Die Griechische Geschichtsschreibung: Band 1 Von den Anfängen bis Thukydides. Text [Reprint 2020 ed.] 9783112318218, 9783112307021

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Die Griechische Geschichtsschreibung: Band 1 Von den Anfängen bis Thukydides. Text [Reprint 2020 ed.]
 9783112318218, 9783112307021

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Kapitel I: Allgemeine Grundlagen
Kapitel II: Historische Voraussetzungen und Anfänge
Kapitel III: Hekataios von Milet
Kapitel IV: Zwischen Hekataios und Herodot
Kapitel V: Herodot
A. Das Problem der Komposition seines Werkes. Äußere Lebensdaten
B. Die großen Forschungsreisen Herodots am Schwarzen Meer und in Ägypten. Geographie und Ethnographie
C. Einzelerzählungen und Geschichte bei Herodot
D. Chronologische Methoden und Probleme
E. Historische Quellen, historische Forschung, historische Kritik und historische Konstruktion
F. Die Entstehung des Herodoteischen Geschichtswerkes und die Entwicklung Herodots zum und als Historiker
Kapitel VI: Hellanikos von Lesbos und seine Zeitgenossen. Neue chronologische Methoden
Kapitel VII: Thukydides
A. Allgemeine Probleme. Leben. Zeitgeschichtliche Voraussetzungen. Die sogenannte thukydideische Frage
B. Rekonstruktion der Vergangenheit
C. Das sogenannte Methodenkapitel. Die Untersuchung und Darstellung der Ursachen des Krieges
D. Der Archidamische Krieg. Perikles und Kleon
E. Vom Frieden des Nikias bis zum Ende des Werkes des Thukydides. Charakter und Folgen des Friedens. Der Melierdialog. Die sizilische Expedition. Die oligarchische Verfassung von 411 und die Wiederherstellung der Demokratie
F. Die Arbeitsweise des Thukydides. Der Realismus des Thukydides
Corrigenda

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Kurt von Fritz • Die Griechische Geschichtsschreibung Band I • Text

Kurt von Fritz

Die Griechische Geschichtsschreibung Band i Von den Anfängen bis Thukydides Text

Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp. Berlin 1967

A r c h i v - N r . 36 58 671

© 1967 by W a l t e r de Gruyter Sc C o . , vormals G . J . Göschen'sdie Verlagshandlang . J . G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung . Georg Reimer • K a r l J . Trübner . Veit Sc C o m p . , Berlin 30, Genthiner S t r a ß e 13. Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nidit gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, X e r o k o p i e ) zu vervielfältigen. Printed in Germany. S a t z und D r u c k : H . Heenemann K G , Berlin 31

DIS MANIBVS EDVARD SCHWARTZ

Vorwort Der vorliegende erste Band einer geplanten Gesdbichte der griechischen Geschichtsschreibung von den ersten Anfängen bis Poseidonios ist wesentlich umfangreicher geworden, als ursprünglich beabsichtigt gewesen war. Damit hängt eine dem ganzen Unternehmen inhärente Schwierigkeit zusammen, die im gegenwärtigen Stadium unserer Erkenntnis nicht vollständig zu überwinden w a r und vielleicht niemals ganz wird überwunden werden können. Seit Friedrich Creuzers Buch über „Die historische Kunst der Griechen in ihrer Entstehung und Fortbildung", das vor 1 2 0 Jahren erschienen ist, sind eine Reihe zusammenfassender Darstellungen der Geschichte der griechischen Historiographie veröffentlicht worden, von denen diejenige von Bury wohl immer noch die am meisten benutzte und gelesene ist. Aber nicht nur die nur in Fragmenten erhaltenen oder gar nur aus indirekten Hinweisen bekannten Werke, sondern gerade die in extenso erhaltenen Geschichtswerke des Herodot und Thukydides stellen eine außerordentliche Fülle von Problemen, und es gibt darüber aus den letzten hundert Jahren eine fast unermeßliche Literatur. Es erschien nicht als sinnvoll, ein neues Werk über den Gegenstand hinzuzufügen, ohne den Versuch zu machen, die wichtigsten der viel diskutierten und dazu noch einige bisher nicht bemerkte Probleme nach Möglichkeit zu lösen und sich mit der wichtigsten Literatur über die ersteren auseinanderzusetzen. Daraus aber resultiert die Schwierigkeit. Eine Geschichte der griechischen Geschichtsschreibung muß, weil sie sowohl die Anfänge einer kritischen Geschichtsschreibung überhaupt als auch einige Geschichtswerke allerersten Ranges, die sich doch ihrem Wesen nach grundlegend voneinander unterscheiden, umfaßt und weil darüber hinaus von den antiken Griechen eine außerordentliche Fülle verschiedener Arten, Geschichte zu schreiben, verwirklicht worden ist, überall auf die Grundfragen der Kunst, Geschichte zu schreiben, stoßen und daher nicht nur f ü r den klassischen Philologen und den Althistoriker, sondern auch f ü r den Historiker überhaupt sowie f ü r den Philosophen und Wissenschaftstheoretiker von höchstem Interesse sein. Sie sollte deshalb wegen des weiten Leserkreises, f ü r den sie von N a t u r bestimmt sein muß, so lesbar wie möglich geschrieben sein und ihren Gegenstand in einer so gedrängten Form wie möglich behandeln, daher also, w o eine vorhergehende Untersuchung und Lösung von speziellen Problemen nötig ist, nur die Resultate dieser Untersuchungen im Haupttext enthalten, alles

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übrige dagegen in Anmerkungen und Appendices verweisen. Ein solches Verfahren hätte im vorliegenden Falle jedoch zur Folge gehabt, daß die Anmerkungen mindestens den vierfachen U m f a n g der Hauptdarstellung eingenommen hätten und zu den Anmerkungen noch einmal Unteranmerkungen hätten gemacht werden müssen, ein Verfahren, wie es F. Jacoby in Teilen seiner Ausgabe der Fragmente der griechischen Historiker wirklich eingeschlagen hat. Man kann auch sagen, daß es besser gewesen wäre, zunächst in einer Reihe von Monographien einzelne Abschnitte oder einzelne Probleme aus diesen Abschnitten zu behandeln und dann erst auf Grund der Ergebnisse dieser Monographien eine Gesamtdarstellung zu versuchen. Es hat sich jedoch bei der Vorbereitung der vorliegenden D a r stellung des öfteren erwiesen, daß monographische Lösungen bestimmter Probleme, die f ü r sich genommen durchaus plausibel erschienen, sich dennoch bei dem Versuch, sie in den größeren Zusammenhang, dem sie historisch angehören, einzuordnen, als ganz oder teilweise unrichtig erwiesen. Es erschien daher nach reiflicher Überlegung doch geboten, selbst auf Kosten des Erfolges des Buches bei der weiteren Leserschaft, f ü r die es seinem Wesen nach bestimmt sein muß, den Versuch zu wagen, D a r stellung und Untersuchung bis zu einem gewissen Grade miteinander zu verbinden, wobei jedoch die Auseinandersetzung mit der gelehrten Literatur, von ganz wenigen Fällen abgesehen, konsequent in die Anmerkungen verwiesen worden ist. Ich hoffe, daß es mir trotzdem gelungen ist, den Textband f ü r Leser, die eine gewisse Anstrengung nicht scheuen, noch einigermaßen lesbar zu erhalten. Bei alledem und trotz des Umfanges, den dieser erste Band schließlich angenommen hat, war es naturgemäß unvermeidlich, unter den zu diskutierenden Problemen und der ausdrücklich zu berücksichtigenden modernen Literatur eine gewisse Auswahl zu treffen, wenn der U m f a n g nicht ins Ungemessene steigen sollte. Es ist daher notwendig, über die Prinzipien dieser Auswahl etwas zu sagen. Daß diejenigen Probleme zu behandeln waren, die für das Verständnis der einzelnen Autoren und f ü r ihre Stellung innerhalb der Entwicklung der Historiographie von fundamentaler Bedeutung sind, und daß auf die Literatur, die zur Lösung dieser Probleme Wesentliches beigetragen hat, einzugehen war, versteht sich von selbst. Aber in der Auswahl der Probleme und der Literatur zweiter Ordnung konnte man nach verschiedenen Prinzipien verfahren. Hier habe ich im allgemeinen denjenigen Lösungsversuchen, die mir methodisch bedeutsam erschienen, vor solchen, die nur einen sachlichen Punkt betrafen, den Vorzug gegeben. So habe ich mich mit einer Theorie von de Sanctis über Thukydides ausführlich auseinandergesetzt, obwohl sie kaum Annahme gefunden hat, weil de Sanctis hier eine viel gebrauchte

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Methode mit außerordentlichem Scharfsinn angewendet hat und eben damit illustriert, wie auch sehr geistreiche Argumente in die Irre führen können. Dagegen bin ich z. B. auf F. Jacobys Theorie, daß die zweite Behandlung des Tyrannenmordes bei Thukydides auf die nachträgliche Lektüre des Werkes des Hellanikos zurückzuführen sei, nicht eingegangen, weil sie mir durch den Zusammenhang von selbst widerlegt zu werden scheint und dabei keine methodische Besonderheit zu beobachten ist. Ebenso bin ich bei einem viel wesentlicheren Punkt nicht auf die von Macan, Pohlenz und andern vertretene Theorie eingegangen, daß Herodot von Anfang an die Absicht gehabt habe, die Perserkriege zu beschreiben, weil sie mir ganz schwach begründet zu sein scheint und meine ganze Behandlung des Werkes Herodots in gewisser Weise implicite eine Widerlegung dieser Theorie darstellt. Es wird daher trotz des Umfanges des Bandes ein leichtes sein, Lücken in der Berücksichtigung der modernen Literatur nachzuweisen. Sie sind nicht alle auf meine Unkenntnis zurückzuführen. Auf der andern Seite ist es bei dem Umfang dieser Literatur durchaus möglich, daß mir trotz meiner Bemühungen auch etwas Wichtiges entgangen ist. In solchen Fällen werde ich meinen Kritikern und Rezensenten dankbar sein, wenn sie darauf aufmerksam machen. Vielleicht wird es nach solchen Ergänzungen und einer Diskussion strittig gebliebener Punkte möglich sein, eine abgekürzte Darstellung der Resultate dieses Buches zu geben, welche sie auch einem weiteren Leserkreis leichter zugänglich macht. Dem sachkundigen Leser wird es nicht entgehen, daß jedes einzelne Kapitel Versuche enthält, neue Lösungen alter Probleme zu finden, manche auch neue Probleme aufwerfen. Aber im ganzen ist es im Gegensatz zu der verbreiteten modernen Tendenz, Neuheit und Originalität höher zu schätzen als Richtigkeit, mein Bestreben gewesen, die Kirche beim Dorf zu lassen. In den verschiedenen Teilen des Werkes Herodots findet man sehr verschiedene Arten historischer Kritik, von denen manche vom modernen Standpunkt aus sehr primitiv, andere als recht fortgeschritten erscheinen; ebenso findet man nicht nur verschiedene, sondern auch verschiedenartige Deutungsversuche des historischen Geschehens. Nichts wäre leichter gewesen als daraus eine Entwicklung Herodots im Sinne einer immer größeren Annäherung an moderne Prinzipien zu konstruieren, zumal Herodot, der es überhaupt zum erstenmal unternommen hat, eine lebendige kritische Geschichte einer nicht zu weit zurückliegenden Epoche zu schreiben, und sich das Handwerkszeug dazu selbst schaffen mußte, wenn irgendwer, eine Entwicklung gehabt haben muß. Aber das hätte zu einer Vergewaltigung der Tatsachen geführt. Eine genauere Analyse zeigt, daß, eben weil Herodot sich alles neu schaf-

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fen mußte, verschiedene Prinzipien bei ihm miteinander im Streite gelegen haben; und es ist nicht immer möglich, mit auch nur einiger Sicherheit zu sagen, welche Phasen in diesem Widerstreit die früheren und welche die späteren gewesen sind. Es war daher nicht möglich, alles einer großen, eindrucksvollen These unterzuordnen, sondern es war nötig, auf komplizierteren Wegen und Umwegen in die Eigenart und Entwicklung seiner Geschichtsschreibung einzudringen zu suchen. Ähnlich steht es mit Thukydides. Die Ergebnisse der großartigen Analyse des Werkes durch Eduard Schwartz haben sich in vieler Hinsicht nicht aufrechterhalten lassen. Aber es ist nicht damit getan, ihnen die These entgegenzusetzen, alles, was wir von dem Werke besitzen, sei „spät", d. h. im wesentlichen nach dem Ende des Krieges in die Form gebracht worden, in der wir es haben, und repräsentiere die Auffassung von den Dingen, zu welcher Thukydides nach der Katastrophe Athens gekommen war. Es war doch E. Schwartz, der auf die gewaltigen Spannungen im Innern des Werkes aufmerksam gemacht hat, ohne deren Erkenntnis ein wirkliches Eindringen in den Geist der thukydideischen Geschichtsschreibung nicht möglich ist. E. Schwartz hat auch in seinen Vorlesungen auf die Bedeutung der geographischen Entdeckungen aufmerksam gemacht, welche den Anfängen der griechischen Geschichtsschreibung vorangegangen sind und sie noch während der ersten Stadien ihrer Entwicklung begleitet haben, und auf den engen Zusammenhang zwischen geographischen und historischen Ordnungsprinzipien und kritischen Methoden in den Anfängen bis auf Herodot. Dies ist tatsächlich ein fundamental wichtiger Gesichtspunkt für das Verständnis der Entstehung der griechischen Historiographie. Dies und seine unvergleichlichen Verdienste um die Erhellung aller Phasen der griechischen Geschichtsschreibung lassen es, auch abgesehen von dem, was ich E. Schwartz als dem Lehrer, der mich zuerst in wirkliche wissenschaftliche Methode eingeführt hat, zu verdanken habe, als ein Gebot der Schicklichkeit erscheinen, daß das vorliegende Werk seinen Manen gewidmet ist. Es bleibt noch übrig, allen denen zu danken, die sich um die äußere Gestalt des Buches verdient gemacht haben: Frau Margot Gran, die in jahrelanger Arbeit den größten Teil des Manuskriptes ins reine geschrieben hat, Dr. Gerhard Jäger und Fräulein Ursula Grabner, die die Korrekturen gelesen und mit großer Arbeitsenergie in erstaunlich kurzer Zeit die Indices zustande gebracht haben, endlich dem Verlag für die sorgfältige Betreuung und die gediegene Ausstattung des Buches. München, Juni 1967

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Kurt von Fritz

Inhaltsverzeichnis Textband S.

Vorwort

Anmerkungsband S.

VII

Kapitel I:

Allgemeine Grundlagen

i

i

Kapitel II:

Historische Voraussetzungen und Anfänge

23

4

Kapitel I I I : Hekataios von Milet

48

32

Kapitel I V : Zwischen Hekataios und Herodot

77

54

104

79

104

79

128

92

IJ8

101

158 208

101 117

243

128

280

143

D. Chronologische Methoden und Probleme

364

173

E. Historische Quellen, historische Forschung, historische Kritik und historische Konstruktion

407

200

F. Die Entstehung des Herodoteischen Geschichtswerkes und die Entwicklung Herodots zum und als Historiker . . . .

442

215

Kapitel V :

Herodot A. Das Problem der Komposition seines Werkes. Äußere Lebensdaten B. Die großen Forschungsreisen Herodots am Schwarzen Meer und in Ägypten. Geographie und Ethnographie C. Einzelerzählungen und Geschichte bei Herodot 1. Ägyptische Geschichten und Geschichte 2. Lydische Geschichten und Geschichte 3. Geschichte und Geschichten in den drei letzten Büchern des Werkes Herodots 4. Geschichten und Geschichte in den übrigen Büchern des Werkes Herodots

XI

Textband S.

Anmerkungsband S.

Kapitel V I : Hellanikos von Lesbos und seine Zeitgenossen. Neue chronologische Methoden

476

221

Kapitel V I I : Thukydides

523

246

Exkurs I:

Exkurs II: Register

A. Allgemeine Probleme. Leben. Zeitgeschichtliche Voraussetzungen. Die sogenannte thukydideische Frage

523

246

B. Rekonstruktion der Vergangenheit . .

575

263

C. Das sogenannte Methodenkapitel. Die Untersuchung und Darstellung der Ursachen des Krieges

618

281

D. Der Archidamische Krieg. Perikles und Kleon

662

293

E. Vom Frieden des Nikias bis zum Ende des Werkes des Thukydides. Charakter und Folgen des Friedens. Der Melierdialog. Die sizilische Expedition. Die oligarchische Verfassung von 4 1 1 und die Wiederherstellung der Demokratie

702

307

F. Die Arbeitsweise des Thukydides. Der Realismus des Thukydides

779

331

Die sogenannten Logographen,

XOYOJIOIOI

und Xoyioi

337

Die Auöiaxa des Lyders Xanthos

348

I. Stellen a) Autoren

378 378

b) Inschriften

400

II. Antike Namen

Corrigenda

XII

402

III. Moderne Autoren

413

IV. Begriffe und Sachen a) Deutsche Bezeichnungen b) Griechische Bezeichnungen

418 418 420 824

421

Kapitel I Allgemeine Grundlagen In einem sehr bemerkenswerten Artikel über Friedrich Creuzer und die griechische Geschichtsschreibung1 macht A. Momigliano die Bemerkung, Creuzer sei sich sehr wohl bewußt gewesen, daß es unmöglich sei, ein wirkliches Verständnis der griechischen Geschichtsschreibung zu gewinnen, ohne einen festen Begriff von den Prinzipien der Geschichtsschreibung im allgemeinen zu haben. Tatsächlich hat Creuzer ein ganzes Kapitel seines Werkes der Erörterung dieser Prinzipien gewidmet 2 . Charakteristischerweise hat er jedoch dieses Kapitel nicht an den Anfang seines Werkes gestellt, sondern in seine Mitte. Auch beginnt er dieses Kapitel nicht damit, die Prinzipien der Geschichtsschreibung in seinem eigenen Namen und in abstracto herauszustellen oder zu diskutieren, sondern macht zunächst den Versuch, die methodischen Leitgedanken und Prinzipien der hervorragendsten griechischen Historiker selbst teils aus ihren direkten Äußerungen, teils aus dem faktisch von ihnen in ihren Werken befolgten Verfahren zu rekonstruieren. Erst dann geht er dazu über, die Prinzipien der Geschichtsschreibung so, wie sie sich ihm selbst darstellen, kurz zu formulieren, um die antiken Historiker daran zu messen, wobei sich dann herausstellt, daß die „drei großen Meister" Herodot, Thukydides und Xenophon auf sehr verschiedene Weise Geschichte geschrieben haben, also auch verschiedenen Prinzipien gefolgt zu sein scheinen. Trotz dieser Verschiedenheit scheinen Creuzer alle drei Arten der Geschichtsschreibung berechtigt zu sein. Alle spätere griechische Geschichtsschreibung (und die meiste moderne bis auf seine Zeit), einschließlich so bedeutender Erscheinungen wie Ephoros und Theopomp, der Alexanderhistoriker und des Polybios, scheint Creuzer dagegen ein Herabsinken von der ursprünglich so schnell erreichten Höhe zu sein. Damit ist die Schwierigkeit des Unternehmens einer Geschichte der Geschichtsschreibung sehr deutlich bezeichnet. Man kann wohl Geschichtswerke genießen und zu den verschiedensten Zwecken gebrauchen, aber man kann sie nicht in ihrer Eigenart verstehen und miteinander fruchti

bringend vergleichen, ohne eine Vorstellung von den Prinzipien der Geschichtsschreibung im allgemeinen zu haben. Auf der andern Seite haben sich nicht nur die Vorstellungen von den Prinzipien der Geschichtsschreibung seit Creuzer wesentlich geändert, sondern der Streit darüber, was Geschichtsschreibung ist und was sie sein soll, ist noch keineswegs zu Ende. Jeder Versuch, die Fülle des Gegebenen vorher festgelegten Prinzipien zu unterwerfen oder an ihnen zu messen, ist daher in Gefahr, den Dingen Gewalt anzutun. So ist es notwendig, einen Mittelweg zu finden, wie dies auch von Creuzer versucht worden ist, wenn er auch allzuschnell von historisch-empirischer Beobachtung zur Feststellung fester und eng umrissener Prinzipien fortgeschritten und auf Grund dieser Prinzipien zu einer relativen Einschätzung der verschiedenen Historiker gekommen ist, einer Einschätzung, die zum mindesten, was die Bewertung Xenophons im Vergleich zu späteren Historikern angeht, von niemandem mehr völlig gebilligt werden wird. Einen gewissen Ansatzpunkt f ü r eine solche allmählich von empirischen Beobachtungen zu allgemeinen Prinzipien fortschreitende Betrachtung bietet das Verhältnis der griechischen Geschichtsschreibung zu allem, was ihr an Aufzeichnungen historischen Geschehens vorausgelegen ist. Niemandem, der die griechische Geschichtsschreibung in irgendeiner ihrer Etappen, selbst von Herodot an, mit dem, was es vorher an historischen Aufzeichnungen gegeben hat, vergleicht, kann es entgehen, daß hier ebenso wie mit der griechischen Mathematik, vor welcher es ebenfalls schon mathematische Berechnungen und Formeln gegeben hat, etwas ganz Neues ins Leben getreten ist. J a , dies ist so sehr der Fall, daß es trotz dem ungeheuer reichen historischen Material, das in den letzten Jahrzehnten f ü r ältere orientalische Kulturen entdeckt worden ist, bis auf den heutigen Tag unmöglich geblieben ist, von irgendeiner älteren Epoche in der Weise Geschichte zu schreiben, wie es spätestens vom 5. Jahrhundert an f ü r die Griechen und dann später f ü r andere Völker möglich wird. Z w a r gibt es heute umfangreiche Werke über altägyptische, über assyrische, babylonische und noch ältere Geschichte. Aber sie sind anderer A r t als die Geschichtswerke, die über die griechische Geschichte vom 5. Jahrhundert an und über spätere Zeiten und Völker geschrieben werden können und tatsächlich geschrieben worden sind. Fragt man aber, worin sie sich vor allem unterscheiden oder was ihnen im Vergleich mit jenen fehlt, so ist es mehr als alles andere eine gewisse Art der historischen Lebendigkeit. Das bedeutet nicht, daß diese Werke nicht sehr viel Interessantes enthalten oder daß sie nicht spannend oder selbst mit hoher künstlerischer 2

Vollendung geschrieben sein könnten. E s ist eine besondere A r t des unmittelbaren historischen Lebens oder der historischen Lebendigkeit, die ihnen mangelt; u n d daß sie ihnen mangelt, liegt nicht an den Verfassern dieser "Werke, sondern an der A r t des ihnen zur V e r f ü g u n g stehenden Materials. H i e r zeigt sich nun zugleich ein eigentümliches Problem. D i e griechische Geschichtsschreibung gilt im allgemeinen als die erste „kritische" Geschichtsschreibung; und das ist auch richtig. E s kann kein Zweifel daran bestehen, daß auch die griechische Geschichtsschreibung, ebenso wie die griechische Philosophie und "Wissenschaft, weitgehend hervorgegangen ist a u s jenem Geist des Kritizismus, den zuerst die kleinasiatischen Griechen entwickelt haben als eine A r t Mittel der geistigen Selbsterhaltung in einer U m g e b u n g der mannigfachsten orientalischen, z u m großen Teil im A n f a n g den Griechen überlegenen Kulturen, einer Umgebung, in der es gleich schwierig w a r , sich den umgebenden Kulturen anzupassen, wie sich ihnen gegenüber auf ein starres Festhalten an den eigenen T r a d i t i o n e n zurückzuziehen, wie dies etwa die J u d e n des Alten Testamentes in einer ähnlichen, aber doch nicht g a n z gleichartigen Situation unter dem Einfluß ihrer Propheten getan hatten 3 . D a dieser Geist der K r i t i k ein Gegenmittel ist gegen die Unsicherheit, die erzeugt w i r d durch verschiedenartige Traditionen mit widersprechenden Behauptungen und Forderungen, ist er gerichtet gegen das Spezielle und „subjektive" der verschiedenen Traditionen und auf etwas, das unabhängig von allen speziellen Traditionen als gesichert betrachtet werden kann. In der M a t h e m a t i k führt dies z u m Aufsuchen v o n einfachen und selbstevidenten Sätzen, aus denen das Übrige dann möglichst exakt abgeleitet werden kann, und im weiteren zu den A n f ä n g e n einer axiomatischen Grundlegung der mathematischen "Wissenschaft; in der Philosophie und N a t u r e r k l ä r u n g führt es zur Betonung der eigenen Beobachtung und des eigenen Nachdenkens, in der Behandlung der Vergangenheit zu dem Bestreben, das Faktische, das m a n noch feststellen zu können glaubt, v o n Zusätzen der dichterischen Phantasie zu reinigen. Gemeinsam ist wieder der kritischen Bemühung auf allen Gebieten, daß sie das so gefundene Gesicherte in einen systematischen Zusammenhang zu bringen sich bemüht. "Was die griechische Bemühung um die Vergangenheit - und auch zeitgenössische Geschichte ist j a notwendigerweise eine Bemühung um Vergangenes, wenn auch um eine nahe Vergangenheit - von früheren Darstellungen von Vergangenem oder angeblich Vergangenem unterscheidet, ist also weitgehend die kritische Bemühung um das Faktische oder 3

scheint es doch zu sein. Aber Fakten hat die Forschung der letzten Jahrzehnte in bezug auf die altorientalische Geschichte in großen Mengen ans Licht gebracht. Vieles davon mag - nicht so sehr in sich selbst als in seinen chronologischen oder sonstigen Beziehungen zu andern Fakten zweifelhaft sein. Aber das ist in der griechischen Geschichte vom 5. Jahrhundert an nicht wesentlich anders. Was die moderne Geschichte des alten Orients von der modernen Geschichte des antiken Griechenlands unterscheidet, ist nicht die geringere Sicherheit der mitgeteilten Fakten, sondern der Mangel an geschichtlicher Lebendigkeit. Dieser paradoxe Sachverhalt führt schon tiefer in das Problem hinein. Der kritische Geist, den die griechische Geschichtsschreibung entwickelt, ist auf die Fakten gerichtet. Aber er macht es möglich, eine lebendigere Geschichte der Griechen seit dem Beginn dieser Geschichtsschreibung zu schreiben als von irgendeiner früheren Epoche. Und doch fehlt es für diese frühere Zeit weder an genau feststellbaren Fakten noch an sehr lebendigen Darstellungen von etwas Vergangenem, wie bei den Griechen der Ilias oder bei den Juden den „historischen" Büchern des Alten Testaments. Dennoch ist es unmöglich, aus beiden Elementen eine kritische lebendige Geschichte im vollsten Sinne zu machen. Das „Lebendige" in der Geschichte muß von dem kritischen Historiker sozusagen eingefangen und aufbewahrt werden zu einer Zeit, wo es sich noch nicht verflüchtigt oder in einer poetisch verklärenden Erinnerung verändert hat 4 . Tatsächlich ist es einer der interessantesten Vorgänge der ersten Anfänge der kritischen Geschichtsschreibung bei den Griechen, daß bei den allerersten Versuchen der historischen Kritik mit dem Poetischen der Überlieferung zugleich das Lebendige zerstört wird - sogar ohne wirkliche Fakten, auf die das Bemühen doch offenkundig gerichtet ist, zu gewinnen - und daß die Geschichtsschreibung der Griechen in ihrer weiteren Entwicklung eben dieses Lebendige erst wiedergewinnen mußte, wobei sie zunächst weitgehend die Kritik wieder aufzugeben gezwungen war, bis es ihr allmählich gelang, Kritik und Bewahrung des Lebendigen in der Geschidite miteinander zu vereinen. Es soll hier nicht der Versuch gemacht werden, dieses „Lebendige" näher zu definieren oder gar zu erörtern, auf welche verschiedenen Weisen es in einer kritischen Geschichtsschreibung auftreten kann und ob und wie sich daraus vielleicht verschiedene Arten, kritische Geschichte zu schreiben, ableiten lassen, die gleichberechtigt sind. Alle derartigen Fragen, soweit sie etwa auftreten, können viel besser an dem konkreten Material erörtert werden. Aber es ist vielleicht nützlich, sich kurz zu überlegen, in welchem Verhältnis die gemachte Beobachtung zu 4

einigen der grundlegendsten Fragen steht, welche die Diskussion um das Wesen der Geschichte von der Zeit des Aristoteles bis auf den heutigen T a g beherrscht haben. Im Grunde handelt es sich um eine einzige Frage, die freilich in verschiedenen Formen auftreten kann. Aristoteles in der Poetik sagt bekanntlich, die Dichtung - wobei er dem Zusammenhang nach offenbar vor allem die Tragödie im Auge hat - sei philosophischer als die Gesdiichte, da sie es mehr mit dem Allgemeinen, die Geschichte mit dem Individuellen zu tun habe. Er erläutert das dahin, daß die Dichtung darstelle, was wohl geschehen möchte gemäß der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit, die Geschichte dagegen, „was Alkibiades (tatsächlich) getan hat oder was ihm widerfahren ist" 5 . In der hellenistischen Zeit hat sich daran eine Kontroverse angeschlossen, ob und inwieweit die Geschichtsschreibung (nHTlTUXIÍS ist in dem Sinne, daß ihm das Glück immer treu bleibt, braucht ein solches Kissen gegen mögliche Schicksalsschläge nicht. Deshalb ist er es eigentlich, der oÄßiog genannt zu werden verdient. Dagegen sollte man niemand, geht es weiter 40 , vor seinem Ende o/.ßiog nennen, sondern (nur) EÍITOXTIS - wobei offenbar das Wort EÍITI>XT|5 im Laufe der Argumentation seine Bedeutung etwas geändert oder aber die Betrachtungsweise sich verschoben hat, da £t>Tu/r]g vorher den zu bezeichnen scheint, dem das „Glück" treu bleibt, hier dagegen denjenigen, der bisher immer vom Glück begünstigt gewesen ist (das ihn aber auch jeden Augenblick verlassen kann). Im übrigen impliziert der letzte Teil des Argumentes, ohne daß dies deutlich ausgesprochen wird, daß der Reichtum und Überfluß doch selbst als Kissen gegen Unglücksfälle, die vernichtend werden können, nicht zuverlässig ist. So fällt der letzte Teil trotz der höchst eindrucksvollen Einleitung mit ihrer Berechnung der Länge des Lebens an Tagen durch seine verwickelte Argumentation, die doch in der Betrachtung der äußeren Lebensumstände befangen bleibt, gegen den ersten Teil mit den Geschichten von Tellos und von Kleobis und Biton etwas ab. Erst der Schluß mit seinem Hinweis darauf, daß auch das „Glück" der ganz Großen von der Gottheit in einem Augenblick mit der Wurzel ausgerissen werden kann und daß man deshalb erst nach dem Tode eines Menschen sagen kann, wie sein Leben eigentlich gewesen ist, findet zu einer höheren Betrachtung zurück. Für das Ganze ergibt sich also, daß der erste Teil der Solon-KroisosGeschichte von zwei verschiedenen Traditionen beeinflußt worden ist, 221

während hinter dem zweiten Teil eine Entwicklung der Glücksvorstellung zu erkennen ist, die noch nicht zu ihrem Ende gekommen ist. Die Herkunft der beiden Traditionen im ersten Teil läßt sich noch mit ziemlicher Genauigkeit bestimmen. Es ist schon immer mit Recht gesagt worden, daß dieser Teil der Geschichte stark durch Delphi beeinflußt worden ist. Bei Delphi hat man die Basis des Weihgeschenkes mit den Statuen von Kleobis und Biton gefunden, die Herodot dort gesehen hat 41 . In Delphi waren auch die Sprüche zu lesen, in denen dem Menschen in verschiedenen Variationen eingeschärft wird, niemals zu vergessen, was für ein schwaches und zerbrechliches, der Gnade oder Ungnade der Götter ausgeliefertes, Wesen er ist. Aber der Geist der Tellosgeschichte stammt nicht von da her, sondern wirklich von dem Athener Solon, der in der Geschichte als Protagonist auftritt. Es sind Elemente von zwei durchaus nicht vollständig miteinander übereinstimmenden Lebensphilosophien, die Herodot in seiner Erzählung miteinander vereinigt hat. Wenn dem zweiten Teil, wie gezeigt worden ist, eine Entwicklung der Vorstellung von Glück zugrunde liegt, deren verschiedene Phasen darin noch zu erkennen sind, so ist diese Entwicklung natürlich nicht eine Entwicklung Herodots, sondern eine Entwicklung bis auf die Zeit Herodots, die sich nach ihm weiter fortgesetzt hat. Audi hier verraten die Spannungen und leichten Unstimmigkeiten in seiner Erzählung, daß diese Dinge nicht ganz aus seinem Kopfe entsprungen, sondern von außen zu ihm gekommen sind. Aber er hat die verschiedenen Elemente in eine großartige Einheit zusammengewoben, die durch die Spannung zwischen ihnen noch an Lebendigkeit gewinnt. Er hat sie ferner miteinander verbunden durch drei auch untereinander in enger Beziehung stehende Leitmotive, die das Ganze durchziehen und, wie sich zeigen wird, audh in andern Teilen des Werkes Herodots wiederkehren: das Leitmotiv der Schwäche und Hilflosigkeit des Menschen gegenüber der Gottheit, das Leitmotiv des „Neides der Götter", die es lieben, das, was sich allzu hoch erhebt, plötzlich und unvermutet zu Fall zu bringen und ganz zu stürzen, und das Leitmotiv der griechischen Einfachheit und Selbstbescheidung gegenüber dem orientalischen Streben nach über das dem Menschen gesetzte Maß hinausgehender Macht und Glanz. Rein vom Standpunkt der künstlerischen Formung aus ist die SolonKroisos-Geschichte ebenso in sich gerundet und abgeschlossen wie die Geschichte von König Pheros oder von Rhampsenit und dem Meisterdieb in der ägyptischen Geschichte und straffer organisiert als die Proteusgeschichte und die meisten anderen Geschichten im zweiten Buch. Aber 222

dadurch, daß in dem Solongespräch die Möglichkeit eines Wandels im Schicksal des Kroisos angedeutet ist, der noch nicht eingetreten ist, und durch die drei Leitmotive, die später wieder aufgenommen werden, weist die Geschichte über sich hinaus. So folgt denn auf sie bei Herodot sofort eine zweite Geschichte, die künstlerisch ebenfalls eine in sich abgeschlossene Einheit darstellt, aber inhaltlich die erste Geschichte ergänzt: die Erzählung von A t y s und Adrastos. Sie wird eingeleitet42 durch einen Satz, durch den auch äußerlich die Verbindung hergestellt wird: „Nachdem Solon weggegangen war, ergriff den Kroisos von Seiten der Gottheit eine große Nemesis, wie man vermuten darf, weil er sich für den glücklichsten aller Sterblichen erachtete". Was bedeutet hier das W o r t Nemesis? Es mit „Strafe" zu übersetzen, trifft kaum das Richtige, da Kroisos kein eigentliches Unrecht begangen hat. Etymologisch kommt das W o r t von v8|xeiv, verteilen. In gewisserWeise wird die ridbtige Verteilung wiederhergestellt, indem der ein großes Unglück erdulden muß, der nicht nur so weit über alle anderen Menschen erhoben worden ist, sondern auch im Bewußtsein dessen gelebt hat43. Dann folgt die Geschidite44. Der König hat zwei Söhne. Der eine ist stumm und wird daher von seinem Vater für nichts geachtet. Der andere, Atys, hatte alle Eigenschaften, die man sich an dem Thronfolger eines großen Landes wünschen kann. D a träumt der König, er werde den Sohn durch eine Verwundung mit einer Lanze verlieren. Er versucht daher, alle Waffen von ihm fernzuhalten. Aber dem tatendurstigen jungen Mann wird das Leben fern von jeder ritterlichen Tätigkeit unerträglich. Als ein wildes Schwein die Saaten der Lyder verwüstet, bittet er den Vater, auf die Jagd gehen zu dürfen. Der Vater verbietet es ihm zuerst, gibt aber schließlich nach, als der Sohn argumentiert, das Wildschwein könne doch keine Lanze werfen. Er bittet einen jungen Königssohn, Adrastos, der wegen der unfreiwilligen Tötung seines Bruders seine Heimat hatte verlassen müssen und den er (Kroisos) freundlich bei sich aufgenommen und durch die erforderlichen Riten von der Befleckung durch das Blut seines Bruders gereinigt hatte, seinen Sohn auf die Jagd zu begleiten und über ihn zu wachen. Als sie das Wildschwein finden und dieses die Jäger angreift, schleudert Adrast seine Lanze, verfehlt das Tier und trifft statt dessen den Königssohn Atys. So geht der Traum in Erfüllung. Es folgt noch ein großartiges Nachspiel. Als der Leichnam zu dem König gebracht wird, macht er Adrast Vorwürfe, daß er, der ihm doch alles verdankt, ihm den Sohn getötet hat. Aber als er die Verzweiflung Adrasts sieht, der ihn mit erhobenen Händen bittet, ihn zu töten, ver223

gibt ihm Kroisos in wahrhaft königlicher Weise, indem er sagt: „Ich habe an dir keine Rache zu nehmen. Du hast dies nicht getan, sondern ein Gott; und er hatte es mir schon vorher angesagt." Aber Adrast tötet sich auf dem Grab des Atys. "Wieder ist die Geschichte mit der größten Meisterschaft erzählt und dramatisch auf einen Punkt konzentriert, w o Adrast die Lanze wirft und statt des Tieres den Königssohn trifft. "Wieder erscheint an dem dramatischen Höhepunkt 45 jenes eigentümliche und eindrucksvolle historische Präsens, das zu bewirken scheint, daß die Zeit stillsteht: „Und da wirft jener Fremde, der von dem König von seiner Blutschuld gereinigt worden war und der den Namen Adrast (der Unentrinnbare) hatte, seine Lanze nach dem Eber, und er verfehlt das Tier und trifft den Königssohn." Die Geschichte an sich ist ein zeitloses Märchen, das von irgendeinem König in irgendeinem Land erzählt werden könnte46. Es ist daher selbstgenügend und in sich abgerundet. Aber nun steht es in einem Zusammenhang, in dem es eine tiefere Bedeutung bekommt. Die Anknüpfung an die Solongeschichte ist am Anfang gegeben: "Was Solon als eine immer dräuende Möglichkeit bezeichnet hatte, ist eingetreten und der öXßog des Kroisos hat sich als gebrechlich erwiesen. Wichtiger jedoch ist noch, in welcher "Weise dies geschehen ist. Macht und Reichtum des Königs sind unvermindert geblieben. Trotzdem ist der oXßog hohl geworden. Eines der Elemente der evöainovia des Tellos von Athen ist weggenommen. Es gibt keine itaiöeg y.aXoi xe wr/aftoi; und wenn es niemand mehr gibt, dem Kroisos seinen Glanz und seine Macht vererben kann, scheinen sie auch für ihn Sinn und Reiz verloren zu haben. So bleibt er zwei Jahre lang versteinert in seinem Schmerz47. Dann geschieht jedoch etwas, das doch wieder alles in einem anderen Licht erscheinen läßt: In der außenpolitischen Situation ist eine große Veränderung eingetreten. Kyros, der Sohn des Kambyses, hatte sich an der Spitze der Perser gegen den Mederkönig, mit dem seine eigenen medischen Untertanen unzufrieden waren, erhoben und die Herrschaft über das Meder- und Perserreich an sich gebracht48. Seither war die Macht dieses Reiches schnell und gewaltig gewachsen. Das brachte eine große Veränderung in Kroisos hervor. „ D a riß das Anwachsen der persischen Macht ihn aus seinem Schmerz und erfüllte ihn mit Sorge, so daß er seinen Sinn darauf richtete49, ob es ihm wohl möglich wäre, dies Anwachsen zu verhindern, bevor die Perser übermächtig würden" heißt es bei Herodot50. Es ist erstaunlich, was alles in diesen einen Satz hineingepreßt ist. Zunächst die unübertreffbare Prägnanz und Kürze im Ausdruck der 224

psychologischen "Wahrheit, daß der brütende Schmerz über den Tod des Sohnes und Erben zum Aufhören gebracht wird durch eine neue Sorge. Dann, was aus dem Zusammenhang hervorgeht über den Grund dieser "Wahrheit: Der Verlust des Sohnes hat den öXßog ausgehöhlt, so daß er als ganz nichtig erscheint. Aber in dem Augenblick, wo er bedroht ist, zeigt sich, daß er für den König doch nicht ganz nichtig geworden ist: nicht vielleicht als Glanz, aber doch als "Würde des Königtums und der Macht des Reiches. Es ist noch etwas daran zu verlieren. Aber das ist nur der eine Grund. Der andere ist der durch den ersten veranlaßte Übergang von Untätigkeit zu Tätigkeit. Zugleich ist damit der Übergang hergestellt von der Atys-Adrastos-Geschichte zur nächsten Phase in der Geschichte des Kroisos. Endlich, was selten bemerkt wird, aber vielleicht doch recht bemerkenswert ist, ist der Kriegsgrund, welcher hier innerhalb aller dieser märchenhaften Geschichten, von denen Thukydides gewiß der Meinung war, daß sie EJU xö jtQoavcovoTEQov tfi axQoaaei ¡j,äXXov f| tö äÄ.r)fteffT£(>ov erzählt seien, für den Krieg zwischen Lydien und Persien gegeben wird, derselbe wie derjenige, welchen Thukydides als aXti^EaTaTr] jtgöcpaaig des peleponnesischen Krieges bezeichnet. Damit entfernt sich die Erzählung zunächst von jenen Leitmotiven, welche die Solon-Kroisos-Geschichte und die Atys-Adrastos-Geschichte beherrscht und beide miteinander verbunden hatten. Doch findet sich in dem ersten Teil dieses Zwischenstückes51 viel Seltsames und Phantastisches, das doch insofern auch für die Solon-Kroisos-Geschichte Bedeutung hat, als hier der Einfluß von Delphi am handgreiflichsten ist. Bevor Kroisos sich zu einem Präventivkrieg gegen die bedrohlich anwachsende Persermacht entschließt, will er sich durch Befragen der Orakel versichern, ob ein solches Unternehmen von Erfolg gekrönt sein werde. Aber er ist skeptisch. Zuerst will er sich vergewissern, ob es Orakel gibt, die mehr als menschliches "Wissen haben, und welche dies sind. So veranstaltet er die seltsame Probe, daß er seine Orakelgesandtschaften beauftragt, zu einer bestimmten Stunde eines bestimmten Tages die Orakel zu fragen, was der König in diesem Augenblick tue, während er zur verabredeten Stunde etwas tut, was, wie er glaubt, niemand erraten kann. Es ergibt sich, daß nur das Delphische Orakel und das Amphiaraosorakel 52 die richtige Antwort geben können. Darauf veranstaltet Kroisos gewaltige Opfer und sendet die reichsten Weihgeschenke nach Delphi, die Herodot aus eigener Anschauung beschreibt. Dann stellt er die Frage nach dem Erfolg eines Feldzugs gegen Persien und erhält die bekannten zweideutigen und irreführenden Antworten, worauf er sich zu dem Feldzug entschließt. 225

Daß die Erprobung der Orakel durch Kroisos nicht historisch sein kann, wenigstens nicht in der Form, in der sie von Herodot berichtet wird, braucht wohl kaum gesagt zu werden 53 . Es wäre bei den Zeremonien, welche bei der Befragung der verschiedenen Orakel zu beachten waren, kaum möglich gewesen, die Befragungen zeitlich so zu koordinieren, wie es hier vorausgesetzt wird, zumal da das Amphiaraosorakel z. B. ein Traumorakel war. Auch setzt, was Herodot über die verschiedenen befragten Orakel sagt, eher die Verhältnisse der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts als die Mitte des sechsten voraus 54 . Daß jemand etwas Seltsames erraten soll, das jemand zu einer bestimmten Zeit tut, ist ein verbreitetes Märchenmotiv. Die spezielle Variante, daß Kroisos Schildkrötenfleisch mit Hammelfleisch vermischt in einem ehernen Kessel kocht, mag, obwohl sich dies nicht beweisen läßt, auf eine griechische Redensart zurückzuführen sein, nach der man von jemand, der vor einer schwierigen Entscheidung stand, sagte: „Soll er Schildkrötenfleisch essen55?" etwa wie wir sagen: „Soll er in den sauren Apfel beißen?" und die auf das Zögern des Kroisos vor der Entscheidung, ob er die Macht der Perser anwachsen lassen sollte, bis seine Sicherheit nur noch von deren guten Willen abhing, oder durch einen Angriffskrieg sein Reich sofort aufs Spiel setzen sollte, angewendet worden sein mag. Was die zweideutigen Orakel angeht, so hat man darauf hingewiesen, daß bei weitem die Mehrzahl der authentischen Orakel, von denen man weiß, einen sehr definitiven Inhalt hatten und aus Anordnungen hinsichtlich der Aussendung von Kolonien, der Einrichtung von Kulten und Festen, religiöser Sühne und Reinigungsriten und dgl. bestanden. Aber das schließt die Möglichkeit zweideutiger Orakel nicht aus. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß das Delphische Orakel zur Zeit des Xerxeszuges überzeugt war, daß der Widerstand gegen die gewaltige persische Ubermacht hoffnungslos sei, daß seine ersten Antworten auf die ängstlichen Fragen der Griechen dieser Uberzeugung entsprachen und daß es, als einige der griechischen Gesandtschaften nicht aufhörten, den Gott um eine bessere Antwort zu bitten, schließlich die zweideutige Antwort von den hölzernen Mauern gab, die einen verschleierten Rat enthielt, aber das Orakel sicherte für den Fall, daß die Befolgung des Rates, wenn er symbolisch, nicht wörtlich genommen würde, nicht zum Erfolge führen würde. Die Möglichkeit einer zweideutigen Antwort des Orakels läßt sich also wohl nicht bestreiten. Wenn Kroisos die Möglichkeit einer anderen als der nächstliegenden Auslegung wirklich nicht sah, so setzt natürlich 226

auch dies voraus, daß die Antworten des Orakels in der Regel nicht zweideutig waren. So berichtet Herodot 56 auch im gegebenen Falle von einem zusätzlichen praktischen Rat: der König solle versuchen, die mächtigsten unter den Griechen zu Bundesgenossen zu bekommen. Diesen Versuch unternahm denn auch Kroisos, was Herodot Gelegenheit gibt, einen Exkurs über die Ursprünge und Herkunft der beiden damals mächtigsten Staaten, Athen und Sparta, sowie die damals bestehenden relativen Machtverhältnisse einzuschalten57, wobei auch wiederum das Delphische Orakel eine bedeutende Rolle spielt. Da Kroisos findet, daß die Spartaner nach glücklicher Beendigung eines langwierigen Krieges gegen Tegea die mächtigsten unter den griechischen Staaten sind, bietet er ihnen mit Berufung auf das Delphische Orakel ein Bündnis an58, das auch angenommen wird. Darauf eröffnet Kroisos den Krieg gegen Persien durch einen Einfall in Kappadokien. Als Einleitung seiner Beschreibung dieses Feldzuges und seiner Folgen erzählt Herodot 59 noch eine Anekdote, in der eines der Leitmotive der Solon-Kroisos-Geschichte wieder anzuklingen scheint, das aber zu dem zu Anfang der Erzählung von der Befragung der Orakel angegebenen Motiv des Feldzuges nicht ganz paßt. Ein weiser Lyder, Sandanis, sucht den König von seinem Unternehmen abzuhalten, indem er ihm auseinandersetzt, daß es unklug von ihm sei, gegen ein Volk zu Felde zu ziehen, das Lederhosen trage und in jeder Hinsicht ein einfaches und rauhes Leben führe. Er solle sich doch überlegen, was er, der König eines reichen Landes, besten Falles gewinnen könne, wenn er ein so armes Land und Volk sich unterwerfe und wieviel er auf der andern Seite zu verlieren habe, wenn er von diesem Volk besiegt werden sollte. Hier hat man in gewisser Weise in rein orientalischem Gewände dieselbe Gegenüberstellung von Glanz und Wohlleben mit Einfachheit, wie bei der Tellosgeschichte Solons. Aber das Argument des weisen Lyders Sandanis hat offenbar keine Gültigkeit, wenn der Zweck des Feldzuges nicht ist, einen Zuwachs an Reichtum und Macht zu gewinnen, sondern sich rechtzeitig dagegen zu schützen, daß diese mit Lederhosen bekleideten Perser, wenn sie zu mächtig werden sollten, sich der Reichtümer der Lyder bemächtigen, ohne daß diese sich mehr dagegen erfolgreich zur "Wehr setzen können. Diesen Kriegsgrund jedoch, der in so außerordentlich eindrucksvoller Weise in dem Ubergang von der Atys-Adrastos-Geschichte zu der Befragung der Orakel hinsichtlich der Aussichten eines Präventivkrieges gegen Persien hervorgehoben worden war, scheint Herodot seltsamerweise nun überhaupt vergessen zu haben. Denn nun heißt es auf einmal60: Kroisos 22 7

unternahm den Feldzug nach Kappadokien jedoch erstens aus dem Wunsch heraus, dieses Land zu seinem bisherigen Besitz hinzuzuerwerben, und zweitens, weil er auf den Orakelspruch vertraute und weil er an Kyros wegen Astyages Rache nehmen wollte, wozu Herodot dann die weitere Erklärung gibt, daß der Mederkönig Astyages, den Kyros gestürzt hatte, die Schwester des Kroisos zur Frau hatte. Er erzählt auch ausführlich, wie es zu dieser Verschwägerung zwischen dem lydischen und dem medischen Herrscherhaus gekommen war. N u n sind die hier und an der früheren Stelle angegebenen Kriegsursachen keineswegs an sich unvereinbar miteinander. Macht man sich die thukydideische Unterscheidung zwischen aXr|öeatatri jtQocpaai? und e; TÖ qxxvsQÖv XeYOfievai atrial zu eigen, so kann man die Astyagesfrage wohl als E? TÖ tpavEgov XEYOUEVTJ aitia, gegenüber der odr|Ö£ATDTR| jtQoipaaig, der Furcht vor dem Anwachsen der persischen Macht betrachten. Ja, man kann sagen, daß der Sturz des Astyages auch mit dem wahren Kriegsgrund in engster Verbindung steht, insofern durch den Sturz des Astyages eben jene Verbindung der beiden Herrscherhäuser, welche den Frieden zwischen den beiden Reichen verbürgen sollte, aufgehoben worden ist. Selbst den Wunsch des Kroisos, Kappadokien zu erobern, könnte man von denselben Voraussetzungen aus dadurch erklären, daß Kroisos eben die Macht des Perserreiches dadurch mindern und eine Schutzzone zwischen sein ererbtes Reich und den gefährlichen Nachbarn legen wollte. Seltsam ist nur, daß von alledem nicht mit einem W o r t die Rede ist und daß die Warnung des Sandanis im vorangehenden Kapitel, die doch so, wie sie erzählt wird, offenbar ernst genommen und als gültig betrachtet werden soll, voraussetzt, daß Kroisos den Einfall in Kappadokien aus Erobererlust und Ländergier unternimmt, und, wenn man die Furcht vor einer persischen Aggression als einziges oder ausschlaggebendes Motiv des Kroisos betrachtet, weitgehend ihre Gültigkeit verliert. Das ist für die Beurteilung der Entstehung von Herodots lydischer Geschichte doch wohl nicht ganz ohne Bedeutung. Herodot beschreibt dann 61 den Verlauf des Feldzuges selbst. Kroisos erobert einen Teil von Kappadokien, ehe Kyros ein Heer zusammenbringen und ihm entgegentreten kann. Unterdessen versucht Kyros, die Ionier, die Kroisos sich Untertan gemacht hatte, zu einem Aufstand zu bewegen, aber zunächst ohne Erfolg. Als er mit seinem Heer endlich Kroisos entgegentritt, kommt es zu einer unentschiedenen Schlacht, und als Kroisos sieht, daß sein Heer nicht stark genug ist, um den Feldzug erfolgreich weiter in das Land des Gegners zu tragen, zieht er sich in sein 228

ererbtes Land zurück. Da es außerdem unterdessen Herbst geworden und die übliche Zeit für Feldzüge vorbei ist, entläßt er sein Heer, sendet aber Boten an alle seine zahlreichen Bundesgenossen, darunter außer den Spartanern auch die Ägypter und Babylonier, d. h. alle Mächte, die Grund haben, die anwachsende Macht der Perser zu fürchten, mit der Aufforderung, in fünf Monaten, zu Anfang des kommenden Frühjahrs, mit aller Truppenmacht zur Stelle zu sein, um dann den Feldzug im großen Stil zu beginnen. Aber Kyros ist nicht der Mann, sich an die traditionellen Spielregeln zu halten. Er sieht die Chance, die ihm Kroisos durch die Entlassung seines Heeres gegeben hat, und rückt nun seinerseits mit Heeresmacht in Lydien ein. Die schnell wieder zusammengerufene berühmte Reitertruppe des Lyderkönigs wird dadurch besiegt, daß Kyros ihr Kamele gegenüberstellt, deren Geruch die Pferde nicht ertragen können. So wird Kroisos in Sardes, dessen Burg als uneinnehmbar gilt, eingeschlossen. Kroisos gibt sich trotz der vernichtenden Niederlage seines Heeres keineswegs verloren. Er sendet nun Boten an seine Bundesgenossen mit der Bitte, ihm so schnell als möglich zu Hilfe zu kommen. Aber die Bundesgenossen kommen zu spät, wozu noch hinsichtlich der Lakedämonier ausführlich erzählt wird, in welcher Situation sie die Boten des Kroisos antrafen. Die Burg wird an einer als uneinnehmbar betrachteten und deshalb schlecht verteidigten Stelle von den Persern erstiegen und eingenommen. Das ist das Ende des glanzvollen und mächtigen lydischen Königreiches. In der Erzählung von diesem Ende und vom Ausgang des Kroisos kehren nun eines nach dem andern alle die Elemente und Leitmotive der Geschichte von Kroisos und Solon, von Atys und Adrastos und von der Befragung der Orakel wieder und werden von neuem in ein großartiges Ganzes verwoben. Zuerst taucht die Erinnerung an die Atys-AdrastosGeschichte wieder auf 62 . Als ein Perser, der den König nicht kennt, eben daran ist, Kroisos zu erschlagen, da bricht aus dem bisher stummen zweiten Sohn des Kroisos in der Angst plötzlich die Stimme hervor, und er ruft aus: „Töte nicht den Kroisos 63 ." Dann wird erzählt, wie Kyros einen Scheiterhaufen erridbten läßt, um darauf Kroisos mit sieben lydischen Knaben und sieben Mädchen als eine Art Opfer verbrennen zu lassen64. Da erinnert sich Kroisos an den Besuch des Solon und an das, was er über die Unbeständigkeit des menschlichen Glückes gesagt hat und ruft dreimal seinen Namen aus. Kyros, der es gehört hat, wird neugierig und läßt ihn durch Dolmetscher fragen, wer denn das sei, den er da angerufen habe. Darauf Kroisos: „Ein Mann, von dem ich wünschte, daß er mit 229

allen Herrschern sprechen würde." Dann erzählt er, wie es ihm mit Solon ergangen war. Da wird Kyros gewahr, daß auch er ein sterblicher Mensch ist und es ihm nicht zukommt, einen anderen Menschen den Flammentod sterben zu lassen, und er gibt den Befehl, den Scheiterhaufen lösdien zu lassen. Aber die Flammen sind schon zu groß. Als Kroisos nun merkt, daß Kyros seinen Sinn geändert hat, ruft er unter Tränen den Apollon an und bittet ihn, wenn er je etwas getan habe, was das Gefallen des Gottes gefunden habe, ihn jetzt aus seiner Not zu retten, und nun erscheint plötzlich eine gewaltige "Wolke, und ein Sturzregen löscht das Feuer. Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Zunächst gibt es ein Intermezzo 65 , in welchem der früher törichte Kroisos sich nunmehr in mehr als einer Hinsicht als ein "Weiser oder weise Gewordener erweist: mit Ausnahme einer Einsicht, die er noch zu lernen hat. Zuerst fragt ihn der Perserkönig, was ihm denn den unglücklichen Gedanken eingegeben habe, Krieg mit ihm anzufangen. Darauf Kroisos: „Dein Glück und mein Unglück (oder das "Wohlwollen der Götter für dich und ihr Übelwollen gegen mich). Denn niemand ist so töricht, daß er den Krieg dem Frieden vorzieht, wo doch in diesem die Kinder ihre Eltern begraben, im Krieg aber umgekehrt. Aber der Gott hat es gewollt." Als daraufhin Kyros ihn freundlich behandelt und ihn neben sich niedersitzen heißt, sieht Kroisos, wie die persischen Soldaten die Stadt Sardes plündern. Da fragt er den König, ob er etwas sagen dürfe, und als der König ihm die Bitte gewährt, fragt er ihn: „"Was tut dieser Haufen von Soldaten deiner Meinung nach?" „Er plündert deine Stadt." „Keineswegs. Denn die Stadt gehört nicht mehr mir. Es ist also dein Gut, was deine Soldaten da wegschleppen66." Dann gibt er dem Perserkönig noch einen zusätzlichen guten Rat. „Die Perser", sagt er, „sind arm, aber rauh und selbstbewußt. "Wenn du die durch Beute reich werden läßt, werden sich die "Wohlhabendsten bald selbständig machen und gegen dich erheben. Tu also, wenn du meinen Rat gut findest, folgendes: Stelle an den Toren "Wachen auf, die den Plünderern ihre Beute wieder abnehmen mit der Begründung, daß man sie Gott als Siegesopfer weihen muß. Das werden sie einsehen und dir nicht böse sein, wie es der Fall sein würde, wenn du ihnen die Beute mit Gewalt für dich selbst abnehmen würdest." Nach diesem Intermezzo kehrt die Geschichte zu dem Hauptmotiv zurück67. Kyros, hocherfreut über den guten Rat des Kroisos, fordert ihn auf, sich etwas von ihm zu wünschen. Dieser erbittet sich die Erlaubnis, Boten an das Orakel in Delphi schicken zu dürfen, welche die Fesseln, 230

mit denen er gefesselt war, auf den Stufen des Tempels niederlegen sollen und den Gott fragen, ob er sich nicht schäme, ihn durch seinen Spruch zum Kriege gegen Persien angereizt zu haben, der dann einen solchen Ausgang gehabt hat. Aber der Gott weiß darauf zu antworten. Gegen das, was vom Schicksal bestimmt ist, kann auch der Gott nicht aufkommen. Kroisos hat, wie vorbestimmt, im fünften Glied die Schuld seines Ahnherrn Gyges gegenüber Kandaules gebüßt. Der Gott, der ihm günstig gesinnt war, hat dieses Geschick von ihm abzuwenden und auf die nächste Generation zu verschieben gesucht. Aber alles, was er von den Moiren erreichen konnte, war eine Verschiebung um drei Jahre. Im übrigen hat Kroisos das Orakel mißverstanden. Er hätte weiterfragen sollen, welches große Reich er zerstören werde, wenn er über den Halys gehe, das der Perser oder sein eigenes. Endlich hat Apollon ihn vom Tode auf dem Scheiterhaufen errettet. Das war die Antwort der Pythia an die Boten des Kroisos. Als Kroisos sie vernahm, heißt es weiter, sah er ein, daß der Fehler sein eigener gewesen war, nicht der des Gottes68. Damit ist nicht nur die Geschichte des Kroisos als König, sondern auch die Geschichte des Lyderreiches zu Ende. Aber Kroisos selbst kommt bei Herodot später noch ein paarmal vor, und wie dies geschieht, ist für die Analyse der eigentlichen Kroisosgeschichte nicht ganz ohne Bedeutung. Das erstemal tritt Kroisos im Gefolge des Aufstandes der Lyder unter Führung des Paktyes gegen die persische Oberherrschaft und seine Niederwerfung durch Kyros auf 69 . Kyros überlegt sich, ob er nicht, um ähnlichen Fällen in der Zukunft vorzubeugen, die gesamten Einwohner von Sardes in die Sklaverei verkaufen soll, und fragt Kroisos, ob er damit nicht klug handeln würde: Bisher habe er gehandelt wie ein Mann, der einen Vater tötet, aber seine Kinder verschont: ein solcher werde nie Ruhe haben. Kroisos möchte seine ehemaligen Untertanen vor dem angedrohten Schicksal bewahren, sieht aber ein, daß er dem Kyros einen Rat geben muß, der diesem nicht nur einleuchtet, sondern sich auch bewährt, da sonst bei einem zweiten Aufstand die Lyder dem ihnen jetzt drohenden Schicksal gewiß nicht entgehen werden. So rät er ihm, den Lydern das Waffentragen zu verbieten, sonst aber ihnen ein angenehmes und bequemes Leben zu gewähren oder geradezu vorzuschreiben: So würden sie bald verweichlichen und ihm keine Schwierigkeiten mehr verursachen. Die zweite Gelegenheit ist der Kriegszug des Kyros gegen die Massageten, in dem er seinen Tod findet70. Als die Massagetenkönigin Tomyris sieht, daß Kyros trotz ihrer "Warnung zum Krieg entschlossen ist, macht 231

sie ihm den Vorschlag, entweder sollten die Massageten sich drei Tagemärsche weit von dem Grenzfluß in das Innere des Landes zurückziehen und sich dort zur Schlacht stellen oder, wenn es ihm lieber sei, sollte er sich ebensoweit nach seiner Seite zurückziehen und sie wollten ihm dann dorthin nachziehen. Die persischen Generäle raten, die zweite Alternative anzunehmen, offenbar - obwohl dies nicht gesagt wird - weil sie der Meinung sind, daß es leichter sein werde, mit dem massagetischen Heere fertig zu werden, wenn sie auf einem ihnen vertrauten Gelände in aller Ruhe Stellung beziehen könnten, als wenn sie den Feinden diesen Vorteil überlassen und selbst fern von ihrer Basis kämpfen müßten. Kroisos dagegen ist anderer Meinung. Aber was er sagt, ist höchst seltsam. Zuerst spricht er davon, daß er selbst durch schmerzliche Erfahrung weise geworden ist71. Von dieser Erfahrung möchte er, daß auch Kyros lernen sollte. Sie besteht darin, daß auch der mächtige Kyros nur ein Mensch ist ebenso wie die vielen Völker, über die er herrscht, und weiter darin, daß kein Mensch immer vom Glück begünstigt ist, sondern es eine Art Kreislauf der menschlichen Dinge gibt, der dies nicht zuläßt. Nach dieser Einleitung erwartet man eigentlich, daß Kroisos nun dem Kyros von dem völlig ohne Anlaß vom Zaun gebrochenen Kriege dringend abraten müßte, und dies um so mehr, als in den einleitenden Kapiteln zu der Erzählung vom Massagetenkrieg ausdrücklich gesagt worden ist, daß Kyros diesen Krieg unternommen habe, weil er sich schon als mehr vorkam als ein Mensch und weil das Glück - es ist dasselbe Wort ExiTuxia, das Kroisos im Anfang seiner Rede im Rate des Kyros gebraucht —, das er bisher in allen seinen Kriegen gehabt hat, ihn glauben machte, so müsse es immer sein. Die einleitenden Worte des Kroisos scheinen ihn also gerade von diesem Wahn befreien zu sollen. Aber dann kommt überraschenderweise etwas ganz anderes. Kroisos sucht dem König klarzumachen, daß es viel gefährlicher sei, wenn er sich den Massageten im eigenen Lande zum Kampfe stelle. Denn wenn er da besiegt werde, könnten die Massageten ihm gleich bis ins Zentrum seiner Herrschaft nachsetzen und ihn dieser berauben, während er selbst, wenn er siege, noch weit von deren Zentrum entfernt sei. Liefere er dagegen die Schlacht in Feindesland, so sei es gerade umgekehrt. Außerdem sei es aber auch untragbar, daß sich der große König Kyros auch nur vorübergehend vor einer Frau zurückziehen sollte. Als Kyros diesen Rat angenommen hat, gibt Kroisos ihm noch einen weiteren Rat für den Kampf selbst. Er solle den Massageten den schlechtesten Teil seines Heeres gegenüberstellen, diesen aber mit viel Lebens232

mittein und Wein ausstatten. Dann würden die Massageten nach einem leichten Sieg über diese herfallen; und wenn sie dann vollgegessen und betrunken seien, könne er mit dem besseren Teil des Heeres über sie herfallen und sie leicht vernichten. So geschieht es denn auch, und die Perser richten unter den betrunkenen Massageten ein furchtbares Blutbad an. Der endgültige Ausgang ist jedoch ein ganz anderer. Die Königin Tomyris bietet Kyros noch einmal freien Abzug an, wenn er ihr ihren gefangenen Sohn wieder herausgebe. Andernfalls, droht sie ihm, werde sie ihn, den Unersättlichen, mit Blut sättigen. Aber Kyros schlägt alle Warnungen in den Wind. Nun sammelt Tomyris alles, was sie an Mannschaft aufbringen kann, und in einer großen Schlacht werden die Perser völlig besiegt und Kyros selbst getötet. An seinem Leichnam macht Tomyris noch ihre Drohung wahr. Kroisos dagegen ist bei der Katastrophe nicht zugegen. Obwohl Kyros seinen Rat befolgt hat, hat er ihn, wie man annehmen muß72, nach Hause gesandt. Er hat seinem Sohn Kambyses empfohlen, ihn in jeder Weise hochzuhalten und zu beschützen. So taucht er dort später wieder als Ratgeber auf. Audi das jedoch ist eine höchst seltsame Geschichte. Es beginnt mit einer feinen Schmeichelei des Kroisos, hinter der er seine Kritik zu verbergen sucht73. Kambyses hat die Vornehmen seiner Umgebung gefragt, was sie von ihm hielten und einer hat an ihm Kritik zu üben gewagt, damit aber seinen Zorn auf sich gezogen; nun sagen die andern alle, er sei größer als sein Vater Kyros. Nur Kroisos stimmt nicht zu: Kambyses stehe noch hinter Kyros zurück, denn er habe noch keinen so großen Sohn hervorgebracht wie jener in Kambyses. Als aber der Cäsarenwahnsinn bei Kambyses immer offener zum Ausbruch kommt, glaubt Kroisos es dem seinem Vater gegebenen Versprechen schuldig zu sein, ihn offen zurechtzuweisen74: wenn er so fortfahre, würden sich die Perser gegen ihn erheben. Darüber ist Kambyses so zornig, daß er Befehl gibt, den Kroisos zu töten. Seine Diener, die ihn kennen, melden die Vollstreckung der Hinrichtung, halten aber in Wirklichkeit den Kroisos verborgen, da sie voraussehen, daß Kambyses sein Befehl später reuen wird. Als dies auch eintrifft, bringen sie ihm den lebenden Kroisos. Kambyses ist hocherfreut und nimmt Kroisos wieder in Ehren auf, läßt aber die Diener trotzdem hinrichten, weil sie seinen Befehl nicht ausgeführt haben. Diese Nachzüglergeschichten über Kroisos fallen gegenüber dem gro233

ßen Kroisosdrama und vor allem seinem großartigen Schlußakt gewaltig ab. Deshalb werden sie von den Herodotinterpreten und vor allem den Interpreten des Kroisos-Logos gewöhnlich übergangen und nicht in den Kreis der Betrachtung gezogen. Sie sind aber gerade wegen ihrer eklatanten Unvollkommenheiten höchst instruktiv, weil sie es erlauben, in die Arbeitsweise Herodots und sein Verhältnis zu seinen „Quellen" einen tieferen und sichereren Einblick zu gewinnen als es auf Grund des großen Kroisos-Logos allein möglich wäre. Der Schlußakt des Kroisos-Logos selbst ist außerordentlich inhaltsund beziehungsreich. Alle die Geschichten, die zunächst abgerundet und vollständig erschienen, dann aber jeweils durch ein Bindeglied miteinander verbunden worden waren, tauchen wieder auf, nicht indem sie Herodot sozusagen von sich aus erwähnt, sondern als Teile des abschließenden Geschehens, so daß sie wirklich in dieses verwoben sind: zuerst die Atys-Adrastos-Geschichte, dann die Solon-Geschichte, dann die Geschichte mit den Orakeln. Mit Solon taucht auch das Griechenmotiv wieder auf, aber es wird nicht ausdrücklich wiederaufgenommen. Der Nachdruck liegt auf der Unsicherheit des menschlichen Lebens: Und das ist eine Einsicht, die auch Kyros nun zu lernen scheint75. Sie wird zum ersten Anlaß von Kroisos' Rettung. Der breiteste Raum ist jedoch Apollon und den Orakeln eingeräumt. Diese Geschichte nimmt noch mehr Raum ein und wird noch mehr hervorgehoben dadurch, daß zwischen die erste Anrufung Apollons, die zur endgültigen Rettung des Kroisos führt, und die Sendung der Boten an das Orakel, auf welche dann die rechtfertigende Antwort des Gottes folgt, als retardierendes Moment noch die klugen Ratschläge des Kroisos an Kyros aus Anlaß der Plünderung der Stadt Sardes eingefügt sind. Die Antwort des Gottes endlich verwebt auch noch die ganz zu Anfang erzählte Geschichte von Kandaules und Gyges mit der Prophezeiung, daß das von Gyges begangene Unrecht in der fünften Generation gesühnt werden müsse, in den Schlußakt des Kroisos-Logos. Man hat in dieser Antwort des Gottes Apollon den eigentlichsten Ausdruck der Weltanschauung Herodots gesehen76. Sie bedeute zugleich eine Korrektur dessen, was Solon in der Kroisos-Solongeschichte über den Neid der Götter und ihr TciQor/cDÖEg, ihr undurchschaubares und scheinbar willkürliches Handeln gesagt hat. Die Antwort des Gottes zeige, daß die Gottheit nicht neidisch ist und TaQaxcó6r)g nur insofern als derjenige, der von dem Schicksal getroffen werden soll, jeweils zuerst blind wird, so daß er selbst dazu hilft, das Schicksal, das ihn trifft, herbeizuführen. Der letzte Sinn dieses Ganzen sei also diese Theodicee. 234

Uber den eigentlichen Sinn dieser Theodicee hat sich aber noch eine Kontroverse entsponnen, die für die Probleme, welche die Interpretation Herodots und die Analyse seines Werkes bietet, recht instruktiv ist77. Auf der einen Seite ist die Meinung vertreten worden, die Rechtfertigung der Gottheit sei dadurch gegeben, daß der Mensch jeweils das Unglück durch seine eigene Schuld über sich bringe: in den meisten und eindrucksvollsten Fällen obendrein noch, nachdem er ausdrücklich gewarnt worden ist. „Er eilt", wie es heißt 78 , „blind für die Gefahr der Gegenwart, deren Abwehr noch in seiner Hand läge, wenn er sich zur Einsicht bringen ließe, ins Verderben". Dem wird auf der andern Seite die Ansicht gegenübergestellt, daß der Mensch dieser Blindheit nicht entgehen kann, da sie selbst ein Teil des Schicksals sei, das ihn befällt, und daß er deshalb nicht im eigentlichen Sinne als schuldig bezeichnet werden könne. Die Theodicee liege vielmehr darin, wie ja auch in der Rechtfertigung Apollons gegenüber den Boten des Kroisos ausdrücklich gesagt werde, daß die Götter nicht neidisch oder übelwollend sind, sondern im Gegenteil den Menschen, vor allem denen, die ihr Wohlwollen gewonnen haben, zu helfen suchen, aber einer höheren Notwendigkeit gegenüber, die eigentlich das Auf und Ab des Menschenschicksals bestimmt, machtlos sind. Es ist offensichtlich, daß die Vertreter beider Meinungen nicht wenig aus dem Herodottext zu ihren Gunsten anführen können, und wenn es auch richtig ist, daß der Gott zum mindesten indirekt auch dem Kroisos attestiert, daß er im Grunde an seinem Mißverstehen des Orakels unschuldig war, da er das Schicksal, das er selbst herbeiführen helfen mußte, nicht ändern konnte, so bleibt doch, daß die ganze Geschichte mit einer Schuld beginnt, wenn auch einer fünf Generationen zurückliegenden, und sozusagen wiederum einer gewissermaßen unschuldigen Schuld, da Gyges durch seinen Freund Kandaules in die Zwangslage gebracht worden ist, wo er entweder seinen Freund verraten oder selbst untergehen muß. Aber auch das Auftreten des Warners ist doch seltsam, wenn er gemäß der Auffassung, daß die Menschen für ihre schicksalsbestimmte Blindheit nichts können, immer wieder zu gar nichts anderem dienen muß als zu zeigen, daß Warnungen erfolglos und daher eigentlich sinnlos sind, da der Mensch doch blind dem ihm einmal bestimmten Schicksal folgen muß. Es ergibt sich also, daß zuerst untersucht werden muß, wie weit überhaupt bei Herodot eine einheitliche Vorstellung von Gott und Schicksal vorliegt, oder wie weit er sich Geschichten und Vorstellungen angeeignet hat, die er wohl miteinander zu verbinden und zu einem Ganzen zu vereinigen suchte, die aber doch auch ihr eigenes Leben hatten, das unter 235

Umständen der Einfügung in den Gesamtzusammenhang bis zu einem gewissen Grade widerstrebt. Nicht minder notwendig ist es, dann ferner zu untersuchen, was es denn mit den Schicksals- und Gottesvorstellungen, welche in der Kroisos-Geschichte eine so große Rolle spielen, überhaupt für eine Bewandtnis hat. "Was nun die erste Frage angeht, so hat sich schon gezeigt79, daß die von Solon erzählte Geschichte von Tellos von Athen und die zweite von ihm erzählte Geschichte von Kleobis und Biton nach ihrem Tenor und nach der ihnen inhärenten Lebensauffassung nicht ganz auf einen Nenner zu bringen sind, auch nicht in dem Sinne, daß die zweite eine Erweiterung des Horizontes oder eine Vertiefung des Lebensverständnisses bedeutete, und daß nur die erste von beiden solonischen Geistes ist. Ebenso hat sich gezeigt80, daß die Geschichte von dem Warner Sandanis zwar in anderem Gewände ein Motiv wiederaufnimmt, das in der SolonGeschichte aufgetreten ist und später bei Herodot noch öfter auftreten wird, auf der anderen Seite aber in den unmittelbaren Zusammenhang, in dem es steht, nicht ganz eingeschmolzen ist. Sehr viel auffallender aber treten solche Diskrepanzen zutage in den Geschiditen, die von Kroisos nach dem Verlust seines Königstumes erzählt werden, und eben deshalb sind sie, obwohl außerhalb des Zusammenhanges der Hauptgeschichte stehend, für deren Analyse so bedeutsam. Am wichtigsten ist in diesem Zusammenhang die Geschichte von Kroisos als Berater des Kyros bei seinem Zug gegen die Massageten. Wie schon bemerkt, tritt er zunächst als ein Mann auf, der durch Leiden weise geworden ist, und da er den König ausdrücklich davor warnt, zu glauben, daß er immer vom Glück begünstigt sein müsse, erwartet man, daß er den König vor der Unternehmung warnen müßte. Statt dessen tritt genau das Gegenteil ein. Derselbe König, der durch Leiden Selbstbescheidung gelernt hat, erklärt dem Perserkönig81, es sei seiner, des großen Kyros, Sohnes des Kambyses, nicht würdig, vor einer Frau auch nur temporär und auf Grund einer freiwilligen Abmachung zurückzuweichen. Aber die übrigen Gründe, die er für seinen Rat ins Feld führt, sind nicht minder seltsam. Zwar für das Argument, daß die Massageten, wenn Kyros von ihnen innerhalb seines eigenen Landes geschlagen werden sollte, es leicht haben würden, bis in die Zentren der persischen Macht vorzudringen, läßt sich einiges sagen, wenn auch die Annahme, daß Kyros innerhalb seines Landes, wo er von allen natürlichen Vorteilen Gebrauch machen kann, von den weit von ihrer Operationsbasis entfernten Massageten geschlagen werden sollte, zu der hohen Meinung, die Kroisos zugleich von 236

Kyros äußert, in seltsamem Kontrast steht, und wenn auch der Trick, den Kroisos dem Kyros anzuwenden rät, im Innern des Landes, wo man die dazu nötigen Lebensmittel und Weinfässer nicht so weit zu transportieren brauchte, noch sehr viel leichter ins "Werk zu setzen gewesen wäre. Aber wenn Kroisos weiter behauptet, wenn Kyros den Vorschlag der Massageten annehme, drei Tagesmärsche in ihr Gebiet vorzudringen und sich dort zur Schlacht zu stellen, dann sei das alles umgekehrt, so schlägt dies der Wirklichkeit geradezu ins Gesicht. Es ist nicht schwer zu sehen, daß die Gefahr einer Niederlage fern von der Operationsbasis in einem weit offenen Lande viel größer, und im Falle einer solchen die totale Vernichtung des persischen Heeres viel wahrscheinlicher war als bei einer Niederlage in selbst gewählter Stellung im eigenen Lande, und daß im Falle einer solchen totalen Niederlage das Perserreich trotz der größeren räumlichen Entfernung des Feindes einem Einfall wie etwa dem der früher in Asien eingefallenen Kimmerier erst recht offen lag. Endlich ist zu Anfang des Abschnittes ausdrücklich gesagt worden 82 , daß die Massageten eine gewaltige Ebene bewohnen, deren Grenzen nicht abzusehen sind, während von einem Herrschaftszentrum innerhalb dieses Gebietes nicht die Rede ist, so daß die Massageten beliebig nach allen Seiten hin ausweichen können. So gehen denn auch die Massageten zunächst in die Falle, die ihnen Kyros auf Anraten des Kroisos gestellt hat. Aber dann machen sie von den Vorteilen, die ihnen und ihren Waffen ihr Land bietet, Gebrauch, und das Resultat ist die Katastrophe des Kyros. Das wirft denn auch Kambyses später dem Kroisos vor 83 , als er ihm gegenüber als weiser Warner auftreten will. Nach alledem kann wohl kaum der geringste Zweifel daran bestehen, daß Kroisos dem Kyros einen sehr schlechten Rat gegeben hat. Wie ist das nun zu verstehen, da doch in der Einleitung zu dieser Geschichte, in welcher Kroisos als ein so schlechter Ratgeber erscheint, dieser selbe Kroisos zunächst als der weise Warner auftritt, der noch ausdrücklich darauf hinweist, daß er selbst durch Leiden gelernt hat? Wer entschlossen ist, in allem tiefere Zusammenhänge zu sehen und um jeden Preis die Einheit der Weltanschauung in allen Geschichten des Herodot zu verteidigen, mag vielleicht sagen, das sei eben das Besondere an dieser Geschichte, daß hier in dem Augenblick, wo nach der Bestimmung des Geschickes im Kreislauf des Geschehens es nun für Kyros daran sei, unterzugehen, sogar der Warner ihm zum Anlaß werden müßte, in sein Unglück zu rennen. Aber das wäre doch wohl eine gar zu künstliche Erklärung, zumal da Herodot deutlicher auf die Pointe seiner Geschichten 237

hinzuweisen pflegt als es hier der Fall sein müßte. Endlich haben sich ja auch sonst innerhalb der mit Kroisos verbundenen Erzählungen Diskrepanzen aufweisen lassen, die nicht wegzudeuten sind. Da bleibt denn doch wohl nichts anderes übrig als die Annahme, daß Herodot verschiedene Geschichten über Kroisos gehört hatte, die er alle in den einen großen Logos von dem immer großen, aber zuerst unweisen, dann durch Leiden weise gewordenen König einzufügen suchte, die wegzulassen er aber auch dann nicht willens war, wenn sie sich in diesen Zusammenhang nicht ganz ohne "Widerspruch einfügen ließen. So wird auch die Hauptgeschichte vielleicht schon von zwei Elementen bestimmt, die verschiedenen Ursprungs sind, aber zusammenpassen: dem OECOJTOV des delphischen Gottes und dem Jtaftei [¿aftog frevta des großen Tragikers Äschylus84. Dazu gab es offenbar eine große Menge von Erzählungen von dem weisen Kroisos, der noch nach seinem Sturz so gute Ratschläge geben konnte, von denen einige auf dem Lernen aus Leiden beruhen, viele aber davon ganz unabhängig sind, so z. B. auch schon die retardierenden Geschichten im Schlußakt des großen Kroisosdramas, wie vor allem der Rat an Kyros, seinen Persern die gemachte Beute wieder abnehmen zu lassen, und wie er dies bewerkstelligen könne, ohne sich damit die Abneigung der ihrer Beute Beraubten zuzuziehen. Zu diesen Geschichten gehörte auch die Erzählung von dem schlauen Strategem, das Kroisos dem Kyros den Massageten gegenüber anzuwenden empfahl. Da bekannt war, daß die Schlacht nicht auf persischem Boden, sondern tief im massagetischen Gebiet stattgefunden hatte und dieses Wissen sich mit der Uberlieferung - ob dieser nun ein wahrer Kern zugrunde lag oder nicht - von dem Angebot der Königin Tomyris, sich auf einem Kampfplatz im einen oder im anderen Land zu treffen, verbunden hatte, geriet auch die Geschichte vom Strategem des Kroisos in diesen Zusammenhang. Da war sie nun. Herodot hat sie mit dem bei ihm immer wiederkehrenden Motiv von dem weise gewordenen Warner Kroisos zu verbinden gesucht. Daß sie dazu nicht ganz geeignet war, ist ihm nicht entgangen. Das hat er dann wieder dazu benutzt, um der heftigen Reaktion des Kambyses auf eine wirklich weise Warnung des Kroisos eine dramatische Wendung hinzuzufügen. Aber die Künstlichkeit der Verbindung ist ihm doch weder hier noch bei der Sandanisgeschichte ganz zu verbergen gelungen. Wenn dies richtig ist - und es scheint mir die einzige Erklärung zu sein, welche dem vorliegenden Tatbestand gerecht wird - , so ergibt sich das Resultat, daß Herodot auch in dem großen Logos die Geschichten, die er erzählt, gewiß nicht erfunden hat. Er hat sie gesammelt wie bei den 238

ägyptischen Geschichten. Der große Unterschied gegenüber den ägyptischen Geschichten ist nur der, daß er sie in eine große Ausdeutung des Geschehens einzufügen versucht hat, die ihrerseits wieder durch ein aus Delphi stammendes und ein aus der attischen Tragödie genommenes Element bestimmt worden sind, wobei die übernommenen Geschichten doch auch ihr Eigenleben bis zu einem gewissen Grade bewahrt haben, das sich manchmal gegen die Einfügung in den von Herodot geschaffenen Zusammenhang wehrt. Ist damit die erste Frage, diejenige nach dem Verhältnis des Herodot zu seinen „Quellen", in gewissem Umfang beantwortet, so bleibt noch die zweite Frage zu beantworten, die, wie sich zeigen wird, für die Analyse des Gesamtwerkes von nicht geringerer Bedeutung ist, die Frage, was es mit den Vorstellungen vom Walten des Schicksals und der Götter, die in der Kroisosgeschichte eine so große Rolle spielen, für eine Bewandtnis hat. Die moderne Kontroverse dreht sich um die Frage: persönliche Schuld oder unpersönliches Schicksal und um das Verhältnis der Götter zu beidem. Aber nicht nur sind die scheinbar einander entgegengesetzten Erklärungsprinzipien an manchen Stellen unlöslich miteinander verbunden, sondern es finden sich auch noch sehr seltsame spezielle Dinge, die bei der Auseinandersetzung über die Grundfrage nicht herangezogen zu werden pflegen. Die Verbindung von Schuld und Schicksal ist besonders eng in der Gygesgeschichte, mit der das Ganze beginnt. Es ist die Schuld, die Gyges seinem Freunde Kandaules gegenüber auf sich geladen hat, die Kroisos sühnen muß. Aber Gyges selbst scheint nur ein "Werkzeug des Schicksals zu sein, denn zu Anfang steht der Satz: XQ^v yaQ Kavöuii/.ri yeveadai xaxüg. Ferner bedarf es einer Erklärung, daß die Strafe für das Unrecht nicht den trifft, der es begangen hat, sondern seinen Nachkommen und Nachfolger Kroisos nach fünf Generationen, obwohl Kroisos selbst an diesem Unrecht ganz unschuldig ist. Noch viel seltsamer aber ist die Geschichte, die der Rechtfertigung des Apollon in der Antwort des Orakels an die Boten des Kroisos eingefügt ist85: daß Apollon sich bemüht hat, die Moiren zu bewegen, die vom Schicksal bestimmte Katastrophe erst unter dem Nachfolger des Kroisos eintreten zu lassen, aber nur eine Verschiebung um drei Jahre von ihnen hat erreichen können. Was hat es nun mit allen diesen seltsamen Dingen auf sich? Schon in der Ilias kommen zwei Arten von 116005 oder noiga vor und werden beide in eine ganz bestimmte Beziehung zu der Gottheit gesetzt. Bei der ersten ist die Verbindung des Wortes mit dem Worte [¿EQO? = Teil, 239

Anteil, noch sehr deutlich: hier bedeutet [XÓQO; den Teil oder Anteil an Leben, welcher dem einzelnen zugemessen ist. Die Vorstellung von diesem ¡xÓQog beruht auf der Erfahrung, daß das Leben keines Menschen über eine gewisse Zeitdauer hinausgeht, daß aber die Zeitspannen des Lebens verschiedener Menschen sich sehr voneinander unterscheiden. So kommt es zu der Vorstellung, daß jedem seine eigene besondere Lebensspanne zugemessen ist, und |iÓQog bedeutet nicht mehr oder nicht mehr vornehmlich die zugemessene Spanne selbst, sondern ihre Grenze und schließlich die Macht, welche diese Grenze setzt. Uber das Verhältnis des allgemeinen Gesetzes, das darin zum Ausdruck kommt, und der Macht, die es garantiert, zu den Göttern bzw. zu der Macht oder Allmacht des höchsten Gottes hat sich der Dichter der Ilias auch Gedanken gemacht und ihr Resultat in der Geschichte von Sarpedon zum Ausdruck gebracht86, wo Zeus, als die dem Sarpedon zugemessene Lebensspanne abgelaufen ist, überlegt, ob er ihn, den er besonders liebt, nicht doch am Leben erhalten soll, aber sofort nachgibt, als seine Gattin Hera ihm mit kräftigen Argumenten klarmacht, daß, wenn eine Ausnahme gemacht wird, die ganze Ordnung der Welt aus den Fugen gehen wird, deren Wächter und Erhalter er doch ist. Hier wird also gezeigt, daß der Gott und die Ordnung der Welt unzertrennlich verbunden sind und der eine die andere nicht ändern kann. Es kommt aber in der homerischen Dichtung noch eine andere nolga vor, und zwar im Zusammenhang mit der seltsamen Vorstellung, daß etwas ILIITEG |XÓQOV, „über das Schicksal hinaus", geschehen könnte, was dann freilich meistens nicht geschieht. Aber an einer Stelle der Odyssee wird damit Ernst gemacht, daß etwas tatsächlich VKÍQ UÓOOV geschehen kann und geschieht: und auch das ist wiederum mit einer besonderen Geschichte verknüpft. Zeus beklagt sich darüber87, daß die Menschen immer die Götter beschuldigen, wenn ihnen etwas Schlimmes widerfährt, obwohl sie doch durch ihre eigene ataaöaXir], ihre Unbesonnenheit, ihren Frevelmut, ÍOTEO I^ÓQOV Unglück und Untergang über sich selbst bringen. Hier ist [xÓQog offenbar nicht der Anteil, die Lebensspanne selbst, welche dem Menschen zugemessen ist, sondern die Macht, welche dieser Spanne das Ende setzt, den Lebensfaden abschneidet, wenn die Zeit abgelaufen ist. Aber es taucht nun auch die Möglichkeit auf, daß ein Mensch durch seine eigene Schuld seinen Untergang noch früher herbeiführt, als es von der ursprünglichen Notwendigkeit bestimmt war. Darin scheint eine klare Antwort auf die Frage nach Freiheit und Schuld gegeben zu sein: in bezug auf diese zweite p.oiga, den Zwang einer Notwendigkeit, die zu verfrühtem Untergang führt, ist der erste Schritt frei. Aber wenn er getan ist, dann 240

läuft das andere nach ebenso unverbrüchlichen Gesetzen ab, wie das Gesetz, das dem Leben des Menschen überhaupt ein Ende setzt, es ist. Audi hier können die Götter an dem Wirken dieses Gesetzes nichts ändern. Audi diese Vorstellung von einer noiga VKEQ nogov beruht zweifellos auf einer Erfahrung: In der gegebenen Fassung vollzieht sich der Ablauf des einmal in Bewegung gesetzten Prozesses innerhalb des Lebens dessen, der ihn in Bewegung gesetzt hat. Es ist aber auch eine ganz konkrete Erfahrung, daß, wie es im Alten Testament heißt, die Sünden der Väter an den Kindern heimgesucht werden bis ins dritte und vierte Glied, ja - vor allem, wo es sich um eine Kollektivschuld handelt - oft bis ins siebte oder achte Glied. Die Geschichte, gerade auch unserer eigenen Zeit, ist voll von Beispielen dafür: Man braucht nur an den Kolonialismus zu denken. Aber wie die allgemeine Erfahrung, daß das Leben überhaupt eine unübersdireitbare Grenze hat, daß aber diese Grenze bei den einzelnen Menschen verschieden weit hinausgeschoben ist, in der mythischen Vorstellung sich zu dem Glauben konkretisiert hat, daß die Lebensspanne jedes einzelnen von vorne herein auf einen ganz bestimmten Tag und Augenblick festgelegt ist, genauso hat die Erfahrung, daß die Sünden und Fehler der Vorfahren oft noch nach vielen Generationen sich an ihren fernen Nachkommen rächen, sich in der mythisdien Vorstellung in dem Glauben konkretisiert, daß die tiaig auf eine ganz bestimmte Generation und etwa ein ganz bestimmtes Jahr festgelegt ist, ohne daß an die Kette der Ursachen, welche in ganz natürlicher Auswirkung des ersten Schrittes zu der xioig führt, dabei gedacht wird. Eine solche mythische Konkretisierung einer wirklichen Erfahrung liegt in der Vorstellung der Festsetzung der xiaig für das von Gyges begangene Unrecht auf die fünfte Generation nach Gyges und damit auf Kroisos vor, wobei die völlige Außerachtlassung eines wirklichen Ursadienzusammenhanges hier ganz besonders deutlich wird. Aber die Geschichte, wie sie bei Herodot erzählt wird, hat noch einige weitere psychologisch interessante Züge. Bei dem ersten Auftreten der zweiten [ioipa zu Anfang der Ilias ist der erste Schritt frei, und nur die Folgen sind unausweichlich. Auch daß der Mensch hier schuldig ist und allein Schuld hat, wird von Zeus ausdrücklich gesagt. Aber die Tendenz zur Fixierung, die sich in der vorbestimmten Fixierung des Lebensendes für jeden einzelnen ebenso wie in der genauen Fixierung der ticng einer Schuld auf eine bestimmte Generation und womöglich ein bestimmtes Jahr oder gar einen bestimmten Tag innerhalb einer Generation so deutlich ausspricht, hat noch weiter zu der Vorstellung geführt, daß überhaupt alles 241

im Leben des einzelnen genau vorbestimmt ist, w a s dann w i e d e r in der V o r s t e l l u n g v o n den drei M o i r e n seinen A u s d r u c k g e f u n d e n hat 8 8 , v o n denen die erste den Lebensfaden a n f ä n g t , die z w e i t e ihn weiterspinnt und als Lachesis dem Menschen alles zuteilt, w a s ihm in seinem L e b e n zuteil w i r d , die dritte, A t r o p o s , die U n a b w e n d b a r e , endlich den Schicksals- u n d Lebensfaden abschneidet. D a bleibt denn g a r keine Freiheit mehr, d a alles v o m Schicksal bestimmt ist. D o c h auch die V o r s t e l l u n g , d a ß die erste Schuld, m i t der ein P r o z e ß in B e w e g u n g gesetzt w i r d , schon w i e d e r durch eine frühere Schuld oder auch durch ein allgemeines Schicksal -

Y«ö

KavöaMri yevsaQai xaxcög - vorausbestimmt ist, geht in dieselbe Richtung. A b e r dann ist es dem Menschen doch w i e d e r nicht möglich, die V o r s t e l l u n g von

der absoluten

Unumstößlichkeit

des v o m

Schicksal

bestimmten

Geschehens z u ertragen, u n d so entsteht die V o r s t e l l u n g , etwas, w e n n auch auch nur ein g a n z klein w e n i g , m ü ß t e n die mächtigen G ö t t e r , z u denen m a n in der H o f f n u n g auf H i l f e betet, doch imstande sein, an d e m v o r bestimmten A b l a u f der D i n g e z u ändern. S o k o m m t es dann z u so seltsamen Geschichten w i e der, d a ß A p o l l o n versucht hat, die M o i r e n z u g u n sten seines Lieblings Kroisos umzustimmen, d a ß es i h m aber nicht gelungen ist, ihnen mehr als eine V e r z ö g e r u n g der K a t a s t r o p h e abzuhandeln 8 9 . Dies alles zeigt, d a ß die Vorstellungen, welche den Gesdiichten H e r o dots jedenfalls in diesem T e i l seines "Werkes z u g r u n d e liegen, z u m T e i l n a i v e sind — n a i v e mythische K o n k r e t i o n e n v o n wirklichen menschlichen E r f a h r u n g e n . Zugleich w i r d dadurch bestätigt, d a ß die tiefere Sinngebung, welche H e r o d o t

z w e i f e l l o s in diesem Abschnitt

seines "Werkes

dem

geschichtlichen Geschehen durch die eingeflochtenen und miteinander v e r bundenen Geschichten z u geben versucht hat, nicht auf einem v ö l l i g konsequent durchdachten System der "Welterklärung oder der A u s d e u t u n g des menschlichen Lebens beruht, das m a n dann auch noch, w i e es versucht w o r d e n ist, dem g a n z e n "Werk a u f z w i n g e n könnte. V i e l m e h r beruht der Reichtum dieser Sinngebung gerade d a r a u f , d a ß in sie so viele Elemente des D e n k e n s u n d der S p e k u l a t i o n der damaligen Z e i t : volkstümliche, priesterlidie, dichterische u n d philosophische, eingegangen sind, die logisch u n d theoretisch keineswegs alle auf denselben N e n n e r gebracht w e r d e n können. Innerhalb eines solchen Zusammenhangs gibt die n a i v e Geschidite v o n den drei Jahren, welche A p o l l o n den M o i r e n abgerungen hat, dem G a n z e n noch einen besonderen R e i z , w ä h r e n d sie sich innerhalb des V e r suches eines großen Historikers, v ö l l i g a u f g r u n d seines eigenen N a c h denkens u n d Eindringens in die Gesetze des Geschehens eine Sinngebung der Geschichte v o r z u n e h m e n , höchst seltsam ausnehmen w ü r d e . 242

Damit wird aber auch dieser Abschnitt zu einem historischen Dokument ersten Ranges, da sich in ihm, nicht anders als in den ägyptischen Geschichten Herodots, die mannigfaltigen Gedanken widerspiegeln, welche sich Menschen der verschiedensten Klassen und Schichten in Griechenland und im vorderen Orient, vor allem aber da, wo sich Griechen und Orientalen begegneten, über die Probleme des menschlichen Lebens und des geschichtlichen Geschehens gemacht haben. In dieser Hinsicht besteht zweifellos eine gewisse Verwandtschaft zwischen den ägyptischen und lydischen Geschichten. Auf der andern Seite ist freilich der Unterschied groß. In dem Abschnitt über Ägypten scheint Herodot alle Geschichten erzählt zu haben, die er von dort mitgebracht hatte. Diese Geschichten stehen selbständig nebeneinander, und soweit sie Probleme behandeln, sind diese von der größten Mannigfaltigkeit und völlig unabhängig voneinander. Endlich hat Herodot in der Mehrzahl der Fälle dort wenigstens die Art seiner Gewährsmänner entweder direkt angegeben oder zum mindesten angedeutet. In der lydischen Geschichte dagegen hat er zweifellos unter den ihm zur Verfügung stehenden Geschichten eine Auswahl getroffen. Die übrige Überlieferung zeigt, daß über Kroisos auch zur Zeit Herodots noch mehr Geschichten im Umlauf gewesen sein müssen oder zum mindesten mehr Versionen, als Herodot aufgenommen hat 90 . Er hat seine Auswahl offenbar danach getroffen, ob sie Elemente enthielten, welche seiner versuchten Sinngebung des Geschehens dienstbar gemacht werden konnten. Aber er hat sie, wenn dies der Fall war, auch dann aufgenommen, wenn sie auch andere Elemente enthielten, die jenem Zusammenhang widersprachen. Endlich hat er, da eben das Ganze ein einheitliches Bild ergeben sollte, hier seine „Quellen" und Gewährsmänner im Gegensatz zu seinem Verfahren in der ägyptischen Geschichte nicht genannt. Es wird sich zeigen, daß Herodot in andern Teilen seines "Werkes wieder wesentlich anders verfahren ist, was für die Analyse des gesamten "Werkes grundlegend wichtig ist.

j. Geschichte und Geschichten in den drei letzten Büchern des Werkes Herodots Die drei eng miteinander verbundenen Grundmotive der geschichtlichen „Sinngebung", welche die Lydergeschichte bei Herodot von Anfang bis zu Ende durchziehen, das Motiv der Unsicherheit aller menschlichen Dinge, das Motiv der besonderen Gefährdung des allzu Hochstehenden 243

und allzu Selbstsicheren und das Motiv des Gegensatzes zwischen dem übergroßen Glanz und der übergroßen Macht orientalischer Herrscher gegenüber griechischer Einfachheit und Selbstbeschränkung sowie auch das dazugehörige Nebenmotiv des Warners treten alle in den drei letzten Büchern des "Werkes Herodots an prominenter Stelle wieder auf. Obwohl ähnliche Motive auch in andern Teilen des "Werkes nicht ganz fehlen, nehmen sie doch nirgends sonst eine so für das Ganze wichtige Stelle ein. Auf der andern Seite ist die Form, in der sie in den drei letzten Büchern auftreten, von derjenigen, die sie in der Lydergeschichte angenommen hatten, wie sich zeigen wird, in sehr charakteristischer Weise verschieden. Ebenso unterscheidet sich die Art ihrer Verflechtung mit der gesamten Darstellung des historischen Geschehens wesentlich. Schon das allein läßt es als zweckmäßig erscheinen, von der lydischen Geschichte nunmehr zunächst mit einem großen Sprung zum Ende des Werkes überzugehen. Das siebte Buch beginnt nach einer kurzen Einleitung über die Nachfolge des Dareios 1 mit dem Beschluß und den Vorbereitungen des Xerxes zu einem großen Feldzug gegen Griechenland. Zuerst ist von den Gründen die Rede, die den Xerxes zu seinem Entschluß bewegen. Dabei wird ausdrücklich hervorgehoben2, daß Xerxes ursprünglich von sich aus keine besondere Neigung zu einem solchen Unternehmen hatte, sondern von andern dazu gedrängt wurde: vor allem von seinem ehrgeizigen Vetter Mardonios, der gern Vizekönig des zu unterwerfenden Hellas werden möchte, und von den Pisistratiden3, die mit persischer Unterstützung wieder in Athen zur Herrschaft zu gelangen hoffen und die den Onomakritos mitgebracht haben, mit dem sie sich früher wegen von ihm gefälschter Orakelsprüche überworfen hatten, den sie aber eben wegen seiner damals bewiesenen Skrupellosigkeit in der Benützung von Orakeln jetzt für ihre politischen Zwecke sehr gut gebrauchen können. Dazu kommen Angebote und Aufforderungen von den Aleuaden aus Thessalien4. Es sind diese äußeren Antriebe, die Xerxes zu seinem Entschlüsse veranlassen. Damit ist schon ein wichtiges Grundmotiv der folgenden Erzählung gegeben. Nachdem Xerxes, um seinen ererbten Besitz zu sichern, noch einen ägyptischen Aufstand niedergeworfen hat 5 , beruft er also eine Versammlung der Großen des Reiches, um ihnen seinen Beschluß mitzuteilen. Er beginnt damit6, darauf hinzuweisen, daß es eine Gewohnheit schon seiner Vorgänger auf dem persischen Thron gewesen sei, die Grenzen des Reiches immer weiter auszudehnen. Er wolle daher nicht hinter ihnen zurückstehen. Da habe er nun gefunden, daß er durch einen Feldzug gegen 244

Griechenland drei Dinge zugleich erlangen könne: Ruhm, die Herrschaft über ein ausgedehntes und fruchtbares Land, und Rache für den Persern angetanes Unrecht. Nach dieser Einleitung verkündet er den persischen Vornehmen seinen Entschluß, eine Brücke über den Hellespont zu schlagen, gegen Hellas zu ziehen, die Athener zu bestrafen, aber auch die übrigen Griechen zu unterwerfen. Dann würden ihm alle Untertan sein, sowohl diejenigen, die sich gegen die Perser verfehlt hätten, als auch diejenigen, bei denen dies nicht der Fall gewesen sei7, und die Grenzen seines Reiches würden mit denen der Erde zusammenfallen. An einem gegebenen Zeitpunkt sollten alle anwesenden Großen sich mit den Truppen, die sie aufbringen könnten, einfinden. Wer sich dabei durch die Ausrüstung seiner Truppen besonders auszeichne, werde von ihm fürstlich belohnt werden. Das, erklärt Xerxes, sei ein Befehl. Aber um nicht eigenwillig zu erscheinen, fordere er die Versammelten nun auf, ihre Meinung über das geplante Unternehmen zu sagen8. Diese überraschende Wendung, wo das, was an erster Stelle stehen sollte, die Beratung, hinter den Beschluß und Ausführungsbefehl gesetzt wird, welche auf sie folgen sollten, bildet den zweiten Angelpunkt der Geschichte. Es folgen zwei Reden. Zuerst eine des Mardonios 9 , der dem König natürlich zustimmt und das Ganze als einen militärischen Spaziergang darstellt, da die Griechen den Persern keine auch nur entfernt vergleichbare Macht entgegenzustellen hätten. Darauf eine Rede des Artabanos 10 , eines Oheims des Königs, der von dem Feldzug abrät. Er beginnt konkret mit dem Hinweis auf den Mißerfolg des Feldzuges des Dareios gegen die Skythen und die katastrophalen Folgen, welche dieser hätte haben können, wenn die Griechen, denen die Bewachung der Brücke über die Donau anvertraut war, nicht wider Erwarten treu geblieben wären. Dann weist er darauf hin, daß der Blitz die großen Dinge trifft, nicht die kleinen, und daß so auch die Menschen, die sich zu hoch erheben, am meisten gefährdet sind. Endlich verteidigt er die Griechen gegen das, was er als die „Verleumdungen" des Mardonios bezeichnet: sie seien als potentielle Gegner in keiner Weise zu verachten. Er rät dem König, sich die Sache lieber noch einmal reiflich zu überlegen, und wenn er dann doch zu dem Entschluß kommen sollte, die Griechen anzugreifen, solle er nicht selbst sich der Gefahr aussetzen, sondern den Mardonios aussenden. Dann werde der Mißerfolg, wenn es ein solcher werden sollte, leichter zu ertragen sein. Der König ist über diese Meinungsäußerung, zu der er doch selbst aufgefordert hat, auf das höchste erzürnt 11 . Artabanos solle zur Strafe nicht an dem Zug teilnehmen dürfen und bei den Weibern zu Hause 245

bleiben. Er selbst verschwört sich, er wäre nicht der Sohn seiner großen Ahnen, die er alle aufzählt, wenn er nicht Rache nehmen würde an den Athenern. Aber nachdem er die Versammlung der Großen entlassen hat, kommen ihm in der Nacht Bedenken12, ob Artabanos mit seiner Warnung nicht doch Recht gehabt habe, und er beschließt bei sich, am nächsten Tag die ganze Unternehmung wieder abzublasen. Darauf folgt die berühmte Geschichte von dem dreifachen Traum 13 . Hier ist es sehr wichtig, sich die Einzelheiten ganz genau anzusehen; vor allem die "Worte, welche der Mann, der dem Xerxes im Traume erscheint, zu ihm spricht. Das erstemal spricht er ganz kurz. „Du hast also", sagt er, „deinen Entschluß, einen Feldzug gegen die Griechen zu unternehmen, geändert, nachdem du vorher den Persern befohlen hattest, ein Heer zusammenzubringen. Du tust aber nicht gut daran, deinen Entschluß zu ändern, und den, der dir das verzeihen wird, gibt es nicht14. Führe also aus, was du am Tage (vorher) beschlossen hast." Der König achtet dieses Traumes nicht und sagt am folgenden Tage den Feldzug ab. Aber in der Nacht erscheint ihm wieder derselbe Mann15, und wieder fängt er seine Rede ironisch an: „Da zeigt sich nun also, daß du den Feldzug abgeblasen und meine Worte für nichts geachtet hast, als ob du sie von ,niemand' gehört hättest16. Wisse aber, daß, wenn du nicht sogleich gegen die Griechen zu Felde ziehst, du ebenso schnell ganz klein sein wirst, wie du in kurzer Zeit groß und mächtig geworden bist." Es folgt die berühmte Erzählung, wie Xerxes sich nun mit seinem Oheim Artabanos berät, der den König zuerst mit der Erklärung, daß Träume Schäume seien, die nichts zu bedeuten haben, zu beruhigen sucht17, schließlich aber nach langem Weigern bereit ist, auf dem Bette des Königs zu schlafen, worauf auch ihm der Traum erscheint. Wieder ist der genaue Wortlaut dessen, was der Traum ihm sagt18, von der größten Bedeutung: „Du bist also der, welcher mit aller Gewalt den Xerxes von dem Feldzug gegen die Griechen abzuhalten sucht ,aus Sorge um ihn'. Aber weder für die Zukunft noch für die Gegenwart wird es dir gelingen, das, was geschehen muß, abzuwenden. Was aber dem Xerxes passieren wird, wenn er mir nicht gehorcht, das ist ihm selber enthüllt worden." Darauf bedroht der Mann im Traum den Artabanos, als ob er ihm die Augen ausbrennen wolle; und nun gibt auch Artabanos schweren Herzens nach, da der Wille der Götter offenkundig ist, und beteiligt sich nunmehr selbst mit Eifer an den Kriegsvorbereitungen19, nachdem Xerxes den Persern seine nochmalige Sinnesänderung mit Hinweis auf den Traum und den sich darin aussprechenden Willen der Götter mitgeteilt hat. 246

Wieder ist die ganze Geschichte mit der äußersten Kunst erzählt. Manches, wie vor allem die Diskussion zwischen Artabanos und Xerxes, wird mit einer gewissen Breite ausgeführt. Aber die entscheidenden Punkte sind mit äußerster Prägnanz formuliert und genau an die Stelle gesetzt, wo sie am einprägsamsten sind. Die Hauptmotive der Lydergeschichte kehren alle in mehr oder minder ausgeprägter Form wieder, am ausgeprägtesten das Hauptmotiv vom Neide der Götter und von der besonderen Gefährdung derjenigen, die über das gewöhnliche Maß hinauswachsen, sowie das Nebenmotiv vom "Warner. Das damit verbundene Motiv von dem Gegensatz zwischen dem übermenschlichen Glanz orientalischer Herrscher und griechischer Einfachheit und Schlichtheit wird an dieser Stelle nicht ausdrücklich von neuem formuliert, aber darin, daß die „Verteidigung" 20 der Griechen gegen die verächtlichen Reden des Mardonios durch Artabanos unmittelbar auf dessen Ausführungen über die Gefährdung der allzu Großen folgt, klingt es doch sehr deutlich an. Das Motiv der Unausweichlichkeit des Schicksals wird in den Worten des Mannes im Traum an Artabanos „Es wird dir nicht gelingen, das, was sein muß, abzuwenden", wieder angeschlagen, und das Motiv der Unsicherheit aller menschlichen Dinge liegt für den Leser, der den Ausgang des Unternehmens des Xerxes ja kennt, der ganzen Erzählung unausgesprochen zugrunde. Aber diesen Ubereinstimmungen mit den Motiven der Lydergeschichte stehen sehr bedeutsame Verschiedenheiten gegenüber. Xerxes gehört zu denen, die durch ihre „Größe", d. h. durch die Größe ihrer Macht und durch ihr Verlangen, diese Macht noch weiter auszudehnen, gefährdet sind. Aber er besitzt nicht die „Selbstsicherheit", die den Kroisos bei seinem Zusammentreffen mit Solon und ehe er durch Leiden weise geworden ist, und nach Kroisos in jeweils persönlich abgewandelten Weisen den Kyros und Kambyses charakterisiert. Er ist ein in sich unsicherer und schwankender, von äußeren Einflüssen hin und her getriebener Despot. Die psychologische Schilderung dieses Schwankens ist vortrefflich. Auch die Kroisosgeschichte enthält Züge von tiefer psychologischer Einsicht, z. B. in der Geschichte, wie Kroisos durch die Sorge um sein Reich aus der Trauer um seinen Sohn, der er sich bis dahin ohne Einschränkung hingegeben hatte, herausgerissen wird. Die Psychologie des Xerxes ist vielleicht weniger tief, aber erfordert eine viel größere Mannigfaltigkeit der Einzelzüge, die sich doch zu einer Einheit zusammenschließen. Wie Xerxes zuerst durch den Hinweis auf seine Vorgänger, die Vorspiegelungen der Peisistratiden mit Hilfe der Orakel des Onomakritos 21 sowie scheinbar 247

günstige Angebote aus Griechenland selbst ohne spontane, aus ihm selbst kommende Neigung zu dem Entschluß veranlaßt wird, wie er dann zuerst den Entschluß mitteilt und darauf doch um Rat hinsichtlich seiner Richtigkeit ersucht, wie er, als entgegen seiner Hoffnung durch die "Warnung des Artabanos die Gefahren und Schwierigkeiten des Unternehmens sichtbar werden, aufbraust und seine Vorgänger aufzählt, deren er sich durch Nichtdurchführung seines Beschlusses unwürdig machen würde, aber dann in der Nacht doch Bedenken bekommt und am nächsten Tag das Unternehmen absagt und sich dabei wegen seines Ausbruches gegen den Warner Artabanos mit dem „Uberkochen seiner Jugend" 22 entschuldigt (obwohl - das darf man wohl, wenn es auch von Herodot nicht ausdrücklich gesagt wird, hinzufügen — offenbar ist, daß in "Wirklichkeit gar nicht so sehr seine Jugend übergekocht ist, sondern sein Aufbrausen gerade dadurch verursacht wurde, -daß die Warnungen des Artabanos die in ihm selbst verborgenen Bedenken und Ängstlichkeiten verstärkt haben) und wie er sich dann in dem Dilemma, in das ihn die beiden Träume versetzt haben, nun eben an den Oheim, den er zu den "Weibern geschickt hatte, um Rat und Hilfe wendet, das hat in der lydischen Geschichte und überhaupt in den übrigen Teilen des "Werkes in der Ausführlichkeit der Darstellung des Psychologischen keine Analogie. Es ist vielleicht nicht ganz irrelevant, darauf hinzuweisen, daß die Ausarbeitung und Niederschrift dieser Geschichte etwa in demselben Zeitraum von zehn Jahren erfolgt sein muß, in welchem Euripides die Gestalt des schwankenden Tyrannen Kreon in der Medea geschaffen hat. Noch viel wichtiger jedoch ist etwas anderes, das die Xerxesgeschichte von den lydischen Geschichten unterscheidet. In den "Worten des Traumes zu Artabanos tritt das Motiv der Unentrinnbarkeit des Schicksales wieder auf. Darauf hat man natürlich immer wieder hingewiesen23 und es als weiteren Ausdruck der selben "Weltanschauung Herodots gewertet, die auch in den lydischen Geschichten zum Ausdruck gekommen war. Aber was der Traum vorher zu Xerxes gesagt hatte, ist viel spezifischer. Das erste Mal: „du tust nicht wohl daran, deinen Entschluß zu ändern und denjenigen, der dir das verzeihen wird, gibt es nicht"24, das zweite Mal: „wenn du nicht sogleich den Feldzug, den du angekündigt hast, unternimmst, wirst du in kurzem so klein sein, wie du in kurzer Zeit groß und mächtig geworden bist." Ganz oberflächlich betrachtet mag die erste Äußerung des Traumes als seltsam erscheinen, denn zum mindesten Artabanos muß es doch dem König nicht nur verzeihen, sondern es in jeder "Weise billigen, wenn der König das Unternehmen, vor dem er ihn gewarnt 248

hat, absagt; und daß die persischen Großen sich darüber freuen, wird ausdrücklich gesagt25. Daß aber mit denen, die es ihm nicht verzeihen werden, etwa nur die Götter gemeint sein könnten, wird durch die Prägnanz der Formulierung „denjenigen, der dir dies verzeihen wird (mit dir in Erkenntnis und Beschluß einig sein wird), gibt es nicht" völlig ausgeschlossen. Trotzdem ist es nicht schwer zu sehen, daß der Mann im Traum ganz buchstäblich recht hat, und dies ganz ohne daß man auf metaphysische oder religiöse Faktoren zu rekurrieren braucht. Ein König, der in der Weise, in der dies durch Xerxes in Herodots Erzählung geschieht, ein goßes Unternehmen angekündigt hat und es dann wieder abbläst, weil er Bedenken bekommen hat, wird audi von denen verachtet werden, die das Unternehmen nicht gebilligt haben und sich über seine Absage freuen. Auch und gerade unter ihnen wird sich der auvYvcüaönevog, wie der Mann im Traum ganz richtig sagt, nicht finden, und in einer despotischen Monarchie wie der persischen, in der es keine lange und fest geregelte Legitimität der Erbfolge gibt, wird dies, wie ihm der Traum ganz richtig voraussagt, zur Folge haben, daß der Despot in ebenso kurzer Zeit wieder klein werden wird, wie er in der Auseinandersetzung um die Thronfolge seines Vorgängers Dareios26 groß und mächtig geworden ist. Auch der größte Mißerfolg des Unternehmens kann ihm, falls sein Land nicht von dem unüberlegt angegriffenen Gegner erobert wird, nicht in dem Maße schaden wie das plötzliche Zurücktreten von einem Unternehmen, das er eben angekündigt hat. Damit erweist sich die unentrinnbare Notwendigkeit, von welcher der Traum zu Artabanos spricht, als ein Beispiel jener zweiten Art von Moira, die schon in der Odyssee vorkommt und in der Lydergeschichte wenigstens andeutungsweise auftritt 27 , eine Moira, bei welcher der erste Schritt frei ist, die Kette des Geschehens, wenn das erste Glied einmal gegeben ist, aber unentrinnbar von einem Glied zum anderen weitergeht. Aber die Verbindung zwischen diesem ersten Schritt und dem, was ihm, da ja doch nichts ganz aus dem Nichts hervorgeht, voranliegt, ist hier eine ganz andere als in der Kroisosgeschichte. Der äußere Anlaß zu dem Entschluß des Kroisos, die Perser anzugreifen, liegt in seiner Furcht vor dieser sich rasch ausbreitenden Macht. Dies ist ein gewichtiger Grund, aber er läßt, wie auch das Zögern des Kroisos und sein Versuch, sich durch Befragen des Orakels des Ausgangs zu versichern, die endgültige Entscheidung, so oder so zu handeln, frei. Daß Kroisos den, wie sich später zeigt, falschen Entschluß faßt, ist auf die Täuschung durch das Delphische Orakel zurückzuführen und die Tatsache, daß er dieser Täuschung erliegt, statt über 249

den Sinn des Orakels genauere Aufklärung zu fordern, wird daraus erklärt, daß die Vergeltung für das von seinem Vorfahren Gyges getane Unrecht ihn nach Beschluß des Schicksals als den Herrscher der fünften Generation treffen mußte28. Nichts dergleichen findet sich in der Xerxesgeschichte. Auch bei diesem liegt ein Anlaß zu seinem Entschluß in den Taten eines seiner Vorfahren: der mißglückten Expedition des Datis und Artaphernes und dem Beschluß des Dareios, die dabei erlittene Niederlage von Marathon zu rächen, den er nicht mehr ausführen kann. Das mochte ein gewichtiger Anlaß sein, und es ist nicht unmöglich, daß man es dem Xerxes auch als Schwäche angeredinet hätte, wenn er nie von einem Feldzug gegen die Griechen geredet hätte. Audi Orakel spielen bei seinem Entschluß eine Rolle: die gefälschten und einseitig zusammengestellten des Onomakritos. Aber alles das sind Dinge, die sich auf rein menschlicher Ebene ohne weiteres einsehen lassen. Da ist nichts, was sich wie die Vergeltung für die Taten des Gyges an Kroisos nur religiös erklären läßt. Nachdem der erste Schritt, der das Schicksal in Bewegung setzt, getan ist, spielen dann mit dem wiederholten Traum freilich auch göttliche Mächte eine Rolle. Aber der Inhalt dessen, was der Mann im Traume sagt, gehört wiederum völlig in das Gebiet ganz natürlicher menschlicher und psychologischer Kausalität. Gar schon von so seltsam naiven Vorstellungen von der Einwirkung göttlicher Mächte wie der Geschichte, daß Apollon versucht habe, das Schicksal von Kroisos abzuwenden und erst auf seinen Nachfolger fallen zu lassen, aber nur einen Aufschub von drei Jahren von den Moiren habe erreichen können29, ist hier nirgends etwas zu finden. Es ist alles trotz der eindrucksvollen Traumgeschichte viel weniger metaphysisch und näher der unmittelbaren historischen Realität. So erhebt sich die Frage, ob dies an der Zufälligkeit des dem Herodot gegebenen Materials lag - soweit das Delphische Orakel Anlaß hatte, sich mit dem Xerxeszug zu beschäftigen, hatte dies nichts mit dessen Ursprüngen und Anfängen zu tun wie bei dem Feldzug des Kroisos - oder ob hier eine Änderung in den Tendenzen Herodots selbst vorliegt. Eine Antwort auf diese Frage kann nur aufgrund einer Untersuchung des weiteren Fortganges der drei letzten Bücher seines Werkes gegeben werden. Die nun naturgemäß folgende Darstellung der materiellen Vorbereitungen und des Beginns des Feldzuges gegen Griechenland ist noch von zahlreichen Sonderanekdoten und Geschichten durchsetzt. Ein prophetischer, aber zweideutiger Traum des Xerxes30 und eine Sonnenfinsternis beim Aufbruch des Heeres, deren Bedeutung ebenfalls verschieden aus250

gelegt werden kann 31 , deuten auf den ungünstigen Ausgang des Unternehmens hin. Zwei voneinander getrennte Anekdoten 32 über Xerxes und einen unermeßlich reichen Lyder namens Pythios ergänzen das Charakterbild des Königs. Als der Lyder dem König sein riesiges Vermögen an gemünztem Gold, 3 993 000 Goldstücke, für den Feldzug schenken will, nimmt dieser das Geschenk nicht an, sondern schenkt dem Lyder noch 7000 Goldstücke aus seinem Schatz, um die vier Millionen voll zu machen. Als aber der Lyder, durch die Sonnenfinsternis über den Ausgang des Feldzuges bedenklich gemacht, den König im Vertrauen auf dessen Generosität und Großmut bittet, wenigstens einen seiner fünf Söhne, die alle mitziehen sollen, zu Hause behalten zu dürfen, braust der König auf und erfüllt die Bitte, deren Erfüllung er vorher versprochen hat, dadurch, daß er den Sohn töten und so seinen Leichnam zu Hause bleiben läßt, ja er läßt diesen in zwei Stücke teilen, zwischen denen er das Heer zur Abschreckung hindurchmarschieren läßt. Die beiden Geschichten sollen natürlich die despotische Launenhaftigkeit und Grausamkeit des Königs illustrieren, aber doch wohl auch seine innere Unsicherheit und Angst, die es ihm unerträglich macht, jemanden an dem glücklichen Ausgang des Unternehmens zweifeln zu sehen. So ist denn auch, was er dem Lyder vorwirft, die, wie es ihm erscheint, Ungeheuerlichkeit, daß er seinen Sohn einer vermuteten Gefahr entziehen will, der er, der König selbst, sich aussetzt. Das sind offenbar einfach alles Ergänzungen zu der Eingangsgeschichte. Bald darauf folgt jedoch eine neue inhaltsreiche Anekdote 33 , welche verschiedene, nach mehreren Richtungen hin höchst interessante Elemente enthält. Bei der Ankunft des Heeres in Abydos am Hellespont hält Xerxes eine große Heerschau ab. Beim Anblick der gewaltigen, großartig und mannigfaltig ausgerüsteten Kriegermassen, die ihm alle Untertan sind, preist Xerxes sich zunächst glücklich und beginnt dann zu weinen. Als Artabanos, der den König bis hierher begleitet hat, ihn nach dem Grunde dieses scheinbar widerspruchsvollen Verhaltens fragt, antwortet der König: „Es ist mir in den Sinn gekommen, daß von allen diesen vielen Menschen in hundert Jahren niemand mehr am Leben sein wird." Darauf Artabanos: „Es gibt noch viel Bejammernswerteres in bezug auf das menschliche Leben. So kurz es auch ist, so ist doch niemand so glücklich, daß es ihm nicht mehrfach und nicht nur einmal in diesem Leben widerfahren würde, lieber tot zu sein als zu leben. So bewirken die Unglücksfälle und Krankheiten und Widerwärtigkeiten, daß das kurze Leben lang erscheint und der Tod dem Menschen zur wünschenswerten Zuflucht wird. 2JI

Die Gottheit aber, die doch ein glückliches ewiges Leben genießt, sieht noch mit Mißgunst auf das Glück der Menschen." Da wird nun also das pessimistische Grundmotiv der Kleobis- und Bitongeschichte sowie das Motiv von der Hilflosigkeit des Menschen im Angesicht der Gottheit und vom Neide der Götter, die in der Eingangserzählung des siebten Buches nur andeutungsweise und im Hintergrund aufgetreten waren, mit vollstem Nachdruck wiederaufgenommen. Aber auch die weitere Entwicklung des Gespräches ist höchst interessant. Zunächst sagt Xerxes: „Wir wollen die Untersuchung des menschlichen Lebens, das wohl so sein mag, wie du es darlegst, einmal beiseite lassen und nicht an die schlimmen Dinge denken, wo wir doch mit einem feinen und großartigen Unternehmen beschäftigt sind. Aber sag mir doch: "Wenn die Geschichte mit dem Traum nicht gewesen wäre, würdest du mir dann immer noch von dem Feldzug abraten?" Darauf gibt von neuem Artabanos seine schweren Bedenken zu erkennen und weist den König darauf hin, daß er außer den Griechen noch zwei Feinde habe, die sich nicht durch die Größe seines Heeres überwinden ließen, nämlich Land und See, die durch die Größe des Heeres und mit der Entfernung von der Nachschubbasis immer gefährlicher würden, da sie das Heer mit Hunger bedrohten. Das Verhalten des Xerxes gegenüber diesen in einem sehr entscheidenden Augenblick, dem Vorabend der Überschreitung des Hellespont, erneut vorgetragenen Bedenken des Artabanos ist nun ein ganz anderes als in der Eingangsgeschichte des siebten Buches, angefangen von Xerxes' Aufbrausen gegenüber demselben Artabanos, als dieser, ausdrücklich um seinen Rat gebeten, zum ersten Male seine Bedenken vorgebracht hat, bis zu seinem grausamen und echt despotischen Verhalten gegenüber dem Lyder Pythios. Er antwortet ganz ruhig: „Das hast du alles ganz plausibel auseinandergesetzt. Aber sei nicht immer voll Furcht und Bedenken. Denn wenn man bei jedem Unternehmen, das sich darbietet, immer alle Bedenken in Betracht ziehen will, wird man nie etwas ausführen. Es ist aber besser, indem man alles mit "Wagemut in Angriff nimmt, die Hälfte der schlimmen Dinge zu erleiden (sc. die allenfalls eintreten können) als, indem man vor allen Dingen schon vorher Angst hat, alles Unangenehme zu vermeiden." Dann setzt er dem Artabanos auseinander, daß nur der, der etwas wagt, etwas gewinnt und daß, wenn seine Vorfahren so vorsichtig gewesen wären wie Artabanos, das Perserreich niemals so groß und mächtig geworden wäre, wie es ist. Auch sucht er diesen mit dem Hinweis darauf, daß das Heer reichlichen Proviant aus Persien mit sich führe, in Griechenland aber, einem fruchtbaren und ackerbau252

treibenden Lande, genug Verpflegung finden werde, über die von Land und Meer dräuenden Gefahren zu beruhigen. Als Artabanos ihn darauf nur noch bittet, wenigstens die Ioner in ihre Heimat zu entlassen, weil es Unrecht sei, von ihnen zu verlangen, gegen ihre Landsleute zu kämpfen, und sie deshalb auch nie zuverlässig sein würden und in einem entscheidenden Augenblick den Persern durch ihre UnZuverlässigkeit großen Schaden tun könnten, weist Xerxes diesen Rat ab mit dem Hinweis auf die Treue der Ioner beim Skythenzug des Dareios, bestellt dann aber Artabanos zu seinem Stellvertreter in der Heimat. Hier mag man nun in dem Verhalten des Xerxes ein Verharren in seiner früheren Verblendung sehen, zumal es auch bei dem Zug des Dareios nur an einem Haar gehangen hatte, daß die Ioner die Donaubrücke abgebrochen und so das Heer des Dareios der Vernichtung ausgesetzt hätten: und damals war noch dazu die Situation weniger gefährlich, da sie nicht gegen ihre Landsleute in den Kampf geführt werden sollten. Aber der Tenor des Ganzen ist doch ganz anders. Nicht nur hört Xerxes diesmal den pessimistischen Reden des Artabanos ganz ruhig zu statt gegen ihn aufzubrausen oder ihn gar zu bestrafen. Er macht ihn sogar zu seinem Vertreter in der Heimat. Auch scheint er von ihm gelernt zu haben. Denn im Einklang mit der Verteidigung der Griechen durch Artabanos gegen die „Verleumdung" des Mardonios 34 bezeichnet er in einer auf das Gespräch mit Artabanos unmittelbar folgenden Ansprache an seine Generäle die Griechen als tapfere Männer: sie sollten daher alle Anstrengungen machen. "Wenn es ihnen gelinge, diese tapferen Männer zu überwinden, werde ihnen niemand mehr entgegentreten können. Vor allem aber scheinen das Schwanken und die Unsicherheit, welche den Xerxes der Eingangsszene charakterisierte, verschwunden zu sein. Zwar ist die Antwort, mit der Xerxes den Bedenken des Artabanos die Notwendigkeit, auch etwas zu wagen, gegenüberstellt, als Zeichen seiner Oberflächlichkeit betrachtet worden 35 . Aber dabei ist übersehen, daß auf Grund des Traumes, der, wie gezeigt, auch objektiv recht hat, Xerxes gar nicht mehr anders kann, als den Feldzug durchzuführen, und daß es unter diesen Umständen besser ist, den Unsicherheiten ins Gesicht zu sehen und sich damit abzufinden als unaufhörlich vor Angst zu beben. Selbst in bezug auf die Ioner hat er nicht so ganz unrecht. Sie sind der Aufforderung des Themistokles vor der Schlacht bei Salamis, zu ihren Landsleuten überzugehen, nicht gefolgt und erst von den Persern abgefallen, nachdem der griechische Sieg zur See und wahrscheinlich auch zu Lande entschieden, Xerxes längst nach Asien zurückgekehrt und die Brücke über den Helles253

pont von den Elementen zerstört und von den Persern selbst aufgegeben worden war 36 . In der Schlacht bei Salamis selbst aber hielten sich nur wenige der ionischen Schiffe im Kampf absichtlich zurück, eine ganze Reihe von ihnen zeichnete sich sogar im Kampfe gegen ihre Landsleute aus und wurden von Xerxes dafür besonders geehrt37. Die Chance einer Niederlage zur See wäre nach Herodots eigener Darstellung also noch sehr viel größer gewesen, wenn Xerxes dem Rat des Artabanos gefolgt wäre und die Ioner in ihre Heimat entlassen hätte. Man kann daher fragen, ob Herodot an dieser Stelle Xerxes als einen seit den ersten Diskussionen mit Artabanos durch Nachdenken Gereiften oder weiser Gewordenen hat darstellen wollen oder ob diese Änderung in der Charakterisierung des Xerxes eine durch andere Faktoren bedingte und mehr oder minder zufällige ist38. Daß bei dem unmittelbar darauf erzählten 39 Ubergang der Perser über den Hellespont das Heer mit Peitschen hinübergetrieben wird, kann kaum als durchschlagendes Argument gegen eine solche Absicht Herodots gelten, da es sich hierbei wohl einfach um eine historische Tatsache handelt, die auf der andern Seite wohl kaum für das ganze Heer, sondern nur für Teile desselben Gültigkeit hat. Es folgt jedoch40 zunächst wieder beim Ubergang ein für die Perser ungünstiges Omen, indem berichtet wird, daß ein Pferd einen Hasen geboren habe: ein deutlicher Hinweis darauf, daß aus dem stolzen Zug nach Griechenland eine hasenhafte Flucht hervorgehen werde. Zugleich wird ein ähnlich auszulegendes Omen aus Sardes berichtet41. Gleich nach dem Ubergang über den Hellespont hält Xerxes eine zweite Heerschau42. Den Bericht darüber verbindet Herodot mit einer genauen Aufzählung der Völker, welche die Kontingente des Heeres bildeten, und einer Beschreibung ihrer Ausrüstung und Bewaffnung 43 . Unmittelbar darauf folgt 44 eine weitere Anekdote, die ganz dem Motiv des Gegensatzes zwischen Griechen und Orientalen gewidmet ist, der hier nun allerdings von einer anderen Seite her gesehen wird. Xerxes läßt den aus seiner Heimat verbannten spartanischen König Demaratos, der schon bei seinem Vorgänger Zuflucht gefunden hatte und ihn nun auf seinem Zuge begleitet, rufen und fragt ihn, ob er glaube, daß sämtliche Völker des "Westens zusammen imstande sein würden, einem solchen Heere Widerstand zu leisten und ob die Griechen es auch nur wagen würden, „die Hände gegen ihn zu erheben". Der König antwortet, er habe zwar eine hohe Meinung auch von den andern Griechen, welche „die dorischen Gegenden bewohnen 45 ". Aber von denen wolle er nicht reden, sondern 254

nur von den Spartanern. Die aber würden sich niemals der Knechtschaft unterwerfen, sondern auch dann gegen ihn kämpfen, wenn ihrer nur tausend wären. An diesem Punkt der Diskussion angelangt, bedient sich Herodot desselben raffinierten Kunstmittels seiner Darstellungskunst, das er in dem Solon-Kroisos-Dialog angewandt hatte, wodurch die Verwandtschaft zwischen diesen beiden Teilen seines Werkes noch deutlicher wird. Zu Anfang und zu Ende des Dialogs folgen die Repliken oder, wo die Replik durch eine Erzählung unterstützt wird, die einzelnen Phasen der Erzählung in präzisester Kürze aufeinander. Aber wo Solon an dem entscheidenden Punkt, der Unsicherheit des menschlichen Lebens, angelangt ist46, da redinet er ganz umständlich aus, wieviel Tage ein durchschnittliches Menschenleben hat, um dann die Folgerung daraus zu ziehen, daß von diesen Tagen keiner dem andern gleicht und wieviel Angriffspunkte damit dem Schicksal gegenüber dem Menschen gegeben sind. Diese gewollte "Weitschweifigkeit an einem Punkt, die so ganz anders ist als die Weitschweifigkeit der auf Papyrus erhaltenen einheimischen ägyptischen Erzählungen47, ist ganz außerordentlich eindrucksvoll. Ganz ebenso verfährt Herodot nun aber auch in dem Dialog zwischen Xerxes und Demaratos. Wieder fängt es auch mit Zahlen an. „Wie kannst du so etwas sagen?", beginnt der König48, „daß tausend Mann gegen eine solche Ubermacht kämpfen würden. Nimm doch nur dich selbst. Würdest du es allein auch nur mit zehn Männern zugleich aufnehmen? Und dabei sagt man doch, daß nach deren Gebräuchen der König doppelt gilt, so daß du es also vielmehr mit zwanzig aufnehmen müßtest; dabei ist, selbst wenn es nicht tausend, sondern fünftausend Spartiaten sind, die Übermacht nicht eine von eins zu zehn, sondern von eins zu tausend. Wenn die nun, wie es bei uns der Fall ist, unter der Herrschaft eines einzigen Herrschers stünden, vor dem sie Angst haben, dann wäre es allenfalls noch denkbar, daß sie entgegen ihrer Natur und Neigung von Peitschen gezwungen in einen so ungleichen Kampf gingen. Da sie jedoch frei sind, werden sie gewiß nichts dergleichen tun. Ja, aus eben diesem Grunde würden sie wohl kaum selbst einem an Zahl gleichen persischen Heer Widerpart leisten." Die Ähnlichkeit im Aufbau und in der Verwendung der Kunstmittel mit dem erwähnten Abschnitt der Solon-Kroisos-Geschichte ist mit Händen zu greifen. Doch ist es hier nicht wie dort der Warner, sondern der Gewarnte, der mit diesem kunstvollen Aufbau auf den entscheidenden Punkt hinführt. Es läßt sich wohl nicht mit unbedingter Sicherheit sagen, ob Herodot absichtlich den persischen König in seiner Berechnung der zahlen255

mäßigen Überlegenheit der Perser gegenüber den Spartanern die Größe seines Heeres gegenüber der später gegebenen genauen Angabe um das Doppelte überschätzen läßt49 und erwartete, daß sein Leser das bemerken werde. Daß der König da, wo er von der fiktiven Annahme des Demarat, daß es nur tausend Spartaner gebe, zu den faktischen Verhältnissen übergeht, die übrigen Griechen überhaupt nicht rechnet, konnte dem Leser auf keinen Fall entgehen50. Aber auch die Fähigkeit zu der Beobachtung, daß die Verhältnisse bei einem Kampf in geschlossenen Haufen und Schlachtreihen andere sind als beim Kampf eines Individuums gegen eine Mehrzahl anderer Individuen dürfte Herodot wohl bei seinen intelligenteren Lesern unmittelbar voraussetzen, so daß umgekehrt wie in den Ausführungen Solons in raffinierter Weise hier gerade in dem kunstvollen Aufbau der Argumente des Xerxes sich andeutungsweise schon ihre Schwäche verrät. Höchst kunstvoll ist es dann auch, wie die Gegenrede des Demaratos in ihrem Aufbau derjenigen des Xerxes folgt, nur daß das Ganze kürzer und prägnanter ist. Auch Demarat fängt mit den Zahlen an 51 und schlägt dabei den umgekehrten Weg wie Xerxes ein, indem er von den höheren zu den niedereren Zahlen übergeht: „Daß ich imstande wäre, es mit zehn Kriegern auf einmal aufzunehmen, will ich nicht behaupten, nicht einmal mit zweien. J a , aus eigener Initiative würde ich nicht einmal mit einem einzelnen kämpfen. Aber wenn ich schon durchaus gegen einen von deinen Persern antreten müßte, dann würde ich midi am liebsten an einem von denen versuchen, von denen es heißt, daß jeder von ihnen es mit drei Griechen aufnehmen kann." Nach diesen großartig ironischen Worten weist der König auf den Unterschied zwischen den Bedingungen des Einzelkampfes und des Kampfes in geschlossener Formation ausdrücklich hin, indem er sagt52, die Spartaner stünden auch im Einzelkampf hinter niemand zurück, im Kampf im Truppenverband aber seien sie allen andern Menschen überlegen. Dann kommt er in unüberbietbarer Prägnanz auf den eigentlichen Punkt: „Obwohl die Spartaner frei sind, sind sie doch nicht ganz frei. Sie haben einen Herrn, das Gesetz, vor dem sie mehr Respekt haben als deine Untertanen vor dir. Sie tun in jedem Fall, was dieser, ihr Herr, befiehlt, er befiehlt aber immer dasselbe: indem er ihnen nicht gestattet, vor einer noch so großen Übermacht aus der Schlacht zu fliehen, sondern an der Stelle, an die sie gestellt sind, auszuharren und entweder zu siegen oder unterzugehen." In der Gegenüberstellung des „frei und doch nicht ganz frei" des ersten Satzes sind in Wirklichkeit zwei Nuancen des griechischen Frei256

heitsbegriffes, wie er sich zur Zeit des Herodot herausgebildet hatte, einander gegenübergestellt53, die später in der Leichenrede des Perikles bei Thukydides genauer als der athenische und der (freilich nicht ausdrücklich bezeichnete) spartanische Freiheitsbegriff unterschieden werden: die Freiheit, (mit gewissen Einschränkungen) tun zu können, was man mag, und die Freiheit, bei den Regeln und Gesetzen, denen man sich dann zu unterwerfen hat, mitzuwirken: die Freiheit als Autonomie, welche zwar Unterwerfung unter Willkür ausschließt, aber unter Umständen eine strengere Unterwerfung unter und Regelung des ganzen Lebens durch die von der Gemeinschaft selbst gesetzten Regeln und Gesetze in sich schließt, als sie unter einer despotischen Willkürherrschaft jemals bestehen kann. Es ist daher nicht ohne Bedeutung und nicht nur durch die äußere Tatsache, daß Demarat selbst Spartaner ist, bedingt, wenn dieser dem Despotismus des persischen Königs die spartanische, nicht die griechische eXeufteQia entgegenstellt. Die Bewertung dieser eXevÖEQia erscheint als ganz positiv, obwohl, vom Standpunkt des Siegers aus, an den Spartanern nur das Nichtnachgeben, die Entschlossenheit, lieber zu sterben als sich zu unterwerfen, keine Fähigkeit zur Initiative hervorgehoben wird. Aber die Einschränkung selbst des allgemeinen Lobes auf die „in den dorischen Gegenden wohnenden" Griechen und dessen, was über den absoluten Gehorsam dem „Gesetz" gegenüber und den absoluten Widerstandswillen, den dieses befiehlt, gesagt wird, auf die Spartaner, läßt doch die Möglichkeit offen, daß der persische König mit seiner Meinung, daß die Freiheit der Griechen auch eine Schwäche bedeuten könne, möglicherweise nicht völlig unrecht hat, wie auch die umgekehrte Möglichkeit, daß die spartanische Form der etauflegia zum Erfolg in einer Situation wie der vorliegenden einer Ergänzung bedarf. Daß dies kein Zufall, sondern von Herodot beabsichtigt ist, erweist sich darin, daß eben diese Möglichkeiten sich in der weiteren Darstellung des Xerxeskrieges voll entfalten. Fragt man nun nach der Einordnung dieses Dialoges in die Darstellung des großen Perserkrieges und nach seiner Funktion innerhalb des ganzen Werkes des Herodot, so ist, wie schon gezeigt, die raffinierte umgekehrte Parallele zu einem Abschnitt des Solon-Kroisos-Dialoges, in dem zum erstenmal das Motiv des Wesensgegensatzes zwischen Orient und Okzident auftritt, wenn auch nicht zu dem genau entsprechenden Abschnitt dieses Dialoges, offensichtlich, wodurch die engen Beziehungen zwischen dem ersten und dem siebten Buche, die sich schon in der Wiederholung der Grundmotive zeigten, noch deutlicher werden. Doch zeigt sich noch klarer als in der Artabanosgeschichte die Verschiebung vom religiös-meta257

physischen auf das rein menschlich-politische hin. Während in der XerxesArtabanos-Geschichte in den Träumen wenigstens der Form nach noch ein metaphysisch-religiöses Element hereinzuragen scheint, wobei der Inhalt des Traumes jedoch schon im Grunde auf ganz unmetaphysische Zusammenhänge politisch-psychologischer Art hinweist, sind die metaphysisch-religiösen Elemente in dem Dialog zwischen Xerxes und Demaratos ganz abwesend. Es handelt sich ganz einfach um Unterschiede in den politischen und bis zu einem gewissen Grade hier auch psychologischen Strukturen. Auf der andern Seite ist das, was in der zweiten Xerxes-ArtabanosGeschichte, dem Dialog anläßlich der ersten Heerschau bei Abydos, als Ansatz zur Darstellung einer inneren Entwicklung des Xerxes erscheinen konnte 54 , in dem Dialog zwischen Xerxes und Demarat in keiner Weise fortgeführt. Xerxes lacht über das, was ihm der spartanische König über den absoluten Widerstandsgeist der Spartaner sagt55. Irgendeine Beziehung zu der gereiften Einsicht, die Xerxes in dem ganz kurz vorangehenden Gespräch mit Artabanos zu zeigen scheint, ist nicht zu erkennen. Dieser Eindruck, daß Herodot nicht eine Entwicklung des Xerxes zu reiferer Einsicht hat darstellen wollen, wird durch die späteren Abschnitte, in denen Xerxes vorkommt, vor allem die Darstellung seiner Despotenlaunen, seiner Schwäche gegenüber seiner Frau Amestris und seiner aus seinen Schwächen hervorgehenden Grausamkeit nach seiner Rückkehr nach Asien im IX. Buch seines Werkes 56 bestätigt. Daran hat sich gegenüber der Kroisosgeschidite nichts geändert. Das Psychologische, das, wie gezeigt, immer wieder eine Rolle spielt und auf sehr feiner Beobachtung beruhen kann, beschränkt sich auf einzelne Elemente und Situationen. Die Darstellung einer psychologischen Entwicklung eines Individuums liegt offenbar außerhalb des Gesichtskreises Herodots. Bis zu dem Xerxes-Demaratos-Gespräch ist also die im siebten Buch beginnende Darstellung des großen Perserkrieges voll von speziellen Anekdoten und Geschichten, in denen dieselben Grundmotive in etwas abgewandelter Form wiederkehren wie in der Kroisosgeschichte. Wenn dabei, wie gezeigt, die Geschichten selbst, die miteinander im Zusammenhang stehen, sich der rein menschlichen und politischen Realität nähern, das religiös-metaphysische Element in ihnen in den Hintergrund tritt, so bedeutet dies nicht, daß dies letztere Element ganz verschwände. An Omina und Vorbedeutungen fehlt es nicht. Aber sie bilden nicht einen integralen Teil der „sinngebenden" Geschichten, sondern stehen getrennt neben ihnen und sinken damit mehr oder minder zu bloßen Kuriosi•258

täten herab. Noch stärker zeigt sich dieses Auseinanderstreben der beiden Elemente in dem, was auf das Demaratgespräch folgt, und hier entfernt sich nun die Darstellung überhaupt auf lange Strecken sowohl in der Form wie in der Art des Inhaltes von allen anderen Büchern des Werkes Herodots. An sich ist es einfach in der Natur der Sache gelegen, daß auf die Anfänge, in welchen die Ursachen sowie die tieferen Bedingungen und die Bedeutsamkeit des Geschehens in allerhand Geschichten und Dialogen deutlich gemacht werden, eine Darstellung des Geschehens selbst und, da es sich um ein militärisches Unternehmen handelt, eine mehr oder minder nüchterne Darstellung des Fortschreitens dieser Unternehmung folgen muß. So steht auch in der Mitte der Kroisosgeschichte57 eine ganz nüchterne Darstellung der Versuche des Kroisos, Bundesgenossen heranzuziehen, sowie der kriegerischen Ereignisse, die dann zu seiner Katastrophe führen. Auch daß bei dem unvergleichlich viel größeren Umfang des Unternehmens des Xerxes diese Darstellung einen viel größeren Raum in Anspruch nehmen mußte, liegt in der Natur der Sache, was dann freilich wieder nicht leicht ohne Folgen für die Einheit des Ganzen bleiben konnte. Um so interessanter ist es, zu sehen, was unter diesen Bedingungen aus dem Ganzen geworden ist. Der Rest des siebten Buches ist ausgefüllt mit einem Rückblick auf die Vorgeschichte des Krieges auf griechischer Seite, d. h. auf das Verhalten der verschiedenen griechischen Stämme und Staaten gegenüber den persischen Forderungen auf Unterwerfung und dem Versuch der zum Widerstand entschlossenen, eine möglichst große Kriegsmacht zusammenzubringen, sowie den Streitigkeiten um deren Oberbefehl, und mit der Beschreibung des weiteren Verlaufes des Zuges des Xerxes selbst bis zu den ersten Kriegshandlungen bei Thermopylai. Ziemlich zu Anfang des ersten Abschnittes findet sich58 eine Geschichte von persischen und griechischen Herolden, die von allen Einzelerzählungen in den drei letzten Büchern die stärksten Ähnlichkeiten mit den Vorstellungen von Schuld und Schicksal, die für die Kroisosgeschichte charakteristisch sind, aufweist. Athen und Sparta, so erzählt Herodot, waren die einzigen griechischen Staaten, an welche Xerxes keine Boten mit der Aufforderung zur Unterwerfung gesandt hatte, und zwar deshalb, weil bei einer ebensolchen Aufforderung durch Dareios vor der Expedition des Datis und Artaphernes die Athener die Abgesandten in das Barathron, die Spartaner in einen Brunnen geworfen hatten mit den höhnischen Worten, sie sollten sich dort Erde und Wasser holen, um sie dem Großkönig zu überbringen. 25 9

Bei den Athenern, so fährt Herodot fort 59 , hätte das nun, soviel man sehen könne, keine weiteren Folgen gehabt, außer daß ihr Land später von den Persern verwüstet worden sei, was aber kaum mit der Tötung der Boten zusammenhänge. In Sparta dagegen habe die T a t den Zorn des Heros Talthybios als des Schutzpatrons der Herolde erregt, mit der Folge, daß sie auf lange Zeit bei den Opfern immer ungünstige Zeichen erhalten hätten. Schließlich hätten zwei Spartaner, Sperthias und Bulis, sich freiwillig erboten, sich zur Sühne des Verbrechens den Persern auszuliefern. Xerxes habe sie jedoch wieder nach Hause geschickt60, ohne ihnen ein Leid anzutun, einmal, um zu zeigen, wieviel besser die Perser seien als die Griechen, dann aber auch, um die Spartaner nicht durch Annahme der Buße von dem auf ihnen lastenden Fluche des Heros Talthybios zu befreien. Trotzdem hätten nach Heimkehr der beiden die von Talthybios veranlaßten Unzuträglichkeiten sofort aufgehört. Später, meint Herodot 61 , sei der Zorn des Talthybios jedoch wieder zum Ausbruch gekommen; als nämlich zu Beginn des Peloponnesischen Krieges die Peloponnesier eine Gesandtschaft an den Großkönig sandten, der auch ein Sohn des Bulis und ein Sohn des Sperthias angehörten, wurden diese in Thrakien festgenommen und an die Athener ausgeliefert, weldie sie hinrichten ließen. Das, sagt Herodot, sei ein ganz besonders deutliches Zeichen übernatürlicher Einwirkung gewesen62. Es zeige, daß der Zorn des Talthybios eben doch nicht wirklich aufgehört habe, bis er Erfüllung gefunden habe. Daß Herodot dies so stark betont, ist vor allem deshalb sehr interessant, weil, unvoreingenommen betrachtet, die Nötigung, in der Hinrichtung der Söhne des Bulis und Sperthias eine späte Erfüllung der Rache des Talthybios zu sehen, gar nicht sehr groß zu sein scheint, auch wenn man generell an dergleichen Dinge glaubt. Denn daß für die Athener die gleiche Verletzung der Heiligkeit von Herolden wie die durch die Spartaner begangene keine erkennbaren schlechten Folgen gehabt habe63, sagt Herodot selbst. Mit den Söhnen des Bulis und Sperthias ist gleichzeitig auch der korinthische Herold Aristeas von den Athenern hingerichtet worden, obwohl Herodot nichts davon berichtet, daß die Korinther in ähnlicher Weise sich an persischen Gesandten vergangen gehabt hätten; und daß gerade die Söhne des Bulis und des Sperthias von dem erwähnten Geschick betroffen wurden, ist auch nicht so sehr verwunderlich, da es sich offenbar um eine Familie handelt, in welcher das Heroldsamt erblich war. Wenn also Herodot, nicht als Reflexion anderer, sondern als Resultat seiner eigenen Überlegungen ausdrücklich hervorhebt, daß das spätere Schicksal der Söhne des Bulis und Sperthias ein besonders 260

deutliches Zeichen des Eingreifens göttlicher Mächte gewesen sei, so muß er einen sehr intensiven Glauben an solche Zusammenhänge gehabt haben64; dabei hat die Geschichte offensichtlich mit den religiösen oder metaphysischen Zusammenhängen des Xerxeskrieges selbst gar nichts zu tun. "Wohl aber tritt das Motiv des Gegensatzes zwischen orientalischem Despotismus und griechischer EXevftEQia, das den Gegenstand des Dialoges zwischen Xerxes und Demaratos bildete und in der „Sinngebung" des Geschehens eine hervorragende Rolle spielt, auch in der Erzählung von Bulis und Sperthias auf, von denen Herodot berichtet65, sie seien nach ihrer Ankunft in Persien zuerst zu dem Satrapen Hydarnes gebracht worden. Dieser habe sie freundlich aufgenommen und ihnen gesagt, der Perserkönig wisse tapfere Männer wie sie zu schätzen. Sie sollten sich doch bereit erklären, in den Dienst des Großkönigs zu treten. Dann werde ihnen gewiß nicht nur nichts mehr geschehen, sondern sie könnten am persischen Hof zu großen Ehren gelangen. Darauf hätten sie jedocii geantwortet, das möge von dem Standpunkt eines Mannes, der nie die £?.EuttsQia gekostet habe, wohl ein guter und freundlicher Rat sein. "Wenn er aber wüßte, was eXevfte(Ha sei, würde er ihnen den Rat geben, nicht nur mit Speeren, sondern auch mit Beilen dafür zu kämpfen. Als sie dann vor den Großkönig gebracht wurden, hätten sie sich auch zu jeder beliebigen Strafe für das von ihren Landsleuten an den persischen Gesandten verübte Unrecht ausgeliefert, sich aber geweigert, wie von ihnen verlangt wurde, vor ihm die Proskynese zu vollziehen. Durch diese Nebenepisode ist also die Geschichte von den Herolden mit den sinngebenden Geschichten des Anfangs der Geschichte des Perserzuges verknüpft, während die Haupterzählung mit ihrem Motiv der „Heimsuchung an den Kindern" zwar ein Motiv der Kroisosgeschichte wiederaufnimmt, sonst aber weder der Form noch dem Inhalt nach eng in den Zusammenhang der Xerxesgeschichte gehört. Auch das ist für das Problem der Entstehung dieses Teiles des Werkes Herodots nicht ohne Bedeutung. Die griechische EXevftsQia, die bis dahin, allerdings mit Einschränkung auf die Spartaner und die „in den dorischen Gegenden lebenden" Griechen, ganz von ihrer positiven Seite gezeigt worden war, wird nun aber unmittelbar im Anschluß an die Erzählung von den Herolden auch von ihrer negativen Seite enthüllt66. Die Griechen sind in ihrem Widerstand gegen die Perser nicht einig. Einige haben sich schon gleich zu Anfang den Persern unterworfen bzw. ihre Unterwerfung angeboten in der Hoffnung, dann nichts besonders Schlimmes von den Persern erleiden zu müs261

sen. Bei einigen anderen hat die Regierung die Unterwerfung verweigert, aber die Masse des Volkes ist voll Furcht und geneigt, beim ersten Anlaß zu den Persern überzugehen. Die Macht der Spartaner allein aber hätte bei aller Freiheitsliebe und allem Gehorsam dem „Gesetz" gegenüber nicht ausgereicht. Darum sind es, so hebt Herodot an einer berühmten Stelle67 hervor, letzterdings die Athener, denen die Erhaltung der griechischen Freiheit und die Abwehr des persischen Angriffs zu verdanken ist. Wenn sie, sei es gleich zu Anfang, sei es nach der Besetzung ihres Landes und der Stadt durch die Perser, den Kampf aufgegeben hätten, so hätten die Griechen der persischen Flotte nichts entgegenzusetzen gehabt. Dann hätte auch die Mauer über den Isthmus von Korinth, an der die Peloponnesier unter spartanischer Führung den Persern wohl hätten Widerstand leisten können, nichts genützt, da die Küsten der Peloponnes allenthalben der persischen Invasion offengestanden hätten; und dann hätten die Spartaner keine andere Möglichkeit mehr gehabt, als entweder bis auf den letzten Mann heroisch unterzugehen oder — auch diese Möglichkeit wird von Herodot doch in Betracht gezogen - sich schließlich doch den Persern zu unterwerfen. Noch deutlicher und noch wieder von einer anderen Seite zeigen sich die Schattenseiten und Gefahren der griechischen eXEvftEgia kurz darauf in einem weiteren Abschnitt des Rückblicks auf die Vorgeschichte des Krieges auf griechischer Seite: dem Bericht68 über die Streitigkeiten um den Oberbefehl. Zuerst handelt es sich um die Haltung der Argiver, die mit den Spartanern seit langem verfeindet waren und nicht lange zuvor von den Spartanern eine blutige Niederlage erlitten hatten. Als sie von den übrigen zum Widerstand entschlossenen Griechen aufgefordert werden, ihre Streitigkeiten mit den Spartanern beizulegen und sich dem Widerstand gegen die Perser anzuschließen, senden sie zuerst an das Delphische Orakel um Rat. Obwohl dieses im Einklang mit seiner allgegemeinen, in bezug auf die Aussichten der Griechen sehr pessimistischen Haltung ihnen von der Beteiligung am Widerstand abrät, wären sie, wenigstens nach ihrer eigenen Auskunft 69 , dazu bereit gewesen unter der Bedingung, daß die Spartaner den Oberbefehl mit ihnen teilen. Da die Spartaner dies verweigern, lehnen sie jede Beteiligung am Kriege ab. Von noch viel einschneidenderer Bedeutung für die militärische Macht, welche die Griechen den Persern entgegenzustellen hatten, war nach der Darstellung Herodots 70 der Streit um den Oberbefehl mit Gelon von Syrakus. Als die griechischen Gesandten zu Gelon kommen, um ihn zur Teilnahme an der Abwehr der Perser aufzufordern, beklagt er sich zuerst 262

darüber, daß sie ihm auf seine Bitten nicht gegen die Karthager zu Hilfe gekommen seien, nun aber verlangten, daß er sie gegen die Perser unterstützen solle. Trotzdem erklärt er sich bereit, mit einer gewaltigen Heeresmacht zu Lande und zur See an dem Kampfe teilzunehmen, wenn ihm der Oberbefehl über das ganze Griechenheer übertragen werde. Als darauf die Spartaner erklären, Agamemnon würde sich im Grabe umdrehen71, wenn die Spartaner den Oberbefehl an einen Syrakusaner abtreten wollten: wenn er, Gelon, sich am Kriege beteiligen wolle, müsse er sich spartanischem Oberbefehl unterstellen, ist Gelon bereit, auch darin noch nachzugeben, wenn man ihm den Oberbefehl zur See überlasse. Aber nun melden sich die Athener und erklären72, sie seien zwar bereit, den Oberbefehl zu Lande und zur See den Spartanern zu überlassen, wenn diese aber auf den Oberbefehl zur See verzichten sollten, dann käme er ihnen zu; und sich einem andern zu unterstellen, gezieme sich nicht für sie, da sie von allen Griechen die einzigen Autochthonen und niemals aus ihren Wohnsitzen vertrieben worden seien73, worauf ihnen Gelon trocken antwortet, es scheine, daß sie alle Befehlshaber hätten, aber niemanden, der unter dem Befehl zu stehen willens sei. Unter diesen Umständen täten sie gut daran, schleunigst nach Griechenland zurückzukehren und dort den Fehlschlag ihrer Mission mitzuteilen. Da nun, so fährt Herodot fort 74 , Gelon gefürchtet habe, daß die Griechen nicht imstande sein würden, ohne seine Hilfe den persischen Angriff abzuschlagen, es aber auch nicht habe über sich bringen können, sich dem spartanischen Oberbefehl zu unterstellen, habe er einen wegen seiner Ehrlichkeit bekannten Koer, der sich in Sizilien niedergelassen hatte, mit einer großen Summe Geldes nach Delphi geschickt mit dem Auftrag, dort den Ausgang des Krieges abzuwarten und, wenn er, wie zu erwarten, für die Griechen ungünstig sei, das Geld zugleich mit dem Angebot der Anerkennung seiner Souveränität dem Xerxes zu übergeben, andernfalls aber das Geld wieder nadi Sizilien zu Gelon zurückzubringen. Diese Abschnitte sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Sie zeigen in höchst eindringlicher Weise die Schattenseiten der eXsuftepia. Wenn sie innerhalb des spartanischen Gemeinwesens bedeutet, daß jeder bei den gemeinsamen Beschlüssen mitzureden hat, aber dem Willen der Gemeinschaft und den einmal geltenden Gesetzen, wozu natürlich auch der Gehorsam gegenüber den Königen und den jeweils gewählten Magistraten innerhalb der Grenzen von deren Kompetenz gehört, unbedingt zu gehorchen, so führt sie im Verkehr der Gemeinwesen untereinander dazu, daß auch in der größten Not, die aufs dringendste eine 263

gemeinsame Führung verlangt, sich niemand, jedenfalls von den größeren Gemeinden, unterordnen und jeder befehlen will, wie es von Gelon in seinem abschließenden Bescheid in epigrammatischer Schärfe und Kürze zum Ausdruck kommt. Der Form nach wird die zweite Episode, die Verhandlungen mit Gelon, in Form eines Dialogs gegeben, darin äußerlich ähnlich dem XerxesDemarat-Gespräch, in dem die griechische E^EUÜEQLGI von ihrer positiven Seite ins Licht gestellt wird. Aber dieser Dialog ist nicht mehr eine mehr oder minder theoretisdie Auseinandersetzung über die tieferen Hintergründe des Geschehens, sondern er ist, sofern und soweit er historisch ist, ein Teil des historischen Geschehens selbst, obwohl sich in ihm gleichzeitig die in dem Xerxes-Demarat-Gespräch begonnene Darstellung der Problematik der etaudepia fortsetzt. Dem entspricht es in der äußeren Form der Darstellung, daß Gelon zwar in der Auseinandersetzung mit den griechischen Gesandten genau die Stärke des Heeres und der Flotte angibt75, mit welchen er den Griechen des Mutterlandes zu Hilfe zu kommen bereit ist - was ja auch zum vollen Verständnis der Bedeutung des Streites um den Oberbefehl unerläßlich ist-, daß dies Anführen von Zahlen aber nicht, wie in dem Solon-Kroisos-Gespräch und in dem Dialog zwischen Xerxes und Demaratos76 und wie es auch hier leicht möglich gewesen wäre, zu einem Kunstgriff der Retardierung gebraucht wird, die den Punkt, auf den es ankommt, mit besonderem Nachdruck hervortreten läßt, sondern diese Aufzählung ganz nüchtern und beiläufig geschieht. Mit andern "Worten: historische Darstellung und Erhellung der bedeutsamen Hintergründe des historischen Geschehens scheinen hier ganz in eins zusammengeflossen zu sein. Aber noch etwas anderes ist höchst bemerkenswert. Jeweils am Ende des Berichtes über die Verhandlung der verbündeten Griechen mit den Argivern und mit Gelon erwähnt Herodot kurz noch eine andere Version: bei den Argivern 77 die Behauptung, deren Forderung auf Anteil am Oberbefehl sei nur ein Vorwand gewesen, um eine Art Entschuldigung dafür zu haben, daß sie sich am Kampfe mit den Persern nicht beteiligten, wozu sie wegen spezieller Beziehungen zu diesen von Anfang an entschlossen gewesen seien: sie hätten von Anfang an gewußt, daß die Spartaner ablehnen würden 78 ; bei Gelon die Behauptung79, er hätte sich schließlich auch unter spartanischem Oberbefehl am Kampfe gegen die Perser beteiligt, wenn er nicht zu gleicher Zeit von einem gewaltigen Heer unter karthagischer Führung in Sizilien selbst angegriffen worden wäre, das er dann am gleichen Tage besiegt haben soll80, an welchem die Grie264

dien des Mutterlandes ihren großen Seesieg bei Salamis erfochten. Das Eigentümliche hieran ist nun, daß Herodot zunächst die Geschichte von dem Streit um den Oberbefehl jeweils ohne jede Andeutung davon, daß es auch anders gewesen sein könne, als das, was sich wirklich zugetragen hat, erzählt, dann aber jeweils für die Richtigkeit der zweiten damit im "Widerspruch stehenden Version noch besondere zusätzliche Bestätigungen beibringt 81 . Darin liegt eine gewisse Diskrepanz, die um so auffälliger ist, als, wenn man die zweite Version annimmt, der Streit um den Oberbefehl ganz bedeutungslos wird und damit auch das Licht, das er auf die negativen Aspekte der griechischen eXev&gQia wirft, verschwindet. Denn davon, daß etwa Herodot durch Erwähnung der zweiten Version die Schlüsse, die man aus der ersten ziehen könnte, hätte zurückweisen wollen, kann nach dem Zusammenhang und der ganzen Art der Darstellung nicht die Rede sein. Ganz am Schluß des siebten Buches82 nach der Erzählung des Kampfes an den Thermopylen wird jedoch das Thema der beiden Seiten der griechischen E^eu^egia noch einmal aufgenommen, diesmal aber so, daß beide Seiten gleichzeitig gezeigt werden. Nachdem es den Persern nach vielen vergeblichen Versuchen, die griechische Stellung durch einen Frontalangriff zu nehmen, durch den Verrat des Ephialtes gelungen ist, die Griechen zu umgehen und das kleine spartanische Detachement zu vernichten, läßt Xerxes den spartanischen König Demaratos zu sich kommen. Er bestätigt ihm, daß das, was er über die Entschlossenheit der Spartaner, bis zum letzten Mann zu kämpfen, gesagt habe, richtig gewesen sei, fragt darauf, wieviele solche Männer es gebe, und auf die Auskunft, es gebe etwa achttausend Spartiaten, die alle den Thermopylenkämpfern gleich seien, und die übrigen Lakedämonier seien diesen zwar nicht gleichzustellen, aber auch sehr tapfere Männer, fragt er weiter, ob er ihm einen Weg zeigen könne, ihnen beizukommen. Darauf gibt ihm Demarat den folgenden Rat 83 : der Peloponnes vorgelagert sei die Insel Kythera, von der schon der weise Chilon gesagt habe, es wäre besser für die Spartaner, wenn sie im Meere untergegangen wäre. Die solle er besetzen und von da aus in die südliche Peloponnes einfallen. Wenn sie dann die Bedrohung unmittelbar vor ihrer Haustür hätten, würden sie den übrigen Griechen nicht mehr ausreichend beistehen, um deren Unterwerfung durch die Perser zu verhindern. Sei aber einmal das übrige Griechenland unterworfen und die Lakedämonier ganz auf sich selbst angewiesen, dann sei ihre Zahl (trotz ihrer Tapferkeit) zu schwach. "Werde der König nicht so verfahren, dann werde er am Isthmos von Korinth einen viel unüberwind265

licheren "Widerstand antreffen als an den Thermopylen. Verfahre er aber nach dem gegebenen Rat, so würden ihm der Isthmos und die übrigen Städte ohne Mühe zufallen. Gegen den Rat des Demarat spricht jedoch der Bruder des Xerxes, Achaimenes, und so wird dieser nicht verfolgt. So ist das Ganze für den aktuellen Verlauf der Dinge ganz ohne Bedeutung. Dadurch wird der spezielle Zweck innerhalb der Darstellung der Ereignisse, nämlich die positive und negative Seite84 der eXEufteQia in bezug auf den möglichen Ablauf der Dinge aufzuweisen, jedoch nur um so deutlicher, und es kann um so weniger zweifelhaft sein, daß auch die ausführliche Schilderung des Streites um den Oberbefehl mit Gelon, obwohl dieser, wenn er stattgefunden hat 85 , auch für den wirklichen Verlauf der Dinge von großer Bedeutung war, doch auch dem allgemeineren Zweck, die negativen Seiten der EXeuftEQia an sich hervortreten zu lassen, dienen sollte. In den beiden letzten Büchern des Werkes spielt naturgemäß die Freiheit der Griechen auch weiterhin eine hervorstechende Rolle, aber bemerkenswerterweise wiederum auf eine verschiedene Art. In dem nun anhebenden Entscheidungskampf zwischen Persern und Griechen mußten unvermeidlich auch die Licht- und Schattenseiten der griechischen ¿XEDÖEQia sich bemerkbar machen. Dies ist denn auch oft genug der Fall. Die negative Seite zeigt sich weiter in der Uneinigkeit der Griechen, die auch durch die gemeinsame Gefahr nicht überwunden wird — so daß in einem besonders krassen Fall Herodot sogar die Bemerkung machen kann 86 , die Phoker hätten sich wohl aus keinem andern Grund so energisch auf die Seite der zum Widerstand entschlossenen Griechen gestellt als wegen ihres Hasses auf die Thessaler, und wenn die Thessaler sich nicht den Persern unterworfen, sondern Widerstand geleistet hätten, dann wären die Phoker wohl unvermeidlich auf der persischen Seite gewesen und in der Neigung eines jeden Stammes und Staates auch unter den verbündeten Griechen, zuerst an ihre Heimat zu denken und, sobald diese unmittelbar bedroht erscheint, nur noch auf deren Schutz zu sinnen87, wie es Demarat in dem zuletzt erörterten Gespräch mit Xerxes vorhersagt 88 . Die positive Seite zeigt sich in der Tapferkeit der Griechen, wo es endlich zum Kampf kommt, und im Gegenbild der „Bundesgenossen" der Perser, d. h. der von ihnen unterjochten Völker, von denen die Ioner mit wenigen Ausnahmen zwar vor der endgültigen Niederlage der Perser nicht geradezu von ihnen abfallen, aber doch vielfach absichtlich nur lässig kämpfen 89 , die übrigen aber, wenn sie nicht unmittelbar unter den Augen des gefürditeten Despoten kämpfen 90 oder beim ersten Zeichen, daß etwas nicht gut 2 66

geht, die Flucht ergreifen 91 . Aber das alles wird nun in diesen letzten Büchern nur noch so weit zur Darstellung gebracht, als es ein integraler Teil des aktuellen Ablaufs der Dinge ist, und nicht mehr speziell hervorgehoben 92 . Dagegen tritt im achten und in einem großen Teil des neunten Buches die Frage in den Vordergrund, welche von den Griechen sich um die griechische E/.ED'&EQia am meisten verdient gemacht haben, und zwar in gewisser Weise durch die Art, wie sie sich als EXEMEQOI verhalten: offenbar zugleich ein weiterer Schritt vom Allgemeineren zum Speziellen, vom xafröXov zum xat'exaffTov. Gleich zu Anfang des achten Buches berichtet Herodot 93 , bei den ersten Besprechungen eines gemeinsamen Verteidigungsplanes sei davon die Rede gewesen, daß die Athener als die bei weitem größte Seemacht unter den Griechen den Oberbefehl zur See übernehmen sollten, als aber die Mehrzahl der (peloponnesischen)94 Verbündeten dagegen gewesen sei, den Oberbefehl auch zur See bereitwilligst den Spartanern abgetreten hätten, da sie eingesehen hätten, daß Griechenland verloren sei, wenn sie anfingen, über den Oberbefehl zu streiten. Diese Stelle ist auch deshalb interessant, weil sie zwar nicht hinsichtlich der Fakten mit dem Verhalten der Athener bei den früher geschilderten Verhandlungen mit Gelon 95 im Widerspruch steht, da sie nach Herodots Erzählung dort erklärten, den Spartanern wollten sie den Oberbefehl zur See zwar wohl überlassen, nicht aber Gelon, wohl aber den Prinzipien nach, da auch dies ein Streiten um den Oberbefehl ist und in gewisser Weise ein nicht weniger nachteiliges, da Gelon eine ganz andere Seemacht ins Feld zu stellen hatte als Sparta und wohl auch mehr Erfahrung im Seekrieg hatte als die Spartaner. Diese, wenn auch verhältnismäßig leichte Diskrepanz ist für die Analyse der Entstehung und Struktur der letzten drei Bücher Herodots vielleicht doch nicht ganz ohne Bedeutung96. D a ß dann bei der Schlacht bei Salamis der Athener Themistokles es ist, der, wie allgemein bekannt, das Auseinanderlaufen der griechischen Flotte verhindert und damit das gesamte Griechenland rettet, wie auch, daß die Athener an diesem entscheidenden Seesieg einen hervorragenden Anteil haben, gehört nicht in diesen Zusammenhang, da die Athener hier zugleich vor allem auch für ihre Heimat und ihre Angehörigen, die sie auf die Inseln gebracht haben, kämpfen. Wohl aber gehört hierher ihr Verhalten nach der Schlacht und nach dem Abzug des Xerxes, als Mardonios, der Attika noch besetzt hält und zunächst nicht von dort vertrieben werden kann, ihnen das Angebot eines Separatfriedens macht97 unter der Bedingung nicht nur der Wiederherstellung der zerstörten Gebäude, son267

dem auch der vollen Autonomie98. Hier haben die Athener Gelegenheit, in großem Stil zu zeigen, daß sie das gemeinsame Interesse, das freilich auch ihr richtig verstandenes und, auf lange Sicht gesehen, eigenes Interesse ist, im Gegensatz zu fast allen übrigen Griechen über ihr kurzfristiges und kurzsichtig gesehenes Partikularinteresse zu stellen verstehen. Dieser Gegensatz wird dann noch im einzelnen herausgearbeitet durch die Schilderung", wie die Peloponnesier nahe daran sind, die Athener trotzdem ihrerseits im Stich zu lassen und, nachdem die Athener das persische Angebot abgelehnt und Andersdenkende in grausamer und ungerechter Weise behandelt haben100, aus Verzweiflung doch noch den Persern in die Arme zu treiben, und sich erst im letzten Augenblick eines besseren besinnen und sich entschließen, den Persern nördlich des Isthmos entgegenzutreten. Am wichtigsten jedoch für die Erkenntnis der Absichten Herodots ist die Behandlung derselben Dinge im Zusammenhang der Darstellung der Schlacht bei Plataeae. Auch hier gibt es zu Anfang eine Kontroverse 101 , diesmal nicht über den Oberbefehl, wohl aber über die Aufstellung. Die Ehrenstellung auf dem rechten Flügel wird allgemein den Spartanern als der unzweifelhaft stärksten Landmacht zugestanden. Aber um die zweitehrenvollste Stellung auf dem linken Flügel streiten sich die Tegeaten und die Athener. Beide führen, wie es ja auch später noch vorkam, zunächst Gründe aus der Sagengeschichte für sich an: Die Tegeaten, daß sie dem ersten Versuch der Herakliden, in die Peloponnes zurückzukehren und ihre alten Rechte wieder in Anspruch zu nehmen, mit Erfolg Widerstand geleistet haben und seither schon immer das Recht gehabt haben, bei gemeinsamen Ausrücken der peloponnesischen Bundesgenossen den linken Flügel einzunehmen, die Athener gerade umgekehrt, daß sie sich allein der zu unrecht vertriebenen und von Eurystheus verfolgten Herakliden, von denen ja die spartanischen Könige abzustammen glaubten, angenommen hatten102. Dazu führen die Athener noch weitere Groß- und Guttaten ihrer Vorfahren aus der Sage an, dann aber etwas ganz Anderes und Neues: ihren Sieg über die Perser bei Marathon. Nachdem sie jedoch diesen Trumpf ausgespielt haben, kommt erst das, weswegen die Geschichte offenbar so ausführlich erzählt ist: nachdem sie ihrer Meinung nach über allen Zweifel bewiesen haben, daß sie der Ehre, auf dem linken Flügel zu kämpfen, würdig sind, erklären sie 103 : „Trotzdem wollen wir in einer Situation wie der gegenwärtigen nicht über den Platz in der Aufstellung des Heeres streiten, sondern sind bereit, die Entscheidung den Lakedämoniern zu überlassen." Darauf erklärt das ganze Heer mit Begeisterung, die Athener seien der Ehrenstellung würdiger als die Tegeaten. 268

Daß hier wiederum die Bereitwilligkeit der Athener, um des allgemeinen "Wohles willen zurückzustehen, herausgestellt werden soll, ist offenbar. Aber ganz werden die Absichten Herodots erst im weiteren Zusammenhang deutlich. In gewisser Weise kann man sagen, daß die erwähnte Geschichte in die Darstellung des äußeren Verlaufes der Ereignisse hineingehört, da durch sie erklärt wird, wieso es kam, daß die Athener auf dem linken Flügel standen, die Tegeaten dagegen sich unmittelbar links an die auf dem rechten Flügel stehenden Spartaner anschlössen, was für den Verlauf der Schlacht von Bedeutung war. Freilich hätte sie dazu nicht so ausführlich erzählt zu werden braudien. Im weiteren104 ergibt sich jedoch, daß die Tegeaten in der wirklichen Schlacht an der wichtigsten Stelle stehen und mit und nächst den Spartanern den entsdieidensten Anteil am Siege haben, während die Athener, welche durch die taktischen Bewegungen in der Nacht vor der Schlacht von den Spartanern und Tegeaten getrennt worden sind, ihnen zwar auf alle Weise zu Hilfe zu kommen suchten, aber durch die auf persischer Seite stehenden Griechen daran gehindert werden, so daß die Spartaner zunächst in Bedrängnis geraten105 und erst, als die Perser durch den Tod des Mardonios in Verwirrung geraten sind, den Sieg davontragen. So ist sehr deutlich, daß durch die ausführliche Erzählung, wie die Athener an die Stelle gekommen sind, an welcher sie dann bei Plataeae gefochten haben, ein Ausgleich dafür geschaffen wird, daß die eigentlich entscheidende Phase der Schlacht von den Spartanern und Tegeaten gewonnen wurde. Zwischen die Auseinandersetzung der Athener und Tegeaten über die Aufstellung am linken Flügel und die eigentliche Schlacht schiebt sich jedoch bei Herodot noch ein taktisches Intermezzo 106 , welches kompositorisch um so interessanter ist, als es für den aktuellen Verlauf der Schlacht gar keine Bedeutung hat. Als die beiden Heere einander in Stellungen gegenüberstehen, welche beide dem Verteidiger mehr Vorteile bieten als dem Angreifer und daher beide auf den Angriff des Gegners warten, fordert Pausanias, der den Persern gegenübersteht, die Athener, denen die auf persischer Seite kämpfenden Griechen gegenüberstehen, auf, die Stellung mit ihm zu tauschen, da die Athener die Perser von Marathon her kennten und daher vielleicht besser verstünden, mit ihnen fertig zu werden, während sie, die Spartaner, aus langer Erfahrung wüßten, mit den andern Griechen fertig zu werden. Die Athener sind sofort bereit, auf diese Anregung einzugehen; ja sie sagen107, das hätten sie sich selbst gedacht und gewünscht und es nur nicht vorzuschlagen gewagt, weil sie gefürchtet hätten, damit das Mißfallen der Spartaner zu erregen. Nachdem aber der 269

Stellungswechsel durchgeführt ist, stellt auch Mardonios sein Heer um, so daß die Perser wieder den Spartanern gegenüberstehen. Darauf kehren die Spartaner wieder in ihre Ausgangsstellung auf dem rechten Flügel zurück, und nachdem auch Mardonios den entsprechenden zweiten Wechsel vorgenommen hat, ist alles wie am Anfang, so daß das Ganze für die spätere Schlacht selbst nicht die mindesten Folgen hat. N u n ist dies wieder ein neues Beispiel für die Bereitwilligkeit der Athener, sich um des allgemeinen Interesses willen in alles zu fügen: sie machen nicht einmal eine Anregung, die sie für günstig halten, um ja nicht bei den Verbündeten Anstoß zu erregen und so möglicherweise Anlaß zu Unstimmigkeiten zu geben. Wäre es aber das allein, was Herodot damit zeigen will, so wäre es ja wohl überflüssig, da diese Haltung der Athener eigentlich schon genügend illustriert worden ist. Die Geschichte hat aber im Zusammenhang des Ganzen noch eine andere Funktion. Die modernen Kommentatoren haben sich schon immer gewundert 108 , warum die Spartaner hier als so feige dargestellt werden, daß sie nicht gegen die Perser kämpfen wollten, und die Frage gestellt, wie Herodot dazu gekommen sein könnte, so etwas zu erzählen oder welchen Zweck er damit verfolgt haben könnte. Aber die Spartaner sind, wie sich später zeigt, gar nicht feige. Wohl aber wird der doppelte Stellungswechsel dem Mardonios zum Anlaß, den Spartanern durch einen Herold Feigheit vorzuwerfen 109 und sie zu einem Kampf einer gleichen Anzahl von Persern mit einer gleichen Anzahl von Spartanern herauszufordern 110 , worauf die Spartaner jedoch nicht eingehen. Als dann, nachdem die Heere sich mehrere Tage gegenübergestanden haben, die Griechen wegen Verpflegungsschwierigkeiten in der Nacht ihre Stellungen verlassen, um andere zu beziehen, glaubt Mardonios, sie wollten davonlaufen, und gibt das Signal zur Verfolgung, was dann zur Schlacht führt, in der er fällt und die Perser vollständig geschlagen werden. Vorher drückt er jedoch den thessalischen Aleuaden gegenüber, die sich in seinem Lager befinden, seine Verachtung der Spartaner aus 111 . Ihr Ruhm sei durch gar nichts gerechtfertigt und höchstens daraus zu erklären, daß die übrigen Griechen, mit denen allein sie sich bisher gemessen hätten, noch weniger taugten. Obwohl von Demarat hier nicht die Rede ist, ist der Kontrast zwischen der Vorstellung, welche Mardonios hier von den Spartanern bekommt, und der Behauptung des Demarat, daß die Spartaner, wenn es um ihre Freiheit geht, auch der größten Übermacht nicht weichen, sondern bis zum letzten Mann kämpfen werden, deutlich genug. Unmittelbar darauf in der Schlacht wird dann auch die Behauptung Demarats auf das 270

glänzendste gerechtfertigt 112 : die Spartaner halten der Ubermacht gegenüber unerschütterlich aus, bis die durch den Tod des Mardonios hervorgerufene Verwirrung der Perser ihnen die Möglichkeit gibt, diese in die Flucht zu jagen. Zwischen den Beginn und das Ende dieser Tragödie ist jedoch noch ein kleines Satyrspiel eingeschoben113. Als Pausanias den Befehl gegeben hat, in der Nacht die bisherige Stellung aufzugeben und eine neue zu beziehen, weigert sich einer der spartanischen Unterführer mit dem schönen und sprechenden Namen Amompharetos, „der Ritter ohne Furcht und Tadel", diesem Befehl Folge zu leisten, nimmt einen großen Stein, setzt ihn vor sich auf die Erde und sagt von hier werde er nicht weichen, was immer audi komme: einen Rückzug im Angesicht des Feindes in zurückliegende Stellungen gebe es nicht. Erst als die andern abziehen und ihn mit seiner Truppe allein lassen, bequemt er sich schließlich, den andern nachzukommen, verursacht aber damit eine Verzögerung der Neuaufstellung und indirekt damit auch, daß die Athener den Spartanern nachher nicht rechtzeitig zu Hilfe kommen können. Daß dieses kleine Intermezzo nicht etwa als Grund der späteren Verzögerung mit dürren Worten erwähnt, sondern mit voller Anschaulichkeit geschildert wird, wirft ein bedeutsames Licht auf Zweck und Zusammenhang des Ganzen. Gewiß war es nicht die Absicht Herodots, wie man gemeint hat 114 , die kriegerische Tüchtigkeit der Spartaner in Frage zu stellen. Er bestätigt ihnen im Gegenteil kurz darauf 1 1 5 ausdrücklich, daß sie alle anderen Griechen einschließlich der Athener und Tegeaten darin bei weitem übertroffen haben. Von dieser Seite her hat die Geschichte nur den Zweck, durch Aufweisung des Irrtums des Mardonios die traditionelle Vorstellung vom Spartanertum nachdrüdklidi zu bekräftigen. Zugleich wird jedoch durch die mannigfaltige Verflechtung der Athener mit den Stellungswechseln und deren Folgen der Unterschied zwischen athenischer und spartanischer EAeuftsgia auf das deutlichste charakterisiert. Auf beiden Seiten steht der gleiche Wille, sich unter keinen Umständen einem despotischen und arbiträren Regime zu unterwerfen. Aber bei den Spartanern findet dieser Wille seine konkrete Verwirklichung in dem absoluten Gehorsam gegenüber dem Gesetz oder besser dem Brauch sowie in der Entschlossenheit, nicht nachzugeben und nicht zu weichen - ins Groteske gesteigert in dem jugendlichen116 „Ritter ohne Furcht und Tadel" mit seinem Wackerstein - und sich im Notfall bis auf den letzten Mann totschlagen zu lassen, wozu es, wie Herodot an anderer Stelle geradezu ausspricht 117 , mit größter Wahrscheinlichkeit tatsächlich gekommen wäre, wenn die Athener nicht gewesen wären. Auf der athenischen Seite findet 271

er seine Verwirklichung im Gegensatz zu der spartanischen Starrheit gerade in der Flexibilität, mit welcher die Athener bereit sind, etwas aufzugeben, von der Aufgabe des Anspruchs auf den Oberbefehl zur See oder eine ehrenvolle Stellung in der Schlacht bis zur Aufgabe von Stadt und Heimat, um auf den Schiffen weiterzukämpfen, ferner in der Fähigkeit, weit vorauszusehen und zu planen und dann doch auch wieder, wenn der richtige Augenblick gekommen ist und Aussicht auf Erfolg und nicht nur auf ruhmvollen Untergang besteht, selbst eine Zwangslage zu schaffen, wo jeder gezwungen ist, an seiner Stelle zu bleiben und zu kämpfen, und es keinen Ausweg als den Sieg mehr gibt. So wird das, was in dem XerxesDemarat-Gespräch trotz der Prägnanz der Darstellung der positiven Seite der spartanischen EXsuüeoia doch auch von deren Einseitigkeit und Schwächen angedeutet ist, in diesem Abschnitt des Werkes Herodots nun in der Gegenüberstellung mit der andersgearteten eXEuOsgia der Athener durchfiguriert, wieder mit einem Schritt, der von einem jiäXXov xcr&öAov zu einem [iäXXov xafr'exaaTov führt. Steht also von der Mitte des siebten Buches bis zum zweiten Drittel des neunten unter den sinngebenden Motiven die gegenüber der KroisosGeschichte neue Form des Motives des Gegensatzes zwischen Griechen und Orientalen, das Motiv des Gegensatzes zwischen griechischer EXeirfteeia und orientalischer bov'ktio. mit seinen speziellen Abwandlungen, im Mittelpunkt, so taucht doch auch vom achten Buch an das Motiv in seiner ersten Form des Gegensatzes zwischen griechischer Einfachheit und orientalischem Glanz und Luxus in einer Reihe von anekdotischen Intermezzi wieder auf: Das erste ist eine kurze Anekdote, die von Herodot 118 in die Zeit unmittelbar nach der Schlacht bei den Thermopylen und den ersten Seegefechten bei Euboea angesetzt wird. Als einige arkadische Uberläufer vor Xerxes gebracht werden, fragt dieser sie, was die Griechen in der Peloponnes machten. Auf ihre Auskunft, sie feierten die Olympischen Spiele und der Siegespreis sei ein Olivenkranz, kann sich der mit anderen persischen Großen anwesende Tritantaichmes, der Sohn des Artabanos, nicht enthalten, dem ebenfalls anwesenden Mardonios zuzurufen: „ O weh, Mardonios, gegen was für Leute führst du uns in den Kampf, die nicht um Geld wetteifern, sondern um den Preis der Tüchtigkeit." D a damit Mardonios als der eigentliche Veranlasser des Feldzuges bezeichnet wird, so kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Anekdote auf den allerersten Anfang des siebten Buches mit den dort berichteten Kontroversen zwischen Mardonios und Artabanos zurückweist 119 . Es ist daher auch sicher kein Zufall, daß der Sprecher ein Sohn des Artabanos ist, da Artabanos, von zjz

dem vorher erzählt worden ist120, daß Xerxes ihn nach der Diskussion bei Abydos nach Persien zurückgeschickt hat, nicht selbst als Sprecher auftreten kann. Hier ist es also ganz offensichtlich, daß es sich nicht um eine völlig selbständige Einzelanekdote handelt, sondern nun auch das aus der Kroisosgeschichte bekannte Motiv des Gegensatzes zwischen griechischer Einfachheit und orientalischem Luxus, das bisher in diesen Büchern hinter dem Motiv des Gegensatzes zwischen griechischer eXetr&egia und orientalischer öouXsia zurückgetreten war, in jene Kombination von Motiven, welche den Hintergrund des Geschehens bilden, verflochten werden soll: und zwar so, daß auch die andere Seite des Motivs des Gegensatzes zwischen Griechen und Orientalen mitanklingt, da im Preis des Ölbaumkranzes ja nicht nur die Schlichtheit des Preises, sondern auch seine Eigenschaft als Symbol jener CIQETTI, die mit der E ? . £ U I > £ Q I A aufs engste verknüpft ist, hervorgehoben wird. Vielleicht - aber hier ist es schwer zu sagen, ob eine bewußte Absicht vorliegt - hat auch Herodot die Dinge dadurch noch enger ineinander zu verweben gesucht, daß er das Motiv des Gegensatzes zwischen Griechen und Orientalen, das bisher in diesen Büchern immer in Verbindung mit dem spartanischen König Demaratos aufgetreten war, nun mit dem Sohn des Artabanos verbindet, dessen Vater bis dahin überall mit dem Motiv der Unsicherheit aller menschlichen Dinge und der besonderen Gefährdung des Großen und Überragenden verbunden gewesen war. Auffallend ist jedenfalls, daß nicht allzulange darauf 121 Demarat, der bis dahin immer in nüchternen Erörterungen über eltvQeQia und ÖQE-rri aufgetreten war, mit Vorahnungen der Zukunft in Verbindung gebracht wird, wie sie bis dahin für Artabanos charakteristisch gewesen waren. Auch diese Anekdote gehört in das Intervall zwischen der Schlacht bei den Thermopylen und der Schlacht bei Salamis. Von der Schlacht bei Salamis bis zu der Schlacht bei Plataeae steht dann, wie gezeigt worden ist, die griechische eXeuikQia im Vordergrund mit der Richtung auf den Unterschied zwischen der spartanischen und der athenischen E/.eufteQia. Aber unmittelbar auf die Schilderung der Schlacht bei Plataeae folgen zwei Anekdoten, von denen die eine wiederum den Gegensatz zwischen griechischer Einfachheit und orientalischem Luxus zum Gegenstand hat, während die andere die griechische und vor allem spartanische agetr) von einer neuen Seite her beleuchtet122. Als der Leichnam des Mardonios gefunden worden ist, kommt ein Äginete zu Pausanias und rät ihm, den Leichnam ans Kreuz schlagen zu lassen, um sich dafür zu rächen, daß Mardonios dem toten Leonidas den Kopf hat abschlagen und diesen auf einen Pfahl stecken lassen. Er wird aber von Pausanias mit der 273

Bemerkung zurückgewiesen, daß eine solche Schändung von und Rache an Toten eben das sei, was Barbaren von Griechen unterscheide. Kurz darauf 123 wird erzählt, wie derselbe Pausanias, nachdem er die Kostbarkeiten, die er im eroberten persischen Lager gefunden hatte, in Augenschein genommen hatte, von den gefangenen orientalischen Köchen und Zuckerbäckern ein Mahl herrichten ließ, wie es Mardonios einzunehmen pflegte, zu gleicher Zeit aber auch von seinen eigenen Leuten ein spartanisches Mahl. Dann habe er die griechischen Offiziere zusammenkommen lassen und sie auf die Torheit des Persers aufmerksam gemacht, daß er aus einem Land, in dem er solche Mahlzeiten haben konnte, nach Griechenland gekommen sei, um ihnen das Geringe, das sie hatten, wegzunehmen. Die Geschichte ist jedoch zweischneidig, wenn auch Herodot an dieser Stelle nicht ausdrücklich darauf aufmerksam macht. Denn sie zeigt doch auch, daß Pausanias die persische Mahlzeit als solche nicht geradezu verachtet. Audi kann Herodot, wenn er dies in seinem Geschichtswerk auch nicht mehr berichtet, kaum unbekannt gewesen sein, was von Thukydides124 und anderen der Nachwelt überliefert worden ist: daß Pausanias selbst später sich mit orientalischem Luxus umgeben und despotische Allüren angenommmen hat, was dann zu seinem Sturze führte. Das macht es umso interessanter, daß Herodot am Ende seines ganzen Werkes denselben Gegensatz, den er bis dahin in so mannigfachen Variationen als den Gegensatz zwischen griechischer Einfachheit und orientalischem Luxus vorgeführt hatte, noch einmal in rein orientalischem Gewände seinen Lesern vor Augen rückt. Denn da wird folgende Geschichte erzählt 125 : Als Kyros die Herrschaft der Meder gestürzt und ihr Erbe als Beherrscher des größten Teiles von Asien angetreten gehabt habe, da seien die Perser zu ihm gekommen und hätten zu ihm gesagt, sie wollten doch nun, da sie die Gewalt über so viele und reiche Länder erobert hätten, nicht mehr in den rauhen und kargen Landstrichen leben bleiben, in denen sie bisher gelebt hätten, sondern in einen fruchtbareren und angenehmeren Teil des von ihnen eroberten Landes ziehen. Da habe Kyros geantwortet: Das sollten sie nur tun, aber sich darüber klar sein, daß es dann mit ihrer Herrschaft nicht lange dauern werde; denn in weichlichem Klima wüchsen weichliche Menschen und es liege nicht in der Natur der Dinge, daß dasselbe Land reiche Früchte und harte zum Kriege tüchtige Männer hervorbringe. Als sie dies hörten, hätten die Perser eingesehen, daß Kyros recht habe, und beschlossen, in ihren bisherigen Wohnsitzen zu verbleiben. An der Stelle, an der sie steht, ist diese Anekdote nur ganz lose mit dem, was ihr unmittelbar vorangeht, verknüpft: eher wie etwas, das einem 274

bei einer Unterhaltung, bei der man sich Geschichten erzählt, auf Grund einer bloßen Assoziation einfällt, als wie eine Anekdote, die in einem Geschichtswerk zur Illustration des Geschehens eingefügt wird. Denn unmittelbar vorher 126 ist die Geschichte von den Untaten des persischen Gouverneurs Artayktes, von seinem Frevel gegen den Heros Protesilaos und seiner Kreuzigung durch die Griechen erzählt worden. Dann fährt Herodot fort 127 : „Es war aber ein Vorfahr dieses gekreuzigten Artayktes mit Namen Artembares, der den Persern die Rede suggerierte, die sie dann aufnahmen und mit der sie an Kyros herantraten," worauf dann das Übrige folgt. Man hat sich darüber gestritten, ob die Geschichte so ganz zufällig hier am Ende des Werkes stünde - zur Zeit des Herodot habe man zwar die Regel gekannt, daß ein Werk eine Einleitung, ein Proömium haben müsse, nicht aber die, daß es auch einen entsprechenden Abschluß haben solle: ein Werk höre eben einfach beliebig auf, wo der Autor nichts mehr weiter zu sagen habe128 — oder ob sie mit einer bestimmten Absicht hier an das Ende gestellt worden sei. Auf Grund dessen, was bis hierher aufgewiesen worden ist, kann wohl kaum ein Zweifel daran bestehen, daß es sich zum mindesten nicht um eine ganz vereinzelte Anekdote handelt, die sozusagen an den Haaren herbeigezogen wird, sondern daß sie unmittelbar in Beziehung steht zu der Anekdote von den Gastmählern des Pausanias, zu der sie ja gewissermaßen das genaue Gegenstück darstellt, und über diese Anekdote zu dem Motiv des Gegensatzes zwischen griechischer Einfachheit und orientalischem Luxus, das sich durch die ganze Kroisosgeschichte und einen großen Teil der Geschichte des Xerxeszuges zieht. Dem steht auch keineswegs entgegen, daß die Perser, die hier ihre Einfachheit bewahren, selbst Orientalen sind, da in der ganzen Erzählung von dem Xerxeszug zwar nicht Xerxes und Mardonios, wohl aber die persischen Soldaten überall als die einzigen erscheinen, die als Krieger den Griechen nicht viel nachstehen und selbst den Spartanern stark zu schaffen machen, bis sie durch den Tod ihres Generals Mardonios in Verwirrung geraten. Aber es stellt allerdings ein Problem dar in bezug auf Entstehung und Komposition der drei letzten Bücher des Werkes Herodots, daß diese Verbindung der letzten Anekdote mit dem, was vorhergeht, so wenig unmittelbar sichtbar ist, daß der Eindruck entstehen kann, daß sie wirklich ganz zufällig an der Stelle stünde, an der sie steht. Blickt man von dieser Durchmusterung der in der Geschichte des Xerxeszuges enthaltenen Anekdoten auf das Ganze zurück, so kommt man zu einem sehr eigentümlichen Resultat. Es kann gar kein Zweifel sein, daß teilweise dieselben, teilweise ähnliche Motive wie diejenigen, welche den 275

Hintergrund der Lyder- und Kroisos-Geschichte bilden, die ganzen Bücher sieben bis neun von Anfang bis Ende durchziehen. Aber der Unterschied ist sehr groß. In der Kroisosgeschichte ist die Durchdringung des Ganzen mit diesen Motiven gar nicht zu übersehen und auch nie übersehen worden. Z w a r finden sich hier in der Mitte Strecken einfacher Erzählung von diplomatischen und militärischen Ereignissen129, wie es ja auch, wenn keine Lücken in der Darstellung des geschichtlichen Ablaufes eintreten sollten, ganz unvermeidlich war. Aber die gleich zu Anfang in dem Dialog zwischen Solon und Kroisos angeschlagenen Motive, welche die tiefere Bedeutsamkeit des historischen Geschehens erhellen sollen, werden alle am Ende wieder aufgenommen und in grandioser "Weise aufs neue miteinander verflochten. Auch sind die drei Grundmotive der Unsicherheit aller irdischen Dinge, des Neides der Götter und der dadurch bedingten besonderen Gefährdung alles dessen, was über das mittlere Maß hinausragt, sowie endlich des Gegensatzes zwischen griechischer Einfachheit und Selbstbescheidung und orientalischem Glanz und Pomp durchweg aufeinander bezogen. Innerhalb dieser Verflechtung aber spielt das religiöse Element, das gelegentlich eine naive Form annimmt, die durdiaus dominierende Rolle. Alles das ist in der Geschichte des Xerxeszuges ganz anders. Z w a r der Anfang steht dem Anfang der Kroisos-Geschichte ganz nahe. Audi hier eine lang ausgesponnene Erzählung von einer Auseinandersetzung: hier zwischen Xerxes und Artabanos wie dort zwischen Kroisos und Solon. Auch hier steht zu Anfang das Motiv von der Unsicherheit aller menschlichen Dinge und von der besonderen Gefährdung dessen, was über den Durchschnitt hinausragt, im Vordergrund. Auch hier sind diese beiden Motive mit dem Motiv des Gegensatzes zwischen Orientalen und Griechen verbunden, wenn die Verbindung in diesem Fall hier auch nicht so eng ist wie dort. Aber schon hier ist das Ganze, wie sich gezeigt hat 130 , weniger metaphysisch und nähert sich der einfachen menschlichen und psychologischen Kausalität. Im folgenden trennen sich die Motive, welche innerhalb der Kroisosgeschichte durchweg so eng miteinander verflochten sind, immer mehr voneinander. Das Griechen-Orientalen-Motiv wird in der Variante des Gegensatzes zwischen orientalischem Despotismus und griechischer eXEiritegia auf lange Strecken hinaus dominierend. Aber seine Verflechtung mit religiös-metaphysischen Elementen wird immer dünner und verschwindet am Ende ganz. An Ereignissen von religiöser und metaphysischer Bedeutung an sich fehlt es keineswegs: und ihre Bedeutsamkeit 276

wird auch meistens kräftig hervorgehoben. Bei der Erzählung von einigen von ihnen ist auch offenbar der Versuch gemacht, sie in ähnlicher Weise wie in der Kroisosgeschichte in das Ganze zu verflechten und sie mit früheren Ereignissen in Beziehung zu setzen131, doch bleibt die Verbindung nunmehr oberflächlich und dünn; und viele der Anekdoten dieser Art stehen nun ganz isoliert für sich132. Das eXED^gpia-Motiv spaltet sich. Während zuerst das Motiv des Gegensatzes zwischen orientalischem Despotismus und griechischer ilzvfrepia im Vordergrund gestanden hatte und dabei wiederum zuerst die positiven, dann immer mehr auch die negativen Seiten der griechischen EXeDÖEQia zur Darstellung gekommen waren, treten nun die verschiedenen Varianten der griechischen etair&EQta, vor allem die athenische und die spartanische, in den Vordergrund, naturgemäß ohne daß darüber der fundamentalere Gegensatz zwischen orientalischem Despotismus und griechischer Freiheit völlig aus dem Gesichtskreis verschwände. Ganz gegen Ende jedoch tritt das auch aus der Kroisosgeschichte bekannte Motiv des Gegensatzes zwischen griechischer Einfachheit und orientalischem Luxus noch einmal auf, zuerst in der Geschichte von dem persischen und dem spartanischen Gastmahl, das Pausanias herrichten läßt, um die Griechen zum Vergleich zwischen beiden aufzufordern, dann in rein orientalischem Gewände in der Geschichte von dem Dynastiebegründer Kyros und den alten Persern, die, nachdem sie ihrem König geholfen haben, den größten Teil des Orients zu unterwerfen, nun auch die Annehmlichkeiten eines bequemeren Lebens genießen möchten. Es kann kein Zweifel daran sein, daß damit ein Motiv des Anfangs wiederaufgenommen wird. Aber es kann gar keine Rede davon sein, daß, wie in der Kroisosgeschichte, den eindrucksvollen Einzelgeschichten des Anfangs ein gleichgewichtiger Abschluß, der die Grundmotive der Eingangsgeschichten wiederaufnähme, um sie neu miteinander zu verflechten, entgegengestellt würde. Was ist also hier geschehen? Offenbar muß Herodot einmal die Absicht gehabt haben, der Geschichte des Xerxeszuges in ähnlicher Weise einen an die Motive der Eingangserzählung und die Grundmotive der Kroisosgeschichte wiederanknüpfenden Abschluß zu geben, wie er dies in der Kroisosgeschichte selbst getan hatte 133 . Aber diese Absicht ist nur mehr in ganz rudimentärer Form zur Ausführung gekommen. Der Grund hiervon ist sichtlich der, daß an die Stelle einer Geschichtsinterpretation, welche die großen Linien des Geschehens und die großen Gegensätze, die es bestimmen: Allmacht der Götter, Unsicherheit alles Menschlichen, Glanz und Größe, aber auch Unsicherheit der Existenz orientalischer Herrscher, 2 77

Einfachheit und verhältnismäßige Ungefährdetheit des griechischen Lebens und dergleichen scharf herausstellt, immer mehr eine ins Detail gehende und die großen Gegensätze zum mindesten in ihrer wertenden Beurteilung bis zu einem gewissen Grade relativierende Betrachtung getreten ist. Selbst die beiden den Ausgang des Xerxeszuges abschließenden Geschichten haben daran teil. Pausanias weist auf den Unterschied zwischen orientalischem Prunk und griechischer Einfachheit hin. Aber er selbst ist den Lockungen des orientalischen Luxus nicht ganz unzugänglich. Kyros, dem Begründer der persischen Dynastie, gelingt es, die Perser, die ihm geholfen haben, das "Weltreich zu erobern, davon abzuhalten, sich einem Leben der Bequemlichkeit oder gar des Luxus zu ergeben und so die Qualitäten zu verlieren, die sie zur Gewinnung und Erhaltung ihrer Herrschaft befähigt haben. Aber wenn auch in der Kyrosgeschichte selbst nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, so kann doch niemandem, der die Geschichte von den Mahlzeiten des Pausanias kurz vorher gelesen hat, entgehen, daß nicht nur Xerxes, von dem es ohnehin offensichtlich ist, sondern zum mindesten auch die persischen Generäle und Vornehmen sich seit langem nicht mehr an den Rat des Kyros gehalten haben. Die persischen Krieger im Heere des Xerxes dagegen haben, wie die Beschreibung der Schlacht bei Plataeae zeigt, jedenfalls im Vergleich zu den übrigen orientalischen Truppen mit Ausnahme der rauhen Skythen, noch etwas von ihrer Tüchtigkeit bewahrt. Auch diese letzten Geschichten, die mehr als alle anderen Geschichten des 8. und 9. Buches an die Geschichten, welche die Erzählung vom Xerxeszug einleiten, und darüber hinaus an die Grundmotive der Kroisosgeschichte anzuknüpfen scheinen, haben also jenen gegenüber ihren Charakter geändert, indem sie innerhalb der dort herausgestellten beiden Seiten großer Gegensätze selbst wieder einen Gegensatz aufweisen und damit die großen Gegensätze selbst relativieren. Damit werden sie aber ungeeignet für die Funktion, den einführenden Geschichten in eben der Weise als gleichgewichtiger Abschluß gegenübergestellt zu werden, wie Herodot der Kroisosgeschichte einen solchen gegeben hat. Es hat dann doch wohl im wesentlichen denselben Grund, wenn die in den zweiten Teil der Geschichte des Xerxeszuges eingefügten Einzelgeschichten und Anekdoten, in denen das Eingreifen göttlicher oder sonst übermenschlicher Kräfte in das geschichtliche Geschehen sich zu offenbaren scheint, zum größten Teil unverbunden nebeneinander stehen und nicht wie in der Kroisosgeschichte miteinander und mit der übrigen Geschichtsdarstellung zu einem großartigen einheitlichen Dessin verwoben sind. Das 278

liegt gewiß nicht daran, daß Herodot solchen Dingen gegenüber in diesem Abschnitt seines Werkes generell eine skeptischere Haltung eingenommen hätte als in anderen Teilen seines Werkes oder als speziell in der Kroisosgeschichte. Vielmehr äußert sich sein Glaube an solche Dinge, wie sich gezeigt hat 134 , oft sehr stark auch da, wo das, was er erzählt, einem Mann wie Herodot, der anderswo doch auch an Überlieferungen dieser Art, wenn sie ihm unwahrscheinlich erschienen, Kritik geübt hat, zur Skepsis hätte Anlaß geben können. Der Grund der Erscheinung liegt also doch wohl eher darin, daß die in diesem Teile dominierenden detaillierteren, realistischeren, relativistischeren Geschichten, in welchen sich die verschiedenen Aspekte und Varianten der griechischen eXsufregia manifestieren, für eine Verflechtung mit Geschichten, in denen sich religiös-metaphysische Aspekte des Geschehens enthüllen, sehr viel weniger geeignet sind als die Solon-Kroisos-Geschichte, in welcher orientalischer Glanz und orientalische Uberhebung griechischer Einfachheit und Selbstbescheidung ohne jede Relativierung der einen oder der anderen einander gegenübergestellt sind. Es sieht so aus, als sei auch hier, mindestens im ersten Ansatz, der Versuch gemacht worden, eine ähnliche Betrachtungsweise des historischen Geschehens in großen Linien und großen Gegensätzen durchzuführen wie in der Lydergeschichte und als habe dann unmerklich eine detailliertere und eben damit die großen Linien unterbrechende Betrachtungsweise die Durchführung der ursprünglichen Absicht unmöglich gemacht. Ob und wieweit dies richtig ist und was es gegebenenfalls für die Entstehung und Komposition des Werkes Herodots und die Entwicklung seines Autors bedeutet, kann erst eine Analyse des Werkes auch noch von anderen Gesichtspunkten aus lehren. Hier kann vielleicht noch darauf hingewiesen werden, daß im Gegensatz zu den Büchern II und I V alles Geographische in den drei letzten Büchern strikt der historischen Darstellung untergeordnet ist. Eine Diskrepanz zwischen Geographie und Geschichte, wie sie dort in so starkem Maße zu finden war, gibt es hier nicht. Das braucht nicht im einzelnen bewiesen zu werden, da es bei der Lektüre der Bücher ohne weiteres sichtbar wird.

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4- Geschichten und Geschichte in den übrigen Büchern des Werkes Herodots a Wie sich gezeigt hat, ist die Stellung und Funktion der Einzelgeschichten und Einzelanekdoten, welche Herodots Darstellung von Anfang bis zu Ende durchziehen, in verschiedenen Teilen seines "Werkes ganz verschieden. Die ältere ägyptische Geschichte setzt sich ausschließlich aus solchen Einzelgeschichten zusammen, die nur äußerlich durch eine obendrein unriditige chronologische Abfolge miteinander verbunden sind, aus ganz verschiedenen Quellen stammen und auch innerlich durch kein geistiges Band zusammengehalten werden: es sind Geschichten, welche Herodot während seines Aufenthaltes in Ägypten an verschiedenen Orten und von ganz verschiedenartigen Gewährsmännern zufällig aufgelesen hat. Die der Geschichte der letzten vor der persischen Eroberung regierenden 26. Dynastie zugeordneten Anekdoten sind in eine im großen und ganzen chronologisch richtige, wenn auch aus der Froschperspektive gesehene Darstellung der Geschichte dieser Dynastie eingefügt, haben einen etwas einheitlicheren Charakter als die Anekdoten und Erzählungen aus der älteren ägyptischen Geschichte, sind aber ebenfalls nicht durch ein besonderes geistiges Band miteinander verbunden, jedenfalls nicht mehr als sich aus ihrer Herkunft von einer mehr oder minder homogenen Gruppe von Gewährsmännern ohne besonderes Zutun Herodots von selbst ergeben mußte. Ganz anders bei den der Lydergeschichte eingefügten Geschichten und Anekdoten. Obwohl anfänglich ebenfalls als in sich geschlossene Einzelgeschichten auftretend, sind sie doch alle innerlich auf das innigste miteinander verbunden. Eine Reihe von Grundmotiven kehrt in ihnen in immer neuen Variationen wieder, und diese Motive, welche von Anfang an miteinander in Beziehung stehen, werden am Ende auf das kunstvollste miteinander zu einem einheitlichen Gemälde verllochten. Das Ganze dient offensichtlich dazu, die tiefere Bedeutsamkeit des Geschehens sichtbar zu machen. Bemerkenswert ist dabei, daß Herodot hier nirgends seine Gewährsmänner angibt, während er in der ägyptischen Geschichte nicht nur zu Anfang der beiden Hauptabschnitte im allgemeinen vermerkt, von welcher Art von Gewährsmännern oder aus welchen sonstigen Quellen das, was er im folgenden erzählen wird, stammt, sondern außerdem auch noch häufig bei der Erzählung der Einzelanekdoten seine speziellen Gewährsmänner genauer bezeichnet oder mitteilt, woraus er gewisse Einzelheiten erschlossen oder wodurch er sie bestätigt gefunden hat. 280

In der Geschichte des Xerxeszuges endlich treten gleich zu Anfang dieselben Grundmotive, welche in der Lydergeschichte dominiert hatten, in leicht abgewandelter Form wieder auf, und lassen sich gleichzeitig Ansätze zu einer ähnlichen Gesamtdeutung des Geschehens, wie sie in der Lydergeschichte so deutlich vorliegt, erkennen. Auch sind in der weiteren Ausführung noch Spuren des Bestrebens, die Grundmotive miteinander zu verflechten und das Ende an den Anfang anzuknüpfen, erkennbar. Aber die Ausführung bleibt rudimentär. Der Grund hierfür scheint darin zu liegen, daß eine realistischere, sich mehr den Details und Nuancen der historischen Erscheinungen zuwendende und damit die in der Lydergeschichte so scharf herausgestellten Grundmotive bis zu einem gewissen Grade relativierende Betrachtungsweise, die sich schon zu Beginn dieses Abschnittes ganz leise andeutet, im weiteren Verlauf der Darstellung immer mehr Raum gewinnt und die großen Linien einer Ausdeutung des Geschehens nach dem Muster der Lydergeschichte verwischt. Damit hängt es wohl ferner auch zusammen, daß in den späteren Kapiteln zunehmend auch Einzelgeschichten auftreten, welche mit der Gesamtdarstellung nur lose verknüpft sind. Ein sehr wesentlicher Unterschied gegenüber der Lydergeschichte besteht endlich darin, daß zu einigen Geschichten, welche offenbar einen Teil der versuchten Gesamtdeutung darstellen, abweichende Varianten vorgetragen werden, welche, wenn als historisch richtig betrachtet, der Gesamtdeutung zwar nicht geradezu widersprechen, sich ihr aber auch nicht einfügen und sie also bis zu einem gewissen Grade abschwächen. Für solche abweichende Varianten werden meist wenigstens in allgemeinen Andeutungen (z. B. „die Argiver") die Gewährsmänner genannt, während für diejenigen Geschichten, welche zu der Gesamtdeutung gehören, im Einklang mit der in der Lydergeschichte befolgten Gepflogenheit, niemals Gewährsmänner genannt werden. Gegenüber diesen ganz ausgesprochen verschiedenen "Weisen, Einzelanekdoten oder Einzelgeschichten für die oder in der Geschichtserzählung zu verwenden, welche sich in verschiedenen Teilen des Werkes Herodots haben feststellen lassen, nehmen die übrigen Teile Zwischenstellungen aller Arten ein. Sehr interessant in dieser Hinsicht ist schon gleich die Geschichte des Mederreiches und des Emporkommens des Kyros und der Perser, welche auf die Lydergeschichte folgt. Es beginnt 1 mit einem ganz knappen Bericht in drei kurzen Sätzen über die Auflösung des Assyrerreiches, die mit dem Abfall der Meder begann und damit endete, daß alle Völker Asiens ihre Freiheit und Autonomie wiedererlangten. Damit ist zugleich das Stichwort für das Folgende gegeben, indem die Frage auf281

geworfen wird 2 , wie es gekommen sei, daß zuerst die Meder, die im Kampfe für ihre Freiheit tapfere und tüchtige Männer geworden waren, und dann die übrigen Völker, die ihre Freiheit gewonnen hatten, so kurze Zeit danach wieder dem Despotismus, der aber interessanterweise mit dem griechischen Wort Tyrannis bezeichnet wird, verfielen. Zur Beantwortung dieser Frage wird sogleich wieder eine Einzelgeschichte erzählt3. Die Meder wohnten zerstreut in Dörfern. In einem dieser Dörfer genoß ein gewisser Deiokes, Sohn des Phraortes, beträchtliches Ansehen und wurde von seinen Dorfgenossen zum Richter bestellt. „ D a er nun nach der Herrschaft strebte4", war er sehr gerecht. Der Ruf seiner Gerechtigkeit verbreitete sich allmählich überall unter den Medern und die Leute kamen von weither, um ihn als Schiedsrichter in ihren Streitigkeiten anzurufen. Nachdem dies eine Zeitlang so gegangen war und die Bewegung immer mehr zugenommen hatte, erklärte er eines Tages, er werde in Zukunft keine Richter- oder Schiedssprüche mehr erteilen, da er nicht seine eigenen Angelegenheiten über dieser Tätigkeit für andere vernachlässigen könne. Da nun Gewalttat und Gesetzlosigkeit in Medien überhand nahm, kamen die Meder zusammmen, um einen König zu wählen, der für Gesetz und Ordnung sorgen sollte; und als man dies beschlossen hatte und die Frage aufkam, wer nun König werden sollte, war Deiokes in aller Munde. Die Königswürde wurde ihm angeboten, und er nahm sie an unter der Bedingung, daß ihm eine Königsburg gebaut und eine Leibgarde gestellt werde. Nachdem dies zugestanden war, ließ er sich eine gewaltige Königsburg bauen (die von Herodot in phantastischer "Weise beschrieben wird 5 ) und führte dann ein Zeremoniell ein, das es jedermann außer den Palastdienern und Wächtern verbot, ihn zu sehen, um so als mehr als ein gewöhnliches menschliches Wesen zu erscheinen. E r fuhr fort, Recht zu sprechen, aber nicht in Gegenwart der Parteien, vielmehr mußte alles ihm schriftlich vorgelegt werden, und er erteilte seinen Urteilsspruch schriftlich. Er hatte seine Spione und Angeber überall im Lande und sorgte für Recht und Ordnung, aber mit einer schweren Hand 6 . Soweit die Geschichte von Deiokes. Es wird dann erzählt7, wie die Nachfolger des Deiokes große Krieger waren und einen großen Teil von Asien ihrer Herrschaft unterwarfen, bis der letzte von ihnen, Astyages, durch Kyros gestürzt wurde und die Herrschaft an die Perser kam. Das wird noch viel ausführlicher erzählt, ist aber bis auf das allerletzte Stück, das zu Problemen des Anfangs zurückkehrt, eine Geschichte ganz anderer Art als diejenige vom Hochkommen des Deiokes. Es beginnt8 mit einem Traum der Tochter des Astyages, der dahin ausgelegt wird, daß deren 282

Kind die Herrschaft über Asien gewinnen werde. Astyages gibt sie daher nicht einem medischen Vornehmen zur Frau, sondern einem Perser aus gutem, aber mittlerem Hause und von ruhiger Gemütsart, in der Hoffnung, daß von daher nichts Gefährliches kommen könne. Als die Tochter einen Sohn bekommt, hat Astyages einen zweiten bedrohlichen Traum 9 . Er befiehlt daher seinem nächsten Vertrauten, Harpagos, sich des Kindes seiner Tochter zu bemächtigen und es zu töten und zu begraben. Harpagos ist über den Auftrag entsetzt, wagt es aber nicht, dem König zu widersprechen, und beschließt, das Kind auf keinen Fall selbst zu töten, aber es einem Hirten zur Tötung zu übergeben. Da die Frau des Hirten ein totes Kind geboren hat, wird dieses mit dem Kind der Tochter des Astyages vertauscht, und dieses wächst nun bei den Hirten auf. Als das Kind zehn Jahre alt geworden ist10, zeichnet es sich durch seine Intelligenz und seine herrscherlichen Allüren vor allen anderen Kindern aus und wird von den andern Kindern zum König gewählt. Aus Anlaß eines Streites mit dem Kinde eines Vornehmen, das sich dem Kinderkönig nicht unterordnen will, wird der Knabe vor den König gebracht. Dieser wundert sich über das Auftreten des Knaben und läßt den Hirten kommen, um ihn nach der Herkunft des Kindes auszufragen. So kommt alles ans Licht11. Astyages wird nun von seinen „"Weisen" über die Bedeutung des Traumes beruhigt: Da der Knabe von den Kindern zum König gewählt worden sei, sei der Traum schon in Erfüllung gegangen und nichts weiter zu befürchten. Trotzdem nimmt Astyages an Harpagos furchtbare Rache12 dafür, daß er seinen Befehl nicht ausgeführt und ihn so der Gefahr ausgesetzt hat. Er läßt heimlich den kleinen Sohn des Harpagos holen und töten und setzt ihn dann dem Harpagos, den er unter dem Vorwand, ihm für die Erhaltung des Lebens seines Enkels dankbar zu sein, zu einer Mahlzeit eingeladen hat, zum Mahle vor. Als döm Harpagos das Entsetzliche enthüllt wird, hält dieser an sich und erklärt, alles, was der König tue, sei recht. Dann aber beginnt er überall im geheimen die Meder gegen die harte Herrschaft des Astyages aufzuwiegeln und sendet zugleich geheime Botschaft an Kyros 13 , in der er ihn darauf aufmerksam macht, daß die Vorzeichen ihn zur Königsherrschaft bestimmen, und ihn auffordert, sich mit Hilfe der Perser gegen die Herrschaft des Astyages zu erheben. An dieser Stelle14 kehrt die Erzählung Herodots in anekdotischer "Weise zu den Probleimen des Anfangs und damit zugleich zu Problemen, die auch in andern Teilen seines "Werkes eine Rolle spielen, zurück. Kyros ruft die Perser zusammen und gibt vor, von seinem Großvater Astyages 283

zum Statthalter der persischen Teile des Mederreiches ernannt worden zu sein. Dann läßt er sie einen Tag lang schwere Rodungsarbeiten ausführen. Am nächsten Tage lädt er sie zu einem prächtigen Mahle ein. Dann fragt er sie, was ihnen lieber gewesen sei; und als sie rufen: der zweite Tag, antwortet er: So könnten sie es haben, wenn sie sich von der Mederherrschaft befreiten. Andernfalls würden sie immer als Diener ihrer medischen Herren für diese schwere Arbeiten verrichten müssen. Durch dieses Argument gewonnen, erheben sich die Perser, welche die medische Herrschaft schon immer ungern ertragen hatten, gegen ihre Herren. Es kommt zu zwei Schlachten15, in deren erster schon viele Meder zu den Persera übergehen, während in der zweiten Astyages selbst in Gefangenschaft gerät. Nun nimmt Harpagos an Astyages Rache 16 , indem er ihm mit höhnischen Worten vorhält, wie schön es doch sein müsse, vom König zum Gefangenen und Knecht geworden zu sein. Da fragt ihn Astyages, ob er, Harpagos, den Aufstand gegen ihn angezettelt habe, und als Harpagos bejaht, sucht er ihm zu zeigen, daß er sowohl töricht wie ungerecht gehandelt habe: Dagegen, daß er an ihm, Astyages, habe Rache nehmen wollen, wolle er nichts einwenden, aber er sei ein Tor, die Königswürde dem Kyros zugewendet zu haben, statt sie für sich selbst zu gewinnen; und es sei ungerecht gewesen, um seiner Privatrache an ihm, Astyages, willen, die Meder, die ihm doch nichts zuleide getan hätten, aus Herren zu Knechten gemacht zu haben und die Perser aus Knechten zu Herren. Diese Kombination von Geschichten ist außerordentlich interessant; das Mittelstück ist offenbar ein Konglomerat von Märchenmotiven: Der Traum, der einem noch nicht geborenen oder eben geborenen Kinde seine künftige Größe voraussagt, die Furcht des Herrschers, des Großvaters, des Onkels, der Stiefmutter, oder wer immer es sein mag, vor 'der Erfüllung des Traumes oder einer sonstigen Voraussage, die Kindesaussetzung, um diese Erfüllung zu verhindern, und die Rettung des Kindes, die Entdekkung der hohen Abkunft des Kindes durch sein herrscherliches Verhalten unter anderen Kindern, die scheinbare Erfüllung der Prophezeiung durch ein harmloses Ereignis, die Rache an dem mit der Tötung Beauftragten, der sie nicht ausgeführt oder sich der Ausführung nicht ausreichend versichert hat, das Thyestesmahl: das alles sind Märchenmotive, die im Orient und Okzident weit verbreitet sind und in unzähligen Varianten wiederkehren 17 , so daß es bei der Spärlichkeit unserer nur aus schriftlich erhaltener Überlieferung stammenden Kenntnis von dem, was damals an solchen Dingen mündlich umlief, ganz müßig ist, festzustellen, was davon tatsächlich in heute noch erhaltener altorientalischer, was nur in 284

altgriechischer Uberlieferung vorkommt. Interessant sind daran nur zwei Dinge: einmal, daß Herodot an dieser Stelle entgegen seiner sonstigen Gewohnheit solche zeitlosen Schauermotive, die nicht, wie dies z. B. bei allen seinen ägyptischen Geschichten der Fall ist, eine spezielle historische Färbung haben, aufgenommen hat, und zweitens das Element rationalistischer Kritik und Ausdeutung, das sie enthalten. Am stärksten zeigt sich dies Element darin, daß Herodot berichtet18, es gebe auch eine Version, nach welcher der kleine Kyros von dem damit beauftragten Hirten wirklich ausgesetzt und von einer Hündin aufgezogen worden sei. Das sei aber eine von den Geschichten, die man erfunden habe, um die Errettung des Kyros noch wunderbarer erscheinen zu lassen. In "Wirklichkeit habe die Frau des Hirten, die den Kyros aufgezogen habe, Spako geheißen, was das medische Wort für Hündin sei, und daran habe die Legende angeknüpft. Das ist ganz rationalistische Legendendeutung im Sinne des Hekataios von Milet"; und es ist interessant, daß Herodot, der gegen die geometrische Rationalisierung der Geographie so energisch angegangen ist, sich in diesem Zusammenhang einer hekataeischen Methode ohne Bedenken bedient. Aber auch sonst zeigt die Erzählung Spuren von dem Bestreben, sich die Dinge rationalistisch zurechtzulegen; und es ist diese Methode bzw. die ihr zugrunde liegende Betrachtungsart, welche die aus Märchenmotiven zusammengesetzte Geschichte von Rettung und Aufstieg des Kyros mit der sonst ganz anders gearteten Geschichte vom Aufstieg des Deiokes verbindet. Harpagos hat nicht einfach Mitleid mit dem kleinen Kinde der Mandane. Nachdem er von Astyages den Auftrag bekommen hat, das Kind zu töten, kommt er weinend zu seiner Frau 20 und erzählt ihr, was geschehen ist. Auf ihre Frage, was er zu tun gedenke, antwortet er: „Auf keinen Fall werde ich zu einem solchen Mord die Hand bieten, selbst wenn der König noch wahnsinniger werden sollte als er es offenbar schon ist. Aus vielen Gründen werde ich es nicht töten: erstens weil es mit mir verwandt ist. Dann auch, weil Astyages ohne männliche Nachkommenschaft ist, und wenn seine Tochter nach seinem Tode auf seinen Thron kommen sollte, werde ich in die größte Gefahr kommen, wenn ihr Kind durch mich getötet worden ist." Nach diesen "Worten sollte man erwarten, daß Harpagos selbst das Kind zu retten und den König durch Unterschiebung eines anderen toten Kindes oder durch ähnliche Mittel zu täuschen versuchen wird. Überraschenderweise tut er dies jedoch nicht, sondern fährt fort: „Aber um meiner Sicherheit willen muß das Kind sterben. Es darf jedoch keiner von meinen Leuten der Mörder des Kindes sein, sondern das muß von einem der Leute des Astyages ausge285

führt werden." Darauf läßt er einen Hirten des Astyages rufen, dem er das in fürstliche Gewänder gehüllte Kindchen mit Hinweis auf den Tötungsbefehl des Astyages übergibt(!). Später vergewissert er sich noch21 durch einen seiner eigenen Untergebenen der Ausführung des Tötungsbefehls. Es ist mit Händen zu greifen, daß hier verschiedene Versionen miteinander verbunden und durch allzu großes Bestreben, die Dinge zu erklären, die ganze Geschichte unlogisch und widerspruchsvoll geworden ist. Schon daß Harpagos zuerst seiner Frau gegenüber dem Entschluß Ausdruck gibt, zu der Ermordung des Kindes keine Hand zu reichen, dann aber dem Hirten des Astyages selbst das Kind mit ausdrücklichem, wenn auch im Namen des Astyages ausgesprochenem Befehl, es zu töten, übergibt, ist ein offenkundiger Widerspruch. Und was soll es dem Harpagos, wenn Mandane nach dem Tode ihres Vaters auf den Thron kommen sollte, helfen, daß er das Kind nicht eigenhändig getötet oder durch einen seiner Leute, sondern durch einen im Dienst des Astyages stehenden Mann hat töten lassen, da er es doch ist, der das Kind diesem mit dem Auftrag, es zu töten übergibt, und da er sich später durch einen seiner eigenen Leute von der vollzogenen (freilich nur vermeintlichen: aber das weiß er ja nicht) Tötung überzeugt22? Allerdings liegt der erste Anlaß zu der ganzen Verwirrung noch um eine Stufe weiter zurück. Wenn Astyages keine männlichen Erben hat, ist nicht recht einzusehen, warum er sich über den Traum, welcher die Größe eines Kindes seiner Tochter ankündigt, so aufregen soll, statt sich vielmehr darüber zu freuen, zumal da es sich nicht einmal um einen Sohn handelt, dem das Warten auf die Nachfolge des Vaters zu lang werden könnte, sondern um einen Enkel, von dem man annehmen sollte, daß er mit seiner Größe warten kann, bis der Großvater eines natürlichen Todes verblichen ist. Aber selbst diese Voraussetzungen einmal angenommen, ist es das unzweckmäßigste Mittel zur Verhinderung der drohenden Gefahr, die Tochter einem Perser statt einem Meder zur Frau zu geben. Offensichtlich ist diese Unstimmigkeit aus dem Bestreben entstanden, der persischen, von Kyros begründeten Dynastie durch Anknüpfung an die vorangegangene medische noch eine größere Legitimität zu verleihen. Daraus mußte sich zwangsläufig eine Komplizierung der Legenden von Geburt und Jugend des Kyros ergeben; und die Harpagosgeschichte erweist sich dadurch als sekundär, daß sie die Anknüpfung des Kyros an das medische Königshaus schon voraussetzt, was bei der Geschichte von der Aussetzung und Errettung des Kyrosknaben als solcher nicht der Fall ist, da die Furcht des Mederkönigs 286

vielmehr viel berechtigter war, wenn er von einer Prophezeiung erfuhr, welche einem Kinde, das nicht von ihm abstammte, die Herrschaft über Asien verhieß. Die Harpagosgeschichte selbst aber ist schon kein reines Märchen mehr, sondern das Produkt des Nachdenkens darüber, wie sich ein Mann, der in die Lage kommt, zwischen regierendem König und möglichem Nachfolger zu stehen, wie Harpagos, verhalten kann. Auf der andern Seite ist sie, wie ihre inneren Widersprüche zeigen, weder bis zu einer überzeugenden Lösung des Problems durchgeführt, noch ist sie formal völlig ausgearbeitet. Es gibt nur einen Ansatz zu einer Beratung zwischen Harpagos und seiner Frau über die vorhandenen Möglichkeiten. Auf die Frage der Frau gibt Harpagos nur seinen in sich widerspruchsvollen Entschluß bekannt, ohne daß die Lage überzeugend nach allen Seiten hin betrachtet wird. Ähnliche Ansätze zu einem Nachdenken über Motive und Möglichkeiten, das aber auch nicht zu Ende geführt ist, zeigt auch die Erzählung volm Hochkommen des Deiokes zu Anfang der Medergeschichte, die aber auch noch aus anderen Gründen höchst interessant ist. Es handelt sich ja hier um das eXEuÖEQia-Problem, das in den letzten drei Büchern des "Werkes des Herodot eine so dominierende Rolle spielt, nur daß es hier von einer ganz anderen Seite aus betrachtet wird. Das Problem ist hier, wie, nachdem in einem großen Gebiet eine bestehende despotische Herrschaft gestürzt worden war und die einzelnen ihr unterworfenen Völker ihre Freiheit erlangt hatten, eine neue despotische Herrschaft entstehen konnte. Dabei ergeben sich eigentümliche Beziehungen zu der Demaratgeschichte im siebten Buch. Die Spartaner haben keinen despotischen Herrscher wie die orientalischen Völker. Aber sie haben einen Herrn, den Nomos, Brauch und Gesetz, dem sie mehr gehorchen als die orientalischen Völker ihren Despoten. Bei den Medern dagegen herrschen, nachdem sie sidi von dem assyrischen Joch befreit haben, Gewalttat, Gesetzlosigkeit und Anarchie. Deshalb brauchen und bekommen sie auch wieder einen Herrn. Bringt man die Dinge in dieser Weise auf den einfachsten Nenner, so erscheint das Verhältnis zwischen der Deiokesgeschichte und den Ausführungen des Demaratos über die spartanische E^euOegia als vollkommen durchsichtig und klar: sie ergänzen sich gegenseitig, indem sie zwei entgegengesetzte Seiten derselben Sache illustrieren. Sieht man sich die Deiokesgeschichte jedoch näher an, so ist das Verhältnis keineswegs so klar, und zwar deshalb, weil hier die Beziehung zwischen Anarchie und Despotismus nicht einfach abstrakt festgestellt wird, sondern der Versuch gemacht, die Entstehung des einen aus der andern konkret historisch zu 287

rekonstruieren. Oder genauer gesagt: Der Anfangszustand, von dem die Rekonstruktion der Entwicklung ausgeht, ist die Anarchie in abstracto, konkretisiert höchstens als die Anarchie, wie man sie sich etwa bei einem verhältnismäßig primitiven Bergvolk, das plötzlich seine Unabhängigkeit von einer Fremdherrschaft erhalten hat, vorstellen kann; der Endzustand, der am Ende der Rekonstruktion herauskommen muß, ist nicht der Despotismus in abstracto, etwa das Bild eines Herrschers, der mit absoluter Gewalt ausgestattet ist und mit harter Hand für Recht und Ordnung sorgt, sozusagen der Idealtypus des Hobbesschen Souveräns, sondern ein orientalischer Herrscher, der sich durch ein bis ins Extrem ausgebildetes Hofzeremoniell in einem Maße von seinen Untertanen distanziert hat, wie es abendländische Herrscher selbst zur Zeit des Höhepunktes des Absolutismus niemals erreicht und wohl auch nicht erstrebt haben. Am Anfang also steht eine Abstraktion, und dies um so mehr, als von den speziellen in Medien etwa bestehenden Traditionen, welche die Wiedererstehung eines orientalischen Despotismus erleichtern mochten, mit keinem "Wort die Rede ist. Am Ende steht das Bild eines ganz konkreten Zustandes, der wohl eher dem Ende der Regierung des Dareios und der des Xerxes als dem der frühen medischen Könige entsprechen dürfte. Die Rekonstruktion der Entwicklung, die von diesem Anfang zu diesem Endpunkt führen soll, ist eingeschlossen in die kurze Zeitspanne von dem Zerfall der Assyrerherrschaft bis zur Thronbesteigung des Deiokes, d. h. einen Teil der Lebenszeit eines einzigen Mannes. Durch diese Zusammendrängung einer langen Entwicklung auf eine ganz kurze Zeitspanne und ihre Zurückführung auf ein einziges Motiv ergibt sich die kindlich naive Geschichte von dem Mann, der „gerecht" war, weil er es von Anfang an auf die Königsherrschaft abgesehen hatte und die Schlauheit besaß, zu sehen, daß er unfehlbar dahin gelangen werde, wenn er den Ruf erlangte, der einzige „Gerechte" unter lauter Ungerechten zu sein, und wenn er, nachdem er in dieser Eigenschaft als einziger Gerechter sich seinen Landsleuten unentbehrlich gemacht hatte, sich weigern würde, ihnen weiter zu dienen, es sei denn, daß sie ihm alles gewähren, was er braucht, um sich zum absoluten Herrscher des Landes machen zu können. Dabei ist es hübsch zu sehen, wie die ersten Anfänge, wo ohne irgendwelche historischen Anhaltspunkte konstruiert werden muß, die empfindlichste Schwierigkeit machen, gerade weil der Versuch gemacht wird, es sich ganz konkret auszumalen. Damit Deiokes' Landsleute zu ihm kommen, um ihm ihre Streitigkeiten zur Entscheidung vorzulegen, muß er schon vorher etwas Ansehen haben23. Wie er schon Gewalttätigkeit und 288

Räuberei(!), und dies in dem angenommenen Ausmaß, verhindern konnte, als er noch nur als Schiedsrichter zwischen Parteien, die seine Entscheidung freiwillig anriefen, fungierte und keine Strafgewalt besaß, ist jedoch nicht ganz klar. Aber von dem Augenblick an, wo er als gerechter Schiedsrichter bekannt geworden ist, scheint in der Erzählung alles mit Windeseile und nach Plan zu gehen, bis er ganz und gar den Status eines orientalischen Despoten erreicht hat. Dabei wird am Ende noch sehr hübsch ausgeführt, warum er sich mit orientalischem Zeremoniell und Prunk umgab: Wenn er weiter wie bisher den Menschen zugänglich gewesen wäre, dann hätten diejenigen, die mit ihm als Seinesgleichen aufgewachsen waren und auch aus guten Familien stammten, es als kränkend empfunden, daß er an Macht und Rang nun so weit über sie erhoben war. Da er aber ihren Blikken entrückt war, schien er ein Wesen anderer Art geworden zu sein, das einem Vergleich entrückt war. Aber trotz ihrer naiven Form hat die Geschichte einen tiefen und wahren Kern 24 , der für ein einfaches Denken durch eine solche kindlich vereinfachende Darstellung vielleicht deutlicher sichtbar wird als durch eine historische Analyse, in der alle die mannigfaltigen und komplizierten Faktoren, welche zur Entstehung eines orientalischen Despotismus führen, berücksichtigt wären. Jedenfalls ist offensichtlich, daß die Deiokesgeschichte zu einem großen Teil aus Herodots eigenem Nachdenken über gewisse historisch-politische Probleme hervorgegangen ist, wenn sich auch nicht überall im einzelnen feststellen läßt, wieviel davon Herodots eigene Konstruktion ist oder wieviel ihm als Antworten auf Suggestivfragen, die er seinen Gewährsmännern auf Grund seiner eigenen Vermutungen gestellt hat, zugeflossen ist. Wohl aber sind die Nahtstellen ganz deutlich, wo die Resultate von Herodots eigenem Nachdenken mit den vorgegebenen Versionen seiner Gewährsmänner in Konflikt kommen, woraus sich dann, wie sich dies bei der Harpagosgeschichte gezeigt hat, Unstimmigkeiten und innere Widersprüche ergeben. Aber auch die Geschichte von dem Rat, den Kroisos dem Kyros aus Anlaß des Angebotes der Massagetenkönigin Tomyris gegeben haben soll, zeigt dieselbe innere Widersprüchlichkeit und aus demselben Grund 25 . Sie reiht sich damit, was vielleicht nicht ganz ohne Bedeutung ist, ihrer Form nach in dieselbe Gruppe wie die Harpagosgeschichte ein. Andererseits gerät auch Herodots eigenes Motivationsbedürfnis in dieser Gruppe von Geschichten gelegentlich mit seinem eigenen Streben nach pointierten Antworten auf allgemeinere Fragen in einen leichten Konflikt. So begründet Herodot 26 die Konspiration des Harpagos mit Kyros, dem er durch den Sturz des Astyages zur Königswürde verhilft, damit, daß er 289

sich nicht genug Einfluß zutraute, um durch Aufreizung der Meder allein gegen die harte Herrschaft des Astyages diesen zu stürzen und sich an seine Stelle zu setzen. Nachher jedoch27 wirft Astyages es dem Harpagos als Torheit vor, daß er sich nicht selbst zum König gemacht habe, ohne daß auf die früher gegebene Motivation des Verhaltens des Harpagos Bezug genommen würde. Daran könnte man wiederum mehr oder minder komplizierte Uberlegungen darüber anschließen, ob Harpagos' Umsturzbestrebungen mehr Aussicht auf Erfolg hatten, wenn er die Perser, die einen fähigen Führer und außerdem als unter Fremdherrschaft stehendes Volk noch einen zusätzlichen Grund zur Auflehnung hatten, aufwiegelte, wobei er damit rechnen mußte, daß das herrschende Volk unter solchen Umständen sich um seinen, wenn auch sonst unbeliebten, Herrscher zusammenschließen würde, oder wenn er seine Propaganda auf die Meder beschränkte. Aber auf diese speziellen Fragen der politischen Taktik kommt es Herodot gar nicht an. Worauf es ihm ankommt, sind vielmehr zwei Dinge, die wiederum untereinander in engster Beziehung stehen. Das eine und speziellere ist die Verpflichtung des einzelnen seinem Volk gegenüber, die es als Unrecht erscheinen läßt, um einer wenn auch noch so berechtigten privaten Rache willen dem eigenen Volk zu schaden. Diese Frage der Verpflichtung dem eigenen Volk — und das bedeutet hier nicht einmal einem Staat, einer JtoXig oder einem öriixog, sondern dem eftvog, der Sprach- und Kulturgemeinschaft - gegenüber spielt ja auch in den drei letzten Büchern im Zusammenhang des Feldzuges des Xerxes gegen die Griechen eine große Rolle. Im übrigen enthüllt sich in diesem letzten Abschnitt der Medergeschichte noch wieder ein neuer Aspekt des EXeufteQia-Problems, da hier noch zwischen dem einfachen Despotismus und der despotischen Fremdherrschaft unterschieden ist28. Doch ist es charakteristisch und konsequent, daß Herodot an dieser Stelle, obwohl er zeigt, wie die Fremdherrschaft noch viel drückender ist als der einfache Despotismus, doch zwar das ganze Volk der Meder Herrn (ÖEcrjtÖTai) der Perser nennt, aber nur sagt, sie seien aus Herrn der Perser zu deren Knechten geworden, nicht aber, sie seien aus einem Zustand der Freiheit in den der Knechtschaft geraten. Ein „Herren"volk braucht also nicht „frei" zu sein. Die noch allgemeinere Frage, die Herodot hier offenbar im Sinne hat, ist die der Abhängigkeit der Völkerschicksale von den privaten Leidenschaften der einzelnen. Der Komplex von Geschichten, welcher den Kern der Geschichte der Meder und des Aufkommens des Kyros bildet, ist also inhaltlich dadurch gekennzeichnet, daß er unaufhörlich um das Problem von eXevftEgia und 290

Despotismus, ihr "Wesen, ihre Abarten, ihr Entstehen und Vergehen kreist, formal aber dadurch, daß die Resultate von Erkundungen, die Herodot verschiedenen Ortes angestellt hat, und die Resultate seines eigenen Nachdenkens über die Dinge nebeneinanderstehen und gelegentlich miteinander in Konflikt geraten sowie dadurch, daß, wo dies der Fall ist, der Denkprozeß nicht immer ganz bis zu seinem Ende durchgeführt ist, sondern Unstimmigkeiten bleiben. Von beidem, von den inhaltlichen wie von den formalen Eigentümlichkeiten dieser Geschichten, lassen sich nun sogleich Verbindungslinien zu anderen Teilen des "Werkes ziehen. Am unmittelbarsten sichtbar ist die Beziehung der medisch-persischen Geschichten, in denen das EÄEtiüegiaMotiv in mannigfachen Varianten eine so große Rolle spielt, zu der unmittelbar darauffolgenden Geschichte der Unterwerfung der kleinasiatischen Griechen durch Kyros. Es beginnt29 mit einer Anekdote, welche die Härte des Kyros zeigt. Vor dem entscheidenden Kampf mit Kroisos hatte Kyros die Griechenstädte aufgefordert, von Kroisos abzufallen und mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Darauf hatten sie nicht eingehen wollen. Nun, nachdem der Kampf entschieden ist, erklären sie sich bereit, in dasselbe leichte Abhängigkeitsverhältnis zu ihm zu treten, in dem sie zu den Lydern gestanden hatten. Aber Kyros antwortet ironisch mit der Geschichte von dem Mann, der am Strande die Flöte blies, um die Fische zum Tanzen zu bringen. Als sie nicht tanzen wollten, fing er sie in einem Netz. Da sie nun darin zappelten, rief er ihnen zu: was tanzt ihr jetzt? Ihr hättet besser getanzt, als ich euch geflötet habe. So beschließen die Griechen und Karer, sich gegen eine gewaltsame Unterwerfung zu wappnen, und befestigen ihre Städte - mit Ausnahme von Milet, dem es gelungen ist, mit Kyros einen vorteilhaften Vertrag zu schließen. Von den übrigen ionischen Städten berichtet Herodot darauf 30 , daß sie in dem Panionion auf der Mykale eine Versammlung abhielten, auf der beschlossen wurde, eine Gesandtschaft nach Sparta zu senden und die Spartaner um Hilfe gegen die Perser zu bitten. Darauf folgen eine Reihe von Kapiteln über die griechischen und karischen Städte der kleinasiatischen Küste und der Inseln sowie ihre Spaltung untereinander: selbst zu dem panionischen Bund gehören nur zwölf der ionischen Städte, die übrigen sind davon ausgeschlossen. Immerhin senden auch die aeolischen Städte Gesandte nach Sparta um Hilfe; und in Sparta erscheinen die ionischen und die aeolischen Abgesandten mit einem gemeinsamen Sprecher. Aber dieser gemeinsame Schritt hat keinen Erfolg. Die Spartaner senden zwar eine Abordnung nach Kleinasien, die sich an Ort und Stelle 291

über die Lage der Dinge orientieren soll, und diese Abordnung wiederum schickt einen Herold zu Kyros, der ihn warnen soll, die Spartaner würden es nicht dulden, daß er griechische Städte zerstöre. Der Herold erhält jedoch von Kyros die verächtliche Antwort 31 : Er habe keine Angst vor Leuten, die einen Platz in der Mitte ihrer Städte hätten, der eigens dazu bestimmt sei, dort zusammenzukommen und einander unter Eidschwüren zu betrügen. Daß diese Geschichte, in welcher der Gegensatz zwischen Griechen und Orientalen, welcher in der Lydergeschichte und in der Geschichte des Xerxeszuges eine so große Rolle spielt und in welchem in der Lydergeschichte durchaus und in der Geschichte des Xerxeszuges doch im wesentlichen die Griechen als die Überlegenen erscheinen, einmal von seiten der Orientalen und zu Ungunsten der Griechen dargestellt wird, hier so ganz vereinzelt und in der Mitte der Erzählung erscheint, ist doch recht interessant. Daß die Bemerkung des Kyros gerade auf die Spartaner, die Kyros damit treffen will, nicht paßt, deutet Herodot zwar an, indem er hinzufügt 32 : das habe Kyros in bezug auf die Griechen im allgemeinen gesagt, weil sie auf Marktplätzen Handel trieben, was bei den Persern nicht üblich sei. Aber sonst macht Herodot hier weiter gar nichts daraus, obwohl es nahe gelegen hätte, zumal die Bemerkung des Kyros in einer Umgebung steht, in welcher die Schwächen der der kleinasiatischen Griechen sehr deutlich hervortreten. Daß Herodot mit der Geschichte an dieser Stelle keinen besonderen Zweck verfolgt, zeigt aber wohl auch die Art, wie sie eingeführt wird, die ähnliche Unstimmigkeiten aufweist wie Teile der Harpagosgeschichte. Da heißt es33, Kyros hätte sich bei den übrigen Griechen erkundigt, was für Leute die Lakedämonier seien und wie groß ihre Zahl sei, daß sie es wagten, ihm gegenüber eine solche Sprache zu führen. Nachdem er diese Erkundigungen eingezogen gehabt hätte, hätte er die erwähnte Antwort gegeben. Dazu paßt jedoch weder der Inhalt der Antwort, noch daß Herodot nachher sagt, eigentlich seien in der Antwort die Griechen überhaupt gemeint gewesen. Wenn das Ganze einen klaren Sinn haben soll, muß Kyros vielmehr von den übrigen Griechen, die ihm wohl auch ohne besondere Erkundigungen bekannt sein konnten, (fälschlich) auf die Spartaner schließen. Offenbar stammt die Geschichte aus derselben Umgebung, in welcher Griechen und Orientalen nahe zusammenlebten und sich gegenseitig ihre Schwächen vorwarfen, aus der auch die Geschichten der Xoyioi stammen, mit denen Herodot sein ganzes Werk einleitet. Sie könnte von irgend jemandem erzählt werden, ist aber, wie alle griechischen Geschichten, auch die zeitlosesten Märchen34, definitiv 292

historisch lokalisiert und wird daher an der Stelle erzählt, an die sie durch diese Lokalisierung gehört. Im übrigen ist sie in den Zusammenhang, in dem sie steht, nur ganz lose eingefügt und im Verhältnis zu ihrer Umgebung noch weniger logisch durchdacht als die Teile der Harpagosgeschichte, die ähnliche Unstimmigkeiten aufweisen, aber doch zugleich Spuren von Herodots eigenem Nachdenken und Nachforschen erkennen lassen. Das ist für die Funktion und Entstehung dieses Teiles des "Werkes Herodots vielleicht nicht ganz ohne Bedeutung. Es weist vielleicht in dieselbe Richtung, daß die Schwächen der ¿XEvfteQia der kleinasiatischen Griechen (und Karer), wenn man genau zusieht — ihre Streitigkeiten untereinander, die Tatsache, daß die einen, wie die Phokäer und die Teer, auswandern, um der Knechtschaft zu entgehen, die andern bleiben, sowie daß sie jeder für sich tapfer kämpfen, aber nach und nach einzeln unterworfen werden, etc. —, deutlich erkennbar sind, aber von Herodot an dieser Stelle keineswegs so klar herausgestellt werden, wie im siebten bis neunten Buch. Dies liegt zum großen Teil daran, daß Herodot die Darstellung der historischen Vorgänge, die so erzählt werden könnten, daß sich, wie in den letzten Büchern, die Konsequenzen für das EtavfteQia-Problem von selber daraus ergeben, durch systematische Angaben über die verschiedenen Gruppen und Untergruppen der kleinasiatischen Griechen unterbricht, die in Stil und Charakter den ethnographischen Partien seines Werkes angenähert sind. Man kann wohl sagen, daß sich hier zwei verschiedene Formen der Darstellung gegenseitig durchdringen, ohne vollständig miteinander verschmolzen zu sein. In die Darstellung der Unterwerfung der kleinasiatischen Griechenstädte ist jedoch auch noch eine Orakelgeschichte eingeschoben, die vielleicht eine etwas genauere Analyse in bezug auf ihren Charakter und ihre Funktion in dem Ganzen verdient. Während Kyros mit den Vorbereitungen zur Unterwerfung der kleinasiatischen Griechen beschäftigt ist, versucht ein Lyder mit Namen Paktyes, dem Kyros die Verwaltung des lydischen Schatzes anvertraut hat, die Lyder zum Aufstand gegen die persische Herrschaft zu bewegen, wirbt mit dem ihm anvertrauten Geld an der Küste Soldaten an und belagert mit ihnen Sardes35. Darauf folgt zunächst36 die früher erwähnte 37 Geschichte von der Weisheit des Kroisos, der Kyros rät, keine harten Maßnahmen gegen die Lyder zu ergreifen, sondern ihnen das Leben so angenehm zu machen, daß sie verweichlichen und nicht mehr an Auflehnung denken. Dann wird jedoch die Geschichte des Paktyes weitererzählt. Als er sieht, daß seine Sache verloren ist, flieht 293

er nach Kyme. Als der Stellvertreter des Kyros seine Auslieferung verlangt, fragen die Kymäer das dem Apollon gehörige Branchidenorakel in Didyma, was sie tun sollen. Das Orakel antwortet, sie sollten den Paktyes ausliefern. Aber ein vornehmer Kymaeer Aristodikos veranlaßt seine Landsleute, die Auslieferung noch hinauszuschieben, und stellt nochmals dieselbe Frage an den Gott, worauf er dieselbe Antwort bekommt. Darauf nimmt er zu dem Heiligtum gehörige Vögel weg, und als eine Stimme aus dem Tempel ertönt, die ihn als Frevler bezeichnet, weil er die „Schützlinge" des Gottes verletze, antwortet er: „Wenn du dich deiner Schützlinge annimmst, wie kannst du den Kymaeern raten, die ihrigen preiszugeben?" Darauf erfolgt die endgültige Antwort des Gottes: „ J a , ich rate euch, den Paktyes auszuliefern, damit ihr für euern Frevel um so eher zugrunde geht und nicht ein zweites Mal fragt, ob ihr einen Schutzflehenden ausliefern sollt." Betrachtet man zunächst die Geschichte als historisch, was sie ihrem Kern nach sehr wohl sein mag, so ist sie ein interessantes Beispiel für das Verhalten von Orakeln bei schwierigen Anfragen und bietet eine gewisse Analogie zu dem Verhalten des Delphischen Orakels zur Zeit des Xerxeszuges. Die Kymaeer hatten ja wohl die Anfrage auch deshalb an das Orakel gerichtet, um dem Gott, wenn er ihnen den Befehl gebe, den Schutzflehenden nicht auszuliefern, zugleich die Verantwortung für die Folgen, die eine solche Weigerung für die Stadt haben konnte, zuzuschieben und dadurch seinen Schutz für die Stadt zu erlangen. Die Priesterschaft befand sich in einer schwierigen Lage, da sie eine wirksame Garantie gegen die Folgen der Verweigerung der Auslieferung nicht geben konnte. Durch den Befehl, den Schutzflehenden auszuliefern und die später dazu gegebene Erklärung, hat sich das Orakel in sehr geschickter Weise salviert. Ähnlich hat später das Delphische Orakel nicht gewagt 38 , einen Sieg der Griechen über das gewaltige Heer des Xerxes zu prophezeien oder auch nur unzweideutig ein Mittel anzugeben, durch das Griechenland gerettet werden könnte, sondern vermutlich gerade auf Grund der guten Informationen, die es über Größe und Ausrüstung des persischen Heeres besaß, die völlige Niederlage der Griechen für unvermeidlich gehalten. Als dann ein großer Teil der Griechen dennoch Widerstand zu leisten beschloß und um eine bessere Auskunft bat, hat es sich durch das zweideutige Orakel von den hölzernen Mauern39, das wohl sicher historisch ist, salviert. Was jedoch Herodots Stellung zu diesen Dingen angeht, so weiß er zwar davon zu berichten, daß Kroisos nur wenige der von ihm erprobten Orakel als zuverlässig und verborgener Dinge kundig gefunden hatte40, 294

und kennt auch gefälschte Orakel des Musaios und ähnliche Dinge 41 . Aber es ist offensichtlich, daß er nie gewagt hat, ein von einem Apollonheiligtum oder dem Heiligtum eines anderen größeren Gottes ausgehendes Orakel zu bezweifeln. Ebenso scheint er an die Erfüllung von Träumen, trotz der skeptischen Bemerkungen, die er den Artabanos in seinem Gespräch mit Xerxes darüber machen läßt, durchaus geglaubt zu haben. Dies zeigt sich in allen Teilen seines "Werkes, so sehr sie sich auch sonst in ihrem Charakter voneinander unterscheiden mögen. Aber nur an wenigen Stellen, vornehmlich in der Kroisosgeschichte und in der Artabanosgeschichte, erscheinen Orakel und Träume in einem größeren Zusammenhang, in welchem eine tiefere Bedeutsamkeit des Geschehens sichtbar gemacht werden soll. In der Mehrzahl der Fälle bleiben sie ganz episodisch. Im vorliegenden Fall z. B. hat die Geschichte von dem versuchten Aufstand des Paktyes eine doppelte Funktion. Einmal gehört sie zu den sozusagen überschüssigen Geschichten von der Weisheit des Kroisos. Inhaltlich stellt sie gewissermaßen ein Gegenstück zu der am Ende des ganzen "Werkes stehenden Kyrosgeschichte dar42, indem sie zeigt, daß "Wohlleben und Verweichlichung zur "Wiedergewinnung der Freiheit untüchtig macht. Aber sie ist weder zu der Kyrosgeschichte, die an einer ganz entfernten Stelle steht, in Beziehung gesetzt, noch ist ihre Beziehung zu der Behandlung des Etaufreeia-Problems in ihrer nächsten Umgebung klar, da dort ja die EXeudepia, wenn auch in mannigfachen Variationen des Problems, durchaus als gut erscheint, in der Kroisos-Paktyes-Geschichte dagegen die "Weisheit des Kroisos gerade darin besteht, den Lydern ein bequemes und ungefährdetes Leben dadurch zu sichern, daß sie auf jeden Versuch, ihre Freiheit wiederzugewinnen, verzichten. Noch deutlicher ist bei der Geschichte von dem Verhalten des Branchidenorakels hinsichtlich der Auslieferung des Paktyes die innere Beziehungslosigkeit zu der Umgebung, in der es steht. Sie ist mit dieser nur dadurch verbunden, daß in ihr die Schicksale des Paktyes, der als Anstifter des lydischen Aufstandes genannt war, zu Ende erzählt werden, ohne daß diese für den Gesamtverlauf der Geschichte die geringste Bedeutung hätten. "Was aber ihre innere Bedeutsamkeit angeht, so ist der letzte Ausspruch des Orakels, wenn man ihn ernst nimmt als Verpflichtung, Schutzflehende unter allen Umständen zu schützen oder wenigstens nicht auszuliefern, was immer die Folgen für den Beschützer sein mögen, eindrucksvoll genug. Er verliert jedoch alle Bedeutung durch das, was über die weiteren Ereignisse erzählt wird 43 . Die Kymaeer bringen den Paktyes nach Mytilene auf Lesbos, um der Verantwortlichkeit für ihn zu entgehen. 295

Als sie erfahren, daß die Mytilenaeer mit den Persern über seine Auslieferung verhandeln, lassen sie ihn wieder abholen und bringen ihn nach Chios, wo er in dem Heiligtum der Athena Poliuchos Schutz sucht. Aber auch die Chier verhandeln über seine Auslieferung und als sie einen ihnen angemessen erscheinenden Preis, nämlich das Land von Atarneus, für ihn geboten bekommen, holen sie ihn gewaltsam aus dem Heiligtum und liefern ihn aus. Obwohl sie mit der gewaltsamen Entfernung aus dem Heiligtum und der Auslieferung, nicht unter unmittelbarer Bedrohung ihrer Existenz, sondern um einen Preis, nach allen menschlichen Maßstäben einen viel größeren Frevel begangen haben als die Kymaeer je hypothetisch in Betracht gezogen hatten, ist die einzige weitere Folge, von der Herodot berichtet44, daß die Chier lange Zeit es nicht wagten, von den Erträgnissen des Gebietes von Atarneus, das sie als Preis für die Auslieferung erhalten hatten, irgend einem Gott ein Opfer zu bringen: eine gewaltige Antiklimax nach den drohenden Worten des Apollon von Didyma. Die Geschichte bleibt also auch ihrem Inhalt nach völlig episodisch. Erst nach all diesen Unterbrechungen durch ethnographische Darstellungen und alle Arten von episodischen Geschichten, die mit der Haupterzählung nur in sehr losem Zusammenhang stehen und auch in sich oft allerhand lose Enden aufweisen, kehrt Herodot 45 am Schluß des Berichtes über die Unterwerfung der kleinasiatischen Griechen und Karer zu dem Thema der eXe^Oegia zurück und erzählt noch von zwei Ratschlägen, durch deren Befolgung den Griechen ihre Freiheit hätte erhalten werden können. Von dem einen sagt er, er sei erst gegeben worden, nachdem die Sache der Griechen schon so gut wie verloren war: der Rat des Bias von Priene, ihre Wohnsitze in Kleinasien aufzugeben und Mann für Mann nach der Insel Sardinien auszuwandern, die groß und fruchtbar genug sei, um sie alle aufzunehmen, und wo sie sich die einheimische barbarische Bevölkerung unterwerfen könnten, ohne etwas für ihre eigene Freiheit befürchten zu müssen. Den anderen Rat habe Thaies gegeben46, als die Gefahr erst am Horizont auftauchte und noch nicht akut geworden war: nämlich das in der Mitte von Ionien gelegene Teos zur Hauptstadt des ganzen Landes zu machen und die übrigen Teile des Landes als bloße Demen zu betrachten. Das ist offensichtlich von athenischen Voraussetzungen aus gedacht und in athenischer Terminologie ausgedrückt und kann so von Thaies kaum formuliert worden sein. Aber es weist auf eben jenes Problem der EÄ.Ev&8Qia, das später in verschiedenen Variationen in der Geschichte des ionischen Aufstandes unter Dareios und dann in der Geschichte des Xer296

xeszuges eine so dominierende Rolle spielt: Daß die E/xuüeoia der Neigung einer jeden Gemeinschaft, zuerst an sich zu denken, Vorschub leistet, daß sie gegenüber den despotisch beherrschten großen orientalischen Mächten nur dann eine Chance hat, sich zu erhalten, wenn sie mit dem Willen verbunden ist, sich zur Verteidigung zusammenzuschließen und sich dann auch einer gemeinsamen Leitung unterzuordnen. Nur bleibt es auch hier wieder, so deutlich der Hinweis ist, bei dem Hinweis als solchem und wird kein Versuch gemacht, die Frage weiter durchzudenken, ob und unter welchen Bedingungen selbst die gesammelte Macht der kleinasiatischen Griechen hingereicht hätte, ihre Freiheit gegenüber dem Perserreich mit Erfolg zu verteidigen. Alles, was Herodot an dieser Stelle darüber sagt, ist, daß der Rat des Thaies gut oder nützlich gewesen sei. Was auf die Darstellung der Unterwerfung der kleinasiatischen Griechen und Karer zunächst folgt, ist von außen gesehen die Geschichte der Eroberung der übrigen asiatischen Reiche und Völkerschaften durch Kyros bis zu seinem Feldzug gegen die Massageten, in dem er den Tod findet, und dann der Eroberung von Ägypten durch seinen Nachfolger Kambyses bis zu dessen Tod. Zugleich ist es eine Schilderung des zunehmenden Despotismus der persischen Könige, und zwar nicht nur derjenigen, von denen unmittelbar die Rede ist, sondern auch ihrer Nachfolger: zunehmend freilich nicht in dem Sinne, daß systematisch dargestellt würde, wie jeder ein noch schlimmerer Despot war als sein Vorgänger, sondern so, daß jeder noch wieder etwas „wagt", was sein Vorgänger noch nicht gewagt hatte. So wird die Geschichte von der babylonischen Königin Nitokris eingefügt 47 , die an ihrem Grab die Inschrift hatte anbringen lassen, wenn einer ihrer Nachfolger in Geldnot gerate, solle er ihr Grab öffnen: da werde er große Schätze finden. Aber niemand solle es öffnen, ohne wirklich in großer N o t zu sein. Die früheren Könige hatten dies Gebot respektiert. Aber Dareios, obwohl nicht von Not bedrängt, ließ es öffnen. Er fand jedoch nur den Leichnam und eine Inschrift mit den Worten: „Wenn du nicht unersättlich und von schimpflicher Geldgier erfüllt wärest, würdest du nicht die Gräber der Toten öffnen." Dareios seinerseits wiederum hatte zwar schon seine Augen auf ein großes Götterbild aus reinem Gold aus Babylon geworfen, aber nicht „gewagt 48 ", es wegzunehmen. Xerxes aber nahm es weg und ließ den Priester töten, als dieser dagegen Einspruch erhob. Kurz darauf wird jedoch von Kyros ein Verhalten berichtet49, das an dasjenige des Xerxes am Hellespont erinnert. Als beim Übersetzen über den Fluß Gyndes bei Babylon eines der weißen Pferde des Kyros sich unvorsichtig in den Fluß wagt und von diesem fortgerissen wird und 297

ertrinkt, wird K y r o s zornig über den Fluß und droht ihm, er werde ihn so schwach machen, daß eine Frau ihn überschreiten könne, ohne ihre Knie naß zu machen, worauf er durch gewaltige Erdarbeiten den Fluß in 360 Rinnsale zerteilen läßt, um seine Drohung wahr zu machen. V o l l zum Ausbruch kommt dann die Hybris des Königs in dem Feldzug gegen die Massageten, in dem er denn auch seinen Untergang findet50. Diese Darstellung der Hybris und des Despotismus der persischen Könige setzt sich in der Geschichte des Nachfolgers des Kyros, Kambyses, fort, die jedoch durch das Buch über Ägypten unterbrochen wird. Sehr bemerkenswert und f ü r die Entstehung des Ganzen bedeutsam ist die Art, wie dies in den Zusammenhang der persischen Geschichte eingefügt ist. Die Anknüpfung an das vorangehende ist ganz kurz 5 1 : „Kambyses aber betrachtete die Ioner und Aeoler (sc. Kleinasiens) schon als von seinem Vater ererbte Untertanen (Knechte) und unternahm einen Feldzug gegen Ägypten, auf den er Truppen von den andern unterworfenen Völkern, aber auch von den ihm untertänigen Griechen mitnahm." Bei aller Kürze wird durch diesen Satz das Folgende nicht nur in den Zusammenhang der persischen Reichsgeschichte, sondern auch in den weiteren Zusammenhang der großen Auseinandersetzung zwischen Griechen und Orientalen, in den die persische Reichsgeschichte eingefügt ist, eingeordnet. Der Übergang zurück zur persischen Reichsgeschichte am Ende des ägyptischen Exkurses 52 ist ganz anderer Art. Hier wird äußerlich die Geschichte der 26. Dynastie zu Ende erzählt. Aber mit dem letzten der Könige dieser Dynastie, mit Psammenit, den Kambyses gefangen nahm und seines Königtums beraubte, ändert die Darstellung vollständig ihren Charakter. Bis dahin beruht die Geschichte der 26. Dynastie, wie sich gezeigt hat 53 , im wesentlichen auf Nachrichten, die von den in Ägypten angesiedelten Nachkommen der griechischen Söldner und Handelsleute stammen und in denen die innenpolitischen und außenpolitischen Ereignisse sozusagen aus der Froschperspektive gesehen sind. Diese wurden freilich gelegentlich durch Betrachtungen ähnlicher Art, die vom ägyptischen Standpunkt aus angestellt sind, ergänzt. Im ganzen wird dabei jedenfalls alles recht nüchtern betrachtet. Aus der Geschichte des Untergangs des ägyptischen Königreiches unter Psammenit ist diese nüchterne Betrachtungsweise noch nicht ganz verschwunden, aber sie wird nun in zunehmendem Maße unterbrochen durch dramatische Szenen, die mit ihr in eigentümlichem Kontrast stehen, und durch Motive, welche über die ältere persische Geschichte hinweg an die Kroisosgeschichte erinnern 54 . Das erste ist die Geschichte, wie Kambyses 298

„die Seele des Psammenit versuchte55", nachdem er Memphis eingenommen und den König gefangen genommen hatte. Er zwang ihn mit anzusehen, wie seine Tochter mit andern vornehmen ägyptischen Mädchen zusammen in Sklavenkleidern vorbeigeführt wurde, dann wie sein Sohn mit 2000 ägyptischen Jünglingen zusammen mit einem Strick um den Hals und einer Kandare im Mund56 zur Sühne für einen an einem Mytilenaeischen Schiff, das während der Belagerung von Kambyses zu Verhandlungen nach Memphis geschickt worden war, begangenen Frevel zum Tode geführt wird. Während alle anderen in laute Klagen ausbrechen, bleibt der König tränenlos und stumm. Erst als er ganz zufällig sieht, wie ein alter Mann, der zu seiner Umgebung gehört hat, nun aber alles verloren hat, die Soldaten um ein Almosen bittet, bricht er in Tränen aus und ruft seinen alten Gefährten beim Namen. Da läßt ihn Kambyses fragen, warum er jetzt weine, da er doch, als er seine Tochter in Schande und seinen Sohn auf dem Weg zum Tode gesehen habe, keinen Laut der Klage geäußert habe, und erhält die Antwort: O Sohn des Kyros, jenes war ein Schmerz über Tränen und Klagen hinaus, aber den alten Mann an der Schwelle des Greisenalters als Bettler zu sehen: das war wohl etwas, worüber man weinen konnte57. Durch diese Antwort ist Kroisos, der bei der Szene ebenfalls zugegen ist — damit wird die Verbindung zur Kroisosgeschichte auch äußerlich hergestellt - zu Tränen gerührt, und selbst der grausame Kambyses fühlt Mitleid mit dem ägyptischen König. Er gibt den Befehl, den Sohn des Psammenit zu schonen. Aber die Hinrichtung ist schon vollzogen. Was Herodot weiter über den Ausgang des Psammenit erzählt58, steht in eigentümlichem Kontrast zu dieser eindrucksvollen Geschichte von der Größe menschlichen Leidens, das den Menschen verstummen macht. Er stellt Betrachtungen darüber an, daß Kambyses vielleicht, nachdem sein Zorn gegen Psammenit einmal verflogen war, diesen zum Vizekönig seines früheren Reiches unter persischer Oberherrschaft eingesetzt hätte, da dies vielfach bei den Persern der Brauch gewesen sei, wenn er Vertrauen in ihn gehabt hätte. Psammenit aber habe einen Aufstand gegen die Perser anzuzetteln versucht. Dafür habe er dann seinen „Lohn" erhalten59. Als seine Konspiration aufkam, habe er sich durch Trinken von Stierblut selbst das Leben genommen. Es folgt die Darstellung des zunehmenden Cäsarenwahnsinns des Kambyses. Zuerst die Schändung der Leiche des Amasis60, welche Kambyses auspeitschen und der er die Haare ausreißen ließ, um sie dann dem Feuer zu übergeben, wodurch, wie Herodot im einzelnen ausführt, sowohl persische wie ägyptische religiöse Überzeugungen verletzt werden. Dann 299

folgt der Plan zu drei Eroberungsfeldzügen 61 gegen die Karthager, gegen die Bewohner der Ammonsoase und gegen die „langlebigen Äthiopen". Da es in der Geschichte des Feldzuges gegen die Äthiopen als Frevel und Unrecht bezeichnet wird 62 , nur um der Eroberung willen Völker anzugreifen, mit denen bis dahin kein Grund zum Streit bestanden hat, können alle drei Pläne als Ausdruck der "Willkür und Hybris des Kambyses betrachtet werden. Trotzdem fällt sein Verhalten in bezug auf den karthagischen Feldzug aus dem übrigen heraus. Denn Herodot berichtet63, Kambyses habe den Plan aufgegeben, da die Phöniker sich geweigert hätten, gegen die ihnen stammverwandten Karthager zu Felde zu ziehen, und Kambyses habe ihnen nachgegeben, weil sie sich den Persern freiwillig unterworfen gehabt hätten, obwohl ihm keine andere Flotte als die phönikische zur Verfügung gestanden habe. In der darauf folgenden Erzählung 64 von dem Feldzug gegen die langlebigen Äthiopen sind zwei Motive miteinander verbunden, das der wachsenden Hybris des Kambyses und die Vorstellung von einer Utopia, in der wiederum eine ganze Reihe von weitverbreiteten Märchenmotiven vereinigt sind65: das Motiv von einem Uberfluß an Gold, der die Äthiopen goldene Ketten zum Fesseln ihrer Gefangenen verwenden läßt, das Motiv der gläsernen Särge, das ursprünglich aus Indien stammende Motiv des leichten Wassers, in dem alles untersinkt, das eigentümliche rationalistische Motiv vom Tischlein deck dich und manches andere. Audi die von dem Äthiopenkönig den als Botschafter mit Geschenken zu ihm kommenden „Spähern" des Kambyses gegebene Antwort 66 : die Perser sollten froh sein, daß die Götter den Äthiopen nicht den Gedanken eingäben, andere Länder erobern zu wollen, ist ein Wandermotiv, das an vielen Orten vorkommt. Im Zusammenhang dient die anmutige Schilderung der Utopia jedoch zur Verdeutlichung des Wahnsinns des Kambyses, der sich durch die Schilderung seiner Kundschafter nicht davon abhalten läßt, dieses Land anzugreifen. Immerhin zeigt der Ausgang des Unternehmens, daß Kambyses auch jetzt noch wenigstens Augenblicke der Einsicht hat. Als er bis Theben gekommen ist67, sendet er eine Expedition gegen die Ammonsoase mit dem frevelhaften Befehl, das dortige Orakel des Zeus Ammon niederzubrennen. Dieses Expeditionskorps verschwindet spurlos in der Wüste. Die Ammonier erzählen68, es sei in einem gewaltigen Sandsturm umgekommen. Obwohl das nach Äthiopien ziehende Heer, schon ehe es den fünften Teil des Weges zurückgelegt hat, in Verpflegungsschwierigkeiten gerät, wird es von dem König weiter vorwärts getrieben. Erst als seine Soldaten beginnen, sich gegenseitig aufzuessen, befiehlt er schließlich den Rückzug 69 . 300

Nach der Rückkehr nach Memphis kommt der Cäsarenwahnsinn des Kambyses immer offener zum Ausbruch. Es beginnt damit 70 , daß er sich darüber ärgert, daß die Ägypter bei seiner Rückkehr von der gescheiterten Expedition gegen die „langlebigen Äthiopen" Feste feiern. Als ihm geantwortet wird, dies geschehe zur Feier des neuen Apis, der nach dem Tode des alten von den Priestern gefunden worden war, erklärt er die Priester für Lügner, die nur einen Vorwand suchten, seine Niederlage zu feiern, und läßt sie hinrichten. Den Apisstier verwundet er eigenhändig mit einem Dolch, so daß er nach kurzer Zeit stirbt, wobei Kambyses sich über solche Götter aus Fleisch und Blut lustig macht. Darauf beginnt er, auf jede Weise gegen die ägyptische Religion zu freveln und die geheiligten Gebräuche der Ägypter zu verletzen 71 . Er läßt die Gräber und Särge öffnen, um sich die Mumien zu besehen. Er verspottet in dem Tempel des Ptah in Memphis das Bild des Gottes, das nach Herodot pygmäengestaltig war 72 . Er dringt in das Allerheiligste des Kabirenheiligtums 73 , das nur der Priester betreten durfte, und läßt unter Spottreden viele Götterbilder verbrennen. Das alles gibt Herodot Anlaß 74 , seiner Mißbilligung einer solchen Verletzung fremder Sitten und Gebräuche lebhaften Ausdruck zu geben und seine Meinung, daß jedes Volk seine eigenen Gebräuche für die besten halte, und daß man daher die Gebräuche eines jeden Volkes, so verschieden sie auch sein mögen, als ihnen heilig respektieren solle, an einem drastischen Beispiel zu illustrieren. Es ist für Herodot charakteristisch, daß er durch die Beobachtung, daß das, was bei dem einen Volk heiliger Brauch ist, einem anderen Volk verabscheuenswert erscheinen mag, nicht zum Skeptizismus gegen Religion und religiöse Gebräuche veranlaßt wird 75 , sondern vielmehr den Schluß zieht, daß sie alle zu respektieren seien. Von dem Augenblick des Frevels gegen den Apisstier an beginnt Kambyses, auch gegen seine eigene Familie und gegen die Perser zu wüten 76 : nach Ansicht der Ägypter, wie Herodot mitteilt, weil er zur Strafe für den Frevel an dem Gott mit Wahnsinn geschlagen wurde. Aber Herodot weist darauf hin77, daß er schon vorher nicht mehr recht bei Verstand gewesen war. Er weist damit die Erklärung der Ägypter nicht eigentlich zurück78. Aber das Ganze ist für ihn doch eine kontinuierliche Entwicklung. Kambyses hat einen Traum, in dem ein Bote aus Persien ihm meldet, sein Bruder Smerdis sitze auf dem Königsthron und wachse in die Höhe, so daß sein Scheitel den Himmel berühre. Darauf gibt er seinem Vertrauten Prexaspes den Auftrag, sich nach Persien zu begeben und den Smerdis aus dem "Wege zu räumen, was auch geschieht79. Dann bringt er seine Schwester um, die ihm als Gattin nach Ägypten gefolgt ist, weil sie über 301

den Tod des Bruders trauert 80 . Dazwischen wird erzählt 81 , wie Kambyses, als er seine Schwester heiraten wollte, die persischen Gesetzeskundigen gefragt habe, ob es erlaubt sei, seine Schwester zu heiraten und von ihnen die Antwort erhalten habe, ein Gesetz oder einen Brauch, der dies erlaube, gebe es nicht, wohl aber gebe es ein persisches Gesetz, nach welchem es dem König erlaubt sei, alles zu tun, was er wolle. Dieser Teil der Geschichte ist vor allem auch deshalb interessant, weil der erste Teil des angeblichen Bescheides der persischen Rechtskundigen, es gebe kein per91sch.es Gesetz, das die Geschwisterehe erlaube, offenbar unrichtig ist und das Erlaubtsein des „Incestes" bei den Persern in der späteren griechischen Literatur bei Relativisten und Skeptikern eine beträchtliche Rolle spielt82. Umso deutlicher ist die Tendenz der Geschichte in ihrer herodoteischen Form: zu zeigen, daß der Wahnsinn des Kambyses, der sich über alle göttlichen und menschlichen Gesetze hinwegsetzt, seinen Ursprung in dem Prinzip des orientalischen Despotismus hat und in der Knechtseligkeit der Perser, die sogar ein Gesetz finden oder erfinden, nach welchem dem König alles erlaubt ist. Eben dadurch bekommt die Geschichte von dem Wahnsinn des Kambyses innerhalb der Geschichte des Meder- und Perserreiches, die überall um das Problem von Despotismus und Freiheit kreist, ihren tieferen Sinn, zugleich aber auf Kosten der faktischen historischen Wahrheit. Auf die Greueltat gegen Bruder und Schwester folgt noch, um das MaJß nach allen Seiten hin voll zu machen, eine Greueltat gegen seinen treuesten Gefolgsmann Prexaspes83. Dann wird nach einem kurzen Exkurs über gleichzeitige Ereignisse in Samos das Kambysesdrama zu Ende geführt. Kambyses erhält die Nachricht84, die Mager hätten sich gegen ihn erhoben und seinen Bruder Smerdis an seiner Stelle zum König gemacht. Er glaubt zuerst, Prexaspes, den er mit der Tötung des Bruders beauftragt hatte, habe ihn hintergangen. Aber das Zeugnis des persischen Boten, er habe den Smerdis nicht gesehen, sondern nur in seinem Namen Befehle erhalten, überzeugt ihn, daß es sich um einen Usurpator handelt. Da erkennt er, daß der Traum in Erfüllung gegangen ist. Aber der Mann, den der Bote in seinem Traum auf dem Königsthron gesehen hat, war nicht sein Bruder, sondern ein Usurpator, der ihm ähnlich sieht. Nun bereut er zu spät, was er getan hat und kommt endlich zur Besinnung85. Aber es ist in jeder Hinsicht zu spät. Als er aufs Pferd springt, um gegen den Usurpator zu Felde zu ziehen, verwundet er sich mit seinem Dolch an derselben Stelle, an der er den Apisstier getroffen hatte und stirbt kurz darauf in einem kleinen Ort Ekbatana, auch darin ein Orakel erfül302

lend, das ihm geweissagt hat, er werde in Ekbatana sterben: wie er glaubte, natürlich in dem medischen Königssitz, nun aber an der ägyptisch-syrischen Grenze. So zeigt sich von neuem, daß man seinem Schicksal nicht entgehen kann. Aber am Ende der Geschichte des Kambyses tritt das Motiv der eXsuftseia noch einmal in einer unvermuteten Verbindung auf 8 6 . Kambyses enthüllt den Persern, die zum größten Teil noch nichts davon wissen, die Tötung des Smerdis auf seinen Befehl und fordert die Perser auf, „es nicht zu dulden, daß die Herrschaft durch den Betrug der Mager wieder an die Meder komme, sondern der List mit List und der Gewalt mit Gewalt zu begegnen". Zum Schluß belegt er sie noch mit einem bedingten Fluch: Wenn sie seinem letzten "Wunsche nachkommen, dann soll das Land und ihre Herden und ihre Frauen fruchtbar sein, und sie sollen als Freie leben für alle Zeiten; wenn sie es aber nicht tun, soll von all dem das Gegenteil eintreten und soll außerdem jeder der Perser ein ähnliches Ende finden wie Kambyses selbst. D a bedeutet eXevfreQia auf einmal wieder einfach die Freiheit von Fremdherrschaft. Denn davon, daß künftige Herrscher weniger despotisch herrschen oder gar in ihrer Herrenwillkür durch Gesetze eingeschränkt werden sollten, ist keine Rede. In das Ende des Kambysesdramas, wie es hier im Zusammenhang dargestellt worden ist, ist nun bei Herodot jedoch in höchst eigentümlicher Weise ein Abschnitt griechischer Geschichte eingefügt, der äußerlich mit seiner Umgebung durch einen Synchronismus verbunden ist, im übrigen aber ebenfalls starke anekdotische Elemente enthält. „Zu der Zeit des Feldzuges des Kambyses gegen Ägypten", so wird der Abschnitt eingeführt 87 , „unternahmen die Lakedämonier einen Feldzug gegen Samos und Polykrates". Dann folgt 88 nach einer kurzen Angabe über die Art, wie Polykrates zum Alleinherrscher von Samos geworden war, die berühmte Geschichte von dem Ring. In dieser Geschichte tritt das aus der SolonKroisos-Geschichte bekannte Motiv vom Neide der Götter in verstärkter Form wieder auf. Die Erzählung löst sich jedoch am Ende in eine Intrigengeschichte auf. Als Polykrates seinem Freunde Amasis, dem König von Ägypten, die Geschichte von dem im Bauch eines Fisches wiedergefundenen Ringe mitteilt, löst dieser sein bisheriges Bündnis mit dem samischen Herrscher, da er sieht, daß dieser seinem Glück und damit den Folgen des Neides der Götter nicht entgehen kann, und nicht in seinen Untergang mit hineingezogen werden will. Das nimmt Polykrates zum Anlaß 89 , nun seinerseits mit Kambyses, der eben damals mit der Planung seines Feldzuges gegen Ägypten beschäftigt ist, diplomatische Beziehungen anzuknüpfen: Er läßt ihn wissen, es werde ihm nicht unangenehm sein, wenn 3°3

Kambyses ihn um Waffenhilfe gegen Ägypten bitten sollte. Der Grund hierfür ist jedoch keineswegs, daß er sich an dem ägyptischen Freund, der ihm das Bündnis aufgesagt hat, rächen will. Es ist vielmehr ein Trick, um, wie er meint, seine innenpolitischen Gegner loszuwerden; denn es sind diese, die er dem persischen König als Soldaten zur Verfügung stellt: mit der ausdrücklichen Bitte, sie ihm ja nicht wieder nach Samos zurückzuschicken. Der Trick mißlingt jedoch insofern, als die von ihm nach Ägypten gesandten Samier sich selbständig machen und gegen Polykrates selbst zu Felde ziehen, nachdem sie von diesem abgewehrt worden sind, aber sich an die Lakedämonier wenden, die dann ihrerseits einen Feldzug gegen Polykrates unternehmen, der jedoch ebenfalls nicht zum Ziele führt. Bei der Erörterung der Gründe 90 , weshalb die Lakedämonier dem Ersuchen der samischen Gegner des Polykrates nachgaben, werden dann Anekdoten über Periander von Korinth, dem auch allerhand Unbilden von den seeräuberischen Samiern widerfahren sind, eingeschaltet. Von der Komposition dieses Abschnittes und seinem Verhältnis zu der Umgebung, in der er steht, ist schon einmal die Rede gewesen91 bei Gelegenheit einer vorläufigen Diskussion moderner Theorien über Entstehung und Niederschrift des Werkes Herodots. Was im Zusammenhang mit diesem allgemeinen Problem vor allem von Immerwahr über die Gründe der Einfügung der Polykrates- und Periandergeschichten an dieser Stelle gesagt worden ist, braucht im wesentlichen nicht angefochten zu werden. Es ist nur nicht ausreichend; und es läßt sich nun wohl etwas mehr darüber sagen. Mit Apries und Amasis dringen Motive aus der Kroisosgeschichte in die ägyptische Geschichte Herodots ein, die seiner übrigen ägyptischen Geschichte ganz fremd sind. Das Stichwort wird gegeben durch die Bezeichnung des Apries 92 wie auch des Amasis 93 als sxiöainwv, wenn die A r t ihrer £x>öai|Aovia auch eine ganz verschiedene ist. Mit dem öXßog und der £ti5ai|j.ovia des Kroisos hatte die Kroisosgeschichte begonnen. Dann verknüpfte sie sich mit dem Motiv des unentrinnbaren Schicksals und dem Motiv des Neides der Götter. In der Geschichte des Apries tritt das Motiv der Unentrinnbarkeit mit dem Satze e j i e I Öe oi eöee x c k c d s YEvscr&ai94 gerade am Rande auf. Amasis ist, wie Immerwahr mit Recht bemerkt hat, in gewissem Sinne eine Kontrastfigur zu Polykrates, aber auch zu Kroisos, insofern er dem Schicksal, das seinen Sohn und Nachfolger Psammenit dann mit voller Wucht trifft, gerade noch entgeht, was auch mit seiner Vorsicht und Klugheit und damit, daß er sich nie zu hoch erhebt, zusammenzuhängen scheint95. Aber sowohl bei Apries wie bei Amasis sind diese Motive ihrer Geschichte doch ziemlich lose aufgelegt, da ihr Grundcha304

rakter im wesentlichen derselbe bleibt wie derjenige der hauptsächlich auf den von den griechischen Söldnern in Ägypten eingezogenen Nachrichten beruhenden Geschichte der früheren Könige der 26. Dynastie. Erst in der Geschichte vom Ring des Polykrates treten die Motive der Kroisosgeschichte mit voller "Wucht wieder auf 96 . U m so auffallender ist es nur, daß die Geschichte an dieser Stelle nicht zu Ende geführt ist. Z w a r gerät Polykrates, nachdem Amasis aus Furcht vor dem unvermeidlichen Schicksal des Polykrates die Verbindung mit ihm gelöst hat, sogleich in große Schwierigkeiten, zum Teil gerade dadurch, daß er es ganz schlau anfangen will - auch das ist ein häufiges Motiv in dieser A r t von Geschichten aber diese Schwierigkeiten führen durchaus nicht zu seinem Untergang, da auch dieLakedämonier nach längerer Belagerung der Hauptstadt unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen97. Der Untergang des Polykrates wird erst an einer sehr viel späteren Stelle und bei einer ganz anderen Gelegenheit erzählt 98 ; und dann wird zwar ausführlich geschildert, wie Polykrates allen Warnungen entgegen in sein Verderben rennt, aber auf die Geschichte mit dem Ring — inzwischen w a r es Polykrates ja auch gar nicht mehr so gut gegangen, daß der Neid der Götter hätte anzudauern braudien - nicht mehr Bezug genommen. Daß der Ausgang des Polykrates nicht im Zusammenhang mit der Ringgeschichte erzählt wird, deren notwendiger Abschluß er doch zu sein scheint, ist jedoch umso auffallender, als er nach Angabe des Herodot selbst noch in die Zeit des Kambyses fiel, also auch vom rein chronologischen Standpunkt aus an dieselbe Stelle wie die Ringgeschichte gehört. Der Grund nun freilich, warum er an viel späterer Stelle, nämlich im Zusammenhang mit den ersten Regierungsjahren des Dareios erzählt wird, ist nicht schwer zu finden. Polykrates wird von Oroites, einem Satrapen des Kambyses, in eine Falle gelockt und auf grausame "Weise umgebracht, ohne daß er Oroites irgendeinen Anlaß dazu gegeben hätte. Aber auch Oroites wird von der göttlichen Strafe f ü r diesen Frevel ereilt und dies geschieht in den ersten Jahren der Regierung des Dareios. Diese chronologische Tatsache brauchte an sich natürlich nicht zu verhindern, daß der Ausgang des Polykrates an der Stelle erzählt würde, an die er chronologisch und dem inneren Zusammenhang nach gehört, und die Strafe des Oroites als Ausblick daran angehängt würde. Aber der Untergang des Oroites steht auch im Zusammenhang mit den ersten noch tastenden Versuchen des auf eine sehr ungewöhnliche "Weise auf den Thron gekommenen Dareios, sich eine feste Machtbasis zu verschaffen: dies ist zweifellos der Grund, warum das Ganze an der Stelle steht, an welcher es steht.

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Damit ergibt sich für Entstehung und Komposition des Werkes ein nicht ganz unwichtiges Resultat. Die Geschichte vom Ring des Polykrates kann nicht ursprünglich von der Geschichte seines Untergangs getrennt gewesen sein, sondern setzt diese voraus. Wenn die Geschichte des Untergangs trotzdem an einer anderen Stelle erzählt wird, so deshalb, weil sie mit der Geschichte des Oroites verbunden ist und weil diese an einer anderen Stelle gebraucht wird. Es zeigt sich also auch hier, was an sich auch ganz natürlich ist, von den neueren Kompositionstheoretikern aber nicht in Betracht gezogen wird, daß Herodot keineswegs die Geschichten von Anfang an für den Ort geschrieben hat, an dem sie jetzt stehen. Vielmehr waren die Geschichten zuerst da, und es konnte sich unter Umständen eine gewisse Spannung zwischen verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten ergeben, die gegebenenfalls sogar dazu führten, daß die Geschichte auseinandergerissen wurde. Dabei ist es wohl auch nicht ganz ohne Bedeutung, daß innerhalb der endgültigen Anordnung die Verwendung im Zusammenhang mit der rein politischen Geschichte der Festigung der Machtposition des Dareios über die mögliche Verwendung innerhalb des religiös-mystischen Zusammenhangs der Ringgeschichte den Sieg davongetragen hat, wenn auch Herodot nicht verfehlt, auf die religiöse Bedeutsamkeit des Geschehens audi innerhalb des politischen Zusammenhanges hinzuweisen". Sozusagen von der entgegengesetzten Seite her zeigen die großartigen Erzählungen von Schuld und Leiden des Tyrannen Periander von Korinth die ursprüngliche Selbständigkeit der Einzelgeschichten. Periander kommt im Werk Herodots dreimal vor, zuerst im ersten Buch100, eigentlich ganz nebenbei innerhalb des kurzen Überblickes über die Sukzession der Vorgänger des Kroisos auf dem lydischen Königsthron und ihre Beziehung zu den Griechen. Da wird er erwähnt als derjenige, welcher dem Thrasybul von Milet von einem Orakel Mitteilung machte, das von Delphi an den Lyderkönig Alyattes ergangen war, um es ihm zu ermöglichen, aus diesem Orakel bei seinen Verhandlungen mit Alyattes Nutzen zu ziehen. Dann empfindet Herodot jedoch das Bedürfnis, seine Leser kurz zu informieren, wer dieser Periander eigentlich gewesen sei, und erzählt 101 bei dieser Gelegenheit die wundersame Geschichte von der Errettung des Sängers Arion durch einen Delphin, die sich zur Zeit Perianders zugetragen haben sollte. Im übrigen besteht zwischen dieser Geschichte und dem, was vorhergeht oder nachfolgt, keinerlei Zusammenhang. Sie wird rein um ihrer selbst willen erzählt, und Herodot hat sie eingefügt, wo es eben gerade gehen wollte. 30 6

Die zweite Erwähnung des Periander geschieht dann innerhalb der Polykratesgeschichte102. Im Mittelpunkt steht die mit allen Mitteln der Kunst Herodots erzählte Geschichte von Periander und seinem Sohn Lykophron, die den Gegenstand einer Tragödie bilden könnte. Periander hat seine Frau Melissa, die bei ihm verleumdet worden ist, als sie hochschwanger war, durch einen Fußtritt getötet. Sein Sohn Lykophron erfährt, als er etwas herangewachsen ist, durch den Vater der Mutter von der Tat und weigert sich von da an, mit dem Vater zu sprechen. Weder grausame Verfolgung noch milder Zuspruch von Seiten des Vaters können ihn davon abbringen. Schließlich schickt der Vater ihn nach Kerkyra in die Verbannung. Aber als er alt geworden ist, sendet er nach ihm und bittet ihn, die Herrschaft in Korinth als sein Nachfolger zu übernehmen; und als der Sohn sich weigert, mit ihm zusammenzutreffen, bietet er ihm an, mit ihm zu tauschen und statt seiner nach Kerkyra zu gehen. Das nimmt der Sohn an. Aber er wird von den Kerkyräern getötet, die Periander nicht in ihrer Mitte haben wollen. Diese höchst eindrucksvolle Geschichte wird an der Stelle, wo sie steht, durch die ätiologische Kette einer Reihe gegenseitiger Racheakte103 mit der Erzählung von dem Feldzug der Spartaner gegen Samos, an dem die Korinther teilgenommen haben sollen, verknüpft. Aber diese Kette ist nicht nur sehr dünn, sondern, wie sich später zeigen wird, auch brüdiig104. Soweit die Geschichte eine Beziehung zur Umgebung hat, in welcher sie steht, beruht diese eher auf ihrer Bedeutsamkeit und dem Stil, in dem sie erzählt wird. Die Frevel und Tribulationen des Periander, vor allem hinsichtlich der Nachfolge105, haben eine gewisse, wenn auch entfernte Verwandtschaft mit den Freveln und Tribulationen des despotischen Perserkönigs Kambyses, innerhalb von dessen Geschichte die ganze Abschweifung über den Feldzug der Spartaner gegen Samos und der darein eingeschaltete Abschnitt der Periandergeschidite ihren Platz finden. Aber das ist eine ganz andere Beziehung als diejenige, die zwischen dem Perianderabschnitt und seiner Umgebung von Herodot hergestellt wird. Die dritte und ausführlichste Erwähnung des Periander findet sich im fünften 106 Buch, in der Rede des Korinthers Sokles, mit der er die Lakedämonier von dem Plane abzubringen sucht, den Tyrannen Hippias wifcder nach Athen zurückzuführen, um auf diese "Weise Athen zu schwächen. Er schildert an dem Beispiel des Periander und seines Vaters Kypselos das Schreckliche der Tyrannis und beschwört die Lakedämonier bei allen Göttern Griechenlands, in keiner griechischen Stadt die Tyrannis einzuführen. In diesem Fall ist es fraglich, ob die beiden Geschichten 307

über Periander, die im dritten und die im fünften Buch erzählte, ursprünglich miteinander verbunden gewesen sind; was in der einen und in der andern über Periander und seine Frau Melissa gesagt wird 107 , ist nicht ganz leicht zusammen vorzustellen. Aber es ist leicht zu sehen, warum der im dritten Buch erzählte Konflikt zwischen Periander und seinem Sohn Lykophron nicht im Zusammenhang der Rede des Sokles erzählt werden konnte: der Bericht von den Tribulationen des Periander und seinem endlichen Nachgeben dem Sohn gegenüber hätte die Darstellung der Schrecklichkeit des Tyrannen abgeschwächt. A n der Polykratesgeschichte und an der in sie eingeschalteten Periandergeschichte läßt sich nun etwas von dem Prozeß der Entstehung, der Formung und der Einfügung von Geschichten in den Gesamtverlauf der historischen Darstellung besonders deutlich greifbar machen. D a ß Herodot sich über die Geschichte von Samos im sechsten Jahrhundert ausführlicher ausläßt, obwohl diese weder für die Geschichte des Perserreiches, noch für die Geschichte der großen Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident eine wesentliche Bedeutung hat, hat wahrscheinlich nicht nur, obwohl zweifellos auch den Grund, den er selbst angibt108, nämlich, daß sich Samos durch die großartigsten von Menschen geschaffenen Anlagen und Werke auszeichnete, sondern auch den, daß er enge persönliche Beziehungen zu der Insel hatte 109 . Daher kommen seine Detailkenntnisse, die er nicht untergehen lassen wollte und daher, da er kein anderes "Werk verfaßt hat, an irgendeiner Stelle unterbringen mußte. Daß dies auf eine etwas gewaltsame Weise geschah, dessen war er sich durchaus bewußt. Deshalb entschuldigt er sich am Ende gewissermaßen 110 . Im Zusammenhang damit war ihm auch die Geschichte vom Ring des Polykrates zugekommen. Ihre Form aber hat diese von Herodot zweifellos im Zusammenhang mit den lydischen Geschichten erhalten, denen sie sowohl ihrem Gehalt wie ihrem Stil nach ganz nahe steht. Bei der Einfügung in das Gesamtwerk aber ist sie dann doch in zwei Teile auseinandergerissen worden, weil der eine Teil davon an einer Stelle gebraucht wurde, an die der andere Teil nicht paßte, der dann selbst an eine Stelle gesetzt wurde, wo sich doch eine gewisse Beziehung zu seiner Umgebung herstellen ließ. Aber davon, daß alles von Anfang an für die Stelle aufgesucht und niedergeschrieben worden wäre, an der es jetzt steht, kann gar keine Rede sein. Dasselbe gilt für die Geschichte von Periander und seinem Sohn Lykophron 111 , die zwar nicht ihrem religiösen Gehalt, wohl aber ihrer dramatischen Gestaltung menschlicher Konflikte und menschlichen Leidens nach ebenso wie stilistisch ebenfalls mit der Kroisosgeschichte und mit der 308

Geschichte von der „Versuchung" des Psammenit, in der Kroisos noch selbst auftritt, in eine Reihe gehört.

b Auf die Erzählung vom Tode des Kambyses folgt 112 die Darstellung der Entlarvung und Tötung des falschen Smerdis und der Thronbesteigung des Dareios. Darein sind alle Arten von teils spezifisch orientalischen, teils auch anderwärts weit verbreiteten Fabelmotiven verwoben 113 , die hier nicht im einzelnen erörtert zu werden brauchen, da sie einerseits dem Herodot zweifellos unmittelbar bei der Suche nach Nachrichten über eben dies geschichtliche Ereignis zugeflossen sind, andererseits keine tiefere Bedeutung für die Deutung des Geschehens haben. Was aber tatsächlich historisch geschehen ist, läßt sich in diesem Falle ganz außerordentlich schwer feststellen, da nicht nur die Darstellung des Herodot voll von fabelhaften Elementen ist, sondern auch die offiziellen Darstellungen des Dareios, die sidi inschriftlich erhalten haben, vieles enthalten, was stark den Verdacht erweckt, daß das, was sich tatsächlich ereignet hat, verschleiert werden sollte 114 . Bei dem völligen Mangel an sonstigen zuverlässigen Dokumenten wird es, falls keine neuen Zeugnisse gefunden werden, wohl immer unmöglich bleiben, den wirklichen Vorgang mit einiger Sicherheit zu rekonstruieren. So viel aber ergibt sich mit Sicherheit sowohl aus den persischen Dokumenten wie aus der Darstellung Herodots, daß die Beseitigung bzw. Tötung des „falschen Smerdis", des Bardiya und/oder Gaumata, sei es nun, daß er der legitime Thronfolger oder ein Usurpator, der sich durch Betrug an diese Stelle gesetzt hatte, gewesen war, zunächst von schweren inneren Wirren im Perserreich gefolgt war, und zwar nicht nur von A u f ständen in den von den Persern unterworfenen, von fremden Völkern bewohnten Gebieten, wie vor allem in Babylonien, sondern auch in den verschiedenen Teilen des medischen und persischen Kernlandes selbst. Auch handelt es sich bei den Aufständen und Wirren in diesen Kernlanden offenbar nicht nur um Kämpfe zwischen verschiedenen Anwärtern auf den Königsthron, sondern auch um den Versuch verschiedener Angehöriger „fürstlicher" Geschlechter, sich mehr oder minder unabhängig zu machen. Im großen und ganzen kann man vielleicht sagen, daß die Zustände eine gewisse Ähnlichkeit hatten mit den Zuständen nach dem T o d Alexanders des Großen, freilich mit dem sehr wesentlichen Unterschied, 309

daß die nationalen Traditionen bei den unterworfenen Völkern noch zu stark waren, als daß ein persischer „Diadochenkönig" hätte in Babylon und Ägypten unabhängig oder gar im Gegensatz zu einem König im persisch-medischen Stammland herrschen können. Damit ist vielleicht im Positiven und Negativen das bezeichnet, was für die richtige Beurteilung der Erzählung Herodots von der Diskussion der Staatsformen, die unter den Verschworenen nach der Tötung des „falschen Smerdis" stattgefunden haben soll, grundlegend ist. Diese Geschichte115, nach welcher die sieben Verschwörer gegen den falschen Smerdis nach dessen Ermordung darüber beraten haben sollen, ob die Monarchie wieder herzustellen oder statt dessen eine Demokratie oder Oligarchie einzuführen sei, wird meistens damit abgetan, daß gesagt wird, es verstehe sich von selbst, daß nur eine despotische Monarchie, wie sie bisher bestanden hatte, in Frage kommen konnte. Die von Herodot erzählte Geschichte von der Diskussion der Staatsformen sei daher trotz mehrfacher Beteuerung Herodots, daß sie wirklich stattgefunden habe, eine reine Erfindung, wahrscheinlich Herodots selbst. Nun kann freilich nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß die Unterredung so, wie sie bei Herodot erzählt wird, unter Persern nicht stattgefunden haben kann und bei weitem der größte Teil davon auf rein griechischen Vorstellungen und Erfahrungen beruht. Aber es macht für die Beurteilung von Herodots „Quellen" und seines Verhältnisses zu ihnen doch einen großen Unterschied, ob es in den persischen Verhältnissen nach der Ermordung des „falschen Smerdis" etwas gab, an welches solche Spekulationen anknüpfen konnten oder nicht. Dafür aber dürften drei Tatsachen von grundlegender Bedeutung sein: i. daß freilich das Persische "Weltreich nur unter einer despotisch-monarchischen Regierung weiterbestehen konnte: darin haben die radikalen Kritiker der Erzählung Herodots unzweifelhaft recht. Dem steht jedoch gegenüber, daß 2. ein volles Jahr lang nach der Ermordung des „falschen Smerdis", d. h. vom September 522 bis etwa November 521 v. Chr 1 1 6 , tatsächlich das Weiterbestehen des Reiches schwer gefährdet war, und zwar nicht nur durch den Kampf zwischen verschiedenen Thronanwärtern, sondern auch durch das Streben medisch-persischer Dynasten nach größerer Unabhängigkeit. 3. Daß Dareios zum mindesten zu Anfang seiner Regierung, wie aus den persischen Dokumenten und den Berichten des Herodot und anderer griechischer Schriftsteller hervorgeht, gezwungen war, denjenigen Dynasten nebst ihren Familien, die ihn bei der Gewinnung der Macht unterstützt hatten, beträchtliche Zugeständnisse in Gestalt von Privilegien zu machen. 310

Es ist dann vielleicht nicht ganz uninteressant, sich die Erzählung Herodots von diesem Gesichtspunkt aus etwas näher anzusehen. Drei Regierungsformen werden daselbst vorgeschlagen und diskutiert: Demokratie, Oligarchie und Monarchie. Jeder Vorschlag ist von einer scharfen Kritik an den beiden andern Staatsformen begleitet. Der erste der sieben „Verschworenen", Otanes, beginnt117 mit einer scharfen Kritik der absoluten Monarchie, indem er auf den Wahnsinn des Kambyses hinweist sowie darauf, daß die Entlarvung des Usurpators sehr dadurch erschwert gewesen sei, daß er sich allen seinen Untertanen unzugänglich in seinem Palast verborgen gehalten habe. Dann geht er zu allgemeineren Betrachtungen über und führt aus, daß ein Mann, der alle Macht habe und keinerlei Kontrolle unterworfen sei, notwendig den Verstand verlieren müsse118. Ja, paradoxerweise werde ein solcher Mann nicht nur übermütig werden, sondern auch noch von cpftövog, von Scheelsucht, erfüllt sein, obwohl ein Mann, dem alles zu Gebote steht, gerade davon völlig frei sein sollte. In Wirklichkeit aber sehe er mit Mißtrauen auf die „Besten" und sei immer bereit, bösen Einflüsterungen sein Ohr zu leihen. Was aber am allerparadoxesten sei: wenn man ihn nur mit Maßen verehrt, ist er böse, weil ihm nicht gewaltige Ehre gezollt wird, tut man dies aber, wird man von ihm als Schmeichler verachtet. Das Schlimmste freilich sei, daß er vor keiner Tradition Respekt hat, Frauen vergewaltigt und Menschen ohne Gerichtsverhandlung hinrichten läßt. Das Bild, das hier von Otanes gezeichnet wird, ist zweifellos in seinen Hauptzügen das Bild eines griechischen Tyrannen in seiner schlimmsten Ausprägung. Gleich was zu Anfang über den H a ß des Tyrannen gegen die „Besten" gesagt wird, hat seine Parallele in dem Rat, welchen der Tyrann Thrasybul bei Herodot seinem korinthischen Kollegen Periander durch eine symbolische Handlung gibt119, indem er durch ein Ährenfeld hindurchgeht und immer die höchsten Ähren, die über die übrigen hinausstehen, abschneidet und wegwirft. Es entspricht ebenso wie das unmäßige Bedürfnis nach Lob und Ehrung bei gleichzeitigem Mißtrauen gegen diejenigen, die solches Lob und solche Ehren spenden, dem natürlichen Verhalten einer jeden Regierung, die sich unsicher fühlt und nur mit Gewalt sich an der Macht erhalten kann, wofür die Beispiele aus der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit nicht schwer zu finden sind, zur Zeit Herodots jedoch die im Verfolg von Parteikämpfen zur Macht gekommenen griechischen Tyrannen das beste Anschauungsmaterial lieferten. Aber ganz unanwendbar auf die Zeit unmittelbar nach der Thronbesteigung des Dareios ist es doch nicht. Die inschriftlichen Rechenschaftsberichte aus der 3 "

Frühzeit der Herrschaft des Dareios sind keineswegs frei von jenem übermäßigen Bedürfnis nach Rechtfertigung und Lob 120 , welches ein Zeichen von Unsicherheit ist; und auch Bestrebungen, der absoluten Macht des Herrschers gewisse Schranken zu setzen, können kaum geleugnet werden, wenn sie auch auf die Dauer keinen Erfolg gehabt haben. Daß der Herrsdier Untertanen beliebig ohne Gerichtsverhandlung hinrichten lassen kann, ist eher ein Wesenszug des orientalischen Despotismus als der griechischen Tyrannis, wenigstens in ihrer milderen Form. Erst mit dem Gegenbild der Demokratie, das Otanes der Monarchie entgegenstellt, entfernen wir uns ganz von den im Orient gegebenen Möglichkeiten. Zwar daran, daß gemeinsame Beschlüsse vom „Volk", d. h. von der Versammlung der Krieger, gefaßt wurden 121 , mochte es bei dem Bergvolk der Perser wohl noch eine Erinnerung geben, und noch unter Kyros mochte es so zugegangen sein. Aber schon der Gebrauch des Wortes „Demos" für Volk bringt eine ganz und gar griechische und unorientalische Vorstellung hinein, und mit der von Otanes angeblich vorgeschlagenen Wahl der „Regierung 122 " durch das Los befinden wir uns vollends in Athen, wie es auch spezifisch athenisch und nicht einmal gemeingriechisch ist, daß der Begriff der laovojna, eine Bezeichnung, die Otanes als xäMiatov ovopia charakterisiert, im eindeutig demokratischen Sinne verstanden wird, während er sonst auch die Gleichheit „unter Gleichen", z. B. den spartanischen Vollbürgern, bezeichnen kann 123 . Die Rede des Otanes ist also ein Gemisch von athenischen, von gemeingriechischen und, wenn auch zum geringsten Grade, von solchen Elementen, die doch auch etwas persischen Verhältnissen entsprachen, bzw. von Betrachtungen, welche bis zu einem gewissen Grade auf persische Verhältnisse zur Zeit der Thronbesteigung des Dareios und kurz danach anwendbar waren. Ähnlich ist es mit der darauffolgenden Rede des Megabyzos 124 . Nur steht hier umgekehrt wie bei Otanes das rein Griechische am Anfang. Die Verdammung der Herrschaft der unvernünftigen und ungebildeten Masse hat gewiß nichts mit persischen Verhältnissen zu tun, schon weil es solche Erfahrungen dort nicht gab. Sie ist aber auch nicht spezifisch athenisch. Zwar finden sich gewisse Analogien dazu in der von einem unbekannten athenischen Oligardien, wahrscheinlich in den allerersten Jahren des peloponnesischen Krieges oder unmittelbar vorher, also ungefähr um die Zeit, um welche Herodot sein Werk abgeschlossen haben muß 125 , verfaßten pseudoxenophontischen Schrift vom Staate der Athener 126 , viel nähere jedoch in den Gedichten des Theognis 127 . Der Vergleich mit dem Bergstrom, der alles mitreißt, scheint unmittelbar von dort zu stammen, 312

wenn auch das Bild selbst schon in der Ilias vorkommt 128 . Hier ist es umgekehrt der Vorschlag am Schluß: den Vornehmen Anteil an der Regierung zu geben, bzw. diese einem Gremium der vornehmsten Männer anzuvertrauen, der cum grano salis eine gewisse Anwendbarkeit auf persische Verhältnisse hat, wenn auch nicht in der Form, in welcher er vorgetragen wird. Es bestehen Anzeichen dafür, daß Dareios den Dynasten, die ihn vor allem unterstützt hatten, eine gewisse zum mindesten beratende Funktion bei der Regierung einräumen mußte, eine Beschränkung, von der er sich dann jedoch bald frei gemacht hat. Vor allem interessant ist jedoch die letzte Rede, die des Dareios 129 . Er nimmt zunächst einfach den Gedanken des Megabyzos auf und wendet ihn dann gegen die Oligarchen: Wenn es richtig ist, daß die Herrschaft der Besten am besten ist, dann erst recht die Herrschaft des Besten. Denn in der Oligarchie will naturgemäß jeder der Beste sein: nicht nur im Sinne dpe-rn, sondern auch insofern, als er seine Meinungen, welche er für die besten hält, mit aller Macht durchsetzen will. Daraus entstehen erbitterte Feindschaften, bis einer sich durchgesetzt hat, und dann hat man die Monarchie, die audi insofern die beste Regierung ist als dieser eine, der sich als „der Beste" durchgesetzt hat, am besten alles zum Wohle des Volkes regeln kann, ohne daß ihm jemand in den Weg kommt, und daß die notwendigen Staatsgeheimnisse auf diese Weise am besten gesichert sind. Auch darin ist zweifellos das meiste, wenn nicht alles, den griechischen Erfahrungen entnommen, aber geschickt den persischen Verhältnissen angepaßt. Wenn man von Sparta absieht, das dann im fünften Jahrhundert als Prototyp der Oligarchie gilt, aber seiner Struktur nach ganz anders ist, hat man vom letzten Viertel des siebten bis gegen Ende des sechsten Jahrhunderts in den griechischen Oligarchien überall zunächst die Kämpfe der adligen Faktionen, dann das Hervortreten von einzelnen, von denen nicht wenige mit der Hilfe der unteren Klassen die Alleinherrschaft erringen, wofür dann allmählich der Terminus der Tyrannis üblich wird. In der Rede des Dareios klingt dieser Ursprung der Tyrannis gerade noch in den Worten EJTITQOHETJOI av &N,CO[ir)T(OG TOT3 I D ^ E O S an. Im übrigen ist jedoch alles auf den Wettstreit von einzelnen abgestellt, um es der Situation einer Diskussion zwischen den Sieben anzupassen. Höchst eigentümlich ist endlich, was Dareios am Ende gegen die Demokratie vorzubringen hat. Während er zugesteht, daß in der Oligarchie die ägiatoi herrschen, und nur zu beweisen versucht, daß der Anspruch vieler darauf, individuell jeweils der äpiatog zu sein, zu Unzuträglichkeiten führe, spricht er hinsichtlich der Demokratie die Uberzeugung aus, 3i3

daß es da viel „Schlechtigkeit" geben müsse. Die Schlechten aber gerieten nicht auf dieselbe Weise miteinander in Konflikt wie die ä^iaroi. Vielmehr bildeten sich unter ihnen starke Freundschaften zum Nachteil des Gemeinwohles und das gehe so lange, bis einer sich an die Spitze des Volkes stelle und dieses von dieser Art von Leuten befreie. Der werde dann vom Volke bewundert und so komme es wieder zur Monarchie. Da also die beiden andern Verfassungsformen schließlich ohnehin in die Monarchie umschlügen, sei es besser, diese gleich von Anfang an einzuführen. Diese Ausführungen des Dareios sind außerordentlich interessant als das älteste Beispiel der Theorie von einem natürlichen Wandel der Staatsverfassungen (netaßoXri jtoXiteiwv130), die dann in der antiken Staatstheorie eine so große Rolle gespielt hat und bei Polybius zu der Theorie vom Kreislauf der Verfassungen geworden ist, der nur durch die Einführung einer gemischten Verfassung zum Einhalten gebracht werden kann, während in der Rede des Dareios die Monarchie das natürliche Ende des Umschlagens bildet. Das ist durch die vorgegebene historische Situation bedingt. Aber für die Kritik der Demokratie durch Dareios ist es durchaus nicht leicht, weder in den tatsächlichen griechischen, geschweige denn den persischen Verhältnissen, noch in der Literatur das Vorbild zu finden. Von den xaxoi, die in der Demokratie obenauf sind, ist natürlich genug die Rede. Aber was z. B. der Verfasser der pseudoxenophontischen Schrift über die Staatsverfassung der Athener sagt, ist von den Ausführungen des Dareios bei Herodot ganz verschieden. Bei ihm ist das „Volk" weit davon entfernt, die Beseitigung oder Unterdrückung der politisch aktiven itovripoi zu wünschen, und, wenn sie geschehen, denjenigen, der sie herbeigeführt hat, zu bewundern, sondern ist vielmehr davon überzeugt, daß die Schlechtigkeit und Unfähigkeit der JtovriQoi, wenn nur mit demokratischer Gesinnung verbunden, ihm nützlicher ist, als die Tüchtigkeit der „Besten", die auf das Volk herabsehen und der Uberzeugung sind, daß es nur der natürlichen Gerechtigkeit entspricht, wenn die Besten zuerst dafür sorgen, daß es den „Besten" gut geht, und sich, wenn überhaupt, erst in zweiter Linie um das gewöhnliche Volk kümmern 131 . Am nächsten scheint dem, was Dareios bei Herodot sagt, noch das Verspaar in der Theognissammlung132 zu kommen: JT0X15 T^SE. ÖEÖoixa ÖE ¡IT) TEXXI ävöga E i j f t u v T f j Q a xaxf¡5 üßgEcog fijXETegrig. Aber der faktische politische Hintergrund, auf den sich diese Verse beziehen, ist auch ganz anders. Soweit die Argumente des herodoteischen Dareios auf Erfahrungen beruhen, scheinen es Erfahrungen zu sein, von K V Q V B , XVEI

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denen sich keine unmittelbare historische Kunde erhalten hat. Doch besteht bemerkenswerterweise eine gewisse Affinität zwischen den von „Dareios" geschilderten Verhältnissen und den Zuständen, welche beim Emporkommen des Deiokes vorausgesetzt werden133. Am Ende der Rede des Dareios endlich134 kommt noch ein ganz und gar persisches Element zur Geltung. „Woher", fragt er, „haben wir eigentlich unsere eT.EufreQia, von einer Demokratie, einer Oligarchie, oder von einem Monarchen?" Die Antwort ist natürlich: „von Kyros". Damit ist die Kontroverse entschieden. Die vier, die noch nicht gesprochen haben, schließen sich der Meinung des Dareios an; und es braudit nur noch entschieden zu werden, wer von den Sieben nun König werden soll. Darüber erzählt dann Herodot die hübsche Geschichte von dem Wiehern des Pferdes und dem Trick des Oibares, des Stallmeisters des Dareios, auf die hier nicht weiter eingegangen zu werden braucht135. Daß nun die Geschichte von der Diskussion der sieben persischen Verschworenen neben einer Mehrzahl von ganz und gar griechischen Elementen auch ein paar unzweifelhaft persische Elemente enthält, beweist gewiß nicht, daß eine solche Diskussion vor der Thronbesteigung des Dareios wirklich stattgefunden hat, geschweige denn, daß in einer solchen Diskussion auch nur Elemente dessen, was Herodot erzählt, vorgekommen wären. Aber es ist für die Frage des Ursprungs der Erzählung doch nicht ohne Bedeutung. Uber die Frage, ob Herodot diese Geschichte selbst erfunden hat oder, sei es vollständig, sei es in ihren wesentlichen Teilen, von einer früheren Vorlage übernommen habe, ferner, welches wohl im zweiten Fall diese Vorlage gewesen, oder welche Einflüsse im ersten Fall auf sie eingewirkt haben mögen, ist unendlich viel geschrieben worden. Doch kann man zwei Antworten, die bei einer großen Anzahl von Gelehrten Annahme gefunden haben, wohl sogleich als sicher unrichtig eliminieren. P. E. Legrand hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die mehrfache nachdrückliche Versicherung Herodots 136 , das Gespräch habe tatsächlich stattgefunden, darauf hinweist, daß er es zum erstenmal öffentlich mitgeteilt hat, daß es also nicht aus einer veröffentlichten schriftlichen Vorlage stammen kann. Mindestens ebenso unwahrscheinlich ist es jedoch, daß Herodot das ganze Gespräch erfunden hat. Der Grund für eine solche Erfindung könnte nur gewesen sein, daß Herodot die Vorzüge und Nachteile der verschiedenen Verfassungsformen diskutieren wollte und nach einer Gelegenheit für eine solche Diskussion suchte. Es hätte aber dafür zweifellos bessere Gelegenheiten gegeben als die Situation nach der Ermordung des falschen Smerdis. Denn dort lag der Ausgang 315

zugunsten der Monarchie durch die historischen Gegebenheiten fest. Daß dieser Ausgang keineswegs den Uberzeugungen Herodots entsprach, beweisen die eAevftepia-Geschichten in den drei letzten Büchern seines Werkes im Verein mit der Rede des Korinthers Sokles über die Tyrannis des Periander im fünften Buch. Aber auch die Erzählung vom Emporkommen des Deiokes, obwohl in gewisser Weise eine Parallele und Erläuterung zu den Ausführungen des Dareios über das notwendige Umschlagen von Demokratie und Oligarchie in Monarchie, ist eher eine Warnung, daß Anarchie zu Despotismus führt, als eine Anerkennung oder Wünschbarkeit der Monarchie als solcher. Man müßte also annehmen, daß Herodot seine Erfindungen raffiniert so verteilt hätte, daß sie sich gegenseitig ergänzen und einschränken. Aber für ein so raffiniertes Verfahren Herodots in einem Werk, in dem vieles, wie sich gezeigt hat, unausgeführt geblieben ist, anderes sich durchkreuzt, spricht nichts. Es spricht daher alles dafür, daß die Erzählung von der Diskussion der Sieben über die Verfassung durch mündliche Tradition auf Herodot gekommen ist. Stellt man demnach die weitere Frage nach dem Ursprung der Geschichte, so hat sich vor allem eine Kontroverse darüber entwickelt, ob ihre Entstehung in einem Kreise von älteren mit Namen nicht bekannten ionischen „Sophisten" zu suchen sei oder ob sie von Protagoras und seinem Kreis stamme, wenn nicht gar ihrem Kern nach aus einer von dessen Schriften entnommen sei. „Sophistischen" Geist glaubt man in jedem Falle in ihr zu entdecken. Nun ist es keineswegs unwahrscheinlich, daß Herodot mit dem ihm ungefähr gleichaltrigen oder wenig jüngeren Protagoras, der an der Gründung von Thurioi, in dem Herodot später Bürgerrecht erwarb, beteiligt war, zusammengetroffen ist und möglicherweise auf die eine oder andere Art von ihm beeinflußt wurde, obwohl sein Verhältnis zu religiösen Dingen von dem des Protagoras und der Sophisten im engeren Sinne toto coelo verschieden war. Aber was sich an „staatstheoretischen" Gedanken des Protagoras rekonstruieren läßt, ist ganz und gar theoretisch, und es bestehen keinerlei Anzeichen dafür, daß Protagoras Geschichten, in welchen sich ganz spezifisch historische mit rein theoretischen Elementen mischen137, wie es in der Geschichte von der Diskussion der sieben Verschwörer der Fall ist, erzählt oder erfunden hätte. Die Auffassung von den „ionischen" Sophisten andererseits ist durch die Wahl dieses Ausdrucks nicht sehr glücklich formuliert, insofern der Begriff des „Sophisten" hier nicht eindeutig definiert ist. Aber es liegt doch darin vielleicht die richtige Einsicht, daß die „Sophistik" nicht, 316

wie es in den meisten Philosophiegeschichten aussieht, mit Protagoras plötzlich aus dem Nichts heraus ihren Anfang genommen hat, sondern das, was später die Sophisten charakterisiert, dem Inhalt nach in Ansätzen schon viel früher zu finden ist, und daß nur der Entschluß, aus der Sophistik einen Beruf zu machen, mit großer Wahrscheinlichkeit auf den einen Protagoras als ersten zurückgeführt werden kann. Das „sophistische", d. h. bis zu einem gewissen Grade relativistische Denken hat sich, ebenso wie das wissenschaftliche Denken und die Philosophie, welche anstelle der als „relativ" erkannten Traditionen eine neue gesicherte Erkenntnis zu setzen versuchten, zweifellos aus der Auseinandersetzung der Griechen mit einer fremden, kulturell z. T. zunächst überlegenen Umgebung entwickelt. Insofern ist die Vorstellung von den „ionischen Sophisten" durchaus richtig, sowenig Grund auch für die Annahme besteht, daß es unter den kleinasiatischen Griechen vor Protagoras berufsmäßige Sophisten gegeben habe. Aus dieser Umgebung und aus der hier stattfindenden Auseinandersetzung mit den verschiedensten Lebensformen stammen offenbar die ersten Ansätze zu Herodots Erzählung und vor allem auch die persischen Elemente in ihr. Das letzte Argument des Dareios zugunsten der Monarchie sieht geradezu aus wie die Antwort eines Persers auf das Rühmen der EXeti^egia durch die Griechen: "Was wollt ihr eigentlich mit eurem Gerühm der griechischen ilEvÜEQia im Gegensatz zur Monarchie? Wir haben unsere E/.sir&eQia ja gerade einem König zu verdanken. In dieser Umgebung ist dem Herodot auch, wie aus seinen eigenen Angaben hervorgeht — vielleicht gegen Zweifel, die er selber hegte - , das Argument für die Geschichtlichkeit der Diskussion der Sieben aus der Demokratisierung der ionischen Städte durch Mardonios geliefert worden. Daß dann im Laufe des Weitererzählens eine Menge rein griechischer Elemente mit eingedrungen sind, ist nicht verwunderlich. Auch Herodot, der ja, wie sich gezeigt hat, überall die Geschichten, die ihm erzählt worden sind, in eine pointiertere Form gebracht hat, mag dazu bewußt oder unbewußt beigetragen haben. Die Erzählung hat ihn in der Form, in welcher sie ihm zugetragen worden ist, zweifellos lebhaft interessiert als Beitrag zu der Dialektik der E^evdeQia an sich und in ihrem Verhältnis zu den Staatsformen, welche ihn in einem gewissen Stadium der Abfassung seines Werkes so stark beschäftigt hat. Aber auch hier ist es wieder charakteristisch für ihn, daß er sie an der Stelle in sein Werk eingefügt hat, an welcher sie ihrer historischen Einkleidung nach gehört, nicht an einer Stelle, an welcher die in ihr diskutierten Probleme in anderem Zusammenhang behandelt werden. Die Ein3i7

fügung in das Gesamtwerk wird also durch historisch-chronologische, nicht durch systematische Gesichtspunkte bestimmt. Damit erübrigt sich auch die viel diskutierte Frage, ob Herodot ein „pragmatischer Denker und ein „wirklich politisch orientierter Geschichtsschreiber" gewesen sei. Sie kann in dieser Form überhaupt nicht beantwortet werden. An Herodots Interesse für theoretische Fragen der Staatsform kann kein Zweifel sein. Aber er theoretisiert nie direkt. Das theoretische Interesse wird bei ihm — darin ist er schon echter Historiker im späteren Sinn — nur durch die Auswahl der erzählten Ereignisse und die in deren Darstellung eingeflochtenen Einzelgeschichten hindurch sichtbar. Auf der andern Seite ist es nicht minder charakteristisch für Herodot, daß das theoretische Element bei ihm vor allem durch solche Einzelgeschichten hindurch sichtbar gemacht wird, die sozusagen das repräsentieren, was sich die Leute damals erzählten, deren rein faktische Historizität dagegen genauer zu erforschen Herodot offenbar nicht den Versuch gemacht hat138. c Auf die mit Legenden durchsetzte Darstellung des Emporkommens des Dareios folgt bei Herodot139 zunächst ein kurzes Kapitel, in welchem von den Frauen berichtet wird, die sich Dareios nach der Thronbesteigung nahm, Heiraten, welche offenbar der Befestigung seiner Herrschaft dienen sollten, und zwar einerseits und vor allem durch Anknüpfung an die bisher herrschende Familie, so die Heirat mit Atossa140, der Tochter des Kyros und Gemahlin des Kambyses, und mit einer andern noch unvermählten Kyrostochter Artystone, die beide älter gewesen sein müssen als Dareios, sowie mit einer Tochter des echten „Smerdis", des Bruders des Kambyses, andererseits durch Verbindung mit den mächtigsten Dynasten, so die Heirat mit einer Tochter des Otanes. Diese dynastiestiftenden Heiraten, von denen einige auch anderweitig gut bezeugt sind, dürften alle historisch sein. Es folgt bei Herodot eine Liste der persischen Satrapien unter Dareios, die in anderem Zusammenhang erörtert werden wird 141 , sowie ein Verzeichnis von Völkerschaften, welche, ohne dem persischen Reich einverleibt zu sein, doch dem Perserkönig Tribut zahlen oder „Geschenke" bringen. Daran schließt sich142 ein Exkurs über die verschiedenen indischen Völkerschaften einschließlich derer, die zu den Persern in keinerlei Verhältnis mehr stehen, und daran ein weiterer Exkurs143 über die „Enden der Welt" und die eigentümlichen und seltsamen Dinge, die dort zu finden 318

sind. Diese letzteren Abschnitte enthalten neben einer Reihe, soweit diese Völker mit den Persern in unmittelbarem Verkehr stehen, mehr oder minder zutreffender ethnographischer Angaben viele ganz fabulöse Geschichten, wie die von den goldgrabenden Ameisen und der Art, wie ihnen die Inder unter den größten Gefahren das Gold abjagen144, von den Löwinnen, die nur jeweils ein einziges Junges zur Welt bringen können, da ihnen das Junge vor der Geburt die Eingeweide zerreißt14S, wobei sidi Herodot keine Gedanken darüber gemacht zu haben scheint, daß unter solchen Voraussetzungen die Spezies der Löwen in kurzer Zeit ausgestorben sein müßte, und vieles andere mehr. Es sind Fabeleien, wie sie im Orient (und teilweise auch anderweitig) zu allen Zeiten umliefen. Manches findet sich auch in Tausend und Eine Nacht in leicht veränderter Form wieder146. Das im vorliegenden Zusammenhang Interessanteste daran ist, daß Herodot an dieser Stelle die tollsten Angaben, wie über die gefährlichen Ameisen, denen auf der Flucht vor ihnen je zwei Kamele geopfert werden müssen147 und die über die Löwin, die nur ein Junges zur Welt bringen kann, ganz ohne Kritik zu üben, vorbringt, und nur am Schluß, wo er auf die Enden der Erde im Norden zu sprechen kommt, also die Grenzen von Nordeuropa, sagt148, darüber habe er nichts Sicheres oder Glaubwürdiges in Erfahrung brigen können, obwohl es sich gerade hier um durchaus glaubwürdige und im wesentlichen richtige Angaben handelt. Die beiden Dinge, von denen er sagt, er wisse nichts von ihnen oder gar, er nehme das von ihnen Behauptete nicht an, sind die Zinninseln, von denen das Zinn, und der Eridanos, der sich in das Nordmeer ergießen und von dem der Bernstein kommen soll. Bei den Kassiterides gibt er weiter keinen Grund an, warum er von ihrer Existenz nichts weiß, obwohl er doch von ihnen gehört haben muß, da er sie sonst nicht erwähnen könnte. Beim Eridanos dagegen sagt er, das sei ein griechischer Name: Wer sollte den einem so fernen Fluß gegeben haben? Dazu hat man mit Recht bemerkt, daß die Behauptung, es sei ein griechischer Name, offenbar nicht meinen kann, er lasse sich aus der griechischen Sprache ableiten, sondern nur, daß es einen bekannten Fluß, die Rhone, gab, die bei den Griechen diesen Namen hatte, wodurch das Argument sehr schwach wird. Aber der wahre Grund, warum Herodot von den Zinninseln und dem nördlichen Eridanos im wörtlichsten Sinne „nichts wissen will", kommt im darauffolgenden Satz zum Vorschein: „Das aber habe ich, obwohl ich midi sehr darum bemüht habe, von niemandem, der es mit eigenen Augen gesehen hätte, in Erfahrung bringen können: daß es jenseits von Europa (im Norden) ein Meer gibt149." 3i9

Der Kontrast zwischen der Enthaltung von jeder Kritik, die Herodot bei der Wiedererzählung der fabulösesten Geschichten von den übrigen Enden der Welt übt, und der Ungläubigkeit, die er hier auf einmal ganz nüchternen, wenn auch im einzelnen wohl nicht sehr bestimmten150 Nachrichten gegenüber zeigt und mit nicht sehr durchschlagenden Argumenten zu begründen sucht, ist so groß, daß er nicht gut zufällig sein kann. Er läßt sich aber sehr leicht erklären, wenn man sich an Herodots Bekämpfung der Kontinentetheorie im zweiten und vierten Buch seines Werkes erinnert 151 . Wenn sich über die Grenzen Europas im Norden etwas feststellen läßt und diese Grenzen durch ein Meer gebildet werden, verliert seine Kritik an Hekataios und seinen Nachfolgern einen guten Teil ihrer Durchschlagskraft. Daher sind ihm schon die Zinninseln, weil sie Inseln sind, mehr aber noch der in Europa nach Norden fließende und dort ins Meer einmündende Fluß unangenehm. Ist dies aber so - und ich wüßte nicht, wie diese Stelle anders plausibel erklärt werden sollte - , dann ist dieser Abschnitt eine Bestätigung für das, was sich über die Entstehung des Werkes und das Verhältnis zwischen der ersten Sammlung geographischen und ethnographischen Materials und seiner Einfügung in die Komposition des Ganzen früher ergeben hat. Dem Herodot zugeflossen sind die Geschichten über die Enden der Welt und die dort zu findenden Kuriositäten im Zusammenhang seiner Forschungen über die Gestalt der Erdoberfläche. Aber er hat dann nicht das Ganze als einen zusammengehörigen Komplex beisammen gelassen, sondern es in verschiedene Teile aufgeteilt und diese, so gut es ging, an solchen Stellen seines Geschichtswerkes eingefügt, wo sie einigermaßen hinpaßten. Sie sind überall ganz äußerlich angefügt und haben mit der umgebenden Geschichtserzählung und den zu dieser gehörigen Einzelgeschichten gar nichts zu tun und sie unterscheiden sich von den letzteren sowohl durch den Inhalt wie durch die Art der Kritik, so weit eine solche hier überhaupt stattfindet. Auf die Geschichten von den Enden der Welt folgen dann wieder Geschichten, welche sich in den geschichtlichen Zusammenhang einordnen und zum mindesten zum größten Teil auch aus Erkundungen und Forschungen stammen, die zu historischen Zwecken unternommen worden sind. Die erste dieser Geschichten , die Geschichte von Intaphernes 1S2 , freilich zeigt in dieser Hinsicht gewissermaßen ein doppeltes Gesicht. Sie gehört in den Zusammenhang der Geschichte der Anfänge der Regierung des Dareios, als dieser sich seiner Herrschaft noch nicht ganz sicher fühlte, vor allem den persischen Großen gegenüber. Als daher einer der sechs Mitverschworenen gegen Smerdis kurz nach Dareios' Thronbesteigung 320

von den ihm zugestandenen Privilegien in einer wilden und gewalttätigen Weise Gebrauch zu machen sucht und dabei die diesen Privilegien ausdrücklich gezogene Grenze überschreitet, erkundigt sich Dareios, ehe er etwas Entscheidendes unternimmt, zuerst sorgfältig danach, ob etwa die andern fünf die Handlungsweise des Intaphernes billigen. Erst als er sich vergewissert hat, daß dies nicht der Fall ist, läßt er Intaphernes festnehmen; nun aber mit seiner ganzen Familie: Und da er argwöhnt, daß es sich um mehr handeln müsse als eine rasche Tat der Überhebung und des Übermuts, beschließt er, die ganze Familie auszurotten. Soweit ist die Geschichte eine Illustration der Unsicherheit und daraus resultierenden Grausamkeit eines VEOV y-oaxdiv, die ganz zu dem griechischen Bilde eines orientalischen Despoten passen. Von da an wird sie jedoch zu einer Problemgeschichte, wenn die Frau des Intaphernes vor den Toren des Palastes so lange jammert, bis der König sich ihrer erbarmt und ihr freigibt, einen ihrer Angehörigen zu wählen, dem er dann das Leben schenken wolle, worauf sie denn ihren Bruder wählt mit der Begründung, da sie keine Eltern mehr habe, könne sie keinen Bruder mehr bekommen, wohl aber einen anderen Mann und andere Kinder. Als Problemgeschichte kommt sie auch in der buddhistischen Märchensammlung des J a t a k a vor 153 und ist, da das Motiv auch sonst in Indien verbreitet ist, wahrscheinlich von dort nach Persien gekommen. Es handelt sich also um die typische Ausschmückung eines zweifellos historischen Vorfalls durch Märchenmotive. In dieser Form ist die Geschichte zu Herodot gekommen. Hier ist nun aber auch die Art, wie die Geschichte in den Zusammenhang eingefügt ist, von einiger Bedeutung für die Entstehung des ganzen Werkes. Auf der einen Seite gehört sie durchaus an diese Stelle als Illustration der Unsicherheit des Dareios zu Beginn seiner Herrschaft. Auf der andern Seite steht sie in gewisser Weise doch auch wieder isoliert. Denn nach der langen Einschaltung über die Einteilung des Reiches unter Dareios und über die Enden der Welt setzt sie ganz unvermittelt ein 154 : „Gleich nach der Erhebung gegen den Mager traf einen der Sieben, die sich gegen ihn erhoben hatten, das Los, daß er sterben mußte wegen des folgenden Frevels." Nach ihrem Ende andererseits folgt zwar unmittelbar 155 die Geschichte von Oroites, dem gegenüber sich Dareios in einer ähnlichen Lage befand wie gegenüber Intaphernes und den er auch beseitigt. Aber der Übergang von der einen zur anderen Geschichte wird durchaus nicht etwa in der Weise hergestellt, daß etwa gesagt würde: „In einer ähnlichen Situation wie im Falle des Intaphernes befand sich Dareios auch im Falle des Oroites" oder dergleichen. Vielmehr beginnt die Erzäh321

lung von Oroites ganz ohne Uberleitung mit Episoden, die noch in die Zeit des Kambyses fallen und zunächst an die früher bei anderer Gelegenheit erzählte Geschichte des Polykrates anknüpfen, so daß erst viel später deutlich wird, warum Herodot die Geschichte an dieser Stelle erzählt, und daß tatsächlich ein innerer Zusammenhang zwischen ihr und der Intaphernesgeschichte besteht. Hier kann man deutlich sehen, daß die Geschichten von Intaphernes und Oroites zwar in den Zusammenhang des Gesamtwerkes eingeordnet und möglicherweise sogar von Anfang an im Hinblick auf eine solche Anordnung gesammelt worden, aber nicht wie die Einzelerzählungen der Lydergeschichte und die Mehrzahl der Geschichten in den drei letzten Büchern des Werkes in den Zusammenhang eingearbeitet sind. Es lassen sich also zweifellos im Innern des Werkes an verschiedenen Stellen verschiedene Stadien der Ausarbeitung beobachten. Dies ist um so interessanter, als die auf die Intaphernesgeschichte folgenden Erzählungen von Oroites, Polykrates und Demokedes, die, wie sich leicht zeigen läßt, aus verschiedenen Quellen stammen, unter sich in einen einheitlichen Komplex zusammengearbeitet sind und so eine Art Konglomerat in sich bilden, das als Ganzes in die Geschichte vom Anfang der Regierung des Dareios — wie sich zeigen wird, im übrigen in nicht ganz konsequenter Weise - eingeordnet ist. Das Ganze beginnt mit der Erörterung der Ursachen eines Anschlages des persischen Satrapen Oroites auf Polykrates und Samos, den dieser noch zu Lebzeiten des Kambyses zur Ausführung gebracht hatte. Herodot kannte darüber zwei Versionen. Nach der einen wollte Oroites sich für die Beleidigung eines von ihm an Polykrates in einer anderen, neutralen Angelegenheit Abgesandten rächen; nach der anderen war er von einem anderen Satrapen zu seinem Unternehmen angestachelt worden, der es ihm zum Vorwurf machte, daß er noch nichts zur Vergrößerung der persischen Macht getan und vor allem die ihm doch sozusagen vor der Nase gelegene Insel Samos noch nicht in persische Gewalt gebracht habe. Wie dem auch sei: da Oroites in Erfahrung gebracht hat, daß Polykrates sich mit großen Plänen trage, beschließt er, dies zu benützen, um ihn in eine Falle zu locken. Er läßt dem Polykrates sagen, er habe sichere Nachricht, daß Kambyses ihn hinrichten lassen wolle. Wenn Polykrates ihm Zuflucht gewähren und ihn zu sich in Sicherheit bringen werde, werde er ihm zum Entgelt dafür die Hälfte seiner gewaltigen Schätze zur Verfügung, stellen, mit denen Polykrates dann seine großen Pläne zur Ausführung bringen könne. Nach einem Intermezzo, bei dem ein Abgesandter 322

des Polykrates auf primitive Weise getäuscht wird, läßt Polykrates sich auf Grund von oder trotz einem zweideutigen Traume seiner Tochter, den er selbst als günstiges, seine Tochter dagegen als schreckliches Vorzeichen deutet156, dazu verleiten, sich selbst zu Oroites zu begeben, um ihn und seine Schätze abzuholen, und wird darauf von diesem festgenommen und gekreuzigt. Doch ist von einer Besitznahme von Samos durch Oroites, die man nach dem Beginn der Erzählung nun erwarten müßte, oder einem Versuch dazu, zu Lebzeiten des Oroites nicht die Rede. Vielmehr berichtet Herodot157, Oroites habe die Samier, die mit Polykrates gekommen waren, in ihre Heimat entlassen und ihnen dazu gesagt, sie sollten froh sein, daß er sie (sc. von der Tyrannis des Polykrates) befreit habe. Die Geschichte wird dann zunächst so weitergeführt 158 , daß Herodot berichtet, es habe nicht sehr lange gedauert, ehe die göttliche Strafe (xiaieg) für seinen Betrug und seine Grausamkeit gegenüber Polykrates den Oroites ereilt habe. Dieser habe die Wirren nach dem Tode des Kambyses und der Herrschaft der Mager benutzt, um den Satrapen von Daskyleion, der ihn ehemals zu dem Angriff auf Polykrates und Samos angereizt hatte, und dessen Sohn zu beseitigen, die unter den Persern ein bedeutendes Ansehen besaßen. Er sei in Sardes geblieben und habe nichts getan, die Sache der Perser den Medern gegenüber zu fördern, und er habe einen Boten, den Dareios an ihn gesandt hatte und der ihm einen Befehl überbrachte, der ihm unangenehm war, auf dem Rückweg durch einen Hinterhalt umbringen lassen. Für alles dies habe Dareios ihn bestrafen wollen, sei aber zunächst unsicher gewesen, ob das dem Oroites unterstehende Militär seinen (des Dareios) Befehlen gehorchen werde oder denen des Oroites. Deshalb habe er einen gewissen Bagaios zu Oroites gesandt, der in Gegenwart der „Leibwache" des Oroites zunächst einige neutrale Botschaften des Dareios verlesen mußte, um zu sehen, wie die Leibwächter sie aufnehmen würden, dann aber, als er sah, daß alles von ihnen mit der größten Ehrfurcht aufgenommen wurde, die Order herauszog, den Oroites festzunehmen und zu töten, die dann auch prompt ausgeführt wurde. Dieser Abschnitt der Erzählung ist deshalb interessant, weil das, worauf es ankommt und was eigentlich auch im Zusammenhang der Geschichte des Dareios das Wichtigste ist: nämlich, daß die Herrschaft des Dareios zunächst noch auf unsicherer Basis ruhte und Dareios selbst zu Anfang durchaus nicht sogleich überall durchzugreifen wagte, ehe er sich vorsichtig der Gesinnung seiner Untertanen versichert hatte, erst im Verlauf der Geschichte und sozusagen nebenbei herauskommt, während man zu 323

Anfang erwarten muß, der Nachdruck liege auf der göttlichen Strafe für das an Polykrates begangene Verbrechen. Jedenfalls ist ganz klar, daß die Erzählung in zwei ganz verschiedene Zusammenhänge hineingehört, in den der Geschichte von Samos, die im folgenden dann auch fortgesetzt wird, und in den der Anfänge der Regierung des Dareios. Dabei ist der Zusammenhang mit der Geschichte von Samos offenbar der ursprüngliche, da damit nicht nur die Erzählung überhaupt, sondern sogar der Abschnitt über den Untergang des Oroites beginnt 159 . Auch ist aus dem Zusammenhang gar nicht recht klar, was es heißen soll, wenn Herodot zu Anfang dieses Abschnittes sagt, Oroites habe in Sardes gesessen und gar nichts getan, um den Persern zu helfen, die von den Medern ihrer Herrschaft beraubt waren. Wenn nicht aus persischen Quellen bekannt wäre 160 , daß in der Anfangszeit der Regierung des Dareios ein medischer Aufstand niedergeworfen werden mußte, wäre man, da Herodot nichts dergleichen erwähnt, versucht anzunehmen, daß der Text 161 korrupt sei und die Bemerkung, Oroites habe nichts getan, um den Persern zu helfen, sich auf die Zeit der Regierung des falschen Smerdis beziehe, statt, dem "Wortlaut entsprechend, auf die Zeit danach. Das historisch wichtigste Ereignis ist also so undeutlich erwähnt, daß der nicht von außerhalb informierte Leser kaum verstehen kann, worum es sich handelt. Endlich beschließt Herodot das Ganze mit der Bemerkung 162 : so habe den Oroites die göttliche Strafe für sein Verhalten dem Polykrates gegenüber getroffen, und kehrt damit zur Geschichte des Polykrates und von Samos zurück. Nur das umfangreiche Mittelstück, in dem ausführlich erzählt wird, wie Dareios sich mit Hilfe eines seiner Getreuen des Oroites entledigte, gehört ganz und gar dem Zusammenhang an, in den die Geschichte jetzt eingeordnet ist. Auch in dem, was unmittelbar auf die Geschichte vom Untergang des Oroites folgt, laufen verschiedene Beziehungsstränge durcheinander. Die Anknüpfung ist zunächst rein chronologisch163: „Kurz nachdem die dem hingerichteten Oroites abgenommenen Schätze nach Susa gebracht worden waren, verstauchte sich Dareios den Fuß." Dann wird erzählt, wie Dareios, nachdem andere Ärzte die Sache nur noch schlimmer gemacht hatten, von Demokedes hörte, der zu dem Gefolge des Polykrates gehört hatte und, da er nicht Samier war, nicht mit den Samiern zusammen von Oroites freigelassen worden war und sich noch immer in jämmerlichem Zustand unter den Gefangenen befand. Damit ist, wenn auch erst nachträglich, eine Beziehung sowohl zu Oroites wie zu Polykrates hergestellt. Nachdem dann erzählt worden ist, wie Demokedes den Dareios heilte und von ihm belohnt wurde, wird die Vorgeschichte des Demokedes nachgeholt und 324

erzählt 164 , aus welchem Grund er seine Vaterstadt Kroton verlassen hatte und auf welche Weise er nach verschiedenen Umwegen zu Polykrates nach Samos gekommen war. Darauf 1 6 5 wird die Geschichte von Demokedes an dem Punkte wiederaufgenommen, bis zu dem sie vorher erzählt worden war, und weitererzählt, wobei sich Vorausweisungen auf eine zunächst noch ferne Zukunft ergeben. Demokedes genießt am persischen Hof nun das höchste Ansehen und auch beträchtlichen Einfluß, so daß er einen elischen Seher, der mit ihm zum Gefolge des Polykrates gehört hatte, freibitten kann. Aber er ist traurig, nicht nach Griechenland zurückzukönnen. Als es ihm gelingt, ein Brustgeschwür der Atossa zu heilen, bedient er sich ihrer Hilfe, um sich die Möglichkeit der Heimkehr zu verschaffen. Von ihm „belehrt" 166 , reizt sie den Dareios dazu auf, einen Kriegszug gegen die Griechen zu unternehmen, um sich bei den Persern in Ansehen zu setzen und sie zu beschäftigen, so daß sie nicht Muße haben, auf aufrührerische Gedanken zu kommen, sowie auch, um ihr lakonische, argivische, korinthische und attische Sklavinnen zu verschaffen. Dann gibt sie ihm den Rat, sich des griechischen Arztes, der an seinem Hofe weilt und der seinen Fuß geheilt hat, zur Erkundung der Verhältnisse in Griechenland zu bedienen. Diese Intrige gelingt. Der König sendet Demokedes als Führer einer Gruppe von persischen Kundschaftern nach Griechenland. Als sie nach Tarent kommen, entkommt Demokedes den Persern mit Hilfe des tarentinischen Königs Aristophilides und begibt sich nach Kroton, wo ihn die Mehrzahl seiner Landsleute gegen die Perser verteidigen, die ihn mit Gewalt holen wollen, obwohl diese drohen, wenn Demokedes ihnen nicht ausgeliefert werde, werde Kroton von dem ersten Angriff der Perser getroffen werden. Nach einem kurzen Abschnitt über die weiteren Schicksale der ohne Demokedes nach Persien zurückkehrenden Perser, erzählt Herodot 167 darauf die Eroberung von Samos durch Dareios. Aber obwohl Herodot diesen Bericht mit den Worten beginnt: Darauf eroberte Dareios Samos, und dies sei die erste griechische oder barbarische 168 Stadt gewesen, die er erobert habe, wird keinerlei innere oder sachliche Beziehung zu der vorangegangenen Geschichte von Demokedes hergestellt. Vielmehr erfolgt diese Eroberung aus einem ganz speziellen und unabhängigen Grund, nämlich dem Syloson, dem Bruder des Polykrates zuliebe, der dem Dareios, als er noch nicht König war, einen großen Gefallen getan hatte 169 und ihn nun bittet, ihn in seine Heimat, aus der er verbannt gewesen war, zurückzubringen. In den Bericht von dieser Eroberung verwoben ist die Geschichte von Maiandrios 170 , der von Polykrates, als er sich zu Oroites begab, zu 325

seinem Statthalter eingesetzt worden war, und nach dem Tode des Polykrates den Versuch gemacht hatte, in Samos die laovopiiri, d. h. wohl die Demokratie, einzuführen und sich selbst dabei nur einige Privilegien als Priester des Zeus Eleutherios vorzubehalten, aber erfahren muß, daß es nicht ganz einfach ist, sich einer Tyrannis unter Bedingungen zu entledigen, so daß er sie behält, bis die Perser unter Syloson erscheinen, worauf er sich bereit erklärt, die Stadt ohne Kampf zu übergeben und selbst die Insel zu verlassen. Aber obwohl Dareios dem mit der Expedition betrauten Otanes die "Weisung gegeben hat, dem Syloson Stadt und Land möglichst unversehrt zu übergeben, ist auch diesem Versuch einer friedlichen Lösung kein Erfolg beschieden. Durch Eingreifen eines Bruders des Maiandrios kommt es zu einem erbitterten Kampf zwischen den Persern und der Garnison der Stadt, in dessen Gefolge Samos auf das grausamste verwüstet und entvölkert wird. Hier ist nun die unorganische und oberflächliche Zusammenfügung von Berichten ganz verschiedenen Ursprungs noch deutlicher als zuvor. Wenn man die Geschichte von Demokedes ernst nimmt, wird dieser zum Anstifter der Perserkriege überhaupt. Aber die Ungeheuerlichkeit, daß ein Mann, um sich persönlich die Heimkehr in sein Vaterland als Privatmann zu ermöglichen, nicht etwa, was öfters vorgekommen ist, fremde Hilfe zur Herstellung von politischen Verhältnissen, die ihm die Heimkehr ermöglichen, in Anspruch nimmt, sondern einen Krieg zur Unterjochung der ganzen Griechenwelt durch die Perser anzettelt, wird von Herodot, der doch der griechischen EXevikpia gegenüber nicht gleichgültig ist, mit keinem "Wort hervorgehoben. Sie scheint freilich seltsamerweise auch den modernen Interpreten nicht aufgefallen zu sein. Der Grund dessen ist offenbar die nicht weniger seltsame Tatsache, daß diese Motivation später keinerlei Rolle mehr spielt. Der mangelnde Zusammenhang zwischen der Demokedesgeschichte und der unmittelbar darauf folgenden Erzählung von der Eroberung von Samos ist schon hervorgehoben worden 171 . Noch deutlicher ist die Folgenlosigkeit der Einzelzüge des Gespräches zwischen Dareios und Atossa. Zuerst hat diese ihn aufgefordert 172 , etwas zu unternehmen, das den Persern zeigt, daß er ein Mann ist. Darauf antwortet Dareios: „Das ist es ja gerade, was ich vorhabe. Ich werde eine Brücke nach Europa schlagen und einen Feldzug gegen die Skythen unternehmen." Das entspricht dem Plane, den Demokedes der Atossa suggeriert hat, jedoch nicht. So antwortet sie: „Ach, laß die Skythen vorläufig gehen. Die laufen dir nicht davon. Unternimm lieber einen Kriegszug gegen Griechenland." Darauf geht der König sofort ein. Aber obwohl er gegen die von der 326

Königin vorgeschlagene Änderung der Reihenfolge der Feldzüge keinerlei Einwände erhebt, ist davon später mit keinem Wort mehr die Rede. Die Unternehmung gegen Samos wird nidit als Beginn der, oder Vorbereitung zur Unternehmung gegen die Griechen überhaupt dargestellt, und nachdem am Ende des dritten Buches noch die Niederwerfung des babylonischen Aufstandes erzählt worden ist, beginnt das vierte 173 Buch mit den Worten: „Auf die Einnahme von Babylon folgte der Zug des Dareios gegen die Skythen. Denn da Asien voll war von Manneskraft und große Einkünfte eingingen, gelüstete es den Dareios, an den Skythen Rache dafür zu nehmen, daß sie früher einmal in Medien eingefallen waren und so mit dem Unrecht angefangen hatten." Sowohl die Motivation der Feldzüge aus dem Atossagespräch wie die Änderung ihrer Reihenfolge sind völlig vergessen. Eine Andeutung freilich davon, daß Dareios mit dem Gedanken spielt, oder schon früher gespielt hatte, sich auch die Griechen zu unterwerfen, kann man am Ende des Berichtes vom Skythenzug des Dareios finden, wo erzählt wird 174 , Dareios habe, als er nach Beendigung seines seltsamen Zuges gegen die Skythen über die von den Ioniern bewachte Brücke zurückkehrte, den Megabazos mit 80 000 Mann in Europa zurückgelassen, um die am Hellespont wohnenden, den Persern noch nicht untertänigen Völker zu unterwerfen. Bei dieser Gelegenheit fügt Herodot noch die folgende Anekdote ein: Dareios habe einmal einen Granatapfel gegessen, und als dabei die vielen Kerne zum Vorschein kamen, habe sein Bruder Artabanos ihn gefragt, was er gerne in so großer Anzahl haben möchte wie diese Kerne. Da habe Dareios geantwortet: wenn er so viele Männer von der Art des Megabazos hätte wie diese Kerne, wäre es ihm lieber, als wenn ihm Griechenland Untertan wäre. Aber das ist ganz nebenbei hingeworfen und läßt von einer ernsthaften Absicht, sich die Griechen zu unterwerfen, nichts erkennen. Es folgt im letzten Teil des vierten Buches175 die Expedition der Perser gegen die griechische Stadt Barke in Libyen. Auch hier ist Herodot so weit davon entfernt, diese Expedition als Teil der etwa geplanten Unternehmung gegen die Griechen zu betrachten, daß er vielmehr sagt176, er glaube, diese Unternehmung habe der Unterwerfung von Libyen gegolten. Denn es gebe viele und sehr verschiedenartige libysche Völker und von denen hätten nur wenige die persische Oberhoheit anerkannt, während die übrigen sich in keiner Weise um Dareios bekümmerten. Dann gibt er einen ausführlichen Uberblick über die Geographie und Ethnographie Libyens, innerhalb dessen die griechischen Siedlungen nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Auf der andern Seite berichtet er

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später, bei dem Zug gegen Barke habe der persische Admiral den Vorschlag gemacht, sich bei dieser Gelegenheit auch Kyrenes zu bemächtigen, der Befehlshaber der Landstreitkräfte habe dies aber abgelehnt mit der Begründung, ihr Auftrag laute nur auf Barke177. Die Tätigkeit des Megabazos in Thrakien und am Hellespont nach der Beendigung des Skythenzuges, die zu Anfang des fünften Buches geschildert werden178, die zur selben Zeit an die Makedonen gerichtete Aufforderung, die persische Oberhoheit anzuerkennen179 sowie die Eroberung der Inseln Lemnos und Imbros180 können allerdings als Vorbereitung zu einer versuchten Eroberung von Griechenland angesehen werden. Aber nicht einmal in diesem Zusammenhang ist davon ausdrücklich die Rede. Und wenn man diese Tätigkeit als solche Vorbereitung betrachtet, wird die Diskrepanz mit der Demokedesgeschichte nur um so größer. Denn die Unternehmungen des Megabazos sind sehr methodisch; aber es fehlt die Angabe des letzten Zwecks. Umgekehrt wird bei der Fahrt des Demokedes der letzte Zweck angegeben, nicht dagegen, warum eine solche Erkundung bis nach Unteritalien führen mußte. Endlich ist, wie schon immer bemerkt wurde, die Chronologie unmöglich, da Dareios nicht zu einer Zeit, zu der er noch auf das schwerste um die Etablierung und Aufrechterhaltung seiner Herrschaft in den von seinen Vorgängern beherrschten Gebieten zu ringen hatte, und vor der Niederwerfung des babylonischen Aufstandes an die Eroberung von Griechenland gedacht und gar Vorbereitungen dazu getroffen haben kann, wie es bei Herodot aussieht181. Auf der andern Seite kann die Demokedesgeschichte kaum vollständig aus der Luft gegriffen sein, wenn auch die damit verbundene Haremsgeschichte, die den Demokedes zum eigentlichen Urheber der Perserkriege macht, natürlich eine Erfindung ist. Es ist sehr wohl möglich, daß Dareios, wie auch schon öfter vermutet wurde182, was aber nicht bei Herodot steht, Kundschafter so weit nach Westen geschickt hat, um sich zu vergewissern, was für eine Seemacht die Gesamtheit der Griechen allenfalls würde aufbringen können, und Demokedes mag dann wohl als Führer und Dolmetscher gewählt worden sein. Die Geschichte von Demokedes mit allen ihren Ausschmückungen wird Herodot in Unteritalien gehört haben, zu einer Zeit also, zu der er schon mit der Persergeschichte beschäftigt war, und mithin als Vorbereitung dazu aufgezeichnet haben. Trotzdem ist sie, wie sich gezeigt hat, nicht wirklich in das Ganze eingearbeitet worden, sondern nur lose eingefügt mit der oberflächlichen Anknüpfung, die dadurch gegeben war, daß Demokedes mit dem Gefolge des Polykrates in persische Gefangenschaft geriet. 328

Zweifellos eben wegen der Möglichkeit dieser Anknüpfung ist die Erzählung von Demokedes eingerahmt von einem Stück samischer Geschichte, das selbst, wie sich früher gezeigt hat 183 , ursprünglich mit anderen Stücken derselben Geschichte eine Einheit gebildet haben muß, die aber jetzt auseinandergerissen ist, um die einzelnen Stücke soweit als möglich chronologisch in die persische Geschichte einordnen zu können. Diese Geschichte als Ganzes jedoch ist gekennzeichnet durch Motive wie die vom Neid der Götter und von der göttlichen Strafe, welche sie mit der lydischen Geschichte, speziell der Kroisosgeschichte, verbinden. Da ist es denn interessant, daß diese Geschichte in der Maiandriosepisode auch ein Element politischer Spekulation enthält, welche in gewisser Weise auch das Problem der EXEV{)£Q[CC berührt. Aber dies Element steht hier etwas isoliert. Es läßt sich nicht ohne weiteres in den eXEnOeoia-Komplex einordnen, zu dem die Deiokesgeschichte im ersten Buch einerseits und die mannigfaltigen eXEvftepia-Geschichten der letzten drei Bücher andererseits gehören184. Auch ist es nicht sehr deutlich herausgearbeitet, geschweige denn, wie bei den EÄEufrEQia-Geschichten der letzten drei Bücher und bis zu einem gewissen Grade doch auch der Deiokesgeschichte, in seine verschiedenen Ramifikationen verfolgt. Gehört nun dies alles, wie sich gezeigt hat, zu einem zweifellos von Anfang an mehr oder minder zusammengehörigen Komplex, der inhaltlich samischen Ursprungs ist, der Auswahl des Erzählten nach aber durch eine Reihe von Vorstellungen und Fragen bestimmt wurde, welche Herodot zu einer gewissen Zeit besonders beherrschten oder beschäftigten, so enthält der Oroitesabschnitt innerhalb dieses Komplexes wiederum Elemente, die unzweifelhaft aus orientalischen Quellen stammen. Am deutlichsten ist dies bei der Geschichte, wie Bagaios als Abgesandter des Dareios die Gesinnung der Leibwächter des Oroites erforscht, ehe er diesen töten läßt: eine typische Geschichte von orientalischer Schlauheit. Die Herkunft dieser Erzählung aus zwei verschiedenen Quellen wird dadurch bestätigt, daß Herodot kurz vorher für die Gründe, die Oroites zu seinem Anschlag auf Polykrates veranlassen, zwei verschiedene Versionen 185 gibt, von denen die eine offenbar samischen, die andere orientalischen Ursprungs ist. Eben an dieser Stelle läßt sich also ein besonders deutlicher Einblick in die Entstehung des Werkes Herodots gewinnen. Herodot hatte ziemlich zusammenhängende Darstellungen aus Kroton über Demokedes und aus Samos über die Geschichte des Polykrates und seiner Nachfolger. Von der letzteren ist es zweifelhaft, ob sie von Anfang an im Hinblick auf die Persergeschichte oder die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen 329

Orient und Okzident ausgearbeitet worden war. Aber irgendwann ist sie für diesen Zweck mit der Demokedesgesdiichte, wenn auch nur lose, zusammengearbeitet und durch Elemente orientalischen Ursprungs ergänzt und dann der ganze Komplex in die persische Geschichte eingeordnet worden. Das dritte Buch schließt mit der Geschichte der Niederwerfung des babylonischen Aufstandes 186 . Innerhalb dieser wird die echt orientalische Geschichte von Zopyros erzählt, dem Sohn des Megabazos, der sich selbst Nase und Ohren abschneidet, um als von Dareios in dieser Weise Mißhandelter das Vertrauen der Babylonier zu erwerben, wenn er als scheinbarer Uberläufer zu ihnen kommt, und der dann, als der Anschlag gelingt, den Persern die Tore öffnet. Auch hier handelt es sich natürlich um ein verbreitetes Motiv, das in Form der bekannten Sinongeschichte sogar im griechischen Epos und in einer weniger orientalisch krassen Form in der Odyssee vorkam. Da es nicht zu einem größeren Zusammenhang gehört, ist es nicht nötig, hier mehr darüber zu sagen.

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Über den Hauptteil des vierten Buches, der vom Skythenzug des Dareios, der Geographie von Nordeuropa und von allgemeinen geographischen Problemen handelt, ist schon ausführlich gesprochen worden 187 . Die Mehrzahl der Einzelgeschichten, die sich in diesem Abschnitt finden, hängen entweder mit der Frage nach Alter und Herkunft des skythischen Volkes zusammen, für die sich Herodot im Zusammenhang seiner Widerlegung der Theorie von den Kontinenten interessierte, oder gehören zu den Anekdoten, die Herodot bei seinen Reisen sozusagen im Vorbeigehen aufgelesen hat, wie er dies ja auch bei seinem Aufenthalt in Ägypten getan hat 188 . Auch ein Teil der im Rahmen des Skythenzuges des Dareios selbst erzählten Geschichten, wie z. B. diejenige189 von der Beratung der Könige der verschiedenen Völkerschaften des heutigen Südrußland, gehören möglicherweise dazu, wie sich ja auch gezeigt hat 190 , daß Herodot einen Teil des geographischen Materials, das er auf seiner zu ganz anderen Zwecken unternommenen Reise nach dem Schwarzen Meer gesammelt hatte, später der Beschreibung des Skythenzuges und der Vorbereitungen dazu einverleibt hat. Aber der Hauptteil der Darstellung des Skythenzuges ist ganz anderen Ursprungs. Die Natur zum mindesten eines großen Teiles des hier ver-

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wendeten Materials enthüllt sich sehr deutlich schon gleich zu Anfang in zwei Dubletten zu der Xerxesgeschichte. Das eine ist die "Warnung des Artabanos vor den Schwierigkeiten des Skythenzuges 191 , das andere die Geschichte von der Grausamkeit des Dareios 192 , der auf die Bitte des Oiobazes, einen seiner drei Söhne von der Teilnahme am Skythenzug zu dispensieren, antwortet, er könne alle drei zu Hause behalten, und sie dann alle töten läßt. Die erste ist eine Dublette zu den "Warnungen desselben Artabanos vor dem Zug des Xerxes gegen die Griechen, das zweite eine Dublette zu der Pythiosgeschichte ebenfalls im siebten Buch193. Offenbar gehören sie zu den /.67101-Geschichten, die natürlicherweise in mannigfachen Varianten umliefen. Auch die Geschichte von der verschiedenen Ausdeutung des „Geschenkes" der Skythen an Dareios, als sie ihm einen Vogel, einen Frosch, eine Maus und fünf Pfeile übersenden, durch Dareios und Gobryes 194 gehört demselben Umkreis von Geschichten an, wobei in diesem Fall Gobryes die Rolle des Artabanos übernimmt, auf das für die Perser Bedenkliche hinzuweisen. Es ist aber für die Verfahrensweise des Herodot höchst instruktiv, daß er diese Geschichten an dieser Stelle ganz einfach erzählt, ohne in irgendeiner "Weise etwas Besonderes daraus zu machen, obwohl das ja sehr gut möglich gewesen wäre - die "Warnung des Artabanos und die Gobryesgeschichte hätten sich leicht zueinander in Beziehung setzen lassen, und das Verhalten des Dareios gegenüber Oiobazes ist noch grausamer als das des Xerxes gegen Pythios —, während die entsprechenden Varianten im siebten Buch psychologisch auf das reichste ausgestaltet und in einen großartigen Zusammenhang zusammengearbeitet sind. "Wenn man diese beiden Teile des Werkes miteinander vergleicht, kann kaum ein Zweifel daran bleiben, daß Herodot die Geschichten selbst nicht erfunden, sondern aus der reichen mündlichen Tradition übernommen hat, daß aber ihre Ausgestaltung in der Art, wie sie sich in der Lydergeschichte und in den letzten Büchern findet, Herodots eigenes "Werk gewesen ist. Aber auch die gesamte übrige Darstellung des Skythenzuges, in welcher Strategie und Taktik völlig unklar bleiben und Topographie und Chronologie einander auf das schärfste widersprechen195, geht offenbar auf mündliche Überlieferung, wie sie zu Herodots Zeiten in den Gegenden am Hellespont sich erhalten hatte, zurück, eine mündliche Uberlieferung, die sich natürlich nicht in jedem Stück in speziellen Anekdoten kristallisiert hatte, sondern in vieler Hinsicht einfach auf vager Erinnerung basierte. Die Komposition des letzten Drittels des vierten Buches196 mit der Schilderung der libyschen Unternehmung der Perser, die nach Herodot 33i

mit der letzten Phase des Skythenzuges gleichzeitig war, weist in mancher Hinsicht starke Analogien zu der Darstellung dieses Zuges auf, weicht in anderer Hinsicht aber auch stark davon ab. Die Analogie liegt in der Einfügung einer geographischen Einlage, die an Detail und Umfang weit über das hinausgeht, was als Hintergrund für das Unternehmen der Perser und selbst für die ihm vorausgeschickte Vorgeschichte der griechischen Siedlungen in Nordafrika notwendig ist. Es fehlt jedoch die Auseinandersetzung mit allgemein geographischen Problemen, die im ersten Teil des vierten Buches eine so große Rolle spielt. Die geographische Einlage entspricht vielmehr den geometrisch schematisierten geographischen Einlagen in die Geschichte des Skythenzuges, die, wie sich gezeigt hat, zu einem späteren Stadium gehören als die eigenen Erkundungen Herodots am Schwarzen Meer197. Sie schließt sich offensichtlich an eine mit einer geometrisierenden Karte verbundene Erdbeschreibung an198; die nicht notwendig von Hekataios gestammt haben muß, aber der von ihm inaugurierten Tradition angehörte, die Herodot als diejenige der Ionier bezeichnet hat. Die Geschichte des libyschen Feldzuges enthält aber auch den vorangehenden Büchern gegenüber noch ein neues Element, das dann in den folgenden Büchern eine wichtige Rolle spielt, nämlich den ersten Einschub über griechische Vorgeschichte der unmittelbar dargestellten Ereignisse, der ebensoweit über das, was als Hintergrund dieser Ereignisse in historischer Hinsicht notwendig ist, hinausgeht, wie der darauf folgende geographische Einschub in geographischer Hinsicht. Dies wird in diesem Fall noch hervorgehoben durch die seltsame Art, in welcher Herodot den Exkurs einführt 199 , indem er nämlich die Darstellung des Feldzuges selbst chronologisch an das Vorhergehende anknüpft mit den Worten: „Zur selben Zeit, zu der Megabazos diese Dinge ausführte, ereignete sich auch eine große Expedition gegen Libyen", und dann hinzufügt: „deren Veranlassung ich erzählen werde, wenn ich zuvor noch das Folgende erzählt haben werde", womit Herodot selbst anzuerkennen scheint, daß dies zuvor noch Folgende zur Erhellung der Ursachen der libyschen Expedition nicht notwendig ist. Eben dadurch unterscheidet sich dieser Exkurs auch von den Einschaltungen über spartanische und athenische Zustände im ersten Buch200 ebenso wie von denjenigen über samische und korinthische Geschichte im dritten, deren Verbindung mit ihrer Umgebung ganz anderer Natur ist. Herodot geht also hier zunächst sehr weit in die Vergangenheit zurück und erzählt sehr ausführlich 201 die Geschichte der Besiedlung der früher 332

von „Phönikern" bewohnten Insel Kalliste durch Lakedämonier und Minyer unter Führung des Kadmeers Theras, von dem die Insel den Namen Thera erhielt. Daran schließt sich die Geschichte der Gründung von Kyrene von Thera aus an 202 . Hinsichtlich des ersten Teiles, der eine mit sagenhaften Elementen durchsetzte Erinnerung an tatsächliche historische Ereignisse wiedergibt, sagt Herodot: Soweit stimmten die Berichte der Lakedämonier und der Theraeer überein. Eine genauere Analyse dieses Abschnittes läßt es jedoch als außerordentlich wahrscheinlich erscheinen, daß Herodot eine theraeische Uberlieferung durch Erkundungen in Sparta ergänzt hat, deren Ergebnisse sich in das mitgebrachte Rahmenwerk einfügen ließen 203 . Es ist dann einfach der Mangel eines Widerspruches zwischen dem neu hinzu Erfahrenen und dem, was er, als er nach Sparta kam, schon wußte, den er mit der Feststellung ausdrückte: Die Lakedämonier und die Theraeer sagten über diese Dinge dasselbe 204 . Uber die Gründung von Kyrene hat Herodot dann zwei Versionen, die stark voneinander abweichen, eine theraeische, welche denselben Charakter hat wie der theraeische Teil der Überlieferung über die Besiedlung von Thera selbst, und eine kyrenaeische. Die erste ist eine von legendären Elementen ziemlich freie 205 und vermutlich den historischen Vorgängen im wesentlichen entsprechende Darstellung der Vorgänge, welche zur Gründung von Kyrene geführt haben. Danach ist diese Gründung auf ausdrücklichen Befehl des Delphischen Orakels erfolgt, welchem die Theraeer zunächst nur sehr zögernd und widerwillig Folge leisteten, so daß es einer mehrfachen Wiederholung des Befehls bedurfte, bis die Ansiedlung auf dem afrikanischen Festland endlich zustande kam. Beides ist durchaus glaubwürdig. Denn es ist notorisch, daß das Delphische Orakel im siebten Jahrhundert weitgehend die griechische Kolonisation geleitet hat, und da Afrika mit Ausnahme von Ägypten damals noch sehr wenig bekannt gewesen ist, ist es begreiflich, wenn die Theraeer sich fürchteten, sich in diesem unbekannten Lande niederzulassen. Es ist durchaus möglich und wird durch eine in Kyrene gefundene Inschrift noch wahrscheinlicher gemacht206, daß, wie öfters vermutet worden ist, diese Version auf eine Lokalgeschichte von Thera zurückgeht. Herodot hat die aus dieser Quelle geflossenen Nachrichten für einen wichtigen Punkt noch aus samischer Überlieferung ergänzt und zur Bestätigung der Richtigkeit dieser Überlieferung ein von ihm selbst aus Samos gesehenes gegenständliches Dokument angeführt 207 . Die kyrenaeische Version dagegen hat die Vorgänge mit einer Fülle von Legenden ausgeschmückt, die alle um die Person und den Namen des 333

Gründers und ersten Königs von Kyrene kreisen. Hier ist die Kritik nicht ganz uninteressant, die Herodot an dieser Überlieferung geübt hat 208 . Ein Teil der Legende war aus dem Namen Battos herausgesponnen worden, den man mit ßcttTagi^Eiv = stottern in Verbindung gebracht hatte, woraus sich nach den Gesetzen der Legendenbildung mit einer gewissen Notwendigkeit ergab, Battos habe das Orakel konsultiert, wie er von seinem Sprachfehler gereinigt werden könne, und darauf die Antwort bekommen, er solle eine Kolonie in Afrika gründen. Herodot nun übt nur an der Voraussetzung Kritik, daß der Gründer von Kyrene von Kind an den Namen Battos gehabt habe (wie es auch eine, von Herodot jedoch nicht erwähnte, Überlieferung gab, er habe mit seinem ursprünglichen und wirklichen Namen Aristoteles geheißen). Er meint, er werde vielmehr einen anderen Namen gehabt haben und habe den Namen Battos dadurch erhalten, daß die Pythia ihn damit angeredet habe, womit sie habe andeuten wollen, daß er einmal König in Libyen sein werde; denn dort heiße König „Battos". Das Interessante daran ist die Beschränkung der Kritik Herodots auf die Annahme der Ursprünglichkeit des Namens Battos. Dagegen nimmt er es ohne Kritik hin, daß der später Battos Genannte die Pythia wegen seines Sprachfehlers konsultiert habe und von ihr als „Battos" angeredet worden sei. Der Grund dürfte wohl darin zu suchen sein, daß der Name Battos in einem Orakelspruch vorkam, den Herodot mitteilt. Denn Herodot übt, wie schon früher bemerkt, nie an der Echtheit delphischer Orakelsprüche Kritik, obwohl er weiß, daß es gefälschte Orakelsprüche gab209, daß es Orakel gab, die nicht zuverlässig waren 210 , und sogar ohne Kritik eine Version der Geschichte des Sturzes der Tyrannis in Athen wiedergibt, die voraussetzt, daß die Pythia mit Geld bestochen werden konnte 211 . Im Gefolge der Gründungsgeschichte gibt Herodot 212 zunächst einen kurzen Überblick über die Geschichte Kyrenes bis zu der persischen Expedition unter der Regierung des Dareios. Die wichtigsten von ihm berichteten Ereignisse sind die Erweiterung der Kolonie und Vermehrung der Bevölkerung unter dem dritten König, Battos II., mit dem Beinamen „der Glückliche" (o Et>öai|xcov), durch die Hereinnahme von neuen Kolonisten aus beliebigen griechischen Staaten, die natürlich auch eine tiefgreifende Veränderung der bisher nur aus Theraeern und deren Nachkommen bestehenden Bevölkerung bedeuteten, und die unter dem Nachfolger dieses Königs, Arkesilaos II., einsetzenden inneren "Wirren, die zu der Gründung von Barke westlich von Kyrene führten. Die bedeutendsten Phasen in diesen Wirren wiederum waren nach Herodot die folgenden: Zuerst 334

gründeten die Brüder des Arkesilaos wegen eines Streites mit ihm Barke und hetzten die den Kyrenaeern untertänigen Libyer zum Abfall auf. In einem Feldzug gegen diese Libyer erlitt Arkesilaos eine schwere Niederlage. Nach der Rückkehr wurde er von seinem Bruder Learchos ermordet, der aber kurz darauf einem Anschlag der "Witwe des Arkesilaos zum Opfer fiel, so daß der Sohn des Arkesilaos, Battos III., der Lahme, den Thron besteigen konnte. Da die "Wirren unter ihm nicht aufhörten, gab das Delphische Orakel auf Anfrage den Rat, einen Vermittler aus Arkadien beizuziehen, der dann auch in Gestalt des Demonax von Mantinea nach Kyrene kam und dort eine neue und bessere Ordnung einzuführen suchte. Die wichtigsten von ihm eingeführten Neuerungen waren eine neue Einteilung der Bürgerschaft in drei Phylen, von denen die erste die Theraeer und die Perioeken213, also wahrscheinlich die Nachkommen der Altbürger vor der allgemeingriechischen zweiten Einwandererwelle, die zweite die Lakedämonier und Kreter, die dritte die Inselgriechen umfaßte, und eine Beschränkung des Königs auf sakrale Funktionen. Die erste dieser beiden Neuerungen zeigt, daß die "Wirren, wie auch natürlich, nicht unabhängig waren von dem großen Einströmen neuer Siedler unter Battos dem Glücklichen. "Was die zweite der beiden Neuerungen angeht, so sagt Herodot 214 : Demonax habe die nichtsakralen Funktionen und Befugnisse der Könige auf das Volk übertragen (e? neaov xw ör^co e{b)xe). Beide Neuerungen müssen miteinander im Zusammenhang gestanden haben. Die erste bedeutete offenbar, daß die Zweitkolonisten nicht nur den Erstkolonisten rechtlich völlig gleichgestellt wurden, sondern, da sie zwei von drei Phylen bildeten, in gewisser "Weise sogar das Ubergewicht über diese erhielten. Die zweite Neuerung dürfte kaum die Einführung einer Demokratie nach Art der athenisdien in der Zeit Herodots bzw. der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts bedeutet haben, was im sechsten Jahrhundert ohne Beispiel gewesen wäre, aber doch vermutlich so weite Ausdehnung aktiver politischer Rechte wie sie irgendwo im sechsten Jahrhundert vorgekommen 215 ist. Nach Herodots Bericht216 war der Sohn und Nachfolger Battos' des Lahmen, Arkesilaos III., nicht gewillt, wie sein Vater sich in den Verlust der meisten Rechte der ersten Könige zu fügen, sondern verlangte die vollständige Herstellung der alten Königsgewalt, konnte sich aber nicht durchsetzen und floh nach Samos, wo er durch das Versprechen einer durchgreifenden Landreform Anhänger um sich zu sammeln suchte. Als er mit Heeresgewalt zurückkam, war er zunächst erfolgreich, wurde aber, anscheinend217 nachdem er auch Barke eingenommen hatte, ermordet. 335

Nun wandte sich seine Mutter, die vorher vergeblich bei Euelthon von Kypern um Unterstützung nachgesucht hatte 218 , an die Perser in Ägypten, was dann zu dem Feldzug der Perser gegen Barke, der als Teil der persischen Geschichte die Veranlassung zu dem ganzen Exkurs über die Geschichte von Kyrene gebildet hatte, Anlaß gibt. Es ist sehr richtig beobachtet worden 219 , daß Arkesilaos, obwohl ein Abkömmling des alten battiadischen Königshauses und trotz seiner „legitimistischen" Ansprüche auf die Königsgewalt, in Wirklichkeit in der Funktion eines „Tyrannen" wieder nach Kyrene zurückkommt, d. h. als ein Mann, der mit Hilfe der ärmeren Bevölkerungsschichten durch das Versprechen sozialer Reformen und eine neue Verteilung des Grundbesitzes220 zur absoluten Macht gelangt. Dies wird auch dadurch bestätigt, daß er in dem damals von dem Tyrannen Polykrates beherrschten Samos seine Anhänger zur Wiedereroberung seines Landes sammelt, und daß seine Mutter bei dem kyprischen Tyrannen Euelthon Hilfe sucht: eine Solidarität der Tyrannen, die in dieser Zeit auch sonst zu beobachten ist. Auch daß die Mutter Pheretime sich schließlich an die Perser wendet, paßt dazu, wenn Herodot auch bei dieser Gelegenheit erwähnt, Arkesilaos habe schon die Oberhoheit des Kambyses anerkannt und diesem Tribut gezahlt und darauf habe sich Pheretime berufen. Denn die Perser haben ja auch sonst mit der Unterstützung von Tyrannen wie Histiaios von Milet operiert. Aber es ist kaum richtig, wenn daraus der weitere Schluß gezogen worden ist221, daß eben dies der eigentliche Grund gewesen sei, weshalb Herodot der Geschichte von Kyrene einen so großen Platz in seinem Werk eingeräumt habe. Die Geschichte von Kyrene werde damit in Verbindung gebracht mit einem der großen Themen, welche dem Werk Herodots seine eigentliche Einheit geben. Dem liegt unausgesprochen die sehr richtige Beobachtung zugrunde, daß das Problem der E^euftEgia und damit als ein Teilproblem das des Despotismus und der Tyrannis bei Herodot eine viel größere und wichtigere Rolle spielen, als die meisten modernen Herodotinterpreten gesehen haben. Aber das Interessante ist gerade, daß es für die Geschichte Kyrenes nicht zutrifft. Man muß erst durch sorgfältige Ausdeutung der von Herodot mitgeteilten Tatsachen herausholen, was Herodot in diesem Zusammenhang nirgends ausgesprochen hat. Nicht einmal die Tatsache, daß Polykrates in Samos herrschte, als Arkesilaos dort Zuflucht suchte und Anhänger sammelte, wird von Herodot erwähnt, geschweige denn eine Solidarität der Tyrannen als Tyrannen, von der Herodot doch an anderen Stellen zu erzählen weiß222. 336

Auch die von Arkesilaos versprochene Bodenreform wird von Herodot nur ganz nebenbei erwähnt, und die Versuche des Arkesilaos, seine Herrschaft wiederzugewinnen, werden ganz als Versuche der "Wiederherstellung der erblichen Monarchie behandelt. Wo Herodot von Tyrannen als Tyrannen schreibt, schreibt er ganz anders223. Er kann also die Geschichte Kyrenes nicht aus diesem Grunde eingefügt haben, wozu es ja auch ganz unzweckmäßig gewesen wäre, so lange bei der Gründungsgeschichte zu verweilen, statt sich ausführlicher mit den Gründen und der Bedeutung der Reformen des Demonax und den sozialen und politischen Zuständen, die sich nach diesen Reformen entwickelten, zu beschäftigen. Die Frage muß also vorläufig offenbleiben, warum Herodot dies nicht getan hat; und dies um so mehr, als es sehr wahrscheinlich ist, daß er selbst in Kyrene gewesen und dort persönliche Erkundungen angestellt hat224. Dazu kommt noch, daß es für die Abfassung des Abschnittes über Kyrene einen terminus post quem gibt, der es verbietet, ihn in eine frühe Zeit der Tätigkeit Herodots zu setzen. Denn das Delphische Orakel, das besagt, es würden vier Battoi und vier Arkesilaoi über Kyrene herrschen und dann werde das Ende der Königsherrschaft kommen225, ist zweifellos ein vaticinium ex eventu, wie auch dadurch bestätigt wird, daß Pindar zur Zeit des letzten Königs, Arkesilaos IV., noch nichts davon weiß. Freilich läßt sich das Datum der Ermordung des Königs nicht mit unbedingter Sicherheit festlegen. Sie muß aber in die Zeit um 440 fallen 226 , die Erfindung des Orakels also noch ein wenig später sein, so daß man mit der Abfassung der kyreneischen Kapitel Herodots frühestens in den Anfang der dreißiger Jahre des fünften Jahrhunderts kommt.

e Im fünften Buch gibt Herodot zunächst in einer Reihe von Kapiteln 227 einen Überblick über Ereignisse, die sich zwischen der Rückkehr des Dareios von der skythischen Expedition und dem Ausbruch des ionischen Aufstandes abgespielt haben, und erzählt dann die Geschichte dieses Aufstandes von seinem ersten Beginn bzw. seiner Vorgeschichte bis zu seiner endgültigen Niederwerfung, womit er erst im 42. Kapitel des sechsten Buches zu Ende kommt228. Von dem ersten Abschnitt ist vom Standpunkt des Gesamtwerkes aus der Bericht über die Tätigkeit des Megabazos in der Gegend des Hellespont und im Norden des Ägäischen Meeres bei weitem der bedeutsamste, da diese Tätigkeit der Sache nach als Vorbereitung der Eroberung Europas und der späteren Feldzüge gegen die Grie337

chen betrachtet werden kann. Aber eben von diesem Standpunkt aus ist der Bericht, wie früher angedeutet229, höchst seltsam und inadäquat. Er beginnt mit der Feststellung230, daß Megabazos „von denjenigen Hellespontiern, die dem Dareios nicht gehorchen wollten", zuerst die Perinthier unterworfen habe, worauf mit Details 231 erzählt wird, wie die Perinthier schon einmal von den Paeoniern eine schwere Niederlage erlitten hatten. Aus dem letzten Satz kann man entnehmen, daß wegen der Schwäche der Perinthier das Ereignis nicht von allzu großer Bedeutung gewesen sein kann. Aus dem einleitenden Satz umgekehrt ist nebenbei zu erschließen, daß wohl auch die übrigen „Hellespontier, die dem Dareios nicht gehorchen wollten", unterworfen werden sollten. Dann geht es jedoch wieder etwas anders weiter 232 : „Nachdem Perinth unterworfen war, führte Megabazos sein Heer durch Thrakien und machte eine Stadt und einen Stamm nach dem andern dem König untertänig." Das ist nach dem kleinen Unternehmen gegen Perinth ein gewaltiges Unternehmen und auch nicht ganz, was man nach dem einleitenden Satz der Perinthergeschichte erwartet, da die Thraker nur zu einem Teil zu den Hellespontiern gerechnet werden können. Statt einer Schilderung der einzelnen Phasen dieses gewaltigen Unternehmens erhält man jedoch einen geographisch-ethnographischen Exkurs 233 über die Thraker, von denen Herodot wiederum etwas im Vorbeigehen sagt, sie seien das zahlreichste Volk der Erde zunächst den Indern und wären auch das mächtigste, wenn sie untereinander einig wären 234 . Das aber sei ihnen ganz unmöglich und werde es immer sein. Nach diesem Exkurs, der vieles über kuriose Gebräuche der verschiedenen thrakisdien Stämme enthält und am Schluß noch auf die jenseits der Thraker wohnenden Sigannai235 eingeht, stellt Herodot fest236, daß Megabazos als Resultat seines Feldzuges die am Meer gelegenen Teile des von den Thrakern bewohnten Landes den Persern unterworfen hatte, was gegenüber dem zuerst genannten Zweck des Feldzuges, zumal nach der Schilderung der gewaltigen Ausdehnung des Landes, eine sehr starke Einschränkung darstellt, ohne daß von Herodot auf diese Tatsache auch nur mit einem "Wort hingewiesen würde. Alles dies zeigt, daß dieser erste Abschnitt außerordentlich skizzenhaft und gewissermaßen fragmentarisch ist, und dies um so mehr, als es ein leichtes gewesen wäre, die verschiedenen Stellen durch leichte Modifikationen oder hinzugefügte Erklärungen aufeinander abzustimmen. Dieser Charakter des Zwischenstückes tritt im folgenden noch von einer anderen Seite hervor. Nachdem Herodot die Tätigkeit des Megabazos geschildert hat, wendet er sich dem Dareios zu und erzählt 237 , wie dieser 338

nach Sardes kommt und dort Histiaios von Milet und Koes von Mytilene zu sich kommen läßt, um sie für die Dienste, die sie ihm bei Gelegenheit des Skythenzuges geleistet haben, zu belohnen, den einen, indem er ihm Erlaubnis gibt, im Gebiet der Edonen eine Stadt zu gründen, den andern, indem er ihn zum „Tyrannen" von Mytilene macht. Beides spielt später in der Vorgeschichte des ionischen Aufstandes eine Rolle und steht daher hier, wenn auch etwas von seiner Umgebung isoliert, an seiner richtigen Stelle. Darauf folgt jedoch eine Geschichte238, die eine höchst seltsame Geschichtsklitterung darstellt und auch in dem Zusammenhang, in dem sie steht, eine sehr seltsame Rolle spielt. Es ist die Erzählung, wie Dareios durch den Anblick einer sehr schönen und schön gekleideten Frau, die gleichzeitig ein Pferd zur Tränke führt, einen Krug auf dem Kopf trägt, um ihn am Brunnen zu füllen, und außerdem im Gehen noch eine Spindel dreht, zu dem Wunsche bewogen wird, das Volk, dem diese Frau angehört, die Paeonier, in sein eigenes Land zu verpflanzen, und daher dem Megabazos den Auftrag gibt, dies mit Heeresmacht und Gewalt zur Ausführung zu bringen, was denn auch geschieht. Die Geschichte selbst ist eine Wanderanekdote, die auch von den Mysern statt von den Paeoniern erzählt und in die Zeit des Lyderkönigs Alyattes verlegt wurde, aber jedenfalls nicht aus Xanthos stammt239. Was immer aber auch der erste Ursprung der Geschichte gewesen sein mag240, so kann die herodoteische Version kaum die ursprüngliche gewesen sein, da sie ganz künstliche Elemente enthält, wie vor allem die Variante, daß der König die Frau nicht zufällig erblickt, sondern ihre Brüder sie absichtlich instruiert und hergerichtet haben und an eine Stelle führen, wo der König sie sehen muß, weil sie hoffen, daß dieser sie zu „Tyrannen" ihres Volkes, der Paeonier, machen werde241, wovon dann freilich im weiteren Verlauf nicht mehr die Rede ist. Dadurch erhält die an sich einfache und hübsche Erzählung einen Zug von Ubergescheitheit, der für manche der politisch reflektierenden griechisch-orientalischen X07101 charakteristisch ist. Viel erstaunlicher jedoch ist die Rolle, welche diese Anekdote im Zusammenhang der Ereignisse spielt. Wenn irgendeine der Unternehmungen des Megabazos natürlicherweise der Vorbereitung eines Feldzuges gegen die Griechen und der Eroberung ganz Europas dienen konnte, dann war es die Expedition gegen die nach Herodots eigener Angabe am Strymon und Prasiassee, d. h. nördlich der Chalkidike ansässigen Paeonier. Aber eben eine solche Erklärung wird durch die Geschichte von der schönen Frau ausdrücklich ausgeschlossen. Dareios erkundigt sich242, wer 339

denn die Paeonier, von denen das schöne Mädchen stamme, eigentlich seien und wo sie ihre "Wohnsitze hätten, und die Brüder des Mädchens antworten, Paeonien sei ein städtereiches Land am Strymon und der Strymon nicht weit vom Hellespont243, was eigentlich zur Voraussetzung hat, daß der König nicht weiß, wo der Strymon fließt, da die nächste Entfernung vom Strymon zum Hellespont in der Luftlinie immerhin etwa 200 km beträgt, während die Entfernung von dort zu den nördlichen Zugängen nach Griechenland wesentlich geringer ist. Dementsprechend zeigt Dareios an dem Lande der Paeonier keinerlei Interesse, sondern wünscht nur, den Volksstamm, dem das Mädchen angehört, in seinem eigenen Lande anzusiedeln. Daß Dareios244 seit der durch Demokedes veranlaßten nächtlichen Unterredung mit Atossa mit dem Gedanken umgeht, den ganzen Westen zu erobern, ist völlig vergessen. Trotzdem wird weiter erzählt245, Megabazos habe, nachdem er befehlsgemäß einen Teil der Paeonier mit Frauen und Kindern zwangsweise nach Kleinasien übergesiedelt hatte, Boten an den Makedonenkönig Amyntas gesandt mit der Forderung der Unterwerfung unter persische Oberhoheit: logischerweise der nächste Schritt in der Unterwerfung Europas oder der Vorbereitung dazu. Aber wieder ist davon mit keinem "Wort die Rede. Die persischen Gesandten werden mit ihrem gesamten Gefolge bei einem Gastmahl umgebracht, wozu wieder eine Wanderanekdote erzählt wird, die bis ins neunzehnte Jahrhundert an den verschiedensten Orten wiederauftaucht246. Aber die ganze Sache wird, als die Perser anfangen, nach dem Verbleib der Gesandten zu forschen, durch Bestechung vertuscht247, und auch diese Episode bleibt also letzterdings ohne Folgen. Damit ist der Zwischenabschnitt im wesentlichen zu Ende; und mit der Uberführung der aus ihren Wohnsitzen geholten Paeonier nach Kleinasien wendet sich Herodot der Vorgeschichte des ionischen Aufstandes zu. Woher nun auch immer die einzelnen Elemente dieses Abschnittes stammen mögen — wozu noch eine Beschreibung der Pfahlbauten der Paeonier am und im Prasiassee und eine Schilderung ihrer Sitten gehört 248 -, das ist offensichtlich, daß dieser Abschnitt zwar der Ausfüllung einer chronologischen Lücke in der Persergeschichte zwischen dem Ende der Expedition gegen die Skythen und dem Ausbruch des ionischen Aufstandes dient, aber mit dieser Geschichte in keiner Weise wirklich integriert ist. Daß es sich bei diesen Elementen vielfach um ursprünglich nicht miteinander verbundene Einzelstücke handelt, zeigt sich ferner darin, daß auch sonst allerhand lose Enden bleiben. Das Ganze beginnt249 mit der 340

zeitlich nicht fixierten Expedition der Paeonier gegen Perinth, bei der unerklärt bleibt, wie die Paeonier, die von Perinth durch mehrere andere Völker getrennt am Strymon wohnen, dazu kommen, Perinth anzugreifen. Es scheint vorauszusetzen, daß die Paeonier ihre Wohnsitze einmal woanders gehabt hatten. Wenn sie von den Teukrern abstammten, wie die Brüder des schönen Mädchens behaupten, wäre das leicht zu erklären. Aber ein Zusammenhang wird nicht hergestellt. Umgekehrt hat diese Behauptung der Brüder in der Erzählung die Funktion, dem Dareios zu suggerieren, daß die Paeonier als aus Asien stammend von Rechts wegen seine Untertanen sind. Aber die Frage, ob und wann sie etwa wirklich aus Asien gekommen waren, bleibt offen. Ebenso wird das Schicksal der Brüder nicht weiterverfolgt, wie es sonst bei Herodot üblich ist, der selten seine Leser über den Ausgang einer Geschichte im unklaren läßt. Endlich gibt die Geschichte ein unabhängiges und ausreichendes Motiv für den Feldzug nach dem Strymon und schließt dadurch einen Zusammenhang dieser Expedition mit den im vierten Buch erörterten Plänen des Dareios zur Eroberung ganz Europas aus. Das alles bestätigt den fragmentarischen Charakter dieses Abschnittes. Ganz anders steht es mit dem darauffolgenden langen Abschnitt über den ionisdien Aufstand 250 . Dieser Abschnitt wird unterbrochen durch die umfangreichen Abschnitte über die ältere spartanische und athenische Geschichte bei Gelegenheit des Versuches des Aristagoras, die Unterstützung der beiden führenden Mächte des griechischen Mutterlandes für seine Aufstandspläne zu gewinnen. Sie bilden zusammen mit dem langen Abschnitt über die Geschichte von Kyrene im vierten Buch ein besonderes Problem. Im übrigen jedoch ist die Geschichte des ionischen Aufstandes sorgfältig vorbereitet - auch die Geschichte von der persischen Expedition gegen die Paeonen, die, wie sich gezeigt hat, nach rückwärts so schlecht anschließt und auch sonst fragmentarisch bleibt, wird doch in gewisser Weise dieser Vorbereitung dienstbar gemacht251 — und, soweit dies bei den mannigfach zerstreuten und einander durchkreuzenden Ereignissen möglich ist, sorgfältig aufgebaut. Doch stellt auch sie mancherlei Probleme. Zunächst muß jedem, der diesen Abschnitt im Zusammenhang des Gesamtwerkes liest, auffallen, wie wenig in der Darstellung dieses Aufstandes, der doch die Befreiung der kleinasiatischen Griechen von der persischen Oberherrschaft zum Ziele hat, von der EXevfreQia die Rede ist. Das Ganze nimmt seinen Anfang nicht von dem Freiheitsdurst der Bevölkerung, sondern von den ganz persönlichen Intrigen einiger Tyrannen und Stellvertreter von Tyrannen. 34i

In dem vorangegangenen Übergangsabschnitt war erzählt worden 252 , wie Dareios dem Histiaios von Milet auf seine Bitte die Erlaubnis erteilte, eine neue Kolonie in Thrakien zu gründen, dann aber von Megabazos darauf aufmerksam gemacht worden war, daß es kaum zweckmäßig sei, einem schlauen und ehrgeizigen Griechen eine solche Gelegenheit zu geben, seine persönliche Macht zu vermehren und womöglich in einer an materiellen und menschlichen Hilfsquellen reichen Gegend ein eigenes mächtiges Reich zu schaffen253. Um sein Versprechen nicht rückgängig machen zu müssen und doch den von Megabazos erwähnten Gefahren zu entgehen, beruft Dareios den Histiaios daraufhin als seinen Ratgeber an seinen Hof und überhäuft ihn dort mit Ehren, läßt ihn aber nicht mehr fort. Zu gleicher Zeit hat Aristagoras, der in der Abwesenheit des Histiaios in Milet die Regierung übernommen hat, sich selbst in eine höchst unbequeme Situation hineinmanövriert. Er war von Oligarchen aus Naxos um militärische Hilfe gebeten worden gegen ihre politischen Gegner254 und hatte sich darauf seinerseits um Unterstützung an den in Sardes residierenden Satrapen Artaphernes gewandt, dem er klarzumachen suchte, daß die Einnahme von Naxos ihn nicht viel kosten werde, da die reichen Exilierten die finanziellen Mittel zur Verfügung stellen würden, und daß die Einnahme der Insel auf der andern Seite die größten Perspektiven für die Perser eröffne, da es ein leichtes sein werde, von dort aus ihre Herrschaft auf die gesamten Kykladen und endlich auf Euboea auszudehnen 255 . Aristagoras selbst erhoffte sich davon eine Ausdehnung seiner eigenen Herrschaft 256 (zweifellos unter persischer Suzerainität). Artaphernes war auf diesen Plan eingegangen und hatte dem Aristagoras, nachdem er die Zustimmung des Dareios eingeholt hatte, eine große Flotte für die Expedition zur Verfügung gestellt. Aber schon auf dem Weg nach Naxos kam es zu Streitigkeiten zwischen Aristagoras und dem persischen Admiral 257 . Unterdessen bekamen die Naxier Wind von der bevorstehenden Expedition und setzten die Insel in Verteidigungszustand. Die Expedition nahm nicht den erhofften Verlauf. Die dem Aristagoras zur Verfügung stehenden Gelder reichten nicht aus. Er konnte die dem Artaphernes gemachten Versprechungen nicht halten 258 . Das machte den Streit mit dem persischen Admiral um so peinlicher. Er fürchtete, von den Persern als Gouverneur von Milet abgesetzt zu werden. Er überlegte sich daher, ob es nicht besser sei, sich von den Persern unabhängig zu machen259. Zu gleicher Zeit erhielt er einen Anstoß von außen. Histiaios war seines goldenen Käfigs am Hofe des Dareios ganz und gar überdrüssig geworden. Um ihm zu entgehen, sendet er an Aristagoras eine 342

heimliche Botschaft mit der Aufforderung zum Abfall von den Persern in der Hoffnung, Dareios werde auf die Nachricht von einem solchen Aufstand ihn selbst in die gefährdeten Gegenden entsenden 260 , um dort Ordnung zu schaffen. Das gibt Aristagoras den Anlaß, den schon vorher wegen seiner eigenen Schwierigkeiten ins Auge gefaßten Plan ins W e r k zu setzen. Schon so weit enthält der Bericht Herodots viele Seltsamkeiten: nicht nur das völlig zufällige Zusammentreffen der in ihren Ursachen voneinander j a ganz unabhängigen Pläne des Aristagoras und des Histiaios an sich, sondern auch z. B., daß Histiaios ohne weiteres anzunehmen scheint, daß Aristagoras auf seinen Befehl von den Persern abfallen werde. Denn wenn man von den Schwierigkeiten absieht, in die Aristagoras geraten war, deren Wirkung auf Aristagoras jedoch Histiaios kaum mit Sicherheit abschätzen konnte, es sei denn, daß Aristagoras selbst mit ihm darüber in Kommunikation getreten war 2 6 1 , ist schwer zu sehen, welchen Vorteil sich Aristagoras davon versprechen konnte, dem Befehl des Histiaios nachzukommen. Die Abwesenheit des Tyrannen am H o f e des Königs hatte seinem Stellvertreter eine große Unabhängigkeit und die Möglichkeit zu einer eigenen Politik gegeben. E r mußte in jedem Falle damit rechnen, daß der vom König zur Niederwerfung des Aufstandes und zur Ordnung der Verhältnisse zurückgesandte Histiaios ihn selbst in eine untergeordnete Rolle werde zurücktreten lassen, selbst wenn er fest darauf vertraute, der T y r a n n werde nicht auf seine Kosten ausführen, was er dem König, wenn er „zum Meere geschickt" wurde, versprechen mußte. Auch umgekehrt muß, gerade wenn Histiaios von den Schwierigkeiten des Aristagoras wußte, ohne doch frei mit ihm korrespondieren zu können, das Vertrauen sehr groß gewesen sein, wenn Histiaios nicht befürchtete, Aristagoras könne durch Verrat der an ihn gesandten Geheimbotschaft sich auf einmal von allen Schwierigkeiten zu befreien und neue Gunst bei den Persern zu gewinnen suchen. Das alles und noch vieles andere derselben Art bleibt in dem Bericht des Herodot völlig im dunkeln, und es ist schwer zu glauben, daß bei dem Aufstand nicht noch ganz andere Kräfte im Spiele gewesen sein sollten als die persönlichen Intrigen des Histiaios und des Aristagoras. Das aber ist nun eben das ganz Seltsame an der ganzen Darstellung, daß von diesen anderen Kräften und Elementen so gar nicht die Rede ist. Aristagoras berät sich mit seinen Anhängern (oTaaiütai), nachdem er ihnen von seinen eigenen Absichten und von dem Geheimschreiben des Histiaios Mitteilung gemacht hat, und alle stimmen sofort für den „Ab343

fall" von den Persern, mit Ausnahme des Hekataios — der also danach strenggenommen, da er zur Beratung zugezogen wird, zu den „Anhängern" des Aristagoras gerechnet werden muß - , der wegen der Größe und den Resourcen des Perserreiches Bedenken erhebt. Von einer längeren, geheimen Vorbereitung des Abfalls ist keine Rede. "Wenn Herodot berichtet 262 , man habe sich der Generäle des eben von der Expedition nach Naxos zurückgekehrten Heeres mit Gewalt bemächtigt, so muß der erste Schritt zum offenen Aufstand fast unmittelbar auf den Beschluß zum Abfall gefolgt sein. Dann, so berichtet Herodot 263 , verzichtete Aristagoras in Milet auf die Tyrannis und führte eine demokratische Verfassung ein, um die Bevölkerung für sich und seine Pläne zu gewinnen, worauf er auch in den übrigen kleinasiatischen Griechenstädten die Tyrannen austrieb, Demokratien einrichtete und die Bevölkerung für den Aufstand gegen die Perserherrschaft gewann. Es bedarf keiner Erörterung, daß man einen Aufstand, der sich wie ein Lauffeuer von einer Stadt zur andern über ein weites Gebiet ausbreitet, auf die Weise, wie es Herodot berichtet, nicht ins Werk setzen kann, wenn die Stimmung dazu nicht allenthalben schon vorher reif gewesen ist. Um so seltsamer ist es, daß bei Herodot davon überhaupt nicht die Rede ist. Der Satz, Aristagoras habe in Milet die Demokratie eingerichtet 264 , damit die Milesier „freiwillig" oder „gern" (exovteg) sich an dem Aufstand beteiligten, ist das einzige, was man als Hinweis auf ein Bedürfnis der „Ionier" nach etauftepia auffassen kann. Auf die kurze Erzählung von Anlaß und Ausbruch des Ionischen Aufstandes folgt bei Herodot 2 6 5 der Bericht von der Reise des Aristagoras nach dem griechischen Mutterland, um dort - nachträglich, nicht, wie es einer sorgfältigen Planung entsprochen hätte, vorher - Bundesgenossen gegen die Perser zu suchen. Dieser Bericht enthält die umfangreichen E x kurse über ältere spartanische und athenische Geschichte, innerhalb des letzteren aber auch die lange und leidenschaftliche Rede des Korinthers Sokles gegen die Tyrannis und für die Isokratie 266 , die seltsam gegen die nebensächliche Behandlung dieser Dinge in den Kapiteln, die vom ionischen Aufstand als solchem handeln, absticht. In der Erzählung von dem weiteren Verlauf des ionischen Aufstandes nach der Rückkehr des Aristagoras von seinem Aufenthalt im griechischen Mutterland sind die Akzente ähnlich verteilt wie in dem Bericht von seinem Anlaß und Ausbruch 27 . Aristagoras fordert die in Kleinasien angesiedelten Paeonier auf 267 , den Aufstand dazu zu benützen, um in ihre Heimat in Thrakien zurückzukehren. Diese befolgen den R a t auch mit Erfolg, obwohl eine persische Abteilung sie einzuholen und in ihre 344

ihnen von Dareios zugewiesenen "Wohnsitze zurückzubringen sucht. Aber die aufständischen Ionier, fügt Herodot ausdrücklich hinzu268, hatten keinerlei Vorteil davon. Auf einen solchen Vorteil habe es Aristagoras auch gar nicht abgesehen gehabt. Er habe nur dem Dareios (der, wie aus dem Vorhergehenden hervorgeht, dem Aristagoras nie etwas zuleide getan hatte) einen Tort antun wollen. Als dann ein Heer der Athener, die Aristagoras zu Bundesgenossen gewonnen hat, in Kleinasien angelangt ist, läßt Aristagoras, ohne persönlich daran teilzunehmen, einen Angriff auf Sardes unternehmen 269 , der sich als sehr schlecht geplant erweist und die katastrophalsten Folgen hat. Das verbündete Heer findet zunächst keinen "Widerstand und plündert die Stadt und setzt sie in Brand. Aber die Burg einzunehmen sind sie nicht imstande; und als die Lyder und Perser sich sammeln und "Widerstand leisten und dazu noch das Gerücht von Verstärkung kommt, die im Anzüge sei, bekommen die Ionier es mit der Angst und kehren im Schutze der Dunkelheit an die Küste und zu ihren Schiffen zurück. Darauf haben die Athener von der Unternehmung genug und kehren trotz der flehentlichen Bitten des Aristagoras in ihre Heimat zurück270. Als Folge der unüberlegten Expedition nach Sardes wird es von Herodot bezeichnet271, daß Dareios von da an bei jeder Mahlzeit sich von einem Diener dreimal mahnen ließ: „Herr gedenke der Athener", und daß die Perser sich in Zukunft nicht scheuten, griechische Heiligtümer niederzubrennen, da das Heiligtum der Kybele in Sardes von den Aufständischen niedergebrannt worden war. Von den früheren Absichten des Dareios, Europa zu erobern, ist auch hier wieder in keiner "Weise die Rede. In der Schilderung der folgenden Phase des ionischen Aufstandes 272 tritt die Person des Aristagoras mehr zurück, und der aufmerksame Leser kann nicht umhin zu bemerken, daß bei dem Aufstand auch nicht geringe andere Kräfte im Spiele gewesen sein müssen, aber wiederum ohne daß Herodot selbst darauf aufmerksam macht. Die ionische Flotte segelt zuerst nach dem Hellespont und bringt die dortigen Griechenstädte auf ihre Seite. Zugleich schließt sich ein großer Teil von Karien den Aufständischen an. Auf der Insel Kypros hatte, so erfahren wir erst jetzt273, schon lange unter der Führung des Onesilos, des jüngeren Bruders des Königs Gorgos von Salamis, eine Partei bestanden, die zum Aufstand gegen die persische Oberherrschaft drängte. Auf die Nachricht vom Aufstand der Ionier erhebt sich Onesilos gegen seinen Bruder, der den Persern treu bleiben will, und bringt die ganze Insel mit Ausnahme von Amathus zum Abfall von den Persern. Bei Herannahen eines persischen 345

Heeres bittet er die Ionier um Hilfe. Diese erscheint auch - allerdings erst nachdem ein persisches Heer schon auf die Insel übergesetzt ist - und bringt der phönikischen Flotte der Perser eine schwere Niederlage bei274. Aber die Kyprioten zu Lande sind weniger glücklich, und als die Führer der ionischen Flotte bemerken, daß der Kampf zu Lande eine ungünstige "Wendung nimmt, segeln sie, ohne einzugreifen, in die Heimat davon 275 . Der ganze Verlauf zeigt, daß der Aufstand in Kypern zu dem gegebenen Zeitpunkt zwar wohl durch den ionischen Aufstand zum Ausbruch gebracht wurde, die Bedingungen für einen Aufstand dagegen schon lange bestanden hatten. Ähnliches gilt für den Aufstand in Karien. Nachdem die persischen Generale Daurises, Hymaies und Otanes den von der Expedition nach Sardes zurückkehrenden Ioniern bei Ephesus eine schwere Niederlage beigebracht und darauf eine Reihe der abgefallenen Städte am Hellespont wieder unter persische Botmäßigkeit gebracht haben276, führt Daurises einen Teil des persischen Heeres nach Karien und bringt den karischen Aufständischen eine schwere Niederlage bei. Auch ein Heer der „Milesier" und ihrer Bundesgenossen, das ihnen zu Hilfe kommt 277 , ist nicht glücklicher. Kurz darauf gelingt es den Karern zwar, sich durch einen Uberfall, bei dem das persische Heer blutige Verluste erleidet und auch Daurises fällt, Luft zu machen278. Aber nadidem der ionische Aufstand niedergeworfen ist, werden auch die Karer wieder unter persische Botmäßigkeit gebracht279. Nach diesen Ereignissen, bei deren Schilderung von Aristagoras keine Rede mehr gewesen war, scheidet dieser nun überhaupt aus der Geschichte aus. Angesichts der Erfolge der Perser wird ihm klar, daß er die persische Macht unterschätzt hat. Er macht den Vorschlag280, mit der Bevölkerung von Milet eine Kolonie entweder in Sardinien oder in Myrkinos, dem Ort, den sich Histiaios von Dareios auserbeten hatte, zu gründen 281 und die Stadt selbst aufzugeben. Als er damit keinen Anklang findet, übergibt er die Stadt einem angesehenen Bürger, Pythagoras 282 , und begibt sich selbst nach Myrkinos, wo er von den Thrakern erschlagen wird. Unmittelbar darauf taucht Histiaios, der zweite Anstifter des Aufstandes, in dem Bericht Herodots von neuem auf, aber auch er nur, um eine kurze Gastrolle zu geben. Es ist ihm gelungen, den Dareios zu überreden, ihn in das aufständische Gebiet zu entsenden, um dort Ordnung zu schaffen. Aber der Satrap Artaphernes, den er unterwegs in Sardes aufsucht, hat ihn durchschaut. „Du hast den Schuh gemacht", sagt er zu ihm283, „Aristagoras hat ihn nur angezogen." Darauf entflieht Histiaios 346

bei Nacht, um die Leitung des Aufstandes zu übernehmen. Aber auch die Ionier sind nicht von ihm entzückt. Sie fragen ihn, warum 284 er den Aristagoras zu dem Aufstand angestiftet habe, der nun einen so unglücklichen Verlauf zu nehmen beginnt. Da kann er sich nur durch grobe Lügen über die Absichten, die Dareios den Ioniern gegenüber gehabt habe285, aus der Klemme ziehen. Die Milesier wollen ihn jedoch trotzdem nicht wieder in ihre Stadt aufnehmen. Eine Intrige, die er mit Persern in Sardes angezettelt hat, wird von Artaphernes entdeckt286. Schließlich gelingt es ihm, mit Hilfe der Lesbier ein Heer zusammenzubringen, mit dem er nach einem Unternehmen auf Thasos in Mysien einfällt. Dort wird er jedoch nach einem unglücklichen Gefecht von einem persischen General gefangengenommen287 und an Artaphernes geschickt, der ihn sofort kreuzigen läßt und seinen einbalsamierten Kopf an Dareios sendet, aus Furcht, der schlaue Mann möchte, wenn er am Leben bliebe, es trotz allem fertig bringen, die Gunst des Königs wiederzugewinnen. Damit ist auch diese Figur aus der Geschichte verschwunden. Aber der Aufstand der Ionier geht zunächst trotzdem weiter. Erst in der nun folgenden Darstellung der letzten Phase dieses Aufstandes kommt das Wort eXsuftEgia wieder vor, aber auch hier so nebenbei und außerhalb der Hauptereignisse, daß man sich verwundern muß, wenn man daran denkt, welche Rolle die eXsiidEgia in den übrigen Büchern des "Werkes Herodots, vor allem im ersten und in den drei letzten Büchern, aber auch sonst nicht selten, spielt. Nachdem Herodot die gewaltsame Abweisung des Histiaios durch die Milesier geschildert hat, berichtet er288, wie die Perser nun ihre Land- und Seestreitkräfte auf diese Stadt konzentrieren. Diese sind ihrer Sache jedoch keineswegs sicher; denn sie fürchten die Stärke der ionischen Flotte und zweifeln, ob es ihnen gelingen werde, Milet einzunehmen, ohne die See zu beherrschen289. Sie veranlassen daher die von Aristagoras aus den ionischen Städten vertriebenen „Tyrannen" mit ihren Landsleuten Verhandlungen anzuknüpfen, auf Grundlage des Versprechens, es werde ihnen keinerlei Strafe auferlegt werden, wenn sie sich freiwillig von den übrigen Aufständischen trennten und unter die persische Oberhoheit zurückkehrten. Aus Torheit (äyvco¡loaiiv-fl), wie Herodot ausdrücklich sagt290, gehen die Ionier jedoch auf dieses günstige Angebot nicht ein. Ihr Admiral, Dionysios von Phokaia, hält eine Ansprache an sie291, in der er ihnen verspricht, die persische Flotte zu besiegen, wenn sie zu allen Anstrengungen bereit sind. Auf ihre Zustimmung hin unterwirft er sie einer harten Disziplin und unternimmt täglich anstrengende Kriegsübungen mit ihnen. Das haben die Ionier nach 347

einer Woche jedoch satt. Sie meinen, das sei schlimmer als von den Persern beherrscht zu werden, und weigern sich, die anstrengenden Übungen ferner mitzumachen. Als die Samier davon erfahren, beschließt die Mehrzahl von ihnen 292 , auf ein erneutes Angebot durch Aiakes, den Sohn des Syloson, einzugehen und die Sache der Aufständischen zu verlassen. Als es bei Lade zur Schlacht kommt, verlassen die samischen Schiffe mit Ausnahme von elf die Schlachtordnung 293 . Die neben ihnen eingeordneten Lesbier folgen ihrem Beispiel, ebenso andere „Ionier", die nicht weiter bezeichnet werden. Die Chier dagegen kämpfen bis zum Äußersten, ebenso einige andere Kontingente, darunter die elf Schiffe, die sich geweigert haben, dem Befehl zur Heimkehr Folge zu leisten. Sie erhalten später in ihrer Heimat ein Ehrenmal für ihre Tapferkeit 2 9 4 . Das ist eine höchst seltsame Erzählung. Schon die Art, wie Herodot seinen Tadel der Ionier formuliert, ist höchst eigenartig: „Sie waren töricht und wiesen den Verrat zurück", wobei doch Verrat etwas ist, das sonst von Herodot nicht gebilligt wird. Dann weiter: „Jeder einzelne Teil glaubte, das Angebot der Perser gelte nur für sie persönlich", was die Verlockung, sich durch Verrat an den andern einen solchen Vorteil zu verschaffen, noch erhöht haben muß. Endlich die Rede des Admirals Dionysios. D a heißt es 295 : „Jetzt steht es f ü r euch auf des Messers Schneide, ob ihr freie Männer sein wollt oder Sklaven und dazu noch davongelaufene" (sc. die wieder zu ihren Herren zurückgebracht werden). „Wenn ihr jetzt die nötigen Anstrengungen machen werdet, werdet ihr euch z w a r im Augenblick plagen müssen, dafür aber in Zukunft freie Männer sein." D a ist nun gewaltig von der eX£ir0£Q«x die Rede, deren Erwähnung man in der Schilderung des Ursprungs und der ersten Phase des Aufstandes vermißt hat. Aber was ist die Bedeutung der Rede? Man hat gemeint 296 , Dionysios solle durch sie als Prahler gekennzeichnet werden; und wenn man an Herodots Tadel der äYvwu.oai)VT] der Ionier denkt und an den endlichen Ausgang, läßt sich f ü r diese Auslegung etwas sagen. Denkt man aber daran, daß nach Herodots eigener Schilderung die Ionier das, was Dionysios als Bedingung des Erfolges genannt hat, das harte Training vor der Schlacht, nicht auf sich genommen hatten, daß zu Beginn der Schlacht 49 samische und 70 lesbische Schiffe nebst einer nicht genauer bezeichneten Anzahl von Schiffen der „Ionier" davonsegeln 297 , ohne überhaupt in die Schlacht einzugreifen, daß von den dreihundertdreiundfünfzig Schiffen der Griechen298 jedenfalls weniger als zwei Drittel, wahrscheinlich aber kaum die Hälfte, an der Schlacht teilnehmen und dann doch der persischen Flotte schwere Verluste beibringen 299 , ehe sie besiegt 348

werden, kann man durchaus zum entgegengesetzten Resultat kommen, daß zum mindesten ein Sieg der griechischen über die persische Flotte bei Lade sehr wohl im Bereich der Möglichkeit gelegen hätte. Wie es dann hätte weitergehen sollen, ist freilidi eine andere Frage. Dafür sind die Überlegungen und Ratschläge des Hekataios relevant, die überhaupt das Schlüssigste sind, was in der ganzen Erzählung vorkommt. Aber auch in bezug auf diese bleibt Herodots Darstellung, wie sich gezeigt hat 300 , undeutlich und unbestimmt. Uberall zeigt sich hier also auch in den Einzelheiten jene eigentümlich einseitige und zugleich unklare Haltung Herodots den Ereignissen gegenüber, die von Anfang an darin in Erscheinung tritt, daß Herodot den ganzen Aufstand als Werk des Aristagoras und des Histiaios darzustellen sucht, obwohl doch offenkundig ist, daß er nicht solche Ausmaße hätte annehmen können, wenn nicht überall die Bereitschaft dazu schon lange latent vorhanden gewesen wäre. Auch die Schilderung der Schlacht bei der Insel Lade und der darauffolgenden Niederwerfung des Aufstandes weist dieselbe Zweideutigkeit und Unbestimmtheit auf. Von den Chiern heißt es301, sie hätten, als sie sich von den meisten ihrer Bundesgenossen verraten sahen, es nicht für richtig gehalten, sich wie diese Feiglinge zu verhalten, sondern mit den wenigen ihnen verbliebenen Verbündeten tapfer gekämpft, bis sie eine große Menge feindlicher Schiffe genommen, schließlich aber die meisten der ihrigen verloren hatten und so mit dem Rest sich zurückziehen mußten. Hier scheint also das Verhalten der Chier, die in einer hoffnungslosen Situation dennoch kämpfen, gelobt zu werden, während vorher das Verhalten der Ionier insgesamt, die in einer viel weniger aussichtslosen Situation nicht hatten nachgeben wollen, als T o r heit getadelt worden ist 302 . Seltsam ist auch das Delphische Orakel, das Herodot kurz darauf mitteilt, und in dem die Milesier als „Vollbringer schlechter Taten" bezeichnet werden und ihnen ein schreckliches Schicksal angedroht wird 303 , ohne daß ausgesprochen wird oder aus dem Zusammenhang klar hervorgeht, worin denn die schlechten Taten, deren sie beschuldigt werden, eigentlich bestehen. Dem negativen Urteil über die Milesier, das darin zu liegen scheint, steht auf der anderen Seite Herodots Mißbilligung der Gleichgültigkeit der Sybariten beim Untergang Milets und sein Lob der leidenschaftlichen Anteilnahme der Athener an demselben Ereignis 304 gegenüber. Seltsam endlich von einer andern Seite her ist es, daß Histiaios mit Hilfe der Lesbier, die bei Lade die griechische Sache verraten haben, mit Gewalt und Blutvergießen in Chios eindringt, das ihm infolge der schweren Verluste, welche die Chier im Kampfe gegen die 349

Perser erlitten haben, keinen ausreichenden "Widerstand leisten kann 305 . Hier wie bei seinem darauffolgenden Angriff auf Samos verhält er sich keineswegs als Führer eines Aufstandes gegen die Perser, sondern wie ein Condottiere auf eigene Faust. Da ist es denn wiederum höchst seltsam, daß Histiaios auf die Nachricht, daß die persisch-phönikische Flotte von Milet „gegen das andere Ionien" heransegelt, mit einem zum mindesten zum großen Teil aus Lesbiern - die doch bei Lade die ionische Flotte im Stich gelassen hatten - bestehenden306 Heer nach Kleinasien übersetzt, wo er dann bei einem Zusammenstoß mit einem persischen Heer gefangengenommen und an Artaphernes ausgeliefert wird. Zweck, Sinn und Zusammenhang der Unternehmungen des Histiaios bleiben in außergewöhnlichem Maße unklar 307 . Ähnliches gilt für die chronologische Reihenfolge der Ereignisse zwischen dem Abfall des Aristagoras bis zur Einnahme von Milet durch die Perser, die von Herodot ins sechste Jahr nach dem Ausbruch des Aufstandes gesetzt wird 308 . Auf der anderen Seite ist der ganze Abschnitt über den ionischen Aufstand - vor allem, wenn man von den zum Teil umfangreichen Exkursen absieht, die nicht von vorneherein als zugehörig betrachtet werden können - außergewöhnlich frei von religiösen Elementen. Außer dem Orakel über den Untergang von Milet, das aller "Wahrscheinlichkeit nach historisch ist309, erwähnt Herodot 310 noch Vorzeichen, durch die sich das große Unglück der Chier bei und nach der Schlacht bei Lade ankündigte: ein nach Delphi gesandter Chor von hundert jungen Leuten wird von der Pest befallen, so daß nur zwei von ihnen in die Heimat zurückkehren; ein Schulgebäude bricht ein und 1 1 9 Kinder, die beim Leseunterricht waren, werden getötet. Herodot macht dazu die Bemerkung, die Gottheit scheine großes Unglück, das im Begriff sei, eine Stadt oder ein Volk zu befallen, durch vorhergehende kleinere Katastrophen anzukündigen. Aber das Orakel sowohl wie die Vorzeichen beziehen sich auf Einzelereignisse innerhalb des großen Geschehens, und Herodot macht keinerlei Versuch, sie in dies Gesamtgeschehen zu verflechten oder diesem auf diese oder andere "Weise eine tiefere religiöse Bedeutung zu geben, wie er dies in der Kroisosgeschichte oder bis zu einem gewissen Grade in der Geschichte des Xerxeszuges getan hat. Im ganzen bleibt alles auf einer durchaus menschlichen, häufig allzumenschlichen Ebene: Intrigen, Torheit, Lässigkeit, menschliche Schwächen spielen die Hauptrollen in dem Geschehen; und wo menschliche Entschlossenheit und Tapferkeit zu preisen wäre, ist es eine unangebrachte Tapferkeit, die zum Untergang führt. Auch der Ausgang ist nüchtern. Die Perser behandeln Milet, das ihnen so

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lange Widerstand geleistet hat, und von wo der Aufstand ausgegangen war, hart und grausam 311 , ebenso die Inseln Chios und Lesbos, die „durchgekämmt" werden 312 , während in Samos, nachdem die entschiedensten Gegner einer Unterwerfung nach Sizilien ausgewandert sind und in Zankle eine Kolonie gegründet haben 313 , Aiakes, der Sohn des Syloson und Neffe des Polykrates, von den Persern wieder als Tyrann eingesetzt, die Einwohner aber sonst glimpflich behandelt werden. Im übrigen werden die ionischen Städte gezwungen, Schiedsverträge miteinander abzuschließen, um in Zukunft jede Art von kriegerischen Auseinandersetzungen unter ihnen zu unterbinden, was Herodot ausdrücklich als eine für die Ionier äußerst wohltuende und nützliche Maßnahme bezeichnet314. Dann aber wird ihr Land neu vermessen und ihnen nach dem Ergebnis der neue Tribut, den sie an die Perser zu zahlen haben, auferlegt. Als Resultat der damit zu Ende geführten kurzen Analyse der Erzählung vom ionischen Aufstand ergibt sich, daß dieser Abschnitt des "Werkes Herodots sich von allen andern bisher betrachteten Abschnitten dieses Werkes in seinem Charakter in mehrfacher Hinsicht wesentlich unterscheidet. Er steht aber innerhalb dieses Werkes auch etwas isoliert. Zwar stellen die ersten Kapitel des fünften Buches ( 1 - 2 7 ) eine Verbindung zwischen der vorhergehenden Erzählung des Skythenzuges des Dareios und der Geschichte des ionischen Aufstandes her. Aber dieses Verbindungsstück hat, wie sich gezeigt hat 315 , selbst einen fragmentarischen Charakter und schließt nach rückwärts nicht gut an. Es ist offenbar geschrieben worden, um die Lücke so gut als möglich auszufüllen, aber ohne genauere Erkundungen mit Hilfe von Material, das von hier oder da mehr oder minder zufällig zu Gebote stand. Das Auffallendste aber an diesem Zwischenstück war, daß die darin erzählten Unternehmungen alle geeignet erscheinen, einen Feldzug nach Griechenland und dem westlichen Europa vorzubereiten, wie er im dritten Buch angekündigt worden war, Herodot selbst aber diesen ihren Charakter an dieser Stelle nirgends erwähnt, sondern alles aus von den Plänen des Dareios völlig unabhängigen Ursachen hervorgehen läßt. Noch unvermittelter jedoch ist der Ubergang von der Erzählung des Endes des ionischen Aufstandes zu dem, was folgt. „Das waren nun friedliche Anordnungen", heißt es316 am Ende der Beschreibung der persischen Regelung der Verhältnisse in den wieder unterworfenen Städten, „im folgenden Frühjahr jedoch kam Mardonios mit einem großen Heer". Dann wird berichtet, Mardonios habe in den ionischen Städten überall Demokratien eingerichtet317, ohne daß man erfahren hat, wann dieTyran35i

nen, die von den Aufständischen überall vertrieben worden waren, eigentlich wieder zurückgekehrt sind, so daß Mardonios sie nun wieder entfernen muß. „Nachdem er das getan hatte", geht es dann weiter 318 , „sammelte Mardonios am Hellespont eine gewaltige Flotte und ein gewaltiges Heer und setzte nach Europa über, um gegen Eretria und Athen zu Felde zu ziehen." Diese Städte aber hätten nur den Vorwand für das Unternehmen geliefert. Das eigentliche Ziel sei gewesen, eine möglichst große Anzahl von griechischen Städten der persischen Oberherrschaft zu unterwerfen 319 . Da sind wir also plötzlich wieder inmitten der Eroberungspläne des Dareios, die in der Demokedes-Atossa-Geschichte am Ende des dritten Buches angekündigt worden waren 320 , von denen aber seither auf weite Strecken hin nicht mehr die Rede gewesen ist. Selbst der Zug der vereinigten Ionier und Athener gegen Sardes, aus Anlaß dessen sich Dareios jeden Tag beim Essen von einem Sklaven mahnen läßt „Herr, gedenke der Athener", ist nur ein Vorwand, um den schon lange gehegten Eroberungsplänen des Dareios ein besseres Gesicht zu geben. So hebt sich die Sonderstellung des Abschnittes über den ionischen Aufstand (einschließlich der überleitenden und vorbereitenden Kapitel zu Anfang des fünften Buches), die sich von Anfang an nach den verschiedensten Richtungen hin abgezeichnet hatte, am Ende und im Kontrast zu der folgenden Darstellung der Unternehmungen des Dareios gegen Griechenland noch einmal besonders kräftig heraus. Umgekehrt zeigt sich eine gewisse Anknüpfung des Abschnittes über die Unternehmungen des Dareios gegen Griechenland über das vierte, das fünfte und die ersten 42 Kapitel des sechsten Buches hinweg an das dritte Buch auch darin, daß gleich zu Anfang dieses Abschnittes Herodot von der Einrichtung der Demokratie in den ionischen Städten mit dem ausdrücklichen Hinweis berichtet321, dadurch werde bestätigt, was er (im dritten Buch) von der Diskussion über eine mögliche Einführung der Demokratie in Persien erzählt hatte, sowie darin, daß die schnell fortschreitende Erzählung von den Vorbereitungen zu dem Feldzug nach Griechenland durch diese Rüdsverweisungen unterbrochen wird. Setzt sich also damit der Abschnitt über die persischen Unternehmungen gegen das griechische Mutterland unter Dareios, welcher den Rest des sechsten Buches von Kapitel 43 bis zum Ende einnimmt, kräftig gegen den vorhergehenden Abschnitt über den ionischen Aufstand ab, so hat er mit diesem doch auch wieder gewisse kompositionelle und inhaltliche Charakteristika gemeinsam. Darin liegt ein besonderes Problem. Die auffallendste kompositionelle Ähnlichkeit zwischen beiden Abschnitten liegt

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in der Unterbrechung durch lange Exkurse über Phasen der griechischen Geschichte im Mutterland, die weit über das hinausgehen, was zum Verständnis der Ereignisse, in deren Schilderung diese Exkurse eingefügt sind, nötig ist. In dem zweiten Abschnitt des sechsten Büches übertrifft die Gesamtheit der Exkurse die Haupterzählung an Umfang um ein Beträchtliches. Der umfangreichste dieser Exkurse322 spaltet die Haupterzählung in zwei Teile, von denen der erste den Bericht über die Expedition des Mardonios, der zweite denjenigen über die Expedition des Datis und Artaphernes sowie über die Schlacht bei Marathon enthält. Andere Ähnlichkeiten zwischen diesem Abschnitt und dem Abschnitt über den ionischen Aufstand bestehen darin, daß auch hier die Orakel oder sonstigen göttlichen Eingriffe, die etwa erwähnt werden323, neben der im übrigen nüchternen historischen Erzählung einhergehen, nicht als ein wesentliches Element in sie verwoben sind wie in der Kroisosgeschichte und einem großen Teil der letzten drei Bücher, ferner in einer gewissen Nonchalance in der Anordnung der Erzählung, die zur Folge hat, daß nicht immer ganz klar wird, wie sich das allgemeine Motiv der Eroberungssucht, das nun mehrfach kräftig hervorgehoben wird 324 , zu den speziellen Anlässen und vor allem zu der faktischen Begrenzung der Unternehmungen der Perser in diesem Zeitabschnitt verhält, und auch die chronologische Abfolge der Ereignisse nicht ganz klar wird. So ist es zum mindesten etwas seltsam, daß Herodot berichtet325, Dareios habe nach dem mißglückten Unternehmen des Mardonios Gesandte nach Griechenland geschickt, um „herauszufinden, ob die Griechen lieber Krieg gegen ihn führen oder sich ihm unterwerfen wollten", ohne eine Erklärung dafür zu geben, warum Dareios dies nicht schon vor diesem Unternehmen, das doch ebenfalls nach seiner ausdrücklichen Angabe schon die Unterwerfung Griechenlands zum Ziele gehabt hatte, getan hat, und obwohl die spätere Expedition des Datis und Artaphernes faktisch immer noch ein begrenztes Ziel hat. Im übrigen ist der Abschnitt über das Unternehmen des Mardonios und die darauffolgenden Vorbereitungen zu einem zweiten Angriff auf Griechenland außerordentlich kurz, und auch bei der Schilderung der Expedition des Datis und Artaphernes selbst wird nur die Schlacht von Marathon ausführlicher geschildert, während die Exkurse einen sehr großen Raum einnehmen. "Was nun die großen Exkurse im fünften und sechsten Buch selbst angeht, so läßt sich hier an mehreren Stellen die entgegengesetzte Beobachtung machen wie bei den verschiedenen Abschnitten der samischen Geschichte. Während diese, wie sich gezeigt hat 326 , ursprünglich eine Ein353

heit gebildet haben muß und dann nachträglich auf verschiedene Teile des Werkes verteilt worden ist, sind die Abschnitte der Exkurse über ältere spartanische und athenische Geschichten des öfteren aus ursprünglich offenbar voneinander unabhängigen Stücken zusammengesetzt. Sehr deutlich ist dies z. B. bei den Stücken, die von dem Spartanerkönig Kleomenes handeln. Dem Bericht über den Aufenthalt des Aristagoras von Milet in Sparta und bei Kleomenes, um die Spartaner als Helfer in dem geplanten Aufstand gegen die Perser zu gewinnen, geht ein langer Abschnitt voraus327, der davon handelt, wie Kleomenes König geworden war. Das ist ganz in der Ordnung. Nur daß im Anschluß daran auch die Geschicke des jüngeren und beliebteren Halbbruders des Kleomenes von der ersten Frau seines Vaters, Dorieus, bis zu dessen Ausgang ganz ausführlich geschildert werden, ist für den größeren historischen Zusammenhang ganz irrelevant und gehört von diesem Gesichtspunkt aus nicht hierher. Daß aber die beiden Abschnitte über die Vorgeschichte des Königs Kleomenes und über den Besuch des Aristagoras in Sparta nicht von Anfang an aufeinander abgestimmt gewesen waren, geht noch aus einer kleinen Äußerlichkeit sehr deutlich hervor. Am Ende des ersten Abschnittes heißt es328, Kleomenes habe keine Söhne gehabt, sondern nur eine Tochter mit dem Namen Gorgo. Im Zusammenhang mit dem Besuch des Aristagoras in Sparta wird die hübsche Geschichte erzählt 329 , wie Aristagoras den Versuch gemacht habe, den Kleomenes durch das Angebot immer größerer Summen für sich zu gewinnen, bis dessen kleines Töchterchen, das bei der Unterhandlung zugegen war, ausrief: „Papa, der fremde Mann wird dich bestechen, wenn du jetzt nicht abbrichst", worauf denn der König die Unterhandlung abgebrochen habe und Aristagoras aufgefordert worden sei, das Land zu verlassen. Hier heißt es bei Herodot: diese Tochter mit dem Namen Gorgo war sein einziges Kind, was ja nicht nötig gewesen wäre, wenn der Abschnitt, in dem eben dies gesagt worden war, unmittelbar vorausging. Offenbar sind der Abschnitt über den Besuch des Aristagoras in Sparta, der mit dem Hinweis auf die Karte und deren Wirkung auf den spartanischen König ja auch ganz in die Geschichte von den Vorbereitungen zu dem ionischen Aufstand und von der Rolle, die Hekataios dabei spielte, hineingehört, und der Abschnitt über die Vorgeschichte des Kleomenes ursprünglich unabhängig voneinander entstanden. Ähnlich steht es mit dem Verhältnis zwischen dem Kleomenesabschnitt im fünften und demjenigen im sechsten Buch. Auch dieser Abschnitt knüpft natürlich an ein Ereignis aus der großen Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident an330. Die Ägineten haben als Zeichen der Unter354

werfung den Abgesandten des Dareios Erde und Wasser gegeben. Darauf verklagen die Athener die Ägineten in Sparta als Verräter an der gemeinsamen Sache, und Kleomenes begibt sich nach Ägina, um sich der Schuldigen zu versichern. Dabei bekommt er jedoch Schwierigkeiten mit seinem Mitkönig Demaratos 331 , die ihn veranlassen, den Versuch zu machen, diesen des Thrones zu berauben, was ihm schließlich auch gelingt. Das gibt Herodot die Veranlassung zu einem langen Exkurs über Ursprung und Entwicklung der Feindschaft zwischen Kleomenes und Demarat, über den Ursprung des spartanischen Doppelkönigtums, über die Prärogativen der spartanischen Könige und über die Abstammung und die Umstände der Geburt des Demarat, welche dem Kleomenes die Handhabe gaben, die Legitimität seines Königtums anzufechten. Das alles gehört in den Hauptzügen zu dem Hintergrund der spartanischen Aktion in Ägina und damit der Vorgeschichte der Expedition des Datis und Artaphernes und selbst des Xerxeszuges, für dessen Ausgang die Haltung der Athen vorgelagerten Insel von beträchtlicher Bedeutung war, geht aber in der Detailausführung wiederum weit über das hinaus, was der Zusammenhang erfordert, während gerade das, was der Erklärung bedürfte und in jenen Kapiteln hätte geklärt werden können, dort nicht erklärt wird. Als Kleomenes die Haupturheber des Beschlusses, die persische Oberhoheit anzuerkennen, festnehmen will, tritt ihm ein gewisser Krios entgegen 332 und wirft ihm vor, er sei von den Athenern bestochen und handle nicht im Auftrage des spartanischen Staates. Andernfalls wäre er mit dem andern König Demarat zusammen gekommen, um die Schuldigen festzunehmen. Das habe Krios, berichtet Herodot, auf Grund eines Briefes gesagt, den er von Demarat erhalten hatte. Darauf habe Kleomenes dem Krios zwar mit unangenehmen Folgen für die Zukunft gedroht, sei aber im übrigen unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Unterdessen habe Demarat in Sparta gegen Kleomenes gehetzt 333 . Was hier Herodot berichtet, mag nicht im direkten Widerspruch dazu stehen, daß nach seiner eigenen Darstellung im fünften Buch334 es seit den Differenzen zwischen Kleomenes und Demarat anläßlich ihrer Unternehmungen in Attika nach dem Sturz der Tyrannen den spartanischen Königen verboten war, zusammen in den Krieg zu ziehen, und daß Herodot in dem Abschnitt über die Privilegien der spartanischen Könige es unter diesen Privilegien auch aufzählt 335 , daß sie Krieg führen können, wo sie wollen, ohne an heimatliche Direktiven gebunden zu sein, da es sich hier nicht um einen Kriegszug im eigentlichen Sinne, sondern um eine diplomatische Aktion handelt, die ja wohl mit der Politik des Staates übereinstimmen mußte. Aber der Ein355

wand des Krios: wenn er im Einvernehmen mit den spartanischen Behörden gehandelt hätte, wäre er mit Demarat zusammen gekommen, ist angesichts der angeführten Stellen doch sehr eigentümlich. Etwas später aber, wo Kleomenes mit Leotychides, der an Stelle des abgesetzten Demarat König geworden ist, gegen die Ägineten zieht336, ist der Widerspruch zu dem im fünften Buch Gesagten kaum mehr durch Interpretation zu beseitigen. Doch auch bei der Auseinandersetzung des Kleomenes mit Krios wäre es für das volle Verständnis des Zusammenhanges jedenfalls förderlicher gewesen, etwas darüber gesagt zu bekommen, warum der im übrigen als äußerst eigenmächtig und hartnäckig geschilderte Kleomenes den Einwänden des Krios nachgeben zu müssen glaubte, als zu erfahren, welche Ehren den spartanischen Königen nach ihrem Tode erwiesen wurden und wieweit die dabei beobachteten Gebräuche mit den in Persien und Ägypten befolgten übereinstimmten oder sich von ihnen unterschieden, so interessant auch das letztere vom ethnologischen Standpunkt aus sein mochte. Das alles zeigt, daß nicht einmal der Abschnitt über die spartanische Verfassung und die Prärogativen der spartanischen Könige mit dem Bericht über die Streitigkeiten zwischen Kleomenes und Demarat, in den er eingefügt ist und den er doch erläutern soll, wirklich integriert ist, von dem direkten Widerspruch mit Angaben über die Tätigkeit des Kleomenes und Demarat in Attika im fünften Buch ganz zu schweigen. Eine leichtere Diskrepanz ganz anderer Art kann man vielleicht zwischen den Demaratabschnitten des sechsten Buches und anderen Teilen des Werkes Herodots feststellen. Wenn von Demarat in dem langen Exkurs über spartanische Geschichte weit ausführlicher die Rede ist als zur Erklärung der Ereignisse, in deren Erzählung der Exkurs eingeschaltet ist, notwendig wäre, so ist dies immer wieder damit erklärt worden, daß Herodot hier schon an die wichtige Rolle gedacht habe, die Demarat später im siebten Buch spielen wird. Daraus scheint sich dann auch ein gewichtiges Argument für die Einheit des gesamten Werkes und eine Stütze für die Theorie, daß Herodot es von Anfang an in der Form geplant habe, in der es jetzt vorliegt, zu ergeben. Aber eben von diesem Gesichtspunkt aus erscheint es dann doch als recht seltsam und kaum vollständig aus der vielgerühmten Objektivität Herodots zu erklären, daß das recht ungünstige Bild, das man von Demarat in diesen Kapiteln bekommt 337 , mit der großartigen Rolle, die ihm in der Diskussion der ¿ÄevdEoia im siebten Buch zugewiesen wird, stark kontrastiert, und daß dies von Herodot hier nicht, wie man es in andern Teilen seines Werkes beobachten kann, durch künstlerische Mittel ausgeglichen wird. 356

Vor allem aber hat man schon immer bemerkt, daß gerade in der Darstellung der Beziehungen zwischen Athen und Ägina, die doch eigentlich in diesen Abschnitten das sind, was als Hintergrund der Perserkriege bedeutsam ist, und an die infolgedessen der große Exkurs im sechsten Buch auch ansetzt, die chronologischen Zusammenhänge sehr dunkel sind338, und in einigen Fällen sogar unklar bleibt, wie die verschiedenen Phasen dieser politischen und militärischen Auseinandersetzungen miteinander zusammenhängen. Es ist kaum zuviel gesagt, wenn die Darstellung der „äginetischen Kriege" bei Herodot als fragmentarisch bezeichnet worden ist339. Vergleicht man dies mit anderen Teilen des Gesamtwerkes, so kann kaum zweifelhaft sein, daß hier zum großen Teil Rohmaterial vorliegt, das aus verschiedenen „Quellen" stammt und nur unvollkommen verarbeitet und in den Zusammenhang eingefügt ist. Der lange Exkurs über ältere athenische Gesdiichte, welcher sich im fünften Buch an das Bündnisgesuch des Aristagoras in Athen anschließt wie der erste spartanische Exkurs an sein Bündnisgesuch in Sparta, weist in vieler Hinsicht ähnliche Charakteristika auf wie die Exkurse über spartanische Geschichte und über die äginetischen Kämpfe und Auseinandersetzungen des 5. Jahrhunderts im fünften und sechsten Buch. Audi hier wird gelegentlich der chronologisdie und der sachliche Zusammenhang völlig verdunkelt dadurch, daß offenbar Stücke verschiedener Herkunft zusammengeschoben sind. Das auffallendste Beispiel findet sich in dem Abschnitt, der von den Schicksalen des Tyrannen Hippias nach seiner Vertreibung aus Athen handelt. Hippias, erzählt Herodot 340 , habe sich nach Sigeion zurückgezogen, das sein Vater Pisistratos den Mytilenäern mit Waffengewalt abgenommen gehabt und wo er seinen unehelichen Sohn Hegesistratos als Tyrannen eingesetzt gehabt habe. Dann geht es weiter: „Der konnte nicht ohne Kampf halten, was er von Pisistratos erhalten hatte. Denn die Mytilenäer und die Athener kämpften von Achilleion und Sigeion aus lange Zeit miteinander" (wobei sie ihre Ansprüche auf das Land auf verschiedene Weise begründeten). Jeder, der diese Sätze liest, muß zunächst denken, es handle sich um Kämpfe, die sich zur Zeit der Herrschaft des Hegesistratos und nach der Eroberung von Sigeion durch Pisistratos abgespielt hätten. Dann erfährt man jedoch, daß Alkaios in diesen Kämpfen mitgekämpft und dabei seinen Schild verloren habe sowie daß ein Kompromißfriede zwischen Athenern und Mytilenäern nach langjährigen Kämpfen durch den (um 560 v. Chr. gestorbenen) Tyrannen Periander von Korinth vermittelt worden ist. Die Kämpfe, von denen hier die Rede ist und von denen Herodot am Ende 357

sagt, durch sie sei Sigeion unter athenische Herrschaft gekommen, müssen also zu einer Zeit stattgefunden haben, als Pisistratos noch lange keinen erwachsenen Sohn haben konnte, den er als Tyrannen in Sigeion hätte einsetzen können. Nicht nur die Chronologie, sondern auch der sachliche Zusammenhang zwischen den Kämpfen, durch die Sigeion an Athen kam, und seiner (Wieder)eroberung durch Pisistratos und den Kämpfen, in denen sich Hegesistratos um seinen Besitz wehren mußte, bleibt völlig unklar. Offenbar ist hier ein Stück über den Ursprung der athenischen Herrschaft über Sigeion ganz unorganisch in den Zusammenhang eingeschoben worden. Eine nicht ganz so grobe, aber doch ziemlich auffallende Unstimmigkeit, die wahrscheinlich ähnliche Ursachen hat, läßt sich am Ende des Abschnittes über den Ursprung der Feindschaft zwischen Athen und Ägina beobachten, der einen Teil dieses Exkurses bildet. Da heißt es341, die Athener hätten, obwohl ihnen das Delphische Orakel geraten hatte, dreißig Jahre Frieden zu halten, doch sogleich an den Ägineten Rache nehmen wollen, seien aber dann durch ein von den Spartanern kommendes Hindernis davon abgehalten worden. Dies Hindernis besteht in der Absicht des Kleomenes, den Tyrannen Hippias wieder als Tyrannen in Athen mit Gewalt einzusetzen, von welcher Absicht er aber durch den Widerstand der spartanischen Verbündeten, vor allem der Korinther, wieder abgebracht wird 342 . Obwohl damit der erwähnte Hinderungsgrund verschwunden zu sein scheint, ist in dem ganzen Exkurs von den Kämpfen zwischen Athenern und Ägineten nicht mehr die Rede, sondern wird dieses Thema erst im Exkurs des sechsten Buches wiederaufgenommen. Aber der ganze Abschnitt über Athener und Ägineten ist bis zu einem gewissen Grade ein erratischer Block an der Stelle, an der er steht, obwohl er nach rückwärts etwas besser anschließt als nach vorwärts. Herodot hat zunächst die Vertreibung der athenischen Tyrannen mit Hilfe der Lakedämonier erzählt. Dann erklärt er343, er wolle nun vor allem anderen alles berichten, was sich mit Athen in der Zeit zwischen dem Sturz der Tyrannen und dem Ausbruch des ionischen Aufstandes zugetragen habe. Er erzählt darauf von dem Konflikt zwischen Isagoras und Kleisthenes, welch letzterer eigentlich den Anlaß zur Befreiung Athens gegeben hatte, indem er die Pythia bestach, die Spartaner immer wieder aufzufordern, Athen zu befreien. Kleomenes tritt auf die Seite des Isagoras, verlangt die Verbannung des Kleisthenes, der sich auch außer Landes begibt, und besetzt die Akropolis344. Aber die Mehrheit des Volkes gibt nicht nach. Kleomenes wird auf der Akropolis belagert und muß schließlich unter 358

einer Kapitulation abziehen, während Kleisthenes nach Athen zurückkehrt. Kleomenes kommt mit einem großen Heer, darunter auch Verbündeten von Theben und Chalkis, zurück und beginnt, den Süden von Attika zu verwüsten345. Wegen des Widerstandes seiner peloponnesischen Verbündeten muß er jedoch abziehen, worauf die Athener zuerst an Chalkis, dann an den Thebanern Rache nehmen. Das gibt dann Anlaß dazu, daß dieThebaner Verbündete gegen Athen suchen und sich auf Grund der Interpretation eines dunklen Delphischen Orakelspruches an die Ägineten wenden. Wie es ihnen schließlich gelingt, diese zu gewinnen und was daraus weiter folgt, wird dann von Herodot in den folgenden Kapiteln 346 mit der größten Ausführlichkeit erzählt. So gesehen schließt also der lange Abschnitt über Ägina durchaus an das, was vorangeht, an; und was er enthält, gehört zweifellos zu dem, was in der Zeit zwischen dem Sturz der Tyrannen und dem ionischen Aufstand sich mit Athen ereignet hat, was Herodot ja zu Anfang dieses Abschnittes zu erzählen versprochen hatte. Von dieser Seite her erscheint sogar das etwas unvermittelte Abbrechen der Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Athenern und Ägineten nidit mehr besonders anstößig, vorausgesetzt, daß die Athener, auch als das durch die ihnen offenbar bekanntgewordenen Pläne des Kleomenes geschaffene Hindernis beseitigt war, den Krieg gegen Ägina nicht sofort wiederaufnahmen, oder jedenfalls nicht vor der Ankunft des Aristagoras. Nur der Mangel einer näheren Erklärung bleibt dann immer noch fühlbar. Das Ganze hat aber auch noch einen anderen Aspekt. Der Abschnitt über den Sturz der Tyrannis, mit dem der ganze Exkurs beginnt, umfaßt zehn Kapitel 347 . Aber ein sehr großer Teil besteht in Abschweifungen über die Herkunft des Geschlechtes der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton aus Phönikien, über die Herkunft der Schrift aus diesem Lande und alte Inschriften in „Kadmeischer" Schrift, die Herodot an verschiedenen Orten gesehen hatte 348 : dann etwas näher am eigentlichen Thema über die Beziehungen der Alkmaeoniden zu Delphi349, durch die es ihnen dann schließlich gelang, die Pythia für sich zu gewinnen. Wie der ionische Aufstand zunächst ganz als Werk des Aristagoras und des Histiaios erscheint, und man nur indirekt gewahr wird, daß dabei doch auch andere Kräfte wirksam gewesen sein müssen, so erscheint der Sturz der Tyrannen zunächst ganz als Werk des Kleisthenes und der Alkmaeoniden, und sieht man erst nachträglich daran, daß Kleisthenes die Unterstützung des Volkes hat, daß die Dinge doch auch eine weitere politische Bedeutung hatten. Aber am Schluß des Abschnittes steht plötzlich der 35 9

Satz 350 : „Athen, das vorher schon mächtig gewesen war, wurde jetzt, wo es von den Tyrannen befreit war, noch viel mächtiger." Darauf folgt die Darstellung des Konfliktes zwischen Isagoras und Kleisthenes. Dabei ist auch von der außerordentlich wichtigen neuen Phylenordnung des Kleisthenes die Rede 351 . Aber als Motiv für diese Änderung gibt Herodot die Nachahmung von Kleisthenes' Großvater mütterlicherseits, des Tyrannen Kleisthenes von Sikyon, an, der die sikyonischen Phylen geändert haben sollte, um nicht dieselben Phylen und Phylennamen zu haben wie die ihm verhaßten Argiver, und seine Verachtung der Ionier, mit denen er selbst nicht dieselben Phylen haben wollte. N u r in einem nicht ganz logischen Zusatz erfährt man352, daß die neue Phylenordnung auch mit der Vermehrung des Einflusses des Demos, der ärmeren Bevölkerung, etwas zu tun hatte, ohne daß man eigentlich darüber aufgeklärt wird, inwiefern dies so war. Im übrigen ist der Abschnitt über Kleisthenes von Sikyon als Vorbild des Kleisthenes von Athen noch unterbrochen durch einen langen Bericht über die Abneigung des Sikyoniers gegen den argivischen Heros Adrastos und seine Versuche, dessen Kult aus Sikyon zu vertreiben 353 , eine Geschichte, die im Zusammenhang eigentlich nur als Illustration der Abneigung des Sikyoniers gegen die Argiver sinnvoll ist, welch letztere wiederum wesentlich als Analogie zu der angeblichen Abneigung des Atheners gegen die Ionier hineingezogen wird. Es folgt die Erzählung von Vertreibung und Rückkehr des Kleisthenes von Athen. A m Abschluß dieses ganzen Abschnittes aber heißt es354: „Die Athener gewannen nun an Macht. Die Freiheit des "Wortes355 erweist sich aber nicht nur in diesem Fall, sondern überall als ein großes Gut, wo doch auch die Athener, solange sie von Tyrannen beherrscht waren, keinem ihrer Nachbarn militärisch überlegen waren, in dem Augenblick aber, w o sie von den Tyrannen befreit waren, bei weitem die ersten wurden. Das zeigt, daß sie, solange sie unter politischem Druck standen, absichtlich nichts leisteten als Leute, die für einen Despoten arbeiten, als sie aber frei geworden waren, mit Eifer sich anstrengten, da jeder es ja nun für sich selbst tat." Das ist viel stärker, als was am Ende des ersten Abschnittes über den Sturz der Tyrannen gestanden hatte, geht aber in dieselbe Richtung. Darauf folgt der ausführliche Bericht über den Ursprung der Feindschaft zwischen Athenern und Ägineten sowie die ersten Feindseligkeiten zwischen ihnen, dann die Erzählung von dem geplanten Unternehmen des Kleomenes gegen Athen, das der Absicht der Athener, an den Ägineten Rache zu nehmen, ein Hindernis in den W e g legt. Das letztere hat jedoch 360

höchstens eine aufschiebende Wirkung, da wegen des Widerstandes der spartanischen Bundesgenossen nichts daraus wird: und auch daß der Aufschub der Fortsetzung der Feindseligkeiten eine bedeutende Wirkung auf die folgenden Ereignisse gehabt hätte, wird von Herodot nicht gesagt. Aber den bei weitem größten Teil des Berichtes über den Plan des Kleomenes nimmt die schon früher erwähnte fulminante Rede des Korinthers Sokles über die Tyrannis ein356, die mit den Worten beginnt: „ N u n wird die ganze Welt umgekehrt werden und die Menschen im Meer, die Fische dagegen in den menschlichen Siedlungen ihren Wohnsitz nehmen, wenn ihr, die Lakedämonier, daran geht, rechtsstaatliche Einrichtungen357 zu stürzen und die Tyrannis in den Städten einzuführen, das Ungerechteste und Mörderischste, was es unter Menschen gibt", und die dann aus der Geschichte der korinthischen Tyrannen den Beweis für diese Beurteilung der Tyrannis entnimmt. Diese Rede steht am Ende des Abschnittes über den Plan des Kleomenes wie die vorher zitierten Bemerkungen über die Folgen der Befreiung Athens von der Tyrannis am Ende der vorhergehenden größeren Abschnitte stehen. In dieser Reihenfolge und jeweils an den markantesten Punkten angebracht sind die drei Stücke ein gewaltiges Crescendo des Preises der Freiheit und der Verurteilung jeder Unterdrückung, das wie drei immer lautere und länger anhaltende Posaunenstöße die symphonische Darstellung der griechischen Freiheit und ihrer Probleme in den drei letzten Büchern anzukündigen scheint. Aber um so seltsamer ist es nur, daß in der Darstellung des ionischen Aufstandes, die ja erst auf diesen Exkurs folgt, davon so gar nichts anklingt, wie auch in dem großen Exkurs des sechsten Buches so wenig davon zu finden ist. Erst mit der Darstellung der unmittelbaren Vorgeschichte der Schlacht von Marathon und dieser Schlacht selbst tritt das Motiv, zunächst in gedämpfterer Form, wieder auf. Aber auch der ganze Exkurs als solcher ist weit entfernt von jener Durchdringung durch eine Anzahl beherrschender Motive, wie sie sich an der Kroisosgeschichte und einem großen Teil der letzten drei Bücher, in geringerem Maße aber auch an einer Anzahl anderer Abschnitte des Werkes beobachten läßt. Vielmehr ist deutlich zu sehen, daß sich einerseits mehrere Kompositionsprinzipien durchkreuzen, andererseits von den einzelnen Stücken, die in die Komposition aufgenommen sind, die einen mehr, die anderen weniger ausgearbeitet sind. A m stärksten ausgearbeitet ist der Abschnitt über die Ursachen und die älteste Geschichte des Konfliktes zwischen Athen und Ägina. Hier sind auch sorgfältig die athenischen, die äginetischen und die argivischen358 - und für eine spätere Phase, 361

von der aber zuerst die Rede ist, anscheinend die thebanischen359 - Zeugnisse gesammelt, und wo sie voneinander abweichen, einander gegenübergestellt. Aber der Abschnitt gehört in eine Darstellung der außenpolitischen Verwicklungen der Athener nach dem Sturz der Tyrannis und ist mit der Geschichte der Befreiung von der Tyrannis selbst und deren Folgen nur mangelhaft integriert. Auch ist es hier wiederum nicht so, daß eine zusammenhängende Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Athen und Ägina — wie bei der samischen Geschichte - nachträglich auseinandergerissen und auf verschiedene Teile der Persergeschichte oder der Geschichte des Kampfes zwischen Orient und Okzident verteilt worden wäre, da ja, wie sich gezeigt hat, die späteren Ausführungen zur äginetischen Geschichte überhaupt fragmentarisch geblieben sind. Eher handelt es sich um das erste fertig gewordene Stück einer zusammenhängenden Darstellung, für deren Fortsetzung Herodot jedoch nur noch mehr oder minder fragmentarisches Material zusammengestellt hat. Die Darstellung der Befreiung Athens von der Tyrannis und ihrer Folgen wird aber nicht nur durch diese zusammenhängende Darstellung der athenisch-äginetischen Verwicklungen durchbrochen, sondern auch sonst mit allerhand nur lose zusammenhängendem Material ausgefüllt. Überall zeigt sich hier das innerlich Unfertige, das überhaupt für den größten Teil des fünften und sechsten Buches charakteristisch ist.

/ Der Versuch einer analytischen Untersuchung des Verhältnisses zwischen Geschichtsdarstellung und Einzelanekdoten im Werke Herodots, der in den letzten vier Unterkapiteln gemacht worden ist, hat also ergeben, daß dieses Verhältnis in verschiedenen Teilen des Werkes ein sehr verschiedenes ist, ferner, daß nicht selten verschiedene Ansätze zu größeren Kompositionseinheiten einander durchkreuzen, ja verschiedene Kompositionsprinzipien miteinander in Konflikt geraten, endlich, daß manche Teile mehr, andere weniger durchgearbeitet, manche sogar ziemlich fragmentarisch geblieben sind. Es sollte möglich sein, aus solchen Beobachtungen etwas über die Entstehung des Werkes und vielleicht sogar über die Entwicklung seines Autors zu eruieren. Aber bevor ein Versuch in dieser Richtung unternommen wird, ist es - schon zur Kontrolle - notwendig, zunächst noch andere Aspekte des Werkes in den Kreis der Betrachtung zu ziehen. Bei der Untersuchung 362

des Verhältnisses von Geschichte und Geschichten in den verschiedenen Teilen des Werkes hat sich immer wieder gezeigt, daß diese verschiedenen Teile nicht nur hinsichtlich der Klarheit oder Dunkelheit der chronologischen Abfolge der dargestellten Ereignisse, sondern auch hinsichtlich der chronologischen Methoden vielfach stark voneinander abweichen. Da es sich hier um ein besonders wichtiges Einzelproblem handelt, ist es vielleicht zweckmäßig, sich nunmehr zunächst diesem zuzuwenden.

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D. Chronologische Methoden und Probleme Das Urteil der Modernen über die chronologischen Grundlagen des Werkes Herodots ist bis weit in die erste Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts hinein ein vorwiegend außerordentlich ungünstiges gewesen. Nicht nur, so meint man, habe sich Herodot nicht ausreichend bemüht, seinem Werk eine solche Grundlage zu geben, sondern er habe es geradezu bewußt verschmäht, sich des zu seiner Zeit schon vorhandenen Materials zu bedienen und besseren Vorbildern zu folgen 1 . Im wesentlichen erst seit den dreißiger Jahren setzte allmählich eine Revision dieses ungünstigen Urteils ein, bis im Jahre 1956 H. Strasburger in einem umfangreichen und in vieler Hinsicht vortrefflichen Aufsatz 2 die völlige Ungerechtigkeit des früheren Urteils zu erweisen suchte und zu zeigen unternahm, daß Herodot vielmehr sich nicht nur auf das stärkste bemüht habe, seinem Werk eine solide chronologische Grundlage zu geben, sondern auch, in Anbetracht der außerordentlichen Schwierigkeit der Aufgabe, mit diesen Bemühungen einen sehr beachtenswerten Erfolg gehabt habe. Innerhalb desselben Zeitraums hat die Untersuchung der orientalischen (ägyptischen, lydischen, persischen, etc.) Chronologien auf Grund einheimischer Dokumente beträchtliche Fortschritte gemacht. Aber obwohl Strasburger von den neueren Ergebnissen natürlich sorgfältig Gebrauch gemacht hat, beruht die Revision des Urteils über Herodots Behandlung der Chronologie nur zum kleinsten Teil auf diesen Fortschritten, oder - vielleicht noch etwas genauer ausgedrückt - hätte die Revision bei der gewählten Betrachtungsweise auch ohne diese Fortschritte im wesentlichen zweifellos zu demselben Ergebnis geführt, da der Unterschied nicht im Material, sondern in der Betrachtungsweise liegt. Die früheren Kritiker Herodots waren im allgemeinen mehr oder minder naiv von dem ausgegangen, was vom Standpunkt des modernen Historikers aus wünschenswert gewesen wäre und sich zur Zeit Herodots mit modernen Methoden allenfalls (aber auch das nicht einmal immer) hätte erreichen lassen. Strasburger dagegen geht davon aus, welchen Schwierigkeiten Herodot, der das ihm zugängliche Material überhaupt zum erstenmal zu ordnen unternahm, gegenüberstand und wie er mit diesen Schwierigkeiten fertig364

geworden ist. Ein besonders hübsches Beispiel für diese Verschiedenheit der Betrachtungsweisen liefert eine Auseinandersetzung Strasburgers 3 mit Macan hinsichtlich Herodots Angaben nicht über Jahre, Monate oder Tage, sondern über Tageszeiten. Macan hatte sich darüber beklagt, daß Herodot bei seiner Beschreibung von Schlachten und anderen militärischen Ereignissen sich so ungenauer Angaben wie Tagesanbruch, Sonnenaufgang, Mittag, Sonnenuntergang und dergleichen bedient, obwohl nach Herodots eigener Angabe den Griechen zu seiner Zeit die babylonische Zwölfteilung des Tages schon bekannt gewesen sei. Demgegenüber hat Strasburger mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß es Herodot wenig nutzte, die babylonische Tageseinteilung zu kennen, wenn seine Informanten nicht während der Schlacht sozusagen auf die Uhr geschaut und die Uhrzeit nachher aufgezeichnet hatten. Macan hat völlig vergessen, daß Herodot bei den Ereignissen nicht als Kriegsberichterstatter selber zugegen war, sondern sie sich aus den Berichten der Teilnehmer nach einem halben Jahrhundert rekonstruieren mußte. Natürlich liegen die Dinge hinsichtlich der Angabe von Jahren, Jahreszeiten und allenfalls von Monaten wesentlich anders. Aber das etwas groteske Beispiel illustriert doch recht gut, daß, wo es nicht um moderne Wünschbarkeit, sondern um Herodots Tätigkeit und Leistung als Historiker geht, die Betrachtungsweise Strasburgers die einzig mögliche und richtige ist. Sie bedarf jedoch, zum mindesten in ihrer Anwendung, einer gewissen Ergänzung. In seinem Bestreben, gegenüber Herodots früheren Kritikern die positive Leistung Herodots ins Licht zu stellen, konzentriert Strasburger seine Aufmerksamkeit auf diejenigen Abschnitte in Herodots "Werk, in denen diese Leistung am deutlichsten hervortritt. Es hat sich aber schon bei der Untersuchung des Verhältnisses von Geschichte und Geschichten im Werke Herodots ganz nebenbei ergeben, daß sich die verschiedenen Teile des Werkes hinsichtlich der Sorgfalt, mit der die Chronologie behandelt ist, ganz außerordentlich stark voneinander unterscheiden und daß diese Unterschiede keineswegs ausschließlich aus der verschieden großen Schwierigkeit, sich genauere Auskünfte zu verschaffen 4 , zu erklären ist. Am auffallendsten war die Verschiedenheit in den beiden Abschnitten über ägyptische Geschichte und dann wieder in den Abschnitten über die Vorgeschichte der Perserkriege und über die Perserkriege selbst hervorgetreten. Darüber hinaus ist offenbar - und natürlich auch Strasburger nicht entgangen - , daß Herodot sich in verschiedenen Teilen seines Werkes, ja manchmal sogar anscheinend gleichzeitig, verschiedener chronologischer Methoden bedient hat. Alles dies ist wohl nicht 365

ganz ohne Bedeutung für die Frage der Entstehung des "Werkes, seiner Komposition und des Zustandes, in dem es erhalten ist. Ganz deutlich ist dies bei der Geschichte der ägyptischen Könige im zweiten Buch. Die mit Namen genannten Könige mit Ausnahme von Min, dem Gründer des geeinigten Reiches, und der Königin Nitokris werden alle als unmittelbar aufeinanderfolgend dargestellt. Ihre Reihe beginnt mit Moiris. Dieser starb nach Herodots Angabe 5 nicht ganz neunhundert Jahre vor der Zeit, zu der Herodot seine Reise in Ägypten unternahm, also nach unserer Rechnung etwa in der zweiten H ä l f t e des 14. Jahrhunderts v. Chr. Zwischen ihn und den König Proteus, der als gleichzeitig mit dem trojanischen Krieg geschildert wird, werden zwei Könige eingeschaltet, Sesostris und der reine Märchenkönig Pheros 6 . Das stimmt sehr gut mit einer verbreiteten Datierung des trojanischen Krieges überein, auf die noch zurückzukommen sein wird. Auf König Proteus folgte, nach Herodot 7 , unmittelbar Rhampsenit und auf diesen8 die drei Pyramidenbauer Cheops, Chefren und Mykerinos; auf den zuletzt Genannten Asychis 9 und auf diesen der blinde König Anysis 1 0 , der vor dem Äthiopenkönig Sabakos in die Deltasümpfe floh und erst nach dreißig Jahren wieder zum Vorschein kam. Auf Anysis folgt unmittelbar der Ptahpriester Sethos 11 , der als mit Sanherib gleichzeitig geschildert wird 1 2 , und auf diesen die Herrschaft der zwölf Deltafürsten 1 3 , aus deren Mitte sich dann Psammetich erhebt und, nachdem seine Mitfürsten vergeblich versucht hatten, ihn durch Verbannung in die Sümpfe unschädlich zu machen, mit H i l f e der ionischen und karischen Söldner zum Begründer der 26. Dynastie, der letzten vor der Eroberung Ägyptens durch die Perser, wird. Die Regierungszeiten der Könige der 26. Dynastie werden von Herodot alle genau angegeben 14 und betragen zusammen 145V2 Jahre, was, wenn man von dem Datum der Eroberung Ägyptens durch Kambyses zurückrechnet, auf das J a h r 671 v. Chr. als den Beginn der 26. Dynastie führt. Das differiert von dem Datum, das sich aus den ägyptischen Dokumenten bestimmen läßt (663 v. Chr.), nur um sieben bis acht Jahre. Bei der Behandlung der Epoche, welche der 26. Dynastie unmittelbar voranging, d. h. der Epoche, welche mit der Eroberung Ägyptens durch den Äthiopenkönig Sabaka begann und mit dem endgültigen Zusammenbruch der Äthiopenherrschaft in Ägypten endigte, hat Herodot, wie sich gezeigt hat 1 5 , zum Teil Dinge, welche in Wirklichkeit gleichzeitig waren, hintereinandergeordnet. Anfang und Ende der Regierung seines blinden Königs Anysis, der vor den Äthiopen in die Deltasümpfe fliehen muß 366

und nach deren Ende wiederkommt und die Regierung wiederaufnimmt, umfassen bei ihm die ganzen fünfzig Jahre der Äthiopenherrschaft. Ferner läßt er die Herrschaft des Priesterkönigs Sethos auf die Regierung des Anysis folgen, während in Wirklichkeit die Ereignisse, die Herodot in legendenhafter Form aus der Regierungszeit des Sethos berichtet, in die Zeit des ersten Äthiopenkönigs Sabaka fallen. Ebenso gehören die angeblichen zwölf Deltafürsten, welche auf Sethos gefolgt sein sollen, in Wirklichkeit in die Äthiopenzeit selbst. Faktisch hat diese ganze Epoche von der Eroberung Ägyptens durch Sabaka bis zur Thronbesteigung des Psammetich I. etwa 50 Jahre gedauert (ca. 713-663 v.Chr.). Herodot hat das etwas auseinandergezogen, indem er Sethos und die Dodekarchen hinter die Äthiopenzeit setzt. Aber wenn man die Zeit innerhalb 3er durch Herodots eigene Erzählung gegesteckten Grenzen noch so weit auseinanderzieht, kann man den Regierungsantritt des Anysis doch nicht viel weiter zurückdatieren als etwa hundert Jahre vor den Beginn der 26. Dynastie, also in die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. Daraus ergeben sich, wie sich zeigen wird, sehr erhebliche chronologische Schwierigkeiten. Zunächst jedoch einige weitere Diskrepanzen mit der historischen Wirklichkeit. Die Reihenfolge der ägyptischen Könige von „Moiris" bis zur Äthiopenzeit, wie sie im Herodottext erscheint, ist mit der wirklichen historischen Abfolge nur ganz entfernt verwandt. Der als „Moiris" bezeichnete König, der von Herodot als Erbauer der gewaltigen Anlagen am „Moirissee" betrachtet wird 16 , muß wahrscheinlich mit Amenemhet III. identifiziert werden, sei es nun, daß Herodot durch Mißverständnis die Bezeichnung des Sees selbst, Mer-wer, auf den König, der ihn geschaffen haben sollte - in Wirklichkeit nur durch Stauanlagen erweitert hat - , übertrug, sei es, daß, wie von manchen angenommen wird, der Thronname des Amenemhet III. (Mares) dabei eine Rolle gespielt hat. Aber Amenemhet I I I . war der Nachfolger, nicht der Vorgänger, des letzten Sen-wos-ret, der als Sesostris bei Herodot als sein Nachfolger erscheint. Immerhin gehören die vier Könige mit dem Namen Amenemhet und die drei Sen-wos-ret derselben zwölften Dynastie an. Die beiden bei Herodot auf Sesostris folgenden Könige Pheros und Proteus sind, wie sich gezeigt hat 17 , Märchenkönige, die überhaupt keine Stellung in der Geschichte haben, wenn man von der legendären Beziehung des Königs Proteus zur Helenasage absieht. Der darauffolgende König Rhampsenit ist eine Verkörperung der Erinnerung an die Ramessidenzeit, d. h. an die neunzehnte und zwanzigste Dynastie, welche auf die

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zwölfte Dynastie der Amenemhet und Sen-wos-ret in einem Abstand von 6oo Jahren folgte. Die bei Herodot auf Rhampsenit folgenden Pyramidenbauer Cheops (Chufu), Chephren und Mykerinos gar gehörten der vierten Dynastie an und hatten mehr als anderthalb Jahrtausende vor den Ramessiden gelebt. Sie erscheinen unter sich in der richtigen Reihenfolge, nur daß zwischen Chufu und Chephren noch ein weiterer König Dedefre regiert hatte. Der König Asychis endlich, mit welchem bei Herodot die Reihe der Könige vor der Äthiopenzeit endigt, mag, sofern er überhaupt historisch ist, mit einem der Könige des alten Reiches zu identifizieren sein 18 .Trotzdem läßt Herodot die Könige von Moiris bis Anysis, unter welchen nach seiner Angabe die Eroberung Ägyptens durch den Äthiopenkönig Sabakos erfolgte, unmittelbar aufeinanderfolgen und macht nirgends auch nur die geringste Andeutung, daß zwischen den einzelnen erwähnten Königen eine Lücke gewesen sein könnte. Schon das allein zeigt, daß wenig damit gewonnen ist, wenn man, wie öfter geschehen ist19, die von den Königen Cheops, Chephren, Mykerinos und Asychis handelnden Kapitel 1 2 4 - 1 3 6 als an die falsche Stelle geraten betrachtet und zwischen die Kapitel 99-100 verpflanzt. Das Interessante daran ist jedoch nicht so sehr die mangelnde Übereinstimmung mit den historischen Tatsachen an sich, obwohl diese vor allem im Vergleich mit dem zweiten Abschnitt der ägyptischen Geschichte auch nicht ohne Bedeutung ist, sondern die Tatsache, daß sich in der Anordnung der Könige unmittelbar nach Moiris die Rudimente eines chronologischen Systems erkennen lassen, das auch in andern Teilen des "Werkes Herodots eine Rolle spielt, aber allein in dem entsprechenden Abschnitt der ägyptischen Geschichte nicht ausgefüllt ist. Im ersten und dritten Buch des Werkes Herodots finden sich über die Regierungszeiten der persischen, medischen und assyrischen Könige die folgenden Angaben: Kambyses 7 Jahre 20 , Kyros 29 Jahre 21 , Gesamtheit der Herrschaft der Meder über Asien 128 Jahre 22 . Diese von Herodot angegebene Zahl bereitet allerdings insofern eine Schwierigkeit, als die von Herodot angegebenen Regierungszeiten der einzelnen Mederkönige von dem Eroberer Assyriens Phraortes bis zu dem von Kyros gestürzten Astyages (22 + 40 + 3 5 ) " nur 97 statt 128 Jahre ergeben. Man hat jedoch schon seit langem gesehen, daß bei Herodot offenbar die Regierungsjahre des Deiokes und des Phraortes miteinander vertauscht worden sind. Gibt man dem Phraortes die 53 bei Herodot angegebenen24 Regierungsjahre des Deiokes, der ohnehin, wenn er nach der Erzählung Herodots erst nach einer langen Tätigkeit als weiser Schiedsrichter, die selbst 368

schon ein gereifteres Alter voraussetzt, zur Regierung kam, nicht gut so lange als König regiert haben kann, so erhält man mit 5 3 + 4 0 + 35 genau die von Herodot angegebene Gesamtzahl der Jahre der Mederherrschaft in Asien. Vor der Begründung dieser Herrschaft durch Phraortes, die nach der Erzählung Herodots gleich nach seinem Regierungsantritt erfolgt zu sein scheint, liegt dann der Zeitraum, in welchem die Meder sich schon von der Herrschaft der Assyrer befreit, aber noch nicht die Assyrer selbst unterworfen hatten, mit 22 Jahren, wenn man Deiokes die von Herodot fälschlich dem Phraortes zugeteilten Jahre gibt. Von der Gründung des Assyrerreiches durch Ninos bis zur Befreiung Mediens von der Assyrerherrschaft vergingen nach Herodot 520 Jahre 25 . Zählt man nun die Zahlen der Regierungszeiten der Perserkönige Kambyses und Kyros mit der Zeit der Mederherrschaft, der Regierungszeit des Deiokes und der Zeit der Assyrerherrschaft zusammen, so erhält man 7 + 29 + 128 + 22 + 520 = 706 Jahre, wozu allenfalls noch die unbestimmte Zeit der Anarchie der Meder26 hinzuzurechnen ist, die aber, wenn sie, wie Herodot voraussetzt, zu einer Zeit begann, als Deiokes schon ein mehr oder minder reifer Mann war, und mit seiner Thronbesteigung zu Ende kam, nicht mehr als zehn bis höchstens zwanzig Jahre gedauert haben kann. Damit datiert sich der Beginn der Assyrerherrschaft, d. h. nach Herodot der Herrschaft des Ninos, wenn man das Ende der Regierung des Kambyses im Jahre 522 v . C h r . zum Ausgangspunkt nimmt, auf zwischen 1248 und 1228 nach unserer Zeitrechnung27. Ninos war nach Herodot 28 der Sohn des Alkaios, des Sohnes des Belos, und dieser letztere ein Sohn des Herakles. Herakles repräsentiert also gewissermaßen die dritte Generation vor Ninos, dem Begründer des Assyrerreiches. Rechnet man nun nach einer Angabe Herodots selbst29 drei Generationen zu hundert Jahre, so kommt man für die bzw. den Beginn der Generation des Herakles auf einen Zeitraum zwischen 1348 und 1328, aber eher näher dem letzteren Datum nach unserer Zeitrechnung. Das ist genau 900 Jahre vor der Zeit, zu welcher Herodot sein Werk geschrieben haben muß. Herodot gibt aber im Ägypterbuch auch an30, die Ägypter hätten das Datum des Herakles, des Sohnes der Alkmene, im Gegensatz zum Datum der Geburt eines ägyptischen Gottes, der mit dem griechischen Gott Herakles gleichgesetzt wurde - vermutlich handelt es sich um den in Theben verehrten Gott Chonsu - und den sie 17 000 Jahre vor Amasis ansetzten31, auf 900 Jahre vor Herodot, in diesem Falle wohl vor der Zeit, als er sie befragte, angesetzt. Daß diese Datierung des Herakles, Sohnes der Alkmene, durch die Ägypter auch nach Herodots eigener Mei369

nung auf griechische Ansätze oder Berechnungen zurückgeht, sagt er aufs deutlichste am Ende des betreffenden Abschnitts32, wo er die Vermutung ausspricht, die Griechen hätten erst später von dem Gott Herakles gehört und hätten seine Geburt von dem Zeitpunkt an, an dem er ihnen bekanntgeworden sei, genealogisch bestimmt33. Diese letztere Bemerkung Herodots ist, wie sich zeigen wird, auch deshalb fundamental wichtig, weil sie zeigt, daß Herodot schon in Jahren oder Jahrhunderten ausgedrückte Datierungen vorlagen, welche auf Genealogien beruhten, daß er also diese Art von chronologischer Methode nicht als erster erfunden hat. Die damit nun in gewisser "Weise schon in doppelter Fassung vorliegende Datierung des Herakles scheint aber auch dem Anfang des Abschnittes der älteren ägyptischen Geschichte bei Herodot zugrunde zu liegen, für welche Herodot die Namen der einzelnen Könige angeben zu können glaubt. In der griechischen Sage ist Herakles der Zeitgenosse des Laomedon und als solcher ein Angehöriger der zweiten Generation vor Hektor, also vor der Generation des Trojanischen Krieges. Das stimmt zunächst damit überein, daß in demselben Kapitel, in welchem Herakles, der Sohn der Alkmene, 900 Jahre vor Herodot angesetzt wird, Pan als Sohn der Penelope als etwas jünger als der Trojanische Krieg bezeichnet und ungefähr 800 Jahre vor Herodot angesetzt wird 34 . Der Repräsentant der Generation des Trojanischen Krieges selbst bei Herodot in der älteren ägyptischen Geschichte ist Proteus, der vor dem Ausbruch dieses Krieges mit Paris, nach dessen Ende mit Menelaos zusammentrifft 35 . Die zweite Generation vor Proteus in demselben Abschnitt wird durch Sesostris repräsentiert36, der damit mit Herakles „genealogisch gleichzeitig" wird. Von dem Vorgänger des Sesostris wird bei Herodot, wie schon früher erwähnt, berichtet37, daß er nicht ganz 900 Jahre vor Herodots Besuch in Ägypten starb. Auch damit wird die Generation des Herakles also in den 900 Jahre vor Herodots Werk beginnenden Zeitabschnitt datiert. Diese dreifache Übereinstimmung kann wohl nicht auf Zufall beruhen, und dies um so weniger, als, wie sogleich zu zeigen sein wird, auch die lydische Chronologie bei Herodot mit denselben Grundansätzen in Ubereinstimmung steht. Uber die Regierungszeiten einzelner lydischer Könige und ganzer Dynastien macht Herodot die folgenden Angaben: Kroisos 13 Jahre 38 , Alyattes 57 Jahre 39 , Sadyattes 12 Jahre 40 , Ardys 49 Jahre 41 , Gyges 3 8 Jahre 42 , was zusammen für die Dynastie der sogenannten Mermnaden 170 Jahre ergibt. Vor diesen herrschte nach Herodot 43 in Lydien die Dynastie der Herakliden, welche mit Agron, dem Sohn des Ninos, des 37°

Begründers des Assyrerreich.es und Urenkels des Herakles, begann und mit dem durch Gyges gestürzten Kandaules zu Ende kam. Diese Dynastie umfaßte nach Herodot 22 Generationen und regierte 505 Jahre 44 . Das Lyderreich als solches also bestand nach Herodot 675 Jahre. Es wird durch Agron, den Sohn des Ninos, den Sohn des Belos, den Sohn des Alkaios, den Sohn des Herakles ebenso wie das Assyerreich und die es ablösenden Reiche genealogisch an Herakles angeknüpft. Doch ist es hier nicht ganz so leicht wie bei der Abfolge der Assyrer, Meder und Perser, vom Endpunkt zurückzurechnen, weil, wie Strasburger es ausdrückt95, Herodot den Fixpunkt des Jahres 546 v. Chr. für die Eroberung von Sardes durch Kyros und die Zerstörung des Lyderreiches „nicht besaß", oder, wie man sich vielleicht vorsichtiger ausdrücken sollte, weil sich aus dem Werke des Herodot nicht mit voller Sicherheit entnehmen läßt, daß er genau diesen Fixpunkt, der sich für die Modernen aus der Ubereinstimmung der orientalischen Nabonid-Chronik mit den spätantiken Chronographen ergibt, besaß. Da jedoch die Regierung des Kyros bei Herodot fixiert ist und sich auf die Jahre 558-529 v. Chr. ansetzen läßt und die Eroberung von Sardes nach der Erzählung des Herodot weder in den Beginn der Regierungszeit des Kyros gesetzt werden kann, da Kroisos erst durch die Ausbreitung der persischen Macht nach dem Sturz der Mederherrschaft dazu gebracht wurde, einen Präventivkrieg zu planen und sich nach Bundesgenossen dafür umzusehen, und erst nachdem er die Orakel befragt und die Bundesgenossen gefunden hatte, gegen Kyros vorging, noch wegen der vielen späteren Taten des Kyros weit in die zweite Hälfte seiner Regierung heruntergerückt werden kann, so ist eine Abweichung des Datums Herodots für dies Ereignis um mehr als ein paar Jahre von dem von den Modernen angenommenen Datum nicht möglich. Ja, es ist, wie Strasburger selbst gezeigt hat46, wenn man von lydisch-medischen und lydischpersischen Synchronismen bei Herodot ausgeht, kaum möglich, das herodoteische Datum gegenüber dem von den Modernen errechneten um mehr als etwa zwei Jahre zu verrücken. Eine solche Verschiebung ist jedoch, wo es sich um die sozusagen großräumigen chronologischen Berechnungen der Zeit des Herakles und seiner unmittelbaren Deszendenten handelt, völlig irrelevant. In diesem Zusammenhang ist es daher in jeder Weise erlaubt, das Jahr 546 zum Ausgangspunkt der Rechnung zu machen. Zählt man nun also zu diesem Datum die 675 Jahre, welche nach Herodot das Lyderreich bestanden hat, hinzu, so kommt man auf das Jahr 1 2 2 1 v. Chr. Dies ist nun freilich nicht eine Generation nach der Begründung des Assyrerreiches durch Agrons Vater Ninos, die, wie gezeigt, 37i

nach Herodot auf 1228 v. Chr. zu datieren ist47, aber in vollkommener Harmonie damit, daß das Lyderreich bei Herodot als ein von Anfang an selbständig neben dem Assyrerreich bestehendes, aber von derselben Dynastie ausgehendes Reich betrachtet wird, das von dem sagenhaften Gründer des orientalischen Großreiches seinem ebenso sagenhaften Sohn bei Lebzeiten als eigene Apanage verliehen worden sein kann. Bei dieser Übereinstimmung kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß sowohl die lydische als auch die assyrisch-medisch-persische, als auch endlich der Teil der ägyptischen Geschichte von Moiris bis zu Proteus an eine chronologische Fixierung der Zeit des Herakles angehängt sind, welche diesen etwa 900 Jahre vor Herodot, bzw. genauer vor der Zeit, als Herodot ein erwachsener Mann war und sein Werk verfaßt hat, ansetzte. Da Herakles eine Sagenfigur ist, für die es keine dokumentierte Chronologie geben konnte, kann dieses Datum kaum anders als auf dem "Wege über eine Genealogie mit Hilfe einer Schätzung der durchschnittlichen Länge einer Generation gewonnen sein. Zum Uberfluß spricht aber Herodot fast unmittelbar aus, daß eben dies der Fall gewesen ist48; zugleich aber auch, daß nicht er selbst es gewesen ist, der diese Berechnung vorgenommen hat, was natürlich nicht ausschließt, daß er eine ihm vorliegende kleinere Zahl, die auf einen früheren Zeitpunkt bezogen war, auf seine eigene Zeit durch Hinzufügung des Intervalls umgerechnet hat. Ob die vorherodoteische Berechnung des Datums des Herakles auf Grund der spartanischen Königslisten und mit Hilfe der Annahme einer Generationenlänge von 40 Jahren vorgenommen worden ist und ob sie auf Hekataios von Milet zurückgeht, wie E. Meyer plausibel zu machen suchte49, läßt sich mangels einer direkten Uberlieferung nicht beweisen. Aber so abwegig und töricht, wie dies in mehreren neueren Schriften zu zeigen versucht worden ist50, ist die Vermutung E. Meyers keineswegs. An der Tatsache, daß eine solche Berechnung auf Grund einer Generationenrechnung, welcher Art auch immer, vor Herodot vorgenommen worden ist, kann jedenfalls nicht gezweifelt werden. Es ist daher vor allem wichtig, soweit als möglich zu bestimmen, wie sich die verschiedenen chronologischen Rekonstruktionen orientalischer Königsgeschichten, die sich bei Herodot finden, zueinander verhalten und wie ihre einzelnen Teile zustande gekommen sind. Da zeigt sich nun zunächst, daß bei der lydischen wie bei der assyrischmedisch-persischen Dynastiengeschichte das Intervall zwischen Herakles und dem Ende der betreffenden Dynastie zahlenmäßig vollständig ausgefüllt ist, nicht dagegen bei der ägyptischen Geschichte. Hier stimmen Zahlen und Generationenzahlen nur von Moiris bis Proteus, d. h. bis zur

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Generation des Trojanischen Krieges. Setzt man diesen jedoch im Einklang mit Herodots Generationenrechnung ebenso wie mit seinem Ansatz des Penelopesohnes Pan etwa 800 Jahre vor Herodot oder etwas früher an, so entsteht zwischen dem Ende der Regierung des Proteus und dem frühesten möglichen herodoteischen Ansatz der Thronbesteigung des Anysis eine Lücke von etwa joo Jahren 5 1 , in welche bei Herodot nur die Könge Rhampsenit, Cheops, Chephren, Mykerinos und Asychis gesetzt werden, das sind also fünf Könige für etwa 500 Jahre. Dazu kommt, daß Herodot die Regierungszeit des Cheops mit 50 Jahren, die des Chephren mit j 6 Jahren angibt, während die Geschichte des Mykerinos voraussetzt, daß dieser sehr viel kürzer als jeder der beiden Vorgänger, vermutlich nicht sehr viel länger als sechs Jahre, regiert habe. Zieht man also die Summe der Regierungszeiten dieser drei Könige von den Jahren der Lücke ab, so bleiben für die beiden Könige Rhampsenit und Asychis über 350 Jahre übrig, eine ganz unmögliche Zahl. Doch steht dies in Übereinstimmung mit dem, was sich über Herodots Aufenthalt in Ägypten ergeben hat 52 : daß sein Aufenthalt nicht nur, wie schon Sourdille gezeigt hatte, verhältnismäßig sehr kurz war, sondern auch, daß er ursprünglich nicht aus historischem Interesse unternommen wurde, so daß, was Herodot an Anekdoten über ältere ägyptische Geschichte aufgelesen hat, ganz zufällig ist. Offenbar hat er es später, soweit als möglich, in das Heraklesschema, dessen er sich für die Herleitung der übrigen orientalischen Geschichten bediente, einzuordnen versucht, ist aber nicht mehr dazu gekommen, weiteres Material über ältere ägyptische Geschichte zu sammeln, das es ihm erlaubt hätte, die zwischen der Zeit des Trojanischen Krieges und der Zeit der Äthiopenherrschaft gebliebene Lücke völlig auszufüllen 53 . Unter diesen Umständen ist es auch überflüssig, nach einem besonderen Grund dafür zu suchen, warum die Pyramidenbauer chronologisch an eine ganz falsche Stelle geraten sind. Da weder in der Zeit zwischen dem etwa 900 Jahre vor Herodot gestorbenen Moiris und dem Trojanischen Krieg noch in der ägyptischen Geschichte seit der Äthiopenherrschaft Platz für sie war, konnten sie nur in das Intervall zwischen beiden gesetzt werden. Bei den übrigen orientalischen Genealogien dagegen stimmen die Summen der von Herodot gegebenen Zahlen mit seinem chronologischen Ansatz des Herakles überein; und es ist für die Erkenntnis von Herodots Verfahren in den verschiedenen Phasen der Abfassung seines Werkes, bzw. der Vorbereitung dafür, wichtig, soweit als möglich so eruieren, wie er zu diesen Zahlen gekommen ist. Die ältere Epoche des Lyderreiches, 373

die Zeit der Herrschaft der Herakliden, umfaßte nach Herodot 22 Generationen und 505 Jahre54. Da ist es offenkundig, daß die eine Zahl nicht mit Hilfe einer Generationenrechnung aus der andern abgeleitet sein kann. Die Zahl der Generationen muß wohl auf einer Überlieferung beruhen, deren Art freilich mangels anderer Nachrichten sich nicht mehr feststellen läßt. Dagegen könnte die Zahl 505 einfach aus dem Jahr des Sturzes der Heraklidenherrschaft, wenn dieses sich anderweitig bestimmen ließ, und der genealogischen Bestimmung der Zeit des Ninos nebst der zugehörigen Legende von der Teilung des Reiches errechnet sein. Bei den Mermnadenkönigen gibt Herodot die Regierungsdauer eines jeden einzelnen von ihnen an. Es ist evident, daß Herodot nicht alle diese einzelnen Regierungslängen aus einer Generationenrechnung herausgesponnen haben kann55, sondern zum mindesten einige von ihnen durch irgendeine Uberlieferung gegeben gewesen sein müssen. Wohl aber ist es wenigstens theoretisch möglich, daß, wenn einige Regierungslängen durch direkte Überlieferung bekannt waren und die Gesamtlänge der Mermnadenherrschaft nach einer Generationenrechnung bestimmt wurde, der Rest der Regierungslängen danach berechnet oder modifiziert wurde, sei es durch Herodot selbst oder durch irgendwelche Vorgänger. Daß dem aber bis zu einem gewissen Grade tatsächlich so gewesen sei, dafür gibt es ein Anzeichen, dessen Gewicht mir in der neuesten Literatur beträchtlich unterschätzt zu werden scheint. Rechnet man auf Grund der von Herodot gegebenen Regierungszeiten von dem Datum des Falls von Sardes, das sich, wie sich gezeigt hat, auch für Herodot selbst nicht wesentlich verrücken läßt, zurück, so kommt man für die Thronbesteigung des Gyges in das Jahr 716 v. Chr. nach unserer Zeitrechnung. Nun ergibt sich aber aus dem etwa 644 v. Chr. verfaßten, also zeitgenössischen assyrischen Rassamzylinder56, daß Gyges (Gugu) spätestens im Jahre 6 55 V. Chr. noch gelebt hat und wahrscheinlich im Jahre 652 gestorben ist. Das steht in direktem Widerspruch mit Herodots Ansatz des Beginns der Mermnadenherrschaft und der Thronbesteigung des Gyges in Verbindung mit seiner Angabe, Gyges habe 38 Jahre regiert, wonach er im Jahre 678 v. Chr. gestorben sein müßte. Darüber hinaus ist evident, daß Herodot den Beginn der Regierung der Mermnaden wesentlich zu früh angesetzt hat. Es ergibt sich also die Frage, wodurch er dazu veranlaßt worden ist. Da ist es denn doch bemerkenswert, daß 170 die abgerundete Zahl von fünf Generationen ist, wenn man drei Generationen mit Herodot zu hundert Jahren rechnet. Gewiß kann der Irrtum auch auf andere Weise entstanden sein. Aber angesichts der Tatsache, daß Herodots orientalische, von Herakles 374

hergeleitete chronologische Tafeln unzweifelhaft durch eine Kombination von auf Grund von Generationenrechnung erschlossenen und von überlieferten Daten gewonnen sind und Herodot ausdrücklich sagt, daß das absolute Datum des Herakles genealogisch bestimmt worden sei, liegt die Vermutung, daß die historisch unzweifelhaft 57 falsche Zahl 170 durch Generationenrechnung gewonnen sei, doch sehr nahe. Freilich kann diese Berechnung der Zahl nicht auf Herodot selbst zurückgehen, der ja die Einzeldaten zu haben glaubte und sich natürlich völlig bewußt war, daß Generationenrechnung immer nur zu approximativen Daten führen kann und sich nicht auf die Regierungsdauer einzelner Könige anwenden läßt. Er selbst muß die Zahl für „überliefert" gehalten haben, was ja aber keine Schwierigkeit macht, da, wie gezeigt, die Generationenrechnung keine Erfindung Herodots gewesen ist. Wie Herodot zu den Zahlen für die Regierungszeiten der einzelnen lydisdien und medischen Könige gekommen ist, welche Mühe er darauf verwenden mußte und wieweit sie zuverlässig sind, ist viel schwieriger zu eruieren und das Resultat viel unsicherer. Es ist daher zweckmäßig, an dieser Stelle etwas zu verweilen und zuzusehen, welche Folgerungen sich so weit ziehen lassen. Da ist zunächst offensichtlich, daß es unrichtig ist, mit E. Meyer 58 zu sagen, Herodot habe für Chronologie gar kein Interesse gehabt, oder gar mit U. v. Wilamowitz 59 , er habe sie verachtet und die Chroniken, die ihm bekannt gewesen sein müßten, absichtlich vernachlässigt. Vielmehr hat er sich offenkundig Mühe gegeben, die verschiedenen orientalischen Königsgeschichten in ein gemeinsames chronologisches Schema zu bringen. Ebenso offensichtlich ist, daß diese Chronologien aus einer Mischung von künstlichen Konstruktionen und überlieferten Daten hervorgegangen sind, da Herakles, an welchen er die lydische und die assyrisch-medisch-persische Geschichte direkt, die ältere ägyptische indirekt, angeknüpft hat, eine Sagenfigur und nicht eine historische Persönlichkeit ist. Diese wichtige Tatsache steht also fest, ganz unabhängig davon, ob man annimmt, die 170 Jahre, die Herodot der Mermnadendynastie gibt, stammten aus einer solchen künstlichen Konstruktion, was immer noch das Wahrscheinlichste ist59, oder ob man glaubt, daß sie aus andern Irrtümern hervorgegangen sind. Da die faktische Geschichte der vormermnadischen Lyderkönige, über deren Beginn wir keine orientalischen sicheren Nachrichten haben60, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, die des Assyrerreiches, die wir aus orientalischen Dokumenten rekonstruieren können, nachweislich nicht in das Herodoteische Schema hineinpassen, kann ferner kein Zweifel daran bestehen, daß die Zahlen 505 für die Heraklidendy375

nastie und 520 für die Assyrerherrschaft letzterdings aus dem Heraklesschema gewonnen sind, sei es nun, daß Herodot diese Berechnung selbst vorgenommen hat, sei es, daß er sie schon vorfand. Im einen wie im andern Falle ist deutlich, daß Herodot sich um eine einheitliche Chronologie bemüht hat. Aber man kann weder sagen, daß Herodot den Grad der Zuverlässigkeit der dabei erhaltenen Resultate genauer nachgeprüft, noch daß er die zu seiner Zeit bestehenden Möglichkeiten, zu genaueren Resultaten zu gelangen, ausgeschöpft hat. Bei der Fülle der damals noch existierenden assyrischen Dokumente wäre es zweifellos möglich gewesen, durch intensivere Nachforschungen an Ort und Stelle ein gut Teil weiterzukommen. Darauf wird noch in anderem Zusammenhang zurückzukommen sein61. Im ganzen jedoch zeigt Herodots Verhalten in diesen Dingen eine gewisse Analogie zu seinem Verhalten bei der Nachprüfung der hekataeischen Kontinentetheorie. Da hat er, wie sich gezeigt hat62, mit seinen Reisen zum Schwarzen Meer und nach Ägypten, sich recht beträchtliche Mühe gegeben, es aber dann doch bei einem ziemlich kurzen Aufenthalt an beiden Orten bewenden lassen und, als er z. B. über die Quellen des Nils nichts Sicheres in Erfahrung bringen konnte, sich mit spekulativen Argumenten begnügt. Gewissermaßen die Probe darauf, daß es sich bei der Einordnung der orientalischen Dynastien in ein von Herakles hergeleitetes Schema um eine bewußte Bemühung Herodots handelt, ist die Tatsache, daß er bei den über sein Werk verstreuten Anspielungen auf Ereignisse und Figuren der griechischen Sagengeschichte offenbar keinen Versuch gemacht hat, diese in ein einheitliches chronologisches Schema zu bringen, obwohl auch hier nicht ganz selten von Generationen die Rede ist. So heißt es z. B. im 7. Buch63, der Trojanische Krieg habe in der dritten Generation nach dem Tode des Minos stattgefunden. Das steht einigermaßen im Einklang mit der Tatsache, daß im 1. Buch64 der Raub der Europa, die wiederum an einer anderen Stelle65 als Mutter des Minos und des Sarpedon erwähnt wird, vor dem „Raub" der Medea durch Iason angesetzt wird, der selbst in die zweite Generation vor dem Trojanischen Krieg gesetzt wird66, aber es ist schwer damit in Einklang zu bringen, daß Sarpedon im Trojanischen Krieg eine wichtige Rolle spielt, wie es auch eine gewisse Schwierigkeit macht, daß die Tyndariden nach Herodots eigener Angabe67 an der Argonautenfahrt, also dem „Raub" der Medea teilnehmen, während doch ihre (der Tyndariden) Schwester Helena von dem zwei Generationen späteren Trojanischen Krieg nicht zu trennen ist68. In all diesen Fällen geht jedoch aus Herodots eigener Darstellung hervor, daß seine Angaben an den

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verschiedenen Stellen aus verschiedenen Quellen stammten. Da diese Dinge bei ihm nur eine Nebenrolle spielen, hat er es offenbar nicht der Mühe wert gefunden, sich über die chronologischen Zusammenhänge den Kopf zu zerbrechen, wenn er die Diskrepanzen überhaupt bemerkt hat69. Sehr viel interessanter ist die Frage, wie Herodot zu den Einzelzahlen für die Regierungsdauer der verschiedenen lydischen und medischen Könige gekommen sein mag. Nun berichtet Herodot von den Mermnadenkönigen vor allem ihre Angriffe auf griechische Städte und Ansiedlungen in Kleinasien, im Zusammenhang damit aber auch einiges über ihren Anteil an den anderen wichtigen Ereignissen. Von Gyges hat er nicht viel zu berichten, außer einem Einfall in das Gebiet von Milet und von Smyrna, und daß er die Burg von Kolophon erobert habe70. Von Gyges' Nachfolger Ardys berichtet Herodot 71 , daß er Priene erobert habe und daß unter seiner Regierung die Kimmerier in Kleinasien eingefallen seien und Sardes erobert hätten. Des Ardys Nachfolger Sadyattes habe sechs Jahre lang Milet belagert, ein Krieg, der dann von seinem Sohn und Nachfolger Alyattes fortgesetzt worden sei72. Dieser habe mit Kyaxares, dem Enkel und Nachfolger des Deiokes, Krieg geführt und die Kimmerier aus Kleinasien vertrieben73. Ferner habe er „das von Kolophon aus gegründete Smyrna" 74 erobert. Uber die Belagerung von Milet und ihre endliche Aufhebung im Zusammenhang mit einem delphischen Orakelspruch erzählt Herodot eine längere Geschichte, für die er sich ausdrücklich auf die Delpher als Gewährsmänner beruft 75 . Vor allem über den Beginn der Kimmeriereinfälle und das Verhältnis des Lyderkönigs Ardys dazu lassen sich auf Grund erhaltener orientalischer Dokumente eine Reihe von Feststellungen machen, welche es ermöglichen, den Grad der Zuverlässigkeit der Mitteilungen Herodots und die Methode, mit welcher er zu ihnen gelangt ist, genauer zu bestimmen. Hier steht zunächst fest, daß die Kimmeriereinfälle nicht, wie Herodot berichtet, erst unter Ardys, sondern schon unter Gyges Lydien erreicht haben, da die Reichsannalen des mit den Ereignissen gleichzeitigen Assurbanipal76 die Angabe enthalten, Gyges (Gugu) habe, nachdem er dem Assurbanipal „gehuldigt" hatte - in Wirklichkeit handelte es sich wohl darum, um ein Schutzbündnis mit dem mächtigen Nachbarn nachzusuchen — siegreich mit den Kimmeriern gekämpft und zwei gefangene Häuptlinge nach Niniveh geschickt77. Darauf berichten dieselben Annalen von einer Abfallbewegung vieler Untertanen von Assur, an welcher auch Gyges teilgenommen habe. Diese wird durch einen Erlaß des Assurbanipal in das Eponymat des Assurdurusur, d. h. etwa in das Jahr 652 V. Chr. 377

datiert 78 . Kurz darauf wird weiter berichtet79, Gyges sei in Kämpfen mit den Kimmeriern umgekommen, was Assurbanipal als Erfüllung seines Gebetes an die Götter Assur und Istar betrachtet, sie möchten Gyges für seinen vorangegangenen Abfall bestrafen. Daß damals auch schon eine erste Eroberung von Sardes stattfand, läßt sich zwar nicht beweisen, ist jedoch nicht unwahrscheinlich. Denn Kallisthenes berichtete - wahrscheinlich in seinen R I P A ^ E I G ' A X E ^ U V Ö Q O D — , aus den Gedichten des Kallinos gehe hervor, daß Sardes vor der endgültigen Eroberung durch Kyros schon zweimal eingenommen worden sei, einmal durch die Kimmerier und einmal durch die Trerer und Lykier 81 . In einem späteren Abschnitt der Annalen Assurbanipals wird berichtet, der Sohn des Gyges habe Assurbanipal angefleht, an Stelle des über seinen Vater Gyges ausgesprochenen Fluches seinen Segen über ihn auszusprechen und gleichzeitig damit seine Unterwerfung unter Assurbanipal angeboten. Das scheint darauf hinzuweisen, daß Lydien auch nach dem Tode des Gyges weiter von kimmerischen Stämmen bedroht war. Da nun das siebente Jahr der Regierung des Ardys bei den spätgriechischen Chronographen als eine Art Epochen jähr für die griechische Literaturgeschichte erscheint83, hat man daraus geschlossen, daß es wahrscheinlich durch die von vielen griechischen Dichtern erwähnte Einnahme von Sardes diese Bedeutung erlangt habe. Dies sei aber die von Kallisthenes erwähnte zweite Eroberung von Sardes durch die Trerer und Lykier gewesen, der schon eine andere Eroberung durch die Kimmerier vorausgegangen sei. Herodot jedoch habe nur von einer Eroberung gewußt und, da die Trerer und Lykier vielfach als kimmerische Stämme galten84, die eigentliche kimmerische Eroberung fälschlich erst in die Zeit des Ardys gesetzt. Dies alles sind jedoch Kombinationen, welche zwar eine gewisse Plausibilität für sich in Anspruch nehmen können, aber keineswegs als völlig gesicherte Ergebnisse der Geschichtsforschung betrachtet werden können, wie es in neueren Darstellungen des öfteren geschieht85. Immerhin ergibt sich einiges, das für die Beurteilung von Herodots chronologischer Methode von Bedeutung ist. 80

Gleichgültig, ob es zwei oder nur eine Eroberung von Sardes vor der Eroberung durch Kyros gegeben hat, daran kann kein Zweifel bestehen, daß Sardes mindestens einmal von den Kimmeriern oder kimmerischen Stämmen im Verein mit andern Völkern erobert worden ist und daß diese Eroberung frühestens im Zusammenhang mit dem Tode des Gyges, also in gewisser Weise unter seinem Sohn und Nachfolger Ardys, stattgefunden hat, worauf dann noch eine weitere Eroberung im siebten Jahr 378

desselben Herrschers gefolgt sein mag. Es ergibt sich also, daß Herodot die Eroberung von Sardes, sei es nun, daß es tatsächlich ein einmaliges Ereignis war, sei es, daß er zwei Ereignisse, die sieben Jahre auseinander lagen, in eines zusammengezogen hat, unter dem richtigen lydischen König ansetzte, dies Ereignis aber mit dem ersten Einfall der Kimmerier in Lydien überhaupt identifizierte, von den früheren, weniger erfolgreichen Einfällen dagegen keine Kenntnis hatte. Dies ist im Grunde ganz natürlich, charakterisiert aber zugleich die Art der Kenntnis Herodots von den Anfängen der Mermnadendynastie. Denn die Eroberung der Hauptstadt des Lyderreiches, das unter Gyges, wie ein Fragment des Archilochos86 zeigt, den Griechen als ein non plus ultra von Macht, Glanz und Reichtum erschienen war, durch ein nordisches Barbarenvolk, hat natürlich den Griechen Kleinasiens einen ungeheuren Eindruck gemacht, und dies um so mehr, als bald darauf auch einige ihrer eigenen Städte dem Ansturm der Barbaren zum Opfer fielen. Ob Herodot das Ereignis innerhalb der Regierungszeit des Ardys genauer festzulegen versuchte, läßt sich aus seinem Text nicht entnehmen. Da er jedoch, wie durch die assyrischen Annalen unwiderleglich bewiesen wird, den Tod des Gyges und den Regierungsantritt des Ardys um 2 j Jahre zu früh angesetzt hat, bleibt nur die Alternative, daß er entweder auch die Eroberung von Sardes — wiederum gleichgültig, ob es sich nur um ein Ereignis oder um zwei, um sieben Jahre auseinanderliegende, Ereignisse handelt-chronologisch viel zu früh angesetzt hat, was wohl das Wahrscheinlichere ist, oder von dem Zusammenhang der Ereignisse überhaupt keine einigermaßen zureichende Vorstellung hatte87. Da nun, wie sich gezeigt hat, die Summe der Regierungszeiten der lydischen Könige von Ardys bis einschließlich Kroisos zu hoch ist, so wäre es für die richtige Beurteilung der chronologischen Bemühungen Herodots sehr wichtig, zu wissen, ob der Fehler bei einem König liegt oder sich auf die ganze Reihe verteilt. Hier helfen nun die bisher zugänglich gewordenen orientalischen Quellen nicht sehr viel weiter. Es gibt aber einige Anhaltspunkte, z. T . bei Herodot selbst, die wenigstens ein beträchtliches Stück weiterhelfen. Nicht in dem Uberblick über die Geschichte der Mermnadenkönige vor Kroisos zu Anfang seines "Werkes, sondern in einem Exkurs, in welchem er die Gründe und Anlässe des Krieges des Kroisos gegen Kyros erörtert, erwähnt Herodot88 eine Schlacht zwischen Lydern und Medern, während deren der Tag zur Nacht geworden sei. Das habe die streitenden Parteien veranlaßt, den schon über fünf Jahre dauernden Krieg abzubrechen und Frieden und Bündnis miteinander zu 379

schließen. Als Anlaß des Krieges, der mit dieser Schlacht seinen Abschluß fand, gibt Herodot das Folgende an: Eine Abteilung von skythischen Nomaden, die sich mit ihren Landsleuten entzweit hatten, hätten bei den Medern unter Kyaxares Asyl gesucht. Dieser habe sie freundlich aufgenommen, und, da er ihre besonderen Fähigkeiten zu schätzen lernte, ihnen Kinder anvertraut, damit sie von ihnen die skythische Sprache sowie die Kunst des Bogenschießens lernen sollten. Die Skythen seien nun viel auf die Jagd gegangen und hätten auch meist reichlich Jagdbeute mit nach Hause gebracht. Als sie aber eines Tages mit leeren Händen von der Jagd zurückkamen, habe Kyaxares sie sehr beleidigend behandelt. Da hätten die Skythen eines der ihnen anvertrauten Kinder getötet, es wie Wild zubereitet und dem Kyaxares überbracht, der sich auch habe täuschen lassen und mit seinen Gästen davon gegessen habe. Unterdessen hätten die Skythen sich aus dem Staub gemacht und bei Alyattes, dem Nachbarn des Kyaxares, um Asyl gebeten. Die Weigerung des Alyattes, diese zu ihm geflüchteten Skythen an Kyaxares auszuliefern, sei der Anlaß zu dem Kriege gewesen. Läßt man diese Thyestesgeschichte zunächst beiseite und konzentriert sich allein auf die chronologischen Daten, so ergibt sich, daß von den in Kleinasien sichtbaren Sonnenfinsternissen der Epodie, nämlich denen der Jahre 610, 585 und 557 v. Chr., nur diejenige von 610 in eine Zeit fällt, in welcher nach Herodots Angaben - wenn man von dem, wie sich gezeigt hat, kaum verrückbaren Datum der Einnahme von Sardes aus auf unsere Zeitredinung umrechnet - Alyattes (615-559) u n d Kyaxares (633-593) gleichzeitig regiert haben. Nimmt man also zunächst einmal dies als das korrekte Datum an, so müßte der Krieg, der nach Herodot im sechsten Jahre seiner Dauer durch diese Sonnenfinsternis beendet wurde, im sechsten Jahre davor, also im Jahre 615, also gerade im ersten Jahre der Regierung des Alyattes, begonnen haben. Rechnet man von da die zwölf Jahre, welche nach Herodot der Vorgänger des Alyattes, Sadyattes, regiert haben soll, zurück, so kommt man mit dem Ende der Regierung von dessen Vorgänger, Ardys, auf das Jahr 627 v. Chr. Da andererseits Ardys, der Nachfolger des Gyges, wie die assyrischen Urkunden zeigen, nicht vor 652 (wahrscheinlicher 651 oder 650 auf den Thron gekommen sein kann, so ergibt sich, daß Herodot, wenn man die hier zugrunde gelegten Daten annimmt, die Regierungszeit des Ardys gegenüber ihrer wahren Länge mit der Angabe von 49 Jahren 89 ungefähr gerade verdoppelt haben müßte. Die übrigen Daten dagegen könnten soweit richtig sein. 380

Es ergibt sich jedoch eine ganze Reihe von zusätzlichen Schwierigkeiten. Kein großer Wert soll darauf gelegt werden, daß nach Angabe Herodots90 Thaies die fragliche Sonnenfinsternis vorausgesagt haben soll und daß er, wenn er, wie Herodot erzählt 91 , noch einige Jahre nach der Eroberung von Lydien durch die Perser politisch tätig war, kaum im Jahre 610 v. Chr. alt genug gewesen sein kann, um eine Sonnenfinsternis vorauszusagen. Denn diese Voraussage und ihr historischer Hintergrund sind ohnehin in mehrfacher Hinsicht dem Zweifel unterworfen. Sehr viel gravierender ist folgendes: Herodot berichtet an anderer Stelle92, die Lyder hätten elf Jahre hindurch vergebens versucht, Milet einzunehmen, darunter die ersten sechs Jahre unter Sadyattes, die letzten fünf Jahre dagegen unter Alyattes. Danach sei dieser infolge eines Religionsfrevels erkrankt und habe den Krieg gegen Milet auf Grund eines Orakels abbrechen müssen. Damit werden der nach Herodot wechselvolle Krieg des Alyattes mit den Medern und der Versuch, auf der entgegengesetzten Seite seines Reiches Milet einzunehmen, völlig gleichzeitig, was zwar nicht unmöglich, aber auch nicht wahrscheinlich ist. Die größte Schwierigkeit aber machen die Skythen. Dabei soll kein besonderer Wert auf die Thyestesgesdiichte gelegt werden, welche voraussetzt, daß vor und bis zu dem Ausbruch des Krieges zwischen Alyattes und Kyaxares freundliche Beziehungen zwischen Kyaxares und den Skythen bestanden. Jedenfalls aber setzt der Krieg zwischen Alyattes und Kyaxares voraus, daß die Meder damals unabhängig waren und über ihre volle militärische Macht verfügen konnten. Dann bleibt jedoch, wenn man 610 als Datum der Schlacht annimmt, für die 28 Jahre Herrschaft der Skythen in Asien, welche nach Herodots Angabe93 völlig in die Regierung des Kyaxares fallen sollen, innerhalb dieser Regierungszeit (633-593) weder vor noch nach dem lydischen Krieg (nach dieser Rechnung 6 1 5 - 6 1 0 ) Platz. Nimmt man andererseits an, die Sonnenfinsternis von 585 sei diejenige gewesen, welche während der Schlacht eintrat, so muß man entweder entgegen Herodot annehmen, sie habe nicht unter Kyaxares, sondern unter seinem Nachfolger Astyages stattgefunden94, oder das Datum des Kyaxares herabrücken. Das letztere zu tun, gibt die Tatsache Anlaß, daß Herodot fälschlich den Sturz des Astyages, des letzten Königs der Meder, unmittelbar nach der Thronbesteigung des Kyros, der zuletzt mehrere Jahre als Vasall der Meder über Persien geherrscht hatte, erfolgen läßt95, während aus den mit den Ereignissen gleichzeitigen babylonischen Inschriften96 hervorgeht, daß Kyros sich erst im Jahre 553 gegen die Meder erhoben und im dritten Jahre danach mit der Gefangennahme des Astyages der Herr381

schaft des Astyages endgültig ein Ende gemacht hat. Rechnet man von hier die 35 Jahre, welche Herodot als Regierungszeit des Astyages angibt97, zurück, so kommt man mit dem Regierungsantritt des Astyages und folglich mit dem Tode seines Vorgängers Kyaxares auf das Jahr 585/84 v. Chr., womit die Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 noch in die Regierungszeit des Kyaxares fallen würde. Daß eine Schlacht zwischen Medern und Lydern stattgefunden hat, in deren Verlauf eine Sonnenfinsternis eintrat, wird man füglich nicht bezweifeln können, da ein solches Ereignis sich naturgemäß der Erinnerung einprägen mußte; und es ist dann sehr viel wahrscheinlicher, daß es sich um diejenige von 585 handelte als um diejenige von 610, da die erstere in Kappadokien eine nahezu totale, die von 610 dagegen nur eine sehr partielle gewesen ist98. Wird dies als richtig angenommen, so kann man sowohl daran festhalten, daß die beiden Gegner, wie Herodot angibt, Alyattes und Kyaxares gewesen sind, als auch an der von Herodot angegebenen Regierungszeit des Astyages. Als offensichtlicher Fehler des Herodot bleibt dann nur der, daß er den Sturz des Astyages unmittelbar auf die Thronbesteigung des Kyros hat folgen lassen, wodurch die ganze Chronologie der medischen Könige um acht Jahre zu weit nach oben gerückt worden ist. Es kommt aber noch etwas weniger Offensichtliches hinzu, das vielleicht noch interessanter ist und auch auf den offensichtlichen Fehler ein helleres Licht wirft. In seinem Bericht über die Herrschaft des Kyaxares erzählt Herodot99 gegen Ende auch, wie die Meder sich von der Herrschaft der Skythen befreiten und ihre Unabhängigkeit wiedergewannen, indem sie nämlich eine führende Gruppe zu einem Gastmahl einluden und sie, nachdem sie sie betrunken gemacht hatten, umbrachten. Es ist offenbar, daß die freundlichen und harmlosen Beziehungen des Kyaxares zu einer Gruppe von Skythen, welche nach Herodots Schilderung dem Krieg zwischen Kyaxares und Alyattes vorangingen, nach diesem Ereignis nicht mehr möglich waren. "Wenn also die Schlacht, welche durch eine Sonnenfinsternis beendet wurde, im Jahre 585 stattgefunden hat, kann das, was Herodot über den Anlaß zu dem ihr vorangehenden Kriege sagt, nidit richtig sein. Dies zu sagen, ist vielleicht überflüssig, da ohnehin kaum jemand an die Geschichte mit dem Thyestesmahl glauben wird. Es ist aber deshalb nicht ganz uninteressant, weil es zeigt, daß die beiden einem weitverbreiteten Typus angehörigen Geschichten von dem Thyestesmahl des Kyaxares und den betrunken gemachten Skythen 100 Herodots Chronologie in Widersprüche verwickeln. Dasselbe aber gilt auch von der hochdramatischen und, wie sich gezeigt hat, auch in anderer Hinsicht höchst interessanten Geschichte von 382

Astyages, Harpagos und Kyros 1 0 1 . Diese Geschichte kann nicht in der hochdramatischen Form erzählt werden, in der sie sich bei Herodot findet, wenn die durch die babylonisdien Quellen bezeugte richtige Chronologie eingehalten wird. Man sieht also, wie hier bei Herodot Geschichte und Geschichten auf dem Felde der Chronologie miteinander in Widerstreit geraten sind und die Geschichten den Sieg davongetragen haben. Kehrt man von hier wiederum zu Herodots Angaben über die Lage der Regierungen der einzelnen Könige zurück, so besteht für Astyages, abgesehen davon, daß sein Sturz zu früh angesetzt ist, wenigstens kein Grund mehr, Herodots Angabe über die Länge seiner Regierung anzuzweifeln. Bei Alyattes kommt man, wenn man die fünf bis sechs Jahre des Krieges, welche der Schlacht von 585 vorangingen und die sich wohl in der Erinnerung des Volkes erhalten hatten, hinzurechnet, auf 591 als terminus ante quem für den Anfang seiner Regierung und, da die Belagerung von Milet kaum mit dem Krieg gegen Medien gleichzeitig gewesen sein dürfte und ebensowenig in die Zeit nach 585 fallen kann, noch eine nicht ganz unbeträchtliche, wenn auch nicht genau bestimmbare, Zeit weiter zurück. Läßt sidi daher die von Herodot angegebene ungewöhnlich hohe Zahl von Regierungsjahren des Alyattes (57) nicht geradezu bestätigen, so doch, daß seine Regierung eine sehr lange gewesen sein muß. Genaueres läßt sich hier über die lydischen Könige kaum ausmachen. Dagegen gibt es hinsichtlich der niedischen Könige noch einige weitere Anhaltspunkte, und bei Kyaxares sind es noch einmal die Skythen, welche chronologische Schwierigkeiten verursachen. Herodot berichtet102, Kyaxares habe kurz nach der Vertreibung der Skythen und der damit verbundenen Wiedergewinnung der medischen Souveränität Ninive erobert. Dieses Ereignis läßt sich jedoch wiederum auf Grund orientalischer Quellen103 auf das Jahr 612 v. Chr. datieren. Zählt man dazu die 28 Jahre, welche die Skythen nach Herodot über Asien geherrscht haben sollen, hinzu, so kommt man auf das Jahr 640 v. Chr. für den Beginn ihrer Herrschaft. Das ist aber sieben Jahre vor dem Beginn der Regierung des Kyaxares nach Herodots Berechnung, d. h. wenn man den Sturz des Astyages schon in das Jahr 558 verlegt, und 15 Jahre vor dem Beginn seiner Regierung, wenn man Herodots Zahlen für die Regierungslängen zugrunde legt, aber von 550 als dem wirklichen Zeitpunkt der vollständigen Eroberung des Mederreidies durch Kyros zurückrechnet. Der skythische Einfall in Palästina läßt sich andererseits mit großer Wahrscheinlichkeit innerhalb ziemlich enger Grenzen unabhängig datieren durch die Anspielungen auf erobernde Nordvölker bei den Propheten Jeremia 104 und Zephania 105 , und

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z w a r in eine Zeit vor, aber nicht allzulange v o r 6z j v . Chr. 1 0 6 , also etwa zur Zeit des Regierungsantritts des K y a x a r e s , wenn man Herodots Rechnung folgt und etwa sieben bis acht Jahre davor, wenn man sie nach dem Ausgangsdatum 550 korrigiert. In jedem Fall bedeutet dies jedoch, da es sich um eine große Völkerbewegung handelt, daß der erste Einfall der Skythen und ihre „Eroberung" Kleinasiens lange v o r K y a x a r e s und nicht, wie Herodot behauptet oder zum mindesten impliziert, erst zu seiner Zeit erfolgte. U m 630 scheint vielmehr nach der größten Ausdehnung ihrer Eroberungen schon das allmähliche Zurückfluten der N o r d v ö l k e r in ihre Heimat begonnen zu haben 107 . Endlich läßt sich aus den assyrischen Annalen Sargons II. noch eine A r t Kontrollpunkt für einige Angaben Herodots gewinnen 108 . D a r i n wird zum Jahre 7 1 5 v . C h r . ein Fürst D a j a u k k u erwähnt, der v o n Sargon gefangengenommen und mit anderen vornehmen Medern zusammen (offenbar als eine A r t Geiseln) nach H a m a t h verpflanzt wurde. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er mit Herodots Deiokes identisch ist. A b e r es ist kaum nötig, wegen dieser „ausgezeichneten Ubereinstimmung zwischen Herodot und dem einzigen festen Anhaltspunkt der älteren medischen Geschichte" 109 das D a t u m der Thronbesteigung des Deiokes möglichst nahe an das Jahr 7 1 5 heranzurücken. Vielmehr ist es, wenn auch die Geschichte v o n dem gerechten Richter Deiokes, der die Gerechtigkeit pflegte, um dadurch zum Königtum zu gelangen, bei Herodot legendär ausgeschmückt ist, durchaus wahrscheinlich, daß auf die Befreiung der Meder v o n der assyrischen Oberherrschaft in den "Wirren v o r und nach dem T o d e Sargons II. (705 v . Chr.) bei dem Bergvolk der Meder zunächst eine Periode der Unordnung folgte, aus welcher sich erst nach einiger Zeit das neue Königtum des Deiokes erhob. D a s um die nun schon mehrfach erwähnten acht Jahre korrigierte D a t u m Herodots für den Beginn der Herrschaft des Deiokes (700 statt 708 v. Chr.) dürfte daher dem w i r k lichen D a t u m außerordentlich nahekommen, wenn nicht geradezu damit zusammentreffen. A u f der andern Seite w i r d die früher vermutete N o t wendigkeit, die von H e r o d o t angegebenen Regierungszeiten des Deiokes und des Phraortes miteinander zu vertauschen, weil nur so die Z a h l von 128 Jahren für die Herrschaft der Meder über Asien, die H e r o d o t v o m Beginn des Königtums des Phraortes an rechnet, herauskommt 1 1 0 , bestätigt. Denn wenn Deiokes, wie nun nicht nur aus der v o n H e r o d o t erzählten Legende, sondern auch aus den assyrischen Annalen hervorgeht, schon lange Zeit v o r seiner Thronbesteigung eine bedeutende Rolle gespielt hat, kann er kaum danach noch 5 3 Jahre regiert haben.

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Auf Grund der soweit angestellten Vergleiche der Angaben Herodots miteinander sowie mit von Herodot unabhängigen Zeugnissen läßt sich nun, wenn auch eine ganze Reihe von Einzelfragen nicht präzise beantwortet werden können, doch das Verfahren Herodots bei der chronologischen Einordnung der von ihm berichteten Ereignisse der frühen vorderorientalischen Geschichte ziemlich weitgehend bestimmen. Wie bei der Geschichte der 26. ägyptischen Dynastie 111 ist es ihm auch hier offenbar gelungen, eine Reihe von ziemlich genauen Daten auf Grund wirklicher Überlieferung zu eruieren. Er hat dann den Versuch gemacht, einerseits diese überlieferten Daten in den größeren Zusammenhang einer die verschiedenen Dynastien gemeinsam von Herakles herleitenden genealogischen Chronologie einzuordnen, andererseits die verschiedenen einzelnen Geschichten und Legenden, die ihm ohne Verbindung mit der Chronologie erzählt worden waren, in das so gewonnene chronologische System einzufügen. Die präzisen Zahlen für die Dauer der Herrschaft der lydischen Heraklidendynastie sowie für die Herrschaft der Assyrer sind aller "Wahrscheinlichkeit nach dadurch gewonnen, daß er von dem Datum, das er jeweils für das Ende dieser Dynastien errechnet hatte, bis zu der Generation desjenigen Heraklesnachkommen zurückrechnete, von dem er die Dynastie herleitete. Diese Zahlen sind daher vom Standpunkt des modernen Historikers aus wertlos. Eine gewiß nicht von Herodot erfundene, sondern von ihm übernommene Generationenrechnung scheint ihn auch verleitet zu haben, den Anfang der Mermnadendynastie um etwa 25 Jahre zu weit hinaufzurücken, obwohl er für die Regierungsdauer der lydischen Könige nach Ardys entweder präzise Daten oder wenigstens recht gute überlieferte Annäherungen an die genauen Daten besaß. Bei den Mederkönigen wird die Zahl, die er für die Gesamtdauer der Regierungszeiten der medischen Könige von Phraortes, bzw. dem Könige, welcher die medische Herrschaft über die Grenzen des eigentlichen Medien hinaus ausgedehnt und eine Art medische Suprematie in Asien aufgerichtet hatte, bis zu dem Untergang des Mederreiches unter Astyages angibt, durch die assyrischen Dokumente im wesentlichen bestätigt. Auch die Regierungszeiten der einzelnen medischen Könige dürften innerhalb recht enger Grenzen, wenn nicht genau, richtig sein. Nur zwei offenkundige Fehler sind ihm dabei unterlaufen: Der erste ist die Vertauschung der Regierungszeiten des Deiokes und des Phraortes; anscheinend ein zufälliges Versehen 112 . Der zweite ist die irrtümliche Gleichsetzung der Erhebung des Kyros gegen die medische Oberherrschaft mit dem Untergang des Mederreiches, bzw. anders ausgedrückt, des Endes der „Herrschaft" der Meder über (in Wirk385

lichkeit Suprematie der Meder in) Asien mit dem Untergang des Mederreiches als solchem. Hier ist der Grund des Irrtums offenkundig und sehr interessant: nämlich daß Herodot sich bei vielen Gewährsmännern, die noch von den alten Dingen gehört hatten, intensiv nach den genaueren Umständen dieser Umwälzung erkundigt hat und daß ihm daraus eine höchst dramatische und lebendige Geschichte geworden war, die aber die Zusammendrängung der Ereignisse von acht Jahren auf ein einziges Jahr erforderte. Die chronologische Verschiebung, die daraus resultierte, hat er nicht bemerkt. Seine Angabe über die 28 Jahre der Skythenherrschaft in Asien stammt offenbar aus einer anderen Quelle als die lydischen Königs- und Herrschaftszahlen und ist mit diesen in keiner "Weise integriert. Es wäre vermutlich auch schwer gewesen, sie mit diesen zu integrieren, da die „Herrschaft der Skythen über Asien" kaum eine mit derjenigen der Assyrer, der Meder oder Perser vergleichbare gewesen sein dürfte, sondern eine Uberwältigung durch die nordischen Nomadenhorden, während derer die einheimischen Herrschafts- und Verwaltungsformen im wesentlichen bestehen blieben. Daß Herodot darauf nicht hingewiesen hat, bzw. dessen nicht gewahr gewesen ist, im Verein damit, daß er - aller Wahrscheinlichkeit nach veranlaßt durch gewisse Legenden und Anekdoten über das Verhältnis des Kyaxares zu den Skythen, die er ohne Kritik wiedererzählt die ganze Zeit der „ Skythenherrschaft" in die Regierung des Kyaxares verlegt, hat für die Modernen ein scheinbar unlösbares historisches Problem geschaffen 113 , das jedoch, wenn man in Herodots Methoden etwas hineingeleuchtet hat, vielleicht gar nicht so sehr sdiwer zu lösen ist. Als Gesamtresultat für diesen Teil seines Geschichtswerkes ergibt sich, daß Herodot sich einige recht gute chronologische Angaben über die Längen der Regierungen der lydischen und medischen Könige des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. zu verschaffen gewußt hat, daß ihm aber andere Elemente dazwischen gekommen sind und ihm zum Teil auch die richtigen Ergebnisse, zu denen er auf Grund der ihm von seinen Gewährsmännern gegebenen Zahlen hätte kommen können, etwas verdorben haben. Aber - um das, was früher schon einmal gesagt worden ist, auf Grund der unterdessen gewonnenen präziseren Erkenntnisse noch einmal zu sagen - : Das Verfahren Herodots bei der Behandlung der Chronologie der orientalischen Reiche, einschließlich derjenigen der 26. Dynastie in Ägypten, unterscheidet sich von seinem Verfahren bei der Behandlung der Chronologie der früheren ägyptischen Geschichte dadurch, daß er bei der orientalischen Geschichte die drei Elemente: 1. der genealogischen Konstruktionen mit 386

Generationenrechnung, 2. der von seinen Gewährsmännern erfragten genauen Einzelzahlen und 3. der von andern Gewährsmännern stammenden oder auf Grund mannigfacher Befragungen von Herodot selbst rekonstruierten Geschichten, von vorneherein zusammengebracht und miteinander auszugleichen versucht hat - ohne ganz verhindern zu können, daß sie einander gelegentlich gegenseitig störten —, während er bei der älteren ägyptischen Geschichte ein zunächst ganz zufällig und ohne jeden Gedanken an chronologische Ordnung aufgelesenes Material nachträglich in das auch bei der orientalischen Geschichte bis zu einem gewissen Grade zugrunde gelegte, an die griechische Heldensage anknüpfende genealogische Schema einzuordnen versucht hat. Wieder etwas anders steht es mit der Chronologie der älteren Geschichte von Staaten und politischen Gemeinschaften, welche Herodot nur in Exkursen behandelt. Hier besteht das chronologische Gerüst vielfach nur aus genealogischen Reihen oder Sukzessionslisten von Königen, oder einer Kombination von beiden, wie bei den spartanischen Königen, ohne genauere Angaben über die Lebenszeit der einzelnen Glieder einer Genealogie oder die Regierungszeit der einzelnen Könige 114 . Es ist ganz richtig, wenn gesagt worden ist, daß es für Herodots Ehrlichkeit spricht, daß er nicht mehr gibt als er hat 115 . Man kann aber vielleicht hinzufügen, daß man hier mehr oder minder im Rohzustand Elemente findet, die er in der frühorientalischen Geschichte dazu benützt hat, um eine genauere oder - da die verschiedenen Elemente sich gelegentlich stören und die historische Genauigkeit beeinträchtigen — vielleicht besser: eine spezifiziertere Chronologie herauszuarbeiten, was wiederum zeigt, daß er auf die frühorientalische Chronologie, weil sie dem Zentrum seines Interesses - wenigstens während einer Phase der Ausarbeitung seines Werkes näher stand, mehr Mühe verwendet hat. Die Chronologie Herodots wird genauer und detaillierter, je mehr sie sich der Zeit des Xerxeszuges nähert. Von Kyros an sind, wenn man von der erwähnten Nichtberücksichtigung der Differenz zwischen Kyros' Thronbesteigung in Persien und seiner Eroberung von Medien absieht, die Regierungszeiten für die persischen Könige fast genau richtig116. Bei Kyros und Kambyses dürfte, soweit es sich nachprüfen läßt, auch die Reihenfolge der Ereignisse im wesentlichen richtig sein, wenn sich auch auf Grund der Angaben Herodots allein die einzelnen Ereignisse nicht immer innerhalb des durch die Zahlen für die Regierungsdaten gegebenen Zeitraumes absolut datieren lassen. Nur die Geschichte von der Tötung des Apisstieres durdi Kambyses, die bei Herodot eine so wichtige Rolle spielt, wird durch

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die ägyptischen Dokumente nicht bestätigt, da nach der Apisstele in Memphis bald nach der Vollendung der Eroberung von Ägypten und der unmittelbar daran anschließenden mißglückten Expedition gegen Äthiopien ein Apisstier geboren wurde, der bis in das vierte Jahr der Regierung des Dareios gelebt hat und also Kambyses lange überlebte 117 . Es handelt sich hier offenbar um eine Legende, welche wahrscheinlich auf Grund eines verhältnismäßig geringfügigen Anlasses aus dem Haß gegen Kambyses entstanden ist. Höchst interessant für die Arbeitsweise Herodots dagegen ist die chronologische Reihenfolge in der Darstellung der Ereignisse während der ersten Phase der Regierung des Dareios, als er noch um seine Anerkennung in den verschiedenen Teilen des Perserreiches zu kämpfen hatte. Wie schon früher in anderem Zusammenhang erwähnt 118 , erzählt Herodot dort zuerst die Geschichten von Intaphernes 119 und Oroites120, welche beide die Schwierigkeiten illustrieren, welche Dareios zu Beginn seiner Regierung hatte, sich persischen Großen gegenüber durchzusetzen, wobei Herodot jedoch seltsamerweise eben hierauf nicht ausdrücklich hinweist und keine Verbindung zwischen den beiden Geschichten herstellt. Dann erzählt er von Dareios' 121 Plänen, gegen die Skythen zu ziehen und Griechenland zu erobern, nebst der Aussendung des Arztes Demokedes, um Informationen über Griechenland einzuziehen, ferner 122 von der Eroberung von Samos durch Dareios und endlich123 von dem babylonischen Aufstand und seiner Niederwerfung. Diese Reihenfolge der Erzählung wird von Herodot ausdrücklich an den Verbindungsstellen auch als eine chronologische gekennzeichnet, indem es i. von der Intaphernesgeschichte heißt124, sie habe sich gleich nach der Erhebung gegen den falschen Smerdis zugetragen, indem 2. die Oroitesgeschichte in die Zeit nach den ersten Schwierigkeiten des Dareios mit den Medern gesetzt wird 125 , Schwierigkeiten, welche selbst nur am Rande erwähnt werden, indem 3. Herodot den Auftrag an Demokedes einige Zeit nach dem Tode des Oroites ansetzt126, indem er 4. die Expedition gegen Samos auf die Erkundungsreise des Demokedes folgen läßt 127 und endlich 5. von dem babylonischen Aufstand sagt 128 , er sei ausgebrochen, als das persische Heer nach Samos aufgebrochen war. Vergleicht man dies mit der Behistuninschrift, in welcher Dareios selbst die Hauptereignisse der ersten Jahre nach seiner Thronbesteigung dargestellt hat, so sieht sich dort vieles sehr anders an. Danach brachen unmittelbar nach der Tötung des Magers Gaumata (des falschen Smerdis Herodots) und der Thronbesteigung des Dareios gleichzeitig in der Susiana und in Babylon Aufstände aus129. Der erste wurde zunächst durch 388

ein von Dareios gesandtes Heer niedergeworfen, während Dareios persönlich gegen Babylon zu Felde zog, einen Usurpator, der sich für Nebukadnezar ausgab, besiegte und töten ließ und Babylon selbst einnahm130. Während er in Babylon weilte, brach jedoch ein zweiter und viel gefährlicherer Aufstand in den Hauptländern des Reiches aus, der sich auf Persien, die Susiana, Medien, Assyrien und andere der nördlichen Provinzen des Reiches erstreckte131. Dareios schildert sodann ausführlich, wie die Aufstände in den verschiedenen Teilen des Reiches in einer großen Anzahl von Schlachten, teils von Dareios selber, zum größten Teil aber durch persische Feldherrn, die ihm treu geblieben waren, mit Hilfe der ihm treu gebliebenen Truppen, allmählich der Reihe nach niedergekämpft wurden132. Endlich berichtet Dareios133, daß zu der Zeit, als er persönlich in Persien und Medien war, um die dort ausgebrochenen Aufstände niederzuwerfen, ein zweiter Aufstand in Babylon ausbrach unter der Führung eines Armeniers, der behauptete, der wirkliche Nebukadnezar zu sein, also unter einem zweiten Usurpator. Dieser Aufstand, sagt Dareios134, sei von dem Meder Vindafra, den er zum Feldherrn eingesetzt hatte, niedergeschlagen worden und habe wiederum mit der Einnahme der Stadt Babylon geendet. "Wenn nun, wie fast allgemein angenommen wird, der Vindafra, von welchem hier die Rede ist, mit dem Intaphernes Herodots identisch ist, dann hat Herodot die Intaphernesgeschichte an eine chronologisch ganz falsche Stelle gesetzt135. Das wäre für sein Verfahren sehr bedeutsam. Denn es würde zeigen, daß er die Geschichte, die ihm als Einzelanekdote zugekommen ist, deshalb ganz an den Anfang der Regierung des Dareios gesetzt hat, weil es ihm natürlich schien, daß Dareios sich zu allererst seiner Autorität über die persischen Großen versichern und er von da den ersten "Widerstand erwarten mußte. Aber selbst wenn sich gegen alle Wahrscheinlichkeit durch neue orientalische Dokumente herausstellen sollte, daß Intaphernes nicht mit dem Vindafra der Behistuninschrift identisch ist, wäre das Ergebnis für Herodot nicht sehr verschieden. Die beiden Aufstände, zuerst in der Susiana allein, dann im ganzen Norden und Nordosten des Reiches, die, wie die Inschrift zeigt, gewaltige Ausmaße annahmen und deren Unterdrückung die höchsten Anstrengungen erforderte, haben bei Herodot keine Spur hinterlassen außer dem Nebensatz, der besagt, daß Oroites den Persern nicht half, als sie von den Medern der Herrschaft beraubt wurden, und der so, wie er dasteht, ohne zusätzliche Information gar nicht verständlich ist136 und zudem das, was wirklich geschah, nur sehr ungenau bezeichnet, da an dem Aufstand nicht nur 389

die Meder beteiligt waren, wenn auch ein Meder Fravartis dabei eine führende Rolle gespielt hat. Die Hauptrolle spielen bei Herodot nicht die großen Volksaufstände im Norden und Osten des Reiches, sondern die vermutete oder wirkliche Unbotmäßigkeit einzelner vornehmer Perser, die weder beim Volk noch bei dem ihnen unterstellten Militär Unterstützung finden. Der babylonische Aufstand, im Gegensatz zu dem Aufstand im Norden, wird von Herodot ausführlich behandelt. Aber er kennt nur einen Aufstand statt der von Dareios erwähnten zwei 137 , und er setzt diesen Aufstand chronologisch hinter den Beginn der Eroberung von Samos 138 durch Dareios und später als Dareios' Pläne zu den Feldzügen gegen die Skythen und die Griechen. Nun kann nach der Behistuninschrift nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß der erste babylonische Aufstand unmittelbar nach der Thronbesteigung des Dareios ausbrach und daß dieser in der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten babylonischen Aufstand alle Hände voll hatte mit der Unterdrückung des großen Aufstandes im Norden. Obwohl die Eroberung von Samos in der Behistuninschrift nicht vorkommt, so daß sich ihr Datum auf Grund persischer Zeugnisse nicht festlegen läßt, kann doch kein Zweifel daran sein, daß Dareios in der Zeit, in welcher er alle Kräfte aufwenden mußte, um seine Herrschaft zu verteidigen, nicht eine Expedition abzweigen konnte, um Samos zu erobern, und dazu noch, wie es bei Herodot dargestellt wird 139 , um sich für einen Gefallen erkenntlich zu zeigen, den ihm ein Angehöriger des samischen Herrschergeschlechtes einmal erwiesen hatte, als er noch nicht König war; ganz abgesehen davon, daß die chronologische Reihenfolge der Ereignisse bei Herodot schon deshalb unmöglich ist, weil die Expedition nach Samos - wie es auch Herodot darstellt - nicht vor der Beseitigung des Oroites erfolgt sein kann, diese aber von Herodot in die Zeit gesetzt wird, als Dareios die Herrschaft den Medern wieder abgewonnen hatte, während die Behistuninschrift zeigt, daß auch der zweite babylonische Aufstand zu einer Zeit ausbrach, als der große Aufstand im Norden und Osten noch keineswegs völlig niedergeworfen war. Erst recht hat natürlich Dareios in dieser Zeit und auch bevor er seine Herrschaft auf eine feste Basis gestellt hatte, nicht daran denken können, einen großen Feldzug gegen die Skythen zu unternehmen oder sich gar die Griechen zu unterwerfen und Vorbereitungen dazu zu treffen. Damit bestätigt eine Nachprüfung der Chronologie Herodots in diesem Abschnitt an Hand der persischen Dokumente im vollsten Maße, was sich schon bei der Analyse seiner Darstellung als solcher als zwingende 390

Vermutung aufgedrängt hat 140 : daß Herodot in diesem Abschnitt Geschichten, die ihm aus verschiedenen Quellen zugeflossen waren und von denen der größte Teil der Oroitesgeschichte ursprünglich überhaupt in die samische und nicht in die persische Geschichte gehört hatte, zusammengestellt hat, wie sie ihm etwa in den Zusammenhang zu passen schienen, aber ohne den Versuch, sie wirklich miteinander zu integrieren und, wie sich nun gezeigt hat, ohne Versuch, die exakte chronologische Reihenfolge der Vorgänge zu eruieren. Oder, um es noch etwas genauer zu sagen: Herodot hat, was er über die erste Phase der Regierung des Dareios aus verschiedenen Quellen in Erfahrung gebracht zu haben glaubte, in eine solche chronologische Ordnung gebracht, daß er möglichst viel von dem, was aus derselben Quelle stammte oder in denselben weiteren historischen Zusammenhang gehörte, hintereinanderweg erzählen konnte, soweit sich dabei eine ihm plausible historische Reihenfolge ergab, ist aber innerhalb der Regierung des Dareios nirgends von präzisen Daten ausgegangen. In der ganzen Periode von dem (mit Herodots Methoden richtig „datierten") Regierungsantritt des Dareios bis zum Beginn des ionischen Aufstandes findet sich nicht die Spur eines genauen Datums bei Herodot, wohl aber vieles, was den aus den orientalischen Dokumenten zu gewinnenden genauen Daten widerspricht. Der Ausbruch des ionischen Aufstandes bedeutet wiederum in gewisser Weise einen "Wendepunkt in Herodots Chronologie, insofern als von hier an die Aufeinanderfolge der Ereignisse eine dichtere wird und die bisherigen Angaben innerhalb der Regierungszeiten der Könige mit Wendungen wie „danach", „bald darauf", „während dies geschah" nicht selten durch genauere Angaben wie „im zweiten Jahre danach" ersetzt werden. Aber auch hier kommt es für die Analyse des Werkes darauf an, die Dinge möglichst genau zu fixieren. Obwohl die Aufeinanderfolge der Ereignisse vom Beginn des Aufstandes an sehr viel dichter wird, wird die sozusagen „innere" Chronologie erst von dem ersten mit Zahlen versehenen (relativen) Datum an, das sich bei Herodot in diesem Zusammenhang findet, genauer: der Datierung der Einnahme von Milet durch die Perser in das sechste Jahr nach dem Beginn des Aufstandes 141 . Daß Herodot diese Angabe macht, die wahrscheinlich von kleinasiatischen Griechen stammt, bei denen sich die Erinnerung an das Ereignis und seinen Zeitpunkt erhalten hat, zeigt natürlich, daß er sich um eine genaue Datierung bemühte. Aber das macht es nur umso bedeutsamer, daß seine Chronologie für diese sechs Jahre selbst höchst unklar ist. Ganz besonders gilt dies für die relative Chronologie der Tätigkeit des Aristagoras und des Histiaios. 39i

Über die Chronologie der ersten Ereignisse nach dem Beschluß zum Abfall von den Persern - die Mission des Aristagoras in Sparta und Athen, den Zug gegen Sardes und den Rückzug der Athener aus dem ganzen Unternehmen - konnte es ja der Natur der Sache nach keine Zweifel geben, da jeweils das eine Ereignis von dem vorhergehenden abhing und der Zug nach Sardes als solcher als Eröffnung der Feindseligkeiten in jedermanns Gedächtnis sein mußte. Höchst seltsam dagegen ist, daß Histiaios bei Herodot erst nach dem Tode des Aristagoras in Kleinasien in Tätigkeit tritt. Denn bei der bekannten Organisation des persischen Kurierwesens kann es nicht sehr lange gedauert haben, bis Dareios von dem Aufstand erfuhr und Maßnahmen ergriff. Das wird dadurch bestätigt, daß nach der Beschreibung der Tätigkeit und des Todes des Hymaies, der gleich nach der Einnahme von Sardes durch die Ionier und also wohl ohne einen Befehl des Großkönigs abzuwarten, die Griechen angegriffen und, als sie sich zurückzogen, die Verfolgung aufgenommen hatte, Herodot berichtet142, Artaphernes, der Gouverneur von Sardes, und Otanes seien damit beauftragt worden 143 , einen Feldzug zur Unterwerfung von Ionien und der angrenzenden Aiolis zu unternehmen. Da weder Artaphernes, ein Bruder des Dareios, noch Otanes, der vornehmste unter den nicht dem Achaimenidengesdilecht angehörigen Persern, von jemand anders mit etwas beauftragt worden sein kann als von dem Großkönig selbst, wird damit vorausgesetzt, daß dieser begonnen hatte, sich mit dem ionischen Aufstand zu beschäftigen. Es müßte dann wohl dem Dareios, wenn er Histiaios vertraute, daran gelegen gewesen sein, diesen so bald als möglich nadi Ionien zu senden, entweder um eine unblutige Unterwerfung der Ionier zu erzielen oder wenigstens um von der andern Seite her mit den ausgesandten persischen Feldherrn zusammenzuarbeiten. Aber erst nachdem Artaphernes und Otanes Klazomenae und Kyme eingenommen haben, was ja doch einige Zeit in Anspruch genommen haben muß, und nun Milet von ferne bedrohten, bekommt Aristagoras es mit der Angst und geht, nachdem andere Pläne keinen Anklang gefunden haben, nach Thrakien, nachdem er Milet einem Pythagoras übergeben hat144. Er kommt dann um auf einer Expedition, die er unternimmt, nachdem er sich eines beträchtlichen Teiles des Landes bemächtigt hat, was auch kaum in ein paar Tagen geschehen sein kann. Trotzdem sieht es nach der Darstellung Herodots so aus, als ob Histiaios erst nach dem Tode des Aristagoras in Ionien eingetroffen sei. Dabei trifft er auf der Reise den Artaphernes 145 , wie man nach der Reihenfolge der Erzählung annehmen muß, nachdem dieser von der Expedition nach Ionien und der Aiolis zurückgekehrt ist, 392

was Herodot freilich nicht sagt. Aber von der dadurch veränderten Situation ist mit keinem Wort die Rede, noch wird erklärt, warum Artaphernes wieder in Sardes ist, obwohl der Feldzug nach Ionien, mit dem er beauftragt worden war, kaum als beendet betrachtet werden konnte. Mit alledem soll in keiner "Weise bestritten werden, daß Histiaios tatsächlich erst nach dem Tode des Aristagoras nach Ionien gekommen sein und daß es für seine verspätete Aussendung durch Dareios Gründe gegeben haben kann. Entscheidend ist allein, daß darüber gar nichts gesagt wird und daß infolgedessen die chronologischen wie die mit ihnen zusammenhängenden sachlichen Zusammenhänge unklar bleiben. Daher kommt es auch, wie schon bei anderer Gelegenheit bemerkt 146 , daß die modernen Historiker darüber streiten können, ob die Belagerung von Milet drei Jahre oder nur wenige Monate gedauert habe, ohne zu einem sicheren Resultat gelangen zu können. Die chronologische wie die sachliche Unklarheit ist auch hier wiederum ganz offensichtlich darauf zurückzuführen, daß Herodot Dinge, die er aus verschiedenen Quellen bezogen hatte, hintereinandergeschaltet hat, ohne den Versudi zu machen, die verschiedenen Ereignisse auch nur in ihrem relativen chronologischen Verhältnis zueinander zu fixieren. Anders steht es - zum mindesten zum größten Teil - mit der darauffolgenden Darstellung der Ereignisse von der Einnahme Milets147 bis zu den verschiedenen Phasen des Xerxeszuges. Einerseits bestimmt hier Herodot nun immer häufiger die Intervalle zwischen den Ereignissen durch genaue Angabe der dazwischenliegenden Jahre 148 . Andererseits liefert er zusätzlich zwei Daten, die sich auf unserer Zeitskala absolut fixieren lassen. Soweit und sofern seine Angaben richtig sind, läßt sich daher innerhalb des angegebenen Zeitraumes jedes der von Herodot erwähnten Ereignisse einem bestimmten Jahr unserer Zeitrechnung zuweisen. Die beiden von Herodot bewußt zur genaueren Fixierung eingeführten Daten sind: a) die Datierung der ersten Eroberung und Besetzung Athens auf das Amtsjahr des attischen Archons Kalliades149 und b) die Datierung der Wiedereroberung des abgefallenen Ägyptens durch die Perser in das zweite Jahr nach dem Tode des Dareios150. Auf Grund der ersten Datierung ist der Versuch gemacht worden151, zu zeigen, daß Herodot in diesem ganzen Abschnitt nach Archontenjahren gerechnet haben müsse. Dagegen ist eingewendet worden, daß sich in der Datierung des Befehles des Dareios, eine Flotte für den Zug des Datis und Artaphernes, der dann in der Schlacht bei Marathon gipfelte, zusammenzubringen, ein Widerspruch findet, der Herodot kaum unterlaufen sein könnte, wenn er alle 393

Ereignisse konsequent nach Archontenjähren geordnet hätte. Tatsächlich scheint Herodot an einer Stelle 152 diesen Befehl in dasselbe Jahr wie die Vernichtung der Flotte des Mardonios am Athos zu setzen, an einer anderen Stelle dagegen 153 ein Jahr später. Auf Grund dessen ist zu beweisen versucht worden, daß Herodot gewiß nicht nach Archontenjahren gerechnet haben könne, sondern vielmehr nach persischen Königsjahren gerechnet haben müsse, weil sich dann der Widerspruch als ein nur scheinbarer erweisen lasse 154 . Diese Annahme werde auch durch die Datierung der Wiedereroberung Ägyptens auf das zweite Jahr nach dem Tode des Dareios bestätigt. Aber die Annahme, Herodot habe durchweg nach persischen Königsjahren gerechnet, beseitigt die chronologischen Schwierigkeiten keineswegs vollständig. Außerdem macht diese Erklärung eine Änderung der allgemein angenommenen historischen Chronologie nötig, die zu einer realiter kaum möglichen zeitlichen Zusammendrängung der Ereignisse führt 155 . Es bleibt daher kaum ein anderer Schluß übrig, als daß Herodot auch hier die Ereignisse weder konsequent und durchgehend nach attischen Archontenjahren noch konsequent nach persischen Königsjahren bestimmt haben kann, sondern auch hier sein Verfahren ein loseres gewesen sein muß, wie es ihn denn auch immer noch zu kleineren Ungenauigkeiten führt. Wohl aber ist richtig - und dies ist für Wesen und Entstehung des Werkes sehr wichtig daß Herodot in diesem ganzen Abschnitt durchweg chronologisch konsequent zu koordinieren versucht hat und nicht mehr wie in den beiden vorhergehenden Abschnitten einzelne Ereignisse ohne Rücksicht auf ihren zum Teil synchronen Ablauf hintereinanderschaltet, wenn ihm die Kunde davon aus verschiedenen Quellen zugeflossen ist - mit Ausnahme allerdings charakteristischerweise der Histiaiosgeschichte, die er nach der Erwähnung und Datierung der Einnahme von Milet zunächst noch ohne Rücksicht auf ihre etwaige Verflechtung mit andern Ereignissen zu Ende erzählt. Diese um so viel größere Sorgfalt in dem letzten Abschnitt vor den Perserkriegen ist umso bedeutender, als auch hier, wie schon die Einfügung des einen griechischen und des persischen „absoluten" Datums zeigt, zweifellos teils griechische, teils persische Quellen vorliegen. Es kann also nicht daran liegen, daß Herodot hier bessere oder besser koordinierte „Quellen" gehabt hätte als in den vorangehenden Abschnitten. Vielmehr hat er sich hier mehr als vorher um eine genaue chronologische Koordinierung der Ereignisse bemüht. Den Versuch einer noch dichteren und genaueren Koordination der Ereignisse, nicht nach Jahren und Jahreszeiten, sondern nach Tagen, 394

findet man später bei der Darstellung der Vorgeschichte und der Geschichte der Schlacht bei Marathon. Aber das ist ein besonderes Problem, auf das erst in einem anderen Zusammenhang näher eingegangen werden kann 156 . Die Probe auf die Behauptung, Herodot habe für verschiedene Teile seines "Werkes nicht nur Quellen von verschiedenem Grad chronologischer Genauigkeit gehabt, sondern sei auch selbst mit recht beträchtlich verschiedenen Graden von Sorgfalt verfahren, läßt sich noch an einigen seiner Einschaltungen über griechische Geschichte vor den Perserkriegen machen. Natürlich muß man dazu auch wieder scharf unterscheiden zwischen dem, was für Herodot erreichbar war und was nicht. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß für Herodot bei sorgfältiger Nachforschung eine Archontenliste von seiner Zeit bis zum Archontat des Solon erreichbar gewesen wäre, wenn sie auch noch nicht in einer bequemen Rekonstruktion vorlag wie zur Zeit des Hippias von Elis. Daß er gewahr war, daß sich Archonten zur Datierung verwenden ließen, zeigt seine Erwähnung des Kalliades als Archon des Jahres der Schlacht bei Salamis. Auf der andern Seite ist offenbar, daß Archontate nur dann zur Datierung verwendet werden konnten, wenn sich die historischen Ereignisse auf Grund vorhandener Dokumente oder spezieller Erinnerungen eindeutig mit einem bestimmten Archontat verbinden ließen, wie z. B. das Ardion tat des Solon mit seiner Gesetzgebung, aber auch das des Kalliades mit Salamis. Da es sich in einer Darstellung der Entwicklung der griechischen Geschichtsschreibung nicht darum handeln kann, die Chronologie Herodots in jedem einzelnen Fall nachzuprüfen, sondern nur darum, seine Methoden zu erhellen und allenfalls Schlüsse daraus auf die Entstehung seines "Werkes zu ziehen, mögen drei Beispiele für die Verschiedenheit seines Verfahrens genügen. Als erstes kann die Chronologie der Verwicklungen zwischen Athen und Ägina dienen, deren Dunkelheit schon immer Anstoß erregt hat. Im ganzen lassen sich in der Darstellung dieser Verwicklungen bei Herodot drei Zeitabschnitte unterscheiden. Der erste ist - abgesehen davon, daß er als der erste den beiden anderen zeitlich vorangehen muß chronologisch überhaupt nicht fixiert. Hier handelt es sich um den ersten Ursprung der Feindschaft zwischen Athenern und Ägineten157. Der zweite wird von Herodot in die Zeit zwischen dem Sturz der Tyrannis und den Vorbereitungen zum ionischen Aufstand gesetzt. Am Schluß der Darstellung dieses Abschnittes berichtet Herodot 158 von einem Orakel, das den Athenern verkündet habe: "Wenn sie die Ägineten dreißig Jahre in Ruhe 395

ließen und dann im einunddreißigsten Jahre, nachdem sie dem Aiakos ein Heiligtum errichtet hätten, einen Krieg gegen Ägina begännen, würden sie den Sieg davontragen, andernfalls würden sie in wechselvollen K ä m p fen viel zu leiden haben, am Ende aber aus diesen auch als Sieger hervorgehen. Die Athener hätten es jedoch nicht über sich gebracht, mit ihrer Rache für die von den Ägineten erlittene Unbill so lange zu warten. Sie hätten daher sogleich dem Aiakos ein Heiligtum errichtet und beschlossen, den Krieg wiederaufzunehmen. D a sei ihnen eine drohende Expedition der Lakedämonier dazwischen gekommen, die aber dann infolge des Einspruches der Korinther nicht zustande gekommen sei. Seltsamerweise ist dann jedoch von einer faktischen Wiederaufnahme des Kampfes gegen die Ägineten nicht mehr die Rede, bis im sechsten Buch 159 Herodot von der Aufforderung des Dareios an die griechischen Völker und Gemeinden berichtet, sich seiner Oberhoheit zu unterwerfen. D a , heißt es, hätten die Ägineten ebenso wie die andern Inselgriechen den Persern das Zeichen der Unterwerfung, "Wasser und Erde, gegeben. Darauf hätten die Athener die Ägineten bei den Lakedämoniern verklagt, woraus sich dann allerhand außenpolitische und, da die spartanischen Könige in bezug auf die gegenüber den Ägineten zu ergreifenden Maßnahmen nicht einig sind, auch innenpolitische Verwicklungen ergeben. Endlich kommt es zu einem Krieg zwischen Athen und Ägina, der jedoch im Widerspruch mit dem im fünften Buch berichteten Entschluß der Athener, den Krieg gegen die Ägineten sofort wiederaufzunehmen, nicht von den Athenern, sondern von den Ägineten begonnen wird, die während eines Festes in Sunion ein Schiff mit vornehmen Athenern, die zum Feste fahren, mitten im Frieden wegnehmen und die Passagiere zu Gefangenen machen 160 . In dem darauffolgenden Krieg kommt es auch zu inneren Wirren auf Ägina. Die Athener müssen, da ihre Flotte der äginetischen nicht gewachsen ist, von den ihnen befreundeten Korinthern 20 Schiffe zu ihrer Verstärkung leihen 161 , siegen dann aber mit deren H i l f e in einer Seeschlacht162. Darauf gibt es weitere Kämpfe. Eine Hilfstruppe von tausend argivischen Freiwilligen wird auf Ägina von den auf der Insel gelandeten Athenern zusammengehauen 163 . Aber in einem unbewachten Augenblick greifen die Ägineten die athenische Flotte an und nehmen vier Schiffe mitsamt der Besatzung weg 164 . Damit ist der Bericht Herodots wiederum plötzlich zu Ende, und er wendet sich nun der Erzählung von dem Zug des Datis und Artaphernes zu, der zu der Schlacht bei Marathon führt. Erst mehr als ein ganzes Buch später taucht der Konflikt zwischen Athen und Ägina wieder auf. Aber ganz nebenbei. Nachdem Herodot dort 396

erzählt hat 165 , wie es Themistokles gelang, die Athener von seiner Interpretation der berühmten Worte des Delphischen Orakels über die hölzernen Mauern zu überzeugen und sie zu überreden, die Stadt aufzugeben und sich ganz auf die Flotte zu verlassen, fährt er fort: Themistokles habe aber schon einmal einige Zeit vorher den Athenern einen nicht minder ausgezeichneten Rat gegeben, nämlich die Uberschüsse von den Silberbergwerken vom Laurion nicht an die Bürger zu verteilen, sondern davon eine Flotte von 200 Schiffen zum Kriege gegen Ägina zu bauen. Die seien ihnen, soweit sie schon fertig waren, gegen die Perser zustatten gekommen. So habe der Krieg Athens gegen Ägina ganz Hellas gerettet. Der Unterschied der Diskontinuität dieser Brocken einer Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Athen und Ägina von der Diskontinuität der samischen Geschichte im Werke Herodots ist offenbar. Bei der letzteren handelt es sich deutlich um eine ursprünglich zusammenhängende Geschichte, die dann in verschiedene Teile geteilt wurde, um diese an den Stellen, wo sich die samisdie Geschichte mit der persischen bzw. der des Konfliktes zwischen Orient und Okzident berührt, einzufügen. Die Geschichte des athenisch-äginetischen Konfliktes dagegen hat in sich keinerlei Kontinuität. Das würde an sich nur bedeuten, daß Herodot an dieser Geschichte nie um ihrer selbst willen interessiert gewesen ist, sondern nur soweit, als sie mit den größeren Ereignissen in Berührung kommt. Es kommt aber hinzu, daß einerseits die Abschnitte, die Herodot seinem Geschichtswerk einverleibt hat, ausführlicher sind als für das Verständnis der Darstellung der Perserkriege und ihrer Antezedentien notwendig ist, andererseits abrupt abbrechen an Stellen, die unmittelbar auf eine Fortsetzung hinweisen. Denn wenn gesagt wird, die Athener beschlossen, trotz des Orakels den Krieg sogleich fortzusetzen164, wurden dann aber durch ein Ereignis zurückgehalten, das nach Herodots Darstellung höchstens ein paar Wochen gedauert haben kann, so wird jeder erwarten, danach zu hören, daß sie nun auch nach Beseitigung des Hindernisses den Krieg fortsetzten, oder warum sie es nicht getan haben, nicht aber erst viele Kapitel später, daß der Krieg nach mehr als zehn Jahren auf eine Weise wieder anfängt, der mit dem damaligen Entschluß in keinerlei Zusammenhang steht. In gewisser Weise noch abrupter ist das Abbrechen bei der Schilderung der Ereignisse vor der Schlacht bei Marathon. Daß eine Erörterung des Konfliktes zwischen Athen und Ägina hier eingefügt wird, ist völlig in der Ordnung, da es ja wichtig war, ob Athen zur Zeit der akuten Bedrohung durch die persische Expedition noch einen mit den Persern paktierenden Feind, dazu noch einen Feind mit einer gleidiwer397

tigen oder überlegenen Flotte, unmittelbar vor der Haustür hatte. Aber dann endet das Ganze mit einem Seesieg der Ägineten, ohne daß mit einem Wort gesagt wird, ob die Feindseligkeiten während der Expedition des Datis und Artaphernes weitergingen oder ob und in welcher "Weise sie vorher beigelegt wurden, was doch das einzige ist, was im Zusammenhang der großen Geschichte von Bedeutung ist167. Damit hängt dann auch die Dunkelheit der Chronologie zusammen. Der eine völlig unklare Punkt ist gegeben durch das Orakel über die dreißig Jahre, das nach Herodots Bericht in der Zeit zwischen der Verfassungsreform des Kleisthenes und dem ionischen Aufstand (aus dem Zusammenhang läßt sich etwa das Datum jo6 v. Chr. erschließen) gegeben worden sein soll und bei welchem die Angabe über die dreißig Jahre völlig in der Luft hängt, eine Schwierigkeit, welche kaum durch den Hinweis darauf völlig beseitigt werden kann, daß die Athener dem in dem Orakel eingeschlossenen Rat nicht gefolgt sind und das Orakel damit hinfällig geworden sei168. Die zweite große Unklarheit besteht darin, daß die Ereignisse, welche Herodot zu einem Zeitpunkt nach der Expedition des Mardonios beginnen und vor dem Zug des Datis und Artaphernes enden läßt, sich nur mit allergrößter Mühe in diesem kurzen Zeitraum unterbringen lassen169; so daß fast allgemein und wahrscheinlich mit Recht angenommen worden ist, daß es sich hier um Ereignisse handelt, deren Ende und Schlußabschnitt erst nach der Schlacht bei Marathon angesetzt werden kann. "Wenn sonst alles in Ordnung wäre, müßte man die chronologische Zusammendrängung der Ereignisse, welche sich ergibt, wenn man Herodot wörtlich nimmt, wohl hinnehmen170. Da dies nicht der Fall ist, so liegt darin doch wohl ein weiterer Hinweis darauf, daß an dieser Stelle kompositorisch etwas nicht in Ordnung ist. Selbst wenn man annimmt, daß sich keines der in diesen Zusammenhang gehörigen Ereignisse mit einem attischen Ardiontat in Verbindung bringen ließ, läßt sich kaum bezweifeln, daß eine sorgfältige Untersuchung der Zusammenhänge, wenn die zu Herodots Zeiten bestehenden Möglichkeiten voll ausgenützt wurden, zu einer befriedigenderen Darstellung hätten führen müssen, wobei noch besonders gravierend ist, daß Dinge, welche für die große Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident völlig irrelevant sind, mit der größten Ausführlichkeit erzählt werden, der Leser dagegen gerade über die Dinge, welche dafür von der größten Bedeutung sind, im Dunkel gelassen wird. Mit anderen Worten: Die Geschichte der Verwicklungen zwischen Athen und Ägina ist mit der Geschichte der Perserkriege, in welche sie eingefügt ist, sowohl chronologisch wie kompositorisch schlecht 398

integriert, und dies in einer "Weise, welche gewiß nicht allein auf die Mangelhaftigkeit der Quellen zurückgeführt werden kann. Es ist vielleicht nicht ganz uninteressant, damit Herodots Verfahren bei der Chronologie der Peisistratiden im Verhältnis zur Chronologie des Kroisos zu vergleichen. Im Verlauf der Lydergeschichte im ersten Buch berichtet Herodot 171 , wie Kroisos sich über die Zustände in Griechenland unterrichtete, um herauszufinden, welche griechischen Mächte er mit Vorteil als Bundesgenossen in seinem geplanten Krieg gegen Kyros gewinnen könne. Dies gibt ihm Anlaß, Exkurse über die Entwicklung der politischen Zustände in den beiden führenden Staaten, Athen und Sparta, bis zu dem gegebenen Zeitpunkt einzuschalten. Der erste Exkurs gibt einen Überblick über die Geschichte Athens von der ersten bis zu der dritten Tyrannis des Peisistratos und beginnt und schließt mit der Feststellung172, daß zur Zeit der Erkundigungen des Kroisos Athen unter der Tyrannis des Peisistratos gestanden habe. Das ist nun, wenn man die Erkundungen des Kroisos sehr kurz vor seiner Eröffnung des Krieges gegen Kyros ansetzt, allenfalls gerade noch möglich, wenn die Herrschaft der Peisistratiden in Athen vom Beginn der dritten Tyrannis des Peisistratos bis zur Vertreibung des Hippias und dem Sturz der Tyrannis überhaupt, wie Herodot an einer andern Stelle angibt, 36 Jahre gedauert hat 173 . Doch kommt man dabei chronologisch sehr ins Gedränge. Zum mindesten aber müßte Peisistratos eben gerade in dem Augenblick, in welchem Kroisos seine Erkundigungen anstellte, sich wieder der Herrschaft in Athen bemächtigt gehabt haben. Nun soll das, was Herodot im Zusammenhang mit Kroisos über die Tyrannis in Athen erzählt, offenbar zur Erklärung dafür dienen, daß Kroisos gar keinen Versuch gemacht hat, die Athener als Bundesgenossen zu gewinnen, sondern sich sogleich und ausschließlich an Sparta wandte, das, wie er ausführt, damals nach einer schwierigen Periode gerade wieder in den Vollbesitz seiner Kräfte gekommen war. Da sollte man meinen, eine Bemerkung des Inhaltes, Peisistratos habe gerade damals versucht, oder allenfalls, er habe eben damals den Versuch mit Erfolg durchgeführt gehabt, sich wieder zum Herrn von Athen zu machen, hätte ganz besonders gut dem Zwecke gedient, zu zeigen, warum Kroisos sich nicht um die Bundesgenossenschaft einer Stadt bewarb, die sich in einem Zustand innerer Instabilität befand. Davon steht jedoch bei Herodot nichts. Vielmehr heißt es bei ihm einfach, Kroisos habe damals Peisistratos im Besitz der Herrschaft in Athen gefunden. Rein auf Grund der bis hierhin zitierten Stellen kann man sich dann die Frage stellen, ob Herodot hier eine chronologische 399

Ungenauigkeit begangen hat oder das, was er sagt, sachlich zwar richtig ist, Herodot aber die Chronologie sich nicht so genau überlegt hat - obwohl er das auf Grund des von ihm selbst gelieferten Materials gekonnt hätte —, um eine genauere Darstellung der Umstände, soweit sie für den größeren Zusammenhang relevant waren, zu geben. Aber Herodot war ja, wie man sich vielleicht erinnern wird, der Meinung, die Athener hätten, solange sie unter der Herrschaft der Tyrannen standen, militärisch nichts getaugt, weil sie nicht für die Tyrannen kämpfen wollten 174 . Erst nach ihrer Befreiung von der Tyrannis sei ihre militärische Macht und ihre außenpolitische Geltung ganz plötzlich angewachsen. Da hat man ja nun eine Erklärung, die eine Erklärung aus der besonderen Instabilität der Verhältnisse in Athen zur Zeit der Erkundungen des Kroisos überflüssig macht. Es wäre nun wohl kaum berechtigt, daraus den Schluß zu ziehen, daß Herodot sich deshalb in dem erwähnten Fall nicht um die genauere Chronologie oder etwaige Folgerungen aus einer solchen gekümmert hat, weil er ohne diese eine so schöne, in sein Gesamtkonzept passende Erklärung für die Vorgänge hatte, wenn es nicht deutlichere Fälle dieser Art bei ihm gäbe. Ein besonders flagranter Fall dieser Art ist aber die Solon-KroisosGeschichte175. Das Archontat des Solon mußte sich für Herodot, wenn er sich genügend Mühe gab, vom Archontat des Kalliades aus bis auf eine mögli.07101 handeln, die mit der griechischen Legende vertraut waren und griechische Vermutungen über den Zusammenhang dieser Legenden mit orientalischer Geschichte gerne, sei es ernsthaft, sei es humorvoll, aufnahmen und bestätigten30. 412

Diese Zusätze müssen daher bei dem Versuch der Beantwortung der Frage nach der Herkunft des Kernes der Beschreibung der persischen Streitkräfte durch Herodot außer Betracht bleiben. Hinsichtlich dieses Kernes aber läßt sich vielleicht ausgehend von einer Beobachtung A. R . Burns folgendes sagen. Burn 31 hat darauf aufmerksam gemacht, daß Herodot die Zahl der Schiffe in den verschiedenen Kontingenten der Flotte angibt, aber im Gegensatz dazu bemerkt32, daß er die Stärke der einzelnen Gruppen des persischen Fußvolkes nicht angeben könne, was er dann durch die Erzählung ergänzt, bei der persischen Heeresschau bei Doriskos habe man eine Art Pferch gebaut, in dem ioooo Mann Platz hatten und dann die Gesamtstärke des Heeres dadurch ermittelt, daß man immer neue Teile des Heeres in diesen Pferch getrieben habe, bis er voll war. Da er bei dieser Prozedur einhundertundsiebzigmal voll geworden sei, sei damit die Stärke des Fußvolkes (ohne Troß) auf i 700000 gekommen33. Burn hat daraus wohl mit Recht erschlossen, daß die Zahlenangaben nicht aus persischen Quellen stammten, zumal da die Zahlen für die Schiffe auch zu hoch zu sein scheinen, sondern vermutlich von griechischen Spionen, die ausgesandt waren, über Größe und Ausrüstung der persischen Kriegsmacht Nachforschungen anzustellen und die den Versuch machen konnten, die Zahl der in den Häfen liegenden Schiffe der persischen Flotte zu schätzen, eine Methode, die bei dem Fußvolk versagen mußte. "Wohl aber konnte dieser griechische Nachrichtendienst die Bewaffnung der verschiedenen Kontingente und möglicherweise die Namen der Befehlshaber der einzelnen Abteilungen feststellen. Es erscheint dann zum mindesten als sehr wahrscheinlich, daß die Beschreibung des persisdien Heeres bei Herodot auf eine systematische Zusammenstellung auf Grund solcher Nachrichten zurückgeht, und es ist dann interessant, daß eine solche Zusammenstellung existierte, die sich bis auf die Zeit Herodots erhalten hat, so daß dieser sich ihrer bedienen konnte. Zu erwähnen ist vielleicht in diesem Zusammenhang noch, daß die Angabe der Zahl der sagartischen Reiterei 34 , während sonst bei der Kavallerie nicht anders als bei den Fußtruppen nur die Gesamtzahl, nicht die der einzelnen Abteilungen, angegeben wird, eben dadurch aus dem Rahmen herausfällt. Doch handelt es sich hier offenbar um einen besonderen, vielleicht nachträglichen Zusatz, wie auch daraus hervorgeht, daß in diesem Falle nicht nur, wie überall sonst, die Bewaffnung dieser Lassoreiter beschrieben, sondern auch ihre Kampfesweise geschildert und dann hinzugefügt wird, daß die Sagartier unter die persische Reiterei eingefügt waren, also offenbar kein eigenes Kontingent bildeten.

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Außer diesen umfänglichen Stücken kann man wohl auch noch die genaue Angabe der Zahl der bei Marathon Gefallenen 3 5 auf eine schriftliche, vermutlich inschriftliche, Aufzeichnung zurückführen. Überall aber handelt es sich hier offenbar um mehr oder minder dokumentarische A u f zeichnungen der verschiedensten Art, nicht wie bei dem von Porphyrios erwähnten Auszug aus Hekataios und bei dem geographischen Material, das Herodot übernommen hat, um literarische Vorlagen 36 . Soweit das, was sich mit Sicherheit oder sehr großer Wahrscheinlichkeit auf schriftliche „Quellen" zurückführen läßt. Von der andern Seite her hat sich doch wohl mit sehr großer Sicherheit feststellen lassen 37 , daß die historischen und pseudohistorischen Teile des Ägyptenbuches, abgesehen von der Chronologie der Könige der 26. Dynastie, so gut wie durchweg, wie es auch der ausdrücklichen Behauptung Herodots entspricht, einschließlich der meist sehr naiven Ausdeutung von Monumenten und Inschriften 38 , die Herodot nicht lesen konnte, auf mündlichen Erkundungen, zum größten Teil an Ort und Stelle, teilweise aber auch bei Einheimischen außerhalb des Landes, beruhen. Berufungen auf Informanten, die zum größten Teil der Natur der Sache nach nur mündliche Informanten gewesen sein können, finden sich nun auch in den übrigen Teilen seines Werkes ziemlich häufig. D a jedoch, wie die Erwähnung der Heliopolitaner als Gewährsmänner in dem Auszug des Hekataios zeigt, solche Berufungen auf mündliche Informanten da, w o Herodot nicht ausdrücklich sagt, daß er diese selbst befragt hat, auch von einem Mittelsmann übernommen sein können, ist es bei dem Versuch, festzustellen, w o unmittelbare mündliche Informationen vorliegen, notwendig, sich zusätzlicher Kriterien zu bedienen. Die Fragen nach den „Quellen" Herodots, nach seiner historischen Kritik und der A r t seiner historischen Forschung lassen sich daher hier nicht mehr voneinander trennen. N u n hatte sich gezeigt 39 , daß es zwar nicht strikt beweisbar, aber doch sehr wahrscheinlich ist, daß Herodot seiner Erzählung von der Gründung von Kyrene Aufzeichnungen zugrunde gelegt hat, die aus Thera stammten, wenn sich auch die Natur dieser Aufzeichnungen nicht genauer feststellen läßt. Jedenfalls ist das, was er nach seiner eigenen Angabe aus Thera hat, nüchterner und historisch plausibler als das, was er aus spartanischen und kyrenäischen Quellen zur Ergänzung herangezogen hat. Auch stimmt es in seinem Charakter am meisten mit dem überein, was sich anderweitig auf die ältesten griechischen Lokalgeschichten zurückführen 414

läßt. Ferner hat die Analyse des Abschnittes deutlich gezeigt, daß Herodot von dieser theräischen Uberlieferung ausgegangen ist und sie durch persönliche Erkundungen in Sparta und in Kyrene zu ergänzen gesucht hat. Diese sind zweifellos im wesentlichen mündlich gewesen, wenn auch hier und da etwas schriftlich Aufgezeichnetes mitunterlaufen mag, wie sich schon daraus ergibt, daß diese Mitteilungen im wesentlichen Ergänzungen zur Hauptdarstellung sind, wie sie sich am leichtesten aus Fragen auf Grund eines vorhandenen Leitfadens ergeben konnten. Analoges ergibt sich aber überhaupt für die zahlreichen Varianten in denjenigen Teilen des Werkes Herodots, die nicht durchgeformte „sinngebende" Geschichten enthalten, sondern einfache Geschichtserzählung bieten wollen. Die häufigste Form dieser Varianten ist die, daß Herodot bei der Schilderung eines Konfliktes zwischen verschiedenen Völkern oder Staaten angibt, was die Vertreter dieser verschiedenen Völker über die Natur, die Ursache, den Verlauf des Konfliktes oder die Frage von Recht und Unrecht zu sagen haben. Aber auch sonst führt Herodot nicht selten eine ganze Reihe von Varianten der Überlieferung über denselben Vorgang, wie etwa den Tod des Kyros40, die Mutter, die Heiraten und Frauen des Kambyses41, und vieles andere an. Da ist dann offenkundig, daß Herodot das nicht aus verschiedenen schriftlichen Werken zusammengelesen haben kann, da dies die Existenz einer ausgebreiteten Literatur voraussetzen würde, wie sie zur Zeit Herodots nicht bestanden haben kann. Aber auch die Annahme, daß Herodot in ausgedehntem Maße ein früheres Werk wie die angebliche Persergeschichte des Dionysios von Milet seinen Darstellungen zugrunde gelegt haben könnte, scheidet damit aus. Die Art Herodots, von einem Punkt aus weiterzufragen, ist eine ganz spezifische, die sich, wenn auch in weniger entwickelter Form, schon bei den geographischen Erkundungen, die er bei seinen Reisen nach dem Schwarzen Meer und nach Ägypten unternommen hat, beobachten läßt. Die Annahme, daß die verschiedenen Varianten selbst schon aus einem früheren Werk übernommen sein könnten, würde nur zur Annahme einer Art Doppelgängers Herodots, eines Herodots vor Herodot, führen, wodurch sich, ganz abgesehen von den chronologischen Schwierigkeiten, die eine solche Annahme im Gefolge haben würde, an dem eigentlichen Problem nichts ändern würde. Das gilt im wesentlichen auch für die umfangreichen Abschnitte samischer Geschichte, die in das Werk Herodots an verschiedenen Stellen eingefügt sind. Da sich gezeigt hat 42 , daß Herodot verschiedene Abschnitte samischer Geschichte, die ursprünglich enger zusammengehört und wahr4i5

scheinlich aneinander angeschlossen haben müssen, auf verschiedene Teile seines Werke verteilt hat, und da anderereits aus den Fragmenten hervorgeht43, daß in der Lokalgeschichte von Samos des Euagon von Samos, der ein Zeitgenosse Herodots gewesen zu sein scheint, nicht nur Gründungslegenden und dergleichen, sondern auch historische Ereignisse im eigentlichen Sinne vorkamen, so liegt an sich die Vermutung nahe, daß Herodot sich entweder dieses Werkes oder mehr oder minder offizieller Aufzeichnungen, die diesem Werk vorangingen und die Euagon selbst benutzt haben mag, bedient hat. Aber im Gegensatz zu dem Bericht über die Gründung von Kyrene, bei welchem die theräische Version offenbar die Grundlage bildet, zu der die spartanische und kyrenäische Version als Ergänzung und Abweichung vom Grundbericht hinzukommen, bildet in der samischen Geschichte zwar naturgemäß meistens die samische Version, wo ihr etwa die spartanische gegenübergestellt wird, den Grundstock und Ausgangspunkt44, wo aber verschiedene samische Versionen angeführt werden, läßt sich eine Grundversion nicht von Zutaten unterscheiden. Zumal da Herodot zu Samos offenbar besonders enge persönliche Beziehungen besaß, spricht daher hier alles dafür, daß Herodots Bericht im wesentlichen auf direkten Erkundungen an Ort und Stelle und mündlichen Auskünften von seiten verschiedener Samier, in deren Familien die Erinnerung an die Ereignisse sich erhalten hatte, basiert. Etwas anders steht es bei dem Abschnitt über den ionischen Aufstand, der, wie sich gezeigt hat45, in sich ziemlich geschlossen ist, von seiner Umgebung aber etwas isoliert dasteht. Das Eigentümliche an dieser Darstellung ist, daß der Aufstand ganz und gar als eineZettelung desHistiaios und des Aristagoras erscheint, obwohl in ihrem weiteren Verlauf, ohne daß jedoch irgendwo mit Worten ausdrücklich darauf hingewiesen würde, deutlich hindurchscheint, daß die Bedingungen für eine Erhebung gegen die persische Oberherrschaft vielerorts vorhanden gewesen sein müssen, wie ja auch ohne solche Vorbedingungen der Erfolg der Zettelungen, wenn es solche waren, gar nicht möglich gewesen wäre. Mit dieser Auffassung des Ursprungs des Aufstandes hängt es zusammen, daß der Aufstand offenkundig mißbilligt wird. Man könnte sich zutreffende und ausreichende Gründe für eine solche Mißbilligung denken, wie z. B. vor allem, daß der Aufstand, solange das griechische Mutterland nicht bereit war, nicht nur für den Aufstand selbst, sondern auch für die Erhaltung der etwa dadurch gewonnenen Freiheit dauernd alle Kräfte einzusetzen, was damals außerhalb des Gebietes der Möglichkeit lag, im Endergebnis völlig aussichtslos war. Das wird bei Herodot in den Ratschlägen des Hekataios vor Aus416

bruch des Aufstandes angedeutet. Aber im weiteren Verlauf der Darstellung ist nicht mehr die Rede davon. Das ist sehr eigentümlich, wenn man das Interesse, das Herodot in andern Teilen seines Werkes für die eXevÖEQia zeigt, in Betracht zieht. Man könnte daraus den Schluß ziehen, daß Herodot diesen Abschnitt aus einem früheren "Werke übernommen hätte. Aber man sollte annehmen, daß in einem "Werke, dessen Tendenz es war, den Aufstand als ein sinnloses Unternehmen und das Resultat der Zettelungen gewissenloser Politiker darzustellen, dieser Gesichtspunkt konsequenter herausgearbeitet worden wäre als dies wiederum bei Herodot der Fall ist. Es erscheint daher als das "Wahrscheinlichste, daß Herodot in diesen Abschnitten in starkem Maße von einer in gewissen Kreisen des ionischen Festlandes weiterlebenden Auffassung abhängig ist, die ihm aber im wesentlichen auf mündlichem "Wege übermittelt wurde, wenn sich auch die Möglichkeit der Benützung schriftlicher Vorlagen, unter denen sich jedoch kaum eine konsequent durchgearbeitete Darstellung des Gesamtverlaufes des ionischen Aufstandes befunden haben dürfte, nicht gänzlich ausschließen läßt. "Wieder anders verhält es sich mit den lydischen Geschichten, aber auch mit einigen andern Teilen der altorientalischen Geschichte im ersten Buch, in den drei letzten Büchern und in einigen Abschnitten des dritten Buches. Hier ist mit Händen zu greifen, daß Herodots Darstellung durch sein Interesse an ganz bestimmten Aspekten des Geschehens und die ganz bestimmten Fragen, die er auf Grund dieses Interesses an seine Gewährsmänner gestellt hat, grundlegend bestimmt worden ist. Auch hier scheint dieses Interesse zunächst von außen her in ihm erweckt worden zu sein, durch delphische Traditionen, durch die attische Tragödie, durch in Athen lebendig gebliebene Erinnerungen an den Freiheitskampf gegen die Perser. Das Unterscheidende ist, daß Herodot sich hier nicht begnügt, fremde Auffassungen zu übernehmen und das, was er erfahren hat, durch andere Erkundungen in etwa zu ergänzen, sondern sich offenbar auf das intensivste bemüht, durch Fragen nach allen Seiten hin die ihm auf Grund der empfangenen Anregungen interessant gewordenen Aspekte der Ereignisse in ihren mannigfachen Nuancen zu bestimmen und präziser zu fassen, ein Bestreben, von welchem in der Geschichte des ionischen Aufstandes nur wenig zu spüren ist. Das Ergebnis ist in diesen Abschnitten so mannigfach und doch sogleich so individuell, daß kaum ein Zweifel daran bestehen kann, daß Herodots Darstellung hier zum größten Teil nicht auf schriftlichen Quellen, die es damals in der notwendigen Fülle gar nicht gegeben haben kann, sondern auf mündlichen Erkundungen beruht. 417

Viel wichtiger ist jedoch die spezifische Kombination von Forschung, Kritik und historischer Konstruktion, die in diesen Abschnitten zutage tritt. Jeder Historiker muß nach Möglichkeit das Faktische der Ereignisse zu eruieren suchen, zugleich aber unter den zu eruierenden wie auch unter den eruierten Fakten eine Auswahl treffen. Jeder muß dabei die Uberlieferungen, aus denen er seine Fakten gewinnt, einer Kritik unterziehen. Jeder muß ferner die gewonnenen und ausgewählten Fakten in eine Ordnung bringen, wobei die chronologische Ordnung naturgemäß im allgemeinen eine dominierende Rolle spielt. Alles das findet sich naturgemäß und unvermeidlich auch bei Herodot. Aber die Art, wie er verfährt, ist von dem, was man von einem modernen Historiker erwartet, sehr verschieden, und diese Art möglichst genau zu bestimmen, ist für das Verständnis und die Erfassung der Eigenart seines Werkes von grundlegender Bedeutung. Vieles von dem, was hier zu sagen ist, hat sich schon in der vorangehenden Untersuchung des Verhältnisses von Geschichte und Geschichten sowie der chronologischen Methoden Herodots ergeben. Es erscheint aber als notwendig, das Wichtigste davon zusammenzustellen, um seine Bedeutung für das Gesamtwerk Herodots deutlicher zu machen. Was zunächst die Auswahl der Fakten angeht, so ist offenbar, daß bei Herodot weder die diplomatischen und im engeren Sinne machtpolitischen Faktoren noch bei der Schilderung militärischer Ereignisse die Fragen der Taktik und Strategie im Vordergrund stehen. Gewiß ist von gelungenen und mißlungenen Versuchen, Bundesgenossen zu gewinnen, um bei einer kriegerischen Unternehmung eine ausreichende Truppenmacht ins Feld stellen zu können, sowie von der Aufstellung von Truppen- und Truppenteilen in größeren Schlachten die Rede. Aber selbst in denjenigen Teilen des Werkes, wo von solchen Dingen am meisten die Rede ist, wie in der Erzählung von den Bemühungen des Aristagoras um Bundesgenossen aus dem griechischen Festland oder in den Exkursen über attische und lakedämonische Geschichte in der Vorgeschichte der Perserkriege, fehlt fast völlig das Abwägen harter Machtfaktoren, das bei Thukydides eine so dominierende Rolle spielt, und die Erörterung konkreter individueller oder kollektiver Interessen. Im allgemeinen spielt sich bei Herodot in den zuletzt genannten Teilen seines Werkes das historische Geschehen auf zwei Ebenen ab46, wobei naturgemäß die Aufmerksamkeit sich bald mehr der einen, bald mehr der anderen zuwendet. Das eine ist die Ebene der meist individuellen - gelegentlich, aber viel seltener, auch kollektiven - Bestrebungen, Ambitionen, 418

Intrigen, Hoffnungen und Befürchtungen, Rachegefühlen und Freundschaften, ja selbst Launen, welches alles bei Herodot eine viel größere Rolle spielt als nüchtern abgewogene Machtpositionen oder materielle Interessen. Darüber liegt die Ebene der großen und umfassenden Aspekte des menschlichen Daseins, der Unsicherheit des menschlichen Lebens allgemein und der besonderen Gefährdung alles dessen, was über das gewöhnliche Maß hinauswächst, des Gegensatzes zwischen orientalischer Pracht und griechischer Einfachheit, zwischen E?xirikpia und Knechtschaft, kurz alles dessen, was von Herodot in den eingeschalteten Geschichten des ersten und der drei letzten Bücher, aber auch sonst gelegentlich, so eindringlich zur Darstellung gebracht worden ist. Es ist nur natürlich, daß in den Abschnitten, in welchen diese höheren Aspekte eine Rolle spielen, auch die Auswahl der mitgeteilten Fakten sehr weitgehend dadurch bestimmt wird. Das Eigentümliche und für den Charakter des Geschichtswerkes des Herodot Bedeutsame ist jedoch, daß nicht nur die Auswahl der mitzuteilenden Fakten dadurch beeinflußt worden ist, sondern auch die Ordnung und die Kritik. Für die chronologische Ordnung ist dies im vorangehenden Kapitel ausführlich nachgewiesen worden 47 , indem gezeigt wurde, daß Herodot nicht nur gleichzeitige Ereignisse gelegentlich hintereinandergeschaltet hat, um einzelne Ereignisketten in ihrem Zusammenhang zu Ende erzählen zu können, oder Ereignisse in eine ihm plausible chronologische Abfolge eingeordnet hat, wo die wirkliche Abfolge nachweisbar eine andere gewesen ist48, sondern sogar, wo eine die höheren Aspekte illustrierende Geschichte es erforderte, chronologische Tatsachen, die sich aus seinem eigenen chronologischen System zwingend ergaben, unbeachtet gelassen hat 49 . Ähnliches läßt sich nun, wie schon früher angedeutet, auch für Herodots historische Kritik feststellen. Doch ist es auch hier notwendig, sich zunächst über Herodots Verfahren in den verschiedenen Teilen seines Werkes einen Überblick zu verschaffen. Eine flüchtige Durchsicht des Werkes Herodots enthüllt sogleich, daß eine systematisch und konsequent angewendete Methode der Forschung und der historischen Kritik, wie sie in gewisser, wenn auch einseitiger Weise bei seinem Vorgänger Hekataios zu finden ist, bei ihm kaum festzustellen scheint. Bald erzählt Herodot höchst seltsame und unglaubliche Geschichten ohne ein Wort der Kritik, bald läßt er sich auf eine ausführliche Widerlegung einer ihm gemachten Angabe ein, bald stellt er verschiedene einander widersprechende Uberlieferungen über ein Ereignis nebeneinander, ohne sich für die eine oder die andere Version zu entscheiden, bald entscheidet er sich ohne Angabe 419

näherer Gründe, bald gibt er ausführlich die Gründe für seine Entscheidung an. Da sich jedoch gezeigt hat, daß Herodot seine Forschungstätigkeit als Kritiker, und zwar als heftiger Kritiker, freilich nicht auf dem historischen Gebiet, sondern auf dem Gebiet der Geographie begonnen hat so , so läßt sich vielleicht am ehesten hoffen, von dieser Seite her einigen Einblick in die Gründe der außerordentlichen Ungleichheiten in dieser Hinsicht in den verschiedenen Teilen des "Werkes Herodots zu finden. Als Ausgangspunkt sei nur ganz kurz an folgendes erinnert: Wie sich gezeigt hat, ist Herodot mit einer aus allgemeiner Anschauung seiner geographischen Umgebung geschöpften Ansicht von der Gestalt der Erdoberfläche, welche der seines Vorgängers Hekataios widersprach, auf seine Reisen gegangen. Er hat es sich mit und auf diesen Reisen eine, wenn man die damaligen Verhältnisse in Rechnung stellt, sehr beträchtliche Mühe kosten lassen, den Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht zu erbringen, sich dann aber doch mit nicht ganz durchschlagenden Beweisstücken zufriedengegeben51. Er hat in dem Exkurs über die Enden der "Welt die unglaublichsten Geschichten über die indische Methode der Goldgewinnung - die ihn nur als Kuriosität interessierte — ohne Kritik erzählt, dagegen an viel weniger unglaublichen Behauptungen, die mit seiner geographischen Haupttheorie in Widerspruch standen, Kritik geübt52. Und er hat endlich, wo es ihm für die geographische Beschreibung gelegen kam, sich hekataeischer geometrisierender Methoden bedient, obwohl er dieselbe Methode in ihrer Anwendung auf die Erdoberfläche als Ganzes aufs heftigste bekämpft 53 . Was sich schon daraus für die Eigenart von Herodots Forschungsmethoden und Kritik - wenigstens zu Beginn seiner Forschungstätigkeit ergibt, läßt sich nun durch weitere Beobachtungen ergänzen und präzisieren. Wie Herodot, wo ihm etwas aufgefallen ist oder er sich gar auf Grund einer Beobachtung eine Theorie gebildet hat, sofort kritisch und inquisitiv wird, dabei aber unbewußt seine Forschung so anstellt, daß eine Bestätigung seiner Theorie herauskommen muß, ist sehr hübsch an der Stelle im zweiten Buch über die Verwandtschaft der Kolcher und der Ägypter zu beobachten54. Bei seinem Aufenthalt in beiden Ländern ist ihm zunächst die Gemeinsamkeit des Gebrauches der Beschneidung aufgefallen. Das war offenbar der Ausgangspunkt. Dann hat er gefunden, daß bei beiden ähnliche Leinwand hergestellt wurde, endlich gewisse Ähnlichkeiten in körperlichen Merkmalen beobachtet, von denen er jedoch selbst sagt, daß sie sich auch bei andern Völkern finden. Daraufhin hat er Ägypter und Kolcher danach ausgefragt, ob sie von einem Zusammenhang wüßten. Bei den 420

Ägyptern hat er nicht viel Anklang mit seinen Fragen gefunden: nur die an seine eigene Vermutung anknüpfende, dem ägyptischen Patriotismus naheliegende Erklärung, der Erobererkönig Sesostris werde wohl bis Kolchis vorgedrungen sein; da könnten die Kolcher von dortgebliebenen Resten des ägyptischen Heeres abstammen: eine nicht sehr plausible Vermutung. Ferner war das kolchische Leinen in Ägypten bekannt. Die Tatsache, daß die Ägypter es durch den Namen „sardonisches" Leinen von dem ägyptischen unterschieden, beweist nicht gerade einen gemeinsamen Ursprung der Technik, wenn es ihn auch natürlich nicht ausschließt. Von den Kolchern sagt Herodot, sie hätten „etwas mehr Erinnerung an die Ägypter gehabt". Aber wie sich gezeigt hat55, muß es sich hier wohl um Kolcher (oder einen Kolcher?) handeln, die Herodot nachträglich außerhalb ihres Landes angetroffen hat. Das ist das ganze Ergebnis der Erkundungen. Trotzdem findet Herodot dadurch seine Vermutung bestätigt. Von einer anderen Seite her interessant ist, was Herodot an verschiedenen Stellen des ersten Buches über Ursprung und Herkunft der Pelasger56, der Ionier57 und der Karer 58 zu sagen hat, denn hier bedient sich Herodot einer Methode, die Sagenüberlieferung über den Ursprung der Stämme durch sprachliche Beobachtungen zu unterbauen und zu stützen, die sich in ganz ähnlicher Weise bei dem Lyder Xanthos hat beobachten lassen59. Da nun im eigentlich Historischen sich weder eine Abhängigkeit Herodots von Xanthos noch des Xanthos von Herodot hat feststellen lassen, sondern beide ganz unabhängig voneinander zu sein scheinen, läßt sich daraus wohl schließen, daß die Methode älter ist als beide, und daß sich auch hier wieder eine Spur einer geographischen Theorie und Forschung finden läßt, die zwischen Hekataios und Herodot liegen muß, von der sich aber an direkten wörtlichen Fragmenten so gut wie nichts erhalten hat. Herodot hat jedoch das, was ihm durch solche Methoden an die Hand gegeben wurde, durch eigene Erkundigungen und Beobachtungen an Ort und Stelle ergänzt und daran weitere Überlegungen geknüpft, die über das, was in den erhaltenen Fragmenten des Xanthos zu finden ist, noch etwas hinausgehen. So stellt er die Behauptungen der Karer, der Kaunier und der Kreter über die Herkunft der beiden erstgenannten Völker einander gegenüber und bemerkt, daß die Tatsache, daß es in Mylasa ein Heiligtum des Zeus Kariös gibt, an dem auch die Myser und Lyder teilhaben, auf eine Verwandtschaft dieser Völker hinweise, welche auch durch Sprachverwandtschaft bestätigt werde. Er hat ferner an Ort und Stelle festgestellt, daß zwischen Kauniern und Karern beträchtliche Ähnlichkeiten in der Sprache bestehen, während ihre Sitten 421

und Gebräuche stark voneinander abweichen. Das, meint er, lasse darauf schließen, daß die Völker nicht ursprünglich miteinander verwandt seien, und die Sprachähnlichkeit vielmehr in diesem Falle durch nachträgliche Angleichung des einen Volkes an die Sprache des benachbarten erklärt werden müsse. Dies ist wohl, ungeachtet der zur Lösung des Kontinenteproblems unternommenen Forschungsreisen des Herodot, die sorgfältigste, man ist versucht zu sagen, fortgeschrittenste kritische Betrachtung zu einem geographisch-ethnographischen Problem, die bei Herodot zu finden ist60. Jedenfalls zeigt schon dieser kurze Überblick über Herodots Forschungsmethoden und Kritik auf dem geographisch-ethnographischen Gebiet, daß die außerordentliche Ungleichheit auf diesem Gebiet, welche durch das ganze "Werk in seiner vorliegenden Form hindurch zu beobachten ist, nicht auf Zufall beruht, sondern ihren Grund findet in gewissen angebbaren Eigenheiten Herodots. Die Tatsache ferner, daß Herodot in denjenigen Teilen seines Werkes, welche am engsten mit seinen Reisen zusammenhängen, sozusagen auf eine unkritische Art kritisch ist, in den Abschnitten über die Ethnographie der Ionier und Karer dagegen mit großer Besonnenheit von einer Mannigfaltigkeit von Kriterien Gebrauch macht, mag vielleicht die Vermutung nahelegen, daß Herodot in dieser Hinsicht eine Entwicklung wenigstens in der Weise gehabt habe, daß er von seinen Vorgängern und Zeitgenossen methodisch etwas lernte und in einer späteren Phase besonnener und sorgfältiger geworden ist. Daß er, wie gezeigt, sich später, wenn auch mit Einschränkung, hekataeischer Mittel bediente, obwohl er Hekataios so heftig angegriffen hat, mag auch in diese Richtung zu weisen scheinen. Doch ist das Problem, wie sich zeigen wird, etwas komplizierter. Es stellt sich also die Frage, wie es sich damit auf dem historischen Gebiet verhält. Da ist nun, wenn das, was bisher festgestellt wurde, richtig ist, nicht zu erwarten, daß Herodot in seiner ägyptischen Geschichte oder wenigstens in demjenigen Teil derselben, welcher ihrem Zusammentreffen mit der Persergeschichte vorausliegt, über die geographisch-ethnographischen Problemen gegenüber angewandten Methoden hinausgegangen sein sollte; und so verhält es sich auch. Der Abschnitt über ältere ägyptische Geschichte ist voll von Legenden, die Herodot zum großen Teil ohne ein Wort der Kritik als historische Ereignisse wiedererzählt. Unglauben äußert er61 gegenüber dem Detail der Geschichte von Rhampsenit und dem Meisterdieb, wonach der Pharao seine Tochter der Prostitution preisgegeben haben sollte, um den Dieb herauszufinden. Ebenso weigert er sich62, die 422

Geschichte von den abgehauenen Händen anzunehmen, mit der ein phantasievoller Fremdenführer sich über den griechischen Reisenden, der die ägyptischen Denkmäler bestaunte, lustig zu machen versuchte. Aber das ist Kritik der einfachsten Art, wie sie jeder nicht ganz auf den Kopf gefallene Reisende in einem fremden Lande üben wird. Inquisitiv wird Herodot auch hier, wenn ihm etwas auffällt und er eine Vermutung daran knüpfen kann. So bei dem Heiligtum der „fremden" Aphrodite, von der er sogleich vermutet 63 , das müsse die griechische Helena sein. Da hat er dann die, wie sich gezeigt hat 64 , ägyptische Version der Geschichte von Helena, Paris und Menelaos aus seinen ägyptischen Gewährsmännern heraus- oder vielleicht auch zu einem beträchtlichen Teil in sie hineingefragt. Denn Herodot sagt selbst, daß er die „Priester" nicht nur gefragt, sondern ausgefragt 65 habe: Er hatte sich selbst schon vorher Gedanken darüber gemacht, daß Helena nicht gut in Troja gewesen sein könne, weil die Trojaner sie, wenn sie sie gehabt hätten, gewiß lieber an die Griechen ausgeliefert hätten, statt die Vernichtung ihrer Stadt zu riskieren. Andererseits hat sich mehrfach gezeigt, wie schnell die erfinderischen Orientalen imstande waren, sei es eine ganze Geschichte zu erfinden, sei es eine schon bekannte Geschichte zu erweitern und auszuschmücken, um die Fragelust eines Ausländers zu befriedigen. Das Verfahren Herodots hat hier eine unverkennbare Ähnlichkeit mit seinem Verfahren bei der Feststellung der Verwandtschaft oder Beziehungen zwischen Kolchern und Ägyptern, aber auch mit seinen Nachforschungen hinsichtlich der ägyptischen Taubenpriesterinnen in Dodona 66 . Audi seine Frage nach dem goldenen Zeitalter 67 und die Art, wie er sich mit den Antworten der Ägypter abgefunden hat, gehört in diesen Umkreis hinein. Natürlich gibt es auch hier alle möglichen Variationen, aber wesentlich geht nichts über die Art seines Forschens oder seiner Kritik, wie sie in den Anfängen seiner geographischethnographischen Forschung zu beobachten ist, hinaus. Dasselbe gilt im wesentlichen auch für den zweiten Teil von Herodots ägyptischer Geschichte, die Geschichte der 26. Dynastie, jedoch nur bis zu dem Zeitpunkt, wo sie mit der persischen Geschichte in Berührung kommt, da sich von da an andere Einflüsse zeigen. Eine interessante Ausnahme bildet nur seine ausführliche Kritik an der Behauptung, die kleinste der Pyramiden von Gizeh stamme von der griechischen Hetäre Rhodopis, die sie sich von den Erträgnissen ihres Gewerbes habe errichten lassen. Zwar entzündet sich auch hier Herodots Kritik, wie bei der angeblichen Preisgabe der Tochter des Rhampsenit zur Prostitution durch ihren eigenen Vater, an der Unglaublichkeit der Sache 423

selbst. Aber dann begnügt er sich nicht mit dieser „inneren" Kritik, sondern bringt einen längeren Exkurs über Rhodopis sowie über untrügliche Beweise der relativen Größe, aber pharaonischen Ausmaßen gegenüber doch audi sehr definitiven Beschränkung ihres Reichtums. Die Nachrichten über sie stammen aus Samos, zu dem Herodot von Anfang an enge Beziehungen hatte und dessen Geschichte - nachträglich, wie sich gezeigt hat, auf verschiedene Abschnitte verteilt - in seinem Werk eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt, aus Delphi, das Herodot persönlich besucht hat und das f ü r wichtige Teile seines Werkes von grundlegender Bedeutung ist, und aus der griechischen Dichtung, mit der Herodot als gebildeter Grieche natürlich vertraut w a r und die er überall kennenlernen konnte. Es kann wohl kaum ein Zweifel daran bestehen, daß der größere Teil der Ausführungen über Rhodopis ein späterer Einschub ist. Herodots Beschäftigung mit samischer Geschichte, die hier am Rande anklingt, ist nun aber überhaupt aus drei Gründen besonders interessant: i. weil sie, da sie ursprünglich eine Einheit dargestellt zu haben scheint, dann aber auf drei Teile des Werkes verteilt worden ist, eine Art Mittelstadium in Herodots Tätigkeit als Historiker darstellen muß, 2. weil sich hier, wie sich zeigen wird, verschiedene Arten der Forschung und Kritik durchkreuzen und 3. weil hier eine spezifische Form dieser Kritik eine besonders deutliche Ausprägung erfahren hat. Es ist vielleicht zweckmäßig, mit der Geschichte der Politik des Polykrates nach der Auflösung seiner Beziehungen zu dem Ägypterkönig Amasis zu beginnen. Polykrates ist zu der Uberzeugung gekommen, daß der persischen Übermacht durch gegen sie gerichtete Bündnisse kein Einhalt mehr getan werden kann. Auf der andern Seite machen ihm seine Gegner auf Samos, die sich vor allem aus den konservativen adligen Kreisen rekrutieren, zu schaffen. So sucht er zwei Dinge auf einmal zu erreichen: bei den übermächtigen Persern gut Wetter für sich zu machen und sich seiner innenpolitischen Gegner zu entledigen, indem er dem Kambyses ein samisches Hoplitenheer f ü r den Feldzug gegen Ägypten zu H i l f e schickt. Über den weiteren Verlauf der Dinge gibt es bei Herodot zwei Versionen 68 . Die einen sagen, das ausgesandte Heer sei gar nicht bis nach Ägypten gekommen, sondern schon vorher umgekehrt, um sich gegen Polykrates zu wenden. Die andern behaupten, die Samier seien zwar in Ägypten gelandet, aber, obwohl Polykrates den Kambyses gebeten hatte, ihm das samische Heer auf keinen Fall wieder zurückzusenden, und die Samier dort infolgedessen sogleich unter Bewachung gestellt worden seien, sei es ihnen doch gelungen, zu desertieren; und nachdem sie sich ihrer 424

Schiffe wieder bemächtigt hatten, seien sie nun gegen Polykrates zu Felde gezogen. Diese beiden Versionen läßt Herodot nebeneinander stehen, ohne sich für die eine oder die andere zu entscheiden. Herodot berichtet dann 69 von einer Überlieferung, nach welcher die desertierten Samier Polykrates auf Samos angegriffen und besiegt hätten. Ihr stellt er eine andere Version gegenüber, nach welcher die Gegner des Polykrates zwar zunächst einen Seesieg davontrugen, dann aber zu Lande besiegt wurden. Er gibt der letzteren Version den Vorzug, weil, wie er weiter berichtet70, die Aufständischen die Lakedämonier um Hilfe baten, was, wie er bemerkt, nicht nötig gewesen wäre, wenn sie schon allein mit Polykrates fertig geworden wären. Er fügt noch hinzu, ein solcher Sieg sei bei den tatsächlichen militärischen Kräfteverhältnissen, zumal, da Polykrates die ihm verbliebenen Truppen durch „Sippenhaft" an sich gefesselt hielt, auch ganz unwahrscheinlich gewesen. Noch durchschlagender als diese beiden Einwände wäre wohl die Bemerkung gewesen, daß der Sieg der Aufständischen auf keinen Fall ein endgültiger gewesen sein kann, da Polykrates' Herrschaft ja trotz des Feldzuges sogar der Lakedämonier gegen ihn noch eine Reihe von Jahren weiterbestand, bis Polykrates den Intrigen des Persers Oroites gegen ihn zum Opfer fiel. Es ist aber für Herodots Art, die Dinge zu behandeln, charakteristisch, daß er, auch wo er Kritik übt, mehr in anschaulichen als in abstrakt logischen Kategorien denkt. Das war auch bei seiner Kritik an der Kontinentetheorie des Hekataios hervorgetreten. Hier gibt es ihm die Möglichkeit, eine Reihe von interessanten Details zu erwähnen, dies aber doch in viel kürzerer Form zu tun, als wenn er es unternommen hätte, die militärischen Resourcen des Polykrates und die grausamen und terroristischen Methoden, deren er sich bediente, um ihrer selbst willen zu schildern. Im folgenden berichtet Herodot, wie es den aufständischen Samiern gelang, die Lakedämonier zu einem Feldzug gegen Polykrates zu bewegen. Dabei wird von der Audienz der samischen Sprecher bei der spartanischen Regierung eine Anekdote erzählt, die offenbar nicht zu der historischen Situation paßt, sondern aus einem andern Zusammenhang hierher übertragen ist71. Im übrigen führt Herodot wiederum zwei verschiedene Versionen an72 hinsichtlich der Gründe, welche den Spartanern Anlaß gaben, dem Ersuchen der Gegner des Polykrates stattzugeben. Nach der einen, von Herodot als samisch bezeichneten Version, hätten die Spartaner den Samiern geholfen aus Dankbarkeit dafür, daß die Samier ihnen im zweiten messenischen Krieg gegen die Messenier Hilfe geleistet hatten, während nach der zweiten, von Herodot als spartanisch bezeichneten 425

Version die Lakedämonier den Feldzug hauptsächlich deshalb unternahmen, um Polykrates (und die Samier) dafür zu bestrafen, daß die Samier sich eines Kraters bemächtigt hatten, den die Lakedämonier an Kroisos gesandt hatten, und eines kostbaren Panzers, den der König Amasis als Geschenk hatte nach Sparta senden lassen. Auch hier begnügt sich Herodot damit, die beiden Versionen mitzuteilen, ohne sich für die eine oder die andere zu entscheiden. Doch ist es interessant, daß in der von Herodot als samisch bezeichneten Version „Samos", d. h. das samische Gemeinwesen, mit den Aufständischen identifiziert wird, in der als spartanisch bezeichneten dagegen mit Polykrates. Das mag darauf hinweisen, daß die samische Version aus Kreisen stammte, die in Polykrates einen Usurpator sahen, was für Herodots samische Affiliationen vielleicht nicht ganz uninteressant ist. Die Spartaner identifizieren den Staat, mit dem sie Krieg führten, natürlicherweise mit der an der Macht befindlichen Regierung. Auf den Bericht von den Ursachen des Feldzugs der Spartaner folgt der Bericht über die Ursachen der Teilnahme der Korinther an diesem Feldzug, der dann die Exkurse über den Tyrannen Periander in sich aufnimmt. Es ist jedoch zweckmäßig, zunächst die Analyse des Berichts über den spartanischen Feldzug als solchen zu Ende zu führen. Herodots Erzählung von dem Scheitern des samischen Feldzuges73 ist sehr eigentümlich. Ein Sturm auf die Befestigungen wurde nach mehrfachem Hin und Her abgeschlagen. Dabei waren, so fährt Herodot fort, zwei Spartaner, welche die fliehenden Hilfstruppen der Samier, die einen Ausfall gemacht hatten, verfolgten, in das Innere der Befestigungen eingedrungen. Aber es gelang, die Tore hinter ihnen zu schließen. So wurden sie von ihren Kameraden abgeschnitten und getötet. Das habe er, sagt Herodot 74 , von einem Enkel des einen der Spartaner erfahren, der wie sein Großvater Archias hieß. Der habe ihm auch gesagt, daß in seiner Familie der größte Respekt für die Samier herrsche, denn sein Großvater sei von den Samiern auf Staatskosten durch ein feierliches Staatsbegräbnis geehrt worden, und sein eigener Vater habe wegen der Tat seines Vaters den Namen Samios erhalten. Im übrigen seien die Spartaner damals nach einer 4otägigen Belagerung, als sie sahen, daß sie nichts ausrichten konnten, wieder abgezogen. Allerdings, sagt Herodot, gebe es auch noch eine andere, weniger glaubwürdige Version, nach welcher die Spartaner sich von Polykrates hätten bestechen lassen, wobei sie von ihm auch noch hinters Licht geführt worden seien, da er ihnen das Bestechungsgeld in Münzen aus vergoldetem Blei bezahlt habe. 426

Das alles ist recht interessant, nicht nur wegen dessen, was Herodot sagt, sondern auch wegen dessen, was er nicht oder nicht ausdrücklidi sagt. Zunächst verraten die spartanischen und die samischen Versionen jeweils aufs deutlichste die Vorurteile der beiden Seiten, so daß kein Zweifel sein kann, daß sie wirklich von den Gewährsmännern stammen, die Herodot angibt. Die Samier sind stolz, sich auf einen Dienst berufen zu können, welchen sie den Spartanern geleistet haben. Die Spartaner wollen davon nichts wissen, da es für sie nicht unbedingt rühmlich ist, im Kampf gegen die aufständischen Messenier samische Hilfe gebraucht zu haben. Die Spartaner wollen naturgemäß ebenfalls nichts von einer Bestechung durch Polykrates wissen. Bei den schwer enttäuschten samischen Gegnern des Polykrates umgekehrt konnte dies Gerücht, ob nun etwas "Wahres daran war oder nicht, sehr leicht entstehen, und man versagte sich dann auch nicht die hämische Freude über den Zusatz, sie seien dabei von Polykrates gründlich übers Ohr gehauen worden. Auch hier bestätigt sich wieder die Ehrlichkeit Herodots in der Angabe seiner Gewährsmänner; ebenso bestätigt sich, daß seine samischen Gewährsmänner Republikaner waren, die sich mit den Rebellen gegen Polykrates solidarisch fühlten. Aber auch das Staatsbegräbnis des älteren Archias dürfte wohl kaum von Polykrates veranstaltet worden sein. Vielmehr dürfte es sich um eine postume Ehrung handeln, die ihm nach dem Tode des Polykrates von der republikanischen Partei, und, da danach die Wirren auf Samos beträchtliche Zeit andauerten, vermutlich ziemlich lange nach seinem Tode zuteil geworden ist. Von einer ganz anderen Seite her interessant ist, was Herodot über die Ursachen der Teilnahme der Korinther an dem Zuge gegen Samos sagt. "Wenn auch die Spartaner, wie Herodot mitteilt, ihrer eigenen Angabe nach sich wegen einiger von Polykrates verübter Seeräubereien zum Zug gegen Samos entschlossen, so läßt Herodot doch keinen Zweifel daran, daß sie mit diesem Zuge zugleich die gegen Polykrates rebellierenden Samier unterstützten. Wenn also die Korinther sich an diesem Feldzuge beteiligten, so taten sie es ebenfalls als Verbündete der samischen Aufständischen. Dann ist jedoch der Grund, den Herodot für die Teilnahme der Korinther angibt, ganz kurios. Denn diese Ursache soll darin bestanden haben, daß eine Generation vorher75, also vor der Tyrannis des Polykrates, die Samier den jungen Kerkyräern, die Periander von Korinth nach Sardes geschickt hatte, um sie dort zu Eunuchen verschneiden zu lassen, Asyl und Protektion gewährt und sie unversehrt wieder in ihr Heimatland zurückgeschickt hatten. Daraus ergibt sich eine höchst eigentümliche Kombination. Da Polykrates und seine Brüder sich erst um 427

54° v. Chr. der Herrschaft über Samos bemächtigt haben, kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Befreiung der kerkyräischen Knaben vor der samisdien Tyrannis erfolgt sein muß, vermutlich unter einer Oligarchie, deren Nachkommen nun gegen Polykrates zu Felde ziehen. Ebensowenig kann bezweifelt werden, daß im Jahre 524, d. h. zur Zeit des Feldzuges der Lakedämonier gegen Samos, die Tyrannis in Korinth längst gestürzt war. Bei der Erzählung Herodots kommt also das höchst Seltsame heraus, daß wegen eines Affronts, welchen die Väter der samischen Rebellen gegen den korinthischen Tyrannen Periander begangen haben, die Korinther, welche die Tyrannis gestürzt haben, im Bündnis mit der Partei, die den Affront begangen hat, gegen Polykrates, der mit dem Affront nichts zu tun gehabt haben kann, zu Felde ziehen. Herodot scheint sich auch der Seltsamkeit dieser Art von historischer Ätiologie dunkel bewußt gewesen zu sein. Denn er fügt hinzu76: wenn die Korinther nach dem Sturze der Tyrannis zu Kerkyra in einem freundlichen Verhältnis gestanden hätten, dann hätten sie wohl kaum wegen eines dem längst gestürzten Tyrannen angetanen Affronts an der Expedition gegen Samos teilgenommen. Das Verhältnis zwischen Korinth und Kerkyra sei aber eben auch damals ein schlechtes gewesen. Im Grunde läßt jedoch dieser Zusatz die Tatsache, daß, wenn die Protektion der kerkyräischen Knaben der Anlaß zur Teilnahme sein soll, die Korinther im Bündnis mit der falschen Partei gegen die falsche Partei zu Felde ziehen, nur noch deutlicher hervortreten. Eine sehr viel natürlichere Erklärung wäre gewesen, daß die korinthischen Tyrannenfeinde, die nicht lange zuvor ihre eigenen Tyrannen gestürzt hatten, sich mit den samischen Tyrannengegnern gegen deren Tyrannen verbündeten - soweit nicht überhaupt das Bündnisverhältnis zwischen Korinthern und Spartanern zur Erklärung der Teilnahme der Korinther an der Expedition ausreicht. Wie ist nun diese seltsame Geschichtsklitterung zu erklären? Um zu erklären, wieso die Korinther an dem Zug gegen Samos teilgenommen haben, braucht Herodot, wie die einfachste Überlegung zeigt, die Geschichte von den kerkyräischen Knaben nicht. Aber ohne diese Geschichte bestand kein Anlaß, Periander in die Erzählung hineinzuziehen. Mit Periander würden die hochdramatischen und bedeutsamen Anekdoten und Sondererzählungen wegfallen, die Herodot über ihn zu berichten weiß. Diese Periandergeschichten stehen aber zwar de facto in keiner historischen Beziehung zu der Polykratesgeschichte oder der Geschichte von Samos, aber sie sind von derselben Art wie die Geschichte vom Ring des Polykrates. Wir stehen also hier offensichtlich an einem Verknotungs428

punkt einer im ganzen durchaus nüchternen Geschichte von Samos und einer Serie von hochdramatischen und zugleich „sinngebenden" Geschichten, die von den Kroisosgeschichten herkommt und, die sonstige Geschichtsdarstellung durchdringend, sich bis zu den Periandergeschichten des dritten Buches fortsetzt. Innerhalb der samischen Geschichte als solcher treibt Herodot eine „kritische" Forschung, deren "Wesen darin besteht, Erkundigungen von beiden Seiten einzuziehen und dann die verschiedenen Versionen einfach nebeneinander stehen zu lassen, so daß der Leser selbst entscheiden kann, oder nach allgemeinen, nicht sehr tief eindringenden Kriterien sich für die eine oder andere Version als die wahrscheinlichere zu entscheiden. Aber wo er eine Klammer braucht, um etwas hineinzubringen, das ihm am Herzen liegt, da verschwindet auch dieses Modicum an Kritik. Nicht als ob er die Geschichte von dem Knaben erfunden hätte. Sie wird sicher historisch sein und wurde zweifellos oft erzählt. Herodot wird wohl auch jemand gefunden haben, der ihm seine Vermutung bestätigte, daß dies der Kriegsgrund gewesen sei. Aber er hat sich über die widerspruchsvolle Kombination weiter keine Gedanken gemacht. Hier hat man also die genaue Analogie zu dem Verhalten Herodots in bezug auf die Chronologie. Wie über die Chronologie, so trägt die gute Geschichte auch über die historische Kritik den Sieg davon. Dieser Zusammenhang ist hier um so deutlicher, als auch an dieser Stelle die Chronologie in Mitleidenschaft gezogen zu sein scheint. Denn das im Text der Herodothandsdiriften für die Verschickung der Knaben durch Periander gegebene Datum kann kaum richtig sein, obwohl es von einigen modernen Historikern angenommen worden und die ganze Chronologie des Periander danach umgemodelt worden ist77. Setzt man jedoch die richtige Chronologie Perianders ein, die sich aus einer Berücksichtigung aller durch die Überlieferung gegebenen Fakten und aus dem Zusammenhang der Ereignisse zwingend ergibt, so wird Herodots Geschichtsklitterung noch unwahrscheinlicher, da dann die Verschickung der Knaben nicht eine, sondern mindestens zwei Generationen vor dem Feldzug der Korinther, zu dem sie den Anlaß gegeben haben soll, stattgefunden haben muß78. Daß aber die Erwähnung der Korinther überhaupt nebst allen Periandergeschichten, die daran angehängt sind, ein Einschub ist, geht ferner daraus hervor, daß in der Geschichte von den aktuellen Kämpfen der Spartaner mit den Anhängern und Truppen des Polykrates auf Samos von den Korinthern überhaupt nicht mehr die Rede ist79, obwohl es in dem Kapitel, in dem sie eingeführt werden, heißt, sie hätten ganz besonders eifrig darauf hingewirkt, daß die Expedition gegen Polykrates stattfinden sollte80. 429

Ein Verzicht auf „innere" Kritik, wie er in der Erzählung von den Gründen, welche die Korinther zur Teilnahme an der Expedition gegen Samos bewogen, so außerordentlich deutlich zu beobachten ist, findet sich aber auch bei anderen Gelegenheiten, wo ähnliche Gründe dafür vorliegen, was dem modernen Historiker zur Warnung dienen sollte, in solchen Fällen auf Herodot (einschließlich seiner Chronologie) kein zu großes Vertrauen zu setzen. Die Gründe selbst variieren natürlich bis zu einem gewissen Grade, sind aber im wesentlichen derselben Art. So handelt es sich nicht immer einfach darum, eine Geschichte überhaupt in einen gegebenen Zusammenhang einzufügen, sondern z. B. sie an dem dramatisch wirkungsvollsten Punkt einfügen zu können. Dies ist z. B. in hohem Grade bei der Geschichte vom Tode des Prexaspes der Fall. Prexaspes hatte auf Befehl des Kambyses dessen Bruder Smerdis getötet81, weil Kambyses auf Grund eines Traumes glaubte, dieser werde ihn der Herrschaft berauben. Als sich dann ein falscher Smerdis gegen Kambyses erhebt, Kambyses selbst aber bald darauf stirbt, ist es schwer, festzustellen, daß ein Usurpator sich des Thrones bemächtigt hat, da Prexaspes auf alle Weise leugnet82, den wahren Smerdis getötet zu haben. Denn durch ein solches Geständnis nach dem Tode des Königs, der ihm den Befehl erteilt hat, würde er sich naturgemäß der größten Gefahr aussetzen. Auf der andern Seite hat Kambyses vor seinem Tode noch offen erklärt 83 , er habe seinen Bruder töten lassen, so daß vielfacher Zweifel herrscht, was denn nun der Wahrheit entspreche. Smerdis und die Mager, seine Anhänger, sind darüber beunruhigt. Da Kambyses dem Prexaspes kurz vor seinem Tode und nach der Ermordung des Smerdis in einem seiner Zornanfälle Furchtbares angetan hat 84 , hoffen die Mager, den Prexaspes für sich gewinnen zu können. Sie rufen ihn zu sich85, empfangen ihn auf das freundlichste und machen ihm die größten Versprechungen für die Zukunft, wenn er, der bei den Persern das größte Ansehen genießt, nicht nur in Zukunft geheimhalten werde, daß er den wahren Smerdis getötet hat, sondern auch positiv sich für den falschen Smerdis als legitimen Nachkommen und Nachfolger des Kyros einsetzen werde. Prexaspes sagt auch alles zu. Auf Wunsch der Mager besteigt er ein Gerüst86, um zu den zusammengerufenen Persern zu sprechen. Statt jedoch die Legitimität des falschen Smerdis zu bekräftigen, enthüllt Prexaspes vor dem versammelten Volk die Wahrheit und stürzt sich dann von dem Gerüst in die Tiefe zu Tode. Dies, sagt Herodot 87 , habe sidi ereignet, als die sieben Verschwörer gerade den Entschluß gefaßt hatten, den falschen Smerdis zu töten, nachdem es der Tochter des einen 430

von ihnen gelungen war, festzustellen, daß der regierende Herrscher nicht mit dem echten Smerdis identisch sein könne. Legrand hat darauf aufmerksam gemacht88, daß die Mager sehr unklug handelten, wenn sie Prexaspes veranlaßten, eine solche Erklärung abzugeben, da, auch wenn er eine positive Erklärung abgab, die Tatsache, daß eine solche nötig schien, die Zweifel eher verstärken mußte. Immerhin sind solche Torheiten in Augenblicken der Unsicherheit und Spannung wohl öfter begangen worden. Schwerer wiegt vielleicht, daß kein Motiv für die plötzliche Sinnesänderung des Prexaspes, der bis dahin aus Furcht für sich selbst geschwiegen hatte, angegeben wird. Doch läßt sich auch diese daraus erklären, daß ihm das Leben im Bewußtsein, seine Landsleute fortwährend zu täuschen, unerträglich geworden war. Es bleibt die Seltsamkeit des Zusammentreffens seiner Enthüllung mit dem Augenblick, als die Verschwörer sich zur Ermordung entschlossen haben. Doch sind seltsame Zufälle nicht unmöglich. Ganz unwahrscheinlich jedoch ist, daß Smerdis und seine Anhänger nach den öffentlichen Enthüllungen des Prexaspes nicht die sorgfältigsten Vorkehrungen zur Verteidigung des Palastes durch die zuverlässigsten Wächter getroffen haben sollten, während es bei Herodot so aussieht89, als ob die Leibgarde im Königspalast nach der Enthüllung völlig nichtsahnend gewesen wäre und das Eindringen der Verschwörer aus reiner Überraschung und Ehrfurcht vor den hochgestellten Herren nicht verhindert hätte. Nimmt man das alles zusammen, so wird es der Unwahrscheinlichkeiten etwas viel. Dafür steht die Geschichte vom Tode des Prexaspes an der dramatisch wirksamsten Stelle. Hätte Herodot erzählt, Prexaspes habe nach der Ermordung des falschen Smerdis vor allem Volk verkündet, daß er den wahren Smerdis getötet hatte, und sich dann in den Tod gestürzt, dann wäre die Geschichte historisch unvergleichlich plausibler, aber nur noch ein, wenn auch wichtiges Nachspiel der Ermordung selbst, nicht ein Ereignis, das im Brennpunkt der dramatischen Spannung steht. Im Gegensatz zu der Geschichte von den kerkyräischen Knaben, welche erklären soll, warum die Korinther an der Expedition gegen Polykrates teilgenommen haben, handelt es sich hier um eine Einzelanekdote, die für den weiteren historischen Zusammenhang ohne Bedeutung ist. Obwohl auch hier die Chronologie, diesmal nicht der Jahre oder Jahrzehnte, sondern der Wochen oder Tage, verletzt wird, soweit der Anekdote überhaupt ein historisches Faktum zugrunde liegt, besteht hier keine Gefahr, daß den Modernen ihre Chronologie verwirrt wird, wie es dort der Fall gewesen ist. Aber der Mangel an innerer Kritik ebenso wie seine 43i

Ursache sind hier wie dort im Wesen dieselben, was um so bemerkenswerter ist, als Herodot, wo es sich nicht darum handelt, interessante Anekdoten an der wirkungsvollsten Stelle und in der wirkungsvollsten Form zu bringen, sich einer eingehenden Kritik auf Grund von "Wahrscheinlichkeitserwägungen als durchaus fähig erweist. Als Beispiel dafür sei nur seine Behandlung des verbreiteten Gerüchtes erwähnt, der Verräter von Thermopylae sei gar nicht Ephialtes gewesen, sondern ein gewisser Onetes von Karystos und ein Korydallos von Antikythera. Daß Onetes, meint Herodot 90 , obwohl er nicht wie Ephialtes aus der Gegend, sondern aus Karystos stammte, den Pfad über das Gebirge gekannt haben könne, das sei ohne weiteres zuzugeben. Er könne sich zufällig irgendwann in der Gegend aufgehalten haben. Das Entscheidende sei, daß die Pylagoren einen Preis auf den Kopf des Ephialtes und nicht des Onetes gesetzt hatten: und die hätten zweifellos vorher die sorgfältigste Untersuchung angestellt, wer der Schuldige sei. Außerdem sei ja Ephialtes auch geflohen. Wenn er ein gutes Gewissen gehabt hätte, hätte er sich ja stellen können. Hier wird nicht nur verständige Kritik an einer Version der Überlieferung geübt, sondern es wird auch ein weniger stichhaltiges Argument zugunsten der eigenen Meinung als ungenügend verworfen. Daraus ergibt sich die Frage, unter welchen Umständen Herodot sorgfältige sachliche Kritik übt und ob sich in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen des Werkes aufweisen lassen, die möglicherweise auf eine Entwicklung hinweisen. Aber zu diesem Zweck ist es notwendig, noch weitere Beispiele von Kritik, mangelnder Kritik, und sonstiger Methoden der Forschung oder historischen Konstruktionen aus verschiedenen Teilen des Werkes zu untersuchen. In den bisher behandelten Beispielen wird fast überall die Chronologie verletzt, um einen Zusammenhang herzustellen oder die Bedeutsamkeit gewisser Ereignisse deutlicher hervortreten zu lassen. Es gibt aber auch ein interessantes Beispiel, bei dem der umgekehrte Vorgang vorzuliegen scheint: daß die chronologische Abfolge der Ereignisse feststand und der innere Zusammenhang danach auf eine der historischen Realität widersprechende Weise hergestellt wurde. Dies ist die Erzählung der Vorgeschichte und der Geschichte der Schlacht bei Marathon. Was Herodot hier erzählt, ist bekanntlich recht kurios und hat in manchen Teilen schon immer die Verwunderung der modernen Historiker erregt. Die Perser91, sagt Herodot, seien mit einem großen Heer, darunter zahlreicher Kavallerie, deren Pferde in eigens dafür konstruierten Schiffen 432

transportiert worden seien, in der Bucht von Marathon gelandet. Die Athener, welche durch den Aufenthalt der Perser auf Euboea, wo diese nach kurzer Belagerung die Stadt Eretria eingenommen hatten, Zeit gehabt hatten, Vorbereitungen für den bevorstehenden Angriff zu treffen, zogen ihnen ebendorthin entgegen92. An ihrer Spitze standen zehn Strategen, darunter Miltiades. Kurz nachdem sie bei einem Tempel des Herakles Aufstellung genommen hatten, kamen ihnen die Platäer mit ihrem ganzen militärischen Aufgebot zu Hilfe 93 . Kurz vor dem Auszug des attischen Heerbannes hatten die Athener einen Läufer nach Sparta gesandt, um die Spartaner um Hilfe zu bitten 94 . Die Spartaner hätten diese auch zugesagt, aber hinzugefügt, sie könnten erst bei Vollmond ausrücken, d. h. in fünf bis sechs Tagen, da das Datum der Ankunft des attischen Herolds der neunte Tag des zunehmenden Monats war 95 . In dieser Situation sei unter den attischen Strategen eine Meinungsverschiedenheit entstanden 96 . Die einen meinten, man solle die Ankunft der Spartaner abwarten, die andern, an ihrer Spitze Miltiades, seien dafür gewesen, sofort anzugreifen. Bei der Abstimmung habe sich Stimmengleichheit ergeben. Da habe sich Miltiades an den - wie Herodot ausdrücklich hinzufügt, durch das Los ausgewählten - Archon Polemarchos Kallimachos97 gewandt, der auch das Recht hatte, mitzustimmen, und habe ihn überredet, sich seiner Meinung anzuschließen. Damit sei also die Entscheidung zugunsten eines Angriffs gefallen. Darauf hätten die übrigen Strategen, unter denen der Oberbefehl nach attischer Gepflogenheit von Tag zu Tag wechselte, ihren Oberbefehl an Miltiades als Initiator des Angriffsbeschlusses abgetreten, so daß er nun den permanenten Oberbefehl hatte. Trotzdem habe Miltiades nicht sogleich angegriffen, sondern gewartet, bis der Oberbefehl im regelmäßigen Turnus an ihn gekommen war 98 . Dann habe er den Befehl zum Angriff gegeben, wobei die Athener dann den bekannten Sieg davontrugen. Niemandem, der diese Darstellung Herodots auch nur mit ein wenig Aufmerksamkeit liest, kann es entgehen, daß sie zwei ganz große Seltsamkeiten enthält, einmal, daß die Athener nicht bis zum Eintreffen der spartanischen Hilfstruppen warten, da sie ja doch nach Herodots eigener Angabe den Persern gegenüber gewaltig in der Minderzahl sind, zweitens aber, was noch seltsamer ist, wenn schon ein Angriff vor Eintreffen der Spartaner beschlossen wird, daß Miltiades nicht sofort angreift, sondern aus einem ganz formalistischen Grund mit dem Angriff ein paar Tage wartet, bis ganz kurz vor dem Zeitpunkt, zu dem die spartanischen Hilfstruppen ohnehin eingetroffen wären, und nach dem Bericht Herodots 433

- nach der Schlacht - auch tatsächlich eingetroffen sind. Nach der Wiederauffindung der 'AdrivatcDv üoXuEia des Aristoteles gegen Ende des vorigen Jahrhunderts kam dazu die weitere Entdeckung, daß die Darstellung des Herodot in einem wichtigen Punkte nicht richtig sein konnte. Denn bis zum Jahre 487, also bis drei Jahre nach der Schlacht bei Marathon, wurde der Polemarch nach Angabe des Aristoteles" nicht durch das Los bestimmt, sondern gewählt und war Oberkommandierender des ganzen Heeres. Es kann also auch kein Turnus im Oberbefehl zwischen den zehn Strategen stattgefunden haben, und der skurrile Grund, den Herodot für die Verzögerung des Angriffes, nachdem dieser einmal beschlossen worden ist, angibt, wird damit auch als sachlich unmöglich erwiesen. Nachdem Jahrzehnte hindurch die verschiedensten Theorien darüber vorgebracht und hin- und herdiskutiert worden waren, was denn nun wirklich sich zugetragen haben könnte, scheint sich in letzter Zeit immer mehr eine Erklärung der Vorgänge durchzusetzen100, die auch mir die einzig plausible zu sein scheint. Zu erklären ist folgendes: 1. warum die Athener mit ihrem Angriff bis kurz vor dem Eintreffen der spartanischen Hilfstruppen gewartet und dann doch noch vor deren Eintreffen angegriffen haben, 2. wie die Athener, die keine oder keine nennenswerte Reiterei besaßen und demgemäß eine vor einem Reiterangriff geschützte Stellung am Gebirgsrand eingenommen hatten, es wagen konnten, mit ihrem Angriff an den Punkt der Ebene vorzustoßen, an dem die Schlacht nach der Uberlieferung und nach Ausweis des noch heute bestehenden Grabhügels stattgefunden hat, da doch die Stärke der Perser nach übereinstimmender Überlieferung auf ihrer Reiterei beruhte, welche die Griechen an der Stelle, an welcher die Schlacht stattfand, mit Leichtigkeit hätte überflügeln und in den Flanken sowie von hinten hätte angreifen können. Die Antwort auf diese Doppelfrage und damit die Lösung des Problems ergibt sich daraus, daß in der Schilderung der Schlacht von der persischen Reiterei nicht die Rede ist und sich keine Gerippe oder Überreste von getöteten Pferden gefunden haben, im Verein mit dem Bericht Herodots, die Perser hätten nach verlorener Schlacht den Versucht gemacht, schnell um Kap Sunion herumzusegeln, um Athen vor Rückkehr des siegreichen attisch-platäischen Heeres durch einen Überraschungsangriff einzunehmen. Es ergibt sich daraus mit großer Wahrscheinlichkeit, daß die Perser, als sie erkannt hatten, daß die gut gewählte Stellung der Athener bei Marathon nur schwer einzunehmen sein würde und ihnen die Reiterei dabei wenig dienlich sein konnte, den Entschluß faßten, statt einen Kampf unter diesen ungünstigen Umständen einzugehen, lieber von Marathon abzuziehen und 434

Athen von der Ebene bei Phaleron aus anzugreifen, welche der Reiterei ebenfalls, wenn nicht sogar bessere Entfaltungsmöglichkeiten bot. D a aber die Einschiffung von Pferden unter den damaligen Verhältnissen noch wesentlich mehr als unter modernen keine ganz einfache Sache war, war es unter solchen Umständen unumgänglich, während des Vorgangs des Verladens der Pferde ein beträchtliches, aus Infanterie allein bestehendes Schutz- und Beobachtungskorps dem feindlichen Heere gegenüber stehen zu lassen. "Wenn die Griechen dies beobachteten, dann war es sehr natürlich, daß unter ihnen eine Meinungsverschiedenheit darüber entstand, ob man die Perser, wenn sie endgültig abziehen wollten, abziehen lassen, oder wenn dies nicht sicher war, ob man die spartanischen Hilfstruppen abwarten oder die Gelegenheit benutzen und zum sofortigen Angriff auf das Infanteriekorps schreiten sollte. D a hat denn offenbar Miltiades sich mit der zuletzt genannten Ansicht durchgesetzt und ist deshalb, wenn er auch nicht formell den Oberbefehl hatte, mit Recht als der eigentliche Sieger von Marathon betrachtet worden. Was im vorliegenden Zusammenhang interessiert, ist jedoch nicht der historische Vorgang an sich, sondern die Frage, wie Herodot, wenn dies der historische Vorgang war, was doch außerordentlich wahrscheinlich und im Grunde im Suda-Lexikon auf Grund eines alten Zeugnisses auch überliefert ist 101 , zu seiner Darstellung gekommen ist, und was sich daraus für seine Verfahrensweise erschließen läßt. D a sind nun zwei Irrtümer der populären Überlieferung zur Zeit Herodots sehr leicht erklärlich. D a Miltiades - als derjenige, der die treibende K r a f t bei dem Entschluß zum Angriff gewesen war, durchaus mit Recht - als der eigentliche Sieger von Marathon galt, war es sehr natürlich, daß man vergaß, daß er formell nicht den Oberbefehl gehabt hatte. Es ist auch durchaus möglich, daß der eigentliche Oberbefehlshaber Kallimachos ihm die Oberleitung des Angriffs tatsächlich übertragen hat. D a die Polemarchen später durch das Los bestimmte Zivilbeamte waren, ist es dann ebenfalls sehr begreiflich, daß die Meinung aufkommen konnte, das sei schon zur Zeit der Schlacht von Marathon so gewesen. Ebenso ist es nicht schwer verständlich, daß im Volksbewußtsein die Tatsache, daß die persische Reiterei nicht am Kampf beteiligt gewesen war, vergessen wurde: Die Völker sind immer gerne bereit, das zu vergessen, was von ihrer Glorie, wenn auch nur ein kleines Teil, wegzunehmen geeignet ist. Auf der andern Seite hatte sich offenbar die Erinnerung an eine heftige Auseinandersetzung zwischen den Strategen, ob man angreifen solle oder nicht, erhalten: wiederum sehr begreiflicherweise, da darauf ja der Ruhm des Miltiades beruhte. Ebenso muß 435

sich die Erinnerung daran erhalten haben, daß der Angriff erst einige Tage nach der Aufstellung der beiden Heere und ganz kurz vor dem Eintreffen der Spartaner erfolgt war. War die Erinnerung an die beiden ersten Punkte ausgefallen, so ergab sich für die Erklärung der Ereignisse eine Lücke. Diese ist dann bei Herodot auf eine ziemlich naive Weise ausgefüllt. Nun läßt sich gewiß nicht mit Sicherheit sagen, wieviel Herodot dazu aus eigenen Mitteln hinzugetan, wieviel er schon vorgeformt gefunden hat. Aber auf Grund dessen, was sich an anderen Stellen ergeben hat, läßt sich doch ein ziemlich hoher Grad der Wahrscheinlichkeit erreichen. Es entspricht nicht seinen Gepflogenheiten, daß er die Lücke einfach auf Grund eigener Vermutungen ausgefüllt hätte, ohne dies zu sagen. Auf der andern Seite ist es auch nicht wahrscheinlich, daß die Geschichte schon vor ihm vollkommen ausgeformt war. So ist es bei weitem am wahrscheinlichsten, daß er von den Verfassungsgegebenheiten seiner Zeit ausging, nach denen der Polemarch wie alle Archonten EX jteoxgitcov durch das Los bestimmt wurde und die zehn Strategen prinzipiell gleichrangig waren, wenn auch gewiß nicht immer ein Turnus im Oberkommando stattfand, wenn sie an einem Orte gleichzeitig anwesend waren. Das Übrige hat er dann in seine Gewährsmänner offenbar nicht minder hineinals aus ihnen herausgefragt, wie sich dies auch anderwärts hat beobachten lassen. Nicht ganz ohne Bedeutung für die Beurteilung seines Verfahrens ist es aber auch, daß er die Überlieferung, nach welcher Späher, die auf Bäume gestiegen waren, die Feldherrn informierten, daß die persische Reiterei im Abzug war, eine Überlieferung, die auf irgendeinem Wege noch bis in das Suda-Lexikon gelangt ist101, nicht zu fassen bekommen, oder wenn er davon hörte, sie keiner Beachtung gewürdigt hat. Das Verfahren Herodots in diesem Falle scheint also in gewisser Weise das umgekehrte gewesen zu sein als bei den vorher diskutierten Fällen, insofern als hier das chronologische Gerüst gegeben war und seine Ausfüllung, wenn auch auf Grund von Erkundungen, in etwas gewaltsamer Weise vorgenommen worden ist. Aber in der Gewaltsamkeit der Herstellung des Zusammenhanges ebenso wie in der mangelnden inneren Kritik - hier hinsichtlich des Grundes, warum Miltiades mit dem Angriff gewartet und dann doch vor Ankunft der Spartaner angegriffen haben soll - ist es dem Verfahren in den andern genannten Fällen doch weitgehend analog. Nur das Element der Konstruktion aus verschiedenen zusammengetragenen Elementen tritt hier zugleich stärker hervor. In der Prexaspesgeschichte war sozusagen ein Inhalt vorgegeben - die 436

Enthüllung der "Wahrheit und der Todessturz für den im historischen Ablauf die wirkungsvollste Stelle gefunden werden mußte, wenn auch auf Kosten der "Wahrscheinlichkeit. Bei der Geschichte der Schlacht von Marathon war umgekehrt ein äußerer Rahmen vorgegeben, der ausgefüllt werden mußte. Es hat sich aber gezeigt, daß für Herodot manchmal auch ein Problem im Vordergrund steht. Das führt naturgemäß zu einer etwas anderen Kombination von Forschung, Kritik und historischer Konstruktion. Besonders gut läßt sich dies an den Geschichten vom Emporkommen des Deiokes und des Kyros illustrieren. Diese Geschichten gehören zu dem eAeufteeia-Komplex, der auch in den beiden letzten Büchern des "Werkes im Vordergrund steht. Im ersten Fall wird die Entstehung einer despotischen Herrschaft aus allzugroßer eXeir&Egia vordemonstriert, im zweiten Fall handelt es sich um die Umstände und Bedingungen, unter denen eine despotische Herrschaft zugunsten einer gewissen Art der ^EvdEQia gestürzt werden kann und dann doch wieder eine, wenn auch zunächst andersartige, Despotie daraus entsteht. Hier hat schon die frühere Analyse gezeigt102, wie Herodot seinen Gewährsmännern immer aufs neue seine Fragen gestellt haben muß, wie dieses und jenes gewesen sei. Das Material, das er auf seine Fragen erhielt, war, wie seine Erzählung zeigt, zum größten Teil legendär gewordene Geschichte und teilweise in sich widersprechend. Von den legendären Elementen konnte er für seinen Zweck manches gebrauchen. Daß z. B. große Ereignisse sich durch Träume ankündigen und die Träume gerade dann in Erfüllung gehen, wenn man ihre Erfüllung verhindern zu können glaubt, ist ein Glaube, der bei ihm überall wiederkehrt. So hat er keine Bedenken gehabt, z. B. den Traum des Astyages über seine Tochter Mandane aufzunehmen103. Aber allzuviel Märdienhaftes durfte in seine Erzählung nicht eingehen, da er ja gerade das Natürliche und, in diesem Fall genauer, das der Natur des Menschen nach Zwangsläufige des Vorgangs zur Darstellung bringen will. So hat er die Version104, der als Kind ausgesetzte Kyros sei von einer Hündin aufgezogen worden, verworfen, wobei er sich in diesem Falle wirklich einmal einer an Hekataios erinnernden Kritik bedient, indem er die Entstehung der Legende daraus erklärt, daß der Name der Hirtenfrau, die den Kyros aufzog, Spako gewesen sei, was auf medisch „Hund" (auf russisch co6aita), bedeute. Im Vergleich mit den zuerst analysierten Fällen treten hier Forschung und Kritik im Verhältnis zu dem Faktor der Konstruktion viel stärker hervor, aber das Gewaltsame der Konstruktion fehlt doch nicht ganz, wie die Verletzung der Chronologie in der Geschichte vom Aufstieg des Kyros zeigt105. Auf der andern Seite bleiben 437

in Herodots Darstellung Lücken und Unstimmigkeiten, die offenbar darauf zurückzuführen sind, daß er von seinen Gewährsmännern teils nicht ausreichende, teils widersprechende Auskünfte bekommen hat. Sieht man nun aber zu, an welchen Stellen und bei welchen Gelegenheiten Herodot die ausführlichsten Angaben über verschiedene Versionen der ihm zugänglichen Quellen macht oder die vom modernen Standpunkt aus verständigste und objektivste Kritik übt, so findet man, daß dies vor allem in denjenigen Teilen des Geschichtswerkes der Fall ist, die außerhalb der Darstellung der Hauptereignisse stehen oder, wo sie innerhalb dieser stehen, Nebendinge betreffen. Das gilt auch für die oben106 angeführten „Gegenbeispiele" der Rhodopegeschichte im zweiten Buch und der Ephialtesgeschichte innerhalb der Perserkriege. Beispiele dafür gibt es sehr viele, von denen nur einige wenige hier angeführt sein mögen. Ganz außerhalb des Hauptstromes der Darstellung steht der Bericht über die Unternehmungen des Dorieus 107 in Unteritalien, die nidit einmal für die spartanische Geschichte, geschweige denn für die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident von Bedeutung sind. Aber gerade hier werden nicht nur die verschiedenen widersprechenden Versionen angeführt, sondern auch sachliche Beweisstücke auf beiden Seiten. Die Sybariten behaupten108, Dorieus habe einen entscheidenden Anteil an dem Sieg der Krotoniaten über Sybaris gehabt. Als Beweisstück verweisen sie auf einen Tempel, den Dorieus am Krathis nach dem Sieg geweiht habe. Die Krotoniaten dagegen behaupten109, Dorieus habe gar nichts damit zu tun gehabt; und zum Beweis dafür führen sie an, daß Kallias von Elis, der als einziger Ausländer an dem Feldzug teilgenommen hatte, von ihnen zum Dank reiche Landschenkungen erhielt, welche - fügt Herodot hinzu — noch zu seiner Zeit in den Händen von Nachkommen des Kallias waren, während von Schenkungen an Dorieus, der doch mindestens im selben Falle gewesen wäre, nichts bekannt ist. In diesem Falle ist die reiche Dokumentation für eine Nebenepisode freilich leicht erklärlich, da Herodot während seines langen Aufenthaltes in Thurioi leicht Erkundigungen über diese Dinge einziehen konnte. Aber es gibt auch Fälle, in denen die Erkundung kaum ganz so leicht gewesen ist. So z. B., wo Herodot die verschiedenen Versionen der Spartaner, der übrigen Griechen und der „Perser" über den Ursprung der spartanischen Könige anführt 1 1 1 und dann hinzufügt 112 , mehr wolle er darüber nicht sagen, sondern nur das hinzufügen, was von andern nicht berührt worden sei, womit er also darauf hinweist, daß er über das allgemein Bekannte hinaus Erkundigungen eingezogen hat; andere Beispiele 438

sind der umfangreiche Abschnitt über die Herkunft des Geschlechtes der athenischen Tyrannenmörder 113 mit dem eingeschlossenen Exkurs über die „kadmeische" Schrift 114 , oder die ausführliche kritische Erörterung 115 der verschiedenen Traditionen über die Mutter und die Frauen des Kambyses zu Beginn des dritten Buches. Dem steht auf der andern Seite gegenüber die früher gemachte Beobachtung116, daß Herodot für die eindrucksvollsten „sinngebenden" Geschichten überhaupt keine Quellen anzugeben pflegt. Oder wo es doch einmal geschieht, wie bei der Erzählung vom Tode des Kyros 1 1 7 , handelt es sich um eine Geschichte, die zwar generell in die genannte Kategorie gehört, aber doch etwas am Rande steht. Im übrigen führt auch Herodot hier nicht die verschiedenen Versionen an, um sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen, sondern teilt nur mit, es gebe auch noch andere Versionen, er habe aber die ausgewählt, die ihm am glaubwürdigsten erschienen sei. Diese Sorgfalt und Objektivität in Nebendingen, verbunden mit scheinbar mangelnder Sorgfalt und nicht selten unbezweifelbar mangelnder innerer Kritik gerade bei den Dingen, die Herodot offensichtlich am wichtigsten sind, widerspricht allem, was der moderne Historiker als natürlich voraussetzen würde. Aber wenn man nun die verschiedenen Beobachtungen zusammennimmt, enthüllt sich doch sehr deutlich, was die - Herodot aller "Wahrscheinlichkeit nach weitgehend unbewußten - Prinzipien sind, die sein Verhalten in diesen Dingen bestimmt haben. Am deutlichsten ist dies bei den großartigen Geschichten der Kroisoserzählung und der Vorgeschichte des Xerxeszuges zu sehen. Der ganze Eindruck dieser Geschichten würde verlorengehen, wenn Herodot im Zusammenhang damit gesagt hätte: Ich kenne noch diese oder jene abweichende Version, die so und so lautet, halte aber aus diesen und jenen Gründen die gegebene für die richtige. Bei der weniger zentralen Geschichte vom Tode des Kyros kann er es sich leisten, zu erwähnen, daß es noch andere Versionen gibt, hütet sich aber doch, diese in extenso anzuführen, um den Eindruck der erzählten Geschichte nicht zu stören. Etwas anders steht es bei den Geschichten, bei denen Herodot sich über äußere chronologische oder innere sachliche Unstimmigkeiten und Widersprüche hinwegsetzt. Es ist offensichtlich, daß hier bei ihm zwei Tendenzen miteinander in Widerstreit geraten. Noch während seiner ägyptischen Reise hat Herodot Historisches nur im Vorbeigehen mitgenommen und keine näheren Nachforschungen in dieser Richtung angestellt. Aber nachdem er sich ein paar Jahre später dem Historischen zugewendet hatte, hat 439

er sich große Mühe gegeben, von allen Seiten Nachrichten zu sammeln und hat dann, wo er abweichende Versionen fand, sie entweder nebeneinandergestellt, um den Leser entscheiden zu lassen, oder, und das doch nicht selten, nach Gründen gesucht, sich objektiv und unvoreingenommen für die eine oder andere Version zu entscheiden. Im Zentrum seines Interesses jedoch stehen die großen Aspekte des menschlichen Lebens, die dem geschichtlichen Geschehen Sinn verleihen. "Wo er derartiges zu erkennen glaubt, gibt es wieder zwei Möglichkeiten. Entweder der höhere Zusammenhang ist ihm ganz klar und scheint ihm in seiner Geschichte auf das deutlichste zum Ausdrude zu kommen. Dann setzt er sich rücksichtslos über chronologische und innere Schwierigkeiten hinweg, um die Geschichte an die eindrucksvollste Stelle zu setzen. Oder der Zusammenhang ist ihm im einzelnen noch problematisch. Dann zieht er die sorgfältigsten Erkundigungen ein. Aber die Erkundungen sind doch schon nachdrücklich in eine Richtung gerichtet, in welche die Informanten selbst durch Herodots Fragen gedrängt werden, und wenn dann Unstimmigkeiten bleiben, biegt Herodot die Dinge wohl noch etwas weiter zurecht. Das alles ist für den Charakter seines Geschichtswerkes von fundamentaler Bedeutung. Es ist aber doch auch bemerkenswert, daß zum mindesten an einer Stelle Herodot zu einer Art Kompromiß zwischen den beiden Tendenzen gekommen zu sein scheint. Schon an einer früheren Stelle 118 ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß Herodot, wo er von den Verhandlungen der zum Widerstand entschlossenen Griechen mit Gelon von Syrakus und mit den Argivern berichtet, zunächst eine Version wiedergibt 119 , nach welcher die Verhandlungen an dem Anspruch der Spartaner auf den alleinigen Oberbefehl scheiterten. Dann fügt er jedoch zwei Varianten hinzu, von denen die erste120, wie gezeigt, das an dieser Stelle herrschende Hauptmotiv seiner Auslegung des historischen Geschehens, das Motiv der Gefahren, die sich aus der allzugroßen EXEV&EQICX der einzelnen griechischen Staaten ergeben, abschwächt, die zweite aber 121 , wenn als wahr unterstellt, es geradezu ausschaltet122. Es ist nun höchst interessant, wie Herodot hier verfahren ist. Er hat nicht, wie in anderen Teilen seines Werkes, die Fassung, die das für ihn historisch Bedeutsame zur Anschauung brachte, allein hingestellt, sondern hat sich verpflichtet gefühlt, doch auch die abweichenden Erklärungen mitzuteilen. Aber er hat es nicht dem Leser überlassen, zu wählen, welche Version ihm als die glaubwürdigere erschien, noch hat er nach rationalen Gründen die eine Version als die richtige, die andere als unrichtig zu erweisen gesucht, sondern er hat jeweils die eine Version als das erzählt, 440

was tatsächlich geschah, und dann die andern Versionen hinzugefügt als etwas, das auch noch behauptet wurde. Dabei ist zumindest im Falle Gelons die Nebenversion bei weitem die wahrscheinlichere123. Um so deutlicher ist auch hier der Widerstreit zwischen dem Streben nach Sorgfalt im Sammeln und Berücksichtigen verschiedener Versionen der Überlieferung und dem Wunsch, das historisch Bedeutsame als das Wirkliche herauszustellen. Audi hier wieder hat das Herodot als historisch bedeutsam Erscheinende den Sieg davongetragen. Aber es ist doch auch bemerkenswert, daß er an dieser Stelle die abweichenden Versionen mitgeteilt hat. Vielleicht steht es nicht ganz außer Beziehung zu der Tatsache, daß in demselben Abschnitt von Herodots Werk gegenüber den religiös-metaphysischen Bedeutsamkeiten, die vor allem im ersten Buch herausgestellt werden, mehr nüchtern menschliche Bedeutsamkeiten getreten sind. Dann könnte es für die Frage der Entstehung von Herodots Werk und seiner Entwicklung als Historiker von Bedeutung sein124.

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F. Die Entstehung des Herodoteischen Geschichtswerkes und die Entwicklung Herodots zum und als Historiker Nach allem, was in den vergangenen Kapiteln gezeigt worden ist, kann wohl kaum mehr ein Zweifel daran bestehen, daß Entstehung und Niederschrift des Werkes Herodots ganz verschiedene Probleme darstellen, wenn sie auch in einer gewissen notwendigen Beziehung zueinander stehen. Die Vorstellung ist ja doch auch ein wenig seltsam1, daß Herodot infolge der Natur des Schreibmaterials seiner Zeit, wenn er einmal angefangen hatte zu schreiben, nicht aufhören und nichts mehr ändern konnte, bis er am Ende einer langen Papyrusrolle vom Umfang eines der neun Bücher, in die das "Werk eingeteilt war, angelangt war. Da ist schon von der mechanischen Seite her vergessen, daß diese Papyrusrollen nicht als lange Streifen aus einer Maschine kamen, sondern zusammengeklebt wurden, so daß — weit mehr noch sogar als bei den Papierblättern, die wir benützen - die freieste Möglichkeit bestand, die Rolle beliebig auseinanderzuschneiden und dann wieder zusammenzukleben, ehe sie endgültig einem Schreibsklaven zur Abschrift übergeben wurde. Diese Überlegung beweist freilich nur, daß Herodot, als er mit seinen Aufzeichnungen begann, keinen fertigen Plan für das ganze Werk, den er dann unverbrüchlich durchführte, gehabt zu haben braucht, nicht, daß er ihn nicht gehabt haben kann, wie denn ja Thukydides nach seiner eigenen Aussage von Anfang an einen solchen Plan gehabt hat. Aber gerade von ihm hat noch niemand angenommen, daß er sein Werk von Anfang bis Ende, ohne jemals zu ändern, niedergeschrieben habe. Auch Herodot könnte daher einen solchen Plan gehabt haben, wenn er sich auch immer wieder durch sein brennendes Interesse für die verschiedensten Dinge auf Nebenpfade locken ließ. Daß dies so gewesen sei, ist jedenfalls seit dem umfassenden Werk R. W. Macans bis auf den heutigen Tag die vorherrschende Meinung geblieben. Aber diese communis opinio ist ganz und gar unrichtig. Soweit auf dem Gebiet der historischen Wissenschaften überhaupt irgendetwas exakt beweisbar ist, scheint sich mir durch eine Analyse des Werkes beweisen zu lassen, daß Herodot überhaupt nicht als Historiker begonnen hat, 442

sondern, wie als einziger schon F. Jacoby behauptet hatte, als Geograph, aber nicht, wie dieser glaubte, primär als beschreibender Geograph und künftiger Verfasser eines Periplus, sondern als Kritiker des geographischen Systems seines Vorgängers Hekataios von Milet 2 . Diese Kritik beruhte zunächst auf Vermutungen auf Grund allgemeiner Beobachtungen und Überlegungen. Um sie genauer zu fundieren, unternahm er seine Reisen nach dem Schwarzen Meer und nach Ägypten. Von diesen Reisen und möglicherweise von Reisen, die er im Anschluß daran unternahm, brachte Herodot freilich eine Menge „überschüssigen" ethnographischen Materials nach Hause, das er dann in seinen Vorträgen verwendete. Darunter befanden sich auch Erzählungen über die Vergangenheit, die eben als solche sich dem Geschichtlichen nähern zu können scheinen. Aber was von diesem Material zu der Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Orient und Okzident in Beziehung gesetzt werden kann - oder auch nur zu der älteren medisch-persischen Geschichte, welche bei Herodot der Darstellung jenes Konfliktes als Hintergrund und Vorbereitung dient - ist gänzlich zufällig 3 . Es kann gar keine Rede davon sein, daß Herodot seine Reisen in jene Länder zur Vorbereitung seiner Geschichtsdarstellung unternommen oder auch nur während ihrer an einen solchen künftigen Plan gedacht hätte. Daß Herodot dann doch dieses Material in großem Umfang seinem "Werk, das zu einem Geschichtswerk geworden war, einverleibt und, so gut es gehen wollte, an mehr oder minder passenden Stellen eingefügt hat, wobei ursprünglich Zusammengehöriges vielfach getrennt und zerschnitten werden mußte, ist von fundamentaler Bedeutung für Charakter und Entstehung dieses "Werkes. Läßt sich soviel auf Grund von inneren Indizien ebenso wie auf Grund von äußerer Uberlieferung über die Vortragstätigkeit des Herodot, welche durch einzelne Stellen, die aus diesen Vorträgen stehengeblieben sind, aufs genaueste bestätigt wird 4 , mit großer Sicherheit feststellen, so ist es sehr viel schwieriger, herauszufinden, wie und in welcher Reihenfolge die eigentlich historischen Teile seines "Werkes entstanden sind. Immerhin haben sich auch hier einige Indizien finden lassen. Viel scheint darauf hinzuweisen, daß die samische Geschichte von Herodot einmal als eine mehr oder minder kontinuierliche Einheit konzipiert gewesen ist und dann ziemlich gewaltsam auseinandergerissen wurde, um in ihren Teilen an verschiedenen Stellen der persischen Geschichte eingefügt und untergeordnet zu werden 5 . Andererseits macht das eigentümliche chronologische System Herodots die Annahme fast zwingend 6 , daß zum mindesten in der Ausarbeitung die Abschnitte über frühe orientalische Geschichte der 443

Darstellung der Konflikte zwischen Orientalen und Griechen im allgemeinen und der Perserkriege im speziellen vorangegangen sind. Doch ist das Ergebnis hier keineswegs von vorneherein so klar und eindeutig wie hinsichtlich des Uberganges von geographischer zu historischer Forschung. Die Tatsache, daß schon zu Anfang der Geschichte des medischen Groß reiches, in der Geschichte vom Emporkommen desDeiokes 7 und dann wieder in der Geschichte vom Emporkommen des Kyros und dem Sturz der Mederherrschaft 8 , das Problem der eXsuftEgia, das dann in dem zweiten Teil der Geschichte des Xerxeszuges eine so beherrschende Rolle spielt, in einer Form auftritt, die ein spezielles Nachdenken Herodots über dies Problem voraussetzt, scheint auf den ersten Blick dafür zu sprechen, daß Herodot die Erforschung der altorientalischen Geschichte — mit Ausnahme der altägyptischen - von Anfang an mit dem ausgesprochenen Zweck unternommen hat, sie als Hintergund für die Darstellung des Konfliktes zwischen Orient und Okzident dienen zu lassen - falls sich die Tatsache selbst bei genauerer Untersuchung nicht auf andere Weise erklärt. Die Wiederkehr der Grundmotive der Kroisosgeschichte in dem ersten Teil der Geschichte des Xerxeszuges9 läßt ja ohnehin keinen Zweifel daran bestehen, daß hier zum mindesten ein enger Zusammenhang von Anfang an bestanden hat. Aber auch einige Abschnitte der samischen Geschichte stehen durdi ihren Charakter in enger Beziehung zu dem Kroisoslogos, was eine eigene Erklärung verlangt. Die Dinge sind also hier komplizierter, und man muß sich hüten, sie vorschnell in ein bestimmtes Schema pressen zu wollen. Schon eine oberflächliche Betrachtung zeigt ja auch, daß die der persischen Geschichte eingefügten Abschnitte altorientalischer und griechischer Geschichte sowohl ihrem Charakter nach als auch hinsichtlich ihrer Beziehung zu dem Ganzen, in dem sie stehen, ganz verschieden geartet sind. Die Medergeschichte wird in einem Zuge erzählt und hat unzweifelhaft von Anfang an die Funktion gehabt, der Persergeschichte als Hintergrund zu dienen. Die ältere ägyptische Geschichte dagegen hat gar keine Beziehung dazu und ist offenbar nur eingefügt, weil Herodot das Material einmal von seiner ägyptischen Reise mitgebracht hatte. Die Geschichte der 26. Dynastie andererseits trifft in ihrem Ende mit der persischen Geschichte zusammen. Hier ist eine Beziehung daher durchaus gegeben; und daß dieser Teil der ägyptischen Geschichte in der vorliegenden Form, auch in dem Teil, der den historischen Beziehungen zu den Persern vorausliegt, im Hinblick auf das Gesamtwerk geschrieben wurde, geht daraus hervor, daß Herodot an einer Stelle10 einen historisch wichtigen Faktor 444

im gegebenen Zusammenhang nicht behandelt, sondern dafür auf die Geschidite Kyrenes vorausweist, die erst zwei Bücher später behandelt wird. Hier wird das gegebene Versprechen in der entsprechenden späteren Stelle des "Werkes erfüllt 11 . Dagegen wird das im Zusammenhang der Erzählung der Eroberung von Assyrien und Babylonien durch Kyros von Herodot gegebene Versprechen12, in einem "Werk oder Abschnitt über Assyrien ('AOOVQIOI Xoyoi) ausführlicher von Königen zu berichten, welche in früheren Zeiten über Babylon geherrscht hatten, nicht erfüllt. Auf denselben damals noch nicht ausgeführten Plan bezieht sich das ebenfalls nicht erfüllte Versprechen, ausführlicher von der Einnahme von Niniveh durch die Meder zu berichten, das Herodot etwas früher in seiner Medergeschichte gegeben hat 13 . Es ist aber ganz unwahrscheinlich, daß Herodot diese beiden Versprechen später in einem eigenen Spezialwerk über assyrische Geschichte erfüllt haben sollte, von dem sich keine Spuren erhalten haben, da er, wie sich gezeigt hat, Dinge, die mit dem Hauptgegenstand seines uns vorliegenden Werkes in viel weniger engem Zusammenhang stehen als es bei einer assyrischen Geschichte der Fall gewesen wäre, in dieses aufgenommen hat 14 . Daraus folgt, daß Herodot seinen Plan, einen solchen Abschnitt - vermutlich in Analogie zu seiner Medergeschichte - zu schreiben, entweder aufgegeben hat oder wenigstens nicht zu seiner Ausführung gekommen ist. Eine weitere unausweichliche Folgerung ist es, daß das Werk, wie es uns vorliegt, keine letzte Revision durch die Hand seines Autors erfahren hat. Es lassen sich aber auch andere Anzeichen dafür finden, daß das Werk im Innern nicht überall fertig geworden ist. Ganz besonders deutlich zeigt sich dies in den mannigfachen Exkursen über griechische Geschichte, welche der persischen Geschichte und der Geschidite der Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident in verschiedenen Stellen eingefügt sind. Kehren wir für einen Augenblick noch einmal zur samischen Geschichte zurück, so ist von den beiden späteren Teilen der eine, der vom Untergang des Polykrates handelt 15 , durch die Person des unbotmäßigen Satrapen Oroites wenigstens lose, der zweite 16 , von den Schicksalen von Samos nach dem Tode des Polykrates, als Teil des Anfanges der systematischen Expansion des Perserreiches nach Westen über Kleinasien hinaus enger mit dem Hauptgegenstand des Werkes verknüpft. Der erste Teil könnte es ebenfalls sein, wenn Herodot diesen Teil der Geschichte vom höheren Standpunkt internationaler Diplomatie aus betrachtet hätte. Er hat das aber nicht getan. So bleibt dieser Teil der samischen Geschichte vom Gesichtspunkt des Ganzen aus episodisch und 445

ist mit seiner Umgebung wesentlich einfach synchronistisch verknüpft. In diesen ersten Teil eingesprengt aber ist die Geschichte vom Ring des Polykrates,die ihrem Wesen nach in einen ganz andersartigen Zusammenhang gehört, den Zusammenhang nämlich jener Sondererzählungen, die zwar insofern mit Geschichte zu tun haben, als sie etwas über das Wesen menschlichen und damit historischen Schicksals aussagen sollen, die aber insofern, als das, was sie aussagen, für alle Zeiten gilt, doch auch wieder überzeitlich sind. Ganz anders steht es mit den sonstigen Einschüben aus griechischer Geschichte, die sich auch dadurch von den samischen Einschüben unterscheiden, daß es sich bei den letzteren um Ereignisse handelt, die mit den Ereignissen, in deren Darstellung sie eingeschoben werden, gleichzeitig sind, bei den ersteren um Exkurse über ältere Ereignisse, welche zur Erklärung des Zustandekommens der Hauptereignisse von Bedeutung sind. Wenigstens ist dies ganz offensichtlich jeweils der Grund ihrer Einschiebung. Inhaltlich gehen sie jedoch meistens weit über das hinaus, was als Vorgeschichte der in der Hauptdarstellung erzählten Ereignisse notwendig wäre. Das mag im Einklang damit stehen, daß Herodot im einleitenden Satz seines Werkes nicht nur den Konflikt zwischen Orient und Okzident oder die Geschichte der orientalischen Reiche, sondern überhaupt die „Taten und Werke" der Menschen zu schildern verspricht. Aber die Art, wie die Taten und Werke, die mit der Hauptdarstellung in keiner sichtbaren Verbindung mehr stehen, in diese eingefügt werden, bleibt nichtsdestoweniger sonderbar und bedarf der Erklärung. Noch auffallender und bemerkenswerter ist, daß einige Male bei solchen Einschüben gerade eine klare und vollständige Darstellung dessen fehlt, um dessentwillen ganz offenkundig der Einschub an der Stelle erfolgt, an der er steht. Das auffallendste Beispiel dieser Art ist der Einschub über die Verwicklung zwischen Athen und Ägina 17 . Da ist es offensichtlich, daß Herodot bei seinen Erkundungen einerseits in einer Richtung immer weiter von dem ursprünglichen Anlaß weggeführt worden ist, auf der andern Seite aber den Anschluß an die Hauptdarstellung nicht ganz erreicht hat 18 . Dabei kann gerade an dieser Stelle gar keine Frage sein, daß sich bei sorgfältigem Nachforschen eine größere Genauigkeit, vor allem auch in bezug auf den chronologischen Zusammenhang, hätte erreichen lassen. Noch weniger ist, wie sich gezeigt hat 19 , der ganze Anfang des fünften Buches, in welchem die ersten Unternehmungen des Dareios durch seine Generale an der Nordküste des ägäischen Meeres behandelt werden, mit der Haupterzählung integriert, obwohl doch gerade hier Anlaß gewesen wäre, auf 446

den Charakter dieser Unternehmungen als Vorbereitung der Eroberung Griechenlands hinzuweisen. Aber auch im einzelnen bleiben dort vielfach lose Enden, und wiederum auf eine solche Weise, daß dies durchaus nicht einfach an der zufälligen Mangelhaftigkeit der „Quellen" Herodots gelegen haben kann. Auf eine noch etwas andere Weise kompositorisch unfertig ist die Beschreibung des ersten Auftauchens des Planes des Dareios, Griechenland und den Westen zu erobern 20 : in auffallendem Kontrast zu der großartigen Einheit der Kroisosgeschichte im ersten Buch und der Darstellung des Xerxeszuges und seiner Folgen in den letzten Büchern, aber audi zu der Einheitlichkeit der medischen Geschichte im ersten Buch, der Geschichte der 26. Dynastie im zweiten Buch oder der Geschichte Kyrenes im vierten Buch. Nimmt man das alles zusammen, so kann ja wohl kaum ein Zweifel daran bestehen bleiben, daß das Werk Herodots in der Form, in der es uns vorliegt, in gewisser Weise nicht fertig ist. Die Frage, ob das Werk vollendet sei, ist denn auch oft gestellt worden, aber fast immer in der zunächst auch am nächsten liegenden Form, ob es zu Ende sei, d. h. ob Herodot die Absicht gehabt habe, die Darstellung der Ereignisse noch weiterzuführen, da die Einnahme von Sestos und die Gefangennahme und Hinrichtung des Artayktes, die in den letzten Kapiteln des Werkes erzählt werden, einen schwachen und unzureichenden Abschluß des großen, in den vorangehenden Büchern geschilderten Geschehens zu bilden schienen. Auch schien es seltsam, die Darstellung so gewaltiger Ereignisse mit den Worten zu schließen: „Und in diesem Jahr ereignete sich nichts Weiteres" 21 . Denn was auf diesen Satz folgt, ist nur eine scheinbar zufällig angehängte Anekdote, die sich auf eine weit zurückliegende Zeit bezieht. Das alles ist ganz richtig beobachtet. Aber nun hat sich auch gezeigt22, daß eben jene Anekdote am Schluß in gewisser Weise den Abschluß einer groß angelegten Deutung des historischen Geschehens durch bedeutungsvolle Geschichten und Anekdoten darstellt, die in der ersten Hälfte des siebten Buches beginnt und analog der Kroisosgeschichte des ersten Buches ist. Der Rahmen, der in der Kroisosgeschichte das Ganze umschließt, ist hier jedoch durch die Fülle dessen, was in ihn hineingepreßt ist, so sehr auseinandergedehnt, daß es genauer Aufmerksamkeit bedarf, um die Kyrosgeschichte am Schluß noch als ein Stück dieses Rahmens zu erkennen. Die Unfertigkeit liegt also nicht wie bei Thukydides am Ende, wo die Erzählung plötzlich abbricht, oder doch nur insofern, als auch das, was dem Schlußstück unmittelbar voraufgeht, Spuren der Unfertigkeit an sich 447

trägt, sondern im Innern. Ja, man kann sagen, daß das "Werk bis zuletzt — nicht überall, aber an vielen Stellen - sich noch im Prozess des Werdens befunden hat und nur durch den Tod des Verfassers sozusagen in einem Augenblick dieses Prozesses zur Erstarrung gekommen ist. Das bedeutet jedoch keineswegs notwendigerweise, daß dies Werk die Gestalt, in der es erhalten ist, in einem irgend wesentlichen Ausmaß einem Herausgeber verdankte. Vielmehr sind gerade die wichtigsten Umgruppierungen des Materials, wie z. B die Verteilung des von der Reise im Schwarzen Meer mitgebrachten, zunächst nur aus geographischen Interessen gesammelten Stoffes auf die geographisch-ethnographischen und auf die historischen Teile des vierten Buches oder die Verteilung der samischen Geschichte auf verschiedene Teile des "Werkes, so tief in der Komposition des Werkes, wie sie uns vorliegt, verankert, daß sie auf den Autor selbst zurückgehen müssen. Auf der andern Seite fehlt es, wie sich gezeigt hat, nicht an plötzlichen Ubergängen und an losen Enden innerhalb des Werkes, so daß sich die Tätigkeit eines etwaigen Herausgebers auf ein Minimum beschränkt haben muß. Ist dies einmal erkannt, so ergibt sich vielleicht auch die Möglichkeit, einen noch etwas tieferen Einblick in die Entstehungsgeschichte des Werkes zu tun. Sehr eigentümlich ist ja schon das Verhältnis des einleitenden Satzes, der zugleich den Titel und die Inhaltsangabe des Werkes vertritt, zu dessen tatsächlicher Komposition. Er wolle die Taten und Werke der Menschen von alters her, der Barbaren sowohl wie der Griechen, beschreiben, damit sie nicht der Vergessenheit anheimfallen, sagt Herodot, speziell aber, aus welchen Gründen sie Krieg gegeneinander geführt hatten. Das sind ein allgemeineres und ein spezielleres Thema, die sich sehr wohl miteinander vereinigen ließen, zumal da in den Perserkriegen gewissermaßen die bis dahin mehr oder minder getrennt verlaufenden Ströme und Rinnsale der Geschichten der verschiedenen orientalischen und griechischen Staaten in dem großen Strom eines einzigen gewaltigen Geschehens zusammenliefen, ähnlich wie Polybius zu Anfang seines Geschichtswerkes hervorgehoben hat 23 , daß durch die Eroberung der damals bekannten Welt durch die Römer die bis dahin getrennten Ströme der Geschichte der verschiedenen mediterranen Völker in eines zusammenkamen. Infolge dieser Tatsache wäre eine sehr systematische Darstellung der beiden Teile des Gegenstandes möglich gewesen, indem die verschiedenen Stränge zunächst gleichmäßig einzeln verfolgt, dann miteinander in Beziehung gesetzt und endlich ganz zusammengebracht worden wären, wie ja auch Polybius seine Darstellung in dieser Weise angelegt hat. Zudem gab es 448

für Herodot darin gewisse Vorbilder in den Versuchen des Hekataios, vor allem aber des Akusilaos von Argos und des Pherekydes von Athen, die Sage in ein System zu bringen. Im "Werke Herodots fehlen denn auch Ansätze zu einer solchen systematischen Darstellung der verschiedenen Stränge der älteren Geschichte, bis sie in den Perserkriegen in eines zusammenlaufen, keineswegs ganz. Freilich gehen die Stränge bei ihm nicht nebeneinander her. Vielmehr sind auf eine lange Strecke alle andern Stränge dem Hauptstrang der persischen Geschichte untergeordnet, so daß jeweils, wenn die Perser als Eroberer mit einem andern Volke zusammentreffen, dessen ganze Geschichte nachgetragen wird, wobei dann freilich die ursprünglich beabsichtigte assyrische Geschichte ausgefallen ist. Aber das gilt doch nur für die Geschichte der orientalischen Völker und unter den Griechen von Kyrene. Es gilt nicht für die samische Geschichte, obwohl diese ursprünglich eine Einheit gebildet haben muß und obwohl auch Samos von den Persern erobert worden ist. Da kann man sagen, daß das, was an der samischen Geschichte für die doch im Zentrum stehende persische Geschichte und für die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident bedeutsam war, deutlicher zum Ausdruck gebracht werden konnte, wenn die samische Geschichte in verschiedene Abschnitte aufgeteilt und diese dann getrennt an den geeigneten Stellen eingefügt wurden. Aber gilt das auch und ohne Einschränkung für die Geschichte Athens und Spartas, die freilich insofern außerhalb des Systems stehen, als sie nicht wie die vorher genannten Völker und Städte von den Persern erobert und dem persischen Reich eingegliedert worden sind? Uber athenische Geschichte gibt es immerhin einen langen Abschnitt24, in dem von der Beseitigung der Tyrannis berichtet wird mit dem für die Hauptgeschichte sehr wichtigen Hinweis 25 , daß die Macht Athens sich erst nach dem Sturze der Tyrannis habe voll entfalten können. Aber die verschiedenen Abschnitte über spartanische Geschichte verlieren sich da, wo die Darstellung über den unmittelbaren Anlaß, aus dem die Einschaltung jeweils erfolgt ist, hinausgeht, vielfach in detaillierten Beschreibungen der persönlichen Politik, der Schicksale und Abenteuer einzelner spartanischer Könige, ihrer Streitigkeiten untereinander und mit den spartanischen Behörden und ähnliches. Ist schon die Vorgeschichte Athens im Verhältnis zu seiner Bedeutung an sich wie erst recht zu seiner Bedeutung in der großen Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident recht spärlich ausgearbeitet, so fehlt eine Geschichte Spartas, in welcher der Versuch gemacht würde, zu zeigen, wie die Spartaner zu dem geworden sind, als was sie dann in dem 449

Demaratosdialog und in den Kämpfen des Xerxeszuges erscheinen, völlig. Und doch sollte man meinen, daß eine solche Geschichte im Rahmen des Gesamtwerkes wichtiger gewesen wäre als eine ausführliche Geschichte von Kyrene. Gerade an den zuletzt erwähnten Abschnitten läßt sich besonders deutlich beobachten, wie Herodot bei den Erkundigungen und Forschungen, die er angestellt hat, durch die Antworten, die er auf seine Fragen erhielt, veranlaßt worden ist, in derselben Richtung weiterzufragen, dadurch aber nicht selten von der Hauptrichtung, die durch den Zusammenhang seines Werkes gegeben war, abgelenkt wurde und dann auch nicht mehr vollständig in diese zurückfand oder wenigstens den Anschluß an den Hauptstrom seiner Darstellung nur noch unvollkommen und in etwas lückenhafter Weise hergestellt hat. Das kann man mit Pohlenz 26 - der dies geradezu zum Grundprinzip seiner Erklärung des "Werkes Herodots gemacht hat - damit erklären, daß Herodot nichts sehen - oder hören — konnte, ohne etwas Interessantes zu finden, das dann seine Aufmerksamkeit von seinem Hauptweg wegführte. Auch war sich Herodot dessen ja offenbar auch selbst bewußt, da er gelegentlich ausspricht27, er sei von Anfang an auf Abschweifungen ausgewesen, so daß man hinzufügen kann: er war auch nicht imstande, etwas Interessantes aus seinem Werke wegzulassen, selbst wenn es schwer in den Zusammenhang einzufügen war. Aber so richtig dieses Erklärungsprinzip in bezug auf gewisse Teilerscheinungen auch ist, so reicht es zur Erklärung des Zustandes des Werkes als Ganzem doch keineswegs aus, angesichts der Tatsache, daß umfangreiche Teile von Unfertigkeiten der hier beobachteten Art fast völlig frei sind und auch Abschweifungen in für den großen Zusammenhang nur wenig relevante Dinge nur in ganz geringem Umfang aufweisen. Sieht man von dem geographisch-ethnographischen Material, das Herodot von seinen Reisen aus Ägypten und ans Schwarze Meer mitgebracht hat, und von den altägyptischen Geschichten ab, so sind Stücke dieser Art die Kroisosgeschichte, die Medergeschichte, die Geschichte von Kyrene und beträchtliche Stücke der Persergeschichte, bis sie in die Vorgeschichte der Perserkriege übergeht. Aber auch die Geschichte des Xerxeszuges ist ganz anderer Art. Zwar wird hier ein anfangs gegebener Rahmen gesprengt. Aber er wird gesprengt durch die Fülle des von einem andern Gesichtspunkt aus Bedeutsamen, das in ihn hineingepreßt wird, keineswegs durch Geschichten wie die von dem Spartaner Dorieus, die für das Hauptgeschehen kaum von Bedeutung sind. Vor allem aber finden sich keine Lük4jo

ken im Anschluß an die Haupthandlung, wie sie bei den Exkursen aus der athenischen und spartanischen Geschichte so offenkundig sind. Die Abschnitte mit den auffallendsten Unvollkommenheiten oder Unvollendetheiten, aber auch die meisten und umfangreichsten Abschweifungen von der Hauptrichtung finden sich nun da, wo die Geschichte des Perser reiches in die Geschichte der Perser kriege bzw. der Auseinandersetzung zwischen Ost und "West übergeht, d. h. im fünften und sechsten Buch. Ein solcher Ubergang findet jedoch nicht nur in diesen Büchern statt, sondern auch am Anfang des "Werkes, da dieses ja mit der Geschichte der Lyder und des Kroisos beginnt, welche nach Herodot „innerhalb dessen, was man noch mit einiger Sicherheit wissen kann" 28 , die ersten waren, welche mit den Übergriffen angefangen haben. Auch an diesem Ubergang finden sich solche innerlich nicht ganz fertigen und ausgeglichenen Geschichten wie die Geschichte vom Emporkommen des Deiokes und vom Emporkommen des Kyros29, mit denen ja jeweils etwas Neues anfängt. Doch ist hier die innere Unfertigkeit weit weniger ausgesprochen und auch von anderer Art als bei den Exkursen über spartanische und athenische Geschichte. Dazu kommt ein weiterer sehr bedeutsamer Unterschied. Bei der Geschichte Kyrenes und bei der Geschichte des ionischen Aufstandes fiel auf 30 , daß hier das eXe^egia-Motiv kaum eine Rolle spielt, obwohl es der Sache nach beim ionischen Aufstand im Vordergrund stehen könnte und auch bei der kyrenäischen Geschichte durchaus Gelegenheit gewesen wäre, darauf einzugehen31. Dagegen spielt dies Motiv in der Deiokesgeschichte die dominierende Rolle, obwohl die weitere Medergeschichte, an deren Spitze sie gesetzt ist, sonst kaum etwas damit zu tun hat, und ist es auch in der Geschichte vom Emporkommen des Kyros ein bedeutsames Ingredienz. Mit dieser Verschiedenheit dürfte es wohl auch zusammenhängen, daß die Geschichte der Konflikte des Dareios mit dem Westen sowie der diese vorbereitenden Ereignisse auffallend arm ist an „sinngebenden" Geschichten, diese dagegen mit dem Regierungsantritt des Xerxes sofort in konzentriertester Form einsetzen, bei dem Ubergang von der lydischen Geschichte zur frühen Persergeschichte dagegen, wenn man von der ersten Hälfte des Ägyptenbuches, die ja einen anderen Ursprung hat, absieht, auf Schritt und Tritt Geschichten dieser Art der Haupterzählung eingefügt sind. Nimmt man dies alles zusammen, so drängt sich auch von dieser Seite her die Vermutung auf, Herodot habe zuerst damit begonnen gehabt, eine Geschichte des Orients am Leitfaden der Geschichte des Perserreiches 45i

zu schreiben und sich erst später der Erforschung und Darstellung des Konfliktes zwischen Orient und Okzident, die jetzt den Rahmen des ganzen Werkes bildet, zugewandt. Diese Vermutung gewinnt dadurch eine starke Stütze, daß sich bei der Untersuchung der chronologischen Methoden Herodots ganz unabhängig von den hier angestellten Uberlegungen und auf Grund ganz anderer Beobachtungen ergeben hat 32 , daß Herodot die Ausarbeitung der persisch-orientalischen Geschichte eher in Angriff genommen haben muß als die Darstellung des Konfliktes zwischen Ost und West. Die Analyse läßt sich nun aber ein gutes Stück weiterführen. Anders als bei den geographischen Forschungsreisen Herodots, bei denen dieser noch keinen Gedanken an die Abfassung einer Geschichte des Perserreiches gehabt haben kann, ist es keineswegs notwendig anzunehmen, daß Herodot bei der Abfassung der persischen Geschichte noch nicht daran gedacht habe, auch den großen Kampf zwischen Ost und West darzustellen und überhaupt griechische Dinge in den Kreis der Darstellung zu ziehen. Vielmehr gibt es sehr gewichtige Argumente für die entgegengesetzte Annahme. Wenn Herodot trotzdem, wie sich gezeigt hat, eine Reihe von Zwischenstücken zwischen dem einen und dem andern in einem Zustand unvollkommener Ausarbeitung zurückgelassen hat, so muß der Grund ein anderer gewesen sein. Er liegt ganz offenkundig darin, daß Herodot für die Darstellung der Kroisosgeschichte und der Geschichte des Xerxeszuges eine andere Form der Darstellung gefunden hat, welche mit neuen Einsichten über den tieferen Sinn und Zusammenhang der Ereignisse aufs engste zusammenhing. Als ihm diese Einsichten und die durch sie ermöglichte neue Form der Gestaltung aufgegangen waren, scheint Herodot sich zunächst der intensiven Ausarbeitung dieser Abschnitte, d. h. zunächst der Kroisosgeschichte, dann der des Xerxeszuges zugewandt zu haben, während die Zwischenstücke, vor allem der ersten Vorbereitung des Dareios für einen Angriff auf den Westen, des ionischen Aufstandes und noch mehr der Exkurse über athenische und spartanische Geschichte, welche dazu als Hintergrund dienen sollten, in einem unvollkommenen Zustand der Ausarbeitung stehenblieben. Hier scheint denn auch Herodot nicht mehr zu einem Versuch der Neugestaltung gekommen zu sein, weshalb der Ubergang von der etwas diffusen Darstellung des fünften und sechsten Buches zu den großartigen Geschichten vom Ursprung des Xerxeszuges im siebten ein sehr plötzlicher ist. Am Anfang der Persergeschichte und der Geschichte des alten Orients dagegen findet man überall Einzelerzählungen, die von der Kroisosgeschichte her hineinzuwirken scheinen, 45*

von denen einige aber auch das EXeuftspia-Motiv aufnehmen, das nicht in der Kroisosgeschichte, sondern in voller Ausbildung erst in der zweiten Hälfte der Geschichte des Xerxeszuges in den Vordergrund tritt. Hier hat Herodot also offenbar noch den Versuch gemacht, eine Verbindung herzustellen. Aber die Art, wie sie verteilt sind, und daß gerade diejenigen, in welchen das der Zeit nach spätere EXevÖEgia-Motiv auftritt, Zeichen unvollständiger Durcharbeitung aufweisen, deutet doch wohl darauf hin, daß auch hier eine Bruchstelle vorliegt und nicht mehr alles innen ganz fertig geworden ist. Das alles läßt sich nun freilich nicht in der Weise strikt beweisen, wie sich beweisen läßt, daß Herodot nicht als Historiker, sondern als Geograph bzw. Kritiker eines geographischen Systems begonnen hat. Aber es hat sich vielleicht doch durch die gemachten Beobachtungen ausreichend plausibel machen lassen, um es versuchsweise zum Ausgang von Überlegungen darüber zu machen, ob sich etwas über eine Entwicklung Herodots zum und als Historiker eruieren läßt, Überlegungen, bei denen sich ja dann auch entweder Bestätigungen der bisherigen Ergebnisse oder Einwände dagegen ergeben müssen. Die Frage, ob sich bei Herodot eine Entwicklung nachweisen lasse, ist oft gestellt, aber immer sogleich wieder energisch beiseite geschoben worden. Ein Grund dafür war zweifellos der, daß die Versuche, bei antiken Autoren Entwicklungen nachzuweisen, gerade, wo sie an den Werken von Historikern vorgenommen wurden, vor allem bei Polybius33, aber in hohem Grade doch auch bei Thukydides 34 , der Kritik nicht standgehalten haben. Dann aber schien das Werk dafür auch keine rechte Handhabe zu bieten, und von außen her schien die Überlieferung ebenfalls für eine Untersuchung dieser Art zu wenig Material an die Hand zu geben. Auf der andern Seite erscheint es doch auch kaum als möglich, daß die Konzeption eines Werkes von solcher Varietät des Inhalts und der Form ohne längere Entwicklung, und sei es auch nur als fertiger Plan, aus dem Kopfe seines Urhebers entsprungen sein sollte: und dies umso mehr, als es in der vorhergehenden griechischen Literatur nicht nur kein positives Vorbild gab, sondern nicht einmal etwas, wogegen es sich als Ganzes bewußt hätte absetzen können, so wie Thukydides nach seiner eigenen Aussage sein Werk gegen das Herodots - denn die „Logographen", von denen er in seiner Vorrede spricht35, sind im wesentlichen einfach Herodot - abgesetzt und in bewußtem Gegensatz zu ihm geschaffen hat. Sich mit der Frage der Entwicklung Herodots zu beschäftigen, ist jedoch 453

vor allem unerläßlich, wo es sich darum handelt, ihn in die Geschichte der griechischen Geschichtsschreibung einzureihen. Denn sein Werk als Ganzes genommen ist so verschieden, nicht nur von allem, was ihm vorausgegangen ist, und von dem "Werk seines großen Nachfolgers Thukydides, sondern auch von der hellenistischen Geschichtsschreibung, welche mit ihrer Freude an farbigen Anekdoten und dramatischer Darstellung ihm oberflächlich betrachtet näher zu stehen scheint, daß man sehr wohl die Frage stellen kann, ob sein Werk sich überhaupt in eine mehr oder minder folgerichtige Entwicklung einreihen läßt. Und doch ist der Eindruck, daß mit ihm etwas ganz Entscheidendes für die Geschichtsschreibung geschehen sei, so stark, daß er nicht nur allgemein als Vater der Geschichte bezeichnet wird, sondern daß sogar ein so radikaler Kritiker historischer Methoden wie R . G. Collingwood 36 , der die wirklich wissenschaftliche Geschichtsschreibung erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Ranke beginnen läßt, von Herodot als Historiker mit hoher Achtung spricht und ihn sogar über Thukydides stellt, wenn er ihn auch natürlich nicht als wissenschaftlichen Historiker im vollen Sinne anerkennt. Sieht man die Frage von diesem Gesichtspunkt aus an, so ist auch nicht schwer zu sehen, warum sie, kaum gestellt, immer sogleich wieder schleunigst fallengelassen worden ist. Bei den meisten Versuchen, die Entwicklung eines antiken Autors zu rekonstruieren, die bisher unternommen worden sind, ergab sich aus äußeren und inneren Indizien ein mehr oder minder festes Schema, bei Piaton z. B. die Entstehung und allmähliche Ausbildung der Ideenlehre und Hand in Hand damit der allmähliche Ubergang von dem aporetischen sokratischen Dialog zu dem Versuch, feste Lösungen erkenntnistheoretischer, logischer, politischer, zuletzt selbst physikalischer und physiologischer Probleme zu erreichen, bei Aristoteles die Entwicklung vom Platonismus zu seiner eigenen Philosophie, bei Thukydides der Ubergang von einer älteren zu einer neuen, erst am Ende des Krieges konzipierten Auffassung von den Ursachen des Krieges, dem dann alles einzelne ein- und untergeordnet werden konnte. Freilich bestand dabei auch jedesmal die Gefahr, dem einzelnen zugunsten des Schemas Gewalt anzutun37, was dann wieder zu dem verbreiteten Mißtrauen gegen Entwicklungskonstruktionen überhaupt Anlaß gegeben hat. Das Werk Herodots bietet der Konstruktion eines solchen Schemas keine Handhabe, was aber vielleicht nur ein Vorteil ist, da dadurch die Gefahr gewaltsamer Interpretationen um der Einordnung in das Schema willen sehr vermindert wird. Im übrigen folgt aus der daraus entstehenden Schwierigkeit nur, daß die Frage anders gestellt werden muß, zunächst in 454

der Form, ob Herodot nirgends an Früheres angeknüpft hat, ferner, wenn dies geschehen ist, wie er das Übernommene weiterentwickelt hat und welche Faktoren auf diese Weiterentwicklung fördernd oder störend eingewirkt haben, endlich, womit und wieweit Herodot selbst auf die Geschichtsschreibung nach ihm eingewirkt hat oder wo und inwiefern sie etwa an ihm vorbeigegangen ist. Wird die Frage in dieser Weise gestellt, so hat sich schon herausgestellt, daß Herodot ganz offensichtlich damit angefangen hat, an etwas Früheres anzuknüpfen, wenn auch nicht als Historiker, sondern als Geograph: eben an die Theorie des Hekataios von der natürlichen Einteilung der Erdoberfläche in eine Anzahl von ungefähr gleichgroßen Kontinenten, nicht anders als die vorsokratischen Philosophen jeweils kritisch an die Philosophen ihrer Vorgänger angeknüpft haben oder Thukydides seine historische Methode kritisch derjenigen des Herodot gegenüberstellt. In der Art aber, wie Herodot sich mit seinem Vorgänger auf dem geographischen Gebiete kritiscäi auseinandergesetzt und doch auch wieder von seinen Methoden Gebrauch gemacht hat, ist in gewisser Weise schon das, was die wesentlichste Eigenart der herodoteischen Geschichtsschreibung ausmacht, wenn auch ganz und gar keimhaft, enthalten. Er geht aus von der Anschauung, die sich ihm von seinen frühen, im Umfang noch recht begrenzten Reisen auf den Inseln und an der kleinasiatischen Küste her aufgedrängt hat, und von der spontanen Revolte gegen ein geographisches Schema, das der aus der Anschauung gewonnenen Vorstellung von der Art geographischer Formen Gewalt anzutun scheint. Er unternimmt dann weite Reisen mit dem Zweck, gewisse Punkte zu finden, an denen sich die Theorie seines Vorgängers exakt widerlegen läßt. Aber als sich dies als sehr schwierig erweist, verbringt er nicht den Rest seines Lebens mit dem Versuch, die nötigen Daten doch noch zu finden, sondern er begnügt sich mit der weniger exakten - und zum Teil faktisch unrichtigen - Widerlegung, die sich ihm aus der Erweiterung seines Gesichtskreises, welche seine ursprüngliche Anschauung zu bestätigen scheint, ergibt38. Da er von seinen Reisen viel interessantes Material mitgebracht hat und dafür eine Ordnung braucht, scheut er sich nicht, dazu die Schematismen seines Vorgängers, den er so heftig angegriffen hat, in gemilderter und teilweise modifizierter Form zu gebrauchen. Diese eigentümliche Kombination ist auch für seine Tätigkeit als Historiker charakteristisch. Diese hat in gewisser Weise sich umgekehrt entwickelt als seine Tätigkeit als Geograph. Während seines Aufenthaltes in Ägypten sind ihm mannigfaltige Erzählungen über ältere ägyptische Könige zugekommen, 455

ohne daß er sich zunächst speziell darum bemüht hätte; jedenfalls nicht über das hinaus, was einem interessierten Reisenden in einem fremden Lande natürlich ist, auch ohne daß er sich professionell mit Geschichte beschäftigt. An dem, was ihm auf diese Weise zukam, hat Herodot in der Regel keine andere Kritik geübt als diejenige, welche jeder intelligente Reisende an offenkundigen Unwahrscheinlichkeiten üben würde. N u r wo er aus eigener Kenntnis von den Dingen schon vorher etwas wußte, wie bei der Erzählung von dem Pharao „Proteus" und den Figuren der griechischen Sage, Paris, Helena und Menelaos, hat er, wahrscheinlich ohne es zu wissen, selbst dazu beigetragen, der Geschichte die Form zu geben, in der er sie erzählt. In einem andern Falle, der Geschichte von dem Erobererkönig Sesostris, hat er in eigenen Beobachtungen an den „Hieroglyphen"-Inschriften in Kleinasien eine Bestätigung gesucht. Aber so zufällig das auch alles ist, so hat er doch in der Auswahl und Wiedergabe der aufgenommenen Geschichten einen Instinkt für das historisch Interessante bewiesen, der einzigartig ist. Es ist unmöglich zu wissen, ob die Anfänge eines umfassenderen Interesses Herodots an orientalischer Geschichte schon auf Reisen zurückgehen, welche Herodot etwa im Anschluß an seine ägyptische Reise nach Palästina und Mesopotamien unternommen hat 39 , oder ob er erst später ausgedehntere Erkundungen in diesen Gegenden zum Zwecke der Abfassung einer solchen Darstellung angestellt hat. Spätestens während seines Aufenthaltes in Athen, der auf die Reisen ans Schwarze Meer und nach Ägypten folgte und während dessen er seine Vorträge über deren Ergebnisse hielt, muß Herodot den Plan zu einer Geschichte des Perserreiches und im Zusammenhang damit der orientalischen Völker gefaßt haben. Es wäre verwunderlich, wenn dabei das in Athen sehr lebendige Interesse an allem Fremden und Fernen in der Zeit wie im Raum sowie das spezielle Interesse an den Ursprüngen des großen Gegners der Perserkriege nebst den auf Grund dieses Interesses an ihn gestellten Fragen keine Rolle gespielt hätte. Aber zugleich bedeutete das Unternehmen eine Anknüpfung an eine frühere Literatur und an ein früheres Unternehmen. Wie das „historische" Werk des Hekataios in gewisser Weise eine Fortsetzung der von Anaximenes begonnenen Geschichte des Kosmos in ein anderes Gebiet hinein gewesen war, so war auch das neue Unternehmen Herodots eine Art Fortsetzung der Genealogiai des Hekataios und seiner Nachfolger in ein neues Gebiet: aus dem der Sagengeschichte in das einer bis zu einem gewissen Grade noch wirklich erforschbaren Vergangenheit hinein. 456

Wie Hekataios das geographische Material durch seine geometrischen Schematismen zu bewältigen, d. h. einer durchsichtigen Ordnung zu unterwerfen gesucht hat, so hat er die ihm in Form der Sagenerzählungen gegebene Vergangenheit durch genealogische Schematismen zu ordnen gesucht. Pherekydes von Athen hatte zum mindesten an zwei Stellen, bei Hippokrates und Miltiades40, vielleicht aber auch öfter, die Genealogien bis in die historische Zeit fortzusetzen gesucht. Entweder schon Hekataios selbst oder unbekannte Nachfolger, deren Spuren jedoch bei Herodot zu finden sind41, hatten ferner die rein genealogischen Schemata mit Hilfe verschiedenartiger Generationenrechnungen in nach Jahren rechnende chronologische Schemata umzubilden gesucht. Diese Methode hat Herodot in seiner persisch-orientalischen Geschichte ohne Bedenken und ohne Kritik an dem Schematismus, der doch auch-ganz abgesehen davon, daß es sich bei der ältesten „Geschichte" in Wirklichkeit um mehr oder minder zeitlose Sage handelt — den Dingen Gewalt antut, übernommen. Zugleich hat er sie jedoch erweitert und präzisiert, indem er sich, soweit als möglich, die präzisen Daten der Regierungslängen der orientalischen Herrscher zu verschaffen gesucht hat. Er hat dann ferner, wie sich gezeigt hat, beides miteinander zu kombinieren versucht, indem er die Regierungszeiten der Könige in ein an Herakles anknüpfendes genealogisches Generationsschema einfügte und die Längen derjenigen Zeiträume — sei es Regierungslängen von einzelnen Königen oder von ganzen Dynastien - , für die er keine präzisen Daten hatte erhalten können, durch Addition und Subtraktion aus den bekannten Regierungsdaten und den geschätzten Generationslängen berechnete42. Auch Synchronismen mögen bei dieser Art der Berechnung eine Rolle gespielt haben. Doch ist Herodot dabei offenbar nicht sehr exakt verfahren. Auch hier knüpfte also Herodot an eine zu seiner Zeit schon vorhandene Tradition an und führte sie mit zum Teil neuen Mitteln, aber doch wesentlich in derselben Richtung fort. Ganz ähnlich ist dann in dieser Hinsicht, wie sich zeigen wird, die Entwicklung nach ihm auch weitergegangen. Da Herodot in dieser Phase nicht mehr einfach aufnahm, was ihm an der einen oder andern Stelle zufloß, wie bei den Anekdoten aus der älteren ägyptischen Geschichte, sondern systematisch das Material für eine chronologisch und sachlich zusammenhängende Geschichtsdarstellung zusammensuchen mußte, mußte sich ganz von selbst ergeben, daß er gelegentlich über ein und denselben Vorgang verschiedene Versionen zu hören bekam. Das hat ihn dann offenbar veranlaßt, vor allem da, wo mehr als ein Volk an einem geschichtlichen Vorgang beteiligt war, Informationen von 457

mehr als einer Seite zu suchen. Wo diese sich widersprachen, hat er sie nicht selten einfach nebeneinandergestellt und es mit ausdrücklichen Worten dem Leser überlassen, zu entscheiden, welche der verschiedenen Versionen ihm am glaubwürdigsten erschien. An anderen Stellen hat er sich mit kritischen Argumenten für die eine oder die andere Version entschieden. Aber im ganzen ist für sein Verfahren hier, im Gegensatz zu seiner jugendlichen Attacke auf die geographischen Theorien des Hekataios und seiner Nachfolger, die Zurückhaltung und Behutsamkeit charakteristisch, mit welcher er die verschiedenen Überlieferungen, die er gefunden hat, behandelt. Dies gilt auch für die zum Teil mit märchen- und legendenhaften Zügen ausgestatteten speziellen Anekdoten und illustrativen Geschichten, welche auch in diesem Teile des Werkes gelegentlich, wenn auch nicht allzu häufig, zu finden sind. Wie bei den altägyptischen Geschichten läßt Herodot diese auch hier im allgemeinen stehen, wie sie ihm erzählt worden sind, falls nicht ein besonders dringender Grund zur Kritik gegeben ist. Ähnliche Charakteristiken weisen auch die samische Geschichte - mit Ausnahme der Geschichte vom Ring des Polykrates und der eingesprengten Stücke über Periander - sowie die Geschichte des ionischen Aufstandes auf. Die Ausarbeitung der samischen Geschichte mag wohl, da es sich hier um einen Gegenstand handelte, der für Herodot ein persönliches Interesse besessen haben muß, neben der Ausarbeitung der orientalischen Geschichte zunächst nebenhergelaufen sein. Die Geschichte des ionischen Aufstandes, deren Inhalt, wie sich gezeigt hat 43 , im wesentlichen auf eine Gruppe von Gewährsmännern mit sehr ausgesprochenen eigenen politischen Uberzeugungen zurückgehen muß, die sich mit Herodots späteren Ansichten und Neigungen nicht deckten, wird in das Intervall zwischen deren Ausarbeitung der älteren orientalischen Geschichte und der endgültigen Zuwendung zu der Ausarbeitung der Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident gehören. Diese Geschichte oder, genauer gesagt, ihre beiden wichtigsten Abschnitte, die Kroisosgeschidite und die Geschichte des Xerxeszuges, weisen nun jedoch eine völlig andere Art der Komposition sowohl wie der immanenten Interpretation der Ereignisse auf. Einzelgeschichten, welche das Bedeutsame einer historischen Epoche oder das, was einer bestimmten Gruppe von Menschen als das an ihr Bedeutsame erschien, auf das lebendigste zur Anschauung bringen, finden sich zwar auch in andern Teilen des Werkes, ja selbst schon in den Stücken altägyptischer „Geschichte", die Herodot aus Kuriosität schon zu einer Zeit gesammelt hatte, als er noch nicht zum Historiker geworden war. Aber nirgends sonst 458

sind sie so großartig zu größeren Einheiten zusammengeschlossen, in denen sich der eigentliche Sinn des Geschehens offenbaren soll. Das hat weder bei Herodots Vorgängern noch bei seinen griechischen Nachfolgern eine Analogie. Denn auch was bei hellenistischen Historikern etwa als verwandt erscheinen mag, wird sich bei genauerem Zusehen als seinem Wesen nach durchaus verschieden erweisen. Hier liegt offenbar der Grund, weshalb das Werk Herodots sich so schwer in eine kontinuierlich verlaufende Entwicklung der Geschichtsschreibung einordnen lassen will. Nicht minder liegt hier der Grund, warum es so schwer ist, eine Entwicklung Herodots selbst zu rekonstruieren. Denn hier liegt offensichtlich nicht eine einfache und kontinuierliche Entwicklung vor, sondern in gewisser Weise ein Bruch und ein Widerstreit. Eben deshalb ist es für das Verständnis der Geschichtsschreibung Herodots und seiner Stellung innerhalb der Entwicklung der griechischen Geschichtsschreibung bzw. der Geschichtsschreibung überhaupt von grundlegender Bedeutung, die Natur dieses Widerstreites deutlich zu sehen sowie auch, daß es ein Widerstreit ist, der nicht durch die Annahme einer Entwicklung Herodots, die anders verlaufen wäre, beseitigt werden kann. Wie sich schon früher gezeigt hat, äußert sich der Widerstreit vor allem in zwei Dingen. Die Geschichten, durch welche der tiefere Sinn des Geschehens deutlich gemacht wird, können ihre Funktion nur erfüllen, wenn sie sozusagen mit einer gewissen Autorität auftreten. Hier können daher nicht verschiedene Versionen nebeneinandergestellt und gegeneinander abgewogen werden, weil dies die Durchschlagskraft der Deutung des Geschehens beeinträchtigen würde. Sie können aber auch mit der Chronologie in Konflikt geraten, da Herodot, wo er eine Geschichte vorfand, die ihm für das tiefere Verständnis des Geschehens bedeutsam erschien, offenbar nidit geneigt war, Widersprüche mit seinem eigenen chronologischen System, die er auch bei nur geringer Aufmerksamkeit hätte bemerken müssen, zu beachten und aus diesem Grunde auf seine Geschichte zu verzichten. Nun scheint es, oberflächlich betrachtet, mit Herodots frühägyptischen Geschichten, die doch in die vorhistorische Phase seiner Entwicklung gehören sollen, nicht viel anders zu stehen. Auch dort wird jeweils nur eine Version erzählt, und auch dort stimmt es ganz und gar nicht mit der Chronologie. Trotzdem ist nicht allzu schwer zu sehen, daß die Ursachen verschiedene sind. Die altägyptischen Geschichten sind soweit als möglich in Herodots chronologisches System eingefügt. Es bleibt nur eine Lücke, weil Herodot nicht mehr Material von seiner ägyptischen Reise mitgebracht hatte. Dagegen kommt die Solon-Kroisos459

Geschichte mit dem chronologischen System Herodots in direkten Konflikt; und hier handelt es sich ja gewiß nicht um Dinge, über die er, wie im Falle Ägyptens, Schwierigkeiten gehabt hätte, nachträglich noch Näheres zu erfahren. Die Sache liegt also hier wesentlich anders. Ähnliches läßt sich in bezug auf die Diskussion verschiedener Versionen zeigen. Es ist schon immer angenommen worden und auch kaum zu bezweifeln, daß Herodots Versuche, dem geschichtlichen Geschehen eine tiefere Ausdeutung zu geben, mit seinem Aufenthalt oder seinen mehrfachen Aufenthalten in Athen und Delphi zusammenhängen. In Athen ist er, wie sich gezeigt hat, mit der attischen Tragödie bekanntgeworden, die einen bedeutenden Einfluß auf ihn ausgeübt hat, darunter aller Wahrscheinlichkeit nach auch Äschylos' Persern, wenn deren offizielle Aufführung auch lange vor seinem ersten Aufenthalt in Athen stattgefunden hatte. In Athen befand er sich auch in einer Umgebung, wo die Erinnerung an den Persersturm noch sehr lebendig war und der Unterschied zwischen Griechen und Barbaren ebenso wie derjenige zwischen Athenern und Spartanern in den Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern einer vornehmlich gegen Persien gerichteten Politik und denjenigen, die ihr Augenmerk vor allem auf einen künftigen Konflikt mit Sparta richteten, lebhaft diskutiert worden sein muß. In Delphi andererseits, dessen Priester in besonders engen Beziehungen zu Kroisos gestanden hatten, muß nach der Katastrophe des Königs zur Rechtfertigung des Gottes die Philosophie des Verhältnisses zwischen Göttern, Schuld und Schicksal entwickelt worden sein, die bei Herodot in der Kroisosgeschichte, aber auch anderweitig eine so bedeutende Rolle spielt. Alles, was damit zusammenhängt, muß wesentlich später sein als Herodots orientalische Reisen, wenn es damit auch noch nicht mit Sicherheit später als seine Ausarbeitungen über ältere orientalische Geschichte anzusetzen ist. Näher heran führt die Beobachtung, wie die Periandergeschichten, die der Art nach den Kroisosgeschichten nahestehen, in die samische Geschichte eingefügt sind. Am wichtigsten jedoch ist der Ubergang von den Erklärungen der XÖYIOI über die Ursachen des Konfliktes zwischen Orient und Okzident zur lydischen Geschichte. Zuerst erzählt Herodot die aus der griechischen Sage entnommenen Erklärungen der griechischen und orientalischen Xoyioi über die Ursachen des Konfliktes. Dann scheint er das alles beiseite zu wischen und fährt fort: „Aber ich werde mich nicht darüber äußern, ob sich dies so oder so verhält, sondern denjenigen bezeichnen, welcher der erste ist, von dem ich weiß, daß er mit ungerechten Taten den Griechen gegenüber begonnen hat, und von da an 460

meine Erzählung fortsetzen." Darin scheint die Einsicht zu liegen, daß man, wenn man wirkliche Geschichte schreiben will, nicht mit einer Zeit beginnen kann, über welche es keine zuverlässige Uberlieferung mehr gibt. So hat man ja auch geglaubt, Herodot habe die Erklärungen der X07101 von Hekataios übernommen und sich mit seiner Ankündigung gegen diesen und seine unmittelbaren Nachfolger absetzen wollen, die den Versuch gemacht hatten, Sage in Geschichte zu verwandeln. Das ist in dieser Form nicht richtig. Aber die Einsicht als solche ist in den "Worten aufs deutlichste ausgesprochen. Es ist sehr wohl möglich, daß es zum mindesten teilweise diese Einsicht gewesen ist, welche Herodot veranlaßt hat, auf die Ausarbeitung der beabsichtigten und angekündigten44 'AaaiiQicu loyoi zu verzichten, da ihm die Keilschriftdokumente nicht zugänglich waren und, was er mündlich erfahren konnte über Ninos und seine Nachfolger, z. B. den zum Sardanapal gewordenen Assurbanipal oder die Königin Semiramis, schon allzusehr die Form der Sage angenommen hatte. Aber dann folgen unmittelbar auf diese Ankündigung die Kroisosgeschichten, von welchen schon gleich die erste die Chronologie gröblich verletzt und von denen sich manche vielleicht die rationalistische Kritik des Hekataios zugezogen hätten. Und diese Geschichten werden ohne Varianten und ohne Kritik erzählt. An dieser Stelle ist es offensichtlich auf keine Weise möglich, die Kroisosgeschichten als Überbleibsel einer früheren, weniger kritischen Epoche in der Entwicklung Herodots zu verstehen, während die Einsicht, die ihn veranlaßt, die Geschichten der Xoyioi beiseite zu schieben, einer späteren Epoche angehört habe. Denn Kroisos ist ja eben der, von dem Herodot zu „wissen" glaubt, wenn auch ausdrücklich dies Wissen darauf beschränkt wird, daß er der erste war, der den Griechen Unrecht getan hat. Aber eben darin liegt das Paradox, daß die Einsicht, die ihrer Natur nach doch nur eine allgemeinere sein zu können scheint, dann auf einen einzigen Punkt eingeschränkt ist und im übrigen zu dem Charakter der Darstellung, die auf sie folgt, nach moderner Auffassung in krassem Gegensatz zu stehen scheint. Darin liegt ein Problem, das, wie sich zeigen wird, nicht nur ein Problem der Entwicklung Herodots, sondern der Geschichtsschreibung überhaupt ist. Zunächst ist der Widerstreit, der sich hier von verschiedenen Seiten zeigt, auch für den modernen Historiker bedeutsam, der Herodot vor allem als „Geschichtsquelle" betrachtet. Im allgemeinen scheinen Charakter und Herkunft der Mitteilungen Herodots ziemlich offen zutage zu liegen. So ist wohl gesagt worden, Herodot sei für den modernen Geschichtsschreiber des Altertums viel bequemer als Thukydides. Denn 461

bei Herodot wisse man immer, woran man sei, und könne daher das einigermaßen Gesicherte leicht von dem Zweifelhaften oder dem historisch "Wertlosen unterscheiden. Bei Thukydides dagegen sei, obwohl man ihn natürlich im Vergleich zu Herodot als den unvergleichlich viel kritischeren Historiker anerkennen müsse, alles so sehr in seine großartige harte machtpolitische Interpretation der Ereignisse eingebaut, daß es schwer sei, Fakten und Interpretation säuberlich voneinander zu unterscheiden und zu einem unabhängigen Urteil zu gelangen. Das ist vor allem in bezug auf Thukydides als Geschichtsquelle eine sehr geistreiche und zutreffende Beobachtung. Aber die Zuverlässigkeit des Herodot im Sinne der Offenkundigkeit dessen, was jeweils bei ihm vorliegt, ist dabei doch etwas überschätzt, zum mindesten für diejenigen Teile seines Werkes, in welchen die beiden einander widerstreitenden Tendenzen, die im Vorangehenden aufgewiesen worden sind, zusammentreffen. Von dieser Seite her ist es nicht ganz uninteressant, daß gerade derjenige unter den modernen Historikern des Altertums, Julius Beloch, der sich am meisten auf seine historische Kritik zugute getan und sich gelegentlich zu der Rodomontade verstiegen hat, der Unterschied zwischen dem klassischen Philologen und dem Althistoriker bestehe darin, daß der erste alles, was in der antiken Literatur stehe, glaube, bis ihm das Gegenteil unwidersprechlich bewiesen werde, der Althistoriker dagegen nichts glaube, bis es durch Kombination der Uberlieferung mit anderen Indizien bewiesen sei —, daß also gerade Beloch sich durch die falsche Chronologie des Periander bei Herodot hat täuschen lassen45 und nach den bei Herodot zu findenden Synchronismen die ganze Chronologie der Kypseliden entgegen den mannigfachsten und deutlichsten entgegenstehenden Indizien umgemodelt hat. Herodot schien ihm am meisten Zutrauen zu verdienen, weil er von allen antiken Zeugen den Ereignissen zeitlich am nächsten stand. Er hat nicht gesehen, daß Herodot bestimmte Gründe hatte, sich sowohl über die Chronologie wie über die inneren Widersprüche seiner Erzählung, die er bei etwas größerer Aufmerksamkeit hätte bemerken müssen, hinwegzusetzen. Aber der Widerstreit entgegengesetzter Tendenzen in Herodot ist nicht nur vom Gesichtspunkt seiner Benützung als Geschichtsquelle aus interessant. Es hat sich gezeigt, daß Herodot in der Erarbeitung einer chronologischen Ordnung, in welche sich die Ereignisse einordnen ließen, gegenüber seinen Vorgängern sehr große Fortschritte gemacht hat. Er war der erste, der eine zusammenhängende Darstellung umfassender geschichtlicher Ereignisse einer Zeit, über die noch einigermaßen zuverlässige Nachrichten zu erhalten waren, gegeben hat, und er hat in irgendeinem Zeit462

punkt der Ausarbeitung seines "Werkes gemerkt, daß man, wenn man eine zuverlässige Darstellung geben wolle, in der Zeit nicht zu weit zurückgehen dürfe. Er war der erste, der über ein und dieselben Ereignisse Nachrichten von verschiedenen Gewährsmännern und an verschiedenen Orten gesammelt und sie kritisch miteinander verglichen hat. Mit alledem ordnet er sich in eine Entwicklung der Geschichtsschreibung ein, die in gewisser "Weise auf das moderne Ideal einer kritischen Geschichtsschreibung hinzuführen scheint. Aber beruht darauf die außerordentliche Schätzung Herodots als Historiker, deren er sich sogar bei einem Theoretiker der allerstrengsten wissenschaftlichen Geschichtsschreibung wie Collingwood erfreut? Seine großen Verdienste um die Chronologie sind bis auf die neueste Zeit überhaupt nicht bemerkt worden. Bei Collingwood spielt diese Entdeckung Strasburgers keine Rolle. Die reine Tatsache als solche, daß Herodot zuerst eine umfassende Darstellung zeitlich näherliegender Ereignisse der Vergangenheit zu geben versucht hat, wäre an sich bemerkenswert genug, aber doch kaum ausreichend für seine außerordentliche Hochschätzung. "Wenn die lydischen Räubergeschichten bei Nikolaos von Damaskus wirklich von dem Lyder Xanthos stammten und sich nachweisen ließe, daß dieser vor Herodot geschrieben hat, welch letzteres ja durchaus möglich ist46, würde bei aller Bewunderung für die „Meisternovellen" wohl doch niemand auf den Gedanken kommen, ihn als Vater der Geschichte über Herodot zu stellen. Und doch: seine Erkenntnis, daß man später anfangen müsse, um Zuverlässiges berichten zu können, scheint auf einen einzelnen Punkt beschränkt und sonst im folgenden keine Konsequenzen zu haben. Bei der Gegenüberstellung verschiedener Versionen scheint er sich gerade an entscheidenden Punkten für diejenige Version zu entscheiden, die vom Standpunkt historischer Kritik aus die unwahrscheinlichste ist47. "Wo ihm, wie bei der Schlacht von Marathon, eine Reihe von Daten gegeben waren, die in ihrer Kombination zunächst seltsam erscheinen mußten und nach einer Erklärung verlangten, hat er sich - wenn auch wahrscheinlich auf Grund von Vermutungen, die er aus seinen Gewährsmännern herauszulocken wußte — zu einer recht naiven und nachweislich unrichtigen Konstruktion verleiten lassen, obwohl die Kenntnis mehrerer Faktoren, die zu einer richtigeren Rekonstruktion der Ereignisse hätten führen müssen, sich, wenn auch an getrennten Stellen, bis in das späte Altertum erhalten hat und bei genauerer Nachforschung daher auch für Herodot hätte erreichbar sein müssen48. Die antiken Historiker und Schriftsteller, welche eine kritische Geschichtsschreibung forderten, haben sich denn auch 463

keineswegs mit besonderer Hochachtung über Herodot ausgesprochen. Thukydides meint vornehmlich ihn mit den „Logographen" oder Geschichtenerzählern, denen er vorwirft, daß ihnen die „poetische" Gestaltung wichtiger gewesen sei als die "Wahrheit49. Dasselbe sagt Strabon 50 , der sogar der Meinung Ausdruck gibt, man könne eher dem Hesiod oder Homer Glauben schenken, wenn sie Heldensagen erzählen, als dem Herodot, dem er als ebenso unglaubwürdig Ktesias und Hellanikos zur Seite stellt, die sich freilich sowohl untereinander wie auch von Herodot als Historiker grundlegend unterschieden. In der plutarchischen Schrift „über die Bosheit Herodots" wird diesem sogar absichtliche Entstellung der Wahrheit aus ganz persönlichen Gründen zugeschrieben 51 . Wir stehen also vor der seltsamen Tatsache, daß sich die modernen Historiker und Theoretiker der Geschichtsschreibung in ihrer Schätzung von den antiken Vertretern einer kritischen Geschichtsschreibung außerordentlich zugunsten Herodots unterscheiden, obwohl gerade das, worin sich Herodot wirklich positiv in die Entwicklung auf eine „wissenschaftliche" Geschichtsschreibung hin einreiht, von den meisten unter ihnen gar nicht bemerkt worden ist 52 . D a stellt sich denn doch sehr dringlich die Frage, ob sie sich durch die überragenden Qualitäten Herodots als Schriftsteller haben verführen lassen, ihn als Historiker zu überschätzen, oder ob in seinem Werk etwas zu finden ist, das ihn wirklich auch als Historiker auf eine ganz hohe Stufe stellt. Aber was das dann ist, ist, soviel ich sehen kann, nirgends mit voller Klarheit bezeichnet worden. N u n kann ja kein Zweifel daran bestehen, daß Herodot gerade in denjenigen Teilen seines Werkes, die derjenige Leser, der es nicht als Geschichtsquelle, sondern einfach als großes Literaturwerk liest, als die Glanz- und Höhepunkte des Werkes empfinden wird, d. h. in der Kroisosgeschichte und in der Vorgeschichte und Geschichte des Xerxeszuges, eine tiefere Ausdeutung des Geschehens hat geben wollen und sich also in gewisser Weise nicht nur als Historiker, sondern auch als Geschichtsphilosoph betätigt hat. Das ist an sich ganz legitim. Doch sind dabei zwei Dinge bemerkenswert. Einmal wird die Ausdeutung des Geschehens nicht unmittelbar als solche und sozusagen in abstracto gegeben, sondern indirekt durch die Geschichten hindurch, und diese selbst werden nicht als poetische Deutung des Geschehens gegeben, sondern als faktisch geschehen erzählt, wobei sich diese Faktizität des Geschehens o f t nicht nur bezweifeln, sondern strikt widerlegen läßt. Eben dagegen richtete Thukydides seine Kritik. Das zweite ist, daß die Ausdeutung des Geschehens, vor allem in der Kroisosgeschichte, in einem Teil der Geschichte der 26. ägyptischen 464

Dynastie und der älteren Persergeschichte, aber bis zu einem gewissen Grade auch noch in der zweifellos später verfaßten Geschichte des Xerxeszuges, eine religiöse ist, wobei dann die Frage entsteht, ob oder inwieweit eine religiöse Ausdeutung historischen Geschehens als eine wissenschaftliche betrachtet werden kann. Aber auch wenn man geneigt ist, eine religiöse Deutung prinzipiell als möglicherweise wissenschaftlich anzuerkennen, so bleibt doch übrig, daß z. B. die Geschichte von dem Gott Apollon, der die Moiren überredet, dem Kroisos noch drei Jahre Frist bis zu seinem schicksalbestimmten Untergang zu geben53, eine äußerst naive ist, und daß Herodot, wenn er dies auch nicht in seinem eigenen Namen erzählt, sondern den delphisdien Priestern in den Mund legt, sowohl selbst daran geglaubt als auch von seinen Lesern einen solchen Glauben erwartet hat. In alledem manifestiert sich auf das deutlichste jene Gegentendenz gegen eine Entwicklung mit der Richtung auf eine in bezug auf die Fakten kritische Geschichtsschreibung, von der nun schon öfter die Rede gewesen ist. Höchst bemerkenswert ist nun jedoch, daß sich innerhalb dieser Gegentendenz eine Entwicklung beobachten läßt, welche der Entwicklung in der Richtung auf eine kritische Geschichtsschreibung parallel läuft, ohne daß jedoch bis zuletzt der Gegensatz selbst verschwindet. Denn es hatte sich ja gezeigt54, daß im Verhältnis zur Kroisosgeschichte schon die Vorgeschichte des Xerxeszuges, obwohl hier in den Träumen des Xerxes und des Artabanos immer noch übernatürliche Kräfte einzugreifen scheinen, sich der nüchternen historischen Realität in hohem Maße annähert. Denn hier wird nicht mehr wie in der Kroisosgeschichte ein sehr reales und auch heute noch in seiner Wirksamkeit zu beobachtendes Gesetz wie das, daß sich die Sünden der Väter an den Kindern zu rächen pflegen bis ins vierte und fünfte Glied - sehr häufig erst im vierten und fünften Glied - , in höchst naiver "Weise dahin konkretisiert, daß nach dem Beschluß des Schicksals ein König auf das Jahr genau fünf Generationen nachdem sein Ahnherr seine Sünde begangen hat, untergehen muß. Vielmehr spricht der Mann im Traum 55 sehr unmittelbar aus, was nach politisch-psychologischen Gesetzen, die freilich nicht als solche formuliert werden, die Folge der Handlungsweise des Königs sein muß, wenn er bei seinem Entschluß, den schon befohlenen Krieg abzublasen, verharrt. Der Unterschied zwischen den verschiedenen Arten griechischer B.EV^EQ'M endlich und ihrer Bedeutung für das konkrete politische Geschehen ist vollends ein sehr reales historisch-politisches Problem erster Ordnung, das in den Geschichten, die Herodot dazu erzählt, in unübertrefflicher Lebendigkeit vor 465

Augen geführt wird. Auch wird hier bei der zentralen Geschichte von dem Streit um den Oberbefehl das Prinzip durchbrochen, Geschichten, in denen sich die Bedeutsamkeit des Geschehens enthüllt, nur in einer Version zu erzählen, weil ihre Autorität sonst beeinträchtigt würde. Trotzdem bleibt der fundamentale Gegensatz bestehen, da nur die Hauptversion als das, was sie wirklich geschehen ist, erzählt wird und gerade diese Version von den verschiedenen mitgeteilten Versionen die unwahrscheinlichste ist, und da ferner sich auch gegen die faktische Historizität anderer Geschichten, die in diesem Zusammenhang mitgeteilt werden, gewichtige Bedenken erheben. Der Gegensatz der beiden Tendenzen bleibt also bis zuletzt bestehen. Gleichzeitig kann jedoch nicht bezweifelt werden, daß in diesen Geschichten von der Darstellung der Unterschiede zwischen orientalischem Glanz und griechischer Einfachheit bis zu der Darstellung der Probleme griechischer Freiheit an historischer Interpretation in zunehmendem Maße sehr Bedeutsames geleistet wird. Die Entwicklung, die sich innerhalb dieser Abschnitte abzeichnet, hat eine ganz andere Tiefe als die bloße Ausbildung chronologischer, doch immer noch vielfach recht unvollkommener Methoden und die Sammlung von Zeugnissen aus verschiedenen Ländern nebst einer ebenfalls im allgemeinen ziemlich an der Oberfläche bleibenden, die Zeugnisse gegeneinander abwägenden Kritik. Hier ist schon eher eine Rechtfertigung für die Hochschätzung Herodots als Vater der Geschichte zu finden. Aber das Ganze hat noch eine andere Dimension. Die KroisosGeschichte, die eingeschalteten Geschichten in den drei letzten Büchern und ein Teil der übrigen Geschichten im ersten und dritten Buch sind im Vorhergehenden als Erzeugnisse von Herodots eigenem Bestreben, eine tiefere Interpretation des Geschehens zu geben, betrachtet worden. Das sind sie in einem beträchtlichen Grade auch. Denn die Zusammenfügung z. B. der Geschichten, die dann den sogenannten Kroisoslogos bilden, die aber keineswegs alle desselben Ursprungs sein können, kann nicht ohne eigenes Nachdenken Herodots zustande gekommen sein. Dasselbe gilt für die Rahmengeschichten der letzten drei Bücher, die in den Motiven eine so große Verwandtschaft mit dem Kroisoslogos aufweisen, aber auch z. B. für die Geschichten vom Emporkommen des Deiokes und des Kyros. Auf der andern Seite hat eine genauere Analyse gezeigt, daß Herodot doch auch hier nicht wie ein moderner Geschichtsphilosoph alles auf eine aus einer einheitlichen logisch konsequenten und in sich geschlossenen "Weltanschauung hervorgehende Auslegung des Geschehens hin ausgerichtet hat. Vielmehr sind einander widerstreitende, aus entgegengesetzten Weltauf466

fassungen, nämlich der optimistisch-solonischen der Tellosgeschichte und der pessimistisch-ionischen der Kleobis- und Bitongeschichte, entstammende Elemente in ihrer Verschiedenheit noch deutlich erkennbar geblieben, wenn auch der Gegensatz dadurch, daß sie beide dem Motiv der Unsicherheit des menschlichen Lebens überhaupt und der besonderen Gefährdung alles dessen, was allzusehr über das gewöhnliche Maß hinausreicht, untergeordnet sind, etwas verdeckt wird. Ähnliches läßt sich jedoch sogar an einer Reihe von denjenigen, sozusagen überschüssigen, Einzelgeschichten beobachten, die Herodot nicht in einen der großen zusammenhängenden Logoi eingefügt, sondern entweder, weil sie ihm der Erzählung wert schienen, aber dort nicht unterzubringen waren, oder um ihrer religiösen, metaphysischen oder menschlichen Bedeutsamkeit willen aufgenommen und dann manchmal recht gewaltsam und ohne enge Verbindung mit ihrer Umgebung an der einen oder andern Stelle eingefügt hat. Ganz besonders deutlich ist, wie sich gezeigt hat 56 , die Vereinigung widerstrebender Elemente verschiedenen Ursprungs bei der Geschichte von den Ratschlägen des Kroisos bei Gelegenheit des Massagetenfeldzuges des Kyros und die gewaltsame Einfügung in eine fremde Umgebung bei den Periandergeschichten57, die in die samische Geschichte eingefügt sind. Überall hat Herodot nicht um der logisdien Konsequenz und Widerspruchslosigkeit willen einen Teil des ihm von außen her zugekommenen Materials radikal ausgeschaltet, sondern zum mindesten Spuren der widerstreitenden Elemente bewahrt. Damit aber werden diese Geschichten durchweg zu einem höchst bedeutsamen Zeugnis nicht des Denkens Herodots allein, sondern der verschiedensten Gruppen von Menschen seiner Zeit. Sieht man die Dinge von dieser Seite her an, so erscheinen sie unter einem völlig verschiedenen Aspekt. Denn nun erscheinen die altägyptischen Geschichten, die Herodot zu einer Zeit aufgelesen hat, als er noch gar nicht daran dachte, zum Geschiditsschreiber zu werden, aber auch die Reflexionen der Xoyioi über den Ursprung des Konfliktes zwischen Orient und Okzident, die er zu Anfang beiseite schiebt, weil man über diese alten Dinge nichts Gewisses wissen kann, nicht minder als höchst interessante Produkte der Volksdiskussion - in Amerika würde man sagen: der Meinung der taxi philosophers — seiner Zeit als die Geschichten, die in den Kroisoslogos eingegangen sind oder die der Illustration der verschiedenen Seiten des eXED&EQia-Problemes dienen. Was anders betrachtet verschiedenen Stufen der Entwicklung kritischer und interpretatorischer Methoden anzugehören scheint, sinkt hier gewissermaßen auf ein und dieselbe Ebene zurück. 467

Hier zeigt sich der Widerstreit der Tendenzen, von dem nun schon öfter die Rede gewesen ist, und das Paradoxon der Entwicklung Herodots als Historiker, das sich daraus ergibt, noch einmal unter einem neuen, höchst interessanten Aspekt. Gerade in den Geschichten, in welchen sich - in den einfachen ebenso wie in den innerlich widerspruchsvollen - enthüllt, wie sich vergangenes Geschehen in den Köpfen der verschiedensten Menschengruppen seiner Zeit widerspiegelt, hat Herodot ein Bild von der geistigen Atmosphäre seiner Zeit gegeben, das in seiner Mannigfaltigkeit und Eindringlichkeit weit über das hinausgeht, was kritischere Historiker, ja was selbst Thukydides, in dieser Hinsicht zu bieten haben, obwohl die strenge Konzentration auf das politische Kräftespiel in gewisser Weise auch ein Ausdruck der gewandelten geistigen Atmosphäre der Zeit des Thukydides ist. Aber Herodot selbst war dessen nicht oder wenigstens nicht mit voller Bewußtheit gewahr. Er erzählt die Geschichte von Cheops, Chephren und Mykerinos nicht als naiven Reflex der Gedanken, die sich die armen, zu Frondiensten verpflichteten Fellachen über die großen Pyramidenbauer gemacht haben, oder die Geschichte von Paris, Helena und Menelaos in Ägypten als Resultat ägyptischer Bemühungen, der griechischen Geschichte vom bösen und fremdenfeindlichen ägyptischen König Busiris mit Hilfe der griechischen Legenden selbst ein Gegenbild entgegenzusetzen, sondern als das, was sich wirklich ereignet hat. Umgekehrt, wenn Herodot die Geschichten der Xoyioi über Anfänge und Ursprünge des Konfliktes zwischen Orient und Okzident beiseite schiebt, um sich dem zuzuwenden, was man wissen kann, scheint er nicht gewahr zu sein, daß diese Geschichten als naiver Ausdruck der Art, wie mit Mutterwitz begabte Repräsentanten des einfachen Volkes der verschiedenen Nationen sich mit den großen Ereignissen der Weltgeschichte auseinandersetzten und über Recht und Unrecht, vernünftiges und unvernünftiges Verhalten diskutierten, denselben Wert besaßen wie viele der Geschichten, die er als wirklich geschehen mitteilt und denen ebensowenig faktische Realität zukommt. Oder vielleicht hat er doch etwas davon geahnt und sie deshalb in sein Werk aufgenommen, obwohl sein erwachender, aber noch nicht zur Reife gekommener Sinn für das historisch Faktische ihn gleichzeitig dazu zwingt, sie beiseite zu schieben. Jedenfalls zeigt sich darin, daß er sie aufnahm, etwas von der Behutsamkeit, die ihn gleich zu Anfang seiner Laufbahn als Forscher und Schriftsteller so heftig gegen die geographischen Methoden des Hekataios protestieren läßt, weil sie ihm den Dingen Gewalt anzutun schienen, und ihn dann doch veranlaßt hat, sich hekataeischer Schemata zu bedienen, wo es, um der Dinge habhaft 468

zu werden, notwendig erschien. D i e trotz des erwachenden und zunehmenden Sinnes für das Reale und Faktische bis zuletzt bei ihm bleibende Unsicherheit darüber, w a s im einzelnen Faktum und w a s Widerspiegelung des Geschehens in den K ö p f e n verschiedener Gruppen seiner Zeitgenossen war, ist andererseits zweifellos die Ursache davon, daß in der Darstellung des Geschehens in verschiedenen Widerspiegelungen an sehr wichtigen Stellen große Lüdken bleiben, wie z. B. in der Darstellung der weltgeschichtlichen Ereignisse zur Zeit der 26. ägyptischen Dynastie, w o gegenüber der Sicht v o m Standpunkt der griechischen Siedler in Ä g y p t e n aus der Aspekt der großen internationalen Politik fast gar nicht oder nur ganz indirekt zur Geltung kommt. T r o t z d e m kann man in gewisser Weise sagen, daß darin, daß er so viel v o n diesen Aspekten bewahrt hat, seine Einzigartigkeit als Historiker liegt. A b e r auch dabei kann man sich nicht beruhigen. D e n n wenn Herodots G r ö ß e als Historiker in diesen Dingen gesehen wird, erscheinen die Grenzen zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung, die schon Herodots unmittelbarer Nachfolger T h u k y d i d e s so scharf zu ziehen versucht hat, auf eine gefährliche Weise wieder verwischt. W i e sich die Ereignisse einer Zeit in den K ö p f e n v o n Zeitgenossen oder Nachfahren gespiegelt haben, scheint auch in einer Dichtung, etwa einem Roman, geschildert werden zu können, die nicht Anspruch auf faktische Wahrheit erhebt. O d e r w o der Versuch in einem Geschiditswerk gemacht wird, sollen sie unzweideutig als solche Widerspiegelungen charakterisiert werden und nicht zu Fakten gemacht, wie dies bei H e r o d o t bis zuletzt so häufig geschieht. Macht man nun aber die Probe auf das Exempel, indem man fragt, w o in der historischen oder dichterischen Literatur v o n H e r o d o t bis auf die Gegenwart dies geleistet worden ist, so kommt man zu einem eigentümlichen Ergebnis, das vielleicht nidit nur in bezug auf Herodot, sondern in bezug auf das Grundproblem der Geschichtsschreibung Interesse besitzt. Im Altertum hat sich die Grenze zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung bald nach T h u k y d i d e s wieder verwischt, da die Geschichtsschreibung weithin die Funktion übernahm, die heute der bessere R o m a n übernommen hat: als gehobene Unterhaltungslektüre zu dienen 58 . Im A n f a n g des dritten Jahrhunderts v . C h r . k a m sogar - wahrscheinlich in Opposition zu der Meinung des Aristoteles, der die Dichtung als „philosophischer" über die Geschichtsschreibung gestellt hatte - die Forderung auf, daß die Geschichtsschreibung mit der Dichtung wetteifern müsse 59 . Diese Tendenzen haben naturgemäß zur Folge gehabt, daß romanhafte Elemente in die Geschichtsschreibung eindrangen oder gar den Sieg über 469

sie davontrugen. Der sogenannte Alexanderroman illustriert in den verschiedenen Phasen seiner Entstehung sehr gut die Etappen dieser Entwicklung. Aber auch die Räubergeschichten des angeblichen Xanthos, die von vielen fälschlich in das fünfte Jahrhundert datiert werden 60 , gehören hierher. Diese Romane jedoch entfernen sich rapide nicht nur von der objektiv faktischen, sondern auch von der subjektiv-geistigen "Wirklichkeit. Die Historiker auf der andern Seite, die am Anfang dieser Entwicklung stehen, wie Kallisthenes und Kleitarch, bleiben der faktischen Wirklichkeit weit näher als Herodot in den altägyptischen Geschichten, im Kroisoslogos, im Anfang der Geschichte des Xerxeszuges und selbst noch in manchem, was zu den Verhandlungen der Griechen in Vorbereitung der Abwehr des Persersturmes gehört. Zugleich versuchen sie, ein anschauliches und ein lebendiges, auch das spezifisch Menschliche erfassendes Bild der Ereignisse zu geben und „spannend" zu schreiben. Dabei wird zweifellos manches von der spezifischen Atmosphäre der Zeit, etwa des Verhältnisses verschiedener Gruppen, der vornehmen und der einfachen Makedonen, der im Heere Alexanders mitziehenden, der auf der Gegenseite kämpfenden, der um den Verlust der Freiheit ihrer Poleis trauernden Griechen, zu Alexander erfaßt. Aber nirgendwo findet sich bei ihnen etwas, was sich an Weite, an Intensität, an Lebendigkeit mit der Art vergleichen ließe, in der bei Herodot das historische Geschehen durch die Reflexionen verschiedener Gruppen von Menschen hindurch gesehen erscheint. Wenn man in der Antike nach etwas Herodot Analogem sucht, findet man es am ehesten noch in den Büchern des Livius, die die Zeit vom Anfang der Republik bis zum Galliersturm behandeln. Freilich wird Herodot durch Livius weder in Hinsicht der Mannigfaltigkeit der Aspekte noch an Lebendigkeit und Anschaulichkeit erreicht. Wie sich das Geschehen einer früheren Zeit in den Köpfen einer späteren widerspiegelt, ist hier vielmehr durch rein politische und staatsethische Auffassungen bestimmt. Zugleich ist die Verbindung der beiden Elemente bei Livius viel enger, ihre säuberliche Trennung daher unvergleichlich viel schwieriger als bei Herodot: so sehr, daß nicht nur bis auf den heutigen Tag die sehr weitgehend auf Livius angewiesenen modernen Darstellungen der Geschichte der frühen römischen Republik sehr weit voneinander abweichen hinsichtlich dessen, was sie als faktisch geschehen und was sie als Objektivierung späterer Vorstellungen betrachten, sondern daß man z. B. in der Cambridge Ancient History hintereinander zwei Kapitel finden kann 61 , in deren einem ausgeführt wird, daß es über die Zeit vor dem Gallierbrand keinerlei zuverlässige Überlieferungen gebe und was bei Livius darüber 470

steht, fast alles spätere Konstruktion sei, während in dem andern die Geschichte Roms in dieser Zeit im wesentlichen nach Livius erzählt wird, als ob das dort Berichtete faktisch geschehen sei. Aber so unbequem auch Livius für den Historiker sein mag, der seiner Fakten sicher sein will, so ist er doch gerade als Historiker ungeheuer interessant, eben weil er so viel von späteren Anschauungen der früheren Ereignisse bewahrt hat: nicht nur Anschauungen seiner eigenen Zeit, sondern verschiedener Phasen der Geschichte der Republik. Freilich sind bisher, soviel ich sehen kann, kaum Ansätze dazu gemacht, ihn in dieser Hinsicht voll auszuwerten, was bei der außerordentlichen Schwierigkeit der Aufgabe auch kaum verwunderlich ist. Aber das historische Grundproblem ist bei ihm dasselbe wie das, das sich bei Herodot in dem aufgewiesenen Widerstreit der beiden Elemente äußert, wenn dieser auch bei ihm, weil sie nicht so sichtbar auseinandertreten, weniger offenkundig ist. Bei den Römern findet man andererseits zuerst dichterische Darstellungen, die sich nicht wie die griechischen Epen oder dann später wieder das Nibelungenlied mit Dingen beschäftigen, die schon ganz zur reinen Sage geworden sind, sondern mit Ereignissen, die der Gegenwart noch nahe genug stehen, um auch eine kritische Feststellung von Fakten zu ermöglichen: das bellum Poenicum des Naevius, die Annalen des Ennius und Lucans Epos des Bürgerkriegs. Von den ersten beiden ist zu wenig erhalten, um eine Erörterung hier fruchtbar zu machen. Das Epos Lucans ist sehr interessant als Ausdruck der Art, wie die Ereignisse von einer wichtigen Gruppe von Menschen zur Zeit der claudischen Kaiser gesehen wurden, aber von dem Reichtum und der Eindringlichkeit Herodots ist nichts darin. Macht man von hier den Sprung in die neue und neueste Zeit, so stehen auf der einen Seite die historischen Romane, auf der andern Seite diejenigen Geschichtsdarstellungen, die nicht nur eine Darstellung der großen politischen Ereignisse, sondern auch der damit einhergehenden Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen und darüber hinaus der geistigen Strömungen einer Zeit zu geben versuchen. Die hervorragendsten Beispiele der ersten Gattung sind wohl Grimmelshausens Simplizissimus und Tolstois Krieg und Frieden. Von diesen gibt der Simplizissimus ein großartiges Bild des Lebens zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, das auch viel historisch Bedeutsames enthält. Aber die großen weltpolitischen Ereignisse der Zeit bleiben dabei so sehr im Hintergrund, daß es großer Anstrengung bedarf, sie auch nur in den gröbsten Umrissen daraus zu rekonstruieren. Bei Tolstoi umgekehrt ist die Bezie47i

hung der Romanerzählung zu den verschiedenen Phasen des napoleonisdien Krieges so eng, daß man auf weite Strecken selbst die persönlichen Erlebnisse der Romanfiguren nach einer genauen Kriegsgeschidite auf den Monat, ja oft selbst auf den Tag datieren könnte. Gleichzeitig ist der Versuch gemacht, eben diese großen geschichtlichen Ereignisse nicht vom Standpunkt der Regierungen, der politischen und militärischen Experten und der von diesen beeinflußten offiziellen Geschichtsschreibung, sondern vom Standpunkt des Soldaten und des „Volkes" aus zu sehen. Aber so großartig Tolstois Schilderung sowohl der großen Ereignisse als auch der Menschen und ihrer Schicksale ist, so bleibt die Interpretation der Ereignisse doch ziemlich eingleisig; und umgekehrt wie bei Herodot, der, auch wo die Zusammenfügung von Geschichten zu einem großen Ganzen das Resultat seines eigenen Nachdenkens ist, doch die verschiedenen Elemente volkstümlicher Spekulationen in ihrer Eigenart bewahrt, ist bei Tolstoi die Sicht der Ereignisse im ganzen mehr die eines Mannes, der das „Volk" verehrt und über die höheren Stände und die „Gebildeten" stellt, als die Sicht „des Volkes" selbst, das es ja auch als „das Volk" nicht gibt. Diese beiden Beispiele mögen zeigen, daß die Befreiung von der Verpflichtung zur faktischen Wahrheit das Problem nicht notwendig leichter macht. Die kritisch historischen und „wissenschaftlichen" Darstellungen auf der andern Seite haben mit zwei Schwierigkeiten zu kämpfen, die vollständig vielleicht überhaupt nicht zu überwinden sind. Das eine ist die Tatsache, daß die rein politische Geschichte einen anderen Rhythmus hat, als sie die Darstellung der geistigen Atmosphäre einer Zeit und ihrer Wandlungen und Abwandlungen haben kann 62 , weshalb eine Geschichtsdarstellung, die beides zu verbinden sucht, mit Notwendigkeit in Abschnitte verschiedenen Stiles, nicht nur verschiedenen Inhaltes, zerfallen wird. Bei Herodot manifestiert sich dies sehr deutlich in der Unterbrechung der Darstellung des Hauptgeschehens durch die „Geschichten", die bei ihm eine so bedeutsame Rolle spielen. Das zweite ist, daß eine indirekte Mitteilung oder Darstellung, wie das Geschehene von verschiedenen Menschengruppen aufgefaßt worden ist, ihrem Wesen nach kaum die Durchsichtigkeit und Lebendigkeit erreichen kann, die ihrer unmittelbaren Manifestation in der subjektiven Darstellung der Menschen selbst zu eigen sein kann, wie dies in Herodots Geschichten in so besonderem Maße der Fall ist. Das fundamentale Problem der Geschichtsschreibung überhaupt, das darin in Erscheinung tritt, läßt sich vielleicht am besten illustrieren an dem modernen Historiker, der einer Lösung der Schwierigkeit am nächsten gekommen ist: an Jacob Burckhardt. 4 7*

Jacob Burckhardt ist als Historiker berühmt geworden durch sein Werk über die Kultur der Renaissance in Italien. Dies ist auch heute noch als eine der großen Leistungen der Geschichtsschreibung anerkannt, gilt aber doch bei den Fachgenossen heute als etwas veraltet; das Gegenstück dazu, die teils nach nachgelassenen eigenen Niederschriften Burckhardts, teils nach Vorlesungsnachschriften herausgegebene Griechische Kulturgeschichte dagegen, ist schon bei ihrem ersten Erscheinen von den hervorragendsten Vertretern der klassischen Altertumswissenschaft mit scharfer Kritik empfangen worden: man habe dem Ansehen des großen Historikers durch die Veröffentlichung nicht gedient. Der Grund für diese scharfe Kritik war teilweise der, daß Burckhardt in seinem Alterswerk von den großen neuen materiellen und methodischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, der vollen Auswertung des dokumentarischen, inschriftlichen, numismatischen und archäologischen Materials für die Nachprüfung und Ergänzung des in der antiken Literatur Überlieferten, so gut wie keinen Gebrauch gemacht und sich weiter allein an die Literatur gehalten hatte, von der er freilich eine ungeheuer präsente Kenntnis bis in die letzten Winkel hinein besaß. Aber dieses Versäumnis war doch wohl nicht der einzige Anlaß zu dieser scharfen Kritik. Burckhardt, der unter anderem ein Schüler Rankes gewesen war, hat natürlich nicht Geschichten wie die Solon-Kroisos-Geschichte oder die Geschichten von der Ursache der Teilnahme der Korinther am Krieg gegen Polykrates oder selbst von den Verhandlungen der Festlandgriechen mit Gelon von Syrakus, die sich mit Sicherheit als faktisch unrichtig erweisen ließen oder deren Faktizität doch große Bedenken entgegenstanden, als faktisch geschehen erzählt, wie Herodot dies tut. Aber er hat aus der antiken Literatur doch viele Anekdoten in sein Werk aufgenommen und dabei ihre Faktizität offengelassen oder sie als Illustration dafür benutzt, „wie man voneinander redete" oder „wie man übereinander oder über gewisse Dinge urteilte", was alles bei ihm eine große Rolle spielt. Die Grenzen sind bei ihm nicht so scharf gezogen, wie es der moderne kritische Historiker verlangt. Aber dafür leuchtet bei ihm immer wieder etwas auf, was die Vorstellungen und Vorurteile einer Zeit, das typische Verhalten verschiedener Gruppen zueinander und vieles andere in einer Weise erhellt und durchsichtig macht, wie es in kritischeren Darstellungen kaum zu finden ist und in der gleichen Fülle und Intensität auch vielleicht auf andere Weise gar nicht gegeben werden kann. Der Gegensatz oder Widerstreit, der hierin zum Ausdruck kommt, läßt sich vielleicht auch charakterisieren durch zwei entgegengesetzte 473

Äußerungen von zwei Theoretikern der historischen Methode aus jüngster Zeit. Collingwood in seinem viel diskutierten Buch „The Idea of History" hat die Aufgabe des Historikers mit der eines Untersuchungsrichters verglichen, der nichts glauben dürfe und vielmehr durch Anwendung aller Mittel der indirekten Ermittlung auf Grund von materiellen Tatbeständen, aber auch durch Anlegen von Daumenschrauben bei den Zeugen die "Wahrheit an den T a g zu bringen suchen müsse 63 . Marrou hat darauf geantwortet 64 , es sei sowohl für den Historiker wie für den Untersuchungsrichter besser, den Zeugen keinen Zwang anzutun, sondern sie unbefangen reden zu lassen. Auch wenn sie lögen oder aus ungenauer Erinnerung etwas Unrichtiges sagten, werde man auf diese Weise mehr über den Gesamtaspekt des Falles in Erfahrung bringen, als wenn man von Anfang an mit übertriebenem Mißtrauen und Zwang verfahre. Es ist offensichtlich, daß beide Verfahren ihre Vorteile und ihre Nachteile haben. Wenn der Historiker oder Untersuchungsrichter der ersten Art einen exakten Tatbestand ermitteln zu können glaubt, wo der zweite etwas in der Schwebe läßt, so ist doch nicht gesagt, daß der erste nicht gerade durch seine gewaltsamen Methoden auch in bezug auf die rein materiellen Tatsachen gelegentlich in die Irre geht, wie sich dies nicht nur bei Justizirrtümern, sondern auch bei kritischen Historikern wie J . Beloch, so außerordentliche Verdienste dieser auch in vieler Hinsicht hat, nicht ganz selten beobachten läßt. Vor allem aber ist auch die „Wahrheit", die beide Arten von Historikern zu eruieren suchen, nicht ganz derselben Art. Es kann kein Zweifel daran sein, daß Irrtümer und falsche oder einseitige Auffassungen von und über historische Ereignisse ebenso wichtige historische Fakten sein können wie die Ereignisse selbst, ganz abgesehen davon, daß der Irrtum ein nur scheinbarer oder partieller sein und im letzteren Fall ein wichtiges Stück Einsicht mit einschließen kann. D a nun jedes historische Ereignis seinen Sinn und seine Bedeutung erst in dem Zusammenhang erhält, in dem es steht, so ist es durchaus möglich, daß der allzu scharfe Kritiker, der rücksichtslos alles eliminiert, was ihm als verdächtig oder als unbewiesen erscheint, im ganzen ein weniger richtiges Bild des Geschehens entwirft als der mildere Kritiker, der einen halben Irrtum eines historischen Zeugen hingehen läßt, ohne ihn als solchen zu bezeichnen. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten den richtigen Weg zu finden, ist nicht leicht. Um Irrtümer zu vermeiden, ist es jedoch vielleicht ratsam, noch einen anderen Aspekt des Problemes kurz zu betrachten. Jacob Burckhardt pflegte seinen Schülern zu sagen: „ Meine Herren, bewahren Sie sich den 474

Sinn f ü r das Interessante." D a s ist in vieler Hinsicht zweifellos ein gefährlicher R a t . Er kann, wenn er mißverstanden wird, leicht dazu verleiten, in das Journalistische und das Sensationelle abzugleiten, welches einem tieferen Verständnis des geschichtlichen Geschehens ganz und gar im "Wege steht. Aber gerade von dem Sensationellen in diesem Sinne sind nicht nur Herodot, sondern auch Burckhardt völlig frei, obwohl der letztere lange Zeit f ü r Zeitungen geschrieben hat, während schon in der hellenistischen Geschichtsschreibung die Sucht nach dem Sensationellen sich vielerorts sehr stark bemerkbar macht. D i e Fähigkeit, Sensationelles aufzufinden und auf sensationelle Weise darzustellen, war im Altertum wie in der neueren Zeit ziemlich verbreitet. Es ist keine sehr hohe und für den Historiker keine sehr wünschenswerte Fähigkeit. Die Fähigkeit, das im eigentlichen historischen Sinne Interessante zu sehen und in der Darstellung durchsichtig zu machen, ist sehr viel seltener. Herodot, ebenso wie J a c o b Burckhardt, hat einen untrüglichen Instinkt d a f ü r gehabt. D a s ist es, was ihn zum großen Historiker macht 65 . Denn trotz Burckhardts zuversichtlichem R a t an seine Schüler ist es zweifelhaft, wie weit sich dieser Sinn erwerben und zugleich vom Sensationellen rein erhalten und ob sich die dazugehörige Fähigkeit der Unterscheidung erlernen läßt. D a die radikale historische Kritik mit Zangen und Daumenschrauben, wie sie Collingwood verlangt, sehr viel leichter zu erlernen und zu handhaben ist als die behutsamere, da die durchleuchtende Darstellung des geistigen Fluidums einer Zeit aber die behutsamere Kritik verlangt und in dieser Darstellung Herodots höchste Begabung als Historiker lag, ist es nicht verwunderlich, daß bei ihm, der einer Zeit angehörte, in der die historische Kritik ihre ersten tastenden Schritte tat, die Dinge noch weit auseinanderklaffen. U m s o interessanter ist es, wie sich doch auch auf diesem Gebiete die Kritik fortschreitend in der Annäherung an das Reale geltend macht, so tastend und zum Teil fast unbewußt sie auch bleibt. D a ß es sich hier um ein der Geschichtsschreibung überhaupt inhärentes, möglicherweise niemals völlig zu lösendes Problem handelt, rechtfertigt vielleicht die vergleichende Betrachtung, die hier am Ende eingefügt worden ist. Ohne diese hätte sich das Problem und die besondere Form, die es bei Herodot annimmt, wohl kaum ganz deutlich machen lassen. Es wird sich aber auch in der folgenden Entwicklung, nur viel leiser und verborgener, immer wieder bemerkbar machen, vor allem bei den großen Historikern, auch bei Thukydides, obwohl dieser Herodot, weil er im Falle des Konflikts das historisch Interessante über die Sachkritik hat den Sieg davontragen lassen, so hart beurteilt hat. 475

Kapitel VI Hellanikos von Lesbos und seine Zeitgenossen Neue chronologische Methoden Die Entwicklung der griechischen Geschichtsschreibung, soweit sie sich bisher hat beobachten lassen, spielt sich deutlich auf verschiedenen Ebenen ab; und je höher die Ebene ist, desto weniger kann von einer geradlinigen Entwicklung, geschweige denn von einem geradlinigen Fortschritt die Rede sein. Herodots untrüglicher Instinkt für das gerade historisch Bedeutsame, selbst da, wo er zwischen einer für den Geist der Zeit sehr erhellenden Legende und faktischem Geschehen nicht zu unterscheiden vermag, ist etwas ganz Unnachahmliches und weitgehend Unerlernbares. Hier kann man von Entwicklung nur in dem Sinne reden, daß sidi im Verlauf der Entstehung des Werkes Herodots etwas entfaltet, was als Möglichkeit auch später bestanden hat und sich denn auch bei späteren Schriftstellern auf verschiedene "Weise und in verschiedenem Grade wieder entfaltet hat. Aber eine Entwicklung zu immer größerer Vollkommenheit von einem Schriftsteller zum anderen gibt es hier nicht. Auf der Ebene der historischen Kritik kann man eher von einer fortschreitenden Entwicklung sprechen. Aber geradlinig ist diese Entwicklung keineswegs. Hekataios von Milet begann mit einer rationalistischen Kritik, die ihm dazu dienen sollte, die Sage und Sagendichtung in Geschichte zu verwandeln, indem er das "Wunderbare und damit das Dichterische daraus entfernte. Die neuesten archäologischen Entdeckungen haben gezeigt, daß die griechische Sage tatsächlich in weit größerem Umfang, als man bis dahin geglaubt hatte, an historische Ereignisse und Zustände angeknüpft hat. Aber um diese historische "Wirklichkeit aus der Sage wieder herauszudestillieren, war die naiv rationalistische Kritik des Hekataios trotzdem inadäquat. Nach ihm hatten Demokies von Phygela und der Lyder Xanthos sowie anscheinend eine Reihe von anderen Autoren, deren Namen sich nicht mehr fassen lassen, eine andere Art der Sagenkritik entwickelt, die mit Hilfe von geologischen, ethnologischen und sprachlichen Beobachtungen die Sage teils zu bestätigen, teils die hin4 76

ter ihr liegende Wirklichkeit zu erfassen suchte. Obwohl auch diese Methoden noch kaum oder nur in ganz kleinem Umfang zu historisch haltbaren Ergebnissen führten, waren doch hier, wie übrigens in gewisser Weise auch bei Hekataios, Ansätze gegeben, die nur, vor allem mit Hilfe einer Verfeinerung der Instrumente der Kritik, weiterentwickelt zu werden brauchten, um zu besseren Ergebnissen zu führen. Herodots eigene Kritik hat sich dann zunächst aus der Revolte gegen das gewaltsame Verfahren des Hekataios in seiner Geographie der Erdoberfläche entwickelt. Diese hat ihn vor allem zu der Einsicht geführt, daß man behutsamer verfahren müsse, eine Behutsamkeit, die er dann von der Geographie, mit der er begann, auch auf die Geschichte übertragen hatte. Diese Behutsamkeit ist jedoch auch verbunden mit einem gewissen Schwanken und einer gewissen Unsicherheit eben auf dem Gebiet der historischen Kritik. Vor allem mangelt es ihm an sicheren Kriterien zur Unterscheidung zwischen dem, was als Faktum Teil des realen Geschehens ist, und dem, was als Interpretation des Geschehens in Form der bedeutsamen, aber nicht im faktischen Sinne wahren Anekdote von höchstem historischem Interesse ist. Das hat ihn veranlaßt, einerseits Dinge wegzulassen oder zwar mitzuteilen, aber als unwichtig und unzuverlässig beiseitezuschieben, die im zweiten Sinne durchaus historisch bedeutsam sein konnten, auf der andern Seite aber auch wieder im faktischen Sinne unzweifelhaft nicht wahre Anekdoten als faktisch wahr zu erzählen, ja ihnen gegenüber faktisch sehr viel wahrscheinlicheren Versionen den Vorzug zu geben, wo sich ihm ihre Bedeutsamkeit im zweiten Sinne besonders stark aufdrängte. Auf dieser Ebene vollzieht sich die Entwicklung also in der Form eines tastenden Versuches nach verschiedenen Richtungen hin, wobei die besondere Begabung und Neigung des einzelnen Autors jeweils eine entscheidende Rolle spielt. Aber eben auf diese Weise wird dann ein zwar gelegentlich unterbrochener, aber im Gesamtergebnis doch deutlich feststellbarer Fortschritt erzielt. Daneben und gewissermaßen darunter geht eine nicht völlig, aber doch überwiegend geradlinige Entwicklung der Sammlung, Ordnung, Systematisierung des durch eine scheinbare oder wirkliche Uberlieferung gebotenen Materials einher. Sie wird vor Herodot vor allem verkörpert durch Akusilaos von Argos und Pherekydes von Athen, bei denen von der rationalistischen Kritik des Hekataios an Mythos und Legende keine Spur zu finden ist, die aber die Ordnung und Systematisierung des durch die Sage gegebenen Materials weit über die von Hekataios gemachten Anfänge hinausgetrieben haben. Soweit auch bei ihnen Ansätze zu einer 477

Kritik der Überlieferung zu finden sind, beschränkt diese sich auf das, was aus den Unstimmigkeiten, welche der Versuch, die gesamte Sage in ein einheitliches genealogisch-chronologisches Schema zu pressen, mit sich bringt, unvermeidlich entspringt. "Wie eine genauere Analyse der chronologischen Methoden Herodots zeigt, müssen an dieser Entwicklung Autoren teilgenommen haben, die sich als Individuen nicht mehr fassen lassen, die aber dadurch bedeutsam sind, daß sie mit Hilfe der Fixierung der mittleren Länge einer Generation die1 rein genealogische „ Chronologie" ihrer Vorgänger in eine Chronologie nach Jahren oder Jahrzehnten zu verwandeln suchten. In dieser Entwicklung spielt auch Herodot eine bedeutende Rolle. Es läßt sich nicht mit unbedingter Sicherheit feststellen, ob er der erste gewesen ist, der in Zahlen umgewandelte Sagengenealogien mit aus orientalischen Quellen geschöpften Regierungszeiten von Königen zu einer einheitlichen Chronologie zu verbinden gesucht hat. Aber er hat sich jedenfalls orientalische und ägyptische Königsdaten zu verschaffen gesudit und mit ihrer Hilfe für die ihm näherliegende Zeit auch teilweise eine bemerkenswerte Genauigkeit oder doch Annäherung an eine korrekte Chronologie erreicht. Er hat für das im Zusammenhang der Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident wichtigste Ereignis diese aus orientalischägyptischer Tradition stammenden Daten durch die Angabe des attischen Archonten ergänzt und für die unmittelbar voranliegenden Jahre die Abfolge der Ereignisse nach Jahren und Jahreszeiten so bestimmt, daß es weitgehend für uns möglich wird, sie nach unserer Jahresrechnung genau zu datieren. Alles das bedeutet einen enormen Fortschritt über alles Frühere hinaus und brauchte nur weiter ausgebaut und vervollkommnet zu werden, um zur Grundlage einer exakten Chronologie zu dienen. Wenn diese Verdienste Herodots bis auf die jüngste Zeit weitgehend unerkannt geblieben sind, so wesentlich deshalb, weil Herodot sie selbst dadurch verdunkelt hat, daß er zwischen verschiedenen legitimen Anliegen des Historikers noch nicht überall den richtigen Ausgleich gefunden hat und deshalb das Bestreben, dem Ablauf nach Zusammengehöriges nicht aus rein chronologischen Gründen durch heterogene Dinge zu unterbrechen sowie das Bedürfnis, historisch bedeutsame Anekdoten mitzuteilen und dies in einer Form, in der das Bedeutsame an ihnen am eindrucksvollsten vor Augen gestellt werden konnte, den Sieg über die faktische Chronologie davontragen ließ. Es wird sich zeigen, wie sich seine Nachfolger mit den aus diesen verschiedenen Anliegen mit Notwendigkeit resultierenden Problemen und Schwierigkeiten auseinandergesetzt haben. 478

Zunächst jedoch ist die systematisierende und chronologische Ordnung des überlieferten Materials noch einmal, wie schon in einem früheren Stadium durch Akusilaos von Argos und Pherekydes von Athen, ungestört durch die „höheren" Anliegen der Geschichtsschreibung weitergetrieben worden: durch Hellanikos von Lesbos. Durch die weitgehende Vernachlässigung dieser Anliegen erscheint das Werk des Hellanikos gegenüber demjenigen des Herodot als archaisch, ebenso wie die Werke des Akusilaos und Pherekydes gegenüber dem ihnen zweifellos vorausliegenden Werk des Hekataios archaisch erscheinen. Die seit längerer Zeit fast allgemein angenommene Vermutung dürfte wohl richtig sein, daß dieser archaische Charakter seiner Werke die Ursache davon ist, daß in einem beträchtlichen Teil der antiken Überlieferung Hellanikos als älter, zum Teil sehr beträchtlich älter als Herodot und als dessen Vorgänger betrachtet wird. Denn die verschiedenen frühen Ansätze des Lebens und Werkes des Hellanikos weichen unter sich sehr beträchtlich voneinander ab 1 , so daß ihnen keine Autorität zugesprochen werden kann, die es als methodisch zulässig erscheinen ließe, zwei Fragmente, die unter seinem Namen zitiert werden2 und die, wenn sie echt sind, beweisen, daß Hellanikos an dem Werk, dem sie angehörten, noch nach der Schlacht bei den Arginusen bzw. nach dem Archontat des Antigenes, d. h. nach 406 geschrieben haben muß, allein aus chronologischen Gründen für unecht zu erklären bzw. einem anderen Historiker zuzuschreiben3. Dies gilt umso mehr, als auch sonst sehr vieles dafür spricht, daß zum mindesten ein großer Teil seiner schriftstellerischen Tätigkeit nach Herodot und etwa in die Zeit des Peloponnesischen Krieges zu setzen ist. Eine genauere, mit einiger Sicherheit zu begründende Bestimmung seiner Lebenszeit ist auf Grund des vorliegenden Materials kaum möglich. Es mag sein, daß Hellanikos ein wesentlich höheres Alter erreicht hat als Herodot und Thukydides 4 und daß sein Leben sich über den größten Teil der Lebenszeiten der beiden großen Historiker erstreckt hat sowie, daß ein Teil seiner frühesten Werke noch vor dem Tod des Herodot verfaßt worden ist. Aber daran, daß die für die Entwicklung der Geschichtsschreibung wichtigsten seiner Schriften nach Herodot veröffentlicht worden sind, ist nicht zu zweifeln. Daß Hellanikos im Gegensatz zu Herodot, der zwar mancherlei individuelle Vorträge gehalten, dann aber trotz der vielen Wandlungen, die er im Laufe seines Lebens durchmachte, alles in ein einziges Werk zusammengedrängt hatte, eine beträchtliche Anzahl verschiedener Bücher, nicht nur verschiedenen Inhalts, sondern auch verschiedenen Charakters, 479

verfaßt hat, ist ebenfalls nicht zu bezweifeln. Infolge der antiken Gepflogenheit, Abschnitte aus Büchern, die von einem speziellen Gegenstand handeln, unter einem diesen speziellen Gegenstand bezeichnenden Titel zu zitieren, der seiner Natur nach auch Titel eines ganzen Werkes sein könnte, ist es allerdings kaum möglich, Anzahl und Titel der Werke des Hellanikos mit Sicherheit festzustellen oder auch nur immer mit Gewißheit zu sagen, ob zwei unter verschiedenen Titeln zitierte Fragmente verschiedenen Werken oder verschiedenen Abschnitten desselben Werkes angehörten: vor allem in denjenigen Fällen, in welchen nur ganz wenige Fragmente unter demselben Titel zitiert werden. Immerhin heben sich einige Gruppen von Werken deutlich heraus, die sich nach Inhalt und Aufbau wesentlich voneinander unterscheiden. Die größte Zahl der erhaltenen Fragmente gehören zu einer Gruppe von Werken, welche offensichtlich die Bemühungen des Hekataios, vor allem aber desAkusilaos von Argos und des Pherekydes von Athen, um genealogische und chronologische Ordnung der Sagenüberlieferung fortsetzen. Sie tragen in der Überlieferung die Titel Phoronis, Asopis, Atlantis, Deukalioneia und Troika. Die Tatsache, daß ein besonderes Werk Troika, das nach Ausweis der erhaltenen Fragmente auch die Nosten mitenthielt, von den übrigen genealogischen Werken abgesetzt wird, ebenso wie die Tatsache, daß Phoroneus an die Spitze der einen und vielleicht ältesten Menschengenealogie gestellt ist, weist deutlich auf eine gewisse Anknüpfung an Akusilaos von Argos hin, bei dem Phoroneus als Stammvater des Menschengeschlechtes überhaupt erschien und bei dem, zwar nicht in einer besonderen Schrift, aber am Ende seines umfassenden genealogischen Werkes, die verschiedenen Genealogien im Trojanischen Krieg zusammengebracht und dann noch bis in die Periode der Nostoi fortgesetzt wurden. Vielleicht ist Jacoby durch diese unbezweifelbare Beziehung des Hellanikos zu Akusilaos mit veranlaßt worden, einen Auszug aus einer orphischen Theologie, welcher von Damascius, der ihn mitteilt, auf einen nicht mit Sicherheit identifizierbaren Hieronymus und einen ebenfalls nicht näher identifizierten Hellanikos zurückgeführt wird, an die Spitze der Phoronis zu stellen5. Aber die Annahme, daß die späteren genealogischen Werke, weil sie in manchem an Akusilaos anschließen, ihm auch überall im Anordnungsschema folgen müßten, hat sich schon bei Pherekydes als irrtümlich erwiesen. Die unter dem Namen eines Hellanikos, aber ohne nähere Herkunftsbezeichnung überlieferte Theologie ist orphisch und allegorisch und damit ganz anderer Art als diejenige, die bei Akusilaos am Anfang steht; und orphische Tendenzen sind bei Hellanikos sonst 480

nirgends zu beobachten6. Es ist sogar zum mindesten äußerst ungewiß, ob Hellanikos dem Akusilaos darin folgte, daß er Phoroneus wie dieser zum Stammvater des Menschengeschlechts überhaupt machte und mit Deukalion und Pyrrha ein neues Menschengeschlecht nach der Sintflut darauf folgen ließ, wodurch die Deukalioneia in der chronologischen Ordnung hinter die Phoronis rücken würde 7 . Die Bestimmung der Stellung des Hellanikos innerhalb der Entwicklung der antiken Geschichtsschreibung kann nicht von mehr oder minder plausiblen Vermutungen und Rekonstruktionen ausgehen, sondern muß sich auf das stützen, was sich aus den erhaltenen Fragmenten mit einiger Sicherheit entnehmen läßt. Während bei Akusilaos die prominente Stellung, die der argivische Lokalheros Phoroneus und, als Grundlage für die Sagengenealogie, das verhältnismäßig späte argivische Epos Phoronis 8 bekommt, offenbar durch lokalpatriotische und z. T . wahrscheinlich sogar politische Motive bestimmt ist®, müssen bei Hellanikos, der zu Argos ja keine besonderen persönlichen Beziehungen hatte, andere Gründe maßgebend sein, dem Phoroneus und seiner Nachkommenschaft ein eigenes zweibändiges Werk zu widmen. Abgesehen davon, daß er dabei an schon von Akusilaos Gegebenes anknüpfen konnte, scheinen dies etwa die folgenden gewesen zu sein: i. daß das Epos Phoronis besonders reich an genealogischem Material gewesen zu sein scheint; z. daß Phoroneus, wie ja auch in seinem Namen angedeutet ist, auch als Kulturbringer erschien und er daher mit dem Entstehen der menschlichen Kultur in Verbindung gebracht werden 10 konnte, 3. vielleicht auch schon, daß das Heraheiligtum in Argos, das Akusilaos mit Phoroneus bzw. mit dessen Nachkommenschaft in Verbindung gebracht hatte, durch die Namen der Priesterinnen die Möglichkeit zu bieten schien, die genealogische Chronologie etwas genauer zu gestalten, obwohl sidi keinerlei Anzeichen dafür finden, daß Hellanikos in der Phoronis den Versuch gemacht hätte, die Priesterinnen zur Aufstellung einer Jahreschronologie zu benutzen 11 . V o n Akusilaos hat Hellanikos dann auch die Einordnung des von den Arkadern als Stammvater des Menschengeschlechtes betrachteten Pelasgos in die Genealogie des Phoroneus übernommen und ihn in dieser vielleicht noch an einer späteren Stelle eingereiht als dies Akusilaos getan hatte 12 . Die ausdrücklich mit Titel- und Namensangabe aus den fünf genealogisch-mythographischen Werken des Hellanikos erhaltenen Fragmente sind im Verhältnis zum Umfang der "Werke selbst nicht sehr zahlreich und inhaltsreich. D a Hellanikos im späteren Altertum einen sehr großen Einfluß ausgeübt hat und vor allem von Dionys von Halikarnass in 481

dessen römischer Archäologie und in der unter Apollodors Namen gehenden mythologischen Bibliothek sowie von Pausanias benützt worden ist, ist es eine lockende Aufgabe, den Versuch einer möglichst weitgehenden Rekonstruktion auf Grund einer Vergleichung dieser Werke untereinander und mit den namentlich bezeugten Fragmenten zu unternehmen 13 . Da sich jedoch auch immer wieder Abweichungen finden, bleibt dabei ein sehr beträchtlicher Unsicherheitsfaktor. Immerhin läßt sich über den Aufbau Folgendes erkennen: Die Phoronis behandelte im ersten Buch die Abstammung der Pelasger von Pelasgos und ihre historischen bzw. sagenhistorischen Schicksale sowie den thebanischen Sagenkreis, da der Stammvater des thebanischen Herrschergeschlechtes, Kadmos, von Agenor, dem Nachkommen des Phoroneus, hergeleitet wurde, im zweiten Buch die Heraklessage, da Herakles' Mutter Alkmene und ihr Vater Elektryon in einer langen Ahnenreihe zu den Nachkommen des Iasos, Bruders des Agenor, gerechnet wurden 14 . Die Deukalioneia gab über Hellen, den Sohn des Deukalion, und dessen Söhne Aiolos und Doros sowie seine Enkel Achaios und Ion die Abstammung der griechischen Stämme und vieler Herrschergeschlechter15. Die Atlantis oder Atlantias und die Asopis, von der sich am wenigsten erhalten hat, bildeten eine Ergänzung dazu: die Atlantis durch die Atlastöchter, die sieben Hyaden, von denen nach Hellanikos sechs mit Göttern Nachkommenschaft hatten, darunter eine einen Gott, Hermes, die anderen Sterbliche, die dann wieder Stammväter von Stämmen und großen Geschlechtern werden, nur eine mit einem Sterblichen, Sisyphos 16 , von dem ebenfalls eine reiche Nachkommenschaft abgeleitet wird, die Asopis durch die Töchter des Asopos, von denen Rhode mit Helios, Aigina mit Poseidon eine zahlreiche Nachkommenschaft hat 17 . Mit Hilfe dieser vierfachen Ableitung gelang es Hellanikos, sozusagen das ganze Personal der griechischen Sage, wie es in den verschiedenen epischen Dichtungen zu finden war, in ein großes genealogisches System einzuordnen. Zwischen den genealogischen Strängen wurden mancherlei synchronistische Beziehungen hergestellt und in den Troika die verschiedenen Stränge in der Generation des Trojanischen Krieges zusammengebracht. Um in der überlieferten Sage einander widersprechende und unvereinbare Synchronismen oder gelegentlich sonst voneinander abweichende Versionen der Sage miteinander vereinbaren zu können, hat Hellanikos vielfach Gestalten der Sage einfach verdoppelt, indem er Heroen des gleichen Namens an verschiedene Stellen seiner Stammbäume einsetzte und auch viele Figuren einsetzt, von denen sonst nirgends etwas überlie482

fert ist, wobei es dahingestellt bleiben muß, ob er diese Gestalten einfach erfunden oder sie sich aus irgendwelchen mündlichen und lokalen Überlieferungen zusammengesucht und dann mehr oder weniger willkürlich eingesetzt hat. Besonders charakteristisch für sein systematisierendes, keine Lücken in der genealogischen Ordnung duldendes Verfahren ist es, daß er die in den Epen nur als Göttersöhne vorkommenden Heroen überall auch mit Müttern versehen zu haben scheint18. Gegenüber den nach allen Seiten hin ausgebauten Genealogien scheinen die Sagenerzählungen bei Hellanikos stark zurückgetreten zu sein. Hübsche Geschichten, wie sie sich unter den Fragmenten des Akusilaos finden, haben sich aus seinen Werken nicht erhalten. "Wo er erzählt, hat sich die rationalistische Kritik nach Art des Hekataios - im Gegensatz zu Akusilaos und Pherekydes - vollständig durchgesetzt: so sehr, daß Hellanikos nicht mehr wie Hekataios die wunderbare Geschichte erzählt und dann angibt, was seiner Meinung nach an nüchternen Fakten dahintersteckt, sondern er erzählt von Anfang an alles ins Nüchterne umgesetzt19. Wo etwa bei Homer in der Ilias der Kampf des Achilleus mit dem Fluß Skamander geschildert wird und der Flußgott bald in Menschengestalt erscheint, so daß Achilleus mit ihm reden und sich mit ihm auseinandersetzen kann, bald wieder als Naturgewalt 20 , wird bei Hellanikos ganz nüchtern berichtet21, wie der Fluß durch Regengüsse anschwoll und alle tiefer gelegenen Orte und Vertiefungen mit seinem Wasser ausfüllte, und wie nun die anderen sich auf höher gelegene Orte zu retten versuchten, Achilleus aber sich an einer in der Ebene wachsenden Ulme festhielt und sich an ihr hochzog. Ebenso wird die Einnahme von Ilion und das Entkommen des Äneas in der allgemeinen Verwirrung ganz nüchtern geschildert, als ob es sich um ein kriegerisches Ereignis aus der Zeit des Hellanikos handelte. Zu dem Wunderbaren, das Hellanikos aus seiner Erzählung ausmerzt, gehören dagegen nicht die Begegnungen und Beziehungen von Menschen und Göttern, wie ja auch seine Menschengenealogien überall an göttliche oder halbgöttliche Ahnen anknüpfen. Aber ein kleines Stück rationalistischer, man möchte fast sagen, theologisch-rationalistischer Kritik ist dodi auch hier gelegentlich zu entdecken. So wenn Hellanikos die Geschichte vom Bau der Mauer von Ilion durch Poseidon und Apollon unter Laomedon erzählt und hinzufügt 22 , die Götter hätten dem Laomedon in Menschengestalt gedient, nicht weil Zeus es ihnen auferlegt hatte, sondern weil sie den Laomedon „versuchen" wollten, ob er ihnen den vereinbarten Sold zahlen werde oder nicht. Daneben findet man die Kritik 483

in Form der Entscheidung zwischen zwei abweichenden Versionen derselben Sage. So, wenn Hellanikos behauptete23, Polyneikes sei nicht von Eteokles mit Gewalt aus Theben vertrieben worden, sondern Eteokles habe seinem Bruder die Wahl gestellt, ob er die Königsherrschaft in Theben übernehmen oder den (wertvolleren?) Teil24 der Schätze erhalten und in einer anderen Stadt sich ansiedeln wollte. Hier wird der Grund der Abweichung von der ersten Version, die Pherekydes erzählt hatte, nicht angegeben und ist auch nicht ohne weiteres ersichtlich. Doch ist das Ganze interessant angesichts der verschiedenen Sagenversionen, die bei den Tragikern vorkommen, wie denn auch das Euripidesscholion, das die Stelle zitiert25, hinzufügt, Euripides habe sich beider Versionen bedient, zuerst der des Pherekydes und dann der des Hellanikos. Tatsächlich ist es nicht wahrscheinlich, daß die Deukalioneia, der das Fragment dem Zusammenhang nach angehören muß, später ist als die Phönissen des Euripides. Das Verhältnis war also wohl das, welches das Sdiolion annimmt. Aber die Version des Pherekydes ließ den Eteokles als den bösen Bruder erscheinen; und da Hellanikos die Etymologien liebte, ist es wahrscheinlich, daß seine Version oder die Bevorzugung dieser Version den Grund hat, daß damit der ursprüngliche Sinn der Namen der beiden Brüder „der wahrhaft (oder: mit Recht) Berühmte" und der „Vielhassende" oder „Vielstreitende" wiederhergestellt wurde, da nun Polyneikes eindeutig Unrecht hat, da er es ist, der die Wahl hatte und sich an den geschlossenen Vertrag nicht hält. Äschylus, der in seinen „Sieben gegen Theben" die Vergangenheit im Dunkeln läßt, um Eteokles als den guten unter den beiden Brüdern beibehalten zu können26, hat wahrscheinlich die Version des Hellanikos noch nicht gekannt. Da ist es ganz interessant zu sehen, wie Hellanikos' Pseudohistorie der Sagenzeit auf die große Literatur eingewirkt hat. Die überwiegende Mehrzahl der „Etymologien" des Hellanikos sind die überaus zahlreichen Ableitungen der Namen von Volksstämmen, Städten und Ländern von dem Namen eines Heros Eponymos, der als Stammvater oder als Gründer oder als Besiedler erscheinen kann 27 , wie der König Sikelos als Namengeber von Sizilien28 und ähnliches. Dies sind freilich im modernen Sinne keine eigentlichen Etymologien. Für Hellanikos dagegen unterschieden sie sich der Art nach, wie er sie verwendet, offenbar nicht von Etymologien wie der Ableitung des Namens von Italien von einem Kalb, das dem Herakles entsprungen war, als er die Herde des Geryoneus nach Hause zu treiben versuchte29, oder der Erklärung des Namens des Pelias30 davon, daß er als Kind von dem Tritt 484

eines Pferdes ein blaues Auge bekam (ejtEXicbdr] comp fj chjng). Die erste der beiden zuletzt genannten Etymologien ist für das Verfahren des Hellanikos nicht ganz uninteressant. Die Art rationalistischer Kritik, die Hekataios getrieben hatte, der Geryoneus am Meerbusen von Ambrakia lokalisierte, weil die Griechen der ältesten Zeit eben geglaubt hätten, da sei die Welt zu Ende, ist aufgegeben. Die Ableitung des Namens von Italien von dem lateinischen Wort „vitulus" ist älter als Hellanikos 31 . Nun wird sie von diesem dazu benützt, die Legenden, die Herakles mit Italien und Sizilien in Verbindung brachten, zu bekräftigen, indem erzählt wird, Herakles hätte durch ganz Italien hindurch und dann, da das Kalb nach Sizilien hinübergeschwommen war, in Sizilien nach dem Kalb gefragt, das von den Einwohnern in ihrer Sprache als „vitulus" bezeichnet wurde. Danach hätte er die ganze Gegend, durch die er auf dieser Suche gekommen sei, Vitalien genannt, wobei natürlich vorausgesetzt ist, daß Herakles die Herde des Geryoneus viel weiter im Westen, wahrscheinlidx in Spanien, weggetrieben hatte und nur durch das entsprungene Kalb zu dem Abstecher nach Italien veranlaßt worden ist. Nicht sehr viel anders ist die Methode, mit welcher Hellanikos das Pelasgerproblem und das Etruskerproblem auf einmal zu lösen versuchte. Einen genealogischen Zusammenhang zwischen den Stammvätern gewisser italischer Stämme und Pelasgos, dem Stammvater der Pelasger, hatte schon Pherekydes hergestellt 32 . Herodot hatte bei der Suche nach Spuren der aus Attika vertriebenen Pelasger feststellen zu können geglaubt, daß die Pelasger eine nichtgriechische Sprache gesprochen hatten und daß versprengte Teile des Volkes in der Nähe von Tyrsenern ( = Etruskern) angesiedelt waren 33 . Bei Hellanikos 34 ist daraus Folgendes geworden: Der Stammvater der Pelasger, Pelasgos, der Sohn des Triopas (oder Agenor?), ist verdoppelt, um den Ausgleich der Genealogien herbeiführen zu können. Der zweite Pelasgos ist König der Pelasger und wandert mit seinem Volke nach Thessalien aus. Dann wird seine Deszendenz aufgezählt bis zu einem König Nanas. Unter diesem werden die Pelasger von den von Hellen, dem Sohn des Deukalion, abstammenden Hellenen vertrieben und wandern zu Schiff über das adriatische Meer nach der Po-Mündung aus, wo sie am südlichen Mündungsarm mit dem Namen Spines ihre Schiffe verlassen. Darauf wenden sie sich dem Inland zu, nehmen die Stadt Kroton (Cortona) 35 ein und besiedeln von dort aus allmählich Etrurien 36 . Vergleicht man dies mit den früheren Ansätzen, so ist sehr deutlich: es ist alles eine sehr oberflächliche Kombinatorik. Selbst die rationalistische Kritik des Hekataios, so inadäquat sie ist als

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Versuch, Sage in Geschichte zu verwandeln, ist sehr viel geistreicher. Von den von Demokies von Phygela und dem Lyder Xanthos zuerst gebrauchten, von Herodot übernommenen Methoden, aus geologischen oder sprachlichen Erscheinungen Schlüsse zu ziehen, ist in den erhaltenen Fragmenten der "Werke des Hellanikos keine Spur zu finden, wenn man nicht phantastische Etymologien wie die Ableitung des Namens des Pelias von dem blauen Auge, das er durch einen Huftritt erhalten hatte, oder die Ableitung von Länder- und Städtenamen von dem Namen eines in die Genealogien eingeordneten Gründers mit wirklichen sprachlichen Beobachtungen in eine Reihe stellen will. Auch erscheint es als für Hellanikos charakteristisch, daß er das Unglaublichste, wie die Geschichte, Herakles sei mit seiner ganzen Herde durch die volle Länge der italischen Halbinsel und sogar bis nach Sizilien hinüber dem einen entsprungenen Kalb nachgegangen, in Kauf nimmt, wenn dadurch eine Verbindung zwischen weit auseinanderliegenden Legenden hergestellt und eine Etymologie gewonnen werden kann, vorausgesetzt, daß nur kein Wunder im engeren Sinne geschieht37. Natürlich fehlte Hellanikos völlig die Einsicht, zu welcher Herodot im Laufe seiner historischen Forschungen gekommen war 38 : daß man, wenn man eine einigermaßen zutreffende Kunde von dem Geschehen der Vergangenheit geben wolle, nicht zu früh anfangen dürfe. Statt dessen ist er in dem Versuch, die bei den Griechen infolge ihres historischen Schicksals so besonders fühlbare Lücke zwischen der Sagenzeit und der Zeit, über die es eine Art historisch brauchbarer Uberlieferung gab, auszufüllen, bedeutend über seine Vorgänger Akusilaos und Pherekydes hinausgegangen. Denn das früher erwähnte Pelasgerfragment stellt offenbar einen Versuch dar, nicht nur die Genealogie hervorragender Persönlichkeiten an die Sagengenealogie anzuknüpfen, sondern auch historische Völkerbewegungen damit in Verbindung zu bringen. Wieweit Hellanikos darin in seinen genealogisch-mythographischen Werken gegangen ist, ist ungewiß, da das Pelasgerfragment das einzige erhaltene mit Sicherheit einem solchen Werk angehörige Fragment solchen Inhalts ist. Doch sind derartige Bemühungen von ihm offenbar fortgesetzt worden in seinen geographisch-ethnographischen Werken. In gewisser Weise kann man sagen und ist oft gesagt worden, daß Hellanikos die doppelten wissenschaftlichen Bemühungen des Hekataios fortsetzte, der sich ebenfalls in gleichem Umfange auf dem Gebiet der historischen oder pseudohistorischen Genealogie und demjenigen der Geographie betätigt hatte. Aber das ist doch nur sehr cum grano salis 486

richtig. Die üeQiriYnaig Tfjg des Hekataios war ein durch und durch geographisches Werk, das die ganze Erdoberfläche zu umfassen versuchte und in welchem Hekataios, wie sich gezeigt hat, wirklich die Grundlage für eine zweidimensionale Topographie der Erdoberfläche für alle Zukunft gelegt hat39. Dabei ging er naturgemäß von der Gesamtgestalt der Erdoberfläche aus, von da zu deren größten Unterteilungen, den Kontinenten, dann zu deren Unterteilungen, den Sitzen der Völker, wobei dann die besonders gut bekannten Küstenlinien eine besonders wichtige Rolle spielten, aber keineswegs wie bei den älteren Periploi allein alles bestimmten, endlich zu den Städten, deren Lage er möglichst genau zu bestimmen suchte. Das Unternehmen des Hellanikos unterscheidet sich davon schon dadurch, daß er vielmehr von den Völkern und Stämmen seinen Ausgang nimmt, die er in getrennten Werken behandelt. Auch ist das Verhältnis dieser geographisch-ethnographischen Werke zu den (sagen-)geschichtlichen sehr viel enger als bei Hekataios; so sehr, daß man in vielen Fällen im Zweifel sein kann, ob durch den Titel eines Zitats ein Absdinitt in einem der sagengeschichtlichen Werke gemeint ist, in welchem auf eine längere Strecke von der Sagengeschichte eines bestimmten Volksstammes die Rede war, wie ja die Sagengeschichte der Pelasger in der Phoronis, wie sich gezeigt hat, eine bedeutende Rolle spielte, oder ein eigenes Werk über einen Volksstamm als solchen40. Auf jeden Fall ist deutlich, daß die geographisch-ethnographischen Werke eine Art Ergänzung zu den sagengeschichtlichen darstellten, nur daß in ihnen eine vorwiegend räumliche Anordnung an die Stelle einer vornehmlich genealogischen trat. Innerhalb der geographisch-ethnographischen Werke unterscheiden sich wieder diejenigen, welche griechische Stämme oder Landschaften zum Gegenstand haben, und diejenigen, welche von fremden Völkern handeln, in ihrem Charakter deutlich voneinander. Die von Griechen handelnden stehen offenbar der Sagengeschichte näher. Was aus den Argolika zitiert wird, steht in so unmittelbarer Beziehung zur Phoronis, daß es jeder Herausgeber ohne Zögern der Phoronis zuteilen würde, wenn es nicht unter der Angabe £v 'ApvoXixois überliefert wäre 41 . Ähnliches gilt in nur etwas geringerem Maße von den Boiotika und JIEQI 'Agxaöia; im Verhältnis zur Phoronis und von den Thettalika im Verhältnis zur Deukalioneia. Die Fragmente aus den Aiolika lassen, so spärlich sie sind, eher erkennen, wodurch sich die geographisch-ethnographischen Werke von den sagengeschichtlich-genealogischen unterschieden haben mögen. Die meisten davon betreffen einfach die Namensformen und die Gründungen von Städten 42 . Aber ein Zitat des ersten Buches der Aiolika 43 487

besagt, daß Hellanikos die Auswanderung des Orestes in die Aiolis darin erzählt habe. Das läßt sich aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem dem Zitat bei Tzetzes vorangehenden Bericht eines Lykophronscholiasten44 über die Sage selbst ergänzen. Danadi erhielt Orest nach der Ermordung des Aigisth ein Orakel, das ihm befahl, eine Kolonie zu gründen. Er habe Männer verschiedenster Herkunft gesammelt, die, weil sie so bunt zusammengewürfelt waren (von dem "Wort aioXog „glitzernd", „buntscheckig"), Aioleis genannt worden seien. Mit diesen sei er nach Lesbos gegangen, aber gestorben, bevor er eine Stadt hatte gründen können. Aber ein Nachkomme von ihm mit dem Namen Gras sei Herrscher von Lesbos geworden und habe daselbst auch eine Stadt gegründet. Das ist ganz in der Art des Hellanikos, der die etymologischen Ableitungen von Städte- und Völkernamen liebte. Die Geschichte von der Auswanderung und dem Tod in Lesbos steht im Widerspruch mit der Legende des Mutterlandes, die den Orest, wie es ja auch dem Sinn der Sage entspricht, lange in Argos regieren und in Argos oder Arkadien sterben läßt. Die Sage von der Koloniegründung ist zweifellos entstanden auf Grund der Ansprüche lesbischer Adelsgeschlechter, von den großen Geschlechtern des Mutterlandes abzustammen, ist also lokalen Ursprungs. Da zeigt sich also, wenn die von dem Lykophronscholiasten berichtete Geschichte von Hellanikos stammt, daß in den ethnographischen Werken die große Sage der Dichtung durch Stücke der Lokalsage ergänzt worden ist. Das könnte auch bei den Argolika, Thettalika, Boiotika usw. der Fall gewesen sein, wenn auch der Trennungsstrich nicht zu scharf gezogen werden darf, da auch die sagengeschichtlichen Werke Dinge enthalten haben, die kaum aus der Dichtung stammen können und daher wahrscheinlich ebenfalls zum Teil auf lokale Tradition zurückgeführt werden müssen. Ein weiterer unterscheidender Zug der ethnographischen Werke scheint es gewesen zu sein, daß die Bestimmung und etymologische Ableitung der Völker-, Orts- und Städtenamen darin noch eine viel größere Rolle spielte als in den sagengeschichtlichen, obwohl in diesen derartiges auch vorkam. Im übrigen knüpfte Hellanikos damit wahrscheinlich auch an die ältesten lokalgeschichtlichen Werke an, in denen das mythologische Element ja auch eine starke Rolle spielte45. Etwas besser erkennbar sind diejenigen „ethnographischen" Werke, welche von „barbarischen" Völkern handelten. Die Persika knüpften wie die ethnographischen Werke über griechische Stämme an die griechische Sagengeschichte an46: die Perser hätten ursprünglich Kephenes geheißen, nach Kepheus, dem Vater der Andromeda, und seien in Babylonien 488

ansässig gewesen. Nach dem Tode des Kepheus seien sie nach Artaia ausgewandert. Dieses Land habe Perses, der Sohn des Perseus und der Andromeda, mit Siedlungen versehen47, und davon hätte das Volk der Perser seinen Namen erhalten. Hier war die Verbindung der Perser mit den Kephenen und mit den beiden griechischen Sagengestalten Kepheus und Perseus, wie eine Parallelstelle bei Herodot zeigt, älter als Hellanikos. Aber es ist charakteristisch für Hellanikos, daß er, während Herodot die mythische Herkunft der Perser nur bei Gelegenheit der Aufzählung der im persischen Heere kämpfenden Völker ganz nebenbei erwähnt48, diese an den Anfang seiner Persika gestellt hat und zu dem Namen Artaioi, den Herodot ganz richtig als ein Appellativum verstanden hat49, nach dem Schema der Zusammengehörigkeit von Land- und Völkernamen eine Landschaft Artaie hinzuerfunden hat, die sonst gänzlich unbekannt ist. Doch hat Hellanikos auch Elemente der orientalischen Legende in seine Urgeschichte der Perser aufgenommen, wie seine Erwähnung einer mythischen Atossa, Tochter des Ariaspes, zeigt, die zuerst Hosen getragen, Eunuchen eingeführt und ihre Anordnungen schriftlich gegeben habe, wobei offenbar persische und assyrische Dinge miteinander vermischt sind50. Auf der andern Seite hat Hellanikos die persische Geschichte über Kambyses und seinen Bruder Smerdis, den er Merphis nannte 51 , bis zu den Perserkriegen hinabgeführt. Doch lassen sich Einzelheiten weiter nicht erkennen. Dieselbe Reichweite von einer mythischen Vorzeit bis in historische Zeit und dieselbe Methode ziemlich willkürlicher Kombinationen in der Verbindung griechischer und orientalischer Mythologie und Sage zeigen die erhaltenen Fragmente der Aigyptiaka 52 . Doch spielt in ihnen das ethnographische Element und lokale Traditionen eine etwas größere Rolle 53 als in den Persika, was auf Zufall beruhen mag. Neben den AlywTiaxa scheint es noch eine Reise zum Ammonsorakel (elg "A^ixcovo; avaßaai;)54 von Hellanikos gegeben zu haben, deren Echtheit jedoch schon im Altertum, unbekannt aus welchen Gründen, angezweifelt wurde. Von den Skythika 55 und den "Werken über Lydien und Kypern - wenn es selbständige Werke waren 56 - ist zu wenig erhalten, um sich ein Bild davon zu machen. Der Zweifei an der Selbständigkeit dieser Werke ergibt sich, abgesehen von der Seltenheit ihrer Erwähnung und der Spärlichkeit der Fragmente, daraus, daß das Systembedürfnis des Hellanikos ihn veranlaßt zu haben scheint, nicht nur seine sagengeschichtlichen genealogischen Werke durch solche zu ergänzen, die sich vornehmlich auf lokale Tradi489

tionen stützten, sondern auch neben die Werke über einzelne Stämme und Völker noch zusammenfassendere Werke zu stellen. Genannt werden ein Werk „über Begründungen von Völkern und Städten" 57 , „über Völker" 58 , „über die Namen von Völkern" 59 und „über barbarische Gebräuche"60 oder Gebräuche barbarischer (nichtgriechischer) Völker. Manche dieser Titel, wie vor allem der Titel „über Völker" und der Titel „Bezeichnungen von Völkern" (eftvwv övojiacriai) bezeichnen wahrscheinlich dasselbe Werk; und man kann die Frage aufwerfen, ob die Kypriaka und das Werk über Lydien, die jeweils nur einmal erwähnt werden, nicht einfach Stücke des Werkes über Begründungen von Städten und Völkern gewesen sind. Daß das letztere ein selbständiges Werk gewesen ist, darf man wohl daraus schließen, daß ohne Angabe des Werkes, aus dem sie stammen, Bemerkungen des Hellanikos über Städtenamen und Gründungen zitiert werden, die nicht in den Schriften über spezielle Landschaften oder Stämme vorgekommen sein können, deren Titel zitiert werden 61 . Aus ähnlichen Gründen ist wohl anzunehmen, daß die Nomina Barbarika ein selbständiges Werk gewesen sind62. In allen bis hierher behandelten Werken des Hellanikos zeigt sich dasselbe Streben nach der Sammlung unendlichen Materials und seiner Einreihung in ein großes System, wobei, wenn diese Einreihung Schwierigkeit macht, die Dinge nach ziemlich platten Schematismen in Ordnung gebracht und Lücken mit Hilfe ähnlicher Schematismen ausgefüllt werden. Wenn Jacoby meinte63, Hellanikos sei wenigstens in einer Hinsicht mehr Historiker gewesen als Herodot, indem er nämlich die Lücke zwischen der Sagenzeit und der historischen Zeit auszufüllen versucht habe, so kann man das für diesen Punkt zugeben, wenn ein solches Unternehmen, auf die Weise des Hellanikos durchgeführt, einen Schriftsteller zum Historiker macht. Aber von den Ansätzen zu historischer Kritik, die bei Herodot zu finden sind, findet sich bei ihm keine Spur, geschweige denn von Herodots großartigem Sinn für das historisch Bedeutsame und für eine historische Atmosphäre. Selbst die fortgeschritteneren Methoden historischen Erschließens, die schon Herodots Vorgänger erfunden hatten, sind bei Hellanikos, wo er von ihnen Gebrauch zu machen versucht hat, ins Platte umgewandelt. Trotzdem hat Hellanikos, wie es scheint, in der zweiten Periode seiner Tätigkeit einen ganz grundlegenden Beitrag zu aller künftigen Geschichtsschreibung gemacht: durch die Einführung neuer chronologischer Methoden in seinen aller Wahrscheinlichkeit nach letzten drei Werken, den 'Iepeiai64, den Karneoniken 65 und der sogenannten Atthis66 oder 490

wie sie von Thukydides 67 genannt wird. Von diesen Werken steht das zuletzt genannte seinem Titel .und weitgehend auch seinem Inhalt nach den Werken der vorhergehenden Periode am nächsten, insofern es offensichtlich in gewisser Weise zu den geographisch-ethnographischen Werken gehört, mit deren Hilfe Hellanikos die Sagengeschichte durch lokale Traditionen zu ergänzen suchte. Es handelt weitgehend in derselben Art von attischer Sagengeschichte und Geschichte wie die Boiotiaka von boeotischer oder die Lesbiaka von lesbischer. Doch scheint es der chronologischen Reihenfolge nach von allen Werken des Hellanikos am spätesten verfaßt oder jedenfalls abgeschlossen worden zu sein, so daß es zweckmäßig erscheint, es auch erst nach den aller Wahrscheinlichkeit nach früher verfaßten 'Iepeiai zu behandeln, zumal da es in gewisser Weise eine Art Ergänzung dazu gebildet zu haben scheint.

' A T T I X T ) AUWEACPRI,

Bei der Diskussion der chronologischen Methoden Herodots konnten die Angaben Herodots vielfach mit Hilfe orientalischer Dokumente, vor allem der assyrischen Rekhsannalen und ägyptischer Aufzeichnungen nachgeprüft und des öfteren korrigiert werden, weil diese nach Regierungsjahren von Königen, gelegentlich auch nach eponymen Beamten datieren und deshalb viel genauer sind als Herodot, der, wo ihm aus solchen orientalischen Quellen abgeleitete Daten fehlen, sich so vager Berechnungen wie derjenigen auf Grund einer Generationenrechnung bedienen muß. In seinen Hiereiai hat nun Hellanikos sich offenbar ein den orientalischen Regierungsjahren analoges chronologisches Instrument auf Grund griechischer Überlieferung zu schaffen versucht, und zwar durch Aufreihung der gesamten griechischen Geschichte an den „Regierungsjahren" der Oberpriesterinnen der Hera an dem berühmten Tempel der Hera in Argos. Aber wie in der Geschichte der griechischen Geschichtsschreibung schon mehrfach zu beobachten gewesen war, so war es auch hier zunächst weitgehend ein Versuch mit untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt. Niemand kann mit einiger Sicherheit sagen, wie weit authentische Aufzeichnungen über die Namen und die „Regierungszeit" der Priesterinnen in Argos zurückgegangen sein mögen. Zweifellos waren sie für das fünfte und wahrscheinlich für einen großen Teil des sechsten Jahrhunderts v. Chr. authentisch. Aber ebenso zweifellos ist, daß sie nicht bis tief in die Sagenzeit, bis lange vor den Trojanischen Krieg und den Beginn der heute Linear B genannten Schrift zurückgegangen sein können. Das chronologisch am weitesten zurückgreifende erhaltene Einzelfragment 68 der Hiereiai bezieht sich auf Makedon, den Stammvater und 491

Eponym der Makedonen, der als Sohn des Aiolos bezeichnet wird und damit als Urenkel des Deukalion erscheint. Das ist also den Uranfängen noch sehr nahe; und doch wird da schon die Existenz von Herapriesterinnen in Argos und eine Tradition über ihre Namen und Regierungsdauer vorausgesetzt. Noch bezeichnender für den Charakter des Gesamtwerkes ist es wohl, daß aus dem zweiten Buch einige längere Fragmente erhalten sind, welche ausdrücklich diesem Buche zugeschrieben werden und sich auf Ereignisse beziehen, für welche Name und Jahreszahl der Regierung der Herapriesterin angegeben werden und die zugleich in die dritte Generation vor dem Trojanischen Krieg verlegt werden69. Dies zeigt, daß das erste Budi, aus dem sidi, wenn man von der Erwähnung des Makedon absieht, gar nichts erhalten hat, was sich mit bestimmten Ereignissen in Beziehung setzen läßt, angefüllt gewesen sein muß mit Datierungen von Ereignissen und Personen, die nicht einmal der historischen Sage im engeren Sinne angehören, sondern teilweise ihrem Ursprung nach zeitlos mythisch waren, teilweise aber, wie die Eponymen der Stämme, leere Abstraktionen. Das ist für die Beurteilung des Verfahrens des Hellanikos nicht ganz ohne Bedeutung. Es ist nicht unmöglich, daß ihm eine bis auf uralte Zeiten zurückgehende fiktive Liste der Priesterinnen vorgelegen hat und daß er diese gläubig annahm. Aber es ist ganz und gar unwahrscheinlich, daß eine solche Liste, außer etwa in wenigen Einzelfällen, die sich auf speziell argivische Sage bezogen, schon Beziehungen zu pseudohistorischen Ereignissen hergestellt haben sollte. Dann kann Hellanikos, wenn er seine Datierungen nicht völlig willkürlich erfand, was seinem Verfahren in den genealogischen Werken durchaus widersprechen würde, nur so verfahren sein, daß er den Abstand der Ereignisse voneinander zunächst mit Hülfe einer in Jahre umgesetzten Generationenrechnung zu bestimmen suchte und dann auf seiner Liste der Priesterinnen nachsah, auf die Regierung welcher Priesterin sie etwa zu fallen kämen und weldie genauere Datierung sich etwa noch durch genaue Beobachtung der Reihenfolge der Ereignisse herausrechnen ließe. Daß Hellanikos tatsächlich etwa in dieser Weise verfahren sein muß, wird ziemlich weitgehend durch die ausführlicheren aus dem zweiten Buche erhaltenen Fragmente bestätigt. Denn in dem umfangreichsten Fragment aus diesem Buche sagt70 Hellanikos, die Sikuler seien in der dritten Generation vor dem Trojanischen Krieg im 28. Jahr der Oberpriesterschaft der Alkyone in Argos aus Italien nach Sizilien ausgewandert. Fünf Jahre vorher aber seien schon die Elymer, die von den Oinotrern aus ihren Wohnsitzen in Italien vertrieben wurden, nach Sizilien über492

gesetzt. Hier hat man also auf das deutlichste sowohl die Verbindung der Generationenrechnung mit dem Versuch der Datierung nach Priesterinnenjahren als auch den Versuch, innerhalb der Generation zu einer genaueren Jahresdatierung zu gelangen mit Hilfe einer Bestimmung der Reihenfolge der Ereignisse und ihres Abstandes voneinander 71 . Daß Hellanikos andererseits diese „exakt rechnende" pseudowissenschaftliche Methode ganz ohne Rücksicht auf etwa noch bestehende, wenn auch unexakte lokale Erinnerungen und Überlieferungen handhabte, zeigt ein anderes Fragment 72 , das den Versuch macht, die Gründung Roms zu datieren. D a heißt es, Aeneas sei aus dem Gebiet der Molosser, also aus Epirus, nach Italien übergesetzt und habe dort dann mit Odysseus zusammen die Stadt gegründet, welcher er nach einer der Trojanerinnen, die mit ihm gekommen seien, den Namen Rome gegeben habe. D a hatte Hellanikos also die Geschichte von dem Zusammenhang von Rom mit den Trojanern und speziell mit Aeneas, welche in neuester Zeit auf Grund der verschiedensten Indizien als sehr alt erwiesen werden konnte 73 . Das war für ihn offensichtlich eine gewissermaßen objektive, d. h. von außen gegebene Überlieferung. Auf Grund dieser hat er dann einfach Aeneas auf dem nächsten "Weg über Epirus nadi Mittelitalien gelangen und dort Rom gründen lassen, ohne sich die Mühe zu machen, nachzuforschen, ob es daselbst nicht genauere lokale Überlieferungen gäbe, wie sie tatsächlich zu seiner Zeit zweifellos schon bestanden: Geschichten, die bekanntlich von dem Gründer Roms sehr interessante, wenn auch legendäre Dinge zu erzählen wußten und vor allem die Gründung selbst sehr viel später ansetzten. So ist auch Hellanikos' Erklärung der Herkunft des Namens der Stadt Rom die nächstliegende und platteste Erfindung, die sidi denken läßt. Vergleicht man nun dieses chronologische Verfahren des Hellanikos mit demjenigen Herodots, so findet man zunächst eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit darin, daß auch Herodot Generationenrechnung und Regierungsdaten kombiniert hat und dabei nicht nur gelegentlich zu von der historischen Wirklichkeit mehr oder minder stark abweichenden Ergebnissen gelangt, sondern an einigen Stellen sogar auf ein überhaupt außerhalb der historischen Wirklichkeit gelegenes Gebiet gerät. Trotzdem ist der Unterschied zwischen Hellanikos und Herodot in dieser Hinsicht sehr groß. Die stärkste Abweichung von der historischen Wirklichkeit bei Herodot findet sich in dem Abschnitt über altägyptische Geschichte und in der Herleitung der orientalischen Chronologien einschließlich der ägyptischen von Herakles. Aber die altägyptische Chronologie Herodots steht, 493

wie sich gezeigt hat, eigentlidi außerhalb der chronologischen Bemühungen Herodots. Er hat nur Dinge, die er vor der Entwicklung seines eigentlich historischen Interesses bei Gelegenheit seiner ägyptischen Reise aufgelesen hatte, nachträglich, so gut es ohne neue Nachforschungen gehen wollte, in ein zu anderen Zwecken geschaffenes chronologisches System eingefügt. Die Herakleschronologie andererseits bildet allerdings die Grundlage seines chronologischen Systems überhaupt. Aber es ist doch nur ein ganz verschwindend kleiner Teil dieser Chronologie, der sich außerhalb des geschichtlichen Zeitraumes überhaupt bewegt. Im übrigen hat Herodot die Generationenrechnung dazu benützt, da, wo ihm nicht alle Daten einer chronologischen Reihe zur Verfügung standen, die so entstehenden Lücken so gut als möglich auszufüllen, indem er die Summe der aus orientalischen Quellen abgeleiteten, abgesehen von einigen kleineren Ungenauigkeiten oder Irrtümern, im großen und ganzen richtigen Regierungszeiten von der sich aus der Generationenredinung ergebenden Summe für die Gesamtregierungszeit einer Reihe von Königen abzog. Dabei kam er zu Resultaten, die zwar naturgemäß von der historischen "Wirklichkeit mehr oder minder beträchtlich, aber doch im allgemeinen nicht mehr als um ein paar Dekaden abwichen. Audi wurde er sich, wie sich gezeigt hat 74 , zunehmend bewußt, daß man bei den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zu früh anfangen dürfe, wenn man zu einigermaßen zuverlässigen Ergebnissen gelangen wollte. Demgegenüber hat Hellanikos sidi die Mühe gemacht, in zwei ganzen Büchern und vielleicht noch mehr75 mit möglichst exakten „wissenschaftlichen" Methoden eine Chronologie auszurechnen, die sich teilweise auf überhaupt außerhalb der realen Geschichte stehende mythisdie oder sagenhafte Ereignisse bezog, teilweise zwar wirkliche historische Ereignisse, wie z. B. die Gründung Roms, zu datieren versuchte, aber nichtsdestoweniger als Chronologie überhaupt keine reale Basis hatte. Trotzdem muß Hellanikos der Ruhm zugestanden werden, als erster den "Wert eines chronologischen Hilfsmittels erkannt zu haben, das die folgenden Vorteile hatte: i. daß es nicht wie die jeweiligen orientalischen Königslisten an ein bestimmtes Land gebunden war, sondern von Anfang an für beliebige Ereignisse irgendwo in der Welt benutzt wurde 76 ; z. daß es erlaubte, einzelne Jahre genau zu bestimmen, ohne daß dodi wie bei der Benützung von Eponymenlisten jedes einzelne Jahr seinen eigenen Namen hatte, was das Abzählen sehr erschwerte, und ohne daß die in solchen Listen unvermeidlich auftretenden Lücken die Abzahlung unsicher maditen, mit andern Worten, daß man jeweils über größere Strecken ein494

fach mit Zahlen zu tun hatte; 3. daß man nicht, wie Herodot, einen Fixpunkt zunächst mit elg E|ie bestimmen mußte, um von da aus dann zählen zu können, sondern von einem beliebigen Zeitpunkt aus auf der Liste einfach zurückzählen konnte, um den Abstand eines Ereignisses von der jeweiligen Gegenwart oder auch zweier Ereignisse voneinander zu bestimmen. Dabei ist der höchst kuriose Sachverhalt doch der, daß der zuerst angeführte und für eine etwaige allgemeine zukünftige Verwendung überwältigende Vorteil dieses Hilfsmittels es zugleich für den bei weitem größten Teil des Gebietes, für welches Hellanikos es verwendete, völlig unbrauchbar machte und seine Verwendbarkeit für den kleinen verbleibenden Rest sehr eng beschränkte. Denn wenn man beschloß, von nun an alle zukünftigen Ereignisse sofort nadi Herapriesterinnenjahren zu datieren, so war das neue Hilfsmittel - solange man nicht darauf verfiel, eine Ära im strikten Sinne einzuführen — allen andern und in jedem Fall den bisher gebrauchten Mitteln bei weitem überlegen. Auf die Vergangenheit angewendet, konnte es dagegen im damaligen Zeitpunkt nur in bezug auf die allerjüngste Vergangenheit exakte Datierungen liefern. Denn selbst wenn man annimmt, daß die Liste der Priesterinnen und ihrer „Regierungsjahre" bis sehr weit zurück, etwa bis ins siebte oder achte Jahrhundert v. Chr., völlig authentisdi war, was natürlich ganz ungewiß ist, konnte dies doch nur dann zu exakten Datierungen auf der damit gegebenen Skala führen, wenn entweder ein Regierungsjahr einer Priesterin unmittelbar mit einem zu datierenden Ereignis in Verbindung gesetzt werden konnte, was vermutlich nur in ganz wenigen Fällen der Fall gewesen ist, oder der Abstand eines Ereignisses von einem zeitlich naheliegenden Regierungsjahr oder der unmittelbaren Gegenwart sich mit anderen Mitteln exakt bestimmen ließ. Die daraus resultierende Unsicherheit von Datierungen nach Herapriesterinnenjahren, nicht nur für weit zurückliegende Zeiten, sondern selbst für Ereignisse, die nicht mehr als hundert Jahre vor Hellanikos geschehen waren, wird sich noch im einzelnen aufweisen lassen77. Auf der andern Seite beweist gerade diese Schwierigkeit, die Hellanikos bei seinem Bemühen, alles in dieses chronologische System zu bringen, nicht völlig entgangen sein kann, doch auch wieder, daß sich Hellanikos des Vorteiles seines neuen Hilfsmittels für eine leicht übersichtliche Chronologie bewußt gewesen sein muß. Ist nun der Nachteil der 'Iegeiai-Chronologie für die Rekonstruktion der Vergangenheit der, daß zuwenig überlieferte Beziehungen zwischen Hiereiai-Daten und geschichtlichen Ereignissen bestanden und die übrigen Hilfsmittel für die Rekonstruktion der Jahresfolge der Ereignisse, sobald 495

man etwas weiter zurückging, zu unvollkommen waren, um für ältere Zeiten eine exakte Projektion auf die neuere bequemere Zeitskala zu ermöglichen, so hat Hellanikos — wie es scheint, ebenfalls in der zweiten Hälfte seiner Tätigkeit - noch ein zweites Hilfsmittel der Datierung gefunden, das, wenn auch für ein beschränktes Gebiet, gerade den Vorteil bot, daß hier eine unmittelbare Verbindung zwischen konkreten Ereignissen und historischen Personen mit einer abzählbaren Jahresfolge gegeben war. In seinen Karneonikai, von denen es eine Prosafassung und eine Fassung in Versen gegeben zu haben scheint78, scheint Hellanikos den Versuch gemacht zu haben, im Anschluß an eine Liste der Sieger an den musischen "Wertkämpfen an dem Karneenfest in Sparta, eine Art Geschichte der griechischen Musik und lyrischen Dichtung zu geben. Leider ist aus dem "Werk so wenig erhalten und ist auch die sonstige Uberlieferung über diese musischen "Wertkämpfe so überaus spärlich, daß man sich von Charakter und "Wert des "Werkes kaum eine Vorstellung machen kann. Eines der erhaltenen Fragmente besagt, daß Terpander der erste gewesen sei, der bei diesen "Wertkämpfen den Sieg davongetragen habe79. "Wenn eine spätere Notiz, welche die erste Einsetzung der "Wertkämpfe und damit den Sieg des Terpander auf die 26. Olympiade datiert, richtig ist, wäre damit ein wertvolles festes Datum für diesen Dichter gewonnen. Leider läßt sich jedoch nicht einmal mit voller Sicherheit feststellen, ob solche musischen "Wertkämpfe jedes Jahr oder nur alle fünf Jahre, wenn das Fest mit besonderer Pracht gefeiert wurde, stattfanden, ob der Brauch sich in dieser Hinsicht im Lauf der Zeit geändert hat, und wie die dem Hellanikos zugängliche Liste ausgesehen hat, bzw. ob und inwieweit sie vollständig gewesen ist. So läßt sich auch über "Wert und Brauchbarkeit dieses neuen Hilfsmittels in concreto wenig Sicheres sagen. Immerhin zeigt eines der wenigen Fragmente80, daß Hellanikos nicht nur die Siege bzw. Sieger zu datieren suchte, sondern auch wichtige Neuerfindungen auf diese "Weise in den Zeitablauf einzuordnen bestrebt war. Vor allem aber gilt auch hier wieder, daß Hellanikos unzweifelhaft die prinzipielle Bedeutung solcher Listen für chronologische Zwecke als erster erkannt hat, gleichgültig, ob die spezielle von ihm benützte Liste besonders zuverlässig war oder nicht. Das zeitlich aller "Wahrscheinlichkeit nach späteste der von Hellanikos verfaßten "Werke dieser Art ist die sogenannte Atthis oder ' A T T I X T ) ovvyeaqjii81. Hier ist offensichtlich, daß dieses "Werk von der bisherigen Entwicklung aus und von Hellanikos selbst her gesehen eben das letzte Produkt seiner Bestrebungen ist, den geschichtlichen Ablauf nach ver496

schiedenen Landschaften geordnet zu rekonstruieren, wobei zuletzt immer mehr auch das Bestreben, mit Hilfe besonderer Mittel möglichst genau nach Jahren zu datieren, in den Vordergrund trat. Zugleich ist jedodi Hellanikos durch dieses Werk zum Begründer einer neuen Art von geschichtlichen Werken geworden, die im Laufe des vierten Jahrhunderts eine große Anzahl von Vertretern gefunden hat und vor allem auch deshalb von großer Bedeutung geworden ist, weil Aristoteles einen großen Teil seiner Angaben über athenische Verfassungsgeschichte in seiner 'Afbivaicov notaxeta aus dieser Literatur geschöpft hat. Nach Auffindung dieses aristotelischen Werkes hatte U. von Wilamowitz die Annahme zu begründen versucht82, es habe in Athen mindestens seit dem sechsten Jahrhundert eine Art offizieller Chronik gegeben, welche den Atthidographen, von denen, wie er glaubte, viele das Amt eines offiziellen Exegeten bekleideten, zugänglich war, so daß ihre Mitteilungen, die dann von Aristoteles weitgehend übernommen wurden, eine besondere Zuverlässigkeit besessen hätten. Diese Meinung ist von Jacoby als unrichtig erwiesen worden 83 . Trotzdem - oder kann man vielleidit sagen: umso mehr - ist es notwendig, das Verhältnis des Hellanikos zu der späteren Atthidographie etwas genauer zu bestimmen. Hier ist zunächst von grundlegender Bedeutung, daß die Gesamtschriftstellerei des Hellanikos sidi von der Gesamtschriftstellerei der späteren Atthidographen gänzlich unterscheidet. Wie die bis hierher gegebene Überschau ergeben hat, war das Bestreben des Hellanikos von Anfang an auf eine systematische Rekonstruktion sozusagen der gesamten Vergangenheit gerichtet, wobei nur die Fülle des Stoffes einerseits, die Notwendigkeit, lokale Traditionen zu benützen, andererseits dazu zwang, die Geschichte der Vergangenheit von einem gewissen Zeitpunkt an nach Landschaften aufzuteilen. Daß Hellanikos im Verlauf dieser Bestrebungen dazu gekommen ist, auch ein Spezialwerk über Athen bzw. Attika zu schreiben, ist bei der politischen Bedeutung Athens in seiner Zeit und der besonderen Fülle an Material über jüngere Geschichte, das dort gewonnen werden konnte, alles andere als verwunderlich. Wenn die Atthis in gewisser Weise sein „fortgeschrittenstes" Werk geworden ist, so lag dies eben daran, daß es, soweit sich feststellen läßt, das letzte Werk ist, das er geschrieben hat. Der zeitliche Abstand zwischen der Abfassung dieses letzten Werkes des Hellanikos und der ersten späteren Atthis, derjenigen des Kleidemos, beträgt ein halbes Jahrhundert. Alle späteren Atthidographen im engeren Sinne bis auf Philochoros waren Athener. Keiner von ihnen hat ein historisches Werk außer seiner Atthis geschrieben, obwohl die meisten von 497

ihnen über andere Gegenstände geschrieben haben, Kleidemos z. B. über Amt und Aufgaben der Exegetcn84, der Bewahrer und Ausleger des (bis dahin) nicht codiiizierten religiösen Rechts, Androtion ein Georgikon und über Opfer*5, Phanodemos 'Ixicixd84, ein Werk unbekannten Inhalts über Dinge, die mit der Insel Ikos zu tun hatten, Melanthios über die Eleusinisdien Mysterien87, Demon über Opfer und Sprichwörter 88 und Philochoros89 über Mantik und ebenfalls über Opfer. Dies alles bedeutet gewiß nicht, daß kein sehr enger Zusammenhang zwischen Hellanikos und der späteren Atthidographie bestünde oder diese nicht in hohem Grade von Hellanikos abhängig wäre. Aber es bedeutet doch einen sehr beträchtlichen Unterschied; und es ist notwendig, diesen Unterschied zu bestimmen, gerade um feststellen zu können, was in der allgemeinen atthidographischen Tradition aller Wahrscheinlichkeit nach auf Hellanikos zurückgeht, auch wo es nicht ausdrücklidi unter seinem Namen zitiert wird. Schon die oben angeführten Titel der nichthistorischen Werke einiger späterer Atthidographen zeigen, daß viele von ihnen ein starkes Interesse an religiösen Dingen gehabt haben. Tatsächlich enthalten denn auch die Atthides dieser Autoren sehr viel Material über alte religiöse und halbreligiöse Gebräuche und Einrichtungen. Androtion auf der anderen Seite war ein sehr aktiver Politiker, der in den innerpolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit in Athen eine beträchtliche Rolle spielte, was wiederum in den Fragmenten seiner Atthis zum Ausdruck kommt. Bei allen tritt ein sehr starkes lokalgeschichtliches und teilweise lokalpolitisches Interesse von innen her hervor, wie es nur der eingeborene Bürger eines Landes haben kann. Davon ist naturgemäß bei dem Lesbier Hellanikos, dessen Interesse an athenischer Lokalgeschichte von außen und von der allgemeinen Geschichte herkommt, nichts zu finden, was natürlich nicht ausschließt, daß gelegentlich spezielle Interessen zusammentreffen, wie wenn Demon ein eigenes Buch über Sprichwörter geschrieben hat, für die sich, wie sich schon früher gezeigt hatte, auch Hellanikos in historischen Zusammenhängen interessierte. Aufs deutlichste geht aber aus den verschiedenen Ausgangspunkten des Hellanikos und der späteren Atthidographen hervor, daß der chronologische Rahmen der Atthidographen überhaupt von dem Systematiker und Chronologen Hellanikos geschaffen worden ist, zumal da die Theorie von U. von Wilamowitz, wonach die Chronologie der Atthidographen auf einer offiziellen Chronik beruht hätte, zu welcher nur die attischen Exegeten, zu denen der erste attische Atthidograph Kleidemos gehörte, Zutritt hatten, sich als unrichtig erwiesen hat. Das 498

ist, wie sich zeigen wird, für die Beurteilung des Werkes des Hellanikos wichtig. Denn obwohl von der Atthis des Hellanikos etwas mehr erhalten ist als von den Hiereiai und sich einiges von den hier von ihm gebrauchten Methoden oder Hilfsmitteln teils unmittelbar erkennen, teils erschließen läßt, so bleiben doch starke Lücken, die nur dann einigermaßen ausgefüllt werden können, wenn man die übrige atthidographische Überlieferung mit heranzieht. Leider läßt sich der Umfang des Werkes, d. h. die Anzahl der Bücher, die es umfaßte, nicht mit voller Sicherheit bestimmen. Aber selbst wenn das Werk nur aus zwei Büchern bestand, was wahrscheinlich ist, kann man dodi sagen, daß aller Wahrscheinlichkeit nach das, was man die historische Zeit nennen kann, darin proportional einen größeren Teil einnahm als in den Hiereiai 90 . Zum mindesten ist mehr daraus erhalten. Was nun die Sagenzeit angeht, so scheint ihre Behandlung in der Atthis sich methodisch nicht wesentlich von ihrer Behandlung in den Hiereiai unterschieden zu haben. Das gilt in dem Grade, daß es bei einem Fragment, welches die großen Gerichtsverhandlungen zum Gegenstand hat, welche in der Sagenzeit vor dem Areopag stattgefunden haben sollten, zweifelhaft erscheinen kann, ob es aus den Hiereiai oder aus der Atthis stammt 91 . Als chronologisch verwendbare Skala kam nun natürlich die Reihe der attischen Könige hinzu. Namen von attischen Königen gab es in der lokalen Uberlieferung, wie die mit ihnen verbundenen Legenden zeigen, in bedeutender Anzahl. Aber es gibt kein Anzeichen dafür, daß sie schon in einer festen Aufeinanderfolge fixiert waren. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß Hellanikos sich diese Liste für seinen Gebrauch selbst zurechtgemacht hat, wobei er neben einer Generationenrechnung sehr wohl Angaben der lokalen Uberlieferung über die kürzere oder längere Dauer der Regierung einzelner Könige verwendet haben mag, wie er ja auch in den Hiereiai mutatis mutandis ähnlich verfahren ist. Jedenfalls ist überall das Bestreben erkennbar, zu möglichst genauen Zahlenangaben zu gelangen, wie wenn er feststellt92, Theseus sei fünfzig Jahre alt gewesen, als er die Helena geraubt habe, diese aber erst sieben Jahre; oder wenn in einem Fragment, dessen Zuweisung an ein bestimmtes Werk des Hellanikos ungewiß ist93, die Einnahme Trojas nicht nur nach attischen Königen datiert, sondern auch auf den Monatstag genau angegeben wird 94 . Aber das alles ist natürlich, auf die Sagenzeit angewendet, wenn dabei wirkliche Geschichte erzeugt werden soll, ein Versuch am untauglichen Objekt. Dasselbe gilt von den in einigen Fragmenten auftretenden 499

Versuchen, zwischen verschiedenen Versionen einer Sage kritisch zu wählen. Sehr viel interessanter und wichtiger für die Beurteilung des Hellanikos als Historiker ist daher, was sich aus seiner Atthis an Fragmenten für die „historische Zeit" erhalten hat, und da, wie sich gezeigt hat, die Chronologie bei ihm eine so entscheidende Rolle spielt, wie er hier in dieser Hinsicht chronologisch verfahren ist. Hier finden sich nun zwei Fragmente95, welche Ereignisse aus einem der letzten Jahre des Peloponnesischen Krieges nach dem Archon des Jahres datieren, und in dem einen der Fragmente findet sich der ausdrückliche Zusatz, Hellanikos habe das Ereignis berichtet bei der Gelegenheit einer Darstellung der unter diesem Archon vorgefallenen Dinge96. Es liegt nahe, daraus zu schließen97, daß Hellanikos die Ereignisse der historischen Zeit, möglicherweise von dem Beginn des einjährigen Archontats in Athen an, annalistisch unter Angabe des jeweiligen Archons geschildert hat. Diese Annahme wird durch die folgenden Tatsachen gestützt: i. Bei Gelegenheit der Datierung des Nikiasfriedens, der i. J . 421 v. Chr. geschlossen wurde, wendet sich Thukydides98 gegen die Methode, Ereignisse einfach nach Archontenjahren zu datieren, weil der Wechsel des Archontats in Athen im August, also mitten in der Zeit der lebhaftesten Kriegstätigkeit stattfand, so daß kontinuierliche Ereignisse in zwei Archontenjahre gehörten, wobei auch, wenn man Kriegsjahre zusammenrechnete, Irrtümer entstehen konnten. Da kein anderer Historiker bekannt ist, der in dieser Zeit die Ereignisse des Peloponnesischen Krieges nach Archontenjahren dargestellt hat, so ist der Schluß fast zwingend, daß Thukydides hier gegen Hellanikos polemisiert, 2. Vor ca. 25 Jahren wurde auf der Agora in Athen ein Fragment einer inschriftlichen Archontenliste gefunden99, das die Namen der Archonten der Jahre 528/27-522/21 enthielt und aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer vollständigen Archontenliste gehörte, die etwa zwanzig Jahre vor dem Ende des Peloponnesischen Krieges öffentlich aufgestellt worden war. Die Archontenliste lag also zum Gebrauch bereit. 3. Es ist dann höchst unwahrscheinlich, daß Hellanikos, der schon in der Sagenzeit so sorgfältig zu datieren suchte und in den späteren Jahren des Peloponnesischen Krieges nach Archonten datierte, nicht vom Beginn der Liste an von ihr Gebrauch gemacht haben sollte. Aber eine solche Archontenliste enthielt ja nur die Reihenfolge der Namen, die es ermöglichte, eine, von etwaigen Lücken abgesehen, vollständige Jahreszählung durchzuführen, aber keine Ereignisse. Es blieb daher immer noch die Aufgabe, die Verbindung zwischen den zum größ500

ten Teil ohne Archontennamen überlieferten Ereignissen und zugehörigen Archonten herzustellen. Es ist wohl für die Beurteilung des Hellanikos nicht ganz ohne Bedeutung, festzustellen, wie, bzw. wie sorgfältig, er dabei verfuhr. Nun sagt Thukydides 100 zu Beginn seiner Darstellung der sogenannten Pentekontaetie, d. h. des nicht ganz fünfzigjährigen Zeitraumes zwischen dem Ende der Perserkriege und dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges, Hellanikos sei der einzige, welcher diesen Zeitraum bisher behandelt habe, und seine Darstellung sei kurz und hinsichtlich der Zeitangaben ungenau. Man hat diese Kritik so zu deuten versucht101, als ob es sich hier um denselben Einwand handele wie den zu Anfang des fünften Buches gegen die Datierung nach Archonten erhobenen. Aber diese Erklärung kann kaum richtig sein. Denn innerhalb der Darstellung des Peloponnesischen Krieges bedient sich Thukydides wirklich einer Methode, welche der bloßen Datierung nach Archonten an Genauigkeit weit überlegen ist - wenn man nidit zugleich nach Monaten und Monatstagen datiert, was wiederum wegen der Eigentümlichkeiten der antiken griechischen Kalender mißlich ist - indem er zunächst das Datum des Ausbruches des Krieges mit allen überhaupt verfügbaren Mitteln auf das genaueste bestimmt102 und dabei als Ausgangsdatum ein im Frühjahr vorgefallenes Ereignis nimmt103, dann aber nach Sommern und Wintern weiterrechnet, so daß die Kontinuität der Kriegsereignisse des Sommers nicht durch einen Wechsel des Archontenjahres durchbrochen wird und über die Anzahl der jeweils verflossenen Halbjahre nie ein Zweifel entstehen kann. In der Darstellung der Pentekontaetie dagegen - und, auf eben diese bezieht sich ja der Tadel der chronologischen Ungenauigkeit des Hellanikos - ist Thukydides weit entfernt davon, sich einer so exakten chronologischen Methode zu bedienen. Der ganze Abschnitt enthält nur relative Zeitangaben, und schon die außerordentliche Mühe, welche moderne Historiker gehabt haben, die Ereignisse dieser Zeit auch nur auf das Jahr bzw. Archontenjahr genau zu bestimmen, geschweige denn darüber hinaus, und die sehr abweichenden Ergebnisse, die dabei herausgekommen sind, zeigen, daß eine annalistische Darstellung nach Archontenjahren, wenn sie korrekt war, eine sehr viel genauere Chronologie ergeben mußte als diejenige, die Thukydides in diesem Abschnitt gegeben hat. Nun hat man eben aus diesem Grunde seit langem die Vermutung ausgesprochen104, Thukydides' Darstellung der Pentekontaetie, wie sie uns vorliegt, sei eine vorläufige Skizze, die Thukydides später genauer auszuführen beabsichtigt hätte. Das ist ein Problem der Thukydidesanalyse, das an dieser Stelle noch nicht diskutiert werden kann 105 . Aber JOI

das ist doch leicht zu sehen, daß der Widerspruch, der entsteht, wenn man annimmt, Thukydides habe auch für die Pentekontaetie eine Genauigkeit verlangt, wie sie selbst durch eine in jedem Falle korrekte Datierung nach Archonten nicht gegeben wurde, auch durch eine genauere Ausarbeitung im Rahmen des geplanten Werkes nicht beseitigt werden konnte, ganz abgesehen davon, daß es seltsam wäre, einer solchen doch immerhin ziemlich weitgehend ausgearbeiteten Skizze eine Forderung voranzustellen, die zu erfüllen in der Skizze selbst auch nicht die geringsten Anstalten gemacht werden. Eine Darstellung nach Sommern und Wintern, wie bei der Erzählung des Krieges selbst, hätte notwendig eine solche Erweiterung des Umfanges der Darstellung mit sich gebracht, daß sich dadurch eine schwere Disproportion' zwischen ihr und der Hauptdarstellung ergeben hätte. Auch wäre eine solche Ausweitung und Genauigkeit im einzelnen dem Zweck des Exkurses, wie sich später zeigen wird, entgegen gewesen. So bleibt doch wohl keine andere Folgerung aus der Bemerkung des Thukydides als die, daß die annalistische Darstellung des Hellanikos beträchtliche Fehler und Ungenauigkeiten enthalten hat 106 . Unter diesen Umständen bekommt eine Beobachtung, die in neuerer Zeit gemadit worden ist107 und hier nur in sehr verkürzter Form wiedergegeben werden kann, erhöhte Bedeutung. Herodot macht eine Reihe von Angaben 108 über die Länge der Herrschaft der Peisistratiden und des zweiten (längeren) Exils des Peisistratos, ohne absolute Daten nach attischen Archonten zu geben. Aristoteles in seiner 'Aörivaitov IIoXiTeia109 (nebst einer leicht davon abweichenden Stelle in seinen Politika 110 ) macht sehr viel mehr chronologische Angaben über dieselben Ereignisse und gibt für vier derselben den Namen des attischen Archons 111 . Die Angaben des Aristoteles scheinen also sehr viel genauer zu sein. Sie enthalten aber in ihrer überlieferten Form eine Reihe von flagranten Widersprüchen und führen überdies zu dem absurden Resultat, daß die letzte Regierungszeit des Peisistratos (nach seinem zweiten Exil), die auch nach der Angabe des Aristoteles die längste gewesen sein müßte, nur ein Jahr gedauert haben könnte. Alle Versuche, selbst durch das kühnste Emendieren auf mehr oder minder paläographischer Grundlage, aber an vielen Stellen zugleich, das Ganze in Ordnung zu bringen, haben die Schwierigkeiten nicht vollständig beseitigen können 112 . Die Entstehung der Verwirrung läßt sich jedoch auf Grund der folgenden Beobachtungen vollständig erklären. Herodot gibt drei Zahlen: i. 36 Jahre für die Gesamtdauer der Herrschaft des Peisistratos und seiner Söhne 113 ; 2. 1 1 Jahre für die Dauer des zweiten (langen) Exils 1 1 4 ; 3. 4 Jahre für die Dauer der Herrschaft des 502

Hippias nadi der Ermordung seines Bruders Hipparch115. Alle drei Zahlenangaben kehren bei Aristoteles wieder116. Aber mit einer sehr bedeutsamen Abweichung. Mit Gesamtdauer ist bei Herodot, wenn man die Stelle im Hinblick auf eine frühere Stelle liest, unzweifelhaft die Gesamtdauer der Herrschaft nach dem zweiten Exil gemeint. Doch kann sie, für sich gelesen, sehr leicht dahin mißverstanden werden, als ob es sich um die Gesamtdauer überhaupt handele (also einschließlich der beiden kürzeren früheren Regierungsperioden des Peisistratos, nach welchen er jeweils zunächst wieder ins Exil getrieben wurde, bis es ihm beim dritten Versuch endlich gelang, seine Herrschaft auf eine feste Basis zu stellen). Bei Aristoteles bedeutet die Zahl jedoch wirklich diese Gesamtdauer der Herrschaft der Peisistratiden. Das kann kein Zufall sein. Es handelt sich also offenbar um ein Mißverständnis der Angabe des Herodot. Daraus erklärt sich auch die absurde Verkürzung der letzten Regierungszeit des Peisistratos, da nun nidit nur die Regierungszeit des Hippias mit 17 oder 18 Jahren, sondern auch die Jahre der Herrschaft vor dem ersten und vor dem zweiten Exil von den 36 Jahren der „Gesamtdauer" abgezogen werden. Die zusätzlichen Daten bei Aristoteles scheinen dann nach einer plausiblen Vermutung117 mit Hilfe der Generationenrechnung errechnet worden zu sein, und die übrigen falschen Zahlen bei Aristoteles lassen sich daraus erklären118, daß jemand, der die Unmöglichkeit bemerkte, daß die letzte Regierungszeit des Peisistratos nur ein Jahr gedauert habe, das Ganze durch Änderung einiger Zahlen in Ordnung zu bringen suchte, nicht anders als moderne Gelehrte, welche die Meinung vertraten, man dürfe im Konjizieren nicht „feige" sein, auch verfahren sind. Läßt sich diese scharfsinnige Rekonstruktion der Entstehung des chronologischen "Wirrwarrs im überlieferten Text der 'Aftrivaitov IToXiTEia des Aristoteles auch nicht in allen Einzelheiten strikt beweisen, so kann doch kaum ein Zweifel daran bestehen, daß der erste Ursprung der Verwirrung in einem Mißverständnis des Herodottextes zu suchen ist und daß die bei Aristoteles hinzugekommenen Zahlen, da sie trotzdem die richtige Gesamtdauer der Regierungs- und Exilzahlen ergeben, nicht auf zuverlässiger Überlieferung, sondern auf Konstruktion beruhen. Nun sprechen alle Anzeichen dafür, und es ist daher mit Recht auch immer angenommen worden, daß Aristoteles sein Material für die 'Aftrivaicov IloXiteta zum größten Teil aus der atthidographischen Uberlieferung geschöpft hat. Alles spricht dafür, daß das chronologische Gerüst der Atthidographie von Hellanikos stammt, und er hat nach Archonten datiert. Auf jeden Fall erscheint es als ausgeschlossen, daß das Mißver503

ständnis der Herodotstelle durch einen späteren Atthidographen hineingetragen worden sein sollte, wenn Hellanikos nach genuiner Uberlieferung korrekte Daten gegeben hatte. Dann aber ist der Schluß unausweichlich, daß der Irrtum von Hellanikos begangen worden ist. Das bedeutet weiter, daß seine Daten für die Peisistratiden auf Kombination beruhen und erst nachträglich (unrichtig) auf die Archontenliste abgebildet worden sind. Mit anderen Worten: Hellanikos hat für die attische Geschichte seit dem siebten Jahrhundert sich zwar wiederum systematisch eines neuen und, wenn richtig gebraucht, außerordentlich wertvollen chronologischen Hilfsmittels bedient, aber er ist selbst noch für die zweite Hälfte des sechsten Jahrhunderts damit prinzipiell nicht wesentlich anders, d. h. auch nicht wesentlich sorgfältiger, umgegangen als bei seinen Kombinationen über die Sagenzeit. Die Bemerkung des Thukydides zu Beginn seines Exkurses über die Pentekontaetie, die sich, wie gezeigt, schlechterdings an dieser Stelle nicht gegen Datierungen nach Ardionten überhaupt richten kann, weist dann darauf hin, daß Hellanikos selbst noch in bezug auf diese nicht sehr weit zurückliegende Zeit nicht sehr viel besser verfahren ist. Es ergibt sich also das seltsame Bild eines Mannes, der sein Leben damit zugebracht hat, Ordnung in die Uberlieferung über die Vergangenheit von den ältesten Zeiten bis auf seine eigene Zeit zu bringen, der sich zu diesem Zweck der wertvollsten neuen Instrumente zur Schaffung einer exakten Chronologie bemächtigte, wodurdi er einen tiefgreifenden Einfluß auf die Geschichtsschreibung der Folgezeit ausgeübt hat, und der doch mit diesen Instrumenten so wenig umzugehen wußte, daß er sie nicht nur auf eine Zeit angewendet hat, für die sie nidit taugten, sondern sie auch da, w o sich mit ihrer Hilfe etwas erreichen ließ, ganz leichtfertig gehandhabt hat. Es bleibt endlidi noch übrig, den Charakter des Beitrages des Hellanikos zur attischen Geschichte des sechsten und fünften Jahrhunderts nach Auswahl und Inhalt des Mitgeteilten soweit als möglich zu bestimmen. Hier ist es bei der Spärlichkeit der erhaltenen Fragmente eine für die Beurteilung nicht ganz unwichtige Tatsache, daß die Darstellung, da sie die ganze Geschichte Athens vom Ende der Königszeit bis zum Ende des Peloponnesischen Krieges in einem Buch behandelte, sehr kurz gewesen sein muß. D a ß man auch so noch eine historisch sehr tief eindringende Darstellung geben kann, hat Thukydides an der Pentekontaetie gezeigt, obwohl Hellanikos' Darstellung dieses Zeitraumes noch kürzer gewesen zu sein scheint. D a ß nun das zweite Buch der Atthis eine Reihe von Dingen enthielt, die bei Xenophon in seiner Fortsetzung des Thukydides nicht 504

stehen und die, in den entsprechenden Zusammenhang eingereiht, von höchstem Interesse sind, zeigen einige der Fragmente, wie z. B. die Mitteilung über die Behandlung der Sklaven, die an der Seeschlacht bei den Arginusen beteiligt gewesen waren119, oder die Mitteilung, daß damals in Athen zum ersten Mal Goldmünzen geschlagen wurden120. Aber es ist sehr fraglich, wieweit eine solche historische Integration der mitgeteilten Einzelheiten angenommen werden kann. Daß positive Spuren einer solchen nicht nachgewiesen werden können, besagt bei der Spärlichkeit der Fragmente natürlich nichts. Aber vielleicht kann man indirekte Schlüsse ziehen. In einem kurzen, ausdrücklich als aus dem zweiten Buche der Atthis stammend bezeichneten Fragment121, wird die genealogische Herkunft des Hippothoon als des eponymen Heros der Phyle Hippothontis gegeben. Das kann, wie man schon immer gesehen hat, kaum anders als in Verbindung mit der Diskussion der neuen Phylenordnung des Kleisthenes geschehen sein. Was Hellanikos für den eponymen Heros der einen Phyle getan hat, muß er dann wohl auch für die der andern neun Phylen getan haben122. Das bedeutet, daß bei einem historisch so außerordentlich wichtigen Ereignis ein unverhältnismäßig großer Raum von der Erörterung geschichtlich irrelevanter mythischer Antezedentien eingenommen worden sein muß. Es gibt noch eine ganze Reihe von Fragmenten dieser Art 123 . Selbst wenn man annimmt, daß die Auswahl von Fragmenten, die wir haben, einseitig ist, weil die Autoren, die aus Hellanikos zitieren, ihn für die Dinge benutzt haben, die bei Herodot, Thukydides und Aristoteles nicht zu finden waren, so erscheint eine historisch integrierte Darstellung, in welche auf engem Raum so viel mehr oder minder irrelevantes Material eingestreut ist, als Unmöglichkeit. Dazu kommt, das Hellanikos auch in bezug auf historische Kritik, wie schon gezeigt, das Gegenteil des Herodot ist. Er ist freilich nie in Gefahr gewesen, den Inhalt einer Erzählung für faktische historische Wahrheit zu halten, weil die Erzählung selbst als Zeugnis dessen, wie sich die Griechen der Zeit die Dinge zurechtlegten, ein historisches Faktum erster Ordnung war. Ebensowenig ist er in die Versuchung gekommen, um einer solchen Geschichte willen der Chronologie Gewalt anzutun. Wenn er der Chronologie Gewalt antut, tut er es aus Systembedürfnis; und wenn er zwischen zwei Versionen einer Erzählung zu wählen hat, wählt er die platteste, die gar kein spezifisches historisches Fluidum hat, aber deshalb nicht wahrer zu sein braucht. Seine Geschichtsschreibung ist ein außergewöhnlich schlagendes Beispiel dafür, daß sich die Entwicklung in den verschiedenen Schichten ganz verschieden vollzieht und daß in den S°S

beiden oberen Schichten des eindringenden historischen Verständnisses und der historischen Kritik eine gewaltige Senkung des Niveaus eintreten kann, während auf dem untersten Bereich der Ordnung des Stoffes gleichzeitig ein großer prinzipieller Fortschritt erzielt wird 124 . Die Zeit des Hellanikos und unmittelbar nach ihm ist nun überhaupt eine Zeit intensiver chronologischer Bemühungen und Neuerfindungen auf diesem Gebiet. Man könnte auf Grund dieser Tatsache vielleicht sagen, das habe damals in der L u f t gelegen und das spezielle Verdienst des Hellanikos sei daher auch in der letzten Hinsicht nicht sehr groß. Er ist aber doch in jedem Falle derjenige, der sich am meisten und mannigfaltigsten um neue Instrumente der Chronologie bemüht hat. Mag daher auch ein Teil der neuen Bemühungen nicht unmittelbar seine Einwirkung zeigen, so kann doch kaum ein Zweifel sein, daß er im ganzen eine sehr beträchtliche Wirkung in dieser Hinsicht ausgeübt hat. N u r am Rande ist in diesem Zusammenhang der Sophist Hippias von Elis zu erwähnen. Doch ist er zur Illustration der verschiedenen Möglichkeiten nicht ganz uninteressant. Er war gewiß kein Historiker im eigentlichen Sinne. Aber da er alles können wollte 125 , hat er sich auch damit etwas eingelassen. Die übrigen Sophisten pflegten, wenn sie auf ihren Vortragsreisen alle bedeutenden Städte aufsuchten, um Sparta einen Bogen zu machen, da man dort für das, was sie zu lehren wußten, wenig übrig hatte. Hippias war stolz darauf, auch damit fertig geworden zu sein. Er erzählte den Spartanern alte Geschichten von der Besiedlung des Landes, den Gründungen von Städten und den großen Männern, die dabei führend gewesen waren 126 . Damit hatte er bei den Spartanern großen Erfolg. In Piatons Hippias Maior, wo dies mitgeteilt wird, sagt Hippias, er habe diese Dinge alle zu diesem Zweck erst lernen müssen127. Das ist zweifellos eine ironische Übertreibung. Er hat dieselben Dinge natürlich auch anderweitig auf seinen Vortragsreisen benutzt. Wie er dabei verfahren ist, zeigt ein wörtliches Fragment, das Clemens Alexandrinus erhalten hat 128 : „Von den Dingen, die ich jetzt vortragen werde, kann man vieles bei Orpheus, Musaios, Homer und Hesiod sowie bei anderen Dichtern und Prosaschriftstellern finden. Ich aber habe das "Wichtigste daraus, soweit es zusammenpaßt, zusammengestellt und etwas Neues und Mannigfaltiges daraus gemacht, das ich jetzt vortragen werde." D a ß es ihm also vor allem darauf ankam, das Interesse seiner Zuhörer durch die Buntheit des Materials zu fesseln, schließt nicht aus, daß er auch wirklidi historisch interessante relevante Bemerkungen dabei machen konnte, so wenn er bemerkte 129 , die neueren Dichter (wobei er wohl vor 50 6

allem die Tragödie im Sinn hatte) bezeichneten die alten griechischen Könige der Zeit vor dem Trojanischen Krieg mit dem Worte „Tyrannos", obwohl dieses Wort doch erst seit etwa der Zeit des Archilochos in die griechische Sprache Eingang gefunden habe. Er war das Gegenteil des Hellanikos: alles andere als ein Systematiker und systematischer Forscher. Aber wenn er sich für eine Frage interessierte, konnte er relevantere historische Beobachtungen machen130, als sie in dem größten Teil der systematischen Werke des Hellanikos zu finden sind. Unter diesen Umständen ist doch auch bemerkenswert, daß Hippias eine Liste der Olympioniken veröffentlicht hat131. Er hatte zweifellos keinen Versuch gemacht, diese Liste als chronologische Grundlage einer allgemeinen Geschichte zu verwerten, wie Hellanikos dies mit den Priesterinnen in Argos und den attischen Archonten getan hatte. Sonst hätte Thukydides ausgiebigen Gebrauch davon gemacht. Aber auch so datiert Thukydides zweimal132 nach olympischen Siegern, allerdings nur bei Ereignissen, die selbst etwas mit Olympia zu tun hatten. Außerdem erwähnt er ein anderes Mal133 Änderungen, die bei den Spielen zu einer gewissen Zeit eingetreten waren. Derartiges war also bei Hippias vermutlich auch vermerkt. Zu einem Instrument der allgemeinen historischen Chronologie ist die Olympiadenrechnung bekanntlich erst hundert Jahre später durch Timaios von Tauromenion gemacht worden, was sich dann in der späteren griechischen Chronologie durchgesetzt hat. Noch eine andere Kleinigkeit ist in diesem Zusammenhang nicht ganz uninteressant. Im platonischen Hippias Maior sagt Sokrates134 bei Gelegenheit der Erwähnung der Vorträge, die Hippias in Sparta gehalten hatte, es sei gut, daß die Spartaner nicht an attischer Geschichte interessiert seien, sonst hätte er die attische Archontenliste auswendig lernen müssen, worauf Hippias antwortet: „Warum nicht?" Das hätte ihm keine Schwierigkeiten gemacht. Das alles ist im Scherz geredet. Aber es ist doch ein Zeichen dafür, daß zur Zeit der Abfassung des Dialoges sich die Meinung durchgesetzt hatte, daß man, wenn man sich ernsthafter mit athenischer Geschichte befassen wolle, sich um die Archontenliste kümmern müsse135. Wie groß das persönliche Verdienst des Hellanikos an dem allem gewesen ist, läßt sich vielleicht noch an einem anderen Historiker bestimmen, der ein, vermutlich etwas jüngerer, Zeitgenosse des Hellanikos gewesen ist, Antiochos von Syrakus. Dieser hat es, aller Wahrscheinlichkeit nach als erster136, unternommen, eine Geschichte der Griechen und der griechischen Siedlungsgebiete im Westen, d. h. in Unteritalien und auf Sizilien, zu schreiben: soweit sich erkennen läßt, als eine Ergänzung des SO 7

Werkes Herodots, bei dem der griechische Westen nur gelegentlich in Verbindung mit der Geschichte des griechischen Mutterlandes vorgekommen war. Er schrieb eine Geschichte Siziliens in neun Büchern137, also vom selben Umfang wie das Werk Herodots, und ein ebenfalls im wesentlichen geschichtliches Werk über Italien138, worunter jedoch nur ein kleiner Teil des heutigen Unteritalien zu verstehen ist, wahrscheinlich von wesentlich kleinerem Umfang, vielleicht nur in einem Buch. Das umfangreichere Werk endete mit dem Jahre 424/23 v. Chr.139, d. h. dem Frieden von Gela, der in diesem Jahre zwischen den kriegführenden griechischen Städten auf Betreiben des Syrakusaners Hermokrates geschlossen wurde, um der gemeinsamen von Athen drohenden Gefahr zu begegnen. Es reichte also gerade ein paar wenige Jahre weniger weit als die Hiereiai des Hellanikos, scheint aber auch vor oder zum mindesten nahezu gleichzeitig mit diesem letzteren Werke abgeschlossen worden zu sein, da in den Fragmenten keinerlei Einfluß des Werkes des Hellanikos zu spüren ist. Das Werk zeigt also, soweit die Fragmente es erlauben, sich ein Bild davon zu machen, den Stand der Geschichtsschreibung unmittelbar vor dem Erscheinen des ersten der chronologischen Werke des Hellanikos an. Die einleitenden Worte des kürzeren Werkes über Italien, die in jener Zeit ja zugleich als Titel dienten, sind erhalten und lauten140: „In diesem Werk hat Antiochos von Syrakus das Glaubwürdigste und Klarste von den alten Uberlieferungen über Italien zusammengestellt. Dieses Land, welches jetzt Italien genannt wird, bewohnten in alter Zeit die Oinotrer." Das Wort, das ich mit „Überlieferungen" übersetzt habe, ist Wyog. Es handelt sich also um das, was von alters her über die Dinge erzählt wurde. Diese im wesentlichen mündlidien Traditionen hat also Antiochos gesammelt und eine kritische Auswahl daraus zu treffen gesucht. Das ist im wesentlichen auch das Verfahren des Herodot und des Hellanikos gewesen, die sich dabei doch sehr verschiedener Methoden bedient haben und bei denen sehr Verschiedenes herausgekommen ist. Es ist also vor allem festzustellen, worin es mit ihnen übereinstimmt und worin es sich von ihnen unterscheidet. In dem Werk über Italien hat Antiochos zunächst offenbar vor allem die Grenzen des Gebietes ganz genau zu bestimmen gesucht, das er mit dem Namen Italien bezeichnete, und zwar so, daß er ein Italien im engeren und älteren Sinne von einem Italien im weiteren und jüngeren Sinne unterschied und jeweils die Grenzen dieser beiden Gebiete genau angab: Das erstere erstreckte sidi nach seiner Angabe141 vom Isthmus von Catanzaro, oder, wie er sagt, von dem Isthmus, der sich vom Napetinischen bis 508

zum Skylletischen Gebiet erstreckte, südwärts bis zur Straße von Messina; das zweite umfaßte dazu noch zusätzlich das Land nördlich davon bis zu einer Linie vom Laosfluß, dem heutigen Laino, bis zum Gebiet von Metapont, aber mit Aussdiluß des Tarentinischen Gebietes. Tatsächlich scheint der Name Italien von diesen Gebieten seinen Ausgang genommen zu haben. Ein eigentümliches, in der neueren Literatur nirgends erwähntes Problem scheint sich aus der Tatsache zu ergeben, daß, trotz des großen Umfanges der Sikelika, unter den erhaltenen Fragmenten solche, welche sich mit Sizilien selbst beschäftigen, nur in ganz geringer Zahl erscheinen, während auf der andern Seite die Fragmente über griechische Siedlungen in Italien viel zahlreicher und umfangreicher sind als die auf Sizilien bezüglichen, sich aber keineswegs auf das von Antiochos als Italien im engeren und weiteren Sinn bezeichnete Gebiet beschränken, sondern auch die Gründung von Elea und von Tarent betreffen142, die beide außerhalb auch des weiteren Italiens des Antiochos gelegen sind und von denen das letztere sogar ausdrücklich davon ausgeschlossen wird. Es fragt sich daher, ob das Buch über Italien nicht nur eine Ergänzung hinsichtlich der ältesten Zeit zu dem umfangreicheren, die ganze Siedlungsgeschichte im Westen behandelnden Werk darstellte143. Die sizilische Geschichte des Antiochos begann mit Kokalos144, also immer noch in der mythischen Zeit, da Kokalos als König der Sikaner nach der griechischen Legende dem Daidalos, der als Zeitgenosse des Theseus und des Kreterkönigs Minos erscheint, in der sizilisdien Stadt Kamikos Zuflucht gewährt haben soll. Auch folgt Antiochos in der ältesten Siedlungsgeschichte der auch von Hellanikos befolgten Methode, die Namen der verschiedenen Völker, Stämme und Gebiete von Königen, die ihnen ihre eigenen Namen gegeben hätten, abzuleiten. Ja, er geht darin weiter als Hellanikos, wenn er den Namen „Italiens" von einem guten und weisen König Italos ableitet145, der zuerst alle Völker und Stämme südlich des Isthmos von Catanzaro unter einer Herrschaft vereinigt habe, ferner den Namen der Morgetier von einem König Morges und den Namen der Sikeler von einem Sikelos146. Wenn die Uberlieferung richtig ist, daß Antiochos seine sizilische Geschichte mit Kokalos begann, für die Besiedlung der Insel durch die Sikeler, die er offenbar ebenso wie Hellanikos von den Sikanern unterschied, aber keine Zeitbestimmung gab147, kann er diese nicht, wie Hellanikos148, in die dritte Generation vor dem Trojanischen Krieg gesetzt haben, da Kokalos als Zeitgenosse des Daidalos ja der zweiten Generation J09

vor dem Trojanischen Krieg angehört und ein Ansatz der sikelischen Einwanderung in die Zeit des Kokalos oder kurz davor im Sinne der antiken Chronologie ja durchaus eine feste Datierung gewesen wäre 149 . E r muß diese Einwanderung also der Reihenfolge nach vermutlich wesentlich später angesetzt haben, was auch dadurch bestätigt wird, daß er Sikelos, den Eponym der Sikeler, als Flüchtling aus Rom zu den Morgetiern kommen ließ150. Seine Behandlung der Frage der sikelischen und morgetischen Einwanderung aus Italien war also zweifellos auch chronologisch von Hellanikos unabhängig. Er scheint damit aber der historischen Wahrheit auch näher gekommen zu sein als Hellanikos. Denn während noch bis vor kurzem die allgemeine Ansicht dahin gegangen war 1 5 1 , daß nach Ausweis der archäologischen und linguistischen Befunde weder zu der von Hellanikos angenommenen Zeit noch in den ersten Jahrhunderten des ersten Jahrtausends eine Einwanderung von Unteritalien nach Sizilien in irgend beträchtlichem Umfang stattgefunden habe, ja, daß die Befunde eher für eine Bevölkerungsbewegung in umgekehrter Richtung von Sizilien nach Unteritalien sprächen, scheinen die neuesten Ausgrabungen in Morgantine, einer morgetischen Siedlung im Innern Siziliens, nun doch darauf hinzuweisen oder nach mündlichen Mitteilungen sogar zu beweisen, daß „um 800" v. Chr. oder etwas früher eine nicht unbedeutende Einwanderung aus Unteritalien stattgefunden hat 152 . Doch werden die Publikationen der Ausgrabungsberichte abzuwarten sein, ehe man zu definitiven Schlüssen gelangen kann. Die übrigen erhaltenen Fragmente beziehen sich alle auf die griechische Besiedlung Siziliens und Unteritaliens. Auch sie beruhen offensichtlich auf lokaler mündlicher Uberlieferung und weichen nicht selten von der Uberlieferung anderer griechischer Schriftsteller ab. Natürlich kann die von Antiochos benutzte mündliche Uberlieferung Legendäres enthalten haben. Doch scheint sie auch hier der historischen Realität noch etwas näher zu stehen. Ein Beispiel ist der Bericht über die Gründung von Kroton durch Myskellos 1 ". Nach Antiodios hatte dieser vom Delphischen Orakel den Auftrag bekommen, die Stadt an der Stelle zu gründen, an der sie dann auch gegründet wurde. Doch habe Myskellos, als er an Ort und Stelle ankam und dort in der Nähe das früher gegründete Sybaris schon im Aufblühen fand, bei dem Orakel noch einmal angefragt, ob er sich nicht der scheinbar so viel vorteilhafter gelegenen Kolonie Sybaris anschließen solle. Der Gott habe ihn jedoch scharf zurechtgewiesen und ihm befohlen, sich an seinen Auftrag zu halten. Später wurde daraus die Legende von dem weisen Myskellos, der statt der üppig fruchtbaren Lage von Sybaris die 510

gesunde Lage von Kroton gewählt habe154. Es ist jedoch sehr wohl möglich, daß in der Version des Antiochos sich noch ein interessantes Stück aus der Kolonisationspolitik des Delphischen Orakels erhalten hat, wenn man auch nicht alle Einzelheiten für historisch zu halten braucht. Die übrigen erhaltenen Fragmente der Werke des Antiodios haben im wesentlichen denselben Charakter. "Was er über die Gründung von Tarent sagt, hat, soweit es die lakonischen Ursprünge der Gründung angeht, zweifellos zum Teil anekdotischen Charakter 155 . Aber Tarent war tatsächlich als lakonische Kolonie eine Ausnahme, und es müssen außergewöhnliche Ereignisse gewesen sein, die dazu den Anlaß gaben. Antiochos gibt offenbar wieder, was man sich in Tarent über diese Ursprünge erzählte. Seine Darstellung der Umstände, welche zur Gründung von Metapont geführt haben, dürfte der historisdien Wahrheit nahekommen156. Die mythischen Geschichten über den Gründer Metapontios und seine verstoßene Gattin Siris sowie über Metapontios und Melanippe, die von Eurípides in zwei Dramen behandelt worden war, scheint er abgelehnt zu haben157. Für eine über das, was sich aus den erhaltenen Fragmenten unmittelbar entnehmen läßt, hinausgehende Erkenntnis der Eigenart der Geschichtsschreibung des Antiochos und vor allem für die Beantwortung der Frage, was er für eine Chronologie gehabt habe, die doch in einem Werk, das die gesamte griechische Besiedlung von Sizilien und Unteritalien behandelte, nicht völlig gefehlt haben kann, da es mindestens die zeitliche Relation der Ereignisse zueinander in irgendeiner Form berücksichtigt haben muß, ist es nun von grundlegender Bedeutung, zu wissen, ob sein Werk von Thukydides in seinem Überblick über die Geschichte Siziliens zu Anfang des sechsten Buches seines Geschichtswerkes benützt worden ist. Dies ist nun in der Tat außerordentlich wahrscheinlich158. Theoretisch gibt es vier Möglichkeiten: i. daß Thukydides' Angaben alle auf seiner eigenen Erkundung auf Sizilien beruhen, was a priori nicht ausgeschlossen ist, da der während des Peloponnesisdien Krieges aus Athen verbannte Thukydides sich auch in Sizilien aufgehalten haben kann, 2. daß er Hellanikos benützte, 3. daß er einen völlig unbekannten Schriftsteller benützte und 4. daß sein Hauptgewährsmann Antiochos war, den er dann natürlich aus eigener Kenntnis ergänzt haben mag. Die dritte der genannten Möglichkeiten kann wohl sogleich ausgeschlossen werden, da es ganz unwahrscheinlich ist, daß sich von einem Schriftsteller, den Thukydides würdigte, ihm als Hauptquelle zu dienen, keine Spur erhalten haben sollte. Daß Thukydides sich hauptsächlich auf 511

Hellanikos stützte ist ebenfalls sehr unwahrscheinlich. Er hat die Datierung der sikelischen Einwanderung in Sizilien auf die dritte Generation vor dem Trojanischen Krieg durch Hellanikos 159 nicht übernommen, sondern setzt sie später an: 300 Jahre vor dem Beginn der griechischen Kolonisation 160 . In dem ganzen Abschnitt findet sich keine Spur der Datierung nach Priesterinnen von Argos, die Hellanikos in seinem chronologischen Werk doch auch auf den Westen angewendet haben muß. Es scheint sich also zu bestätigen, was früher aus anderen Beobachtungen ersdilossen wurde: daß Thukydides den Wert des neuen chronologischen Instrumentes, das Hellanikos gefunden hatte, erkannte, wenn es von jetzt an und in Zukunft angewendet würde auf Daten, die sofort mit einem Priesterinnenjahr in Verbindung gesetzt und danach datiert wurden, dagegen den Gebrauch, den Hellanikos davon für die Vergangenheit gemacht hatte, wo eine exakte Beziehung dieser Art herzustellen in den meisten Fällen nicht mehr möglich war, für höchst zweifelhaft hielt. Er hat sich nicht einmal in der Darstellung der Pentekontaetie, die doch zeitlich so viel näher lag und wo daher eine genaue Herstellung von Relationen der einzelnen Ereignisse zu Hiereiai-Jahren so viel leichter gewesen wäre, auf ihn verlassen. Es ist aber endlich auch sehr unwahrscheinlich, daß die gesamte Darstellung der Besiedlungsgeschichte von Sizilien bei Thukydides auf eigenen Forschungen des Thukydides an Ort und Stelle beruht, womit natürlich die Ergänzung übernommener Daten durch eigene Erkundigungen nidit ausgeschlossen ist. Was gegen die Annahme spricht, daß der ganze Abschnitt auf Thukydides' eigenen Forschungen beruhe, ist zunächst und vor allem die Tatsache, daß die Art der Behandlung der Vergangenheit hier eine ganz andere ist als in den übrigen Teilen des Werkes des Thukydides, die sich mit Ereignissen beschäftigen, welche dem Peloponnesischen Krieg und der eigenen Zeit des Thukydides vorausliegen. Überall an jenen Stellen sucht Thukydides das historisch Bedeutsame der Ereignisse zu rekonstruieren und herauszustellen. Es ist daher wohl anzunehmen, daß Thukydides, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, die Siedlungsgeschichte Siziliens aus eigenen Erkundungen an Ort und Stelle im einzelnen zu rekonstruieren, ebenfalls so verfahren wäre. Statt dessen gibt er hier eine Aufzählung der wichtigsten Ereignisse im Telegrammstil, ohne auf die Bedeutsamkeit der einzelnen Ereignisse einzugehen. Gewiß, am Ende steht das Fazit des Ganzen 161 : daß es ein gewaltiger Bissen war, den die Athener zu schlucken versuchten, als sie die sizilische Expedition ins Werk setzten. Ohne dieses Fazit hätte die Einschaltung überhaupt keinen 512

Sinn. Aber wenn es dann weiter heißt, es seien vor allem die Gesandtschaften der Egestäer gewesen, welche die Athener ermuntert hätten, sich in die sizilischen Verhältnisse einzumischen, so fehlt in der Einleitung gerade eine eingehende Analyse der Parteiungen auf Sizilien und ihres Ursprungs, welche es erlaubte abzuschätzen, mit welchen positiven und negativen Faktoren die Athener etwa bei ihrem Eingreifen rechnen konnten. Mit andern "Worten: Es fehlt völlig an einer Analogie zu der großartigen Analyse des Wachsens der Macht Athens und der erlittenen Rückschläge in der sogenannten Pentekontaetie162. Dazu kommt, daß das ganze Stück sich sowohl im Stil wie bis zu einem gewissen Grade sogar in der Wortwahl von dem übrigen Werk des Thukydides unterscheidet163. Es spricht daher alles dafür, daß Thukydides sich hier für den orientierenden Überblick über die Verhältnisse auf Sizilien, den selbst zu erarbeiten eine gewaltige Arbeit gewesen wäre, einer Vorlage bedient hat, die er auszog und möglicherweise im einzelnen zu korrigieren und zu ergänzen versuchte. Lassen sich also die drei anderen Möglichkeiten mit großer Wahrscheinlichkeit ausschalten, so bleibt die vierte, daß er sich des Werkes des Antiochos als Vorlage bedient hat. Läßt sich dies bei der relativen Spärlichkeit der erhaltenen Fragmente des Antiochos auch nicht auf andere Weise positiv beweisen, so spricht doch auch nichts dagegen. Entgegen Hellanikos stimmt Thukydides mit Antiochos darin überein, daß er den Namen Italiens von einem Sikelerkönig namens Italos ableitet164. Er läßt die Sikeler wie Antiochos von den Opikern aus Italien vertrieben werden165. Vor allem enthält sein Bericht eine große Menge Namen von Städtegründern, die nicht Eponyme der Städte sind; und das Werk des Antiochos, obwohl es - wie Thukydides - für die älteste Zeit einige Eponyme vermerkt, zeichnet sich nach Ausweis der Fragmente dadurch aus, daß er überall die Namen der Gründer zu ermitteln versucht hat und oft als einziger der ganzen Tradition einen nichteponymen Gründernamen bringt. Diese Übereinstimmungen zwischen Thukydides und Antiochos in speziellen Dingen würden gewiß nicht ausreichen zu beweisen, daß Antiochos die Vorlage des Thukydides gewesen ist, wenn es andere irgend plausible Möglichkeiten gäbe. Da es diese jedoch nicht gibt, wird die Wahrscheinlichkeit doch sehr groß. Nun enthält der fragliche Abschnitt bei Thukydides eine große Menge chronologischer Daten, aber niemals absolute, immer nur relative, welche den Abstand eines Ereignisses von einem anderen Ereignis in Jahren angeben. In neuerer Zeit ist der Versuch gemacht worden 166 zu zeigen, daß diese ganze Chronologie auf einem Rechnen mit Generationen zu 3 j Jah-

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ren beruht. Hier ist es nun immerhin auffallend, daß unter den neun Zahlen, welche Thukydides für Abstände gibt, drei entweder unmittelbar oder auf die durchsichtigste Weise mittelbar durch 3 5 teilbar sind167, während einige der übrigen ganz kurze Abstände angeben, welche ohnehin nicht nach Generationen berechnet werden können. Die übrigen Konstruktionen, mit denen durch 3 5 teilbare Abstände errechnet werden, sind ungewiß, da die Ausgangspunkte nicht ganz sicher sind. Doch kommt man auch hier zwangsläufig gelegentlich zum mindesten erstaunlich nahe an eine durch 35 teilbare Zahl. Die bei andern modernen Historikern sehr starke Abneigung gegen die Annahme, daß hier bis zu einem gewissen Grade mit Generationenrechnung, d. h. mit einer konstruierten Chronologie, zu rechnen sei, kommt daher, daß damit die fixen Daten, mit denen man in der sizilischen Siedlungsgeschichte von ihrem Beginn an rechnen zu können glaubte, zum Teil unsicher werden168. Aber man muß sich doch auch klarmachen, was die Annahme, daß man es hier überall ifiit völlig genau fixierten Daten zu tun habe, voraussetzt. Sie setzt offenkundig voraus, daß es entweder in einer Stadt von ihrer Gründung an Aufzeichnungen gab, welche alle Neugründungen auf Sizilien, auch solche, welche die betreffende Stadt zunächst gar nicht affizierten, Jahr für Jahr vermerkten; oder, daß es in den verschiedensten Städten solche Aufzeichnungen gab, welche von einem Historiker zueinander in feste Relation gesetzt werden konnten. Aber schlechterdings nichts spricht für das Vorhandensein solcher Aufzeichnungen. Man braucht nur daran zu denken, welche Schwierigkeiten man, wie sich in dem Abschnitt über die Chronologie Herodots gezeigt hat, mit der Herstellung einer genauen Chronologie für griechische Städte außer Athen - und gelegentlich selbst bei Athen169 - für das sechste Jahrhundert hat, wo nicht zufällig Beziehungen zum Orient hinzukommen, die eine Datierung nach den unter ganz anderen Umständen entstandenen Königsannalen erlauben, um den genau aufs Jahr fixierten Daten bis in die Mitte des achten Jahrhunderts hinauf in dem ganz zersplitterten Sizilien mit einigem Skeptizismus gegenüber zu stehen170. Bei alledem hat der Urheber der von Thukydides mitgeteilten relativen Daten den Umständen entsprechend gar kein so schlechtes Verfahren eingeschlagen. Daß er nicht nur mit Generationen gerechnet hat, ist offenkundig auf Grund der Tatsache, daß er gelegentlich auch ganz kurze Zeitabstände bringt, die ohnehin nicht durch Generationenrechnung gefunden sein können. Da hat er sich offenbar auf lokale Uberlieferungen gestützt, die bald aufeinanderfolgende Ereignisse zueinander in Beziehung zu setzen Ji4

erlaubten. Aber viele Ereignisse der Besiedlung Siziliens und Unteritaliens hatten ja zunächst gar keine Beziehung zueinander. Wie sollte es da möglich gewesen sein, alles genau chronologisch zu fixieren, ohne Schätzungen zu Hilfe zu nehmen, für welche eine Art Generationenrechnung dann immer noch das beste Hilfsmittel war? Wenn man dann, wo die Siedlungen zueinander in Beziehungen traten und sich daraus Synchronismen ergaben, diese zur Korrektur benützte, braucht das Ergebnis nicht so sehr schlecht gewesen zu sein. Es ist dann immer noch im Prinzip dasselbe Verfahren, dessen sich Hellanikos in seinen vorchronologischen Schriften bedient, aber doch mit einem wesentlich brauchbareren Material. Die Einzelheiten lassen sich nicht mehr durchschauen, aber prinzipiell können die thukydideischen Zahlen gar nicht anders entstanden sein, wenn man nicht annehmen will, daß dem Thukydides in Syrakus oder einer anderen sizilischen Stadt eine Chronik vorgelegt wurde, in welcher seit der Mitte des achten Jahrhunderts v. Chr. alle wichtigen Ereignisse säuberlich Jahr für Jahr aufgezeichnet waren und sich dabei noch der Zufall ergab, daß in drei von neun Fällen der Abstand zwischen zwei Ereignissen auf das Jahr genau ein vielfaches von 3 5 Jahren betrug. Es erhebt sidi also die speziellere Frage, ob diese Zahlen von Thukydides selbst eruiert worden sind oder ob er sie übernommen hat, und wenn das letztere, von wem. Nun hat man aus der Tatsache, daß nach Dionys von Halikarnass Antiochos für den Übergang der Sikeler nach Sizilien kein Datum gab, geschlossen, daß das Werk des Antiochos überhaupt keine Daten enthalten habe. Das ist jedoch kaum möglich, da er sich doch schon für die Reihenfolge, in der er die Ereignisse erzählte, eine gewisse Vorstellung von der Zeitfolge und damit auch von den Abständen der Ereignisse voneinander machen mußte. Eine gewisse Schwierigkeit für die Annahme, die thukydideischen Daten stammten im wesentlichen aus Antiodios, ergibt sich daraus, daß Antiochos kein Datum für die sikelische Einwanderung gegeben haben soll 171 , Thukydides sie dagegen etwa 300 Jahre vor den ersten griechischen Kolonisten ansetzt172. Doch ist diese Schwierigkeit nicht allzu groß, da hier Thukydides im Gegensatz zu den anderen Zahlen ausdrücklich nur eine approximative Schätzung gibt, die er aus den Angaben des Antiochos abgeleitet haben kann, andererseits aber auch die Möglichkeit besteht, daß Dionys von Halikarnass nur das Buch über Italien eingesehen hat, in dem Antiochos die Voraussetzungen der Einwanderung aus Italien erörterte und zu einer Datierung kein Anlaß war, und nicht beachtete, daß in dem Werk über Sizilien anläßlich der ersten griechischen Koloniegründungen bemerkt worden sein mag, Ji5

diese seien etwa 300 Jahre nach der sikelischen Einwanderung erfolgt. Daß die Zahlen aber von Thukydides selbst stammten, ist ganz unwahrscheinlich. Wenn es keine derartige Chronik gab, waren sie schwer zu eruieren, und eine solche Berechnung ist einem lokalen Autor, der eine sizilische Geschichte in neun Büchern schrieb, viel eher zuzutrauen als einem Autor, von dem man nicht weiß, ob er überhaupt in Sizilien war 173 und der seine ganze K r a f t einem Werk über den Peloponnesischen Krieg gewidmet hat. Das Element der Unsicherheit, das wie bei allen Dingen, die nur erschlossen sind, trotzdem bleibt, scheint mir in diesem Fall gering; dennoch wird es gut sein, zu unterscheiden zwischen dem, was sich für die Bedeutung des Antiochos in der Geschichte der griechischen Geschichtsschreibung aus den erhaltenen Fragmenten allein ergibt, und dem, was sich aus den Thukydideskapiteln entnehmen läßt. Doch sind diese letzteren für den Stand der Entwicklung gegen Ende des fünften Jahrhunderts nicht weniger wichtig, wenn sie nicht auf Antiochos als Vorlage zurückgehen. Stil und Darstellung des Hellanikos und des Antiochos von Syrakus weisen eine gewisse Ähnlichkeit auf. Beide zeichnen sich nicht durch Lebendigkeit aus. Die Darstellung des Antiochos ist gelegentlich noch etwas schwerfälliger. Beide haben lokale Traditionen gesammelt und sie in eine historische Ordnung zu bringen versucht. Aber hier zeigt sich sogleich ein ganz wesentlicher Unterschied. Hellanikos beginnt mit dem Beginn des Menschengeschlechts und hat seine Methode des Ordnens zunächst und vor allem an einem Objekt ausgeübt, für das sie schlechterdings nicht geeignet ist. Antiochos hat in gewisser Weise auch noch in der mythischen Zeit begonnen, da Kokalos als Zeitgenosse der mythischen Figuren Daidalos und Minos gilt und vor dem Trojanischen Krieg angesetzt wird. Aber es steht keineswegs fest, daß Antiochos die Geschichte von Daidalos und Kokalos erzählt hat. Er scheint sich sonst von mythischen Geschichten sorgfältig fern gehalten zu haben. Kokalos war für ihn der erste König, über den in der lokalen Tradition etwas Festes in Erfahrung gebracht werden konnte. Er hat noch einige eponyme Könige. Aber er hat sich weit über Hellanikos hinaus bemüht, die nicht eponymen Namen der Führer der verschiedenen Kolonisationsunternehmungen ausfindig zu machen. Die Fragmente enthalten gelegentlich etwas, das einen mehr oder minder anekdotischen Charakter hat. Aber selbst dieses zeigt, daß Antiochos, wenn auch gewiß nicht mit fein ausgearbeiteten Instrumenten historischer Kritik, so doch mit nüchternem gesundem Menschenverstand, wie er selbst sagt, „das Vertrauenswürdigste und Einsichtigste"174 aus den mannigfachen lokalen Uberlieferungen herauszufinden versucht hat. 516

Das Verhältnis der chronologischen Angaben zu Beginn des sechsten Buches des Thukydides zu den chronologischen Bemühungen des Hellanikos zeigt eine gewisse Analogie zu dem Verhältnis zwischen Antiochos und Hellanikos in anderen Dingen, wie es sidi in den Fragmenten widerspiegelt. Bei beiden liegt offenbar bis zu einem gewissen Grade eine Generationenrechnung zugrunde. Hellanikos hat in seinen späteren Werken sich neue präzisere Instrumente der Chronologie geschaffen, ist aber eben dadurch, daß das Material für die ältere Zeit eine angemessene Anwendung dieser Instrumente nicht zuließ, zu gewaltsamen Konstruktionen verleitet worden. In den Abschnitten über die Besiedlungsgeschichte von Sizilien bei Thukydides findet sich von der Benutzung der präziseren chronologischen Instrumente des Hellanikos keine Spur, obwohl Thukydides sie kannte und sie da, wo es ihm sinnvoll schien, angewendet hat. Aber die Chronologie, die hier gegeben wird, beruht offensichtlich auf einer Kombination sozusagen von kurzfristigen und langfristigen Abschätzungen von Zeiträumen, die, wenn sie sorgfältig und mit Verstand vorgenommen wurde, bei dem hier vorliegenden Material zu Resultaten führen mußte, die der Wirklichkeit näherkommen mußten als die gewaltsamen Konstruktionen des Hellanikos. Jedenfalls hat Thukydides einer solchen Kombination, ob sie nun von Antiochos stammte oder nicht, mehr Vertrauen geschenkt als Hellanikos, von dessen "Werk, obwohl er es kannte, er in diesem Abschnitt offenbar ebensowenig Gebrauch gemacht hat wie in der Pentekontaetie. Es ist aber doch sehr wahrscheinlich, daß seine Vorlage Antiodios gewesen ist. In jedem Fall aber zeigt sich audi hier wieder, daß die Entwicklung der griechischen Historiographie ganz und gar nicht eine geradlinige gewesen ist. Auf der einen Seite ist nun deutlich, daß das, was Hellanikos an Neuem gebracht hat, nicht einfach in der Zeit gelegen war, da ein Historiker, der sein "Werk fast gleichzeitig mit dem ersten chronologischen Werk des Hellanikos veröffentlicht haben muß, noch gar keine Ahnung davon hat. Auf der andern Seite hat Antiodios, oder wer immer hinter den in Frage stehenden Kapiteln des Thukydides steht, eine chronologische Kombinatorik entwickelt, die unmittelbar zu besseren Resultaten führte als Hellanikos' Anwendung seiner präziseren Instrumente auf ein untaugliches Objekt. Die verschiedenen Beiträge mußten erst zusammengebracht werden, um eine brauchbare und dauernde Grundlage für alle zukünftige Geschichtsschreibung zu finden. Die Bedeutung des Antiochos in der Entwicklung der antiken Geschichtsschreibung liegt dann wohl im wesentlichen auf dem Gebiet der 517

Kritik. Aber nicht darin, daß er neue kritische Methoden gefunden hätte, wie denn überhaupt nichts im Sinne des Erfindens Neues bei ihm zu entdecken ist. Was neu bei ihm ist, ist, daß sich die Erkenntnis, daß man den Mythos nicht in Geschichte verwandeln kann, bei ihm, im Gegensatz zu Hellanikos, vollständig durchgesetzt zu haben scheint. Selbst hier ist jedoch unsicher, wieweit das bei ihm, wie etwa bei Herodot in einer späteren Phase seiner Entwicklung, ein bewußtes Prinzip gewesen ist: Er hat solche Dinge einfach weggelassen. Was ihn bestimmt hat, scheint überall der einfache gesunde Menschenverstand gewesen zu sein und ein solider Sinn für das Faktische. Die Kehrseite davon ist, daß in den Fragmenten seiner Werke fast ebensowenig von einem Sinn für das historisch Bedeutsame zu spüren ist wie bei Hellanikos, wenigstens über das Allereinfachste hinaus: wie etwa, daß es für die Sybariten bedeutsam war, zwischen sich und Tarent eine neue Siedlung zu haben, die zugleich das Hinterland am Siris gegen die Tarentiner abdeckte. Antiochos war dadurch ebenso wie Hellanikos vor Herodots Verwechslung von historisch bedeutsamen Anekdoten und historischen Fakten geschützt. E r wollte offenbar nach Möglichkeit alles so darstellen, wie es wirklich gewesen war. Aber Ranke hat, wenn er ein ähnliches Prinzip aufstellte, zweifellos mehr damit gemeint; und es mußte mehr dazukommen, um auf Grund dieses Prinzips lebendige Geschichte entstehen zu lassen. Zum Abschluß dieses Kapitels sind der Vollständigkeit wegen noch zwei sehr wenig greifbare Gestalten zu erwähnen: Damastes von Sigeion und Charon von Lampsakos. Damastes wird als mit Herodot gleichzeitig und als Schüler des Hellanikos bezeichnet175, während andererseits Porphyrius in seiner Ubersicht über die Plagiate in der griechischen Literatur behauptet176, die Nomina Barbarika des Hellanikos seien aus Herodot und Damastes zusammengeschrieben177. Er soll zwei Bücher über die Griechen und Barbaren, die am Trojanischen Krieg beteiligt waren, und ihre Schicksale geschrieben haben, ein Werk, das aber auch dem Sophisten Polos zugeschrieben wurde 178 . Ferner wird ihm eine Schrift „über das, was sich in Griechenland ereignet hat", also eine griechische Geschichte, eine Schrift über Dichter und Sophisten179, eine verbesserte Erdkarte nach Hekataios 180 und ein Katalog der Völker und Städte 181 , d. h. offenbar ein Kommentar zu der Karte, „und vieles andere" zugeschrieben. Die geographischen Werke des Damastes werden von Strabon scharf kritisiert. Nach einem der Fragmente 182 berichtete Damastes, Diotimos, der Sohn des Strombichos, habe ihm selbst erzählt, er sei bei einer Gesandtschaftsreise nach Susa von Kilikien aus den Kydnos hinauf und von da nach 518

dem Choaspes gefahren, er (Damastes) habe sich allerdings gewundert, wie der Kydnos den Euphrat und Tigris durchqueren und dann in den Choaspes münden könne. Aber selbst ohne die zwischen Kydnos und Choaspes liegenden Riesenströme ist die Vorstellung, man könne den aus dem Gebirge nach Süden ins Mittelmeer fließenden Kydnos hinauffahrend in den mehr als 12 Längengrade weiter östlich nach Süden fließenden Choaspes gelangen, völlig grotesk, so daß man sich fragt, wie ein solches Mißverständnis entstehen oder Damastes, selbst wenn er die Angabe bezweifelt, sie in sein "Werk aufnehmen konnte. Strabo bemängelt auch andere Irrtümer des Damastes und drückt sich über sein "Werk überhaupt äußerst abfällig aus 183 . D a die Gesandtschaft des Diotimos in den ersten Jahren des Peloponnesischen Krieges erfolgte, kann das Werk des Damastes, das sie erwähnte, nicht vor den zwanziger Jahren des fünften Jahrhunderts geschrieben sein. Die Zitate aus den historischen und mythographischen "Werken des Damastes besagen fast alle nur, daß Damastes mit Herodot oder Hellanikos in einer Angabe übereinstimmte 184 . Die einzige Angabe, die vielleicht auf einen eigenen Beitrag des Damastes zur Entwicklung der griechischen Geschichtsschreibung hinweisen mag, ist der Titel des Werkes Ilegl jtoir)tcov xal ao