Geschichte der chinesischen Literatur: Band 1 Die chinesische Dichtkunst. Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit 9783598441103, 9783598245411

"Mit dem Handwerkszeug des Philologen, der Leidenschaft des Literaten und dem Weitblick des Universalisten breitet

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Geschichte der chinesischen Literatur: Band 1 Die chinesische Dichtkunst. Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit
 9783598441103, 9783598245411

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Teil I. Das Altertum – Religion und Ritus
Teil II. Das Mittelalter I – Der Hof und die Kunst
Teil III. Das Mittelalter II – Der Hof und die Provinz
Teil IV. Die Neuzeit I – Dichtkunst und Amt
Teil V. Die Neuzeit II – Engagement und Häuslichkeit
Ausblick: Die nachklassische Dichtkunst. Künstler und Epigonen
Backmatter

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Geschichte der chinesischen Literatur Herausgegeben von Wolfgang Kubin Band 1

Wolfgang Kubin Die chinesische Dichtkunst Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit Band 2

Thomas Zimmer Der chinesische Roman der ausgehenden Kaiserzeit Band 3

Monika Motsch Die chinesische Erzählung Vom Altertum bis zur Neuzeit Band 4

Marion Eggert, Wolfgang Kubin, Rolf Trauzettel Die klassische chinesische Prosa Essay, Reisebericht, Skizzen Band 5

Karl-Heinz Pohl Ästhetik und Literaturtheorie in China Von der Tradition bis zur Moderne Band 6

Wolfgang Kubin, Dietrich Tschanz Das traditionelle chinesische Theater Band 7

Wolfgang Kubin Die chinesische Literatur im 20. Jahrhundert Band 8

Lutz Bieg Bibliographie zur chinesischen Literatur in deutscher Sprache Band 9

Biographisches Handbuch chinesischer Schriftsteller Leben und Werke Band 10

Register

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Geschichte der chinesischen Literatur Band 1

Wolfgang Kubin

Die chinesische Dichtkunst Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit

K · G · Saur München 2002

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Gedruckt mit Unterstützung der DFG

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wolfgang Kubin Die chinesische Dichtkunst : von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit / Wolfgang Kubin. - München : Saur, 2002 (Geschichte der chinesischen Literatur ; Bd. 1) ISBN 3-598-24541-6 U Gedruckt auf säurefreiem Papier © 2002 by K . G . Saur Verlag GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Druck & Bindung: Strauss Offsetdruck, Mörlenbach Printed in Germany ISBN 3-598-24541-6

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I: Das Altertum – Religion und Ritus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Das Buch der Lieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Lieder des Südens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Poetische Beschreibung, Archaisches Lied und Gedicht im Alten Stil . .

Teil II: Das Mittelalter I – Der Hof und die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom Ritus zur Kunst. Cao Zhi und das fünfsilbige Gedicht . . . . . . . . . 2. Dichtkunst und Philosophie. Ruan Ji und Ji Kang . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dichtkunst und Natur. Das Treffen am Orchideenpavillon. Tao Yuanming und Xie Lingyun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der »Salon« und die Kunst des Verses. Shen Yue und Xie Tiao . . . . . .

Teil III: Das Mittelalter II – Der Hof und die Provinz . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Abschied von der Hofpoesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der freie Geist. Gao Shi, Wang Changling und Li Bai . . . . . . . . . . . . . Der klagende Geist. Das Beispiel Du Fu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der erleuchtete Geist. Meng Haoran und Wang Wei . . . . . . . . . . . . . . Von der Kunst zur Kunstlosigkeit. Bai Juyi, Han Yu und Li He . . . . . . Vom Ganzen zum Fragment, vom Öffentlichen zum Privaten. Li Shangyin und das Klassische Lied (Wen Tingyun, Wei Zhuang) . . .

Teil IV: Die Neuzeit I – Dichtkunst und Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ästhetik und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Ästhetik des Unscheinbaren (pingdan). Mei Yaochen und Ouyang Xiu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Ordnung der Dinge. Su Dongpo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Su Dongpo und das Klassische Lied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Lyrik und Gelehrsamkeit. Huang Tingjian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Teil V: Die Neuzeit II – Engagement und Häuslichkeit . . . . . . . . . . . . . .

53 55 64 71 90 99 101 112 150 171 188 226 247 249 256 265 281 291 295 297

1. Patriotismus und Privatheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rückzug und Künstlertum. Li Qingzhao, Jiang Kui, Wu Wenying und Xin Qiji . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ausblick: Die nachklassische Dichtkunst. Künstler und Epigonen . . . . . .

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Inhalt

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Index der wichtigsten Namen, Titel, Begriffe und Zeichen. . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Die Zeiten der Systematik mögen zwar endgültig vorbei sein, und der Zeitgeist mag sich weiterhin in der Erarbeitung des Details gefallen, doch wird vielleicht immer noch das Einzelne nur in seinem Kontext vollkommen sichtbar werden. Haben bisher einbändige Geschichten der chinesischen Literatur nicht nach literarischen Genres ihre Gegenstände getrennt, ja nichtliterarische Genres wie philosophische oder historische Werke in die Literaturgeschichtsschreibung mit einbezogen, so sieht die nun in Druck gehende Geschichte der chinesischen Literatur in zehn Bänden eine klare Scheidung vor: Jedem Genre gebührt ein eigener Band, Philosophie und Geschichte sind ausgesondert. Als ich 1988 mit Kolleginnen und Kollegen die umfangreichste Geschichte der chinesischen Literatur, die je geschrieben worden ist, in Angriff nahm, konnte ich mir wohl nicht vorstellen, daß einer Jugend, die viel will, auch einmal der Atem ausgehen könnte, doch heute weiß ich, daß bei so großen Unternehmungen wie dieser die Autoren zu kommen und gehen belieben. Wenn nun die ersten drei Bände gleichsam »auf einen Schlag« erscheinen und von den restlichen in kurzen Abständen begleitet werden können, so ist das neben der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die zwei Projekte unterstützte (Roman, Theater), auch der Universität Bonn und dem K. G. Saur Verlag zu verdanken. Die Bonner Universität hat mir seit 1988 durch zwei persönliche Hilfskräfte die wissenschaftliche Arbeit erleichtert, und der K. G. Saur Verlag in Gestalt von Professor Dr. h.c. mult. Klaus G. Saur hat mich nicht auf den Früchten der gemeinsamen Arbeit sitzen lassen. Wenn nun als erster Band meine Geschichte der chinesischen Dichtkunst in den Druck gelangt, so nicht aus Eitelkeit, als Herausgeber und Verfasser an der ersten Stelle stehen zu wollen, sondern aus historischer Notwendigkeit: Bekanntlich begann mit der Lyrik auch in China die Literatur bzw. Kultur. Um eine Geschichte der chinesischen Dichtkunst zu schreiben, bedarf es eines Konzeptes – ich geriete sonst in die Gefahr, nach meiner Geschichte einer Entwicklung der Naturanschauung in China (1985), vor allem am Beispiel der Dichtung, dieselbe Geschichte noch einmal, nur umfangreicher zu schreiben. Was im folgenden im Mittelpunkt stehen soll, sind Desiderata. Der religiöse Aspekt, bislang vernachlässigt, soll einer von drei Fäden meiner Darstellung sein. Die anderen beiden haben die schwierigen wie leidigen Fragen nach dem Stellenwert von »Melancholie« in der chinesischen Geistes- bzw. Kulturgeschichte sowie nach dem »Subjektiven« bzw. »Individuellen« zum Thema. Insofern versteht sich diese Geschichte der chinesischen Dichtkunst über ihren Rahmen hinaus auch als Geschichte des chinesischen Geistes, die mit einem Blick auf das 20. Jahrhundert den Grund für die Geschichte einer chinesischen Literatur nach dem Niedergang des Kaiserreiches legen soll.

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Vorwort

Dies ist ein Buch der Frühe, dessen Niederschrift – nach einer Vorlesungsreihe an der Universität Bonn – im Frühsommer 1994 an der Universität Peking begann. Dieser Beginn war für drei Monate von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Philosophischen Fakultät der Universität Peking unterstützt. Neben der DFG habe ich hier Professor Ye Lang und dessen Mitarbeiter Professor Wang Jinmin zu danken, die mein ästhetisches Denken wesentlich beeinflußt haben. Die weitere Niederschrift erfolgte ebenfalls in den frühen Morgenstunden in Bonn und zu guter Letzt in Madison (University of Wisconsin, U.S.A.), wo Dank der Vermittlung von Professor Dr. William H. Nienhauser und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst eine große Bibliothek im Frühjahr 1998 zur Verfügung stand. Die hier vorgelegte Geschichte – 1999 inhaltlich abgeschlossen – versteht sich nicht als die lückenlose Aneinanderreihung von Werken und Namen. Um des roten Fadens willen wurde bewußt eine repräsentative Auswahl getroffen und nicht alles mir Bekannte und Angelesene aufgelistet. Man mag zu Recht die Unterrepräsentanz von Dichterinnen bemängeln, doch deren vornehmer Ort ist die Dichtkunst der Ming- (1368–1644) und der Qing- (1644–1911)Dynastie, einer Epoche, die mir auch männlicherseits verschlossen geblieben ist. Hier warte ich immer noch auf die Erleuchtung, die mir Kang-i Sun Chang von der Yale University durch ihre Werke wie Writing Women in Late Imperial China (hrsg. von Ellen Widmer u. Kang-i Sun Chang, Stanford, California: Stanford University Press 1997) und Women Writers of Traditional China. An Anthology of Poetry and Criticism (hrsg. von Kang-i Sun Chang u. Haun Saussy, Stanford, California: Stanford University Press 1999) längst hatte eingeben wollen. Ich bin mir auch der Tatsache bewußt, daß künftig keine literarischen Gesamtdarstellungen mehr möglich sein werden. In Zukunft wird man in diesem wie in vergleichbaren Fällen nur noch die einzelne Dynastie oder eine Epoche (Antike, Mittelalter, Neuzeit, Moderne) zum Gegenstand wählen können. Soweit wie möglich habe ich mich vorhandener Übertragungen bedient und nur im Einzelfall selber übersetzt. Das große Vorbild Günther Debon (Emeritus der Universität Heidelberg), der Meister der deutschen Sprache, ist zu übermächtig, als daß meine prosaischen Versuche irgendeinen Anspruch erheben könnten. Gleichwohl sind alle Textbeispiele im Original eingesehen und studiert worden. Meine Interpretationen sind ein später Dank an meinen Doktorvater Alfred Hoffmann (1911–1997), dem ich ganz wesentlich die Kunst der Deutung chinesischer Dichtkunst verdanke. Für eine geistige und seelische Unterstützung bin ich im besonderen Maße Rolf Trauzettel, Emeritus der Universität Bonn, und meiner Frau Zhang Suizi verbunden. Beide haben über die Jahre nie einen Zweifel daran gehegt, daß ein in der »Jugend« begonnenes Unterfangen auch im »Alter« beendet werden könne. Zu guter Letzt hat mein Dank auch denjenigen zu gelten, die mir mit technischem und praktischem Rat zur Seite standen: Christian Schwermann, Thorsten

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Vorwort

Eberhard, Jan Ischebeck und insbesondere Nicola Dischert, die auch den gesamten Index erstellte. Fehler, die auch hier trotz vielfacher Lektüre und Korrektur ihr Bleiberecht durchzusetzen vermochten, begreife ich inzwischen als Engländer oder als Chinese: »He who makes no mistakes makes nothing« bzw. »duo zuo, duo cuo, shao zuo, shao cuo.« Oder um mit Paul Wühr zu sprechen: Ich habe den Fehler nicht machen müssen weil der sagt ich bin der Fehler der ich bin lasset uns den Fehler machen ein Bild das uns gleich sei

Bonn, Weihnachten 2001

Wolfgang Kubin

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Einleitung

Wie in anderen Kulturen auch steht am Beginn der chinesischen Literatur die Dichtkunst. Die Dominanz, welche sie im Laufe von bald dreitausend Jahren behalten sollte, erklärt sich aus ihrem hohen Alter und der Kontinuität der chinesischen Kultur. Andere Gattungen entstanden zwar vergleichsweise spät, doch im Rahmen der Weltliteratur betrachtet keinesfalls später als in anderen Nationalliteraturen auch: vereinfacht gesagt, die Erzählkunst zur Tang-Zeit (618–907), Theater (Singspiel) zur Yuan-Zeit (1279–1368), der Roman zur Ming-Zeit (1368–1644) und der Essay – je nach Definition – zur Song-Zeit (960–1279). Der Grund für die Dominanz der Dichtkunst, welche die Geschichte der chinesischen Literatur fast zu einer Geschichte der Lyrik werden läßt – und dementsprechend China zu einem unübertroffenen und unübertreffbaren Reich der Poesie –, der Grund für diese Dominanz dürfte in der besonderen Verbindung von Schrift und Macht zu suchen sein, die ihren Ausgangspunkt im Religiösen hat. Dieser Zusammenhang, und das heißt in unserem Fall auch der Ursprung der Dichtung bzw. Literatur in der Religion, ist bislang für China nicht systematisch, wohl aber andeutungsweise herausgearbeitet worden. Dennoch dürfte die These, auch für China gelte, was für andere Hochkulturen längst nachgewiesen sei, nämlich daß der Ursprung der Künste ins Religiöse zurückverfolgen sei, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sein. Ja, überdies wird die Hegelsche Ansicht, die Literatur bzw. die Kunst im allgemeinen entwickele sich und ihre speziellen Formen in ihrer jeweiligen und besonderen Beziehung zur Religion,1 auf China zwar nicht schematisch, wohl aber vorsichtig veranschlagt werden können. Der Ursprung der chinesischen Schrift ist auf mehrfache Weise in den Zusammenhang von Klansystem, Ahnenkult und kosmischer Ordnung eingebunden. Das Zeichen für Schrift, wen, ist etymologisch als Einheit von Himmel und Erde zu verstehen und diente zunächst auf Orakelknochen als Mittel zur Kommunikation mit den Ahnen. Als Nachbildung göttlicher Spuren in der Welt offenbarte es die geheimnisvolle Beziehung der Dinge untereinander.2 Wer über wen verfügte, konnte mit den Ahnen, nach deren Gesetz die Gesellschaft verfuhr, Verbindung 1

2

Vgl. hierzu KUNO FISCHER: Hegels Leben, Werke und Lehre, Bd. 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, S. 818ff. Vgl. hierzu CHOW TSE–TSUNG: »Ancient Chinese Views on Literature, the Tao and their Relationship«, in: CLEAR 1 (1979), S. 3–29. HELWIG SCHMIDT–GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, Bern, München, Wien: Scherz 1990, S. 21f., 28f., 202, 285. FRANÇOIS CHENG: Chinese Poetic Writing, Bloomington: Indiana UP 1982, S. 3–8. STEPHEN OWEN: Traditional Chinese Poetry and Poetics. Omen of the World, Madison: The University of Wisconsin Press 1985, S. 18f; LOTHAR VON FALKENHAUSEN: »The Concept of Wen in the Ancient Chinese Ancestral Cult«, in: CLEAR 18 (1996), S. 1–22.

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Einleitung

aufnehmen und die Zukunft voraussagen; er verfügte damit über Macht. Der höchste Machtträger war der König, der sich entweder eines Schamanen bediente oder selbst in dessen Rolle schlüpfte. Er pflegte seine Macht, um damit seinen Zugang zum Himmel im Ahnentempel zu demonstrieren.3 Die Riten, derer er sich dabei bediente, waren von »Liedern« begleitet. Daher verwies das Zeichen für »Lied«, shi, welches heute allgemein für Dichtung steht, ursprünglich auf religiöse Vorgänge im Ahnentempel. Nach Chow Tse-tsung stehen Vorläufer des erst spät belegten Zeichens shi für das Halten eines heiligen Gegenstandes während einer religiösen Zeremonie im Ahnentempel, kurz, besagtes Zeichen war in ein Ritual eingebunden, welches sich wesentlich Musik, Gesang und Tanz verdankte.4 Erst mit einer sich allmählich herausbildenden Betonung des Wortes und mit einem zaghaften Verblassen der ursprünglichen ästhetischen Trinität beginnt im Rahmen einer spätestens seit Konfuzius zu beobachtenden Säkularisierung shi, die Bedeutung »Gedicht« anzunehmen. Da »Gedichte« in China ihren Bezug zum Gesang nie eigentlich verloren haben, sondern bis in die Gegenwart – in welcher Form auch immer – gesungen zu werden pflegen, haftet dem Dichten heute immer noch etwas Magisches an. Nur so ist zu erklären, warum Cao Pi (187–226) die Literatur als das bedeutendste Geschäft des Herrschers verstehen konnte,5 und warum über die Jahrhunderte bis ins 20. Jahrhundert hinein die Kaiser bzw. Machthaber (Mao Zedong, Chiang Kai-chek u.a.) neben der intellektuellen Elite immer wieder auch als Kalligraphen und Dichter auftraten.6 »Das Geschriebene enthielt das Geheimnis der Herrschaft über die Welt; die Beschriftungen wurden mit der Information identifiziert, die sie enthielten, denn als das Schreiben begann, waren sie selbst Teil des Instrumentariums der so bedeutsamen Kommunikation zwischen Himmel und Erde.«7 Nach chinesischem Verständnis weinten die Götter, als Cang Jie in Nachahmung der von himmlischen Wesen auf den Wegen der Erde hinterlassenen Spuren die Schrift erfand.8 Schreiben zu können bedeutete eine Teilhabe am Mysterium des Kosmos, einen Gewinn von Macht. Und da Schreiben zum wesentlichen Teil Dichten war, konnte später Du Fu (712–770) die Auffassung vertreten: »Ist ein Gedicht vollendet, weinen Götter und Dämonen« (shi cheng qi gui shen).9 3

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5

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7 8 9

Vgl. hierzu K.C. CHANG: Art, Myth and Ritual: The Path to Political Authority in Ancient China, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1983. Vgl. hierzu CHOW TSE–TSUNG: »The Early History of the Chinese Word Shih (Poetry)«, in: DERS. (Hg.): Wenlin. Studies in the Chinese Humanities, Madison u.a.: University of Wisconsin Press 1968, S. 151–209. So in seiner Schrift »Über die Literatur« (Lun wen), s. STEPHEN OWEN: Readings in Chinese Literary Thought, Cambridge, Mass. u.a.: Harvard UP 1992, S. 68–69. Vgl. hierzu RICHARD CURT KRAUS: Brushes with Power. Modern Politics and the Chinese Art of Calligraphy, Berkeley: University of California Press 1991. Übersetzt nach CHANG: Art, Myth and Ritual, S. 81. So Huainanzi, s. ebd. Zitiert nach CHENG: Chinese Poetic Writing, S. 8.

xii

Einleitung

Neben wen und shi ist das ästhetische Prinzip des Natureingangs (xing) ein drittes Indiz für den religiösen Ursprung der chinesischen Literatur. In seinem Buch Xing de yuanqi (Der Ursprung des Natureingangs)10 vertritt Zhao Peilin mit Rückgriff auf Vorarbeiten von Wen Yiduo (1899–1945) die Auffassung, daß der Natureingang (xing) nicht aus dem Arbeitsprozeß, wie Ch'en Shih-hsiang meint,11 abzuleiten sei, sondern aus dem Totemismus. Er unterscheidet vier Formen von Totems, die mit dem Ahnenkult in Verbindung gebracht werden: Tiere, hauptsächlich Vögel; Gewächse, vor allem Bäume; Fische und schließlich Fabelwesen (Drache, Phönix, Einhorn). Da jeder Klan über ein Totem einst seinen Ahnen identifiziert habe, habe sich im Natureingang, das heißt, in der Anrufung des Totems, die Sehnsucht nach den Ahnen oder nach einer Rückkehr zu ihnen erhalten. Erst im Zuge der »Rationalisierung« der ausgehenden Zhou-Zeit sei die Identifizierung von zum Beispiel Vogel mit Ahn verlorengegangen, ebenso die ursprüngliche Funktion des Natureingangs. Infolgedessen habe sich xing zu einem allgemeinen ästhetischen Prinzip säkularisiert, so daß sich unter anderem die so häufig auftretende Formel »X X yu fei« (X X fliegt gen ...) erweitert habe und nicht mehr einfach für ein Gedenken an Ahnen oder Eltern stehe. Die Belege, die Zhao Peilin anführt, sind trotz der Spärlichkeit und Deutungsschwierigkeit des Materials überzeugend, zumal sie durch andere Arbeiten bestätigt werden. So setzt auch die von Zhang Songru herausgegebene Geschichte der chinesischen Dichtung12 den Totemismus als eine wesentliche Quelle für den Ursprung der chinesischen Literatur an: Die Lieder und Tänze zur Verehrung des Totems hätten bereits sehr früh in China die Einheit von Wort, Musik und Tanz festgelegt. Im einzelnen läßt sich bequem auf die Geschichte Die Religionen Chinas von Werner Eichhorn zurückgreifen. Auch hier ist die Rede von der Vogeltotemgemeinschaft der Shang-Dynastie (dunkler Vogel = Schwalbe), von einer Drachentotemgemeinschaft der legendären Xia-Dynastie, vom Baum als Repräsentant des Erdgottes bzw. Erdaltars (she). Es fehlt lediglich der Hinweis auf Fisch als Fruchtbarkeitssymbol im Rahmen von Liebe, Ehe und Ahnenverehrung.13 10

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ZHAO PEILIN: Xing de yuanqi. Lishi jidian yu shige yishu, Peking: Zhongguo Shehui Kexue 1987. CH'EN SHIH–HSIANGs Aufsatz »The Shih–ching: Its Generic Significance in Chinese Literary History and Poetics«, in: CYRIL BIRCH (Hg.): Studies in Chinese Literary Genres, Berkeley: University of California 1974, S. 8–41, wird von ZHAO PEILIN indirekt auf S. 4 kritisiert und namentlich auf S. 10 erwähnt. ZHANG SONGRU (Hg.): Zhongguo shige shi. Xian-Qin Liang-Han, Changchun: Jilin Daxue 1988, hier bes. S. 23–35. Als eigentlichen Ursprung der chinesischen Literatur setzt diese Geschichte jedoch, materialistisch argumentierend, den Arbeitsprozeß an. Die frühen Opferlieder, S. 16–23, hätten die Formen (Reim, Rhythmus etc.) lediglich übernommen. WERNER EICHHORN: Die Religionen Chinas, Stuttgart: Kohlhammer 1973, S. 24, 27, 41–45, 70–72. Zu den entsprechenden Ausführungen bei ZHAO PEILIN s. S. 12–24 (Vogel), 24–36 (Fisch), 36–48 (Baum und Erdaltar), 48–66 (Fabelwesen).

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Einleitung

Über den hier vereinfacht als »Natureingang« übersetzten Begriff xing ist bereits viel geschrieben worden,14 vor allem über seine säkularisierte Form, ohne daß jedoch besonders viel Klarheit erzielt worden wäre. Der Grund für die mangelnde Durchdringung mag einmal in seinem unterschiedlichen Gebrauch innerhalb der chinesischen Geistesgeschichte liegen, zum anderen in der Vernachlässigung des religiösen Hintergrundes. Natureingang ist eine Behelfsübersetzung, die einem ähnlichen Phänomen der abendländischen Literaturgeschichte entlehnt ist. Dort versteht man darunter eine Naturschilderung als Einleitung zu einem Liebeslied (Minnesang, Volkslied). Der requisitenartige Charakter des Inventars aus Bäumen, Blumen und Vögeln läßt auch hier ein ursprüngliches Naturgefühl vermissen, Natur ist Mittel, nicht Selbstzweck.15 Naturbeschreibung dient der Vorbereitung des Themas, der Evozierung einer Stimmung. In letzterem Sinne schließt sich xing mit dem späteren, seit Konfuzius zu beobachtenden Gebrauch zusammen: In den Gesprächen, dem Lunyu, geht es bei Nennung dieses Terminus nicht um ein schöpferisches Prinzip der Dichtung, sondern um einen »Reiz«, um einen »Stimulus« (so oftmals die Übersetzung von xing), der bei einem anderen (Hörer, Leser) geweckt werden soll.16 Als Modell lyrischer Kreativität vermag sich der Begriff xing im Sinne von Natureingang über das Buch der Lieder und die Lieder des Südens hinaus nur im archaischen Liedgut (yuefu) zu halten. Der Niedergang, der vor dem 6. Jh. v.Chr. zu beobachten ist,17 ist wahrscheinlich auf das immer stärker in den Vordergrund tretende weltanschauliche und ästhetische Prinzip der Entsprechungen (lei) zurückzuführen, deren meisterhafte Beherrschung ganz wesentlich die unübertroffene und unübertreffbare Größe der Dichtung der Tang-Zeit (618–907) ausmacht. Nicht zu Unrecht und schon gar nicht zufällig hat daher in letzter Zeit die Grundlegung einer Theorie der chinesischen Dichtung in der westlichen Sinologie ihren Ausgang beim korrelativen Denken Chinas genommen. Nun ist über eine Theorie der chinesischen Lyrik schon manches geschrieben worden. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, das nachzuzeichnen, was gleichsam akademisches Allgemeingut geworden ist. Vielmehr soll das Augenmerk ganz der Philosophie der Entsprechungen in ihrer lyrischen Einkleidung gelten, und zwar aus zwei Gründen: 1. Erst die von François Cheng und Stephen Owen in die Interpretation der chinesischen Dichtkunst eingebrachte Ästhetik der Entsprechungen 14

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Vgl. hierzu u.a. CH'EN SHIH–HSIANG (s.o. Anm. 11); CHOU YING–HSIUNG: »The Linguistical and Mythical Structure of Hsing as a Combination Model«, in: JOHN J. DEENY (Hg.): Chinese– Western Comparative Literature. Theory and Strategy, Hongkong: Chinese University 1980, S. 51–78; PAULINE YU: The Reading of Imagery in the Chinese Poetic Tradition, Princeton: Princeton UP 1987, S. 44–83. Vgl. hierzu BARBARA VON WULFFEN: Der Natureingang im Minnesang und fruehem [sic!] Volkslied, München: Hueber 1963. YE LANG: Zhongguo meixue shi dagang, Bd. 1, Schanghai: Renmin 1984, S. 50. Ich folge hier CHOU (s.o. Anm. 14), S. 57.

xiv

Einleitung

erlaubt ein wirkliches, und das heißt, in die Tiefe führendes Verständnis chinesischer Gedichte vor der Song-Zeit (960–1279). 2. Über das Konzept lei wird weiter ein Zusammenhang zwischen Religion und Lyrik herzustellen sein. Überdies wird sich der weltanschauliche und vor allem ästhetische Wandel der chinesischen Dichtkunst seit der Song-Zeit möglicherweise aus dem »Niedergang« bzw. der Säkularisation des Religiösen und aus einer zunehmend kritischen Haltung gegenüber dem korrelativen Denken erklären lassen. Dennoch seien zunächst, sofern sie noch zur Diskussion beitragen, die Werke genannt, die in der Vergangenheit einem größeren Publikum auf wirkungsvolle Art, weil theoretisch fundiert, die chinesische Lyrik nahezubringen versucht haben. Hier sind zunächst – auch auf Grund ihres großen Einflusses auf die westliche Literatur des 20. Jahrhunderts – die Arbeiten von Ezra Pound (1885–1972) und Ernest Fenollosa (1853–1908) zu nennen, Arbeiten, die reich kommentiert worden sind.18 Trotz ihrer Fehlerhaftigkeit sind manche ihrer Einsichten auch heute noch beherzigenswert. Ich denke hier vor allem an die Ausführungen zum Bild in der chinesischen Dichtung, das ob seiner Konkretheit von Ezra Pound 1912 gegen die »Krankheit der vorigen anderthalb Jahrhunderte«19, nämlich die Abstraktheit der Georgian poets in England ins Feld geführt wurde. Auf der Basis der Arbeiten von Fenollosa entwickelte Pound die Vorstellung von image und vortex: Das allgemeine Bild, das sich aus den Informationen A, B, C zusammensetzt, wird in der zweiten Zeile eines Doppelverses durch ein konkretes Bild, eine Art Kommentar bzw. Schlußfolgerung verengt, und zwar wie in einem vortex.20 Das ideogrammatische Prinzip bringt also zwei Ebenen zusammen, neben dem Allgemeinen und Konkreten das Emotionale und das »Intelligible«. Durch die assoziative Verbindung mehrerer Informationen wird ein Metatext begründet. Es ist exakt dieser jenseitige Raum, der die Schönheit chinesischer Dichtung ausmacht und der von 18

19 20

Zu nennen sind hier u.a.: ERNEST FENOLLOSA: The Chinese Written Character as a Medium for Poetry, San Francisco: City Light Books o.J. EZRA POUND: Wort und Weise, Zürich: Arche 1957, bes. S. 116–133 (Vortizismus). Zur kritischen Auseinandersetzung mit Fenollosa und Pound s. ACHILLES FANG: »Fenollosa and Pound«, in: HJAS 20 (1957), S. 213–238; GEORGE A. KENNEDY: »Fenollosa, Pound and the Chinese Character«, in: LI TIEN-YI (Hg.): Selected Works of George A. Kennedy, New Haven, Conn.: Far Eastern Publications Yale University 1964, S. 443–462. Zu einer kritischen Würdigung s. WAI–LIM YIP: Ezra Pound´s Cathay, Princeton: Princeton UP 1969. Allgemein s. MONIKA MOTSCH: Ezra Pound und China, Heidelberg 1976. S. auch LORE LENBERG: Rosen aus Feilstaub. Studien zu den Cantos von Ezra Pound, Wiesbaden: Limes 1966; WALTHER L. FISCHER: »Zur ideogrammatischen Schreibweise Pounds«, in: text + kritik 10/11 (1965), S. 51–65; EARL MINER: »Vom Image zum Ideogramm«, in: EVA HESSE: (Hg.): Ezra Pound. 22 Versuche über einen Dichter, Frankfurt, Bonn: Athenäum 1967, S. 104–124; WALTHER L. FISCHER: »Ezra Pounds chinesische Denkstrukturen«, in: HESSE: Ezra Pound, S. 167–181. MINER: Vom Image zum Ideogramm (s. Anm. 18), S. 101. Erste und obige Einsichten zu Pound verdanke ich einem unpublizierten Beitrag des Übersetzers AXEL SCHMITZ: Pound, Personae, Cantos und Vers libre.

xv

Einleitung

James J.Y. Liu in verschiedenen wichtigen Arbeiten immer wieder thematisiert wurde.21 Was bei Pound als ideogrammatisches Prinzip bezeichnet wird, wird hier unter Rückgriff auf die chinesische Geistesgeschichte mit dem poetischen Modell einer formalen (nicht immer, aber mitunter auch inhaltlichen) Einheit von qing und jing bezeichnet, was vereinfacht mit »Idee« und »Wirklichkeit« wiedergegeben werden kann.22 In dieser durch die Juxtaposition geschaffenen Verbindung des Allgemeinen und Konkreten läßt sich das Problem der chinesischen Weltanschauung erkennen, nämlich Wirklichkeit nicht mimetisch erfassen, nicht repräsentieren zu wollen, sondern deiktisch zu begreifen und nur im Wesen zu streifen. Sprache wird damit zum Medium des nicht vollends Benennbaren, des Entschwindenden, so daß durch die Parallelisierung zweier oder mehrerer Bilder der paradoxe Versuch unternommen wird, mit möglichst wenig Worten (Bildern) möglichst viel zu sagen, das Schweigen gleichsam zur Sprache zu machen. James Liu, der bislang wichtigste Vertreter einer Theorie der chinesischen Dichtkunst, berührt den Begriff lei in seinen Arbeiten gar nicht; die Frage nach der Religion dagegen streift er sehr wohl, ohne ihr jedoch einen prominenten Platz einzuräumen.23 Es ist daher durchaus verwunderlich,24 daß erst mit François Cheng und seiner aus dem Französischen ins Englische übersetzten, wegweisenden Studie zur chinesischen Lyrik das korrelative Denken als ein entscheidendes Element poetischen Schaffens in China erkannt und von Stephen Owen auf beeindruckende Art weiterentwickelt wird.25 Es mag auch verwunderlich erscheinen, wenn im folgenden der Versuch unternommen wird, besagte Philosophie der Entsprechungen einmal unter die Religion zu subsumieren, zum anderen das Ende 21

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Es seien hier folgende Werke genannt: The Art of Chinese Poetry, Chicago: University of Chicago Press 31970; das wunderbare Kompendium: Essentials of Chinese Literary Art, North Scituate: Duxbury 1979, bes. S. 2–32; The Interlingual Critic. Interpreting Chinese Poetry, Bloomington: Indiana UP 1982; das nachgelassene Werk: Language, Paradox, Poetics, hrsg. von RICHARD JOHN LYNN, Princeton: Princeton UP 1988. Vgl. hierzu meine Ausführungen in: Das lyrische Werk des Tu Mu (803–852). Versuch einer Deutung, Wiesbaden: Harrassowitz 1976 (= Veröffentlichungen des Ostasien Institutes der Ruhr-Universität Bochum; 19), S. 54–61. LIU: Essentials of Chinese Literary Art, S. 10-14. Vielleicht auch nicht, denn hierzu meint MUNAKATA KIYOHIKO: »Concept of Lei and KanLei in Early Chinese Art Theory«, in: SUSAN BUSH and CHRISTIAN MURCK (Hg.): Theories of the Arts in China, Princeton: Princeton UP 1983, S. 105, lei sei in späteren Kunsttheorien einfach vergessen worden. FRANÇOIS CHENG: Chinese Poetic Writing. Die französische Ausgabe ist unter dem Titel L’écriture poétique Chinoise 1977 in Paris bei Éditions du Seuil erschienen. FRANÇOIS CHENG hat dieses Buch zweimal in Aufsatzform zusammengefaßt: »Some Reflections on Chinese Poetic Language and its Relation to Chinese Cosmology«, in: LIN SHUEN–FU and STEPHEN OWEN (Hg.): The Vitality of the Lyric Voice. Shih Poetry from the Late Han to the T'ang, Princeton, N.J.: Princeton UP 1986, S. 32–48. Im Falle von STEPHEN OWEN vgl. dessen Buch Traditional Chinese Poetry and Poetics (s.o. Anm. 2).

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Einleitung

einer Einheit von lei und chinesischer Dichtung mit der Song-Zeit anzusetzen. Ein erster Einwand könnte sein, daß doch Werner Eichhorn in seiner umfangreichen und wichtigen Geschichte der chinesischen Religion das kosmologische Denken in Form von Korrelationen überhaupt nicht erwähnt, ein zweiter, daß John B. Henderson in seinem Abriß der chinesischen Kosmologie26 für die Song-Zeit zwar eine kritische Auseinandersetzung mit der Weltanschauung lei konstatiert, doch die zu einem langsamen Ende korrelativen Denkens führende Auseinandersetzung für das 17. Jahrhundert festschreibt. Eine kurze Überlegung zunächst zu letzterem, im Rahmen dieser Studie vielleicht nicht ganz auszuräumenden Einwand: Es ist eine Tatsache, daß im 11. Jahrhundert just in dem Kreis (Ouyang Xiu, Su Xun u.a.)27, der eine Distanz zum kosmologischen Denken entwickelt, ein Richtungswechsel poetischen Schaffens vorgenommen wird, der die Literaten nicht mehr oder nur imitativ im Rahmen eines »Klassizismus« auf den von den Tang-Dichtern vollendeten, ja, gleichsam ausgetretenen Pfad zurückkehren läßt. Es ist hier nicht der Ort, das Argument weiter zu entfalten; es sei späteren Überlegungen vorbehalten, die These zu verifizieren bzw. zu problematisieren oder gar einzuschränken. Der erste Einwand wiegt schwerer. Hier ist der Verfasser jedoch der Überzeugung, daß das korrelative Denken, wie es im folgenden kurz entworfen werden soll, seinen Ursprung im Religiösen hat, immer wieder in den Bereich des Religiösen einmündet, und sei es auch nur in Form einer säkularisierten Weltdeutung. Eine exakte Lektüre der Arbeiten von François Cheng bestätigt diese Annahme, denn immer wieder finden sich Verweise auf religiöse Termini, die den Hintergrund und den tiefen mythologischen Bezug der chinesischen Dichtung erhellen sollen. Da im deutschen Sprachraum die Ansätze von François Cheng und Stephen Owen noch keine besondere Resonanz gefunden haben, sollen sie unter besonderer Berücksichtigung der religiösen Elemente im folgenden zusammenfassend dargestellt werden. Es besteht einhellig die Auffassung, daß hinter der Philosophie der Entsprechungen eine »kollektive Mythologie«28 bzw. ein archetypisches Denken29 waltet, etwas, was die (leider oft anzutreffende) Anwendung des Begriffes Subjektivität (im abendländischen Sinne des ausgehenden 18. Jahrhunderts) zur Charakterisierung klassischer (einschließlich archaischer und nachklassischer) Dichtung strikt verbiete.30 Zwar wird erst mit der Han-Zeit, genauer mit Dong Zhongshu (ca. 179 – ca. 104 v.Chr.) die Deutung der Welt nach Kategorien (lei) als System etabliert, 26

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JOHN B. HENDERSON: The Development and Decline of Chinese Cosmology, New York: Columbia UP 1984. Ebd., S. 104–109. CHENG: Chinese Poetic Writing, S. 71. YU–KUNG KAO und TSU–LIN MEI: »Meaning, Metaphor, and Allusion in T'ang-Poetry«, in: HJAS 38/2 (1978), S. 332–335. Vgl. hierzu vor allem OWEN: Traditional Chinese Poetry and Poetics, S. 27–34, S. 191ff., 252ff.; HENDERSON: The Development and Decline of Chinese Cosmology, S. 50.

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doch lassen sich erste Ansätze unter anderem bis zum Daodejing und zum Buch der Wandlungen (Yijing: »Xicizhuan«) zurückverfolgen. Etymologisch leitet sich das Wort lei vom Ahnenkult her, es bezeichnet zunächst ein Rudel Hunde. Der Hund war bekanntlich von den Shang zum Schutz von Haus und Mensch geopfert worden.31 Auf den Orakelknochen stand lei für die Opfer an ein göttliches Wesen oder die Vorfahren, es konnte dann aber auch allgemein die jahreszeitlichen Opfer meinen. Dank seiner Einbindung in den Ahnenkult vermochte lei auch den Klan zu repräsentieren und die damit verbundenen Riten. Für die Konfuzianer konnte daher besagtes Konzept eine soziale und moralische Dimension bekommen, indem es vom einzelnen auf die Gesellschaft ausgedehnt wurde. Für die Taoisten nahm der Terminus kosmologischen Charakter an; er war das Gemeinsame, gleichsam die verborgene Beziehung von Mensch, Erde, Himmel und Tao.32 Das, was sich im weitesten Sinne unter lei fassen läßt, ist auch über China hinaus in allgemeinen mythologischen Vorstellungen zu beobachten. »Nach Mircea Eliade macht die zyklische Ontologie die Aufgabe einer historischen, linearen Zeit möglich, und zwar dank einer Reduktion von Ereignissen zu Kategorien, von Individuen zu Archetypen, von Raum zum ›Zentrum‹ und von Zeit zur Ursprungszeit (original time) der Schöpfung.«33 Es geht, allgemein gesagt, bei lei um den Versuch, in einer als ungeschaffen verstandenen Welt34 ein kosmologisches Muster und damit eine grundsätzliche Ordnung auszumachen, die den Dingen untereinander eine Relation zuweisen. In gewisser Hinsicht läßt sich hier von einer Art Rationalisierung sprechen, nämlich von dem Unterfangen, »eine Homogenität zwischen biologischen und kosmischen Rhythmen zu rationalisieren.«35 Weiter ausholend, das heißt, unter Einbeziehung der frühchinesischen Erkenntnis von der Zeitlichkeit des Menschen,36 beschreibt Robert Shanmu Chen den hinter dieser Rationalisierung stehenden zyklischen Mythos folgendermaßen: »Als mythopoetisches Muster rief der mythische Zyklus eine phantastische Welle der Abstraktion hervor, sobald die Lösung des Leidens 31

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Vgl. EICHHORN: Die Religionen Chinas, S. 18f., 23. Zur Verehrung des Hundes im pazifischen Kulturraum (s. Kap. 2) vgl. XIAO BING: Chuci yu shenhua, O.O.: Jiangsu Guji 1987, S. 5. Obige Ausführungen zu lei verdanke ich Wang Jinmin, Universität Peking. Zur Rolle des Hundes im Schamanismus allgemein vgl. MIRCEA ELIADE: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Frankfurt: Suhrkamp 21980 (= stw 126), S. 430. Zum Zusammenhang von lei und Opfer in der Vorstadt (jiao), wo alles von derselben Art zu sein hatte, um guten Erfolg zu haben, vgl. auch MUNAKATA, S. 109–110. Übersetzt nach ROBERT SHANMU CHEN: A Comparative Study of Chinese and Western Cyclic Myths, New York u.a.: Peter Lang 1992 (= Asian Thought and Culture VII), S. 4. China hat erst spät, und zwar mit dem 4. Jahrhundert n.Chr., Schöpfungsmythen zu entwickeln begonnen, das heißt, die Welt als Akt eines Schöpfers verstanden. CHEN: A Comparative Study of Chinese and Western Myths, S. 37. Da ich den Aspekt der Zeit im frühchinesischen Denken bereits in meinem Aufsatz »Zeit und Subjektivität« (s. Anm. 118, S. 42) ausführlich abgehandelt habe, möchte ich hier diesen Aspekt nicht weiter vertiefen.

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an der Zeit (temporal tensions) durch die Einheit von menschlichen und natürlichen Zyklen möglich wurde. Die alten chinesischen Klassiker sind ein Zeugnis für die unglaubliche Systematisierung der Entsprechungen (correspondences) zur Absicherung der Einheit von Mensch und Natur.«37 Schreiben bedeutet danach, den Zusammenhang der Erscheinungen zu erkennen und mittels Sprache anzudeuten. Da nichts in der Welt allein sein kann, da alles einander ruft,38 sind die schöpferische Suche nach der Relation, die Gestaltung des alltäglichen Lebens im universellen Zusammenhang, die Akzeptierung eines unveränderlich gegebenen, festen und einmaligen Ortes im Weltgefüge eine grundsätzliche Forderung des chinesischen Geistes. Um sich dem natürlichen Prozeß des Universums einfügen zu können, ist dem Menschen eine kosmologische Trinität (auf)gegeben: Diese hat komplementären Charakter und besteht aus den sich jeweils ergänzenden Paaren Leere–Fülle, Yin–Yang, Himmel–Erde, in letzterem Falle erweitert durch den Menschen als Zwischenglied: Himmel, Erde, Mensch. Ursprung und Wirkungsweise dieser Kategorien, zu denen u.a. auch noch die wichtigen Fünf Agenzien (wuxing: Wasser, Feuer, Erde, Metall, Holz)39 zur Erklärung kosmischer, historischer, gesellschaftlicher Veränderungen gehören, geben über den religiösen Hintergrund der chinesischen Kosmologie Auskunft. Dieser sei vereinfachend nach François Cheng dargestellt:40 Das Tao des Ursprungs ist die höchste Leere (0), aus welcher das eine, nämlich der allererste Odem (yuanqi), entsteht. Aus diesem wiederum entsteht die Zweiheit von Yin und Yang, deren Interaktion die Zehntausend Dinge, das heißt, die Welt der Erscheinungen hervorbringt. Zwischen Zweiheit und Vielheit steht die Dreiheit, die, aus Yin und Yang entstanden, Himmel (Yang) und Erde (Yin) sowie den Menschen umfaßt. Der Mensch verleiht Himmel und Erde als deren »Herz« (xin) die Möglichkeit der Sprache, denn ihnen ist es nicht gegeben, zu sprechen. So leistet er unter anderem seinen Beitrag zum Prozeß des Universums, der auf das Göttliche (shen) ziele. Die Anbindung ans Religiöse, die François Cheng ganz offensichtlich vornimmt, mag im Einzelfall zu sehr abendländischem Geist nachempfunden sein, doch finden seine Ausführungen durch spätere Zeugnisse durchaus Bestätigung, so zum Beispiel in der Poetik des Zhong Rong (6. Jahrhundert), der die Dichtkunst als Opfer an die Geister (ling) und als Manifestation des Mysteriums (you) begreift. Wörtlich kommt er zu der Auffassung: »Um Himmel und Erde zu bewegen, um die Götter zu wecken, ist einzig Poesie das geeignete Mittel.«41 Stephen Owen treibt diesen Tenor gleichsam auf die 37 38 39

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CHEN: A Comparative Study of Chinese and Western Myths, S. 37. So Liu Xie (465–522), s. OWEN: Traditional Chinese Poetry and Poetics, S. 21f., 180. Die Übersetzung folgt EICHHORN: Die Religionen Chinas, S. 90. Zur Bedeutung vgl. auch HENDERSON: The Development and Decline of Chinese Cosmology, S. 7. CHENG: Chinese Poetic Writing, S. x–xiii. Ebd., S. xi.

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Spitze, wenn er das kosmologische, den Staat einbegreifende Denken in China in einem Glaubensbekenntnis zusammenfaßt: »Ich glaube an die allgemeine und ewige Gültigkeit des kosmisch-kaiserlichen Systems.«42 Die Konsonanz zwischen kosmischer und menschlicher Welt ist eine vielfältige. Hierzu bemerkt John B. Henderson sehr schön: »Zentraler Punkt der meisten Entsprechungssysteme war die systematische Korrelation eines gewissen Aspekts der menschlichen Welt, wie Körper, Staat, politische Geographie, mit den Mustern des Kosmos, wie sie sich in den Konstanten, Perioden und Konfigurationen des Firmaments manifestieren. Denn das Sternengewölbe war für den Menschen das weiteste Fenster zum Universum, das eindeutigste Medium zu Betrachtung der fundamentalen Ordnung von Raum und Zeit.«43 Die Korrelation war möglich, weil in allem Elemente walteten, die von ähnlicher Art waren, einander ergänzten und kontrastierten. Konfuzius werden Worte zugeschrieben, welche diese »Wahlverwandtschaften« besonders treffend zu veranschaulichen vermögen: Was im Ton übereinstimmt, schwingt miteinander. Was wahlverwandt ist im innersten Wesen, das sucht einander. Das Wasser fließt zum Feuchten hin. Das Feuer wendet sich dem Trockenen zu. Die Wolken folgen dem Drachen, der Wind folgt dem Tiger. So erhebt sich der Weise, und alle Wesen blicken nach ihm. Was vom Himmel stammt, fühlt sich verwandt mit dem, was droben ist. Was von der Erde stammt, fühlt sich verwandt mit dem, was drunten ist. Jedes 44 folgt seiner Art [lei].

Mit der Deutung von lei haben sich bisher alle Kommentatoren schwer getan, und das ist wohl auch der Grund, warum es so wenige wirkliche Verständnishilfen gibt. Obiges Zitat ist ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten, die den Interpreten erwarten, wenn er ins Detail gehen und systematisieren möchte. Lei bezieht sich nämlich nicht nur auf Gleiches (Wasser–naß), sondern auch auf Verschiedenes (Feuer–trocken statt: Feuer–heiß), was um der Einfachheit willen nicht als Gegensatz, sondern als einander Ergänzendes aufgefaßt werden muß. Nur so läßt sich – für den westlichen Geist verwirrend genug – die Tabelle nachvollziehen, die Wang Li nach Konzepten (lei) zusammengestellt hat. Hier findet sich nämlich unter dem Konzept »Geographisches« u.a. das, was nach den »Fünf Agenzien« getrennt ist (Erde [di] und Wasser [shui]) oder was als Yin und Yang auseinanderfällt, nämlich Berg (shan) und Wasser (shui).45 Joseph Needham hat für diese »Unlogik«, die sich oben besonders in der Verbindung von Wolke und Drache, Wind und Tiger zeigt, eine Erklärung gefunden. Das »Gesetz der Ähnlichkeit« sei 42 43 44

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OWEN: Traditional Chinese Poetry and Poetics, S. 31. HENDERSON: The Development and Decline of Chinese Cosmology, S. 110. Zitiert nach RICHARD WILHELM: I Ging. Das Buch der Wandlungen, Köln: Diederichs 1970, S. 352f. Zu diesem Zitat finden sich bei MUNAKATA, S. 106f., exzellente Ausführungen. WANG LI: Hanyu shilüxue. Hongkong: Zhonghua 1973, S. 154.

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als »koordinatives« bzw. »assoziatives« Denken intuitiver und nicht streng rationaler Art; daher werden Dinge nicht unter-, sondern nebeneinander angeordnet.46 Kurz, es gibt keinen eigentlichen Oberbegriff, und dies wohl deshalb nicht, weil es keinen »ersten Beweger« gibt, mit der Folge, daß die allgemein für die Konzepte erstellten Tabellen,47 die ihren Ausgang bei den »Fünf Agenzien« nehmen, sowohl waagerecht als auch senkrecht zu lesen sind. Was also unter den »Dingen, die gleicher Art einander bewegen« (tong lei xiang dong)48, waltet, ist eine »mysteriöse Resonanz«49, eine Resonanz, die, auf Harmonie statt Konkurrenz basierend, alles in eine existentielle Abhängigkeit voneinander bringt (die Alternative wäre die totale Isolation). Zu den Mustern des Kosmos, das heißt, zu den Konzepten gehörten, leicht nachvollziehbar, die vier Jahreszeiten, die fünf Elemente der materiellen Welt (wuxing), die drei Genien (sancai: Himmel, Erde, Mensch), aber auch Abstrakta wie Fülle und Leere, Yin und Yang. Was ist aber nun die besondere Beziehung zwischen den Konzepten und dem Schreiben? Wen hat denselben Doppelcharakter wie lei, wen ist konkret und abstrakt zugleich. Konkret ist es in seiner ursprünglichen Bedeutung von Muster als sichtbarem Zeichen in der Welt der Erscheinungen; es ist Farbe, Ton, Form. Alles hat wen: das Tier, die Pflanze, der Stein. Das heißt, wen ist die äußere Erscheinung einer latenten Ordnung. Doch der Mensch ist ein geistiges, ein empfindsames (xin) Wesen; so erscheint wen nicht sichtbarlich an ihm, etwa auf seinem Körper, sondern dank des menschlichen Bewußtseins (xin) im Akt des Schreibens. Alle Phänomene, die den Menschen gleichsam rufen, wollen durch wen zum Ausdruck kommen, um erahnt und gefühlt zu werden. Das wen, das mit Himmel und Erde in die Welt der Erscheinungen getreten ist, wird durch den Menschen ver»geist«igt (xin). So schreibt Liu Xie: »Mit dem Geist (xin) wird das Wort geboren, mit dem Wort tritt das wen hervor. Das ist das Tao des natürlichen Prozesses (ziran zhi dao).«50 Der Geist (xin) ist also die Durchgangsstation für das wen, um von etwas Konkretem, Äußerem zu etwas Abstraktem, Innerem, zu Literatur und schließlich zum Tao zu werden. Wie ist dieser Umschlag zu erklären? Als geistiges Wesen hat der Mensch Empfindungen (qing), auf diese wirkt die Welt der Erscheinungen (wu) ein, so kommt es durch die Berührung mit den Dingen (ganwu) zu einer Resonanz (ganying)51: es kommt zum Wort (ci). Dank der Sprache ver46

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JOSEPH NEEDHAM: Science and Civilization in China, Bd. 2, Cambridge: Cambridge UP 1956, S. 280. Ebd., S. 262f.; WANG: Hanyu shilüxue, S. 153–166; CHEN: A Comparative Study of Chinese and Western Cyclic Myths, S. 30f., 46, 54; XIAO: Chuci yu shenhua, S. 167f., 170f., 174, 176. NEEDHAM: Science and Civilization in China, Bd. II, S. 281. Ebd. ZHOU ZHENFU (Übers., Komm.): Wenxin diaolong xuanyi, Peking: Zhonghua Shuju 1980, S. 19. Diesem meist politisch gemeinten Begriff widmet HENDERSON: The Development and Decline of Chinese Cosmology, S. 22–28, ausführlich Raum.

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mögen die Dinge, auch wenn sie längst entschwunden sind, im Menschen nachzuklingen; sie klingen nach, weil der Mensch nicht auf seine Beziehung zur Erde beschränkt ist, sondern über das Irdische hinaus eine Beziehung zum Himmel hat und diesen anderen Bereich als jenseitigen, das heißt, als »Sprache jenseits von Sprache«, als »Bild jenseits des Bildes«, als »Landschaft jenseits von Landschaft« offen gestalten muß. Jedoch: Trotz seines Bewußtseins ist der Mensch Teil der natürlichen Welt; mit ihr verbindet ihn das Muster, das auch in den Dingen lebt, Dingen, die durch den jahreszeitlichen Rhythmus geprägt sind. Der Geist des Menschen wird gleichsam mit den Dingen in ihrem Zyklus umhergetrieben. Doch alles ist Fragment eines kohärenten Ganzen, als solches existiert es nie isoliert, sondern nur in seiner Korrelation zu etwas anderem, so daß das Paar als sinnlich nachvollziehbare Verkörperung von Relationen zu einem wichtigen Mittel sprachlichen und künstlerischen Ausdrucks wird. Eine Ganzheit hat aus zwei komplementären Teilen zu bestehen, das Universum qiankun also aus Himmel und Erde, aus qian und kun. In einem Gedicht ist die kleinste Einheit der Doppelvers, der, parallel (komplementär oder kontrastiv) konstruiert, das Muster der natürlichen Ordnung widerspiegelt.52 Lesen bedeutet demnach ein Aufdecken dieser Ordnung. Zum Akt des Lesens haben sich sowohl François Cheng als auch Stephen Owen auf imponierende Weise geäußert. Für die weitere Diskussion reicht es, das erstere, so anregende wie anspruchsvolle Modell kurz vorzustellen.53 Danach sind die drei wichtigsten Konzepte der chinesischen Kosmologie auch für die Interpretation chinesischer Dichtung zu veranschlagen. Auf der lexikalischen Ebene eines Textes organisiert sich das Konzept von Leere und Fülle als Interaktion von »leeren« (xu) und »vollen« (shi) Wörtern. Unter leeren Worten versteht man Pronomina, Präpositionen, Adverbien, Konjunktionen und Modalpartikel; unter vollen Worten Nomina und Verben. Auf der syntaktischen Ebene stehen sich meist in Form des Parallelismus Yin und Yang gegenüber, so zum Beispiel in dem schönen Doppelvers von Wang Wei (701–762) aus dem Gedicht »Villa auf dem Zhongnan« (»Zhongnan bieye«):54 Wir gehen ans Ende der Wasser und schauen aus uns den Flug der Wolken. xing dao shui qiong chu, zuo kan yun qi shi. 52

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Ich bin im vorhergehenden wesentlich OWEN: Traditional Chinese Poetry and Poetics, S. 18–26, der auf das Wenxin diaolong zurückgreift, gefolgt sowie CHENG: Chinese Poetic Writing, S. xiii. Vgl. hierzu CHENG: Chinese Poetic Writing, bes. S. xiii, 23–40; DERS.: »Some Reflections on Chinese Poetic Language and its Relation to Chinese Cosmology«, S. 33–45. Zum vollständigen Text vgl. VOLKER KLÖPSCH: Der seidene Faden, Frankfurt: Suhrkamp 1991, S. 77.

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Einleitung

Hier sind nicht nur von einem Vers zum anderen, sondern auch innerhalb einer jeden Zeile Bewegung und Stille, Leben (als Wiedergeburt) und Sterben aufeinander abgestimmt. In Raum (chu) und Zeit (shi) wird aus der aktiven Bewegung des Menschen (xing dao) die meditative Betrachtung (zuo kan), umgekehrt sammelt sich die absterbende (qiong) Natur (shui: Wasser) zu einem Neubeginn (qi) in der Zeit (yun: Wolke). So wird aus dem Yin-Raum des Todes, den der Mensch aktiv beschritt, die Yang-Zeit des Lebens, in welcher der Mensch, dem Äußeren entsagend, in sich eine vita contemplativa findet, die sich geistig als vita activa entpuppt. Die dritte Interpretationsebene ist die übertragene (emblematische, symbolische, metaphorische), wo es um den Menschen und sein Geschick als Mitte zwischen Himmel und Erde geht, um einen Dialog zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren. Lesen bedeutet hier, das Schlüsselwort (ziyan) zu finden, um sich so einen Zugang zum Unausgesprochenen zu verschaffen. In folgendem Doppelvers von Chang Jian (708–765?) stehen sich vor der Zäsur, das heißt, in den jeweils ersten beiden Zeichen, schematisch Yang- und Yin-Element gegenüber:55 Glanz auf dem Berg: der Vogelschar zur Lust, Spiegelung im Teich: mein Herz erfaßt die Leere shan guang yue niao xing, tan ying kong ren xin.

Berg und Wasser, Licht und Dunkel verkörpern Yin und Yang, dann im weiteren Sinn das, was nach oben bzw. nach unten verweist, Himmel und Erde. Der Schematismus bricht mit dem Gegenüber von Vogel und Mensch auf, der Vogel gehört dem luftigen, dem himmlischen Bereich, so auch seine Freude (yue) am Dasein, sein Genuß des Gegebenen. Doch er hat auch eine andere, eine irdische Seite; diese fällt als Schatten, als Yin in das Bewegte, das Temporäre, in das Wasser, im weitesten Sinn auf die Erde. Was ist nun mit dem Menschen? Er gehört der Erde als Betrachtender, aber es zieht ihn in einen anderen Bereich, der sich in dem Schlüsselwort kong kundtut, es zieht ihn ins Himmlische, zum Ewigen und Beständigen, aber anders als den Vogel, der das »Jenseits« nur flüchtig bewohnt und nur dank eines »Instinktes« (xing) temporär genießen kann. Der Mensch dagegen ist »Geist« (xin), und so ist der Anblick der Erde nur der kurze Moment eines Innewerdens, das alles gegensätzlich Scheinende, sich komplementär Erfüllende überwindet und dank einer inneren Freiheit vom Sichtbaren, Zeitlichen (kong) einer höheren, unausgesprochenen, unaussprechlichen (taoistischen bzw. buddhistischen) Wahrheit Vorschub leistet.

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Zitiert nach ebd., S. 240.

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Alle hier aufgeführten Bespiele sind gute Belege für die von Rolf Trauzettel als »Ästhetik des Gestaltlosen« bezeichnete Kunstauffassung in China.56 Diese These, die ihr Pendant in der abendländischen Ästhetik des Gestalteten bzw. Gestaltvollen hat, soll hier nicht weiterverfolgt werden, aber Ausgang für die Wiederaufnahme einer grundsätzlichen Überlegung sein. Hinter der chinesischen Ästhetik, die sich über Jahrhunderte nach und nach herausgebildet hat und erst zur Tang-Zeit in der Dichtung, zur Song-Zeit in der Malerei ihre letzte Ausprägung erfährt, waltet ein kollektives Gedächtnis, welches auf einem gemeinsamen Textkörper beruht. Dieser konnte je nach Gewichtung, je nach den Zeitläuften taoistisch, buddhistisch, konfuzianisch oder auch synkretistisch sein. Dieses Gedächtnis hat über die Zeit ein allgemeines Bewußtsein von Geschichte und von einer Existenz in der Geschichte nähren helfen, das nichts letztendlich Einzelnes, Konkretes, Individuelles kennt, sondern nur Universelles, Archetypisches in einer zyklischen, ins Kosmische eingebundenen, ewigen Wiederkehr, in welcher Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als Dauer und Fortsetzung zusammenfallen. Das bildliche Denken der chinesischen Dichtung, welches Ernest Fenollosa und Ezra Pound nicht zu Unrecht begeistert hat, muß aus diesem Kontext begriffen werden. Es geht in der Anspielung auf den gemeinsam geteilten Textkörper um die Anbindung des Gegenwärtigen an das Vergangene und damit die Sicherung des Zukünftigen als Erwartbarem. Die Äquivalenz, ja Identität, welche das kollektive Gedächtnis in der Dichtung mit Hilfe von Bildern immer wieder herstellt, schafft eine Verbindung zum Mythischen, denn im mythischen Denken ist alles einander gleichwertig und dem einen äquivalent.57 Yu-kung Kao und Tsu-lin Mei kommen daher zu folgender Schlußfolgerung:58 Wie die semantischen Kategorien eine archetypische Organisation der Dinge der Welt erzeugen, so schaffen die historischen Archetypen dasselbe für die Welt der Ereignisse, besonders der mit menschlicher Tat befaßten. Daraus ergeben sich dieselben Schlußfolgerungen. Wenn ein Wort in der Dichtung auftritt, bezieht es sich nicht nur auf ein bestimmtes Ding, sondern repräsentiert auch die Kategorie, welcher es angehört. Kommt also eine historische Anspielung in einem Gedicht vor, so bezieht sie sich nicht nur auf ein vergangenes Ereignis oder ein gegenwärtiges Geschehen, sondern auch auf den zeitlosen Archetyp. Daher hat ein Gedicht, was die Dinge und Ereignisse betrifft, zumindest zwei Bedeutungsebenen, eine individuelle und eine archetypische. Aus diesem Grund 56

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ROLF TRAUZETTEL: »Das Schöne und das Gute. Ästhetische Grundlegungen im chinesischen Altertum«, in: HELWIG SCHMIDT–GLINTZER (Hg.): Das andere China. Festschrift für Wolfgang Bauer zum 65. Geburtstag, Wiesbaden: Harrassowitz 1995 (= Wolfenbütteler Forschungen; 62), S. 293–321. Die vorhergehenden Ausführungen folgen großenteils KAO und MEI: Meaning, Metaphor, and Allusion in T'ang Poetry, (s. Anmerkung 29), S. 332–335. Übersetzt nach ebd., S. 335.

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Einleitung ist die Welt in einem Klassischen Gedicht [jintishi] bemerkenswert fest und stabil. Individuelle Dinge und Personen kommen und gehen, aber die Archetypen bleiben unverändert. Tatsächlich läßt sich sagen, daß das menschliche Tun auf dem Hintergrund der ewigen Geschichte stattfindet, und es ist diese Tatsache, welche dem Tun moralische Bedeutung verleiht.

An dieser Stelle gilt es, zwei Mißverständnissen vorzubeugen: 1. Es kann im Rahmen einer Geschichte der chinesischen Dichtkunst nicht um eine schematische Verifizierung der obigen Theorien gehen. Dies aus zwei Gründen nicht: Vieles, was heute als die chinesische Lyrik verstanden wird, hat sich im Laufe der chinesischen Geschichte vergleichsweise spät herausgebildet, nämlich vielfach erst zur Tang-Zeit. Die vorklassische Poesie wird daher oftmals vorsichtiger, mitunter auch anders zu befragen sein. Des weiteren: Die chinesische Kultur ist sehr reich, so reich, daß ein Leben nicht einmal dazu ausreichen wird, auch nur das Geschriebene einmal zur Gänze in die Hand genommen und durchgeblättert zu haben. Man trifft daher notwendigerweise – und auch zum Glück – auf Überraschendes, Abweichendes, Unerwartetes, welche eine neue Standortbestimmung und neue Fragestellungen immer wieder zu gebieten scheinen. 2. Bei der Bestimmung des chinesischen Geistes und seiner Zeugnisse läßt sich zwar oftmals nicht auf das abendländische Handwerkszeug, sprich auf westliche Begrifflichkeit verzichten, doch gilt es, sich vor letzten Urteilen, die oftmals auf einem falschen Mitleid beruhen, zu hüten. Auch wenn obige Ausführungen es wenig geraten sein lassen, den Begriff westlicher Individualität, wie leider allzu häufig geschehen, in die chinesische Geistesgeschichte hineinzugeheimnissen, so ist dennoch der Gedanke nicht abwegig, daß sich vielleicht in einem anderen Sinne Dinge ausmachen lassen, die sich als eine Variante chinesischer Subjektivierung verstehen lassen können. Betrachteten wir nämlich chinesische Dichtkunst ausschließlich im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses, so könnten wir zwar ihre lange Geschichte erklären, eine Geschichte, die 1911 mit dem Untergang des kaiserlichen China willentlich vollzogen endet, aber wir sähen uns gleichsam gezwungen, alles nach Maßgabe von François Cheng und Stephen Owen in ein Erklärungsschema zu pressen, welches Dichtung auf die Ebene von Dutzendware herunterbringt. Die Leserschaft sollte sich daher im folgenden nicht irritiert fühlen, wenn der Verfasser seine Geschichte nicht immer auf die ausgegebenen Theorien und den dreifach gespannten roten Faden (Religion, Subjektivität, Melancholie) verpflichten kann. Der Reichtum der chinesischen Kultur würde so über die Bereicherung des Verfassers zum Reichtum des Lesers.

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Teil I Das Altertum – Religion und Ritus

1. Das Buch der Lieder

Obwohl das Buch der Lieder (Shijing) seit mehr als hundert Jahren in einer deutschen Gesamtübersetzung59 vorliegt, ist es im deutschen Sprachraum so gut wie gar nicht behandelt worden. Ähnliches gilt für die Klassiker der chinesischen Philosophie. Es scheint, als habe die frühe Übertragung den interpretatorischen Blick auf das jeweilige Werk nicht geschärft, sondern getrübt. Dies ist wenig verzeihlich, zumal wenn man bedenkt, daß ohne eine grundlegende Deutung derjenigen Werke, die gleichsam am Beginn der chinesischen Kultur stehen, ein hinreichendes Verständnis des chinesischen Geistes wenig möglich erscheint. Nun hat sich die deutschsprachige Sinologie nicht zufällig von einer ihrer eigentlichen Aufgaben davongestohlen. Vieles, was an Allgemeinwissen über China gesichert wirkt, entpuppt sich bei der näheren Beschäftigung mit den Quellen als schwierig oder gar problematisch. Dies betrifft auch den folgenden Gegenstand, unser Fenster zur chinesischen Literatur. Wer es aufstößt, wird vieles erblicken und sich leicht verwirren lassen können. Je nach Gusto läßt sich dieser oder jener Aspekt hervorstreichen, wie bereits früh in der chinesischen Geistesgeschichte durch die konfuzianische Umdeutung exemplarisch geschehen.60 Man scheint die Antwort zu bekommen, die man durch seine Fragestellung vorprogrammiert. Die offensichtlichen Mängel, welche die Deutung des Buches der Lieder nicht nur im Westen begleiten, haben ihren Ursprung im Gegenstand selbst. Wir haben es hier mit einer Sammlung von Liedern aus unterschiedlichen Zeitläuften und mit einem unterschiedlichen Hintergrund zu tun. Daher lädt das Werk gleichsam zu einer »einseitigen« und nicht zu einer zusammenhängenden Interpretation ein. Jeder Interpret hat seine vereinzelte Lesart, die sich beliebig verifizieren und leicht in Frage stellen läßt. Wenn im folgenden also der Versuch unternommen wird, das Religiöse zur Grundlage der Deutung zu erheben, so ist sich der Verfasser durchaus der Anfechtbarkeit seiner Entscheidung bewußt. Er entginge möglicher Kritik durch Schweigen. Das ist oftmals der Weg der deutschsprachigen Sinologie gewesen, der heute nicht mehr zu rechtfertigen ist. Wissenschaft hat etwas mit Entscheidung zu tun; wer in Erwartung künftiger gesicherterer Erkenntnis seine Entscheidung immer wieder vertagt und am Ende eines Lebens lediglich auf eine Dissertation und eine (unpublizierte) Habilitationsschrift zurückblicken kann, hat seine wissenschaftliche 59

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VICTOR VON STRAUSS (Übers.): Schi-king. Das kanonische Liederbuch der Chinesen, Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969. Zur Geschichte dieser Interpretation s. STEVEN VAN ZOEREN: Poetry and Personality. Reading, Exegesis, and Hermeneutics in Traditional China, Stanford: Stanford UP 1991.

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DAS ALTERTUM – RELIGION UND RITUS

Verantwortung nicht ernst genommen und sich dem Segen möglicher Kritik verweigert. Es ist gerade die kritische, sprich: von der vorgegebenen konfuzianischen Norm abweichende Auseinandersetzung, welche das Buch der Lieder immer wieder in die Diskussion und Aktualität zurückkehren läßt. Bevor es jedoch um eine durch Entscheidung genährte, bestimmte »Aktualisierung« gehen kann, sind zunächst eine Reihe von faktischen Hinweisen geboten. Was heute unter der Bezeichnung Shijing (wörtl.: Das klassische Buch der Lieder) überliefert ist, stellt nach traditionellem Verständnis eine von Konfuzius getroffene Auswahl von 305 aus 3000 Liedern dar. Der tradierte Textkörper geht auf einen gewissen Herrn Mao (Mao shi, 2. Jh. v.Chr.) zurück, die Nachwelt hat diesem einen Kommentar und eine Vorrede zugeschrieben, welche mit Rückgriff auf das Lunyu die spätere, herkömmlich moralisch-politische Interpretation bestimmt haben.61 Er ist heterogener Art und setzt sich, zeitlich verschoben, von den jüngeren zu den älteren Gesängen fortschreitend, aus Volksliedern, Kunstliedern und Opferliedern zusammen. Die sogenannten Volkslieder (feng) sind in fünfzehn Gruppen nach Vasallenstaaten (guo) geordnet und umfassen die Gedichte 1–159. Unter den Kunstliedern (ya) hat man Texte zu Zeremonial- und Opferzwecken zu verstehen; ihr Gegenstand sind einmal die Untertanen (Xiaoya, Nr. 160–233), zum anderen die Könige (Daya, Nr. 234–264). Die Opferlieder (song) stellen Festund Preislieder dar; in ihrem Mittelpunkt steht die Rühmung der Ahnen der ZhouDynastie (Nr. 265–296), des Landes Lu (Nr. 297–300) und der Shang-Dynastie (Nr. 301–305). Ihre Entstehungszeit dürfte hauptsächlich zur Westlichen ZhouDynastie anzusetzen sein, aber mitunter auch ins sechste Jahrhundert hineinreichen. Der Ort der Lieder ist der mittlere und untere Flußlauf des Huang He, die heutigen Provinzen Henan, Shanxi, Shaanxi und Shandong. Das religiöse Element der Lieder, welches es im folgenden aufzudecken gilt, hat etwas mit dem Ahnenkult zu tun. Dabei sind zwei Aspekte besonders wichtig, einmal die kriegerische Ablösung der Shang- durch die Zhou-Dynastie und zum anderen damit einhergehend der Übergang zum Ackerbau. Die Shang sind überwiegend Jäger und Krieger gewesen; erst vergleichsweise spät hatten sie, das heißt, die einzelnen Klane, begonnen, Städte als Zentren ihrer Kriegsmacht zu bauen und mit einer Mauer (cheng) zu umgeben.62 Ihre materielle Kultur gaben sie an die Zhou weiter, ihre immaterielle (Schrift, Ahnenkult) dagegen durchlief nach der Übernahme zum Teil eine Wandlung, die sich nur auf dem veränderten religiösen Hintergrund verstehen läßt. Die Shang hatten als Krieger den Ackerbau von Gefangenen betreiben lassen und nicht weiterentwickelt. Die Zhou dagegen waren seßhaft, sie wandten dem 61 62

Vgl. hierzu die Ausführungen ebd., S. 86–115. Die Verbindung mehrerer cheng führte später zur Bildung eines guo (Vasallenstaat). Vgl. hierzu die lesenswerten Bemerkungen von CHENG: Art, Myth and Ritual, S. 15ff. Die Gründung einer Stadt ist Thema des Liedes Nr. 237 im Shijing, s. VON STRAUSS: Schi-king, S. 395.

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Ackerbau besondere Aufmerksamkeit zu, was auch aus ihrem Namen hervorgeht.63 Sowohl die Ablösung der Shang als auch die Konzentration auf den Ackerbau und damit auf eine neue Lebensweise bedurften der Begründung. Diese fand ihre Grundlegung in der Theorie vom Himmelsmandat (tianming) und in der Ersetzung des Shang-Gottes (Shangdi) durch einen neuen Gott, den tian (Himmel), der als lebensspendende Kraft unmittelbar mit dem Ackerbau verbunden war.64 Kurz, all dies hatte mit Macht zu tun, und da der Ahnentempel der Ort zum Dienst am Gott war, war der Ahnentempel auch das Zentrum der Macht. Die Macht ließ sich stärken und erneuern durch Befragung der Ahnen, die als Frage nach der Zukunft durch einen Schamanen (wu) oder mit Hilfe von Orakelknochen erfolgte.65 Es läßt sich nun leicht denken, daß die ältesten Teile des Buches der Lieder, nämlich die Opferlieder (song) und die Kunstlieder (ya) eine Art Rechtfertigungsideologie verkörpern – sei es als Preislied auf die Unterwerfung der Shang durch die Zhou oder sei es als Lob des Gottes Fürst Hirse (Houji), dem die Zhou ihre Lebensgrundlage verdankten. Wir müssen uns daher das, was als schriftlich fixierter Textkörper auf uns gekommen und relativ früh zu einem festen Bestandteil eines kollektiven Gedächtnisses der frühen chinesischen Zivilisation geworden ist (spätestens mit Konfuzius und dem Lunyu), als Teil einer ursprünglich religiösen Zeremonie vorstellen. Die ältesten Lieder wurden im Ahnentempel gesungen, musikalisch begleitet und tänzerisch unterstrichen. Hieraus erklärt sich die urtümliche Einheit von Dichtung als Wort, Musik und Tanz, eine Einheit, die bis in die Gegenwart Spuren hinterlassen hat. Überdies: Literatur begegnet uns hier im weitesten Sinn als Teil von Religion und Politik, sie hat etwas mit Verkündigung zu tun, indem sie die geistigen und materiellen Grundlagen für eine Gemeinschaft festschreibt. Von ihren Ursprüngen her läßt sich daher Literatur in China als zentral für den Machtapparat bestimmen und das Verhältnis von Dichter und Herrscher als eine »religiös verschworene« Gemeinschaft, deren »Gott« nie zu etwas Drittem werden konnte, weil er im Lauf der Geschichte der »Gott« aller (zivilisierten Han-Chinesen), also eines Kollektivs, blieb und niemals als persönlicher empfunden wurde. Der »Gott« war daher stets durch ein (äußerliches) Ritual erreichbar, beeinflußbar, veränderbar und säkularisierbar. Die Vereinnahmung der Lieder, vor allem der Volkslieder (feng), durch die spätere moralische Uminterpretation kann man auch als Versuch verstehen, die Lieder auf ihre ursprünglich religiöse und damit politische Herkunft zurückzuführen. Wenn auch die konfuzianische Mißdeutung von zum Beispiel eindeutigen Liebesliedern als Wechselgesang von Herrscher und Untertan durch die moderne 63

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EICHHORN: Die Religionen Chinas, S. 31, faßt das Zeichen für Zhou als »vier bepflanzte rechteckige Felder« auf. Ebd., S. 30ff. Ich folge hier CHENG: Art, Myth and Ritual, Kap. 2, sowie EICHHORN: Die Religionen Chinas, S. 25, 39f.

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Sinologie seit den zehner Jahren des 20. Jahrhunderts66 aufgedeckt worden ist, so haben dennoch die wichtigen Arbeiten von Marcel Granet (1884–1940) und C.H. Wang den ehemals religiösen und machtpolitischen Hintergrund bestätigt. Es ist zweckmäßig, die folgenden Ausführungen bei den jüngeren Forschungsergebnissen beginnen zu lassen. In seinen Studien zur frühen chinesischen Dichtung unternimmt der Hongkonger Komparatist C.H. Wang67 den Versuch, am Beispiel des ältesten datierbaren Teils des Buches der Lieder für China in Anlehnung an Vergils Aeneis eine Art Epos des Königs Wen, eine Weniade, herauszuarbeiten. Auf den ersten Blick mag ein solches Unterfangen Vorbehalte wachrufen: Einmal mehr bemühe sich China, zur Kompensation eines unnötigen Unterlegenheitsgefühls seine Literaturgeschichte, was bisher bestritten wurde, ebenfalls mit einem Epos beginnen zu lassen. C.H. Wang ist sich jedoch möglicher Einwände bewußt und benennt sie auch: Dem chinesischen Geist sei das Heroische fremd, niemals könne eine Waffe gepriesen oder der Zorn eines Menschen (Achilles) zum Gegenstand werden. Kriegsmüdigkeit sei eher Thema des Buches der Lieder als Schlachtgesang.68 Um nun doch ein episches Element in der frühen chinesischen Literatur ausmachen zu können, stellt C.H. Wang nicht das Kriegerische (wu), welches ja auch Bestandteil der chinesischen Geschichte war, sondern das Zivile, das Kulturelle (wen) in den Mittelpunkt seiner weiteren Darstellung. Gegen dieses Unternehmen spricht, daß nicht ein einziger Text, sondern viele Texte bemüht und in einen Zusammenhang gebracht werden müssen; für diesen Ansatz lassen sich jedoch auch Argumente finden: Die Opferlieder der Zhou (Zhou song, Shijing Nr. 266–296) sind nicht isoliert zu betrachten, sie geben eine kohärente Geschichte zu erkennen und ermöglichen einen interpretatorischen Zugriff, der dem Buch der Lieder eine erste Richtung gibt, eine Richtung, die etwas mit dem Selbstverständnis der chinesischen Zivilisation zu tun hat, daß nämlich Ziel der chinesischen Geschichte das wen sei, und zwar in einem doppelten Sinne: Dem wen geht das wu voraus, und das wu hat in wen aufzugehen. Daß wir es hier mit einem bis heute immer wieder anzutreffenden Modell zur Rechtfertigung von Herrschaft zu tun haben, muß nicht weiter ausgeführt werden.69 Wichtig ist hier lediglich, daß 66

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CECILE CHU–CHIN SUN: »Two Modes of Stanzaic Interaction in Shih–ching and Their Implications for Comparative Poetics«, in: Tamkang Review XIX (1988/89), S. 805. C.H. WANG: From Ritual to Allegory. Seven Essays in Early Chinese Poetry, Hongkong: The Chinese University Press 1988, S. 3–114. In der Tat lassen sich hier viele Beispiele anführen, die dem Krieg abschwören (z.B. die Lieder Nr. 156, 167, 168, 206, 232), doch ist die These von C.H. Wang für den weiteren Verlauf der chinesischen Geistesgeschichte nicht uneingeschränkt aufrechtzuerhalten. Es wird hierauf später noch zurückzukommen sein. Die Abfolge von Gewalttat und Gründungsakt ist übrigens ein häufig anzutreffendes Schema mythologischen Denkens. S. DIETRICH HARTH: »Literatur und Terror«, in: JAN ASSMANN, DIETRICH HARTH (Hg.): Kultur und Konflikt, Frankfurt: Suhrkamp 1990 (= NF; 612), S. 345–347.

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sich der chinesische Geist bereits sehr früh auf ein Muster zur Gestaltung der Ökumene (tianxia) festgelegt hat. Dieses Muster hat etwas mit dem Gedächtnis zu tun, genauer gesagt mit Erinnerung, die durch ein Ritual zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis zu werden hatte.70 Gegenstand der Erinnerung waren die Ahnen, in diesem Fall die Könige Wu und Wen und insbesondere deren Verdienste, die sie als »begnadete« (qing)71 Herrscher auswiesen. In der Betonung der Verdienste vollzieht sich ein kulturhistorischer Wandel.72 Hatten die Shang alles der Macht der Geister anheimgestellt, so hatten die Zhou den Abstand zwischen Diesseits und Jenseits durch Einführung von Verdienst (de) und Ehrfurcht (jing) verringert. Dank der eigenen Verdienste konnte somit der Auftrag des Himmels (tianming) von den Shang auf die Zhou übergehen. Anschließend galt es, diese Übernahme zu erinnern, zum allgemeinen Gedächtnis werden zu lassen, um Herrschaft abzusichern und über die Zeit möglich zu machen. Der Akt der Erinnerung fand im Ahnentempel statt, in dem die Verdienste ins Bewußtsein zurückgerufen wurden. Was heute mit Opferlied übersetzt wird, ist etymologisch auf Gesten zur Memorierung zurückzuführen: song leitet sich von rong her, welches im Sinne von wurong den von Musik und Wort begleiteten Tanz eines Schamanen bezeichnete, das heißt, eines Mediums, das die Ahnen einkörperte und durch sich sprechen ließ.73 Die Verdienste, die so u.a. in den sechs großen Tänzen (da wu)74 zur Sprache kamen, umfaßten neben dem Sieg über die Shang auch den Ackerbau als Grundlage der Zhou. Als Nachfolger von Fürst Hirse (Houji) hatte König Wen den Ackerbau zu verantworten und sein Volk zur Bestellung des Bodens anzuhalten. Kurz, die Zhou song sind eine feierliche Musik, die in den Ahnentempeln der Zhou zur Aufführung kam, um die früheren Könige zu preisen, den gegenwärtigen Herrscher zu mahnen und die Wichtigkeit des Ackerbaus zu betonen.75 Als Teil der Weniade haben wir uns nach C.H. Wang neben den Verdiensten das Werden des Zhou-Volkes vorzustellen, seine Geburt, seinen Exodus, seine Wanderschaft, seine Schlachten, seine Ansiedlung, den Beginn von Hausbau, Ackerbau und Tempelbau.76 In letzterem wurde also sichtbar, was Hegel an den Beginn einer symbolischen Kunstauffassung stellt: das Haus als Ort eines Gottes.77 70

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Vgl. hierzu meinen Versuch »Die vielsaitige Zither. Gedächtnis und Erinnerung zur TangZeit«, in HELWIG SCHMIDT–GLINTZER: Das andere China, S. 33–42. Zu dem Herrschaftsattribut qing vgl. WANG: From Ritual to Allegory, S. 10f., 100. Ich folge hier CHANG: Art, Myth and Ritual, S. 33ff.; EICHHORN: Die Religionen Chinas, S. 49f.; C.H. WANG: From Ritual to Allegory, S. 24f. Vgl. hierzu C.H. WANG: From Ritual to Allegory, S. 8f., 37–42; EICHHORN: Die Religionen Chinas, S. 25, 39f. Vgl. hierzu ebd. S. 10ff. C.H. WANG: From Ritual to Allegory, S. 8. Zum vorhergehenden s. S. 25–28. Ebd., S. 89–93, 57, 76–79, GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 14 (Vorlesungen über die Ästhetik II), Frankfurt: Suhrkamp 1970, S. 266ff.

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Diese mögliche Parallele soll hier jedoch nicht weiter strapaziert werden, stattdessen C.H. Wang nochmals zusammenfassend zu Worte kommen: Zwar lasse sich im strengen Sinne des Wortes für China kein Epos festmachen, doch gebe es eine »epische Wahrnehmung« von Realität, welche dazu geführt habe, den kriegerischen Geist zu unterdrücken und an dessen Stelle das wen zu setzen.78 So gehe es denn in der Weniade letztlich um den Sieg des wen in einer Welt, die durch das wu befriedet worden ist. Die Opfer- und Kunstlieder sind heute oftmals nurmehr von historischem Interesse, daher sollen sie hier nicht weiter durch Beispiele belegt werden. Anders sieht es dagegen mit den Volksliedern aus; sie sind von einer unverblichenen Schönheit und daher immer wieder – auch ins Deutsche79 – übersetzt worden. Die Faszination, die sie immer noch auszuüben vermögen, verdankt sich zu guter Letzt wohl auch der Säkularisierung ihrer einst religiösen Elemente. Ihre »weltliche« statt konfuzianisch-moralische Lesart ist von Marcel Granet rekonstruiert und vor allem von C.H. Wang weiter bestätigt worden.80 Bei der Einbettung der Volkslieder als rituelle und kollektive Wechselgesänge in die Jahreszeiten und bäuerlichen Feste (Frühling und Herbst, Verlobung und Hochzeit) galt das Augenmerk zwar vor allem den formulae, doch geben neben dem Natureingang (xing) auch diese noch ihre einstige Zugehörigkeit zum Kosmologischen und Magischen zu erkennen. So kommt Marcel Granet zunächst zu folgender Charakterisierung der Volkslieder (er behandelt nur diese!): Die Guofeng verkörpern aller Wahrscheinlichkeit nach etwas Rituelles, das in den Jahreszeiten begründet lag. Sie stellen eine kollektive Kreation dar, die ihren Ursprung im Ritualtanz (Bitte um Regen, Fruchtbarkeit etc.)81 hatte und anläßlich von jahreszeitlichen Festen und 78 79

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C.H. WANG: From Ritual to Allegory, S. 70. Eine deutsche Gesamtübersetzung der Volkslieder ist zuletzt in der Übertragung von dem Sinologen ARMIN HETZER und der Schriftstellerin HEIDE KÖSER unter dem Titel Das Liederbuch der Chinesen. Guofeng 1990 in Frankfurt bei Suhrkamp erschienen. Derjenige, dem die Übertragungen von VICTOR VON STRAUSS zu veraltet sind und obige zu gewollt, sei auf die Auswahl von GÜNTHER DEBON verwiesen: Ein weisses Kleid, ein grau Gebände. Chinesische Lieder aus dem 12.–7. Jh.v.Chr, München: Piper 1957, 62 S. Er wird hier etwas von der Schönheit des Originals erahnen können. MARCEL GRANET: Fêtes et Chansons Anciennes de la Chine, Paris: Librairie Ernest Leroux 1919. Eine englischsprachige Ausgabe (Festivals and Songs of Ancient China) erschien 1932 in der Übersetzung von E.D. EDWARDS, die 1975 von der Gordon Press in New York nachgedruckt worden ist. Trotz seiner überragenden Bedeutung und trotz seines großen Einflusses wird dieses Buch von der amerikanisch(beeinflußt)en Sinologie konsequent verschwiegen. So auch von C.H. WANG: The Bell and the Drum. A Study of Shih Ching as Formulaic Poetry in an Oral Tradition, Berkeley: University of California Press 1974. Letztgenannte Studie führt im Grunde nur weiter, was Granet begonnen hat, auch wenn sich der Autor auf S. 11 rühmt, die formulae der Lieder als erster ausgemacht zu haben. Sehr wahrscheinlich gingen den Liedern Gesänge mit der Bitte um Fruchtbarkeit voraus, s. hierzu die Tabelle und Ausführungen bei ZHANG SONGRU: Zhongguo shige shi, S. 16–23.

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der Begegnung von Mann und Frau erfolgte. Dabei ging es um die Bestätigung bzw. Erneuerung der Ordnung in Gesellschaft und Natur (u.a. Frühlingsfest als Reinigung vom Bösen).82 Die Treffen von Mann und Frau in der Natur hat man nach Granet als eine Gestaltung von Raum und Zeit zu verstehen, die auf das Zusammenspiel von Yin und Yang zurückzuführen ist, ein Zusammenspiel, das bis in die Form der Lieder seine Wirkung entfaltet. Granet faßt diese Wirkung vierfach zusammen: Yin und Yang kommen erstens als kosmogonische Kräfte unmittelbar in den Festen zum Ausdruck, und zwar zweitens einmal räumlich, sei es daß die Treffen an religiös verehrten Plätzen wie Bergen (Yang) und Flüssen (Yin) stattfanden, sei es, daß den Männern als Ort die Sonne (Yang) und den Frauen der Schatten (Yin) vorbehalten war,83 und drittens außerdem zeitlich als Folge der Wechselgesänge von Mann und Frau in Frühling (Yang) und Herbst (Yin), was sich viertens formal als antithetisches Paar (alternative Entsprechung und Symmetrie der Position) in den Liedern niederschlägt.84 Die Symmetrie, die George A. Kennedy in 173 Liedern als »perfekte Symmetrie« und in den Volksliedern zu 75 Prozent ausmacht,85 führt Granet auf die Bauernkalender zurück, die, dem astronomischen Jahr verpflichtet, symmetrisch konzipiert waren.86 An dieser Stelle ist jedoch Vorsicht geboten: Was Granet auch mit dem Begriff der Entsprechung87 für das Buch der Lieder festmacht, ist kosmologisch nicht überzuinterpretieren. Für Henderson zum Beispiel hat das Shijing mit dem Konzept von lei nichts zu tun.88 Für unsere Zwecke reicht es, das Buch der Lieder als einen Vorraum des kosmologischen Denkens zu betrachten, in welchem lei konzeptuell zwar nicht aufscheint, aber hie und da erahnt werden kann. Es ließe sich sonst das charakteristische Stilmittel der Wiederholung nicht als Versinnbildlichung einer geheimen (magischen?) Beziehung zwischen den Dingen, zwischen Ding und Mensch festmachen. Für die Lektüre des Shijing empfiehlt Marcel Granet die Obacht gerade auf die Repetition und den dadurch erzeugten Rhythmus.89 Bevor es im folgenden um die Form und die formulae des Buches der Lieder gehen soll, empfiehlt sich eine Zusammenfassung der Thesen von Marcel Granet: 82

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GRANET: Festivals and Songs in Ancient China, S. 7–9. Zur kritischen Auseinandersetzung mit den Thesen von Granet siehe HAUN SAUSSY: The Problem of a Chinese Aesthetic, Stanford: Stanford UP 1993, S. 106ff. Den Argumenten vermag ich allerdings nicht zu folgen. Vgl. hierzu EICHHORN: Die Religionen Chinas, passim. GRANET: Festivals and Songs of Ancient China, S. 180ff. Vgl. auch MARCEL GRANET: Die chinesische Zivilisation, München: Piper o.J., S. 36–39, 43ff. Ebd., S. 226–230. S. GEORGE A. KENNEDY: »Metrical ›Irregularity‹ in the ›Shih Ching‹«, in: LI TIEN–YI (Hg.): Selected Works of George A. Kennedy, S. 10–26. GRANET: Festivals and Songs of Ancient China, S. 51–54. Ebd., S. 209f. HENDERSON: The Development and Decline of Chinese Cosmology, S. 50, 157. GRANET: Festivals and Songs of Ancient China, S. 12–17, 26–31.

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1. Die Volkslieder haben ihren Ursprung in den Wechselgesängen zwischen einem Burschen und einem Mädchen. 2. Diese Gesänge wurden durch einen Refrain variiert, welcher der Liebeserklärung diente. 3. Hintergrund sind die jahreszeitlichen Feste, bei denen Verlobung und Hochzeit begangen wurden. 4. Die Lieder wurden als fester Bestandteil bei höfischen Zeremonien später um Ritualgesänge erweitert.90 Eines der immer wiederkehrenden Leitmotive des Buches der Lieder ist die sich besonders im Natureingang veranschaulichende Vorstellung vom Wachsenden, Werdenden.91 Man kann diese, die formelhaften Charakter hat, Natur wie Mensch einbegreift, als eine Art Beschwörungsformel verstehen und auf Fruchtbarkeitskulte zurückführen. Auf jeden Fall macht sich hier exemplarisch fest, worum es im Shijing grundsätzlich geht: um das Allgemeine, nicht um das einzelne, um das, was alle auf Gedeih und Verderben betrifft. Wer hier etwas Subjektives, Persönliches hineingeheimnisst, sagt lediglich etwas über sein Unverständnis, aber nichts über seinen Gegenstand aus.92 Hier rächt sich die Mißachtung der Arbeitsergebnisse von Marcel Granet, die das Unpersönliche des Buches der Lieder als grundsätzliches Kennzeichen einer Dichtung ohne Dichter nehmen, das heißt, einer Dichtung, die von einem Kollektiv herrührt und alle meint, so daß es etwa in der Anrede der Liebeslieder nicht um eine unverwechselbare Person geht, sondern um einen »Herrn«, ein »Mädchen« an sich. Ebenso steht es mit den Themen, sie behandeln nur, was alle betrifft. So sind die »Liebenden« lediglich Vertreter ihres Geschlechtes und ihrer Familien, in ihrer formelhaft verbalisierten Begegnung geht es nicht um individuelle Liebessehnsüchte, sondern um etwas Höheres, um das Recht der Natur, um die Erfüllung und damit Festigung der natürlichen und öffentlichen Ordnung.93 Der formale Aspekt des Buches der Lieder läßt sich wie folgt aus den Arbeiten von Marcel Granet und C.H. Wang zusammenfassen.94 Das Shijing besteht überwiegend aus Texten, deren Verse vier Zeichen ausmachen95 und deren drei bis vier Strophen meist aus sechs Zeilen gebildet werden. Ästhetisch gesehen werden die Verse paarweise durch Symmetrie, Juxtaposition, Wiederholung und Variation gestaltet sowie durch einen Reim gebunden. In den jeweiligen Verspaaren kommt 90 91 92

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Ebd., S. 144–145. WANG: From Ritual to Allegory, S. 95. Vgl. z.B. YUNG SAI–SHING: »Lyricism and Subjectivity in Shih Ching: Some Preliminary Observations«, in: Tamkang Review XIX (1988/89), S. 875–887. VAN ZOEREN: Poetry and Personality, S. 15. GRANET: Festivals and Songs of Ancient China, S. 84–86, 190–204. GRANET: Festivals and Songs of Ancient China, S. 138, 209–216. C.H. WANG: The Bell and the Drum, S. 6ff., 14ff., 43ff., 50ff. Durch Diskussion von augenscheinlich abweichenden Einzelfällen kommt Kennedy (s.o. Anmerkung 27) auf die Zahl von 290 Liedern, für die vier Zeichen pro Vers angesetzt werden können.

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Das Buch der Lieder

mit den formulae etwas zum Zuge, was sich auch in anderen zunächst mündlich überlieferten Literaturen nachweisen läßt. Man kann hier im doppelten Sinn von Erinnerungsformeln sprechen. Mit Hilfe einer formula war der auf mündlicher Überlieferung basierende Vortrag leichter, zum anderen stärkte bzw. erneuerte man auf diese Weise das kollektive Gedächtnis, indem man über den Natureingang die gemeinsame Grundlage (Ahnen, Ackerbau etc.) in die Erinnerung zurückrief. Bei einer solchen Formel handelt es sich – so die Sekundärliteratur96 – allgemein betrachtet um »ein Wort oder eine Gruppe von Worten, die unter bestimmten metrischen Bedingungen zur Anwendung kommen, um eine gegebene, wichtige Idee zu veranschaulichen.« Auf das Shijing bezogen, welches zu 21 Prozent bzw. bei Einbeziehung der Variationen zu 30 Prozent aus formulae besteht, kommt C.H. Wang zu folgender Eingrenzung: Eine Formel ist 1. ein Vers, der in mehreren Liedern erscheint, z.B. youyou wosi (»gramvoll sinne ich«, Nr. 134, 30, 33, 91), 2. ein Vers, der in ein und demselben Gedicht wiederholt wird (Refrain), 3. ein Vers, der semantisch eine Wiederholung bedeutet, aber sich metrisch durch seine Länge unterscheidet, z.B. wo xin shang bei bzw. wo xin shang bei xi (»wie ist das Herz mir schwer«), 4. Wendungen, die mit dem letzten Zeichen durch eine Variation differieren, z.B. nu xin shang bei, nu xin shang zhi, nu xin bei zhi (»schwer ist ihr das Herz«, 154, 169), 5. Wendungen, die ihre ideographischen Elemente, nicht aber den Sinn ändern, und schließlich Wendungen mit jeweils anderen Zeichen, aber derselben Bedeutung. Auf Grund dieser Einschätzung schreibt C.H. Wang obige Definition einer Formel für das Buch der Lieder auf die folgende Weise um: »Eine formula ist eine Gruppe von nicht weniger als drei Worten, welche eine deutliche semantische Einheit bilden, eine Einheit, die sich wiederholt, entweder in einem bestimmten Gedicht oder unter ähnlichen metrischen Bedingungen in mehreren Gedichten, um eine gegebene wichtige Idee zur veranschaulichen.«97 Von den formulae, die C.H. Wang ausgemacht hat, seien die wichtigsten genannt: die Brautformel (wei jian junzi, you xin chongchong: »schwer ist mir das Herz, sehe ich meinen Herrn nicht«; ji jian junzi, wo xin ze xiang: »doch sehe ich meinen Herrn, hüpft mir das Herz«), die Ernteformel (yan cai qi x: »so ernte ich x«), und ähnlich die Pflückformel (cai fan qiqi: »wir pflücken Chrysanthemen die Fülle«), die Pflanzenformel (shan you xx: »in den Bergen gibt es xx«), die Monatsformel (x yue a b: »im Monat x, das ist a b«) und zu guter Letzt die Gefühlsformel (wo xin xx: »mein Herz ist mir xx«).98 Schauen wir uns nun im folgenden ein paar der bekanntesten und immer wieder zitierten Beispiele aus dem Buch der Lieder an. Auf Grund des nicht immer eindeutig in seiner Bedeutung festlegbaren Originals wird die Interpretation manches offen lassen müssen. 96 97 98

Vgl. C.H. WANG: The Bell and the Drum, S. 26, s. auch 17f. Ebd., S. 43. Ebd., S. 13, 18, 55, 89f.

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DAS ALTERTUM – RELIGION UND RITUS Im Brachland ist ein totes Wild

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Im Brachland ist ein totes Wild Weißes Ried umwehrt es. Ein Mädchen hat den Frühling im Sinn; Ein stolzer Junker betört es. Im Walde, da sind Busch und Klee. Im Brachland ist ein totes Reh. Weiße Gräser hüllen es ein. Das Mädchen gleicht einem Edelstein. »Sachte nur – langsam, ach! So rühr das Tuch nicht an! Daß deine Dogge nicht bellt!«

Der elfzeilige Text à vier oder fünf Zeichen (das fünfte Zeichen ist nach Kennedy als Interjektion metrisch gleichsam nicht existent) eröffnet mit einem Natureingang, der als Ortsformel wiederholt (1, 6) bzw. variiert (5) wird und im zweiten sowie achten Vers ohne Ortsangabe durch das Verb you »es gibt«) auf anderer Ebene (plus Verb und Objekt) weitergeführt wird. Da auch die Verse drei und vier, die symmetrisch konstruiert sind (Adjektiv + Nomen, Verb + Personalpronomen), in Vers sechs variiert wieder aufgenommen werden, läßt sich die vom Übersetzer als zweite Strophe markierte Einheit als Wiederholung bzw. Variation verstehen. Mit den letzten drei Versen tritt augenscheinlich semantisch etwas Neues hervor: Jeder Vers besteht aus vier Zeichen plus Interjektion (zweimal der Ausruf xi, »ach«), eine Wiederholung bzw. Variation deutet sich nur in den beiden verneinten Imperativen an (wu han, wu shi). Die Interjektionen legen eine Rede nahe, die Rede eines Mädchens, dem ein Brautgeschenk – das vom jungen Mann erlegte und durch »Reisig« (Debon: »Ried«, »Gräser«; bai, »weiß«, ist nicht mitzuübersetzen, da in baimao verblaßt100) geschützte Wild – gemacht worden ist. Die junge Frau, die sich freien lassen möchte (huai chun, »den Frühling im Sinn haben«) besteht auf einer zeitlich verzögerten Erfüllung ihrer Liebessehnsucht (das »Tuch«, bzw. genauer der Gürtel, möge – noch – nicht gelöst werden), sei es um ihrer Scheu willen, sei es mit Rücksicht auf die Umwelt (verbotene Liebe?). Die chinesische Literaturkritik hat diesen Text bis ins 20. Jh. als unzüchtig empfunden,101 das soll uns hier aber nicht weiter interessieren. Unsere Aufmerksamkeit hat eher dem Charakter des Natureingangs zu gelten. Die Ableitung aus einem Totem scheint (noch) nicht nachweisbar, dennoch läßt sich das »Reh« auf 99

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Lied Nr. 23 zitiert nach GÜNTHER DEBON: Mein Weg verliert sich in weißen Wolken, Heidelberg: Lambert 1988, S. 16. So XIANG XI (Hg.): Shijing cidian, Chengdu: Sichuan Renmin 1986, S. 6. ZHOU XIAOTIAN (Hg.): Shijing Chuci jianshang cidian, Chengdu: Sichuan Cishu 1990, S. 59.

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Das Buch der Lieder

Bronzegefäßen, und damit für den religiösen Bereich, nachweisen; es pflegte nämlich einem Schamanen als Gefährte und Helfer auf seinem Weg zum Himmel und damit zur Kontaktaufnahme mit den Ahnen zu dienen.102 Wir müssen jedoch, da »Reh« hier auf jeden Fall säkularisiert ist, den Text nicht dadurch auf eine religiöse Ebene bringen, daß wir die Werbung des Mannes als Wunsch nach Nachwuchs und Pflicht gegenüber den Vorfahren verstehen. Thema des Textes ist offensichtlich das Wachsende, das Werdende; es manifestiert sich in der Fülle der Natur und dem Verlangen der Liebenden nach einer Teilhabe. Insofern ist der Mensch dem Rhythmus der Natur unterworfen. Die Natur ist nicht nur der Ort, sondern, ihrem jahreszeitlichen Wechsel entsprechend, auch der Zeitpunkt der Liebe.103 Mitunter basieren ganze Texte auf wenigen formulae plus Variation wie z.B. der folgende, der aus drei formulae und einer Variationskette besteht. Wie rank der Pfirsichbaum104 Wie rank der Pfirsichbaum Es leuchten seine Blüten. Dies Kind wird heimgeführt, Soll Haus und Kammer hüten. Wie rank der Pfirsichbaum! So voll in seinen Früchten. Dies Kind wird heimgeführt, Soll Haus und Kammer richten. Wie rank der Pfirsichbaum! Reich seine Blätter stehen. Dies Kind wird heimgeführt, Soll Haus und Mensch versehn.

Dies ist ein Hochzeitslied, das der Braut, die ins Haus des Mannes zieht (gui), gesungen wird. Der Natureingang fungiert als eine Art Hochzeitsformel, als Refrain, ebenso sind die Verse drei (jeweils identisch) und vier (mit der Variation eines einzigen Zeichens) als Refrain einzustufen. Einer möglichen Eintönigkeit wird durch den zweiten Vers entgegengearbeitet, der, semantisch ähnlich, seine Struktur 102

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Vgl. hierzu ZHANG ZHIGUANG [d.i. K.C. CHANG]: Zhongguo qingtong shidai, Bd. 1, Peking: Sanlian 1983, S. 314. Diesen Hinweis verdanke ich Wang Jinmin, Universität Peking. Manche westliche Interpreten sehen eine Parallele zwischen dem erlegten Wild und dem »verführten« Mädchen, s. ARCHIBALD MACLEISH: Poetry and Experience, Harmondsworth: Penguin 1965, S. 61f. Diese Sicht verleiht dem Text zwar eine aus heutiger Perspektive interessantere Dimension, ist aber nicht aufrechtzuerhalten, da Wen Yiduo si jun als Brautgeschenk nachgewiesen hat, s. Wen Yiduo quanji, Bd. 2, Hongkong: Nantong Tushu o.J., S. 154f. (Shijing tongyi). Lied Nr. 6, zitiert nach DEBON: Ein weisses Kleid, ein grau Gebände, S. 9.

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DAS ALTERTUM – RELIGION UND RITUS

alternierend, eine Entwicklung in den Text bringt: Blüte, Frucht, Blatt signalisieren nicht nur den fortschreitenden Prozeß in der Natur vom Frühling zum Sommer, sondern auch die Schönheit, Fruchtbarkeit, Reife der Braut, deren Nachkommen der Familie, dem Klan (klingt dreimal in shi jia, jia shi, jia ren an) Reichtum bringen werden. Und so zeigt sich hier konkret, was bislang in obigen Ausführungen als Verbindung von Baum und Klan nur theoretisch erfaßt worden war: daß Natur und Mensch in etwas Allgemeines eingebunden sind, was Leben über die eigene Generation hinaus sichert. Es kann sogar vorkommen, daß ein Text in seiner Gänze nur aus formulae aufgebaut ist und innerhalb derselben lediglich jeweils ein Zeichen austauscht, um Monotonie zu vermeiden. Er pflückt den wilden Wein105 Ach, da pflückt er den wilden Wein! Einen Tag ihn nicht zu sehen, Scheint drei Monde lang zu sein. Ach, der pflückt sich Himmelkehr! Einen Tag ihn nicht gesehen, Ist, als wär’s drei Herbste her. Ach, und Beifuß pflückt er sich! Einen Tag ihn nicht zu sehen, Ist drei Jahre lang für mich.

Im Vergleich zum vorhergehenden Text hat dieses Lied die Variationskette ausgeschieden und ist somit auf drei Refrains reduziert. Es ist ein Liebeslied, das mit den letzten beiden Refrains gleichsam Geschichte gemacht hat und immer wieder in der chinesischen Literatur verarbeitet worden ist; es beklagt die sich in Raum und Zeit vertiefende Trennung von der Liebsten (im Gegensatz zum Übersetzer macht die chinesische Sekundärliteratur einen Mann zum Sprecher)106. Die Refrainfolge A – B – C à vier Zeichen pro Vers weist jeweils in der ersten und dritten Zeile eine Variante auf: In der Ernteformel wechselt der Gegenstand, der eingebracht werden soll, und im dritten Refrain vertieft sich von Monat über Jahreszeit (drei Herbstmonate) zu Jahr die Zeit. Die Variation des Natureingangs bringt uns auf die Frage nach dem Charakter der Ernte zurück. Wie Chow Tse-tsung nachgewiesen hat, ist ge (wilder Wein) als sexuelles Symbol und als Zeichen für Fruchtbarkeit auf schamanistische Rituale zurückzuführen.107 Auch der zweite Gegenstand, xiao (»Himmelkehr«), ent105

106 107

Lied Nr. 72, zitiert nach GÜNTHER DEBON (Übers.): Mein Haus liegt menschenfern doch nah den Dingen. Dreitausend Jahre chinesischer Poesie, München: Diederichs 1988, S. 73. Vgl. z.B. Shijing Chuci jianshang cidian, S. 193. ZHOU ZEZONG [d.i. Chow Tse–tsung]: Gu wu yi yu »lin shi« kao. Zhongguo langman wenxue tanyuan, Taipeh: Lianjing 1986, S. 25–31.

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Das Buch der Lieder

stammt religiöser Praxis, er wurde als Weihrauch bei Opferfeiern verbrannt.108 Es steht daher zu vermuten, daß auch ai (Beifuß) in einen religiösen Kontext einzubetten sein wird. Einen Nachweis finden wir bei Chow Tse-tsung, der sowohl xiao als auch ai ebenso wie ge als medizinische Heilverfahren anführt, die Teil des schamanistischen Rituals gewesen sind.109 Kurz, wie säkularisiert der Text auch zu lesen sein mag und von der Nachwelt verstanden wurde, wir verstehen ihn nur ganz, wenn wir ihn als das nehmen, was er einmal war: als die im Rahmen eines Fruchtbarkeits- und Lebensverlängerungskultes religiös motivierte Sehnsucht nach einer Teilhabe am schöpferischen und ewigen Werden der Natur. An den wenigen, hier aufführbaren Beispielen fällt ein stilistisches Charakteristikum ins Auge, das sich konsequent durch das Shijing verfolgen läßt, nämlich das der Reduplikation. Hier veranschaulicht sich das, was Rolf Trauzettel die Ästhetik des Erhabenen im archaischen China genannt hat, eine Ästhetik, die sich im kultischen Ritual liturgisch vollzieht, das heißt, in der Verehrung des Anfänglichen (yuan), nämlich des Begründers eines Geschlechtes, und man darf weiter folgern, in der Verehrung des Wachsenden und Werdenden, da Fruchtbarkeit – so Chow Tse-tsung – der Angelpunkt archaischen Denkens in China war. Erhabenheit bildete eine objektive Beschaffenheit des Rituals, ihr Ausdruck galt als schön und zugleich die Schönheit übersteigend, weil in der Erhabenheit eben das religiöse Gefühl mitgestaltend waltete und alles überstrahlte. [...] Die Reduplikation gleicht einem Echo-Effekt, sie erzeugt Resonanz. Gerade das Sichselbst-Wiederholen hat etwas stark Bekräftigendes, wovon für die Chinesen, die eine Art Furcht vor im Unendlichen sich verlierenden Kausalitätsketten hatten, eine beruhigende und sinnbildende Wirkung ausgegangen war. Was in seiner Bewegung, auch Denkbewegung, zu sich oder in sich zurückkehrt, erfüllt den Sinn – so könnte man dafür die Formel formulieren. Durch die gesamte altchinesische Philosophie geht ein Zug zum Synonymen, ja teilweise sogar zum Tautologischen. Die einzig legitime Verkettung bildete die Deszendenzkette, ihre Verzweigungen formierten eines der Grundmodelle für Entsprechungen, in denen Natur- und Menschenwelt einander zugeordnet und miteinander verschränkt wurden. [...] Die chinesische Konzeption von Erhabenheit erfaßte also die Einheit von Natur- und Menschenwelt, und unter dem ästhetischen Aspekt war ihr Ort zwischen Natur- und Kunstschönheit; an beiden Sphären teilhabend über110 wölbte sie sie aufgrund ihrer umgreifenden Spiritualität.

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Vgl. u.a. Shijing Chuci jianshang cidian, S. 193. ZHOU: Gu wu yi yu »lin shi« kao, S. 108, 120f. Rolf Trauzettel: »Das Schöne und das Gute. Ästhetische Grundlegungen im chinesischen Altertum«, S. 320.

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2. Die Lieder des Südens

Die Literaturgeschichte pflegt auf das Buch der Lieder unmittelbar die Lieder des Südens (Chuci) folgen zu lassen.111 Zwischen diesen beiden Sammlungen archaischer chinesischer Dichtung liegen jedoch Jahrhunderte, und: Sie stehen für unterschiedliche Regionen und Kulturen, die eine für den Norden und dessen »höfische« Welt, die andere für den Süden und eine schamanistische Kultur, die über die damalige chinesische Welt hinaus mit dem Pazifischen Kulturkreis verbunden und damit in einen weltgeschichtlichen Kontext zu stellen ist.112 Die Frage, die sich jedoch zunächst stellt, ist die nach dem zeitlichen und räumlichen Dazwischen. Hier hat die chinesische Sinologie in den letzten Jahren verschiedentlich Anstrengungen unternommen. An Ergebnissen kann das folgende zusammengefaßt werden.113 Die ca. 300 Jahre, die zwischen dem Buch der Lieder und den Liedern des Südens liegen, sind keine Zeit des Gedichts, sondern eine Zeit reicher politischer, philosophischer und anderer Erörterungen. Gleichwohl lassen sich in den klassischen Schriften der damaligen Zeit gut hundert Gedichte nachweisen, die, besonders wenn sie Konfuzius, Lao Zi, Zhuang Zi oder dem Volksgut (Weisheit, Klage) zugeschrieben werden, auch anthologisiert worden sind.114 Schematisch lassen sich drei Arten von Gedichten unterscheiden, die auf jeweils besondere Art den Übergang zu den Liedern des Südens vorbereiten helfen: erstens die anonym bleibende Dichtung des chinesischen Kernlandes (»Volkslieder«), zweitens die Dichtung des Südens und drittens die namentlich mitunter faßbare Dichtung der Gebildeten und des Hofes. Von den sogenannten Volksliedern – der Süden ist hier 111

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Vgl. hierzu z.B. die einflußreiche und mehrfach nachgedruckte Geschichte der chinesischen Literatur nach NAGASAWA KIKUYA von P. EUGEN FEIFEL, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1959, S. 78, wo das Kapitel über die Chuci direkt an das Kapitel über das Shijing anschließt. Vgl. hierzu XIAO: Chuci yu shenhua, S. 1–12. ZHANG: Zhongguo shige shi, S. 113–164. Besonders verdienstvoll sind hier für den deutschen Sprachraum WILHELM GUNDERT: Lyrik des Ostens: China, München: dtv 1962 (= dtv 47), S. 25–35; DEBON: Mein Haus liegt menschenfern doch nah den Dingen, S. 17–47. Freundlicherweise hat mich GÜNTHER DEBON durch Hinweis auf seinen Aufsatz »Der Reimspruch im philosophischen Schrifttum Chinas«, in: Günther Debon: So der Westen wie der Osten. Dichtung, Kunst und Philosophie in Deutschland und China, Heidelberg: Guderjahn 1996, S. 36-42, auf den Umstand aufmerksam gemacht, daß sich in den Werken der frühen chinesischen Denker nicht wenige Lapidarverse nachweisen lassen. Wie Zhang Songru und Debon bin ich deshalb der Meinung, daß die zwischen dem Shijing und den Chuci »fehlende« Dichtung u.a. in den philosophischen Werken der damaligen Zeit zu suchen ist.

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Die Lieder des Südens

vom Norden beeinflußt – sind heute noch etwa 50 erhalten. Als »neue Weisen« (xin sheng) stehen sie formal und inhaltlich gegen die Ritualmusik der Zeit. Trotz ihrer Geringschätzung durch die Orthodoxie halten sie, die überall im Lande gesungen werden, auch Einzug am Hof. Hauptthema ist die Liebe, daneben finden sich Gesänge wider den Krieg, wider gesellschaftliche Übel, aber auch Preisgesänge auf gute Herrscher und vorbildliche Minister. Der frühen »höfischen« Dichtung gelingt es vielleicht mehr noch als der anonymen »Volksdichtung«, das Zwischenstück zwischen Shijing und Chuci abzugeben. In jener tritt eine leichte »Individualisierung« hervor, und zwar insofern, als sich einzelne Texte historischen Personen zuordnen lassen, über die allgemeine Spruchweisheit hinaus inhaltlich der Klage verbunden sind, also die kommende sao-Form vorbereiten, und formal oftmals den Fünf- oder Siebenzeiler zu erproben beginnen. Wenn auch kaum ganz große Lyrik unter den hundert Beispielen »volkstümlicher« und »höfischer« Gedichte auszumachen ist, so vermögen diese doch die Lücke zwischen den beiden großen Dichtungen am Anfang und Ende der ZhouZeit vorerst zu füllen. Grundsätzlich wäre hier mehr Arbeit zu leisten. Die Lieder des Südens sind bislang – trotz ihrer überragenden Bedeutung nicht nur für die Literaturgeschichte oder für den Geist in China, sondern auch als frühes und bedeutendes schriftliches Zeugnis von China als einer möglichen Wiege des Pazifischen Kulturraums115 wenig von der nichtsinologischen Welt wahrgenommen worden; sie existieren gleichsam im Bewußtsein des literatur- und kulturinteressierten Liebhabers nicht. Dies ist nicht unbedingt verwunderlich. Die Lieder des Südens zeichnet zwar eine atemberaubende Schönheit aus, aber ihr oft geheimnisvoller Ton und ihre meist dunkle Sprache stehen einer angemessenen literarischen Übersetzung in eine Fremdsprache bislang entgegen. Die herkömmlichen Übertragungen, zu denen man meist greift (David Hawkes, Peter Weber-Schäfer),116 verdienen durchaus die Bewunderung des Lesers, doch fehlt ihnen ein künstlerisches Flair, das über die Fachwelt hinaus eine Lesergemeinschaft zu gewinnen vermag. Hier wird deswegen künftig noch von Sinologen bzw. Übersetzern aus dem Chinesischen Arbeit abzufordern sein, weil sich ohne ein Verständnis der Lieder des Südens der chinesische Geist, wie er von der chinesischen Intelligenz repräsentiert wird, nur schwer erfassen läßt. Der mutmaßliche Verfasser der Lieder, Qu Yuan (ca. 340 – ca. 278), ist bekanntlich bis heute ungebrochen Leit- und Identifikationsfigur des chinesischen Intellektuellen. Daß hier eher von einem Mythos des Dichters als eines Patrioten, eines rechtschaffenen »Staatsdieners« und einer lauteren Seele zu reden ist, braucht nicht eigens betont zu werden. In dieser Hinsicht hat die 115

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Die gemeinsamen Konstituenten sind die Verehrung von Vogel, Sonne und Weltenbaum, s. XIAO: Chuci yu shenhua, S. 5ff. DAVID HAWKES: Ch'u Tz'u. The Songs of the South, Boston: Beacon Paperback 1962. PETER WEBER–SCHÄFER: Altchinesische Hymnen, Köln: Hegner 1967, S.11–97.

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DAS ALTERTUM – RELIGION UND RITUS

Motivforschung bereits exemplarisch Arbeit geleistet.117 Was eher das allgemeine Interesse verdient, ist die Frage nach dem religiösen Hintergrund und vor allem nach dem Charakter des Melancholischen, welches die Lieder durchwebt. Über die epochemachende Wirkung der Chuci ist viel und vor allem wenig Haltbares (Stichworte: Epochenschwelle, Subjektivität, Individualismus)118 geschrieben worden, das soll uns im weiteren weniger beschäftigen. Es geht zunächst um die Grundlagen und dann um eine Einordnung bzw. Einschätzung der Lieder anhand des benannten Fragenkatalogs (Religion, Melancholie, Subjektivität). Die Antwort läßt sich vorwegnehmen: Die Lieder des Südens sind die mitunter säkularisierten Ausdrucksformen eines schamanistischen Rituals, das die Begegnung von Göttlichem und Menschlichem ermöglichen und die Trennung von Diesseits und Jenseits aufheben sollte. Das Scheitern des Unterfangens resultiert in einem stellvertretend erlebten Ohnmachtsgefühl mit anschließender Depression. Der Versuch, die Unterschiede zwischen dem Shijing und Chuci einzuebnen,119 verkennt meines Erachtens die Funktion und die Bedeutung des durchweg melancholischen Tones der Lieder des Südens. Während das Buch der Lieder in der Regel von der Verläßlichkeit des Himmels,120 kurz, des Jenseits spricht, sind die Lieder des Südens von einem Bewußtsein der Diskrepanz von Hier und Dort durchwirkt. Was der Grund für diese veränderte Bewußtseinslage sein mag, wird sich auf der Basis historischen Wissens nur andeutungsweise ausmachen lassen. Eine erste These wird lauten können: Die Herausbildung einheitlicher Machtstrukturen im alten China brachte eine politisch zu fassende Verengung des Zugangs zum Himmel mit sich.121 Die königliche bzw. kaiserliche Macht begann das Göttliche zur Absicherung der eigenen Herrschaft so sehr zu dominieren, daß der Himmel immer weniger »offen« stand. Die Erkenntnis dieser Tatsache dürfen wir als die erste große Krise des chinesischen Geistes bezeichnen, eine Krise, die sich sehr 117

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LAURENCE A. SCHNEIDER: A Madman of Ch'u. The Chinese Myth of Loyalty and Dissent, Berkeley u.a.: University of California Press 1980. Z.B. SCHNEIDER: Madman of Ch'u, S. 4–6, 46, 81; aber vor allem CH'EN SHIH–HSIANG: »The Genesis of Poetic Time. The Greatness of Ch'ü Yuan. Studies with a New Critical Approach«, in: Tsing Hua Journal of Chinese Studies. New Series X/1 (1973), S. 1–44. Zur Kritik vgl. meinen Aufsatz »Zeitbewußtsein und Subjektivität. Zum Problem der Epochenschwelle in China und dem Abendland«, in: HANS–JÜRGEN GAWOLL, CHRISTOPH JAMME (Hg.): Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle in Kunst und Geisteswissenschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Otto Pöggeler, München: Fink 1994, S. 325–336. So z.B. GEOFFRY R. WATERS: Three Elegies of Ch'u. An Introduction to the Traditional Interpretation of the Ch'u Tz'u, Madison: University of Wisconsin Press 1985, S. 12f., 22. Ich folge hier YOSHIKAWA K¿-,5¿ ª.À 8QRJDL±WDXWDQL WVXLWH© LQ&KÌJRNX EXQJDNX KÀ Bd. 1 (1954), S. 17. S. meine kurzen Ausführungen in: Der durchsichtige Berg. Die Entwicklung der Naturanschauung in der chinesischen Literatur, Stuttgart. Steiner 1985 (Münchener Ostasiatische Studien; 39), S. 41f. Vgl. hierzu EICHHORN: Die Religionen Chinas, S. 59f.; CHANG: Art, Myth and Ritual, Kap. 3 und 4.

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Die Lieder des Südens

viel später, nämlich zur Tang-Zeit, auszuwachsen begann und erst mit der weitgehenden Verweltlichung des chinesischen Geistes zur Song-Zeit als bereinigt bezeichnet werden darf. Chuci bedeutet eigentlich »die Worte von Chu«, man versteht darunter eine Anthologie von 17 schamanistischen oder der schamanistischen Tradition entstammenden Texten in der kommentierten, das heißt, hier konfuzianisch (um)gedeuteten Edition von Wang Yi (gest. 158 n.Chr.). Chu war zur Zeit der Streitenden Reiche (481–221) neben Qi und Qin einer der drei großen Lehnsstaaten, die um die Macht in einem sich 221 v.Chr. realisierenden Gesamtreich rangen. Es umfaßte Teile der heutigen Provinzen Hubei, Hunan, Henan, Jiangxi, Anhui, Jiangsu und Zhejiang, kurz, es steht für die Region südlich des Unterlaufs des Yangtse und insofern für den »Süden«. Dem damaligen Chu stellte sich die Frage, ob man im Kampf aller gegen alle mit Qi oder Qin paktieren sollte. Am Hofe des Königs Huai von Chu (reg. 329–299) plädierte die eine Fraktion für die Allianz mit Qi, die andere für die mit Qin. Qu Yuan, der Ratgeber (shuoke) am Hofe von Chu war, hatte sich für ersteres Bündnis ausgesprochen. Folge war ein Zerwürfnis mit dem König. Dies bildet nach traditioneller konfuzianischer Interpretation den Hintergrund der beiden wichtigsten Texte der Lieder des Südens, nämlich der »Neun Elegien« (»Jiuge«) und der »Weise von der Verzweiflung« (»Lisao«). Die in jüngster Zeit wichtigsten Interpretationsansätze (sie sollen im folgenden noch zur Sprache kommen) gehen in ihrer Zurückweisung der konfuzianischen, und das heißt rein politischen, Einschätzung allesamt von einem religiösen Kontext aus. Dennoch ist der politische Ansatz nicht immer als abwegig zu bezeichnen, da sich zumindest im »Lisao« der Sprecher eines vorgegebenen, aus der Chu–Kultur stammenden schamanistischen Rituals bedient, um seine Haltung zur Welt zu veranschaulichen, und diese beinhaltet auch eine politische Dimension. Im Begriff der Macht geht das Religiöse mit dem Politischen zusammen, dies zeigt sich besonders deutlich im Schlußbild der »Weise von der Verzweiflung«: Die schamanistische Reise endet zwischen Himmel und Erde, der Ausschluß vom Himmel symbolisiert nicht nur das Scheitern der Reise zum Göttlichen, sondern auch den tatsächlichen Ausschluß von weltlicher Macht, der Sprecher ist weder im Himmel noch auf Erden erhört. Im folgenden sollen von den siebzehn Texten, die Qu Yuan und dessen geistigen Nachfolgern zugeschrieben werden, nur zwei stellvertretend näher betrachtet werden. Der Grund liegt auf der Hand. Die meisten Texte sind so sehr dem »Lisao« und den »Jiuge« verpflichtet, daß deren Imitation und Variation oft in die Nähe von Monotonie gerät. Sieht man einmal von den »Himmelsfragen« (»Tianwen«), dem »Rückruf der Seele« (»Zhaohun«, »Dazhao«) und der »Einladung an einen Einsiedler zur Rückkehr« (»Zhao yinshi«) ab, so sind die verbleibenden Lieder von einer schematischen Klage über den Zustand der Welt gekennzeichnet: auf der einen Seite das reine, unbescholtene Ich, auf der anderen Seite die korrupte Gesellschaft. Die Reise, die mitunter weltlichen (vgl. »Jiuzhang«) oder taoistischen

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Charakter (vgl. »Yuanyou«) annehmen kann, hat die Funktion, aus dem Dilemma herauszuhelfen, und zwar durch eine Verbindung mit den himmlischen oder irdischen Mächten. In all diesen Liedern sticht die Formalisierung der Klage ins Auge. Selbst in den beiden Kernstücken der Chuci, in der »Weise von der Verzweiflung« und in den »Neun Elegien«, fällt der katalogartige Ausdruck von Melancholie und Depression auf. Wie ist dieses Phänomen zu deuten, will man es nicht simpel mit dem Hinweis erklären, im Altertum habe alles Traurige als schön gegolten?122 Obwohl die meisten dieser zum Selbstmitleid neigenden Texte ein Ich kennen, scheint dieses lediglich deiktische123 Funktion zu haben. Es geht noch nicht um etwas Einmaliges, Unverwechselbares, das die Auseinandersetzung mit der Umwelt freudig akzeptiert und gestärkt aus dieser zu sich zurückkehrt,124 sondern es geht um eine Konvention, die der Sprecher, sei es als Schamane, sei es als verkannter Ratgeber, mit einer Gruppe teilt. Insofern liegt die Vermutung nahe, daß es sich bei den Chuci um eine Art Vademecum handelt. Weltlich gesprochen: Wie tröste ich mich oder lasse ich mich trösten, wenn ich feststellen muß, daß mein Herr mich nicht erhört? Die religiöse Variante ist in den dagegen seltener, jedoch offensichtlich in den »Jiuge« und andeutungsweise noch im »Lisao« zu spüren. Der kollektive Charakter der Sprache und vor allem die Schwermut wirken alles andere als monoton, sicherlich deshalb, weil hier etwas am Anfang und nicht am Ende einer Tradition steht. Dennoch ist die Frage zu stellen, ob nicht hinter der Begründung einer bestimmten Form von Klage ein Prinzip waltet, welches sich ähnlich wie in den »Jiubian« auf kosmologische Vorstellungen zurückführen läßt. Da nämlich signalisiert die Schule machende Verzagtheit im Angesicht des Herbstes (bei qiu), daß die Gemütslage des Menschen eine Folge des jahreszeitlichen Wechsels ist. Demnach freut sich der Mensch im Frühling und trauert zur Zeit des Herbstes.125 Der Mensch wäre so gesehen ein Spielball kosmischer Mächte, er wäre nicht Herr seines Seelenhaushaltes, sondern äußerte sich nach jeweiligen temporalen Vorgaben. Ein erstes Indiz für diese Mutmaßung läßt sich im »Lisao« am Beispiel der Schematisierung von Zeit nachweisen. Zeit ist nicht die individuelle, in welcher der Sprecher sich, Wechseln unterworfen, neu erfährt und bestimmt,126 sondern Zeit ist einmal die mythologische der Abstammung, zum zweiten die des rechten Augenblicks (Gegensatz: Unzeit) und vor allem die kosmologische, die allgemein und ewig gültig eingefangen wird: Am Morgen (Yang) ... / Am Abend (Yin) ...127 Zwischen dieser Spanne existiert keine Zeit. Zeit ist eine 122

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ZHOU: Shijing Chuci jianshang cidian, S. 986. Diese These, die nicht weiter belegt wird, wohl aber ihre Richtigkeit hat, wird hier als »Schlüssel zum Verständnis der ›Neun Elegien‹« ausgegeben. Diesen Gedanken verdanke ich Arbeiten des Gräzisten Bruno Snell. Ich folge hier dem Goetheschen und Hegelschen Verständnis von Individuum. Vgl. hierzu KUBIN: Der durchsichtige Berg, S. 100–103. Vgl. z.B. das Lisao, s. WEBER–SCHÄFER: Altchinesische Hymnen, S. 195, 201, 202f., 208. Vgl. hierzu YU: The Reading of Imagery in the Chinese Poetic Tradition, S. 91.

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Die Lieder des Südens

Formel und gehört vielleicht ebenfalls aus mnemotechnischen Gründen zu den formulae, welche die Rhetorik der Chuci wesentlich bestimmen. Die feste äußere Form der Chuci scheint sich in der Rhetorik fortzusetzen. Man unterscheidet zwischen der Lied- und der sao-Form.128 Der Unterschied liegt in der Stellung der Interjektion xi (ach) und im Gebrauch von Partikeln. Während die Liedform zum Beispiel in den »Jiuge« auf Partikel verzichtet und jeweils nach dem dritten Zeichen in einem fünfhebigen Vers mittels xi eine Zäsur bildet, gelangt der Ausruf xi in der sao-Form, so z.B. im »Lisao«, nur jeweils ans Ende der ersten Zeile eines Doppelverses, die Zäsur dagegen wird gleichsam zwischen dem dritten und fünften Zeichen durch eine Partikel gebildet. Man kann sich leicht vorstellen, daß der Einschub von Partikeln zum Ausdruck eines unbetonten Versteils in jedem Vers an immer derselben Stelle aus mnemotechnischen Gründen für den Vortrag der zur Länge neigenden sao-Form ebenso notwendig war wie die Verwendung von Repetition und formulae. In den Chuci lassen sich grob zwei Arten von formulae unterscheiden, zunächst diejenigen, die die Makrostruktur bilden, nämlich, wie es David Hawkes in seinem grandiosen Aufsatz zu den Liedern des Südens formuliert hat, die Momente von tristitia und itineraria,129 und zum anderen diejenigen, welche die Mikrostruktur prägen, nämlich vor allem Vogel und Pflanze; in Form einer Substitution130 begründen sie eine allegorische Schreibweise.131 Da die formulae (einschließlich der Repetition, die vielleicht magischen Charakter hat) wahrscheinlich auf religiöse Rituale zurückgehen, ist es notwendig, an dieser Stelle kurz auf den schamanistischen Hintergrund einzugehen.132 Danach teilt sich der Kosmos in drei Stockwerke: Himmel, Erde, Unterwelt, die durch eine Achse miteinander verbunden sind. Diese Achse hat als Weltachse viele Namen oder Gestalten. Die Weltsäule konnte durch einen Baum, den Weltenbaum, einen Berg, den Weltenberg, durch eine Leiter, eine Brücke, ein Seil, eine Treppe, einen Pfeiler und anderes symbolisiert werden, kurz, durch etwas, was den Raum und die Zeit zwischen Erde und Himmel überwinden half, um den ursprünglichen Zustand der Einheit von Göttlichem und Menschlichem wiederherzustellen. Diese Einheit stellt der Schamane durch einen magischen Flug, durch seine Reise ins Jenseits (itineraria) mittels Ekstase her. Hier spielt die Gestalt des Vogels eine prominente Rolle. Der Vogel, den wir bislang als Totem oder Natureingang im Buch der Lieder kennengelernt haben, fungiert im Rahmen der Himmelfahrten entweder als Seelenführer oder auch als Verkörperung des nach dem Himmlischen verlangenden Schamanen. Unterwegs 128 129

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Ich folge hier HAWKES: Ch'u Tz'u, S. 3–7. DAVID HAWKES: »The Quest of the Goddess«, in: BIRCH: Studies in Chinese Literary Genres, S. 42–68. YU: The Reading of Imagery in the Chinese Poetic Tradition, S. 100ff. WANG: From Ritual to Allegory, S. 165–183. ELIADE: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, S. 402–461.

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konnten neben dem Vogel auch ein Pferd wie im »Lisao« oder ein Hund als Wegbegleiter dienen (letzteren hatten wir im Zusammenhang mit der Bestimmung von lei kennengelernt). Was Mircea Eliade in seiner Studie zum Schamanismus nicht erklärt, ist das Moment der tristitia als Folge mißglückter Seelenreise oder als natürliche Folge einer von vornherein nicht für realisierbar erwarteten Himmelfahrt, weshalb die Schwermut grundsätzlich Begleiterin der Reise ist. Es mag sein, daß dieses Moment in anderen schamanistischen Kulturen fehlt, es dürfte aber auch deswegen nur sehr schwer nachzuweisen sein, da die Chuci das früheste vollkommene schriftliche Zeugnis des Pazifischen, das heißt, schamanistischen Kulturraumes sind. Wie soll man also die tristitia letzlich fassen? Ist sie lediglich eine Konvention, ein Topos oder wirklicher Ausdruck eines echten Gefühls? Für all die Zeugnisse, die in der unmittelbaren Nachfolge der »Jiuge« bzw. des »Lisao« stehen und damit eindeutig säkularisierten Charakter haben, ist die Klage als Dutzendware zu verstehen: Als fester Bestandteil des Selbstwertgefühls war sie Zeichen einer Gemeinschaft, die nach Teilhabe an der Macht verlangte, von dieser jedoch ausgeschlossen war und nun nach einem Erklärungsmodell suchte. Die Konstatierung der eigenen Reinheit innerhalb dieses Modells sollte nicht nur als Eigentrost begriffen werden, sondern auch als Propaganda. In eben diesem Sinne haben die Chuci ihre Wirkung bis heute unreflektiert entfaltet. Dennoch darf man sich, was den religiösen Part der Chuci betrifft, nämlich die »Jiuge« und das »Lisao«, durchaus Robert Shanmu Chen anschließen, der den Topos tristitia im Anschluß an Thesen von Chang Kuang-chih (d.i. K.C. Chang) als Folge der spätZhou-zeitlichen Erkenntnis der Trennung von Himmel und Erde, also des erschwerten, nicht mehr selbstverständlichen Zugangs zum Himmel, begreift133 und zu folgender Einschätzung kommt: Der Aufruf zur Suche wird gewöhnlich durch das Moment der tristitia wachgerufen, einer kosmischen Traurigkeit, die aus der Realisierung von Leben als etwas Ephemerem erwächst, von Sinngebung als etwas Illusionärem und aus der zeitlichen Erkenntnis der Endlichkeit des Menschen in seiner kosmischen Entfremdung. Das Moment der tristitia beschreibt ein lineares Bewußtsein einer individuellen Entfremdung und eine nostalgische Sehnsucht nach zyklischer Harmonie. Es weckt daher das Verlangen nach Permanenz innerhalb des ewig wechselnden Kosmos und nach Einheit mit dem universellen Einen, welches 134 umgekehrt die kosmische Suche motiviert.

Wie soll man sich den Flug bzw. die Reise des Schamanen und von dessen weltlichen Nachfolgern vorstellen? David Hawkes hat hierfür und vor allem für die Funktion der Himmelfahrt eine umfassende Beschreibung gegeben. 133 134

CHEN: A Comparative Study of Chinese and Western Cyclic Myths, S. 33. Übersetzt nach ebd., S. 124.

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Die Lieder des Südens Sie [die Reise] setzt einen symmetrischen Kosmos voraus, dessen unterschiedliche Teile unter der Herrschaft unterschiedlicher Mächte stehen. Diese Mächte können zur Unterwerfung oder zur Unterstützung des Reisenden bewegt werden, der sich ihnen im korrekten Ritus annähert. Eine vollkommene und erfolgreiche Rundreise durch den gesamten Kosmos wird den Reisenden daher zum Herrn des Universums machen und ihn befähigen, allen Mächten aus freien Stücken zu befehligen, sofern er ein Hexenmeister ist, sich in Freiheit zu bewegen, wenn er ein Mystiker ist, mit göttlichem Recht und Titel dank der geistigen Kräfte 135 von Raum und Zeit zu regieren, sofern er ein Herrscher ist.

In den Chuci ist die Himmelfahrt immer wieder als Brautfahrt entworfen, als Suche nach der Göttin. Es handelt sich hier um eine verschleierte Suche, die an vergleichbare Topoi der abendländischen Kulturgeschichte erinnert, nämlich an die Gralssuche, an den Ritterzug oder an den Auszug einer, so der Fachausdruck, Auszugsgestalt. Für die Lesung der Chuci, besonders für das »Lisao«, sind in jüngster Zeit wiederholt Ansätze entwickelt worden. Für die amerikanische Sinologin Pauline Yu ist statt der Juxtaposition wie im Shijing die Substitution der Schlüssel zum Diskurs im »Lisao«,136 das heißt, die Methode, A durch B zum Ausdruck zu bringen. C.H. Wang137 spricht hier von der allegorischen Schreibweise. So stehen die Pflanzen für etwas Abstraktes, für das Gute oder Böse in der Welt, für die Tugend oder das Laster, für den Rechtschaffenen oder für den Unbotmäßigen.138 Der Kampf zwischen den beiden Prinzipien – so im »Lisao« – ist ein Kampf zwischen den Emblemen, nämlich den Pflanzen. Der Gegenstand, um den gerungen wird, ist die eine, die Göttin, die als meiren, als Schöne, auch emblematischen Charakter annehmen und für den einen im Zentrum der Macht, den König, stehen kann. Da Pflanzen als Handlungsträgern in den Chuci eine so bedeutende Stellung eingeräumt wird, läßt sich hier statt von einem Anthropomorphismus von einem Physiomorphismus bzw. von einem »zweiten Ich« des Sprechers reden.139 Die Stellung der Pflanzen in den Chuci ist nicht zufällig; als Zeichen einer »Durchmischung von menschlichem Mikrokosmos und natürlichem Makrokosmos« sind die Pflanzen Teil einer Mythologie, welche die eine in ihren Figurationen als Höchste Mutter und Göttin zu deren Herrin macht.140 David Hawkes hat die Lieder des Südens zwar hinreichend aus dem Religiösen, und das heißt hier, aus dem Schamanistischen und Kosmologischen, abgeleitet, 135 136 137 138

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HAWKES: »The Quest of the Goddess«, S. 54. YU: The Reading of Imagery in the Chinese Poetic Tradition, S. 100. WANG: From Ritual to Allegory, S. 165–183. Zum Zeichencharakter von scheinbar botanischen Bezeichnungen im frühen chinesischen Schrifttum s. die ausgezeichnete Studie von MARTIN KERN: Zum Topos »Zimtbaum« in der chinesischen Literatur. Rhetorische Funktion und poetischer Eigenwert des Naturbildes kuei, Stuttgart: Steiner 1994 (= Sinologica Coloniensia; 18). WANG: From Ritual to Allegory, S. 176, 182. CHEN: A Comparative Study of Chinese and Western Cyclic Myths, S. 125.

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doch hat er sie nicht – das wäre auch nicht weiter seine Aufgabe gewesen – in die chinesische Mythologie vertieft eingebunden. Ohne eine solche Einbindung müssen die Chuci nicht nur in der Makro-, sondern auch in der Mikrostruktur unverständlich bleiben. Für eine mythologische Erhellung der Gesamtstruktur der Lieder des Südens sind besonders zwei Arbeiten von großer Hilfe, die bereits mehrfach in den Anmerkungen als Quellen erwähnt worden sind: Robert Shanmu Chens Studie zum zyklischen Denken in China und im Westen sowie Xiao Bings Entwurf einer Zugehörigkeit der Chuci zum Pazifischen Kulturkreis. Gemeinsam ist beiden Werken die Aufarbeitung der chinesischen Mythologie, um, ob nun im einzelnen (Chen) oder insgesamt (Xiao), zu einer grundsätzlichen Klärung des Wesens der Chuci zu kommen. Während Robert Chen einen systematischen Versuch unternimmt, indem er das Leiden an der Zeit(lichkeit des Menschen) in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt, verfolgt Xiao Bing einzelne Problemfälle.141 Im folgenden sollen die Thesen und Ergebnisse beider Studien in die Interpretation eingebracht werden. Es bedarf keiner besonders sorgfältigen Lektüre, um zu dem Ergebnis zu kommen, daß die Lieder des Südens ein besonders tief empfundenes Gefühl für die Vergänglichkeit, die Hinfälligkeit und die Ohnmacht des Menschen durchzieht. Mit Robert Chen läßt sich von einem spezifischen Bewußtsein für »zeitliche Spannung« (temporal tensions) sprechen, das ist die Spannung zwischen der zyklischen Wiederkehr in der Natur und dem als »linear« empfundenen Weg des Menschen ins Alter und in den Tod. Das aus dieser Spannung resultierende Leiden an der Zeit hat noch eine grundsätzlich leidvolle Erkenntnis zu seiner Voraussetzung, nämlich die einer Trennung von Diesseits und Jenseits. Solange beide Bereiche als Einheit empfunden bzw. erfahren worden sind, »Götter« und Menschen frei miteinander verkehren konnten, ja, zwischen »Gott« (shen) und Mensch kein Unterschied bestand,142 hat Zeitlichkeit nur erahnt, aber nicht zum eigentlichen Problem werden können. Man muß nun in unserem Fall nicht so weit gehen, die gesamte chinesische Kultur als einen Versuch zur Beendigung der Zeit zu verstehen, wie Robert Chen das tut. Hier bedarf es sicherlich weitergehender Untersuchungen, doch ist dem Theoretiker insofern Recht zu geben, als Zeit mit Sicherheit eine wichtige und durchgehende Komponente der chinesischen Kultur ist und 141

142

Ich bin mir des oft spekulativen Charakters dieses Werkes bewußt. Vorbehalte gegenüber dem Verfasser, wie sie mir im Sommer 1994 an der Universität Peking bekannt wurden, kann ich nur begrenzt akzeptieren, so z.B. das Argument, hier werde zuviel spekuliert. Die »Spekulationen« sind allesamt belegt, die Fülle der Belege aus vielen Sprachen und Kulturkreisen ist imponierend, eine Widerlegung dürfte daher nicht einfach sein. Überdies: Die Chuci sind ein schwieriger Gegenstand und alle bisherigen Deutungen letztlich unbefriedigend. Xiao Bing schafft dagegen einen interkulturellen Zusammenhang, der eine umfassende Deutung möglich erscheinen läßt. Vgl. hierzu die Interpretation des Lisao bei ZHOU: Shijing Chuci jianshang cidian, S. 967– 977.

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Die Lieder des Südens

als daß sich die Chuci am ehesten unter dem Aspekt einer Angst vor der Zeit(lichkeit) verstehen lassen. Wie dem auch sei, ob nur im einzelnen oder insgesamt, die Mythen, die Riten, die Philosophie, die Literatur lassen sich in China als Wege verstehen, die »Zeit« durch zyklische Vorstellungen »festzuhalten«, und zwar dadurch, daß man den Rhythmus des Menschen als den Rhythmus des Himmels interpretierte. Der Himmel ist den natürlichen Wandlungen unterworfen, so auch der Mensch, aber jener regeneriert sich auch, und der Mensch hat die Möglichkeit, an dieser Regeneration teilzuhaben und sich trösten zu lassen: Als Einzelwesen vermag er zwar nicht wiederzukehren wie die Natur, aber er steht in der Zeitlichkeit nicht allein, er ist mit Himmel und Erde Teil eines Ganzen. So vermag er »mit Himmel und Erde das hohe Alter zu teilen, / Mit Sonne und Mond licht zu sein.«143 Nach westlichem Verständnis kann eine solche Sicht nicht als in sich widerspruchsfrei gelten, sie hat dort eine Leerstelle, wo der Mensch sich als in der Einheit mit Himmel und Erde stehend empfindet, beiden jedoch weder vorausgehen noch sie überdauern kann. Doch darum geht es hier nicht, es geht vielmehr um Wege, aus der Zeitlichkeit zumindest für einen Moment auszubrechen; die früheste Form neben ersten Praktiken zur Lebensverlängerung waren die »Reisen« zu den »Göttern«. Und als die wichtigsten Zeugnisse für Himmelfahrten zur Überwindung der Zeit(lichkeit) sind die »Neun Elegien« (»Jiuge«) und die »Weise von der Verzweiflung« (»Lisao«) anzusetzen, die einen religiöser, die andere säkularisierter Natur. Zunächst die dritte der »Neun Elegien« (»Xiang jun«):144 Die Fürstin zögert, sie läßt auf sich warten, Ist sie es, die dort auf der Insel mein harrt? So lege ich an die reichen Gewänder, Im Wasser soll treiben das Kassienholzboot. Seid ruhig, ihr Flüsse, du Yuan und du Xiang! Wasser des Yangtse, strömt ruhig dahin! Ich suche die Fürstin, sie läßt auf sich warten, Sie spielt auf der Flöte und wartet – auf wen? Drachengespann entführt sie nach Norden, Es wendet mein Boot, nimmt Kurs auf Dongting. Das Segel von Blättern, Lianen die Taue, Schwertlilie das Ruder, Orchidee am Mast. Nach Cenyang blick ich zum Ufer hinüber: Die Göttin erhebt sich jenseits des Stroms, Schwebend die Göttin, höher und höher, Es weint, ja es weint die Schöne um mich. 143

144

Die zweite der Neun Deklarationen (Jiuzhang), s. XIAO: Chuci yu shenhua, S. 43; vgl. HAWKES: Ch'u Tz'u, S. 63. Unter Verwendung der Hanyu–pinyin–Umschrift zitiert nach WEBER–SCHÄFER: Altchinesische Hymnen, S. 15–17.

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DAS ALTERTUM – RELIGION UND RITUS Tränen entströmen auch meinen Augen, Liebe zur Fürstin erfüllt ganz mein Herz. Ruder von Zimtholz, Magnolienholzkiel Schlagen das Wasser zu schneeigem Gischt. Kannst Feigen du im Wasser sammeln, Fische pflücken hoch oben im Baum? Sind die Herzen nicht eins, so werden sie müde, Tändelnde Gunst ist schnell auch vertan. Schwer zu passieren die felsigen Klippen, Fernt tönt der Drachen Flügelschlag. Treue vergangen, Schmerz ist geblieben, Die mich verließ, hat nie mich geliebt. Es traben die Rosse im Flußtal am Morgen, Auf nördlicher Insel halt abends ich an. Vögel singen hell auf den Dächern, Wogen umspülen die Halle ringsum. Elfenbeinring vom Strome verschlungen, Gürtelstein nehmen die Fluten nun auf. Cypergras pflückt ich auf duftender Insel, Wollte dem Mädchen es geben als Kranz. Sie kehren nicht wieder, die glücklichen Zeiten, doch ich warte noch immer auf sie.

Ungeachtet der Schwierigkeiten, welche dieser Text für die Übersetzung und die Zuordnung der einzelnen Textteile bietet, läßt er sich doch eindeutig als Opfertext ausmachen. Der Überlieferung nach sollen sich die beiden Töchter des Urkaisers Shun aus Trauer über den Tod des Vaters im Xiang ertränkt haben, so daß in der Folge Shun als der Herr und die Töchter als die Herrinnen des Xiang (Xiang jun bzw. Xiang furen) verehrt wurden. Ein Vergleich mit dem vierten Gesang (»Xiang furen«) zeigt die Verwandtschaft beider Texte sehr deutlich: Es liegen ihnen ähnliche formulae und ähnliche Vorstellungen zugrunde, vor allem geht es im Rahmen der Opferhandlung um den Versuch einer Einkörperung des jeweils angerufenen göttlichen Wesens. Zu diesem Zweck hat sich ein Schamane äußerlich als die entsprechende Gottheit zurechtgemacht, um so deren vom Himmel herniederfahrenden Geist in sich aufnehmen zu können. Die erfolgreiche Aufnahme signalisierte die Vereinigung von Göttlichem und Menschlichem und somit die Teilhabe an der aufgehobenen Zeit. Zu dieser Begegnung kommt es jedoch nicht, daher reduziert sich der Aspekt der Zeit im vorletzten Vers auf den des Zeitpunkts: Der rechte Zeitpunkt (shi) zur erfolgreichen Einkörperung ist verstrichen und kann, so das ängstliche Urteil, nicht wieder gewonnen werden. Der Text teilt sich grob in vier Teile: 1. Es geht zunächst um die Anrufung des Göttlichen und die Vorbereitung der Begegnung, die nicht nur Körper und Geist, sondern auch die Beruhigung der Natur (Wellen) betrifft. 2. Es erfolgt dann nach ergebnislosem Warten die Ausfahrt Richtung Norden zur Suche nach dem Heiligen,

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Die Lieder des Südens

das sich jedoch auch dort nicht finden läßt. 3. Stattdessen ist die Rückreise anzutreten, die Enttäuschung entlädt sich in einer Reihe von Sentenzen und paradoxen Bildern zum Ausdruck eines vergeblichen Unterfangens. 4. Das Opfer wird dennoch zelebriert, indem die Gaben in den Fluß geworfen werden – vielleicht als Geste einer letzten Hoffnung, vielleicht aus Verpflichtung, vielleicht zur Beruhigung von Natur und Mensch, die auf ihre jeweils eigentümliche Art und Weise aufgebracht sein können. Der Text läßt sich unter den Begriff wangsi fassen,145 das heißt, der Schamane hält sehnsuchtsvoll nach dem Göttlichen Ausschau (wang) und überreicht seine Gaben (si). Zu einem solchen Opfer bedarf es eigentlich keiner wie auch immer gearteten Begegnung mehr. Der Blick in die Ferne, die Suche in der Weite, die anschließende Klage gehören möglicherweise alle zum schamanistischen Ritual146 und sind insofern lediglich als Form zu werten, als formalisierter Ausdruck einer als längst nicht mehr überwindbar akzeptierten Trennung von dieser und jener Welt. Der Text wäre so nur noch nach den formulae abzufragen. Eine dieser formulae ist die magische Reise mit dem Boot und zwar mit dem Drachenboot.147 Diese Reise darf man sich nicht konkret vorstellen; als Teil religiöser Riten meinte sie die schamanistische Ekstase. Auch wenn der Herr des Xiang im Dongting-See einen Schrein hatte,148 geht die Reise zu ihm über den konkreten Ort hinaus. Der Schamane mag seinen Tanz auf einer Art Aufführboot am Wasser abgehalten und dafür sein Publikum gehabt haben, doch subjektiv galt seine Fahrt einem Bereich, der die drei Flüsse Yuan, Xiang und Yangtse sowie allerlei Orte umfaßte, kurz, es geht nicht um den Ort auf Erden, sondern um den allgemein durch Wasser repräsentierten Ort des Heiligen in dieser Welt, eines Heiligen, das sich auf die Urahnen (Shun) beziehen läßt oder aber auf Aspekte der Fruchtbarkeit im weitesten Sinne (Wasser). Ebensowenig sollte man sich die Reise strikt als Bootsreise vorstellen, die Flugmetaphorik ließe sich sonst kaum erklären. Das Drachenboot hatte dreifach symbolischen Charakter: Es diente einmal der Abwehr des Bösen (der Seeungeheuer), zum anderen war es ein Mittel, Opfer darzubringen, und zu guter Letzt bot es die Möglichkeit, die Seele eines Verstorbenen »heim«zugeleiten bzw. in den Körper des Toten zurückzurufen. Alle drei Bedeutungsebenen klingen im vorliegenden Text an und werden durch den Kontext gestützt. Ein Beispiel: Nicht nur der Drache war einst ein Totem, sondern auch der Vogel; der Vogel stand überdies für die Seele eines Verstorbenen und konnte auch als Seelenführer zu den Ahnen im Himmel dienen. Ein Drachenboot (= Totemboot) pflegte daher mit Vogelmotiven verziert zu sein. Als Bote des Himmels konnte der Vogel auch den Dachfirst wie im vorliegenden Text mitbilden. Die gemeinsamen Berührungspunkte 145 146 147 148

Vgl. hierzu ZHOU: Shijing jianshang cidian, S. 985–988. Ebd., S. 986. Vgl. hierzu die Ausführungen von XIAO: Chuci yu shenhua, S. 13–45. HAWKES: »The Quest of the Goddess«, S. 45–47.

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von Drache und Vogel, nämlich Totemkult, Fruchtbarkeitskult, Totenkult und Ahnenkult, bestätigen die Vermutung, daß wir es hier weniger mit dem literarischen Text eines einzelnen Individuums zu tun haben als vielmehr mit dem religiösen Text einer Gemeinschaft, der es beim Opfer um die Versöhnung der Lebenden mit den Toten und um Wohlergehen (gute Ernte) ging. Angesichts der bestehenden Übersetzungen und vor allem einiger neuerer chinesischer Interpretationen149 mag obige Deutung gewagt erscheinen. Es wäre jedoch ein Fehler, wenn man Natur hier weiter konkret verstehen wollte. »Vogel« ist ein Zeichen und nicht als Lebewesen zu nehmen. Das gilt ebenfalls für all die im Text erscheinenden Pflanzennamen. Der Beweis für diese These ist nicht immer einfach zu führen, da es meist langwieriger und gezielter Nachschlagearbeit bedarf. Ein einfacheres Beispiel mag genügen. Im Text ist von einem »Kassiaboot« die Rede und von »Rudern aus Kassia«. Bekanntlich wächst nach chinesischen mythologischen Vorstellungen im Mond ein Baum, und zwar der Kassiabaum. Auch in anderen pazifischen Kulturen steht der Baum im Mond im weitesten Sinne als Weltenbaum für Wachstum, Vegetation, für Leben und Unsterblichkeit.150 Ebenso geht es bei den drei genannten Flüssen nicht um den jeweils konkreten Strom, sondern um Wasser im allgemeinen Sinne, ein Wasser, das die Essenz des Weltenberges Kunlun ausmacht.151 Wenn also auf die Erwähnung von »Vogel« der Verweis auf »Wasser« folgt, so erscheint auch hier die Deutung als Zeichen, nämlich als Zeichen des Heiligen, angebracht, zumal in unmittelbarer Folge das Opfer an das Wasser vollzogen wird. Überdies stellen Vogel und Wasser sowohl in der chinesischen Mythologie als auch in den Chuci einen engen Zusammenhang dar.152 Die »Weise von der Verzweiflung« schließt in vielfacher Form an die »Neun Elegien« an, die Parallelen liegen auf der Hand, doch läßt sich ein wichtiger Unterschied ausmachen: Die »Weise von der Verzweiflung« hat offensichtlich den rein schamanistischen Hintergrund verlassen und sich des überkommenen Erbes zum Zweck einer weitergehenden Allegorisierung bedient. Ziel ist hier nicht die Wiederherstellung einer Einheit mit dem »Göttlichen«, sondern mit dem Mythos. Genauer gesagt, es geht dem Sprecher um eine Bestätigung seiner Herkunft in Form einer Wiederherstellung seiner Zugehörigkeit zum Mythos. Dabei sollen im Mythos Diesseits und Jenseits so zur Deckung kommen, daß das Ursprüngliche als das Gegenwärtige gelebt werden kann. In diesem Zusammenhang sei auf die in ihrer Dichte so anregende wie schwierig nachvollziehbare Auffassung von Robert Chen hingewiesen.153 Für ihn setzt sich das »Lisao« aus den Teilen der Selbstver149

150 151 152 153

Vgl. u.a. ZHOU: Shijing Chuci jianshang cidian, S. 986–988; Xian-Qin Han Wei Liuchao shi jianshang cidian, Xi'an: Sanqin 1990, S. 296–299. XIAO: Chuci yu shenhua, S. 161. Ebd., S. 43. Ebd., S. 184. CHEN: A Comparative Study of Chinese und Western Cyclic Myths, S. 79–86.

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Die Lieder des Südens

gewisserung, der Suche und der Reise zusammen. Die Selbstvergewisserung bedient sich einer Pflanzensymbolik, die bisherigen Interpreten immer rätselhaft geblieben ist. Die Einbettung ins Religiöse bzw. Mythologische erlaubt Robert Chen jedoch eine vergleichsweise einsichtige Auflösung des Mysteriums. Er schreibt: Die Chinesen haben immer daran geglaubt, daß zwischen Moral und Kosmos eine gegenseitige Beziehung besteht, und in eben diesem Zusammenhang werden immergrüne Stengel, schöne Blumen und duftende Blüten als Hort des Heiligen verstanden, der Reinheit, Perfektion und sogar Göttlichkeit verleihen kann. [...] Die Pflanzenwelt in der »Weise von der Verzweiflung« ist wie in der Liturgie eine des scharfen Kontrastes zwischen Unkraut wie Kannenwurz und Blauholz und schönen Duftpflanzen wie Orchidee und Pfeffer, Symbolen des Tugendhaften und des Göttlichen. Als Tropen im Entwicklungsstadium werden diese Pflanzen zu einer Konfiguration der angeborenen Tugend des Dichters als Nachfahren des Höchsten Gottes des Nordens. Überdies werden sie, kaum daß der Dichter sich seiner bewußt wird, zu einem Emblem und einem Unterpfand seiner fortgesetzten Selbstkultivierung und seiner ständigen Suche nach einer Einheit mit der »Schönen« und dem Kosmos. Zu guter Letzt wird das Emblem nach der Niederlage der Orchidee in ihrem allegorischen Kampf mit dem Unkraut 154 das Hauptmotiv der Liebessuche auf der kosmischen Reise.

Ein solcher Ansatz widerlegt indirekt die orthodoxe, krampfhaft bemühte Interpretation der jeweiligen Pflanzen als versteckte Anspielungen auf konkrete Personen der damaligen Zeit. Ähnlich allgemein faßt Robert Chen die »Zeitreise« des Sprechers im »Lisao«. Ihre Konkretheit verblasse hinter drei vage anklingenden Strukturen. Bei diesen handele es sich erstens um die »Begehung« der Zeit, wie sie später in der »Halle des Lichts« (Mingtang) durch kaiserliches Ritual ihren letzten und höchsten Ausdruck fand, zweitens um die Opfer an die Berge, die später als Fengshan-Ritus von den Herrschern etabliert wurden, und schließlich drittens um die Opfer an Himmel und Erde bzw. an deren Essenz, Sonne und Mond, die der Herrscher zur Sicherung von Wachstum und Licht, der Einheit von Mensch und Natur in der Vorstadt (jiao) vollzog. Was diese drei Rituale als Bestandteile der Reise eine, sei weniger das Ziel oder deren tatsächliche Ausführung als vielmehr »die Lösung eines Leidens an der Zeit durch die Versöhnung und Einheit mit dem Göttlichen.«155 Sieht man einmal von den dunklen letzten vier Versen des »Lisao« ab, so läßt sich der als verloren empfundene Ursprung nicht wieder einholen. Die »Sehnsucht nach zyklischer Harmonie« bliebe damit ungestillt, die »Weise von der Verzweiflung« ginge im Tenor der »Neun Elegien« auf. Da eine solche Sicht jedoch wesentlich von der schwierigen und unterschiedlich aufgefaßten Bekundung am Schluß abhängt, sei zunächst Grundsätzliches gesagt. 154 155

Ebd., S. 83f. Ebd., S. 84.

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Die Auffassung von Robert Chen mag gewollt erscheinen und bedarf sicherlich im einzelnen einer weiteren Verifizierung, sie führt uns jedoch auf den richtigen Weg: In der »Weise von der Verzweiflung« ist alles auf einen allgemeinen Grund zurückzuführen, nämlich auf den Mythos, und als Zeichen dieses Allgemeinen zu interpretieren. Schauen wir uns zunächst die ersten acht Verse an.156 Ich entstamme dem Haus des großen Gaoyang, Boyong des Vaters Name war. Als Shedi, der Stern, im Frühjahr stand, ward ich am Tag Gengyin geboren. Der Vater sah mein Horoskop und verlieh mir glückliche Namen. »Gerades Beispiel« mein Name ist, »Göttlicher Ausgleich« nennt man mich.

In diesem kunstvollen Selbstentwurf darf nichts für bare Münze genommen werden: Alles ist ein Zeichen, das die Aufgabe hat, mit Hilfe des Mythos den Sprecher als Teilhaber an der Herrschaft über die Welt auszuweisen, eine Selbstüberhebung, die aus westlicher Sicht notwendigerweise zum Scheitern verurteilt ist, für China jedoch das klassische Muster intellektuellen Selbstverständnisses für die nächsten mehr als zweitausend Jahre begründet hat. Worum es hier geht, läßt sich zunächst kurz und vereinfacht folgendermaßen zusammenfassen: Als Nachfahre des vergotteten Urkaisers Zhuanxu (hier: Gaoyang = Erhabene Sonne) bin ich im »Verkehr« von Sonne und Mond (Shedi) geboren und am heiligen Fest Gengyin, dem Fest von Ahn, Sonne und Mond, herniedergefahren (jiang). So empfing ich den »Odem« (zhengqi) von Himmel, Erde und Sonnengott und bin daher im Namen des Vaters Boyong (= Ahn des Lichts) »Gerades Beispiel« (zhengze) und »Göttlicher Ausgleich« (lingjun).157 Mit diesen wenigen Worten wird ein Bezugsrahmen begründet, auf den sich alle folgenden und äußerst vielfältigen mythologischen Anspielungen an den Sonnenkult zurückführen lassen. So entstammt besagter Urkaiser und Urahn einem heiligen Bereich, wo die Wasser des Ruo und der Baum Sang zuhause sind – das sind die Wasser und der Baum des Lebens –, kurz, mit Gaoyang deutet sich das Zentrum der Welt an, in welchem der Weltenbaum Fusang, Heimat der Sonne, alles Licht und Wasser bindet und somit nicht nur Unsterblichkeit bzw. Wiedergeburt verkörpert, sondern auch die schöpferischen Mächte des gesamten Universums. Von dieser Himmelsleiter nehmen die Vögel als Seelenführer ihren Weg zu den Ahnen. Es wird nun klar, warum sich Gaoyang auch in anderen Formen als denen von Sonne und Licht manifestieren kann; als Sonne im Baum des Fusang kann er 156

157

Unter Benutzung der heute üblichen Umschrift zitiert nach WEBER–SCHÄFER: Altchinesische Hymnen, S. 191. Vgl. hierzu XIAO: Chuci yu shenhua, bes. S. 226.

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Die Lieder des Südens

auch Vogel sein, als Wassergeist findet er sein Pendant im Fisch etc.158 Ein weiteres Beispiel für die Verzahnung des Textes: Nüxu heißen die Helferinnen des Sprechers (Verse 131ff.), dies ist exakt die Bezeichnung für eine Schamanin, die anläßlich des Tempelfestes am Tage Gengyin, dem Geburtstag des Qu Yuan, ihren Dienst zu versehen pflegte.159 Die Schwierigkeit einer solchen Lektüre liegt auf der Hand, sie ist aber notwendig, um den Text als durchkomponierten verstehen und selbst in seinen rätselhaft anmutenden Aussagen auflösen zu können. Es gibt jedoch Leitmotive, deren Wahrnehmung keinerlei besonderer Kenntnisse bedarf. Die »Weise von der Verzweiflung« kennt nichts Drittes, sie kennt nur Schönheit und Häßlichkeit, nur Wesen und Schein. Schönheit als Wesen ist etwas Inwendiges, daher spricht Vers 9 von der »inneren Schönheit« (neimei) als Wesenszug des Sprechers von Geburt an, und einen Vers zuvor hatte der sprechende Anredename (zi) »Göttlicher Ausgleich« (Lingjun) geheißen. Meiren und lingxiu, der Schöne bzw. die Schöne, (einschließlich des Orakels namens Ling Fen) sind jedoch Gegenstand der Suche des Sprechers, so daß sich der folgende seltsame Umstand ergibt: Der Suchende und das Gesuchte sind identisch! Wie ist dieser Umstand zu erklären? Die Zeichen mei und ling gehören beide zum Vokabular des Schamanismus; um nun das Göttliche einkörpern zu können, bedurfte es der äußeren und inneren Schönheit.160 Das, was man einzukörpern gedachte, war aber nichts Fremdes, sondern nur etwas in der Zeit Verlorenes, etwas, was einmal unabdingbar zur eigenen Existenz gehört hatte, nämlich der Ursprung bzw. die Zugehörigkeit zum Ursprung. Die Klage über den Verlust des Ursprungs macht wesentlich den Zeitgeist der ausgehenden Zhou-Dynastie aus, die Konfuzianer und Taoisten haben auf die ihnen je eigene Art die Spaltung von Urzeit und Gegenwart zum Gegenstand ihres Denkens gemacht. Die Anstrengungen, die der Sprecher in der »Weise von der Verzweiflung« zur Wiederherstellung des Ursprünglichen unternimmt, als da sind die Suche nach dem wahren Herrscher, die zweifache Himmelfahrt, die dreifache göttliche Brautfahrt, die Befragung des Orakels, die Reise zu den Quellen der Wahrheit und zum Grab des Urkaisers Shun, sind von keinem sichtbaren Erfolg gekrönt. Konsequent läuft eine der traditionellen Thesen zu den letzten vier Versen auf eine Selbstmordtheorie hinaus, eine Theorie, die jedoch nicht haltbar ist und von Gelehrten wie Wen Yiduo und David Hawkes zurecht angezweifelt worden ist. Der Abgesang lautet: Genug: Im Staat ist keiner, der mich verstünde, Was hänge ich denn an der Heimat noch? 158 159 160

Ich bin hier XIAO BING gefolgt, ebd., bes. S. 141ff. Ebd., S. 296. Vgl. hierzu EICHHORN: Die Religionen Chinas, S. 62 (lingbao), 64f. (ling) und XIAO: Chuci yu shenhua, S. 292.

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DAS ALTERTUM – RELIGION UND RITUS Keiner ist würdig, mit mir dort zu herrschen, 161 So folge ich Peng Xian hinab in sein Reich.

Es sprechen folgende Argumente gegen eine Deutung als Ankündigung eines Selbstmordes. 1. Peng Xian steht als Urahn der Chu und als Meister des langen Lebens für Fruchtbarkeit und Unsterblichkeit. 2. Das Element Wasser, mit dem Peng Xian als Wassergeist natürlich wiederholt in Verbindung gebracht wird,162 ist ein Element des Lebens. 3. »Sterben« ist Teil des schamanistischen Rituals zur Wiedergeburt. Die wiederholten Hinweise auf Tod müssen daher in der »Weise von der Verzweiflung« als Verlangen nach Initiation verstanden werden.163 4. Die Suche hat kein Ende: Bislang fand sie in der Welt, auf den Bergen, am Himmel statt, nun wird sie, ganz schamanistischen Vorstellungen entsprechend, auf die »Unterwelt« ausgedehnt. 5. Selbstmord aus Verzweiflung dürfte eher ein sehr viel später anzusetzendes Phänomen sein.164 Es ist hier nicht der Ort, ins Detail zu gehen. Soviel sei jedoch gesagt: Alle Rätsel der »Weise von der Verzweiflung« lassen sich lösen, solange der Interpret bereit ist, seinen Gegenstand aus dem Kontext der chinesischen Mythologie zu begreifen, und zwar vor allem aus dem Kontext des Unsterblichkeitskultes, der mit der Vorstellung vom Kunlun als Mitte der Welt verbunden ist. Die Reise gen Westen ist eine doppelte; sie führt, begleitet von den Seelenführern wie Drache, Phönix und Vogel, zunächst zum Tod, aber dann zur Wiedergeburt und damit zur Unsterblichkeit. Die zögerliche Betrachtung der Heimat zwischen Himmel und Erde, wie sie sich nach Fehlschlag einer letztlichen Vereinigung mit dem Ursprünglichen gegen Schluß findet, trägt der Erkenntnis Rechnung, daß die Trennung von dieser und jener Welt eine nicht überwindbare Trennung von mythologischer und politischer Welt ist. Das Suchende und das Gesuchte sind trotz ihrer urtümlichen Identität nicht mehr zu harmonisieren, und zwar deswegen nicht, weil das Gesuchte zumindest in der Gestalt von meiren bzw. lingxiu den gemeinsamen Kontext der 161 162 163 164

WEBER–SCHÄFER: Altchinesische Hymnen, S. 209. XIAO: Chuci yu shenhua, S. 305ff., 326. Vgl. hierzu ELIADE: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, S. 48ff. Die Liste der Selbstmorde im chinesischen Altertum, die XIAO BING: Chuci yu shenhua, S. 327, zusammenstellt, ist wenig überzeugend, lediglich zwei Beispiele erscheinen mir diskutabel. Der Selbstmord aus Verzweiflung ist in den Kulturen ein spätes Phänomen. Für das traditionelle China wird er vielleicht gar nicht nachgewiesen werden können. Alle Formen von »Freitod«, die LIN YUAN-HUEI: The Weight of Mt. T'ai: Patterns of Suicide in Traditional Chinese History and Culture, Phil. Diss., University of Wisconsin: Madison 1990, aufführt, sind dem Moralischen und Ethischen verpflichtet. Der Freitod aus Verzweiflung (desperativ) und nicht aus virtus scheint im Abendland an die Entwicklung des Christentums gebunden und erst mit dem Mittelalter nachweisbar zu sein, vgl. hierzu GABRIELA SIGNORI (Hg.): Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften, Tübingen: edition diskord 1994 (= Forum Psychohistorii; 3).

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Die Lieder des Südens

Mythologie verlassen hat. Das »Lisao« ist damit Ausdruck eines Krisenbewußtseins, das dem damaligen Zeitgeist entspricht: Das archaische China der Zhou ist im Untergang begriffen, das bürokratische China mit seiner Rationalisierung überkommener magischer Vorstellungen hat sich noch nicht durchgesetzt. In diesem Zwischenraum hat jede der »Hundert Schulen« einen Lösungsversuch zu erbringen versucht, die »Weise von der Verzweiflung« ist nur eine dieser Strategien.

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3. Poetische Beschreibung, Archaisches Lied und Gedicht im Alten Stil

Die Dichtung der Han-Zeit (206 v.Chr. – 220 n.Chr.) ist durch drei Formen gekennzeichnet: Die »Poetische Beschreibung« (fu), das Archaische Lied (yuefu) und das Gedicht im Alten Stil (gushi). Jede dieser drei Gattungen hatte ihren je eigenen Ort und ihre je eigene Funktion. Während das fu zur ideologischen Konsolidierung des neubegründeten Einheitsstaates und expandierenden chinesischen Weltreiches beitrug, verschaffte sich im yuefu überwiegend eine andere Stimme Gehör: die kollektiv formulierte Not des einzelnen, mitunter Folge der kaiserlichen Machtpolitik. Das gushi schließlich ist später Ausdruck einer Zeit, die – wohl vor allem für die Oberschicht – »das Leben als letzte Gelegenheit«165 begriff und den Genuß im Angesicht der Vergänglichkeit empfahl.

1. Die »Poetische Beschreibung« der Han-Zeit Es ist zunächst die Frage zu klären, inwiefern die »Poetische Beschreibung« (fu) der Han-Zeit überhaupt in eine Geschichte der chinesischen Dichtkunst hineingehört. Handelt es sich hier nicht in erster Linie um Prosa, auch wenn sie im jeweils zweiten und vierten »Vers« gereimt ist? Das ist sicherlich richtig, doch unabhängig davon, ob man nun in einer Übersetzung fu wie Prosa zeilt (so Erwin Ritter von Zach [1872–1942])166 oder in Verse einteilt (so David Knechtges)167, so teilen die »Poetischen Beschreibungen« dennoch manche Gemeinsamkeiten mit den vorhergehenden Liedern des Südens. Über die Herkunft der fu ist genug gerätselt worden. Ob diese nun aus der Rhetorikschule der damaligen politischen Ratgeber (zonghengjia) stammen168 oder sich von den als fu bezeichneten »Rätseln« des Philosophen Xun Zi (um 300 – um 230 v.Chr.) herleiten169, soll hier nicht weiter 165

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Die Wendung entlehne ich dem gleichnamigen Buch von MARIANNE GRONEMEYER, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993. Der Untertitel lautet: Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit. ERWIN RITTER VON ZACH: Die chinesische Anthologie. Übersetzungen aus dem Wen hsüan, ILSE MARTIN FANG (Hg.), 2 Bde, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1958. DAVID R. KNECHTGES: Wen Xuan or Selections of Refined Literature, 3 Bde., Princeton: Princeton UP 1982 bzw. 1987 bzw. 1996. Vgl. hierzu DORE J. LEVY: »Constructing Sequences: Another Look at the Principle of Fu ›Enumeration‹«, in: HJAS 46/2 (1986), S. 488f. So u.a. WILLIAM H. NIENHAUSER (Hg.): The Indiana Companion to Traditional Chinese Literature, Bloomington: Indiana UP 1986, S. 388. Zu einer deutschen Übersetzung der Rätsel und einer kurzen, aber präzisen Einleitung zum Problem fu s. HERMANN KÖSTER (Übers.): Hsün–Tzu, Kaldenkirchen: Steyler 1967, S. 334–340. Zum Zusammenhang von

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Beschreibung, Lied und Gedicht

Gegenstand der Betrachtung sein. Es geht zunächst nicht um das Unterschiedliche, sondern um das Gemeinsame mit den Chuci, zumal es von großem Gewicht ist. Da ist einmal die Form: Die fu haben den sao–Stil übernommen, ihre Verse sind, schematisch und exemplarisch gesprochen, in drei und zwei Silben unterteilt, die Zäsur wird durch das Bindeglied er geformt, der jeweils erste Vers schließt mit einem Ausruf xi:

x x x er x x xi x x x er x x Doch wie erklärt sich die im Vergleich zu den Chuci ungewöhnlich lange Form? Ich denke, eine Antwort läßt sich nur aus der Tatsache einer Säkularisierung der einst religiösen Elemente der Lieder des Südens herleiten. Die Dichtung, wie wir sie bisher kennengelernt haben, war nur zum Teil und nur bedingt eine höfische: Das Buch der Lieder hatte nur durch die Opferlieder (song) und die Kunstlieder (ya) einen eindeutigen Bezug zum Hof, die Volkslieder (feng) dagegen standen zunächst nicht mit dem Herrscherhaus in Verbindung, sie wurden erst später, und dann lediglich zur Unterhaltung, für den Hof adaptiert. Und die Lieder des Südens verraten uns lediglich im Falle einer (Um)Deutung der Sprecher zu Hofbeamten einen unmittelbaren Bezug zum Höfischen. Bei den fu liegt der Fall jedoch ganz anders, sie sind Teil einer neuen Weltordnung, in welcher der Herrscher die Rolle des Schamanen bzw. der Göttin übernommen hat. Die Zugehörigkeit zur Macht sichert sich nun der Beamte und Dichter am Hofe, der Kaiser erweist sich dabei als der (schneller) erreichbare Gott. Verkürzt gesagt, geht es in der »Poetischen Beschreibung« um die Epiphanie des chinesischen Kaisers170 und den Lobpreis seines Wirkens in der damals bekannten Welt. Nochmals, wie erklärt sich die Langform? Man mag hier von Wortmagie sprechen und in der ursprünglichen Bedeutung von fu als Aufzählung171 eine Nachwirkung religiöser Elemente sehen. Die katalogartige Auflistung von Tieren, Pflanzen, Personen, Ereignissen und die ständige Repetition und Variation von »Synonymen, Hyperbeln, Parallelismen, Antithesen«172 ließen sich gleichsam als Beschwörungsformeln deuten, welche der weltlichen Macht einen sakrosankten Charakter verleihen sollen. Diese Macht eignete sich der als Über-Mensch (daren) titulierte Kaiser durch die einst dem Schamanen vorbehaltene (Flug)Reise an: Er unterwirft sich somit nochmals die

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Philosophie und fu s. auch ZHANG CANGSHOU und JONATHAN PEASE: »Roots of the Han Rhapsody in Philosophical Prose«, in: Monumenta Serica, Bd. XLI (1993), S. 1–27. Vgl. hierzu die exzellenten Ausführungen bei HAWKES: »The Quest of the Goddess«, S. 56ff. Zu den weiteren zahlreichen möglichen Bedeutungen von fu als »darstellen«, »zum Ausdruck bringen«, »bei Hofe ohne gesangliche Unterstützung vortragen« s. LEVY: Constructing Sequences, S. 471–485. KNECHTGES: Wen Xuan or Selections of Refined Literature, Bd. 1, S. 31.

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DAS ALTERTUM – RELIGION UND RITUS

Welt, die ihm schon gehört, eine Welt, die, militärisch erobert, durch Zeichen der Eroberung (Tiere, Pflanzen u.a.) ausgewiesen, Abbildcharakter bekommt, das Abbild eines säkularisierten Mandala. Es gibt nun besonders spezifische Exponate, die als Zeichen eines »Zentrums« von den Hofdichtern gern besungen wurden. Hier zeigt sich am deutlichsten die Nachwirkung des Religiösen. Offensichtlich ist dies so bei den »Poetischen Beschreibungen« der kaiserlichen Opfer, die seinerzeit als Gegenstand der Hofdichter beliebt waren.173 Zu nennen wäre hier als repräsentatives Beispiel das Ganquanfu des Yang Xiong (53 v.Chr. – 18 n.Chr.),174 ein Titel, der sich auch bei anderen Dichtern der Han-Zeit nachweisen läßt.175 Es stellt eine Auftragsdichtung dar, und zwar für die sogenannten Vorstadtopfer (jiao) an den Himmel, die der Kaiser Chengdi (reg. 32–7 v.Chr.) 16 v.Chr. am Fuße des Berges Ganquan, konkreter ca. 150 km nordwestlich von Chang'an am Ganquan–Palast vollzog. Der Verfasser entwirft das Zeremoniell der Opferhandlung als eine Reise des Herrschers zum Göttlichen. Die Einholung des Heiligen bedeutet für die Welt Harmonie und Fruchtbarkeit. Die Wichtigkeit dieser Opfer für die Literatur der damaligen und ebenso der nachfolgenden Zeit demonstriert auch das von Xiao Tong (501–531) zusammengestellte Wenxuan (Kompendium der chinesischen Literatur), neben dem Bücherverzeichnis »Yiwenzhi«176 des Hanshu (Geschichte der frühen Han) eine der wichtigsten Quellen für die »Poetische Beschreibung«, denn es faßt die Opfer an Himmel und Erde unmittelbar nach dem Thema der Hauptstadt, des Zentrums kaiserlicher Macht, als das zweite große Thema der damaligen Literatur auf.177 Auch der dort folgende dritte Gegenstand, die Jagd,178 hat etwas mit der Macht und mit der Religion zu tun.179 Nicht zufällig sind daher die Opfer und die Jagd auch mit ein Gegenstand der »Poetischen Beschreibung« von Hauptstädten.180 173

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Vgl. hierzu die Ausführungen von DAVID R. KNECHTGES: The Han Rhapsody. A Study of the Fu of Yang Hsiung, Cambridge: Cambridge UP 1976, S. 44ff. Zu einer Übersetzung s. ZACH: Die chinesische Anthologie, Bd. 1, S. 93–98; KNECHTGES: Wen Xuan or Selections of Refined Literature, Bd. 2, S. 17–38. S. FEI ZHENGANG u.a. (Hg.): Quan Han fu (Sämtliche fu der Han), Peking: Beijing Daxue 1993, S. 150, 237; vgl. auch S. 513. Zu dem Katalog der dort aufgeführten fu s. Quan Han fu, S. 752–756 (894 fu von 70 Dichtern der frühen Han). Das Wenxuan führt insgesamt jedoch nur zwei Beispiele an, neben Yang Xiong lediglich noch Pan Yue, s. KNECHTGES: Wen Xuan or Selections of Refined Literature, Bd. 2, S. 39–52; ZACH: Die chinesische Anthologie, Bd. 1, S. 98–103. Zu Übersetzungen s. ZACH: Die chinesische Anthologie, Bd. 1, S. 108–131; KNECHTGES: Wen Xuan or Selections of Refined Literature, Bd. 2. S. 53–164. Vgl. hierzu EDWARD H. SCHAFER: »Hunting Parks and Animal Enclosures in Ancient China«, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 11 (1968), S. 318–343. Vgl. hierzu ERNEST R. HUGHES: Two Chinese Poets. Vignettes of Han Life and Thought, Princeton: Princeton UP 1960. Das Werk stellt vier »Poetische Beschreibungen von Hauptstädten vor, in denen die Opfer und die Jagd einen wichtigen Bestandteil darstellen.

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Das Religiöse liegt in Sachen Jagd jedoch weniger offensichtlich auf der Hand. Die kaiserlichen Jagdparks hatten aber bekanntlich eine doppelte, aufs Heilige verweisende Funktion, sie waren einmal mit ihrem pflanzlichen, mineralischen und tierischen Reichtum ein Abbild der dem Kaiser zur Verfügung stehenden Welt, und zum anderen hatten sie die Tiere für die Opferfeiern zur Verfügung zu stellen. Die »Poetische Beschreibung« ist bislang ein Stiefkind der Sinologie. Ihre Vernachlässigung ist jedoch kein Wunder. Sie war selbst in China schon sehr früh wenig goutierbar. Man beklagte bald nach der Han-Zeit ihre Unverständlichkeit. Das Desinteresse reicht bis in die Gegenwart hinein: Nach jahrzehntelanger Meidung hat man in China (Festland) erst in jüngster Zeit eine Bestandsaufnahme begonnen. Daß die »Poetische Beschreibung« auch im Westen trotz der frühen (unlesbaren) Übersetzung von Erwin Ritter von Zach und der philologischen (aber ermüdend unliterarischen) Aufarbeitung von David R. Knechtges weder in noch außerhalb der Sinologie ein besonderer Gegenstand geworden ist, hat auch etwas mit dem Problem einer Übersetzbarkeit zu tun. Hier bedarf es größerer Anstrengungen als bei der Übertragung der archaischen oder klassischen Dichtung Chinas, hier bedarf es des Virtuosen, nicht des Pedanten oder Scholaren, eines Virtuosen, dem die Muttersprache bis in die Feinheiten und entlegenen Winkel zu Gebote steht, der in der Lage ist, das fu zu einem Hymnus auf die Fülle der Welt werden zu lassen. Die abendländische Literatur kennt ähnliche Preisgesänge, man denke etwa an die Siegeslieder des Pindar (ca. 518 – ca. 444 v.Chr.), die den Sieg als Offenbarung des Göttlichen verstehen und in die Rühmung die Ahnen und das Königshaus miteinbeziehen.181 Selbst für das 20. Jahrhundert lassen sich Beispiele nachweisen, die, unabhängig von ihrer Funktion, rein formal als Vorbild für eine hymnische Übersetzung dienen könnten. Hier wären vor allem die oftmals dem Komologischen verbundenen Prosadichtungen des Saint John Perse (1887–1975) zu nennen, nicht nur die »Preislieder« oder »Der Ruhm der Könige«, sondern auch Gesänge auf Themen, die ebenfalls Gegenstand der »Poetischen Beschreibungen« sind, wie Regen, Schnee, Wind.182 Oder im Fall der deutschsprachigen Literatur vergleiche man einmal das mit seiner Struktur (bedingt austauschbare Beliebigkeit von Bildern und Worten) und mit seinem Vokabular (Paviane, Wind, Tau, Nebel, Fledermäuse, Löwe, etc.) an ein fu gemahnendes Prosagedicht »Ich bin in einem Traum gewesen« von Christoph Meckel.183 Ein Auszug: 181

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Vgl. hierzu das Nachwort von BRUNO SNELL zu: PINDAR: Siegeslieder. Zusammengestellt von Uvo Hölscher, Frankfurt: Fischer 1962 (= EC 52), S. 190–194. Vgl. hierzu die folgenden von FRIEDHELM KEMP übersetzten und herausgegebenen deutschsprachigen Ausgaben von SAINT JOHN PERSE: Dichtungen, Darmstadt u.a.: Luchterhand 1957; See–Marken, Darmstadt u.a.: Luchterhand 1959. CHRISTOPH MECKEL: Hundert Gedichte, ausgewählt von Harald Weinrich, München: Hanser 1988, S. 16–17.

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DAS ALTERTUM – RELIGION UND RITUS Der in den Städten brüllen hört die Paviane dem Wind von den Ebenen des Jenseits belebenden Tau schlägt auf das Gesicht, der sein Zuhause verlor unter Tag, am beliebigen Weg, wo in Nebeln Saturn mit Zähnen schnalzend Knochen bricht und frißt und seines Schinders mächtige Libellen und Fledermäuse ihm tanzen um den Leib, der in ein Grab aus Rauch gewiesen ist und dessen Schlaf kein Löwenhaupt bewacht – wohin verschlugen ihn die großen Brände, wo lebt er beständiger und wo läßt es sich ruhn? Nirgend, wo nicht in Nähe und Ferne versengend die falsche Sonne des Krieges brennt und birst und hingewalzter Wälder Fall und Krachen seinen Schlaf erreicht, und die Staubgewölke abgetragener Gebirge ihn husten macht und die Ordnungen der großen Vernichtung allen Fleisches ihm rücken auf den Leib; [...]

Nun erhebt sich jedoch die Frage, ob solch eine sprachliche Virtuosität, auf die Arbeit am fu übertragen, sich nicht am falschen Gegenstand verschwendet. Ein derartiger Einwand wäre nicht unberechtigt und ließe sich weiter vertiefen. In den »Poetischen Beschreibungen« spricht die kollektive Stimme von Hofbeamten, die nicht auf Erfahrung basiert, sondern eher auf Vorgegebenem, dem überlieferten Schrifttum etwa. Selbst in der Gruppe der sogenannten »persönlichen«, der expressiven (statt deskriptiven) fu,184 deren bedeutendstes und frühestes Beispiel »Die Eule« (»Fu niao fu«; 174 v.Chr.)185 von Jia Yi (200 – 168 v.Chr.) darstellt, ließe sich lediglich von einer Affektkontrolle186 sprechen, die der einzelne Beamte ob seines Mißgeschicks (Verbannung) stellvertretend für andere bei Hofe zu kurz gekommene Kollegen vollzieht. Alles ist, ohne in die gedankliche oder eine empfindsame Tiefe zu führen, Oberfläche, Effekthascherei, Blendwerk, das, des einstigen Zieles, einer moralischen, didaktischen oder satirischen Ermahnung (feng)187 des Kaisers, entsagend, den Lobpreis der Macht in den Vordergrund ge184 185

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Zur Unterscheidung s. LEVY: Constructing Sequences, S. 485–493. Zu einer Übersetzung s. BURTON WATSON: Chinese Rhyme–Prose. Poems in the Fu Form from the Han and Six Dynasties Periods, New York and London: Columbia UP 1971, S. 25–28. Zu einer Besprechung s. LEVY: Constructing Sequences, S. 487f.; ROBERT JAMES HIGHTOWER: »Chia Yi’s ›Owl Fu‹«, in: Asia Major n.s. 7 (1959), S. 125–130; B. SCHINDLER: »Some Notes on Chia Yi and his ›Owl Song‹«, in: ebd., S. 161–164. Diesen Begriff entlehne ich Gedanken von WOLF LEPENIES: Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp 1969, S. 62ff. Vgl. hierzu KENNETH P.H. HO: »A Study of the Didactic Function of Han Fu on Hunts and on Capitals«, in: Journal of Oriental Studies 14 (1976), S. 172–177.

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stellt hat, mit der Konsequenz eines Mißerfolges, sowohl bei Hofe als auch bei der Nachwelt. Freimütig bezeichnete Yang Xiong die Abfassung von fu, die für Ban Gu (32–92) »literarische Gefolgsleute bei Hofe« (yanyu shicong zhi chen) waren, als »das Schnitzen von Insekten durch kleine Kinder, nicht das Werk eines Mannes.«188 Und für Li Zehou sind Verfasser von fu nichts anderes als »Hofnarren des Kaisers«, denen die Natur lediglich als »starre, tote Materie« zur Darstellung der »Leistungen und Taten des Menschen« diene.189 So weit, so gut. Nun muß man, um zu einem anderen, die literaturwissenschaftliche Vernachlässigung nicht weiter begünstigenden Urteil in Sachen fu zu kommen, nicht unbedingt mit Burton Watson in den »Poetischen Beschreibungen« die Vorbereitung der nachfolgenden Literatur sehen, nämlich den Beginn eines Realismus, einer objektiven Landschaftsbeschreibung und insbesondere des fünf»silbigen« Gedichts im Alten Stil (gushi).190 Es lassen sich auch andere, weniger problematische Argumente für eine Beschäftigung mit den »Poetischen Beschreibungen« finden. Alle Hochkulturen kennen den panegyrischen Gesang. Mit Pindar und Saint John Perse waren erste Beispiele genannt, weiter sei auf die römische Literatur oder die Renaissance verwiesen. Was der künftigen Forschung einen Vergleich mit dem chinesischen Pendant angeraten sein läßt, ist in allen Fällen die unmittelbare Nähe zur Rhetorik. Überdies: die »Poetischen Beschreibungen« sind nicht nur auf das Herrscherlob beschränkt, sie kennen, besonders in der Nachfolge, auch ganz andere Thematiken, doch selbst als Elogen sind sie mehr als nur Ausdruck ihrer Zeit. Sie liefern ein Modell für die Verschränkung von Ästhetik und Politik, das sich bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgen läßt. Hier tritt uns in einem Zeitalter, das die Welt für erklärbar und beherrschbar hielt191, das hinter allem Seienden eine kosmologische Einheit walten sah192, jener Typ von Beamtem entgegen, der um den Preis seiner Abhängigkeit sich mit Haut und Haaren dem Kaiser verschrieben hatte. Das »erotische Verhältnis«, das in dem Wechselspiel von dem »Schönen« (meiren) und dem Werbenden begründet wird193, bedingt eine Überheblichkeit und eine Wehleidigkeit, die sich als Topos wie ein roter Faden durch die gesamte chinesische Geistesgeschichte verfolgen lassen. Wer die Intelligenz am Ausgang 188 189

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Ebd., S. 176, 181. LI ZEHOU: Der Weg des Schönen. Wesen und Geschichte der chinesischen Kultur und Ästhetik, hrsg. von KARL–HEINZ POHL und GUDRUN WACKER, Freiburg: Herder 1992, S. 172, 175. WATSON: Chinese Rhyme–Prose, S. 16f. Vgl. hierzu LI: Der Weg des Schönen, S. 128–149. Erinnert sei hier an die Studie HERMANN KÖSTER: Symbolik des chinesischen Universismus, Stuttgart: Hiersemann 1958. Vgl. hierzu meine Ausführungen in dem Aufsatz: »Die mißverstandene Moderne: Unmaßgebliche Bemerkungen zur Befindlichkeit chinesischer Intellektueller«, in: KARL–HEINZ POHL, GUDRUN WACKER, LIU HUIRU (Hg.): Chinesische Intellektuelle im 20. Jahrhundert: Zwischen Tradition und Moderne, Hamburg: Institut für Asienkunde 1993, S. 109–123.

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des 20. Jahrhunderts verstehen will, hat, so meine These, deren seelische Wurzeln in der Han-Dynastie zu suchen. Zu diesen Wurzeln gehört auch der Glaube an die Macht von Literatur, die religiösen Ursprungs ist. Man meinte seinerzeit nicht nur, mit Hilfe von Wortmagie einen Herrscher zu einem moralisch einwandfreien Handeln überreden zu können, sondern auch Krankheiten heilen und Dämonen vertreiben zu können. Ich denke etwa an »Die sieben Anregungen« (»Qi fa«)194 von Mei Sheng (gest. 141 v.Chr.) und an »Die Poetische Beschreibung eines (Alp)Traumes« (»Meng fu«)195 von Wang Yanshou (2. Jh.). Die moderne Auffassung vom Dichter als Arzt am Körper der Gesellschaft hat in China also einen frühen Vorläufer. Der unmittelbare Zusammenhang von Magie, Medizin und Literatur macht auch erklärlich, warum es in den »Poetischen Beschreibungen« so vieler Worte bedurfte: Die einlullenden Wortketten waren oft nichts anderes als Heilsprüche,196 deren Länge die Gesundung sichern helfen sollte! Wollte der Dichter also seine »heilsame« Wirkung erzielen, mußte er sein sprachliches Handwerk verstehen und als poeta doctus kunstfertig über die Tradition gebieten. Es steht zu vermuten, daß Sprache, die zur Han-Zeit als »kosmophysische« aufgefaßt wurde, das heißt, als ein Mittel zur Repräsentation und damit zur Verdoppelung der Dinge197, die »Poetische Beschreibung« zum vornehmsten Ort von lei werden läßt. Dieser Nachweis ist bislang nicht in Angriff genommen worden und kann hier aus verständlichen Gründen nicht im Detail erfolgen. Er wäre sehr zeitaufwendig und muß daher künftigen Studien vorbehalten bleiben. Daher sei zum Ausklang lediglich auf unmittelbar ins Auge fallende Kategorisierungen (lei) und ansonsten auf den offensichtlich religiösen und kosmologischen Hintergrund eines der bekanntesten fu verwiesen, nämlich der »Poetischen Beschreibung des kaiserlichen Jagdparkes« (»Shanglin fu«; ca. 135 v.Chr.) von Sima Xiangru (179– 117).198 Zunächst etwas, das sich leicht als Kategorisierung ausmachen läßt. Gegenstand der weit ausholenden Beschreibung sind u.a. die Gewässer (Wasser), die 194

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Übersetzt von ERWIN RITTER VON ZACH: Die chinesische Anthologie, Bd. 2, S. 607–617; besprochen von DAVID R. KNECHTGES und JERRY SWANSON: »Seven Stimuli for the Prince: the Ch'i–fa of Mei Sheng«, in: Monumenta Serica 29 (1970/71), S. 99–116; HANS H. FRANKEL: The Flowering Plum and the Palace Lady. Interpretations of Chinese Poetry, New Haven and London: Yale UP 1976, S. 186–211; VICTOR H. MAIR: Mei Cherng’s »Seven Stimuli« and Wang Bor’s »Pavilion of King Terng«, Queenstown: Edwin Mellen 1988 (= Studies in Asian Thought and Religion; 11), S. 1–99. Vgl. hierzu den exzellenten Aufsatz von DONALD HARPER: »Wang Yenshou’s Nightmare Poem«, in: HJAS 47/1 (1987), S. 239–283. Eine deutsche Fassung des »Meng fu« findet sich in ARTHUR WALEY: Chinesische Lyrik, ins Deutsche übertragen von Franziska Meister, München: Goldmann o.J., S. 64–67. Vgl. hierzu die Beispiele bei HARPER »Wang Yenshou’s Nightmare Poem«, S. 244ff. Ich folge hier HARPER: »Wang Yenshou’s Nightmare Poem«, S. 280–282. Übersetzt von ERWIN RITTER VON ZACH: Die chinesische Anthologie, Bd. 1, S. 108–117; KNECHTGES: Wen xuan or Selections of Refined Literature, Bd. 2, S. 73–114. Zum Original s. Wenxuan, Bd. 1, Hongkong: Shangwu Yinshu 31965, S. 159–170.

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Berge (Erde), die Bäume (Holz), der Herbst (Metall), die alle entweder direkt oder indirekt zu den »Fünf Agenzien« gehören. Was von den wu xing zu fehlen scheint, ist lediglich das Element Feuer. Doch dieses waltet hinter dem gesamten Text, denn Sprache faßte man damals unter dem Agens Feuer!199 Die Wirklichkeit umgestaltende Kraft (qi)200, die man mit dieser Vorstellung assoziierte, kommt sehr schön in der von Zachschen Übersetzung der vier»silbigen« »Wasserpassage« zum Ausdruck.201 Wie im heftigen Zorn entfacht Heben rauschend sich die Wellen, Hochgeschwollen wandern sie in Hast dahin – Eine drängt und drückt die andere – Quer sich lagernd, wirbelnd drehend Eilen sie, sich überschlagend, Dumpf ertönend, langsam steigend, Hoch empor und dann hinunter [...]; Stürzen rollend, brechend, Überströmend, brausend, Tosend in den Abgrund, Stoßend, drängend Tobend, rasend, An die Klippen schlagend, in den Tiefen rastend, Wo sie leis verklingend scheinbar sterben – Um von neuem aus den Schlünden Stöhnend sich emporzurichten, Sprudelnd, spritzend, Kochend, zischend, In der Jagd nach andern Schaum aufwerfen, Pustend, atemlos Die Weite suchen, Endlich ruhig, tonlos Sich ins Meer ergießen.

Worum geht es im »Shanglin fu«? In Form einer rhetorischen Debatte unter drei Vertretern von zwei Vasallenstaaten und des Hauses der Han geht es um die Größe der königlichen bzw. des kaiserlichen Jagdparks. Nun gilt es, sich in die Erinnerung zurückzurufen, daß die Jagdparks als Mikrokosmos und Mandala konzipiert waren. 199 200

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HARPER: »Wang Yenshou’s Nightmare Poem«, S. 280. Vgl. hierzu CAO ZHI (192–232): »Qi fa ba shou«, in: Wenxuan, Bd. 2, S. 758, deutsch: TS'AO CHIH: »Die sieben Eröffnungen«, in: Zach: Die chinesische Anthologie, Bd. 2, S. 618: »Wie du weisst vermag die Schönheit der Rede einen ausgetrockneten See in einen Fluss zu verwandeln und morsche Bäume zu neuer Blüte zu bringen, indem sie gewissermaßen die fernen Geister und Dämonen beeinflusst [...]« Die Chinesische Anthologie, Bd. 1, S. 109; Wenxuan, Bd. 1, S. 160.

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In der Debatte stand also die Macht des Kaisers zur Diskussion und damit gleichzeitig die Herrschaft über die Welt. Mehr noch, es ging um den Zugriff auf die Geheimnisse des Seins. Der Vertreter des Kaiserhauses kann daher keinen faktisch überprüfbaren Jagdpark entwerfen,202 er muß ihn in die Mythologie einbetten, und zwar räumlich wie zeitlich. Daher hat die herrschaftliche Domäne ihre räumliche Begrenzung am Rande der bekannten Welt, aber tatsächlich in der Weltachse (Cangwu u.a.), und ihre zeitliche Dimension leitet sich von den Urkaisern und den religiösen Mächten, das heißt vom Urbeginn her. Daher kommt der Aufzählung ihrer Fülle und ihres Reichtums etwas zu, was sich auch für die kaiserliche Schatzsammlung203 der damaligen Zeit sagen läßt: Der Jagdpark ist der irdische Garant für die Unterstützung durch den Himmel, er ist »das Unterpfand eines Vertrages, welchen der Herrscher mit dem Himmel abschließt«204, oder anders gesagt, er ist eine Art »Talisman«, so daß »die Komposition eines fu über kaiserliche Jagdparks, die selber ein Mikrokosmos im Kleinen waren, diesen Mikrokosmos auf die Größe eines sprachlichen Talismans brachten.«205 Über die Versicherung der vom Himmel gewährten »Vertragshälfte« hinaus geht es hier um etwas noch Größeres: die Erneuerung der Welt durch Austreibung des Bösen.206 Der Jagd kam ein tieferer religiöser Bezug zu als bisher dargestellt.207 Sie war exorzistischer Natur, weshalb sich Sima Xiangru bei der Beschreibung der Jagdszenen auch des aus den Zaubersprüchen der damaligen Zeit herrührenden metrischen Maßes von drei Zeichen bedient.208 Die Erneuerung der Welt vollzieht der Herrscher nach der Himmelsreise, indem er das weitere Töten verbietet, sich zu läutern beginnt und nach dem Ritual von Bogenschießen und Tanz die Halle des Lichts (Mingtang) aufsucht, um eine neue Ära und einen neuen Kalender zu verkünden. So gesehen wäre das fu nichts anderes als ein wichtiger Bestandteil des allgemeinen religiösen Ritus der Han,209 ein Mittel zur Absicherung der Herrschaft und zur Befriedung der Welt. 202 203

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Vgl. hierzu die Ausführungen bei KNECHTGES: The Han Rhapsody, S. 34–37. Vgl. hierzu den grandiosen Aufsatz von LOTHAR LEDDEROSE: »Der politische und religiöse Charakter der Palastsammlungen im chinesischen Altertum«, in: Roger Goepper u.a. (Hg.): Zur Kunstgeschichte Asiens. 50 Jahre Lehre und Forschung an der Universität Köln, Wiesbaden: Steiner 1977, S. 153–159. Ebd., S. 156. HARPER: »Wang Yenshou’s Nightmare Poem«, S. 282. Vgl. hierzu die kurzen, aber ausgezeichneten Ausführungen von FRANKEL: Flowering Plum and the Palace Lady, S. 205f.; HARPER: »Wang Yenshou’s Nightmare Poem«, S. 262. Zum Thema Exorzismus allgemein und im fu s. DERK BODDE: Festivals in Classical China. New Year and Other Annual Observances during the Han Dynasty, Princeton: Princeton UP 1975, S. 75–138. Vgl. WALTER BÖTTGER: Die ursprünglichen Jagdmethoden der Chinesen, Berlin: Akademie 1960, bes. S. 19f., 28f. HARPER: »Wang Yenshou’s Nightmare Poem«, S. 254–267. Vgl. hierzu EICHHORN: Die Religionen Chinas, S. 104–160.

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2. Das Archaische Lied Eine Schwäche der chinesischen Geistesgeschichte im allgemeinen und der chinesischen Literaturgeschichtsschreibung im besonderen ist ihre verschwommene Begrifflichkeit: Alles ist alles zugleich bzw. kann alles zugleich sein. Rolf Trauzettel sprach in diesem Zusammenhang einmal vom Mischcharakter des chinesischen Geistes, der Neues nur unter Beibehaltung des Alten akzeptieren könne.210 Bislang ist an diesem Ort eine Problematisierung der Begrifflichkeit vermieden worden, und zwar aus gutem Grunde: Sie brächte selbst den Fachmann nicht unbedingt weiter. Auch das yuefu ist trotz mancher Unterschiede zum fu211 von der gleichen Vagheit des Genres gekennzeichnet. Joseph R. Allens212 ebenso kluge wie anregende Kritik an den bisherigen bahnbrechenden Arbeiten von Hans H. Frankel213 und Anne Birrell214 zum Archaischen Lied hat just in der Mehrdeutigkeit dessen, was als yuefu zu verstehen sei, ihren Ausgangspunkt, eine Mehrdeutigkeit, die durch Zuschlagung der Neunzehn Gedichte im Alten Stil (gushi shijiu shou) zu besagtem Genre weiter vertieft wird. Wenn im folgenden eher die traditionelle Schulmeinung zu Worte kommt, so ist dies nicht als Blindheit auf Seiten des Verfassers zu werten, sondern als Ausdruck der Not, aber auch der Würdigung der bisherigen Interpretationsleistungen von Hans H. Frankel und Anne Birrell, die sich der begrifflichen Problematik ihres Gegenstandes durchaus bewußt waren.215 Was heute unter yuefu verstanden und am yuefu geschätzt wird, hat nach so vielen Jahrhunderten weniger mit seinem religiösen Ursprung als vielmehr mit seiner säkularen Gestalt zu tun. Dennoch gilt es, zunächst den sakralen Hintergrund herauszuarbeiten. Die Herkunft des Archaischen Liedes, das – metrisch uneinheitlich – zwischen drei und sieben Zeichen pro Vers aufweist, wird dem Amt für Musik (yuefu) zuschrieben, einem Amt, das, 117 v.Chr.216 unter dem spi210 211

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So in einem Gespräch mit mir im August 1994. Zur Uneindeutigkeit der Bezeichnung von fu s. die klugen Ausführungen von CHENG ZHANGCAN: Wei-Jin Nanbei chao fu shi, Huaiyang: Jiangsu Guji 1992, S. 1–7. JOSEPH R. ALLEN: In the Voice of Others. Chinese Music Bureau Poetry, Ann Arbor: University of Michigan 1992 (= Michigan Monographs in Chinese Studies; 63). Allens Kritik findet eine Unterstützung von CHRISTOPHER L. CONNERY, in: CLEAR 15 (1993), S. 163–173. Vor allem HANS H. FRANKEL: »Yueh–fu Poetry«, in: CYRIL BIRCH (Hg.): Studies in Chinese Literary Genres, Berkeley u.a.: University of California Press 1974, S. 69–107. Anne Birrell: Popular Songs and Ballads of Han China, London u.a.: Unwin 1988. FRANKEL: »Yüeh–fu Poetry«, S. 69f.; BIRRELL: Popular Songs and Ballads of Han China, S. 7. Hier führt jeder ein anderes Datum an, Frankel 120 v.Chr., Birrell 111 v.Chr., Allen 115 v.Chr. und Debon (Chinesische Dichtung. Geschichte, Struktur, Theorie, Leiden u.a.: Brill 1989, S. 109) 117 v.Chr.! Zur Errichtung und Auflösung des Musikamtes s. MICHAEL LOEWE: Crisis and Conflict in Han China, London: Allen & Unwin 1974, S. 193–210, zum sakralen Hintergrund s. KAMATANI TAKESHI: »The Early Bureau of Music (Yüeh-fu)«, in: Acta Asiatica 70 (1996), S. 37–53; vgl. auch JEAN-PIERRE DIÉNY: Aux origines de la poésie

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rituell aufgeschlossenen Kaiser Han Wudi (reg. 141–87 v.Chr.)217 errichtet, für sakrale und höfische Zwecke Lieder zu sammeln und zu bearbeiten hatte. So scheint es weder Zufall noch Willkür,218 daß die großen Sammlungen bzw. Einteilungen von yuefu die Gesänge für die Vorstadtopfer (jiaosi) bzw. für die Ahnentempel (jiaomiao) an die erste und die für die kaiserlichen Bankette an die zweite Stelle setzen.219 Wie soll man sich aber innerhalb des yuefu–Genres den Schwenk von den aus heutiger Sicht literarisch wenig ansprechenden sakralen und höfischen Gesängen220 zu den weltlichen Liedern fern des Kaiserhauses erklären, vor allem den Bruch im Lebensgefühl? Denn Thema ist nun nicht mehr die zu verherrlichende, ja zu vergottende kaiserliche Macht im weitesten Sinne, sondern die oftmals ergreifende Not des einzelnen. Hier drängt sich folgende einfache Erklärung auf: Die Beamten des Musikamtes hatten zur Befriedigung der musikalischen Bedürfnisse des Hofes alles an Liedgut zu sammeln, dessen sie im Reich habhaft werden konnten. Nicht alles konnten sie umschreiben, nicht alles ist brauchbar gewesen. So blieb ein Rest; es ist nun dieser Rest, der heute unser besonderes Augenmerk verdient und der auf die späteren Dichter nachgewirkt hat, und zwar – unabhängig von seiner einst musikalischen, später verloren gegangenen Form – durch seinen Titel und seine Thematik. Spätere Dichter führen im Grunde genommen nur auf anderer Ebene fort, was die Hofbeamten lange vor ihnen begonnen haben, indem sie sich eines zunächst anonym tradierten Materials zu sprachlichen Experimenten bedienen und dessen äußeres, jeweils metrisch vorgegebenes Gewand mit Worten neu auffüllen, variieren oder fortschreiben. In der Übernahme und Weiterentwicklung der archaischen Liedform, die am Ende der Han-Dynastie durch die Familie Cao (s.u.) einsetzen, findet eine Verschiebung statt: Die erste Phase des in der Regel aus anonymer Hand stammenden yuefu, das meist in den Tempeln bzw. am kaiserlichen Hofe durch professionell

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classique en Chine. Étude sur la poésie lyrique à l’époque des Han, Brill: Leiden 1968, S. 82, 86. Zu den zahlreichen religiösen Aktivitäten des Wudi s. EICHHORN: Die Religionen Chinas, S. 110–122. Ich widerspreche hier der wenig überzeugenden Auffassung von ALLEN: In the Voice of Others, S. 50–52, daß nämlich die religiösen Hymnen nicht von Anfang an, sondern erst sehr viel später von Guo Maoqian (s. die folgende Anmerkung) dem Genre yuefu zugerechnet wurden. Ich denke in erster Linie an das Yuefu shiji, das GUO MAOQIAN ca. 1126 mit 5290 Beispielen über die Tang–Zeit hinaus zusammengestellt hat, s. die Ausgabe des Verlages Zhonghua Shuju, Peking 1979, Bd. 1, S. 1–180 (religiöse Hymnen), S. 181–222 (höfische Lieder). Vgl. hierzu auch die inhaltsbezogenen Listen bei BIRRELL: Popular Songs and Ballads of Han China, S. 206 (nach Shen Yue), 207f. (nach Guo Maoqian) sowie FRANKEL: »Yüeh–fu Poetry«, S. 71f. Zu Beispielen in Übersetzung und mit Interpretation s. vor allem BIRRELL: Popular Songs and Ballads of Han China, S. 29–44.

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ausgebildete Sklaven vorgetragen zu werden pflegt, geht zu Ende und wird in den Jahren zwischen 190 und 266 durch eine zweite Phase abgelöst.221 Namentlich faßbare Dichter treten nun auf, die das Archaische Lied »individualisieren« und weiter säkularisieren helfen. »Individualisieren« heißt hier: Neben die sakralen Gesänge im Rahmen der Staatskulte treten Lieder, die dem seelischen Heil des einzelnen verpflichtet sind und unter dem Einfluß des religiösen Taoismus die Frage nach der Hinfälligkeit bzw. Ewigkeit des Menschen stellen (Stichworte: Lebensverlängerung, Unsterblichkeitskult, Unsterbliche, s.u.). »Säkularisieren« meint hier: die Trennung des kollektiven Bewußtseins von der kaiserlichen Macht, die sich religiös zu überhöhen beliebte, und die Hinwendung zu dem weltlichen Ausdrucksverlangen eines einzelnen, der für eine Gruppe, die Gruppe der »Aristokraten«, von den Nöten der Zeit (Krieg, Trennung, Tod u.a.)222 spricht. Ort und Adressat des yuefu bleibt zwar weiter der Hof, doch dieser symbolisiert im Übergang vom Zentralstaat der Han zur losen Folge von Teilstaaten weniger kaiserliche Hoheit als vielmehr ein Bewußtsein, das sich jenseits von Macht als in Raum und Zeit haltlos zu bestimmen lernte. Kurz, der Sprecher vollzieht den oben angedeuteten Schwenk von Lobgesang und Segen223 zu Verzweiflung und Zerstörung224 mit. Fassen wir zusammen: Der Einfachheit halber unterscheidet die westliche Sinologie beim Archaischen Lied, das erst spät zum Genre des yuefu erhoben wurde, zwischen den sakralen Hymnen, die vielleicht ursprünglich auf religiöse Umzüge im Volk zurückgehen, und weltlichen Balladen mit ihrer Klage über die Nöte der Zeit. Beide Formen waren zunächst mündlich überliefert,225 wurden dann erst später im Rahmen des Musikamtes schriftlich gefaßt. Als Text verselbständigten sie sich mit dem Ende der Han in der Hand der Literati, so daß ihre urtümlichen Melodien verloren gingen. Die Eigenarten der yuefu sind in den Arbeiten von Hans H. Frankel und Anne Birrell hinreichend charakterisiert worden,226 ihre typischen Merkmale sollen daher 221

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Vgl. hierzu HANS H. FRANKEL: »The Development of Han and Wei Yüeh–fu as a High Literary Genre«, in: SHUEN–FU LIN and STEPHEN OWEN (Hg.): The Vitality of the Lyric Voice, S. 255ff. Zu einer Liste der 25 Themen des yuefu s. ebd., S. 284. Vgl. die übliche Praxis von Segensformeln am Ende eines yuefu, s. FRANKEL: »The Development of Han and Wei Yüeh–fu as a High Literary Genre«, S. 267ff.; BIRRELL: Popular Songs and Ballads of Han China, S. 79. Vgl. hierzu die ausgezeichneten Ausführungen bei BIRRELL: Popular Songs and Ballads of Han China, S. 94ff., 116ff., 128ff. Hier und im folgenden wende ich mich gegen die Thesen von ALLEN: In the Voice of Others, die da lauten: Die yuefu haben nichts mit Musik, wenig mit der Han–Zeit zu tun, sie stellen keine Vorlage für spätere und thematisch auf sie bezogene Nachahmungen durch die Literati dar. FRANKEL: »Yüeh–fu Poetry«, S. 81–93; DERS.: »Some Characteristics of Oral Narrative Poetry in China«, in: Festschrift Jaroslav Prusek. Études d’histoire et de litterature Chi-

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hier nicht eigens wiederholt werden. Es genügt, sie an Beispielen exemplarisch in die Erinnerung zurückzurufen. Da das yuefu als Ballade mitunter zur Länge tendiert,227 kann im folgenden aus Platzgründen und um der Übersichtlichkeit willen nur von kürzeren Formen die Rede sein. Für den deutschen Sprachraum fehlt bislang eine systematische Vorstellung und Übersetzung von archaischem Liedgut, lediglich in den einschlägigen Anthologien228 lassen sich vereinzelt Übertragungen auffinden, die jedoch nicht immer sehr verläßlich sind – ein Phänomen, das sich manchmal auch bei englischsprachigen Vermittlungsversuchen, so z.B. bei Anne Birrell, beobachten läßt. Wie ist dies zu erklären? Oftmals ist die eindeutige Zuordnung der Verse zu einem Sprecher bzw. zu einer Sprecheinheit das Problem. Nehmen wir zum Beispiel das »Soldatenlied« in der Übertragung des einstigen Bonner Sinologen Peter Olbricht.229 Wir kämpften südlich der Stadt, Wir fielen nördlich der Wälle. Wir fielen im Moor, ohne Grab Und den Krähen zum Fraße. Saget den Krähen von uns: »Hier liegen tapfre Vasallen, Auf dem Schlachtfeld gefallen und ohne ein Grab? Wie können euch Krähn sie entkommen?« Die Wasser gurgeln und gurgeln, Und Dunkel zieht über das Schilf. Kühn ritten die Reiter – sie kämpften und fielen. Müde die Rosse nun irren und wiehern. Ihr, Stützen des Hauses! Ihr, Pfeiler des Staates! Wozu im Süden, Wozu im Norden

227

228

229

noises, Paris: Presses Universitaires de France 1976 (= Bibliotheque de l’Institut des Hautes Études Chinoises; 24), S. 97–106; BIRRELL: Popular Songs and Ballads of Han China, S. 17–20. Vgl. z.B. die bekannteste Ballade »Es flog ein Pfau nach Südosten« (»Kongque dongnan fei«), die Frankel »als das längste Erzählgedicht vor den Balladen von Dunhuang« bezeichnet, s. HANS H. FRANKEL: »The Chinese Ballad ›Southeast Fly the Peacocks‹«, in: HJAS 34 (1974), S. 248. Zu einer deutschen Übertragung s. WALEY: Chinesische Lyrik, S. 79–89. Zum hohen prozentualen Anteil von formulae in dieser Ballade s. HANS H. FRANKEL: »The Formulaic Language of the Chinese Ballad ›Southeast Fly the Peacocks‹«, in: Bulletin of the Institute of History and Philology 39 (1969); S. 219–244. So z.B. bei WALEY: Chinesische Lyrik, S. 40–89; WILHELM GUNDERT u.a. (Hg.): Lyrik des Ostens, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 262–267. GUNDERT: Lyrik des Ostens, S. 262f.

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Beschreibung, Lied und Gedicht Hieß man euch kämpfen, Ließ man euch fallen? Wer soll ernten? Wer hilft nun dem Kaiser? Die treu ihm waren, Sie alle – sie fielen. Wir denken an euch, Getreue! Es sei eurer Treue gedacht! Der Tag brach an, da zogt ihr zum Kampfe, Der Abend kam und nicht kehrtet ihr heim zur Nacht.

Der Text gibt einige Rätsel auf: Zunächst, wer spricht hier eigentlich? Jede Übersetzung bietet eine andere Antwort. Da es sich in diesem Fall um ein Lied auf Gefallene handelt, wäre es am einfachsten, eine einzige Stimme statt wie oben den Wechsel von Stimmen anzusetzen, nämlich die Stimme eines betrachtenden lyrischen Ichs.230 Dazu empfiehlt es sich, den Text in vier Abschnitte einzuteilen. Die ersten beiden Strophen sprechen von einer Schlacht und vom Tod der Soldaten in der Fremde (ke: hier als »Vasall« übersetzt). Die dritte Strophe beschreibt die erschöpfte Natur am Ende des Kampfes. Das zweite Rätsel stellt sich mit der vierten Strophe. Man geht hier besser von rhetorischen Fragen im Stile der »Himmelsfragen« (tianwen, s. Chuci) aus, die auf den Zustand der Gesellschaft nach dem Krieg zielen: Die drei Zeichen liang zhu shi (oben wenig nachvollziehbar: »Ihr, Stützen des Hauses! / Ihr, Pfeiler des Staates!«) meinen eher wörtlich: Wer auf einer Brücke ein Haus baut, entwertet die Funktion der Brücke, die weder nach Süden noch nach Norden einen Weg bietet. Kurz, der Krieg bringt Unordnung; die Folge: Der Herr (jun, hier: »Kaiser«), der die Verantwortung zu tragen hat, kann nicht mehr auf Speis und Trank rechnen, und die Untergebenen haben wenig Aussicht, ihren Wunsch nach Loyalität zu verwirklichen. Die letzten vier Verse sind eine Art Abgesang. Der Dichter gedenkt der Toten im Stil der Zeit: Er möchte ihre armen Seelen zurückrufen. Metrisch gehört das »Soldatenlied« zum Typ A der yuefu, das heißt, zu dem Typ, der keine einheitliche Zahl von Zeichen pro Vers kennt, sondern wie hier mal drei, mal vier, mal fünf, mal sieben Zeichen aufweist. Dieser abrupte Wechsel findet – typisch für das Genre ist Springen statt Verweilen – in der Struktur eine Fortsetzung: Das Lied beginnt so abrupt, wie es endet, besonders dann, wenn man wie die meisten Übersetzungen und Interpretationen nicht nur von einem ständigen Wechsel der Szene, sondern auch der Stimme ausgeht. Kurz, das Lied bleibt, da 230

Ich folge hier den wenigen in sich stimmigen Interpretationen von: Han Wei–Jin Nanbeichao Sui shi jianshang cidian, Taiyuan: Shanxi Renmin 1989, S. 1608–1612; LI CHUNXIANG (Hg.): Yuefushi jianshang cidian, Zhengzhou: Zhongzhou Guji 1990, S. 14–16.

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nicht durchkomponiert, fragmentarisch. Das »Soldatenlied« beginnt wie viele yuefu mit der Angabe einer Himmelsrichtung, die wie üblich variiert wird, so daß der scheinbar zunächst konkrete Ort der Handlung wieder ins Unbestimmte zurückgenommen wird. In direkter Rede erfolgt eine objektive Präsentation, der es nicht um eine Analyse, um Logik oder um etwas bestimmt Geschichtliches geht, vielmehr wird in Form von formulae auf etwas zurückgegriffen, was im Rahmen einer communis opinio die Formulierung einer allgemein menschlichen Situation erlaubt. Daher kann es in einem schwach bleibenden plot auch nur um etwas gehen, das für alle oder zumindest viele gilt. Es ist dies einmal die Sache mit der Loyalität, die in der Sprache der Zhou-Dynastie zum Ausdruck kommt (jun [Herr], zhong chen [loyale Diener], liang chen [gute Diener]), und dann sind es die traditionelle Klage über den Auszug in die Fremde und die Unmöglichkeit einer Wiederkehr.231 Der Text geht jedoch auch über seine Zeit hinaus: Der Tod in der »Wildnis« (zweifach ye, hier: Moor bzw. Schlachtfeld), fern einer Schutz bietenden (Stadt-) Mauer (cheng, hier: Stadt), wird als besonders unbarmherzig entworfen. Der Gefallene bleibt nicht nur – ob der Pietätlosigkeit unvorstellbar – ohne Grab, er wird auch zum Raub der Krähen, denen der Dichter nur für einen Moment mit seiner Bitte um ein Totengedenken Einhalt gebieten kann (hier: »Hier liegen tapfre Vasallen«; vielleicht besser: »Klagt, ihr Vögel, einen Moment für die Toten«). Der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle die bislang nicht angeschnittene Frage nach der Beziehung von yuefu und lei stellen. Die Antwort muß unterschiedlich ausfallen. In den Hymnen, die den Herrscher als vergöttlichten Mittler zwischen Himmel und Erde preisen,232 sind die Anspielungen auf das System der lei ganz offensichtlich. Man vergleiche nur einmal die zweite Hymne in der von Guo Maoqian zusammengestellten Anthologie von yuefu. Sie trägt den Titel »Die Ankunft Gottes« (Di lin)233 und ist zur Gänze nach kategorialem Denken (Fünf Agenzien, Yin und Yang etc.) aufgebaut. Etwas anders sieht es dagegen bei den Balladen aus, da ihr Hauptthema nicht der Lobpreis der Schöpfung ist, sondern, verkürzt ausgedrückt, Tod und Trauer.234 Auffällig ist hier, wie die einst positiv besetzten Topoi von Krieg, Frau und Kind umschlagen in Zerstörung, Trennung und Verlassenheit. Das Leben ist nur mehr Reise in den Untergang: physisch, geistig, seelisch. Und da dies für alle gilt, kann die Stimme keine einzelne, sondern nur eine kollektive sein. Auch hier wird, aller231

232 233

234

Vgl. hierzu die Interpretation des Liedes bei BIRRELL: Popular Songs and Ballads of Han China, S. 119–122. Vgl. hierzu die überzeugenden Ausführungen ebd., S. 30. Yuefu shiji, Bd. 1, S. 3; übers. und besprochen bei BIRRELL: Popular Songs and Ballads of Han China, S. 35–37. Ich folge hier und im folgenden BURTON WATSON: Chinese Lyricism. Shih Poetry from the Second to the Twelfth Century, New York u. London: Columbia UP 1971, S. 54f.; BIRRELL: Popular Songs and Ballads of Han China, passim.

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Beschreibung, Lied und Gedicht

dings weniger zwingend, die Klage kategorial bestimmt, etwas, was für die künftige Ortung des sich in der nachfolgenden Literatur verstärkt abzeichnenden Melancholiesyndroms von eminenter Bedeutung ist, denn innerhalb eines Bezugssystems von lei kann es – und das ist der Trost des kategorialen Denkens – kein Leid an sich und unabdingbar geben.235 Der Ort des Todes im obigen Beispiel ist der Norden, der sich mit der Vorstellung von Winter, Wasser und Dunkelheit verbindet, der Ort des Kampfes der Süden: Unter ihm hat man sich zwar Sommer und Wachstum vorzustellen, doch paßt er als Sinnbild der Fülle gut zur Klage über den für den Herrn zu erwartenden Mangel. Zwischen Sommer und Winter stände der Herbst, der traditionell und aus den sakralen Gründen der Reinigung dem Krieg und der Jagd vorbehalten ist. Krähe und Wildnis (ye) wären Symbole dieser Jahreszeit. Dieses Lied hat Schule gemacht, es ist immer wieder thematisiert worden. Am bekanntesten ist die Variation von Li Bai (701-762). Allerdings ist ein besonders grausiger Aspekt dieses Liedes, die Schändung des Leichnams, durch die Nachwelt nie nachvollzogen worden. Dies mag einen einfachen Grund haben: Die Tröstungen, die dem »archaischen« Denken dank seiner kategorialen Struktur zu Gebote stehen, erlauben letzten Endes keine Disharmonie auf Dauer, sondern nur in begrenztem Umfang. Der inhaltliche und lebensanschauliche Gegensatz zwischen Hymne und Ballade sollte zwar betont, aber nicht überstrapaziert werden. Der chinesische Geist wird im Laufe der folgenden Jahrhunderte eher um eine Harmonisierung als um eine Vertiefung der Spannung zwischen sich und der Welt bemüht sein.

3. Das Gedicht im Alten Stil (gushi) Von Ausnahmen abgesehen, vermögen die Balladen der Han-Zeit, wenn auch aus heutiger Sicht ästhetisch den Hymnen bei weitem überlegen, im Vergleich zum Buch der Lieder oder zu den Liedern des Südens literarisch nicht immer zu überzeugen. Ihr Lebensgefühl kulminiert künstlerisch erst in den ihnen geistig und strukturell nahestehenden »Neunzehn Gedichten im Alten Stil« (»Gushi shijiu shou«). Diese sind metrisch von epochaler Bedeutung. In ihnen kündigt sich nämlich das u.a. durch den Typ B des yuefu (Zeile mit fünf »Hebungen«) vorbereitete Genre des gushi an, einer lyrischen Sageweise, die später am Hofe der Familie Cao ihren eigentlichen literarisch vollendeten Ausdruck fand. Im gushi ist der Vers streng auf fünf Zeichen festgelegt und parataktisch angeordnet. Parallelismus und Schlußreim sorgen für einen zumindest formalen Zusammenhalt zwischen den einzelnen Zeilen.236 235

236

Ich folge hier Gedanken von MIRCEA ELIADE: Kosmos und Geschichte, Frankfurt: Insel 1994 (it; 1580). Ich übernehme hier und im folgenden Gedanken von BURTON WATSON: Chinese Lyricism, S. 15–32 (The »Nineteen Old Poems« of the Han).

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Über die »Neunzehn Gedichte«, deren Entstehungszeit für die Spätere HanDynastie (25–220) angesetzt wird, ist auch in westlichen Sprachen viel geschrieben worden.237 Anstatt die Gemeinsamkeiten mit den Balladen (das Sprunghafte, die formulae, das Fragmentarische etc.) zu wiederholen, genügt es, auf deren Besonderheiten zu verweisen, welche die Sekundärliteratur vor allem in der Konzeption von Trauer VLHKW «± 256 Cangwu ¡{ 42 Canliao –m 274 Cao, Cao Í¡ (155–220) 59, 96, 136, 161 Cao, Pi Íé (187–226) xii, 59, 62 Cao, Zhi Íá (192–232) 55, 58–63, 65, 67, 69, 75, 101, 106, 109, 125, 132 Qi ai ( Vom siebenfachen Kummer) 60 Zeng Baima wang Biao (Für Biao, den Prinzen von Baima) 109 carpe diem 50, 77, 121, 123, 127, 132, 134f., 138, 245, 263, 271 Cen, Shen e– (715–770) 114 Cen, Xun 131

400

Index Chu-Tang si jie ñä¯D 107 Chu-Tang ñä (618–713) 104 Chuzhou .² 262 ci yan qing ¡Ô™ 281 ci ¡ xxi, 229, 236–238, 240f., 243, 244, 249, 250, 253, 281–283, 290f., 332, 335, 340, 351f., 355, 359, 364f. cishi Æ 190 Cui, Qun 772–832 193

Dreiertag 72 Dreifuß von Gao 214 du zuo À$ 183, 185 du À 111, 137f., 154, 159, 165, 180, 182f., 216 Du, Fu 0ÿ (712–770) xii, 108, 112– 114, 128, 130, 149–151, 153–155, 157, 159–162, 164–166, 168, 171, 188, 211, 215, 256, 258, 292, 300f., 320, 360, 364 Chun wang (Frühlingslandschaft) 157 Du li (Allein) 158 Jiang Han (An Yangtse und Han) 162 Lü ye shu huai (Nachts unterwegs schreibe ich meine Gedanken nieder) 152 Meng Li Bai (Ich träume von Li Bai) 166 Po chuan (Das leckgeschlagene Boot) 160 Qiu xing ba shou (Herbststimmung) 167 Yueye (Mondnacht) 164 Du, Mu 0; (803–852) 195, 227–229, 333 Penchi (Miniaturteich) 227 Du, Xichang (254–301) 277 Du, Yu 0X (222–284) 175 Duke, Michael S. 301, 305 Dunhuang : 181, 237–240, 244

D da hua ûê 80 da qu ûÆ 238 da wu ûò 7 dan µ 188, 257, 311 dao ' 209 Daodejing '‹£ xviii Daoguang ' 178 daoshi '¿ 205 daren ûŽ 35 Daxue û: 254 Daya û™ 4 de ‹ 7, 65 Debon, Günther viii, 12, 16, 50, 70, 87f., 120, 153, 168, 173, 220 Dekadenz 138 denglin O 339 Di lin 48 Dielianhua (Der Schmetterlinge Blütenliebe) 287 Dinggedicht (siehe auch yongwushi) 94 Ding-Lied (siehe auch yongwuci) 323, 334–336 Donath, Andreas 197, 202 Dong, Zhongshu 7Ææ (ca. 179 – ca. 104 v.Chr.) xvii Donglin-Kloster 270 Dongting-See ò* 27 Doppelvers xv, xxii, xxiii, 21, 55, 61, 132, 138, 160, 174, 180f., 183, 226, 228, 232, 252, 269, 299, 306 Doppelverspaar 164 Drache xiii, xx, 26f., 32, 143f., 166f., 212, 219, 221, 223, 336, 366

E Egan, Ronald C. 261 Eichhorn, Werner xiii, xvii Einsamkeit 87, 103, 109, 116, 138, 162, 165, 179, 206, 208, 234, 236, 284, 354 Ekstase 21, 27 Eliade, Mircea xviii, 22 Emei Shan ¼ÝE 130 Entsprechungen (siehe auch lei) xiv, xvif., xix, 15, 252 ershiba xiu `?“ 267 Essay xi, 210, 216, 251, 253, 267, 277, 279, 281, 350 Essayist 260, 363 Expressionismus 118, 138, 360

401

Index

F

Ganquan 36 Gansu ìW 136, 166, 181, 229 ganwu ó= xxi, 81, 86, 103 ganying óh xxi Gao, Qi ¬ (1336–1374) 356–359 Qingqiu Zi ge (Das Lied des Herrn vom Grünen Hügel) 356 Qiufeng (Herbstwind) 358 Gao, Qingqiu 357 Gao, Shi ¬Ö (706–765) 112, 115–117 Yan ge xing (Weise von Yan) 116 Ye bie Wei sishi (Der nächtliche Abschied von dem Verwalter Wei) 115 Gedicht im Alten Stil (siehe auch gushi) 34, 49, 116f., 149, 210, 223, 258f., 263, 266, 270, 276, 304f., 358, 361 Gelber Fluß, Gelber Strom (siehe auch Huang He) 124, 131f., 222–224, 305, 344, 345 Gelegenheitsdichtung, Gelegenheitsgedicht, Gelegenheitslyrik 55f., 59, 87, 113, 144, 146, 153, 164, 176, 180, 224, 226, 271, 315, 363 Geluofeng 197 Georgian poets xv Georgik 307 Geshu, Han æÄ 115 Gespräche des Konfuzius (siehe auch Lunyu ŽÁ) 184 Goethe, Johann Wolfgang von 20, 265 gong ming sá 301 gong s 58 gongtishi '« 94 Gottheiner, Klaus 173 Granet, Marcel (1884–1940) 6, 8–10 Grenzgedicht 114 Große Mauer 238 guan – 87, 267f., 278f. Guan, Yunshi eÇ (1286–1324) 359 guifei W 198 Guiji 73, 88 guiqingshi Ι« 63 guizu £ 57, 132 guo Ñ 4, 157

fahrender Ritter (siehe auch youxia) 115, 121f. Fan, Li 335, 337 Fan, Chengda ×äû (1126–1191) 297f., 306–308, 311f., 323 Sishi tianyuan zaxing (Jahreszeiten auf dem Land) 306 Fan, Ye × Ê (gest. 445) 92 Fan, Zhongyan ×ÆÍ (989–1052) 297 fan'an ¡ 316 Feifel, Eugen 229 feng ‘ 38 feng ¢ 4f., 35, 109 Feng, Menglong ƒzm (1574–1646) 360 Fengshan-Ritus 29 Fengxiang 211, 213, 270 Fenollosa, Ernest (1853–1908) xv, xxiv Fleming, Paul 194 Flug, Flugmetaphorik xxii, 21f., 27, 35, 58, 69, 70, 128, 139, 142, 147, 158, 183, 235, 242, 288f. formula, formulae 8f., 11, 13f., 21, 26f., 46, 48, 50, 87 Frankel, Hans H. 43, 45, 217 Freude, freudig (siehe auch le) xxiii, 20, 71, 73–75, 77–79, 82f., 87f., 114, 131, 134, 137, 139, 183f., 194, 198, 231, 245, 260, 262f., 270f., 273–276, 286–288, 298, 316, 320, 324, 333, 339, 340, 348 Frühe Tang (siehe auch Chu Tang) 178, 190 fu  34f., 37–40, 42f., 56, 82, 106, 249, 265 fugu Ḡ110, 114, 189, 358 Fünf Agenzien (siehe auch wuxing) xixf., 41, 48, 307 Fusang J% 30, 149 Fuzhou 164, 165

G gan shi óÊ 157 gan ó 84, 86f., 103

402

Index Houji 5, 7 Hu µ 121 hua ê 83 Hua " 121 Huai (reg. 329–299) 19 Huai-Fluß Â‡ 271–273, 297 huaigu Ô¸ 110, 115, 354 Huainan Â+ 122 Huaiyin 126 Huan, Xuan 'X (368–404) 277 Huang He b‡ 4 Huang Shan bE 362 Huang, Chao b¶ 244 Huang, Tingjian b. (1045–1105) 291–293, 301, 306, 332 He da Qian Mufu xinxing maobi (Eine Antwort auf die Reime von Qian Mufu) 292 Huang, Zunxian bI~ (1848–1905) 369 Huanghelou b&P 146 Huangzhou b² 276 Huaqingchi 201 Huashan "E 70 Hubei *ë 19, 152, 171, 261, 276, 332 Hui 130 Huineng ;Ñ (638–713) 314 Hunan *+ 19, 162, 320 huo ¥ 76 huofa © 312 Hyperbel 35, 125, 128, 130, 132, 138f., 144 hyperbolisch 128, 130, 219

Guo, Maoqian 44, 48 guoke ›v 149 gushi ¸« 34, 39, 43, 49, 67, 114, 132, 134, 155, 189, 190, 253, 265 guwen ¸[ 260, 265 guwenci ¸[r 358

H hainei KY 109 haitang K´ 327 Han Xin (gest. 196 v.Chr.) 126 Han  5, 41f., 45, 76, 108, 113, 210, 354 Han, Shan ¦E 188 Han, Wudi :ñ 44 Han, Yu ½Ü (768–824) 188f., 209, 210–215, 227f., 250f., 254, 256, 260, 262, 275, 292 Shigu ge (Das Lied von den Steintrommeln) 210 Han-Dynastie ñ (206 v.Chr. – 220 n.Chr.) 40, 44, 55–57, 64, 72, 136 Han-Fluß 162, 175 Hangzhou A² 190, 239, 254, 271f., 297, 324, 334, 346 Han-Poesie, Han-Lyrik 107, 120 Hanshu : 36, 340 Hanyang 332 Han-Zeit (siehe auch Han-Dynastie) xvii, 34, 36f., 40, 49, 60, 62, 69, 71, 80, 90, 103, 106, 110, 117, 131, 275, 309, 359 haofang > 119, 253, 301 Hawkes, David 17, 21–23, 31 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich xi, 7, 103 Heidegger, Martin 140 Henan ‡+ 4, 19, 132 Henderson, John B. xvii, xx, 9 Hoffmann, Alfred (1911–1997) viii, 177, 185, 283 Hofkultur 237 Hofmann von Hofmannswaldau, Christian (1617–1679) 195 Hofmusik (siehe auch Yongming yue) 95 Holzman, Donald 68

I Ichlosigkeit 136, 138 Individualismus 18, 360 Individualität xxv, 139 Introspektion 139 itineraria 21

J Jagdpark 37, 41f. Ji, Kang ‹ (223–262) 65f., 69f., 192

403

Index jintishi ¥'« 114, 146, 272 Jinyintai ¥ÊÄ 144 Jishui 312 jiu & 134, 306 Jiujiang 166 Jiuquan Jun &µ 136 Jiuquan Xian &“ 136 jiuxing 136 ju fa ¹© 315 Ju, Xin 126 jue  82 jueju ±¹ 93, 104, 141, 261 Junzhou 269 junzi ï$ 109, 240, 255 Jurchen 254, 297, 303, 324, 339, 343

Qin fu (Die Laute) 69 Zeng xiucai ru jun wu shou (Dem Blühenden Talent zu seinem Eintritt ins Heer gewidmet) 70 Ji, Xi 70 Jia, Yi Þ (200 – 168 v.Chr.) 38, 126 Fu niao fu (Die Eule) 38 Jian'an Î] 58f., 62, 106f., 110, 120, 123, 271, 358 Jiang, Kui °è (1155–1221) 323, 332– 334, 336 Shiliu ye chu (Am 16. nachts unterwegs) 333 Jiang, Yan 3Í (444–505) 66 Jiange 130 jianghai 3K 160, 272 Jiangling 3I 152, 154 Jiangnan ¤ 166, 238–240, 245, 332, 366 Jiangsu 3£ 19, 368 Jiangxi shipai ÂëE6 291, 306, 312, 316 Jiangxi 3S 19, 81f., 291, 301, 312, 332, 338 Jiankang 92 Jiao, Ran b (730–799) 188 Jiaofang - 238 jiaomiao žm 44 jiaosi ž 44 Jiaxuan 338 Jin  67 Jin-Dynastie ¥ñ (1115–1234) 343f., 346 jing wai Cê 227 jing W xvi, 95, 97, 154, 171, 185, 239, 257 jing C 84, 88, 96, 137, 148, 239, 326 jing * 262, 268, 278, 280 Jingde chuan deng lu (Übermittlung der Lampe) 275 Jingling ba you ³I?Ÿ 92 jingshe ’á 88 Jinling 317 jinshi ¯¿ 113, 177, 190, 218, 229, 258, 368

K Kaifeng ÔÕ 282f., 297, 331, 344 Kaiyuan Ô 198, 358 kangkai K< 63, 113, 116, 297 Kao, Yu-kung xxiv ke v 47 Kennedy, George A. 9, 12 Kettendichtung (siehe auch lianju) 93f. kezi v$ 61 Klassischer Achtzeiler (siehe auch lüshi) 95, 145, 147, 152f., 155, 158f., 164f., 174, 231, 234f., 283, 292, 300f., 313, 317 Klassischer Vierzeiler (siehe auch jueju) 94–97, 141, 144f., 172, 176, 178, 180, 184, 227, 230f., 261, 298f., 301f., 307, 311, 314, 316, 344–346, 369 Klassisches Gedicht (siehe auch shi) 61, 141, 147, 150f., 163, 169, 189, 194, 236f., 253, 317, 359, 365 Klassisches Langgedicht (siehe auch pailü) 160, 194 Klassisches Lied (siehe auch ci) 226, 229, 236–238, 245, 249–251, 253, 265, 277, 281, 323, 334, 337f., 340, 349–352, 355, 359, 364f. Klöpsch, Volker 105, 110, 158 Knechtges, David R. 34, 37

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Index Li, Bai "Q (701–762) 49, 108, 112f., 118–120, 122–125, 127f., 131f., 136, 138, 140, 144–146, 148–150, 166, 177, 219, 237, 256, 273–275, 292, 301, 319 Chunri zui qi yan zhi (An einem Frühlingstag erhebe ich mich trunken und tue mein Herz kund) 133 Huanghelou song Meng Haoran zhi Guangling (Am Turm zum Gelben Kranich gebe ich dem Meng Haoran das Geleit, als er nach Guangling fuhr) 144 Jiang jin jiu (Bringt her den Schnaps) 131 Nigu shier shou (Zwölf Gedichte in Nachahmung des Altertums) 148 Shan zhong wen da (In den Bergen als Antwort an einen Alltagsmenschen) 140 Shaonian xing (Die [archaische] Weise auf den jungen Herrn) 122 Song youren (Einem Freund zum Geleit) 147 Xing lu nan (Mühsam ist der Weg) 124 You Tai Shan (Aufstieg auf den Tai Shan) 143 Yue xia du zhuo (Ich zeche allein unter dem Mond) 134, 319 Li, Deyu "‹© (787–850) 229 Li, Guang 117 Li, He " (791–817) 188, 216, 218– 220, 223–227, 337, 362 Bei zhong han (Frost im Norden) 223 Changgu shi (Das Gedicht von Changgu) 225 Jiang jin jiu (Hier kommt der Wein) 131, 219 Mo zhong shu (Pflanze keinen Baum) 216 Nanyuan shisan shou (Dreizehn Gedichte auf den südlich gelegenen Garten) 217 Ri chu xing (Ballade von der aufgehenden Sonne) 221 Shen xian qu (Die Harfe der Fee) 220 Su Xiaoxiao mu (Das Grab der Su Xiaoxiao) 218

Konfuzianer xviii, 31, 189, 249 konfuzianisch xxiv, 3–5, 8, 19, 65, 78, 80, 82, 106, 124, 183, 189, 192, 210, 215f., 249, 250, 252, 265, 275f., 300, 312f., 344 Konfuzianismus 57, 64, 67, 76, 78, 85, 107, 138, 175, 196, 209, 210 Konfuzius xii, xiv, xx, 4f., 16, 75, 109, 139, 193, 213, 215, 222, 264, 358 kong N xxiii, 178f., 182f., 186, 204, 225, 261, 287, 299 kongshan NE 181, 185 Kriegsgedicht 114 Kroll, Paul W. 173, 179 ku ying º( 257 kuang – 301, 306, 349, 357 Kui 278, 333 Kuizhou 152, 168 kun 8 xxii, 62 Kunlun Ú¥ 28, 32, 132, 221f.

L Ladstätter, Otto 155–157 Laizhou 327 lan D 72, 337 Landschaft passim Langgedicht im Alten Stil (siehe auch gushi) 166, 191, 199, 317–319 Langya-Gebirge 263 lanting D 72 lao bing ՙ 155 Lao Zi Õ$ 16, 195 Laternenfest (siehe auch Yuanxiao) 331, 333 le $ 71, 73, 82f., 231, 273 lei O xiv–xviii, xxf., 9, 22, 40, 48f., 69 Leuchtende Halle (siehe auch Mingtang) 211f. Leyuan 230 Li Shan 201 li Ú 88, 252, 254, 257, 268, 270, 277– 280 li  65

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Index Liu-Song-Dynastie ì_ñ(420–478) 87 Liyuan "Á 238 Lu 4 Lu Shan 78, 269 Lü, Benzhongé  (1084–1145) 312 Lu, Ji  (261–303) 86, 91, 93, 103, 127 Wen fu (Ästhetik vom Schreiben) 86, 91, 103 Lu, You  (1125–1210) 297–306, 312, 323 Shantou shi (Steine in den Bergen) 304 Shi er (Anweisung an meine Söhne) 298 Tang ren chou shi xi zuo (Zum Spaß auf die Melancholie der TangDichter verfaßt) 301 Wanqiu nongjia (Spätherbst auf dem Land) 303 Wu jiu tan (Seufzer ohne Rausch) 305 Lu, Zhaolin 6; (ca. 634–ca. 684) 115 Lunwen Ž[ 59 Lunyu ŽÁ (Gespräche des Konfuzius) xiv, 4f., 78, 184, 255 Luoyang ï 70, 190, 193, 217, 239, 244, 275 lüshi _« 95, 104, 147, 150, 155, 300

Li, Mao 202 Li, Po "Qsiehe Li, Bai "Q (701–762) 118 Li, Qingzhao "Ù; (1084–1151) 323– 328, 330f. [Lied] nach der Weise Freude ewiger Begegnung (Yongyule) 330 Lied nach der Weise Auf der PhönixTerrasse des Flötenspiels eingedenk (Fenghuangtai shang yi chui xiao) 328 Lied nach der Weise Trunken unter Blumenschatten (Zuihuayin) 327 Rumengling (Weise wie in einem Traum) 326 Li, Shangyin "d (813?–858) 226, 229–234, 236, 360 Li, Si 127 Li, Yu "0 (937–978) 244, 253, 282f. Yu meiren (Die schöne Yu) 282 Li, Zehou "Ñn 39, 65 Li, Zhi " (1527–1602) 136 Liang, Kai (ca. 1140–1210) 120 Liang-Dynastie Uñ (502–557) 93 lianju ²¹ 93 Liao ‘ 297 Liao-Dynastie ‘ñ(907–1125) 352 Licheng 324, 338 Lied von der Erde 118 Lieder des Südens (siehe auch Chuci) xiv, 16f., 19, 23f., 35, 71, 90, 140, 142, 218, 220 Lin 166 Lin, Shuen-fu 332 Ling 50 lingzhi I¹ 77 Linjiangxian (Elfen am Fluß) 250 liren Ž 289 liu gong A 201 Liu, James J.Y. xvi, 63, 230, 236 Liu, Xie ìÄ (ca. 465–522) xxi, 87, 103 Liu, Yong Ç (987–1053) 282f., 285 Liu, Yuxi ìõ (772–842) 193 Liu, Zongyuan Çk (773–819) 227, 263

M Ma, Zhiyuan @È° (ca. 1260–1325) 353 Qiu si (Herbstgedanken) 353 Mahayana-Schule 225 Mahler, Gustav (1860–1911) 118, 131 Makrokosmos 23f., 142 manci 6¡ 282 Mandala 36, 41 Mandarin 352 Mao Shan 142 Mao, Zedong ¯Ñð(1893–1976) xii Mao-Shan-Kult 142 Mawei 202, 204 McCraw, David R. 159, 363, 365

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Index mingjiaoá- 65 Mingtang âÖ 29, 42, 212 mingyue âÜ 117, 185 Ming-Zeit (siehe auch Ming-Dynastie) xi, 236, 352, 356, 358–360, 364 Mittelalter (220–960) 32, 56, 64, 66, 68, 75, 104, 110, 124f., 128, 150, 245, 249, 340, 349, 362, 364 mittelalterlich 59, 103, 108, 127, 144, 150 Mochou 235 Mongolen 299, 343, 346, 348, 356 Muße 160, 172, 192f., 196, 308, 310, 331

Meckel, Christoph 37 Ich bin in einem Traum gewesen 37 mei b 31, 56, 89 Mei, Sheng n, (gest. 141 v.Chr.) 40 Qi fa (Die sieben Anregungen) 40 Mei, Tsu-lin xxiv Mei, Yaochen Yû· (1002–1060) 256, 258, 260 Bayue jiuri chen xing ru ce you ya zhuo qu (Am neunten Tag des achten Monats erhebe ich mich in der Frühe und gehe aufs Klo. Krähen picken dort nach den Maden) 259 Dao wang (Klage über den Tod meiner Frau) 260 Gengniu (Ackerrind) 259 Juwen (Moskitos) 258 Mu hun (Die Trübung meines Augenlichtes) 260 Qiuyin (Regenwurm) 259 Taozhe (Der Ziegelbrenner) 258 Tong Xie Shihou(Ratten) 259 Yong ... chou shi (Häßlicher Stein) 259 meiren bŽ 23, 32, 39 Meishan 265 Melancholie (siehe auch you ») vii, xxv, 18, 20, 55, 68f., 82f., 132, 138f., 255, 273, 280, 298, 301f., 312, 316, 319f., 326, 328, 330, 332, 339, 349, 364 memento mori 121, 132, 134, 271 men Ë 316 Meng Zi 3$ 183, 340, 347 Meng, Haoran 3= (689–740) 145, 171, 175, 177, 179, 286 Chunxiao (Frühlingsdämmerung) 172 Menzius (siehe auch Meng Zi) 215 Meru 234 Mi, Fu G’ (auch Mi Fei G’) (1051– 1107) 255 Mianzhou 120 Mikrokosmos 23, 41, 82, 142 ming á 153, 155 Ming â 356, 366 Ming-Dynastie âñ (1368–1644) 343, 356f., 365

N Nachklassisches Lied (siehe auch qu) 350–356, 359 Nadir 143f. Nalan, Xingde ‡Dû‹ (1655–1685) 364 Nanchao +ñ (420–589) 92 Nanking +€ 92, 142, 220, 282f., 317, 324, 367 Nanzhao 197 Natur passim Natureingang xiv, 8, 10–14, 21, 61, 132 Naturlyrik (siehe auch shanshuishi) 101, 108, 259 Needham, Joseph xx Neo-Konfuzianer 260, 282 neo-konfuzianisch 257f. Neo-Konfuzianismus 255 Neo-Taoismus 67, 76 neo-taoistisch 70, 77–79, 88 Neues Archaisches Lied (siehe auch xinyuefu) 189 Neunzehn Gedichte im Alten Stil 43, 59, 120 Ni, Zan þ¦ (1301–1374) 348f. Nienhauser, William H. viii, 190 Niu, Sengru /»N (779–848) 229 Nördliche Song ë_ (960–1126) 254, 283, 335, 347 Nüguanzi (Taoistische Nonne) 250

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Index

O

Pohl, Karl-Heinz 367 Pound, Ezra (1885–1972) xvf., xxiv privat 63, 81, 83, 122, 150f., 165f., 190, 196, 208f., 226f., 229, 237f., 249, 253– 255, 281, 283, 294, 297, 334, 336f., 349, 356, 364 Privatheit, Privatier 178, 228f., 231, 254, 276, 297, 323, 332, 335, 338, 354–357, 367–369 pu  113 Pusaman (Bodhisattva-Barbaren) 241, 245, 250

Olbricht, Peter 46, 68 Opferlieder der Zhou (siehe auch Zhou song) 6 Orchideenpavillon (siehe auch lanting) 71–73, 75, 317 Ouyang, Jiong ûƒ (896–971) 237 Ouyang, Xiu û (1007–1072) xvii, 256, 260–264, 269 Fengleting xiao yin (Kleiner Umtrunk am Pavillon zur Fülle der Freude) 262 Ti Chuzhou Zuiwenting (Auf den Pavillon des Trunkenen Alten in Chuzhou) 263 Yuan shan (Berge in der Ferne) 261 Owen, Stephen xiv, xvi, xix, xxii, xxv, 91, 107, 112, 117, 120, 150, 159, 164, 179, 217, 224, 226, 228, 281, 354

Q Qi $ 19 Qi, Haus der (479–502) 92 Qian Zhongshu …s: (1910–1998) Guanzhuibian 104 Qian, Mufu (1034–1097) 292f. Qian, Qianyi …úž (1582–1664) 362 qiankun R8 xxii Qian-Shu-Dynastie 244 Qiao 50 Qi-Dynastie $ñ (479–502) 92 Qi-Gebirge 211 qin  55, 69, 70, 184 Qin º 19, 117, 128–130, 354, 366 Qin-Dynastie ºñ (221–206) 117, 137 qing ™ xvi, xxi, 65, 82, 84, 88, 95–97, 103, 154, 171, 185, 239, 257, 278, 280, 326 Qing Ù 365, 366 Qing-Dynastie Ùñ (1644–1911) 343, 349, 362f. qingguo Ñ 199f. Qingli ZZ 264 Qingmingjie ÙâV 308, 366 Qingni Ling 130 qingtan ÙÜ 64 Qingyuan-Tempel 185 Qing-Zeit (siehe auch Qing-Dynastie) 291, 332, 334, 362, 364, 367 Qingzhou 324, 327 Qinlou ºP 329

P pailü B_ 160, 194 Pang, Degong r‹@ 175 Panpan 285, 286 Paradies 77, 135–139, 143f., 179, 232f. Parallelismus xxii, 49f., 87, 90, 93, 95, 102, 153, 155, 157, 160, 162, 192, 194, 209, 261, 272, 280, 283 parallelismus membrorum 132, 138, 147 Pei, Di Ⱦ 178 Peking ë€ 110, 211, 344, 346, 368 Peng Shan 233 Peng Xian 32 Pengcheng A¢ 273f., 285 Penglai À… 144 Pengze 82 Pengzu A* 79f. Perse, Saint John (1887–1975) 37, 39 Pindar (ca. 518 – ca. 444 v.Chr.) 37, 39 ping G 273 pingdan Gµ 256f., 301 Poetische Beschreibung (siehe auch fu) 34–40, 61, 74, 76, 81, 142, 249, 265, 269, 277f.

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Index Schwert-Tor-Paß 203 Shaanxi )S 4, 129f., 165, 211, 213, 270, 354 Shandong Eð 4, 144, 229, 324, 327, 344 Shang  xviii, 4f., 7 shang # 89 Shangcai 127 Shang-Dynastie ñ (1711–1066 v.u.Z.) xiii, 4 shange E 360 Shangqing-Taoismus 142–144 Shangrao 338 shanshui E 83, 85, 300 shanshuishi E« 86, 101 Shanxi ES 4 Shanyin 73, 300 shaojiu »& 134 Shaoxing ¡H 72, 88, 300 she  xiii shen 2 xix, 24, 76, 79, 218, 257 shen  269 Shen, Yazhi \n 336 Shen, Yue \z (441–513) 90–93 Sheng-Tang ¯ä (714–766) 104 shenxian 2­ 135f., 142 Shi Huiyuan «;° (334–416) 80 Fo ying ming (Inschrift auf den Schatten Buddhas) 78 Xing jin, shen bu mie lun (Zur Sterblichkeit des Leibes und zur Ewigkeit des Geistes) 80 Shi shuo «È 332 shi yan zhi «Ô« 281 shi « xii, xiii, 55f., 58, 60, 62, 106, 236, 238, 240, 244f., 249, 252f., 277, 291, 298, 312, 323, 332, 349, 359, 365 Shijing «£ (Buch der Lieder) 3f., 6, 9f., 15–18, 23 Er pflückt den wilden Wein 14 Im Brachland ist ein totes Wild 12 Wie rank der Pfirsichbaum 13 Shining 88 Shouyang-Berg 127

Qin-Zeit (siehe auch Qin-Dynastie) 117, 359 Qinzhou 152, 166 Qi-Reich $Ñ 74 qu Æ 238, 349–352, 355, 359 Qu, Yuan s (ca. 340–ca. 278) 17, 19, 31, 127, 167 Quan Tang shi