.

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der Gemeinde: w35-45); man könne also die Tendenz erkennen, „die Betrachtungsweise über die starke familiäre Hinsicht hinaus zu erweitem auf das Verhalten der Gemeindemitglieder untereinander in der urchristlichen Gemeinde". 1 8 8 Diese Schlussfolgerung Busemanns ist allerdings problematisch, denn man kann nicht ohne weiteres behaupten, dass die Hausgemeinde - um die Begrifflichkeit Busemanns zu benutzen - sich mit familiären Themen, und die Ortsgemeinde sich mit Themen wie z.B. dem Verhalten der Gemeindemitglieder untereinander beschäftigt hätten. Betrachtet man die Hausgemeinde als die Gemeinde, die noch unter starkem Einfluß von Wandercharismatikern steht, dann wird man nicht leugnen können, dass die familiären Themen nicht von den Hausgemeinden behandelt wurden, sondern erst von Ortsgemeinden, die im Lauf der Zeit gegenüber Wandercharismatikern ein eigenes Selbstbewusstsein gewonnen hatten.

188

Vgl. ebd., 182.

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Viertes Kapitel: Die Vorstellung der familia dei im MtEv Die Vorstellung der familia dei im MtEv ist eng mit den entsprechenden Vorstellungen in Logienquelle und MkEv verbunden. Die Erkenntnis, dass sowohl das MkEv als auch die Logienquelle Grundlage für die Entstehung des MtEv waren, erklärt ihre Verwandtschaft. Nun sind die dem MtEv vorgegebenen Vorstellungen der familia dei aber, wie in den vorher gehenden Kapiteln gezeigt wurde, aufgrund ihrer sozialen Situation unterschiedlich geprägt. Wir wollen daher in diesem Kapitel zeigen, wie der Evangelist Matthäus diese unterschiedlich geprägten Vorstellungen bearbeitet, entwickelt und dabei eigene Akzente gesetzt hat. Die Vermutung liegt nahe, dass er eine Synthese der Vorstellungen der familia dei in Q und im MkEv geschaffen hat. Ob diese Vermutung zutrifft, werden wir im Lauf unserer Untersuchungen überprüfen. Zu diesem Zweck erörtern wir zunächst, wie der Evangelist Matthäus mit den Texten umgegangen ist, die die Vorstellung der familia dei einerseits in der Logienquelle, andererseits im MkEv bezeugen. Danach wenden wir uns den Texten zu, die als Sondergut im MtEv zu finden sind - seien sie nun vom Evangelisten selbst geschaffen oder schon vor ihm in seiner Gemeinde überliefert worden.

I. Die familia-dei-Vorstellung in Traditionen der Logienquelle und des MkEv (1) MkEv Der Evangelist Matthäus gibt in Mt 12,46-50 und 19,27-30 die beiden mk Texte wieder, welche die Vorstellung der familia dei enthalten, allerdings mit Abänderungen, aus welchen die spezifisch mt Prägung erkennbar wird. Wir beginnen mit der mt Bearbeitung von Mk 3,31-35. Der dritte Text, der die Vorstellung der familia dei im MkEv bezeugt, nämlich Mk 11,25, wird vom Evangelisten Matthäus weggelassen, vor allem wohl deswegen, weil er eine von ihm unabhängige Variante 1 aus seiner Tradition kannte, die er in Mt 6,14f unterbrachte.

' Vgl. Luz, Mt I, 333. Anders bei Davies/Allison, Matthew I, 616, die Mt 6,14f als „redactional adaption and expansion" von Mk 11,25 ansehen. Näheres s.u. zu der betreffenden Stelle.

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a) M t 1 2 , 4 6 - 5 0 ( M k 3 , 3 1 - 3 5 ) 2 Zwei wichtige Änderungen 3 sind beim Vergleich der beiden Texte feststellbar: 1) Die wahren Verwandten Jesu sind im mt Text die Jünger (v49), während sie im mk Text das Volk, das um Jesus herum saß, waren. 2) Das Wort 'Go//' im mk Text wird im mt Text durch 'mein Vater' ersetzt. 4 Da von den beiden Abänderungen die zweite sehr kurz behandelt werden kann, beginnen wir mit ihr. Die Änderung des Wortes 'Gott' zu 'mein Vater' bringt die familiäre Beziehung zwischen den wahren Verwandten Jesu und Gott deutlicher zum Ausdruck als der mk Text. Dort ist diese Beziehung nur aus dem Kontext zu erschließen: Jesus ist nach Mk 1,1 oder 1,11 der Sohn Gottes, darum sind die wahren Verwandten Jesu auch Gottes Kinder. Dagegen wird bei Mt diese familiäre Beziehung durch den Ersatz des Wortes 'Gott' durch 'mein Vater' im Text selbst deutlich erkennbar: Da Jesus Gott seinen Vater nennt, stehen seine wahren Verwandten auch mit Gott in einer familiären Beziehung. Diejenigen, die Jesus als ihren Bruder verstehen, sind Gottes Kinder. Diese mt Abänderung kann als Verdeutlichung der Vorstellung der familia dei bewertet werden. Jeder Leser von Mt 12,46-50 weiß Bescheid, dass es sich bei den wahren Verwandten

2

Die auffalligen minor agreements zwischen Mt und Lk in v47 und v48 erlauben nicht den Schluss auf eine gemeinsame Tradition der beiden Evangelisten unabhängig vom Mk-Text. In v47c ist ε σ τ η κ α σ ι ν möglicherweise mt Redaktion, und in v48a geht ό δέ αποκριθείς auf Mt zurück (Luz, Mt II, 286 Anm. 3). Näheres darüber siehe bei A. Wouters, wer den Willen meines Vaters tut" Eine Untersuchung zum Verständnis vom Handeln im Matthäusevangelium, BU 23, Regensburg 1992, 174 Anm. 47. Etwas anders urteilt E. Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 1973, 192, der v47 für einen späteren Zusatz hält, weil er in den ältesten Handschriften fehle. Er behauptet daher, dass v47, in dem fast alle minor agreements konzentriert sind, „auch im Laufe des Abschreibens durch Angleichung an Lukas (oder des Lukastextes an Matthäus) entstanden sein" kann. 3

Dass der Evangelist Matthäus das negative Bild von den leiblichen Verwandten Jesu weggelassen hat, wird hier nicht berücksichtigt, weil es für unser Interesse, die Vorstellung der familia dei zu bestimmen, irrelevant ist. 4 Nach Luz, Mt II, 286, sind die beiden Sätze, in denen diese Abänderungen zu finden sind, auffallend, weil sie sich im Unterschied zu anderen Sätzen nicht wiederholen. Zurecht sieht Luz, dass das Schwergewicht der Perikope auf diesen beiden auffallenden Sätzen liegt.

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Die Vorstellung der familia dei im MtEv

Jesu um die familia dei handelt, während der Leser von Mk 3,31-35 es nur aus dem Kontext erschließen kann. Nun zu der erstgenannten Abänderung: Im vorigen Kapitel sprachen wir davon, dass das Volk, das um Jesus herum saß und ihm seine Sympathie zeigte, aus sesshaften Sympathisanten Jesu bestand und für die mk Gemeinde eine wichtige Identifikationsgröße gewesen sein dürfte. Dass das Volk vom Evangelisten Matthäus nicht übernommen, sondern durch 'Jünger' ersetzt wurde, 5 lässt vermuten, dass für die mt Gemeinde die 'Jünger' die entscheidenden Identifikationsfiguren waren. 6 Für diese Vermutung sprechen drei Beobachtungen: 1) die Häufigkeit des Wortes μ α θ η τ ή ς im MtEv, 2) die positive Darstellung der Jünger Jesu im MtEv, 3) die Bedeutung des Wortes für den Evangelisten Matthäus. Zuerst zu 1): Wirft man einen Blick in die Konkordanz, dann wird deutlich, welche Vorliebe der Evangelist Matthäus ftir das Wort μαθητής gehabt hat. Im Unterschied zu den anderen Synoptikern benutzte er das Wort fast doppelt so häufig: insgesamt 72mal, während Markus es 46mal, Lukas es 37mal gebrauchte.

5

Dieser Ersatz ist besonders bedeutungsvoll, weil das Wort 'Jünger' seit v2 in diesem Kap. nicht mehr erwähnt wurde und die Jünger in dieser Perikope eigentlich nicht gebraucht werden. Vgl. Luz, Mt II, 287. 6 Auch U. Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993, 92, sieht dies so: „Die Jünger Jesu sind für Matthäus Identifikationsfiguren, über die seine Leser/innen mit Jesus gleichzeitig sind. Dies ist uns schon bei den Wundergeschichten begegnet. Hinter den von einer großen Volksmenge umgebenen Jüngern, die Jesu Bergpredigt hörten, wurde die Situation der allen Menschen Jesu Gebote verkündigenden Kirche sichtbar." Eine Ansicht, die der von Luz entgegensteht, wird von G. Strecker vertreten, der in den Jüngern eine Größe der Vergangenheit sehen will. Eine kurze Darstellung dieser Problematik einschließlich der Diskussion findet sich bei A. Wouters, Willen, 306-316. Eine ähnliche Meinung wie Luz vertreten viele andere Exegeten wie z.B. Frankemölle, Jahwebund und Kirche Christi. Studien zur Form- und Traditionsgeschichte des „Evangeliums" nach Matthäus, NTA.NF 10, Münster 1974, 84f.l50-155, der von einer „Typisierung" der Jünger spricht, oder J.A. Overmann, Matthew's Gospel and Formative Judaism. The Social World of the Matthean Community, Minneapolis 1990, 135, der von „models (Vorbildern) for the members of the community" spricht. Hierzu zählt auch Wouters, Willen, a.a.O. besonders 316, der die Ansicht vertritt, dass die Jünger, insofern sie zu den Zwölfen gehören, eine Größe der Vergangenheit sind, dass aber, sofern sie Jünger sind, der ihnen erteilte Auftrag und die ihnen gegebene Weisung verbindlich für die Gegenwart sind.

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Zu 2): Im Unterschied zum MkEv werden die Jünger Jesu im MtEv positiv dargestellt. Z.B. wird das negative Bild der unverständigen Jünger in Mk 4,13 vom Evangelisten Matthäus ausgelassen (Mt 13,18) und stattdessen wird ein positives Bild der verständigen Jünger durch den redaktionellen Einschub von Mt 13,517 geschaffen. 8 Zu 3): Der Missionsbefehl des Auferstandenen (Mt 28,19f) lässt erkennen, wie der Evangelist Matthäus den Begriff 'Jünger' verstanden hat. Der Missionsbefehl besteht nach v l 9 darin, alle Völker zu Jüngern zu machen. Das heißt: Das Wort 'Jünger' bezeichnet nicht nur die Apostel in der Vergangenheit, sondern alle Christen in der Gegenwart. Steht das Wort 'Jünger' aber für alle Christen, dann haben sich auch die mt Christen als Jünger verstanden. Stimmt es, dass die 'Jünger' für den Evangelisten Matthäus und seine Gemeinde wichtige Identifikationsfiguren sind, 9 und darum das 'Volk um Jesus herum' im MkEv ersetzen, 10 dann haben wir zu fragen, welche Konsequenz diese Abänderung mit sich bringt. Zuerst ist daran zu erinnern, dass im mk Text das 'Volk um Jesus herum' ein sesshaftes Pendant zu den mobilen Nachfolgern Jesu darstellt: Nach 7

„Habt ihr das alles verstanden? Sie antworteten: Ja." Einige andere Beispiele, die den positiven Charakter der mt Jünger (die Idealisierung der Jünger bei Mt) sichtbar machen, sind nach Frankemölle, Jahwebund, 151-153, 1) dass sie „nicht wie bei Mk 'verstockt' (πεπωρωμενοι) oder 'ungläubig' (άπιστοι), sondern lediglich 'Kleingläubige' (όλιγόπιστοι), sind, die als 'Verstehende' allerdings zu einem bedingungslosen Glauben des paränetischen Zuspruchs bedürfen", 2) dass sie über Jesu Worte nicht wie das Volk in 'große Furcht' (Mk 4,41 [Mt 8,27]/Mk 9,6 [Mt 17,4]/Mk9,32 [Mt 17,23]) geraten, 3) dass sie bei der Verklärung nicht als Neugierige (περιβλεπεσθαι), sondern als Männer, die „in Furcht ihre Augen erheben", bezeichnet werden. 9 Vielleicht spricht dafür auch die Beobachtung, dass Mt 12,46-50 von der kontextuellen Stellung her ein positives Gegenmodell zu denjenigen, die Jesus ablehnen (z.B. 'dieses Geschlecht' in Mt 11,16; 12,42, 'die Pharisäer [und Schriftgelehrten]' in Mt 12,2.14.24.38), darstellt. Vgl. Luz, Mt II, 288f; Barton, Discipleship, 181. 10 R.H. Gundry, Matthew. A Commentary on His Literary and Theological Art, Grand Rapids 1982, 249, behauptet, dass die mt Änderung von „er sah ringsum auf die um ihn im Kreise Sitzenden" die Jünger von dem Volk nicht unterscheide. Seine Behauptung ist angesichts der Erwähnung des Volkes in Mt 12,46 unverständlich. Wie die mt Version von Mk 4,1 Off zeigt (Mt 13,1 Off), unterscheidet der Evangelist Matthäus die Jünger vom Volk, dessen Herz verstockt ist (vi5). Vergleiche auch die Auslassung von dem mk, im Sinne von Volk zu verstehenden Ausdruck, 'die, die um ihn waren' (Mk 4,10), in Mt 13,10 (s.u.). 8

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Mk 4,1 Off sind die Träger des Geheimnisses des Reichs Gottes beide Gruppen; ihr Nebeneinander zeigt sich auch darin, dass der Bericht über die wahren Verwandten Jesu (Mk 3,20f. 31-35) gleich auf den Bericht über die Einsetzung der Zwölf Jünger (Mk 3,13-19) folgt. Dieses Nebeneinander der beiden Größen wird im mt Text durch die Abänderung des 'Volkes um Jesus herum' zu 'Jüngern' beseitigt. Offenbar interessiert sich der Evangelist Matthäus nicht für die mk Differenzierung der beiden Größen. Darum lässt er auch in der Szene, wo Jesus das Gleichnis vom Sämann auslegt, die Jünger allein auftreten (Mt 13,10.18), obwohl nach dem mk Text dort auch die Leute 'um Jesus herum' waren (Mk 4,10): Die Träger der Geheimnisse des Reiches Gottes sind nach ihm nur die Jünger." Die gleiche Tendenz zeigt sich auch darin, dass der Bericht über die Einsetzung der Zwölf Jünger aus dem Kontext des Berichtes über die wahren Verwandten Jesu gelöst und in das Kapitel 10 vorverlegt wird. Wie ist dieses Desinteresse des Evangelisten Matthäus zu erklären? Ist die mt Gemeinde eine Gemeinde, die sich nur an den mobilen Nachfolgern orientiert, so dass sie für eine ortsstabile Nachfolge, wie sie im MkEv begegnet, kein Interesse hat? Oder ist sie eine Gemeinde, die sowohl die mobile, als auch die stabile Nachfolge in sich integriert hat, so dass für sie beide Formen der Nachfolge keinen Gegensatz darstellen? Welche Möglichkeit die wahrscheinlichere ist, lässt sich an dieser Stelle noch nicht entscheiden, da wir nur einen einzigen Ausschnitt des MtEv untersucht haben. Weil das MkEv als wichtige Quelle für das MtEv gedient hat und es auch inhaltlich stark geprägt hat, können wir schon jetzt vermuten, dass die zweitgenannte Möglichkeit etwas wahrscheinlicher ist. Ob unsere Vermutung sich verifizieren lässt, ist abzuwarten. b) Mt 19,27-30 (Mk 10,28-31) Ein Vergleich des mt Textes mit seiner Quelle lässt eine gravierende und m.E. für uns wichtige Abänderung erkennen: Der Evangelist Matthäus schiebt eine Verheißung, die aus einer anderen Tradition stammt, vor die 11

Etwas anders bei Luz, Mt II, 31 lf, der in dem Ausschluss des Volkes vom Empfang der Geheimnisse des Reiches Gottes die transparent gewordene geschichtliche Erfahrung der Gemeinde des Matthäus sehen möchte. „Er (sc. der Evangelist) lehrt sie (sc. seine Gemeinde) verstehen, wie es schon bei Jesus zu dem gekommen ist, was sie selbst in ihrer Geschichte erfahren hat: zum Nein der Mehrheit Israels und zu ihrer eigenen Trennung vom Volk."

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eigentliche, aus Mk stammende Belohnung für die Nachfolger. 12 Da sich die eingeschobene Verheißung auf Jenseitiges bezieht und die ihr folgende mk Belohnung einleitet, wird auch das, was im mk Text diesseitige Belohnung war, als jenseitige dargestellt. 13 Deswegen wird der mk Satz J e t z t in dieser Zeit Häuser und Brüder... ausgelassen. Konkret gesagt, ist die verheißene Belohnung für diejenigen, die Jesus nachgefolgt sind, nach Matthäus 1) die königliche Mitherrschaft bei der Wiedergeburt (der Welt),14 2) ein Ersatz für alle verlassenen Angehörigen und für verlassenes Eigentum sowie 3) das ewige Leben, und zwar alles zum gleichen Zeitpunkt (siehe das futurische Tempus der beiden Verben 'empfangen' sowie 'ererben'). Was bedeutet diese mt Abänderung? Zunächst ist daran zu erinnern, was für einen Sinn dieser Text für die mk Gemeinde gehabt hat. Nach unserem Ergebnis im vorigen Kapitel war die diesseitige Belohnung für die Nachfolger Jesu die familiäre Beziehung sesshafter Sympathisanten zu ihnen. Die sesshaften Sympathisanten, die die wandernden Nachfolger Jesu durch Aufnahme unterstützten, waren schon 'in dieser Zeit' neue Familienangehörige. Sie wurden so zur diesseitigen Belohnung für die Nachfolger Jesu. Selbstbewusste sesshafte Christen dürften im Lauf der Entwicklung ihre Existenz immer mehr als Belohnung für die wandernden Nachfolger Jesu verstanden und dies anhand von Mk 10,28ff zum Ausdruck gebracht haben. Dass im mt Text gerade die diesseitige Belohnung ausgelassen worden ist, zeigt, dass der Evangelist Matthäus bzw. seine Gemeinde, anders als Markus und seine Gemeinde, kein Bedürfiiis empfand, eine solche souveräne Selbsteinschätzung von sesshaften Christen zum Ausdruck zu bringen. Wie das zu erklären ist, werden wir erst am Schluss dieses Abschnittes beantworten können. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass 12

Andere Abänderungen, die wohl vom Evangelisten Matthäus vorgenommen wurden, sind z.B. die Petrusfrage nach dem Lohn, die positive Formulierung der Verheißung des hundertfachen Lohns. Näheres darüber siehe in den Kommentaren (z.B. Gnilka, Mt II, 169). 13 Anders bei A. Schlatter, Der Evangelist Matthäus. Seine Sprache, sein Ziel, seine Selbständigkeit, Stuttgart 1948, 584f, der die hundertfache Belohnung in v29 für diesseitig hält. Das futurische Tempus des Verbums 'empfangen' macht jedoch diese Ansicht Schlatters unwahrscheinlich. 14 Schweizer, Mt, 253, möchte dies als Entsprechung zu 'der von Matthäus positiv verstandenen Frage der Jünger in 18,1' verstehen.

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diese Aufnahme mit den mt Abänderungen von Mk 3,31-35 in engem Zusammenhang steht: Die Hervorhebung von sesshaften Christen als Pendant für die mobilen Nachfolger Jesu stellt für den Evangelisten Matthäus bzw. seine Gemeinde keine Notwendigkeit mehr dar. Nun zu der vom Evangelisten Matthäus neu eingeschobenen Belohnung: Wie wir im zweiten Kapitel gesehen hatten, ist sie innerhalb der Logienquelle Trost und Verheißung für die Wandercharismatiker, die als Heimat- und Familienlose Schmähungen und Misshandlungen ausgesetzt sind: Sie werden Mitherrscher 15 bei der Wiedergeburt der Welt sein. Von Bedeutung ist für uns, dass diese Verheißung für Wandercharismatiker vom Evangelisten Matthäus übernommen und in die mk Tradition eingeschoben wurde, während die diesseitige Belohnung, die in der mk Tradition eine Selbsteinschätzung sesshafter Christen darstellt, ausgelassen wurde. Die mt Redaktionsarbeit folgt hier der Perspektive von Wandercharismatiern. Berücksichtigt man diesen Befund, so kommt man zu dem Ergebnis, dass die mobile Nachfolge Jesu in der mt Gemeinde wohl noch immer einen hohen Stellenwert hat. Es wäre sonst schwer erklärbar, warum sich der Evangelist die Mühe macht, die Q-Verheißung in eine mk Tradition einzuschieben, wobei er ein wichtiges Element der mk Tradition streicht. 16 Inwieweit man von solchen redaktionellen Bearbeitungstendenzen auf das Leben der Gemeinde zurückschließen kann, wird später zu überlegen sein.

15

Vgl. J. Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 1937, 201, „Der Menschensohn erscheint als Richter in der Lichtherrlichkeit (s.z. 7,21ff.; 25,3 Iff.), und die zwölf Jünger richten die zwölf Geschlechter Israels: Sie sind das neue Gottesvolk (s.z. 16,17), und richten heißt so viel wie regieren, sie sind die Mitregenten des Herrschers Christus." 16 R. Schnackenburg, Matthäusevangelium, II, NEB.NT I, 1987, 186, stellt die Vermutung an, dass diese Verheißung ein Sonderlohn für die 'Zwölf sein könnte (ähnlich auch A. Sand, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, Regensburg 1986, 400). Seine Begründung dafür lautet, dass „der folgende Spruch (29), der sich an alle wendet ('Und jeder'), davon abgehoben ist" Gegen diese Vermutung spricht jedoch, dass der der Verheißung folgende Vers 29 sich auch auf die Nachfolge der Jünger bezieht. Das heißt, sowohl die Verheißung als auch der ihr folgende Vers sind nicht auf zwei Ebenen, sondern auf einer Ebene, wohl auf der mt Gemeindeebene, auszulegen.

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(2) Logienquelle Die Vorstellung der familia dei in der Logienquelle ist charakterisiert durch das Bild von Gott als Vater bzw. der Weisheit als Mutter. Logientexte, die diese Vorstellung in Q bezeugen, übernahm der Evangelist Matthäus. Die Vorstellung von der Weisheit als Mutter, die in der Logienquelle ohnehin nur in Q-Lk 7,35 direkt bezeugt ist, hat jedoch durch mt Abänderung ihre Textgrundlage verloren. Konkret gesagt, hat der Evangelist Matthäus Q-Lk 7,35 so geändert, dass dort nicht von „Kindern der Weisheit", sondern von „Werken der Weisheit" die Rede ist (Mt 11,19). Auch bei Q-Lk 13,34f, wo die Vorstellung von der Weisheit als Mutter nur erschlossen werden konnte, lässt sie sich auf der Ebene des MtEv nicht mehr nachweisen, weil Matthäus in Mt 23,34 die Weisheit als Subjekt der Boten-Sendung streicht und Jesus selbst zum Subjekt der Aussage machte (Q-Lk 11,49). Es ist daher wenig sinnvoll, im MtEv von der Weisheit als Mutter zu sprechen. Dagegen hat der Evangelist Matthäus die Texte, die die Vorstellung von Gott als Vater bezeugen, ohne entscheidende Abänderungen übernommen. Daher haben wir in diesem Abschnitt in Bezug auf die Vorstellung der familia dei in Q ausschließlich die Vorstellung von Gott als Vater zu behandeln. Die vier Logientexte, die die Vorstellung von Gott als Vater bezeugen, sind: Q-Lk 6,27-36; Q-Lk 11,2-4; Q-Lk 11,9-13; Q-Lk 12,22-31. Um mt Prägungen bei der Vorstellung von Gott als Vater zu erkennen, ist es wenig sinnvoll, von textuellen Abänderungen in diesen Texten durch den Evangelisten auszugehen. Denn, wie oben gesagt, erfolgte deren Übernahme durch den Evangelisten ohne entscheidende Abänderung an der Vorstellung von Gott als Vater. Um mt Prägungen herauszuarbeiten, muss ein anderer Weg beschritten werden. Einen guten Ansatz dafür bieten kontextuelle Beobachtungen. Alle vier Texte finden sich nur im MtEv in einem größeren Rahmen, in der Bergpredigt, während sie in der Logienquelle voneinander getrennt überliefert wurden, wie die lk Stellenangaben - da Lukas die Reihenfolge der Logienquelle besser aufbewahrt haben dürfte - zeigen. Welche spezifisch mt Akzente sind erkennbar? Wir haben im Kapitel über die Vorstellung der familia dei in Q gesehen, dass die vier Texte an Wandercharismatiker gerichtet sind. Davon ausgehend ist zu fragen, an

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wen der Evangelist Matthäus bei ihrer Wiedergabe gedacht hat: Waren auch die Adressaten der Bergpredigt 17 heimatlose Jesusnachfolger wie der Kreis hinter der Logienquelle? Einige Beobachtungen am Text der Bergpredigt sprechen dagegen. Zunächst Mt 7,15: „Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe." Der zitierte Vers geht auf den Evangelisten Matthäus zurück 18 und gibt uns Einblick in die Situation der mt Gemeinde. 1 9 V o n Bedeutung ist das Wort 'kommen' Es geht um falsche Propheten, die zu den Adressaten der Bergpredigt kommen.20 Daher ist es schwer vorstellbar, dass die

17

Die Frage nach den Adressaten der Bergpredigt wird in der Exegese häufig erörtert. Die Beantwortung dieser Frage ist schwer, weil in Mt 5,1 von den Jüngern, aber in Mt 7,28 von der Menge als Adressaten gesprochen wird. G. Lohfink stellt in: 'Wem gilt die Bergpredigt?', (Beiträge zu einer christlichen Ethik, Freiburg u.a. 1988, 16 und Anm. 7.8.9.10.) vier unterschiedliche Antwortmöglichkeiten vor: 1) Die Bergpredigt gilt unmittelbar allen Völkern und allen Menschen (F.W. Kantzenbach, Die Bergpredigt, Stuttgart 1960, 77). 2) Sie gilt zunächst einmal nur der Kirche (u.a. M. Dibelius, Die Bergpredigt, in: ders., Botschaft und Geschichte I, Tübingen 1953, 79-174, hier 93). 3) Sie gilt innerhalb der Kirche nur einer bestimmten Elite, denen, die zur Nachfolge Jesu berufen sind (K. Bornhäuser, Die Bergpredigt. Versuch einer zeitgenössischen Auslegung, Gütersloh 1927, 4-21). 4) Sie gilt überhaupt keinem Kollektiv, sondern immer nur dem Einzelnen, der je für sich selbst das radikale Ethos der Bergpredigt zu erfüllen hat (A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1951, 596. 640). 18

Vgl. Luz, Mt I, 401, besonders Anm. 2; Gnilka, Mt I, 273. Ebenfalls Luz, Mt I, 402. Anders G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchung zur Theologie des Matthäus, FRLANT 82, Göttingen 1971, 137f Anm. 4, der Mt 7,15ff als „unspezifisch auf die Gemeinde bezogen" verstehen will. Die Warnung vor falschen Propheten ist nach Strecker nur eine Mahnung neben anderen; sie gehe sachlich auch nicht über die üblichen, ähnlich unkonkreten Anweisungen zur Identifizierung von Irrlehren in der altchristlichen Literatur hinaus. 20 In der Exegese wird über die Identität der falschen Propheten viel spekuliert. Sie sollen Zeloten, Pharisäer, Essener, strenge Judenchristen, Paulianer oder hellenistische Antinomisten sein. Luz, Mt I, 403, stellt diese verschiedenen Möglichkeiten mit ihren Vertretern kurz vor. Er selbst vermutet, die falschen Propheten seien in irgendeiner Weise 'Markiner' gewesen. Über weitere Möglichkeiten wie z.B. jüdische Gegner oder Enthusiasten, siehe Davies/Allison, Matthew I, 701. Diese Frage lässt sich angesichts der Spärlichkeit der uns vorliegenden 19

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Adressaten der Bergpredigt in erster Linie Wandercharismatiker waren. Die Aussage des Verses richtet sich eindeutig an sesshafte Christen, die von Wanderpropheten aufgesucht werden.21 Die sesshafte Situation der Adressaten lässt sich weiter in den Texten erkennen, die der Evangelist als Sondergut aus seiner Tradition übernommen hat. Gemeint sind Mt 6,2-6.16-18, die Lehre über die richtige Frömmigkeitspraxis. Wären die Wandercharismatiker, die ohne Hab und Gut wie Bettler herumreisten und allein auf die Hilfeleistung von sesshaften Christen angewiesen waren, jemals imstande gewesen, jemandem Almosen zu geben oder in einem eigenen Kämmerlein zu beten? Dies alles richtet sich offenbar an sesshafte Christen, die sich im Unterschied zu Wandercharismatikern solchen „Luxus" leisten konnten. Dass der Evangelist Matthäus diese Tradition übernommen hat, besagt, dass seine Gemeindeglieder bzw. die Hörer der Bergpredigt in erster Linie keine Wandercharismatiker, sondern ortsfeste Gemeindeglieder waren,22 sonst hätten sie mit der übernommenen Tradition Schwierigkeiten gehabt. Wenn also die Adressaten der Bergpredigt in erster Linie sesshafte Christen waren, dann können wir bezüglich der mt Prägung der vier Q-Texte feststellen, dass ihr Adressatenkreis vom Evangelisten Matthäus so erInformation nicht beantworten (die Frage scheint mir dem Text unangemessen zu sein, s.u. Anm. 102). Es steht lediglich fest, dass sie als „Propheten" anerkannt wurden, ferner, dass sie in die mt Gemeinde wohl zu Besuch „kommen" Diese beiden Befunde reichen m.E. zur Behauptung aus, dass es sich hier um wandernde Propheten handelt. Für unsere Ansicht könnte auch in v22 sprechen. Denn die dort erwähnten Aktivitäten entsprechen Aufgaben von Wandercharismatikern, besonders das Geisteraustreiben und Wundertun (vgl. Mt 10,7f)· Luz, Mt I, 402, nimmt an, dass die Formulierung in Lk 13,26 wohl die ursprüngliche Lesart von Q ist, und Davies/Allison, Matthew I, 694. 714ff, sprechen sich ausdrücklich dafür aus: „... Mt 7,22-3 is secondary, a very free redactional construction in the interests of the Matthean context. The evangelist has added several distinctive phrases, changed the subject " (714). 21 Siehe auch unten im Exkurs 'Der sozialgeschichtliche Hintergrund der Vorstellung der familia dei in der Bergpredigt', besonders Anm. 104. 22 Diese Schlussfolgerung ist mit der Ansicht kompatibel, die in Bezug auf die Frage nach den Adressaten der Bergpredigt von den meisten Auslegern vertreten wird. Lohfink, Wem gilt die Berpgredigt?, 36, formuliert diese Ansicht so: ,J)ie Bergpredigt richtet sich an die Kirche, oder vorsichtiger: In den Jüngern, die bei der Bergpredigt um Jesus versammelt sind, wird die spätere Kirche im voraus abgebildet."

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weitert wurde, dass in erster Linie nicht Wandercharismatiker, sondern sesshafte Christen im Blick waren. M.a.W.: Durch die mt Übernahme der vier Q-Texte wurde es möglich, dass die sesshaften Christen genauso wie die Wandercharismatiker Gott als ihren Vater verstehen, der für seine Kinder sorgt und sich nachahmen lässt.23 Halten wir fest: Der mt Umgang mit den familia-dei-Traditionen in der Logienquelle und im MkEv ist durch folgende Merkmale charakterisiert: 1) Der Evangelist Matthäus nimmt die mk Hervorhebung der sesshaften Christen als Pendant für die mobilen Nachfolger Jesu wieder zurück. Offenbar sieht er keinen Bedarf dafür. Für ihn reicht der Begriff „Jünger" aus. 2) Die mobile Nachfolgeschaft hat in der mt Gemeinde nach wie vor einen hohen Stellenwert. 3) Bei der Übernahme der Vorstellung der Logienquelle erweitert der Evangelist den Adressatenkreis, so dass die sesshaften Christen genauso wie die Wandercharismatiker Gott als ihren Vater verstehen können. Exkurs: Die mt Gemeinde Wir haben oben im Anschluss an unsere Überlegungen zu Mt 12 die Frage gestellt, wie es zu erklären ist, dass der Evangelist Matthäus keine Notwendigkeit gesehen hat, die mk Hervorhebung der sesshaften Christen zu übernehmen. Nachdem wir untersucht haben, wie der Evangelist die ihm vorgegebenen Traditionen hinsichtlich der Vorstellung der familia dei bearbeitet hat, scheint es mir sinnvoll zu sein, die Frage zu behandeln, wie die oben unter l)-3) genannten mt Charakteristika zu erklären sind. Zunächst zu 1): Es sei daran erinnert, welches Interesse hinter der mk Hervorhebung der sesshaften Christen steht. Sie vermittelt den Lesern des MkEv ein erhöhtes Selbstbewusstsein, so dass sie sich als den Wandercharismatikern gleichgestellt verstehen können. Wenn sich die mt Gemeinde dafür nicht mehr interessiert, so bedeutet das, dass für sie die Bewahrung ihrer Identität als sesshafter Gemeinde gegenüber den Wandercharismatikem kein Problem mehr darstellte. Die Frage ist dann: aus welchem Grund? Eine Antwort bietet m.E. die Tatsache, dass der mt Gemeinde die Logienquelle als eine für sie sehr wichtige Tradition in schriftlicher Form 23

S.o. im Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei in Q'.

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vorlag. Dass die mt Gemeinde im Unterschied zur mk Gemeinde das Wesentliche der Wortüberlieferung Jesu besaß, ermöglichte es ihr, sich aus der Abhängigkeit von mobilen Nachfolgern Jesu zu lösen. Die Autorität von Wandercharismatikern bestand ja vor allem darin, dass sie 1) Worte Jesu vermittelten und 2) sie in ihrem Wanderleben verwirklichten. Da die mt Gemeinde aufgrund ihres Besitzes der Wortüberlieferung keine Vermittlung der Worte Jesu durch Wandercharismatiker benötigte, konnte sie sich als mit ihnen gleichgestellt verstehen. Da sich die mt Gemeinde darüber hinaus bemühte, die Wortüberlieferung in ihrem sesshaften Leben zu verwirklichen (wie die Bergpredigt zeigt), konnte sie souverän sagen, dass man sie nicht an Wundertaten und Prophezeiungen von Wandercharismatikern (Mt 7,22), sondern an ihren Früchten (Mt 7,15f), d.h. an der Verwirklichung von Worten Jesu in ihrem Leben, erkennen soll. Hier zeigt sich, wie unabhängig und souverän die mt Gemeinde den Wandercharismatikern gegenüberstand. Es ist darum verständlich, dass für die mt Gemeinde die mk Hervorhebung der sesshaften Christen überflüssig geworden ist. Nun zu 2): Wie ist es aber zu erklären, dass die radikale Nachfolge in der mt Gemeinde, obwohl sie selbst eine sesshafte Gemeinde war, noch einen so hohen Stellenwert hat? Einen Ansatz zur Beantwortung der Frage bietet m.E. die Erkenntnis, dass die mt Gemeinde großen Wert auf die Mission legte. Das geht schon daraus hervor, dass das Evangelium mit dem Missionsbefehl als letztem Wort des Auferstandenen endet. Die Mission ist demnach die Aufgabe der ganzen mt Gemeinde. Dass die Mission die Aufgabe der mt Gemeinde ist, zeigt sich auch in Mt 10. Zu erwähnen ist die bekannte Tatsache, dass nur im MtEv die Rückkehr der ausgesandten Jünger nicht berichtet wird 24 - es ist sogar fraglich, ob sie nach der jetzt vorliegenden Darstellung überhaupt ausgesandt wurden. 25 Dies deutet daraufhin,

24

Im MkEv wird die Rückkehr der ausgesandten Jünger in 6,30, im LkEv jeweils in 9,10 sowie in 10,17 berichtet. 25 Denn nach Mt 10,5 wurden die Jünger bzw. die Zwölf ausgesandt, aber nach Mt 11,1 blieben die Jünger bei Jesus und empfingen von ihm alle diese Unterweisungen. Vgl. Luz, Jesusgeschichte, 90: „Für die Aussendungsrede gilt also, was für alle matthäischen Jesusreden gilt: Sie ist 'zum Fenster hinausgesprochen' Sie redet direkt die Leser/innen an. Sie gilt der Gemeinde in der Gegenwart."

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dass die Aussendungsrede in Mt 10 eigentlich den Adressaten des MtEv gilt. Mt 10 beabsichtigt, die Mission allen Gemeindegliedern ans Herz zu legen. 26

Wie aber wurde diese Aufgabe in die Tat umgesetzt? Dafür blicken wir auf den Missionsbefehl des Auferstandenen (Mt 28,19f): „Darum geht hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe " Der an erster Stelle genannte Imperativ des Missionsbefehls heißt 'Geht hin' Aus ihm ist zu erschließen, dass die mt Gemeinde ihre Missionsaufgabe in erster Linie so zu verwirklichen suchte, dass sie Missionare aussandte. 27 Für eine Sendung von Missionaren durch die mt Gemeinde spricht auch die Notiz in Mt 23,34. Ein Vergleich mit dem lk Paralleltext ergibt,28 dass die Wörter „Schriftgelehrte" sowie „Weise" wahrscheinlich auf den Evangelisten Matthäus zurückzuführen sind.29 Stimmt dies, dann haben wir hier ein Indiz dafür, dass die Sendung von Missionaren, im Fall von Mt 23,34 speziell von Schriftgelehrten und Weisen, 30 für die mt Gemeinde vorstellbar war.31 Ein weiteres Indiz für die Sendung der Missionare lässt sich m.E. in Mt 9,35-38 finden. Diese Perikope wurde mit der ihr folgenden Einsetzung der zwölf Jünger zusammen mit der Aussendungsrede (Mt 10,5ff) ver26

So z.B. Wouters, Willen, 315: „... Es ist deshalb durchaus berechtigt, die Aussendungsrede als transparent für die Gemeinde zu betrachten und eine Verankerung nur in der Vergangenheit abzulehnen." 27 Eine andere Möglichkeit, die jedoch die oben dargestellte nicht ausschließt, ist, dass die mt Gemeinde an ihrem Wohnsitz versucht hat, ihre Umwelt zu missionieren. Wenn man auf Mt 5,13-16 blickt, dann ist diese Möglichkeit gut vorstellbar. Die mt Gemeinde könnte durch ihre guten Werke versucht haben, ihre Umwelt zur Bekehrung zu Gott zu bewegen (vi6). 28 Mt 23,34 „Darum: siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte Lk 11,49 „Darum spricht die Weisheit Gottes: Ich will Propheten und Apostel zu ihnen senden 29 Vgl. Steck, Geschick, 29-31; Gnilka, Mt II, 298. 30 Selbstverständlich müssen auch die Propheten von der mt Gemeinde geschickt worden sein, wie Mt 10,40ff es andeutet. 31 Es ist mir unverständlich, wie A. Sand, Das Matthäus-Evangelium, EdF 275, Darmstadt 1991, 17, behaupten kann, dass die mt Gemeinde „zwar Wanderpropheten aufnimmt, selbst aber keine aussendet" Angesichts des Missionsbefehls, den man im MtEv zweimal findet, ist diese Behauptung unbegründet.

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bunden. Sie kann daher als ein Teil der Aussendungsrede angesehen werden. Interessant ist die redaktionelle Hand des Evangelisten in dieser Teilperikope. Er verbindet das aus Q stammende Logion v37f, das in Q die Aussendungsrede einleitet (vgl Lk 10,2ff), mit dem Logion (Mt 9,36), das nach Mk aus der Speisungsszene stammt (Mk 6,34).32 „... Die Ernte 33 ist groß, aber es sind nur wenige Arbeiter da. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sendet" (Mt 9,3 7f aus Q). „Und als er die Menge sah, hatte er Erbarmen mit ihnen allen; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben" (Mt 9,36 aus Mk). Die Verbindung von Logien aus Q und Mk dient dazu, die Notwendigkeit der Aussendung, von der im Q-Logion die Rede ist, zu unterstreichen. Die Aussendung von Arbeitern ist notwendig, weil der Zustand des Volkes erbärmlich ist. Der Evangelist fügt dem mk Logion daher die beiden Wörter σ κ ύ λ λ ω und ρίπτω hinzu, um das mit dem mk Logion Dargestellte zu verdeutlichen. Angesichts dieser Beobachtung liegt die Vermutung nahe, dass das in der Perikope Mt 9,35-38 Geschilderte etwas über die mt Gemeindesituation sagt. Was das Logion über den Zustand des Volkes verrät, dürfte die Situation des Volkes 34 widerspiegeln, wie der Evangelist sie empfindet. Das Volk ist demnach verschmachtet und zerstreut wie Schafe ohne Hirten. Der Evangelist schlägt zur Lösung dieser problematischen Situation anhand des Q-Logions vor, dass die Hörer Gott darum bitten sollen, Arbeiter für die Ernte35 zu schicken. Dieser 32

So Luz, Mt II, 80; Davies/Allison, Matthew II, 143f. Die Einleitung dazu, „Da sprach er ", ist matthäisch. 34 Hier ist an das Volk Israel zu denken, wie die mehrfach vorkommende alttestamentliche Wendung „Schafe, die keinen Hirten haben" (Num 27,11; 2 Chr 18,16; Jdt 11,19 usw.) vermuten lässt (vgl. Luz, Mt II, 81; Davies/Allison, Matthew II, 147f). Anders bei Gundry, Matthew, 180f, der im Volk ein Symbol für alle Völker sehen will. Dem ist zu entgegnen, dass das 'Volk' in Mt 10,6 unmissverständlich mit dem Ausdruck „verlorene Schafe aus dem Haus Israel" wiederaufgenommen wird. 35 B. Charette, Α Harvest for the People? An Interpretation of Matthew 9.37f., JSNT 38 (1990), 29-35, widerspricht der Ansicht, die Ernte sei als „harvest of the People" aufzufassen und infolge dessen seien die gesuchten Arbeiter als Missionare zu verstehen. Nach ihr ist die Emte als 'a harvest for the People' aufzufassen, welche das Bild einer „restoration of the people" begleite und wie in Hos 33

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Vorschlag ist m.E. so zu verstehen, dass die mt Gemeinde Wert darauf legen soll, selbst Missionare auszusenden. 36 Der Evangelist denkt also an eine Mission des Volkes. 37 Ein weiteres Indiz für die Sendung von Missionaren bietet m.E. Mt 10,40ff. In der Exegese wird dieser Text unverständlicherweise fast immer auf sesshafte Christen bezogen, obwohl die angesprochenen Adressaten zunächst die ausgesandten Jünger sind. Der erste Vers 40 macht das mit dem Wort 'euch' klar. So verstanden ist der ganze Text ein Trost bzw. eine Verheißung für die Jünger, die ausgesandt werden sollen: Sie können sicher sein, dass ihre Aussendung bzw. ihre Reise sesshaften Leuten nicht zur Last fallen, sondern dass diese für ihre Gastfreundschaft belohnt werden. Das können sie ihren sesshaften Gastgebern verkünden. Wäre diese Unterweisung direkt an sesshafte Menschen gerichtet, dann würde ein Passus wie „wenn ihr einen Gerechten aufnehmt, " im Text 6,11 im Sinne eines „harvest of blessing" auszulegen sei. Der Schwachpunkt in dieser Ansicht von Charette ist aber der, dass im Gegensatz zu ihrer Behauptung nirgends in Mt 9,37f das Bild eines „restoration of the People", das von einem „harvest of blessing" begleitet sein soll, zu finden ist. Dort findet sich allein das Bild von der Ernte, die man nicht anders denn als „harvest of the people" deuten kann. Das Problem in der Ansicht von Charette liegt in ihrer Ausgangsposition, dass „the idea of the people of God being gathered in as a harvest" einen „OT counterpart" haben müsse (so direkt formuliert sie das zwar nicht, jedoch ist das der Ansatz für ihre Ansicht: vgl. S. 31). Neutestamentliche Autoren können freilich ohne Rüchsicht auf alttestamentliche Konnotationen bestimmte Metaphern in ihrer Schrift angewandt haben. 36 Die Aufgabe dieser Missionare würde dann darin bestehen, 'das Evangelium vom Reich zu predigen' und 'alle Krankheiten und alle Gebrechen zu heilen' (v35), wie Jesus es getan hat. Die Darstellung der Aktivitäten Jesu in v35 ist also als Vorbild fur die Jünger (und damit für die mt Gemeinde) zu verstehen (vgl. Davies/Allison, Matthew II, 146.149f, die allerdings die Arbeiter, um die gebeten wird, nicht mit den Missionaren der mt Gemeinde, sondern mit Missionaren nach Ostern identifizieren. Für sie ist ihre Existenz daher Erhörung des Gebetes um sie). Die Aktualität des Dargestellten für die mt Gemeinde könnte man vielleicht mit Gundry, Matthew, 181, aus dem präsentischen Tempus von λέγειν herauslesen. 37 So auch Luz, Mt II, 80: „Das Erbarmen mit dem hirtenlosen Volk steht am Anfang der Jüngerrede. Matthäus macht dadurch klar, dass Jüngerschaft grundsätzlich auf das Volk bezogen, d.h. Sendung ist. Gemeinde ist eo ipso missionarische - im Sinne der Verkündigung durch Werke, Zeichen und Worte - Gemeinde" (Hervorhebung ist von mir).

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stehen.38 Stimmt unsere Auslegung, dann haben wir ein starkes Indiz dafür, dass die mt Gemeinde Missionare ausgesandt hat. Hat die mt Gemeinde Missionare ausgeschickt, 39 dann liegt es auf der Hand, warum in dieser Gemeinde die mobile Nachfolge noch einen so hohen Stellenwert einnimmt. Denn eine Gemeinde, die Missionare aussendet, kann schwer das Leben der mobilen Nachfolgeschaft geringschätzen, sonst hätte sie Schwierigkeiten, Freiwillige für die Mission zu finden. 40 Man kann außerdem bestimmte Gemeinsamkeiten zwischen Wandercharismatikern und mt Missionaren feststellen: 1) Unabhängig davon, ob ein mt Missionar zu einem bestimmten Ort geschickt wird, damit er sich dort niederlässt, oder zu mehreren Orten, ist sein Leben als mobil zu bezeichnen, da er zur Erfüllung seiner Aufgabe sein Zuhause verlassen muss. Dass das Leben durch Mobilität geprägt ist, ist also die erste Gemeinsamkeit. 2) Die Aufgabe der mt Missionare besteht nach dem Missionsbefehl in zweierlei: Taufen und Lehren. Das Lehren bezieht sich auf das, was Jesus gesagt (und befohlen) hat (Mt 28,20). Die mt Missionare haben also die Worte Jesu zu lehren. Die gleiche Aufgabe hatten auch die Wandercharismatiker zu erfüllen: Sie sind nämlich die Träger und Vermittler der Wortüberlieferung; nach der synoptischen Tradition sind sie Prediger des Reichs Gottes, das Jesus selbst verkündet hat.

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Die Ansicht, dass man hinter Mt 10,40ff Kontakte der mt Gemeinde mit Wandercharismatikem sehen kann, muss daher korrigiert werden. Dahinter stehen vielmehr die Erfahrungen der mt Gemeinde bzw. ihrer Missionare mit sesshaften Menschen, zu denen sie ausgesandt wurden. Damit werden allerdings nicht die Kontakte der mt Gemeinde mit Wandercharismatikern verneint. Verneint wird nur, dass man die Existenz dieser Kontakte in Anlehnung an Mt 10,40ff behauptet. 39 In Mt 9,3 7f sieht Overmann, Formative Judaism, 120f, die folgende mt Gemeindesituation widergespiegelt: „There are still people in the community who go out on missions, though they appear to be few" (121). 40 Luz, der eine ähnliche Ansicht vertritt, formuliert es so: „Man kann sagen: Wanderradikalismus ist für Matthäus der Ernstfall der Jüngerschaft. Alle matthäischen Leser/innen sind potentielle Wanderradikale. Der Auftrag der Wanderradikalen ist kein anderer als der Auftrag der Kirche überhaupt" (Jesusgeschichte, 93).

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Dass in der mt Gemeinde die mobile Nachfolge noch einen so hohen Stellenwert hat, ist also damit zu erklären, dass diese Gemeinde die Mission als ihre Aufgabe verstand und sie zu erfüllen bemüht war. Schließlich zu 3): Wie lässt sich erklären, dass der Adressatenkreis der Worte Jesu erweitert wurde? Was hat dazu geführt, dass die Wortüberlieferung, deren Erfüllung nur von Wandercharismatikern zu erwarten war, nun als Gebot (Mt 5,19) auch für sesshafte Christen verstanden wurde? Diese Frage lässt sich auch so formulieren: Wie kommt es dazu, dass die Logienquelle der mt Gemeinde zugänglich wurde, so dass sie als Ortsgemeinde diese Tradition von Wandercharismatikern für sich in Anspruch nehmen konnte? Wenn wir die Ansicht teilen, dass die Logienquelle unter den Wandercharismatikern überliefert und durch sie an sesshafte Christen vermittelt wurde, dann haben wir zwei Möglichkeiten zur Beantwortung dieser Frage: 1) die Logienquelle wurde von Wandercharismatikern, die die mt Gemeinde besuchten, überliefert, und die mt Gemeinde hat sich diese Überlieferung zu eigen gemacht, 2) eine Gruppe von Wandercharismatikern hat sich in den mt Gemeinden niedergelassen und versucht, ihre Wortüberlieferung auch unter sesshaften Verhältnissen zu verwirklichen.41 Angesichts unserer bisherigen Ergebnisse, dass die mt Gemeinde gegenüber Wandercharismatikern, die sie besuchten, souverän auftreten konnte und dass in dieser Gemeinde die mobile Nachfolge, wenn auch in veränderter Form, einen hohen Stellenwert hatte scheint mir die zweitgenannte Möglichkeit wahrscheinlicher zu sein. Wie wäre es sonst möglich, dass die mt Gemeinde so souverän, wie in Mt 7,15 beschrieben, gegenüber Wandercharismatikern auftreten konnte? Wenn die Gemeinde die Wortüberlieferung nur durch Vermittlung reisender Wandercharisma-

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Eine enge Verbindung zwischen den Trägern der Logienquelle und der mt Gemeinde sah bereits Luz, Jesusgeschichte, 29: „Ich (sc. Luz) meine, dass die matthäische Gemeinde geschichtlich mit den Trägern der Logienquelle zusammengehört. Hinter der Logienquelle stehen vermutlich einerseits christliche Wandermissionare, Propheten und Lehrer, die durch das Land Israel zogen, andererseits sesshafte Gemeinden, die durch ihre Verkündigung entstanden. Vielleicht ist die matthäische Gemeinde irgendwann einmal durch ihre Verkündigung entstanden."

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tiker bekommen hätte, wäre sie niemals über diese Autoritäten hinausgewachsen, die Jesu Worte in ihrem Wanderleben verwirklichten. 42 Ob diese These durch Beobachtungen im MtEv untermauert werden kann, ist nun die Frage. M.E. lässt sich diese Frage anhand Mt 16,18 beantworten: „Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen." Zusammen mit dem nachfolgenden v l 9 4 3 spricht unser Vers unmissverständlich von einer Gemeindegründung. Es geht um die Gründung der Gemeinde Jesu, um „meine Gemeinde", wie Jesus sagt. Der Evangelist Matthäus versteht darunter seine Gemeinde und begründet so die Legitimität ihrer Entstehung. Er will sie als eine Gemeinde verstanden wissen, die durch eine Verheißung Jesu an Petrus entstanden ist. Von Bedeutung ist dabei, dass die Gründung der Gemeinde Jesu durch Petrus geschehen soll. Dessen Bedeutung ist im MtEv ist vielfaltig. 44 Er ist z.B. 'Jüngersprecher und Schüler', oder 'Paradigma christlichen Verhaltens bzw. Fehlverhaltens' 45 Für uns ist seine Bedeutung in Mt 19,27 46 wichtig: Dort ist Petrus das Symbol für alle Wandercharismatiker, die zur Nachfolge alles verlassen haben.

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Luz, Mt I, 66, vertritt die These, „dass das Matthäusevangelium aus einer Gemeinde stammt, die von den wandernden Boten und Propheten des Menschensohns der Logienquelle gegründet worden ist und weiter in engem Kontakt mit ihnen steht. Die Überlieferungen von Q spiegeln also für die Gemeinde Erfahrungen aus ihrer eigenen Geschichte. Sie sind 'eigene' Traditionen." Luz hat allerdings die Frage übersehen, wie diese Gemeinde sich dann die Logienquelle, die sie doch vermittelt bekommen hat, zu eigen machen konnte, so dass sie gegenüber den anderen Wanderpropheten so souverän auftreten konnte. Hier liegt m.E. ein Defizit seiner These. 43 „Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein." 44 Über Petrus im Matthäusevangelium siehe Luz. Mt II, 467-9; Davies/Allison, Matthew II, 647-652. 45 „Er wagt den Glauben, und er versagt (14,28-31). Er bekennt Jesus als Gottessohn und scheut sich zugleich vor dem Leiden (16,16.22). Wie andere Jünger vermag er nicht zu wachen (26,36-46). Er verleugnet Jesus mit einem Eid und bereut (26,33-35.69-75)" (so Luz, Mt II, 467). 46 „Da fing Petrus an und sprach zu ihm: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt..."

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Dann aber wird durch die Verheißung an Petrus: die Gründung der Gemeinde Jesu auf die Symbolfigur der Wandercharismatiker zurückgehfuhrt. Hier spiegelt sich wider, wie die mt Gemeinde gegründet wurde: Einige Wandercharismatiker haben sich an verschiedenen Orten niedergelassen47 und dort Gemeinden aufgebaut, die dann zu den mt Gemeinden wurden.48 Sie brauchen jedoch eine Legitimation: zunächst eine Rechtfertigung dafür, dass sie ihre eigentliche Lebensweise, die radikale Nachfolge, verlassen und sich niedergelassen hatten. Zugleich brauchten sie eine Begründung dafür, dass ihre Gemeinde in einer legitimen Tradition steht. Für diesen doppelten Zweck ist die Verheißung Jesu bestens geeignet. Da kein anderer als Jesus selbst ' a u f Petrus seine Gemeinde49 bauen will, hat Petrus (als Wandercharismatiker) keine andere Wahl, als sich niederzulassen, um eine Gemeinde zu gründen. Die Verheißung Jesu dient als Rechtfertigung für den Übergang von der mobilen zur stabilen Nachfolgeexistenz. Zweitens richtet sich die Verheißung an Petrus als den ersten Jünger Jesu (vgl. Mt 10,2). Dass die mt Gemeinde auf ihm

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Vielleicht ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung von Overmann zu sehen, Formative Judaism, 126, „in Matthew Jesus and the disciples are less itinerant and appear more settled and fixed in their locale" (z.B. Mt 4,13; 9,1). Denn man wird nicht leugnen können, dass die mt Gemeindesituation - in diesem Fall ihr sesshaftes (bzw. ihr sesshaftgewordenes) Leben - sich in der Erzählung von Jesus widerspiegelt. 48 Meine 'Niederlassungsthese' vermag vor allem das oben (Anm. 42) genannte Defizit beheben. Da die Vermittler der Logienquelle sich selber in der mt Gemeinde niedergelassen haben, konnte sich die mt Gemeinde die Erfahrung und Selbstbewusstsein der Wandercharismatiker zu eigen machen und so souverän gegenüber anderen Wandercharismatikern auftreten. Dafür, dass sich im Bereich des MtEv tatsächlich Wandercharismatiker in Ortsgemeinden niedergelassen haben, spricht Did 13,1: „Jeder echte Prophet, der sich bei euch niederlassen will, ist seiner Nahrung wert." Allgemein wird angenommen, dass das in der Didache gemeinte „Evangelium" das MtEv ist (vgl. Did 8,2; 11,3; 15,3). 49 B.P. Robinson, Peter and His Successors. Tradition and Redaction in Matthew 16.17-19, JSNT 21 (1984), 85-104, äußert die Ansicht, dass das Logion von der Neubildung des Tempels (Joh 2,19) bei der Bildung unseres Logions wohl eine Rolle gespielt hat. Die Schwierigkeit dieser Ansicht ist, ob unter dem neu zu bildenden Tempel eine christliche Gemeinde wie die mt Gemeinde verstanden werden kann (Gnilka, Mk II, 280, hält es z.B. aufgrund der Zeitangabe von 'drei Tagen' für unwahrscheinlich).

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gegründet ist, untermauert ihren A n s p r u c h , dass sie in einer legitimen Tradition steht. 50 Für diese Ansicht spricht folgende traditionsgeschichtliche Überlegung zu ν 18: Der Vers wird aufgrund unmatthäischer sprachlicher Eigentümlichkeiten 51 zu Recht als ein ursprünglich isoliertes, traditionelles Logion 52 angesehen. 53 Die 50

Die Legitimität der mt Gemeinde wird weiter durch v l 9 unterstrichen. Dem Gründer der Gemeinde wird der Schlüssel zum Himmelreich zugesprochen und zugleich die Macht zu binden und zu lösen zuerkannt. Dass das Logion von der Vollmacht zum Binden und Lösen (vl9bc) den Q-Logien (Lk 10,5f. 1 Of. 13-15) nahesteht, die die stellvertretende Autorität von Wandercharismatikern bezeugen, könnte dafür sprechen, dass hier ehemalige Wandercharismatiker - wohl in Konkurrenz zu jüdischen Autoritäten - ihre Autorität legitimieren. Diese Autorität ist stellvertretende Autorität. So wie Jesus durch Petrus seine Gemeinde gründet, so spricht er durch die Wandercharismatiker. (R.H. Hiers, „Binding" and „Loosing" The Matthean Authorizations, JBL 104/2 (1985), 233-250, möchte hinter dem Ausdruck 'Binden' die Macht, böse Geister auszutreiben sehen. Würde seine Ansicht stimmen, dann läge hier auch ein Indiz dafür vor, dass das Logion aus einem Kreis von Wandercharismatikern kommt. Sie haben ja die Aufgabe, böse Geister auszutreiben). 51

Vgl. Luz, Mt II, 455 Anm. 20: „Unmt sind: Έ κ κ λ η σ ί α ί υ τ die Gesamtkirche, die Vorstellung von der Kirche als Bau, das Hap.leg. κ α τ ι σ χ ύ ω , auch euimit Dativ." 52 Allerdings geht von dem Vers die Einfuhrung κ ά γ ώ δέ σοι λέγω οτι wohl auf Matthäus zurück (vgl. Luz, Mt II, 454 und Anm. 18). 53 Dafür spricht auch, 1) dass Mt 16,19bc in 18,18 eine fast gleich lautende Parallele und in Joh 20,23 eine Variante hat, die wohl auf eine gemeinsame Tradition zurückgehen, 2) dass die Bilder in den Versen Mt 16,18f uneinheitlich sind, so dass eine ursprüngliche Einheit schwer denkbar ist: nach v i 8 ist Petrus Fels, nach 19a der Schlüssel, und nach 19bc der Rabbi, der die Macht zu binden und zu lösen hat, 3) dass Mt 16,19a eher als mt Redaktion zu beurteilen ist, weil „das Bild vom Aufschließen des Gottesreiches im zeitgenössischen Judentum nicht belegt ist", während in Mt 23,13 das gleiche Bild zu vermuten ist ('Schlüssel des Himmelreiches' 'das Himmelreich zuschließen'). Vgl. Luz, Mt II, 454-456. Dagegen halten Davies/Allison, Matthew II, 602-615, das Logion in v i 8 für einen ursprünglichen Bestandteil der Perikope (so bereits Bultmann, Geschichte, 277), der auf Jesus zurückgehen könnte (zu weiteren Überlegungen über w l 7 - 1 9 siehe die kurze Darstellung von Gnilka, Mt II, 50-54). Die Hauptargumente von Davies/Allison dafür sind: 1) es liege nahe, dass der Evangelist Markus oder seine Vorläufer im ursprünglichen Bericht über das Petrusbekenntnis, der im MtEv bewahrt sei, den Teil Mt 16,17-19 ausgelassen hätten, denn der mk Bericht wirke abrupt; man erwarte eigentlich einen Kommentar Jesu zu der Antwort des

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Frage nach seiner Herkunft hat besonders Luz in einer nachvollziehbaren Weise diskutiert. Nach ihm kommen drei Möglichkeiten als Herkunft des Logions in Frage: 1) Herkunft von Jesus selbst, 2) von einer aramäisch sprechenden Gemeinde, 3) von einer griechisch sprechenden Gemeinde in Syrien. Von diesen drei Möglichkeiten sind die beiden erstgenannten aus folgenden Gründen unwahrscheinlich: a) Der Ausdruck „meine Gemeinde" gehört nicht zur Sprache Jesu, 54 b) der aramäische Name Kepha ( r ]' , 3) hat allgemein die Bedeutung von 'einem runden Stein' (wie Stein, Edelstein usw.), aber weniger die von einem Felsen, der als ein geeigneter Baugrund gedacht werden kann, 55 während das griechische Pendant von Kepha, nämlich πέτρος, ebenfalls 'Stein' bedeutet, aber ein stammverwandtes Substantiv, nämlich πέτρα, die Bedeutung von 'Fels', den Petrus vor dem Schweigegebot, aber der fehle. 2) der Evangelist Johannes habe den ursprünglichen Bericht über das Petrusbekenntnis in einer Form, die der von Matthäus nahesteht, gekannt. Dafür sprächen die im joh Evangelium vereinzelt wiederzufindenden Teile des Berichtes (z.B. Joh 1,25-42; 6,14.66-71; 20,23; 21,15-17). Das Zusammentragen der vereinzelten Teilberichte sei aussagefahig, weil es die Kompositionsmethode des Evangelisten Johannes sei, ursprünglich einheitliches Material vereinzelt in seinem Evangelium zu verteilen. Gegen diese Argumente sind folgende Einwände zu erheben: zunächst ad 2) Der Grundansatz, man könne aufgrund von Erkenntnissen über die sogenannte Kompositionsmethode des Evangelisten Johannes durch Herausfinden von vereinzelten Teilen feststellen, dass der Evangelist einen daraus bestehenden, ursprünglichen Bericht gekannt habe, ist alles andere als sicher. Die Parallelen, die man im joh Evangelium finden könnte, lassen sich vielmehr als Indizien dafür beurteilen, dass die Teile ursprünglich einzelne Logien waren. Ad 1) Ein Kommentar Jesu zur Antwort des Petrus (Mk 8,29) ist nicht unbedingt notwendig. Das Fehlen eines direkten Kommentars des Meisters zu einer Antwort seines Schülers wirkt nicht abrupt, sondern meisterhaft. Die besondere Stellung des Petrus im MtEv lässt außerdem die Möglichkeit zu, dass der positive Kommentar Jesu zu Petri Antwort nachträglich dem mk Bericht hinzugefugt worden ist. Gegen die Ansicht von Davies/Allison, den mt Bericht auf Jesus zurückzuführen, s.u. die Wiedergabe der Argumentation von Luz. 54

„Jesus hat zwar das Gottesvolk Israel gesammelt und im Zwölferkreis zeichenhaft dargestellt und könnte deshalb grundsätzlich schon von der 'Versammlung' (= b r o ) des Gottesvolks gesprochen haben, die er 'baut' Man erwartete dann aber das biblische 'Versammlung Gottes' o.ä., nicht aber 'meine Versammlung' " (Luz, Mt II, 456). 55

Fast nur in Targumen in Anlehnung an hebr. y b p ist die Bedeutung von Fels zu finden, jedoch eher im Sinne von „freistehenden, runden Felsen, die kaum geeigneter Baugrund sind" (so Luz, Mt II, 457, in Anlehnung an P. Lampe, Das Spiel mit dem Petrusnamen Matt. XVI. 18, NTS 25(1978/79) 227-245, dort 233-235).

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man sich als Baufundament vorstellen kann, hat. Daher ist ein griechisches Wortspiel naheliegender als ein aramäisches. Als möglicher Zeitpunkt der Entstehung des Verses ist nach Luz eher an die späte Zeit nach dem Tod der Apostel zu denken, als der Rückbezug auf die Apostel als „Felsen" der Tradition überhaupt erst wichtig wurde, denn in der frühen Zeit - etwa nach dem antiochenischen Konflikt war Petrus nur eine (aber nicht die an erster Stelle genannte) von mehreren Säulen der Kirche.56 Ist diese traditionsgeschichtliche Überlegung von Luz richtig, so können wir einen Schritt weiter gehen, indem wir das Logion von Mt 16,18 als eine Tradition ansehen, die von den die Gemeinde gründenden Wandercharismatikern gebildet wurde. Sie dürfte also ein Sondergut der mt Gemeinde gewesen sein. Die Wandercharismatiker, die die mt Gemeinde gegründet haben, dürften die Verheißung Jesu deswegen an Petrus gerichtet haben, weil er als Wandercharismatiker im Raum Syrien gewirkt und durch seine Wirkung dort an Bedeutung gewonnen hat. Für sie dürfte Petrus in der Tat das Vorbild der nicht-sesshaften Nachfolge gewesen sein. Diese Ansicht 57 muss hypothetisch bleiben, sie hat aber den Vorteil, besser als ihre Alternative erklären zu können, warum die mt Gemeinde so souverän die Wortüberlieferung für sich in Anspruch nehmen und in dieser Gemeinde die mobile Nachfolgeschaft noch einen so hohen Stellenwert haben konnte.

II. Die familia-dei-Vorstellung im mt Sondergut und von Mt geschaffenen Texten Die Textstellen, die entweder mt Sondergut oder von ihm geschaffene Texte sind und die Vorstellung der familia dei bezeugen, finden sich im MtEv zum großen Teil in der Bergpredigt konzentriert: Mt 5,16.48; 6,1.4.6.8.9. Außerhalb der Bergpredigt sind Mt 17,24-27; 18; 23,8-10;

56

Gal 2,9: „Und als sie die Gnade erkannten, die mir gegeben war, gaben Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen angesehen werden, mir und Barnabas die rechte Hand 57 Eine ähnliche Ansicht äußerte auch Gnilka, Mt II, 531 f.: „Die Logienquelle wanderte von Palästina, wo sie von judenchristlichen Missionaren dem jüdischen Volk gepredigt wurde, nach Syrien. Wir möchten vermuten, dass diese Übertragung durch Männer geschah, von denen sich einige der Mt-Gemeinde anschlossen und möglicherweise - in der 'Schule des Mt' - herausragende Aufgaben übernahmen."

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25,31-46; 13,36-43, ferner 10,20.29 (und 6,26 5 8 ) für uns relevante Textstellen. Im Folgenden werden wir diese Textstellen berücksichtigen, um die mt Ausprägung der Vorstellung der familia dei herauszuarbeiten. Dabei beginnen wir mit der Bergpredigt, w o mehr als 15mal die Vorstellung der familia dei begegnet oder vorausgesetzt wird.

(1) Bergpredigt Selbstverständlich wurde die Bergpredigt nicht als Ganze vom Evangelisten Matthäus geschaffen. So hat der Evangelist beispielsweise die vier Texte, die die Vorstellung von Gott als Vater in der Logienquelle bezeugen, aus Q übernommen. Wenn wir dennoch - in dem Abschnitt 'Die Vorstellung der familia dei im mt Sondergut sowie in den von Mt geschaffenen Texten' auch die Bergpredigt behandeln, dann meinen wir damit, dass die Bergpredigt als Rahmen vom Evangelisten stammt und viele von ihm bearbeitete traditionelle Stoffe in diesen Rahmen gesetzt worden sind.59 Der Bergpredigt kommt in Bezug auf unser Thema, die familia dei im MtEv, eine große Bedeutung zu. Hier finden sich die vier Q-Texte, die die Vorstellung von Gott als Vater bezeugen. Hier häufen sich innerhalb des MtEv die Ausdrücke, die die Vorstellung der familia dei ausmachen, so dass zu vermuten ist, dass diese Vorstellung eine wichtige Rolle bei der Konzeption der Bergpredigt gespielt hat. So kommt die Bezeichnung für Gott als Vater (der Gläubigen) allein in der Bergpredigt 15mal vor. 60 Das ist eine signifikante Zahl, wenn man beachtet, dass diese Bezeichnung im ganzen MtEv insgesamt nur 20mal begegnet. 61 Außerdem wird in der Bergpredigt die Bezeichnung 'Kinder (Söhne) Gottes' 62 bzw. 'Kinder (Söhne) eures Vaters', die auch zur Vorstellung der familia dei gehört, noch zweimal bezeugt. 63

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Diese Stelle stammt zwar aus der Logienquelle, aber der Evangelist Matthäus änderte dort das Wort 'Gott' durch 'euer himmlischer Vater' ab. Da diese Stelle eine Gemeinsamkeit mit den beiden Stellen im Kap. 10 aufweist, wird sie unten mit ihnen zusammen behandelt. 59 Vgl. Luz, Mt I, 187. 60 Mt 5,16.48; 6,1.4.6 (2mal).8.9.14.15.18 (2mal).26.32; 7,11. 61 Die Stellen außer den eben genannten Stellen sind Mt 10,20.29; 13,43; 18,14; 23,9. Man kann vielleicht Mt 28,19 noch dazuzählen. 62 Im Text steht eigentlich 'Söhne' statt 'Kinder'; da aber die Bedeutung der 'Söhne' im damaligen Denken mit der von den 'Kindern' im heutigen Denken in etwa gleichzusetzen ist, wird das Wort 'Kinder' benutzt. 63 Mt 5,9.45.

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Angesichts dieser Konzentration von familia-dei-Motiven lässt sich die Bergpredigt als Rede Jesu an die Kinder Gottes bezeichnen. Die Hörer der Bergpredigt sind Kinder Gottes. Damit zeichnet sich bereits ein Charakteristikum der mt Vorstellung der familia dei ab: Sie ist eine Intensivierung der Vorstellung der familia dei, wie sie in der Logienquelle bezeugt ist, insofern in Q hauptsächlich die Beziehung zwischen Gott und seinen Kindern zum Ausdruck kommt. Von den für die Vorstellung der familia dei relevanten Stellen in der Bergpredigt sind nach überwiegender Meinung der Exegeten zwei Stellen auf den Evangelisten Matthäus zurückzufuhren. Es sind Mt 5,16 sowie 6,1.64 Da diese Stellen auf den Evangelisten zurückgehen, können wir von vornherein erwarten, dass sich in ihnen das mt Verständnis der familia dei widerspiegelt. Unsere Hoffnung wird durch die Beobachtung verstärkt, dass Mt 5,16 die erste Stelle im MtEv ist, an der die Bezeichnung von Gott als Vater vorkommt. Wir beginnen daher mit Mt 5,16.

a) Mt 5,16 „So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen." Mt 5,16 gehört zusammen mit Mt 5,13-15 sowie 5,17-20 zur sogenannten programmatischen Einleitung der Bergpredigt. Diese programmatische Einleitung gliedert sich inhaltlich in zwei Hälften: Der erste Teil (5, Π Ι 6) bezieht sich auf die Hörer, 65 die das Salz der Erde sowie das Licht der Welt sind, der zweite Teil (5,17-19) auf Jesus, den wahren Gesetzeserfüller. Mt 5,16 ist der Schlussvers des ersten Teils und fasst dementsprechend den ersten Teil zusammen, indem Stichworte aus den vorhergehenden Versen wiederaufgenommen werden (λάμπειν aus vi5, φως aus v l 4 und των (*v9pöOTCDvaus ν 13). Die Hörer haben demnach eine besondere Aufgabe 'auf der Erde' (ν 13) bzw. 'in der Welt' (vl4). Die Erfüllung ihrer Aufgabe hat zur Folge, dass die Menschen Gott, den himmlischen Vater der Hörer, preisen, m.a.W., dass sie sich zu Gott be-

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So z.B. Luz, Mt I, 220. 321; Gnilka, Mt I, 134. 20 lf; Davies/Allison, Mat-thew I, 478 (für sie ist Mt 6,1 allerdings Tradition (ebd., 573-575)). 65 Die Aussagen stehen ja in der zweiten Person Plural ('Ihr seid...').

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kehren.66 Worin besteht aber die Aufgabe der Hörer konkret? Aus Mt 5,16 ergibt sich die Antwort: Sie sollen gute Werke tun. Unsere Aufmerksamkeit gilt hierbei der Frage, wie die Menschen allein an den guten Werken der Glaubenden Gott erkennen können, so dass sie sich zu ihm bekehren. Der Text sagt nichts über den Vorgang menschlicher Wahrnehmung Gottes. Dieses Schweigen ist m.E. von Bedeutung: Es dürfte widerspiegeln, wie der Evangelist sich das Verhältnis von Gott und guten Werken vorgestellt hat. Für ihn dürfte die Erkenntnis Gottes aus den guten Werken etwas ganz Selbstverständliches gewesen sein. Warum? Weil für ihn gute Werke im eigentlichen Sinne Werke Gottes und alle anderen guten Werke nur als deren Nachahmung gut sind!67 Auf die Täter bezogen, bedeutet dies: Wenn die Glaubenden gute Werke tun, tun sie 'Gottes Taten'; sie ahmen Gott nach, indem sie so handeln, wie Gott handelt. Der Gedanke der imitatio dei liegt hier zugrunde. Dort, wo gute Werke zu sehen sind, ist deswegen auch Gottes Gegenwart zu sehen. Daher sagt der Evangelist weiter nichts vom menschlichen Wahrnehmungsvorgang. Die Menschen erkennen per analogiam an den guten Werken der Christen Gottes Wirken, und deshalb preisen sie ihn. Die Beziehung Gottes zu den Glaubenden ist für den Evangelisten Matthäus aber nicht nur die von Urbild und Abbild, sondern noch mehr: Der Nachgeahmte ist für die Nachahmenden 'Vater' Dies ergibt sich daraus, dass die Menschen, die die guten Werke der Glaubenden sehen, Gott als deren Vater im Himmel erkennen („damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen"). Durch Tun der guten Werke werden die Glaubenden als Kinder Gottes erkennbar. Hier ist an zwei Dinge zu erinnern: 1) Das Tun der guten Werke wurde als Aufgabe der Glaubenden aufgefasst. 2) Die Hörer der Bergpredigt wurden als Kinder Gottes bestimmt. Betrachtet man Mt 5,16 unter Berücksichtigung dieser zwei Feststellungen, dann kommen wir zu der Er66

Vgl. R. Heiligenthal, Werke als Zeichen. Untersuchungen zur Bedeutung der menschlichen Taten im Frühjudentum, Neuen Testament und Frühchristentum, WUNT.II, 9, Tübingen 1983, 118-123. 67 Dass in Mt 25,31-46 die guten Werke des Menschen - selbst wenn ihre Taten dort nicht als 'gute Werke' bezeichnet sind - das Kriterium für die Unterscheidung zwischen den Gerechten und Ungerechten beim Weltgericht ausmachen, dürfte in einem Zusammenhang mit der Auffassung, dass die guten Werke eigentlich nur Werke Gottes sind, stehen (so auch Gnilka, Mt I, 137).

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kenntnis, dass die Kinder Gottes die Aufgabe haben, gute Werke zu tun und sich dadurch als Kinder Gottes zu erweisen. Damit gewinnen wir ein wichtiges Charakteristikum der mt Vorstellung der familia dei: Für den Evangelisten Matthäus sind alle Gemeindemitglieder, nämlich die Hörer der Bergpredigt, Kinder Gottes;68 sie sind nach seiner Auffassung verpflichtet, sich auf der Erde (oder in der Welt) als solche zu erweisen, indem sie gute Werke vollbringen. Berücksichtigen wir an dieser Stelle, dass Mt 5,16 der Abschlussvers des ersten Teils der sogenannten programmatischen Einleitung ist, in der das ganze Programm der Bergpredigt zusammengefasst ist, dann dürfen wir feststellen, dass die Aussage in Mt 5,16 im Hinblick auf die ganze Bergpredigt gemacht wird,69 d.h. konkret: Die Bergpredigt belehrt die Kinder Gottes darüber, wie sie sich auf der Erde als Kinder Gottes erweisen sollen; sie werden ermutigt und aufgefordert, sich ihrem Status entsprechend zu verhalten. Dies wird durch eine weitere Textstelle innerhalb der Bergpredigt bestätigt. Es ist Mt 5,48: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist." Der Grundgedanke des Verses ist klar: Ihr (die Hörer) sollt euren Vater nachahmen, weil ihr seine Kinder seid! Was wir in Mt 5,16 beobachtet haben, begegnet uns hier offenbar wieder. Zu beachten ist dabei, dass dieser Vers den ersten Teil der Bergpredigt abschließt, die sogenannten Antithesen(reihen). Von diesem kontextuellen Befund her gesehen, ist die Aussage des Verses: Alles, was in den Antithesen formuliert ist, dient dazu, Gott den Vater nachzuahmen. Diese Aussageintention des Evangelisten wird dadurch bekräftigt, 1) dass der Wortlaut von der Logienquelle abweicht - der 1k Wortlaut, wonach nicht von Vollkommenheit, sondern von Barmherzigkeit Gottes die Rede ist, 68

Dafür spricht nicht nur die häufige Bezeichnung Gottes als Vater in der Bergpredigt, sondern auch die beiden Metaphern Salz und Licht in der programmatischen Einleitung. Salz- und Lichtspruch setzen einen vorgegebenen Status der Jünger voraus. Denn man kann nicht von Leuten verlangen, salzig zu bleiben oder als Licht zu leuchten, wenn sie nicht schon Licht und Salz sind. Da die Hörer der Bergpredigt bereits Kinder Gottes sind, konnte der Evangelist Matthäus von ihnen verlangen, sich dementsprechend zu verhalten. 69 Dazu Chr. Burchard, Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: G. Strecker (Hg.), Jesus Christus in Historie und Theologie, FS. H. Conzelmann, Tübingen 1975, 409-432, dort besonders 420 und 432, der treffend v i 6 als „das Thema der Bergpredigt" bezeichnet.

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steht dem ursprünglichen Wortlaut der Logienquelle näher-, 70 2) dass dieser Vers eine andere Funktion als in der Logienquelle hat - er schließt dort nicht nur das Feindesliebegebot ab, sondern leitet auch die Spruchreihe über das Nicht-Richten ein. 71 Im M t E v schließt dagegen das Feindesliebegebot die ganze Antithesenreihe ab, d.h. der Evangelist Matthäus hat wegen seines redaktionellen Interesses M t 5,48 aus seinem ursprünglichen Kontext gelöst. Die Feindesliebe als Modell für Mt 5,16? Wenn man als Charakteristikum der mt Vorstellung der familia dei betrachtet, dass alle Glieder der mt Gemeinde Kinder Gottes sind und die Aufgabe haben, sich in der Welt ihrem Status entsprechend zu verhalten, dann kann man eine gewisse Nähe zwischen Mt 5,16 und dem Text des Feindesliebegebots feststellen. Was im Text des Feindesliebegebots, Mt 5,43-47(8), von den Hörern verlangt wird, ist Nachahmung göttlichen Handelns, und diese göttliche Tat zu vollbringen bedeutet nach v45 unmissverständlich, sich als „Söhne Gottes" zu erweisen. Was beide Texte voneinander unterscheidet, ist vor allem, dass in Mt 5,43ff eine konkrete Tat, nämlich Feinde zu lieben, verlangt wird, während in Mt 5,16 allgemeine Tat(en) Gottes gefordert werden. Da der Evangelist Matthäus den Text der Feindesliebe in seiner Quelle vorfand, Mt 5,16 jedoch wahrscheinlich selbst gebildet hat, lässt sich behaupten, dass die Feindesliebe als Modell für Mt 5,16 gedient hat. Der Evangelist Matthäus hat dann das konkrete Beispiel 'Feindesliebe' in der programmatischen Einleitung verallgemeinert, so dass in Mt 5,16 allgemein von 'guten Werken' die Rede ist. ω M t 6,1 „Habt acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr sie nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel." Mt 6,1 leitet den zweiten Hauptteil der Bergpredigt ein. Dieser zweite Hauptteil besteht aus drei miteinander eng verwandten Unterabschnitten (6,2-4; 5-15; 16-18), von denen der zweite durch H i n z u f ü g u n g anderer Stoffe (7-8; 9-13; 14-15) stark erweitert wurde. Die drei Unterabschnitte behandeln j e einen Aspekt der Frömmigkeitspraxis: Almosengeben, Be70

Vgl. z,B. Davies/Allison, Matthew I, 560f; Schulz, Q, 130. Vgl. Bovon, Das Evangelium nach Lukas 2. Teilband, EKK III, Zürich u.a. 1989, 323. Schulz, Q, 132, sieht dagegen in v48 nur den ursprünglichen Abschluss des Feindesliebegebots (weitere Exegeten siehe Schulz, ebd. Anm. 312), während Schürmann, Lk I, 359, in dem Vers nur die ursprüngliche Einleitung von Spruchreihe über das Nicht-Richten sieht (auch Luz, Mt I, 306). 71

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ten und Fasten. Sie enthalten jeweils die Feststellung, dass die falsch Praktizierenden ihren Lohn bereits bekommen haben (w2.5.16), und schließen mit der Verheißung, dass die richtig Praktizierenden von Gott belohnt werden (w4.6.18). Mt 6,1 wurde als Überschrift zu allen drei aus der Tradition stammenden Unterabschnitten vom Evangelisten Matthäus gebildet. Verständlicherweise enthält diese Überschrift auch den Satz, dass die Hörer keinen Lohn bei Gott bekommen werden, wenn ihre Frömmigkeitspraxis falsch ist. Hier begegnet uns der Lohngedanke im negativen Sinn, dass der Mensch keinen Lohn bekommt, wenn seine Taten falsch sind. Er prägt die Vorstellung von Gott als Vater: Wer seine Frömmigkeit praktiziert, um von anderen Menschen gesehen zu werden, wird von seinem Vater im Himmel keinen Lohn erhalten. Gott erscheint hier als ein Vater, der seine Kinder für ihre Taten belohnt. Dieser Lohngedanke ist gegenüber der Logienquelle nicht neu. Auch sie kennt eine Belohnung der Jünger: z.B. in der Verheißung der Symbasileia mit Jesus in Q-Lk 22,30 bzw. der Gottessohnschaft in Q-Mt 5,46. Besonders Mt 5,46 weist einen engen Zusammenhang mit Mt 6,1 auf: Sprachlich findet sich in beiden Versen der Ausdruck 'Lohn bekommen' (μισθόν εχειν), inhaltlich handelt es sich in beiden Versen um die Belohnung für eine einzelne richtige Tat (in Q-Lk 22,30 gilt die Belohnung dagegen keiner einzelnen Tat, sondern der Nachfolge überhaupt). Neu gegenüber der Logienquelle aber ist die ausdrückliche Verbindung dieses Lohngedankens mit der Vorstellung von Gott als Vater. In der Logienquelle wird nirgends ausdrücklich gesagt, dass Gott als Vater seinen Kindern wegen ihrer Untaten den Lohn entziehen wird. Zwar wird in Mt 5,46 angedeutet, dass der Vollzug der Freundesliebe keinen Lohn zur Folge haben wird, aber selbst dort muss man erst aus dem Text erschließen, dass der Belohnende der Vater-Gott ist. Dagegen wird in Mt 6,1 deutlich gesagt, dass der Mensch bei seinem Vater im Himmel keinen Lohn erhalten wird, wenn seine Frömmigkeitspraxis falsch ist. Bringt man diese mt Akzentuierung des belohnenden Vaters mit dem in Mt 5,16 beobachteten mt Verständnis der Vorstellung der familia dei in Verbindung, dann gewinnt man folgendes Bild: Alle mt Gemeindeglieder sollen sich in der Welt durch gute Werke als Kinder Gottes erweisen,

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verwirklichen sie aber ihre guten Werke in falscher Weise, dann werden sie von ihrem Vater nicht belohnt werden?2 Nachdem wir die beiden Textstellen, die wahrscheinlich auf den Evangelisten Matthäus zurückgehen, betrachtet haben, wenden wir uns nun den Stellen zu, deren Herkunft vormatthäisch bzw. unsicher ist. Dazu gehören Mt 6,2-6.16-18; 6,14f; 6,7f; 5,9.

c) Mt 6,2-6.16-18 Die genannten Textstellen bilden eine Einheit, deren Überschrift Mt 6,1 ist. Mit Recht wird in der Exegese angenommen, dass sie vormatthäisch sind.73 Allerdings ist es m.E. nicht sicher, dass auch die in w4.6.18 zu findende Gottesbezeichnung 'dein Vater' und damit die dort zu beobachtende Vorstellung von Gott als Vater vormatthäisch ist. Denn es wäre gut denkbar, dass dort ursprünglich 'dein Gott' gestanden hat, was Matthäus durch 'dein Vater' ersetzte. Ein Gegenargument wäre höchstens, dass der Evangelist in seinem Evangelium nur hier von „deinem Vater" spricht,74 sonst immer nur von „eurem (himmlischen) Vater" Wenn man aber berücksichtigt, dass das Subjekt in den Versen 3.5.17 die 2. Person Singular ist, wird man die Ausnahme 'dein Vater' in w4.6.18 akzeptieren müssen, weil sonst die traditionell vorgegebene Aussage in der 2. Person Singular formal gesprengt würde. Für eine mt Abänderung des Ausdrucks 'dein Gott' spricht auch die Beobachtung, dass im MtEv zwei Stellen zu finden sind, wo ursprünglich 'Gott' gestanden hat, aber vom Evangelisten durch 'Vater' ersetzt wurde. Es sind Mt 6,26 und 10,29. In Mt 6,26 ersetzte der Evangelist Matthäus mit großer Wahrscheinlichkeit das von Lukas bezeugte „Gott" (Lk 12,24) durch „euer himmlischer Vater" 75 In Mt 10,29 ging der Evangelist ähn-

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Dieser Gedanke lässt sich, wenn auch nicht ganz deutlich, auch in Mt 5,13-16, besonders in ν 13, verfolgen, denn dort wird gesagt, dass das Salz hinausgeworfen und zertreten wird, wenn es seinen Geschmack verliert. 73 Z.B. Betz, Kult-Didache, 50; Gnilka, Mt I, 20 lf; Davies/Allison, Matthew I, 573-575 (fur sie ist allerdings vi darin eingeschlossen, siehe auch oben Anm. 64). 74 So Davies/Allison, Matthew II, 584. 75 Vgl. Luz, Mt I, 364.

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lieh vor, indem er 'vor Gott' (in Lk 12,6) durch 'ohne euren Vater' ersetzte.76 Lässt sich darum annehmen, dass die Gottesbezeichnung 'dein Vater' in unseren Texten nicht auf eine vormatthäische Tradition, sondern auf den Evangelisten zurückgeht, so sehen wir hier, wie intensiv Matthäus die Vorstellung der familia dei aus der Logienquelle in seinem Evangelium entfaltet hat. Er hat den Lohngedanken mit der Vorstellung von Gott als Vater verbunden, so dass man in seinem Evangelium das Bild des seine Kinder belohnenden Vaters findet. d) Mt 6 , 1 4 f

„Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben." Unser Text ist inhaltlich eng mit dem unmittelbar vorangehenden Text, dem Vaterunser, insbesondere mit seiner fünften Bitte, verbunden. Dass diese Bitte für die mt Gemeinde eine besondere Bedeutung hat, zeigt sich nicht nur darin, dass allein sie im Kontext wiederaufgegriffen wurde, sondern auch darin, dass der Evangelist Matthäus dafür Mk 11,25, eine unabhängige Variante von Mt 6,14,77 wegließ. Die Bedeutung dieses Textes für die mt Gemeinde ist m.E. in der Gemeindesituation selbst zu suchen, in der Gebote, die ursprünglich nur die mobilen Nachfolger Jesu in ihrem Wanderleben verwirklichen konnten, nun auch den stabilen Nachfolgern Jesu zugemutet wurden. 78 Die radikalen Gebote Jesu lassen sich unter den Normalbedingungen eines sesshaften Lebens immer nur unvollkommen verwirklichen. Es muss zu Verfehlungen kommen. Diese 76

Vgl. Davies/Allison, Matthew II, 208, dagegen vermutet Gnilka, Mt II, 385, dass Lukas die Q-Vorlage 'euer Vater' durch 'Gott' geändert habe, weil es ihm hinsichtlich der Vögel angemessener erschien, von Gott zu reden. Es ist m.E. allerdings nicht angemessen zu behaupten, dass der Ausdruck 'euer Vater' aufgrund des Fehlens des Attributs 'himmlisch' als unmatthäisch zu bezeichnen ist (so auch Luz, Mt I, 321 Anm. 11). Dafür spricht Mt 10,20, wo die mt Formulierung 'der Geist eures Vaters' bezeugt ist. 77 Vgl. Luz, Mt I, 333; Gnilka, Mt I, 233. Siehe auch oben Anm. 1. 78 Nach Theißen, Gospel Writing, 72-74, ist es ein Anliegen des Evangelisten, seiner Gemeinde zu ermöglichen, mit einem verschärften Thoragebot (Bergpredigt) zu leben.

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führen im alltäglichen Umgang notwendig zu Konfrontationen, die nur durch gegenseitiges Vergeben überwunden werden können. 79 In diesem situativen Kontext dürfte die Betonung der Vergebung durch Mt 6,14f verständlich werden. Was unser eigentliches Interesse angeht, verdient v i 5 besondere Aufmerksamkeit. 80 Wie allgemein zu Recht angenommen wird, geht v l 4 auf eine vormt Tradition zurück, die in Mk 11,25 eine unabhängige Variante hat. Was aber v i 5 betrifft, ist die Frage zu stellen, ob dieser Vers nicht erst redaktionell hinzugefügt wurde. Der Grund für diese Überlegung liegt in der Beobachtung, dass die negative Formulierung in ν 15, - dass das Nichtvergeben von Menschen das Gleiche bei Gott zur Folge haben wird -, weder in der fünften Bitte des Vaterunsers noch in Mk 11,25 bezeugt ist. Sprachlich gesehen dürfte es für den Evangelisten kein Problem gewesen sein, zum traditionellen v i 4 ein negatives Pendant in v l 5 zu formulieren. Aber auch theologisch dürfte es ihm keine Schwierigkeit bereitet haben, ein negatives, bedrohendes Bild des Vater-Gottes zu zeichnen, denn er selbst war es ja, der in Mt 6,1 das Bild des VaterGottes, der seinen Kindern den Lohn entziehen wird, in eigener Formulierung zum Ausdruck gebracht hat. Für die Wahrscheinlichkeit unserer Überlegung spricht auch Mt 18,35, der das sogenannte Schalksknechtsgleichnis (Mt 18,23-35) abschließende Vers. Er geht mit großer Wahrscheinlichkeit auf Matthäus zurück, der das Gleichnis aus der Tradition übernommen hat.81 Dass das Gleichnis das Bild eines bestrafenden Gottes zeichnet, ist offenkundig. Der Evangelist verbindet in diesem Schlussvers dieses Gottesbild mit der Vorstellung von Gott als Vater, der seine Kinder für ihre (falschen) Taten bestraft. Ist also in 18,35 deutlich, dass der Evangelist selbst das Bild des seine Kinder bestrafenden Vater-Gottes einfuhrt und betont, dann liegt es nahe, dass er auch für die Bildung des Verses Mt 6,15 verantwortlich ist.

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Davies/Allison, Matthew I, 617, machen zu Recht darauf aufmerksam, dass es hier um 'communal reconciliation' geht. Siehe die Pluralform von 'Menschen' in den beiden Versen. 80 V15 verdient schon aufgrund seiner negativen Formulierung, die der positiven folgt, die Aufmerksamkeit der Leser. Nach Davies/Allison, Matthew I, 616, liegt aus diesem Grund der Akzent des ganzen Textes auf diesem v i 5. 81 Vgl. Gnilka, Mt II, 143, Davies/Allison, Matthew II, 803.

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Unser Fazit zu d) wiederholt, was oben unter c) am Schluss gesagt wurde: Es ist ein Anliegen des Evangelisten Matthäus, ein Gottesbild zu zeichnen, in dem Gott als Vater dargestellt wird, der seine Kinder für ihre Taten belohnt und für ihre Untaten bestraft. e) Mt 6 J f „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet." Die beiden Verse haben in ihrem jetzigen Kontext vor allem die Rolle, den Vaterunser-Text mit 6,5f zu verbinden. Was in v7 gesagt wurde, ist ein Gegenbeispiel zum richtigen Beten mit wenigen Worten, wie es vorbildlich im Vaterunser geschieht. 82 V8 mit der Vorstellung von Gott als Vater unterstreicht, warum es beim Beten nicht darauf ankommt, dass man viele Worte macht. Der Vater, der hier dargestellt ist, ist ein fiirsorgender Vater, ein Vaterbild, das wir bereits in der Logienquelle, z.B. in Q-Lk 12,22-31 (Mt 6,25-33) oder in Q-Lk 11,9-13 (Mt 7,7-11), beobachtet haben. Inhaltlich steht Mt 6,8 in besonderer Nähe zu Mt 6,32.83 Es ist daher zu vermuten, dass v8 aus einem ähnlichen Milieu - aus dem Wanderleben? - wie Mt 6,25-33 kommt.84 f) Mt 5,9 „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen." Dieser wohl aus einer Tradition der Jesusbewegung stammende Spruch 85 weist das Schema auf, das wir bereits oben in Mt 5,16 beobachtet haben: 82

Das Vateruser selbst nimmt jedoch keinen direkten Bezug auf w 7 f . Erst durch v9a „darum sollt ihr so beten" wird ein Bezug zu ihm hergestellt. 83 Sowohl das Verbum 'wissen' mit der Bezeichnung Gottes als Vater (οίδεν ό πατήρ ύμών), als auch der Wortstamm 'Bedarf (χρεία έχετε, χρήζετε) lässt sich in den beiden Versen beobachten. 84 Es ist m.E. denkbar, dass die beiden Verse aus einem Kreis von Wandercharismatikern stammen, die zu Diasporajuden, die Einflüssen von heidnischen Religionen ausgesetzt waren, kamen und ihnen durch die Mahnung von w 7 f zu helfen versuchten. 85 Vgl. Theißen, Wertrevolution, 348f. Dass hier antike Herrscherideologie zugrunde liegt, die wohl von Jesus übernommen und für einfache Leute der gali-

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Die Adressaten werden (durch Indikativ) aufgefordert, eine Tat zu vollbringen, wodurch sie Anerkennung als Gottes Kinder finden werden. Matthäus hat diesen wohl traditionellen Spruch so verstanden: Die Adressaten, die Gottes Kinder sind, werden sich als solche erweisen können, wenn sie Frieden stiften. Hier liegt offenbar das Charakteristikum der Vorstellung der familia dei in der Bergpredigt vor, das wir in Mt 5,16 beobachten konnten: Die Kinder Gottes haben auf der Erde die Aufgabe, sich als solche zu erweisen.

g) Zusammenfassung Die spezifisch matthäische Prägung der Vorstellung der familia dei in der Bergpredigt besteht vor allem darin, dass alle mt Gemeindeglieder Kinder Gottes sind und deshalb die Aufgabe haben, sich in der Welt ihrem Status entsprechend zu verhalten (Mt 5,16). Erfüllen die Kinder Gottes ihre Pflicht nicht, dann wird ihnen ihr Lohn entzogen (Mt 6,1). Diese mt Auffassung der familia dei geht im Wesentlichen auf die Logienquelle, besonders auf den Text der Feindesliebe, zurück.86 Es kann daher aufgrund der Bergpredigt von einer Intensivierung der aus Q stammenden Vorstellung der familia dei im MtEv gesprochen werden. 87 Dafür spricht auch die mt Anwendung der Vorstellung von Gott als Vater in Mt 6,2-6. 16-18 sowie in Mt 6,15. Exkurs: Der sozialgeschichtliche Hintersrund der familia dei in der Bergpredigt

der

Vorstellung

Die Vorstellung der familia dei in der Bergpredigt ist folgende: Alle Glieder der mt Gemeinde haben die Aufgabe, sich durch Nachahmung läischen Bevölkerung umgeformt wurde, ist mit Theißen anzunehmen. Auch Luz, Mt I, 200.213, vermutet eine vormatthäische Tradition hinter Mt 5,9, allerdings eine Tradition, die eher Jub l,24f; TestXIIJud 24,3; PsSal 17,27 nahe steht. 86 Dies ist mit der allgemeinen Feststellung kompatibel, dass die Logienquelle der Bergpredigt zugrunde liegt (z.B. Luz, Mt 1, 187). 87 In der Bergpredigt finden sich Texte, wo vom Bruder die Rede ist: Mt 5,22ff.; 7,3 ff. Da dort die Bruderschaft nicht ausdrücklich mit der Vaterschaft Gottes in Verbindung gebracht wurde - diese Verbindung ergibt sich erst aus dem ganzen Kontext wurde diesen Texten keine Aufmerksamkeit geschenkt (damit wird allerdings nicht gesagt, dass das Wort 'Bruder' in Mt 5,22ff sowie 7,3ff nicht im Sinne der familia dei verstanden werden könnte). Dagegen werden die Texte, wo die erwähnte Verbindung ausdrücklich geschieht, z.B. Mt 23,8-10 oder Mt 18, unten berücksichtigt.

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Gottes in der Welt als Kinder Gottes zu erweisen. In diesem Exkurs gehen wir der Frage nach, welche Gemeindesituation hinter dieser spezifisch mt Ausprägung der familia dei gestanden haben könnte. Es kommen m.E. folgende drei Situationen in Frage: 1) Frontstellung zu führenden jüdischen Gruppen „Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen." Dieser Vers (Mt 5,20) schließt die sogenannte programmatische Einleitung der Bergpredigt ab und leitet gleichzeitig die Antithesenreihe, die in v21 beginnt, ein. „Eure Gerechtigkeit" bezieht sich zunächst auf „eure guten Werke" in Mt 5,16, mit dem der erste Teil der Einleitung zusammengefasst wird, greift aber zugleich auf das Tun ( v i 9 ) von Gesetz und Propheten zurück, die durch Jesus erfüllt werden (vi7). Zu beachten ist dabei die Kombination von 'Schriftgelehrten und Pharisäern' einerseits und 'Gesetz und Propheten' andererseits. Hier werden zweifellos fuhrende jüdische Gruppen, die das Gesetz und die Propheten für sich in Anspruch nehmen, als Gegenfront angesehen. 88 Da v20 auf den Evangelis88

Bereits in dieser Richtung äußerten sich G. Barth, Das Gesetzesverständnis des Evangelisten Matthäus, in: G. Bornkamm u.a., Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, W M A N T 1, Neukirchen 1960, 54-154, dort 70-88 (auch ders., Art. Bergpredigt, in: T R E 5 (1980), 603-618, dort 6 0 9 0 ; R· Hummel, Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum im Matthäusevangelium, BEvTh 33, München 1963, 17. Allerdings ist für sie die Gegenfront mit dem Pharisäismus gleichzusetzen. Ob man die führende Bewegung des Judentums zur Zeit des Evangelisten Matthäus als Pharisäismus bezeichnen kann, ist jedoch fraglich. Zu der mt Frontstellung zum Judentum äußert sich jüngst auch G.N. Stanton, A Gospel for a New People. Studies in Matthew, Edinburgh 1992, 154168, besonders 157, der zugleich die Ansicht, in dem mt negativen Bild von Pharisäern und Schriftgelehrten nur das Gegenbeispiel für die Gemeinde sehen zu wollen (z.B. S. van Tilborg, The Jewish Leaders in Matthew, Leiden 1972 oder D. Garland, The Intention of Matthew 23, NovTSup 52, Leiden 1979), kritisiert: „The polemic is real and not simply used in the service of the evangelist's Christology or of his ethics, as recent writers have maintained. The evangelist is, as it were, coming to terms with the trauma of seperation from Judaism and with the continuing threat of hostility and persecution. Matthew's anti-Jewish polemic should be seen as part of the self-definition of the Christian minority which is acutely aware of the rejection and hostility of its 'mother', Judaism" (S. 157).

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ten Matthäus zurückgeht, 89 dürfen wir annehmen, dass sich die mt Gemeinde in Konfrontation zu fuhrenden jüdischen Gruppen erlebt. 90 Der apologetische Charakter von v i 7 deutet ferner daraufhin, dass sie sich von dem Vorwurf befreien will, Jesus habe Gesetz und Propheten aufgelöst und die Gemeinde, die ihm folgt, stehe nicht in Kontinuität zur legitimen jüdischen Tradition. 91 Die mt Strategie scheint zu sein, gegenüber solchen Vorwürfen ihre Kontinuität zur Tradition durch die Tat zu erweisen. Diese Situation der mt Gemeinde dürfte zum Sitz im Leben der Bergpredigt gehören. Mit der Abgrenzung zum Judentum ist sie aber noch nicht vollständig bestimmt. 2) Abgrenzung von der heidnischen Umwelt In der Bergpredigt begegnet uns das Wort 'Heiden' ( τ ά έθνη; οί ε θ ν ι κ ο ί ) dreimal: Mt 5,47; 6,7. 32. Alle drei Stellen können auf vormatthäische Tradition zurückgeführt werden. 92 Allerdings darf ihr traditioneller Charakter nicht zu der Annahme führen, dass die Heiden für die mt Gemeinde kein aktuelles Problem dargestellt hätten. Denn, wie wir oben in Mt 5,13-16 beobachtet haben, hat Matthäus 'die Welt' in seinem Blickfeld. 93 Für ihn geht es nicht nur exklusiv um die

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Vgl. Luz, Mt I, 230 und Anm. 22. Der Grund fur ihre Konkurrenz mit der jüdischen Führungsgruppe dürfte darin liegen, dass beide für sich eine legitime Kontinuität zu der ihnen gemeinsamen Tradition, nämlich dem AT, in Anspruch nehmen. An dieser Stelle zu erwähnen ist die Ansicht von Overman: „At the time of the writing of Matthew's Gospel these two groups, formative Judaism and Matthean Judaism, were obviously in competition and, it would appear, formative Judaism was gaining the upper hand" (Formative Judaism, 2). In bezug auf Mt 23 schreibt er: „All of this, together with the emotional and vehement attack on these leaders by Matthew, which runs throughout the Gospel, reveals that the scribes and Pharisees truly are the leaders and authorities in Matthew's setting. It is against this consolidating and dominant group of Jewish authorities that the Matthean community struggles" (Formative Judaism, 145). 91 Nach Davies/Allison, Matthew I, 501 Anm. 54, entspricht dieser jüdische Vorwurf der Realität: Es gab nach ihrer Auffassung Christen, die Moses ablehnten. 92 Vgl. Luz, Mt I, 306.330.364. 93 Nach Davies/Allison, Matthew I, 472.479, wird hier mit den Ausdrücken 'Salz der Erde' sowie 'Licht der Weif die Heidenmission vorausgesetzt. 90

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Juden, sondern um alle M e n s c h e n einschließlich der Juden. 9 4 Die mt G e m e i n d e bzw. ihre Glieder haben in der Welt die A u f g a b e , ihre guten W e r k e zu vollbringen, damit alle M e n s c h e n sie sehen und sich zu Gott bekehren. 9 5 Hier d ü r f t e sich abzeichnen, dass sich die mt G e m e i n d e in einer heidnischen U m w e l t befindet. 9 6 Die Ü b e r n a h m e der Traditionen, die die Heiden abwerten, 9 7 besagt dann, dass die mt G e m e i n d e sich mit der in den Traditionen vorgegebenen Situation identifizieren konnte. Die Heiden stellen also f ü r die mt G e m e i n d e ein aktuelles P r o b l e m dar ( w a s j a auch der Missionsbefehl an alle ' V ö l k e r ' in M t 28,16-20 zeigt). Zu beachten ist hierbei M t 6,7. 9 8 Dort wird v o m Plappern der Heiden so gesprochen, als o b diese Art zu Beten den Hörern der Bergpredigt bekannt wäre. Ist dieser Eindruck richtig, dann sehen w i r hier ein B e m ü h e n des Evangelisten, mit Hilfe der Tradition seine G e m e i n d e von der heidnischen U m w e l t abzugrenzen und sie vor heidnischem (religiösem) Einfluss zu schützen. 9 9

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Die Ansicht, dass „der Evangelist keinen Appell an das Volk Israel macht" (so z.B. Luz, Mt I, 71), ist angesichts des mt Interesses an Gesetz und Propheten, z.B. Mt 5,20, nicht akzeptabel. Eine knappe, jedoch das Wesentliche enthaltene Diskussion darüber bietet z.B. Davies/Allison, Matthew I, 22-25. 95 S.o. an der betreffenden Stelle. 96 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass in der Exegese allgemein wohl zu Recht angenommen wird, dass der Entstehungsort des MtEv Syrien ist. Vgl. z.B. Luz, Mt I, 73-75; Davies/Allison, Matthew I, 138-147; J.P. Meier, Art. Matthew, Gospel of. in: ABD 4, New York u.a. 1992, 622-641, dort 623 f. 97 Betz, Kult-Didache, 56, vertritt die Ansicht, dass w 7 f aufgrund der Polemik gegen die Heiden eine aus dem Diasporajudentum stammende Tradition ist. 98 Davies/Allison, Matthew I, 589, schreiben in diesem Zusammenhang: „Yet surely the evangelist had enough redactional freedom to choose another word (like οί λοιποί; cf. Lk 11,2 D) or to add an adjective (like άνομοι) if he was not perfectly comfortable with the implications of a traditional sentence." 99 Stanton, A New People, 160ff, möchte im mt negativen Bild von den Heiden Erfahrungen von Ablehnung, Widerstand und Verfolgung durch Heiden widergespiegelt sehen (163). Abgelehnt und verfolgt könnten die mt Missionare durchaus gewesen sein, jedoch ist fraglich, ob die Erfahrungen mit Heiden für die mt Gemeinde genauso negativ waren wie ihre Erfahrungen mit Juden - Stanton scheint davon auszugehen, dass beide Erfahrungen im gleichen Maße negativ waren. War der Weg zur Heidenmission nicht gerade deswegen möglich, weil die Heiden im Vergleich zu den Juden der Verkündigung der mt Gemeinde gegenüber offener waren? Siehe auch unten Anm. 146.

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Damit ist nicht gesagt, dass die mt Gemeinde nur aus Judenchristen besteht. Eine Gemeinde, die aus Juden- und Heidenchristen zusammengesetzt ist,100 kann sich ohne weiteres von ihrer heidnischen Umwelt abgrenzen, wenn diese bzw. ihr religiöser Einfluss ihre Identität als Christen gefährdet. Die Heidenchristen in der Gemeinde würden daran keinen Anstoss nehmen, solange sie die Bezeichnung 'Heiden' als Gegenbegriff zu Christen101 verstehen können. 3) Frontstellung zu wandernden Charismatikern (Mt 7,15-23) Wie oben schon erwähnt, wird die mt Gemeinde von wandernden Propheten besucht (Vgl. Mt 7,15). Die mt Gemeinde will die falschen Propheten102 bekämpfen, 103 die keine Früchte tragen und sich so als 'Übeltäter' erweisen (v23). 104 Sie formuliert in v21 anlässlich der Unterschei100

S.u. Anm. 123. Vgl. Davies/Allison, Matthew I, 589, die von „non-Christian pagan" sprechen. 102 Die Fragestellung, wer die falschen Propheten sind, wird m.E. dem Text Mt 7,15-23 nicht gerecht. Die Spärlichkeit von Informationen darüber, die Matthäus uns überliefert, ist eher als Indiz dafür zu beurteilen, dass der Evangelist mit falschen Propheten keine bestimmmte Gruppe wie etwa Essener, Zeloten etc. gemeint hat (so bereits Gnilka, Mt I, 274, allerdings sieht er den Grund des mt Konflikts mit den falschen Propheten in ihrer Heteropraxie, in Prophetie, Teufelsaustreibungen und Wundertaten. Warum sollte die mt Gemeinde, die die Aussendungsrede Jesu überliefert, aber mit dieser Praxis Schwierigkeit haben?). Dem Evangelisten dürfte es allgemein um wandernde Propheten gegangen sein, die von außen kommen und in der mt Gemeinde zuviel Autorität beanspruchen. Die Ansicht, hinter den falschen Propheten einen charismatischen Kreis in der Gemeinde zu sehen, kann dem Text Mt 7,15-23 auch nicht gerecht werden. Denn, worauf oben schon aufmerksam gemacht wurde (s.o. Anm. 20), der Evangelist spricht vom 'Kommen' falscher Propheten (Mt 7,15). Die Ansicht, die falschen Propheten seien Gemeindeglieder mit charismatischen Gaben, wird vertreten z.B. von Th. Zahn, Das Evangelium des Matthäus, Wuppertal 1984 (Nachdruck der 4. Auflage Leipzig u.a. 1922), 313ff; Grundmann, Mt, 232; G. Künzel, Studien zum Gemeindeverständnis des Matthäus-Evangeliums, CThM.BW 10, Stuttgart 1978, 258. 103 Luz, Mt I, 403, äußert unter Berufung auf die Beobachtung, dass der Evangelist Matthäus Mk 9,38-40 wegließ und „ihren Skopus, dass alle die, die nicht gegen Jesus sind, für ihn sind, in genau umgekehrter Form wiedergibt", die Vermutung, dass die mt Gemeinde eine gewisse Zurückhaltung gegenüber freiem Charismatikertum hatte. 104 D.E. Aune, Prophecy in Early Christianity and the Ancient Mediterranean World, Grand Rapids 1983, 224, betrachtet dies aus einer umgekehrten Perspektive: „All that can be said is that the norms of Christian behaviour represented by 101

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dung von wahren und falschen Propheten ein Kriterium, wer in das Himmelreich kommen wird: „Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel." Der von mir kursiv gesetzte Passus erinnert an den Schluss der Perikope von den wahren Verwandten Jesu in Mt 12,50, wo ebenfalls das Tun des Willens Gottes als Kriterium für die familia dei genannt wird. Da Mt 12,50 bis auf die Abänderung der Gottesbezeichnung aus Mk stammt, ist der Passus in Mt 7,21 wohl von Matthäus in Anlehnung an Mt 12,50 gestaltet worden. Der Evangelist hat, angeregt durch Mt 12,50, ein Kriterium für die Aufnahme in das Himmelreich formuliert, um die mt Gemeinde als die den Willen Gottes erfüllende familia dei den wandernden falschen Propheten gegenüberzustellen. Dass solche Querverbindungen vom Evangelisten absichtlich hergestellt wurden, zeigt das Beispiel von Mt 15,24 und 10,6, wo der Ausdruck „die verlorenen Schafe aus dem Hause Israel" von 10,6 in 15,24 wieder aufgenommen wird.

(2) Mt 17,24-27 Eine Intensivierung der Vorstellung von der familia dei der Logienquelle ist außer in der Bergpredigt im MtEv noch in Mt 17,24-27 zu beobachten. Wie die meisten Exegeten annehmen, dürfte es in Mt 17,24-27 in erster Linie um die Tempelsteuer gegangen sein.105 Strittig106 war, ob die JuMatthew and his circle are not completely accepted by itinerant prophets whom Matthew thinks should be exposed as charlatans." 105 Die Ansicht, hinter Mt 17,24-27 'Kritik am Tempel und deshalb möglicherweise sogar am Kultgesetz' sehen zu wollen (S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt, FRLANT 147, Göttingen 1989, 173-177), scheint mir dem Text unangemessen zu sein, weil nirgends im Text eine kritische Haltung gegenüber dem Tempel zu finden ist. Kritisch ist in ihm nur die Haltung gegenüber der Tempelsteuer, die jedoch nicht durchgehalten wird: Die Tempelsteuer wurde schließlich gezahlt. Es ist darum nicht akzeptabel, zu behaupten, dass der Tempelkult, der mit der Abgabe von Steuern finanziert wurde, durch die kritische Haltung gegenüber der Tempelsteuer in Frage gestellt wurde (Vollenweider, Freiheit, 175f). 106 Luz, Mt II, 534f, vertritt die These, dass hinter dem Text das auf Jesus zurückzuführende Anliegen steht, die Steuer, die von Pharisäern generell eingeführt

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denchristen die Tempelsteuer zahlen sollen. D i e Tradition 107 von Mt 17,24-27 1 0 8 schlägt als Lösung dafür vor, dass sie mit Rücksicht auf die nichtchristlichen Juden die Steuer zahlen sollen, obwohl sie prinzipiell von ihr frei sind. Die Übernahme dieser Tradition durch den Evangelisten Matthäus besagt jedoch, dass es ihm nicht mehr um die Tempelsteuer gegangen sein kann, denn der Tempel war zu seiner Zeit zerstört, so dass das Problem der Tempelsteuer nicht mehr aktuell war. 109 D e m Evangelisten dürfte es vielmehr um die Frage gegangen sein, ob man die Nachfolgesteuern, nämlich die Zahlungen an den sogenannten fiscus judaicus, akzeptieren soll, 110 die den Juden als Sondersteuer von den Römern nach dem jü-

worden sei, auf freiwilliger Basis zu zahlen. Die Schwäche seiner These liegt darin, dass sich nirgends im Text ein Hinweis darauf findet, dass man auf freiwilliger Basis die Steuer zahlen bzw. verweigern darf. Die Steuer wurde dem Text nach nur gezahlt, um keinen Anstoss zu geben. 107 Es wird allgemein wohl zu Recht angenommen, dass die Tradition mündlich überliefert wurde. Vgl. Strecker, Weg, 200f. 108 Es wird oft gerätselt, welcher Teil den ursprünglichen Bestand der Tradition ausmacht. Beispielsweise will G.D. Kilpatrick, The Origins of the Gospel according to St. Matthew, Oxford 1950, 4If, v27 als sekundären Zusatz betrachten, während Luz, Mt II, 529, dies bestreitet und stattdessen mit Bultmann, Geschichte, 34, v25bf für älter erklären möchte. Frankemölle, Jawehbund, 174-176, hält gerade das Umgekehrte für älter, d.h. v25f sind fur ihn mt Redaktion bzw. von Mt geprägt. M.E. kommt man hinsichtlich dieser Frage nicht über Vermutungen hinaus. 109 Die Intention, mit dem Text an die Verbundenheit der mt Gemeinde mit dem Judentum in der Vergangenheit erinnern zu wollen, lässt sich m.E. im Text nicht erkennen (gegen G. Barth, Gesetzesverständnis, 84). 110 Diese wertvolle Einsicht von Kilpatrick, Origins, 4If, wurde m.E. zu Unrecht von W.G. Thompson, Matthew's Advice to a Divided Community Mt 17,2218,35, Rome 1970, 67f, kritisiert. Nach ihm sprechen gegen die Ansicht von Kilpatrick vier Argumente: 1) Weil die Halb-Schekel-Steuer eine große religiöse Bedeutung für die Juden hat, ist es unwahrscheinlich, dass der Evangelist Matthäus diese Symbolik ignoriert und den Text für eine politische Frage verwendet hat. 2) Es ist unwahrscheinlich, dass die mt Gemeinde sich in ihrer Beziehung zu römischen Autoritäten bewusst war, aufgrund ihrer königlichen Sohnschaft privilegiert zu sein. 3) Es ist schwer vorstellbar, dass der Evangelist die Römer als Könige bezeichnete und die Steuer auf diejenigen beschränkte, denen nach der römischen Volkszählung die Steuer auferlegt wurde. 4) Es ist angemessener, das Pronomen in der dritten Person in v27 auf die Steuersammler zu beziehen als auf

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disch-römischen K r i e g auferlegt worden w a r e n . 1 " D a sie nicht m e h r f u r den Jerusalemer T e m p e l , sondern f u r den heidnischen Kult bestimmt die Könige der Erde. Diese vier Argumente halten einer kritischen Überprüfung nicht stand. Ad 1): Warum ist es unwahrscheinlich, dass der Evangelist den religiös bedeutungsvollen Text auf einer politischen Ebene uminterpretiert haben könnte? Ist es nicht unser modernes Problem, Politisches von Religiösem unterscheiden zu wollen? Für den Evangelisten dürfte solch eine Unterscheidung nicht nötig gewesen sein, weil für ihn wohl der gesamte Alltag religiöse Bedeutung hatte. Ad 2): Wenn Matthäus bzw. die mt Gemeinde Jesus als König der Welt darstellt, der in friedlicher Weise herrscht (siehe Theißen, Gospel Writing, 5563), und wenn sich die Gemeindeglieder zugleich als seine Brüder verstehen, dann liegt es auf der Hand, dass sich die mt Gemeinde ihres besonderen Status voll bewusst war. Ad 3): Im Text findet sich kein Anhalt dafür, die Metapher 'Könige' auf die Römer zu beziehen. Mir ist unverständlich, wie Thompson darauf gekommen ist. Ad 4): Dass man das Pronomen auf die Steuersammler bezieht, ist richtig, beeinflusst aber keineswegs die Ansicht, dass mit der Steuer die Sondersteuer für den fiscus judaicus gemeint ist. 111

Die Ansicht, dass der Evangelist Matthäus mit Mt 17,24-27 seine Gemeinde dazu aufrufen wollte, freiwillig und um der Konfliktvermeidung willen Steuern an die Römer zu zahlen, hält dem Text selber nicht stand, denn im Text kommt ja eine grundsätzliche Abneigung gegenüber der Zahlung, keineswegs jedoch eine Zuneigung zum Ausdruck. Die ersten beiden Verse (v24+v25a) präsentieren nur die 'offizielle' Stellungnahme zur Steuerfrage, von der sich die nachfolgenden Versen (v25bc+26) mit der 'eigentlichen' Stellungnahme dass man von der Zahlung befreit ist - distanzieren. Selbst wenn der 'eigentlichen' Stellungnahme letzten Endes keine ihr entsprechnede Tat folgt (v27), ändert sich nichts daran (gegen R. Walker, Die Heilsgeschichte im ersten Evangelium, Göttingen 1967, 101-103, sowie R.J. Cassidy, Matthew 17:24-27 - A Word on Civil Taxes, CBQ 41 (1979), 571-580). Eine andere Ansicht wurde von Thompson, Advice, 68, vertreten. Ihm zufolge habe die Synode, die gegen Ende des 1. Jh.s in Jabneh stattgefunden haben soll, im Lauf der Entwicklung das Recht bekommen, die anfangs freiwillige finanzielle Unterstüzung als legale Steuer einzuziehen, die römischen staatlichen Schutz genossen habe. Nach Thompson war es die Intention des Evangelisten, mit unserem Text die Judenchristen in seiner Gemeinde zu einer symbolischen Handlung der Solidarität zu bewegen. Zwei Schwächen weist seine These auf: 1) Es kann nicht belegt werden, dass der Synode solch ein Recht auf Steuererhebung eingeräumt wurde, abgesehen von der Frage, ob diese Synode überhaupt stattgefunden hat. 2) Wenn Thompson's Ansicht trotzdem akzeptabel wäre, müsste man erklären, welche Rolle die Metapher 'Söhne der Könige' spielt. Man braucht solch eine Metapher nicht, um zu einer symbolischen Handlung der Solidarität zu überreden.

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war, musste diese Steuer als ärgerliche Last empfunden werden." 2 Durch Übernahme der Tradition von Mt 17,24-27 sah sich der Evangelist in der Lage, zu diesem damals aktuellen Problem Stellung zu beziehen: Die mt Gemeindeglieder brauchen im Grunde keine Steuern zahlen, weil sie königliche Kinder sind. Nur um keinen Anstoss zu erregen, zahlen Jesus und Petrus die Steuer, nachdem sie in wunderbarer Weise die Mittel dazu beschafft haben. Die Lösung, die der Evangelist für das Problem vorgeschlagen hat, dürfte folgende sein: Christen sollen versuchen, sich möglichst der Zahlung von Steuern zu entziehen, wenn es nicht zu gerichtlichen Konsequenzen führt, d.h. solange es keinen Anstoss erregt. Damals wie heute dürfte es praktikable Möglichkeiten gegeben haben, Steuern zu hinterziehen. Der Evangelist kann allerdings nicht offen dazu aufrufen. Für einen solchen, öffentlichen Aufruf wäre er sicherlich belangt worden. Daher lässt er seine Darsteller das tun, was von den Römern erwartet wird: sie zahlen. Aber das Geld, womit die Steuer gezahlt wurde, haben Jesus oder Petrus nicht durch Ausübung eines Berufs verdient." 3 Sie fanden das Geld

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Luz, Mt II, 536, bestreitet solch eine Interpretation, weil sich nach seiner Ansicht die Frage, ob man die Steuer bezahlen soll oder nicht, angesichts des kaiserlichen Drucks gar nicht stellte. M.E. liegt gerade hier der Grund, warum der Evangelist Matthäus diese Tradition gewählt hat, um das aktuelle Problem zu lösen. Er kann mit Hilfe dieser Tradition klarmachen, dass ihm nicht Volksaufhetzung gegen Steuerzahlung vorgeworfen werden kann, da sich die Steuer, von der im Text die Rede ist, äußerlich auf die Tempelsteuer bezieht. Wenn man außerdem den Ausgang des Gesprächs berücksichtigt, dass die Steuer schließlich doch gezahlt wurde, wird man auch den kaiserlichen Druck spüren können. Davies/Allison, Matthew II, 738-741, erörtern eingehend die Frage, worum es im Text geht, um ihre Ansicht, dass die Tempelsteuer der Gegenstand des Gesprächs im Text sei, zu vertreten. Ihre Argumente könnten zwar die Probleme, die die Argumentation von Cassidy, Matthew 17:24-27, 571 ff, hat, verdeutlichen, vermögen jedoch nicht ihre Ansicht überzeugend zu begründen. Das spricht m.E. dafür, dass Mt 17,24-27 in der jetzigen Form nicht nur ein Problem - sei es das Problem der Tempelsteuer, sei es das des fiscus judaicus - anspricht. Man wird eher mit zwei Problemen rechnen müssen, die für sich einmal das Thema des Textes darstellten. 113

Darauf aufmerksam machen auch Davies/Allison, Matthew II, 745f, mit W. Horbury, The Tempel Tax, in: E. Bammel and C.F.D. Moule, Jesus and the Politics of his Day, Cambridge u.a. 1984, 265-86, dort 274, der es treffend formuliert: „By using a lost coin rather than drawing on the common money box

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durch ein Wunder. Hinter dieser wunderbaren Lösung wird die Intention des Evangelisten deutlich: So wie Jesus und Petrus die Steuer nur mit Hilfe eines Wunders gezahlt haben, so sollt auch ihr versuchen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, damit ihr die Steuer nicht mit eurem mühsam verdienten Geld zu zahlen braucht. Unser eigentliches Interesse liegt aber nicht in der vom Evangelisten vorgeschlagenen Lösung, sondern in der Begründung fur die Verweigerung der Steuer: Jesus und Petrus und damit alle Jünger sind königliche Kinder. Darum brauchen sie als Angehörige der königlichen Familie im Grunde nicht zu zahlen. Mit dieser Metapher ist sicherlich nicht gemeint, dass die mt Gemeindeglieder Kinder der römischen Kaiser sind. Vielmehr sollte diese Metapher mit der Gedankenwelt, die z.B. in Mt 5,35 zum Ausdruck kommt, in Verbindung gebracht werden. Die Jünger und damit die mt Gemeindeglieder sind Kinder des großen Königs, nämlich Kinder Gottes. Hier begegnet uns die Vorstellung der familia dei." 4 Sie begründet ein universales und absolutes Privileg. Denn darin ist nicht einmal den Königen der Erde ein Platz eingeräumt: Gott ist der einzige König, und nur die mt Gemeindeglieder sind seine königlichen Kinder; darum sind nur sie von allen Steuern bzw. Abgaben befreit. Die Könige der Erde sind, so gesehen, verpflichtet, als Fremde gegenüber dem einzigen König, Gott, Steuern zu zahlen.115 Die Vorstellung der familia dei, die hier zu beobachten ist, hat eine gewisse Nähe zur Vorstellung von Gott als Vater in der Logienquelle: So wie sich die Wandercharismatiker als Kinder Gottes von ihrer Umwelt abgehoben verstanden haben, will sich die mt Gemeinde aufgrund ihres Status von ihrer Umwelt abgesondert verstehen. Der Unterschied ist nur der, dass die Wandercharismatiker mobile Nachfolger waren, während die mt Gemeinde aus sesshaften Nachfolgern besteht. Insofern können wir die Vorstellung der familia dei in Mt 17,24-27 als Intensivierung der (John 12.6; 13.29) Jesus meets the demand without acknowledging it as a legitimate charge" (Hervorhebung von mir). 114 Η. Frankemölle, Jahwebund, 176, plädiert dafür, dass nur hier - auf der Metapher der familia dei der Schwerpunkt der Perikope liegt, nicht aber auf der Frage des Steuerzahlens. Es ist mir unverständlich, warum die Metapher der familia dei nicht mit der Frage des Steuerzahlens zusammen behandelt werden kann. 115 Es ist daher unverständlich, wenn Thompson sagt, dass es unwahrscheinlich sei, dass die mt Gemeinde sich ihrer Privilegien bewusst war (s.o. Anm. 110).

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Vorstellung der familia dei, wie sie in der Logienquelle vorliegt, bewerten, die unter der Bedingung der Sesshaftigkeit entstand. Das mt Selbstverständnis von 'Königskindern', das hier zu beobachten war, weist eine gewisse Nähe zu Mt 5,9, einem auf die Jesusbewegung zurückzuführenden Spruch,116 auf. War das Friedenstiften in der Antike ein Handeln, das von einem Idealherrscher zu erwarten war, so ist gut vorstellbar, dass durch die indikativische Aufforderung zu diesem idealköniglichen Handeln in jedem mt Leser bzw. Hörer das Bewusstsein geweckt wurde, einem königlichen Menschen ähnlich zu sein. Es ist daher anzunehmen, dass ein vergleichbares Bewusstsein, sich von der Umwelt abzuheben, in der Anwendung der Metapher 'Königskinder' in Mt 17,24-27 zum Ausdruck kommt.

(3) Mt 23,8-10 Im MtEv wird nicht nur die Vorstellung der familia dei der Logienquelle intensiviert, sondern auch die des MkEv. Dies ist vor allem in Mt 23,8-10 zu beobachten. „Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder. Und ihr sollt niemanden unter euch Vater nennen auf Erden; denn einer ist euer Vater, der im Himmel ist. Und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer: Christus." Die zu untersuchenden Verse gehören zu einer größeren Texteinheit (Mt 23), die eine scharfe Kritik an Schriftgelehrten und Pharisäern zum Inhalt hat. Die Hörer dieser Rede Jesu werden in vi 1 1 7 genannt: das Volk und die Jünger Jesu. 118 Jesus warnt sie davor, sich nach den Werken der 116

S.o. Anm. 85. „Da redete Jesus zu dem Volk und zu seinen Jüngern." Die Angabe über die Hörer der Rede Jesu geht nach Garland, Matthew 23. 34-41, und K.G.C. Newport, The Sources and Sitz im Leben of Matthew 23, JSNT.S 117, Sheffield 1995, 70, auf den Evangelisten Matthäus zurück. 118 Garland, Matthew 23, 34-41, besonders 38, möchte die Rede Jesu in Mt 23 als Mahnung an die Führer der mt Gemeinde („contemporary leaders who now serve as stewards of Christ's household") verstehen. Seine Ansicht ist nicht unproblematisch, denn eine hierarchische Gemeindestruktur ist angesichts Mt 23,8 und 11 und auch von Mt 18,18-20 für die mt Gemeinde eher unwahrscheinlich. Da die Jünger für die mt Gemeinde Identifikationsfiguren sind - die Gemeindeglieder verstehen sich als Jünger Jesu -, liegt es vielmehr nahe, die Rede Jesu in Mt 23 als an die ganze Gemeinde gerichtet zu denken. Unter dem 'Volk', das neben den 'Jüngern Jesu' in vi erwähnt wird, lassen sich dann gegenwärtige Menschen 117

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Schriftgelehrten und Pharisäer zu richten (v3), weil diese ihre Werke nur tun, um gesehen zu werden (v5). Vom kontextuellen Zusammenhang her gesehen, ist die Aussage unseres Textes ein Gegenbeispiel zur Praxis der Schriftgelehrten und Pharisäer, sich Rabbi und Lehrer nennen zu lassen (v8.10). Nicht so eindeutig ist die in v9 angesprochene Praxis. In der Exegese wird der Vers gewöhnlich so verstanden, dass hier davon die Rede sei, dass sich einige Schriftgelehrten als Vater anreden lassen." 9 Das wird vor allem damit begründet, dass Gelehrte im Judentum im ersten Jahrhundert tatsächlich Vater genannt wurden. Dieses Verständnis von v9 ist jedoch nicht unproblematisch, wenn man v9 zusammen mit den ihn umgebenden Versen näher betrachtet. Der Unterschied der Genera verbi in v9 und in den beiden Versen 8 und 10120 fand in der Auslegung bisher keine Beachtung. Aber kann man in der Exegese unberücksichtigt lassen, dass das in v8 und vlO den Hörern Verbotene von den Schriftgelehrten und Pharisäern zugelassen bzw. veranlasst, das in v9 Verbotene aber von ihnen selbst getan wird? Muss man dem Genus verbi in v9 (Aktiv) nicht Rechnung tragen und das dort verbotene Verhalten als etwas deuten, was Schriftgelehrten bzw. Pharisäer zu tun pflegen? Etwa in der Weise, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer jemanden als ihren Vater anredeten121

verstehen, die wie zur Zeit Jesu missioniert werden sollen. Die Attacke gegen die Führer der Juden in Mt 23 wäre ein Indiz dafür, dass diese Menschen unter falscher Führung bzw. schlechten Einflüssen stehen, und es darum gilt, sie zu missionieren (anders Garland, Matthew 23. 39.41, für den das Volk nur ein Beispiel der Vergangenheit ist). 119 Z.B. Schniewind, Mt, 222; Newport, Sitz, 95-96.130-133. 120 In v8 und v i 0 ist das Genus verbi ein Passiv, während es in v9 ein Aktiv ist. 121 Gnilka, Mt II, 276, nennt drei Möglichkeiten zur Übersetzung des Satzes: (1) Und Vater sollt ihr euch nicht nennen (ύμών als Aramaismus), (2) Und Vater sollt ihr niemanden von euch nennen (als Genit. partitivus), (3) Und niemanden sollt ihr Vater nennen (Attraktion zu „Vater"). Die beiden erstgenannten Möglichkeiten sind nur mit mühsamen grammatischen Erklärungen möglich, während die drittgenannte sich ohne große Mühe verständlich machen lässt (Allerdings muss die Übersetzung präzisiert werden mit 'eueren Vater' statt 'Vater' Die von Gnilka genannte Möglichkeit 1) ist m.E. die unwahrscheinlichste, weil es auf einigen Textzeugen basiert, die statt ύμών, welches von meisten wichtigen Textzeugen bezeugt ist, ύμνν bezeugen (sie sind nach dem Apparat D 01at sys c p sa bo). Die zweitgenannte Möglichkeit wird von Grundmann, Mt, 486, für wahrscheinlich gehalten.

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und darum die mt Gemeinde nicht ihrer Praxis folgen soll. Wen aber könnten die Schriftgelehrten und Pharisäer ihren Vater genannt haben? Das MtEv bietet einen aus Q stammenden Text, der unsere Frage zu beantworten vermag: den Bericht über die Bußpredigt des Täufers in Mt 3,1-12. Dort findet sich der warnende Spruch des Täufers: „Denkt nur nicht, dass ihr bei euch sagen könnt: Wir haben Abraham zum Vater" (v9). Selbstverständlich kann der letzte Satz allein unsere Frage nicht beantworten, weil der Text aus Q stammt. Die Einleitung zu dieser Rede des Täufers stammt jedoch vom Evangelisten. In v7 schreibt er nämlich, dass der Täufer diese Rede eröffnete, als viele Pharisäer und Sadduzäer zu ihm kamen}22 Nach mt Verständnis sind es also die Pharisäer und Sadduzäer, die sich auf Abraham als ihren Vater berufen und darum dem Endgericht zu entrinnen glauben, ohne „rechtschaffene Frucht der Buße" zu bringen (v8). Bringt man diese Beobachtung mit Mt 23,9 in Verbindung, dann dürfte Abraham derjenige gewesen sein, den die Schriftgelehrten und Pharisäer ihren Vater zu nennen pflegten. Dass dieser Rückverweis auf die Täuferperikope am Anfang des Evangeliums bewusst geschieht, zeigt sich darin, 1) dass die agressive Anrede des Täufers, 'Ihr Schlangenbrut' (γεννήματα έχιδνών), samt dem kritisierenden Satz, „wer hat euch denn versichert (τίς ύπέδειξεν ύμΐν)" (Mt 3,7), in Kap. 23 wiederaufgenommen wird (v33) und 2) dass die Pharisäer, denen in 3,7ff Unfruchtbarkeit vorgeworfen wurde, in Entsprechung dazu in 23,3 wegen fehlender Verwirklichung ihrer Lehre kritisiert werden. Weiter stellt sich die Frage, was der Beweggrund für das Verbot der Vater-Anrede durch den mt Jesus gewesen ist. Die Antwort darauf findet sich m.E. in Mt 3,9: Die Kritik des Täufers richtet sich dort dagegen, dass die Pharisäer und Sadduzäer ihr Heil (durch Berufung auf Abrahams Nachkommenschaft) mit ihrer Abstammung begründen, ohne „rechtschaffene Frucht" zu bringen. Der Täufer macht dagegen deutlich, dass Gott sogar aus Steinen dem Abraham Kinder zu erwecken vermag. Dem Evangelisten Matthäus dürfte es um diese Problematik gegangen sein, falls er in 23,9 an die Rede des Täufers gedacht hat. Wie die Stelle Mt 122

Die Sadduzäer könnten sich für Mt hinter den 'Schriftgelehrten' verstecken. Denn für den Evangelisten sind alle führenden Gruppen des Judentums, Pharisäer, Sadduzäer, Schriftgelehrten, Hohepriester und Älteste in gewissem Sinne ohne Unterschied (vgl. S. van Tilborg, Jewish Leaders, 1-6); sie sind für ihn lediglich jüdische Führer gewesen. Daher könnte man hinter Schriftgelehrten, die mit Pharisäer zusammen erwähnt werden, auch Sadduzäer vermuten.

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21,43 klarstellt, kommt es dem Evangelisten nur darauf an, wer Früchte bringt, aber nicht wessen Nachkommen der betreffende Mensch ist: „Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk gegeben werden, das seine Früchte bringt." Damit dürfte die Frage, welches Motiv hinter dem Verbot der Vateranrede steht, bereits beantwortet sein: Der Evangelist will die auf Abstammung basierende Unterscheidung zwischen Judenchristen und Heidenchristen, die Ungleichheit unter seinen Gemeindegliedern, 123 für irrelevant erklären. Seine Lösung für dies Problem ist die Betonung der Vaterschaft Gottes. Die Vorstellung von Gott als Vater ist fur Judenchristen eine Selbstverständlichkeit, da sie in ihrer Tradition vorhanden ist. Sie hat zugleich universalen Charakter, da sie auch Heidenchristen ohne Diskriminierung integrieren kann. Darum erinnert der Evangelist seine Gemeinde an die Vaterschaft Gottes und verleiht dieser Metapher durch häufigen Gebrauch Nachdruck. Diese These124 muss nun am Text selbst überprüft werden. Unsere Ansicht scheint auf den ersten Blick dem Textzusammenhang fremd zu sein. Der Grund für diesen falschen Eindruck ist, dass v9, der nach unserem Verständnis die Ungleichheit zwischen Judenchristen und Heidenchristen

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Über die mt Gemeinde als eine zusammengesetzte Gemeinde von Juden und Heiden siehe die kurze forschungsgeschichtliche Darstellung von K. Wong, Interkulturelle Theologie und mutikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium. Zum Verhältnis von Juden- und Heidenchristen im ersten Evangelium, NTOA 22, Freiburg (Schweiz) u.a. 1992, 22-27, besonders 23-25, und auch seine Untersuchungsergebnisse (187-194). 124 Meine Ansicht hat in der Exegese Vorläufer: E. Schweizer, Mt, 282, äußert im Zusammenhang mit der Schwierigkeit, dass in v9 ein Objekt wie 'niemand' fehlt, die Vermutung, die Schwierigkeit löse sich auf, wenn dort ursprünglich Abraham stünde; J.R. Michaels, Christian Prophecy and Matthew 23:8-12. A Text Exegesis, in: SBL.SP 10, Missoula u.a. 1976, 305-310 (nach Garland, Matthew 23, 59 Anm. 98); J.T. Townsend, Matthew xxiii.9, JThS XII (1961) 56-59, besonders 59. Garland, ebd. kritisiert die Ansicht der genannten Vorläufer dahingehend, dass ihre Ansicht voraussetze, dass das Wort 'Vater' kein charakteristischer Titel für zeitgenössische Rabbis sei. Ich rechne jedoch damit, dass das Wort 'Vater' damals als Bezeichnung fur die Rabbis gebraucht wurde. Die Grundlage für meine Ansicht ist also nicht die grundsätzliche Ablehnung der Möglichkeit dieser Anrede in der damaligen Zeit, sondern das Problem, 1) warum das Genus verbi in v9 anders als in w 8 . 10 ist, 2) warum die gleiche Aussage in w 8 und 10 zu finden ist.

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behandelt, inmitten von Versen steht, die von der Anrede als Rabbi bzw. Lehrer sprechen. Wenn man aber den Text näher betrachtet, vermag unsere Ansicht die jetzige Gestaltung des Textes besser zu erklären als andere Auslegungsmöglichkeiten. Zunächst beginnen wir mit den beiden Versen 8 und 10. Sie beziehen sich auf eine gemeinsame Praxis von Pharisäern und Schriftgelehrten. Denn es besteht kein Grund, die Bezeichnungen 'Rabbi' und 'Lehrer' unterschiedlich zu verstehen.125 Hier stellt sich die Frage, warum der Evangelist die gleiche Aussage in so kurzem Abstand wiederholt.126 Besteht eine Notwendigkeit zur Wiederholung des gleichen Themas trotz der Trennung durch v9?127 Zur Beantwortung dieser Frage ist eine Synopse der beiden Verse notwendig: ύμεΐς δέ μή κληθήτε, ραββί, εις γάρ έστιν ύμών ό διδάσκαλος,πάντες δέ ύμεις αδελφοί έστε (23,8). μηδέ κληθήτε καθηγηταί,δτι καθηγητής ύμών έστιν είς ό Χριστός (23,10). Wie die Synopse der beiden Verse zeigt, ist ihre Struktur sehr ähnlich: Beide Verse beginnen mit dem gleichen negativen Imperativ 125

Vgl. Gnilka, Mt II, 277; Schnackenburg, Mt II, 222f. Zu anderen Meinungen siehe Anm. 127. 126 Das ist ein entscheidender Schwachpunkt der Ansicht, dass sich v9 auf die Praxis der Pharisäer bzw. Schriftgelehrten, sich Vater nennen zu lassen, bezieht. In diesem Fall besteht kein Grund der Rekapitulation des Inhaltes von v8 durch vlO. 127 Gelegentlich wird die Ansicht vertreten, dass die v8 wiederholende Aussage von vlO im Hinblick auf hellenistische Christen gemacht worden sei (z.B. Strecker, Weg, 217 Anm. 2). Diese Ansicht ist m.E. wenig überzeugend, denn dann hätte man eine Form, wie man sie z.B. in Joh 1,38 findet („Rabbi - das bedeutet: Meister -"), vorgezogen, statt eine Aussage zu wiederholen. Außerdem steht bereits in v8 ein griechisches Pendant fur das Wort 'Rabbi', nämlich διδάσκαλος. Bei hellenistischen Christen kann also der Grund für die Wiederholung schwerlich liegen. Frankemölle, Jahwebund, 99f, vertritt die Ansicht, dass der Evangelist Matthäus „die 'Lehrtätigkeit' Jesu weder mit dem rabbinischen noch mit dem hellenistischen Lehrer identifizieren will." Ihm ist entgegenzuhalten, warum dann das Wort καθηγητής für Jesus gebraucht wurde. Wäre seine Erklärung nicht erst dann plausibel, wenn das an eine hellenistische Lehrtätigkeit erinnernde Wort nicht für Jesus gebraucht worden wäre?

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μή κληθήτε, abgesehen von dem betonenden Pronomen ύμεΐς in v8, dann folgt die Begründung des Verbots mit fast identischem Inhalt: „denn euer διδάσκαλος bzw. καθηγητής ist einer."128 Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass in vlO der είς ausdrücklich (als ö Χριστός) bestimmt wird, während v8 ohne nähere Bestimmung von dem einen διδάσκαλος spricht und dann zu einer weiteren Begründung übergeht. Betrachtet man v8 für sich allein, dann vermisst man gerade diese Näherbestimmung des 'einen Lehrers', selbst wenn man ahnen kann, wer der eine Lehrer ist. Das heißt, die Wiederaufnahme des gleichen Themas mit dem Wort καθηγητής und dessen Näherbestimmung durch „Christus" in vlO war zur Vervollständigung der Aussage wünschenswert. Der Grund für die Wiederaufnahme liegt darin, dass an der Stelle, wo in v8 eigentlich die Näherbestimmung, 'Christus', zu erwarten ist, eine zweite Begründung für das Verbot der Rabbi-Anrede folgt. Diese zweite Begründung bildet durch das Wort πάντες, das inhaltlich ein Pendant zu dem vorangehenden Wort είς ist, zusammen mit der ersten Begründung ein hervorragendes Satzgefüge. M.a.W., der Evangelist lässt seinen Satz vorläufig halbfertig, um sein weiteres Anliegen in einer stilistisch schönen Form zum Ausdruck zu bringen. Was wäre sein weiteres Anliegen? Es verbirgt sich in dem Wort 'Brüder': Die Glaubenden sind alle Brüder, d.h. sie sind alle von ihrem Rang her gleich; es soll daher keine Rangbezeichnung, wie sie die Schriftgelehrten und Pharisäer haben, unter ihnen geben. Damit ist die Antwort auf die Frage gefunden, warum der Evangelist in vlO v8 zu wiederholen scheint. Zugleich stellt sich eine weitere Frage: Warum wurden v8 und vlO nicht syntaktisch unmittelbar aneinander gefugt, sondern durch v9 getrennt, obwohl beide Verse inhaltlich eng miteinander verbunden sind? Besteht etwa eine noch engere Verbundenheit zwischen dem Inhalt von v8 und v9? Wenn ja, welche? Wir sahen vorhin, in der zweiten Begründung für das Verbot der Rabbi-Anrede in v8, dass die Gleichheit unter den Glaubenden das aktuelle Anliegen des Evangelisten ist. Gerade dies Anliegen wird in v9 weiter behandelt, indem der eine Vater, der im Himmel ist, unterstrichen wird: alle Glaubenden haben den einen Vater, Gott, und darum sind alle gleich. Das Thema 'Gleichheit' hat also v8 und v9 miteinander so eng verbunden, dass die ebenfalls eng verbundenen v8 und vlO voneinander getrennt werden mussten. Die enge Verbundenheit schlägt sich übrigens auch in der Satzstruktur nieder: 128

Nur die Wortstellung weicht voneinander ab.

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ύμεις δέ μή κληθήτε, ραββί, εις γάρ έστιν ύμών ό δ ι δ ά σ κ α λ ο ς , π ά ν τ ε ς δέ ύ μ ε ΐ ς αδελφοί έστε (23,8). κ α ι πατέρα μή κ α λ έ σ η τ ε ύμών έπι της γης, ε ι ς γ ά ρ έστιν ύμώνό πατήρ ό ούράνιος (23,9). Die Begründungssätze für das Verbotene sind von der Struktur her identisch (είς γ ά ρ έστιν ύμών ό δ ι δ ά σ κ α λ ο ς / πατήρ), und die den Vers einleitenden Sätze sind in beiden Fällen negative Imperative. Fazit: Die jetzige Gestaltung des Textes spiegelt wider, wie der Evangelist in v8 seinen Gedankengang steigert, um ein weiteres Anliegen zur Sprache kommen zu lassen, mit dem er in vlO zum Ausgangspunkt zurückkehrt.' 29 Mt 23,9 passt zu diesem Anliegen: Die Vorstellung der familia dei dient in v9 dazu, die durch verschiedene Herkunft der Gemeindeglieder bedingte Ungleichheit in der mt Gemeinde zu überwinden; sie sind alle Brüder, weil sie einen Vater im Himmel haben. Hinter der Bezeichnung 'euer Vater im Himmel' steht das Interesse des Evangelisten, durch Integration aller Gemeindeglieder seine Gemeinde zusammenzuhalten. Wenn er daher in seinem Evangelium von der Bezeichnung 'euer Vater im Himmel' Gebrauch macht, hat er stets deren brüderliche Beziehung untereinander vor Augen. Wir kommen damit zu dem Ergebnis, dass das MtEv nicht nur die Vorstellung der familia dei der Logienquelle intensiviert hat, sondern auch die des MkEv, die durch geschwisterliche, egalitäre Beziehung geprägt ist (Mk 3,31-35; 10,28-31). Das egalitäre Ethos findet sich im MtEv, hier besonders in Mt 23,8f, wieder - und das in intensiver Form: Während im MkEv die Auslassung des irdischen Vaters nur indirekt auf eine Distanz zu irdischen Vatergestalten schließen lässt, finden wir in 23,9 eine explizite Distanzierung. Es ist allerdings fraglich, ob die Frauen in der mt Gemeinde in demselben Maße wie in der mk Gemeinde in den Genuss dieses egalitären Ethos kamen. Zwar übernahm der Evangelist Matthäus die mk Rede von 'Brüdern und Schwestern' aus Mk 3,35 und Mk 10,30, aber er gebraucht sie nicht in redaktionell formulier-

129

Es ist daher nicht akzeptabel, wenn D.E. Garland, Matthew 23, 59 Anm. 98, vermutet, v9 sei wahrscheinlich im Kontext nicht ursprünglich und w 8 - 1 0 seien „composite". Wie wir gesehen haben, ist der Text vv8-10 kohärent.

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ten Texten. So hätte er in Mt 23,8 durchaus von Brüdern und Schwestern sprechen können, wenn er bzw. seine Gemeinde ein Interesse daran gehabt hätten. Dasselbe gilt für Mt 28,10, wo für die Bezeichnung der Jünger Jesu allein 'Brüder' steht.130 Ein weiteres Indiz dafür findet sich in der Perikope vom Verbot der Ehescheidung (Mt 19,3-12). Der Evangelist Matthäus übernahm diese mk Perikope, jedoch lässt er den Passus aus, der die Gleichberechtigung der Frauen bei der Ehescheidung bezeugt (Mk 10,12 sowie die präpositionale Wendung „ihr gegenüber" in Mk 10,11). Der Evangelist Matthäus gibt so den traditionellen Gedanken wieder, wonach nur Männer das Recht haben, sich scheiden zu lassen. Hätten die Frauen in der mt Gemeinde das egalitäre Ethos genießen können, so hätte der mk Passus (Mk 10,12 sowie die Wendung „ihr gegenüber") auch im MtEv aufgenommen werden können.

Exkurs: Abrahams Kindschaft für Heiden? Vielleicht wird man gegen die oben vorgetragene Ansicht einwenden, dass Abraham im Judentum nicht nur als Vater der Juden, sondern auch der Proselyten galt. 131 Billerbeck führt die Belege d a f ü r aus der rabbinischen Literatur auf. 132 Man kann sie aber auch anders werten und hinter ihnen Versuche der Rabbinen vermuten, mit dem traditionellen jüdischen Begriff ein Problem zu meistern: Weil der Begriff ' V a t e r A b r a h a m ' zur Unterscheidung zwischen Juden und Proselyten führte, haben die Rabbinen sich um die Erweiterung des Begriffssinnes bemüht. Die Stelle, die Billerbeck als erste vorstellt, lässt das Problem klar erkennen: „Folgende bringen die Erstlinge dar ohne Rezitierung (von Dtn 26,5ff): Der Proselyt bringt dar und rezitiert nicht, weil 130

„Da spricht Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen: dort werden sie mich sehen." 131 Aufgrund dessen äußern Davies/Allison, Matthew I, 158f, die Vermutung, dass der Ausdruck Sohn Abrahams in Mt 1,1 auf das Interesse des Evangelisten am Heil der Heiden hinweist (ebenso Luz, Mt I, 93-5). Ihre Vermutung basiert m.E. auf unsicherem Boden, wie das im folgenden Text angeführte Beispiel Bik 1,4 zeigt. Sollte man nicht vielmehr den Einsatz des Evangeliums beim 'Sohn Abrahams' in 1,1 als Anfang der in der Geschichte Israels begonnenen Heilsgeschichte betrachten, die am Ende des Evangeliums universalistisch erweitert wird? Dass der Sohnschaft Abrahams im ganzen MtEv keine wesentliche Bedeutung zukommt und dass die 'Davidssohnschaft' der Abrahamssohnschaft in 1,1 vorangeht, obwohl Abraham der Anfang der Genealogie ist (1,2), weist in dieselbe Richtung. 132 Strack/Billerbeck, Kommentar, Bd. 3, 211.

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er nicht sagen kann: Das du unseren Vätern geschworen hast, uns zu geben (Dtn 26,3)· Wenn aber seine Mutter aus Israel stammt, bringt er dar und rezitiert. Wenn er (ein Proselyt) für sich allein betet, spricht er: 'Der Gott der Väter Israels'; wenn er sich in einer Synagoge befindet, spricht er: 'Der Gott euer Väter'; wenn aber seine Mutter aus Israel stammte, spricht er: 'Der Gott unserer Väter'" (Bik 1,4).133 Einen weiteren Beleg dafür, dass der Ausdruck 'Abrahams Nachkommenschaft' Menschen voneinander unterscheidet, findet man beim Evangelisten Lukas, dem Zeitgenossen des Matthäus. In Apg 13,26 lässt er den Apostel Paulus folgender Worte sprechen: „Ihr Männer, liebe Brüder, ihr Nachkommen Abrahams und ihr Gottesfürchtigen, Hier werden Juden und Heiden (Gottesfurchtige) deutlich voneinander unterschieden. Dieser lukanische Sprachgebrauch spiegelt offenkundig die Situation seiner Zeit wider. Ausdrücke wie „Vater Abraham" oder „Kinder Abrahams" sind in der Wahrnehmung des Evangelisten Lukas Worte, die in jüdischem Milieu gesprochen werden und die Juden im Unterschied zu Heiden kennzeichnen. Er benutzt daher diese Ausdrücke konsequent in Bezug auf Juden (siehe Lk 1,73; 13,16; 16,24.25.27.30; 19,9). Im Hinblick auf die Quantität der betreffenden Ausdrücke bei Lk ist ihr Fehlen bei Mt um so signifikanter. Hier zeigt sich m.E. eine Abneigung des Evangelisten Matthäus gegenüber diesen Ausdrücken. (4) Mt 18 Dass auch die mk Vorstellung der familia dei in der mt Gemeinde intensiviert wurde, zeigt sich nicht nur in Mt 23,8f bzw. 28,10, sondern auch in Mt 18, der sogenannten Gemeinderede Jesu. Es handelt sich hier um eine Lehre Jesu über innerkirchliches Zusammenleben. Von dem Kapitel verdient der Teil vv 15-20 unsere besondere Aufmerksamkeit. Dieser Teil regelt, wie ein Bruder, der an jemandem sündigt, zurechtzuweisen ist. V17 nennt die Gemeinde als die höere Instanz, wenn ein sündiger Bruder die Zurechtweisung eines anderen Bruders nicht hören will. Aus diesem Vers geht deutlich hervor, dass mit dem Wort 'Bruder' weder der leibliche Bruder noch ein Landsmann gemeint ist, sondern das Mitglied der Gemeinde. Es liegt damit auf der Hand, dass sich die mt Gemeinde als 133

Zitiert nach Strack/Billerbeck, Kommentar, Bd. 3, 211.

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brüderliche Gemeinde versteht. 134 Die mk Prägung der Vorstellung der familia dei wird hier also aufgenommen. Wie in Mt 23,8f steht auch hier im Mittelpunkt des Verständnisses von brüderlicher Gemeinde die Vorstellung von Gott als Vater. Der gerade behandelte Teil folgt direkt auf Mt 18,14, einen Vers, der das Gleichnis vom verlorenen Schaf abschließt, das in der mt Fassung eine Mahnung ist, den Verlust von Gemeindegliedern zu verhindern. 135 Hier wird deutlich gesagt, in welcher Beziehung die Hörer, d.h. die Gemeindeglieder, zu Gott stehen: Gott ist „euer Vater" Aus dem kontextuellen Zusammenhang von v i 4 und v i 5 geht hervor, dass sich der Evangelist seine Gemeinde als familia dei vorstellt: Alle Gemeindeglieder sind Kinder Gottes, darum sind sie untereinander Brüder. 136 Dafür spricht auch ein weiteres Indiz, das in w l 0 . 1 9 und 35 zu finden ist. 137 In diesen drei Versen ist von „meinem Vater im Himmel" die Rede. Wenn man sich erinnert, dass in Mt 12,46-50 Jesus als Bruder der Jünger und damit als Bruder der mt Gemeindeglieder dargestellt wurde, dann ergibt sich daraus, dass unter „meinem Vater im Himmel" der Vater der mt Gemeindeglieder vorzustellen ist. Dass diese Gottesbezeichnung im Kapitel 18 dreimal benutzt wird, spricht für die oben vertretene Ansicht. Vielleicht gewinnt man ein weiteres Argument für die von uns vertretene Ansicht aus Mt 18,14. In ν 14 wird nicht direkt gesagt, was die Hörer tun sollen, sondern lediglich, was der Wille des Vaters ist: keinen von diesen Kleinen verloren gehen

134

Auch Trilling, Das wahre Israel. Studien zur Theologie des Matthäusevangeliums, EThSt 7, Leipzig 1962, 189; Gnilka, Die Kirche des Matthäus und die Gemeinde von Qumran, BZ 7 (1963), 43-63, dort 51. 135 V14 geht übrigens auf mt Redaktion zurück. Anders J. Jeremias, Gleichnisse, 37, der bei dem Vers eine aramäische Herkunft feststellen möchte. Die mt sprachlichen Eigentümlichkeiten (ούτως, θέλημα + πατρός, έμπφοσθεν + πατήρ, έν ούρανοΐς) sprechen jedoch gegen ihn (vgl. Davies/Allison, Matthew II, 753. 776). 136 Das Gleiche ist auch in Mt 7,3ff sowie 5,2Iff zu behaupten: Da in der Bergpredigt mehrfach von Gott als Vater der Hörer die Rede ist, kann man nicht ausschließen, dass unter dem Wort „Bruder", das dort auftaucht, Angehörige der familia dei zu verstehen sind. Siehe auch oben Anm. 87. 137 Von den drei Versen gehen die beiden Verse (vlO. und 35) auf den Evangelisten zurück, während v i 9 nur zum Teil (z.B. έπΐ της γης und έν ούρανοΐς) auf ihn, sonst aber auf eine Tradition zurückzuführen ist, die jedoch von ihm an die jetzige Stelle gesetzt wurde. Vgl. Davies/Allison, Matthew II, 769.787f.803.

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zu lassen. Erinnern wir uns an Mt 12,46-50, besonders an v50, in dem gesagt wird, wer zu der familia dei gehört, so ist der Schluss möglich, dass auch in Kap. 18 die Zugehörigkeit zur familia dei vorausgesetzt wird. Denn die Glieder der familia dei sind diejenigen, die 'den Willen des Vaters im Himmel tun' Der Evangelist braucht daher in ν 14 nicht ausdrücklich zu sagen, was seine Hörer tun sollen. Stattdessen gibt er nur bekannt, was der Wille des Vaters im Himmel ist.

Exkurs . Vergebung unter Brüdern Im Kapitel 18 macht das Gleichnis vom sogenannten Schalksknecht einen beachtlichen Teil aus (w23-35). Nimmt man die das Gleichnis einleitende Geschichte von vv20f dazu, dann umfasst der Text mit dem Thema der Vergebung fast die Hälfte des Kapitels (18). Dies zeigt deutlich, dass das Thema der gegenseitigen Vergebung für den Evangelisten Matthäus ein unentbehrliches Element der Gemeindelehre war. Diese Ansicht wird vor allem dadurch bestätigt, dass vor der Begrenzung zwischenmenschlichen Vergebens (18,21 f) gewarnt wird, weil deren Folge die Annullierung der bereits geschehenen göttlichen Vergebung wäre. Diese negativ gefärbte Betonung der Vergebung macht klar, wie notwendig die gegenseitige Vergebung in der mt Gemeinde war. Es stellt sich die Frage, wie diese Notwendigkeit gegenseitiger menschlicher Vergebung in der mt Gemeinde zu erklären ist. Sie steht mit der verschärften Ethik der mt Gemeinde in engem Zusammenhang. Eine Gruppe mit radikalen Normen braucht einen Ausgleich, nämlich gegenseitige Vergebung, damit ihre Mitglieder ohne Selbstgerechtigkeit sowie Abwertung anderer, die die Normen überschritten haben, zusammenleben können.138 Zu beachten ist dabei die Herkunft der radikalen Normen. Die meisten verschärften Gebote der Bergpredigt stammen aus der Logienquelle, deren Träger Wandercharismatiker waren. Interessant ist, dass in der Logienquelle von Vergebung nicht so oft wie im MtEv die Rede ist. Dies fuhrt zu der Überlegung, ob die mt Betonung der gegenseitigen menschlichen Vergebung auf ihre sesshafte Situation zurückzufuhren ist. Zwei Erwägungen sprechen m.E. dafür: 1) Die radikalen Gebote sind in einer sesshaften Situation nur schwer zu praktizieren, wie wir schon oft betont haben. 2) Die Übertretung von Geboten ist in einer sesshaften Situation leicht registrierbar. Dagegen werden Übertretungen von Wandercharismatikern nur dann bemerkt, wenn sie während eines Aufenthalts in einer sie aufnehmenden Familie geschehen. Angesichts dieser Erwä138

Vgl. G. Theißen, Gospel Writing, 72-74.

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gungen kann m a n a n n e h m e n , dass die B e t o n u n g der gegenseitigen menschlichen V e r g e b u n g in der mt G e m e i n d e mit ihrer sesshaften Situation z u s a m m e n h ä n g t .

(5) Mt 13,36-43 / Mt 25,31-46 W i r haben oben gesehen, dass die Vorstellung von Gott als Vater in Mt 6,1 durch den Lohngedanken geprägt ist. Der Vater-Gott ist derjenige, der seine Kinder belohnen wird; die Kinder, deren Taten falsch sind, w e r d e n keinen Lohn erhalten. Dieser negativ beladene L o h n g e d a n k e , der sich auch als ' G e r i c h t s g e d a n k e ' bezeichnen lässt, findet sich im M t E v noch an zwei Textstellen wieder. Es sind M t 25,31-46 sowie M t 13,3643. 139 Diesen beiden Textstellen 1 4 0 w e n d e n wir uns nun zu. Z u n ä c h s t zu M t 13,36-43: a) M t 13,36-43141 Die Vorstellung von Gott als Vater bzw. die Vorstellung der familia dei k o m m t in unserem T e x t besonders in V e r s 43 zum A u s d r u c k , w o von „der Sonne in ihres Vaters R e i c h " die R e d e ist. D i e j e n i g e n , die sich als

139

In dem eigentlichen Gleichnis, Mt 13,24-30, taucht die Bezeichnung, die die Vorstellung der familia dei ausmacht, z.B. Vater bzw. Kinder, nicht auf. Zwar begegnet dort das Wort 'Hausvater', da jedoch dieses Wort nicht die Beziehung zwischen ihm und dem Samen zeichnet, wird es hier nicht berücksichtigt. Auch der Text Mt 13,24-30 bleibt außerhalb unserer Betrachtung. 140 Die Gemeinsamkeit der beiden Texte besteht auch darin, dass sie zahlreiche Wörter und damit Vorstellungen (z.B. „das Sammeln für das Gericht durch den Menschensohn, die Mitwirkung der Engel, die Scheidung in Gerechte und solche, die im Feuer brennen") gemeinsam haben. Vgl. J. Friedrich, Gott im Bruder. Eine methodische Untersuchung von Redaktion, Überlieferung und Tradition in Mt 25,31-46, CThM.BW 7, Stuttgart 1977, 66f. 141 In der Exegese ist umstritten, ob diese Deutung als Ganze auf den Evangelisten Matthäus zurückgeht (vgl. Jeremias, Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen [Mt 13,36-43], in: ders., ABBA, 261-265), oder nur ein Teil davon (z.B. w37-39 [vgl. Schweizer, Mt, 201], oder w40-43 [vgl. Trilling, Das wahre Israel, 102]. Angesichts zahlreicher Matthäismen in der Sprache von w 3 7 - 4 3 (z.B. ούτοι, κόσμος, υίοί της β α σ ι λ ε ί α ς , συντέλεια του αιώνος ώσπερ ούτως [εσται], näheres vgl. Luz, Mt II, 338f Anm. 11.12) und einheitlich wirkender Bezüge zwischen w 3 7 - 3 9 und 40-43 (vgl. Luz, ebd. 339) könnte man doch mit Luz den ganzen Text als mt Redaktion verstehen (ebenso Davies/Allison, Matthew II, 426f).

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Gerechte erwiesen haben, werden wie die Sonne leuchten,142 und zwar im Reich Gottes, ihres Vaters. Die Gerechten sind also die Kinder Gottes.143 Der Lohngedanke bzw. Gerichtsgedanke äußert sich darin, dass nur die Gerechten im Reich ihres Vaters bleiben werden (v43), während diejenigen, die zum Abfall verführten und selbst Unrecht taten (v41), vom Reich des Menschensohnes ausgeschlossen (v41: 'aus dem Reich sammeln') und im Feuerofen bestraft werden (v42). Jeder Mensch muss sich nach dem Gleichnis dem Endgericht unterziehen, und es wird dabei sich erweisen, was er war: War er guter Same, der gerecht ist, wird er im Reich seines Vaters als sein Kind leben; war er aber Unkraut, das andere zum Abfall verführte und selbst Unrecht tat, dann wird er ausgesondert und bestraft werden. Offensichtlich sind Ausdrücke wie 'guter Same' sowie 'Kinder (Söhne) des Reichs' Bezeichnungen, die nicht von vornherein für bestimmte Menschen stehen, sondern erst beim Endgericht den Gerechten gegeben werden. Das wird auch durch v41144 deutlich, wonach die Tat des Menschen Kriterium für die Aussonderung zum Gerichtsvollzug ist. Das Entscheidende für Lohnempfang bzw. Gerichtsbestehen ist also das Handeln des Menschen. b) Mt 25,31-46 Die Vorstellung der familia dei findet sich in dem zu behandelnden Text dort, wo der König von 'meinen geringsten Brüdern' spricht (v40): Da der König auch noch von seinem Vater spricht (v34), ist die Vorstellung der familia dei hier vollständig vorhanden. Unsere Aufmerksamkeit verdient dabei die Beobachtung, dass die Glieder der familia dei als Maßstab für die Entscheidung im Endgericht dienen (v40). Diejenigen, die gerichtet werden sollen, sind alle Völker 142

Die Herkunft des 'Leuchten der Gerechten' ist wohl Dan 12,3 (vgl. Schweizer, Mt, 202). 143 Im Text, genauer in v38, begegnet noch ein anderer Begriff, der jedoch im Zusammenhang mit den „Kinder Gottes" zu verstehen ist, nämlich „Kinder (Söhne) des Reichs" Da in v43 vom „Reich ihres Vaters" die Rede ist, lässt sich dieser Begriff auch als 'Kinder des Reichs ihres Vaters' auffassen. 144 Die Formulierung von v41 ist besonders auffällig, wenn man das Gleichnis (Mt 13,24-30) selbst betrachtet. Denn nach dem Gleichnis hat man den Eindruck, dass die Unterscheidung von Menschen als Weizen oder Unkraut von vornherein feststeht. V41 macht dagegen deutlich, dass die Unterscheidung erst aufgrund dessen, was der Mensch getan hat, erfolgen wird.

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(v32). 1 4 5 Haben sie einem der geringsten Glieder der familia dei eine barmherzige Tat 146 erwiesen, dann werden sie von der e w i g e n Strafe ver145

Nach Theißen, „Was ihr meinen geringsten Brüdern getan habt " Von der Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt (Matthäus 25,31-46), in: ders., Lichtspuren. Predigt und Bibelarbeiten, Gütersloh 1994, 102-116, dort 107-109, dürften die zu richtenden Menschen ursprünglich Juden gewesen sein, und erst auf der mt Ebene könnte dann der Menschenkreis auf alle Völker einschließlich der Juden erweitert worden sein. Die richtige Übersetzung von π ά ν τ α τά £9vi(jv32) dürfte daher auf mt Ebene nicht 'alle Heiden', sondern 'alle Völker' sein. Die Ansichten, von allen Völkern bestimmte Gruppen von Menschen, z.B. die Christen oder die Heiden, ausnehmen zu wollen, sind eher dogmatisch motiviert und haben keine Stütze im Text. P. Christian, Jesus und seine geringsten Brüder. Mt 25,3146 redaktionsgeschichtlich untersucht, EThS 12, Leipzig 1975, 18-21, bietet dazu eine kurze Darstellung. 146

Nach J. Jeremias, Die Salbungsgeschichte Mk. 14,3-9, in: ders., ABBA, 109ff., handelt es sich bei den in Mt 25,31 ff geschilderten, barmherzigen Taten um die klassische sechsfache Zusammenstellung der Liebeswerke im Judentum. U. Wilckens, Gottes geringste Brüder zu Mt 25,31-46, in: E.E.Ellis u.a (Hg.), Jesus und Paulus, FS. W.G. Kümmel, Göttingen 1975, 363-383, dort 37lf, möchte jedoch aufgrund der Analogielosigkeit des Gefangenenbesuches in der jüdischen Aufzählung der Liebeswerke in unserem Text eine besondere Prägung der Botentradition sehen, die das gewaltsame Geschick der Boten Jesu bezeugt (z.B. Mt 10,17f; Mk 13,9ff; Mt 10,28). Wäre diese Ansicht Wilckens' akzeptabel, dann könnte man die Vermutung anstellen, dass die Erweiterung der zu richtenden Menschen auf 'alle Völker' auf Selbsterfahrungen der Boten Jesu zurückgeht, die die mt Gemeinde gegründet haben, und zwar folgendermaßen: Einige Boten Jesu wären in heidnische Orten ausgewandert und hätten dort als Fremde Hilfe gebraucht - „ich bin Fremder gewesen" (v35). Durch die Hilfeleistung einiger Heiden wären sie zur Erkenntnis gekommen, dass solche Heiden des Segens Gottes (und damit auch des Heils) würdig sind - „ihr Gesegneten meines Vaters" (v34). Genau das Gegenteil vermutet Stanton, A New People, 220f. Nach ihm ist der 'Gefangenenbesuch' auf der Liste der Liebeswerke auf den Evangelisten Matthäus zurückzufuhren, der damit seinen (z.B. durch heidnische Verfolgung) geängstigten Lesern versichern wollte, dass die Völker letzten Endes aufgrund ihrer Behandlung von Christen - z.B. gefangenen Christen - gerichtet werden. Für ihn ist der 'Gefangenenbesuch' also ein Trost für seine Gemeinde, die von Heiden schlecht behandelt wurde. Seine Vermutung geht auf die Ansicht zurück, dass die vormatthäische Tradition der Perikope Mt 25,31-46 ursprünglich universalistisch orientiert gewesen, von dem Evangelisten Matthäus aber im Hinblick auf eigene Erfahrungen mit Heiden abgeändert worden sei (Dass Matthäus seine ursprünglich 'universalistische' Tradition partikularistisch abgeändert habe, wurde bereits von Exegeten wie J. Friedrich, Gott im Bruder; D.R. Catchpole, The

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schont und mit dem ewigen Leben belohnt; haben sie aber keine barmherzige Tat vollbracht, werden sie zur ewigen Strafe weggeschickt. In der Exegese ist die Frage umstritten, wer die „geringsten Brüder" sind. Vier Möglichkeiten stehen einander gegenüber: 1) Jünger bzw. Missionare, 2) notleidende Christen, 3) alle Christen, oder 4) alle notleidenden Menschen.147 Die erstgenannte Möglichkeit basiert vor allem darauf, dass in Mt 10,42 in ähnlicher Weise von „diesen Geringen" gesprochen wird. Da es dort um wandernde Missionare bzw. Jünger geht, liege es nahe, dass in Mt 25,40 die gleiche Personengruppe im Blick ist.148 Diese Möglichkeit hat die Schwäche, dass in Mt 10,42 bzw. im dortigen Kontext den Hilfeleistenden bekannt wird, mit wem sie es zu tun haben, während in Mt 25 die Hilfeleistenden bzw. diejenigen, die keine Hilfe leisten, bis zum Gericht ahnungslos bleiben, wem sie geholfen bzw. nicht geholfen haben.149 Die Erklärung von Mt 25,31-46 durch Mt 10 ist also nicht akzeptabel. Die zweitgenannte Möglichkeit beruht darauf, dass der Evangelist Matthäus die Ausdrücke wie 'diese Geringen' (Mt 10,42), 'diese Kleinen' (Mt 18,6.10.14) und 'diese Geringsten' (25,40.45) nicht inkonsequent gebraucht haben kann. Bemüht man sich um einen gemeinsamen Sinn der Ausdrücke, dann kommt man darauf, dass es sich hier um eine bestimmte Gruppe von Christen handelt, nämlich die Armen: Ist man arm, dann liegt es nahe, dass man verschmäht und ignoriert wird, und als Folge dessen vom Glauben abfällt (Mt 18,6.10.14); und arm sind ja auch die Missionare (Mt 10,42), denn sie sind auf die Hilfeleistung der anderen ange-

Poor on Earth and the Son of Man in Heaven: a Re-appraisal of Mt xxv. 31-46, BJRL 61 (1979), 355-97 vertreten. Weitere Exegeten siehe Stanton, A New People, 216 Anm. 5). Einmal abgesehen von der Frage, ob die vormatthäische Tradition ursprünglich so 'universalistisch' orientiert war, erscheint mir fraglich, 1) wie es überhaupt zur Heidenmission kommen konnte, wenn die Erfahrungen mit Heiden so negativ geprägt waren, dass man die schlechte Behandlung durch sie zu einem wichtigen Kriterium im Endgericht machen konnte, 2) wie man dann überhaupt den eher positiven Ton des universalistisch orientierten Missionsbefehls (Mt 28,19) erklären kann - der partikularistisch orientierte Missionsbefehl (Mt 10,5f) ist dagegen mit einem negativen Ton beladen (vgl. v23: „Wenn sie euch aber in der einen Stadt verfolgen, so flieht in die nächste. Wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis der Menschensohn kommt"). 147 Eine forschungsgeschichtliche Übersichtstabelle über die vier Möglichkeiten (in den letzten 100 Jahren!) bietet J. Friedrich, Gott im Bruder, 186-189. 148 So z.B. L. Cope, Matthew XXV:31-46 „The Sheep and the Goats" reinterpreted, NT 11 (1969), 32-44, dort 41. 149 So z.B. Schnackenburg, Mt II, 25lf; Theißen, Brüder, 106.

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wiesen. 150 Diese Möglichkeit hat jedoch eine Schwäche. Sie muss rechtfertigen, warum die Ausdrücke, die in unterschiedlichen Kontexten gebraucht werden, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden müssen, obwohl sie nicht miteinander identisch sind. Die drei Ausdrücke können etwa mit 'unbedeutend' übersetzt werden, das heißt aber keineswegs, dass die drei Ausdrücke mit einer bestimmten Menschengruppe identifiziert werden können. Je nach ihrer Kontextanwendung können sie 'arm', oder 'schwach im Glauben', oder unbedeutende Jünger in der Gemeinde bedeuten. Während die beiden erstgenannten Möglichkeiten unwahrscheinlich sind, lassen sich die beiden letztgenannten Möglichkeiten als wahrscheinlich bewerten. Die drittgenannte Möglichkeit basiert vor allem auf der Bruderschaft des Königs, des Menschensohnes. Betrachtet man allein v40, dann handelt es sich bei den geringsten Brüdern um Glieder der familia dei. Da nach dem Verständnis des Evangelisten Matthäus alle mt Gemeindeglieder zur familia dei gehören, ist der geringste Bruder in erster Linie als mt Gemeindeglied zu verstehen. Verallgemeinert man dies, dann lässt sich sagen, dass es bei den geringsten Brüdern um Christen geht. 151 Dieses Bild aber ändert sich, wenn man den Vers 45 betrachtet. Dort fällt nämlich das Wort 'Bruder' aus und es steht lediglich „einer dieser Geringsten" Hält man dies für eine absichtliche Änderung (durch den Evangelisten Matthäus), dann wird man sagen müssen, dass es sich bei diesen Geringsten um notleidende Menschen - die Hungrigen, Durstigen, Fremden, Nackten, Kranken und Gefangenen -152 handelt. 153 In einer großartigen Vision wird hier das Weltgericht vorgestellt. Interessant ist dabei, dass diejenigen, die ihre barmherzigen Taten an einem der geringsten Glieder der familia dei erwiesen haben, den gleichen Status 150

So z.B. J. Lambrecht, The Parousia Discourse. Composition and Content in Mt., XXIV-XXV, in: M. Didier, L'evangile selon Matthieu. Redaction et Theologie, BEThL XXIX, Gembloux (Belgique) 1972, 309-342, dort 338. 151 So z.B. E. Lohse, Christus als der Weltenrichter, in: G. Strecker (Hg.), Jesus Christus in Historie und Theologie, FS. H. Conzelmann, Tübingen 1975, 475486, dort 482. 152 In den Geringsten notleidende Menschen zu sehen, wird z.B. von U. Wilckens, Gottes geringste Brüder, 382; Theißen, Brüder, 108f, vertreten. 153 Man kann von dieser Erkenntnis aus einen Schritt weiter gehen: Betrachtet man nämlich im Licht von v45 den Ausdruck 'diese geringsten Brüdern' in v40, dann lässt sich der betreffende Ausdruck mit 'notleidenden Menschen' definieren. Wäre dies akzeptabel, dann hätten wir hier eine potentielle Öffnung der Vorstellung der familia dei vor uns: Sind notleidende Menschen Brüder des Weltenrichters, dann ist die Schlussfolgerung möglich, dass jeder Mensch Bruder des Weltenrichters werden kann, weil die Gefahr, in Not zu geraten, jedem Menschen droht. Vgl. z.B. Schnackenburg, Mt II, 251; Theißen, Brüder, 108f.

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wie die Glieder der familia dei selbst erhalten werden: Sie werden 'Gesegnete' genannt und 'das Reich ererben' Besonders der letzte Lohn ist ein Recht, das nur die Kinder Gottes genießen dürfen. Dass ihnen dieses Recht eingeräumt wird, zeigt, dass sie zu den Kindern Gottes gezählt werden. Wir finden in Mt 25,31-46 also eine Öffnung der Vorstellung der familia dei. Die mt Gemeinde, die sich als Versammlung der Kinder Gottes und damit zur familia dei gehörig versteht, stellt sich hier vor, dass die familia dei beim Endgericht erweitert wird, und zwar durch die Aufnahme der Menschen ungeachtet ihrer Volkszugehörigkeit, die sich durch barmherzige Taten an den geringsten Glieder der jetzigen familia dei (oder an Geringen überhaupt) als gerecht erwiesen haben. 154

(6) Mt 6,26; 10,20.29 Die drei Texte Mt 6,26; 10,20.29 sind die Stellen, an denen der Evangelist Matthäus seine traditionelle Vorlage so abgeändert hat, dass im jetzigen Text die Bezeichnung von Gott als Vater auftaucht. 155 „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht euer himmlischer Vater ernährt sie doch" (Mt 6,26).

und

„Denn nicht ihr seid es, die da reden, sondern eures Vaters Geist ist es, der durch euch redet" (Mt 10,20).

154

In der Exegese wird zu Recht angenommen, dass das Gleichnis des Weltenrichters auf eine Tradition zurückgeht, die dann vom Evangelisten aufgenommen und bearbeitet wurde. Zur Beurteilung von v40, wonach die Gerechten aller Völker das Recht der Kinder Gottes erhalten werden, ist wichtig, dass Ausdrücke wie 'Gesegnete meines Vaters', das 'Erben des Reiches', das 'Zubereiten' ('Bestimmen') auf den Evangelisten zurückzufuhren sind (vgl. Schnackenburg, Mt II, 250). Das heißt, die Verleihung des neuen Status als Erben des Reiches geht wahrscheinlich auf den Evangelisten zurück. 155 Vgl. Davies/Allison, Matthew I, 650; Matthew II, 186. 208; Schnackenburg, Mt I, 94f. Gnilka hält aber den Ausdruck 'euer Vater' in Mt 10,29 fur traditionell. Siehe auch oben Anm. 76. Keine stichhaltige Begründung ist, dass die mt Lesart traditionell sei, weil die lk Lesart 'deutlich redaktionell' ist (gegen Luz, Mt II, 123 Anm. 3). Denn Matthäus könnte ja wie Lukas die Vorlage nach seinem Geschmack abgeändert haben.

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„Kauft man nicht zwei Sperlinge fur einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater" (Mt 10,29). Hinter den Abänderungen der jeweiligen Vorlage durch den Evangelisten lässt sich eine Gemeinsamkeit beobachten: Das Bild Gottes, das dort dargestellt wird, ist das Bild eines Vaters, der für seine Kinder sorgt.156 Da diese Eigenschaft in der Logienquelle zu beobachten war,157 kommen wir zu der Feststellung, dass hier wiederum die Vorstellung der familia dei aus der Logienquelle intensiviert wurde. In allen drei Fällen wird in der 2. Pers. PI. von „eurem Vater" gesprochen. Innerhalb des Textes sind die Zuhörer der Bergpredigt und die Jünger angeredet. Innerhalb der mt Gemeinde aber werden sich alle Hörer des MtEv angesprochen wissen.

Zusammenfassung Wie wir eingangs vermutet haben, stellt die Vorstellung der familia dei im MtEv eine Synthese der Vorstellungen der Logienquelle und des MkEv dar. Dabei hatte besonders die Vorstellung der Logienquelle eine große Auswirkung auf das MtEv. Die Bergpredigt, wo die Vorstellung der familia dei am häufigsten zu beobachten ist, erweist sich aufgrund der unvergleichlich großen Häufigkeit der Bezeichnung Gottes als Vater als eine Rede Jesu an die Kinder Gottes. Und die mt redaktionelle Textstelle Mt 5,16, wo die Bezeichnung Gottes als Vater und die Vorstellung der familia dei im MtEv überhaupt zum ersten Mal auftaucht, belegt, wie grundlegend der Logientext von der Feindesliebe mit seiner Vorstellung von Gott als Vater für Mt ist. Nach der mt Vorstellung der familia dei (in der Bergpredigt) sind alle mt Gemeindeglieder Kinder Gottes; darum sind sie verpflichtet, sich ihrem Status entsprechend zu verhalten; versagen sie dabei, wird ihnen ihr Lohn vom himmlischen Vater entzogen werden (Mt 6,1). Das 'Vaterbild' Gottes ist demnach im MtEv strenger als in der Logienquelle: Erst Mt verbindet ja die (auch in Q bekannten) negativen Sanktionen Gottes für Fehlverhalten ausdrücklich mit dem Vaterbegriff. Dem 156

In den beiden Textstellen von Kap. 10 erscheint Gott als Vater, der für seine verfolgten Kinder sorgt. Es ist zu vermuten, dass der Evangelist Matthäus hier mittels verschiedener Traditionen (Q=Mt 10,29; Mk=Mt 10,20) sowie mit Hilfe der Vatermetaphorik seine Gemeinde stärken will, die sich wohl in der gleichen Situation der Verfolgung befindet. 157 Siehe das zweite Kapitel.

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entspricht, dass im Unterschied zu Q die mütterliche Seite Gottes: das Werben der Weisheit um ihre widerspenstigen Kinder, bei Mt zurücktritt. Dort, wo Q von der „Weisheit" sprach, ist bei Mt von Jesus selbst die Rede (vgl. Mt 23,34). Die Intensivierung der Vatermetaphorik durch solche „vertikalen Züge" (der Überlegenheit und Transzendenz Gottes) hat zugleich eine Steigerung des Status der „Kinder" Gottes zur Folge. Diese spezifische mt Prägung der Vorstellung der familia dei ermöglicht der mt Gemeinde, sich von ihrer Umwelt abzusondern und Probleme im Verhältnis zur Umwelt zu lösen. Dies zeigt sich besonders in Mt 17,24-27. Da die mt Gemeindeglieder alle Kinder Gottes sind, können sie das Steuerproblem von dieser Perspektive aus argumentierend (Mt 17,26f) behandeln: Sie sind souverän und überlegen gegenüber irdischen Abhängigkeiten. Neben dieser Tradition aus der Logienquelle findet auch die mk Prägung der Vorstellung der famlia dei, nämlich die geschwisterliche Gemeinschaft der Kinder Gottes, ihren Niederschlag im MtEv. Mt intensiviert auch diese „horizontalen Züge" der Tradition durch den Gedanken gegenseitiger Vergebung und der Gleichheit aller Gemeindeglieder. Besonders in Mt 23,8-10 sowie Mt 18 wird deutlich, dass sich die mt Gemeinde als eine brüderliche Gemeinschaft verstanden hat, zu deren Erhaltung die brüderliche Vergebung unentbehrlich ist. Alle Gemeindeglieder sind Brüder, weil sie Gott als einzigen Vater haben. Die Intensivierung der mk Prägung der Vorstellung der familia dei in Mt 23,8-10 lässt vermuten, dass der Evangelist Matthäus mittels dieser Vorstellung alle Glieder seiner Gemeinde zusammenzuhalten versucht hat, weil in der Gemeinde das Problem der auf unterschiedlicher Abstammung beruhenden Ungleichheit virulent war. In der Regel ist die familia dei auf die christliche Gemeinde beschränkt. An einer Stelle jedoch, in Mt 25,35ff, wird die familia dei universal ausgeweitet: Alle Notleidenden gehören zu den „Brüdern" des Weltenrichters. Und alle, die ihnen helfen, gehören zu den „Gesegneten des Vaters" Diese universale Ausweitung ist möglich durch die starke ethische Ausprägung des Verständnisses der Gotteskindschafit: Gottes Söhne (und Töchter) erweisen ihren Status durch das Tun guter Werke. Sozialgeschichtlich gesehen ist die mt Gemeinde, in der die Vorstellung der familia dei lebendig war, eine Gemeinde, die wohl durch Niederlassung von Wandercharismatikern entstanden ist. Da diese Wandercharis-

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matiker die Wortüberlieferung, nämlich die Logienquelle, mitgebracht und sie in ihrer sesshaft gewordenen Situation zu verwirklichen gesucht haben, konnte sich die mt Gemeinde vom autoritären Einfluss anderer Wandercharismatiker befreien und sich ihnen gegenüber souverän behaupten. Die Intensivierung der Vorstellung der familia dei aus der Logienquelle im MtEv hängt auch mit dieser Gemeinde- und Entstehungssituation zusammen.

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Fünftes Kapitel: Die Vorstellung der familia dei im LkEv Wie der Evangelist Matthäus benutzte der Evangelist Lukas sowohl die Logienquelle als auch das MkEv als seine Quellen. Ihm lagen somit unterschiedlich geprägte Vorstellungen der familia dei aus Logienquelle 1 und MkEv 2 vor. Daher liegt die Vermutung nahe, dass uns auch im LkEv wie im MtEv eine Synthese aus diesen beiden Vorstellungen der familia dei begegnen wird. Dabei interessiert uns vor allem, wodurch sie sich von der im MtEv unterscheidet. Noch wichtiger ist die Frage, welche neuen Akzente der Evangelist Lukas bei der Vorstellung der familia dei gesetzt hat. Zu ihrer Beantwortung werden wir insbesondere die Texte, die er selbst geschaffen oder die er als Sondergut aus anderen Traditionen übernommen hat, untersuchen. Im Folgenden behandeln wir zunächst die Mk- und Q-Traditionen hinsichtlich ihrer Rezeption im LkEv. Danach wenden wir uns den Texten zu, die lk Sondergut sind (Lk 3,38; 15,11-32; 22,32).

/. Die familia-dei-Vorstellung in Traditionen der Logienquelle und des MkEv Ein allgemeines Charakteristikum der Rezeption von Traditionen der familia-dei-Vorstellung durch den Evangelisten Lukas ist, dass er fast alle Texte, die für diese Vorstellung in Logienquelle und MkEv relevant sind, in sein Evangelium aufgenommen und die aufgenommenen Texte ohne größere Abänderungen wiedergegeben hat. Darum lässt sich schon vorweg behaupten, dass Lukas hinsichtlich der Vorstellung der familia dei in Kontinuität zu seinen Traditionen steht. Wie dies im Einzelnen aussieht, werden wir im Folgenden betrachten.

(1) MkEv Die mk Texte Mk 3,31-35 und 10,28-31, die die Vorstellung der familia dei des MkEv bezeugen, begegnen beide im LkEv wieder. Mk 11,25 findet sich jedoch nicht im LkEv. Der Grund dafür ist, dass der Evangelist Lukas die ganze Perikope Mk 11,12-14 und 20-25, in die Mk 11,25 einge-

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Z.B. die Vorstellung von Gott als Vater. Z.B. die geschwisterliche Gemeinschaft.

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bettet ist, ausgelassen hat.3 Möglicherweise hat der Evangelist in der vierten Bitte des Vaterunsers die wesentliche Aussage von Mk 11,25 enthalten gesehen, so dass er den Vers nicht noch einmal an einer anderen Stelle bringen wollte.4 Wir beginnen mit dem Text, der Mk 3,31-35 wiedergibt. a) L k 8 , 1 9 - 2 1 ( M k 3 , 3 1 - 3 5 ) Im lk Text findet sich das wieder, was für die Vorstellung von der familia dei wesentlich ist: 1) Es wird berichtet, dass Jesu Mutter und Brüder 5 zu ihm wollen und draußen warten ( v i 9 ) . 2) Auf die Mitteilung, dass sie gekommen sind (v20), antwortet Jesus, indem er sagt, wer seine (wahren) Verwandten sind (v21). Es gibt allerdings Änderungen am mk Text, die m.E. an der Vorstellung der familia dei nichts ändern, deren Implikationen jedoch zu berücksichtigen sind. Von diesen Änderungen 6 sind genauer zu betrachten: 1) Mk 3,33b und 34 wurden ausgelassen. Es fehlen im lk Text die die Mitteilung des Volkes erwidernde Frage Jesu und seine Zeichenhandlung, sein Blick auf diejenigen, die 'um ihn herum saßen', mit seinem anschließenden Kommentar: „Siehe, meine Mutter und meine Brüder" 2) Mk 3,35 wird nur sinngemäß wiedergegeben: Das Tun des Willen Gottes wird mit 'Hören und Tun des Wortes Gottes' umschrieben.

3

I.H. Marshall, The Gospel of Luke. A Commentary on the Greek Text, The New International Greek Testament Commentary, Exeter 1978, 717, erklärt dies zutreffend so: „He has already related a parable which might be considered an equivalent to this dramatic parable (13:6-9), and the new material expresses the same theme." 4 Diese Annahme ist um so wahrscheinlicher, wenn man den Grund für den Ausfall von Mk 11,12-14 und 20-24 bei Lk mit Marshall in der Vermeidung des gleichen Themas sieht. 5 J.A. Fitzmyer, The Gospel According to Luke, AncB 28, New York 1981, 723f, schließt die Möglichkeit, das Wort αδελφός im Sinne von 'Verwandte' aufzufassen, nicht aus. Angesicht des vorhergehenden Wortes 'Mutter' liegt jedoch die Ansicht nahe, das betreffende Wort im Sinne von 'Bruder' zu verstehen. 6 Z.B. die Auslassung des Wortes 'Schwester' in Lk 8,21, der Mk 3,35 wiedergibt. Der Grund für diese Auslassung dürfte sein, dass in der Einleitung des ganzen Geschehens nicht von Schwestern die Rede war (Mk 3,31). Für den Evangelisten Lukas, der alles sorgfältig nachgeforscht hat (Lk 1,3), dürfte diese Unebenheit korrekturbedürftig gewesen sein.

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Durch die erste Abänderung wird der Ablauf des Geschehens kürzer. Die Ankunft der Mutter und Brüder Jesu wird mitgeteilt, und Jesus reagiert mit einem einzigen Satz. Inhaltlich bewirkt die Abänderung neben einer Abschwächung des negativen Bildes der leiblichen Familie Jesu7, dass die im mk Text vorhandene Identifizierung der unmittelbar Anwesenden mit den wahren Verwandten Jesu durch Wegfall der Wendung 'die, die um Jesus herum saßen' aufgehoben wird.8 Nach dem lk Text wird also niemand von den Anwesenden von Jesus ausdrücklich als einer seiner wahren Verwandten bezeichnet. Das bedeutet allerdings nicht, dass keiner von ihnen der wahren Familie Jesu angehört. Wer das im Vers 21 gesagte Kriterium erfüllt, wer 'das Wort Gottes hört und tut', gehört ohnehin zu ihr. Die Frage aber, wer von den damals Anwesenden der wahren Familie Jesu zu dessen Lebzeiten angehörte, interessiert den Evangelisten Lukas kaum. Darum lässt er Mk 3,34, der die damals zu Jesu Lebzeiten Anwesenden mit den wahren Verwandten Jesu identifiziert, aus.9 7

Darauf aufmerksam macht zu Recht J. Blinzler, Die Brüder und Schwestern Jesu, SBS 21, Stuttgart 1967, 88, der die Auslassung von Mk 3,20f bei Lk als Hauptargument (weil dadurch „die Verständnislosigkeit der Angehörigen Jesu nicht zu stark hervortritt") für seine Ansicht anfuhrt. Nach ihm klingt das Apophthegma über die wahren Verwandten (v21) besonders durch das Weglassen der Gegenfrage Jesu „weit weniger herb und schroff als bei Mk" H. Schürmann, Lk I, 470, schließt sich dieser Meinung an und kritisiert die Ansicht von H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit, Studien zur Theologie des Lukas, BHTh 17, Tübingen 5 1964, 42, dass Lukas mit Lk 8,19-21 die Verwandten Jesu von einer grundlegenden Funktion im Leben Jesu und damit in der Kirche ausschließen wolle. Auch F. Bovon, Lk I, 419, macht in diesem Zusammenhang die richtige Beobachtung, „dass nach der Fassung des Lukas die Möglichkeit zur Jüngerschaft für die Mutter Jesu und für seine Brüder nicht ausgeschlossen ist" 8

Das Demonstrativpronomen ούτοι kann nicht im Sinne von 'diese hier' verstanden werden (gegen C.F. Evans, Saint Luke, TPI New Testament Commentaries, Philadelphia 1990, 378, der die Übersetzung von 'diese hier, die fur möglich hält), da es vorverweisend ist. Konkret gesagt, das Pronomen bezieht sich auf die folgenden Partizipien άκούοντες sowie ποιουντες. Daher ist die Übersetzung von 'die, die hören und tun' richtig. 9 Es ist daher nicht richtig, wenn Schürmann, Lk I, 470f, durch das Wort 'draußen' in v20 angeregt, den im 'Innenraum' befindlichen Jüngerkreis mit der wahren Familie Jesu identifiziert (wörtlich: „Der Jüngerkreis Jesu - und mit ihm die Kirche ist damit als die 'Familie' Jesu bestimmt"). Der Gegensatz zwischen 'draußen' und 'drinnen' bedeutet m.E. für den Evangelisten Lukas wenig. Er ist nur für den Evangelisten Markus bedeutungsvoll (so auch Marshall, Luke, 33 lf,

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Ihm geht es nicht um die Vergangenheit, sondern um die Gegenwart, um die Frage, wer der Familie Jesu jetzt und in Zukunft angehören kann,10 Dass Lukas sich nicht fur die Vergangenheit, sondern für die Gegenwart interessiert, ändert nichts an unserer Feststellung, dass Lukas in Kontinuität zur Tradition (besonders zum MkEv) steht. Zwar sind diejenigen, 'die um Jesus herum saßen', die bei Mk die sesshaften Sympathisanten Jesu symbolisierten, als Identifikationsfiguren für Lukas und seine Gemeinde nicht mehr von Bedeutung, aber ihrem Interesse an der Gegenwart entspricht es, dass sie sich mit der wahren Familie Jesu identifizieren wollen. Während aber die mk Gemeindeglieder in 'denjenigen, die um Jesus herum saßen', ihre Identifikationsfiguren sahen und sich die mt Gemeindeglieder mit den 'Jüngern, die um Jesus herum waren' identifizierten, haben sich die lk Gemeindeglieder ohne solche konkreten Identifikationsfiguren in der überlieferten Geschichte als Angehörige der wahren Familie Jesu verstanden. Das fuhrt zur zweiten Abänderung. Sie hängt eng mit dem Interesse des Evangelisten Lukas an der Gegenwart zusammen. Lk 8,21 ist eine präzise Umschreibung dessen, was in Mk 3,35 gesagt wurde: Um 'Gottes Wille tun' zu können, muss man wissen, was der Wille Gottes ist. Darum ist es nach dem Verständnis des Lukas unentbehrlich, 'Gottes Wort zu hören' 11 Derjenige, der sein Wort gehört hat, kann es durch sein Handeln erfüllen. Diese Präzisierung von Mk 3,35 passt zum oben erwähnten Interesse des Lukas: War es dem Evangelisten wichtig, wer der Familie Jesu

der auf das Fehlen von Mk 3,20, bei Lk aufmerksam macht, woraus sich ergibt, dass Jesus im Hause ist). Das Hauptanliegen des Lukas in dieser Perikope ist vielmehr der Gegenwartsbezug. 10 An dieser Stelle ist daran zu erinnern, welche Funktion Mk 3,35 hinsichtlich des ganzen Textes einnimmt: Er nimmt vor allem die Funktion ein, das Geschehen, das sich einmalig in der Geschichte Jesu ereignete, auf die Gegenwart der Hörer zu beziehen. M.a.W., jeder Hörer bzw. Leser des Textes kann sich dank v35 als Angehöriger der Familie Jesu verstehen, wenn er das dort genannte Kriterium erfüllt. Näheres s.o. im Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei im MkEv' 11 Bovon, Lk I, 419, interpretiert das Wort 'Hören' als ein Charakteristikum der 'Wahlverwandschaft' (wahren Verwandten Jesu), das dem Wort 'Sehen' in v20, das sich auf die leiblichen Verwandten beziehe, gegenübergestellt sei. Bereits vor ihm hat Conzelmann, Mitte der Zeit, 42, in dem Wort 'Sehen' ein Charakteristikum der leiblichen Verwandten sehen wollen.

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angehören kann, dann versteht man, dass er das Kriterium dafür möglichst präzise wiedergeben will. b) Lk 18,28-30 (Mk 10,28-31) In Mk 10,28-31 ist die diesseitige Belohnung (v30) für die familia-deiVorstellung wesentlich. Denn die Belohnung 'in dieser Zeit' lässt erkennen, dass die sesshafte Gemeinschaft, die als Lohn verheißen wird, nicht nur für mobile Nachfolger Jesu eine Familie ist, sondern auch für stationäre Nachfolger. Es wäre auch schwer vorstellbar, dass eine Gemeinschaft, die nach außen hin Wandercharismatikern familiäre Beziehungen anbietet, in sich unfamiliär wäre. Gerade dieses Element von Mk 10,2831 wurde im Unterschied zu Mt (vgl. 19,27-30) im lk Text wiederaufgenommen, wenn es auch nicht betont wird, da im Unterschied zum mk Text die als diesseitige Belohnung zurückzuerstattenden Personen und Gegenstände bei Lk nicht wiederholt werden. Aus dieser Beobachtung kann man schließen, dass Lk in Übereinstimmung mit Mk seine Gemeinschaft als Familie verstanden hat. Die mk Tradition der Vorstellung der familia dei ist also auch im LkEv lebendig. Was den ganzen Wortlaut des mk Textes anbetrifft, so hat ihn der Evangelist Lukas nicht ohne Abänderungen übernommen, die jedoch in Bezug auf unser eigentliches Interesse meist von geringer Bedeutung sind.12 Genauer zu betrachten ist nur die Änderung, die Lukas in der Liste der von den Jüngern Jesu verlassenen Gegenstände und Personen vorgenommen hat. Im mk Text umfasst sie 'Haus, Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder und Äcker', während im lk Text statt 'Schwestern' 'Frau' und statt 'Mutter und Vater' 'Eltern' steht; die 'Äcker' sind ersatzlos entfallen. 13 Die Änderung von 'Mutter oder Vater' durch 'Eltern' ist fast

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Unter anderem Aspekt sind sie dagegen sehr interessant. Das gilt z.B. für die Abänderung von mk 'alles' in 'unser Eigentum' Nach J. Ernst, Lk, 505, ist sie „als eine Hervorhebung eines in seinen Augen (sc. des Lukas) besonders gefährlichen Bereiches des menschlichen Lebens" zu verstehen, nach E. Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen u.a. 1986, 190, als Bescheidenheit des Petrus, der nicht prahlen will. Von Bedeutung ist ferner die Abänderung des mk „um meinetwillen und um des Evangeliums willen" in „um des Reiches Gottes willen" (Zum Motiv dieser Abänderung siehe die Kommentare). 13 Fitzmyer, Luke, 1205, stellt die Frage, ob vielleicht die Fünfzahl in der lk Liste mit den fünf Geboten, die in 18,20 erwähnt werden, zusammenhängen könnte, ohne diese Frage zu beantworten. Sie ist eher negativ zu beantworten. Schon

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bedeutungslos, und die Auslassung von 'Äcker' lässt sich damit erklären, dass 'Äcker' dem Begriff 'Haus' 1 4 untergeordnet werden können. 15 Der Ersatz der 'Schwestern' durch 'Frau' verdient dagegen Aufmerksamkeit. 16 Was veranlasste den Evangelisten, diese Abänderung vorzunehmen? 17 Zur Beantwortung der Frage ist daran zu erinnern, dass die verlassenen Personen und Gegenstände bei Mk nicht aus der Sicht eines Nachfolgers heraus dargestellt wurden, der alles verlässt, sondern aus der Sicht eines Menschen, der sich die Situation ihrer Zuriickerstattung vorstellt. Darum stehen bei Mk 'Brüder und Schwestern' vor 'Eltern und Kindern' M.E. hat der Evangelist Lukas diese Sicht verlassen und schreibt, aus der Sicht eines Menschen, der sein Haus verlässt. 18 Es dürfte einem verheirateten Nachfolger Jesu schwergefallen sein, seine Frau und Kinder zu verlassen. allein das Gebot 'Du sollst nicht töten!' lässt sich schwer auf eine bestimmte Person auf der Liste beziehen. 14 In Anlehnung an O. Michel, TDNT V, 131, vertritt Marshall, Luke, 688, die Meinung, dass das Wort 'Haus' hier eher im Sinne von 'household' oder 'family' als im Sinne von 'a building' zu verstehen sei. Angesichts der unmittelbar vorhergehenden Rede vom 'Eigentum' (v28) ist seine Meinung jedoch schwerlich akzeptabel. 15 So z.B. Reploh, Markus, 203. 16 Marshall, Luke, 688, äußert die Vermutung, „the thought may be of renouncing the possibility of marriage rather than the breaking up of an existing marriage." Seine Vermutung wäre allerdings nur dann möglich, wenn das Wort γυναίκα nur unverheiratete Frauen meint, was aber nicht der Fall ist. Wenn es in demselben Vers um Familienangehörige geht, dann kann mit dem Wort γυναίκα nur die Frau des Verlassenden gemeint ist. Evans, Luke, 654, will in der Hinzufugung des Wortes 'Frau' den 'rigorism' des Evangelisten sehen (so ähnlich auch Bovon, Lk II, 535, der vom Radikalismus des Evangelisten spricht). Wenn man allerdings 'alles verlässt', dann muss auch die Frau des Verlassenden dazu gehören. Die Hinzufiigung des Wortes ist daher nicht als 'rigorism' zu verstehen, sondern als Präzisierung von 'alles' 17 In Bezug darauf äußert Grundmann, Das Evangelium nach Lukas, ThHK III, Berlin 1961, 355 Anm. 3, die Vermutung, dass die lk Version 'wahrscheinlich ursprünglicher' sei als die von Markus. Dies ist jedoch unbegründet. 18 Lukas könnte dadurch angeregt worden sein, dass nach der ihm vorliegenden mk Tradition Petrus ein verheirateter Mann war, der folglich bei der Nachfolge seine Frau verlassen haben müsste (Lk 4,38). Zu einem Verfasser wie Lukas, der alles sorgfältig erforscht haben will (Lk 1,3), passt insofern die Korrektur seiner Vorlage (Mk 10,29) - die Hinzufugung von 'Frau' - sehr gut.

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Darum hält der Evangelist die Nennung von 'Frau' für wichtiger als die der 'Schwestern' 19 Dass er die 'Frau' den 'Brüdern' voranstellt, ist auf denselben Grund zurückzuführen. Für unsere Erklärung spricht die Beobachtung, dass man bei der Rückerstattung schwer von Frauen reden kann, weil es kaum vorstellbar ist, dass man statt seiner verlassenen Frau 'viele Frauen' zurück erhält. Dies ist wohl auch der Grund, warum der Evangelist auf eine Wiederholung der verlassenen Personen verzichtet hat. Dass beim Aufbruch in die Nachfolge Jesu die Frau für den Evangelisten Lukas eine wichtige Familienangehörige noch vor den 'Brüdern' ist, können wir auch Lk 14,26 entnehmen. 20 „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, und dazu sich selbst, dann kann er nicht mein Jünger sein." Ein Vergleich mit Mt 10,3721 lässt erkennen, dass in der Liste der Familienangehörigen „Frau", „Brüder" und „Schwestern" nur im lk Text stehen. Nimmt man die gemeinsamen Elemente aus beiden QÜberlieferungen in Mt und Lk als ursprünglich an, dann gehen diese drei Elemente aufs Konto des Evangelisten Lukas. 22 Dabei ist ihre Stellung zu beachten. Auch hier wird „Frau" vor „Brüder und Schwestern" gestellt. Die Frage, warum der Evangelist in 14,26 das Wort 'Schwestern' hinter 'Brüder' zuließ, ist m.E. mit dem Hinweis auf die Einzelnennung der Elternteile im selben Vers zu beantworten. Hätte der Evangelist wie in Lk 18,29 statt 'Vater und Mut-

19 Marshall, Luke, 688, sieht in dem Wort αδελφοί die beiden Begriffe von 'Brüder' und 'Schwestern' impliziert. 20 Marshall, Luke, 592, lehnt es ab, hinter der Hinzufügung des Wortes 'Frau' eine Uberlegte Intention des Lukas zu sehen, und behauptet, dass die Erwähnung der 'Frau' die Verbindung mit Lk 14,20 betont. Angesichts von Lk 18,29, wo auch von einer 'Frau' die Rede ist, lässt sich diese Ansicht Marshalls nicht halten. Der Evangelist dürfte irgendein Anliegen gehabt haben, als er an zwei Stellen das Wort 'Frau' hinzufügte. M.D. Goulder, Luke. A N e w Paradigm II, JSNT.S 20, Sheffield 1989, 596, will in der Hinzufugung des Wortes 'Frau' eine asketische Tendenz bei Lk sehen (so auch Evans, Luke, 577). 21 „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert." 22 So auch Fitzmyer, Luke, 1061.1063f, und Bovon, Lk II, 535.

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ter' auch hier das Wort 'Eltern' gebraucht, so hätte er sich in 14,26 mit 'Brüdern' begnügen können.23 Was die Stellung der Elemente auf der Liste in Lk 18,29 angeht, war der Evangelist Lukas j e d o c h nicht konsequent. Denn vor die Brüder hätte er 'Eltern' und ' K i n d e r ' stellen können, da in der Situation des Verlassens zuerst an sie zu denken ist. Dass er nicht alles umgestellt hat, dürfte an seiner konservativen Tendenz liegen, Traditionen möglichst so zu bewahren, wie sie sind. Sonst hätte er die ganze Reihenfolge verändern müssen. Er dürfte sich damit zufrieden gegeben haben, ein wichtiges Element zusätzlich in die Liste eingefügt zu haben.

(2) Logienquelle Wie eingangs formuliert, finden sich die Texte, die die Vorstellung der familia dei in der Logienquelle bezeugen, alle im LkEv wieder, und zwar hinsichtlich der familia dei weitgehend unverändert. So kehren im LkEv die vier Texte wieder, die die Vorstellung von Gott als Vater in der Logienquelle bezeugen, Lk 6,27-35 und 36; 11,2-4. 9-13 und 12,22-32. Lukas könnte in seiner Vorlage einiges abgeändert haben, wie der an einigen Stellen voneinander abweichende Wortlaut der mt und lk Logientexte vermuten lässt. 24 Allerdings ändert er nichts an der Vorstellung von Gott als Vater. So begegnet auch in Lk 6,27-35 und 36 die Vorstellung von der imitatio dei. Durch N a c h a h m u n g Gottes können sich die Kinder Gottes als solche erweisen (v35); sie sollen seine Barmherzigkeit nachahmen (v36). Gott ist auch im LkEv der Vater, an den man sein Gebet richten, und den man um Brot, Vergebung und Führung 2 5 bitten darf (11,2-4). Er ist auch für die lk Gemeinde ein Vater, der für seine Kinder besser sorgt als leibliche Väter (11,9-13). Da er fur alles sorgt, brauchen seine Kinder sich um nichts zu sorgen, sondern sollen nur nach seinem Reich trachten (12,22-32). Diese Bilder von Gott, die in der Logienquelle vorlagen, gibt der Evangelist bis auf eine einzige Aus-

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Dass im lk Text im Unterschied zum mt das Wort 'Kinder' allein steht, ist darauf zurückzufuhren, dass das Wort 'Kinder' zusammen mit dem vorhergehenden „Frau" eine Zweierformel ('Frau und Kinder') bildet, ähnlich wie „Vater und Mutter" bzw. „Brüder und Schwestern" 24 Damit wird die Möglichkeit, dass die jeweilige Vorlage der beiden Evangelisten bereits voneinander unterschieden gewesen sein könnte, nicht ausgeschlossen. 25 S.o. im Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei in Q'.

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nähme unverändert wieder: In Lk 1 1,1326 ändert Lukas den Wortlaut seiner Vorlage so ab, dass die Fürsorge des Vater-Gottes vor allem darin besteht, den Heiligen Geist zu geben. Offenbar ist für den Evangelisten dessen Gabe die beste Fürsorge Gottes für seine Kinder. 27 Dass die Gabe des Heiligen Geistes die beste Fürsorge des Vater-Gottes fur seine Kinder ist, zeigt sich besonders im zweiten Teil des lk Doppelwerks, wenn auch die Begriffe 'Vater' oder 'Kinder' in den betreffenden Texten nicht auftauchen. Bereits in der Einleitung des Werkes (Apg 1,8) macht der Evangelist klar, dass die Tätigkeit der Jünger Jesu als dessen Zeugen erst nach dem Empfang des Heiligen Geistes beginnen wird. Sein Empfang ist die Voraussetzung fur das Wirken der Jünger Jesu. Dies wird im Laufe der Darstellung der Apg immer wieder bestätigt. So beginnt die Predigttätigkeit des Petrus nach dem Pfingstgeschehen (2,14ff); auch die Verkündigung der Kirche erfolgt erst, nachdem sie mit dem heiligen Geist erfüllt worden ist (4,31); ebenso erfolgt die Einsetzung von sieben Männern nach dem Kriterium, dass sie mit ihm erfüllt sind (6,3); Saul beginnt sein Wirken erst nach seinem Empfang (9,17; 13,2). Der heilige Geist führt also die Jünger Jesu und damit die Kirche28, und ohne ihn ist das Wirken der Kirche und der Christen unmöglich. Sein Empfang ist das Element, das die Kirche und die Christen als solche wirken lässt. Da aber in der Apg die Christen als Angehörige der familia dei zu verstehen sind,29 kann man schließen, dass die Angehörigen der familia dei auf die Gabe des Heiligen Geistes angewiesen sind, wenn sie als Christen wirken wollen.30 Darum ist die Gabe des Heiligen Geistes die beste Fürsorge des Vater-Gottes für seine Kinder.

Dass der Evangelist Lukas die Tradition der familia dei treu bewahrt hat, zeigt sich vor allem dort, wo die Vorstellung von Gott als Weisheit und 26

„...wieviel mehr wird der Vater im Himmel denen den heiligen Geist geben, die ihn darum bitten!" 27 Zur Bedeutung des Geistes für Lukas siehe H.-S. Kim, Die Geisttaufe des Messias. Eine kompositionsgeschichtliche Untersuchung zu einem Leitmotiv des lukanischen Doppelwerks. Ein Beitrag zur Theologie und Intention des Lukas, Studien zur klassischen Philologie 81, Frankfurt a. M. 1993. 28 Besonders deutlich wird dies in Apg 15,28, wo der Beschluss der Kirche als Beschluss des Heiligen Geistes betrachtet wird, und 13,2, wo der Heilige Geist selbst den Auftrag gibt, was die Menschen (hier Barnabas und Paulus) tun sollen. 29 Näheres s.u. bei der Behandlung von Lk 3,38 und 22,32 und beim Exkurs über die Verwendung des Wortes „Brüder" in der Apostelgeschichte. 30 Der Empfang des Heiligen Geistes ist allerdings keine Voraussetzung für den Status als Angehörige der familia dei, wie Lk 11,13 zeigt: Diejenigen, die bereits Kinder Gottes sind, dürfen danach ihren Vater um die Gabe des Heiligen Geistes bitten.

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Mutter begegnet.31 Im Unterschied zu Mt gibt Lukas den dafür entscheidenden Text Lk 7,35 unverändert wieder. Auch in Lk 11,49 bewahrt Lukas die Vorstellung der personifizierten Weisheit, während Matthäus Mt 23,34 anstelle 'der Weisheit' Jesus als Sprecher einfuhrt. Dass die Vorstellung von der Weisheit als Mutter in der Logienquelle uns erhalten blieb, verdanken wir dem Evangelisten Lukas. Als treuer Bewahrer der Tradition von der familia dei32 war der Evangelist Lukas jedoch zurückhaltend bei der Intensivierung der familia-deiTradition aus QP Während Matthäus aus Traditionsstoffen mit der Vorstellung von Gott als Vater eine zusammenhängende Rede, die Bergpredigt, machte, die als Rede Jesu an die Söhne (und Töchter) Gottes zu verstehen ist, finden wir bei Lukas nichts Vergleichbares. Zwar bietet Lukas in Lk 12,22-32 über den mit Mt gemeinsamen Stoff hinaus, einen weiteren Vers (v32)34, der die Vorstellung von Gott als Vater bezeugt. Aber dieser Vers geht nicht auf den Evangelisten Lukas, sondern auf Tradition zurück.35 Wie diese Zurückhaltung des Evangelisten Lukas im Umgang mit Q-Traditionen mit der Vorstellung von Gott als Vater zu bewerten ist, werden wir unten in einem Exkurs besprechen. Exkurs: Die lk Gemeinde im Vergleich zur mt Gemeinde Im vorigen Kapitel haben wir versucht, anhand der mt Rezeption der familia-dei-Vorstellung aus Q und Mk die mt Gemeindesituation zu bestimmen. Dabei sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass die mt Gemeinde durch Niederlassung von Wandercharismatikern, die die Worttradition Jesu (in der Logienquelle) vermittelten, entstanden sein könnte. Da auch die lk Gemeinde die Logienquelle überliefert hat, haben wir zu

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Siehe auch oben im Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei in Q' Über die lk Verarbeitung der Logienquelle fallt J. Ernst, Lk, 27, wohl zutreffend das Urteil: „Trotz zahlreicher, zum Teil eigenwilliger stilistischer Veränderungen ist Lk seinem Grundsatz, genau zu überliefern (1,3), doch treu geblieben." 33 Diese zurückhaltende Haltung des Evangelisten gilt für die Stoffe der familiadei-Tradition aus Q. Lukanische Zurückhaltung in Umgang mit der familia-deiTradition im Allgemeinen ist damit nicht gemeint. Vergleiche unten unsere Untersuchung von Lk 15,11-32. 34 „Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es hat eurem Vater gefallen, euch das Reich zu geben." 35 S.u. in dem Abschnitt II (6). 32

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fragen, ob man für die lk Gemeinde eine vergleichbare Entstehungsgeschichte annehmen kann. Die Frage ist m.E. eher negativ zu beantworten. Dieses Urteil stützt sich vor allem auf die Art und Weise, wie der Evangelist Lukas mit Traditionen der familia-dei-Vorstellung im Vergleich zu Matthäus umgegangen ist. Die Bearbeitung von Mk 3,31-35 und 10,28-31 durch Matthäus war dadurch charakterisiert, dass sie die Sicht von sesshaften Sympathisanten Jesu, die bereits an den beiden mk Texten haftete, nicht übernommen hat, sondern sie stattdessen aus der Perspektive mobiler Nachfolger wiedergab.36 Diese gegenüber Markus geänderte Sicht ist in den entsprechenden lk Texten nicht zu beobachten. Zwar werden in Lk 8,19-21 die wahren Verwandten Jesu nicht auf „diejenigen, die um Jesus herum waren", bezogen, aber auch nicht mit den 'Jüngern' identifiziert. In Lk 18,28-30 wird zwar nicht wiederholt, was man verlassen hat, jedoch wie bei Markus anerkannt, dass Aufnahme und Unterstützung in sesshaften Gemeinschaften der diesseitige Lohn für radikale Nachfolge sind. Der jenseitige Lohn für die heimatlosen Nachfolger findet sich bei Lukas in einem anderen Zusammenhang (Lk 22,28-30). Die lk Unterschiede gegenüber der mt Rezeption von Traditionen sind m.E. als Indiz dafür zu bewerten, dass die Sicht von heimatlosen Nachfolgern Jesu nicht die des Lukas ist. M.a.W die Logienquelle lag dem Evangelisten und seiner Gemeinde genauso wie das MkEv als Überlieferungsgut anderer Gruppen vor, nicht aber als eigene Tradition, wie es bei Matthäus der Fall gewesen sein dürfte. Die mt Intensivierung der Vorstellung von Gott als Vater war m.E. deswegen möglich, weil die Vorstellung von Gott als Vater mt Gemeindetradition war. Dass Lukas bei der Intensivierung dieser Vorstellung aus Q zurückhaltender ist, spricht dafür, dass sie keine lk Gemeindetradition war, m.a.W die lk Gemeinde ist wohl nicht durch Niederlassung von Wandercharismatikern in der Gemeinde entstanden.

36

S.o. im vorigen Kapitel zur betreffenden Stelle.

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II. Die familia-dei-Vorstellung im Ik Sondergut und von Lk geschaffenen Texten (1) Lk 3,38 Eine spezifisch lk Akzentsetzung bei der Vorstellung der familia dei findet sich in Lk 3,38." Dieser Vers schließt die Genealogie Jesu ab. Jesu Herkunft wird bis auf Adam und dann bis Gott hin zurück verfolgt im Unterschied zur mt Genealogie (Mt 1,1-17), die mit Abraham beginnt.38 Was unsere Aufmerksamkeit verdient, ist, dass Adam als Sohn Gottes bezeichnet wird. Nach lk Verständnis (Apg 17,26)39 stammen alle Völker auf der Welt von Adam ab. Dass dieser erste Vorfahre Sohn Gottes war, hat zur Folge,40 dass alle Menschen de facto Söhne (und Töchter) Gottes sind.41 Gerade diese Implikation von Lk 3,38 zeichnet m.E. die lk Vorstellung der familia dei aus. Im Unterschied zur Logienquelle, dem MkEv und dem MtEv sind für den Evangelisten Lukas die Söhne Gottes nicht nur die mobilen Nachfolger Jesu (wie in der Logienquelle), nicht nur die Gemeindeglieder (wie im MkEv und MtEv), sondern indirekt und implizit alle Menschen der Welt.

37

„... der war ein Sohn Adams, der war Gottes." Andere Unterschiede sind beispielsweise, dass in der Genealogie des Matthäus vier Frauen erwähnt werden, während in der lk kein Frauennamen begegnet und dass sich die Liste der Genealogie von David an in starkem Maße unterscheidet: Matthäus verfolgt Jesu Abstammung ausgehend von Salomo, während Lukas von dem anderen Sohn Davids, Nathan, ausgeht; die Personen, die in der lk Liste zwischen Nathan und Schealtiel und zwischen Serubabel und Josef (siebenunddreißig insgesamt) aufgeführt werden, sind alle fremd (vgl. B.H. Throckmorton, Art. Genealogy (Christ), IDB II, New York u.a. 1964, 362-366, dort 366). 39 „Und er hat gemacht, dass alle Völker von einem einzigen Menschen abstammen... 40 In Bezug auf diesen Vers war schon oft vom Universalismus die Rede (z.B. F. Godet, Das Evangelium des Lukas - Nachdr. d. 2. vom Verf. autorisierten dt. Ausg. Hannover 1890 -, Gießen u.a. 1986, 146; Schürmann, Lk, 201; Bovon, Lk II, 187), man hat jedoch nicht die Konsequenz gezogen, daraus die Gottessohnschaft der ganzen Menschheit zu erschließen. 41 Anders wird der Vers interpretiert von G. Petzke oder M.D. Goulder. Näheres s.u. im Exkurs und auch Anm. 49. 38

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Allerdings benutzt der Evangelist nirgends explizit den Begriff 'Söhne Gottes' für alle Menschen. Auch dort, wo er Logien aus Q wiedergibt, die die Bezeichnung von Gott als (eurem) Vater enthalten, macht er deutlich, dass Jesu Rede nicht alle Menschen, sondern nur die Jünger, d.h. Christen, meint.42 Warum war Lukas bei Ausdrücken wie 'Söhne Gottes' oder 'Gott als Vater' in Bezug auf alle Menschen so zurückhaltend? Der Grund liegt m.E. in den von ihm übernommenen Traditionen. Wie bereits oben erwähnt, sieht weder die Logienquelle noch MkEv vor, dass alle Menschen zur Familie Gottes gehören. Da Lukas beide in seinem Evangelium übernommen hat, ist es verständlich, dass er den Ausdruck 'die Söhne Gottes' nicht auf alle Menschen der Welt anwendet. Diese Erklärung führt zu der Frage, ob sich beide Konzepte der familia dei, das partikularistische und das universalistische, überhaupt vereinbaren lassen. Sie ist zu verneinen. Denn der logische Gegensatz zwischen der partikularistischen und der universalistischen Konzeption bleibt auch dann, wenn sie nur selten und zurückhaltend zur Anwendung kommt. Um so mehr stellt sich die Frage, wie der Evangelist Lukas die beiden gegensätzlichen Konzeptionen auszugleichen versucht. Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst ein Text aus der Apostelgeschichte, der einen engen Zusammenhang mit Lk 3,38 aufweist, heranzuziehen. Es ist Apg 17,22-31. Seine Nähe zu Lk 3,38 besteht darin, 1) dass hier, wie schon oben erwähnt, von einem gemeinsamen Vorfahren aller Völker die Rede ist,auch wenn der Name 'Adam' nicht fallt (v26), und 2) dass hier von der göttlichen Abstammung aller Menschen gesprochen wird (v28f)43. Aufmerksamkeit verdient besonders der Vers 30:

42

Dies geht aus den (wohl redaktionellen) Notizen des Evangelisten hervor, die im Folgenden kursiv gesetzt sindund mit denen er Texte einleitet, in denen explizit die Vorstellung von „Söhnen Gottes" vorkommt: Lk 11,1 f „Jesus verweilte einmal an einem Ort und betete. Als er aufgehört hatte, bat ihn einer seiner Jünger. Herr Er aber sagte zu ihnen (als Einleitung des Vaterunsers), Lk 12,22: „Er sprach aber zu seinen Jüngern (als Einleitung der Worte vom Nicht-Sorgen), Lk 6,20: „Und er blickte auf seine Jünger und sprach (als Einleitung der Feldrede). 43 „Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige eurer Dichter gesagt haben: Wir sind von seiner Art. Da wir nun von göttlicher Art sind...

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„Zwar hat Gott über die Zeit der Unwissenheit bisher hinweggesehen; nun aber gebietet er allen Menschen überall, Buße zu tun." Dieser Vers ist so wichtig, weil in ihm ausgesprochen wird, was alle Menschen, obwohl sie alle göttlicher Abstammung sind, in der Gegenwart zu tun haben: Buße! Was bedeutet aber das Buße-Tun für den Evangelisten Lukas? Es ist für ihn das Entscheidende, was der Mensch tun muss, der ein Jünger im weiteren Sinne (d.h. ein Christ, nicht aber ein radikaler Nachfolger im engeren Sinne) werden will. Dies geht aus Apg 2,37f hervor, wo Lukas Petrus auf die Frage von Umkehrwilligen antworten lässt: „Als sie aber das hörten, ging's ihnen durchs Herz, und sie sagten zu Petrus und den anderen Aposteln: Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun? Petrus antwortet ihnen: Tut Buße, und ein jeder lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr die Gabe des heiligen Geistes empfangen." Das Buße-Tun hat nach lk Verständnis nicht nur für die Juden diese Bedeutung, sondern auch für die Heiden und damit für alle Menschen, wie Apg 11,18 erkennen lässt: „Als sie das hörten, verstummten sie, lobten Gott und sprachen: So hat Gott auch den Heiden die Umkehr geschenkt, die zum Leben führt." Versuchen wir nun, anhand dieser Erkenntnis die beiden (lk) Konzeptionen der familia dei zu harmonisieren, dann gelangt man zu vier Feststellungen: 1) Alle Menschen der Welt sind im Grunde Söhne Gottes (Lk 3,38; Apg 17,28f), ohne dass sie explizit so genannt werden. 2) Sie haben alle Buße zu tun (Apg 17,30).44 3) Christen sind diejenigen, die Buße getan haben (Apg 2,38). 4) Es werden nur die Jünger Jesu (die Christen) explizit Söhne Gottes genannt (z.B. Lk 6,35). Aus 1) - 4) ist zu folgern, dass alle Menschen der Welt zwar Söhne Gottes sind, aber explizit so nur genannt werden können, wenn sie vorher Buße getan haben. 44

Siehe auch unten Anm. 45.

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Die Buße ist also der Schlüssel zur Aufhebung des offensichtlichen Gegensatzes zwischen der partikularistischen und der universalistischen Konzeption der familia dei im LkEv. Solange der Evangelist sie als Grundanforderung an alle Menschen beibehält, kann er alle Menschen als Söhne Gottes betrachten und zugleich nur Christen explizit als solche bezeichnen. 45 Dieses Verständnis von der Vorstellung der familia dei spiegelt sich übrigens auch in Lk 15,11-32 wider, einem Text, den wir im nächsten Abschnitt untersuchen werden. Vorher ist jedoch in einem Exkurs zu fragen: Woher kommt die universale Konzeption der Vorstellung der familia dei im LkEv? Was ist der soziohistorische Hintergrund dieser universalen Konzeption?

Exkurs: Die Herkunft der universalen Konzeption der familiadei-Vorstellung im LkEv Zur Beantwortung der gestellten Frage sind die beiden Texte Lk 3,38 und Apg 17,22-31 noch einmal heranzuziehen. Ausgangspunkt ist die Beo45

J.-W. Taeger, Paulus und Lukas über den Menschen, ZNW 71 (1980), 96-108, hat Recht, wenn er das Menschenbild des Evangelisten Lukas mit dem Stichwort des (homo) 'corrigendus' bezeichnet (104). Der Text Apg 17,27ff ist dabei für ihn die Basis seiner Ansicht: „Das (sc. Gottesverwandtschaft) ist die unverlierbare Würde des Menschen; unter diesem Gesichtspunkt sind nun wirklich alle gleich, der Jude hat dem Heiden nichts mehr voraus Mit dem Leben ist dem Menschen zugleich eine Gottesbeziehung gegeben, auf die hin er angesprochen und bei der er behaftet werden kann" (105). Allerdings ist Taeger zu korrigieren, wenn er behauptet, Buße brauche nicht von allen Menschen gefordert zu werden, weil es neben den Sündern auch Gerechte (Lk 5,32) gebe (103). Gegen seine Behauptung spricht: 1) In Apg 17,30 wird unmissverständlich gesagt, dass Gott allen Menschen überall gebietet, Buße zu tun. Der Vers lässt keine Ausnahme zu. 2) Die Aussage in Lk 5,32 ist eher ironisch zu verstehen. Ihre Pointe liegt nicht darin, dass es einige Gerechte gibt, die nicht gerufen zu werden brauchen, sondern darauf, dass Jesus zur Berufung der Sünder gekommen ist. Da sich das Wort 'Gerechte' im Kontext auf die Pharisäer und Schriftgelehrten bezieht, aber Jesus keineswegs gemeint haben kann, dass sie Gerechte seien, ist zu folgern, dass die Aussage über die 99 Gerechten für den Evangelisten keine Feststellung über die Existenz von Gerechten ist. Selbst das Beispiel des Kornelius, das Taeger anführt, um zu zeigen, dass Buße nicht für alle notwendig sei, beweist genau das Gegenteil: In Apg 11,18, wo die Aufnahme des Kornelius unter die Gläubigen in Jerusalem anerkannt wird, wird festgestellt, dass „Gott auch den Heiden die Umkehr geschenkt hat" Der Evangelist hat offenbar den Empfang des heiligen Geistes durch Kornelius als dessen Umkehr verstanden.

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bachtung, dass in der universalen Konzeption die alttestamentliche Schöpfungsgeschichte, die Schöpfung des ersten Menschen Adam, eine grundlegende Rolle spielt. Dass alle Menschen von ihm abstammen, war die Voraussetzung der universalen Konzeption von Lk 3,38. Von der Schöpfung ist auch in Apg 17,24f die Rede: „Gott, der die Welt geschaffen hat und alles, was darin ist, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Auch lässt er sich nicht von Menschenhänden bedienen, als ob er irgend etwas nötig hätte, während er doch selber allen Wesen Leben und Odem und alles gibt." Dass alle Menschen von göttlicher Art sind (Apg 17,29), hat Lk zwar aus paganen hellenistischen Traditionen übernommen, ist aber auch auf die alttestamentliche Schöpfungsgeschichte zurückzuführen. 46 Die Schöpfung des Menschen erfolgt ja auch hier nach dem Bild Gottes (Gen 1,27).47 Dass Adam als Sohn Gottes aufgefasst wird, ist der alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte allerdings nicht zu entnehmen. In Gen 6,2 und 4 findet sich zwar der Ausdruck 'Söhne Gottes' (Cn^Kn - · 1 ??), jedoch ist er das Gegenstück zu den 'Töchtern der Menschen' (CIKH ΓΛ3Ξ), das heißt, es fehlt der universale Gedanke, weil der Ausdruck 'Söhne Gottes' zur Unterscheidung von Kindern der Menschen dient. Es ist also neu, dass man aus dem Schöpfungsakt Gottes seine Vaterschaft gegenüber dem Menschen als Geschöpf erschlossen hat. So bleibt die Frage nach der Herkunft der universalen Gottessohnschaft noch unbeantwortet. Geht sie auf den Evangelisten Lukas zurück oder auf eine Tradition, die er übernahm? Zur Beantwortung dieser Frage betrachten wir den Kontext, in dem der universale Gedanke in Lk 3,38 46

Es ist wahrscheinlich, dass wir es in Apg 17,28f mit hellenistischen Traditionen zu tun haben. Stoische Tradition liegt in v28a vor, einem Zitat aus den Phaenomena des Dichters Aratus (Näheres bei H. Hommel, Platonisches bei Lukas. Zu Act 17,28a (Leben Bewegung Sein), ZNW 48 (1957), 193-200). Es ist aber nicht zu übersehen, dass der Evangelist Lukas diese Traditionen alttestamentlich, d.h. 'schöpfungstheologisch', gedeutet haben will (vgl. J. Roloff, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Göttingen 1981, 264). 47 Darauf machen auch Thompson, The Gospel according to Luke in the Revised Standard Version, Oxford 1972, 85, und Schürmann, Lk I, 202, aufmerksam.

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begegnet. An sich ist er keine Hauptaussage des lk Textes, sondern eine Implikation, die sich aus der Genealogie Jesu ergibt. Es fragt sich daher, warum Lk diese Genealogie bringt. Der direkte Anlass ist die Proklamation vom Himmel, dass Jesus der geliebte Sohn Gottes sei (Lk 3,22). Der Evangelist Lukas dürfte sie zum Anlass genommen haben, die wohl bekannte 48 Genealogie Jesu einzuführen. Es ist jedoch keinesfalls seine Absicht, die Gottessohnschaft Jesu mit Hilfe der Genealogie zu begründen. 49 Denn in diesem Fall geriete er in die Schwierigkeit, den Unterschied Jesu von allen anderen Vorfahren klarzumachen. Die Proklamation vom Himmel war für den Evangelisten ausreichend, um die Gottessohnschaft Jesu zu behaupten. Für den Evangelisten war Jesus j a schon durch Geburt Sohn Gottes, wie es sich aus Lk 1,32. 50 35 51 oder 2,49 52 ergibt. Welche Intention verfolgt Lukas dann aber mit der Einfuhrung der Genealogie? Zwei Dinge sind m.E. zur Beantwortung der Frage zu berücksichtigen: 1) Dass die Genealogie bis auf den allerersten

48

Siehe den Satz in v23 „man hielt Jesus für einen Sohn Josefs" So richtig D.F. Hauck, Das Evangelium des Lukas (Synoptiker II), ThHK III, Leipzig 1934, 58: „Die Verbindung mit Gott (του θεου) soll nicht Jesu Gottessohnschaft über die Adams genealogisch hinauffuhren"; auch Schürmann, Lk I, 202 Anm. 103: „Die Gottessohnschaft Jesu (3,22) sieht Luk gewiß nicht in solcher Verwurzelung der Menschheitsgeschichte in Gott begründet." Dagegen äußert G. Petzke, Das Sondergut des Evangeliums nach Lukas, ZWKB, Zürich 1990, 74, die Ansicht: „Die Auslegung der Rückführung auf Gott ist umstritten. Ein Teil der Ausleger will eine - allerdings sehr weitgefaßte - Parenthese sehen und diese Gottessohnschaft nur auf Jesus beziehen. Viel näher liegt es jedoch, diesen Text so zu verstehen, dass hier ganz unpretentiös die Abstammung Jesu von Gott festgestellt wird. Allerdings dem Fleisch nach, wie es Rom 1,3 formuliert und nicht als eine besondere Auszeichnung. Jesus ist dadurch mit allen Menschen verbunden." Ebenso Goulder, Luke I, 283: „Luke's intention is clear, though. Jesus was really God's Son (1-2), and has now been assured that this is so (3,21f.); but people thought (ώς ένομίζετο) that he was Joseph's son (cf. 4,22). However, if the line is run back all the way, it can be seen that in the end Jesus is God's 'son' in this way too, for it can be taken back to Adam who was the son of God." Ahnlich auch Fitzmyer, Luke, 504. 49

50 51

„Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden darum wird auch das Kind heilig genannt werden und Gottes Sohn." „... Wisst ihr nicht, dass ich im Hause meines Vaters sein muss?"

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Vorfahren, Adam, zurückgeht. 2) Dass dieser Vorfahre wie Jesus als Sohn Gottes dargestellt wird. Dass die lk Genealogie bis auf die allerersten Vorfahren zurückgeht, bedeutet m.E., dass der Evangelist die ganze Menschheit im Blick hat.53 Ihn interessiert, welche Konsequenz die Proklamation, dass Jesus Gottes geliebter Sohn ist, für die ganze Menschheit hat.54 Die Antwort gibt er in v38: Alle Menschen werden durch das Geschehen ebenfalls in einem noch zu klärenden Sinn zu Söhnen Gottes.55 Dass v38 inhaltlich eine Analogie zu v22 darstellt - so dass die Genealogie mit Jesus nach dessen Proklamation als Sohn Gottes beginnt und damit schließt, dass der allererste Vorfahre (auch) Sohn Gottes war -,56 unterstützt diese Schlussfolgerung. Das Fazit lautet also: Die Intention des Evangelisten ist es, mit der Genealogie Jesu darzustellen, dass durch die Proklamation Jesu als Sohn Gottes auch alle Menschen in irgendeiner Weise zu Söhnen Gottes geworden sind.57 Stellen wir angesichts dieser Erkenntnis wieder unsere Frage nach der Herkunft der universalen Vorstellung der familia dei, dann gelangen wir zu folgender Antwort: Ist die Aussage in v38, dass Adam Sohn Gottes 53

Ebenso Hauck, Lk, 58, der so formuliert: „Während Mt Jesu Bedeutung für das Volk Israel aufweist (Stammvater Abraham), zeigt Lk, der Heidenchrist, seine menschheitliche Bedeutung." 54 Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass Lukas hier Jesus als zweiten Adam darstellen wollte (wie einige Exegeten behaupten: Hauck, Lk, 58, Marshall, Luke, 161, der darüber hinaus in Jesus den 'obedient son' und in Adam den 'disobedient son' sehen möchte). D.M. Johnson, The Purpose of the Biblical Genealogies (with Special Reference to the Setting of the Genealogies of Jesus), Cambridge 1969, 233-235, hat dagegen richtig argumentiert, dass die AdamChristus-Typologie in der lk Theologie keine Rolle spielt. Die Deutung Jesu als zweiter Adam ist ein unproduktiver Versuch, von Paulus her den lk Text zu lesen (ebenso Fitzmyer, Luke, 498; Schürmann, Lk I, 202). 55 Schweizer, Lk, 52, drückt dies so aus: „In diesem nach Alter und Herkunft als Mensch Beschriebenen, der Gottes Geschichte an Israel erfüllt, kommt die Gottessohnschaft Adams in ganz neuer Weise durch Gottes Geist zu ihrem Ziel und holt die gesamte Menschheit zu Gott zwri/cÄ."(Hervorhebung von mir). 56 So auch Hauck, Lk, 58: „Beider Gottverbindung ist mehr analogisch gedacht." 57 Dies wird m.E. dann leichter verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie heutzutage ein Mensch nachträglich verherrlicht wird, wenn er sich bereits Macht und Ruhm erworben hat: Seine Vorfahren werden ans Licht der Öffentlichkeit gezogen und als vorbildhaft dargestellt.

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sei, durch die Proklamation Jesu als Sohn Gottes in v22 angeregt, so ist auch der universale Gedanke auf Jesu Gottessohnschaft zurückzufuhren. Entsprechend gilt, dass der Sprung vom alttestamentlichen Schöpfungsgedanken zum Gedanken der Vaterschaft Gottes bei der Schöpfung möglich ist, weil Jesus Sohn Gottes ist. Da der enge Zusammenhang zwischen v22 und v38 auf den Evangelisten zurückgeht, ist der Evangelist selbst für diesen Sprung vom alttestamentlichen Schöpfungsgedanken zum universalen Gedanken 58 der Vaterschaft Gottes verantwortlich. Diese Antwort fuhrt uns zu der weiteren Frage nach dem sozialgeschichtlichen Hintergrund der universalistischen Konzeption des Evangelisten Lukas. Was veranlasste ihn, angesichts der Proklamation Jesu als Sohn Gottes deren Auswirkung auf die ganze Menschheit herauszustellen? Die Frage lässt sich leicht beantworten: Es ist sein Interesse an der ganzen Menschheit. Zwei Stellen zeigen, was der Evangelist Lukas von ihr erwartet. Die eine Stelle ist Lk 24,47: 59 dass in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden gepredigt wird unter allen Völkern - angefangen mit Jerusalem." Es ist das Wort des Auferstandenen, das besagt, was seine Jünger fortan zu tun haben. Sie sollen in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden predigen, und zwar unter allen Völkern! Der Evangelist verlangt, dass alle Menschen Buße tun und Christen werden, anders ausgedrückt, dass sie missioniert werden. Die zweite Stelle beinhaltet dasselbe. Es ist Apg 17,30, die Stelle, die wir bereits oben betrachtet haben. Der Evangelist bringt dort zum Ausdruck, was Gott von allen Menschen will: dass sie Buße tun, damit sie dem Endgericht entkommen (v31). Der Sitz im Leben der universalistischen Sohn-Gottes-Vorstellung ist also die Heidenmission: die Erfahrung, dass eine aus dem Judentum kommende Gruppe Menschen aus allen Völkern anspricht und anzieht. 58

Zum lk Universalismus siehe auch Fitzmyer, Luke, 187-192. Dass in Lk 24,47 lk Interesse sichtbar ist, vermutet schon E. Hirsch, Die Frühgeschichte des Evangeliums, Buch 2, Tübingen 1941, 281: „Die leichte Übereinstimmung dieser Stelle mit einem Vers gegen Schluss des Matth-Evangeliums (Matth 28,19) legt die Vermutung nahe, dass hier Luk selbst etwas aus anderer Vorlage in Lu II eingefugt hat." 59

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(2) Lk 2,41-52 Beruht die Universalität der familia dei bei Lk darauf, dass Jesus Sohn Gottes ist, so ist sie bereits in der Kindheitsgeschichte 'ansatzweise' zu beobachten. Gemeint ist die Perikope, die 'Jesus im Tempel' genannt wird. Eine ihrer Besonderheiten ist die Häufung der Eltern-KindBezeichnungen. Insgesamt tauchen sie in dieser Perikope 8mal auf: in v41 (Eltern γ ο ν ε ί ς ) , v43 (Kind π α ι ς , Eltern), v48 (Mutter, Kind τ έ κ ν α , Vater), v49 (Vater) und v51 (Mutter). Durch diese Häufung wird zunächst unterstrichen, dass Josef und Maria (Lk 1,27) die irdischen Eltern Jesu sind und Jesus ihr Kind ist. Dies ist zwar trivial, aber wenn man den Text genauer ansieht, scheint das beabsichtigt zu sein. Dies zeigt sich besonders dort, wo die Eltern-Kind-Bezeichnungen zur Darstellung des Geschichtsablaufs nicht notwendig, j a überflüssig sind: Gemeint sind v43 und v48. Die Bezeichnung Jesu als Attribut 'ihr Kind' ist in v43 nicht notwendig. Denn jeder Leser weiß Bescheid, dass es sich um den Sohn der den Tempel in Jerusalem besuchenden Eltern handelt. Genauso sind die Anrede Marias an Jesus mit 'mein Kind' (v48) und ihre Erwähnung des Vaters als 'dein Vater' (v48) zu beurteilen, hätte Maria doch statt 'mein Kind' 'Jesus' und statt 'dein Vater und ich' 'wir' sagen können.

Worauf zielt diese Hervorhebung der Eltern-Kind-Beziehung? Die Antwort findet sich in v49, wo Jesus den Grund für sein Bleiben im Tempel Jerusalems erklärt: Er muss im Haus 'seines Vaters' sein! Durch v49 wird der irdischen Elternschaft betont die himmlische Vaterschaft entgegengesetzt. Die Intention dabei ist klar: Jesus ist zwar Kind irdischer Eltern, aber eigentlich das Kind des himmlischen Vaters. Durch diese Geschichte werden die irdischen Eltern relativiert. Das erinnert an Mk 3,31-35, wo die irdische Mutter Jesu sogar abgelehnt wird. Interessant ist dabei, dass in Lk 2,4Iff die Relativierung zugunsten der himmlischen Vaterschaft geschieht, während sie in Mk 3,3 Iff zugunsten der neuen „irdischen" Verwandtschaft betont wird, ohne dass die himmlische Vaterschaft in den Vordergrund rückt. Unser Fazit ist: Für die lk familia-dei-Vorstellung ist die Gottessohnschaft Jesu ein wichtiges Element. Für Lukas war sie die Grundlage für seine universale Konzeption; durch die Proklamation Jesu als Sohn Gottes werden alle Menschen zu Söhnen Gottes. Darum ist die Hervorhebung der himmlischen Vaterschaft zulasten der irdischen Elternschaft in Lk 2,41-52 verständlich.

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(3) Lk 15,11-32 In Lk 15,11-32 häufen sich die für unser Thema relevanten Bezeichnungen, 'Vater', 'Sohn', 'Bruder' So taucht das Wort 'Vater' (πατήρ) zwölfmal 60 auf und das Wort 'Sohn' (υίός) achtmal 61 wenn man das griechische Wort 'Kind' (τέκνον) 6 2 mitzählt, neunmal. Außerdem begegnet zweimal das Wort 'Bruder' 6 3 Dieser Text ist für unser Thema wichtig, weil in ihm das Verhältnis zwischen Gott und Mensch mit der Vater-Sohn-Metapher dargestellt wird. Zwar ist neben dem Vater noch vom Himmel, der als Umschreibung für Gott verstanden werden kann, die Rede ( w 18 und 21); daher könnte man meinen, eine Interpretation des Vaters als Gott werde dem Text nicht ganz gerecht. 64 Jedoch lässt sich diese Interpretation durchaus vertreten, wenn man bedenkt, dass nicht jedes Element in der Bildhälfte eines Gleichnisses einen Bezug in der Sachhälfte haben muss. Man braucht daher nicht unbedingt eine Erklärung dafür zu geben, was 'dem Himmel' in der Geschichte entspricht. Es genügt, dass sich die Erwähnung des Himmels in den Bekenntnissen des Sohnes auf der erzählerischen Ebene gut verstehen lässt. Wir dürfen also in dem Vater der Geschichte das Bild Gottes sehen.65

60

V v l 2 (2mal).17.18 (2mal).20 (2mal).21.22.27.28.29. Vvl 1.13.19.21 (2mal).24.25.30. 62 V31. 63 Vv27.32. 64 Vgl. C.F. Evans, Luke, 589: „The weakness of this interpretation is that while the father may be referred to in terms indicating that he is an image of God ..., the picture is inevitably blurred when God is referred to the parable alongside but in 61

distinction from the father, in Father, 1 have sinned against heaven

and before

you Ebenso W. Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, UTB 1343, Göttingen 1985, 204, „Die ausdrückliche „Nennung Gottes schützt die Figur des Vaters" nicht nur „vor falscher Allegorisierung", wie R. Pesch meint, sondern widerrät jedem Versuch, den Vater in irgendeiner Weise symbolisch auf Gott zu beziehen." Unverständlicherweise räumt Harnisch aber an anderer Stelle die Wahrscheinlichkeit dieser Deutung ein: „Aufgrund dieser vom Kontext eröffneten Interferenz ist es naheliegend, den Vater trotz der in der Erzählung selbst angebrachten Kautelen als symbolischen Repräsentanten Gottes zu deuten" (ebd., 229). 65 Es ist daher richtig, dass die Exegeten wie Schweizer, Lk, 165, von Gott als Vater sprechen: „Das Gleichnis erzählt vom Vater ... und lässt damit Gott Wirklichkeit werden."

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Worum geht es in dem Gleichnis? Zwei auffällige Wiederholungen lassen erkennen, worauf der Akzent liegt: 1) Das Bekenntnis des jüngeren Sohnes wird in vvl8f und 21 wiederholt: „... Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße " (vi 8f). 2) Die Aussage des Vaters über diesen Sohn wird in vv24 und 32 wiederholt: „Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wiedergefunden worden " (v24). Nimmt man beide Wiederholungen zusammen, dann ergibt sich folgender Erzählfaden: Ein Sohn hat gegen den Vater gesündigt, so dass er nicht mehr sein Sohn genannt werden kann, er räumt alles ein, indem er seine Schuld bekennt. Der Vater nimmt ihn trotz allem als seinen Sohn wieder auf, indem er alles vergibt. Die Pointe dieser Geschichte ist die Umkehr eines sündigen Sohnes und seine Aufnahme durch seinen liebenden Vater. Sie entfaltet ein wichtiges Thema des Evangelisten Lukas, die Buße.66 Unsere besondere Aufmerksamkeit verdient die Beobachtung, dass der Sohn durch Buße seine Sohnschaft wiedergewinnt. 67 Zwar wird nirgends ausdrücklich gesagt, dass er sie verloren hat, es wird aber in der Geschichte implizit dargestellt: zunächst dadurch, dass der Sohn von seinem Vater den ihm zustehenden Anteil am Erbe verlangt und ihn sich auszahlen lässt. Nach dem damaligen Recht ist dieser Akt eine sogenannte 'Abschichtung' 6 8 Das heißt: Der Anteil des (jüngeren) Sohnes am Vermögen des Vaters wird noch zu dessen Lebzeiten ausgezahlt, bei gleichzeitigem Verlust seines Erbrechtes. 69 Rechtlich gesehen hat der jüngere Sohn keinen Anspruch mehr als Sohn des Vaters. Seine Sohnschaft ist faktisch in dem Moment verloren gegangen, als sein Verlangen nach Auszahlung seines Erbes von seinem Vater akzeptiert wurde. Der Verlust seiner Sohnschaft wird dem Leser bzw. Hörer von Anfang der Geschichte an 66

S.u. im Abschnitt über die Buße im lk Doppelwerk. Zur Bedeutung der Buße fur die Wiedergewinnung der Sohnschaft s.u. im Abschnitt über die Buße. 68 Vgl. L. Schottroff, Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, ZThK 68 (1971), 2752, dort 40 Anm. 54, mit Verweis auf Daube, Yaron, Jeremias. Vgl. ferner W Pöhlmann, Die Abschichtung des Verlorenen Sohnes (Lk 15,12f) und die erzählte Welt der Parabel, ZNW 70 (1979), 194-213, der mit vielen Belegen nachweist, dass die Rechtspraxis der Abschichtung vorausgesetzt ist. 69 Vgl. Schottroff, Gleichnis, 40. 67

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implizit dargestellt. Schuld daran hat der Sohn selbst. 7 0 D a s räumt er selbst ein, w e n n er zur Einsicht k o m m t , dass er nicht m e h r wert sei, Sohn seines Vaters genannt zu werden. Es ist buchstäblich ein Bekenntnis 7 1 : D e r Sohn erkennt an, w a s er selber verursacht hat - die A u f g a b e und den Verlust der S o h n s c h a f t ! 7 2 Schließlich erkennt man an der A u s s a g e des Vaters den faktischen Verlust der S o h n s c h a f t des j ü n g e r e n Sohnes. Z w e i Mal sagt er, dass dieser Sohn ' t o t ' und ' v e r l o r e n ' war. Es ist sicher nicht richtig, w e n n m a n herausliest, dass er die H o f f n u n g auf die R ü c k k e h r des S o h n e s a u f g e g e b e n hat. Schon, dass der Vater seinen Sohn von w e i t e m sieht (v20), zeigt, dass er noch auf ihn wartete. Nein, der Vater hatte n o c h H o f f n u n g a u f seine Rückkehr, und f u r ihn w a r dieser Sohn noch sein Sohn. W a s er in v24 und v32 sagt, ist eine faktische Feststellung, die im W i e d e r s p r u c h zu seiner H o f f n u n g stand. N a c h einem d a m a l s gängigen Rechtsverständnis ist derjenige, der sich von seiner Familie getrennt hat, fiir die Familie

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Anders bei E. Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einfuhrung und Auslegung, Göttingen 4 1966, 79f.l53f Anm. 2, die das Verlangen des jüngeren Sohnes als 'Bitte', die 'nichts Ungewöhnliches' sei, interpretiert. W. Pöhlmann, Abschichtung, 200f, will die Forderung des jüngeren Sohnes nicht als rebellisch bzw. abtrünnig bezeichnen. Ihm zufolge ist der Wunsch des Sohnes für Juden und Griechen aus ihren verschiedenen Rechtsordnungen heraus gleichermaßen verständlich und akzeptabel. An beide Exegeten ist jedoch die Frage zu richten, welcher von den vielen Belegen, die sie anfuhren, um die Normalität des Wunsches des jüngeren Sohnes zu zeigen, einen Rechtsfall berücksichtigt, in dem die Abschichtung auf die Initiative der zum Erbe berechtigten Person (in unserem Fall des jüngeren Sohnes) erfolgt. Weder jüdische noch griechische Texte belegen einen solchen Rechtsfall, wie wir ihn in Lk 15,12f finden. Die Initiative des jüngeren Sohnes lässt sich daher keineswegs als 'nichts Ungewöhnliches' oder als 'verständlich und akzeptabel' bezeichnen. 71

Dafür spricht auch die Erklärung von J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 1965, 129f, dass der Ausdruck εις εαυτόν δέ έλθώνίη ν17 im Hebräischen und Aramäischen für 'Buße tun' steht. 72 Ähnlich auch Rengstorf, Die Re-Investitur des Verlorenen Sohnes in der Gleichniserzählung Jesu Luk. 15,11-32, AFLNW 137 (1967), 26: „Genau das ist auch in unserer Erzählung vorausgesetzt; denn hier ist der 'verlorene' Sohn ausdrücklich bereit, sich genau damit abzufinden, sofern er nur wieder in den Bereich seines Vaters zurückkehren kann. Sagt er doch, in seinem Elend zu Umkehr und Heimkehr willig geworden, in Gedanken zu seinem Vater: 'Ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn genannt zu werden!'"

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'verloren' 73 Dieser Sohn gehört nach diesem Verständnis nicht mehr zur Familie, er ist fiir sie kein Sohn mehr. 74 Wie gesehen, wird der Verlust der Sohnschaft des jüngeren Sohnes in der Geschichte implizit dargestellt. Dieser Verlust wird durch die feierliche 73

Es handelt sich um 'kesasah' (vgl. Rengstorf, Re-Investitur, 2Iff). Mit Rengstorfs eigener Beschreibung heißt es: „Dieser Akt ist von einer Art, dass eine bisherige Bindung oder Gemeinschaft durch ihn ein radikales Ende findet und dass infolgedessen eine persönliche Isolierung des Betroffenen eintritt, die unter allen Umständen zu einer sehr spürbaren Veränderung in seinem Status führt" (22). „Besonders wichtig ist hier eine Stelle der Tosefta, nach der 'ein Sohn, der geteilt hat, wie irgendeiner von allen anderen Menschen ist', das heißt wie ein beliebiger Mensch, mit dem man nichts weiter zu tun hat" (25). Somit ist anzunehmen, dass hinter Lk 15,12f zwei Rechtsfalle zu sehen sind: eine Abschichtung und eine Abtrennung (kesasah). 74 Anders bei E. Linnemann, Gleichnisse, 79-87 und 153-156, die in der verschwenderischen Lebensführung des jüngeren Sohnes und deren Folge der Arbeit als Schweinehüter - das Verlorensein des jüngeren Sohnes sehen möchte (ähnlich Grundmann, Lk, 312: „Seine Sünde besteht in der Untreue gegenüber dem ihm vom Vater zum Leben anvertrauten Gut "). Ihr ist entgegenzusetzen, dass nicht eine geänderte, ordentliche und vorbildhafte Lebensführung, also das Gegenteil seiner früheren Lebensführung, Grund fur das 'Wiedergefunden-sein' bzw. 'Wieder-lebendig-geworden-sein' ist, sondern allein die 'Rückkehr' des Sohnes zu seinem Vater. Das 'Verloren- und Totsein' (vv24. 32) besteht also darin, dass der jüngere Sohn von sich aus den Sohnstatus aufgegeben (vi2) und sich von der Familie abgetrennt (vi3) hat (ebenfalls gegen H. Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, FRLANT 120, Göttingen 1978, 258 Anm. 68, der sich etwas anders äußert: „Die Verlorenheit des Sohnes besteht also nicht in seiner religiösen oder moralischen Schuld, sondern darin, dass er vor dem Nichtsein steht."). Für unsere Erklärung sprechen noch zwei Indizien: 1) Der Sohn erinnert sich in seiner Not an das Vaterhaus, in dem sogar die Tagelöhner genügend zu essen haben. Diese Erinnerung des Sohnes deutet darauf hin, dass er sich nach Verbindung mit seinem Vater sehnt und seine Entscheidung, sich vom Vater abzutrennen und in die Fremde zu gehen, töricht und falsch findet (ähnlich auch O. Hofius, Alttestamentliche Motive im Gleichnis vom verlorenen Sohn, NTS 24 (1977/1978), 240-248, dort 240f). 2) Der Vater überredet den älteren Sohn, der seine Bitte um Teilnahme an der Feier ablehnt, mit den Worten: „Mein Sohn, du bist immer bei mir " Gerade dieser erste Satz steht im Gegensatz zu der Aussage des Vaters Uber den jüngeren Sohn: „denn dieser dein Bruder war tot er war verloren Aus diesem Gegensatz ist zu folgern, dass die Abtrennung des jüngeren Sohnes von seinem Vater der Grund für sein Tot- und Verlorensein ist.

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Aufnahme des Sohnes durch den Vater wiedergutgemacht. Der Vater gibt dem 'verlorenen' Sohn Kleidung75, Ring76, Schuhe77 und damit einen Status, der nicht einem Bettler, als welcher der Sohn zurückkehrte, sondern einem Sohn zusteht. Darüber hinaus erklärt der Vater ihn vor seinen Dienern wieder zu seinem Sohn (v24: „Denn dieser mein Sohn ") und macht dies durch die Feier öffentlich klar.78 Die verlorene Sohnschaft wird dem Sohn also von seinem Vater ohne Vorbehalt wieder gewährt. Dieses Bild erinnert an das, was wir in Bezug auf die universale Konzeption der familia dei festgestellt haben: Alle Menschen sind im Grunde Söhne Gottes, sie müssen jedoch Buße tun, damit sie tatsächlich als solche anerkannt und bezeichnet werden können. Dass die Wiederanerken-

75

Weder, Die Gleichnisse, 256 Anm. 54, äußert die Ansicht, dass es sich hier wohl nicht um ein Feiergewand handele, sondern um das Gewand, das der Sohn als er noch zu Hause war - zu tragen pflegte (so bereits Rengstorf, Re-Investitur, 40-45). Offenbar will er das griechische Wort πρώτος im Sinne von 'früher' oder 'ehemalig' verstehen. Solchen Interpretationen widerspricht Fitzmyer, Luke, 1090, zu Recht: „But that obscures the gift-nature of the robe, which along with the ring and sandals marks the father's generosity." (Auch Marshall, Luke, 610, stellt zu Recht die Frage: „But would not this interpretation require the insertion of an αύτοΰ"') Das Wort πρώτος ist vielmehr im Sinne von 'best' aufzufassen, und das betreffende Gewand als Feiergewand. Aus der Einkleidung des zurückgekehrten Sohnes allein ist daher noch nicht, wie es Weder tut, die Wiedereinsetzung des Sohnes zu folgern. 76

Die Übergabe des Ringes ist als „Einsetzung in die Verfügungsgewalt im Hause" zu verstehen (vgl. Weder, Die Gleichnisse, 256 Anm. 55, vor ihm schon Jeremias, Gleichnisse, 130, der von „Vollmachtübertragung" sprach). 77 Das Tragen von Schuhen unterscheidet nach Jeremias, Gleichnisse, 130, den freien Mann von barfuß laufenden Sklaven. Dagegen äußert sich R.D. Aus, Weihnachtsgeschichte - Barmherziger Samariter - Verlorener Sohn. Studien zu ihrem jüdischen Hintergrund, ANTZ 2, Berlin 1988, 155 Anm. 144. Er weist darauf hin, dass auch die Sklaven damals in Palästina wie in Babylonien Schuhe trugen. Die Gabe von Schuhen soll ihm zufolge nur die Barfußigkeit des zurückkehrenden Sohnes und seine Notlage verdeutlichen. Da aber die Schuhe zusammen mit dem 'besten' Gewand und dem Ring erwähnt werden, wird es dem Textzusammenhang gerecht, Schuhe als ein Statussymbol zu verstehen, das dessen Träger von anderen unterscheidet. Darum dürfte die Ansicht von Jeremias wahrscheinlicher sein. 78 Schweizer, Lk, 164f, redet von „dem jüdischen Ritus der Restitution eines Ausgestoßenen". Ihm zufolge geht es hier um „Einsetzung in die Ehrenstellung".

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nung der Sohnschaft des jüngeren Sohnes mit seinem Sündenbekenntnis eng zusammenhängt, entspricht dem eben Gesagten. An dieser Stelle ist zu unterstreichen, dass das Sündenbekenntnis des jüngeren Sohnes für die Wiedergewinnung seiner Sohnschaft unentbehrlich 79 ist. Dies zeigt sich schon daran, dass es sich wiederholt: Zunächst spricht der Sohn vor sich allein ein Sündenbekenntnis, dann vor seinem Vater. Diese Wiederholung wäre sinnlos, wenn sie für den Ablauf des Geschehens, besonders für die Wiedergewinnung der verlorenen Sohnschaft, unbedeutend wäre. Dass der Sohn zur bereuenden Einsicht kam (und damit auch zu seinem ersten Bekenntnis), war der direkte Beweggrund für seine Rückkehr zum Vater. Und die feierliche Aufnahme des Sohnes geschah j a erst in dem Moment, als das Bekenntnis des Sohnes vor dem Vater vollzogen wurde (w21f). Dass der Vater seinem umkehrenden Sohn entgegenlief, sollte man also nicht überschätzen. 80 In der Geschichte des verlorenen Sohnes begegnet der universale Gedanke zwar nicht so explizit wie in Lk 3,38. Jedoch ist er implizit enthalten. A m Anfang der Geschichte ( v i 1) wird nämlich gesagt, dass ein Mann zwei Söhne hatte ( ά ν θ ρ ω π ο ς τις ε ϊ χ ε ν δ ύ ο υίούφ. Wenn man in dem Mann Gott sieht, dann dürfen in den beiden Söhnen alle Menschen gesehen werden.*1 Jeder Mensch kann sich also in einem der Söhne wiederer79

Der Vorbehalt, die Umkehr des Sohnes und sein Bekenntnis seien keine Leistungen (so Weder, Die Gleichnisse, 258 Anm. 69), ist eine überflüssige, systematisch-theologisch orientierte Überlegung, die die Bedeutung des Sündenbekenntnisses des Sohnes übersieht. Unabhängig von der Frage, ob das Bekenntnis als Leistung zu sehen ist oder nicht, ist zu unterstreichen, dass der Evangelist Lukas mit Lk 15,11-32 seine Hörer ermutigt, alle Menschen zur Buße einzuladen. 80 Gegen Petzke, Sondergut, 140, der das Entgegenkommen des Vaters allein hochschätzen möchte: Vieles hängt aber davon ab, inwieweit die Rückkehr des Sohnes als Umkehr im Sinne einer Metanoia zu interpretieren ist: Der Vater nimmt den entgegenkommenden Sohn sofort an, kommt auf ihn zu, ohne das Schuldbekenntnis gehört zu haben; er konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, ob die Rückkehr wirklich Umkehr war oder neue Forderung (Bitte) um Unterstützung." 81 Nach Weder, Die Gleichnisse, 254 Anm. 35, gehen in dem betroffenen Satz die Ausdrücke άνθρωπος τις und δύο υιούς auf Tradition zurück, denn Lukas hätte sonst die Ausdrücke ά ν ή ρ τις und υιούς δύο vorgezogen. Sollte seine Behauptung stimmen, ändert sich an der oben geäußerten Ansicht nichts, denn es liegt nahe, dass Lukas, der sein Augenmerk auf die ganze Welt und damit die ganze Menschheit richtet (Apg 1,8 oder Lk 24,47), an die ganze Menschheit gedacht hat, als er in seiner Vorlage die Konstellation von einem Vater (der als Gott zu verstehen ist) und seinen zwei Söhnen vorfand.

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kennen}2 Das heißt: Wie in Lk 3,38 ist auch hier impliziert, dass im Grunde alle Menschen Söhne Gottes sind. In Lk 15,11-32 finden wir also die charakteristischen Eigenschaften der lk Vorstellung der familia dei, ihre universale Ausweitung aufgrund menschlicher Umkehr. Darüber hinaus bietet die Geschichte des verlorenen Sohnes einige interessante Eigentümlichkeiten, vor allem den Unmut des älteren Sohnes über die feierliche Aufnahme des jüngeren Sohnes durch den Vater.83 Dieser Unmut ist rechtlich verständlich. Denn der jüngere Sohn hat in dem Moment, als er sich abschichten ließ, alle Ansprüche als Sohn der Familie verloren, während der ältere Sohn zum einzigen erbberechtigten Sohn in der Familie wurde. Dennoch wird der jüngere vom Vater feierlich als Sohn wiederaufgenommen.84 Dieser Konflikt veranschaulicht ein Problem unter den Angehörigen der familia dei. Es betrifft die gegenseitige Beziehung unter ihren Angehörigen. Es zeigt sich im Text besonders deutlich in der Bezeichnung des jüngeren Sohnes durch den älteren Sohn und den Vater:85 In v30 nennt der ältere Sohn den jüngeren 'dieser dein Sohn' (ό υιός σου ούτοφ und bringt damit zum Ausdruck, dass er ihn nicht als seinen Bruder akzeptieren möchte. Der Verzicht auf die Bezeichnung 'Bruder' durch den älteren Sohn ist umso auffallender, wenn man an das vorhergehende Gespräch zwischen ihm und einem Sklaven (v27) denkt, bei dem der Erzähler dem Sklaven die 82

Hier kann man daher auch von einem Universalismus sprechen. In der Exegese wurde dieser Erzählteil (w25-32) von Exegeten wie Wellhausen, Das Evangelium Lucae, Berlin 1904, 83 f, als sekundärer Anhang angesehen (so auch J.T. Sanders, Tradition and Redaction in Luke XV 11-32, NTS 15 (1968-69), 433-438). Jedoch ist mit einer ursprünglichen Einheitlichkeit des Gleichnisses zu rechnen, denn „der Wortschatz des Gleichnisses ist einheitlich; durchgängig sind palästinische Lebensverhältnisse vorausgesetzt; die Sprache ist semitisierend," wie Grundmann, Lk, 310, im Anschluss an Bultmann, Geschichte, 212, zu Recht urteilt (so auch Hauck, Lk, 199). Die Einheitlichkeit des Gleichnisses besagt aber nicht, dass es in der Überlieferung keine andere Auslegungen erfahren hat. S.u. 84 So auch Pöhlmann, Abschichtung, 204: „Als im Haus lebender älterer Sohn stand er in ungeteilter Gütergemeinschaft mit dem Vater. Er wird sich, da der Jüngere abgefunden war und als verloren galt, als künftigen Alleinerben betrachtet haben. Sein Protest richtet sich also gegen die unerwartete, außergewöhnliche Zuwendung des Vaters, die den rechtlos Heimkehrenden vom Verlorenen zum Sohn macht." 85 Vgl. Fitzmyer, Luke, 1091 f. 83

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Bezeichnung 'dein Bruder' in den Mund gelegt hat. Ebenso unterstreicht in v32 der Vater unter Verwendung der Bezeichnung 'dieser dein Bruder' (ό α δ ε λ φ ό ς σ ο υ ούτος), dass der wiedergefundene Sohn sein 'Bruder' ist und dass er ihn als solchen aufnehmen soll. Wie ist dieser Konflikt auszulegen? Welche konkrete Situation ist hinter ihm zu vermuten? Zuerst denkt man an die Situation, die am Anfang desselben Kapitels geschildert wird. „Es kamen aber überall die Zöllner und Sünder zu ihm, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sagten: Dieser nimmt Sünder an und isst mit ihnen" (Lk 15,lf). In diesem Fall wären die Zöllner und Sünder der jüngere Sohn, die Pharisäer und Schriftgelehrten der ältere Sohn. Hinter dem Gleichnis stünde die Situation, wie die Botschaft des historischen Jesus von damaligen Menschen aufgenommen bzw. abgelehnt wurde. 86 Die Zöllner und Sünder haben Buße getan, als sie durch das Hören der Botschaft Jesu 'zur Einsicht kamen' ( v i 7 ) , und wurden als Söhne Gottes wiederaufgenommen, während die Pharisäer und Schriftgelehrten als ältere Söhne, die aufgrund ihres Status als religiöse Elite das Recht hatten, an der Feier der Wiederaufnahme des jüngeren Bruders teilzunehmen, die Teilnahme ablehnten, obwohl sie der Vater durch Jesu Botschaft darum 'bat' (v28). 87

86

Nach Petzke, Sondergut, 140, der sich an die Feststellung von Weder, Die Gleichnisse, 254, und an Harnisch, Gleichniserzählung, 200, anschließt, wird die Erzählung im Allgemeinen in ihren Grundzügen für authentisch gehalten, d.h. sie wird auf Jesus zurückgeführt. Schottroff, Gleichnis, besonders 51f, stellt jedoch die Authentizität des Gleichnisses in Frage und behauptet, es sei lukanischer Herkunft. 87 Schottroff, Gleichnis, 49-51, bestreitet diese Deutung des Gleichnisses mit den folgenden Begründungen: „1. Die Pharisäer können sich in dem älteren Sohn nicht wiedererkennen, denn sie können Jesus kaum vorgeworfen haben, dass sein Zusammensein mit den Sündern für diese ein unverdientes Geschenk Gottes (oder Jesu) sei, sie hätten ihn sonst als Heilbringer verstanden haben müssen 2. Die Pharisäer können sich im Älteren nicht wiedererkennen, weil sie ihre eigene theologische Konzeption hier nicht wiederfinden. Selbstgerechtigkeit und Anspruch aus religiöser Leistung ist eine Charakterisierung des Pharisäismus, die ihre Heimat in der Polemik gegen den Pharisäismus hat." Jedoch geht es hier nicht darum, dass die Pharisäer sich in dem Älteren wiedererkennen, sondern darum, wie Jesus die beschreibt, die seine Botschaft ablehnen. Ihre Beschreibung lässt sich durchaus auf Jesus zurückführen (ebenso Marshall, Luke, 612). Denn

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Eine andere Auslegungsmöglichkeit sieht in dem jüngeren Sohn die Heiden, die sich bekehren, und in dem älteren Sohn die Judenchristen.88 Es wäre dann ein Konflikt zwischen zwei Parteien im Urchristentum, wobei die Judenchristen den Konflikt ausgelöst hätten. Vor allem die Apg unterstützt diese Auslegungsmöglichkeit. Denn die Aufnahme von Heiden als Christen geschah nach der Apg nicht ohne Widerstand von Seiten der Judenchristen.89 In diesem Fall spielt die Teilnahme an der Feier der Wiederaufnahme des jüngeren Sohnes im Unterschied zur ersten Auslegungsmöglichkeit keine entscheidende Rolle. Wichtig ist nur, dass man über die Umkehr der Heiden fröhlich sein und sich freuen soll, indem man sie als Brüder akzeptiert („... denn dieser dein Bruder war tot "(v32)). 90 Eine dritte Auslegungsmöglichkeit ist die, dass man in dem jüngeren Sohn vom Glauben abgefallene Christen und in dem älteren Sohn die treugebliebenen sieht. 91 Die Pointe des Gleichnisses wäre dann: Die Treugebliebenen sollen sich nicht beschweren, wenn ein Abtrünniger zurückkommt und von der Gemeinde feierlich angenommen wird.

Jesus bezeichnete sie in Mk 2,17 (parr.) auch mit einem positiven Wort, als 'Gerechte' 88 Nach Grundmann, Lk, 310, hat bereits Loisy, L'evangile selon Luc, eine ähnliche Ansicht geäußert, jedoch mit der literarkritischen Voraussetzung, Lukas selbst habe durch Hinzufügung von w25-32 zum Gleichnis diese Problematik zum Ausdruck gebracht. Der Evangelist kann tatsächlich derjenige gewesen sein, der diese Deutungsmöglichkeit ins Spiel gebracht hat, jedoch muss deswegen vv25-32 nicht unbedingt von ihm hinzugefugt worden sein. S.u. 89 Gemeint ist der Streit, der in Apg 15 geschildert ist. Interessant ist dabei, dass dort, wo der Widerstand von seiten der Judenchristen überwunden wird, die Heidenchristen offiziell 'Brüder' genannt werden: Apg 15,23, „Wir, die Apostel und Ältesten, eure Brüder, grüßen die Brüder aus den Heiden " Näheres dazu s.u. im Exkurs 'Die Anwendung des Wortes 'Brüder' in der Apg' 90 Wie Marshall, Luke, 613, richtig bemerkt, ist das Demonstrativpronomen ούτος nicht überflüssig (so jedoch Jeremias, Gleichnisse, 130 Anm. 5), sondern es bringt eine Betonung - etwa wie: es ist dein Bruder, der tot war zum Ausdruck. 91 Auf diese Deutungsmöglichkeit machte mich Chr. Burchard in seinem Gutachten zu meiner Dissertation aufmerksam.

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Alle drei Auslegungsmöglichkeiten92 könnten m.E. nacheinander der konkreten Situation hinter dem Gleichnis entsprechen. Das heißt: Das Gleichnis könnte ursprünglich die Situation des historischen Jesus und seiner Wirkung widergespiegelt haben; in das Gleichnis wäre später der Konflikt zwischen Heidenchristen und Judenchristen und dann der zwischen treugebliebenen und vom Glauben abgefallenen, aber zurückgekehrten Christen hineininterpretiert worden. Zum Schluss ist zu untersuchen, welchen Stellenwert das Gleichnis vom verlorenen Sohn innerhalb des LkEv hat, weil dadurch die Bedeutung der familia-dei-Vorstellung für das ganze Evangelium deutlich wird. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn steht in der Mitte des mittleren Abschnitts (Lk 13,22-17,10)" des sogenannten lk Reiseberichtes (Lk 9,5119,27), der wiederum die Mitte des ganzen Evangeliums darstellt. So betrachtet bildet unser Gleichnis genau die Mitte des Evangeliums.94 Da der Evangelist über die literarische Technik, „in der Mitte der Einheiten und Abschnitte Höhepunkt zu gestalten", verfugt, wie die kompositionsgeschichtliche Stellung der Jerusalemer Konferenz in der Apg zeigt (auch sie steht in der Mitte der Apg), lässt sich die Ansicht vertreten, dass das Gleichnis vom verlorenen Sohn „eine Art literarischer Zusammenfassung und einen hermeneutischen Schlüssel" für das ganze Evangelium darstellt.95 Wir können also konstatieren, dass die familia-deiVorstellung für den Evangelisten Lukas eine zentrale Bedeutung hat,96 selbst wenn sie im Vergleich zum MtEv selten bei ihm begegnet. Stellt die Bergpredigt als zentrales Stück des mt Evangeliums die Rede Jesu an die Söhne Gottes dar und lässt damit die mt familia-dei-Vorstellung erkennen, so haben wir in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn ihr lk Pendant. 92

Hauck, Lk, 199, lehnt die ersten beiden Deutungsmöglichkeiten kategorisch ab: „Allegorische Ausdeutung der beiden Söhne (Pharisäer - Christen, Juden Christen, Judenchristen - Heidenchristen) wie anderer Einzelheiten geht grundsätzlich irr." 93 Vgl. Bovon, Lk II, 15f, der „die mehrmaligen Hinweise auf das Fortschreiten Jesu auf seinem Weg nach Jerusalem (vor allem Lk 13,22 und Lk 17,11)" als Merkmal fur die Gliederung des lk Reiseberichtes betrachtet. 94 Vgl. Bovon, ebd. 95 Vgl. Bovon, ebd. 96 Dafür spricht auch die auffällige Häufung der für die familia-dei-Vorstellung wesentlichen Bezeichnungen ('Vater'; 'Sohn') in dem Gleichnis. Siehe auch oben.

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Die Buße im lk Doppelwerk97 Die Buße ist für den Evangelisten Lukas ein wichtiges Thema. Dies zeigt sich schon daran, dass Wörter wie 'Buße-Tun' (μετανοέω oder επιστρέφω) oder 'Umkehr' (μετάνοια oder επιστροφή) in den neutestamentlichen Schriften im lk Doppelwerk am häufigsten auftauchen. Beispielsweise kommt das Wort 'BußeTun' (μετανοέω) im LkEv 9mal, in Apg 5mal, 98 während es im MtEv 5mal, im MkEv 2mal und in allen neutestamentlichen Schriften zusammen 34mal auftaucht." Genauso verhält es sich mit dem Wort 'Umkehr' (μετάνοια); 1 0 0 Es kommt im LkEv 5mal, in Apg 6mal vor, während es im MtEv 2mal, im MkEv lmal und in allen neutestamentlichen Schriften insgesamt 22mal auftaucht. 101 Auch inhaltlich gesehen hat das Buße-Tun für den Evangelisten eine große Bedeutung. In Lk 5,32 102 fugt er z.B. im Unterschied zu seiner mk Vorlage den Ausdruck 'zur Umkehr' hinzu und macht damit klar, dass die Sendung Jesu bei ihm a u f ' d i e Umkehr des Menschen' zielt. Auch in Lk 13,1-5 nimmt der Evangelist das Geschehen, dass die Galiläer von Pilatus umgebracht wurden, zum Anlass dafür, die Bedeutung der Umkehr zu unterstreichen. In v3 und v5 wird nämlich wiederholt davon gesprochen, dass 'sie alle ebenso wie die Galiläer umkommen werden, wenn sie nicht umkehren' Das Kapitel 15 im LkEv ist ein klares Beispiel dafür, wie wichtig das Thema 'Umkehr' für den Evangelisten ist. In den drei dort vorgetragenen Texten unterstreicht der Evangelist, dass die Umkehr jedes 97

Siehe dazu auch Fitzmyer, Luke, 237-239. Eine auf das Thema 'Bekehrung' eingehende Untersuchung bietet J.-W. Taeger, Der Mensch und sein Heil. Studien zum Bild des Menschen und zur Sicht der Bekehrung bei Lukas, Gütersloh 1982. Nach ihm ist der Mensch bei Lukas „kein salvandus", der der Macht der Sünde verfallen ist, sondern „ein corrigendus", der durch Bekehrung „zur besseren Moral und zur besseren Erkenntnis finden soll" (225f). 98 Als einzelne ntl. Schrift nimmt jedoch die Apokalypse des Johannes mit 12mal den ersten Rang ein. 99 Die einzelnen Stellen sind: Lk 10,13; 11,32; 13,3.5; 15,7.10; 16,30; 17,3.4; Apg 2,38; 3,19; 8,22; 17,30; 26,20; Mt 3,2; 4,17; 11,20.21; 12,41; Mk 1,15; 6,12. 100 Die einzelnen Stellen sind: Lk 3,3.8; 5,22; 15,7; 24,47; Apg 5,31; 11,18; 13,24; 19,4; 20,21; 26,20; Mt 3,8.11; Mk 1,4. 101 Das Wort επιστρέφω wird ebenfalls im lk Doppelwerk am häufigsten gebraucht (Mk 4mal, Mt 4mal, Lk 7mal, Apg 1 lmal). Im Sinne von 'sich bekehren' wird das Wort bei Mk und Mt jeweils lmal (Mk 4,12; Mt 13,15), bei Lk aber 3mal (Lk 1,16.17; 22,32) und in der Apg 8mal (3,19; 9,35; 11,21; 14,15; 15,19; 26,18.20; 28,27) gebraucht. Das Wort έπιστροφή wird in den ganzen neutestamentlichen Schriften nur einmal in der Apg (15,3) benutzt. 102 „Ich bin gekommen, die Sünder zur Umkehr zu rufen und nicht die Gerechten."

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Sünders Freude im Himmel auslöst (vv7.10; vgl. auch v24).103 Die Bedeutung der Buße im LkEv gipfelt in dem Augenblick, in dem der Auferstandene seinen Jüngern befiehlt, die Buße (zur Vergebung der Sünden) allen Völkern zu predigen (Lk 24,47). 104 In der Apg ist es mit dem Thema genauso. Die Buße ist für den Begriff des Evangelisten das Entscheidende, was man als Christ zu tun hat (Apg 2,38). In Apg 3,12-36 taucht das Thema der Buße bzw. Umkehr mitten in der Rede Petrus auf und bestimmt die Hauptaussage der Rede: Die Hörer der Rede des Petrus sollen zur Tilgung ihrer Sünden Buße tun (vl9). 105 Nach Apg 5,31 ist die Umkehr Israels der eine Grund für die Erhöhung Jesu zum Fürsten und Heiland durch Gott.106 Die Bedeutung der Buße in der Apg erreicht ihren Höhepunkt in 17,30, wo sie als Gebot Gottes für alle Menschen in der Welt dargestellt wird. Allen Menschen steht nämlich ein Gericht bevor, das Gott festgesetzt hat (v31).

(4) Lk 22,32 Wir haben gesehen, dass die Beziehung unter den Angehörigen der familia dei im MkEv geschwisterlich ist. Sie sind einander Brüder und Schwestern. Diese Tradition wurde im MtEv, besonders in Mt 18 aufgenommen. Die mt Gemeindeglieder betrachten sich als Brüder. In diesem Abschnitt untersuchen wir, w o wir im LkEv diese geschwisterliche Beziehung beobachten können und was dabei charakteristisch ist. Wodurch unterscheidet sich der lk Begriff 'Brüder' von dem mk sowie dem mt? Drei Textstellen kommen dabei in Frage: Lk 6 , 4 l f ; 17,3; 22,32. Davon gehen die beiden ersten auf die Logienquelle zurück. Wie wir im Kapitel über sie gesehen haben, ist es schwierig zu behaupten, dass der Begriff 'Bruder' an diesen Stellen in Verbindung mit der Vorstellung der familia dei steht. 107 Wahrscheinlich ist ursprünglich der Landsmann und Volksgenosse gemeint. Das heißt aber nicht, dass auch der Evangelist Lukas den Begriff 'Bruder' bei der Rezeption dieser beiden Q-Texte so ver1Cb

v7: „... So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der umkehrt, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die die Umkehr nicht nötig haben." vlO: „So, sage ich euch, wird auch Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der umkehrt." v24: „Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wiedergefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein." 104 Siehe auch oben Anm. 45. 105 „So tut nun Buße und bekehrt euch, damit eure Sünden getilgt werden" „Den hat Gott durch seine rechte Hand zum Fürsten und Heiland erhöht, um Israel Umkehr und Vergebung der Sünden zu gewähren." 107 S.o. das Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei in Q'.

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standen haben muss. Da er die mk Tradition kannte, die die geschwisterliche Beziehung unter den Angehörigen der familia dei bezeugt (z.B. Mk 3,31-35), könnte er den Begriff 'Bruder' in Lk 6,41f und 17,3 im Sinne der familia dei verstanden haben.108 Die beiden Texte liefern kein eindeutiges Indiz für oder gegen unsere Vermutung, darum lassen wir sie außer Betracht. Wir haben also nur einen Text zu untersuchen: „Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhört. Und wenn du dich dann bekehrst, so stärke deine Brüder" (Lk 22,32). Es ist ein persönliches Wort Jesu an Simon Petrus, das im Zusammenhang mit der Prophetie über seine dreimalige Leugnung erfolgt. Im Unterschied zu den anderen Synoptikern überliefert allein Lukas diesen Text. Bei der Frage nach dem Sinn des Wortes 'Brüder' verdient das Verbum στηρίζω unsere Aufmerksamkeit. Wie ist das Wort zu verstehen? In welcher Hinsicht soll das 'stärken' geschehen? 'Stärken' kann man nur etwas, das schon vorhanden ist. Der Vers selbst gibt einen Hinweis, was dieses Etwas sein könnte. Er sagt, dass Jesus für Simon gebetet hat, damit seine πίστις nicht aufhört. Wie immer man πίστις übersetzt, das Wort bringt, wie Grundmann richtig formuliert, 'die Gebundenheit an Christus' zum Ausdruck. 109 Diese Bindung an Jesus ist die Voraussetzung dafür, dass Simon seine Brüder 'stärkt' („wenn du dich dann bekehrst "). Es ist daher gut denkbar, dass Simon bei seinen Brüdern diese Bindung an Christus voraussetzt. Simon, bei dem sie bedroht war und der sie erneuern muss, soll seine Brüder, die nicht in dem Maße wie er an Christus gebunden sind, stärken. Daraus ist zu folgern, dass diese Brüder Christen sind, die in der gleichen Glaubensgemeinschaft mit Simon leben.

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Grundmann, Lk, 332, will in dem Ausdruck „dein Bruder" in Lk 17,3 „den Kreis der Jünger, die untereinander Brüder sind" sehen, während Schweizer, Lk, 174, an „den Bruder in der Gemeinde" denkt. An Grundmann ist die Frage zu richten, was er mit dem Wort 'Jünger' genauer gemeint hat; sollte er den Jüngerkreis Jesu zu seiner Wirkungszeit gemeint haben, dann fragt man sich, wie dies auf der lk Ebene zu verstehen ist. Und gegenüber Schweizer ist zu fragen, ob das Wort 'Bruder' für den Evangelisten Lukas nur zur Bezeichnung der eigenen Gemeindeglieder gedient hat (s.u.). Fitzmyer, Luke, 1140, will in dem Ausdruck „dein Bruder", wie er z.B. in Apg 1,15 oder 6,3 zu finden ist, „a fellow-disciple" sehen. M.a.W., er will den Ausdruck im Sinne von Christen verstehen. 109 Grundmarun, ebd., 407.

Die Vorstellung der familia dei in den synoptischen Evangelien

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Um diese Erwägung zu überprüfen, fragen wir, wie das Wort σ τ η ρ ί ζ ω sonst bei Lukas gebraucht wurde. Das Wort taucht außer in Lk 22,32 noch zweimal (9,51 und 16,26) bei ihm auf, wird jedoch im Sinne von 'stärken' nur hier gebraucht. 110 In der Apg kommt das Wort nicht vor, dafür finden wir das Kompositum έπιστηρίζω, das die gleiche Bedeutung 'stärken' hat. Dieses Wort wird im ganzen Neuen Testament nur viermal, und zwar ausschließlich in der Apg, gebraucht (Apg 14,22; 15,32.41; 18,23). Es kann als „Lukanismus" betrachtet werden. Sehen wir nun die vier Textstellen genauer an: Dann kehrten sie nach Lystra und Ikonion und Antiochia zurück, stärkten die Jünger und ermahnten sie, im Glauben zubleiben " (Apg 14,21 f). „Judas und Silas, die selbst Propheten waren, ermahnten und stärkten die Brüder mit manchem Wort" (15,32). „Er durchzog Syrien und Zilizien und stärkte die Gemeinden" (15,41). „Nachdem er dort einige Zeit geblieben war, brach er wieder auf und durchzog nacheinander das galatische Land und Phrygien und stärkte alle Jünger" (18,23). Die Akteure, die an den vier Stellen 'stärken', sind wie in Lk 22,32 führende Figuren in der Glaubensgemeinschaft: Es sind die Propheten Judas und Silas (15,32), Barnabas und Paulus (14,21) oder Paulus allein (15,41 ;18,23). Diejenigen, die gestärkt werden, sind die Jünger von Lystra, Ikonion und Antiochia (14,21), die Brüder von Antiochia (15,32), die Gemeinden von Syrien und Zilizien (15,41) und schließlich alle Jünger des galatischen Landes und Phrygiens (18,23). Die Adressaten, die gestärkt werden sollen, sind also Christen. Das Wort 'stärken' ist dann im Sinne von Im-Glauben-Stärken zu verstehen. Übernehmen wir dieses Ergebnis auch für unsere Stelle Lk 22,32, dann sind mit dem Wort 'Brü-

110

In den anderen neutestamentlichen Evangelien kommt das Wort überhaupt nicht vor, jedoch in den anderen neutestamentlichen Schriften (Rom 1,11; 16,25; ITh 3,2.13; 2Th 2,17; 3,3; Jak 5,8; IPetr 5,10; 2Petr 1,12; Apk 3,2). An allen diesen Stellen wurde das Wort ausschließlich im Sinne von 'stärken' gebraucht.

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Die Vorstellung der familia dei im LkEv

der' die Glaubensbrüder, also die Angehörigen der familia dei, gemeint.111 Ist das Wort 'deine Brüder' in Lk 22,32 auf den Evangelisten Lukas selbst zurückzufuhren,112 dann bedeutet dies, dass Lukas sich hier von der mk Tradition, die die geschwisterliche Beziehung in der familia dei kennt, hat beeinflussen lassen. Allerdings weicht er in einem Punkt von ihr ab. Die 'Brüder' im Sinne von Angehörigen der familia dei sind nach Markus die Mitglieder der mk Gemeinde.113 Ebenso sind im MtEv die Brüder niemand anderes als die mt Gemeindeglieder (vgl. Mtl8). Dagegen ist der Begriff 'Brüder' in Lk 22,32 nicht auf 'eine' Gemeinde, nämlich die lk Gemeinde, beschränkt. Vielmehr sind hier Glaubensbrüder im Allgemeinen gemeint. Lukas unterscheidet andere Christen nicht von seinen Gemeindegliedern, sondern für ihn sind alle Christen Glaubensbrüder, die 'Brüder' genannt werden können. Exkurs: Die Verwendung des Wortes 'Brüder (Bruder)' in der Apostelgeschichte Während im LkEv für die Erörterung des Wortgebrauchs von 'Brüder' im Sinne von Angehörigen der familia dei nur eine Stelle relevant ist, begegnen uns in der Apostelgeschichte viele Stellen. Da wir das erste ' " Grundmann, Lk, 407, äußert eine ähnliche Ansicht: „... sie werden αδελφοί genannt hier hat die Bezeichnung möglicherweise schon den speziellen Sinn der Bruderschaft der Gemeinde Jesu Christi (vgl. Mt 23,8; 18,15-17)." Ähnlich Fitzmyer, Luke, 1422f: „The 'brothers' whom he will reinforce or strengthen will be immediately the rest of the apostles, but in view of the fact that they are never depicted as stumbling in the Lucan story or as sheep being scattered (contrast Mark 14,27) and that the term adelphoi is used in Acts in a wider sense of Christians (1:15; 15:23,32), Jesus' words to Peter are preparing for the missionary role that he will play in the rest of the Lucan story." Anders jedoch Evans, Luke, 803, der hier „a special and restricted sense for the inner company of the Twelve" sehen will. 112 Grundmann, Lk, 407; Marshall, Luke, 819, vermuten, dass v32b lk Redaktion ist (so auch Fitzmyer, Luke, 1421, der in Anlehnung an H. Schürmann diese Ansicht äußert. Weitere Literaturangaben siehe dort), während Schweizer, Lk, 222, mit einer besonderen Überlieferung fur vv31 -34 rechnet und Foerster, Lukas 22,31 f., ZNW 46 (1955), 129-133, dort 132, in v32 ein echtes Jesuswort sehen will. 113 Die familia dei war fur die mk Gemeinde eine wichtige Identifikationsfigur (Mk 3,31-35 sowie Mk 10,28-31). Siehe an der betreffenden Stelle.

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Werk des Lukas als eine der vier Hauptquellen unserer Untersuchung (Q, MkEv, MtEv, LkEv) behandeln und die Apostelgeschichte nur sekundär heranziehen, ist es angebracht, diese Stellen in einem Exkurs zu behandeln. Das Wort 'Brüder' wird in der Apg insgesamt 57mal benutzt, davon wird es im engen Sinne, d.h. mit der Bedeutung von leiblichem Bruder (Brüdern), nur dreimal gebraucht (Apg 1,14; 7,13; 12,2). 54mal ist das Wort also in weiterem Sinne gebraucht. Sein Gebrauch lässt sich in zwei Kategorien einteilen: 1) Brüder im Sinne von Christen 2) Brüder im Sinne von Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft Zunächst zu 1): Die Anwendung des Wortes im Sinne von Christen begegnet uns in der Apg schon im ersten Kapitel. In 1,15 schreibt Lukas, dass Petrus „in den Tagen unter den Brüdern auftrat" Erst aus dem Inhalt der folgenden Rede des Petrus (vv 16-22) geht hervor, dass diese Brüder Anhänger Jesu sind. Insbesondere in vv21f heißt es: „So muss nun einer von diesen Männern, die bei uns gewesen sind die ganze Zeit über, als der Herr Jesus unter uns ein- und ausgegangen ist von der Taufe des Johannes an bis zu dem Tag, an dem er von uns genommen wurde -, mit uns Zeuge seiner Auferstehung werden." Es ist unwahrscheinlich, dass Petrus hier mit dem Pronomen 'uns' die ganzen Brüder, die dort versammelt sind, gemeint hat. Unter 'uns' wird vielmehr der Zwölfer-Kreis zu verstehen sein. Aber aus der Tatsache, dass Petrus mit allen Brüdern über die Wahl des fehlenden Apostels spricht, ergibt sich, dass sie mit ihm die gleiche Glaubensüberzeugung teilen. Darum müssen auch sie Anhänger Jesu, also Christen, sein. Nehmen wir ein zweites Beispiel. In Apg 6,3 taucht das Wort 'Brüder' auf, und zwar in einer Rede der zwölf Apostel, die das Problem der Versorgung der griechischen Witwen durch die Berufung von sieben Männern lösen wollen. Sie reden ihre Hörer als 'Brüder' an und wenden sich dabei nach v2 eindeutig an Jünger, d.h. an Christen: „Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen " Diese Anwendung des Wortes 'Brüder' begegnet uns in der ganzen Apg 34mal: 1,15.16; 6,3; 9,17.30; 10,23; 11,1.12.29; 12,17; 14,2; 15,1.3.7.13.22. 23(2mal).32.33. 36 .40; 16,2.40; 17,6.10.14; 18,18.27; 21,7.17.20; 28,14. 15.

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2) Neben dieser Verwendung des Wortes 'Brüder' findet sich in der Apg noch die Verwendung für Angehörige der jüdischen Gemeinschaft. Einige Beispiele seien hier genannt. In Apg 2,29 heißt es: „Ihr Männer, (liebe)114 Brüder, lasst mich freimütig zu euch reden von dem Erzvater David " Hier redet Petrus vor einer Hörerschaft, die David als ihren Erzvater versteht. Sie wird in v22 genauer definiert: „Ihr Männer von Israel, hört diese Worte Sie besteht also hauptsächlich aus Juden. Aber neben ihnen gibt es einige, die zu Juden geworden sind. Denn in v l 4 heißt es: „Ihr Juden, (liebe) Männer, und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, und lasst meine Worte zu euren Ohren eingehen!" Sind also unter den Hörern neben Juden die (in Jerusalem wohnenden) Proselyten gemeint, so ist das Wort 'Brüder' in v29 im Sinne von Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft zu verstehen. Diese Hörerschaft redet auch ihrerseits die Apostel als 'Brüder' an, wie v37 zeigt: „Als sie aber das hörten, ging's ihnen durchs Herz, und sie sprachen zu Petrus und den anderen Aposteln: Ihr Männer, (liebe) Brüder, was sollen wir tun?" Die Hörerschaft und der Redner (bzw. der Rednerkreis) verstehen ihre gegenseitige Beziehung eindeutig als Beziehung von Glaubensbrüdern. Ein anderes Beispiel findet sich in 7,2. Auf die Frage des Hohenpriesters beginnt Stephanus seine Antwort mit folgenden Worten: „(Liebe) Brüder und Väter, hört zu. Der Gott der Herrlichkeit erschien unserem Vater Abraham, als er noch in Mesopotamien war, ehe er in Haran wohnte." Die Hörer sind hier auf keinen Fall Christen, sie sind Juden, genauer jüdische Führungsfiguren. Ein (griechischer) Jude, Stephanus, redet sie mit 'Brüder' an. Es liegt auf der Hand, dass 'Brüder' hier im Sinne von Glaubensbrüdern zu verstehen sind. Ein weiteres Beispiel ist in 13,15 zu finden: „Nach der Lesung des Gesetzes und der Propheten aber schickten die Vorsteher der Synagoge zu ihnen und ließen ihnen sagen: (Liebe) Brüder, wollt ihr etwas reden und das Volk ermahnen, so sagt es." Hier reden die Vorsteher einer in der Diaspora befindlichen Synagoge Paulus und seine Begleiter, die am Sabbat zum ersten Mal zu ihnen gekommen sind, mit dem Wort 'Brüder' an. Das Wort bedeutet ausschließlich Angehörige der jüdischen Religionsgemeinschaft. Der als Glaubensbruder angesprochene Paulus redet sie 114

Klammern sind von mir. Im Griechischen fehlt das Wort „liebe(r)". Dies gilt für alle unten zitierten Bibelstellen in diesem Exkurs.

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mit dem gleichen Wort 'Brüder' an: „Ihr Männer, (liebe) Brüder, ihr Söhne aus dem Geschlecht Abrahams und ihr Gottesfurchtigen, uns ist das Wort dieses Heils gesandt" (v26). „So sei euch nun kundgetan, liebe Brüder, dass euch durch ihn Vergebung der Sünden verkündigt wird (v38). Paulus spricht hier zu Glaubensbrüdern. Diese Verwendung des Wortes begegnet in der ganzen Apg 20mal: 2,29.37; 3,17.22; 7,2.23.25.26.37; 13,15.26.38; 22,1.5. 13; 23,1.5.6; 28,17.21. Die Verwendung des Wortes im Sinne von Glaubensbruder wird auch dadurch deutlich, dass in der Apg nirgends eine heidnische Hörerschaft, soweit die Zuhörer keine Christen geworden sind, mit der Bruderanrede bedacht wird. Einige Beispiele seien genannt. In 17,22 redet Paulus die Leute von Athen, weil sie keine Juden sind, nur mit „Ihr Männer von Athen!" an. Das Wort 'Brüder', das z.B. in 2,29 hinter dem Wort 'Ihr Männer' zu sehen war, fehlt hier. Genauso ist es in 27,10.21. Dort heißt es jeweils: „(Liebe) Männer, ich sehe, dass diese Fahrt nur mit Gefahr und großem Schaden vor sich gehen wird „Und als man lange nichts gegessen hatte, trat Paulus mitten unter sie und sagte: (Liebe) Männer, man hätte auf mich hören sollen Die Hörerschaft besteht aus Heiden, nämlich römischen Soldaten und heidnischen Seeleuten, darum redet Paulus sie nur mit dem Wort „(liebe) Männer" an.

Angesichts dieses Wortgebrauchs im Sinne von Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft stellt sich die Frage, ob die erstgenannte Bedeutung - Brüder als Christen - nicht manchmal auch in diesem Sinne zu verstehen ist. Diese Frage könnte nur dann zu bejahen sein, wenn es sich bei Christen nur um Juden(christen) handelt. Dies ist aber nicht der Fall. In 15,23 ist in aller Deutlichkeit zu sehen, dass das Wort 'Brüder' auch auf die Heidenchristen angewendet wurde: „Und sie gaben ein Schreiben in ihre Hand, also lautend: Wir, die Apostel und Ältesten, eure Brüder, wünschen Heil den Brüdern aus den Heiden in Antiochia und Syrien und Zilizien." Die hier gemeinten Leute in Antiochia und Syrien und Zilizien sind deswegen Brüder, weil sie Christen geworden sind. 'Brüder' meint hier unmissverständlich Christen. Das lässt sich auch an Stellen wie 11,29; 15,1.32.33.36.40; 16,40; 18,18.27; 28,14.15 (wohl auch 16,2; 17,10.14) belegen. Angesichts der beiden Bedeutungsvarianten des Wortes 'Brüder' in der Apg scheint die Schlussfolgerung möglich zu sein, dass für Lukas nicht nur Christen, sondern auch Angehörige der jüdischen Religionsgemeinschaft, auch wenn sie noch keine Christen geworden sind, 'Brüder' sind. Hier ist allerdings Vorsicht geboten. Denn eine Besonderheit in der An-

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Die Vorstellung der familia dei im LkEv

wendung des Wortes im Sinne von jüdischen Glaubensbrüdern ist zu beobachten, die dazu nicht passt. Gemeint ist die Beobachtung, dass das Wort 'Brüder' nur in den Reden vorkommt, aber keinesfalls in den Erzählungen, also in der Darstellung des Verfassers selbst. Diejenigen, die ihre Landsleute mit 'Brüder' anreden, sind Petrus (2,29; 3,17), Stephanus (7,2), der Synagogenvorsteher (13,15), Paulus (13,26.38; 22,1.5; 23,1.5.6; 28,17), die Juden in Rom (28,21). 3,22 und 7,37 sind alttestamentliche Zitate, und in 7,23.25.26 wird das Wort nicht als Anrede für die Hörer, sondern zur Beschreibung der Landsleute des Moses, von dem der Redner, Stephanus, spricht, gebraucht. Nirgends hat der Verfasser selbst die Juden mit dem Wort 'Brüder' bezeichnet. Dagegen begegnet uns das Wort 'Brüder' im Sinne von Christen nicht nur in den Reden, in denen das Wort als Anrede auftaucht, sondern auch dort, wo es der Verfasser selbst in seiner Geschichtsdarstellung zur Bezeichnung der Christen gebraucht. In 15,1 schreibt Lukas: „Und einige kamen herab von Judäa und lehrten die Brüder: Wenn ihr euch nicht beschneiden lasst nach der Ordnung des Mose Die hier gemeinten Brüder sind Christen in Antiochia. Ein anderes Beispiel ist in 18,18 zu finden. Dort heißt es: „Paulus aber blieb noch eine Zeitlang dort. Danach nahm er Abschied von den Brüdern und wollte nach Syrien fahren Mit 'dort' ist Korinth gemeint, und mit 'Brüdern' die Christen in Korinth. Hier wiederum bezeichnet Lukas selbst die Christen mit dem Wort 'Brüder', ebenso an Stellen wie 9,30; 10,23; 11,1.29; 14,2; 15,3.22.32.33.40; 16,2.40;17,6. 10.14; 18,27; 21,7.17; 28,14.15. Aus dieser Beobachtung ergibt sich als angemessene Schlussfolgerung, dass fur Lukas nur die Christen würdig sind, als Brüder bezeichnet zu werden. 115 Wie Lukas mit Bezeichnungen wie 'Vater-Gott' oder 'Gottessöhne' zurückhaltend ist, so ist er es auch in der Anwendung des Wortes 'Brüder' Für Lukas sind im Grunde alle 'Brüder', weil sie von Gott stammen, aber er bezeichnet explizit nur die Christen als 'Brüder', weil die anderen sich noch nicht bekehrt haben.

115

Dieser bisher nicht registrierte Sachverhalt ist m.E. ein Indiz dafür, dass der Verfasser des lk Doppelwerks kein Judenchrist ist. Er ist ein Heidenchrist, der möglicherweise schon vor seiner Bekehrung zum Christentum ein gottesfurchtiger Sympathisant der Synagoge war.

Die Vorstellung der familia dei in den synoptischen Evangelien

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(5) L k l l , 2 7 f Lk ll,27f wird nur von Lukas überliefert. In Bezug auf die Vorstellung der familia dei ist der Text zwar nicht sehr relevant, weil in ihm diese Vorstellung nicht vorkommt." 6 Er weist jedoch eine Nähe zu Mk 3,31-35 auf, einem Text, den Lukas in 8,19-21 wiedergibt, und zwar 1) dadurch, dass in beiden Texten leibliche Verwandte und Sympathisanten Jesu einander gegenübergestellt werden, und 2) dass dabei Jesu Sympathisanten von Jesus vorgezogen werden. In Lk 1 l,27f wird 1) die Mutter Jesu denjenigen gegenübergestellt, die „das Wort Gottes hören und bewahren", und werden 2) die letzteren 'selig' gepriesen, während das Lob der leiblichen Mutter durch eine Frau im Volk von Jesus nicht akzeptiert wird, was Lukas durch Jesu Schweigen zum Ausdruck bringt. Die Frage, ob die eine Geschichte von der anderen abhängig ist oder eine Variante der anderen sein könnte, denen eine gemeinsame Überlieferung zugrundeliegt, 117 muss verneint werden," 8 weil die inhaltliche Prägung beider Geschichten zu verschieden ist." 9 In Mk 3,31-35 treten die leiblichen Verwandten Jesu tatsächlich auf, während in Lk 1 l,27f nur von der Mutter, die aber in der Szene nicht unmittelbar anwesend ist, gesprochen wird. Es ist auch schwer vorstellbar, dass man aufgrund der einen Geschichte die andere erfunden hätte.120 Denn dafür ist kein überzeugender Grund zu finden. Zwar lässt sich in der Formulierung der Geschichte von Lk 11,27f die Hand des Lukas spüren, worauf Schürmann aufmerksam macht. 121 Aber „luk Sprach-

116

Im Text fehlt nämlich ein direkter 'familiärer' Bezug zwischen Jesus bzw. Gott einerseits und denjenigen, die Gottes Wort hören und bewahren, andererseits. Es wird lediglich gesagt, dass solche Leute 'gesegnet' seien. 117 Fitzmyer, Luke, 926, nennt einige Exegeten, die dieser Ansicht sind: J.M. Creed; W.E. Bundy; E. Klostermann (Literaturangaben siehe Fitzmyer). 118 Ebenso Fitzmyer, Luke, 926; Ernst, Lk, 378, Marshall, Luke, 480; Bovon, Lk II, 186. 119 Fitzmyer, Luke, 926, nennt drei Unterschiede: 'the difference of setting (an outdoor crowd), comment (from a woman), and wording (a beatitude)' 120 Gegen Goulder, Luke II, 510, der Lk 11,27f auf lk Bildung zurückfuhrt. 121 Lk II, 254: „Die Wendung έγένετο mit substantiviertem Inf. stammt von Lukas; dasselbe wird für έ π ά ρ α σ α φ ω ν ή ν gelten, eine Wendung, die im NT so oder ähnlich auch nur bei Lukas begegnet." Lk II, 259: „Auch eine Wortstellung

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Die Vorstellung der familia dei im LkEv

gebrauch und luk Motive beweisen nicht immer schon luk Bildung."122 Mit Marshall ist jedoch das Urteil zu fällen, „there is no good reason for supposing that the occasion is an imaginary one" 123 Natürlich ist damit nicht völlig ausgeschlossen, dass hinter Lk 1 l,27f und Mk 3,31-35 ein und dasselbe Geschehen stehen könnte, 124 das unterschiedlich aufgefasst und überliefert wurde. Aber dafür sind die beiden Geschichten voneinander zu stark unterschieden. Man könnte allenfalls vermuten, dass die beiden Texte zwar auf verschiedene Ereignisse 125 zurückgehen, diese in ihrer Bedeutung jedoch verwandt waren. 126

(6) Lk 12,32 Nach allgemeinem Konsens 127 geht der Vers, der nur im lk Text zu finden ist, nicht auf den Evangelisten selbst zurück, sondern auf eine von ihm

wie τις φωνην γυνή ist Lukas zuzutrauen, βαστάζω begegnet nur hier im NT in diesem gynäkologischen Verständnis und ist sonst ein luk Vorzugswort. κοιλία las Lukas vom 'Mutterschoß' 5mal in Lk 1-2, auch 23,29 und 2mal in Apg. φυλάσσω wird ein dem Lukas wichtiger Zusatz sein. Die Wendung άκούειν τον λόγον fiel auch 8,21 diffMk auf." 122 Schürmann, Lk II, 259. 123 Luke, 481. 124 Dass hinter Mk 3,31-35, besonders hinter vv31-34, Historizität zu vermuten ist, habe ich bereits oben im Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei im MkEv' geäußert. Siehe dort. 125 Marshall, Luke, 481, äußert ebenfalls diese Ansicht: „There is no reason why Jesus should not have said substantially the same thing on two different occasions." Wenn auch mit Vorbehalt, äußert sich auch Schürmann, Lk II, 260, in diesem Sinne: „Es ist natürlich kaum wahrscheinlich zu machen, dass das Erzählelement in Lk 11,27 schon voröstlich tradiert wurde. Dass eine erzählende Rückerinnerung einen isoliert tradierbaren Makarismus Jesu wie v28 überliefert habe, so dass hier ein ipsissimum verbum Jesu vorliegen könnte, sollte trotz des starken luk Redaktionsanteils nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Jedenfalls hören wir hier die vox Jesu, wenn wir ihm Makarismen nicht absprechen wollen ..." 126 Zu Diskussionen über die Herkunft von Lk ll,27f siehe Schürmann, Lk II, 257-260. Dort erörtert er ausführlich die diesbezügliche Problematik. 127 Schweizer, Lk, 138; Grundmann, Lk, 259; Marshall, Luke, 530; Fitzmyer, Luke, 977; Bovon, Lk II, 31 lf (Bovon verweist an der erwähnten Stelle in Anm. 122 auf einige eingehende Untersuchungen darüber, z.B. W. Pesch, Zur Formgeschichte und Exegese von Lk 12,32, Bib. 41 (1960), 25-40. Weitere Literaturangaben siehe dort).

Die Vorstellung der familia dei in den synoptischen Evangelien

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übernommene Tradition. 128 Was Lukas geleistet hat, ist nur die Einfügung dieses Verses in den Text der Logienquelle. 129 Er konnte diesen Vers stichwortartig an die vorhergehenden Verse (30f) anschließen: War in v30 von 'eurem Vater' und in v31 vom 'Reich' die Rede, so tauchen beide Stichwörter in v32 wieder auf.130 Für uns ist wichtig, dass Lukas diese Tradition mit der Vorstellung von Gott als Vater und der familia dei, übernommen hat. Diejenigen, die von Gott ihrem Vater das Reich Gottes bekommen werden, sind nur die Jünger, die als kleine Herde bezeichnet werden. 131 Wie die Logientradition weist diese Tradition die partikularistische Konzeption der familia dei auf. Für den Evangelisten ist es nicht selbstverständlich, dass alle Gott Vater nennen können, bevor sie sich zu Gott bekehrt haben, sondern dass sie im Grunde nur dank Christus Kinder Gottes sind (Lk 3,21-38).

(7) Lk 20,36 Im Unterschied zu der mk Vorlage (Mk 12,18-27) findet sich im lk Bericht über das Auferstehungsgespräch Jesu mit den Schriftgelehrten eine Bemerkung Jesu über Gottes Söhne (und Töchter): „Denn auch sterben können sie nicht mehr; denn sie sind den Engeln gleich und Gottes Kinder (sc. υίοί θεοΰ), weil sie Söhne der Auferstehung sind." Gottes Söhne sind hier diejenigen, die der Auferstehung würdig sind. Diese eschatologische Konnotation der Bezeichnung 'Söhne Gottes' hat ihre Wurzel in der alttestamentlichen und jüdischen Tradition. So ist im AT die Bezeichnung 'Söhne Gottes' mit zukünftiger Hoffnung verbunden (Hos 2,1; Jer 31,9 z.B).132 Die jüdische Tradition verbindet diese Bezeichnung mit dem Auferstehungsgedanken. So werden die Gottlosen nach SapSal (4,75) am Endgericht erfahren, dass der Gerechte, dessen Leben sie für einen Wahnsinn und dessen Ende sie für ehrlos hielten (5,4), unter die Söhne Gottes gerechnet wird (5,5). Diese Söhne Gottes (die Gerechten) werden 128

Evans, Luke, 530, lehnt die Ansicht B.H. Streeters, Four Gospels, London 1924, 284 sowie 291, v32 folge in Q und sei von Matthäus ausgelassen worden, zu Recht ab. Seine Begründung ist: „The verse is complete in itself, and appears too isolated to have belonged to a document." 129 Bultmann, Geschichte, 116, möchte in v32 eine sekundäre Gemeindebildung sehen. 130 Vgl. Schweizer, Lk, 138, Grundmann, Lk, 259, Marshall, Luke, 530. 131 Lk 12,22: „Er sprach aber zu seinen Jüngern 132 Dazu vgl. Rusam, Gotteskindschaft, 41-47.

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Die Vorstellung der familia dei im LkEv

dann bis in Ewigkeit leben (5,15). Hier meint die Bezeichnung 'Söhne Gottes' offenbar den Status, der nach dem Tod im Endgericht offenbar wird. Dass diese Tradition dem Evangelisten Lukas bekannt war, verraten auch andere Stellen im lk Doppelwerk, wo sie in zwei Variationen bezeugt ist: in Lk 14,13f und Apg 24,15 als Vorstellung von der 'Auferstehung der Gerechten'; in der Lazarusgeschichte als Gedanke der Auferstehung der Gerechten und Ungerechten. Die eschatologische Konnotation der Bezeichnung 'Söhne Gottes' bereitet keine Schwierigkeit für deren präsentische Anwendung, sie sind miteinander kompatibel. Bereits in SapSal steht die präsentische Anwendung neben der futurischen. In SapSal 2,13 und 16 versteht sich der Gerechte schon zu Lebzeiten als Sohn Gottes. Es ist daher verständlich, wenn bei Lukas beide Variaten der familia-dei-Vorstellung vorhanden sind.

Zusammenfassung Wie wir eingangs vermutet haben, stellt die Vorstellung der familia dei im LkEv eine Synthese dieser Vorstellung in der Logienquelle einerseits und des MkEv anererseits dar. Gott ist Vater der Christen und die christliche Gemeinde ist eine familiäre Gemeinschaft. Diese Synthese lässt sich im Unterschied zum MtEv nicht dadurch erklären, dass die lk Gemeinde ihre Entstehung der Niederlassung von Wandercharismatikern verdankt. Denn in den lk Texten, die die mk Texte zur familia-dei-Vorstellung wiedergeben, begegnet im Unterschied zu den mt Texten nicht die Sicht mobiler Nachfolger, sondern sesshafter Gemeindeglieder, wenn auch nicht in dem Maße, wie sie im MkEv spürbar ist. Des weiteren ist die Beobachtung zu nennen, dass der Evangelist aus der Tradition der Logienquelle keine Rede Jesu an die Söhne Gottes vergleichbar der mt Bergpredigt geschaffen hat, was darauf deutet, dass die Vorstellung von der familia dei aus Q für den Evangelisten Lukas und seine Gemeinde nicht zur eigenen Tradition gehörte. Die familia-dei-Vorstellung im LkEv ist freilich nicht nur eine Synthese der Vorstellungen von Logienquelle und MkEv, sondern eine Weiterführung dieser Traditionen. Die Besonderheit der lk Vorstellung tritt vor allem in Lk 3,38 hervor. Im Unterschied zur familia dei in Logienquelle und MkEv unterstreicht der Evangelist Lukas dort anhand der Genealogie Jesu, dass alle Menschen dank des einen Sohnes Gottes im Grunde

Die Vorstellung der familia dei in den synoptischen Evangelien

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Söhne Gottes sind. Allerdings benutzt der Evangelist bewusst nicht die Bezeichnung 'Söhne Gottes' für alle Menschen. Denn die Traditionen des Evangelisten Lukas kennen nur bestimmte Gruppen von Menschen als Angehörige der familia dei. Der Evangelist verbindet diesen partikularistisch geprägten Gedanken der familia dei mit seinem universalistisch geprägten Gedanken dadurch, dass alle Menschen im Grunde Söhne Gottes sind, aber zu Gott umkehren müssen, um als solche anerkannt zu werden. Die Umkehr ist also die Grundforderung an die Mitglieder der familia dei. Dies wird im LkEv am Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) exemplarisch vorgeführt. Die Menschen, die ursprünglich Söhne Gottes waren, sich aber freiwillig und schuldhaft von ihrem Vater getrennt und ihre Sohnschaft aufgegeben haben, werden sie wiedergewinnen, wenn sie zu ihrem Vater umkehren und ihre Sünde bekennen. Dies ist eine der wichtigsten Botschaften des Evangelisten Lukas. Die zentrale Stellung des Gleichnisses in der Komposition des LkEv bestätigt dies. Wie der Evangelist Matthäus benutzt Lukas auch die Bezeichnung 'Bruder' im Sinne von Glaubensbruder, auch wenn sie im LkEv nur in 22,32 eindeutig festzustellen ist. Die lk Besonderheit in der Anwendung dieser Bezeichnung ist, dass sie im LkEv nicht auf die eigenen Gemeindeglieder beschränkt, sondern deutlicher als in den anderen synoptischen Evangelien auf Christen im Allgemeinen angewendet wird.

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Die familia-dei-Vorstellung im Thomasevangelium

Exkurs: Die familia-dei· Vorstellung im Thomasevangelium Wie in der synoptischen Tradition begegnet die familia-dei-Vorstellung auch im Thomasevangelium. Zwei Dimensionen lassen sich in ihm beobachten: die Beziehung zwischen Gott und den Menschen und die unter den Menschen. Gott ist für die Christen des Thomasevangeliums 'Vater', sie sind seine Söhne und untereinander 'Brüder' Die Verbindung beider Charakteristika erweckt den Eindruck, dass das ThEv hinsichtlich seiner familia-dei-Vorstellung dem MtEv und dem LkEv nahe steht. Ob sich dieser Eindruck verifizieren lässt, werden wir zum Schluss unserer Erörterung zu beantworten versuchen. Im Folgenden betrachten wir die beiden oben genannten Dimensionen anhand der jeweils relevanten Logien etwas näher, wobei die Frage nach ihrem Sitz im Leben mit berücksichtigt wird.

1) Die Vorstellung von Gott als Vater Das Logion 50 zeigt mit aller Deutlichkeit, wie die Christen des ThEv sich in Bezug auf Gott verstanden haben. Dort heißt es:1 „Jesus sagte: Wenn sie zu euch sagen: Woher kommt ihr?, dann sagt zu ihnen: Wir kommen aus dem Licht, daher, wo das Licht aus sich selbst heraus geboren ist. Es hat [sich aufgestellt], und es hat sich in ihrem Bild offenbart. Wenn sie zu euch sagen: Wer seid ihr? dann sagt: Wir sind seine Söhne, und wir sind die Erwählten des lebendigen Vaters. Wenn sie euch fragen: Welches ist das Zeichen eures Vaters in euch?, sagt zu ihnen: Es ist Bewegung und Ruhe." Nach den von mir hervorgehobenen Sätzen sind die Christen des ThEv die Söhne Gottes, des lebendigen Vaters. Hierbei ist der erste Satz zu beachten: „Wenn sie zu euch sagen: Wer seid ihr?" Dieser Satz lässt erkennen, dass die Christen des ThEv nicht alle Menschen als Söhne Gottes verstanden haben, sondern nur sich selbst ('ihr' bzw. 'wir'). Es sind nur die 'Erwählten' 1

Alle Logien des ThEv werden nach der Übersetzung von B. Blatz, Das koptische Thomasevangelium, in: W. Schneemelcher (Hg), Neutestamentliche Apokrypen I.Bd. Evangelien, Tübingen 6 1990, 98-113, wiedergegeben.

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Logion 50 erlaubt die Feststellung, dass das Selbstverständnis der Christen des ThEv ein Sohnverhältnis zum lebendigen Vater ist.2 Das wird durch die Beobachtung unterstützt, dass im ganzen ThEv das Wort 'Gott' nur einmal vorkommt (Log. 100), während Gott fast immer umschrieben wird, wobei die Umschreibung Gottes als 'Vater' am häufigsten ist: Nur zweimal wird Gott als 'Herr' bezeichnet (Log. 73. 74), aber dreimal als 'mein Vater' (Log. 61. 64. 99), und sogar vierzehnmal als 'der Vater' (Log. 3. 27. 40. 44. 50. 57. 69. 76. 79. 83. 96. (97). 98. 113). Man könnte freilich bestreiten, dass der Ausdruck 'der Vater' in diesen Logien den Vater der Hörer des ThEv meint, da der Ausdruck eine Umschreibung von 'meinem Vater' sei. Da andererseits im ThEv Logien begegnen, in denen Jesus den Ausdruck 'mein Vater' gebraucht, kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit den Ausdruck 'der Vater' als Vater der Hörer des ThEv davon unterscheiden.

Die Häufigkeit der Umschreibung Gottes als des Vaters spricht also für das Selbstverständnis der Christen des ThEv als seinen Söhnen. Wie ist dieses Selbstverständnis der Christen des ThEv konkret zu verstehen? Erläutert das ThEv das Sohnverhältnis der Christen zum lebendigen Vater irgendwo näher? Zwei Logien sind hier aufschlussreich: Log. 3 und 69. Zunächst Log. 3: „Jesus sagte: Wenn die, die euch führen, euch sagen: seht, das Königreich ist im Himmel, so werden euch die Vögel des Himmels vorangehen; wenn sie euch sagen: es ist im Meer, so werden euch die Fische vorangehen. Aber das Königreich ist in eurem Inneren, und es ist außerhalb von euch. Wenn ihr euch erkennen werdet, dann werdet ihr erkannt, und ihr werdet wissen, dass ihr die Söhne des lebendigen Vaters seid. Aber wenn ihr euch nicht erkennt, dann werdet ihr in der Armut sein, und ihr seid die Armut." Den Status der 'Sohnschaft des lebendigen Vaters' erkennen nach den von mir hervorgehobenen Sätzen nur diejenigen, die 'sich selbst erkennen' Damit wird nicht gesagt, dass jeder Mensch im Grunde bereits 2

Fieger, ThEv, 158, formuliert die Bedeutung des Logions 50 so: „Für die gnostische Theologie des ThEv ist dieser Spruch von großer Bedeutung. Log. 50 kommt einem gnostischen Bekenntnis gleich." In moderner Terminologie könnte man sagen: Die 'Identität' der Christen besteht im ThEv darin, dass sie „Söhne" des lebendigen Vaters sind. Mit dieser Vorstellung beantworten sie die Frage, wer sie sind.

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Sohn des lebendigen Vaters sei. Der zweite Satz 'dann werdet ihr erkannt' legt vielmehr die Deutung nahe, erst die Selbsterkenntnis bewirke, dass die, die sich erkennen, von Gott als Söhne erkannt werden. 3 Die Selbsterkenntnis ist also das Kriterium, um Söhne des lebendigen Vaters zu werden. Die 'Erwählten' sind demnach die 'sich Erkennenden' Das Logion 69 erläutert eine weitere konkrete Bestimmung für das Sohnverhältnis zum lebendigen Vater: „Jesus sagte: Selig sind die, die man verfolgt hat in ihrem Herzen; es sind diese, die den Vater in Wahrheit erkannt haben. Selig sind die Hungrigen, denn man wird den Bauch dessen, der (es) wünscht, füllen." Zu beachten ist hier der Ausdruck 'den Vater (in Wahrheit) erkennen' Denn er weist einen engen Zusammenhang mit der Aussage des gerade behandelten Logions auf, weil das Erkennen eines anderen als Vater unvermeidbar das Erkennen der eigenen Identität als Sohn voraussetzt. Der Ausdruck 'den Vater in Wahrheit erkennen' bedeutet also zugleich 'sein Sohnverhältnis zum lebendigen Vater erkennen' 4 Ist dies akzeptabel, so können wir den ersten Teil des Logions 69: „die, die man verfolgt hat in ihrem Herzen," als eine Begleiterscheinung des Erkennens der göttlichen Sohnschaft bezeichnen. Die Söhne des lebendigen Vaters, die 'Erwählten', werden also (in einer verinnerlichten Weise) verfolgt. Angesichts dieser Konkretisierung der Vorstellung von Gott als Vater stellen wir die Frage, was für ein Sitz im Leben hinter ihr im ThEv zu vermuten ist. Erinnern wir uns daran, dass die Vorstellung von Gott als Vater besonders charakteristisch für die familia-dei-Vorstellung in der Logienquelle ist und hinter ihr ein Wanderradikalismus als ursprünglicher Sitz im Leben steht. Dann liegt es nahe, für die familia-deiVorstellung im ThEv das Gleiche zu vermuten. In der Tat hat S.J. Patterson durch eine eingehende Untersuchung wahrscheinlich gemacht, dass der Sitz im Leben des ThEv in einem Kreis von urchristlichen Wander-

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Für Fieger, ThEv, 28, ist die 'Selbsterkenntnis' die Voraussetzung, „um überhaupt erkannt zu werden" Allerdings Ubersieht er, als was der Mensch, der sich erkannt hat, von Gott erkannt wird. 4 Ähnlich Fieger, ThEv, 200, „'Den Vater in Wahrheit' erkennen, bedeutet vor allem, sich seiner eigenen Lichtzugehörigkeit bewußt zu sein (vgl. Log. 50)."

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r a d i k a l e n zu s u c h e n ist, der g n o s t i s c h g e p r ä g t ist. 5 E i n i g e A r g u m e n t e von ihm seien hier g e n a n n t : 1. Die heimatlose Wandersituation: Nimmt man das Logion 42 („Jesus sagte: Seid Vorübergehende!") wörtlich, so wird eine Wandersituation hinter ihm sichtbar (128-132). Dafür spricht auch das Logion 86. 2. Abbruch familiärer Bindung: Die Logien wie 55 oder 101 unterstreichen den Abbruch familiärer Bindung für die Christen des ThEv. Das Logion 31, in dem von Ablehnung der Propheten in ihrer Heimat die Rede ist, bekräftigt, dass der Abbruch familiärer Bindung unter den Christen des ThEv der Realität entspricht. 3. Freiwillige Armut und Bettelei: Das Logion 14, „...Und wenn ihr in irgendein Land eintreten werdet und in den Gebieten wandert, wenn man euch empfängt, dann esst, was euch vorgesetzt wird...", veranschaulicht die Situation der Wanderradikalen des ThEv. In Log. 1006 kann man Jesus als 'the prototypical beggar' sehen. Das Logion 95 7 scheint eine 'Minoritätsethik' zum Ausdruck zu bringen, die von den Wanderradikalen ernst genommen wurde, und das Logion 36 8 veranschaulicht die Situation der Wanderradikalen. 4. Relativierung von Pietät und Reinheit: Traditionelle Frömmigkeitspraxis wie Fasten, Beten, Almosengeben, wird in Logion 14 explizit abgelehnt, „Jesus sagte zu ihnen: Wenn ihr fastet, werdet ihr euch eine Sünde zuschreiben; und wenn ihr betet, werdet ihr verdammt werden; und wenn ihr Almosen gebt, werdet ihr Böses an eurem Pneuma tun.... 5. Ablehnung von Beamten: Wie bei kynischen Philosophen so begegnen auch im ThEv Logien, die eine ablehnende Haltung dem Beamtentum gegenüber zeigen: Log. 100. 71. 78. 6. Minimale Organisation: Das einzige Logion im ThEv, das einen direkten Bezug auf die interne Organisation der Christen des ThEv nimmt, ist Log 12 (2). Die Christen des ThEv sind im Großen und Ganzen Wanderradikale, die in kleinen Gruppen bzw. einzeln wandern, wie die Logien 49 (1) oder 30 zeigen: „...Selig die Einsamen und Erwählten..."(Log. 49 (1)), „Jesus sagte: Wo drei Götter sind, da sind es Götter; wo zwei oder einer ist, da werde ich mit ihm sein."(Log. 30) 7. Weibliche Wanderradikale: Die Forderung des Logions 114, eine 'Frau männlich zu machen', lässt sich aus der Wandersituation, in der die Frauen allerlei

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Thomas, besonders 121-157. „....Er sagte zu ihnen: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist; gebt Gott, was Gottes ist, und was mein ist, gebt es mir!" (Hervorhebung von mir) 7 „[Jesus sagte:] Wenn ihr Geld habt, verleiht es nicht mit Wucher, sondern gebt [...] dem, von dem [ihr] es nicht wiederbekommen werdet." 8 „Jesus sagte: Sorgt euch nicht vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen, mit was ihr euch bekleiden werdet." 6

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Gefahren, z.B. Vergewaltigung, ausgesetzt sind, als Schutzmaßnahme erklären: Sie wanderten in männlicher Kleidung. Ist somit wahrscheinlich, dass der ursprüngliche Sitz im Leben des ThEv und damit dessen familia-dei-Vorstellung in einem gnostisch geprägten Kreis von Wanderradikalen zu suchen ist, so stellt sich im Hinblick auf die zweite Dimension der familia-dei-Vorstellung im ThEv, die Frage, wie diese sich zu dem von uns als wahrscheinlich angesehenen Sitz im Leben verhält. Denn die Betonung der Bruderschaft (oder Geschwisterschaft) untereinander ist, wie im MkEv zu sehen war, eine Vorstellung, die in sesshaften Gemeinschaften lebendig war. Wie kompatibel sind die beiden Dimensionen der familia-dei-Vorstellung im ThEv? Diese Frage werden wir im Lauf unserer Erörterung zu beantworten suchen. Ein Logion, das m.E. noch in diesem Abschnitt berücksichtigt werden sollte, ist Log. 15: „Jesus sagte: Wenn ihr den seht, der nicht aus der Frau geboren ist, werft euch mit dem Gesicht zur Erde (und) betet ihn an; dieser ist euer Vater." Eine wichtige Frage bei der Auslegung dieses Logions ist die, wie man die Wendung, 'der nicht aus der Frau geboren ist', verstehen soll. R.M. Grant und D.N. Freedman möchten sie auf Jesus beziehen, weil der Größte der von der Frau Geborenen Johannes der Täufer sei.9 Berücksichtigt man jedoch das Logion 10110, dann ist auch Jesus nach Ansicht des ThEv ein von der Frau Geborener, d.h. Jesus kann nicht der Gemeinte sein. Zieht man in Rechnung, dass im ganzen ThEv Gott sehr häufig als Vater umschrieben wird, dann liegt es nahe, auch hier an Gott zu denken.11 Auch von Gott gilt, dass er nicht von der Frau geboren ist. Darum gehört auch Logion 15 in diesen Abschnitt.

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R.M. Grant/D.N. Freedman, Geheime Worte Jesu. Das Thomas-Evangelium, Frankfurt a. M. 1960 (englische Originalausgabe 1960), 130. 10 „< Jesus sagte: > Wer nicht seinen Vater und seine Mutter haßt, wird nicht [mein Jünger] werden können. Und wer seinen [Vater nicht] liebt und seine Mutter wie ich, wird nicht mein [Jünger] werden. Denn meine Mutter[...], aber [meine] wahre [Mutter], sie gab mir das Leben." " Fieger, ThEv, 78, sieht es auch ähnlich, allerdings benutzt er das Wort 'Gott' nicht: „Die Jünger dürfen den ungezeugten Vater nicht in der Welt der Materie suchen, sondern im All (vgl. Log 77)."

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2) Die Vorstellung der Bruderschaft a) Log. 25 und 26 Die Logien, die von der Bruderschaft der Christen des ThEv untereinander sprechen, sind Log. 25.26 und 99. Von diesen sind die beiden ersten für unsere Erörterung nur soweit von Bedeutung, als die Bruderschaft der Christen des ThEv untereinander durch sie bestätigt wird. Darüber hinaus lassen sie jedoch wenig erkennen. Z.B. geben die beiden Logien für sich genommen nicht preis, ob die erwähnte Bruderschaft im Sinne der familia-dei-Vorstellung zu verstehen ist oder im Sinne ethnischer Verwandtschaft.12 Erst einige Beobachtungen am ganzen ThEv ermöglichen uns hier zu entscheiden. Bei Q-Lk 6,4 lf, einem Paralleltext zu Log. 26, dem Bildwort vom Splitter im Auge, sprachen wir von der Wahrscheinlichkeit der zweitgenannten Möglichkeit, dass „Bruder" den ethnisch Verwandten meint. Zwei Argumente sprechen jedoch bei Log. 26 für die erstgenannte Möglichkeit. Zunächst einige unjüdische bzw. heidnische Züge des ThEv, die darauf weisen, dass die Christen des ThEv keine ethnisch homogene Gruppe waren, so dass das Wort Bruder in Log. 26 nicht ohne weiteres im Sinne ethnischer Verwandtschaft zu verstehen ist. Auffallend ist vor allem das Logion 43: „Seine Jünger sagten zu ihm: Wer bist du, der du uns das sagst? Von dem, was ich euch sage, wißt ihr nicht, wer ich bin? Doch ihr seid wie die Juden13 geworden; denn sie lieben den Baum (und) hassen seine Frucht, und sie lieben die Frucht (und) hassen den Baum." Die Aussage 'ihr seid wie die Juden geworden' setzt voraus, dass sich die Christen des ThEv von den Juden unterschieden wissen. Das heißt zwar nicht, dass unter ihnen keine Juden sind,14 aber dass Juden für sie wahr12

Fieger, ThEv, 105, vermutet, dass mit dem Bruder, jeder Mensch gemeint sein kann" Seiner Vermutung ist jedoch die Frage entgegenzusetzen, warum hier nicht Wörter wie 'jeder' oder 'alle Menschen' sondern ausgerechnet das Wort 'Bruder' gebraucht wurde. 13 Hervorhebung von mir. 14 E. Haenchen, Die Botschaft des Thomas-Evangeliums, Berlin 1961,65-67, bestreitet jede Beziehung zwischen dem ThEv und dem Judenchristentum. Seine Ansicht ist angesichts judenchristlicher Tradition im ThEv, z.B. in Log. 12.

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scheinlich eine von ihnen unterschiedene Größe waren. Dies wird durch das Logion 53 bekräftigt, das die Beschneidung für unnütz erklärt: „Seine Jünger sagten zu ihm: Ist die Beschneidung nützlich oder nicht? Er sagte zu ihnen: Wenn sie nützlich wäre, würde ihr Vater sie schon beschnitten in ihrer Mutter zeugen. Aber die wahre Beschneidung im Geist hat vollen Nutzen gehabt." Die ablehnende Haltung gegenüber der Beschneidung macht es schwer vorstellbar, dass sich die Christen des ThEv noch als Juden verstehen. Zugleich verrät die Tatsache, dass überhaupt Worte über die Beschneidung im ThEv überliefert sind, die Möglichkeit, dass unter den Christen des ThEv noch einige mit jüdischer Abstammung zu finden sind.15 Das zweite Argument ist, dass im ThEv die Vaterschaft Gottes (wörtlich des lebendigen Vaters) wiederholt betont wird. Da diese Vaterschaft häufig begegnet, liegt es nahe, dass die Bruderschaft in Verbindung mit dieser Vaterschaft aufzufassen ist. Dieses Argument allein ist zwar nicht aussagekräftig genug, aber zusammen mit dem erstgenannten Argument wird seine Plausibilität deutlich erhöht. Sprechen die beiden Argumente zusammen dafür, das Wort 'Bruder' in Log. 26 im Sinne eines Mitgliedes der familia dei zu verstehen, so gilt das Gleiche für den Bruder in Log. 25: „Jesus sagte: Liebe deinen Bruder wie deine Seele; wache über ihn wie über deinen Augapfel." b) Log. 99 Das dritte Logion, das von Bruderschaft der Christen des ThEv spricht, ist Log. 99: „Die Jünger sagten zu ihm: Deine Brüder und deine Mutter sind draußen. Er sagte zu ihnen: Diese hier, die den Willen meines Vaters tun, die sind meine Brüder und meine Mutter; 39.102, als einseitig zu beurteilen. Log. 39 und 102 sind für ihn Übernahme kanonischer Traditionen, Log. 12 eine gnostische Tradition. Da eine Abhängigkeit des ThEv von kanonischer Tradition aber m.E. eher unwahrscheinlich ist, sind seine Argumente wenig überzeugend. 15 Grant/Freedman, Geheime Worte, 153, vermuten, dass das Argument gegen die Beschneidung aus radikalen hellenistisch-jüdischen Kreisen stammt.

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sie sind es, die in das Königreich meines Vaters eingehen werden." Anders als die beiden bereits erwähnten Logien gibt dieses Logion weitere Information über die Bruderschaft der Christen des ThEv preis. Das Logion hat eine Parallele im MkEv (3,31-35), die wir eingehend untersucht haben. Es ist von nicht geringer Bedeutung, wichtige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ihr vor Augen zu fuhren. Zunächst die Gemeinsamkeiten: Trotz der (im Vergleich zum mk Pendant) geringeren Länge des Logions 99 weist es fast alle wichtigen Züge der Erzählung im MkEv auf: 1) Auslöser des Geschehens ist das Auftreten von Jesu Mutter und Brüdern. 2) Jesus erwidert den von ihrem Auftreten Berichtenden, dass die Menschen, die mit ihm zusammen sind ('diese hier'), seine Brüder und Mutter seien. 3) Diese Menschen werden dadurch charakterisiert, dass sie den Willen Gottes (des Vaters) tun. Wichtige Unterschiede sind m.E.: 1) Vom Auftreten der Brüder und Mutter Jesu berichten im ThEv die Jünger (im MkEv sind es einige aus dem Volk). 2) In dem Bericht im ThEv ist die Reihenfolge von Jesu leiblichen Verwandten 'Brüder und Mutter' (im MkEv ist sie bis auf v35 stets 'Mutter und Brüder'). 3) In dem Wort Jesu über die wahren Verwandten fehlt in Logion 99 das Wort 'Schwester' 4) Die Geschichte im ThEv schließt mit dem Wort Jesu über den Einzug dieser neuen Verwandten ins Reich des Vaters ab (im MkEv endet die Geschichte bereits mit Jesu Erklärung über seine wahren Verwandten). Die Frage ist nun, wie diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu beurteilen sind. Die Übereinstimmungen sprechen m.E. dafür, dass hinter beiden Parallelen eine gemeinsame Tradition steht. Die unter 1) und 3) genannten Gemeinsamkeiten verraten, wie sie einmal begonnen und geendet haben könnte: mit dem Auftreten von Jesu Verwandten am Anfang und am Ende mit einem Wort wie: „Derjenige, der den Willen Gottes (bzw. meines Vaters) tut, ist mein Bruder und meine Mutter." 16 Etwas schwieriger ist es, die Mitte der Erzählung auszumachen, denn die mk Parallele bietet hier einen szenischen Teil, aus dem die konkrete Situation, in der Jesus sich befindet und spricht, hervorgeht, während im ThEv solch ein Teil fehlt. Jedoch ist die Mitte der Erzählung bei genauer Ana16

Dass das Logion 99 Mk 3,35 beinhaltet, spricht für unsere Annahme, dass v35 sehr früh an w 31-34 hinzugefugt wurde. Siehe auch oben im Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei im MkEv'.

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lyse der Gemeinsamkeit Nr. 2) herauszuarbeiten. Zu beachten ist hierbei der Ausdruck 'diese hier' in Log. 99. Der Ausdruck verrät, dass Jesus mit Menschen zusammen ist. Die können ursprünglich nicht seine Jünger gewesen sein, selbst wenn die jetzt vorliegende Situation diesen Eindruck vermittelt, denn sonst hätte dort statt des Ausdrucks ein Personalpronomen, etwa 'ihr', gestanden. Der jetzige Ausdruck gibt also preis, dass das Logion ursprünglich an diejenigen, die mit Jesus zusammen waren, gerichtet war. In einer ursprünglichen Geschichte muss dann eine nähere Erklärung zur Situation, in der Jesus das Wort spricht, gestanden haben, die in Logion 99 nicht mehr enthalten ist. Dagegen gibt der mk Text bekannt, in welcher Situation sich Jesus befindet und spricht: Er ist von einer hörwilligen Menschenmenge umringt. Die eigentlichen Empfänger des Wortes sind nach dem mk Text diese Menschen. Da der mk Text veranschaulicht, was das Logion 99 mit dem Ausdruck 'diese hier' nur angedeutet hat, liegt es nahe, dass ein szenischer Teil wie der im MkEv einmal die Mitte der ursprünglichen Geschichte ausgemacht hat. Man kann als Gegenprobe die umgekehrte Überlegung anstellen, ob das Logion 99 der gemeinsamen Tradition näherstehen und der mk Text eine Inszenierung des sehr knappen Wortes sein könnte. Dies ist jedoch unwahrscheinlich. Wenn das Logion 99 einer ursprünglichen Tradition näherstünde, läge es näher, den ohne den mk Text schwer zu verstehenden Ausdruck 'diese hier' zu streichen als ihn szenisch zu erweitern. Dieser Ausdruck ist also die Spur eines ursprünglich längeren szenischen Teils der Geschichte. Das Fazit: Es ist wahrscheinlich, dass hinter den beiden Parallelen eine gemeinsame Tradition gestanden hat, von der sich die mk Version weniger entfernt hat als ThEv 99. Wie sind dann die Unterschiede zu erklären? Es ist vom Ansatz her richtig, dass man Unterschiede nicht ohne weiteres als intendierte Änderungen erklären kann, da es wahrscheinlicher ist, dass das ThEv von der synoptischen Tradition unabhängig ist.17 Dennoch erlaubt die Sachlage 17

Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokrypen und die Apostolischen Väter, Berlin u.a. 1975, 624629, erörtert die (Un)Abhängigkeitsfrage. Die Befürworter der Unabhängigkeit des ThEv sind z.B. R.McL. Wilson, H. Köster, Ph. Vielhauer (Literaturangaben

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uns, einige Unterschiede als intendierte Änderungen an der gemeinsamen Tradition hinter Mk 3,3Iff und ThEv 99 zu erklären, vor allem deswegen, weil die mk Parallele ihr wahrscheinlich nähersteht. Von den oben genannten Unterschieden gilt dies für den ersten und den dritten Unterschied. Wir beginnen mit dem oben unter Nr. 1) genannten Unterschied, dass in Logion 99 die Jünger vom Auftreten der Jesusverwandten berichten, bei Mk dagegen einige aus der Menschenmenge. Die Folge ist, dass dadurch die Situation, in der sich (nach ThEv 99) Jesus befindet, unklarer wird. Der Ausdruck 'diese hier' bleibt Undefiniert. Man kann ihn auch auf die Jünger beziehen. Im mk Text dagegen sind einige der um Jesus herum sitzenden Menschen gemeint. Der Unterschied weist einen engen Zusamenhang mit der oben erwähnten Verkürzung eines szenischen Teils in Logion 99 auf. Diese Beobachtung berechtigt uns, den ersten Unterschied und die Verkürzung als intendierte 'Änderungen' zu betrachten und nach ihrem Grund zu fragen. Bei der Behandlung der Mk-Version hatten wir gesehen, dass die Menschen, auf die sich der Ausdruck bezieht, im MkEv als Identifikationsfiguren für sesshafte Christen angesehen wurden. 18 Es ist zwar nicht zu leugnen, dass hier die redaktionelle Hand des Evangelisten Markus am Werk war. Dennoch hatte die Perikope bereits ursprünglich die Menschenmenge, die mit Jesus zusammen war, zum eigentlichen Adressaten.19 Sie ist wahrscheinlich von keinem anderen als von dieser Menschenmenge, die selbst das Wort Jesu über die wahren Verwandten gehört hatte, überliefert worden. 20 Diese Menschen waren nicht Wanderradikale, sondern sesshafte Sympathisanten Jesu. 21 Die Christen des ThEv, die wohl Wanderradikale waren, dürften die Perikope von sesshaften Christen übernommen haben. Für sie dürfte die Perikope anziehend gewesen sein, weil sie Beziehungen von Christen untereinander mit Hilfe eines Wortes Jesu definiert. Da aber die Christen des ThEv einen Wanbei Vielhauer). Eine eingehende Begründung dieser Ansicht bietet Patterson, Thomas, 17-110. Die Befürworter der Abhängigkeit des ThEv von den Synoptikern sind z.B. R.M. Grant, W. Schräge, E. Haenchen (Literaturangaben bei Vielhauer). 18 Siehe auch oben im Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei im MkEv' 19 Siehe auch oben im Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei im MkEv' 20 Siehe auch oben im Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei im MkEv' 21 Siehe auch oben im Kapitel 'Die Vorstellung der familia dei im MkEv'.

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derradikalismus praktizierten, muss diese Perikope ohne Abänderung bzw. Anpassung an ihre mobile Situation Probleme bereitet haben. Eine notwendige Abänderung bestand darin, die sesshafte Prägung zu verwischen. Die oben genannten Unterschiede, die Verkürzung eines szenischen Teils sowie die Änderung der Berichterstatter, waren die Folge. Vor allem durch Änderung der Berichterstatter wurde es möglich, die wahren Verwandten Jesu auf die mobilen Jünger zu beziehen. In diesem Zusamenhang ist auch der oben unter Nr. 3) genannte Unterschied zu erklären. Wahrscheinlich hat die gemeinsame Tradition hinter den beiden Parallenen etwa so gelautet, wie Mk 3,35 sie bietet. Das heißt, das Wort 'Schwester' stand wohl ursprünglich dort. Dafür sprechen folgende Überlegungen: 1) Die gemeinsame Tradition stammt wahrscheinlich von sesshaften Sympathisanten Jesu, die im Lauf der Entwicklung eine Gemeinschaft gebildet haben. 2) Es liegt nahe, dass in solchen Gemeinschaften Frauen eine wichtige Rolle spielten. Die Passionsgeschichte ist ein Indiz dafür. Es ist aber auch prinzipiell gut denkbar, dass Frauen in solchen Gemeinschaften am Anfang der Entwicklung verantwortliche Rollen übernahmen, weil mehr Männer als Frauen in der Nachfolge Jesu ihre Häuser verlassen hatten. 3) Das Fazit: Als Mk 3,35 der ursprünglichen Geschichte hinzugefügt wurde, stand wahrscheinlich das Wort 'Schwester' neben dem Wort 'Bruder' Ein Indiz dafür ist vielleicht, dass im Logion 99 eine ungewöhnliche Reihenfolge bei der Nennung der Verwandten Jesu zu finden ist: Zuerst werden 'Brüder', und dann wird die 'Mutter' genannt. Was kann dann der Grund für das Wegfallen des Wortes 'Schwester' sein? Wenn das Wort 'Schwester' in Mk 3,35 die wichtig gewordene Rolle der Frauen in sesshaften Gemeinschaften zum Ausdruck bringt, weil der Anteil der Frauen hier nicht zu übersehen ist, so wurde das in den kleinen Gruppen von Wandercharismatikern anders. Wie Patterson anmerkt, sind zwar auch unter den Wanderradikalen des ThEv Frauen zu vermuten. 22 Jedoch dürfte ihre Zahl im Vergleich mit männlichen Wanderradikalen erheblich kleiner gewesen sein, da die Reisebedingungen für sie hart, j a gefahrlich waren. Dies führte wohl dazu, dass die Rolle der weiblichen Wanderradikalen übersehen wurde. Daher dürfte das Wort 'Schwester' in Logion 99 im Zuge der Anpassung der Perikope an die mobile Situation weggefallen sein. 22

Thomas, 153-155.

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Ein weiterer Grund, der allerdings mit dem gerade genannten zusammenhängt, dürfte sein, dass die männlichen Wanderradikalen, die der Zahl nach dominierten, von ihrem asketischen Lebensstil her bestimmte Vorbehalte gegen das andere Geschlecht hatten - das Logion 114 ist m.E. ein Indiz dafür -, die sie dazu führten, das weibliche Geschlecht für etwas Korrekturbedürftiges - etwas 'männlich zu Machendes' - zu halten. Das Wegfallen des Wortes 'Schwester' in Logion 99 erklärt sich dann als Folge aus dieser Einstellung.

Nun zu dem Unterschied Nr.4): Wie oben bereits erwähnt, schließt die Geschichte mit einem Wort, das die wahren Verwandten Jesu definiert. Das Logion 99 endet jedoch mit einem weiteren Wort Jesu über den Einzug der wahren Verwandten Jesu in das Reich des Vaters. Steckt hinter diesem Unterschied ein Sinn? Denkt man über die Funktion des letzten (Teil)Logions für das Ganze nach, so kommt man dazu, dass die Geschichte über die wahren Verwandten Jesu von den Christen des ThEv wohl als erläuterungs- bzw. ergänzungsbedürftig empfunden wurde. Geht man von der Perspektive, die die Christen des ThEv haben, aus, so wird solch eine Ergänzung verständlich, da sie sich bereits als Söhne Gottes verstanden und das Logion über die wahren Verwandten für sie nur insofern wichtig war, als dort ihre bereits vorhandene brüderliche Beziehung untereinander mit einem Wort Jesu begründet wird. Für sie war der individuelle Heilserwerb aufgrund ihrer geistlichen Verwandtschaft mit Jesus wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer Heilsgemeinschaft. Dagegen war die Geschichte über die wahren Verwandten Jesu für seine sesshaften Sympathisanten schon als solche von Bedeutung, da sie mit der Geschichte die Existenz ihrer Gemeinschaft begründen konnten. So gesehen, könnte man den Unterschied als eine verständliche Folge der Übernahme der Perikope durch die Christen des ThEv bezeichnen. Man wird allerdings nicht von einer intendierten Änderung sprechen können. Der oben unter Nr.2) genannte Unterschied ist ebenfalls in diesem Zusammenhang zu erklären. Es ist wahrscheinlich, dass die gemeinsame Tradition hinter beiden Parallelen die mk Reihenfolge in der Nennung von Verwandten Jesu, nämlich 'Mutter und Brüder', hatte. Die Änderung dieser ursprünglichen Reihenfolge in ThEv 99 dürfte wohl dadurch entstanden sein, dass man aufgrund der anderen Reihenfolge des vorletzten Logions (im mk Text v35) eine Einheit im Logion zu schaffen suchte. Dass dabei die Reihenfolge des vorletzten Logions den Vorzug verdient hat, aber nicht umgekehrt, ist auf das Interesse der Christen des ThEv an der Bruderschaft zurückzuführen.

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Das Fazit der ganzen Erörterung des Logions 99: Die Bruderschaft von Christen des ThEv, die in dem Logion zum Ausdruck kommt, berücksichtigt nur die Beziehungen von Wandercharismatikern untereinander, nicht jedoch die Beziehungen in einer sesshaften Gemeinschaft. In diesem Abschnitt ist auch das Logion 79 zu erörtern, in dem zwar von einer Bruderschaft unter den Christen nicht die Rede ist, das aber für die familia-deiVorstellung nicht irrelevant ist. Darum sei es hier kurz behandelt. Es lautet: „Eine Frau aus der Menge sagte zu ihm: Glücklich der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, die dich genährt haben. Er sagte zu [ihr]: Glücklich sind die, die das Wort des Vaters gehört haben (und) die es bewahrt haben in Wahrheit. Denn es werden Tage kommen, da ihr euch sagen werdet: Glücklich der Leib, der nicht empfangen hat, und die Brüste, die nicht Milch gegeben haben." Das Logion hat seine Parallelen: Die ersten beiden Teillogien in Lk 11,27f, das dritte Teillogion in Lk 23,29. Die Parallelen sind sehr wenig voneinander unterschieden, so dass fast keine den Sinn ändernde Unterschiede festzustellen sind. Ein neuer Sinn entsteht eher dadurch, dass in Logion 79 die im LkEv voneinander getrennt überlieferten Logien verbunden sind. Ihre Verbindung geht wohl nicht auf die redaktionelle Arbeit des Thomas zurück, sondern könnte bereits in einem früheren Stadium ihrer Traditionsgeschichte durch Wortassoziation entstanden sein.23 Das heißt aber nicht, dass die Frage nach ihrem Sinn bedeutungslos wäre. Wenn eine Verbindung keinen Sinn erzeugt hätte, hätte man auf die Verbindung trotz der Wortassoziation - in unserem Fall 'Leib' und 'Brust' - verzichtet. Da das dritte Logion an die beiden vorhergehenden angeschlossen ist, fragen wir nach der Bedeutung dieses Logions, um das Motiv der Verbindung zu erkennen. Es befürwortet ein Leben, das asketisch orientiert ist (weil es vorenthält, was zum normalen Leben einer Frau gehört, nämlich Kinder gebären und stillen). 24 Man kann dahinter eine Situation des Wanderradikalismus vermuten. Aus solch einem Gesichtspunkt betrachtet, weisen die ersten beiden Logien einen auffallenden Unterschied zu ihrer lk Parallele auf: Selig sind nicht die leiblichen Verwandten Jesu, sondern die, die das Wort des Vaters gehört und es bewahrt haben, und zwar 'in Wahrheit' Im Hinblick auf das folgende Logion kann der Zusatz „in Wahrheit" nur bedeuten, dass ein wanderradikales Leben allein dieser Bedingung entsprechen wird. Die Wanderradikalen des ThEv sind allein die Seliggepriesenen, die anstelle der leiblichen Verwandten Jesu Ehre verdienen.

23

Vgl. Patterson, Thomas, 59f. lOOf. Ähnlich auch Fieger, ThEv, 221.280.288. Allerdings identifiziert Fieger das asketische Leben mit Wanderradikalismus.

24

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3) Zusammenfassende Überlegung Wir haben eingangs die Frage gestellt, ob das ThEv eine Nähe zum MtEv und LkEv aufweist, weil auch das ThEv eine Synthese der familia-deiVorstellung der Logienquelle und des MkEv enthält. Diese Frage lässt sich nur mit Vorbehalt bejahen. Im ThEv begegnen zwar die beiden entscheidenen Züge: die Vorstellung von Gott als Vater und die Vorstellung einer Bruderschaft der Menschen untereinander. Jedoch ist im ThEv anders als im MkEv keine sesshafte Gemeinschaft mit geschwisterlichen Beziehungen zu erkennen. Vielmehr lässt sich feststellen, dass im ThEv die Parallele zu Mk 3,31-35 ohne ihre sesshafte Prägung wiedergegeben wird. Es sind wohl intendierte Abänderungen, durch die die Geschichte an die Wandersituation, in der sich die Christen des ThEv befinden, angepasst wurde. Es lässt sich daher zwar sagen, dass wie im MtEv oder im LkEv auch im ThEv eine Synthese der familia-dei-Vorstellung aus Q und aus dem MkEv festzustellen ist, jedoch eine Synthese, die nicht wie im MtEv aus einer sesshaften Perspektive, sondern aus einer Perspektive heimatloser Wanderasketen geschaffen wurde. Liegt es nahe, dass das MtEv im Kreis von Wanderradikalen, die sich niedergelassen haben, entstanden ist, so ist das ThEv in einer Gruppe von Wanderradikalen entstanden, die ihren Lebensstil, den Wanderradikalismus Jesu, fortgesetzt haben.25

25

Zu einem ähnlichen Schluss kommt Patterson, Thomas, 166 und 170, nachdem er den Sitz im Leben des ThEv als Wanderradikalismus bestimmt hat. Wörtlich schreibt er, 166: „....There ist no evidence to suggest that it has settled down or begun to compromise the wandering tradition of social radicalism in any way...If in the synoptic gospels we see the effects of a process of settling down in early Christianity, in the Gospel of Thomas, we encounter the product of the continuing tradition of wandering radicalism." Auch 170: „If in synoptic texts one must read the tradition largely through the lens of 'local sympathizer', in the Gospel of Thomas one reads it through the lens of the 'wandering charismatic'."

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Zusammenfassung

Sechstes Kapitel: Zusammenfassung /. Der historische Jesus und die famiiia dei: Differenzierungen unter den Anhängern Jesu Bei einer Zusammenfassung der Ergebnisse unserer Untersuchung empfiehlt es sich, mit der Bedeutung der famiiia dei für den historischen Jesus zu beginnen. Im Laufe unserer Untersuchung hat es sich immer wieder gezeigt, dass bestimmte Texte, die für die familia-dei-Vorstellung wichtig sind, auf den historischen Jesus zurückgehen bzw. authentisch sind. Grundlage für den Rückschluss auf den historischen Jesus ist die Annahme, dass wir Jesu Wortüberlieferung wandernden Charismatikern verdanken, die in ihrem Wanderleben die Worte Jesu zu verwirklichen suchten. Diese Wandercharismatikerthese bildet eine Rahmenhypothese unserer Untersuchung. Ihr liegt die Ansicht zugrunde, dass sich im Kreis um den historischen Jesus eine Dualität sozialer Beziehungen und entsprechend eine Dualität von ethischen Normen beobachten lässt: Eine Ethik für die Nachfolger Jesu (für die Wandercharismatiker) und eine andere für die mit ihm sympathisierenden Menschen (für die sesshaften Anhänger). Die Ansicht einer solchen Dualität beim historischen Jesus rief in der Exegese nicht nur positive Reaktionen hervor. Eine dezidierte Ablehnung begegnet bei J. Sauer. Er hat sich in seiner Dissertation 'Rückkehr und Vollendung des Heils' die Aufgabe gestellt, zu untersuchen, wie 'die ethischen Radikalismen' in Bezug auf den historischen Jesus zu interpretieren sind. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass der historische Jesus keineswegs eine Zwei-Stufen-Ethik gelehrt,1 sondern sich „bei den sogenannten 'ethischen Radikalismen' am idealen Urzustand der Schöpfung, wie er vor dem Einbruch der Sünde in die Welt war und in Gen 1 und 2 beschrieben wird, orientiert" habe.2 Diese Ansicht Sauers erweist sich beim näheren Hinsehen als problematisch, wie im Folgenden zu zeigen ist. Ich beschränke mich dabei auf einige Einzelergebnisse Sauers, die m.E. für unser Thema relevant sind. 1) Nach Sauer gehören zu den authentischen familienkritischen Logien Jesu lediglich Mk 3,35; Lk 9,60a und Lk 14,26.3 Die familienkritische Haltung in diesen Logien zeigt nach Sauer die Absicht, die 'institutionellen' Bindungen (Familie 1

Vgl. Sauer, Rückkehr, 49. Ebd., 525. 3 Ebd., 206.

2

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und Volk) zu überwinden und eine direkte Gottesbeziehung zu vermitteln, 4 die in „einer vor der Erwählung Israels liegenden Periode" zu beobachten ist.5 Kritik: Weder in Mk 3,35 noch in Lk 14,26 lässt sich eine gegen 'institutionelle' Bindungen per se gerichtete Kritik feststellen. Die Kritik richtet sich, besonders in Lk 14,26, nur gegen familiäre Bindungen. Die Erwähnung von 'Kindern' bzw. 'Sohn oder Tochter' macht eine über die familiäre Bindung hinausgehende Interpretation, z.B. auf nationale Bindungen, unmöglich. Dazu sind die Wörter 'Kinder' bzw. 'Sohn oder Tochter' wenig geeignet. 2) Die Heimatlosigkeit Jesu in Lk 9,58 par ist nach Sauer nicht authentisch. 6 'Motivliche Parallelen' zur Heimatlosigkeit ließen sich sowohl in der griechischen als auch in der jüdischen Literatur der Antike finden. 7 Jesus erscheine in den synoptischen Evangelien keineswegs als ein unbehauster Mensch. 8 „Eher passt ein solches Wort in die Situation 'vagabundierender' christlicher Wanderprediger, die sich bereits in früher Zeit im syrisch-palästinischen Raum nachweisen lassen und durch ihre Traditionen in besonderer Weise die Logienquelle beeinflusst haben." 9 Kritik: Die weite Verbreitung von Motivparallelen zu Lk 9,58 im palästinischen Umfeld zur Zeit Jesu spricht keineswegs dem Logion Authentizität ab, erhöht vielmehr die Wahrscheinlichkeit, dass sich Jesus eine dieser Parallelen zu eigen gemacht hat. Das synoptische Bild eines „sesshaften" Jesus entspricht außerdem nicht unbedingt dem historischen Jesus. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Evangelisten als sesshafte Menschen - wohl unbewusst - ein Bild des Menschen Jesus in Entsprechung zu ihrer Lebenssituation geschaffen haben. 3) Im Themenbereich 'Reichtumskritik / Armutsforderung / Sorgenfreiheit' sind nach Sauer die Texte Mk 10,25; Lk 10,4 par; Lk 6,20bf par; Lk 12,22. 27. 31 par; Lk 11,3 par; Lk l l , l l f par authentisch. 10 Hinter diesen Logien steht nach Sauer die Vorstellung von Gott als 'dem totalen Versorger', die im AT für die Urzeit - vor dem Sündenabfall der Menschen - zu beobachten ist." „Jesus rekurriert auf den Schöpfergott der Urzeit und die von ihm geschaffenen idealen Zustände der protologischen Heilszeit, wenn er die beschriebenen Einstellungen und Verhaltensweisen nahelegt." 12 Kritik: Sauer behauptet, dass sich die Verbote bzw. Gebote in den Logien alle auf das grundsätzliche Verhältnis von Personen zu Sachen beziehen, die Gebote bzw. 4

Ebd., 212. Ebd., 211. 6 Ebd., 216-219. 7 Ebd., 216f. 8 Ebd., 217. 9 Ebd. 10 Ebd., 276-337. " E b d . , 340-342. 12 Ebd., 342. 5

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Zusammenfassung

Verbote zielten nicht auf 'weitergehende handlungsorientierte Aktivitäten' 13 Diese Behauptung lässt sich nicht halten. In Lk 12,22-31 ist die Aufforderung 'Nicht-sorgen' unmissverständlich mit dem 'Trachten nach dem Reich Gottes' gekoppelt; die in Mk 10,25 indirekt formulierte Armutsforderung ist eng mit dem Ruf Jesu zur Nachfolge (v21) verbunden. Und schließlich zielt die Ausrüstungsregel in Lk 10,4 klar auf eine 'weitergehende handlungsorientierte Aktivität', ohne die diese Regel sinnlos wäre: auf die Verkündigung des Reichs Gottes (v9). Die Behauptung Sauers, Lk 10,4 sei ein ursprünglich isoliertes Logion gewesen, das nachträglich mit der Aussendungstradition verbunden wurde,14 ist alles andere als sicher. Seine Begründung für eine solche Annahme ist nicht ausreichend: die Form der Prohibitive hebt zwar das Logion im Kontext hervor, ist aber kein Grund für die Annahme einer Isoliertheit; statt einer expliziten Verbindung mit dem Kontext lässt das Logion eine implizite Verbindung zu ihm erkennen: wozu braucht man eine Reiseausrüstungsregel, wenn nicht für die Aussendung der Jünger? Das Fazit: Die ethischen Radikalismen Jesu müssen auf dem Hintergrund der Distanz zur Familie, der Heimatlosigkeit und des Wanderlebens interpretiert werden.15 Die Annahme einer Dualität von Beziehungen beim historischen Jesus vermag die Bedeutung der familia dei für den historischen Jesus zu erhellen. Wie unsere Untersuchung von Mk 3,31-35 zeigt, brachte Jesus seine Nähe zu sesshaften Sympathisanten mittels familiärer Bezeichnungen zum Ausdruck: Sie sind seine wahren Verwandten. War die Nachfolgebeziehung die eine grundlegende Säule in der Jesusbewegung, so sehen wir hier in der familiären Beziehung (Mk 3,31-35) die andere Säule. Die familia dei ist für den historischen Jesus also ein konzeptioneller Gedanke, der den Nachfolgegedanken ergänzt. Betrifft der Nachfolgegedanke ursprünglich die tatsächlich Nachfolgenden, also die Wandercharismatiker, so umfasst der familia-dei-Gedanke schon beim historischen Jesus 13

Ebd., 339. Ebd., 294f. 15 Es ist zu unterstreichen, dass die ethischen Radikalismen Jesu nicht nur für die Wandercharismatiker allein sondern auch für die sesshaften Anhänger von Bedeutung waren. Denn sie drücken ja jüdische Grundüberzeugungen aus. Die Letzteren konnten sie allerdings aufgrund ihres 'normalen' Lebensstils weniger kompromisslos verwirklichen als die Ersteren, die dank ihres 'marginalen' Lebensstils - einer heimatlosen Wanderexistenz - imstande waren, jüdische Grundüberzeugungen klarer und kompromissloser zu verkörpern. Vgl. Theißen, Jesus im Judentum. Drei Versuche einer Ortsbestimmung, in: Kul 2.99, 93-109, besonders 106f. 14

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auch alle seine sesshaften Sympathisanten: Sie sind Mitglieder der familia dei. Nachfolger und Mitglieder der familia dei verhalten sich dabei wie zwei konzentrische Kreise zueinander: Alle gehören zur familia dei. Ein enger Kreis in ihr aber folgt Jesus in einer heimatlosen Wanderexistenz nach.

II. Q und Mk als älteste Quellen: Von der Teilverwirklichung des Bildfeldes der familia dei zum vollen Bildfeld Diese beiden konzentrischen Kreise von Anhängern Jesu haben in verschiedener Weise die beiden ältesten Quellen, Q und das MkEv, geprägt. Die Logienquelle steht dem Wandercharismatikertum der Nachfolger (im engeren Sinne) nahe. Das MkEv ist mehr an den Anhängern Jesu (im weiteren Sinne), an den ortsansässigen Sympathisantengruppen, d.h. den frühen Ortsgemeinden, orientiert. Es ist daher kein Zufall, dass in der Logienquelle das Bildfeld der familia dei nicht vollständig realisiert wird und erst das MkEv alle Elemente dieser Vorstellung enthält.

(1) Logienquelle Die familia-dei-Vorstellung in der Logienquelle ist durch die Beziehung zwischen Gott und Menschen geprägt: Die Menschen sind Kinder, Gott ist Vater bzw. als Weisheit auch Mutter. Dementsprechend sind in der Logienquelle zwei konkrete Vorstellungen zu finden, welche die familiadei-Vorstellung der Logienquelle ausmachen: Die Vorstellung von Gott als Vater und die Vorstellung von Gott als Mutter (Weisheit). Die erstgenannte Vorstellung wird von Texten wie Q-Lk 11,9-13; 11,2-4; 6,2736; 12,22-31 bezeugt, die zweitgenannte von Texten wie Q-Lk 7,31-35; 13,34-35. Dagegen fehlen Aussagen über eine Beziehung der Kinder Gottes untereinander als Brüder und Schwestern. Das Bildfeld von der familia dei wird insofern nur unvollständig realisiert. Die Untersuchung des Sitzes im Leben dieser Texte spricht dafür, dass hinter der familia-dei-Vorstellung der Logienquelle das urchristliche Wandercharismatikertum steht. Wandercharismatiker waren es also, die Gott als Vater bzw. Mutter verstehen durften. Die Vorstellung von Gott als Vater ermöglichte es ihnen, im Wanderleben die Geborgenheit und Sicherheit zu erfahren, die in der Antike eine Familie zu geben vermochte, die sie aber nicht genießen konnten, weil sie als Nachfolger Jesu ihre Familien verlassen hatten. Darüber hinaus ermöglichte ihnen die Vorstellung der familiären Beziehung zu Gott das Bewusstsein, sich als (künfiti-

Zusammenfassung

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ge) Mitherrscher des Reichs Gottes zu verstehen, weil ihnen das Reich Gottes gehörte und sie Kinder des königlichen Vaters waren. Ist hinter der Vorstellung von Gott als Vater das Wanderleben im Allgemeinen sichtbar, so wird hinter der Vorstellung von Gott als Mutter ein spezieller Aspekt dieses Lebens sichtbar: Die Wandercharismatiker werden wie Jesus von der Umwelt, genauer von diesem Geschlecht, abgelehnt und verfolgt, vor allem deswegen, weil sie den Besitz der Weisheit, die traditionell der Führungsschicht des Volkes (den Pharisäern und Schriftgelehrten) gehört, für sich in Anspruch nehmen. Sie stellen den exklusiven Anspruch der Führungsschicht auf Weisheit in Frage, indem sie sich betont als Kinder der Weisheit verstehen. In Q-Lk 13,34f prophezeien sie sogar, dass Jerusalem von der Weisheit verlassen wird: Die Weisheit verlässt den Ort, an dem die Führungsschicht ihren Sitz hat.

(2) MkEv War die familia-dei-Vorstellung der Logienquelle auf die Beziehung zwischen Gott und den Menschen konzentriert, so ist sie im MkEv sowohl durch die Beziehung zwischen Gott und den Menschen als auch durch Beziehungen unter den Menschen geprägt. Das Bildfeld der familia dei ist jetzt vollständig realisiert. Am Anfang der Entwicklung von Beziehungen zwischen den Menschen steht die Beziehung Jesu zu seinen sesshaften Sympathisanten (Mk 3,31-34): Jesus erklärt sie an Stelle seiner leiblichen Verwandten zu seiner Mutter und seinen Geschwistern. Aus dieser Beziehung der Sympathisanten Jesu zu ihm entstehen nun Beziehungen unter ihnen: Sie sind untereinander Brüder und Schwestern (v35). In einer so entstandenen, geschwisterlichen Gemeinschaft von sesshaften Sympathisanten steht in der Mitte Gott, weil Jesus, der für alle ein Bruder ist, selbst Sohn Gottes ist. Eine solche Gemeinschaft ist daher eine familia dei (v35). Die Beziehung von Jesu Sympathisanten zu Jesus wird im Laufe der Entwicklung auf die Beziehung dieser Sympathisanten zu den Wandercharismatikern übertragen, denn diese treten durch ihre Nachfolgeexistenz an die Stelle Jesu. So sind die Gemeinschaften sesshafter Sympathisanten Jesu für die Wandercharismatiker eine neue Familie, in der sie als Familienmitglieder Aufnahme finden können (Mk 10,28-31). Für die mk Gemeinde bietet die familia dei in der Evangelienerzählung eine Identifikationsmöglichkeit. Die familia dei ist für sie eine Größe, die

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dem Zwölfer-Kreis vergleichbar ist: Die Träger des Geheimnisses des Reich Gottes sind neben den zwölf Jüngern, die mobile Nachfolger waren, die stationär lebende familia dei (Mk 4,10). Die mk Gemeinde braucht die familia dei als Identifikationsfigur, weil sie sich als ortsstabile Gemeinschaft vom Einfluss der Wandercharismatiker lösen muss: Das MkEv weist daher nicht nur Traditionen auf, in denen der Nachfolgegedanke zugunsten einer stationären Situation uminterpretiert wird, sondern auch Texte, deren Sitz im Leben dort zu suchen ist, wo die ortsstabilen Gemeinschaften Probleme, die nur in ihrer sesshaften Situation begegnen, zu lösen suchen. Dazu gehören Mk 10,13-16; 9,33-37; 7,9-13 sowie 10,1-12, also die Themen Kinder, Eltern und Ehe.

III. Die großen synoptischen Evangelien: Zwei Synthesen im MtEv und LkEv aufgrund der älteren Quellen Die beiden großen synoptischen Evangelien, das Mt- und LkEv, sind nicht nur in literarischer Hinsicht Synthesen der beiden älteren Quellen. Auch ihre jeweilige Vorstellung von der familia dei konnte als „Synthese" analysiert werden. Dabei schließt sich das MtEv mehr an die Logienquelle und das LkEv mehr an das Markusevangelium an.

(1) MtEv Die familia-dei-Vorstellung des MtEv ist freilich nicht nur eine Synthese der beiden unterschiedlich geprägten Vorstellungen aus Logienquelle und MkEv, sondern intensiviert die ihm vorliegenden Traditionen. So findet in der mt familia-dei-Vorstellung die aus der Logienquelle stammende Vorstellung von Gott als Vater eine Intensivierung in der Bergpredigt. Der Evangelist verleiht den vier wenig miteinander zusammenhängenden Q-Texten, die die Vorstellung von Gott als Vater bezeugen, durch die Bergpredigt einen zusammenhängenden Rahmen, wobei das Feindesliebegebot im Zentrum steht und die Bezeichnungen Gottes als Vater bzw. der Hörer als seine Kinder vermehrt werden: Die Bergpredigt stellt so eine Rede Jesu an die Kinder Gottes dar, die sich als Gottes Kinder durch Taten erweisen sollen, die Gottes Handeln nachahmen (Mt 5,16.45). Auch die mk Prägung der familia-dei-Vorstellung findet im MtEv eine Intensivierung, wenn auch nicht im gleichen Maße wie die der Logienquelle. So sind alle Gemeindeglieder Geschwister, wie es in der mk Gemeinde der Fall war (Mt 18; 23,8). Dabei steht in der Mitte dieser ge-

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Zusammenfassung

schwisterlichen Beziehung selbstverständlich Gott der Vater (23,9; 18,14). Besonders die familia-dei-Vorstellung, die in Mt 23,8f begegnet, ermöglicht dem Evangelisten ein innergemeindliches Problem zu lösen, nämlich Ungleichheit und Spannung zwischen den Judenchristen und den Heidenchristen in der Gemeinde. Da alle Geschwister sind, die den einen Vater, Gott, haben, sind alle ohne Unterschiede gleich. Das Selbstverständnis der mt Gemeinde als Kinder Gottes ermöglicht es ihnen, neben internen Problemen auch ein Problem im Verhältnis zu ihrer Umwelt, das Steuerproblem (insbesondere die Sondersteuer für den fiscus judaicus) zu lösen. Denn die mt Gemeindeglieder sind eigentlich königliche Kinder. Weil Gott, ihr Vater, der König ist (Mt 5,35), darum brauchen sie keine Steuern zu zahlen. Die Beobachtung der mt Prägung der familia-dei-Vorstellung sowie der Art und Weise des mt Umgangs mit den traditionellen familia-deiVorstellungen legt es schließlich nahe, dass die mt Gemeinde durch Niederlassung von Wortüberlieferung tradierenden Wandercharismatikern entstanden ist. Dafür spricht vor allem die besonders deutliche Intensivierung der familia-dei-Tradition der Logienquelle.

(2) LkEv Wie das MtEv enthält auch das LkEv eine familia-dei-Vorstellung, die eine Synthese der unterschiedlich geprägten Vorstellungen aus Logienquelle und MkEv ist. Die Besonderheit der lk familia-dei-Vorstellung ist jedoch die, dass sie auf alle Menschen angewendet wird: Der familia dei gehören nicht nur die Christen, sondern alle Menschen an, denn Gott ist der allererste Vorfahre (Lk 3,38). Allerdings gebraucht der Evangelist Lukas nirgendwo explizit die Bezeichnung 'Kinder Gottes' für alle Menschen, sondern nur für die Christen. Das ist für ihn kein Widerspruch. Denn alle Menschen haben nach ihm (Apg 17,30; Lk 24,47) Buße zu tun, und wenn jemand dies getan hat, ist er Christ und zugleich Gottes Kind. Dieser Status ist kein neuerworbener, sondern Wiedergewinn eines verlorengegangenen Status, wie das zentrale Stück des LkEv, das Gleichnis vom verlorenen Sohn, veranschaulicht. Alle Menschen sind also im Grunde Kinder Gottes, da sie aber ihre Kindschaft aufgegeben haben, weil sie von ihrem Vater nichts wissen wollten, müssen sie sie dadurch wiedergewinnen, dass sie zu ihrem Vater zurückkehren, also Buße tun. Die lk familia-dei-Vorstellung ist daher nicht nur eine Synthese der Vor-

Die Vorstellung der familia dei in den synoptischen Evangelien Stellungen aus Logienquelle und MkEv, sondern eine dieser Vorstellungen über beide Quellen hinaus.

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Weiterführung

Dem universalistisch geprägten Charakter der lk familia-dei-Vorstellung entspricht auch die Anwendung der Bezeichnung 'Bruder' im LkEv. Wie im MtEv bzw. MkEv kennt das LkEv sie auch im Sinne von Glaubensbruder, jedoch beschränkt der Evangelist Lukas diese Bezeichnung nicht auf seine eigenen Gemeindeglieder, sondern erweitert deutlicher als die anderen synoptischen Evangelien ihre Anwendung auf Christen überhaupt. Alle Christen sind für Lukas unabhängig von ihrer Gemeindezugehörigkeit Geschwister.

IV. Die Geschichte der familia-dei-Vorstellung in den synoptischen Evangelien Ist die familia-dei-Vorstellung der Logienquelle von wanderradikalem (nichtsesshaftem) Leben geprägt, während die des MkEv von sesshaftem Leben bestimmt ist, so weist die familia-dei-Vorstellung im MtEv und im LkEv unterschiedliche Beziehungen zu diesen beiden Traditionen auf: Die familia-dei-Vorstellung im MtEv steht in Kontinuität zu der in Q gesammelten Logientradition, indem sie deren ethische Radikalität - z.B. in der Bergpredigt - intensiviert, während die Vorstellung im LkEv durch ihre Orientierung an der Gemeinschaft der mk Tradition nahesteht. Diese unterschiedliche Rezeption von Traditionen lässt sich auch dort beobachten, wo die beiden Vorstellungen Gemeinsamkeiten zeigen: Zumindest ansatzweise sind sowohl im MtEv als auch im LkEv universale Züge beobachten; sie sind aber unterschiedlich akzentuiert. Im MtEv sind sie stark ethisch orientiert (Mt 25,31-46 z.B.), während das LkEv von der Herkunft der ganzen Menschheit ausgeht und die ganze Menschheit als eine Gemeinschaft ansieht (Lk 3,38). Dort macht das Handeln an den Notleidenden alle zu Brüdern und Schwestern, hier gehört die ganze Menschheit einer genealogisch durch Adam (und Gott) verbundenen Gemeinschaft an. Neben solchen Veränderungen, die jeweils nur einen Überlieferungsstrang, Q und Mt, Mk und Lk, betreffen, gibt es einen Wandel in der Metaphorik der familia dei, der sich durchgehend feststellen lässt: 1) Wir beobachten einen Wandel der Sozialform vom Wanderradikalismus zur Ortsgemeinde: Die Vorstellung von Gott als Vater, die den Wandercharismatikern Sicherheit gibt, entwickelt sich zur vollständigen

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Zusammenfassung

Vorstellung der familia dei, die den Ortsgemeinschaften als Grundgedanke ihrer Identität diente. Eine Gewichtsverlagerung von der Dominanz von Wandercharismatikern zum Leben von Ortsgemeinden ist unverkennbar. 2) Ein Wandel lässt sich ferner bei den Rezipienten der Metaphorik feststellen. Die Entwicklung geht vom Volk Israel zu allen Völkern: Die Metaphorik, die ursprünglich allein auf das Volk Israel angewendet wurde, erfuhr durch die Völkermission eine Öffnung, so dass sie auf alle Völker angewendet werden konnte. Zur familia dei können nun alle Menschen gehören. Wir hatten eingangs darauf hingewiesen, wie sich in der Bibel schon im Alten Testament die familia dei vom Himmel auf die Erde verlagert: Israel ist Gottes einzige Familie, sein Sohn, seine Frau, sein Knecht. Das Neue Testament setzt diese „Menschwerdung" der familia dei fort, indem es alle Menschen einlädt, zu ihr zu gehören. Die Kirche ist eine „Vorhut" der universalen familia dei. Sie kommt ihrer Aufgabe und Sendung (oder ihrer „Mission") dort näher, wo sie Menschen aus allen Kontinenten und Völkern umfasst und diese ökumenische Weite in jeder Ortsgemeinde sichtbar macht.

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304

Stellenregister (Auswahl) 1. Altes Testament Gen 1,27 241 2,5 66 6,2 241 6,4 241 19,24 66 Ex 2,11 18 9,23 66 Dtn 8,5 14 14 20 14,1 15 14,lf 3.16 15 20 15,12fr 20 17 20 17,14-20 19.20 26,3 214 26,5ff 213 32,6 3.4.5 2Sam 7,14 3.4.5 IChr 17,13 3.4 22,10 3.4 28,6 3

Hiob 28 9 38,41 54 Ps 2,7 3 68,6 3 68,6f 75 77 (78),27 66 89,27 3.4 103,13 15 147,8f 54 Spr 1 9 1,7 82 l,20f 9.81 8 9 8,Iff 9 8,17 11 8,22-31 10 8,32 10.11 8,32b-35 11 9 9 9,10 11

2,31 4 3,3f 4 3,4 3 3,13 3 3,14 15 3,19 4.5.15 3,20 4 3,22 15 31,9 3.5.267 31,20 15 Ez 38,22 66 Am 4,7 66 Hos 2,1 5.15.16.267 2,1-3 19 11,1 3 11,1-3 13.14 Sach 8,8 5

Jes 1,2 14 30,lf 14 43,6 15 63,16 3.4 64,7 3.4

2. Frühjüdische Schriften

Jer 1,6 5 2,10 5

Aristeasbrief 192 43 207 43

Mal 1,6 3.4 2,10 3.4.19

305

254 43 äthHen 42 9 62,11 17 Bar 3,20f 12 4,5-5,9 98.99 Frag. 3 des Apk Ez 7 JosAs 12,8 18 21,4 18 Jub l,24f 5.16 1,28 5 Jdt 9,4 17 3Makk 6,28 17 4Makk 14,15-17 54-55 Philo von Alexandrien Ebr 30 6.88 Cont 2 137 3 137 8 137

10 137 SpecLeg 1,52 129 1,317 76 1,318 6 2,165 6 Mut 29 6 PsSal 5,8-10 54 5,18 54 17,26f 16 17,30f 17 QumranSchriften CD 4,21 160 5,lf 160 1QH Kol 17[9],35f 76 l l Q P s XVIII,20 101 SapSal 2,13 8.105.268 2,16 7.8.268 2,18 8 4,7 267 5,4 267 5,5 78.267 5,15 268 6,9 13 6,21 13 7,13f 88.89 7,27 81.82

8,2f 10 8,9 10 8,16 10 10 11 Sir 4,1Of 103 4,11 88 15,1 88 15,2 88 21,22 47 24,3f 100 24,8 100 24,10-12 lOOf 24,18 100 24,19 103 24,23 12 24,33 89 51,10 7.103 51,13ff 103 51,23 103 51,23-25 89 51,27 103 THiob 1,6 21 33,3 79 33,9 79 TestXILJos 10,6 20 13,3-9 20 15,1-3 20 17,1-3 3. GriechischRömische Schriften

306

Epiktet Diss 1,13,3 22 3,22,23 77 3,22,81-82 130 3,22.95 77.78 4. Neues Testament Mt 3,1-12 208 3,7 208 3,9 208 5,5 103 5,8 103 5,9 195f.206 5,1 If 61 5,13-15 187 5,13-16 187.198 5,16 185.187190.197.289 5,17-19 187 5,19 180.197 5,20 197 5,32 158 5,35 205.290 5,39-41 62 5,43-47 190 5,45 43.66.67.77. 289 5,46 191 5,47 63.198 5,48 43.185.189 6,1 185.187.190192 6,2-4 190 6,2-6 173.192f

6,4 185.191 6,5 191 6,5-15 190 6,6 191 6,7 185.198.199 6,7f 190.195 6,8 185 6,9-13 190 6,14f 164.190. 193-195 6,16 191 6,16-18 173.190. 192f 6,18 191 6,26 186.192.222f 6,28 103 6,3If 56 6,32 198 7,7 44 7,8 44 7,15 172.180 7,15f 175 7,15-23 200f 7,22 175 7,22-23 46 9,35-38 176 9,36 177 10,2 182 10,5ff 176 10,6 201 10,10b 131 10,11 47 10,14 48 10,20 186.222 10,29 186.192. 222 10,37 131.232

10,40 151.153. 178 10,42 220 11,28-30 103f 12,46-50 164.165168.215.216 12,50 201 13,10 168 13,18 167.168 13,36-43 186.217f 13,51 167 15,24 201 16,18f 181 17,24-27 185.201206 18 185.214217.224.260.289 18,6 220 18,10 220 18,14 220.290 18,23-35 24.144. 194 18,23ff 24 18,35 194 19,3-12 213 19,27-30 164.168170.230 21,43 209 23,3 207 23,4 103 23,5 207 23,8f 214.215. 289f 23,8-10 186.206213.224 23,33 208 23,34 176.224. 235

307

25,11 45 25,11-12 46 25,14-30 24 25,31-46 186.217. 218-222.291 28,10 214 28,16-20 199 28,19f 167.176 28,20 179 Mk 1,1 107.165 1,11 107.165 1,20 132 2.15 123 2.16 92 3,11 107 3,13-19 121 3,20f 107.118.119. 168 3,22-29 118 3,31-35 107126.127.143.164 166.168.226.227 236.245.258.265 277.279.283.286 288 3,35 128.280.284 4 123 4.10 121.168.289 4.11 46 4.17 139 6,10 46 6,34 177 7,1-23 154 7,9-13 29.154-158. 289 8,34 123

8,35 140 9,33-37 145.150154.289 9.41 152 9.42 152 10,1-12 141.158163.289 10,1 If 213 10,13-16 141.145150.153.162.289 10.17-22 91.142 10,25 285.286 10,28-31 107.126143.168.226.230 236 10,35-45 151.162 10,43f 24 11,12-14 226 11,20-25 226 11,25 107.143. 164.193.194.226 12.18-27 267 13,9-13 139 13,32 107 13,34-37 144 14,36 107 15.40 116 15.41 121 15,47 116 16,1 116 Lk 1,32 242 1,35 242 1,73 214 2,38 99 2,41-52 245 2,49 242

3,21-38 267 3,22 242 3,38 234.237-245. 251.252.290.291 5,32 256 6,20f 285 6,27-36 39.40.43. 44.61-67.287 6,27-38 171.233 6.35 43.239 6.36 43 6,4If 39.257.258. 275 7.18-23 82 7,31-35 39.8082.86.87-96.287 7,35 79.171.235 8.19-21 227-230. 236 8,21 113 9,51 259 9,57-60 130 9,58 285 9,60 284 10,2ff 177 10.4 285.286 10,7b 131 10,8f 48f 10,10f 131 10,13-15 97.98 10,16 153.154 11,2-4 39.40.42. 43.44.68-74.171. 233.287 11,3 285 11.5 46 11,7 46

308

11,9-13 39.40.41. 42.44-52.171. 233 11,1 If 285 11,13 76.234 1 l,27f 265f.282 11,29-32 87. 88.94.95 11,29 96 11,31 85.96 11,46 103 11,49 171.235 ll,49ff 94 11,49-51 87.92 11,51 85.86 11,52 96 12,6 193 12,22 285 12,22-31 39.40. 41.53-61.171. 233.234.286.287 12,24 192 12,27 103.285 12,31 45.285 12,32 46.266f 12,36 46 12,42ff 24 12,42-46 144 13,1-5 256 13,16 214 13,25 45.46 13,31-34 80 13,34 39.171 13,34f 39.79.8387.96-102.287f 14,13f 268 14,26 35.36.74. 232.233.284.285

15,If 253 15,11-32 246-257 16,18 158.161 16,24f 214 16,26 259 16,27 214 16,30 214 17,3f 39.257.258 18,28-30 230-233. 236 18,29 232.233 19,9 214 19,12-26 144 19,44 84 19,41-44 99 20,36 267 22,28-30 78.236 22,30 191 22,32 234.257260 22,3 8f 46 23,29 282 24,47 244.257. 290 Apg 1,8 234 1,14 261 1,15 261 1,16-22 261 2,14ff 234 2,29 262.263.264 2,38 239 3,2ff 48 3,12-36 257 3,17 264 3,22 264 4,31 234

5,31 257 6,3 234.261 7,2 262.264 7,13 261 7,23 264 7,24f 264 7,37 264 7,57f 93 9,If 100 9,17 234 12,2 261 12,13 46 12,16 46 13,2 234 13,15 262.264 13,26 214.264 13,38 264 14,21f 259 14,22 259 15,23 263 15,28 234 15,32 259 15,41 259 17,22 263 17,22-31 238.240 17,24f 241 17,26 237 17,28f 239 17,29 241 17,30 239.244. 257.290 18,23 259 22,1 264 22,5 264 23,1 264 23,5f 264 24,15 268 26,10 100

27,10 27,21 28,17 28,21

263 263 264 264

Rom 12,14 65 12,17-21 65 16,1 116 16,13 132

IKor l,19f 95 1,20 95.96 1,22-25 95 1,24 95 2,lf 95 7.14 150 7.15 116 9,5 116 15,5 122

Phlm 2 116

Jak 5,17 66 Apk 3,20 46

5. Neutestamentliche Apokryphen ThEv 3 271 15 274

25f 275f 30 273 42 273 43 275 49 273 50 270 53 276 69 272 79 282 95 273 99 276-282 100 273 101 274 114 281

Zu diesem Buch Die vorliegende Arbeit sucht zu beantworten, welche sozialgeschichtliche Bedeutung im Urchristentum die Vorstellung gehabt hat, dass man Gott als Vater und seine Mitchristen als Geschwister versteht. Diese Vorstellung von der Familie Gottes, familia dei, geht nach dieser Untersuchung auf den historischen Jesus selbst zurück, der für die ihm tatsächlich Nachfolgenden den Nachfolgegedanken und für ortsansässige Sympathisanten die /amjii'a-dei-Vorstellung verwendet hat, zu welcher auch die ersteren gehörten, d.h. die familia dei steht als ein übergreifender Begriff für die beiden Gruppen. Die /a/ruVia-c/e;-Vorstellung findet sich in den synoptischen Evangelien und ihren Traditionen jeweils ihren sozialgeschichtlichen Umständen entsprechend unterschiedlich angewandt. So ist in der Logienquelle, deren Träger wohl Wandercharismatiker waren, nur der vertikale Charakter der familia-dei-VVorstellung zu beobachten: Gott ist Vater (und Mutter) für die Menschen. Ein vollkommenes Bild der familia dei begegnet im MkEv, das ein Evangelium für Ortsgemeinden, die sich von Wandercharismatikern ablösten, war: Die Mitchristen sind einander Geschwister, deren Vater Gott ist. Im MtEv werden die Prägung von Q und MkEv nicht nur miteinander verbunden, sondern auch intensiviert: Die Bergpredigt ist die Rede Jesu an die Kinder Gottes; alle Gemeindeglieder sind Geschwister (Mt 18; 23,8), darum sind sie alle ohne Unterschied gleich. Die Besonderheit der lk familia-dei-Vorstellung ist, dass sie auf alle Menschen angewendet wird: Der familia dei gehören nicht nur die Christen, sondern alle Menschen an, denn Gott ist der allererste Vorfahre (Lk 3,38).

NOVUM TESTAMENTUM ET ORBIS ANTIQUUS (ΝΤΟΑ)

Bd. 1

MAX KÜCHLER, Schweigen, Schmuck und Schleier. Drei neutestamentliche Vorschriften zur Verdrängung der Frauen auf dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Exegese des Alten Testaments im antiken Judentum. XXII + 542 Seiten, 1 Abb. 1986. [vergriffen]

Bd. 2

MOSHE WEINFELD, The Organizational Pattern and the Penal Code of the Qumran Sect. A Comparison with Guilds and Religious Associations of the Hellenistic-Roman Period. 104 Seiten. 1986.

Bd. 3

ROBERT WENNING, Die Nabatäer - Denkmäler und Geschichte. Eine Bestandesaufnahme des archäologischen Befundes. 364 Seiten, 50 Abb., 19 Karten. 1986. [vergriffen]

Bd. 4

RITA EGGER, Josephus Flavius und die Samaritaner. Eine terminologische Untersuchung zur Identitätsklärung der Samaritaner. 4 + 416 Seiten. 1986.

Bd. 5

EUGEN RUCKSTUHL, Die literarische Einheit des Johannesevangeliums. Der gegenwärtige Stand der einschlägigen Forschungen. Mit einem Vorwort von Martin Hengel. XXX + 334 Seiten. 1987

Bd. 6

MAX KÜCHLER/CHRISTOPH UEHLINGER (Hrsg.), Jerusalem. Texte - Bilder Steine. Im Namen von Mitgliedern und Freunden des Biblischen Instituts der Universität Freiburg Schweiz herausgegeben... zum 100. Geburtstag von Hildi + Othmar Keel-Leu. 240 S., 62 Abb.; 4 Taf.; 2 Farbbilder. 1987

Bd. 7

DIETER ZELLER (Hrsg.), Menschwerdung Gottes - Vergöttlichung von Menschen. 8 + 228 Seiten, 9 Abb., 1988.

Bd. 8

GERD THEISSEN, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition. 10 + 338 Seiten. 1989.

Bd. 9

TAKASHI ONUKI, Gnosis und Stoa. Eine Untersuchung zum Apokryphon des Johannes. X + 198 Seiten. 1989.

Bd. 10

DAVID TROBISCH, Die Entstehung der Paulusbriefsammlung. Studien zu den Anfängen christlicher Publizistik. 10 + 166 Seiten. 1989.

Bd. 11

HELMUT SCHWIER, Tempel und Tempelzerstörung. Untersuchungen zu den theologischen und ideologischen Faktoren im ersten jüdisch-römischen Krieg (66-74 n. Chr.). XII + 432 Seiten. 1989.

Bd. 12

DANIEL KOSCH, Die eschatologische Tora des Menschensohnes. Untersuchungen zur Rezeption der Stellung Jesu zur Tora in Q. 514 Seiten. 1989.

Bd. 13

JEROME MURPHY-O'CONNOR, O.P., The Ecole Biblique and the New Testament: A Century of Scholarship (1890-1990). With a Contribution by Justin Taylor, S.M. VIII + 200 Seiten. 1990.

Bd. 14

PIETER W. VAN DER HORST, Essays on the Jewish World of Early Christianity. 260 Seiten. 1990.

Bd. 15

CATHERINE HEZSER, Lohnmetaphorik und Arbeitswelt in Mt 20,1-16. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg im Rahmen rabbinischer Lohngleichnisse. 346 Seiten. 1990.

Bd. 16

IRENE TAATZ, Frühjüdische Briefe. Die paulinischen Briefe im Rahmen der offiziellen religiösen Briefe des Frühjudentums. 132 Seiten. 1991.

Bd. 17

EUGEN RUCKSTUHL/PETER DSCHULNIGG, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium. Die johanneischen Sprachmerkmale auf dem Hintergrund des Neuen Testaments und des zeitgenössischen hellenistischen Schrifttums. 284 Seiten. 1991.

Bd. 18

PETRA VON GEMÜNDEN, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt. Eine Bildfelduntersuchung. XII + 558 Seiten. 1991.

Bd. 19

MICHAEL LATTKE, Hymnus. Materialien zu einer Geschichte der antiken Hymnologie. XIV + 510 Seiten. 1991.

Bd. 20

MAJELLA FRANZMANN, The Odes of Solomon. An Analysis of the Poetical Structure and Form. XXVIII + 460 Seiten. 1991.

Bd. 21

LARRY P. HOGAN, Healing in the Second Temple Period. 356 Seiten. 1992.

Bd. 22

KUN-CHUN WONG, Interkulturelle Theologie und multikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium. Zum Verhältnis von Juden- und Heidenchristen im ersten Evangelium. 236 Seiten. 1992.

Bd. 23

JOHANNES THOMAS, Der jüdische Phokylides. Formgeschichtliche Zugänge zu Pseudo-Phokylides und Vergleich mit der neutestamentlichen Paränese XVIII + 538 Seiten. 1992.

Bd. 24

EBERHARD FAUST, Pax Christi et Pax Caesaris. Religionsgeschichtliche, traditionsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Studien zum Epheserbrief. 536 Seiten. 1993.

Bd. 25

ANDREAS FELDTKELLER, Identitätssuche des syrischen Urchristentums. Mission, Inkulturation und Pluralität im ältesten Heidenchristentum. 284 Seiten. 1993.

Bd. 26

THEA VOGT, Angst und Identität im Markusevangelium. Ein textpsychologischer und sozialgeschichtlicher Beitrag. XIV+ 274 Seiten. 1993.

Bd. 27

ANDREAS KESSLER/THOMAS RICKLIN/GREGOR WURST (Hrsg.), Peregrina Curiositas. Eine Reise durch den orbis antiquus. Zu Ehren von Dirk Van Damme. X + 322 Seiten. 1994.

Bd. 28

HELMUT MÖDRITZER, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums. 344 Seiten. 1994.

Bd. 29

HANS-JOSEF KLAUCK, Alte Welt und neuer Glaube. Beiträge zur Religionsgeschichte, Forschungsgeschichte und Theologie des Neuen Testaments. 320 Seiten. 1994.

Bd. 30

JARL E. FOSSUM, The Image of the invisible God. Essays on the influence of Jewish Mysticism on Early Christology. X + 190 Seiten. 1995.

Bd. 31

DAVID TROBISCH, Die Endredaktion des Neuen Testamentes. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel. IV + 192 Seiten. 1996.

Bd. 32

FERDINAND ROHRHIRSCH, Wissenschaftstheorie und Qumran. Die Geltungsbegründungen von Aussagen in der Biblischen Archäologie am Beispiel von Chirbet Qumran und En Feschcha. XII + 416 Seiten. 1996.

Bd. 33

HUBERT MEISINGER, Liebesgebot und Altruismusforschung. Ein exegetischer Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft. XII + 328 Seiten. 1996.

Bd. 34

GERD THEISSEN / DAGMAR WINTER, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium. XII + 356 Seiten. 1997

Bd. 35

CAROLINE ARNOULD, Les arcs romains de Jerusalem. 368 pages, 36 Fig., 23 Planches. 1997

Bd. 36

LEO MILDENBERG, Vestigia Leonis. Studien zur antiken Numismatik Israels, Palästinas und der östlichen Mittelmeerwelt. XXII + 266 Seiten, Tafelteil 144 Seiten. 1998.

Bd. 37

TAESEONG ROH, Die «familia dei» in den synoptischen Evangelien. Eine redaktionsund sozialgeschichtliche Untersuchung zu einem urchristlichen Bildfeld. XIV - 322 Seiten. 2001.

Bd. 38

SABINE BIEBERSTEIN, Verschwiegene Jüngerinnen - vergessene Zeuginnen. Gebrochene Konzepte im Lukasevangelium. XII + 324 Seiten. 1998.

Bd. 39

GUDRUN GUTTENBERGER ORTWEIN, Status und Statusverzicht, im Neuen Testament und seiner Umwelt. VIII + 372 Seiten. 1999.

Bd. 40

MICHAEL BACHMANN, Antijudaismus im Galaterbrief? Beiträge zur Exegese eines polemischen Schreibens und zur Theologie des Apostels Paulus. X + 238 Seiten. 1999.

Bd. 41/1 MICHAEL LATTKE, Oden Salomos. Text, Übersetzung, Kommentar. Teil 1. Oden 1 und 3-14. XII + 312 Seiten. 1999.

Bd. 42

RALPH HOCHSCHILD, Sozialgeschichtliche Exegese. Entwicklung, Geschichte und Methodik einer neutestamentlichen Forschungsrichtung. VIII + 308 Seiten. 1999.

Bd. 43

PETER EGGER, Verdienste vor Gott? Der Begriff zekhut im rabbinischen Genesiskommentar Bereshit Rabba. VIJ + 440 Seiten. 2000.

Bd. 44

ANNE DAWSON, Freedom as Liberating Power. A socio-political reading of the εξουσία texts in the Gospel of Mark. XIV + 258 Seiten. 2000.

Bd. 45

STEFAN ENSTE, Kein Markustext in Qumran. Eine Untersuchung der These: Qumran-Fragment 7Q5=Mk 6, 52-53. VIII + 178 Seiten. 2000.

Bd. 46

DIETER KREMENDAHL, Die Botschaft der Form. Zum Verhältnis von antiker Epistolographie und Rhetorik im Galaterbrief. XII + 332 Seiten. 2000.

Bd. 47

MICHAEL FIEGER / KONRAD SCHMID / PETER SCHWAGMEIER (Hrsg.), Qumran - Die Schriftrollen vom Toten Meer. Vorträge des St. Galler Qumran-Symposiums vom 2-/3. Juli 1999. VIII + 240 Seiten. 2001.

UNIVERSITÄTSVERLAG FREIBURG SCHWEIZ VANDENHOECK & RUPRECHT GÖTTINGEN

ORBIS BIBLICUS ET ORIENTALIS (eine Auswahl)

Bd. 25/1 MICHAEL LATTKE: Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung für Neues Testament und Gnosis. Band I. Ausführliche Handschriftenbeschreibung. Edition mit deutscher Parallel-Übersetzung. Hermeneutischer Anhang zur gnostischen Interpretation der Oden Salomos in der Pistis Sophia. XI + 237 Seiten. 1979. Bd. 2 5 / l a MICHAEL LATTKE: Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung für Neues Testament und Gnosis. Band Ia. Der syrische Text der Edition in Estrangelä. Faksimile des griechischen Papyrus Bodmer. XI + 68 Seiten. 1980. Bd. 25/2 MICHAEL LATTKE: Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung für Neues Testament und Gnosis. Band II. Vollständige Wortkonkordanz zur handschriftlichen griechischen, koptischen, lateinischen und syrischen Überlieferung der Oden Salomos. Mit einem Faksimile des Kodex Ν. XVI + 201 Seiten. 1979. Bd. 25/3 MICHAEL LATTKE: Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung für Neues Testament und Gnosis. Band III. Forschungsgeschichtliche Bibliographie 1799-1984 mit kritischen Anmerkungen. Mit einem Beitrag von Majella Franzmann. Α Study of the Odes of Solomon with Reference to the French Scholarship 1 9 0 9 1980. XXXIV + 478 Seiten. 1986. Bd. 25/4 MICHAEL LATTKE: Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung für Neues Testament und Gnosis. Band IV. XII + 284 Seiten. 1998. Bd. 76

JOZE KRASOVEC: La justice (Sdq) de Dieu dans la Bible hebra'ique et Γ interpretation juive et chretienne. 456 pages. 1988.

Bd. 90

JOSEPH HENNINGER: Arabica varia. Aufsätze zur Kulturgeschichte Arabiens und seiner Randgebiete. Contributions ä l'histoire culturelle de l'Arabie et de ses regions limitrophes. 504 Seiten. 1989.

UNIVERSITÄTSVERLAG FREIBURG SCHWEIZ VANDENHOECK & RUPRECHT GÖTTINGEN

NOVUM TESTAMENTUM ET ORBIS ANTIQUUS, SERIES ARCHAEOLOGICA (NTOA.SA)

1

DE VAUX Roland / HUMBERT Jean-Baptiste OP/ CHAMBON Alain, Fouilles de Khirbet Qumrän et de Αϊη Feshkha. I: Album de photographies, Repertoire du fonds photographique, Synthese des notes de chantier du P6re Roland de Vaux OP. XV+418 pages. 1994.

1A

DE VAUX Roland / ROHRHIRSCH Ferdinand / HOFFMEIR Bettina, Die Ausgrabungen von Qumran und En Feschcha. Die Grabungstagebücher. Deutsche Übersetzung und Informationsaufbereitung durch Ferdinand Rohrhirsch und Bettina Hoffmeir. 240 Seiten und 50 Pläne sowie Skizzen. 1996.

2

VALENTINA GRIGOROVA, Catalogue of the Ancient Greek and Roman Coins of the Josef Vital Kopp Collection University of Fribourg Switzerland. XXIV+136 pages Catalogue, Bibliography, Index, Glossary. 2000.

BIBLISCHES INSTITUT DER UNIVERSITÄT FREIBURG SCHWEIZ

Nachdem Sie das Diplom oder Lizentiat in Theologie, Bibel Wissenschaft, Altertumskunde Palästinas/ Israels, Vorderasiatischer Archäologie oder einen gleichwertigen Leistungsausweis erworben haben, ermöglicht Ihnen ab Oktober 1997 ein Studienjahr (Oktober Juni), am Biblischen Institut in Freiburg in der Schweiz ein

Spezialisierungszeugnis BIBEL UND ARCHÄOLOGIE (Elemente der Feldarchäologie, Ikonographie, Epigraphik, Religionsgeschichte Palästinas/Israels)

zu erwerben. Das Studienjahr wird in Verbindung mit der Universität Bern (25 Min. Fahrzeit) organisiert. Es bietet Ihnen die Möglichkeit, eine Auswahl einschlägiger Vorlesungen, Seminare und Übungen im Bereich "Bibel und Archäologie" bei Walter Dietrich, Othmar Keel, Ernst Axel Knauf, Max Küchler, Silvia Schroer und Christoph Uehlinger zu belegen; w

diese Veranstaltungen durch solche in Ägyptologie (Hermann A. Schlögl, Freiburg), Vorderasiatischer Archäologie (Markus Wäfler, Bern) und altorientalischer Philologie (Pascal Attinger, Esther Flückiger, beide Bern) zu ergänzen;

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die einschlägigen Dokumentationen des Biblischen Instituts zur palästinisch-israelischen Miniaturkunst aus wissenschaftlichen Grabungen (Photos, Abdrücke, Kartei) und die zugehörigen Fachbibliotheken zu benutzen; mit den großen Sammlungen (über lO'OOO Stück) von Originalen altorientalischer Miniaturkunst des Biblischen Instituts (Rollsiegel, Skarabäen und andere Stempelsiegel, Amulette, Terrakotten, palästinische Keramik, Münzen usw.) zu arbeiten und sich eine eigene Dokumentation (Abdrücke, Dias) anzulegen;

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während der Sommerferien an einer Ausgrabung in Palästina / Israel teilzunehmen, wobei die Möglichkeit besteht, mindestens das Flugticket vergütet zu bekommen.

Um das Spezialisierungszeugnis zu erhalten, müssen zwei benotete Jahresexamen abgelegt, zwei Seminarscheine erworben und eine schriftliche wissenschaftliche Arbeit im Umfange eines Zeitschriftenartikels verfaßt werden. Interessenten und Interessentinnen wenden sich bitte an den Curator des Instituts: PD Dr. Christoph Uehlinger Biblisches Institut Universität, Misericorde CH-1700 Freiburg / Schweiz Fax +41 - (0)26 - 300 9754

INSTITUT BIBLIQUE DE L'UNIVERSITE DE FRIBOURG EN SUISSE

L'Institut biblique de I'Universite de Fribourg en Suisse o f f r e la possibilite d ' a c q u e r i r un

certificat de specialisation

CRITIQUE TEXTUELLE ET HISTOIRE DU TEXTE ET DE L'EXEGESE DE L'ANCIEN TESTAMENT ( S p e z i a l i s i e r u n g s z c u g n i s Textkritik und G e s c h i c h t e d e s T e x t e s u n d d e r Interpretation des Alten T e s t a m e n t e s )

en une annee a c a d e m i q u e (octobre ä juin). Toutes les personnes ayant obtenu une licence en theologie ou un grade academique equivalent peuvent en beneficier.

Cette ann6e d ' e t u d e s peut etre organisee autour de la critique textuelle proprement dite ( m e t h o d e s , histoire d u texte, instruments de travail, edition critique de la Bible); autour des temoins principaux du texte biblique (texte masordtique et masore, textes bibliques de Qumran, Septante, traductions hexaplaires, Vulgate, T a r g o u m s ) et leurs langues ( h i b r e u , arameen, grec, latin, syriaque, copte), enseignees en collaboration avec les chaires de patrologie et d'histoire ancienne, ou «s·

autour de l'histoire de l'exegese juive (en hebreu et en judeo-arabe) et chr6tienne (en collaboration avec la patrologie et l'histoire de l'Eglise).

L'Institut biblique dispose d ' u n e bibliotheque specialisee dans ces domaines. L e s deux c h e r c h e u r s de l ' l n s t i t u t biblique consacr6s ä ces travaux sont Adrian S c h e n k e r et Yohanan Goldman.

Pour l'obtention du certificat, deux examens annuels, deux seminaires et un travail ecrit äquivalent ä un article sont requis. L e s personnes interessdes peuvent o b t e n i r des informations supplementaires a u p r i s du Curateur de l'lnstitut biblique:

Prof. Dr. Adrian Schenker Institut Biblique Universite, Misericorde CH-1700 Fribourg / Suisse Fax +41 - (0)26 - 300 9754