Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung: Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert 9783110286472, 9783110285468

The interpretations ascribed to the German Revolution of 1918–19 have undergone significant changes over time. It has be

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German Pages 628 Year 2012

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Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung: Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert
 9783110286472, 9783110285468

Table of contents :
Einleitung
1 Weimarer Republik 17„Die größte aller Revolutionen“ - erste Einschätzungen und Reaktionen
Die Revolution und ihre Deutung im politischen Streit der Weimarer Republik
Die Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik und ihre Deutungen der Revolution
2 Das nationalsozialistische Deutschland
Die Revolution von 1918/19 in der Geschichtskultur
Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik
3 Die Revolution von 1918/19 in der Exil-Geschichtskultur
4 Bundesrepublik Deutschland
Wiederherstellung der Souveränität - 1945-1955
Erweiterung der Perspektiven - 1955-1965
Mehr Demokratie wagen - 1965-1975
Tendenzwende -1975-1989
5 Deutsche Demokratische Republik
Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft
Historisch-politische Deutungen des Revolutionsgeschehens
6 Das vereinte Deutschland
Im Zeichen des Sieges - 1990-2007
Die Wiederentdeckung der Revolution - 2008-2010
7 Grundlegende Werke: Revolutionsdarstellungen in chronologischer Folge
8 Die deutsche Revolution von 1918/19 - Geschichtskultur, Geschichtspolitik, Geschichtsschreibung
Nachbemerkung: Wozu Erinnerung an die Revolution 1918/19?
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Wolfgang Niess Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung

Wolfgang Niess

Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

isbn 978-3-11-028546-8 e-isbn 978-3-11-028647-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Einleitung 1

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Weimarer Republik 17 „Die größte aller Revolutionen“ – erste Einschätzungen und Reaktionen Die Revolution und ihre Deutung im politischen Streit der Weimarer Republik 26 Die Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik und ihre Deutungen der Revolution 107

2

Das nationalsozialistische Deutschland 125 Die Revolution von 1918/19 in der Geschichtskultur 125 Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik 136

3

Die Revolution von 1918/19 in der Exil-Geschichtskultur

4

Bundesrepublik Deutschland 164 Wiederherstellung der Souveränität – 1945–1955 Erweiterung der Perspektiven – 1955–1965 190 Mehr Demokratie wagen – 1965–1975 223 Tendenzwende – 1975–1989 259

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Deutsche Demokratische Republik 320 Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft 320 Historisch-politische Deutungen des Revolutionsgeschehens Das vereinte Deutschland 371 Im Zeichen des Sieges – 1990–2007 371 Die Wiederentdeckung der Revolution – 2008–2010

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Grundlegende Werke: Revolutionsdarstellungen in chronologischer Folge 419

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Die deutsche Revolution von 1918/19 – Geschichtskultur, Geschichtspolitik, Geschichtsschreibung 539

Nachbemerkung: Wozu Erinnerung an die Revolution 1918/19? Literaturverzeichnis Personenregister

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Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis grundlegender Werke: Revolutionsdarstellungen in chronologischer Folge Die folgenden Werke werden im Einzelnen in Kapitel 7 vorgestellt: Emil Barth: Aus der Werkstatt der deutschen Revolution (1919) 419 Gustav Noske: Von Kiel bis Kapp (1920) 421 Heinrich Ströbel: Die deutsche Revolution (1920) 423 Philipp Scheidemann: Der Zusammenbruch (1921)/ Memoiren eines Sozialdemokraten (1928) 430 Eduard Bernstein: Die deutsche Revolution (1921) 432 Richard Müller: Vom Kaiserreich zur Republik/Die Novemberrevolution/ Der Bürgerkrieg in Deutschland (1924/25) 434 Hermann Müller: Die Novemberrevolution (1928) 439 Arthur Rosenberg: Die Entstehung der Deutschen Republik 1871–1918 (1928) 441 Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution (1929) 445 Erich Otto Volkmann: Revolution über Deutschland (1930) 447 Friedrich Meinecke: Die Revolution (1930) 450 Eugen Fischer-Baling: Volksgericht (1932) 453 Arthur Rosenberg: Geschichte der Deutschen Republik (1935) 455 Walter Tormin: Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie (1954) 462 Eberhard Kolb: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918–1919 (1962) 466 Peter v. Oertzen: Betriebsräte in der Novemberrevolution (1963) 472 Wolfgang Elben: Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution (1965) 477 Peter Lösche: Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903–1920 (1967) 480 Reinhard Rürup: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19 (1968) 485 Sebastian Haffner: Die verratene Revolution (1969) 489 Erich Matthias: Die Regierung der Volksbeauftragten (1969) 494 Ulrich Kluge: Soldatenräte und Revolution (1975) 498 Heinz Hürten: Zwischen Revolution und Kapp-Putsch (1977) 501 Gerhard W. Rakenius: Wilhelm Groener als Erster Generalquartiermeister (1977) 503 Susanne Miller: Die Bürde der Macht (1978) 507 Karl Dietrich Erdmann: Rätestaat oder parlamentarische Demokratie (1979) 512

Inhaltsverzeichnis

Heinrich August Winkler: Die Sozialdemokratie und die Revolution von 1918/19 (1979) 515 Detlef Lehnert: Sozialdemokratie und Novemberrevolution (1983) Ulrich Kluge: Die deutsche Revolution 1918/1919 (1985) 523 Hans-Joachim Bieber: Bürgertum in der Revolution (1992) 526 Volker Ullrich: Die deutsche Revolution 1918/19 (2009) 528 Ulla Plener (Hg.): Die Novemberrevolution 1918/1919 in Deutschland (2009) 532 Alexander Gallus (Hg.): Die vergessene Revolution 1918/19 (2010)

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Einleitung Es gibt wenige Ereignisse und Phasen der deutschen Geschichte, die fast ein Jahrhundert lang so heftig umstritten waren wie die deutsche Revolution von 1918/19. Das öffentliche wie das wissenschaftliche Interesse an dieser Revolution unterlag rapiden Schwankungen. Etwa zwei Jahrzehnte war sie in der Bundesrepublik eines der historischen Themen, über die am intensivsten geforscht wurde. Inzwischen kann man sie zu Recht als „vergessene“ Revolution bezeichnen. Einige Jahre gehörte es zur Staatsraison in Deutschland, mit den „Novemberverbrechern“ abzurechnen, und der „Führer“ beschwor in zahllosen Reden, dass ein November 1918 sich niemals wiederholen werde. Besonders zäh hielt und hält sich die Vorstellung, es sei damals vor allem um die Abwehr des Bolschewismus gegangen – was zum Glück gelungen sei, so dass Berlin nicht zur Filiale Moskaus wurde. Immer wieder haben Politiker und Historiker aber auch betont, dass in der Revolution 1918/19 versäumt worden sei, der deutschen Gesellschaft eine stabile demokratische Grundlage zu geben – nach 1945 durchaus mit dem Hintergedanken, dass Deutschland und der Welt möglicherweise viel erspart worden wäre, wenn die Revolution von 1918/19 nicht stecken geblieben wäre. Besonders klar spiegelt sich im mitunter rapiden Wechsel der jeweils vorherrschenden Deutungen dieser Revolution die wechselvolle deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Welche Bedeutung der Revolution jeweils zugeschrieben wurde, war stets in höchstem Maß zeit- und standortgebunden. Das galt für die wissenschaftliche Geschichtsschreibung wie für die Geschichtskultur im Allgemeinen. Zu bestimmten Zeiten war die Revolution von 1918/19 darüber hinaus Gegenstand gezielter geschichtspolitischer Aktivitäten, an denen regelmäßig auch Historiker beteiligt waren. Die Abhängigkeit der Geschichtsschreibung über diese Revolution vom jeweiligen „Zeitgeist“ ist vielfältig in der historischen Literatur angesprochen worden. Gelegentlich verbunden mit dem Hinweis, intensivere Beschäftigung damit könnte sehr lohnend sein. Jakov S. Drabkin hatte sogar den konkreten Plan zu einem Werk über die Geschichtsschreibung zur deutschen Revolution von 1918/19.1 Realisiert wurde er nicht. Bislang gab es ganz generell keine systematische Untersuchung zu diesem Thema der Geschichtsschreibung. Für mich persönlich war die Revolution von 1918/19 bereits in der Schlussphase meines Studiums von besonderem Interesse. Am Ende einer Periode intensiver Forschungstätigkeit von den späten Fünfzigerjahren bis zur Mitte der Siebzigerjahre hatte es den Anschein, als könnte sich eine Art wissenschaftlicher Konsens über diese Revolution herausbilden. Unter den forschenden Fachhistorikern setzte sich eine Deutung durch, die das Geschehen im Kern als eine verpasste Chance der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft sah. Doch auch in jener Phase war in

1 Jakov S. Drabkin: Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland, Berlin 1968, hier 11.

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Einleitung

Handbüchern und Gesamtdarstellungen zur Weimarer Republik ein Bild der Revolution zu finden, das sie im Wesentlichen als Abwehrkampf gegen die akut drohende Gefahr einer bolschewistischen Machtergreifung deutete. Hier lebte also – vordergründig betrachtet – die Interpretation weiter, die in den Fünfzigerjahren nahezu uneingeschränkt dominiert hatte. Gegen Ende der Siebzigerjahre äußerten dann einzelne Historiker massive Vorbehalte gegen die angeblich „herrschende Lehre“, und in den Achtzigern setzte nach und nach eine Tendenz zur Revision dieser Revolutionsdeutung ein. Auf den ersten Blick ein erstaunliches Phänomen, weil sich diese Revision nicht weiterer historischer Forschung verdankte, die zu neuen Befunden und Ergebnissen geführt hätte. Sie ging auch nicht von Fachhistorikern aus, die sich intensiv mit der Revolution von 1918/19 beschäftigt hatten. Gleichwohl fand deutlich erkennbar eine Revision statt, und es stellt sich die Frage, welche Ursachen und Begründungen es für diesen Prozess gab, von welchen Bedingungen und Faktoren die Deutungs-Wende ausgelöst wurde. Festzustellen ist auch, dass das gewaltige Interesse, das die Revolution von 1918/19 in den Sechziger- und Siebzigerjahren in Historikerkreisen erfahren hatte, in den Achtzigerjahren dramatisch absank. Diese Erfahrungen, Beobachtungen und Fragen waren Ausgangspunkt meiner Dissertation, die 2011 unter dem Titel „Metamorphosen einer Revolution. Das Bild der deutschen Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung“ von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Stuttgart angenommen wurde. Ich danke meinen Betreuern und Gutachtern Prof. Dr. Axel Kuhn und Prof. Dr. Gerhard Hirschfeld für wertvolle Ratschläge und ihr stets offenes Ohr. Für die hier vorliegende Buchpublikation wurde die Dissertation gekürzt und überarbeitet. Am Beispiel der deutschen Revolution von 1918/19 geht es in dieser Arbeit durchaus generell um die politisch-gesellschaftlichen Faktoren, die Geschichtsschreibung prägen. Sie traten und treten hier besonders deutlich zutage, weil Konflikte und Ergebnisse der Revolutionszeit noch Jahrzehnte danach Folgewirkungen entfalteten. Über die Grenzen politischer Lager hinaus besteht Einigkeit darüber, dass Revolutionsgeschichtsschreibung „sich immer in einem besonders delikaten Spannungsverhältnis von Vergangenheitsdeutung und Gegenwartserfahrung bewegt. Denn stärker noch als bei anderen Themenkomplexen wirken hier die sich wandelnden aktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemlagen auf die Akzentuierung der Fragestellungen und Bewertungsmaßstäbe ein, die der Historiker an das vergangene Geschehen heranträgt.“2 In der Revolutionsgeschichtsschreibung zeigt sich besonders klar, was nach weitgehend übereinstimmender Überzeugung generell für Geschichte und Geschichtsschreibung gilt: „Historische Urteile sind zeit- und standortgebun-

2 Eberhard Kolb: Arbeiter- und Soldatenräte in der deutschen Revolution von 1918/19, in: Michael Salewski (Hg.): Die Deutschen und die Revolution. 17 Vorträge, Göttingen/Zürich 1984, S. 301–319, hier 302.

Einleitung

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den“.3 Oder, anders formuliert: „Geschichte entsteht aus dem Dialog von Gegenwartsbewußtsein und Vergangenheit.“4 Der Grundgedanke ist Basis jeder kritischen Geschichtswissenschaft und findet sich vielfältig in der Literatur. Er gilt für jede Art der Geschichtsschreibung, für Werke aus dem vorwissenschaftlichen Bereich wie Erinnerungen und populäre Sachbücher, aber auch für wissenschaftliche Darstellungen. In seiner Allgemeinheit bietet der Grundgedanke, Geschichtsschreibung sei zeitund standortgebunden, freilich nur geringe analytische Trennschärfe. Wenn beispielsweise der später höchst renommierte Karl Dietrich Erdmann in einem frühen unveröffentlichten Werk Frankreich als Drahtzieher hinter der Novemberrevolution benannte, so hatte diese – singuläre – Behauptung bzw. Deutung vermutlich viel mit persönlichen Erfahrungen und Absichten und weniger mit dem „Zeitgeist“ zu tun. Der allerdings hätte es zugelassen, dass Erdmanns recht eigenwillige Darstellung Bestandteil eines Schulbuchs hätte werden können – wenn es nicht Kritik in anderer Hinsicht an seinem Text gegeben hätte. Das Beispiel illustriert, dass es sinnvoll ist, drei Bereiche zu unterscheiden, von denen Geschichtsschreibung geprägt wird: erstens die subjektiven Fragestellungen, politischen Interessen und Bewertungskategorien des einzelnen Geschichtsschreibers, zweitens die Interessenlagen der Gruppen, Parteien, Institutionen, denen der Historiker sich bewusst oder unbewusst zugehörig oder verpflichtet fühlt und drittens schließlich die vorrangigen Problemlagen und leitenden Interessen, die die Gesellschaft zum Zeitpunkt der Niederschrift prägen, den jeweils herrschenden „Zeitgeist“. In umgekehrter Richtung lassen vorherrschende Geschichtsbilder und ihre Veränderung selbstverständlich Rückschlüsse auf gesellschaftliche Entwicklungen zu. Der Verweis auf die Zeit- und Standortbedingtheit historischer Urteile kann und soll nicht die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens in Frage stellen. Selbstverständlich sind die handwerklichen, methodologischen Grundsätze der Geschichtswissenschaft unverzichtbare Basis jeder Geschichtsschreibung, die den Anspruch erhebt, wissenschaftlich zu sein. Es ist also sinnvoll, zwischen dem Bereich der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und der „Geschichtskultur“ einer Gesellschaft zu unterscheiden, wobei „Geschichtskultur“ den Gesamtbereich von Erinnerungsarbeit in einer Gesellschaft umschreibt.5 Es gilt: Jede wissenschaftliche Geschichtsschreibung ist Bestandteil der Geschichtskultur, Geschichtskultur umfasst allerdings weit mehr als nur die wissenschaftliche Geschichtsschreibung. Es ist eine

3 Heinrich August Winkler: Ein umstrittener Wendepunkt. Die Revolution von 1918/19 im Urteil der westdeutschen Geschichtswissenschaft, in: Ders. (Hg.): Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland (Schriftenreihe der Stiftung ReichspräsidentFriedrich-Ebert-Gedenkstätte 10), München 2002, S. 33–42, hier 33. 4 Michael Stürmer: Vorwort, in: Ders. (Hg.): Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstein/ Ts. 1980, S. 9–11, hier 9. 5 Vgl. Jörn Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden, Köln 1994, hier 235.

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„Sammelbezeichnung für höchst unterschiedliche, sich ergänzende oder überlagernde, jedenfalls direkt oder indirekt aufeinander bezogene Formen der Präsentation von Vergangenheit in einer Gegenwart“.6 Historische Ausstellungen gehören beispielsweise ebenso zur Geschichtskultur wie Reden zu Gedenktagen. Alles Veröffentlichte und damit für die Gesellschaft zugänglich Gemachte, ist Bestandteil der Geschichtskultur. Der Begriff hat die gesellschaftliche Dimension im Blick, während „Geschichtsbewusstsein“, auf das einzelne Individuum bezogen ist, auf die subjektive Dimension der Verarbeitung von Zeiterfahrung zielt. Im Rahmen dieser Studie konnten selbstverständlich nicht alle Facetten der jeweiligen Geschichtskultur berücksichtigt werden. Aber deutlich wird im Hinblick auf die deutsche Revolution 1918/19 doch, dass die Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens das historische Urteil keineswegs nachhaltig stärker prägten als der jeweilige „Zeitgeist“. Mitunter erwiesen sich im Gegenteil politische Ziele und Tendenzen als absolut dominierend, etwa wenn im Zuge der „geistig-moralischen Wende“, die die erste Regierung Kohl anstrebte, von den Fachwissenschaftlern einvernehmlich akzeptierte Deutungsmuster in Frage gestellt wurden, ohne dass neue Quellen erschlossen oder neue Forschungen durchgeführt worden wären. Das Beispiel zeigt im Übrigen auch, dass es sinnvoll ist, zwischen der – unvermeidlichen – Zeit- und Standortgebundenheit jeder Art von Geschichtsschreibung und bewusster „Geschichtspolitik“ zu unterscheiden. Der Begriff „Geschichtspolitik“ kam zwar erst im Zusammenhang mit dem Historikerstreit 1986/87 auf und „meint die Inanspruchnahme von Geschichte für Gegenwartszwecke.“7 Aber genau darum ging es am Ende der Siebzigerjahre, als einige Historiker gegen die „herrschende Meinung“ über die deutsche Revolution 1918/19 zu Felde zogen, es ging um die bewusste Verwendung von Aussagen über historische Sachverhalte und Zusammenhänge mit dem Ziel (politische) Zwecke zu befördern. Im Feld der Geschichtskultur ist Geschichtspolitik an der Tagesordnung, besonders deutlich erkennbar, wenn Politiker sich zu historischen Sachverhalten äußern. Im Bereich der wissenschaftlichen Historiografie erwarten wir politisch zweckorientierten Aussagen zunächst nicht. Wissenschaft muss bei aller unvermeidbaren und zugestandenen Zeit- und Standortgebundenheit den klaren Anspruch erheben, sich nicht bewusst politischen Zwecken zu öffnen oder unterzuordnen, wenn sie sich nicht selbst in Frage stellen will. Das Beispiel der DDR Geschichtswissenschaft macht das augenfällig. Dort zielte die Beschäftigung mit der Novemberrevolution 1918/19 stets darauf, die jeweils aktuelle Politik der SED zu rechtfertigen, mit historischen „Argumenten“ zu unterfüttern. Von einer ernsthaften und ergebnisoffenen geschichtswissenschaftlichen Forschung konnte keine Rede sein. Das Resultat war eine jahrzehntelange scholasti-

6 Wolfgang Hardtwig: Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, hier 8f. 7 Heinrich August Winkler: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004, S. 7–13, hier 11.

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sche Begriffsklitterei ohne jede Glaubwürdigkeit und mit denkbar geringem Erkenntniswert. In einer Konkurrenzdemokratie wie der Bundesrepublik Deutschland ist eine solche „Überwältigung“ der Wissenschaft durch eine politische Richtung ausgeschlossen. Geschichtspolitisch motivierte Äußerungen von Historikern finden sich allerdings auch hier. Ein Beispiel, das bislang allerdings nicht unter diesem Gesichtspunkt wahrgenommen wurde, sind die einflussreichen Einlassungen des schon erwähnten Karl Dietrich Erdmann über die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft aus dem Jahr 1955. Erdmanns Aussage, der Bolschewismus sei 1918/19 die einzige Alternative zur konkreten Weimarer Republik gewesen, zielte in erster Linie darauf, den Machtantritt Hitlers als – selbstverständlich bedauerlichen – Bruch in der deutschen Geschichte erscheinen zu lassen. Dem damals im angelsächsischen Bereich weit verbreiteten Urteil, 1918/19 sei eine Demokratisierung der deutschen Gesellschaft versäumt worden, setzte Erdmann sein entschiedenes ,Es gab keine ernstzunehmende Alternative‘ entgegen, um die deutsche Nationalgeschichte in ihren wesentlichen Zügen zu retten. Auf historische Forschung stützte er sich bei diesem Urteil über die Revolution von 1918/19 nicht. Erdmanns geschichtspolitisch motivierte Deutung entsprach der dominierenden Stimmung der Zeit und konnte sich nicht zuletzt deshalb weitgehend durchsetzen. Unwidersprochen aber blieb sie nicht, und genau darin, im Streit und der Auseinandersetzung, zeigt sich die große Stärke von Geschichtskultur in Konkurrenzdemokratien. Geschichtspolitik stellt sich hier als öffentlicher und massenmedial vermittelter Prozess dar, „in dem sichtbar Kräfte und Gegenkräfte am Werke sind und um die Hegemonie von Diskursen und Deutungsmustern ringen.“8 Die Öffentlichkeit, so das anschauliche Bild von Edgar Wolfrum, stellt in Konkurrenzdemokratien eine Arena für Vergangenheitsinterpretationen dar, in der ein „Wettstreit der Erinnerungen“ in Form einer Präsentation verschiedener Geschichtsbilder ausgetragen werde. Heinrich August Winkler hat darauf hingewiesen, dass keine politische Richtung je auf den Versuch verzichten werde, ihre Positionen historisch zu untermauern. „In einer demokratischen Gesellschaft pflegen mehrere Geschichtsbilder miteinander zu konkurrieren. Geschichtspolitik zielt darauf ab, die eigene Deutung durchzusetzen. Als Ergebnis solcher Deutungskämpfe kann sich ein breiter Konsens hinsichtlich wichtiger historischer Ereignisse herausbilden. Ohne einen Minimalkonsens in Sachen der eigenen Geschichte könnte ein demokratisches Gemeinwesen gar nicht dauerhaft bestehen.“9 Von einem breiten Konsens über Bedeutung und Deutung der deutschen Revolution von 1918/19, das zeigt die vorliegende Studie, sind wir weit entfernt. In Kon-

8 Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung; 1948–1990, Darmstadt 1999, hier 27f. 9 Winkler: Einleitung, 2004, (wie Anm. 7), hier 11.

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kretisierung der vorangegangenen geschichtstheoretischen Überlegungen und Annahmen, geht es in dieser Untersuchung nicht um die Frage nach dem „Wahrheitsgehalt“ des jeweils vermittelten Bildes der Revolution von 1918/19, sondern um die Frage, wer wann wie welche Deutung des Revolutionsgeschehens vertreten oder propagiert hat, mit welcher Absicht und welcher Wirkung das geschehen ist. Die Arbeit geht also der Frage nach, welche Deutungen der Revolution von 1918/19 in Deutschland seit den Anfängen der Weimarer Republik in Umlauf waren. Sie zeichnet nach, wann welche Deutungen dominierten, abgelehnt wurden, in Vergessenheit gerieten. Sie nimmt mögliche Ursachen dieser Deutungs-Veränderungen in den Blick, indem sie die jeweils zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen einbezieht und Wandlungen des Zeitgeistes berücksichtigt. Auch die Veränderungen der Geschichtswissenschaft in den vergangenen neunzig Jahren können dabei nicht unberücksichtigt bleiben. Am konkreten Beispiel der Revolution von 1918/19 wird beschrieben, in welchem Ausmaß Impulse zu Deutungsveränderungen von wissenschaftlicher Forschung und neuer Methodologie, also wissenschaftlichen Fortschritten, ausging und in welchem Maß von nicht-wissenschaftlichen Bereichen der Geschichtskultur und der Politik. Es wird auch erfasst, welche Rolle Geschichtspolitik im Kontext dieser Veränderungsprozesse spielte und in welchen Fällen solche geschichtspolitischen Interventionen von Historikern ausgingen. Im Gesamtergebnis wird am konkreten Beispiel der Revolution von 1918/19 das Verhältnis von Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik in Deutschland über einen Zeitraum von mehr als neunzig Jahren verfolgt. Dabei zeigt sich, um zentrale Ergebnisse vorwegzunehmen, dass Veränderungen der historischen Einordnung und Bewertung meist nicht auf neue Forschungsergebnisse zurückzuführen sind, sondern in aller Regel auf veränderte politische Ausgangskonstellationen und neue gesellschaftliche Problemstellungen. Geschichtspolitisch motivierte Interventionen sind genau dann von anhaltender Wirksamkeit, wenn sie dem herrschenden „Zeitgeist“ entsprechen. Frühester Ausgangspunkt der Untersuchung sind Meinungsäußerungen und Debatten der Zeitgenossen in der Revolutionszeit selbst und in der Zeit der Weimarer Republik. Naturgemäß handelte es sich dabei um Äußerungen im politischen Raum. Die verschiedenen sozialen Gruppen und Milieus standen von Anfang an vor der unabweisbaren Notwendigkeit, eine Haltung zu dieser Revolution zu gewinnen, die die Monarchien in Deutschland beseitigt und dem Land eine parlamentarische Republik beschert hatte. Sie schrieben der Revolution eine Be-Deutung zu, wobei unter „Deutung“ in diesem Zusammenhang die Reduzierung des Geschehens auf ein wesentliches charakterisierendes Merkmal verstanden werden soll. Je nach politischem Standort und sozialer Interessenlage fielen die Deutungen sehr unterschiedlich aus. Nicht nur chronologisch, sondern auch systematisch sind diese zeitgenössischen Darstellungen des Revolutionsgeschehens Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit, denn es zeigt sich, dass bereits die Zeitgenossen im Rahmen ihrer politischen

Einleitung

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und ideologischen Auseinandersetzungen eine breite Palette von Interpretationen des Geschehens entwickelten, dass bereits in den politisch oder sogar strategisch motivierten Aussagen der Miterlebenden die wesentlichen Elemente späterer Deutungen des Revolutionsgeschehens angelegt waren. Die aus Kommentaren und Analysen der Zeitgenossen gewonnenen Deutungsmuster dürfen allerdings nicht als überschneidungsfreies und logisch konstruiertes System verstanden werden, denn sie wurden von unterschiedlichen sozialen Gruppen mit verschiedenen, mitunter gegensätzlichen gesellschaftlichen, philosophischen, weltanschaulichen Bezugssystemen verwendet. Elf Deutungsmuster haben sich bei der empirische Auswertung zeitgenössischer Literatur ergeben und sich als nützlich und hilfreich erwiesen, um die Veränderungen zu beschreiben, denen die Deutung der Revolution von 1918/19 im Verlauf der vergangenen mehr als neunzig Jahre unterworfen war. Was beispielsweise Heinrich Ströbel, ein Politiker vom rechten Flügel der USPD, in der Revolutionszeit als politische Strategie formulierte, findet man in Arthur Rosenbergs „Geschichte der deutschen Republik“ wieder und es scheint erneut in der Revolutionsforschung der Sechzigerjahre auf. So sind auch Grundelemente späterer Deutungen durch die Geschichtswissenschaft bereits in den zeitgenössischen politischen Interpretationen zu finden. Die Gliederung der Arbeit folgt im Wesentlichen der Chronologie. Parallel zur Geschichtsschreibung im Nationalsozialistischen Deutschland ist die Historiographie im Exil zu berücksichtigen. Die Zeit der „alten“ Bundesrepublik wird in vier Phasen geteilt, die von deutlich unterscheidbaren, jeweils vorherrschenden Leitvorstellungen über die Gesellschaft geprägt waren – was sich auch in der Deutung der Revolution von 1918/19 niederschlug. Parallel zur Entwicklung in der Bundesrepublik ist die völlig anders geartete in der DDR zu erfassen. Für die Zeit des vereinten Deutschland legt die Geschichtsschreibung über die Revolution von 1918/19 eine Unterscheidung von zwei Phasen nahe, deren erste von 1990 bis etwa 2007 reicht. In der kurzen Zeit danach deuten sich bemerkenswerte Veränderungen an. Für die jeweilige Zeitspanne wird zunächst die Darstellung und Deutung der Revolution von 1918/19 in der Geschichtskultur der jeweiligen Zeit geschildert. Für die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialistischen Deutschland sind als Quellen vorwiegend Äußerungen und Urteile aus dem politischen Raum zu berücksichtigen. Auch Meinungsäußerung von Historikern und summarische Behandlungen in Handbüchern und Gesamtdarstellungen sind für diesen Zeitraum meist dem nichtwissenschaftlichen Teil der Geschichtskultur zuzuordnen. In den Fünfzigerjahren traten wissenschaftliche Darstellungen stärker in den Vordergrund, relevant blieben nach wie vor Erinnerungen und Memoiren, während unmittelbare Urteile aus der Politik eine deutlich geringere Rolle spielten – jedenfalls in der Bundesrepublik, wo der revolutionäre Gründungskontext der Weimarer Republik in der aktuellen Politik völlig ausgeklammert wurde und man demonstrativ in den Vordergrund stellte, dass Bonn nicht Weimar sei. Ebenso demonstrativ betonte andererseits die SED, in der DDR habe man die Lehren der Novemberrevolution gezogen.

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Einleitung

Um das Quellenmaterial in überschaubarer Größenordnung zu halten, wird auf Lokal- und Regionalstudien weitgehend verzichtet. Biographien werden nur dann – ausnahmsweise – berücksichtigt, wenn sie besonders aufschlussreich für die Entwicklung der Revolutionsdeutungen sind. Internationale historische Forschung wird nur insoweit einbezogen als sie erkennbaren Einfluss auf deutsche Geschichtsschreibung hatte. Kursorisch wird jeweils in gesonderten Kapiteln auf die Entwicklung von Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur in der jeweiligen Zeitspanne eingegangen. In diesem Zusammenhang werden auch geschichtspolitische Aktivitäten berücksichtigt und diejenigen gesellschaftlichen sowie politischen Veränderungen angesprochen, die von Bedeutung für die Geschichtskultur der Epoche sein könnten. Auch daraus ergeben sich Anhaltspunkte für Ursachen von Veränderungen der Revolutionsgeschichtsschreibung. Um der Komplexität der jeweiligen Gesamtdarstellung und Argumentation Rechnung zu tragen, werden in einem vorletzten Kapitel „Exemplarische Revolutionsdarstellungen“ einzeln vorgestellt. Dabei wird der Inhalt der Werke möglichst wertungsund kommentararm wiedergegeben. Das soll dem Leser den Einstieg in wesentliche Quellen ermöglichen sowie die hier angebotenen Interpretationen nachvollziehbar machen. Es handelt sich dabei um Gesamtdarstellungen der Revolution von 1918/19 oder umfassende Werke zu wichtigen Teilaspekten. Vollständigkeit kann und soll bei den exemplarischen Revolutionsdarstellungen nicht angestrebt werden. Es geht vielmehr darum, ein angemessenes Spektrum der jeweils vertretenen Revolutionsdeutungen in chronologischer Reihenfolge zu präsentieren. Aufgrund der Fülle von Quellenmaterial wurden Darstellungen im Internet generell nicht berücksichtigt. Auch belletristische Literatur, Fernsehsendungen, Hörfunksendungen und Schulbücher werden nicht in die Untersuchung einbezogen. Es erfolgt keine systematische Berücksichtigung von Presseartikeln. Um die Zahl der Fußnoten nicht ins Unermessliche steigen zu lassen, wird häufig darauf verzichtet, unmittelbar aufeinander folgende Zitate von derselben Seite desselben Werkes einzeln zu kennzeichnen. Die Fußnote nach dem letzten Zitat gilt dann auch für die unmittelbar vorangegangenen. Eckige Klammern kennzeichnen in Zitaten stets meine Kürzungen bzw. meine Kommentare.

1 Weimarer Republik „Die größte aller Revolutionen“ – erste Einschätzungen und Reaktionen „Die größte aller Revolutionen hat wie ein plötzlich losbrechender Sturmwind das kaiserliche Regime mit allem, was oben und unten dazu gehörte, gestürzt. Man kann sie die größte aller Revolutionen nennen, weil niemals eine so fest gebaute, mit so soliden Mauern umgebene Bastille so in einem Anlauf genommen worden ist. Es gab noch vor einer Woche einen militärischen und zivilen Verwaltungsapparat, der so verzweigt, so ineinander verfädelt, so tief eingewurzelt war, dass er über den Wechsel der Zeiten hinaus seine Herrschaft gesichert zu haben schien. Durch die Straßen von Berlin jagten die grauen Autos der Offiziere, auf den Plätzen standen wie Säulen der Macht die Schutzleute, eine riesige Militärorganisation schien alles zu umfassen, in den Ämtern und Ministerien thronte eine scheinbar unbesiegbare Bureaukratie. Gestern früh war, in Berlin wenigstens das alles noch da. Gestern Nachmittag existierte nichts mehr davon.“1 Der liberale Theodor Wolff griff am 10. November 1918 im „Berliner Tageblatt“ zu Superlativen. Die gewaltigen Massendemonstrationen, in deren Zeichen Berlin am Vortag gestanden hatte, die ganz und gar unblutige Übernahme der Macht durch Arbeiter- und Soldatenräte, die Übergabe des Kanzleramtes an den Sozialdemokraten Friedrich Ebert, die Ausrufung der Republik durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann und der Sozialistischen Republik durch Karl Liebknecht vom Spartakusbund, die Abdankung des Kaisers und die widerstandslose Hinnahme des Geschehens durch Militär- und Polizeiapparat hinterließen bei vielen Zeitgenossen das Empfinden, man habe es hier mit einem historisch einmaligen Vorgang zu tun. Auch die alt-konservative „Kreuzzeitung“ sprach von „einer Umwälzung, wie sie die Geschichte noch nicht gesehen hat.“ Am 12. November 1918 erschien die erste Nummer des Blatts, in der es wieder möglich war, Nachrichten zu kommentieren. Fassungslos standen die Konservativen vor den Trümmern der alten Ordnung, weil sie „fast alle fest geglaubt hatten, dass der Aufbau Preußen-Deutschlands und vor allem der Armee zu fest verankert sei, um innerhalb weniger Tage in die Brüche zu gehen“.2 Wilhelm Blos, Reichstagsabgeordneter der SPD, verbrachte den 9. November in Stuttgart. Noch am Nachmittag sollte er die Regierungsgeschäfte in Württemberg übernehmen, aber zunächst erlebte er das Geschehen offenbar völlig passiv als Zuschauer: „Vom Sockel des Schillerdenkmals herab proklamierten der Sozialdemokrat Hosenthien und der Unabhängige Engelhardt die sozialdemokratische Republik

1 Theodor Wolff, in: Berliner Tageblatt (10.11.1918, Morgenausgabe). 2 Kreuzzeitung (12.11.1918).

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und ließen darüber abstimmen; sie ward einstimmig beschlossen. Ich sah den gewaltigen Demonstrationszug über die Königstraße gehen; der Anblick war überwältigend. Alsdann begab ich mich nach Hause, da ich im Moment nichts zu tun fand.“ Blos war absolut überzeugt, dass hier etwas Großes geschehen war, dass Deutschland sich unumkehrbar veränderte. „Die Revolution hatte so vollständig gesiegt, dass ein reaktionärer Rückschlag irgend welcher Art vollständig ausgeschlossen erschien.“3 Staatssekretär Matthias Erzberger, der die Revolution in Deutschland nicht miterlebt hatte und erst nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 13. November nach Berlin zurückkehrte, notierte, das Land sei „völlig verändert“ – wobei er keinen Zweifel daran ließ, dass er nicht jede der Veränderungen begrüßte. Insbesondere, so Erzberger, habe er die rote Flagge, die er an seinem Dienstwagen vorfand, sofort durch eine schwarz-rot-goldene ersetzen lassen.4 Bei aller Unterschiedlichkeit der politischen Orientierung stimmten die zeitgenössischen Einschätzungen im November 1918 darin überein, dass man eine gewaltige Umwälzung, eine „Revolution“ erlebe. Von der „Kreuzzeitung“ bis zur „Roten Fahne“ des Spartakusbundes, die am 9. November erstmals erschien, „hat im Brennpunkt der aktuellen Geschehnisse nicht ein einziges publizistisches Sprachrohr von Parteigruppierungen ernstlich bestritten, daß in Deutschland eine Revolution stattfand.“5 Auch Susanne Miller und Gerhard A. Ritter kamen aufgrund ihrer Auswertung der Aufzeichnungen von Zeitgenossen zu dem Ergebnis, es könne „kein Zweifel darüber bestehen, dass im Bewusstsein der Miterlebenden jene Tage und Wochen einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben bedeuteten. Sie empfanden ihn, je nach Standort, als eine Bedrohung oder als eine Chance für ihre persönliche Existenz und für die der größeren Gemeinschaft, in die sie hineingestellt waren oder der sie sich durch eigene Entscheidung verbunden fühlten.“6 Am 11. November 1918 beging Hans Delbrück, einer der bekanntesten Historiker und Publizisten des Kaiserreichs und zu diesem Zeitpunkt glühender Anhänger der Monarchie, seinen siebzigsten Geburtstag. Die Feier fand im tief empfundenen Bewusstsein einer großen historischen Zäsur statt. Nach der Schilderung des Berliner Theologen und Geschichtsphilosophen Ernst Troeltsch war die Geburtstagsfeier beim Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher“ alles andere als eine fröhliche Angelegenheit. „Es war eine merkwürdige Feier, ähnlich einer Begräbnisfeier. Man sprach gedämpft. Der Glück wünschende Redner fand vor Tränen die Worte nicht. Delbrück

3 Wilhelm Blos: Von der Monarchie zum Volksstaat. Zur Geschichte der Revolution in Deutschland insbesondere in Württemberg, Stuttgart 1923, hier 22f. 4 Matthias Erzberger: Erlebnisse im Weltkrieg, Stuttgart/Berlin 1920, hier 340. 5 Detlef Lehnert: Sozialdemokratie und Novemberrevolution. Die Neuordnungsdebatte 1918/19 in der politischen Publizistik von SPD und USPD, Frankfurt am Main 1983, hier 18. 6 Susanne Miller/Gerhard A. Ritter: Die November-Revolution 1918 im Erleben und Urteil der Zeitgenossen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1968), H. 45, S. 3–40, hier 3.

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erwiderte ergreifend, es sei das Ende der Friderizianischen Monarchie, mit der all sein politisches Denken und jeder Glaube an Deutschlands Zukunft verwachsen sei; sie habe stets an bösen Rückbildungen und Erstarrungen gelitten, woraus sich stets revolutionäre Neigungen ergaben, so furchtbar wie jetzt, habe es freilich mit ihr noch nie gestanden. Der Glaube des Historikers an alle seine bisherigen Maßstäbe und Voraussetzungen sei im Wanken.“7 Das Erlebnis der Revolution bewirkte eine Art Lähmung großer Teile der bisher politisch und gesellschaftlich einflussreichen Kreise, aber auch weiter Teile des vermögenden und gebildeten Bürgertums. „Mit geballter Faust und Tränen in den Augen sahen Berliner Hochschullehrer das Kaiserreich in Trümmer gehen!“8 Offenbar war das revolutionäre Geschehen mit einer so elementaren Wucht über das Land hereingebrochen, dass monarchistische, nationale, konservative und bürgerliche Kreise es zunächst ohne jedes offene Aufbegehren hinnahmen. Erkennbaren Widerstand gab es nicht. Durchaus symptomatisch für die resignative Stimmung in den herrschenden Schichten des Kaiserreichs war der Kommentar der national orientierten „Deutschen Zeitung“ am 9. November: „Wir wollen heute in dieser fürchterlichen Stunde nicht anklagen. Wir haben immer wieder und wieder ausgeführt, dass die Nachgiebigkeit der Krone den demokratischen Gewalten gegenüber der Anfang vom Ende ist. Wir haben nur zu recht behalten und stehen heute erschüttert am Grabe deutscher Hoffnung.“9 Nicht nur der Blick auf die Russische Revolution von 1917, auch der auf die Französische von 1789 prägte die Erwartungen und Befürchtungen. Der Theologe, Historiker und Publizist Eugen Fischer-Baling hielt über die Stimmung unmittelbar nach dem Umsturz fest: „Aus dem Erlebnis des 9. November erwartete alle Welt den Beginn des Vernichtungskampfes gegen die Stützen der bisherigen Gesellschaft. Gegen den Besitz, dachte man – und es lag in der Luft, so zu denken –, werde sich der Hauptstoß richten, und er werde den Adel, die Beamtenschaft, die Richter, die Offiziere, die Politiker der Rechten mit treffen. Es hätte niemand überrascht, wenn am 10. ein Sturm auf die Villen im Tiergarten eingesetzt, wenn ein Revolutionstribunal zu arbeiten angefangen, wenn die Volksleidenschaft an den lautesten Siegverkündern und den obersten militärischen Führern sich vergriffen hätte. Dergleichen wurde erwartet.“10

7 Ernst Troeltsch: Die Revolution in Berlin. 30.11.1918, in: Ders.: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 (Die andere Bibliothek 109), Frankfurt am Main 1994, S. 5–11, hier 10. 8 Kurt Töpner: Gelehrte Politiker und politisierende Gelehrte. Die Revolution von 1918 im Urteil deutscher Hochschullehrer, Göttingen 1970, hier 63. 9 Deutsche Zeitung (9.11.1918), zit. nach: Reinhold Wulle: Im Zeichen der Revolution. Beiträge zur deutschen Geschichte vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1918., Berlin (o.J. – Vorwort 1919), hier 85. 10 Eugen Fischer-Baling: Volksgericht. Die Deutsche Revolution von 1918 als Erlebnis und Gedanke, Berlin 1932, hier 220.

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Bei aller Radikalität der Umwälzung stellte man im liberalen Bürgertum aber rasch und erleichtert fest, dass sich unmittelbar nach dem Umsturz vom 9. November 1918 weder Chaos noch Bürgerkrieg ausbreiteten. Für Ernst Troeltsch waren die größten Unsicherheiten bereits am 10. November beseitigt: „nach banger Nacht ward das Bild aus den Morgenzeitungen klar: der Kaiser in Holland, die Revolution in den meisten Zentren siegreich, die Bundesfürsten im Abdanken begriffen. Kein Mann tot für Kaiser und Reich! Die Beamtenschaft in den Dienst der neuen Regierung getreten! Die Fortdauer aller Verpflichtungen gesichert und kein Sturm auf die Banken!“11 Es gab keine akute Finanzkrise – außerordentlich beruhigend für das Bürgertum – und auch keine gewaltsamen Eingriffe in das geordnete wirtschaftliche Leben – soweit am Ende des vierjährigen Krieges von einer geordneten Wirtschaft überhaupt noch die Rede sein konnte. Nicht nur in den ländlichen Regionen des Reiches, auch in der Hauptstadt schien das Alltagsleben für viele fast den gewohnten Gang zu gehen. „Sonntag, den 10. November, war ein wundervoller Herbsttag“, notierte Ernst Troeltsch. „Die Bürger gingen in Massen wie gewöhnlich im Grunewald spazieren. Keine eleganten Toiletten, lauter Bürger, manchmal wohl absichtlich einfach angezogen. Alles etwas gedämpft wie Leute, deren Schicksal irgendwo weit in der Ferne entschieden wird, aber doch beruhigt und behaglich, dass es so gut abgegangen war. Trambahn und Untergrundbahn gingen wie sonst, das Unterpfand dafür, dass für den unmittelbaren Lebensbedarf alles in Ordnung war. Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiterbezahlt. Montag, den 11. November hatte Hans Delbrück seinen siebzigsten Geburtstag. Ich musste, ihn zu besuchen, ein bisschen durch den Wald gehen. Meine Frau wollte mich nicht ohne Revolver gehen lassen. Aber in Wahrheit war alles absolut ruhig.“12 Troeltsch sah das Geschehen nicht als nationales Drama wie Delbrück, sondern eher in weltgeschichtlichen Relationen. Die Deutschen vollzogen nach, was andere Nationen bereits hinter sich hatten, wenn auch unter – wie er meinte – besonders schwierigen Bedingungen. In seinem Artikel „Die Revolution in Berlin“, der am 15. November 1919 veröffentlicht wurde, aber bereits am 30. November 1918 geschrieben worden war, hielt er fest: „Die lange gefürchtete und verheißene Revolution ist ausgebrochen. Deutschland hat heute seine siegreiche Revolution, wie sie einst England, Amerika und Frankreich hatten. Es hat sie im unseligsten Moment des allgemeinen militärischen, wirtschaftlichen und nervösen Zusammenbruches. Darin liegt der Unterschied von jenen Revolutionen.“13 Angesichts des raschen und anscheinend umfassenden Erfolgs der Revolution, aber auch angesichts des völlig ausbleibenden Terrors schien Fundamentalopposition der konservativen, nationalistischen und monarchistischen Kreise nicht sinn-

11 Troeltsch: Die Revolution in Berlin, 1994, (wie Anm. 7), hier 9. 12 Ebenda, 9f. 13 Ebenda, 5.

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voll. Selbst die agrarisch-konservative „Deutsche Tageszeitung“, die am 9. November noch über den „Verrat“ am deutschen Volk geklagt hatte, stellte sich zwei Tage später sehr pragmatisch auf den Boden der neuen Tatsachen. „Unsere Leser wissen, was wir und sie mit uns gewollt, angestrebt und ersehnt haben. Das ist vorbei, aber unsere Augen müssen nach wie vor auf die Zukunft gerichtet sein und unsere Kräfte bereit und ohne Rücksicht auf etwas anderes als auf das Wohl das ganzen Volkes und damit des ganzen Deutschland angespannt sein und bleiben, um das Beste aus Gegenwart und Zukunft zu machen. […] Es kann für Gegenwart und Zukunft keine zu rechtfertigenden Sonderziele geben“.14 Schon am Tag zuvor hatte das bis dahin alles andere als demokratisch orientierte Blatt erklärt: „Die Regierungsgewalt kann dauernd nur von einer Regierung ausgeübt werden, die ihr Mandat von dem auf ordnungsmäßigem Wege einwandfrei festgestellten Mehrheitswillen des deutschen Volkes empfangen hat.“ Die „Kreuzzeitung“ mahnte am 10. November: „Alle Elemente des Volkes, die an dem Staat und der Gesellschaftsordnung festhalten wollen, werden geschlossen zusammengehen müssen, um, wenn möglich, ein Chaos zu verhindern.“15 Die Entwicklung in Russland galt nicht nur in den konservativen und nationalen Milieus sondern bis weit ins Lager der politischen Linken hinein als abschreckendes Beispiel. Es gab, wie der Berliner Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ am 14. November festhielt, eine „politische Front von den Sozialdemokraten bis zur ,Kreuzzeitung‘“, die sich einig darin sei, „daß erstes und oberstes Ziel die Aufrechterhaltung der Ordnung sein muss“.16 Die Stimmung im nationalliberalen Lager fasste Gustav Stresemann am 14. November in der Wochenschrift „Deutsche Stimmen“ prägnant zusammen. In einem Artikel mit der Überschrift „Der Umsturz“ schrieb der spätere Vorsitzende der Deutschen Volkspartei, Reichskanzler und Reichsaußenminister: „Das deutsche Bürgertum außerhalb der Sozialdemokratie sieht sich gegenwärtig fast zur Einflusslosigkeit verurteilt. […] Der sozialdemokratische Führer, Ebert, gibt sich gewiss alle Mühe, die Entwicklung vor einem sich überstürzenden Radikalismus zu bewahren. […] Unsere Aufgabe ist, alles zu tun, um Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten und uns vor einem Chaos zu bewahren. Völlig falsch wäre es deshalb auch, daran Kritik zu üben, daß die Beamtenschaft sich der neuen Regierung zur Verfügung gestellt hat und weiter arbeitet. Die schwerste Pflichterfüllung ist der Sieg über das eigene Empfinden. […] Besonnenheit und Pflichterfüllung bis zum Äußersten, das wollen wir unsererseits uns bewahren und hinüberretten, auch wenn um uns herum die festes-

14 Ernst Graf Reventlow, in: Deutsche Tageszeitung (11.11.1918), zit. nach: Eberhard Buchner (Hg.): Revolutionsdokumente. Die deutsche Revolution in der Darstellung der zeitgenössischen Presse. Bd. 1. Im Zeichen der roten Fahne, Berlin 1921, hier 152. 15 Zit. nach: Eduard Bernstein: Die deutsche Revolution. Ihr Ursprung, ihr Verlauf und ihr Werk, Berlin 1921, hier 40f. 16 Frankfurter Zeitung (14.11.1918).

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ten Grundmauern einstürzen, an deren Unerschütterlichkeit wir fest geglaubt hatten.“17 Etwa vier Fünftel der Beamtenschaft blieb trotz vorherrschender Verzweiflung über den Zusammenbruch und die Revolution im Dienst – auch aus Sorge, dass sonst alles zusammenbrechen würde. Die studentischen Korporationen stellten sich der sozialistischen Regierung mit einem nationalistischen und monarchistischen Vorbehalt zur Verfügung.18 Beispielhaft war die Erklärung des Regierungspräsidenten von Düsseldorf, Francis Kruse, der seine Beamten am 13. November aufforderte, möglichst lange im Amt zu verbleiben, um die öffentliche Sicherheit, den Verkehr und die Lebensmittelversorgung aufrecht zu erhalten. Er schloss seine Ansprache mit einem Hoch auf Kaiser und König. Regierungspräsident von Miquel in Oppeln erklärte gegenüber Gewerkschaftsfunktionären, er werde sein Amt „nicht im Interesse der neuen Gewalthaber, sondern im Interesse des Vaterlandes“ weiterführen. Er sei „königstreuer Gesinnung“, daran habe auch die Revolution nichts geändert.19 Insbesondere der Haltung des Chefs der Obersten Heeresleitung Paul v. Hindenburg kam in den Novembertagen größte Bedeutung für das Verhalten des gesamten monarchistisch-konservativen Lagers zu. Bereits am 10. November war zu hören und zu lesen, dass sich der Generalfeldmarschall und legendäre Kriegsheld auf den Boden der gegebenen Tatsachen und der neuen Regierung zur Verfügung gestellt habe. Eugen Fischer-Baling hatte mehr als zehn Jahre später noch genau die Wirkung dieser Meldung vor Augen: „Es werden unter den damaligen Lesern und Hörern dieser Nachricht wenige sein, die sich nicht heute noch erinnern, dass sich, als sie sie vernahmen, plötzlich etwas in ihnen drehte. Es war das Weltbild, das sich drehte, und die Teile des Gehirns, in denen es gesessen hatte. Der Erschütterung folgte das Auflachen, mit dem der Mensch das verrückte Weltbild begreift und anerkennt, oder aber die Wut und Empörung, mit der er begreifend der neuen Lage sich widersetzt. Hindenburg hatte bisher als der Inbegriff des monarchischen und militärischen Prinzips gegolten, gegen das die Revolution sich auflehnte. Wenn der sich auf den Boden der Tatsachen und der neuen Regierung zur Verfügung stellen konnte, gab es dann einen einzigen Vertreter des alten Systems, dem nicht auf dieselbe Art in Dienst und Ansehen zu bleiben möglich war? Und wenn alle Hindenburgs Vorgang folgten – woran nicht zu zweifeln war –, fand sich dann nicht wie

17 Zit. nach: Miller et al.: Die November-Revolution 1918 im Erleben und Urteil der Zeitgenossen, 1968, (wie Anm. 6), hier 22. 18 Christoph Cornelißen: „Schuld am Weltfrieden“. Politische Kommentare und Deutungsversuche deutscher Historiker zum Versailler Vertrag, in: Gerd Krumeich/Silke Fehlemann (Hg.): Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N.F. 14), Essen 2001, S. 237–258. 19 Wolfgang Runge: Politik und Beamtentum im Parteienstaat. Die Demokratisierung der politischen Beamten in Preußen zwischen 1918 und 1932, Stuttgart 1965, hier 20.

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durch Zauber alles beim alten? Niemand konnte dieser Überraschung ohne Gefühlsausbruch Herr werden. Welch ein Bild am Tage nach dem Sturz der Monarchie!“20 Nachdem es nicht gelungen war, eine Revolution zu vermeiden, betrieb die OHL eine Politik der Schadensbegrenzung. Hindenburg und insbesondere General Wilhelm Groener, der Nachfolger Ludendorffs als Erster Generalquartiermeister, hatten offenbar eine Deutung des revolutionären Geschehens vor Augen, die ihnen abwartendes und kooperationsbereites Handeln nahe legte. „Sie haben die Ansicht, dass man unser Volk nur mit einem schwer Fieberkranken vergleichen kann und dass mit der Zeit auch dieses Fieber sich beruhigen wird“, schrieb Generalmajor Albrecht von Thaer seiner Frau in einem Brief am 20. November 1918, und er fügte hinzu, wie sehr er die Ruhe bewundere, die Hindenburg und Groener ausstrahlten.21 In seinen 1939 verfassten Erinnerungen berichtete Groener ausführlich vom „Bündnis“, das die OHL mit dem SPD-Führer, Interimskanzler und Volksbeauftragten Friedrich Ebert geschlossen habe. Er, Groener, habe am 10. November im Namen Hindenburgs die Armee der neuen Regierung zur Verfügung gestellt, und erklärt, als Gegenleistung erwarte man die „Bekämpfung des Bolschewismus“ und Unterstützung „bei der Aufrechterhaltung der Ordnung und Disziplin im Heer“.22 Am 17. November 1918 schrieb Groener an seine Frau, er wolle gemeinsam mit Hindenburg Ebert, den er „als geraden, ehrlichen und anständigen Charakter persönlich schätze, stützen, solange es irgend geht, damit der Karren nicht noch weiter nach links rutscht.“ Groeners Analyse der Lage war im Übrigen nicht nur von Bolschewismusfurcht geprägt, sondern auch von unverhohlenem Antisemitismus: „Vier Jahre war das deutsche Volk ungebrochen gegen eine Welt von Feinden – nun lässt es sich wie eine Leiche umwerfen von einer Handvoll Matrosen, denen das russische Gift […] eingespritzt war. Und wer sind die Drahtzieher? Juden hier wie dort.“23 Wurde die Novemberrevolution in den ersten Tagen euphorisch als größte aller Revolutionen gefeiert, die einen glorreichen und unumstößlichen Sieg errungen habe, so änderten sich die Bilder sehr rasch. Von der SPD und den bürgerlichen Liberalen wurde sie schnell als Störfaktor im erfolgreichen Reformprozess gesehen, den man möglichst umgehend beseitigen sollte, um zu geordneten Verhältnissen zurückzufinden. Die radikale Linke forderte ein entschiedenes Weiterführen der Revolution, und die maßgeblichen Kräfte des Kaiserreichs überwanden ihre zeitweilige Lähmung. Die demokratisch orientierte „Frankfurter Zeitung“ hatte schon am 11. November nicht nur vor „Radikalisierung und Bolschewismus“ gewarnt, sondern auch vor den „alten

20 Fischer-Baling: Volksgericht, 1932, (wie Anm. 10), hier 221. 21 Generalmajor a.D. Albrecht v. Thaer: Generalstabsdienst an der Front und in der O.H.L. Aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, Göttingen 1958, hier 274f, zit. nach: Miller et al.: Die November-Revolution 1918 im Erleben und Urteil der Zeitgenossen, 1968, (wie Anm. 6), hier 25. 22 Wilhelm Groener: Lebenserinnerungen. Jugend, Generalstab, Weltkrieg (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 41), Göttingen 1957, hier 467f. 23 Ebenda, 471f.

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Mächten“. Die „haben abgedankt, aber sie sind noch nicht tot; sie haben sich unsichtbar gemacht, aber sie geben noch nicht alles verloren.“24 Der Stimmungsumschwung zeigte sich deutlich in national orientierten Blättern wie der „Deutschen Zeitung“. Bereits am 18. November schrieb das Blatt, in Deutschland herrsche eine „Diktatur“: „Die Diktatur des deutschen Proletariats hat bisher jedes Blutvergießen zu vermeiden versucht. Das erkennen wir an. Sie bleibt aber trotzdem eine Diktatur, wie wir sie in den Zeiten der schlimmsten Reaktion nicht gehabt haben.“25 Am 12. Dezember formulierte die „Deutsche Zeitung“, dass die herrschenden Zustände auf Dauer nicht anerkannt würden: „Es ist keine Genugtuung für uns, an jedem Tag erneut feststellen zu müssen, dass die Revolution das Deutsche Reich in den Abgrund geführt hat. Es wird wohl kaum jemand geben, der das bestreiten kann angesichts der geradezu unerhörten Zustände, unter den wir leben müssen. Nichts kennzeichnet den Bankrott der Revolution deutlicher als die Tatsache, dass die Entente die jetzige Regierung nicht anerkennt“.26 Auch der politische Katholizismus sparte nach einer sehr kurzen Phase der Zurückhaltung nicht mit Kritik an der Revolution und ihren Ergebnissen. Die Novemberrevolution hatte die Katholiken nicht nur völlig unvorbereitet getroffen, es gab aus der Sicht des Katholizismus für sie auch keine Rechtfertigung. Revolutionen waren nach der katholischen Soziallehre nur unter Bedingungen zu billigen, die für das Deutsche Kaiserreich offenkundig nicht zutrafen. Dazu kam, dass die revolutionären Ereignisse in Berlin den 1912 gewählten Reichstag als Verfassungsorgan ausschalteten, dessen Zentrumsfraktion die Gesamtpartei im Deutschen Reich geführt hatte. Unsicherheit und Verwirrung waren daher im katholischen Bevölkerungsteil besonders groß. Einzelne Parteiführer des Zentrums forderten ihre Glaubensgenossen zwar auf, in den nun entstehenden revolutionären Gremien mitzuarbeiten; dennoch war die Haltung der deutschen Katholiken zur Revolution insgesamt unbedingt ablehnend.27 Zwei Wochen nach der Revolution ließ der Münchener Erzbischof Michael v. Faulhaber von den Kanzeln einen Hirtenbrief verlesen, in dem es hieß, die Revolution könne nach christlichen Grundsätzen nicht gebilligt werden. Der Erzbischof vermied jeden Kontakt zur „Gewaltregierung“, um eine Legitimation der Revolution zu vermeiden.28 Die zentrumsnahe, in Berlin erscheinende „Germania“ hat in der Zeit der revolutionären

24 Frankfurter Zeitung (11.11.1918). 25 Deutsche Zeitung (18.11.1918), zit. nach: Wulle: Im Zeichen der Revolution, (o.J. – Vorwort 1919), (wie Anm. 9), hier 100. 26 Deutsche Zeitung (12.12.1918), zit. nach: Wulle: Im Zeichen der Revolution, (o.J. – Vorwort 1919), (wie Anm. 9), hier 121. 27 Georg Kotowski: Auf dem Boden der gegebenen vollendeten Tatsachen! Der politische Katholizismus, in: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 159–180, hier 159. 28 Heinz Hürten: Die Kirchen in der Novemberrevolution. Eine Untersuchung zur Geschichte der Deutschen Revolution 1918/19 (Eichstätter Beiträge 11), Regensburg 1984, hier 84.

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Auseinandersetzungen „schroff antirevolutionäre und antisozialistische Positionen vertreten, wobei sie sich auch in der Wortwahl von rechtsstehenden Organen nicht immer deutlich unterschied.“29 Bereits im Verlauf des Novembers und Dezembers 1918 nahm die Publizistik der monarchistischen und nationalen Rechten eine massive, mitunter durchaus militante Oppositionshaltung gegen die Revolution und den „Rat der Volksbeauftragten“ ein. Auch die Organe des bürgerlichen Liberalismus sparten nicht mit Kritik. In seiner Untersuchung über die Neuordnungsdebatte 1918/19 in der politischen Publizistik von SPD und USPD kam Detlef Lehnert zu dem Ergebnis: „Die als konsensstiftende ‚Staatsideologie‘ seit der Weimarer Periode gern bemühte Legende, daß die bürgerliche Mitte und Rechte im Gegensatz zur militanten Agitation des Spartakusbundes der Regierung Ebert-Haase zunächst ‚besonnen‘ gegenübergetreten sei, hat eine den Unkundigen geradewegs erschreckende Palette von Belegen aggressiver antidemokratischer Propaganda seit den ersten Revolutionstagen in Vergessenheit geraten lassen. In diesem Zusammenhang erweisen sich die militaristische ‚Dolchstoß‘-Agitation, ‚christlicher‘ Antisemitismus und bis in persönliche Hasstiraden hineinreichende Kampagnen gegen führende Sozialdemokraten als wesentliche Elemente einer nahezu ungebrochen restaurativen Ideologie, die in den Revolutionsmonaten die Presse von DNVP, DVP und überwiegend sogar der Zentrumspartei gekennzeichnet hat.“30 Auf Seiten der politischen Linken war von Euphorie schon bald nichts mehr zu spüren. Trotz aller Massenbeteiligung bei Demonstrationen und Kundgebungen wurde die Revolution verbreitet als seltsam blutleeres Geschehen ohne Schwung und Begeisterung wahrgenommen. Der Sozialdemokrat Wilhelm Blos hielt 1923 in seinen Erinnerungen fest, er habe das schon am 9. November in Stuttgart so empfunden: „Auf dem Heimwege ließ mich der Gedanke nicht los, dass dieser Revolution etwas fehlte, nämlich eine allgemeine, alles überbrausende, mitreißende und erhebende Begeisterung. Ich sagte mir freilich, dass durch die furchtbare Niederlage und das Elend Deutschlands die sonst wohl nicht ausbleibende Begeisterung notwendigerweise etwas gedämpft werde. Aber der Gedanke stimmte mich immerhin etwas herab.“31 Ganz ähnlich äußerte sich knapp sechs Wochen später Ernst Däumig. Er war führender Vertreter der Revolutionären Obleute, Mitglied des Vollzugsrats der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte und stand auf dem linken Flügel der USPD, deren Vorsitz er im Dezember 1919 übernahm. Däumig hielt am 19. Dezember 1918 beim allgemeinen Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte eine Rede, in der er erklärte: „Der Rausch der ersten Revolutionstage ist schnell verflogen. Alle die Bedenklichkeit, alle die Rück-

29 Kotowski: Auf dem Boden der gegebenen vollendeten Tatsachen!, 1989, (wie Anm. 27), hier 166. 30 Lehnert: Sozialdemokratie und Novemberrevolution, 1983, (wie Anm. 5), hier 10. 31 Blos: Von der Monarchie zum Volksstaat, 1923, (wie Anm. 3), hier 22.

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ständigkeit und zähe Anhänglichkeit an die alten Ideologien ist noch sehr stark vorhanden. […] wo ist der große seelische, ideale Schwung, der durch die Nationalkonvente Frankreichs durchging? Wo ist die jugendfrische Märzbegeisterung des Jahres 1848? Wo ist die Hymne, die aus der Freiheitsbewegung des deutschen Volkes entstanden ist? – Nichts davon zu spüren! Ein großes Symbol kann man noch sehen: auf den Staatsgebäuden flattern noch die Farben des alten Systems mit ihren Emblemen und darüber ein armseliges rotes Wimpelchen. Das charakterisiert die Revolution von heute!“32

Die Revolution und ihre Deutung im politischen Streit der Weimarer Republik In den zeitgenössischen Auseinandersetzungen und Kämpfen der Revolutionsmonate ging es stets auch um die Deutung des bisherigen Revolutionsgeschehens. So war die Interpretation der Revolution von Anfang an Gegenstand heftiger Kontroversen im politischen Raum. Aus politischen und gesellschaftlichen Positionen ergaben sich nahezu selbstverständlich entsprechende Interpretationen der Revolution, die mehr oder minder lange Lebensdauer aufwiesen, die für Jahre oder auch Jahrzehnte Geschichtsbilder prägen sollten. Später spiegelte sich der politische Streit zwischen den Parteien in der Weimarer Republik in den Auseinandersetzungen um die Deutung der Revolution wider, die Kontroversen über die Revolution waren bis in die Schlussphase der Republik elementarer Bestandteil der politischen Auseinandersetzung. Wenn im Folgenden elf politische Deutungsmuster der Revolution 1918/19 unterschieden werden, so ist damit nicht die Vorstellung verbunden, dass diese Interpretationen stets strikt voneinander getrennt vertreten worden seien. Die Muster repräsentieren unterschiedliche politische Interessenlagen und Zielsetzungen. Einzelne stehen sich diametral und gegensätzlich gegenüber, zwischen anderen gab es Überschneidungen und Verbindungen.

Verrat an Kaiser und Reich Sang- und klanglos verschwanden im November 1918 die Monarchien in Deutschland, keine Hand rührte sich in den entscheidenden Tagen zur Verteidigung des Kaiserreichs. Das war keineswegs darauf zurückzuführen, dass das Anciens Régime grundsätzlich keine Anhänger mehr hatte. Der Kaiser war vielmehr nach vier Jahren Krieg unter innen- wie unter außenpolitischen Gesichtspunkten offensichtlich nicht

32 Zit. nach: Miller et al.: Die November-Revolution 1918 im Erleben und Urteil der Zeitgenossen, 1968, (wie Anm. 6), hier 13.

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mehr zu halten. Die Abdankung Wilhelms II. stand spätestens zu dem Zeitpunkt auf der Tagesordnung, als die Oberste Heeresleitung zu dem Ergebnis kam, es sollten unverzüglich Verhandlungen über einen Waffenstillstand aufgenommen werden. Die Alliierten hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass sie die Repräsentanten des Kaiserreichs als Verhandlungspartner nicht akzeptieren würden. So gab es bereits im Oktober allenthalben Überlegungen, ob man nicht ohne den Kaiser mit einem günstigeren Frieden rechnen könne als mit ihm. Matthias Erzberger hielt in seinen Erinnerungen fest, die Sozialdemokraten seien keineswegs der Motor dieser Überlegungen gewesen. „In den Vordergrund wurde die Frage der Abdankung des Kaisers durch Erörterungen in demokratischen Zeitungen ab Mitte Oktober gezogen, während die Sozialdemokraten sich zunächst mit der Einführung des parlamentarischen Systems und der Verfassungsänderung begnügten.“33 Diese Feststellung korrespondiert mit Eberts Haltung, über die Frage der Staatsform müsse die Nationalversammlung entscheiden. Ebert hat zwar am 9. November durchaus auch auf einen Rücktritt des Kaisers gedrängt – unter den politisch Verantwortlichen gab es zu diesem Zeitpunkt niemand, der am Kaiser glaubte festhalten zu können. Aber Ebert hat die Ausrufung der Republik durch Philip Scheidemann am 9. November kritisiert und keineswegs gut geheißen. Die Novemberrevolution hatte die Frage der Monarchie nicht in den Augen aller Deutschen endgültig erledigt. Auch nach dem 9. November gab es überzeugte Monarchisten, vor allem in den bis dahin herrschenden Schichten. Im Offizierskorps, unter den Großgrundbesitzern, in der höheren Beamtenschaft und nicht zuletzt in der alten Konservativen Partei überwogen die Anhänger der Monarchie. Zum großen Teil folgten diese Herzensmonarchisten dem Beispiel Hindenburgs, blieben im Amt und sorgten für ein hohes Maß an Kontinuität zwischen Kaiserreich und Republik. Graf Westarps Verhalten war eher die Ausnahme. Der ehemalige Vorsitzende der Konservativen Partei schied noch 1918 aus dem Dienst aus, weil er nicht Beamter der Republik sein wollte. Er blieb dem Haus Hohenzollern mit Treuevorstellungen verbunden, die man getrost „vormodern“ nennen kann. Passend dazu sprach sich Westarp klar gegen den Namen „Volkspartei“ aus, als es um die Frage ging, unter welchem Namen sich die Konservativen neu formieren wollten. Jede Idee von Volkssouveränität blieb ihm völlig fremd. Konsequenterweise löste er innerhalb der neuen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) die alte Konservative Partei nicht auf, sondern hielt sie weiter am Leben. So existierten östlich der Elbe die Ortsvereine der Konservativen Partei neben denen der DNVP weiter. Mit seiner klaren kaisertreuen Haltung entwickelte sich Graf Westarp zum entscheidenden Katalysator einer Position, die in der Novemberrevolution vor allem einen Verrat an Kaiser und Reich sah. Nach einer außerordentlich kurzen Phase der Unsicherheit und des Rückzugs begann sich Westarp Anfang 1919 intensiv mit den

33 Erzberger: Erlebnisse im Weltkrieg, 1920, (wie Anm. 4), hier 324.

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Umständen der Abdankung des Kaisers und seines Übertritts in die Niederlande zu beschäftigen. Er sammelte Augenzeugenmaterial der unmittelbar beteiligten Offiziere mit dem Ziel, die Vorgänge aufzuklären, die zur Abdankung Wilhelms II. geführt hatten. Bereits am 5. Januar 1919 publizierte er in der „Kreuzzeitung“ einen Artikel, in dem er behauptete, der Zerfall des Heeres habe begonnen, als man ihm den obersten Kriegsherrn genommen habe. Die Verantwortung für die Abdankung des Königs von Preußen trage allein der damalige Reichskanzler Prinz Max v. Baden, der den Kaiser durch eine gefälschte Urkunde abgesetzt und damit unnötig nachgegeben habe.34 In der Folge entspann sich in der „Kreuzzeitung“ eine nur mit Mühe gezähmte Debatte zwischen verschiedenen Generälen, die sich beschuldigten, gegenüber der Revolution zu nachgiebig gewesen zu sein. Vor allem Groener wehrte sich scharf gegen die Bezeichnung „Revolutionsgeneral“.35 Am 20. März 1919 spitzte Graf Westarp „ohne Rücksicht auf die Pistole des Prinzen Max“ seine Vorwürfe in einem Artikel über „Die gefälschte Abdankungsurkunde vom 9. November“ zu. Die gefälschte Abdankungsurkunde sei für den vollständigen Zusammenbruch der Ordnung im Reich und die Auflösung des Heeres verantwortlich. Der Kaiser sei von seinem ersten politischen Ratgeber und Vetter verraten worden.36 Im Lauf des Jahres 1919 wurden Hintergründe und Verantwortlichkeiten für die Abdankung des Kaisers immer mehr zu einer wichtigen Frage, mit der sich insbesondere auch die Spitze des Offizierskorps beschäftigte. Unter den Generälen kursierte eine Denkschrift über die Ereignisse am 9. November 1918 in Spa, die der Chef der Heeresgruppe Kronprinz, Graf Schulenburg am 7. Dezember 1918 und damit sehr zeitnah zu den geschilderten Begebenheiten verfasst hatte. Schulenburg schrieb darin, er selbst habe gefordert, den Kampf gegen die revolutionäre Heimat mit Bombenflugzeugen, Gas und Flammenwerfern aufzunehmen. Während in Spa noch beraten worden sei, sei die Abdankung in Berlin durch Prinz Max verkündet worden. Aber nicht nur Prinz Max wurde kritisiert. Die Aufzeichnungen Schulenburgs vermittelten den Eindruck, dass der sich sträubende Kaiser von Groener und Hindenburg regelrecht in den Zug nach Holland hinein komplimentiert worden sei. Hindenburg erschien einerseits als massiv beteiligt, andererseits aber „als ein verbissen im Hintergrund agierender Intrigant, dem es gegen erhebliche Widerstände gelang, die eigene Person gegen Kritik zu immunisieren.“37 Offenbar war Hindenburgs Verhalten bereits am 9. November stark durch geschichtspolitische Erwägungen geprägt. Er hatte einerseits eine klare Vorstellung vom politisch Notwendigen, wollte andererseits aber persönlich mit den Entschei-

34 Boris Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933 (Schriften des Bundesarchivs 61), Düsseldorf 2003, hier 310. 35 Ebenda, 310. 36 Ebenda, 310. 37 Ebenda, 309.

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dungen keinesfalls in Verbindung gebracht werden, um vor der Geschichte eine „weiße Weste“ zu behalten. Darauf hat Wolfram Pyta überzeugend hingewiesen. Tatsächlich hatte Hindenburg alle Vorbereitungen für ein wenigstens vorübergehendes Exil des Kaisers in den Niederlanden treffen lassen. „Hindenburg war die treibende Kraft bei einem Schritt, der wie kein zweiter das Ansehen der Hohenzollernmonarchie ruinierte und zumindest den letzten Träger der preußischen Krone so diskreditierte, daß Wilhelm II. selbst bei vielen Ultramonarchisten Persona non grata wurde.“38 Eine Abschrift der Schulenburgschen Denkschrift war bereits kurz nach ihrer Fertigstellung der „Kreuzzeitung“ zugespielt worden, zum Gegenstand öffentlicher Debatten wurde sie, als das USPD-Organ „Freiheit“ sie Anfang April 1919 publizierte. Hindenburg reagierte sofort mit einer scharfen Entgegnung in der „Kreuzzeitung“ und suchte „mit Hilfe des Grafen Westarp den geschichtspolitischen Sprengstoff zu entschärfen, den mögliche Enthüllungen über sein tatsächliches Verhalten am 9. November zutage fördern konnten.“39 Nach intensivem Bemühen und dank der Vermittlung des Grafen Westarp gelang es Hindenburg, ein Protokoll der Ereignisse am 9. November zu formulieren, dem schließlich auch Schulenburg, General Ulrich Freiherr v. Marschall und Generalfeldmarschall Hans von Plessen ihre Zustimmung gaben, obwohl sie die Dinge ursprünglich völlig anders dargestellt hatten. Am 27. Juli 1919 wurde dieses Protokoll in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht. Wer dieses Protokoll las, „mußte Hindenburg von jeder herausgehobenen Verantwortung für den gerade Monarchisten tief verstörenden Übertritt des Kaisers in die Niederlande freisprechen. Demnach hatten der illoyale Prinz Max von Baden und die revolutionäre Verseuchung von Heimat und Heer dem Kaiser diesen Schritt aufgezwungen. Dieser stand am 9. November 1918 ‚unter dem niederschmetternden Eindruck, daß ihn der erste Ratgeber der Krone, der Reichskanzler, preisgegeben hätte, daß Heer und Marine ihn verlassen hatten und daß ihm der Weg in die Heimat und zur Front verschlossen war‘.“40 Der Kaiser selbst bedrängte Hindenburg ohne jeden Erfolg, zumindest einen Teil der Verantwortung zu übernehmen. Schließlich veröffentlichte Wilhelm II. 1922 seine Erinnerungen, in denen er ohne Namensnennung, aber in der Sache unmissverständlich Hindenburg mit in die Verantwortung nahm: „Nach unendlich schweren Seelenkämpfen habe ich auf dringendstes Anraten meiner zurzeit anwesenden höchsten verantwortlichen Ratgeber den Entschluß gefaßt, außer Landes zu gehen, weil ich auf Grund der mir gemachten Meldungen glauben mußte, dadurch Deutschland am treuesten zu dienen, ihm günstigere Waffenstillstands- und Friedensbedingungen zu ermöglichen und ihm weitere Menschenverluste, den Bürgerkrieg, Not und

38 Wolfram Pyta: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, hier 372. 39 Ebenda, 415. 40 Ebenda, 423f.

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Elend zu ersparen.“41 Dieser Hinweis wurde nun jedoch bis weit ins nationalliberale Milieu hinein als „billige Ausrede“ wahrgenommen, „hinter der sich Wilhelm II. verschanzte, um davon abzulenken, dass er das deutsche Volk im Stich gelassen und es versäumt habe, für sein vermeintliches Recht zu streiten.“42 Hindenburg war es trotz einer intensiven Debatte in monarchistischen Kreisen über die Umstände der Abdankung und des Übertritts in die Niederlande am 9. November 1918 gelungen, seine eigene Rolle so in der öffentlichen Meinung festzuschreiben, wie es seinen eigenen Interessen entsprach. „Dieser Erfolg seiner ausgeklügelten geschichtspolitischen Strategie“, vermutete Wolfram Pyta, „dürfte ihn zur Nachahmung ermuntert haben. Es ist jedenfalls frappierend, wie es dem durch die Übernahme der Reichspräsidentschaft zusätzlich geadelten Hindenburg von 1925 an glückte, seine Werturteile über die historisch besonders sensiblen Kapitel des Ersten Weltkrieges in durchaus seriöse Publikationen einfließen zu lassen.“43 Das Ausmaß, in dem während der zwanziger Jahre über die Verantwortung für die Abdankung des Kaisers gestritten wurde, war ein deutliches Zeichen dafür, dass die Monarchie in bestimmten Kreisen nach wie vor glühende Anhänger hatte. Die Deutung des Revolutionsgeschehens als Verrat an Kaiser und Reich kam denen entgegen, die danach strebten, zum status quo ante, zu konservativen moralischen Codes im Alltagsleben und zu konventionellen patriarchalischen Verhältnissen zurückzukehren. Man darf zwar mit dem britischen Historiker Richard Bessel durchaus bezweifeln, ob die „gute alte Zeit“ jemals existiert hat, es sei denn in den Vorstellungen mancher Zeitgenossen von 1918/1944 – aber darauf kommt es nicht an; Geschichtsbilder entfalten ihre Kraft unabhängig von deren Realitätsgehalt. Je weniger Faszinationskraft von der Wirklichkeit der neuen Republik ausging, desto attraktiver erschien die Vorstellung von der heilen Welt des Kaiserreichs. Thomas Manns 1918 veröffentlichte „Betrachtungen eines Unpolitischen“, in denen er das monarchische Deutschland um der unpolitischen, bürgerlich-künstlerischen Freiheit willen verteidigte, erreichten in den Jahren der Weimarer Republik zwanzig Auflagen.45 Im unmittelbar politischen Raum setzte sich der monarchische Gedanke rasch innerhalb der DNVP durch. Noch im Frühjahr 1919 war Graf Westarp mit seiner Position in der Minderheit gewesen. Auf dem Parteitag der DNVP am 12. Juli 1919 gab es dann heftige Auseinandersetzungen über das Verhältnis der Partei zur Monarchie. Einzelne Delegierte plädierten dafür, aktiv am Wiederaufbau des Reiches teilzuneh-

41 Kaiser Wilhelm II.: Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918, Leipzig/Berlin 1922, hier 246. 42 Pyta: Hindenburg, 2007, (wie Anm. 38), hier 428. 43 Ebenda, 424. 44 Richard Bessel: Germany after the First World War, Oxford 1993, hier 222f. 45 Walter Bussmann: Politische Ideologien zwischen Monarchie und Weimarer Republik. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift (HZ) 190 (1960), S. 55–77, hier 56.

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men. Daraufhin bezeichnete Axel von Freytagh-Loringhoven die Monarchie als die einzig mögliche Staatsform für das Reich und nannte unter stürmischem Beifall der Delegierten den neuen Staat eine „gottverdammte und gottverfluchte Republik“, deren Verfassung man ablehnen müsse. Nach ihrer Programmrevision von 1920 bekannte sich die DNVP als Ganze offen zur Monarchie.46 Unabhängig vom Streit über die Verantwortlichkeiten im unmittelbaren Umfeld des Kaisers nahmen die monarchistischen Kreise auch bald wieder ihre eigentlichen politischen Gegenspieler ins Visier und sorgten damit für klarere Fronten in den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen. So machte Graf Westarp, der bis dahin Prinz Max v. Baden als den eigentlich Schuldigen herausgestellt hatte, zum ersten Jahrestag des 9. November vor allem die Sozialdemokratie für den Verrat am Monarchen verantwortlich. Seit dem 4. August 1914 habe die internationale Sozialdemokratie ihr Ziel, an die Stelle der Monarchie die sozialdemokratische Klassenherrschaft zu setzten, im Auge gehabt. Am 9. November 1918 sei die Saat aufgegangen. Seit dem Frühjahr 1917 hätten sich auch Zentrum und Demokratie mit der Politik des „Verständigungswahns“ an die Sozialdemokratie gekettet.47 Die Revolution selbst deutete er als Verrat an Kaiser und Reich. In diesem Bild traf sich die Vorstellung der monarchistischen Kreise mit der Haltung der großen christlichen Kirchen. In beiden wurde die Revolution verurteilt und abgelehnt, sie wurde als Verstoß gegen die Pflicht gesehen, die jeder Untertan der gottgewollten Obrigkeit schuldig sei. Es hatte aus der Sicht der Kirchen keinerlei berechtigten Grund gegeben, die alte Obrigkeit zu stürzen. Mehr noch als den Katholiken fiel den Lutheranern der Zugang zu einem Staat außerordentlich schwer, der aus einem Umsturz hervorgegangen war. Nur äußerst langsam entstand die Bereitschaft, das lutherische Staatsdenken auf die Republik zu übertragen.48 Die Deutung der Revolution als Verrat an Kaiser und Reich wurde in der Zeit der Weimarer Republik nie zur dominierenden Interpretation, aber sie verschwand auch keineswegs im Lauf der Jahre – wie auch der Wunsch, eines Tages vielleicht doch wieder zur Monarchie zurückzukehren, östlich der Elbe und unter anderen altkonservativen Anhängern der Hohenzollern lebendig blieb. Der Erfolg der 1928 erschienenen Monografie „Kaiser und Revolution“ von Alfred Niemann,49 die den Kaiser in jeder Hinsicht verteidigte, illustriert die Virulenz dieser Frage bis in die Schlussphase der Republik. Der „Verrat am Kaiser“ blieb in bestimmten Kreisen ein wunder Punkt. Das zeigt beispielhaft auch die Tatsache, auf welche Weise sich das „Stuttgarter Neue Tagblatt“ zehn Jahre nach der Revolution mit den Novemberereignissen beschäftigte. Das Blatt druckte zwei Artikel. Der eine stammte von Generalleutnant a.D. Ernst

46 Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 317. 47 Ebenda, 310. 48 Kurt Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Göttingen 1981, hier 291. 49 Alfred Niemann: Kaiser und Revolution, 2. Aufl., Berlin 1928.

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Kabisch: „Zum Gedächtnis des großen Krieges. Der 9. November 1918 in Spa – Erlebtes“. Der andere widmete sich der Frage, „Wie Wilhelm II. das Heer verließ“.50 Wie sehr sich die politisch Verantwortlichen im Hinblick auf die Revolution unter Druck sahen, zeigten auch die 1923 erschienenen Erinnerungen Friedrich v. Payers, im Herbst 1918 Stellvertreter des Reichskanzlers Max v. Baden. Payer war ein württembergischer Liberaler, der seit den späten Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts den Wahlkreis Tübingen-Reutlingen im Reichstag vertreten und 1909 die Fortschrittliche Volkspartei mit ins Leben gerufen hatte. In seinen Erinnerungen unterstrich Payer, dass die Regierung am 9. November der Revolution schutzlos ausgeliefert gewesen sei. „Auf wen sollten wir uns denn bei einer polizeilichen oder militärischen Aktion zu deren pflichtgemäßer Unterdrückung stützen? Auf die Marine? Sie war der Kernpunkt der Revolution, keiner der Vorgesetzten hatte etwas mehr zu sagen. Auf das Militär? Von überall her kamen die Meldungen über die Bildung von Soldatenräten im Heere, vom Verschwinden oder vom passiven Verhalten der Offiziere oder von deren gewaltsamer Absetzung, gelegentlich auch Misshandlung. […] Es war, unter dem Gesichtspunkt der Disziplin betrachtet, schon eine günstige Nachricht, wenn es nur hieß, die Truppen seien noch treu, erklärten aber, unter keinen Umständen gegen ihre Volksgenossen kämpfen zu wollen.“51 Die umfangreiche Rechtfertigung weist bereits darauf hin, dass die öffentliche Meinung im bürgerlichen und nationalen Lager sich inzwischen deutlich verändert hatte. Payer sprach dies mit ironischem Unterton auch direkt an. „Seither sind nun bald fünf Jahre vergangen. Königstreue, starke oder wenigstens selbstbewußte Männer, die damals nicht dazu kamen, die Monarchie selbst zu retten, versuchen jetzt den Nachweis, daß die Revolution keineswegs die unausbleibliche Folge des militärischen, außenpolitischen und seelischen Zusammenbruchs gewesen, sondern künstlich im Kriegskabinett aus dem Haß gegen das Bestehende von den Mehrheitsparteien unter Führung von Erzberger, Scheidemann und mir herbeigeführt worden oder von diesen wenigstens zu vertreten sei. Mich muten derartige Beschuldigungen, in denen unser Einfluß auf die Dinge wirklich überschätzt wird, immer etwas komisch an.“52 Neben der Frage, ob die Revolution zu verhindern gewesen wäre, stellte Payer die Abdankung des Kaisers in den Mittelpunkt seines Berichts über die Revolutionszeit. Er berichtete von seiner Erfahrung, dass auch Bevölkerungskreise entschieden den Rücktritt des Kaisers gefordert hätten, an deren ausgesprochen monarchischer Gesinnung kein Zweifel bestanden habe – „aus dem Wunsch heraus, unser Volk vor erschwerten Bedingungen unserer Gegner durch das Opfer eines Einzelnen, nicht 50 Stuttgart Neues Tagblatt 85 (1928) (9.11.1928). 51 Friedrich Payer: Von Bethmann Hollweg bis Ebert. Erinnerungen und Bilder, Frankfurt am Main 1923, hier 160. 52 Ebenda, 168f.

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Schuldlosen zu retten, meist wohl auch in der Absicht, durch den Rücktritt des nicht mehr zu haltenden Monarchen die Monarchie zu erhalten“.53 Der nach wie vor schwelende Vorwurf des Verrats am Monarchen kann auch die bemerkenswerte Ausführlichkeit erklären, mit der Philipp Scheidemann sich 1928 in seinen Memoiren der Abdankung des Kaisers widmete. Für ihn hatte sich aus der dritten Wilsonnote zweifelsfrei ergeben: „Die Tage Wilhelms II. als Kaiser waren gezählt.“ Als Kronzeugen zitierte Scheidemann Wilhelm Heinrich Solf, den Staatssekretär des Auswärtigen Amts, der erklärt habe: „Aus vielen Umständen ergebe sich das Resultat, daß man allgemein die Abdankung des Kaisers erwarte. Man verlange offenbar, daß ein weithin sichtbar gewesenes Symbol des deutschen Militarismus falle.“ Schließlich habe auch der Vetter des Kanzlers, Fürst Ernst zu HohenloheLangenburg, dem Kanzler telegraphiert, „man deute in der Schweiz die Wilsonnote nur dahin, ‚daß der einzige Weg zu einigermaßen erträglichem Frieden über den Rücktritt des Kaisers führe‘.“54 Vizekanzler Payer, so Scheidemann weiter, habe gegenüber dem Kanzler erklärt: „‚Die allerwildesten Kaiserstürzler sind die rechtsstehenden Leute. Die Herren der Hochfinanz und der Großindustrie, ja bis hoch in die Offizierskreise hinein kann man mit einer erstaunlichen Offenherzigkeit sagen hören: Der Kaiser muß sofort zurücktreten … Je länger die Hetze fortdauert, desto stärker wird die Forderung hervortreten, daß man überhaupt keine Monarchie mehr brauchte, sondern eine Republik errichten sollte.‘“55 Offensichtlich war Scheidemann sehr daran interessiert, die Sozialdemokraten von jedem Verdacht und Vorwurf freizusprechen, sie seien die treibende Kraft bei der am 9. November veröffentlichten Abdankungserklärung gewesen. Ebenso nützlich erschien es ihm im Abstand von zehn Jahren offenbar, seine eigene Ausrufung der Republik am 9. November als schlichten Vollzug eines allgemein und insbesondere in rechtsorientierten Kreisen virulenten Wunsches darzustellen. Die Deutung der Revolution 1918/19 als Verrat an Kaiser und Reich war 1928 nicht vorherrschend, aber offenbar doch so geschichtsmächtig, dass sie einen Sozialdemokraten wie Philipp Scheidemann in eine Verteidigungsposition zwang.

Dolchstoß in den Rücken des Heeres Die Deutung der Revolution als „Dolchstoß in den Rücken des Heeres“ war mehr als zwei Jahrzehnte die einflussreichste Interpretation des Geschehens. Sie trat allein auf, war aber auch nicht selten mit der Deutung der Revolution als „Verrat an Kaiser und Reich“, als „Verrat am Vaterland“ oder als „Nationales Unglück“ verbunden.

53 Ebenda, 150. 54 Philipp Scheidemann: Memoiren eines Sozialdemokraten, Dresden 1928, hier 242. 55 Ebenda, 256.

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Die Dolchstoßthese darf durchaus als der kleinste gemeinsame Nenner verstanden werden, auf den sich die im weitesten Sinn nationalen, völkischen und konservativen Milieus verständigen konnten. Ihr bedeutsamster Ausgangspunkt lag bei der militärischen Führung, die bereits Anfang Oktober 1918 jede Verantwortung für den Kriegsausgang von sich gewiesen hatte. General Ludendorff hatte am 1. Oktober vor einem kleinen Kreis von Offizieren eine in höchstem Maße alarmierende und deprimierende Ansprache gehalten, wie Generalmajor Albrecht von Thaer in seinem Tagebuch festhielt: „Die OHL und das deutsche Heer seien am Ende; der Krieg sei nicht nur nicht mehr zu gewinnen, vielmehr stehe die endgültige Niederlage wohl unvermeidlich bevor. Bulgarien sei abgefallen, Österreich und die Türkei, am Ende der Kräfte, würden schon bald folgen. Unsere eigene Armee sei leider schon schwer verseucht durch das Gift spartakistisch-sozialistischer Ideen. Auf die Truppen sei kein Verlaß mehr. […] Hertling sei zurückgetreten. ‚Zur Zeit haben wir also keinen Kanzler. Wer es wird, steht noch aus. Ich habe aber S.M. gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, dass wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muß. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben.‘“56 Bereits die Umbildung der Regierung im Oktober brachte also diejenigen Kräfte mit an die Regierung, die in Ludendorffs Augen für die Kriegsniederlage verantwortlich waren: Sozialdemokraten und bürgerliche Demokraten. Für die Konservativen war schon die Einführung des parlamentarischen Systems im Oktober eine Art Dolchstoß. Auf entsprechende Propaganda reagierend, warf Theodor Wolff am 28. Oktober im Berliner Tageblatt der „Kriegsmacherpresse“ vor, sie erzähle den Truppen, dass man ihnen verräterisch in den Rücken gefallen sei.57 Die erste Verwendung des Begriffes „Dolchstoß“ ist für den 2. November 1918 gesichert nachgewiesen. Der Reichstagsabgeordnete der Fortschrittspartei Ernst MüllerMeiningen appellierte an diesem Tag an eine Versammlung: „Solange die äußere Front hält, haben wir die verdammte Pflicht zum Aushalten in der Heimat. Wir müssten uns vor unseren Kindern und Kindeskindern schämen, wenn wir der Front in den Rücken fielen und ihr den Dolchstoß versetzten.“58 Sachlich ähnliche Vorhaltungen finden sich in variierenden Formulierungen in zahlreichen Presseberich-

56 Zit. nach: Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 79. 57 Vgl. Annelise Thimme: Flucht in den Mythos. Die Deutschnationale Volkspartei und die Niederlage von 1918, Göttingen 1969, hier 78f. 58 Ernst Müller (Meiningen): Aus Bayerns schwersten Tagen. Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit, 2. Aufl., Berlin 1924, hier 27, zit. nach: Friedrich Freiherr Hiller v. Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten. Geschichte und Gegenwartsbewusstsein. Festschrift für Hans Rothfels zum 70. Geburtstag, Göttingen 1963, S. 122–160, hier 124.

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ten, Briefen und Tagebucheintragungen. Noch vor dem Beginn der Revolution war damit der Kern der nationalen und nationalistischen Revolutionsdeutung entwickelt: Die Revolution fiel dem deutschen Heer in den Rücken, war Ursache der Niederlage im Krieg. Zahllose Belege zeigen, wie weit diese Deutung bereits 1918 um sich griff. Beispielsweise hat Major Graf zu Eulenburg als Regimentskommandeur am Tag des Waffenstillstands eine Ansprache gehalten – die Rede wurde auf Wunsch einiger Offiziere noch am 11. November in einem Diktat festgehalten und danach dem Offizierskorps vervielfältigt überreicht. Darin hieß es: „Diesen Augenblick, wo der Feind uns vorn an der Gurgel saß benutzten Verräter in der Heimat, von selbstsüchtigen Verführern aufgehetzt, um uns das Messer in den Rücken zu stoßen.“59 Am 3. Dezember behauptete ein Leitartikel in der „Deutschen Zeitung“, man habe den Sieg in sicheren Händen gehabt, doch sei „uns“ die Heimat in den Rücken gefallen. Am 8. Dezember führte das national orientiere Blatt aus: „Die Revolution hat der Front das Rückgrat gebrochen. Kein Feldherr konnte weiter Krieg führen, wenn das revolutionäre Chaos jede Zufuhr an Munition und Lebensmitteln verhinderte.“60 In der „Kreuzzeitung“ war zur Jahreswende am 31.12.1918 zu lesen, die Revolution habe alles genommen, worauf „wir“ stolz waren. „Was die Feinde in jahrelangem Ringen nicht geschafft haben, haben wir selber uns angetan. Unseren kämpfenden Truppen haben wir den Dolch in den Rücken gestoßen.“61 Neben Offizierskorps und politischem Nationalismus war auch der Nationalprotestantismus eine Quelle der Dolchstoßthese. Der Nationalprotestantismus hatte wesentlich dazu beigetragen, dem Krieg eine geradezu heilsgeschichtliche Bedeutung für die Deutschen und ihr Reich zuzuschreiben. In zuvor nie gekanntem Ausmaß hatten sich die Deutschen zu Kriegsbeginn im August 1914 zu Kaiser und Vaterland bekannt, dieses nationale Bekenntnis schien das Volk über alle Klassenunterschiede, Standesgrenzen und Interessengegensätze hinweg zu einen. Innerhalb der evangelischen Landeskirchen wurde dieses so genannte „Augusterlebnis“ vielfach mystisch überhöht und mit religiösem Pathos versehen. „1914 identifizierte sich der lutherische Protestantismus enthusiastisch mit dem Vaterland […] Der Hohenzollernstaat wurde als Beginn einer nationalen Heilsgeschichte betrachtet. Das Augusterlebnis schien die Reichsgründung zu überstrahlen, und der Weltkrieg wurde zu dem Höhepunkt, in dem sich die deutsche Geschichte vollenden sollte.“62 Dieser theologischen Überhöhung des Krieges entsprachen die kirchlichen Reaktionen im Herbst 1918: Eine „reguläre“ militärische Niederlage schien angesichts der zuvor als göttliche Fügung proklamierten nationalen Heilsgeschichte völlig undenk-

59 Zit. nach: Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten, 1963, (wie Anm. 58), hier 126. 60 Zit. nach: Wulle: Im Zeichen der Revolution, (o.J. – Vorwort 1919), (wie Anm. 9), hier 120. 61 Zit. nach: Thimme: Flucht in den Mythos, 1969, (wie Anm. 57), hier 88. 62 Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 150.

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bar. Am 6. Oktober predigte Pfarrer Wilhelm Fresenius, der später in der Bekennenden Kirche aktiv sein sollte, dass es ihm noch nie so schwer geworden sei, die Kanzel zu besteigen. Leute, „die sich Deutsche zu nennen wagen“, seien am Werk, Unordnung hervorzurufen, um Vorteile für sich und ihre Partei herauszuschlagen. Am 20. Oktober schrieb die Evangelische Kirchenzeitung, das erschütternde Ereignis der vergangenen Tage sei ein Zusammenbruch hinter der Front, nicht der Heldenfront. Die Heimat habe nicht durchgehalten.63 Gemeint waren Regierungsumbildung und Oktoberreformen. Sieben Tage später bezeichnete das Blatt die Politik der Regierung Max v. Baden als „organisierten Landesverrat“. Am 10. November erklärte der spätere mecklenburgische Landesbischof Gerhard Tolzien, dass „wir“ planmäßig das Heer zermürbt, den Sieg den Feinden in die Hände gespielt und uns selbst verraten hätten. „Wir schicken die Türhüter fort und fangen an, im Hause das Unterste zuoberst zu kehren, in der Stunde, wo die Feinde es uns anzünden wollen. Wir machen unsere Wehr wehrlos, da sie des Untergangs sich erwehren musste.“64 Boris Barth kam bei seiner Untersuchung der Dolchstoßlegenden zu dem Ergebnis, dass unabhängig von den Äußerungen der militärischen Führer die evangelischen Theologen eine wesentliche Rolle bei der Entstehung und Verbreitung der Dolchstoßlegende spielten: „Zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise hatten die Kirchenleitungen einen Verlust des Krieges auch nur vage in betracht gezogen, so dass sie im Herbst 1918 mit einem Vorgang konfrontiert wurden, den sie zuvor vollständig aus ihrem religiösen Weltbild ausgeschlossen hatten und der nur durch Verrat erklärbar wurde.“65 Kriegstheologen wie Bruno Doehring waren der festen Überzeugung, dass das deutsche Volk nicht gehalten hatte, was es 1914 zu versprechen schien. Doehring predigte am Neujahrstag 1919, dass eine deutsche Niederlage niemals durch die militärische Überlegenheit der Gegner, sondern nur durch das religiöse Versagen der Heimat möglich war. Falsche Propheten waren für ihn Sozialisten, Liberale und Juden.66 Neben der Dolchstoßthese in ihrer harten Variante – die Revolution und das Versagen der Heimat seien verantwortlich für die Niederlage im Weltkrieg – gab es im Herbst 1918 auch bereits eine „weichere“ Variante: Der Krieg sei zwar nicht mehr zu gewinnen gewesen, aber die Revolution und das Versagen der Heimat hätten dem Heer ein letztes Druckmittel aus der Hand geschlagen, um bessere Waffenstillstandsund Friedensbedingungen zu erstreiten. Diese weichere Variante fand Anhänger bis weit ins national-liberale Bürgertum hinein. So hatte es beispielsweise auch Max

63 Vgl. ebenda, 169f. 64 Vgl. Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 1981, (wie Anm. 48), hier 54, Wilhelm Pressel: Die Kriegspredigt 1914–1918 in der evangelischen Kirche Deutschlands, Göttingen 1967, hier 299 sowie Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 169. 65 Ebenda, 171. 66 Vgl. Pressel: Die Kriegspredigt 1914–1918 in der evangelischen Kirche Deutschlands, 1967, (wie Anm. 64), hier 300ff.

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Weber für politisch notwendig gehalten „die Möglichkeit eines letzten verzweifelten nationalen Widerstandes“ wenigstens potentiell, als Karte im Spiel der Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen, offen zu halten. Das aber habe die Revolution vereitelt, „weil sie zur unverzüglichen Auflösung des deutschen Heeres geführt hatte und mit dem Ruf nach Frieden um jeden Preis auch innerlich die Wiederaufnahme des Kampfes unmöglich gemacht hatte“. Bei Vorträgen in Wiesbaden und Berlin erklärte Weber öffentlich, die Revolution habe Deutschland die Waffen aus der Hand geschlagen und damit die Ausschaltung des US-Präsidenten Wilson als Weltfriedensrichter bewirkt. Insofern sei es „die schwere Schuld der Revolution, Deutschland vollkommen der Fremdherrschaft ausgeliefert zu haben.“67 Gustav Stresemann schrieb am 17. November 1918, dass die Front bis zum letzten Augenblick gekämpft, die Heimat aber zusammengebrochen sei. Das Stereotyp, die Heimat sei der bis zuletzt kämpfenden Front in den Rücken gefallen oder habe sie im Stich gelassen, entstand so auch auf eine eigene Weise im bildungsbürgerlichen Milieu, unabhängig von der Sichtweise der Militärs.68 Gestützt wurde die Dolchstoßthese auch durch die vielfach gebrauchten – und nur scheinbar harmloseren – Formulierungen, die deutschen Soldaten kehrten „vom Feinde unbezwungen“ nach Hause. So wurde am 8. Dezember 1918 in allen katholischen Kirchen in Deutschland ein „Willkommensgruß an unsere tapferen Krieger“ verlesen, in dem es hieß: „Ihr kehrt heim. Nicht als Besiegte! Mehr als vier Jahre hindurch, auf hundert Schlachtfeldern und in tausend Kämpfen habt ihr eure Treue gegen das Vaterland und eure Tapferkeit gegenüber einer Welt von Feinden glorreich bewiesen. […] Euer Heldenschild ist blank, eure Ehre unversehrt; kommende Geschlechter werden eure Taten und eure Tapferkeit verherrlichen.“69 Indirekt beteiligt an Entstehung und Verbreitung von Dolchstoßlegenden waren durch ähnliche Formulierungen durchaus auch Repräsentanten der neuen Republik. Mitte November erließ beispielsweise der Preußische Kriegsminister eine Instruktion für ein festliches Willkommen für die heimkehrenden Soldaten. Darin hielt er fest, die feldgrauen Helden kehrten „unbesiegt“ in die Heimat zurück, nachdem sie vier Jahre lang den Heimatboden vor den Schrecken des Krieges bewahrt hätten. In Düsseldorf wurden Soldaten mit Transparenten begrüßt, auf denen stand: „Ihr seid unbesiegt“.70 In Berlin begann der feierliche Einzug der Fronttruppen am 10. Dezember und zog sich bis zum 22. Dezember hin. Zum Auftakt wurden am 10. Dezember vor dem Brandenburger Tor mehrere Reden gehalten. Friedrich Ebert wandte sich in direkter

67 Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik. 1890–1920, Tübingen 1959, hier 293. Mommsen verweist auf Wiesbadener Tagblatt Nr. 570 (6.12.1918) und auf Vossische Zeitung Nr. 653 (22.12.1918). 68 Vgl. Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 149. 69 Zit. nach: Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 218. 70 Vgl. ebenda, 212f.

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Ansprache an die Truppen: „Seid willkommen von ganzem Herzen, Kameraden, Genossen, Bürger. Kein Feind hat euch überwunden. Erst als die Übermacht der Gegner an Menschen und Material immer drückender wurde, haben wir den Kampf aufgegeben. Und gerade eurem Heldentum gegenüber war es Pflicht, nicht noch zwecklose Opfer von euch zu fordern […] Erhobenen Hauptes könnt ihr zurückkehren.“ Noch am selben Tag erschien in der „Neuen Preußischen Zeitung“ eine tendenziöse Wiedergabe dieser Sätze Eberts, die die Dolchstoßthese zu bestätigen schien. Die Sätze Eberts sind viel zitiert und intensiv untersucht worden. Annelise Thimme hielt es für denkbar, dass bei Ebert neben taktischen Gründen im Hinblick auf die OHL und neben einer sehr ritterlichen, letztlich unpolitischen Geste an die Soldaten auch persönliche Gründe eine Rolle gespielt haben könnten. Ebert hatte zwei Söhne im Krieg verloren und begrüßte in den Soldaten deren Kameraden.71 Für Klaus Hildebrand blieb allerdings eine „nicht ausgeräumte Uneindeutigkeit“,72 während Boris Barth betonte, es sei „unwahrscheinlich, dass Ebert in dieser spezifischen Situation die fatale Wirkung seiner Rede voraussehen konnte.“73 Am 18. Dezember begrüßte der preußische Kriegsminister Scheuch die 5. Infanteriedivision mit den Worten: „Mit dem Willen zum Sieg in den Krieg gezogen, kehrt ihr, wenn wir auch von einer nie gesehenen Übermacht erdrückt wurden, doch als unbestrittene Sieger von der Wahlstatt zurück.“74 In diesen Zusammenhängen ist zwar nicht von einem „Dolchstoß“ die Rede, aber die Schlussfolgerung ist nahe liegend, dass dem vom Feind „unbesiegt“ oder gar als „unbestrittener Sieger“ heimkehrenden Heer seine Niederlage durch die Heimat bzw. die Revolution zugefügt worden sein musste. Insofern trug der Topos, die Armee sei im Feld nicht besiegt worden, stets den Keim der Dolchstoßthese in sich. Er war am Kriegsende unabhängig von der politischen Grundhaltung – und vermutlich ohne Klarheit über seine Implikationen – weit verbreitet. Auch Soldatenräte verwendeten entsprechende Formulierungen.75 In den November- und Dezemberwochen wurden noch recht unterschiedliche sprachliche Varianten für die Darstellung des Sachverhaltes gebraucht. Das sehr plastische „Dolchstoß“-Bild fand erst massive Verbreitung in der Presse, nachdem es die „Neue Zürcher Zeitung“ als gewissermaßen unabhängige ausländische Instanz verwendet hatte. Mitte Dezember 1918 referierte sie zwei Aufsätze eines britischen Generals über die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs und schilderte die Beurteilung dieser Frage in der englischen Öffentlichkeit. Der Artikel des Schweizer

71 Thimme: Flucht in den Mythos, 1969, (wie Anm. 57), hier 69. 72 Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Stuttgart 1995, hier 397. 73 Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 215. 74 Zit. nach: Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten, 1963, (wie Anm. 58), hier 132. 75 Vgl. Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 217.

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Korrespondenten kam zu dem Schluss: „Was die deutsche Armee betrifft, so kann die allgemeine Ansicht in das Wort zusammengefasst werden: sie wurde von der Zivilbevölkerung von hinten erdolcht.“76 Das war für deutsche Leser kein neuer Gedanke, aber er klang als angebliches Urteil aus dem Mund der Kriegsgegner besonders glaubwürdig, und viele ähnlich Denkende fühlten sich dadurch bestärkt. Feldmarschall von Mackensens Anmerkung, diese Feststellung sei ihm „leider aus der Seele gesprochen“ war gewiss kein Einzelfall. Die Dolchstoßthese wurde in den verschiedenen Variationen, die nach und nach aufkamen, zentraler Bestandteil der Kampfideologie der extremen Rechten, sie war aber weit über den Kreis der kompromisslosen Gegner der Republik hinaus attraktiv, denn sie kam, wie Eberhard Kolb resümierte, „einem im bürgerlich konservativen Deutschland weit verbreiteten Bedürfnis entgegen, sich durch Selbsttäuschung den Konsequenzen der Katastrophe von 1918 zu entziehen, und sie konnte manchem politisch Uninformierten und Kurzsichtigen plausibel erscheinen, denn beim Abschluß des Waffenstillstandes standen die deutschen Truppen noch tief in Feindesland“.77 Selbst für politisch offenere und gut informierte militärische Führer erschien die These vom Dolchstoß in ihrer weicheren Variante durchaus plausibel. Der damalige Major im Generalstab Ludwig Beck schrieb am 28. November 1918 in einem Brief: „Im schwersten Augenblick des Krieges ist uns die – wie ich jetzt keinen Moment mehr zweifle – von langer Hand vorbereitete Revolution in den Rücken gefallen.“ Auch bei nüchterner Beurteilung der militärischen Lage war Beck der Überzeugung, dass ohne Revolution bessere Bedingungen für einen Waffenstillstand hätten erreicht werden können, wenn auch ein Sieg nicht mehr denkbar gewesen sei. „Aber eines hätten wir noch gekonnt, bei voller Mitarbeit der Heimat: uns auf einer kürzeren Linie – sei es Antwerpen-Metz oder Lüttich-Metz – erneut zum entscheidenden Widerstand stellen und erneut unseren Gegner vor die Wahl stellen, ob er gleich Frieden machen wollte oder den Krieg noch bis 1919 verlängern.“78 Es war von weit reichender psychologischer Bedeutung, dass der Krieg ohne die üblichen Begleiterscheinungen einer militärischen Katastrophe verloren wurde. Das Überlegenheitsgefühl gegenüber jedem der Gegner blieb erhalten. Dies galt jedenfalls für einen großen Teil des Offizierskorps und auch für die nationalen Kreise in der Heimat. In einer nicht veröffentlichten Aufzeichnung vom 1. Juni 1922 hielt General Groener über die Haltung der führenden Offiziere im Krieg fest: „Die meisten Generale … erkannten nicht die wahre strategische Lage, sie blieben hängen mit

76 Zit. nach: Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten, 1963, (wie Anm. 58), hier 127. 77 Eberhard Kolb: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 49), Köln 1972, S. 9–32, hier 12. 78 Zit. nach: Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten, 1963, (wie Anm. 58), hier 126.

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ihren Gedanken an den schönen Erfolgen auf den Kampffeldern, die ihre Truppen errungen hatten. […] So kam es, dass noch am 11. November die Einsicht bei vielen Generalen nicht vorhanden war, welche Folgen für das Heer und für die Heimat mit einer Fortsetzung des Widerstandes verbunden gewesen wären. Es kam ihnen nicht zum Bewusstsein, dass eine Ablehnung des Waffenstillstandes innerhalb ganz kurzer Zeit zu der größten Niederlage der Weltgeschichte geführt hätte und zwar zu einer rein militärischen Katastrophe in dem Raume zwischen Mosel, Rhein und der belgischen Grenze.“79 Hiller von Gaertringen kam 1963 im Rahmen seiner Beschäftigung mit der Dolchstoßthese zu der Überzeugung: „Es gab viele Menschen – ihre Zahl ist natürlich schwer genau zu bestimmen –, die den November 1918 in einer Weise erlebt hatten, dass ihnen die Charakterisierung der Revolution als ‚Dolchstoß‘ ‚aus der Seele gesprochen‘ war; mit solchem Erlebnis verbunden konnten viele die ‚Dolchstoß‘-These guten Glaubens vertreten und übernehmen. Dadurch wird unseres Erachtens die starke Wirkung der Legende besser erklärt als durch die verbreitete Vorstellung, es handele sich bei ihr allein um eine Erfindung politischer Spitzbuben.“80 Schon im Frühjahr 1919 hatte sich innerhalb der politischen Rechten und des nationalen Bürgertums die Vorstellung verbreitet und verfestigt, die Revolution sei ein Dolchstoß in den Rücken des kämpfenden Heeres gewesen. Dies veränderte, wie Ernst Troeltsch in seinen Spektatorbriefen feststellte, die gesamte politische Stimmung entscheidend: „Man schafft eine Legende, wonach Ludendorff das Reich noch habe retten können und wollen, aber die Revolution seine Absichten durchkreuzt und die internationale Sozialdemokratie dem Reiche den Genickfang mit Freuden gegeben habe. Alles Elend komme von der Revolution, die keine nationale Gesinnung und Moral habe und die sich der charakterlosen jüdischen Demokratie an den Hals werfe. Daß das alles Widersinn, Unwahrheit oder gar offenkundige Lüge ist, kümmert die Leute nicht.“81 Bereits für das Frühjahr 1919 finden sich auch innerhalb des nationalen Protestantismus zahlreiche Beispiele dafür, dass die Dolchstoßthese mit großer Vehemenz und selbst bei offiziellen Anlässen vertreten wurde. Otto Dibelius, der 1933 Hitlers Ernennung zum Reichskanzler begrüßen sollte und erst später den Weg in die Bekennende Kirche fand, predigte am 11. Mai 1919 in Berlin: „Ein Volk, das seinem eigenen Heere den Dolch in den Rücken gestoßen hat, ein Volk, das seine Brüder und Schwestern preisgegeben hat, um den Fremden in leichtsinnigem Vertrauen die Friedenshand hinzustrecken, ein Volk, das seine furchtbare Niederlage mit Streiks und Tanzvergnügen feiert […] ein solches Volk hat ein hartes

79 Zit. nach: Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 219. 80 Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten, 1963, (wie Anm. 58), hier 139. 81 Ernst Troeltsch: Links und Rechts. 20.2.1919, in: Ders.: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 (Die andere Bibliothek 109), Frankfurt am Main 1994, S. 21–27, hier 25.

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Gericht verdient von den Händen des gerechten Gottes.“ Noch 1927 schrieb Dibelius, dass „Mächte der Finsternis“ die Revolution verursacht hätten.82 Teile der Kirchenobrigkeit standen der DNVP sehr nahe. Besonders der Theologe Gottfried Traub verkörperte diese enge Verbindung. Traub hatte früher der Deutschen Fortschrittspartei angehört, war dann 1917 zur Deutschen Vaterlandspartei gewechselt. Im November 1918 hatte er sich an der Gründung der DNVP beteiligt und war in deren Vorstand gewählt worden. Traub hielt beim ersten Parteitag der DNVP am 12. Juli 1919 eine kämpferische Rede, die mit minutenlangem stürmischem Beifall bedacht wurde. Er zog darin eine Bilanz von Krieg und Revolution, in der er den Dolchstoß der Revolution für die Niederlage verantwortlich machte. Nur die Revolution habe „uns“ den Waffenstillstand und damit Versailles beschert.83 Gottfried Traubs Zugehörigkeit zum radikal-völkischen Flügel der DNVP hielt im Übrigen die DVP nicht von einer Zusammenarbeit mit ihm ab. Am 31. März 1919, dem Vorabend von Bismarcks Geburtstag, fand in der Weimarer Herderkirche eine vaterländische Gedenkfeier statt, bei der Gottfried Traub und Gustav Stresemann sprachen. Abschließend stimmte der Gesangverein „Arion“ eine – wie es hieß – „zeitgemäße“ Version des Deutschlandliedes an: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt! Deutschland, durch Verrat und Lüge, nicht durch Feindes Kraft gefällt! Von der Maas bis an die Memel einst dem Kaiser treu und Gott! Liegst Du wehrlos jetzt und ehrlos jedem Gegner leicht zu Spott. … Einigkeit und Recht und Freiheit, deutschen Glückes Unterpfand. Flohen vor Verrat und Lüge trauernd aus dem deutschen Land! Einigkeit und Recht und Freiheit kehren nimmer dir zurück, eh du nicht den Wurm zertreten, der zernagt dir Ehr und Glück!“84

Gottfried Traub war zum Zeitpunkt dieser Gedenkfeier Mitglied der Weimarer Nationalversammlung. Während des Kapp-Putsches 1920 wurde er für einige Tage Kultusminister der Putschistenregierung, floh nach dem Scheitern des Putsches nach Österreich, kam aber bereits Ende 1920 aufgrund des Amnestiegesetzes nach Deutschland zurück und wurde Chefredakteur der „München-Augsburger Abendzeitung“, die zum Konzern von Alfred Hugenberg gehörte. Die Metaphern dieser „zeitgemäßen“ Version des Deutschlandliedes waren geradezu eine Aufforderung zum harten Durchgreifen gegen den „Wurm“, der nationale Protestantismus gab offenbar dem Feldzug gegen die Revolutionäre seinen Segen. Die blutigsten Kämpfe mit der größten Zahl von Toten fanden jedenfalls im späten Frühjahr 1919 statt, als Reichswehr und Freikorps gegen Streikende und Aufständi82 Zit. nach: Joachim Petzold: Die Dolchstoßlegende. Eine Geschichtsfälschung im Dienst des deutschen Imperialismus und Militarismus, Berlin 1963, hier 58. 83 Zit. nach: Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 348. 84 Zit. nach: Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 220.

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sche im Ruhrgebiet, im mitteldeutschen Industrierevier, in Berlin und in München vorgingen. Boris Barth nannte als Erklärung für die „Orgie von Gewalt“, mit der die Reichswehr im Ruhrgebiet operierte: „Die Freikorps-Soldateska sah sich hier in subjektiver Perspektive dem ‚inneren Feind‘, der für die Niederlage im Weltkrieg ursächlich verantwortlich gemacht wurde, zum ersten Mal direkt gegenüber.“85 Anfang Mai 1919 lösten die Friedensbedingungen eine neue Welle der Empörung und der Erörterungen aus. Ernst Troeltsch notierte am 23. Mai, die ganze Legende käme wieder hoch, „dass nur die Flaumacher in der Heimat, die Juden und die Sozialdemokraten dem stolzen Heere das Rückgrat gebrochen hätten“.86 In den Wochen bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages erschien das Wort „Dolchstoß“ nun häufig, angesichts der drohenden Friedensbedingungen suchte die national orientierte Öffentlichkeit Schuldige und Sündenböcke. Bei der massiven Verbreitung der Dolchstoßlegende spielte insbesondere die Schrift des Obersten Max Bauer „Konnten wir den Krieg vermeiden, gewinnen, abbrechen?“ eine bedeutsame Rolle. Sie war in militärischen Kreisen schnell bekannt geworden. Bauer vertrat die Dolchstoßthese in einer ganzen Reihe von Publikationen besonders zugespitzt. Ihm ging es darum aufzeigen, dass Deutschland den Krieg hätte gewinnen können, aber dann doch der Schwäche seiner Regierung und dem verbrecherischen Treiben des Radikalismus erlegen sei. Bauers Darstellung war geprägt von massivem Antisemitismus. Es seien sozialistische Juden gewesen, die die Arbeiter zum Klassenhass angestachelt hätten. Phantasten, Narren und zielbewusste Verbrecher vor allem aus dem Judentum hätten die Revolution seit 1916 vorbereitet. In den Soldatenräten sah er Juden am Werk, die sich vor dem Frontdienst gedrückt und persönlich bereichert hätten.87 Gegen offensichtlich aus der Luft gegriffene und unwahre Behauptungen bezog Hans Delbrück Stellung. Darauf verlangte Bauer von der Philosophischen Fakultät Berlin, deren Ehrendoktor er seit 1915 war, eine Untersuchung, weil er sich in seiner Ehre gekränkt fühlte. Ein Ergebnis hat diese Untersuchung nicht erbracht, aber doch mit dazu beigetragen, Demokraten und Republikaner in die Defensive zu bringen. Bauers Publikationen trugen erheblich zur direkten und mittelbaren Beeinflussung der öffentlichen Meinung bei, waren ein wichtiger Faktor im Zusammenwirken innerhalb eines sich bildenden Netzwerks von Informations- und Desinformationsstrukturen. Weil ähnliche Äußerungen von vielen aus durchaus unterschiedlichen Milieus kamen, stützten sie wechselseitig ihre Glaubwürdigkeit.

85 Ebenda, 287. 86 Ernst Troeltsch: Die Aufnahme der Friedensbedingungen 23.5.1919, in: Ders.: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 (Die andere Bibliothek 109), Frankfurt am Main 1994, S. 43–47, hier 44. 87 Vgl. Oberst Max Bauer: Konnten wir den Krieg vermeiden, gewinnen, abbrechen? Drei Fragen, Berlin 1919; Oberst Max Bauer: Der große Krieg in Feld und Heimat. Erinnerungen und Betrachtungen, Tübingen 1921.

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Die Debatte über die Dolchstoßthese prägte jahrelang die politischen Auseinandersetzungen. Sie war – neben der Kriegsschuldfrage – die innenpolitische Streitfrage schlechthin, auch der Streit über die Charakterisierung der Revolution 1918/19 verlief in der Weimarer Republik maßgeblich entlang dieser Frage. Der junge Student Gustav Heinemann warf Ende 1919 in seinem Tagebuch die Frage auf: „Wird sich das deutsche Volk jemals über Ursprung, Einfluß u. Bedeutung der Revolution von 1918 klar u. einig werden? Heute scheint es noch nicht so! Furchtbar platzen die Meinungen aufeinander. Der alte Gegensatz: Die Heimat fiel der Front in den Rücken, wir konnten den Krieg nicht militärisch gewinnen – oder: wir waren zu schwach gegen die Übermacht wir hätten Gelegenheiten zur Verständigung benutzen sollen, wird hundertfach variiert immer wieder Kernpunkt des Streites. Ich hätte nicht übel Lust eine Geschichte des Neuen Deutschlands zu schreiben um meinerseits zur Überbrückung dieser Gegensätze beizutragen. Aber dazu bedarf es gründlicher Vorarbeit und Zeit! Vielleicht doch einmal!?!“88 Stimmen, die für ein Ende der Auseinandersetzungen über die Dolchstoßthese plädierten, hatten in den frühen Jahren der Republik keine Chance. Auch dann nicht, wenn sie aus industrienahen Kreisen kamen. Die „Deutsche Allgemeine Zeitung“, beispielsweise, sprach sich zum dritten Jahrestag der Novemberrevolution – ohne jeden Erfolg – für ein schnelles Ende des Streits aus: „Die Frage, ob das Wort von dem Dolchstoß von hinten den Tatsachen entspricht oder nicht, […] führt uns jetzt nicht weiter. Daß die andere Frage: wer die Schuld an unserm Unglück trägt, bei uns in der Weise erörtert wurde, wie es geschehen ist, hat unser Unglück nur noch schwerer gemacht, denn diese Erörterung hat zu der tiefen inneren Zerrissenheit geführt, an der wir kranken.“89 Über viele Jahre beschäftigte die Dolchstoßthese auch die Nationalversammlung bzw. den Reichstag. In seiner Regierungserklärung bezeichnete Philipp Scheidemann am 13. Februar 1919 die Niederlage im Weltkrieg als unvermeidbar. Die Antwort der rechtsorientierten Presse war eine regelrechte Kampagne, in der die Revolution für den militärischen Zusammenbruch verantwortlich gemacht wurde. Ludendorff nutzte die Gelegenheit, in einem offenen Brief an den Ministerpräsidenten alle Verantwortung für das Waffenstillstandsgesuch vom 4. Oktober 1918 und für den „Frieden des Bankrotts“ von sich zu weisen und die politische Reichsleitung unter Max v. Baden zu belasten.90 Scheidemann forderte daraufhin im Kabinett am 26. März 1919 die

88 Gustav Heinemann: Wir müssen Demokraten sein. Tagebuch der Studienjahre 1919–1922, München 1980, hier 35. 89 Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 521 (11.11.1921), zit. nach: Klaus Megerle: Aus dem Gefühl der Defensive erwächst keine Führung. Gesellschaftliche Elitegruppen am Beispiel der Industriellen, in: Detlef Lehnert, Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 207–230, hier 224. 90 Zit. nach: Ulrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1983, hier 23.

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Bildung eines Staatsgerichtshofes, „um die Herren zu fassen […], die derart die Schuld der Vergangenheit auf eine neue Gegenwart übertragen wollen.“ Nach einer umfangreichen Diskussion konstituierte der Reichstag schließlich am 20. August 1919 eine Enquête-Kommission, die sich als Parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit der Schuld am Krieg, seiner Verlängerung und der Niederlage beschäftigen sollte. Dieser 15. Untersuchungsausschuss bildete vier Unterausschüsse. Der vierte Unterausschuss widmete sich speziell den Ursachen des deutschen Zusammenbruchs, untersuchte also insbesondere die Dolchstoßthese.91 Bearbeiter dieses Unterausschusses waren General Hermann v. Kuhl, Oberst Bernhard Schwertfeger, Prof. Hans Delbrück, Dr. Ludwig Herz sowie Simon Katzenstein. Der vierte Unterausschuss tagte mit Unterbrechungen und Neubildungen bis 1929, fast während des ganzen Zeitraums der Weimarer Republik. Seine offizielle Aufgabe war es nach einigen Änderungen seiner Geschäftsgrundlage schließlich, die Verantwortlichkeit für die deutsche Niederlage im Weltkrieg zu prüfen und Tatsachen (nicht Urteile!) über den Schuldanteil bestimmter Personen oder Personengruppen festzustellen. Natürlich diente der Ausschuss auch dem Zweck, den bereits voll entbrannten Streit um die Dolchstoßthese durch die geregelte Auseinandersetzung im Ausschuss zu versachlichen und zu entpolitisieren. „Die übersteigerte These, die selbst nur ein Ergebnis politischer Propaganda war – die Behauptung, die Revolution habe einen Sieg vereitelt, die revolutionäre Agitation allein habe den Zusammenbruch verursacht – wurde allerdings nicht ernsthaft vorgebracht. Der eigentliche Gegenstand der Diskussion war die schwächere These, […] die Revolution habe ein Weiterkämpfen für erträgliche Waffenstillstands- und Friedensbedingungen unmöglich gemacht, Agitation und Streiks hätten erheblich zum Absinken der Kampfkraft beigetragen. Für sie wurden die Fragen präzisiert und ein großer Teil des damals verfügbaren Materials aufgearbeitet.“92 An der Arbeit des Untersuchungsausschusses waren Abgeordnete fast aller Parteien beteiligt. Auch die Sachverständigen repräsentierten verschiedene politische Richtungen. Häufig vertraten und verteidigten sie ihre eigene Anschauung und Handlungsweise während des Krieges. Einige hatten während des Krieges bedeutenden militärischen oder politischen Einfluss, etwa General Hermann v. Kuhl, der als Generalstabschef der Heeresgruppe Kronprinz v. Bayern zu den engsten Mitarbeiten Ludendorffs gehörte, oder Vizeadmiral Adolf v. Trotha, der als Chef des Stabes der Hochseeflotte unmittelbar für das im Oktober geplante Auslaufen der Hochseeflotte verantwortlich war, oder auch Prof. Hans Delbrück, der bei den innenpolitischen Auseinandersetzungen eine große Rolle gespielt hatte. Bereits in den Gutachten traten

91 Ebenda, 23f. 92 Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten, 1963, (wie Anm. 58), hier 149.

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so die politischen Gegensätze mit aller Schärfe in Erscheinung und in den Sitzungen wurde heftig gestritten.93 Einen ersten Höhepunkt stellte die Aussage Hindenburgs und Ludendorffs vor dem Untersuchungsausschuss am 18. November 1919 dar. Der Auftritt der Generäle wurde sorgfältig inszeniert. Sie erhielten einen Sonderzug, die Reichswehr schickte eine Ehrenwache zum Bahnhof und stellte Hindenburg zwei Adjutanten zur Verfügung. Die Plätze im Sitzungssaal waren größtenteils an die vaterländische Prominenz und an die Presse vergeben worden. Hindenburgs Platz war mit weißen Chrysanthemen und einem schwarz-weiß-roten Band geschmückt.94 Hindenburg und Ludendorff verlasen eine vorbereitete Erklärung. Auf Einsprüche des Ausschussvorsitzenden Georg Gothein (DDP) und Zwischenrufe gingen sie nicht ein. Hindenburg legte einem ungenannten englischen General die Worte in den Mund, die deutsche Armee sei von hinten erdolcht worden. Flotte und Heer seien planmäßig zersetzt worden. „So mussten unsere Operationen misslingen, es mußte der Zusammenbruch kommen; die Revolution bildete nur den Schlußstein.“95 Die Bedeutung dieses inszenierten Auftritts kann kaum überschätzt werden. Die nationale Rechte sah sich angesichts eines Generalfeldmarschalls, der wie ein Ankläger auftrat, im Aufwind. Hindenburg verlieh der Dolchstoßthese aufgrund seiner Popularität und vermeintlichen Glaubwürdigkeit einen hohen Grad an Seriosität. Troeltsch kommentierte diesen Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss in seinem Spektatorbrief vom 19. Dezember 1919: „Die große historische Legende, auf der die ganze Reaktion beruht, dass eine siegreiche Armee meuchlings und rücklings von den vaterlandslosen Gesellen der Heimat erdolcht worden sei, ist damit zum Dogma und zur Fahne der Unzufriedenen geworden“.96 1920 erscheinen die im Herbst 1919 verfassten Erinnerungen Hindenburgs. Darin wählte er das geläufige mythologische Bild: „Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front; vergeblich hatte sie versucht, aus dem versiegenden Quell der heimatlichen Kraft neues Leben zu trinken“.97 Auch im Zusammenhang mit dem Hindenburg-Kult der frühen Zwanzigerjahre – der Generalfeldmarschall wurde mit Hannibal und Napoleon verglichen und als der große Sieger des Weltkriegs dargestellt – wurde immer wieder betont, die Revolution habe den Deutschen die Waffen aus der Hand geschlagen. Das 1922

93 Petzold: Die Dolchstoßlegende, 1963, (wie Anm. 82), hier 99. 94 Heinemann: Die verdrängte Niederlage, 1983, (wie Anm. 90), hier 162f. 95 Zit. nach: Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier S. 337. 96 Ernst Troeltsch: Die Welle von rechts 19.12.1919, in: Ders.: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 (Die andere Bibliothek 109), Frankfurt am Main 1994, S. 99–106, hier 103. 97 Paul v. Hindenburg: Aus meinem Leben, Leipzig 1920, hier 403.

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erstmals erschienene prunkvoll aufgemachte Buch „Hindenburg-Denkmal für das deutsche Volk“ erreichte bis 1926 eine Auflage von 110.000 Exemplaren.98 Auch der ehemalige Kaiser verbreitete in seinen 1922 erschienenen Erinnerungen die Dolchstoßthese. Die Armee sei sein Stolz gewesen, erklärte Wilhelm II., er habe für sie gelebt und an ihr gearbeitet. „Und nun nach über vier glänzenden Kriegsjahren mit unerhörten Siegen mußte sie unter dem von hinten gegen sie geführten Dolchstoß der Revolutionäre zusammenbrechen, gerade in dem Augenblick, als der Friede in Greifnähe stand!“99 Völlig unabhängig von der Tätigkeit des vierten Unterausschusses kam es im Reichstag immer wieder zu scharfen Auseinandersetzungen über die Dolchstoßthese, etwa am 29. Oktober 1919 im Zusammenhang mit der Beratung des Heeresetats. Unter Berufung auf den englischen General Maurice vertrat der DNVP-Abgeordnete Graefe die Dolchstoßthese und machte die Sozialdemokraten für die Niederlage im Krieg verantwortlich. Scharfe Gegenangriffe waren die Folge, was wiederum heftige Proteste der Rechten auslöste.100 Am 6. Juli 1922 beschuldigte der Abgeordnete Pfarrer Hensel aus Ostpreußen, ebenfalls Mitglied der DNVP, die Sozialdemokraten, dem „tapferen Heer in den Rücken gefallen“ zu sein. Die Sitzung musste abgebrochen werden, weil die erregte Linke Hensel nicht mehr zu Wort kommen ließ. Als er am folgenden Tag seine Rede fortsetzte, verließen zahlreiche Abgeordnete der Linken den Saal. Der DDPAbgeordnete Goetz trat der Dolchstoßthese in sachlicher Erwiderung entgegen und betonte, in Deutschland und im Reichstag bestehe eine Mehrheit, die sich den Vorwurf des Dolchstoßes nicht gefallen lasse. Aber solche sachlichen Widerlegungen vor dem Forum des Reichstages zeigten bei den Völkischen in der DNVP keinerlei Wirkung.101 Jahrelang gehörte es zum politischen Ritual in den deutschen Parlamenten, für oder gegen die verschiedenen Versionen der Dolchstoßthese und der Schuld am Krieg Stellung zu nehmen.102 Unter diesen Umständen hatte der Parlamentarische Untersuchungsausschuss bereits enorme Mühe sich auch nur über seinen Untersuchungsgegenstand zu verständigen. Der Begriff „Dolchstoß“ wurde in den unterschiedlichsten Varianten mit den verschiedensten Zeithorizonten verwendet. Hatte man scheinbar eine Verständigung darüber gefunden, dass der Krieg im Spätsommer 1918 bereits militärisch verloren war, ergaben sich fast unmittelbar weitere Fragen, etwa, ob man ohne Revolution nicht wenigstens einen besseren Waffenstillstand und Frieden bekommen hätte, oder ob nicht der Munitionsarbeiterstreik im Januar 1918 oder die Friedensinitiative

98 Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 320. 99 Kaiser Wilhelm II.: Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918, 1922, (wie Anm. 41), hier 245. 100 Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 325. 101 Ebenda, 371f. 102 Ebenda, 517.

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der Reichstagsmehrheit 1917 den Durchhaltewillen entscheidend geschwächt haben könnten. Alles in allem war der Untersuchungsausschuss des Reichstages über den Weltkrieg ein aufwändiger Versuch, eine Versachlichung des Streits und vielleicht sogar eine Verständigung zwischen den politischen Lagern zu erreichen. In jahrelanger Arbeit bewältigte der Ausschuss ein enormes Arbeitspensum und sammelte umfangreiche Materialien, die bis heute wertvolle Quellen sind. In den Debatten war trotz extrem unterschiedlicher Meinungen ein Bemühen um Versachlichung erkennbar, und der eine oder andere Beteiligte modifizierte seine Position in einzelnen Fragen, weil die Ausschussarbeit dazu zwang, sich mit den Argumenten der jeweiligen Gegenseite auseinander zu setzen. Allerdings erschwerten parteipolitische Vorgaben, aktuelle politische Ereignisse und taktische Erwägungen die Analyse. Insbesondere blieb ein nicht auflösbarer Widerspruch zwischen dem Bestreben, die historischen Ereignisse möglichst exakt zu beschreiben, und der nationalen Interessenlage, wie sie die Ausschussmitglieder empfanden. Selbst ein Pazifist wie der Liberale und Völkerrechtler Walther Schücking sah die Aufgabe des Ausschusses darin, unberechtigte Vorwürfe der Sieger abzuwehren. In keiner entscheidenden Frage konnte der Ausschuss Einigkeit erreichen. Strittig blieb insbesondere, ob die Gegner ihre Waffenstillstandsbedingungen gelockert hätten, wenn das deutsche Volk sich zum letzten Widerstand entschlossen hätte, und ob die Bedingungen des Versailler Friedensvertrages durch politischen Widerstand hätten günstiger für Deutschland gestaltet werden können. Unabhängig vom unbestrittenen hohen Quellenwert der Ausschussmaterialien gab es unter Fachhistorikern differierende Beurteilungen der politischen Wirksamkeit des Ausschusses. Während Hiller v. Gaertringen in den Sechzigerjahren die Meinung vertrat, dass sich die Ergebnisse der Ausschussverhandlungen „mäßigend“ auf die einschlägige innenpolitische Agitation der deutschnationalen, völkischen und nationalsozialistischen Rechten ausgewirkt haben, äußerte Ulrich Heinemann in den Achtzigern erhebliche Zweifel gegenüber dieser Position: „Nur wenige Zeitgenossen nahmen überhaupt Notiz von den Entschließungen des 4. UA. […] Wenn dennoch in den Jahren nach 1924 die Dolchstoßthese der nationalistischen Rechten an Propagandawirkung verlor, so dürfte dies kaum als ein Erfolg der parlamentarischen Untersuchung gewertet werden können; vielmehr spiegelt sich hier die Konsolidierung und Stabilisierung der innen- und außenpolitischen Verhältnisse wider. Stärker noch als die Ergebnisse des 4. UA dürften auch die mannigfachen Abwiegelungsbemühungen amtlicher Stellen sowie die betonte Zurückhaltung einiger rechter Verbände zu einer vorübergehenden Entschärfung der Auseinandersetzungen um den Weltkriegsausgang beigetragen haben. Die historische Forschung hat bislang übersehen, daß gerade der unter amtlichen Auspizien arbeitende und in konservativen Kreisen durchaus nicht einflußlose ‚Arbeitsausschuß Deutscher Verbände‘ um der Einbeziehung der Arbeiterschaft in eine ‚innenpolitische Einheitsfront gegen Versailles‘ willen lange Zeit darum bemüht gewesen ist, Dolchstoßattacken seiner nationalen Mitgliedsver-

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bände zu unterbinden oder wo das nicht möglich erschien, diese in ihrer Bedeutung herunterzuspielen.“103 Die Reichskanzlei und das Auswärtige Amt im Verein mit gouvernamentalen Konservativen wie Reichsinnenminister Martin Schiele versuchten insbesondere, den Münchener „Dolchstoßprozess“ zu verhindern, der auf eine Veröffentlichung der „Süddeutschen Monatshefte“ zurückging. Ihr Herausgeber Paul Nicolaus Coßmann hatte den Kampf gegen die Revolution und gegen die „Kriegsschuldlüge“ in den Mittelpunkt seiner publizistischen Tätigkeit gestellt. 1924 versuchte er mit reißerisch aufgemachten Heften zum Dolchstoß gezielt Einfluss auf das Ergebnis der Reichstagswahlen zu nehmen. Die Aprilnummer der „Süddeutschen Monatshefte“ erschien mit der Schlagzeile „Der Dolchstoß“ und zeigte auf dem Titel einen am Boden liegenden erdolchten Soldaten. Um noch genügend Wirkung vor dem Wahltermin am 4. Mai 1924 entfalten zu können, erschien auch das Maiheft bereits im April. Die meist von ehemaligen Offizieren verfassten Artikel behaupteten, die Vorbereitungen für den Dolchstoß hätten bereits vor Kriegsausbruch begonnen. Die Ablehnung der Kriegskredite durch Karl Liebknecht im Dezember 1914 sei der erste Akt des Dolchstoßes gewesen. Dass die Sozialdemokratie bewusst einen Dolchstoß gegen das deutsche Heer geführt habe, wurde mit einem verfälschend aus dem Zusammenhang gerissenen Zitat aus dem „Vorwärts“ vom 20. Oktober 1918 „belegt“: „Deutschland soll – das ist unser fester Wille als Sozialisten – seine Kriegsflagge für immer streichen, ohne sie das letzte Mal siegreich heimgebracht zu haben.“104 Die sozialdemokratische „Münchener Post“ bezog Position gegen diese Verfälschung. Ihr Chefredakteur Martin Gruber warf Coßmann „politische Brunnenvergiftung schlimmster Art“ vor. Die „Münchener Post“ präsentierte umfangreiche Materialien, aus denen hervorging, dass der Zusammenbruch der Verbündeten und die Panik der OHL verantwortlich für das Waffenstillstandsgesuch waren. Von einem Dolchstoß könne keine Rede sein.105 Schon am siebten Prozesstag modifizierte Coßmann seine Position. Sein Anwalt verbreitete eine Erklärung, nach der die „Süddeutschen Monatshefte“ keineswegs die vaterländische Haltung der MSPD in Zweifel ziehen wollten, sondern lediglich die der USPD. Angesichts der Tatsache, dass inzwischen die SPD mit einem Teil der früheren USPD verschmolzen war, konnte Gruber sich damit aber kaum zufrieden geben. In der Folge wurde allerdings der Vorwurf des Dolchstoßes nur noch gegenüber der USPD erhoben und auch nur noch als eine von mehreren Ursachen für den Zusammenbruch bezeichnet. Die sozialdemokratische Seite um Martin Gruber präsentierte sich während des Prozesses ausgesprochen vaterländisch. Die Politik des „Burgfriedens“ und der nationalen Einheitsfront wurde zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Grubers 103 Heinemann: Die verdrängte Niederlage, 1983, (wie Anm. 90), hier 190f. 104 Vorwärts (20.10.1918). 105 Martin Gruber, in: Münchener Post Nr. 97 (25.4.1924), Nr. 98 (26./27.4.1924), Nr. 99 (28.4.1924), Nr. 100 (29.4.1924), Nr. 102 (3./4.5.1924), Nr. 105 (6.5.1924).

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Verteidiger Dr. Hirschberg betonte bereits in seinem Eröffnungsplädoyer, dass die sozialdemokratischen Führer während des gesamten Krieges konsequent daran festgehalten hätten. Erst im letzten Moment hätten sie die unaufhaltsame Bewegung hin zur Revolution in die Hand genommen, um Chaos zu verhüten.106 Diese Position wurde durch eine Fülle von Zeugenaussagen untermauert. Andererseits machten die Aussagen zahlreicher Zeugen aus dem rechten Lager deutlich, dass die Dolchstoßthese längst zur Glaubensfrage und zum politischen Kampfmittel geworden war und dass kein Interesse an einer rationalen Auseinandersetzung bestand. Keine Einigung konnte in der entscheidenden Frage erzielt werden, welche Bedeutung der Revolution für die Niederlage zukam. Groener äußerte die Überzeugung, es wäre möglich gewesen, hinter der Maas oder Rhein erneut eine Front zu bilden und den Waffenstillstand in der vorgelegten Form abzulehnen. Andere Zeugen der politischen Rechten betonten, die Revolution sei der Dolchstoß gewesen, der die Möglichkeit weiteren Widerstandes genommen habe, während national-liberale Sachverständige wie Hans Delbrück vor allem die Politik der OHL und namentlich Ludendorffs verantwortlich für die Niederlage machten. Es sei keinesfalls beweisbar, dass ohne Revolution bessere Friedensbedingungen hätten erreicht werden können, es sei allerdings auch nicht auszuschließen. Das Urteil fiel zwiespältig aus. Martin Gruber wurde zwar wegen Beleidigung und übler Nachrede verurteilt, aber in der Urteilsbegründung führte das Gericht aus, die Darstellungen in den „Süddeutschen Monatsheften“ seien teils richtig, teils unrichtig gewesen. Die Ereignisse des Weltkrieges lägen noch nicht lange genug zurück, und viele Unterlagen seien noch nicht verfügbar. Von einer bewussten Geschichtsfälschung durch Coßmann könne nicht die Rede sein. Die SPD verbuchte das Urteil als Erfolg – der Prozess hatte die staatstragende und nationale Haltung der MSPD deutlich herausgestellt. In den politischen Auseinandersetzungen aber fühlte sich vor allem die Rechte durch das Urteil gestärkt und verbreitete diejenigen Sachverständigenaussagen, die ihr Weltbild stützten.107 Der Münchener Dolchstoßprozess zeigte, dass die SPD mit Hilfe der Dolchstoßthese völlig in die Defensive gedrängt worden war. Ihr Bestreben war inzwischen in erster Linie darauf gerichtet, die Revolution von 1918/19 als einen bloßen Zusammenbruch zu interpretieren. Die Bedeutung der Massenstreiks in den letzten Kriegsjahren wurde möglichst gering veranschlagt. Die Bestrebungen der sozialdemokratischen Führung, einen Verständigungsfrieden und eine Parlamentarisierung des Reiches herbeizuführen, wurden allenfalls halbherzig zugestanden. Intensiv war man darauf aus, die nationale Rechte davon zu überzeugen, dass die SPD während des gesamten Krieges rückhaltlos auf dem Boden der Landesverteidigung gestanden und jede Schwächung

106 Vgl. Ewald Beckmann: Der Dolchstoßprozeß in München vom 19. Oktober bis 20. November 1925. Verhandlungsberichte und Stimmungsbilder, München 1925, hier 13f, 28. 107 Ebenda, 118f, 121.

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der kämpfenden Truppe vermieden habe. Indem die SPD primär bestrebt war, die Unterstellungen und Vorwürfe zurückzuweisen, übernahm sie – bewusst oder unbewusst – die Beurteilungsmaßstäbe der politischen Rechten. Der Kern der Burgfriedenspolitik – es gibt nationale Interessen, die Vorrang vor Klasseninteressen haben – wurde grundsätzlich als Leitlinie der SPD-Politik in der Weimarer Zeit aufrechterhalten. Nachdem es im Zusammenhang mit den anstehenden Wahlen zum Reichstag 1924 über die „Süddeutschen Monatshefte“ hinaus zu einer regelrechten Kampagne mit zahlreichen Schriften aus kleinen, zum Teil obskuren Verlagen gekommen war, hatte Eduard Bernstein in einem Brief an Karl Kautsky am 26. Juli 1924 eine sozialdemokratische Offensive gegen dieses Trommelfeuer der Rechtsparteien gefordert. Der Staatsstreich der Nationalisten sei irgendwann unabwendbar und dann werde ein Terrorismus kommen, den sich die meisten nicht träumen ließen. Kapp sei ein Doktrinär gewesen, dann aber kämen skrupellose und brutale Schurken nach oben.108 In der Tat spielte die Dolchstoßthese auch in der nationalsozialistischen Propaganda eine zentrale Rolle. Die Dolchstoßthese und das „in seiner Vieldeutigkeit geeignetere Schlagwort ‚Novemberverbrecher‘ [gaben] in der Propaganda der NSDAP vor 1933 die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des deutschen Elends – nicht selten mit dem ‚Im Felde unbesiegt‘ verbunden zu einer Behauptung, die selbst Ludendorff, Bauer und Graefe nicht aufgestellt hatten: im November 1918 sei der ‚Sieg zum Greifen nahe gewesen‘.“109 Alfred Rosenberg veröffentlichte 1926 eine Broschüre über „Dolchstoß-Dokumente“, in der es hieß: „Wir können die Ursachen unseres heutigen Elends aber nur begreifen, wenn wir wissen, dass die Propaganda der Entente stets in der gleichen Richtung verlief wie die Propaganda der Demokratie und des Marxismus in Deutschland. Daraus folgt, dass Deutschlands Sklaverei nicht früher enden wird, als bis diese beiden deutschfeindlichen Mächte mit ihren bewußten und unbewußten Handlangern niedergerungen sind. […] Diese Sklaverei haben wir alle dem Dolchstoß in den Rücken des deutschen Volkes zu verdanken. Der Dolchstoß aber wurde gemeinsam geführt von der Entente, dem Judentum und dem Marxismus.”110 Selbst die Kampfhandlungen der Kriegsgegner wurden von Rosenberg also unter die Dolchstoßthese subsumiert. Vornehmlich die Dolchstoßlegende, meinte der Historiker Fritz Ernst 1958, habe den Nationalsozialisten „Macht über die Seelen“ gegeben.111 Ähnlich bedeutsam schätzte der DDR-Historiker Joachim Petzold 1963 ihre Bedeutung ein: „Sie

108 Vgl. Heinrich August Winkler: Eduard Bernstein und die Weimarer Republik, in: Eduard Bernstein: Die deutsche Revolution von 1918/19. Geschichte der Entstehung und ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik, Bonn 1998, S. 7–24, hier 22. 109 Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten, 1963, (wie Anm. 58), hier 142. 110 Alfred Rosenberg: Dolchstoß-Dokumente. Zeugnisse der Vorbereitung zur Revolte am 9. November 1918, München 1926, hier 3, 47, zit. nach: Petzold: Die Dolchstoßlegende, 1963, (wie Anm. 82), hier 74. 111 Die Zeit. Nr.19 (8.5.1958), zit. nach: Petzold: Die Dolchstoßlegende, 1963, (wie Anm. 82), hier 73.

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war ein Schlüssel zum politischen Erfolg der Faschisten.“112 Boris Barth urteilte 2003: „Die vielleicht schwerste innenpolitische Belastung für die junge Weimarer Demokratie entstand aus der sogenannten ‚Dolchstoßlegende‘.“113 In den späten zwanziger Jahren verebbten die Auseinandersetzungen über die Dolchstoßthese. Etwa ab 1928 waren die Weltbilder der verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Lager völlig verfestigt und nicht mehr für Veränderung zugänglich. Die Vorstellung, die Revolution sei in aller erster Linie als Dolchstoß in den Rücken des Heeres zu sehen, war in verschiedenen bürgerlichen, rechten, rechtsextremen, vaterländischen und völkischen Milieus so selbstverständlich, dass keine weitere Diskussion nötig war. Die Linke hatte dagegen den Kampf gegen die Dolchstoßthese aufgegeben, weil sie erkannte, dass die öffentliche Debatte nicht zu gewinnen war.

Verrat am Vaterland Bereits die Dolchstoßthese deutete die Revolution als Anschlag gegen das kämpfende Heer und damit gegen die Interessen des Staates. Die Charakterisierung der Revolution als Hochverrat oder Landesverrat ging einen deutlichen Schritt weiter, auch wenn sie oft gemeinsam mit der Dolchstoßthese vertreten wurde. Wer vom Verrat am Vaterland sprach, dem kam es in erster Linie darauf an, die Vertreter der Revolution und der Republik mit möglichst emotionsgeladenem Vokabular zu kriminalisieren. Der juristische Tatbestand des Hoch- oder Landesverrats im engeren Sinn war in diesem Zusammenhang unwesentlich, es wurde gar nicht der Versuch eines Nachweises unternommen, es ging vielmehr um die möglichst finale, jeder Diskussion entzogene Herabwürdigung des Gegners, der kriminalisiert und zum erklärten Feind gemacht wurde. Diese Intention zeigt in exemplarischer Deutlichkeit ein im Februar und März 1919 unter den Freikorps verteiltes anonymes Flugblatt. In ihm wurde behauptet, dass am 9. November 1918 fahneneidbrüchige hochverräterische Matrosen im Verein mit Deserteuren, Verbrechern und Arbeitern, die nie draußen gewesen seien, das stolze Staatswesen zertrümmert hätten. „Euch, die Ihr geführt von Euren Offizieren einer ganzen Welt von Feinden siegreich die Brust botet, sind diese Feigen schmählich in den Rücken gefallen, diesen Halunken habt ihr es zu verdanken, dass heute die Gegner, die vor dem Zusammenbruch waren, über uns triumphieren, dass heute sogar Polen sich ungestraft erfrechen dürfen, deutsche Landesteile zu besetzen, deutsche Bürger zu verjagen oder zu töten und deutsche Frauen und Mädchen zu schänden. … vor dem Rächerarm der deutschen Frontsoldaten und Offiziere werden die Empörer, die Revolutionäre und das ganze demokratisch-sozialistische Gesindel,

112 Ebenda, 74. 113 Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 5.

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das uns in den Rücken gefallen ist, verschwinden.“114 Aus der Charakterisierung der Revolution als Hochverrat wurde die Berechtigung abgeleitet, Rache zu nehmen, die „Verbrecher“ zur Rechenschaft zu ziehen. Die „Deutsche Tageszeitung“ hatte bereits am 9. November von „Verrat am deutschen Volk“ gesprochen: „Die deutschen Sozialisten wussten, dass der Friede ohnehin im Werden sei, und dass es nur noch gelte, Wochen, vielleicht nur Tage lang noch dem Feinde eine geschlossene, feste Front zu zeigen, um ihm erträglichere Bedingungen abzuringen. In dieser Lage haben sie die weiße Fahne gehisst. Das ist eine Schuld, die nie vergeben werden kann und nie vergeben wird. Das ist ein Verrat, nicht etwa nur an der Monarchie und am Heere, sondern am deutschen Volke selber“.115 Die „Alldeutschen Blätter“ machten am selben Tag für den angeblichen Verrat am deutschen Heer und Volk die „alljüdische Presse“ verantwortlich.116 Schon vor dem Zusammenbruch hatte bei den Völkischen – hier verstanden als Sammelbegriff für die radikal-rassistischen, nationalistischen und antisemitischen Gruppen – und in der Vaterlandspartei die Suche nach Sündenböcken begonnen, und es wurde von Anfang an massiv auf den Antisemitismus gesetzt. Die Deutung der Revolution als Verrat an Volk und Vaterland hatte im Kontext rechtsextremen Bewusstseins offenbar eine Schlüsselfunktion. Andreas Wirsching kam 1999 bei seiner Untersuchung des politischen Extremismus in der Weimarer Republik zu dem Ergebnis, die Charakterisierung der Revolution als „Hochverrat“ sei in der Weimarer Republik geradezu konstituierend für extrem rechte Gesinnung gewesen.117 Ähnlich die Schlussfolgerungen von Dietmar Schirmer, der politischkulturelle Deutungsmuster in der Weimarer Republik untersuchte. „Die Revolution vom November 1918 erscheint in der Wahrnehmung aller politisch-kulturellen Milieus, die antiparlamentarische Ressentiments von rechts pflegen, als verbrecherischer Anschlag auf eine tradierte und legale staatliche Ordnung. Die Klassifizierung politischer Feinde als Verbrecher findet ihr Grundmuster in der Wahrnehmung der Novemberrevolution als eines mit der Todesstrafe bedrohten Hochverrats, der zufolge die Träger der Weimarer Verfassung schlicht Kriminelle sind.“118 Belegt sind allerdings auch Äußerungen von hohen kirchlichen Würdenträgern, die die Revolution kriminalisierten. Im September 1919 erklärte der Münchener Erzbi-

114 Zit. nach: Richard Müller: Der Bürgerkrieg in Deutschland. Geburtswehen der Republik, Berlin 1925, hier 239. 115 Zit. nach: Buchner: Revolutionsdokumente, 1921, (wie Anm. 14) S. 127. 116 Alldeutsche Blätter (9.11.1918). 117 Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 40), München 1999, hier 299f. 118 Dietmar Schirmer: Politisch-kulturelle Deutungsmuster: Vorstellungen von der Welt der Politik in der Weimarer Republik, in: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 31–60, hier 41f.

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schof Michael v. Faulhaber in einem Hirtenbrief, der sich an die Priester wandte: „Halte sich wenigstens der Priesterstand das Gewissen rein und frei gegenüber einer Republik und einer Verfassung, die aus der Sünde der Revolution und damit aus dem Fluch geboren sind, und diesen Fluch bis in das 3. und 4. Geschlecht vererben werden.“ Beim Katholikentag in München 1922 nannte Faulhaber die Revolution „Meineid und Hochverrat“.119 Auch in der katholischen Publizistik der Weimarer Republik finden sich Beispiele für die Deutung der Revolution 1918/19 als Verrat an Volk und Vaterland, beispielsweise zum zweiten Jahrestag im „Regensburger Anzeiger“: „Mit einem leidenschaftlichen Appell an den Patriotismus erinnerte ‚Ein Deutscher‘ im Leitartikel zum 7. November daran, daß ‚Fremdlinge‘ und ‚traurige Vaterlandsverräter‘ für die Ereignisse in Bayern verantwortlich gewesen seien und die Revolution ‚die Geburtsstunde der tiefsten Schmach‘ für das deutsche Volk bedeute. Wer sie feiern wolle, ‚der fühlt nicht deutsch, der kann nicht deutsch fühlen, der ist, deutsches Volk, dein Feind, günstigstenfalls ein verirrter Volksgenosse‘.“120 Auf die wesentlichen Merkmale der rechtsextremen Revolutionsdeutung stieß Jürgen Bergmann auch, als er den Umgang des agrarischen Milieus mit der Revolution untersuchte. Bergmann analysierte u. a. den Umgang der „Deutschen Tageszeitung“121 mit politischen Gedenktagen, insbesondere dem 9. November. Der Umgang mit der Revolution und ihren Trägern stellte nach Bergmanns Urteil „von Anfang an keine Auseinandersetzung mit politisch abweichenden Standpunkten und Personen bzw. Gruppen, sondern ausschließlich deren persönliche und sachliche Diffamierung sowie vielfach auch Kriminalisierung dar. Betrachtet man die Kommentare zum Jahrestag der Revolution unter diesem Aspekt, so hatte die Revolution nach der Meinung der Agrarier nicht nur den Dolchstoß in den Rücken des unbesiegten deutschen Heeres geführt und damit Niederlage, Demütigung und das gesamte Elend Deutschlands nach 1918 verschuldet, sondern war auch in erster Linie das Werk egoistischer persönlicher Motive und Interessen ihrer Führungsschichten und niedrigster Instinkte ihrer Basis. Es war der ‚marxistische Abschaum‘, der die Revolution durchführte und auch danach ‚auf den Wässern der deutschen Politik trieb‘ bzw. ‚die rote Flut‘, die während der Revolution ‚ungehindert ihren Schlamm über ganz Deutschland hinwegwälzen konnte‘, während ‚diese Schädlinge in bewußter Irreführung jeden Angriff auf ihre vergiftete Tätigkeit als Beschimpfung des deutschen Volkes‘ bezeichneten. Im Grunde handelte es sich dabei also um Ungeziefer, von dem das deutsche Volk befreit werden mußte. 1924 hieß es beispielsweise: Mit dem

119 Vgl. Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 247f. 120 Zit. nach: Kotowski: Auf dem Boden der gegebenen vollendeten Tatsachen!, 1989, (wie Anm. 27), hier 175f. 121 Vgl. Jürgen Bergmann: „Das Land steht rechts!“. Das „agrarische Milieu“, in: Detlef Lehnert/ Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 181–206.

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9. November, muß sich das deutsche Volk auseinandersetzen, denn er hat ihm in jeglicher Beziehung sein gesundes Blut vergiftet. Diese Auseinandersetzung ist gar keine Frage der Staatsform, sondern sie ist eine Frage der Kriminalität. Es gibt keine Staatsform, die Verbrecher schützt. Sie werden zur Verantwortung gezogen, wenn ihre Zeit da ist, in der Republik oder in der Monarchie.“122 Auch innerhalb der DNVP war die Kriminalisierung der Revolution und der Revolutionäre weit verbreitet. Der ehemalige Großadmiral Alfred Tirpitz vertrat als Vortragsredner für die DNVP in zahlreichen Veranstaltungen die Auffassung, die Revolution sei das größte Verbrechen gewesen, das dem deutschen Volk habe angetan werden können.123 Die DNVP als die große parlamentarische Rechtspartei sammelte in den Anfangsjahren der Republik einen großen Teil der nicht-liberalen rechtsstehenden Kräfte. Konstitutiv für dieses Milieu war die grundsätzliche Ablehnung der Verfassungsordnung der parlamentarischen Demokratie. Zur „nationalen Rechten“ gehörten Vertreter des alten und des neuen Nationalismus, wobei die Übergänge häufig fließend waren: „Neben der hauptsächlich von der DNVP repräsentierten Richtung, die die Anhänger der konservativen Vorkriegsparteien organisiert und verbal dem Monarchismus verpflichtet bleibt, gibt es eine zahlenmäßig erheblich kleinere Bewegung vornehmlich Jüngerer, die jegliche Rückkehr zu den politischen Strukturen des Wilhelminischen Kaiserreichs strikt ablehnt. Die Vertreter dieser Gruppierung des ‚neuen Nationalismus‘ können als die Ideenproduzenten für die nationale Rechte insgesamt begriffen werden, wobei der Verarbeitung des Kriegserlebnisses besondere Bedeutung zukommt.“124 Der friedliche und unsoldatische Bürger wurde von einem Teil der Kriegsheimkehrer als überlebter Gegenpol zur Welt des Krieges empfunden. Von Anfang an existierte eine scharfe Frontstellung vieler Freikorpssoldaten gegen das Bürgertum. Mit dem Alldeutschen Verband als Kristallisationskern formierte sich nach 1918 das völkische Lager grundsätzlich neu und verwandte einen massiven Antisemitismus als einigende Klammer und zugleich als Ideologie der Massenintegration. Ausgehend von der Erfahrung der Niederlage wurde im Zusammenhang mit der Dolchstoßlegende ein primitiver Rassenantisemitismus in Deutschland endgültig salonfähig.125 Schon Ernst Troeltsch wies in seinen Spektatorbriefen auf diesen Zusammenhang hin: „Konservative und Nationale machen den Gegensatz gegen das Judentum zu einem Hauptmittel ihres Kampfes, um ihm populäre Instinkte und Leidenschaften zuzuführen. Der Antisemitismus aller Schattierungen wird in den Kampf grundsätz-

122 Zit. nach: Bergmann: „Das Land steht rechts!, 1989, (wie Anm. 121), hier 191. 123 Vgl. Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 332. 124 Klaus Reimus: „Das Reich muß uns doch bleiben!“. Die nationale Rechte, in: Detlef Lehnert/ Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 231–253, hier 231f. 125 Vgl. Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 301.

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lich eingespannt und die Schuld an Revolution und Niederlage dem Judentum und der Sozialdemokratie aufgebürdet.“126 Dietmar Schirmer belegte mit einer Fülle von Zitaten aus Publikationen der nationalen und völkischen Rechten, dass es letztlich auch um mythische Geschichtsdeutung ging, mit der die „nationale Schmach“, als die die Weltkriegsniederlage interpretiert wurde, sinnhaft in die deutsche Geschichte integriert werden konnte. „Die Freund-Feind-Polarität von ‚geschlagener Größe‘ und ‚erfolgreichem Verbrechertum‘ schließt funktional und oft auch in der Metaphorik an die mythische Geschichtsdeutung an. Sie ist geeignet die Weltkriegsniederlage, das Trauma der Revolution und, als deren Folge, die verhaßte Weimarer Republik als eine Talsohle der geschichtlichen Entwicklung, die durchschritten werden muß, sinnhaft zu interpretieren.“127 Diese mythische Geschichtsdeutung fand sich auch in der Vorstellungswelt der Nationalsozialisten. Das Fronterlebnis des Ersten Weltkrieges, der Schock der angeblich durch Feinde im Inneren ausgelösten Niederlage und das Trauma der Revolution von 1918 prägten entscheidend das nationalsozialistische Geschichtsbewusstsein und die Vision vom „Dritten Reich“. Die Geschichte der Weimarer Republik wurde als Apokalypse gedeutet und propagandistisch entsprechend dargestellt. „Ihr setzten die Nationalsozialisten die Heilsgeschichte der ‚nationalen Wiedergeburt‘ und des ‚kommenden Reiches‘ entgegen, die besonders unter den psycho-sozialen Bedingungen der Weltwirtschaftskrise Deutungskraft unter den Massen gewann.“128 Bereits der frühe Nationalsozialismus deutete die Revolution 1918/19 als Verrat am Vaterland. Hitler erlebte den Umsturz im Lazarett als traumatische Erfahrung, die in ihm den Wunsch weckte, Niederlage und Revolution auszumerzen und die Verantwortlichen auszulöschen. Die Verschmelzung seiner alten antisemitischen Ressentiments mit neuen antimarxistischen und antibolschewistischen Vorstellungen begann im Sommer 1919. Den Begriff „Novemberverbrecher“ verwendete Hitler öffentlich erstmals am 18. September 1922, in sein ständiges Repertoire nahm er ihn 1923 auf, zu Beginn des französischen Einmarsches ins Ruhrgebiet.129 Er machte die „Novemberverbrecher“ nicht nur für den Dolchstoß gegen das deutsche Heer, sondern auch für die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages verantwortlich. Während des Putsches im November 1923 erklärte Hitler, die Schmach müsse an den Novemberverbrechern gerächt werden, dies sei die Aufgabe der nächsten Wochen und Monate.

126 Ernst Troeltsch: Vorherrschaft des Judentums? 20.10.1919, in: Ders.: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 (Die andere Bibliothek 109), Frankfurt am Main 1994, S. 91–99, hier 93f. 127 Schirmer: Politisch-kulturelle Deutungsmuster: Vorstellungen von der Welt der Politik in der Weimarer Republik, 1989, (wie Anm. 118), hier 42. 128 Gerhard Paul: Der Sturm auf die Republik und der Mythos vom „Dritten Reich“. Die Nationalsozialisten, in: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 255–279, hier 256. 129 Vgl. Ian Kershaw: Hitler. Bd 1. 1889–1936, Stuttgart 1998, hier 244, 817.

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Ausdrücklich sicherte er zu, der Putsch richte sich nicht gegen Polizei und Reichswehr, sondern „lediglich gegen die Berliner Judenregierung und die Novemberverbrecher von 1918“.130 Im „Völkischen Beobachter“ kündigte Alfred Rosenberg, damals Schriftleiter des Blattes, am 9.11.1923 den Beginn der Sühne an den Volksbetrügern an: „Am 9. November 1918 wurde das um sein Dasein kämpfende deutsche Volk hinterrücks überfallen und verraten. […] Am 9. November 1918 siegte der Hochverrat, am 9. November 1923 beginnt die Sühne, das gerechte Gericht an den Volksbetrügern. […] Die führenden Schufte des Verrats vom 9. November 1918, soweit sie nicht schon hinter Schloß und Riegel ihrer Aburteilung harren, sind ab heute als vogelfrei erklärt.“131 Hitlers Urteil zum Kriegsende war auch in „Mein Kampf“ klar: „Der tiefste und letzte Grund des Untergangs des alten Reiches lag im Nichterkennen des Rasseproblems und seiner Bedeutung für die geschichtliche Entwicklung der Völker.“132 Im zweiten Band von „Mein Kampf“ wurde er deutlich: „Hätte man zu Kriegsbeginn und während des Krieges einmal zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen es im Felde erdulden mussten, dann wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen. Im Gegenteil: Zwölftausend Schurken zur rechten Zeit beseitigt, hätte vielleicht einer Million ordentlicher, für die Zukunft wertvoller Deutschen das Leben gerettet.“133 Den Munitionsarbeiterstreik vom Januar 1918 nannte Hitler den „niederträchtigsten Schurkenstreich“, dessen Urheber „die Anwärter auf die höchsten Staatsstellen des Deutschlands der Revolution“ waren.134 Die Niederlage war in seinen Augen ohne Einschränkung und Zweifel auf den „Verrat“ der „Novemberverbrecher“ zurückzuführen: „Es gehört schon eine wahrhaft jüdische Frechheit dazu, nun der militärischen Niederlage die Schuld am Zusammenbruch beizumessen, während das Zentralorgan aller Landesverräter, der Berliner ‚Vorwärts‘, doch schrieb, dass das deutsche Volk dieses Mal seine Fahne nicht mehr siegreich nach Hause bringen dürfe!“135 Eine gründliche Abrechnung mit den „Parteien des nationalen Verrats“ war in Hitlers Augen zwingend. „Es ist geschichtlich einfach nicht denkbar, dass das deutsche Volk noch einmal seine frühere Stellung einnehmen könnte, ohne mit denen abzurechnen, die die Ursache und Veranlassung zu dem unerhörten Zusammenbruch gaben, der unseren Staat heimsuchte. Denn vor dem Richterstuhle der Nachwelt wird der Novem-

130 Zit. nach: Ian Kershaw: Hitler. Bd 1. 1889–1936, Stuttgart 1998, hier 261. 131 Zit. nach: Niels H. M. Albrecht: Die Macht einer Verleumdungskampagne. Antidemokratische Agitationen der Presse und Justiz gegen die Weimarer Republik und ihren ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert vom „Badebild“ bis zum Magdeburger Prozeß, Bremen 2002, hier 320f. 132 Adolf Hitler: Mein Kampf. Eine Abrechnung, München 1938, hier 310. 133 Ebenda, 772. 134 Ebenda, 217. 135 Ebenda, 249.

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ber 1918 nicht als Hoch-, sondern als Landesverrat gewertet werden.“136 Allzu ernst meinte Hitler aber die Revolution und ihre Akteure nicht nehmen zu müssen. Er sprach auch vom „Banditenstreich des Herbstes 1918“, der sich selbst als Revolution bezeichne.137 „Wer den ‚Wert‘ der deutschen Revolution an dem Werte und der Größe der Personen misst, die sie dem deutschen Volke seit dem November 1918 geschenkt hat, der wird sein Haupt verhüllen aus Scham vor dem Urteil der Nachwelt, […] dass Gehirn und Tugend bei unseren neudeutschen Führern im umgekehrten Verhältnis stehen zu ihren Mäulern und Lastern.“138 Mit diesen Männern dürfe es weder Zusammenarbeit noch Kompromisse geben, schrieb Hitler am Ende des Kapitels, dem er immerhin die Überschrift „Die Revolution“ gab. „Kaiser Wilhelm II. hatte als erster deutscher Kaiser den Führern des Marxismus die Hand zur Versöhnung gereicht, ohne zu ahnen, dass Schurken keine Ehre besitzen. Während sie die kaiserliche Hand noch in der ihren hielten, suchte die andere schon nach dem Dolche. Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder – Oder. Ich aber beschloss, Politiker zu werden.“139 Hitler begründete seinen Entschluss, in die Politik zu gehen, also unmittelbar mit der Revolution 1918/19. Auch dies macht verständlich, warum kein Tag die Nationalsozialisten mehr reizte, in pathetischen Appellen und Schwüren unverhüllt den gewaltsamen Sturz der Republik zu fordern, als der 9. November.140 Zusammenbruch und Revolution – in diesem Kontext entfalteten Hitler und die NS-Propaganda der „Kampfzeit“ ihre gesamten Aktivitäten. Klares Ziel war es, die Schmach von 1918 durch die Beseitigung der eigentlich Schuldigen, der Feinde im Innern, zu revidieren. Für die Nationalsozialisten war der Krieg mit Revolution und Friedensvertrag nicht zu Ende sondern nur unterbrochen. Er wurde zunächst innenpolitisch weitergeführt.141 Gerhard Paul hat den Umgang der NS-Presse mit dem 9. November untersucht, insbesondere den des „Völkischen Beobachter“. Unter dem Titel „Münchner Beobachter“ war das Blatt zunächst publizistisches Organ der strikt antisemitisch orientierten Thule-Gesellschaft. Dieser Kampfbund begriff den Zusammenbruch des Kaiserreiches als Chance zu einer völkischen Erneuerung und führte bereits Anfang 1919 dilettantische Putschversuche durch. Später wurde das Blatt in „Völkischer Beobachter“ umbenannt. Seit 1920 war der „Völkische Beobachter“ das amtliche Parteiorgan der Münchner Reichsleitung der NSDAP. Seine Auflage steigerte sich von 2.500 (1923) über 15.000 (1928) auf 128.800 Exemplare im Jahre 1931.142

136 Ebenda, 367f. 137 Ebenda, 377f. 138 Ebenda, 303. 139 Ebenda, 225. 140 Vgl. Paul: Der Sturm auf die Republik und der Mythos vom „Dritten Reich“, 1989, (wie Anm. 128), hier 272. 141 Vgl. Ebenda, 276. 142 Vgl. Ebenda, 257.

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In der Regel wurde im „Völkischen Beobachter“ wie in der anderen NS-Presse über den 9. November auf Seite eins berichtet. Das „unterstreicht die große Bedeutung des 9. November als dem Feiertag der nationalsozialistischen Teilkultur.“143 Schon während der „Kampfzeit“ hatte der 9. November für den Nationalsozialismus eine große symbolische Bedeutung und Motivationskraft. „Wie sehr ‚die Wunde von 1918‘ schmerzte, demonstrierte die NS- Kampfpresse alljährlich, wenn sie immer neue Begriffe für die ‚Schmach‘ des 9.11.1918 erfand. Bis 1922 galt dieser Tag als ‚Unglückstag‘, als ‚schwarzer Tag‘ der deutschen Geschichte und wurde von den Nationalsozialisten daher auch als ‚Trauertag‘ begangen. Der ‚Völkische Beobachter‘ nannte den Revolutionstag abwechselnd ‚Jahrestag der Lumpen- und Judenrevolte‘, den ‚Tag schamloser Eidbrüche‘ oder den ‚Tag des größten Verbrechens der deutschen Geschichte‘. Wie an keinem anderen Tag wurde schon vor 1923 am 9. November im ‚Völkischen Beobachter‘ dazu aufgefordert, das Rad der Geschichte herumzureißen, der am 9.11.1918 errichteten ‚jüdischen Blutdiktatur‘ ‚brutalen Widerstand‘ entgegenzusetzen und die ‚völkische Wiedergeburt‘ Deutschlands zu organisieren. In diesem Sinne galt der 9. November den Nationalsozialisten als Tag der innerstaatlichen Kampfansage gegen die Republik von Weimar und die Juden. Seine hohe Symbolkraft als ‚Tag der Rache‘ zeigte der 9. November auch in den folgenden Jahren. Im Gefolge von Feiern und Kundgebungen zum 9. November wagten die Nationalsozialisten 1923 den Sturm auf die Republik“.144 Mit diesem 9. November 1923 schuf die nationalsozialistische Bewegung sich ihren eigenen Feiertag, den sie nun gegen die Revolutionsfeiern der Linken setzte. Je mehr die NSDAP zur Massenpartei wurde, desto stärker trat allerdings am 9. November die Trauer um die „Gefallenen der Bewegung“ in den Hintergrund. Der 9. November wurde als „Tag der nationalen Auferstehung“ und des „jüngsten Gerichts“ gedeutet und gewertet.145 In vollem Bewusstsein der unmissverständlichen Symbolkraft wurden der Hitler-Putsch 1923 und die Judenpogrome 1938 auf den fünften bzw. den zwanzigsten Jahrestag des 9. November 1918 terminiert.146 Auch ganz bewusst gründeten die Nationalsozialisten ihre SS am 9. November 1925. Gegen Ende der Zwanzigerjahre charakterisierte die NS-Presse die Novemberrevolution immer wieder als „Judenputsch“ und „Börsenrevolte“.147 Gerhard Paul hat darauf hingewiesen, dass gerade im Begriff der „Börsenrevolte“ noch das „betrügerisch schiefe antikapitalistische Moment der NS-Propaganda“ mitschwang, das auf das Uneingelöste der Revolution von 1918 zielte. Keine Revolution der Arbeiter sei es

143 Ebenda, 276. 144 Ebenda, 270f. 145 Vgl. ebenda, 273. 146 Vgl. Detlef Lehnert/Klaus Megerle: Politische Identität und nationale Gedenktage, in: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 9–30, hier 14. 147 Angriff Nr. 45 (5.11.1928).

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gewesen, sondern eine Revolution des jüdischen Finanzkapitals, erklärte die Kampfpresse. Die Revolution von 1918 habe die geheimen „Triebkräfte“ der Geschichte, die Juden, an die Oberfläche gespült. Gemeinsam mit ihren „marxistischen Knechten“ hätten sie den alten Staat zerschlagen und an seine Stelle die Republik, die „jüdische Blutdiktatur“ gesetzt.148 Mit durchaus wechselnder Stoßrichtung und schillernder Bedeutungszuschreibung blieb der 9. November der große Gedenk- und Kampftag der NSDAP. Hitler ließ keinerlei Zweifel daran, dass er mit den angeblich für die Niederlage Verantwortlichen abrechnen werde. Im Prozess gegen drei Reichswehroffiziere legte Hitler im September 1930 sein so genanntes Bekenntnis zur Legalität ab. Er verband es mit der klaren Aussage: „Wenn die Bewegung in ihrem legalen Kampf siegt, wird ein deutscher Staatsgerichtshof kommen, und der November 1918 wird seine Sühne finden, und es werden auch Köpfe rollen.“149

Nationales Unglück Kreise der nationalen Rechten hatten im November keinerlei unmittelbaren Widerstand gegen die Revolutionsbewegung geleistet. Ihre politischen Parteien hatten sich unter neuen Namen wieder gegründet – als Deutschnationale Volkspartei bzw. als Deutsche Volkspartei – und sich anscheinend auf den Boden der entstandenen Tatsachen gestellt. Die OHL mit Hindenburg und Groener an der Spitze hatte sich der von der Revolution eingesetzten Regierung der Volksbeauftragten zur Verfügung gestellt, und Hindenburgs Beispiel folgend waren auch die meisten hohen Beamten im Dienst geblieben. Gleichwohl kann als Grundüberzeugung der gesamten nationalen Rechten gelten, dass die Revolution als nationales Unglück gesehen wurde. Diese Überzeugung teilte sie mit einem großen Teil des liberalen Bürgertums, sowie mit weiten Teilen des Protestantismus und des Katholizismus; sie war seit dem späten Frühjahr 1919 eine Art Minimalkonsens nahezu aller Kräfte rechts von der MSPD. Von Anfang an hatte die militärische Führung ihre Zusammenarbeit mit der Revolutionsregierung keineswegs als bewusstes Bekenntnis zur Republik verstanden. Es ging ihr vielmehr darum, möglichst viel Kontinuität über die Wirren der Revolutionszeit hinweg zu retten und, wie Wilhelm Groener das später in seinen Erinnerungen formulierte, „dem Offizierskorps als dem Träger des Wehrgedankens einen Weg in die neuen Verhältnisse zu ermöglichen. Die seit Jahrhunderten im preußisch-

148 Paul: Der Sturm auf die Republik und der Mythos vom „Dritten Reich“, 1989, (wie Anm. 128), hier 271. 149 Zit. nach: Herbert Michaelis/Ernst Schraepler (Hg.): Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Bd. 7. Die Weimarer Republik. Vom Kellogg-Pakt zur Weltwirtschaftskrise 1928–30, Berlin 1962, hier 530f.

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deutschen Offizierskorps angesammelte moralisch-geistige Kraft mußte in ihrem Kern für die Wehrmacht der Zukunft erhalten werden. Der Sturz des Kaisertums entzog den Offizieren den Boden ihres Daseins, ihren Sammel- und Ausrichtepunkt. Es mußte ihm ein Ziel gewiesen werden, das des Einsatzes wert war und ihm die innere Sicherheit wiedergab. Es mußte das Gefühl wachgerufen werden der Verpflichtung nicht gegenüber einer bestimmten Staatsform, sondern für Deutschland schlechthin.“150 Eine neue, nationale Perspektive für das Offizierskorps war ein wesentliches Ziel, es sollte sich nicht mehr mit dem Monarchen identifizieren, sondern mit der Nation, weshalb in der OHL nicht etwa die Deutung der Revolution als Verrat am Kaiser dominierte, sondern neben der Dolchstoßthese ihre Bewertung als nationales Unglück. Neuer Bezugspunkt war die Nation. Allerdings, hielt Groener in seinen Erinnerungen fest, konnte das Offizierskorps nur mit einer Regierung zusammengehen, „die den Kampf gegen den Radikalismus und Bolschewismus aufnahm“. Dazu sei Ebert bereit gewesen. Es habe deshalb nahe gelegen, ihm die Unterstützung des Heeres und des Offizierskorps anzubieten. „Wir hofften, durch unsere Tätigkeit einen Teil der Macht im neuen Staat an Heer und Offizierskorps zu bringen, gelang das, so war der Revolution zum Trotz das beste und stärkste Element des alten Preußentums in das neue Deutschland hinübergerettet. Zunächst galt es freilich Zugeständnisse zu machen, denn die Entwicklung im Heer und in der Heimat war solche Wege gegangen, daß es sich vorerst nicht um rücksichtsloses Befehlen von seiten der O.H.L. handeln konnte, sondern um Auffangen und Unschädlichmachen der revolutionären Strömungen.“151 Dies war nicht eine nachträgliche Begründung und Sinnstiftung für die Politik der OHL. Schon 1922 hat Groener sein „Bündnis“ mit Ebert als von Anfang an taktischer Natur charakterisiert. Er sei ein Bündnis mit den Führern der MSPD eingegangen, „um die revolutionäre Bewegung den radikalen Führern aus den Händen zu reißen, sie abzudrehen und allmählich mit dem Wiedererstarken der Machtmittel ganz totzumachen.“152 In den Auseinandersetzungen und Kämpfen der ersten Jahreshälfte 1919 setzen sich offizielle militärische Verbände und Freikorps gegen Aufständische durch. Je vollständiger sich deren Niederlage abzeichnete, desto unverständlicher erschien im Nachhinein das vermeintliche Versagen gegen die Revolution im November 1918. „Die Unfähigkeit des Offizierskorps, der Umsturzbewegung militärisch ein Ende zu machen, wird als zentrale Voraussetzung für das Gelingen der Revolution angesehen. Wie ein Trauma lastet das Wissen auf der Rechten, in der Krise versagt zu haben.“153 Bereits 1919 begann unter den beteiligten Offizieren und Generälen ein jahrelang währender Streit über den jeweiligen Anteil am Versagen gegenüber der Revolution. 150 151 152 153

Groener: Lebenserinnerungen, 1957, (wie Anm. 22), hier 467. Ebenda, 467f. Zit. nach: Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 230. Reimus: „Das Reich muß uns doch bleiben!, 1989, (wie Anm. 124), hier 235.

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Jede Publikation nahm man peinlich genau unter die Lupe und stritt mitunter um einzelne Halbsätze. So beschwerte sich beispielsweise General Heinrich Scheuch, der letzte Kriegsminister im Kabinett Max von Baden, im November 1927 bei Oberstleutnant Alfred Niemann, der in seinem Buch „Revolution von oben – Umsturz von unten“ angeblich verschiedene Details während der Revolution nicht korrekt dargestellt hatte, und legte zugleich ausführlich seine eigene Position dar. Im selben Monat erhob Konteradmiral Magnus von Levetzow heftige Vorwürfe gegen Scheuch, der sich während der Revolution habe schwere Versäumnisse zu Schulden kommen lassen.154 Vor allem jüngere und damit rang-niedrigere Offiziere und Mannschaften konnten dieser Art der rückwärtsgewandten Schuldzuweisung wenig abgewinnen. Das Kriegserlebnis hatte bei ihnen völlig losgelöst von überkommenen gesellschaftlichen Hierarchien einen Führungsanspruch im nationalen Lager entstehen lassen, den der Stahlhelm auf die Formel brachte: „Die Stunde der Frontsoldaten kommt“.155 Der Übergang zwischen der nationalen Rechten und den rechtsextremistischen Milieus war fließend. Auch die Deutschnationale Volkspartei, die als große parlamentarische Rechtspartei viele nicht-liberale rechtsstehenden Kräfte gesammelt hatte, zog keinen klaren Trennungsstrich zur extremsten Rechten, und spätestens mit der Wahl Alfred Hugenbergs zum Parteivorsitzenden hatte sich in der DNVP die Auffassung durchgesetzt, dass es „mit diesem Staat keinen Frieden geben darf.“156 Diese Position hatten der „Berliner Lokal-Anzeiger“ und „Der Tag“ schon Jahre zuvor offensiv vertreten. Beide Zeitungen waren Sprachrohre des Hugenberg-Konzerns, der für massenwirksame nationale Publizistik schlechthin stand. „Der Tag“, ab 1931 offizielles Parteiorgan der DNVP, sprach mit einer Auflage von etwa 70.000 Exemplaren den deutschnationalen Bürger mit gehobenem Bildungsstand an. Der „Lokal-Anzeiger“ wandte sich mit seiner dreimal höheren Auflage, zwei täglichen Ausgaben und dem zu Wochenanfang erscheinenden „Montag“ vor allem an das städtische Kleinbürgertum.157 „All unser Unglück führt auf die Revolution zurück.“158 Auf diese einfache Formel brachte „Der Tag“ die Lage der Nation zum ersten Jahrestag des 9. November. Es war eine Formulierung, die sich breiter Zustimmung in den Kreisen der gesamten nationalen Rechten sicher sein konnte. Weitgehend verbreitet war zu diesem Zeitpunkt auch die Überzeugung, dass der schreckliche Zustand, in dem das Land sich befand, von langer Dauer sein würde: „Mit Deutschlands Macht und Ehre, mit seiner Freiheit und seinem Wohlstand ist es

154 Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 530. 155 Stahlhelm (9.11.1930), zit. nach: Reimus: „Das Reich muß uns doch bleiben!, 1989, (wie Anm. 124), hier 239. 156 Ebenda, 238. 157 Ebenda, 234. 158 Der Tag, Nr. 249 (9.11.1919), zit. nach: Reimus: „Das Reich muß uns doch bleiben!, 1989, (wie Anm. 124), hier 235.

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zu Ende, auf Jahrhunderte zu Ende … Ein Volk von Sklaven sind wir geworden … Ein Volk von Bettlern.“159 Auch Gustav Stresemann zog aus Anlass des ersten Jahrestages in der Wochenschrift „Deutsche Stimmen“ am 5. November 1919 eine vernichtende Bilanz der Revolution, die ausführlich zitiert zu werden verdient: „Alle Hoffnungen, die etwa in dem Schlagwort ausmündeten: durch die Revolution zum Frieden, sind hoffnungslos zerstört. Die Revolution hat uns nicht die innere Versöhnung gebracht. […] Bürgerblut ist unter der Republik mehr geflossen, als unter der 500jährigen Herrschaft der Hohenzollern. […] Müde und armselig schleppt sich die Revolution durch das erste Jahr ihres Bestehens. Überall Niederbruch, fast nirgends ein Anfang von Neuem. – Das ist die Novemberstimmung, in der das deutsche Volk den Jahrestag der Revolution begeht. […] Der Friede war nur noch unter Opfern zu erkaufen, aber dass er zum Niederbruch unserer ganzen Weltstellung führte, das ist die Errungenschaft der Revolution. Und deshalb wird der Revolutionstag nie nationaler Gedenktag in Deutschland werden. Die Revolution und die Republik, beide vermögen dem Gemüt des deutschen Volkes nichts zu geben. Die leidenschaftliche Auflehnung der deutschen akademischen Jugend und Schuljugend in den gebildeten Ständen gegen den Geist des 9. November zeigt uns den Weg in die neue Zukunft. […] Die gemütsarme und in der Niedertrampelung unserer nationalen Ehre gemütsrohe Revolution hat bei dieser Jugend ausgespielt und sich damit um ihr Zukunftsgedenken im deutschen Volke gebracht. Sie wird nie mit deutscher Größe, sondern sie wird nur in Verbindung mit dem deutschen Elend der Gegenwart genannt und von späteren Geschlechtern verflucht werden.“160 Versuche, den Revolutionstag zum gesetzlichen Feiertag zu machen, wurden von der Rechten entschieden abgelehnt, da es sich um einen reinen „Parteifeiertag“ handeln würde. Das nationale Lager sprach dagegen von einem Buß- oder Volkstrauertag, dessen einziger Zweck in der Vergegenwärtigung alter Größe bestehen könne. Zur Feier des „Ebert-Scheidemann-Jubiläums“ – so das Standard-Argument der politischen Rechten – habe eigentlich nur die SPD Anlass. Sozialdemokratische Politiker wurden attackiert oder verunglimpft, wenn sie zum 9. November Stellung nahmen. So bezog „Der Tag“ 1925 entschieden Position gegen eine beabsichtigte Rundfunkrede des Preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun: „Herr Braun wird einen abgestandenen Leitartikel aus dem Vorwärts vortragen und seine Zuhörer werden dabei das große Gähnen kriegen. Daß aber diese öden Allgemeinplätze sozusagen als öffentliche Kundgebung der Staatsregierung gewertet sein wollen, darin liegt umso mehr eine gefährliche Entstellung der Tatsachen, als ja der 9. November in Preußen bis jetzt kein Feiertag ist. Mag Herr Braun seine Genossen im Reichsbanner mit einer Festrede langweilen, die Teilnehmer des 159 Der Tag Nr. 250 (9.11.1919), zit. nach: Reimus: „Das Reich muß uns doch bleiben!, 1989, (wie Anm. 124), hier 236. 160 Gustav Stresemann: Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles. Reden und Aufsätze, Berlin 1919, hier 190–194.

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Rundfunks bezahlen ihr Geld für andere Dinge als für sozialistische Propaganda und für Verherrlichung der historischen ‚Tat‘ des 9. November.“161 In ähnlicher Art und Weise wurde der Preußische Innenminister und Sozialdemokrat Severing angefeindet, dessen Rundfunkrede zum zehnten Jahrestag des 9. November als „Mißbrauch des Rundfunks zur Verherrlichung der Novemberschmach“ verurteilt wurde.162 Über Jahre hinweg zeichnete die Presse der nationalen Rechten in grellen Farben ein Bild des Niedergangs als Folge der Revolution: „Ganz Deutschland ein Schieberlokal, eine Animierkneipe, ein aberwitziger Kientopp, ein wüster Rummelplatz. Das waren die Segnungen der ‚größten aller Revolutionen‘. Das war das Deutschland des 9. November.“163 Und sie ließ keinen Zweifel daran, was in ihren Augen von denen zu halten war, die ernsthaft an die Revolution erinnerten: „In Berlin stehen am 9. November zehn Minuten lang die Wagen und der Verstand still.“164 „Der 9. November ist der Tag, an dem die Minderwertigen des Volkes, die Feigen und die Meuterer … endgültig die Oberhand bekamen über die Tapferen und die Treuen im Lande“.165 Dass die politische Rechte in Deutschland am Ende der zwanziger Jahre immer mehr an Einfluss gewann, zeigte sich auch an Ausmaß und Inhalt der Berichterstattung über den 9. November als Gedenktag. In den Jahren 1930 bis 1932 wurde kaum mehr über Veranstaltungen der Republikaner berichtet. Dieses Thema war für die Rechte erledigt, auch wenn es gelegentlich noch Hohn und Spott über die Sozialdemokraten gab, denen es nicht mehr möglich sei, „diesen Tag im Stile von früher zu feiern“.166 Die letzten großen Auseinandersetzungen mit dem 9. November fanden 1928 statt, als das Jubiläum zum zehnten Male begangen wurde, stellte Klaus Reimus im Rahmen seiner Untersuchung der Presse der nationalen Rechten fest. „Ausführliche Rückblicke auf die Situation im deutschen November 1918 werden veröffentlicht, die sich allerdings in der Bewertung nicht von früheren Positionen unterscheiden. Die Sonderbeilagen zu den großen Zeitungen ‚10 Jahre Friede – Freiheit – Brot‘ und ‚10 Jahre Unfreiheit‘ sollen die Verlogenheit und Erbärmlichkeit der vergangenen Jahre veranschaulichen. Zum ersten Mal werden in diesem Zusammenhang auch Karikaturen ‚berühmter Novemberlinge‘ verwendet, die den grotesken Charakter der

161 Der Tag Nr. 269 (10.11.1925), zit. nach: Reimus: „Das Reich muß uns doch bleiben!, 1989, (wie Anm. 124), hier 240. 162 Berliner Lokalanzeiger Nr. 534 (10.11.1928), zit. nach: Reimus: „Das Reich muß uns doch bleiben!, 1989, (wie Anm. 124), hier 242. 163 Der Montag Nr. 43 (9.11.1925), zit. nach: Reimus: „Das Reich muß uns doch bleiben!, 1989, (wie Anm. 124), hier 236. 164 Gewissen (14.11.1921), zit. nach: Reimus: „Das Reich muß uns doch bleiben!, 1989, (wie Anm. 124), hier 240. 165 Der Tag Nr. 269 (9.11.1928), zit. nach: Reimus: „Das Reich muß uns doch bleiben!, 1989, (wie Anm. 124), hier 235. 166 Berliner Lokalanzeiger Nr. 534 (10.11.1932), zit. nach: Reimus: „Das Reich muß uns doch bleiben!, 1989, (wie Anm. 124), hier 242.

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Revolution hervorheben sollen, wobei der ‚Novemberling‘ nur eine feinere Umschreibung des nationalsozialistischen ‚Schädlings‘ ist.“167 Ob „dunkle Stunden“ oder „Novemberschmach“ – einig war man sich in konservativen, nationalen und nationalliberalen Kreisen, dass die Revolution 1918/19 ein nationales Unglück gewesen war. In der katholischen Publizistik war nach Überwindung des Krisenjahres 1923 eine etwas veränderte Deutung der Revolution festzustellen. Während sie zuvor in der Regel als „Dolchstoß in den Rücken des Heeres“ oder als „Verrat am Vaterland“ bezeichnet wurde, trat nun stärker die etwas mildere Form der Abwertung als „Nationales Unglück“ in den Vordergrund. Bei der „Kölnischen Volkszeitung“ machte sich auch eine optimistischere Grundhaltung zur Republik bemerkbar, stellte Georg Kotowski im Rahmen seiner Untersuchung der Haltung des politischen Katholizismus zu den Gedenktagen der Weimarer Zeit fest, wobei die Erhaltung der Reichseinheit dabei zentrale Bedeutung gewonnen habe. So hob das Blatt am 19. Januar 1924 darauf ab, der Jahrestag der Reichsgründung sollte immer Mahnung sein, „ein wie hohes Gut unsere nationale Einheit ist, die wir durch Krieg, Zusammenbruch, Revolution und alle Drangsale der Nachkriegszeit hindurchgerettet haben“. Demgegenüber wird der Revolutionstag als Geburtsstunde eines neuen Deutschlands nachdrücklich abgewertet: „Kein Gemälde vom Schnitte der Wernerschen Kaiserproklamation wird die Geburt des neuen Deutschland leider verkünden, es wird vielmehr gut sein, wenn die Erinnerung an jene häßlichen, grauen, düsteren Novembertage bald für immer versinkt und an ihre Stelle die ewige Mahnung aufsteigt, einig, einig, einig zu sein.“168 In der Phase der Stabilisierung der Republik wurde der nun bereits einige Jahre bestehende neue Staat im katholischen Milieu akzeptiert. Es blieb allerdings bei der klar ablehnenden Haltung gegenüber der Revolution, wenn auch ihre Ursachen differenzierter dargestellt wurden. Gebilligt werden konnte die Revolution von einem katholischen Standpunkt aus nicht. Auch für die „Germania“ war und blieb der Umsturz verwerflich. Die Zentrumspartei habe „die Tragödie des Novembers 1918“ nicht gewollt, sich aber doch am Aufbau der demokratischen Republik beteiligt. „Unsere Einstellung zu den Geschehnissen des 9. November gestattet kein festliches Erinnern und führt daher auch zur scharfen Ablehnung des Gedankens, ihn als nationalen Feiertag zu begehen. Wir stimmen freilich auch nicht in den Chor derer ein, die das Schicksalhafte dieses Tages verkennen, immerzu nur von dem ‚Novemberverbrechen‘ reden und dabei vergessen, wie groß der schuldhafte Anteil des alten Staates an ihm war.“169

167 Reimus: „Das Reich muß uns doch bleiben!, 1989, (wie Anm. 124), hier 242. 168 Zit. nach: Kotowski: Auf dem Boden der gegebenen vollendeten Tatsachen!, 1989, (wie Anm. 27), hier 172. 169 Germania Nr. 522 (9.11.1928), zit. nach: Kotowski: Auf dem Boden der gegebenen vollendeten Tatsachen!, 1989, (wie Anm. 27), hier 169f.

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Während der politische Katholizismus sich nach und nach von einer Wertung der Revolution als „Verrat am Vaterland“ verabschiedete und zur Deutung als „Nationales Unglück“ fand, bewegte sich die Bewertung im industriellen Milieu in die entgegen gesetzte Richtung. Als Sprachrohr dieses Milieus konnte vor allem die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ gelten. Sie kam 1920 in die Hände von Hugo Stinnes, hatte eine Auflage von 60.000 bis 75.000 Exemplaren und war eine Art publizistische Nahtstelle für die Beziehungen von Staat und Industrie.170 Auch die „Rheinisch-Westfälische Zeitung“ konnte diesem Milieu zugeordnet werden. Lediglich in der Zeit unmittelbar nach der Revolution, stellte Klaus Megerle fest, fand sich in diesen industrienahen Blättern eine positive Würdigung der Rolle der Sozialdemokratie, wenn auch nicht der Revolutionsereignisse selbst. Spätestens seit 1920/21 wurde die Revolution – weitgehend in Übereinstimmung mit der nationalen Rechten – durchgängig als „nationale Katastrophe“ begriffen, gelegentlich sogar als ein „Verbrechen … an der 50jährigen Vergangenheit des deutschen Kaiserreichs“.171 1924 berichtete die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ im Rückblick auf die Revolution über „plötzlich auftauchende Horden halbasiatischer Färbung“ unter den Revolutionären und meinte feststellen zu können: „auffällig stark war der Anteil moralisch und geistig Minderwertiger an ihrer Zahl.“172 Gerade der wertvollste Teil des deutschen Volkes, so das Blatt weiter, wolle am liebsten von dieser Revolution nichts mehr hören und nichts mehr wissen. „Allzu schwer leidet seine Selbstachtung unter dem Gedanken an die für Verstand wie für Ehrgefühl so beschämenden Vorgänge von damals.“173 In der Phase der relativen Stabilisierung der Republik verlor die Beschäftigung mit der Revolution im industriellen Milieu an Bedeutung, die Kommentare und Berichte wurden spärlicher und blieben zum Teil sogar am „Gedenktag“ aus. Lediglich 1928 konnte wieder verstärkte Aufmerksamkeit registriert werden, zum einen sicherlich wegen des 10. Jahrestags der Revolution, zum anderen wurde aber auch Genugtuung darüber geäußert, „daß wir uns immer weiter von dem Geiste des November 1918 entfernen“.174 Unter diesen Umständen schien es der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ angemessen, daran zu erinnern, wer seinerzeit hinter der Revolution steckte: „… gemacht von einigen tausend Spartakisten, die nach russischem Muster in der Schicksalsstunde des Vaterlandes, auf die Weltrevolution hoffend, dem kämpfenden Heere in den Rücken fielen, vorbereitet von den Unabhängigen, die jahrelang in Marine,

170 Vgl. Megerle: Aus dem Gefühl der Defensive erwächst keine Führung, 1989, (wie Anm. 89), hier 210. 171 Ebenda, 223. 172 Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 537 (13.11.1924), zit. nach: Megerle: Aus dem Gefühl der Defensive erwächst keine Führung, 1989, (wie Anm. 89), hier 225. 173 Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 537 (13.11.1924), zit. nach: Megerle: Aus dem Gefühl der Defensive erwächst keine Führung, 1989, (wie Anm. 89), hier 222f. 174 Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 527 (9.11.1928), zit. nach: Megerle: Aus dem Gefühl der Defensive erwächst keine Führung, 1989, (wie Anm. 89), hier 226.

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Heer und Heimat den Widerstandswillen unterwühlt hatten, geduldet von den Mehrheitssozialisten, die fürchteten, daß die Entwicklung über sie hinweggehen würde, und schließlich begrüßt von Deserteuren und von verblendeten Ideologen, die mitten im Kriege dem Haupt eines gegnerischen Staates, Wilson, ihr michelhaftes Vertrauen schenkten…“.175 Gab es im industriellen Milieu durchaus immer wieder die Neigung, die Revolution nicht nur als „Nationales Unglück“, sondern auch als „Dolchstoß in den Rücken des Heeres“ und als „Verrat am Vaterland“ zu deuten, so war dies in linksliberalen und demokratischen Kreisen ausgeschlossen. Denkbar war aber durchaus die Deutung der Revolution als „Nationales Unglück“. Selbst in den Augen eines Mannes wie Ernst Troeltsch, der über jeden Verdacht erhaben war, auf der Seite der alten herrschenden Kräfte zu stehen, war die Revolution ein Schaden für die Nation, jedenfalls aus der Perspektive des Winters 1919. „Man wird von der Revolution heute noch nicht sagen können, ob sie vermeidbar war. Ob vermeidbar oder nicht, ein großes Unglück ist sie.“176

Exkurs: Kriegsschulddebatte und Kampagne gegen Versailles Grundlage für Ernst Troeltschs negative Bewertung der Revolution waren nicht innenpolitische Erwägungen, er stand der Entwicklung hin zu Parlamentarismus und Republik nicht ablehnend gegenüber. Es waren außenpolitische Fragen, konkret die Bedingungen des Waffenstillstands und später des Friedensvertrages, die sein Denken prägten. Ohne ein Anhänger der Dolchstoßthese zu sein, machte Troeltsch 1919 die Revolution verantwortlich für die Forderungen, die die Sieger des Krieges an das Deutsche Reich stellten. Angesichts der Friedensbedingungen sinnierte er in seinen Spektatorbriefen ernsthaft über die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen. Troeltsch stand mit diesem „Primat der Außenpolitik“ nicht allein, im Gegenteil. Bis weit in die Reihen der Sozialdemokratie hinein prägte die Haltung zum Versailler Vertragswerk und insbesondere zum Kriegsschuldartikel mehr als jede andere Frage die gesamte Politik in der Weimarer Zeit. Auch die Deutung der Revolution von 1918/19 und die Haltung zur Republik wurden davon intensiv bestimmt. Deshalb ist es im Rahmen unserer Fragestellungen angebracht, sie genauer zu beleuchten. Die Übergabe der alliierten Friedensbedingungen am 7. Mai 1919 und die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages stellten eine tiefe Zäsur im Hinblick auf die Beurteilung des Kriegsendes und der Revolution dar. Die Ablehnung des Ver-

175 Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 527 (9.11.1928), zit. nach: Megerle: Aus dem Gefühl der Defensive erwächst keine Führung, 1989, (wie Anm. 89), hier 225. 176 Ernst Troeltsch: Rück- und Umblick 1. 9.1.1919, in: Ders.: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 (Die andere Bibliothek 109), Frankfurt am Main 1994, S. 11–14, hier 13.

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trages war in allen Parteien allgemein. Auch unter den Linksliberalen machte sich ein tiefes Gefühl der Ohnmacht breit, weil keinerlei Möglichkeit bestand, die Vertragsbedingungen zu verändern. Der Sturm der Entrüstung bei Liberalen und Pazifisten unterschied sich vordergründig nur wenig von der Empörung der politischen Rechten. So folgte der liberale Ernst Troeltsch in seinem Urteil ganz dem deutschen Delegationsleiter Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, „der endlich eine Führerpersönlichkeit von Charakter und von imponierender Intelligenz war, das volle Vertrauen der Delegation genoß und den Gegnern endlich wieder Respekt vor dem erstorben scheinenden deutschen Geist einflößte“. Brockdorff-Rantzau sei zu recht zu der festen Überzeugung gekommen, dass die Bedingungen unannehmbar seien. Auch seine Spekulation, dass nach einer kurzen Zeit des schweren Leidens eine endgültige Entzweiung der Entente erfolgen müsse, sei richtig gewesen. Denn zu einem neuen Krieg stünden die verschiedenen Teile der Entente sehr verschieden; nur Frankreich wolle eine Aufteilung Deutschlands. „Voraussetzung für das Gelingen dieses zweifellos bedeutenden und großgesinnten politischen Gedankens war aber, daß das deutsche Volk die neuen Leiden um des großen Zieles willen zu ertragen willig war, daß es einmütig hinter der Brockdorffschen Politik stand und daß man in Paris an dieser einmütigen Entschlossenheit keinen Zweifel hatte.“177 Diese Voraussetzungen aber waren nach Troeltschs Überzeugung nicht erfüllt: „Die Brockdorffsche groß gedachte Politik war mit einem einigen und entschlossenen Volke durchführbar, aber nicht mit dem von Gärung und Fäulnis durchwühlten Kehrichthaufen eines Volkes, den der Hungerkrieg und die inneren Kämpfe vorerst übrig gelassen hatten.“178 Wie ein großer Teil des linksliberalen Bürgertums war Troeltsch allerdings auch hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, die geeinte Nation möge Widerstand leisten und der Erkenntnis, dass die nationale Rechte den Kampf gegen Versailles auch als Kampf gegen Revolution und Republik führte. „Das ‚Unannehmbar‘ war oder schien wieder ein heroischer Klang, bei dem nationales Ehrgefühl aufflammen und die Stimmung der Einigkeit von 1914 wiederkehren könne. Gemeinsame Todesgefahr schien wieder die grenzenlose Zerbröckelung und gegenseitige Abschließung und Verfeindung zu überwinden. Die Schulkinder zogen wieder in großen Demonstrationszügen mit schwarzweißroten Fahnen durch die Straßen und sangen – ohne die grausige Selbstironie zu empfinden – die ‚Wacht am Rhein‘. Das zeigte schon, welche Elemente sich der Bewegung bemächtigten. Es waren wieder die Stimmungen der Vaterlandspartei. Man hörte wieder die Anklagen gegen eine Regierung, die sich

177 Ernst Troeltsch: Nach der Entscheidung. 26.6.1919, in: Ders.: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 (Die andere Bibliothek 109), Frankfurt am Main 1994, S. 56–62, hier 57. 178 Ernst Troeltsch: Neue Krisen und Möglichkeiten. 8.7.1919, in: Ders.: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 (Die andere Bibliothek 109), Frankfurt am Main 1994, S. 62–68, hier 63.

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von Wilsons Friedensphrasen habe betören lassen und um ihretwillen einen fast schon errungenen Sieg preisgegeben habe. […] Gedankenloser Trotz gegen den Feind und Rache an der Revolution: das war ein unter der Decke dieser neuen Begeisterung sich ausbreitendes schwelendes Feuer, das die Genugtuung über sie wieder zunichte machte.“179 Ähnlich wie Troeltsch beschrieb später Ernst Müller-Meiningen die Verknüpfung von außenpolitischen und innenpolitischen Aspekten. Müller-Meiningen, Mitglied der DDP und nach der Revolution Minister in Bayern, machte 1922 allein den Versailler Vertrag für die Vernichtung aller demokratischen Stimmung in Deutschland verantwortlich. Ohne Revision sei an eine Festigung der Republik in Deutschland nicht zu denken.180 Entscheidende Bezugsgröße war die Nation – das galt bis weit ins liberale Bürgertum und in die Sozialdemokratie hinein. An der großen, lang andauernden Kampagne gegen den Versailler Vertrag haben sich die bürgerlich-republikanischen Parteien nicht nur als Mitläufer beteiligt, sondern sie mit ins Leben gerufen und personell wie institutionell getragen. Der Kampf gegen die „Schmachparagraphen“ besaß für viele DVP- und DDP-Politiker neben der außenpolitischen auch eine innenpolitische Komponente. Er zielte zum einen auf die Aushöhlung des Versailles Vertragssystems, mit dem man sich nie wirklich abfinden wollte, aber er konnte zum anderen auch eine Art Integrationsklammer für die sozial zerklüftete und politisch zerstrittene Nation sein. Der gemeinsame Kampf gegen Versailles sollte eine Neuauflage des „Augusterlebnis“ von 1914 ermöglichen und die Nation im Widerstand gegen den äußeren Feind vereinen. Entsprechend breit und umfangreich war die Kampagne gegen den Friedensvertrag angelegt. Als die Friedensbedingungen bekannt wurden, protestierten die deutschen Universitäten in einer gemeinsamen Erklärung, in der sie sich auf ihre Würde als abendländische völkerverbindende Instanz beriefen. Der entschieden gegen die Dolchstoßthese auftretende Hans Delbrück wandte sich genauso energisch gegen die Behauptung einer deutschen Alleinschuld am Ersten Weltkrieg und gegen den Versailler Vertrag – und war im übrigen der DNVP beigetreten. Zusammen mit Max Weber und anderen unterzeichnete Delbrück am 27. Mai 1919 das Memorandum, in dem erklärt wurde, dass Deutschland einen Verteidigungskrieg geführt habe.181 Die Historiker, unabhängig davon, welcher Generation sie angehörten, empfanden Versailles als Schock, mit dem sie sich auch Jahre später noch nicht abfinden konnten.182 Auch zahlreiche Frauenorganisationen fühlten sich berufen, das Nationalgefühl in der Bevölkerung wach zu halten, bei den politisch Verantwortlichen beständig die Revi-

179 Ernst Troeltsch: Die Aufnahme der Friedensbedingungen. 23.5.1919, in: Ders.: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 (Die andere Bibliothek 109), Frankfurt am Main 1994, S. 43–47, hier 44. 180 Müller: Aus Bayerns schwersten Tagen, 1924, (wie Anm. 58), hier 268f. 181 Vgl. Petzold: Die Dolchstoßlegende, 1963, (wie Anm. 82). 182 Vgl. Cornelißen: „Schuld am Weltfrieden“, 2001, (wie Anm. 18), hier 238.

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sion der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges anzumahnen und gegen die „Kriegsschuldlüge“ vorzugehen.183 Zunächst scheint es allerdings, stellte Ulrich Heinemann in seiner Studie über die „verdrängte Niederlage“ fest, einen deutlichen Unterschied bei der Wahrnehmung des Vertragswerks zwischen Ober- und Unterschichten gegeben zu haben. In der Masse der Bevölkerung hielt sich die Protesthaltung anfangs offensichtlich in Grenzen. Führende DDP-Politiker zeigten sich geradezu betroffen über den „Mangel an moralischem Widerstand“ im Volk. Friedrich Naumann konstatierte am 8. Juni 1919, dass die Bevölkerung im Ganzen ein „absolutes Bedürfnis nach Ruhe, Ernährung und Arbeit“ habe und sich daher ein „unglaublicher Friede“ erzwingen lasse.184 „Es war deshalb keineswegs eine Selbstverständlichkeit,“ so Heinemann, „daß sich die Anti-Versailles-Stimmung allmählich in allen Schichten des deutschen Volkes zu einem Syndrom verdichtete. Nur stockend kam anfangs die deutsche Agitation gegen den Friedensvertrag in Fluß. Massive staatliche Unterstützung war hierzu notwendig. Vor allem mit Hilfe des Auswärtigen Amtes und einer Reihe weiterer Reichsämter entwickelte sich eine Kriegsschuld- und Revisionspropaganda, die alle entsprechenden Anstrengungen der ehemaligen Kriegsgegner bei weitem übertraf und die politische Kultur Weimars nachhaltig beeinflusste. Hinter dieser Propaganda stand von Anfang an ein rationales revisionspolitisches Kalkül.“185 Die innenpolitischen Folgen der Kampagne waren nach dem Urteil Heinemanns fatal: „Die Mobilisierung der Unzufriedenheit über den außenpolitischen Status quo auch und gerade durch die Mittelparteien suggerierte eine tatsächlich nicht vorhandene Übereinstimmung von demokratischem Nationalgefühl und extremem Nationalismus und schuf ein Klima, in dem sich letzten Endes die extreme Rechte behauptete.“186 Wie weit rechtsextreme Kreise im angeblichen Interesse der Nation zu gehen bereit waren, zeigte sich deutlich am 21. Februar 1919, als der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner von dem völkisch-nationalistischen Studenten Anton Graf von Arco auf Valley aus nächster Nähe erschossen wurde. Graf Arco, zu dieser Zeit beurlaubter Leutnant im Königlich Bayerischen Infanterie-Leib-Regiment, nannte später unter anderem den „Geheimnisverrat Eisners an die Alliierten“ als Motiv für sein Attentat. Seine Tat fand Zustimmung auch im konservativen und bürgerlichen Milieu. Eisner hatte am 23. November 1918 die Berichte, die vom königlich-bayerischen Gesandten in Berlin im Juli 1914 nach München übermittelt worden waren,

183 Vgl. Andrea Süchting-Hänger: Die Anti-Versailles-Propaganda konservativer Frauen in der Weimarer Republik, in: Gerd Krumeich/Silke Fehlemann (Hg.): Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N.F. 14), Essen 2001, S. 302–313, hier 312. 184 Friedrich Naumann: Kriegschronik, in: Die Hilfe 25 (1919), hier 342, zit. nach: Jürgen C. Heß: „Das ganze Deutschland soll es sein“. Demokratischer Nationalismus in der Weimarer Republik am Beispiel der Deutschen Demokratischen Partei, Stuttgart/Berlin 1978, hier 99. 185 Heinemann: Die verdrängte Niederlage, 1983, (wie Anm. 90), hier 255. 186 Ebenda, 257.

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auszugsweise veröffentlicht und dabei auf die Verantwortung der kaiserlichen Regierung Bethmann Hollweg für die militärische Eskalation der Julikrise 1914 hingewiesen. Die Dokumente schienen zu bestätigen, „dass die kaiserliche Regierung den Weltkrieg bewusst angezettelt hatte.“187 Eisners spektakuläre Enthüllungsaktion löste aber nicht die von ihm selbst erwartete Zustimmung aus, sondern „eine Welle der Empörung sowohl in Berliner Regierungskreisen als auch in weiten Teilen der Bevölkerung.“188 Die Veröffentlichung brachte einen völligen Umschwung der Stimmung auch beim Münchner Bürgertum. Selbst Männer wie der linksliberale Demokrat Ernst Müller-Meiningen entwickelten einen tiefen Hass gegen Eisner und die spätere Räterepublik. Es ist bezeichnend, dass die Ermordung Eisners auch im Bürgertum begrüßt wurde. An der Universität herrschte sogar solch ein Jubel, dass Prof. Wilhelm Röntgen seine Vorlesung aussetzen musste.189 In der Kriegsschuldfrage bündelte sich wie in einem Brennglas die gesamte Problematik des Vertragswerkes. Herrschte Einigkeit von links bis rechts in der Feststellung, dass der Versailler Friedensvertrag revidiert werden müsse, so galt dies insbesondere für den Kriegsschuldparagraphen 231 des Vertrages. Hier mischten sich von Anfang an in unauflöslicher Weise moralische Fragen und nüchternes Kalkül. Die deutsche Friedensdelegation und die neue republikanische Reichsregierung sahen im Kriegsschuldparagraphen die wesentliche Legitimationsgrundlage für die gesamten finanziellen und territorialen Forderungen der Siegermächte und hofften, durch frontalen Angriff auf diesen Paragraphen den Forderungen ihre Basis entziehen zu können. „Außerdem war die Ablehnung der Verantwortung für den Kriegsausbruch eine der Geschäftsgrundlagen für den neuen Herrschaftskompromiß, der sich um die Jahreswende 1918/19 zwischen den alten Machtträgern in Militär, Wirtschaft und Verwaltung und den gemäßigt republikanischen Kräften herauskristallisierte. Jede der beteiligten Gruppierungen war auf ihre Art an der Aufrechterhaltung der Legende vom Verteidigungskrieg des Reiches im Sommer 1914 interessiert. Darüber hinaus gab es keinen Politiker von Einfluß, der am grundsätzlich defensiven Charakter der deutschen Kriegserklärungen zweifelte. Politische Interessen und aufrichtige Empörung über die Vorwürfe aus dem alliierten Lager verschmolzen mithin zu einer unauflösbaren Einheit.“190 Schon im Frühjahr 1919 wurde im Auswärtigen Amt ein Kriegsschuldreferat eingerichtet, dessen Aufgabe es war, die „alliierte Kriegsschuldlüge“ zu widerlegen. Dieses Referat finanzierte, organisierte und dirigierte eine breit angelegte „Unschuldspropaganda“. Praktisch durchgeführt wurden die propagandistischen Kampagnen vom „Arbeitsausschuß Deutscher Verbände“ (ADV) und der „Zentralstelle zur Erfor187 Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 226. 188 Heinemann: Die verdrängte Niederlage, 1983, (wie Anm. 90), hier 25. 189 Vgl. Josef Hofmiller: Revolutionstagebuch 1918/19. Aus den Tagen der Münchner Revolution, Leipzig 1938, hier 150, 174. 190 Heinemann: Die verdrängte Niederlage, 1983, (wie Anm. 90), hier 47.

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schung der Kriegsursachen“. In einer Art Arbeitsteilung besorgte die Zentralstelle die „wissenschaftliche“ Fundierung der Kampagne gegen den Kriegsschuldparagraphen, während der Arbeitsausschuss für die propagandistische Tagesarbeit zuständig war. Dem Arbeitsausschuss gehörten zahlreiche gesellschaftliche Gruppierungen an, seine Aktivitäten und Verlautbarungen hatten Gewicht. Hier entstand das Schlagwort von der „Kriegsschuldlüge“ und wurde so massiv propagiert, dass jeder Zweifel daran zum nationalen Tabubruch wurde. Zahlreiche Erklärungen deutscher Kanzler und Präsidenten verliehen ihm offiziellen Charakter. Zutreffend wies Gerd Krumeich 2001 darauf hin, dass die Kriegsschuldfrage schnell von einer „Ehrenfrage“ zum „Vehikel von Durchsetzungs- bzw. Verhinderungs-Politik“ verkam. „Jede ehrliche Kriegsursachenforschung und moralische Reflexion wurde auf diese Weise für lange Zeit quasi erstickt.“191 Das Schicksal der so genannten „Kautsky-Edition“ der deutschen Akten zum Kriegsausbruch zeigt diesen Sachverhalt anschaulich. Karl Kautsky, um die Jahrhundertwende einer der großen Theoretiker der Sozialdemokratie, hatte sich 1917 bei der Spaltung für die USPD entschieden und war in der Revolutionsregierung Staatssekretär im deutschen Auswärtigen Amt. Kautsky hatte von der Regierung den Auftrag erhalten, die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch soweit zu veröffentlichen, wie man bereits Zugriff darauf hatte. Kautsky war ursprünglich der Meinung gewesen, das Deutsche Reich habe den Krieg planmäßig herbeigeführt, er hielt dieses Urteil nach Einsicht in die Akten aber nicht aufrecht. Allerdings ließen nach seiner Überzeugung die Geheimdokumente des Auswärtigen Amts die Schlussfolgerung zu, dass die deutsche Regierung in der Julikrise 1914 „unsäglich leichtfertig und kopflos“ gehandelt habe und damit die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Weltkrieges trage.192 Kautskys Dokumentation war Ende März 1919 publikationsreif, wurde aber zurückgehalten, „weil man nunmehr befürchtete, dass diese Dokumente zur Julikrise von 1914 Wasser auf die ohnehin schon beschleunigt rotierenden ‚Kriegsschuld‘Mühlen der Alliierten leiten würden.“193 Kautsky warnte eindringlich, man verstärke durch ein Zurückhalten der Dokumente unnötigerweise das Misstrauen der ehemaligen Kriegsgegner gegenüber dem demokratischen Wandlungsprozess in Deutschland. Die Reichsregierung ließ sich dadurch jedoch nicht beeindrucken. „Auch sein Hinweis darauf, dass die Edition der Dokumentensammlung bereits im Februar 1919 – aus Anlass der Berner Sozialisten-Konferenz – öffentlich angekündigt worden war bewirkte keinen Stimmungsumschwung im Kabinett.“194

191 Gerd Krumeich: Versailles 1919. Der Krieg in den Köpfen, in: Gerd Krumeich/Silke Fehlemann (Hg.): Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N.F. 14), Essen 2001, S. 53–64, hier 58f. 192 Vgl. Karl Kautsky: Wie der Weltkrieg entstand, Berlin 1919, hier 171, 178. 193 Krumeich: Versailles 1919., 2001, (wie Anm. 191), hier 59. 194 Heinemann: Die verdrängte Niederlage, 1983, (wie Anm. 90), hier 40f.

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Die deutsche Sozialdemokratie, das zeigte sich in diesem Zusammenhang deutlich, verstand sich wie zu Zeiten des Krieges primär als nationale Partei. Die MSPD war von der Kriegsschuldproblematik in sehr spezifischer und widerspruchsvoller Weise betroffen. „Sie stand unter dem zweifachen Druck einerseits der Sozialdemokraten der Entente, die ein Schuldbekenntnis der deutschen Genossen als Voraussetzung für deren Wiedereingliederung in die Sozialistische Internationale forderten, andererseits der Rechten in Deutschland, für die die Zurückweisung des Schuldbekenntnisses die conditio sine qua non jeder deutschen Politik war.“195 Im Übrigen waren viele Sozialdemokraten auch nach Kriegsende der aufrichtigen Überzeugung, Deutschland habe einen Verteidigungskrieg geführt. Die MSPD vermied es im Frühjahr 1919, den Schuldanteil des kaiserlichen Deutschland am Ausbruch des Krieges öffentlich zu thematisieren. Grundsätzlich hatten nach Auffassung der Partei- und Fraktionsspitze alle innerdeutschen Kontroversen angesichts der vermeintlich existenzbedrohenden alliierten Friedenspläne zurückzutreten. Außenminister Hermann Müller brachte es auf dem ersten Nachkriegsparteitag der MSPD im Juni 1919 in Weimar auf die bündige Formel: „In einem Trauerhaus soll nach Möglichkeit der Streit schweigen“.196 Das war die Fortsetzung der Burgfriedenspolitik aus der Zeit des Krieges. Im Auswärtigen Amt hatte man gegen die Veröffentlichung der Kautskyschen Dokumentensammlung vor allem eingewandt, dass sie trotz ihrer relativen Vollständigkeit kein abgewogenes Bild der Ereignisse biete und dass es somit für die „voreingenommenen Feinde“ leicht sei, einzelne Vorgänge aus dem Zusammenhang zu reißen und zum Nachteil des Deutschen Reiches zu deuten und zu verwerten. Deshalb bestellte man Anfang Juli mit Graf v. Montgelas und Walther Schücking zwei neue Herausgeber für die „Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch“. Aktiv war vor allem der politisch konservativ eingestellte Graf v. Montgelas, der demokratische Völkerrechtler Schücking beschränkte sich auf die sporadische Durchsicht einzelner Aktenstücke, gab also vor allem seinen im In- und Ausland hoch geschätzten Namen für das offiziöses Projekt her. Die Einleitung des Aktenwerkes relativierte und deutete die heiklen Dokumente so um, dass sie nicht in Widerspruch zur offiziellen deutschen Interpretation der Julikrise standen. Allerdings wurden Ende November 1919, vor der Veröffentlichung der „Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch“, bereits Auszüge aus der Kautsky-Arbeit „Wie der Weltkrieg entstand“ bekannt, „die den wilhelminischen Machteliten zwar keinen Kriegsvorsatz unterstellte, sie aber gleichwohl zu Hauptschuldigen an der militärischen Eskalation der Julikrise erklärte“.197 Als dann am 10. Dezember 1919 die „Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch“ veröffentlicht wurden, gab es laut den Berichten der deutschen Gesandtschaften in neutralen

195 Fritz Klein: Versailles und die deutsche Linke, in: Gerd Krumeich/Silke Fehlemann (Hg.): Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N.F. 14), Essen 2001, S. 314–322, hier 316. 196 Zit. nach: Heinemann: Die verdrängte Niederlage, 1983, (wie Anm. 90), hier 29. 197 Ebenda, 77.

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Staaten wie Norwegen, Schweden oder den Niederlanden überwiegend negative Reaktionen. Im Inland fand die Publikation kaum Resonanz. Dieser propagandistische Misserfolg bewog das Auswärtige Amt, ein Projekt zu forcieren, das im Sommer 1919 angedacht worden war: eine Aktenedition unter dem Titel „Große Politik der Europäischen Kabinette“, die die Jahre 1871 bis 1914 umfassen sollte. Geschichtspolitisches Ziel war, durch den Rekurs auf die expansionistische Außenpolitik aller Großmächte in der klassischen Ära des Imperialismus das deutsche Verhalten zu relativieren. Das Auswärtige Amt machte sich nicht nur auf die Suche nach geeigneten Herausgebern, sondern setzte auch allen Einfluss daran, schon von vornherein eine mögliche Konkurrenz mit dem Reichsarchiv in Potsdam zu unterbinden. Als die Potsdamer Archivräte den Plan fassten, eine umfassende Darstellung der politischen Ereignisse des Weltkriegs und seiner Vorgeschichte zu veröffentlichen, intervenierte das Auswärtige Amt und erreichte, dass der zuständige Reichsinnenminister am 28. Februar 1923 entschied, „‚die Erforschung der Kriegsursachen und die Aufklärung darüber [sei]…überwiegend Angelegenheit des Auswärtigen Amtes‘. Die ‚Politische Abteilung‘ des Potsdamer Reichsarchivs wurde durch Erlaß des Reichspräsidenten aufgelöst und dem AA ‚die Führung in diesen Forschungsfragen‘ zugesichert.“198 Im März 1927 erschien schließlich das 40 Bände umfassende Aktenwerk „Große Politik der Europäischen Kabinette“, das zahlreichen Publizisten als Materialbasis diente und zugleich eine eindrucksvolle Untermauerung der deutschen Forderung nach Öffnung der alliierten Archive darstellte. Natürlich diente die Edition vor allem der Widerlegung der Schuldthese des Versailler Vertrages. „Allem Anschein nach nicht ohne Erfolg, denn durch die überwiegend positive Aufnahme im neutralen Ausland dürfte sie auf die Siegermächte einen beachtlichen Druck ausgeübt haben, ihrerseits mit der Veröffentlichung geheimer Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges nachzuziehen.“199 Auf Seiten der Sozialdemokratie nahm neben Karl Kautsky vor allem Eduard Bernstein in der Kriegsschuldfrage eine entschieden kritische Position ein. Bernstein hielt zwar in der Revolutionszeit einen radikalen gesellschaftlichen Bruch nicht für möglich, aber ein moralischer Bruch war in seinen Augen unabdingbar notwendig. Deshalb konnte und wollte Bernstein die Entscheidung der Regierung Scheidemann keinesfalls akzeptieren, die von Kaustky zusammengestellten Dokumente nicht zu veröffentlichen. Auf dem Weimarer Parteitag der MSPD, wenige Tage vor der entscheidenden Abstimmung über den Versailler Vertrag in der Nationalversammlung, forderte er seine Partei auf, sich nicht länger zum Gefangenen der Abstimmung vom 4. August 1914 zu machen: „nur die Wahrheit, die volle Wahrheit kann uns nützen.“ Als er dann auch noch erklärte, neun Zehntel der alliierten Friedensbedingungen

198 Ebenda, 83. 199 Ebenda, 87.

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seien „unabweisbare Notwendigkeiten“, folgte eine Debatte, die „eher einer moralischen Hinrichtung des Abweichlers als einer sachlichen Auseinandersetzung mit seinen Ansichten glich“. Scheidemann sprach gar von einem „Advokaten des Teufels“. Heinrich August Winkler hat 1998 die Frage aufgeworfen, ob es nicht entschieden klüger und im wohlverstandenen Interesse von MSPD und Republik gewesen wäre, Bernstein zu folgen: „Die Sozialdemokraten gaben, indem sie dieses Problem im historischen Halbdunkel ließen, ihren Gegnern von der Rechten eine gefährliche Waffe in die Hand. Anstatt diejenigen anzuklagen, die das deutsche Volk in den Krieg geführt hatten, verteidigten sie sich gegen den Vorwurf, die Niederlage verschuldet zu haben. Der Nationalismus war das wirksamste Bindemittel, das das bürgerliche Deutschland zusammenhielt. Mußte es da nicht ein elementares Interesse der Sozialdemokraten sein, den Mißbrauch ans volle Tageslicht zu bringen, den die alten Machteliten vor und nach 1914 mit der Vaterlandsliebe der breiten Massen getrieben hatten? Wäre das nicht die beste Chance gewesen, eine antisozialdemokratische Sammlung der Mittelschichten aufzuhalten? Hätte eine entschiedene Absage an die Politik des kaiserlichen Deutschland nicht doch längerfristig die Aussicht auf mehr internationale Solidarität eröffnet?“200 Die Niederlage beim Weimarer Parteitag hielt Bernstein nicht davon ab, seine Position weiter zu vertreten. Unter heftigem Protest der politischen Rechten erklärte er am 17. März 1921 im Reichstag, es sei nicht zu bestreiten, dass die kaiserliche Regierung „durch die ganze Politik mit Österreich“ den Ausbruch des Krieges herbeigeführt habe. „Das steht fest, und niemand hat mehr ein Interesse daran, das festzustellen, als die Vertreter des deutschen Volkes“. Den Begriff „Alleinschuld“ lehnte auch Bernstein ab, aber das kaiserliche Deutschland habe eine Schuld auf das deutsche Volk gewälzt, von der dieses befreit werden müsse. „Es ist das Recht und die Pflicht der Republik, zu sagen: mit dieser Politik haben wir nichts zu tun, und ruhig das Urteil das die ganze Welt gefällt hat anzunehmen. Die Schuld am Ausbruch des Krieges trägt das kaiserliche Deutschland.“201 Bernstein blieb mit seiner Position Außenseiter innerhalb der SPD. Knapp ein Vierteljahr nachdem die DNVP mit extrem nationalistischen Parolen einen großen Wahlerfolg erzielt hatte, bedauerte er in einem Brief an Kautsky vom 26. Juli 1924, dass es noch immer keine sozialdemokratische Offensive gegen die „Schuldlügen-Kampagne“ der Rechtsparteien – der Deutschnationalen, Völkischen und Nationalsozialisten – gebe. „‚Unsere Leute sind dem Kriegsschuldmaterial, mit dem die Nationalisten die wachsende Menge ihrer Hörer bearbeitet, beinahe waffenlos ausgeliefert. Denn das früher ins Spiel gebrachte Material reicht ihm gegenüber nicht mehr aus. Von der Tatsache aus, daß das kaiserliche System nicht allein schuld am Krieg sei, die sie dann mit bequemer Dialektik zu ‚überhaupt nicht schuld‘ umdeuten, ist es leicht, den

200 Winkler: Eduard Bernstein und die Weimarer Republik, 1998, (wie Anm. 108), hier 21. 201 Zit. nach: Winkler: Eduard Bernstein und die Weimarer Republik, 1998, (wie Anm. 108), hier 21f.

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Massen plausibel zu machen, daß das Kaisertum zu Unrecht gestürzt worden, die ‚Judenrepublik‘ und ihre Erfüllungspolitik an allem Übel schuld seien, unter dem Deutschland heute leide. […] Wir gehen dem Staatsstreich der Nationalisten entgegen, das scheint mir, wenn wir so weiterwursteln, unabwendbar. Wie er ausgeht ist natürlich zweifelhaft, ein zeitweiliger Sieg jener indes nicht ausgeschlossen, und bekommen sie auch nur zeitweilig das Heft in die Hand, dann gibt es, das ist sicher, einen Terrorismus, wie ihn sich die meisten nicht träumen lassen. Kapp war ein Doktrinär, die aber diesmal obenauf kommen, sind skrupellose, brutale Schurken.“202 Bernsteins Warnungen und Mahnungen fruchteten nicht. Am 9. November 1927 klagte er in einem Brief an Kautsky, seine Artikel würden weder im „Vorwärts“ noch in der theoretischen Zeitschrift „Gesellschaft“ publiziert. „Der Glaube, daß Deutschland keine Schuld am Krieg traf und daß es von den Siegern 1919 zu Unrecht bestraft worden war, hatte längst tiefe Wurzeln geschlagen. Wer an diesem Tabu rüttelte, wurde sogleich einer antinationalen Gesinnung bezichtigt. Die Furcht, sie könnten wieder den Vorwurf auf sich ziehen, vaterlandslose Gesellen zu sein, erklärt, warum die meisten Sozialdemokraten die Kriegsschuldfrage lieber auf sich beruhen ließen.“203 In der Weltwirtschaftskrise versiegte die sozialdemokratische Kritik an der Behandlung des Kriegsschuldproblems in der deutschen Öffentlichkeit vollends. Die SPD hatte sich zwar insgesamt recht erfolgreich gegen alle Integrationsbemühungen des Auswärtigen Amtes und des ADV zur Wehr gesetzt, aber weder den Mut noch die Kraft aufgebracht, in offene Opposition zur „Revisionsbewegung“ zu treten. Das hatte nicht nur mit politisch-strategischen Fragen zu tun, das Verhältnis der Sozialdemokratie zum Staat hatte sich nach 1914 grundsätzlich gewandelt. Die „Burgfriedenspolitik“ spiegelte auch eine lange unterdrückte Seite des sozialdemokratischen Selbstverständnisses wider: das starke Loyalitätsempfinden der Partei gegenüber dem nationalen Staat, an dem sich auch nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs nichts änderte. Wie ein roter Faden zog sich durch die SPD-Politik in der Weimarer Republik das Bestreben, sich als patriotischer zu erweisen als die politischen Gegner. Im Zweifel waren SPD und Freie Gewerkschaften meist bereit, ihren programmatischen Internationalismus und ihr demokratisches Selbstbewusstsein zugunsten eines nicht näher überprüften nationalen Interesses zurückzustellen. 1929 erklärten der Reichspräsident und die SPD-geführte Regierung den 28. Juni, den Tag der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages, zum Nationaltrauertag und wiesen zum wiederholten Mal die These von der deutschen Alleinschuld am Krieg zurück. Der Tag wurde als Volkstrauertag mit Kirchengeläut und Halbmastbeflaggung begangen. Zum 10. Jahrestag der Vertragsunterzeichnung erschien eine Fülle neuer Bücher und Publikationen. Etwa zu diesem Zeitpunkt erreichte auch die Heroisierung

202 Zit. nach: Heinemann: Die verdrängte Niederlage, 1983, (wie Anm. 90), hier 246, und Winkler: Eduard Bernstein und die Weimarer Republik, 1998, (wie Anm. 108), hier 24. 203 Winkler: Eduard Bernstein und die Weimarer Republik, 1998, (wie Anm. 108), hier 24.

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der Gefallenen durch Denkmäler einen Höhepunkt. Die Denkmalsprojekte waren pompöser angelegt als in den ersten Nachkriegsjahren, und sie wurden von gut organisierten Krieger- und Veteranenvereinen vorangetrieben. Das Interesse der breiten Bevölkerung war demgegenüber stark geschwunden.204 In Zeiten der Wirtschaftskrise verlor der gemeinsame Kampf gegen Versailles vollends seine Integrationswirkung. Die innenpolitischen Nebenwirkungen der Revisionsbestrebungen wurden nun aber umso deutlicher. Von Anfang an war die Republik durch das gezielte Schüren nationaler Unzufriedenheit in Misskredit geraten, und in der kritischen Phase der Weltwirtschaftskrise bildeten außenpolitische Ziele gefährliche Sprengsätze für die politische Ordnung der ersten deutschen Republik. „Revisionsbestrebungen entwickelten sich, wie die Außenpolitik Brünings beweist, zu Katalysatoren der inneren Verfassungsänderung.“205 Zutreffend hat Michael Salewski 1980 den Weimarer Revisionismus ein „Syndrom“ genannt und ihn als die „Krankheit der Weimarer politischen Kultur“ charakterisiert.206 Für die SPD zahlte sich auf Dauer die Unterordnung unter den Primat einer „nationalen“ Außen- und Revisionspolitik politisch nicht aus. Die Partei wurde zum Gefangenen ihrer eigenen demonstrativ nationalen Haltung. Jeder Versuch, durch Verhandlungen und neue Vereinbarungen mit den Siegermächten zu Verbesserungen zu kommen, wurde von der politischen Rechten entschieden bekämpft, und mit am Pranger stand stets die SPD. „Das ursprünglich auf die Siegermächte gemünzte Schlagwort von der ‚Kriegsschuldlüge‘ rückte nach 1929 immer stärker in die Nähe des Dolchstoßes. […] In den Augen der ‚Nationalen Opposition‘ hatte die Sozialdemokratie nicht nur den Dolchstoß gegen das kämpfende Heer im Herbst 1918 geführt, man beschuldigte die SPD auch, der ‚Kampffront‘ gegen Versailles in den Rücken gefallen zu sein.“207 Der Friedensvertrag von Versailles dominierte in den Jahren der Weimarer Republik sowohl die Politik als auch die öffentliche Debatte und nicht zuletzt die Arbeit der deutschen Historiker. Kein anderes historisches Ereignis hat „vergleichbar nachhaltige Wirkung auf das Schrifttum der deutschsprachigen Historiographie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfalten können“ wie der Friedensvertrag von Versailles.208 Und auch die deutschen Historiker waren – wie die Generalität und der preußische Militäradel, wie der größte Teil der deutschen Eliten und der maßgeblichen bürgerlichen Multiplikatoren – „zu keinem Zeitpunkt bereit, das Kriegsergebnis von 1918/19 als bindend und endgültig zu akzeptieren.“209 Diese Haltung war von

204 Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 532. 205 Heinemann: Die verdrängte Niederlage, 1983, (wie Anm. 90), hier 258. 206 Michael Salewski: Das Weimarer Revisionssyndrom, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1980), H 2, S. 14–25, hier 25. 207 Heinemann: Die verdrängte Niederlage, 1983, (wie Anm. 90), hier 257. 208 Cornelißen: „Schuld am Weltfrieden“, 2001, (wie Anm. 18), hier 237. 209 Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 1.

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entscheidender Bedeutung für die politische Kultur der Weimarer Republik, für die Haltung zur Republik und zur Revolution von 1918/19.

Störung des geordneten Reformprozesses Die Vorstellung einer von langer Hand vorbereiteten Revolution, welche die Dolchstoßthese impliziert, steht in bemerkenswertem Kontrast zum Bild, das die Führungen der beiden sozialdemokratischen Parteien schon in der Revolutionszeit vermittelten. Zweifellos hätten die Sozialdemokraten es vorgezogen, gemeinsam mit den Parteien der bürgerlichen Mitte ohne revolutionäre Erhebung den Kurs der beständigen Reformen fortzusetzen, den sie in den Kriegsjahren eingeschlagen hatten. Die Verfassungsreformen vom 26. Oktober 1918, durch die das Reich zur parlamentarischen Monarchie wurde und die bereits am 28. Oktober in Kraft traten, stellten die MSPD und das linksliberale Bürgertum im Hinblick auf das politische System vollauf zufrieden. Die Führung der MSPD, die ja nun an der Regierung Max v. Baden beteiligt war, wollte weiter gehende Fragen und Sozialreformen erst nach den Wahlen angehen, die nach dem Ende des Krieges unter neuen Bedingungen durchgeführt werden sollten.210 Die Revolutionsbewegung des November 1918 entwickelte sich völlig konträr zu dieser strategischen parteipolitischen Planung. Sie hat sowohl die Führung der MSPD als auch die der USPD völlig überrascht. Noch in der Kabinettssitzung am 4. November sprach sich Philipp Scheidemann für Flugblätter gegen die „Meuterei“ in der Hochseeflotte aus und meinte: „Wir hoffen, dass die heutige Bewegung ungefährlich bleibt.“211 Unter dem Eindruck der sich rasch entwickelnden Ereignisse fiel in der dramatisch verlaufenden Sitzung des Kabinetts am 6. November erstmals das Stichwort „Revolution“. Die führenden Sozialdemokraten hatten zunächst allerdings noch die Hoffnung, die Bewegung dämpfen zu können. Im Gespräch mit General Groener forderte Ebert die Abdankung des Kaisers, „wenn man den Übergang der Massen in das Lager […] der Revolution verhindern wolle“. „Kreidebleich und am ganzen Körper zitternd“, wie der anwesende Oberst von Haeften festhielt, stürzte dann der zuvor ans Telefon gerufene Scheidemann in die Kabinettssitzung: „Die Abdankungsfrage steht jetzt gar nicht mehr zur Diskussion. Die Revolution marschiert. Eben habe ich die Nachricht erhalten, dass zahlreiche Kieler Matrosen in Hamburg und Hannover die staatlichen Machthaber festgenommen und die öffentliche Gewalt an sich gerissen haben. Das bedeutet: Die Revolution.“212 Die Ereignisse

210 Vgl. Hans Mommsen: Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang, Frankfurt am Main 1989, hier 27. 211 Zit. nach: Die Regierung des Prinzen Max von Baden. Bearbeitet von Erich Matthias u. Rudolf Morsey (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. 1. Reihe: Von der konstitutionellen zur parlamentarischen Republik 2), Düsseldorf 1962, hier 492. 212 Zit. nach: Die Regierung des Prinzen Max von Baden, 1962, (wie Anm. 211), hier 560.

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überstürzten sich in einer offenbar für die Führung der MSPD völlig unvorhersehbaren Weise. Oberst von Haeften sah das ebenso. Nachdem die Sozialdemokraten die Sitzung verlassen hatten, bemerkte er gegenüber General Groener: „Diese Führer haben die Massen nicht mehr in der Hand. Wenn sie deren Willen nicht tun, sind die Generäle ohne Truppen.“213 Chaos und Anarchie galt es unter allen Umständen zu verhindern. Zugleich wurde der MSPD-Führung offenbar in diesen Stunden immer deutlicher bewusst, dass die Partei ihren Einfluss auf die Arbeiter und Soldaten zu verlieren drohte. In der Nacht vom 8. auf den 9. November und auch unter dem Eindruck der Ereignisse in Bayern vollzog die MSPD-Führung eine Kehrtwende. „War sie bis zum 8. November mit allen Kräften bemüht, die Umsturzbewegung in legale Bahnen zu lenken, so war sie am Morgen des 9. November entschlossen, aus der Regierung auszutreten und aktiv und führend in die Aufstandsbewegung einzugreifen, um das Schlimmste zu verhindern.“214 Am Morgen des 9. November teilte Friedrich Ebert der MSPD-Reichstagsfraktion mit, dass „der Vorstand sich dahin verständigt hat, bei einer notwendigen Aktion gemeinsam mit den Arbeitern und Soldaten vorzugehen. Die Sozialdemokratie solle dann die Regierung ergreifen, gründlich und restlos, ähnlich wie in München, aber möglichst ohne Blutvergießen.“215 Die spontanen und eruptiven Ereignisse der frühen Novembertage waren nicht Resultat einer zentralen und strategischen Planung, sondern entwickelten sich weitgehend naturwüchsig mit der für revolutionäre Situationen charakteristischen überbordenden Dynamik. Die MSPD-Führung betrachtete die Revolution bereits zu diesem Zeitpunkt in erster Linie als bedrohliche Entwicklung mit unklarem Ausgang, als potentielle Störung des erfolgreichen Reformprozesses, der in ihren Augen schon im Oktober mit der parlamentarischen Monarchie alles Wesentliche erreicht hatte. Soweit sie nicht noch negativer urteilten, sahen auch Teile des liberal-konservativen Bürgertums die Revolution als unnötige Störung eines unumgänglichen Reformprozesses. Für die weitsichtigeren Intellektuellen hatte allerdings eine revolutionäre Erhebung auch in Deutschland spätestens seit den Munitionsarbeiterstreiks im Januar 1918 im Bereich des Denkbaren und Möglichen gelegen. Max Weber, beispielsweise, hatte die Revolution schon lange kommen sehen; es war ihm auch durchaus bewusst, dass die Herrschenden so ziemlich alles versäumt hatten, um der zunehmenden Radikalisierung der Arbeitermassen Einhalt zu gebieten. „Weber war also auf die Revolution vorbereitet. Dennoch erbitterte ihn der Ausbruch derselben im Augenblick des Triumphs der Feinde aufs äußerste, und er nahm – aller nüchternen Einsicht in die Zwangsläufigkeit des Geschehens zum Trotz – rein gesinnungs-

213 Zit. nach: Die Regierung des Prinzen Max von Baden, 1962, (wie Anm. 211), hier 560. 214 Dieter Groh: Der Umsturz von 1918 im Erlebnis der Zeitgenossen, in: Hans-Joachim Schoeps (Hg.): Zeitgeist im Wandel, Bd. 2. Zeitgeist der Weimarer Republik, Stuttgart 1968, S. 7–32, hier 9f. 215 Zit. nach: Die Regierung des Prinzen Max von Baden, 1962, (wie Anm. 211), hier 518.

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politisch in maßlos scharfer Form dagegen Stellung […] seine leidenschaftliche nationale Gesinnung riß ihn mit sich fort.“216 Das liberale Bürgertum, das sich später zur Republik bekannte, sah die Revolution gleichfalls negativ, bestenfalls als unnötig. Für die bürgerlichen Demokraten wäre ein positives Verhältnis zur Revolution eng an die rasche Rückkehr zu geordneten Verhältnissen geknüpft gewesen. Sie fürchteten aber zunehmend, Chaos und bürgerkriegsähnliche Zustände könnten überhand nehmen. Ernst Troeltsch, beispielsweise, der die Oktoberreform als „erste Revolution“ für absolut notwendig hielt, urteilte am 29. Dezember 1918 harsch über die Novemberrevolution: „Da geschah das Furchtbare. Eine zweite, eine sozialistische Revolution zerriss über Nacht diese Überleitung und schuf in der bedrängtesten, durch entsetzliche Waffenstillstandsbestimmungen gefährdeten Weltlage des Reiches an Stelle einer durchgebildeten und den Übergang besonnen vollziehenden Demokratie das vollkommene Chaos.“217 Troeltsch stand mit dieser Position keineswegs allein. Friedrich Meinecke berichtete von einer Versammlung Mitte November, bei der ein Aufruf beraten wurde, „der die bürgerlichen Elemente Deutschlands ermahnen sollte, nunmehr die Hand der Arbeiterschaft zu ergreifen und mit ihr gemeinsam in Abwehr des Bolschewismus die neue deutsche Republik zu schaffen. Es kam die Wendung in dem Entwurfe vor, daß wir den geschehenen revolutionären Umbruch ‚gutheißen‘ sollten. Die Versammlung blieb einen Augenblick stumm. Dann ergriff ich das Wort und sagte, daß ich wohl bereit sei, einer unwiderruflichen geschichtlichen Tatsache mich zu beugen und die Konsequenzen daraus zu ziehen, daß ich sie aber nimmermehr ‚gutheißen‘ könne.“218 Meinecke war „Herzensmonarchist“, und es zeugte bereits von großer Veränderungsbereitschaft, dass er am 5. Oktober in einem Brief an seine Frau die Überzeugung geäußert hatte, angesichts des Kriegsendes bleibe gar nichts anderes übrig, als demokratisch zu werden, um Reich und nationale Einheit aufrecht zu erhalten. Kolossal viel konservativer Gedankenballast müsse abgeworfen werden. Das konservative Preußen sei unwiederbringlich dahin. Die Mehrheitssozialisten müssten jetzt helfen, die Massen in Ordnung zu halten.219 Absolut folgerichtig sah Meinecke die Verantwortung für die drohende Revolution auch nicht bei den Sozialdemokraten. Er zitierte Kühlmann, der am 9. Juli 1918 ihm gegenüber erklärt habe: „Revolutionen entstehen aus Fehlern der auswärtigen Politik. Wenn die zur Führung des Staates berufenen Klassen ihre Aufgabe nicht verstehen und den Weg zum Frieden nicht zu finden wissen, so verlieren sie ihre Autorität, und das Ganze bricht zusammen.“220 Dass es unter bestimmten Umständen auch in Deutschland zu einer Revolution kommen könnte, war nach der Entwicklung in Russland trotz ganz anderer gesell-

216 217 218 219 220

Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik, 1959, (wie Anm. 67), hier 292. Zit. nach: Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 148. Friedrich Meinecke: Erinnerungen. Straßburg/Freiburg/Berlin/Stuttgart 1949, hier 258. Vgl. Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 141. Meinecke: Erinnerungen, 1949, (wie Anm. 218), hier 251.

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schaftlicher und politischer Rahmenbedingungen nicht mehr auszuschließen gewesen. In den herrschenden Kreisen wurde seit der Russischen Revolution über diese Gefahr gesprochen, und im Verlauf des Jahres 1918 hatte sich die Überzeugung weitgehend durchgesetzt, dass eine drohende militärische Niederlage auch innenpolitisch unabsehbar negative Konsequenzen haben könnte. Wenn Ludendorff im Oktober von einer „Katastrophe“ sprach, dann meinte er nicht etwa die bevorstehende Niederlage, sondern die drohende Revolution, die nach seiner Überzeugung vom Westheer ausgehen könnte – nicht von der Heimat. Ein drohender Durchbruch der Entente an der Westfront müsse vermieden werden, damit es nicht zur Revolution in Deutschland komme. So dienten die überaus hektisch durchgeführten Oktoberreformen offenbar im Zusammenhang mit dem zeitgleichen Ersuchen um Waffenstillstand mindestens drei Zielen gleichzeitig: Erstens sollte eine Revolution in Deutschland im letzten Augenblick verhindert werden. Zweitens hatten die militärischen Befehlshaber im Auge, die Verantwortung für den verlorenen Krieg auf die neue parlamentarische Regierung abzuwälzen. Drittens sollten die feindlichen Alliierten zu möglichst milden Waffenstillstands- und Friedenbedingungen für Deutschland animiert werden. Diese Ziele vor Augen wurden Reformen in die Wege geleitet, die – unter der Voraussetzung, dass sie nachhaltig Bestand haben würden – einer Umwälzung des politischen Systems gleichkamen. Von einer breiteren Öffentlichkeit wurden diese Reformen jedoch nicht recht wahrgenommen und verstanden. Zudem misstrauten kritische Geister ihrer Dauerhaftigkeit, weil die mit ihnen verfolgten außenpolitischen Absichten offen zu Tage lagen. Für Sozialdemokraten und bürgerliche Liberale aber war mit den Oktoberreformen und der parlamentarischen Monarchie alles Wesentliche erreicht worden. Eine Revolution war aus ihrer Sicht unnötig – und wenn man die Möglichkeit einer ähnlichen Entwicklung wie in Russland bedachte – durchaus auch eine Gefahr. Konnte man sie nicht völlig vermeiden oder im Keim ersticken, galt es, sie so schnell wie möglich in geordnetes Fahrwasser zu bringen. Die Deutung der Revolution als unliebsame „Störung des geordneten Reformprozesses“, das war ein Bild, das bereits im Oktober und November 1918 existierte. Weit verbreitet war diese Sicht der Revolution im liberalen Bürgertum und in der MSPD, vereinzelt war sie aber auch innerhalb der USPD zu finden. Insbesondere Eduard Bernstein ist in diesem Zusammenhang zu nennen, der im November von der USPD als Beigeordneter ins Reichsschatzamt entsandt wurde. Bernstein hatte schon vor der Jahrhundertwende gefordert, die SPD solle sich auch theoretisch zu dem bekennen, was sie seit längerem sei, eine Partei der sozialen und politischen Reformen. Im so genannten Revisionismusstreit hatte Bernstein sich nicht durchsetzen können, die SPD hatte am Spagat zwischen praktischer Reformpolitik und Revolutionstheorie festgehalten. Obwohl eindeutig ein „Reformer“, war Bernstein bei der Spaltung der Partei in der eher „linken“ USPD gelandet, weil er die Haltung der SPD-Mehrheit zum Krieg und den Kriegskrediten abgelehnt hatte. Seine kritische Position zum Krieg behielt er auch nach dessen Ende bei, wie seine Haltung

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zur Frage der deutschen Kriegsschuld zeigte. Ebenso konsequent hielt Bernstein aber auch an seiner Reformposition aus dem Revisionismusstreit fest. Für ihn war klar, dass ein Staat wie das Kaiserreich mit seiner hoch entwickelten Gesellschaft nicht revolutionär umgestaltet werden könne, sondern nur auf dem Weg der Reformen. In Anlehnung an die Biologie höher entwickelter Lebewesen formulierte Bernstein für Staaten: „Je weniger sie ausgebildet sind, um so leichter vertragen sie Maßnahmen, die auf ihre radikale Umbildung abzielen. Je vielseitiger aber ihre innere Gliederung, je ausgebildeter die Arbeitsteilung und das Zusammenarbeiten ihrer Organe bereits sind, um so größer die Gefahr schwerer Schädigung ihrer Lebensmöglichkeiten, wenn versucht wird, sie mit Anwendung von Gewaltmitteln in kurzer Zeit inbezug auf Form und Inhalt radikal umzubilden.“221 Dass insbesondere die MSPD-Spitze die Revolution von Anbeginn als Störung des geordneten Reformprozesses einstufte, hatte unmittelbare Auswirkungen auf ihre Politik in den Revolutionsmonaten: Eine Zusammenarbeit mit den Arbeiterund Soldatenräten erschien bestenfalls aus taktischen Erwägungen für eine Übergangszeit denkbar. In den Räten selbst sah man keine für den Umgestaltungsprozess hilfreichen Einrichtungen, sondern nur lästige und möglicherweise sogar gefährliche Störfaktoren. Dies umso mehr, als man die schon im Krieg entstandene und bewährte Zusammenarbeit mit bürgerlichen Demokraten und Zentrum nun mit neuer Kräfteverteilung glaubte fortsetzen zu können. Die alten herrschenden Mächte waren verschwunden oder hatten sich – wie das Gros der Beamtenschaft und insbesondere der führenden Militärs – in den Dienst der neuen Regierung gestellt. Unter diesen Vorzeichen schien es Erfolg versprechend und risikoarm, die „Herrschaft der Straße“ möglichst schnell zu beenden, Ruhe und Ordnung wieder herzustellen und zum frühest denkbaren Zeitpunkt eine Verfassunggebende Nationalversammlung wählen zu lassen. Notwendiger Bestandteil dieser politischen Strategie war, sie gegebenenfalls gegen Widerstände durchzusetzen. Auch nach dem Ende der Revolutionsphase blieb die MSPD-Spitze von der Richtigkeit ihrer Vorgehensweise überzeugt. Die schweren Kämpfe, zu denen es im Frühjahr 1919 kam, lastete sie der radikalen Linken an. Ebenso das Wiedererstarken der nationalen Rechten, zu dem es nach ihrer Überzeugung ohne linksradikale Aufstände und Unruhen nicht gekommen wäre. Die Spitze der Sozialdemokratie konnte unter diesen Umständen kein wirklich positives Verhältnis zur Revolution gewinnen, deren greifbares Ergebnis ja immerhin auch die erste deutsche Republik war. Sah man sie nur als „Störung des geordneten Reformprozesses“, musste man diese Revolution fast notwendig aus dem erinnernswerten historischen Bestand streichen und auf Distanz zu ihr gehen. Das galt auch für die bürgerlich-republikanischen Parteien, die schon früh zur historischen Vergewisserung und Traditionsbildung auf das Kaiserreich zurückgriffen. Der Sozialdemokrat

221 Bernstein: Die deutsche Revolution, 1921, (wie Anm. 15), hier 172.

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Richard Lewinsohn, Wirtschafts- und Auslandskorrespondent der Vossischen Zeitung, kritisierte 1921 unter dem Pseudonym „Morus“ in der „Weltbühne“: „Der Jahrestag der deutschen Republik wird von der republikanischen Regierung geflissentlich ignoriert, von den bürgerlichen Demokraten, den Nutznießern der Revolution, verunglimpft. Der fünfzigste Geburtstag des Kaiserreiches aber ist ohne Widerspruch […] zum demokratischen Parteifeiertag erhoben worden, und das Reichskabinett, drauf und dran, den Tag von Versailles zum gesetzlichen Feiertag zu machen, befiehlt Schulferien.“222

Abwehr der bolschewistischen Gefahr Die Vorstellung, im November 1918 und danach sei es in erster Linie um die Abwehr einer bolschewistischen Revolution gegangen, war bereits um die Jahreswende 1918/19 in nationalen, konservativen und bürgerlich-liberalen Kreisen weit verbreitet. Diese Deutung prägte auch die Vorstellung zahlreicher Sozialdemokraten, obwohl dies keineswegs so selbstverständlich war, wie es im Rückblick erscheinen mag. Der Spaltung der russischen Sozialdemokratie und die Entwicklung des Bolschewismus war für die deutsche Sozialdemokratie über Jahre hinweg eher eine theoretische Frage am Rande gewesen. Russland war ein rückständiges Land mit einer schwachen Sozialdemokratie. Die großen Auseinandersetzungen um den Sozialismus würden keineswegs dort entschieden werden, davon waren die Führer der internationalen Arbeiterbewegung überzeugt, sondern in den ökonomisch am weitesten entwickelten Ländern, zu denen auch das Deutsche Reich gehörte. Mit dem Sieg der Oktoberrevolution ergaben sich aus der Spaltung einer randständigen sozialdemokratischen Partei unmittelbar politisch relevante Fragen. Die verschiedenen Parteien der Arbeiterbewegung in Europa mussten zu einer Revolution Stellung beziehen, von der deren Führer behaupteten, sie sei eine sozialistische. Vor allem aber kamen sie nicht umhin, sich mit den Methoden auseinandersetzen, mit denen die Bolschewiki ihre Macht behaupteten. Innerhalb weniger Monate entwickelte die russische Revolution starke Strahlkraft auf die deutsche Arbeiterschaft. Sie wurde als Fanal empfunden, das weit über Petersburg hinausleuchtete und verkündete, dass die alte Klassenherrschaft des Adels und des Bürgertums nicht ewig andauern würde und dass die Befreiung der Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Erde möglich geworden sei.

222 „Morus“. Weltbühne 17(1921), S. 33, zit. nach: Christl Wickert: „Zu den Waffen des Geistes … Durchgreifen Republik!“ Die Linksintellektuellen, in: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 115–137, hier 119.

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Der theoretische Überbau der deutschen Sozialdemokratie war vor Kriegsbeginn stark durch Karl Kautsky geprägt gewesen, der geschichtsdeterministische Ansätze bei Marx in den Vordergrund gerückt hatte. Daraus war ein undialektischer Entwicklungsglaube entstanden, eine Pseudo-Religion, die nahelegte, dass die Verwirklichung des Sozialismus sich mit Naturnotwendigkeit aus den „Verhältnissen“ ergeben würde. Dies alles, so Peter Lösche in seiner Studie „Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie“, stellte die Oktoberrevolution in Frage. „Die bolschewistische Machtergreifung konfrontierte jetzt die deutsche Sozialdemokratie mit praktizierter Revolutionstheorie und stellte ihre eigene kautskyanistische Theorie in Frage. Sie mußte sich auf eine neue Theorie und Praxis besinnen. Die alte ideologische Klammer zerbrach. Die Auseinandersetzung um die bolschewistische Revolution und den Bolschewismus als Revolutionstheorie machte die Teilung der Arbeiterbewegung, die sich zunächst oberflächlich an den Fragen der Bewilligung der Kriegskredite und des Burgfriedens gespalten hatte, endgültig. Der Bolschewismus wirkte als Katalysator, um Sozialrevolutionäre auf der Linken und parlamentarische Reformisten auf der Rechten in Theorie und Praxis voneinander zu trennen.“223 Dabei war in beiden Parteien der deutschen Sozialdemokratie, der MSPD und der USPD, zunächst zwar viel Skepsis, aber meist keine radikale ablehnende und feindselige Haltung gegenüber dem Bolschewismus festzustellen. Die stellte sich, so Lösches Befund, erst nach der Vertreibung der russischen Konstituante am 19. Januar 1918 ein, die er als „Einschnitt in der Beurteilung des Bolschewismus durch die Mehrheitssozialisten“224 bezeichnete. „Nach der Vertreibung der Konstituante erstarrte in der Mehrheitspartei das Bild vom Bolschewismus allmählich zu einem Klischee, das sich später, in der deutschen Novemberrevolution, zu einer Art negativen Mythos verfestigte und in der Auseinandersetzung mit den Spartakisten und der USPD instrumentalen Charakter erhielt, mit dem Ziel, die Kommunisten zu isolieren und die Unabhängigen zu spalten. Bis zum Novemberumsturz gab es aber durchaus noch Mehrheitssozialdemokraten, die die sozialistische Tat der Bolschewiki bewunderten und einen Wandel ihrer radikalen Taktik zum Reformismus nach der Stabilisierung ihrer Macht erwarteten.“225 Ganz anders sah das Eduard Bernstein. 1921 erschien sein Werk „Die deutsche Revolution. Ihr Ursprung, ihr Verlauf und ihr Werk“, in dem er diese Politik auch theoretisch untermauerte. Bernstein betonte stark die Bedeutung der Gegensätze zwischen Spartakusbund/KPD und MSPD für den Revolutionsverlauf und stellte sie in eine Tradition, die auch das Ringen zwischen Eisenachern und Anhängern Lassalles und den Revisionismusstreit in der SPD umfasste. Es habe sich bei den Kämpfen der Revolutionszeit „um das Ringen zweier grundsätzlich verschiedener Auffassun223 Peter Lösche: Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903–1920 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 29), Berlin 1967, hier 102f. 224 Ebenda, 142. 225 Ebenda, 138.

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gen des Sozialismus und der sozialen Entwicklung gehandelt, die durch die ganze sozialistische Bewegung der Neuzeit sich verfolgen lassen, aber nur den wenigsten der Kämpfenden in ihrer tieferen geschichtlichen Bedeutung voll zum Bewusstsein kommen.“226 Bernstein sah den Bolschewismus von Anfang an als eine Bedrohung für die gesamte sozialistische Internationale und ganz besonders für Deutschland, Österreich und Ungarn, die sich nach der militärischen Niederlage in einer revolutionären Verfassung befanden. Die Abwehr des Bolschewismus stand in seinen Augen historisch auf der Tagesordnung und musste im Interesse einer sozial-demokratischen Weiterentwicklung der deutschen Republik gelingen (vgl. Kap. 7). In der praktischen Politik der Revolutionszeit operierte die MSPD-Führung nicht nur in der direkten Auseinandersetzungen mit Spartakisten und USPD mit einem Schreckensbild des Bolschewismus, sie nutzte die in den alten herrschenden Kreisen und im Bürgertum verbreitete Bolschewismusfurcht auch früh in den Debatten mit der politischen Rechten. So beschwor Ebert am 22. Oktober 1918 im Reichstag dieses drohende Schreckgespenst sehr gezielt: „Ebert machte sich die Bolschewismusangst der bürgerlichen Parteien und der Konservativen zunutze, als er die Verfassungsreformen des Oktober im Reichstag verteidigte. Das russische Beispiel sei Warnung genug für das, was geschehe, wenn der deutsche Volksstaat sich nicht durchsetzen würde.“227 Die Furcht vor dem Bolschewismus war also bereits im Meinungs- und Stimmungsklima Anfang November präsent, ohne dass es in Deutschland eine Organisation gegeben hätte, die auch nur in Ansätzen mit den Bolschewiki vergleichbar war. Der Spartakusbund war jedenfalls weit davon entfernt, eine revolutionäre Partei im Sinne der Bolschewiki zu sein – was allerdings für die subjektive Wahrnehmung einer angeblichen bolschewistischen Bedrohung ohne Bedeutung blieb. Bereits die frühen Stellungnahmen zahlreicher Zeitungen enthielten allgemeine Aufrufe, Ruhe und Ordnung wieder herzustellen bzw. zu bewahren. Es stellte sich ein Gefühl der Bedrohung ein, das mitunter durchaus hysterische Züge annahm. Anfang Dezember machte das Gerücht die Runde, in Berlin stünden über 100.000 gut bewaffnete Liebknecht-Anhänger zum Gewaltstreich bereit. Es wurde wegen der „herrschenden Nervosität“ allenthalben geglaubt. Auch Friedrich Meinecke fürchtete unmittelbar eine bolschewistische Revolution – nicht nur in Deutschland. „Der Weltkrieg geht vielleicht nun in die Weltrevolution über. Siegt der entsetzliche Bolschewismus auf der ganzen Linie, so sehe ich darin ein furchtbares Gottesurteil über die moderne Kultur und Menschheit, über ihren rücksichtslosen Materialismus, ihre Entgeistung und Entsittung“.228 Die Massenbewegung mit ihren Arbeiter- und Soldatenräten erschien nicht nur der politischen Rechten, sondern auch dem liberalen Bürgertum und großen Teilen 226 Bernstein: Die deutsche Revolution, 1921, (wie Anm. 15), hier 5f. 227 Lösche: Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903–1920, 1967, (wie Anm. 223), hier 142. 228 Meinecke: Erinnerungen, 1949, (wie Anm. 218), hier 275f.

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der Sozialdemokratie als undurchschaubare und diffuse Bedrohung. Troeltsch spekulierte in seinen Spektatorbriefen über „die Organisation, die unzweifelhaft hinter allem stand“, ohne Genaueres mitteilen zu können. „Jedenfalls haben die Russen und die ‚Unabhängigen‘ hier eine große Rolle gespielt.“229 Der Rat der Volksbeauftragten, der seine Regierungsmacht auch auf die Bestätigung durch den Berliner Arbeiter- und Soldatenrat am 10. November stützte und von dessen Vollzugsrat kontrolliert werden sollte, empfand die Aktivitäten der Räte bestenfalls als lästige Behinderung der eigenen Arbeit, häufig aber auch als Wühlarbeit im Dienst einer drohenden bolschewistischen Revolution. Positive Seiten konnte die Führung der MSPD den Räten nicht abgewinnen, brachte sie vielmehr mit Russland und dem Bolschewismus in Zusammenhang, wie Helga Grebing feststellte: „Ebert konstatierte (am 13. Dezember 1918): ‚Das Herum- und Hineinregieren der Arbeiter- und Soldatenräte im Land muß aufhören …‘; Landsberg urteilte am gleichen Tag: ‚Bei den Arbeiter- und Soldatenräten handelt es sich um die Organisierung der Unordnung …‘; Stampfer nannte (Ende 1919) die Räte ein ‚Mittel des Überganges von der ungewohnten Demokratie zurück zur gewohnten Despotie‘; Cohen klagte (auf dem Parteitag der SPD im Juni 1919), daß die führenden Genossen ‚in den Räten meist nur eine aus dem bolschewistischen Rußland importierte Krankheit‘ gesehen hätten.“230 Dass die Regierung der Volksbeauftragten bis weit ins rechte politische Lager hinein akzeptiert wurde, hing unmittelbar mit der Furcht zusammen, die man vor dem Bolschewismus empfand. Das galt insbesondere auch für Studenten und Hochschulen. „Man war bereit, zusammen mit der Regierung, ohne sie gutheißen zu wollen, Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen zum Nutzen von Vaterland und Nation. Dabei setzte man sich wachsam von Anfang an gegen drohende radikalere Gefahren von links zur Wehr.“231 Für die ersten Wochen nach dem 9. November kam Peter Lösche zu dem Ergebnis, die MSPD-Führung habe die Stärke bzw. besser die Schwäche der radikalen Linken sehr realistisch eingeschätzt. Die Mehrheitssozialisten hätten durchaus erkannt, „daß der Linksradikalismus zu schwach und die deutsche Entwicklung von der russischen zu verschieden war, um eine sofortige Machtübernahme des Spartakusbundes oder der linken USPD befürchten zu müssen.“232 Selbst Noske und Severing hätten beide im November 1918 keine unmittelbare bolschewistische Gefahr gesehen und im Zu-

229 Troeltsch: Rück- und Umblick 1, 1994, (wie Anm. 176), hier 11. 230 Helga Grebing: Konservative Republik oder soziale Demokratie? Zur Bewertung der Novemberrevolution in der neueren westdeutschen Historiographie, in: Eberhard Kolb (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 49), Köln 1972, S. 386–403, hier 395. 231 Jürgen Schwarz: Studenten in der Weimarer Republik. Die deutsche Studentenschaft in der Zeit von 1918 bis 1923 und ihre Stellung zur Politik, Berlin 1971, hier 101. 232 Lösche: Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903–1920, 1967, (wie Anm. 223), hier 168.

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sammenhang mit der Rätebewegung nicht von Bolschewismus gesprochen. Lösche kam auch zu der Überzeugung, das „berühmte Bündnis Ebert-Groener“ sei anfangs lediglich dem Wunsch entsprungen, das drohende Chaos zu bezwingen. „Das Abkommen war zunächst nicht gegen einen bolschewistischen Putsch gerichtet, sondern wandte sich aus der Abneigung beider Seiten gegen Revolution und mögliche Unruhen ganz allgemein. Erst in den Weihnachtskämpfen 1918 und im Januarputsch 1919 erhielt es einen betont antibolschewistischen Akzent.“233 Den zunächst offenbar vor allem instrumentellen politischen Umgang mit der angeblichen bolschewistischen Gefahr ergänzte in den Wochen nach dem 9. November in fataler Weise eine lautstarke Propagandaoffensive der radikalen Linken, die unter den neuen Bedingungen von Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit unter den Arbeitern und Soldaten wirkungsvoll werden konnte. Nicht nur verbal, sondern auch im Hinblick auf Strategie und Taktik orientierte sie sich am Vorbild der Bolschewiki, drängte zur Tat und charakterisierte die Regierung der Volksbeauftragten nur als die erste, bürgerliche Phase des zur sozialen Revolution hintreibenden Umsturzes. In diesem Zusammenhang steigerte sich die allgemeine, mehr untergründig gefühlte als rational erklärbare Furcht vor Chaos und Bolschewismus zum Schreckgespenst eines unmittelbar bevorstehenden bolschewistischen Putsches. Die allgemeine Stimmung, insbesondere in Berlin, war zur Jahreswende von zunehmender Nervosität geprägt. Als es dann an den Weihnachtstagen zu ersten größeren bewaffneten Auseinandersetzungen und im Januar zum Aufstand mit heftigen Straßenkämpfen kam, setzte sich sehr stark das Bild fest, das Wesentliche dieser Wochen sei die Abwehr der bolschewistischen Gefahr. Wobei diese Gefahr vielfach sehr diffus wahrgenommen wurde, es fand keine intellektuelle Auseinandersetzung mit den Zielen der Linksradikalen statt. Für die große Koalition der Ordnung, die um die Jahreswende 1918/19 von der politischen Rechten bis in die Sozialdemokratie reichte, war der Bolschewismus eher pathologisch als politisch zu erklären und zu verstehen. Max Weber, beispielsweise, erklärte bei einer Rede in Karlsruhe im Januar 1919: „Liebknecht gehört ins Irrenhaus und Rosa Luxemburg in den Zoologischen Garten.“ Als die beiden Führer des Spartakusbundes wenige Tage danach ermordet wurden, missbilligte er die Tat allerdings. „Die Diktatur der Straße hat ein Ende gefunden wie ich es nicht gewünscht habe. Liebknecht war zweifellos ein ehrlicher Mann.“234 Im Übrigen wurde der Mord an Liebknecht und Luxemburg durchaus nicht rundweg verurteilt. In der „Kreuzzeitung“, beispielsweise, wurde er mit einem „Gefühl der Erleichterung“ zur Kenntnis genommen. Auch andere nationale und konservative Zeitungen äußerten Sympathie für die Tat.235

233 Ebenda, 168. 234 Zit. nach: Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik, 1959, (wie Anm. 67), hier 300. 235 Vgl. Elisabeth Hannover-Drück/Heinrich Hannover (Hg.): Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens (Edition Suhrkamp Neue historische Bibliothek 233), Frankfurt am Main 1967, hier 36–58.

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Die Januarereignisse 1919, die von Berlin aus auf das ganze Reich übergriffen und in Bremen zur Ausrufung der Räterepublik führten, können als Wendepunkt der Revolution bezeichnet werden. Die Führung der MSPD sah im Spartakusbund den Drahtzieher der Januarunruhen. Von ihm nahm sie an, er wolle nach eingehender Vorbereitung die politische Macht in einer zweiten Revolution an sich reißen, ähnlich wie es die Bolschewiki in der Oktoberrevolution getan hatten.236 Als es dann im März und April in den verschiedensten Industrierevieren des Deutschen Reichs zu Streiks und Unruhen kam, fürchtete die MSPD-Führung mindestens zeitweise den Sieg der Linksradikalen oder, wie es in der zeitgenössischen Presse und Propaganda hieß, den Sieg des Bolschewismus. Jetzt setzte sich nachhaltig das Bild fest, im Wesentlichen gehe es in diesen Revolutionsmonaten um die Abwehr der bolschewistischen Gefahr, um das Verhindern einer zweiten, bolschewistischen Revolution. Diese Deutung der Revolution fand weite und nachhaltige Verbreitung – völlig losgelöst von der Frage, ob die Bolschewismusgefahr eine reale Grundlage hatte, ob also die radikale Linke im Frühjahr 1919 stark genug war, die Macht zu erobern und zu sichern; und auch unabhängig davon, ob man wie Peter Lösche annimmt, die Bolschewismusfurcht bei den Führern der MSPD sei subjektiv ehrlich gewesen,237 oder ob man wie Eberhard Kolb betont, dass seit dem Januar 1919 durch die sozialdemokratische Presse „eine regelrechte Psychose“ herangezüchtet wurde.238 Möglicherweise gingen politisch-instrumentelles Operieren mit der Bolschewismusfurcht und echtes Bedrohungsgefühl Hand in Hand und verschmolzen zu einem nicht mehr trennbaren Hysterie-Konglomerat, das die Handlungsfreiheit der MSPDgeführten Regierung massiv einschränkte. Im Ergebnis, jedenfalls, dominierte in den Köpfen zahlreicher Zeitgenossen von der konservativen und nationalen Rechten bis weit in die Reihen der MSPD hinein die Deutung des Geschehens als Abwehrkampf gegen den Bolschewismus. Erst im Mai 1919 waren die Kämpfe dieser zweiten Revolutionsphase im Wesentlichen beendet, wobei dies für die Zeitgenossen zunächst keineswegs klar ersichtlich war. Troeltsch hielt in seinen Spektatorbriefen fest, für Juni und Juli 1919 sei „ein großer Kommunistenaufstand im ganzen Reiche geplant. Die Stoßtrupps und die Geiseln waren für die Hauptorte bereits bestimmt, die Verkehrs- und Bahnstreike vorbereitet.“239 Erst nach und nach wurde immer deutlicher, dass mit einer erfolgreichen Machtübernahme durch die radikale Linke nicht mehr gerechnet werden musste. Die Gefahr des Bolsche-

236 Vgl. Lösche: Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903–1920, 1967, (wie Anm. 223), hier 171. 237 Ebenda, 172. 238 Eberhard Kolb: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918/1919 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 23), Düsseldorf 1962, hier 406. 239 Troeltsch: Neue Krisen und Möglichkeiten, 1994, (wie Anm. 178), hier 62.

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wismus, um es in der Terminologie der Ordnungskoalition zu formulieren, war für’s erste abgewehrt. Die Furcht vor einer bolschewistischen Revolution blieb aber während der ersten Jahre der Republik latent vorhanden. Aus dem Generalstreik, der den Kapp-Putsch 1920 scheitern ließ, entwickelte sich insbesondere im Ruhrgebiet eine revolutionäre Bewegung, die mit Truppen der Reichswehr niedergeschlagen wurde. Um solche Gefahren ein für allemal aus der Welt zu schaffen, schien manchem eine Stärkung der nationalistischen völkischen Rechten angebracht. Troeltsch berichtete in seinem Spektatorbrief vom 12. September 1921 über ein Gespräch, das er mit einem Großindustriellen geführt habe. Der habe ihm erklärt: „Das Blut müsse fließen, das am 9. November nicht geflossen sei, und zwar diesesmal das Blut der Linken, während damals das der Rechten in Gefahr war. Die Industrie werde den Wiederaufbau schaffen, aber vorher müsse der Sozialismus niedergeworfen werden, mit dem der Aufstieg unmöglich sei. Ein entscheidender Bürgerkrieg und eine deutsche Faszistenbewegung sei unvermeidlich, um wieder klare Verhältnisse zu schaffen. Der letztere bedeutet eine Ära politischer Morde.“240 Das Krisenjahr 1923 brachte mit der Ruhrbesetzung, der Hyperinflation, der Reichsexekution gegen Sachsen, wo Sozialdemokraten und Kommunisten eine gemeinsame Regierung gebildet hatten, und schließlich mit dem Hitler-Putsch in München eine dramatische Zuspitzung der politischen Lage. So blieb die Furcht vor einer bolschewistischen Revolution zumindest bis zu diesem Zeitpunkt ein prägendes Moment der Stimmung im Land. In den folgenden Jahren der Stabilisierung waren es insbesondere führende Sozialdemokraten, die auch im Nachhinein die Abwehr der bolschewistischen Gefahr zum eigentlichen Charakteristikum der Revolutionszeit erklärten. Philipp Scheidemann sprach in seinen 1928 erschienenen Memoiren von der „giftig-bolschewistischen Verhetzung der Arbeiterschaft“,241 die zur Revolution geführt habe. Den Bolschewismus nannte er das „barbarisch-asiatische Zerrbild des wissenschaftlichen Sozialismus“.242 Auch an anderer Stelle spielte Scheidemann die Karte des angeblich barbarischen Asien, das keineswegs als Maßstab für das entwickelte Deutschland gelten könne: „Wie sie die zaristische Schreckensherrschaft in Rußland durch den bolschewistischen Terror ersetzt hatten, so wollten sie auch Deutschland glücklich machen durch ihre asiatischen Methoden. Bei uns hätte es freilich mehr zu zerschlagen gegeben als in Rußland, denn was war das bißchen russische Industrie und Handel im Vergleich mit der hochentwickelten deutschen Wirtschaft? Deutschland, ein Land der Schulen seit Jahrhunderten, Rußland, ein Land der Millionen Analpha-

240 Ernst Troeltsch: Die Verfassungskrise. 12.9.1921, in: Ders.: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 (Die andere Bibliothek 109), Frankfurt am Main 1994, S. 213–219, hier 218. 241 Scheidemann: Memoiren eines Sozialdemokraten, 1928, (wie Anm. 54), hier 252. 242 Ebenda, 293.

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beten. Nein, nein! Wir dankten bestens für die Ablösung der Kriegsnot durch das bolschewistische Elend. Wir dankten auch für die Ablösung der wenig verhüllten Diktatur Ludendorffs durch die gar nicht verhüllte Diktatur der Sobelsohn-Radek, Sinowjew, Lenin und Kamenew.“243 Als offenbar besonders glaubwürdigen Zeugen zitierte Scheidemann Prinz Max, der in seinem eigenen Buch berichte, er, Scheidemann, habe in der Kabinettssitzung am 8. November 1918 erklärt: „Meine Partei wird dafür sorgen, daß Deutschland vom Bolschewismus verschont bleibt.“ Scheidemann ließ den Satz in seinen Memoiren gesperrt drucken und hob damit hervor, dass dies das zentrale Ziel seiner Politik in der Revolutionszeit gewesen sei.244 Im Tenor ähnlich schilderte der offizielle Sammelband „Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918–1928” das Geschehen. Der Band sollte – so das Vorwort des sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller – an die zehnte Wiederkehr jener Tage „des völligen Zusammenbruches“ erinnern. Den Begriff „Revolution“ verwendete Müller nicht, und er sprach auch nicht vom revolutionären Staatsumsturz als dem Ausgangspunkt der Republik, sondern von Deutschlands „tiefster Not“.245 Von Hermann Oncken, der damals in Berlin lehrte, stammte der historische Überblick über die zehn Jahre der Republik. Oncken vertrat die Auffassung, die Auseinandersetzungen des Dezember und Januar hätten „eine Entscheidung von weltgeschichtlicher Bedeutung“ eingeleitet: „dass dieses Deutschland in seinem furchtbaren Gärungszustande, in dem immer wieder bis in den Sommer hinein, bis zur Münchener Räteherrschaft, die wildesten Ausschreitungen der anarchistischen Gewalt erfolgten, dass dieses Deutschland damals den Stoß des Bolschewismus aufzufangen vermochte, ist ein Ereignis von europäischer Tragweite.“246 Der sich unmittelbar an Onckens Überblick anschließende Artikel stammte vom ehemaligen Reichswehrminister Gustav Noske und trug den Titel: „Die Abwehr des Bolschewismus“. In Noskes Augen stand Berlin im Januar 1919 „unmittelbar vor der bolschewistischen-proletarischen Diktatur [hervorgehoben, gesperrt gedruckt].“247 Die Folgen eines bolschewistischen Erfolges beschrieb Noske drastisch: „Wie verheerend ein durchgreifendes Experiment nach russisch-bolschewistischem Muster in Deutschland für breiteste Volkskreise und die deutsche Volkswirtschaft gewirkte hätte, ist schwer vorstellbar. Millionenopfer an Menschenleben wären sicher gefordert worden.“248 Dass die Republik ihre Existenz der Abwehr der bolschewistischen Gefahr verdankte, gehörte am Ende der zwanziger Jahre zu den elementaren Kernsätzen des

243 Ebenda, 250f. 244 Ebenda, 289. 245 Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918–1928, Berlin 1928, hier VII. 246 Hermann Oncken: Zehn Jahre deutscher Geschichte, in: Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918–1928, Berlin 1928, S. 5–20, hier 7. 247 Gustav Noske: Die Abwehr des Bolschewismus, in: Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918–1928, Berlin 1928, S. 21–38, hier 35. 248 Ebenda, 21.

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bürgerlich-sozialdemokratischen Selbstverständnisses. Zutreffend stellte Reinhard Rürup fest, „die These, daß die Revolution nichts anderes als eine Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus und dessen schließliche Abwehr gewesen sei, wurde zu einer Formel, die gleichermaßen die Zustimmung der Sozialdemokraten wie der bürgerlichen Demokratie fand.“249

Auftakt zur sozialistischen Revolution In linkssozialistischen und kommunistischen Kreisen war der Umsturz vom 9. November von Anfang an als Beginn einer revolutionären Umwälzungsperiode verstanden worden. Man hatte ihn begrüßt, aber für sich allein nicht als ausreichend empfunden. Rosa Luxemburg schrieb am 18. November 1918 in der „Roten Fahne“: „Die Revolution hat begonnen. Nicht Jubel über das Vollbrachte, nicht Triumph über den niedergeworfenen Feind ist am Platze, sondern strengste Selbstkritik und eiserne Zusammenhaltung der Energie, um das begonnene Werk weiterzuführen. Denn das Vollbrachte ist gering, und der Feind ist nicht niedergeworfen. Was ist erreicht? Die Monarchie ist hinweggefegt, die oberste Regierungsgewalt ist in die Hände von Arbeiter- und Soldatenvertretern übergegangen. Aber die Monarchie war nie der eigentliche Feind, sie war nur Fassade, sie war das Aushängeschild des Imperialismus. […] Die Abschaffung der Kapitalsherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung – dies und nichts Geringeres ist das geschichtliche Thema der gegenwärtigen Revolution.“250 Karl Retzlaw berichtete in seinen Erinnerungen, dass dies die übereinstimmende Haltung im Spartakusbund gewesen sei. Die eigentliche Revolution wurde noch erwartet.251 Dabei war man sicher oder zeigte sich jedenfalls zuversichtlich, dass die proletarische Revolution aufgrund historischer Gesetzmäßigkeiten nicht aufzuhalten sei. Rosa Luxemburgs zitierter Artikel endete mit den Sätzen: „Der Anfang ist gemacht. Das weitere ist nicht in der Hand der Zwerge, die den Lauf der Revolution aufhalten, dem Rad der Weltgeschichte in die Speichen fallen wollen. Die Tagesordnung der Weltgeschichte heißt heute: Verwirklichung des sozialistischen Endziels. Die deutsche Revolution ist in die Bahn dieses leuchtenden Gestirns geraten. Sie wird weiter Schritt um Schritt, durch Sturm und Drang, durch Kampf und Qual und Not und Sieg zum Ziel gelangen. Sie muß!“252

249 Reinhard Rürup: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, Wiesbaden 1968, hier 5. 250 Rosa Luxemburg: Der Anfang, in: Rote Fahne, Nr. 3 (18.11.1918), zit. nach: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd 4, Berlin 1974, hier 397. 251 Karl Retzlaw: Spartakus. Aufstieg und Niedergang. Erinnerungen eines Parteiarbeiters, Frankfurt am Main 1971, hier 112. 252 Rosa Luxemburg: Der Anfang, in: Rote Fahne, Nr. 3 (18.11.1918), zit. nach: Luxemburg: Gesammelte Werke. Bd 4, 1974, (wie Anm. 250), hier 400.

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Mit ähnlichem Pathos äußerte sich auch Ernst Bloch in einem Artikel, den er am 20. November 1918 im Schweizer Exil schrieb. „Deutschland hat sich institutionell gewiß durchgreifendst verändert; aber es hat sich moralisch noch kaum bewegt […] allein radikale Gerichtstaten, Demokratietaten, allein eine große, bußfertige, zutiefst erneuernde Reuebewegung, eine Auflockerung und Sozialrevolution des Herzens kann Deutschland und die Versöhnung der Welt und mehr noch als diese wieder erwarten lassen. […] Siegt Wilson, und antwortet ihm bald aus den Ländern, aus Deutschland und mehr noch aus Rußland endlich die Stimme des Menschengesichts, des Sozialismus als einer ganzen, großen, christlichen, freiheitlich-mystischen Völkerbewegung: dann wird Großes unter uns erscheinen, die härteste Tür springt auf, und tausend Jahre näher kommt die trübe, schwierige Erde ans Paradies.“253 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die wichtigsten Führer der kommunistischen Bewegung, wurden am 15. Januar 1919 ermordet. Nicht nur in der KPD, sondern auch in der USPD und Teilen der SPD herrschte am Ende der revolutionären Übergangsperiode große Ernüchterung über die Ergebnisse der Revolution. Zugleich dominierte innerhalb der KPD weiterhin der Glaube, dass die proletarische Revolution mit Notwendigkeit kommen müsse – eher über kurz als über lang. In einer kleinen Erinnerungsschrift, „den treuen, kühnen revolutionären Kämpfern und Kämpferinnen des Jahres 1919 zum Gedächtnis“ stellte Clara Zetkin die Toten auf den Sockel und hob darauf ab, dass der revolutionäre Kampf weitergehe: „Unsere Totenklage für die entrissenen Führer ist Kampfschwur, unsere Trauer um die Toten ist Kampfesrüsten, nicht Entmutigung und müde Resignation.“254 Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurde als Zeichen für die großen Chancen einer proletarischen Revolution im zeitlichen Umfeld des November 1918, des Januaraufstandes und der Märzaktionen 1919 gedeutet. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden nach ihrer Ermordung zu einem einigenden Symbol der enttäuschten linken Arbeiterschaft, das ihren Einfluss zu Lebzeiten weit übertraf.255 1920 begann der Leitartikel der „Roten Fahne“ „Zum 9. November“ mit einem Verweis auf die Oktoberrevolution und stellte fest, die deutschen Arbeiter müssten aus dem „heiligen Feuer der russischen Revolution“ Mut und Kraft schöpfen, um ihr eigenes Werk, die proletarische Revolution in Deutschland, zu vollenden. „Am

253 Ernst Bloch: Kampf, nicht Krieg. Politische Schriften 1917–1919, Frankfurt am Main 1985, zit. nach: Die Tageszeitung (4.8.1987), S. 11f. 254 Clara Zetkin: Revolutionäre Kämpfe und revolutionäre Kämpfer 1919. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, E. Leviné, Franz Mehring und all den treuen, kühnen revolutionären Kämpfern und Kämpferinnen des Jahres 1919 zum Gedächtnis von Clara Zetkin, Stuttgart 1920, hier 30. 255 Vgl. Detlev Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne (Edition Suhrkamp Neue historische Bibliothek 282), Frankfurt am Main 1987, hier 43.

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9. November gelobt das revolutionäre Proletariat Deutschlands alle Kraft daran zu setzen, bis die Junker, die Offiziere, die Bourgeois und ihre sozialistischen Helfer, die Scheidemänner und Hilferdinge, am Boden liegen. Am 9. November erklärt es den Krieg der bürgerlichen Demokratie in jeglicher Form, erhebt es wieder den alten Schlachtruf: Alle Macht den Arbeiter-, Soldaten und Bauernräten.“256 Auch 1921 waren Stellungnahmen der KPD zum 9. November von der Auffassung geprägt, dass man sich noch inmitten einer revolutionären Phase befände. Hieraus resultierte die andauernde Erwartung eines bevorstehenden neuen revolutionären Aufschwungs. So bewertete August Thalheimer, damals Mitglied der Zentrale der KPD, den 9. November 1921 als den „Tiefpunkt der demokratisch- bürgerlichen Revolution“ und zugleich als Wendepunkt zu einer neuen, aufsteigenden Phase der proletarischen Revolution. In diesen bevorstehenden Novembertagen, so Thalheimer weiter, werde man sich nicht noch einmal den „Illusionen und Halbheiten von 1918“ hingeben.257 Die KPD deutete zu diesem Zeitpunkt die Schwäche der Republik und die Stärke der nationalen Rechten als Anzeichen für das bevorstehende Umschlagen des historischen Prozesses in die zweite, proletarisch-sozialistische Revolution. In der „Roten Fahne“ hieß es 1921 zum dritten Jahrestag der Revolution: „Wahrlich, der 9. November 1918 hat sich grausam-gründlich kritisiert. Der ‚scheinbar niedergeworfene Gegner‘ hat sich in der Tat riesenhaft wieder aufgerichtet. Die geschichtliche Dialektik arbeitet mit haarscharfer Präzision. Sie arbeitet aber nach zwei Seiten. Sie hat in den Tatsachen […] die Liquidation der Illusionen, Halbheiten, Schwächen der bürgerlich-demokratischen Revolution deutlich herausgearbeitet. Sie bereitet damit in der einzig möglichen Weise den Umschlag in die zweite, die proletarisch-sozialistische Revolution vor.“258 Während bis in den Herbst 1923 unter tätiger Mitwirkung der Kommunistischen Internationale immer wieder Aufstände vorbereitet wurden, setzte sich nach 1923 in der kommunistischen Bewegung die Auffassung durch, dass mit einer proletarischen Revolution in Deutschland unmittelbar nicht zu rechnen sei, die Stabilisierung der politischen und sozialen Verhältnisse zeige vielmehr an, dass keine akute revolutionäre Situation mehr vorliege. Dies bestätigte auch der Ausgang der Reichstagswahlen vom 7. Dezember 1924, bei denen die KPD von 12,6 auf 9 Prozent der Stimmen zurückfiel, während die SPD von 20,5 auf 26 Prozent zulegen konnte.

256 Zit. nach: Manfred Gailus: „Seid bereit zum Roten Oktober in Deutschland!“ Die Kommunisten, in: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 61–88, hier 78. 257 August Thalheimer: Zum 9. November, in: Rote Fahne, Nr. 514 (9.11.1921), zit. nach: Manfred Gailus: „Seid bereit zum Roten Oktober in Deutschland!, 1989, (wie Anm. 256), hier 78. 258 Rote Fahne, Nr. 514 (9.11.1921), zit. nach: Schirmer: Politisch-kulturelle Deutungsmuster: Vorstellungen von der Welt der Politik in der Weimarer Republik, 1989, (wie Anm. 118), hier 35.

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Auch angesichts der Stabilisierung der Weimarer Republik hielt die KPD am großen Endziel der proletarischen Revolution fest. Zumindest in ihrer Agitation gab sie trotz aller ideologischen Schwankungen und Wendungen immer wieder vor, die Jahre der Weimarer Republik seien nichts anderes als das Vorspiel zur bevorstehenden Revolution, deren endgültiger Sieg auf der Tagesordnung der Geschichte stehe. „Wir gehören zu der glücklichen Generation, die täglich und stündlich vom Pulsschlag der Revolution mit neuen Energien erfüllt wird und die selber mitgestaltet am Werk der Revolution“, hieß es 1929 in der parteioffiziellen „Illustrierten Geschichte der deutschen Revolution“. „Das deutsche Proletariat hat im bisherigen Verlauf seiner Revolution eine unverwüstliche Widerstandskraft entwickelt. In keinem Lande bisher hat die Arbeiterklasse vor der Eroberung der Macht solche Beweise des Mutes, der Kraft und der Opferfähigkeit erbracht wie in Deutschland. Darin liegt trotz aller Rückschläge die Gewähr für den Sieg der deutschen Revolution.“259

Verratene Revolution Die Vorstellung, dass es sich 1918/19 um eine „Verratene Revolution“ handelte, setzte sich innerhalb der radikalen Linken spätestens fest, als die Regierung der Volksbeauftragten im Januar 1919 Truppen und insbesondere Freikorpsverbände gegen Aufständische und später auch gegen streikende Arbeiter einsetzte. Verräter an der angeblich gemeinsamen Sache der sozialistischen Arbeiterbewegung waren aus der Perspektive der radikalen Linken die Führer der MSPD, die sich nicht nur im letzten Augenblick an die Spitze der revolutionären Bewegung gesetzt hatten, um sie zu bremsen und zu stoppen, sondern dann auch noch militärisch gegen diejenigen Kräfte vorgegangen waren, die die Revolution weitertreiben wollten. „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten“ wurde zur gängigen Parole der Kommunisten, die weit über die Zeit der Weimarer Republik hinaus virulent blieb. Das aus Sicht der radikalen Linken an den Händen der MSPD-Führer klebende Arbeiterblut und insbesondere die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vertieften und verhärteten die Fronten zwischen MSPD und KPD. Eine Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten war während der Weimarer Republik äußerst schwierig, nur punktuell denkbar und stets von tiefem Misstrauen begleitet. Allenfalls auf kommunaler Ebene und auf Länderebene kam es zu intensiveren Kooperationen. Auf Reichsebene aber bekämpften sich die beiden Parteien der Arbeiterbewegung mehr oder weniger entschieden – vor allem abhängig von der momentanen ideologischen Orientierung der KPD und der Kommunistischen Internationale. Der Vorwurf des Verrats setzt voraus, dass dem Verräter mit einiger Berechtigung unterstellt werden kann, dass er dieselben Werte vertritt und dieselben Ziele verfolgt

259 Illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution, Berlin 1929, hier 514.

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wie die Verratenen, dass er ins Lager der Gegner wechselt und heimtückisch deren Geschäfte besorgt. Der Vorwurf des Verrats wurde sehr schnell und vor allem in der politischen Publizistik und in der zeitgenössischen Erinnerungsliteratur erhoben, beispielsweise schon 1919 von Emil Barth in seiner Schrift „Aus der Werkstatt der deutschen Revolution“, aber auch noch 1924/25 von Richard Müller in seiner dreibändigen Geschichte der Revolutionszeit (vgl. Kap. 7). Barth, im November und Dezember 1918 einer der drei USPD-Volksbeauftragten, charakterisierte das Verhalten Eberts und Scheidemanns durchgängig als Verrat am Sozialismus und an der Revolution.260 Richard Müller, herausragender Kopf der Revolutionären Obleute, nannte Ebert „das politische Haupt der Gegenrevolution“.261 Man darf annehmen, dass die spannungsgeladene Zusammenarbeit und die daraus resultierende Enttäuschung mit zu solchen Urteilen geführt hatten. Im Fall der KPD war der Vorwurf des Verrats Bestandteil der heftig geführten politischen Auseinandersetzungen mit der SPD. Er wurde während der gesamten Jahre der Weimarer Republik aufrechterhalten und prägte insbesondere auch die große „Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution“, die 1929 von führenden KPD-Funktionären zusammengestellt wurde.262 Der Band umfasste mehr als 500 großformatige Seiten und enthielt zahlreiche Dokumente. Dies zeigt, wie wichtig der KPD die Revolutionsgeschichte im Rahmen ihrer politischen Agitation war. Die Darstellung befand sich ganz im Einklang mit der damals propagierten Sozialfaschismusthese und verfolgte das Ziel, den „Verrat“ der Sozialdemokratie am Sozialismus, ihren „Übertritt zum Feinde“ historisch nachzuweisen (vgl. Kap. 7). Die Weimarer Republik als Ergebnis der „verratenen Revolution“ war kein Staat, in dem die KPD geregelte Oppositionspolitik betreiben konnte und wollte. Sie stand – auch wegen der blutigen Erfahrungen mit Noske und den Freikorps – von Anbeginn in einer fundamentalen „Entrüstungsopposition“ zu dieser Republik und pflegte einen extremen Antirepublikanismus. Dies führte auf Dauer zu einer sehr ambivalenten, distanzierten und letztlich negativen Erinnerung an die Revolution. Manfred Gailus stellte bei seiner Untersuchung der kommunistischen Parteipresse „verwundert“ fest, „wie wenig Positives die Partei der Erinnerung an die Novemberrevolution (9.11.1918) abzugewinnen vermochte. Immerhin bedeutete die Novemberrevolution doch auch das Ende der Monarchie in Deutschland, die vollständige Einführung eines allgemeinen Wahlrechts auf allen parlamentarischen Ebenen unter Einschluß der Frauen, die Öffnung zu sozialpolitischen Reformen, und nicht zuletzt war sie die Geburtsstunde der eigenen Partei – alles dies konnte an der totalen Negativbewertung der Novemberrevolution bei den Kommunisten wenig

260 Vgl. Emil Barth: Aus der Werkstatt der deutschen Revolution ((Republikanische Bibliothek)), Berlin 1919. 261 Richard Müller: Der Bürgerkrieg in Deutschland (Geschichte der deutschen Revolution 3) 2. Aufl. 1979, hier 8. 262 Illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution, 1929, (wie Anm. 259).

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ändern. Die Enttäuschung und Verbitterung über die Halbheiten der Revolution, über den ‚Verrat‘ der Sozialdemokraten, über die angeblich verpaßte historische Chance zu einer siegreichen, rein proletarischen Revolution überwog bei weitem die Wertschätzung der relativen Fortschritte gegenüber dem Kaiserreich. Bezeichnend ist, daß die kommunistische Verbitterung mit wachsendem zeitlichem Abstand zum 9. November 1918 eher noch zunahm. Die Erinnerung an den ‚November‘ 1918 und den ‚Oktober‘ 1917 verschmolz in der kommunistischen Traditionspflege zu einer Doppelfeier, in der die glorreiche russische der kläglichen deutschen Revolution kontrastiv gegenübergestellt wurde.“263 Dies fand seinen Ausdruck zum Beispiel in der Anzahl der Feiern, mit denen in den ersten Jahren einerseits an die russische Oktoberrevolution, andererseits an die deutsche Revolution erinnert wurde. Zunehmend überstiegen die Feierlichkeiten zur russischen Revolution jene zum 9. November an Zahl und Umfang. War das Verhältnis 1921 in Berlin noch 11:9, lag man 1924 bereits bei 17:6. Statt der halbherzigen, von den Sozialdemokraten verratenen Novemberrevolution feierte man lieber die glorreiche russische Oktoberrevolution.264 1925 zog der neu gewählte KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann in einem Grundsatzartikel wegweisende Lehren aus den Erfahrungen der russischen Revolution. Die Hauptaufgabe der deutschen Kommunisten, hieß es in dem Artikel, müsse „in der Zerschlagung des Einflusses der sozialdemokratischen Führer auf das deutsche Proletariat insbesondere auf die Gewerkschaftsbewegung“ liegen.265 Bezeichnend für die kommunistische Bewertung der deutschen Revolution von 1918/19 war auch die Nachlese, die die ‚Rote Fahne‘ am 10. November 1927 brachte. Es gebe, so war dort zu lesen, kein vernichtenderes Urteil über die deutsche Republik als das Verhalten des werktätigen Deutschlands am Tage der Wiederkehr des „glorreichen“ 9. November. Am 7. November habe „die deutsche Arbeiterklasse“ in allen Städten begeistert demonstriert und damit gezeigt, was ihr die russische Revolution bedeute. Am 9. November hingegen, „am großen Geburtstag des Werkes der sozialdemokratischen Führung“, habe sich die Mehrheit der sozialdemokratisch beeinflussten Arbeiter gegenüber den Versuchen ihrer Führung, diesen „Geburtstag ihres Schandwerks“ zu feiern, bestenfalls stumpf und teilnahmslos verhalten. Diese Teilnahmslosigkeit der sozialdemokratischen Arbeiter an der Feier ihrer Republik kennzeichne die „Krise des sozialdemokratischen Machtgedankens und seine Verwirklichung in der deutschen Geldsackrepublik“. Die Sozialdemokratie wage es nicht einmal mehr, zur Feier des 9. November aufzurufen; einige Artikel in ihren Zeitungen, das sei bereits alles. Nachweislich fanden allerdings 1927 SPD-Veranstaltungen zur Erinnerung an die Novem-

263 Gailus: „Seid bereit zum Roten Oktober in Deutschland!, 1989, (wie Anm. 256), hier 77f. 264 Ebenda, 79. 265 Rote Fahne Nr. 258 (7.11.1925), zit. nach: Gailus: „Seid bereit zum Roten Oktober in Deutschland!“, 1989, (wie Anm. 256), hier 81.

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berrevolution statt.266 Ende der Zwanzigerjahre wurden aus den Saalfeiern der KPD, so Manfred Gailus‘ Befund, vermehrt „zentrale Großkundgebungen unter freiem Himmel, die die aktive Einbeziehung einer weit größeren Menschenzahl in ein politisches Massenschauspiel erlaubten. Die politisch-publizistischen Stellungnahmen zum 9. November nahmen an verbalradikaler Schärfe noch zu, wobei sich der Verratsvorwurf gegen die Sozialdemokratie vorzüglich für den aktuell-politischen Konfrontationskurs in der Endphase der Republik instrumentalisieren ließ.“267 Unter dem Einfluss des 6. Weltkongresses der Kommintern 1928 vollzog die KPD wieder eine Wende zu einem aggressiven, ultralinken Kurs. Neben den 9. November war bei der KPD bereits früh ein zweites Datum getreten, dem für die Identität der deutschen kommunistischen Bewegung zentrale Bedeutung zukam: Regelmäßig wurde am 15. Januar an die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts erinnert. Ab 1925 kam das Gedenken an den Todestag Lenins am 21. Januar 1924 hinzu, so dass diese symbolträchtigen Daten alljährlich zu „LeninLiebknecht-Luxemburg-Feiern“ verbunden wurden. Auch in der DDR wurde übrigens diese kommunistische Festtradition fortgesetzt. Alljährliche Demonstrationen zur Gedenkstätte auf dem Friedhof Friedrichsfelde gibt es auch noch nach der Jahrtausendwende.268 So haben beispielsweise am 10. Januar 2010 „Zehntausende von Menschen“ an die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 91 Jahre zuvor erinnert, rote Nelken und Kränze niedergelegt.269

Verpasste Chance der Demokratisierung Die Enttäuschung über die Ergebnisse der Revolution beschränkte sich keineswegs auf die radikale Linke, sondern reichte bis ins Lage der bürgerlichen Liberalen. Ernst Troeltsch kritisierte am 28. Januar 1919: „Die Beamtenwelt ist so gut wie ohne alle Personalveränderung geblieben. Die Beamten, auch die konservativsten stellen sich auf ‚den Boden der neuen Tatsachen‘ und bleiben im Amt, regieren, sprechen und benehmen sich aber ganz im alten Stil. Das erzeugt immer neues Mißtrauen und neue Reibungen. Nur ein gründlicher Beamtenwechsel des Verwaltungsdienstes kann hier helfen“.270 Am 10. Februar äußerte die liberale „Frankfurter Zeitung“ scharfe Kritik an Geist und Stil der Nationalversammlung: „Die deutsche Nationalversammlung in

266 Geburtstagsjubiläum in der Hindenburg-Republik, in: Rote Fahne (10.11.1927), vgl. Gailus: „Seid bereit zum Roten Oktober in Deutschland!, 1989, (wie Anm. 256), hier 82f. 267 Gailus: „Seid bereit zum Roten Oktober in Deutschland!, 1989, (wie Anm. 256), hier 81. 268 Vgl. Gailus: „Seid bereit zum Roten Oktober in Deutschland!, 1989, (wie Anm. 256), hier 67. 269 Rote Rosen für die Ermordeten, in: Stuttgarter Zeitung (11.1.2010), S. 4. 270 Ernst Troeltsch: Allmähliche Klärung. 28.1.1919, in: Ders.: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 (Die andere Bibliothek 109), Frankfurt am Main 1994, S. 17–21, hier 20f.

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Weimar sollte sofort und dringend den Beschluß fassen, daß in allen Fraktionszimmern und überhaupt überall dort, wo sich die Räder der Parteimaschinen drehen, ein großes Plakat angebracht werde, das in Flammenschrift die Worte trägt: ‚Vergeßt nicht, das deutsche Volk hat eine Revolution gemacht!‘“271 Schon bei den ersten großen Debatten der Nationalversammlung war deutlich zu beobachten, wie gründlich sich die politische Landschaft in Deutschland seit dem November verändert hatte. Die Revolution und die Revolutionsregierungen mussten bereits verteidigt werden. Statt Forderungen und Anklagen hörte man aus den Reihen der Sozialdemokraten nicht selten Entschuldigungen. Rudolf Wissell, nach dem Ausscheiden der USPD Mitglied im Rat der Volksbeauftragten, zog bereits auf dem Weimarer MSPD-Parteitag im Juni 1919 eine sehr ernüchternde und selbstkritische Bilanz der MSPD-Politik in der Revolutionszeit: „Trotz der Revolution sieht sich das Volk in seinen Erwartungen enttäuscht. Es ist nicht das geschehen, was das Volk von der Regierung erwartet hat. Wir haben die formale politische Demokratie weiter ausgebaut. Gewiß, aber wir haben doch nichts anderes getan als das Programm fortgeführt, das von der kaiserlich deutschen Regierung des Prinzen Max von Baden schon begonnen worden war. Wir haben die Verfassung fertiggestellt ohne tiefere Anteilnahme der Bevölkerung. Wir konnten den dumpfen Groll, der in den Massen steckt, nicht befriedigen, weil wir kein richtiges Programm hatten …. Wir haben im wesentlichen in den alten Formen unseres staatlichen Lebens regiert. Neuen Geist haben wir diesen Formen nur wenig einhauchen können. Wir haben die Revolution nicht so beeinflussen können, als daß Deutschland von einem neuen Geist erfüllt erschiene. […] Ich glaube, die Geschichte wird, wie über die Nationalversammlung, auch über uns in der Regierung hart und bitter urteilen.“272 Zu diesem Zeitpunkt verlor die MSPD deutlich Mitglieder und Wähler an die USPD, die mit ihrer Politik bereits in den Revolutionsmonaten auf wachsende Zustimmung gestoßen war. Die Mitgliederzahl der USPD steigerte sich von 100.000 bei Revolutionsausbruch auf 300.000 Ende Februar 1919. Bei den Reichstagswahlen am 18. Juni 1920 erreichte die USPD 4.894.317 Stimmen und lag damit nicht mehr weit entfernt von der MSPD mit 5.614.452 Stimmen. Der auf dem rechten Parteiflügel der USPD angesiedelte Heinrich Ströbel nannte das 1922 eine „rapide Massenflucht nach links“.273 Heinrich Ströbel veröffentlichte 1920 eine Gesamtdarstellung mit dem Titel „Die deutsche Revolution“, in der er die Auffassung vertrat, die Revolution hätte

271 Zit. nach: Reinhard Rürup: Entstehung und Grundlagen der Weimarer Verfassung, in: Eberhard Kolb (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 49), Köln 1972, S. 218–243, hier 230. 272 Zit. nach: Helga Grebing: Friedrich Ebert. Kritische Gedanken zur historischen Einordnung eines deutschen Sozialisten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1971), H. 5, S. 3–18, hier 17. 273 Heinrich Ströbel: Die deutsche Revolution. Ihr Unglück und ihre Rettung, 3. Aufl., Berlin 1922, hier 102.

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zwingend „die Volksherrschaft durch völlige Beseitigung des Militarismus, durch Abdankung der führenden Bürokratie und durch entschlossene Demobilisierungsmaßregeln sicherstellen und auf den dazu geeigneten Gebieten einen kräftigen Anfang mit der Sozialisierung machen müssen.“274 Dass dies nicht geschah, sei wesentliche Ursache für das Scheitern der Revolution bei dem Versuch, der Republik ein stabiles demokratisches Fundament und eine klare, unumkehrbare sozialistische Orientierung zu geben (vgl. Kap. 7). Unzufriedenheit mit der MSPD-Politik und mit den Ergebnissen der Revolution dürfte das wichtigste Motiv für die massenhafte Hinwendung zur USPD gewesen sein. In großen Teilen der linken Arbeiterschaft galt die Revolution als unvollendet, gebremst, stecken geblieben oder gescheitert. Die Weimarer Republik war nicht der Staat geworden, den die Linke in den revolutionären Novembertagen vor Augen gehabt hatte. „Wenn wir am 9. November die Bilanz des ersten Revolutionsjahres ziehn,“ schrieb Heinrich Ströbel 1919, „gelangen wir zu trostlosen Feststellungen. Mit Ausnahme einer Handvoll politischer Streber und des stattlichen Haufens des Schiebertums, das sich auch während der Revolution gleich Hyänen am verwesenden Kadaver unserer Volkswirtschaft mästet, empfindet das ganze Land den stärksten Unmut über den Verlauf und die Ergebnisse der Revolution. […] Und heute, wo sich die Geburtsstunde der Republik jährt, brennen nicht nur Junker und Großbourgeoisie darauf, ihr bei erster Gelegenheit den Todesstoß zu versetzen, ist sie nicht nur für Kleinbürger und Bauern der Gegenstand des Hohns und der Verachtung geworden, sondern auch für das Proletariat selbst, das sich geäfft und betrogen fühlt und die Demokratie nur für die Kulisse hält, hinter der sich kapitalistische Ausbeutung und bureaukratisch-militaristische Willkürherrschaft genau so schamlos abspielen, wie unter der Monarchie und der unverhüllten Säbeldiktatur. Und es bedarf keines besondern politischen Scharfsinns, um zu begreifen, daß eine Demokratie, die durch ihre Politik sich nirgends Freunde zu erwerben vermocht hat, auf lockerstem Flugsand ruht und bei der ersten wichtigen Erschütterung in sich zusammenstürzen muß.“275 Ernst Troeltsch machte im August 1919 auf Tendenzen aufmerksam, das Rad auf allen Ebenen zurückzudrehen. „Die Deutschnationale Partei glaubt sich wieder als die der alten Konservativen und der alten Vaterlandspartei enthüllen zu dürfen und legt die zurückhaltenden ‚volksparteilichen‘ Allüren ab, die sie anfangs der neuen Lage zu schulden glaubte und die sie heute auf einen täglich sich steigernden Antisemitismus beschränkt. Ein Teil der Universitäten wählt die schroffsten Kriegspublizisten zu Rektoren, die Studentenschaften sammeln sich in der Hauptmasse um ihre alten Verbindungen und deren Ideologie. Die protestantische Kirche Preußens bereitet sich darauf, zur konservativen Gegenburg gegen den Staat der Revolution zu

274 Ebenda, 56f. 275 Heinrich Ströbel: Die Bilanz der Revolution. Ein Rückblick und ein Ausblick, Berlin 1919, hier 3.

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werden. Kurz: die teils planmäßig gelegten, teils instinktiv hervorleuchtenden Grundlagen der Gegenrevolution werden sichtbar, […] die Rache haben will an Juden und Judengenossen für den verlorenen Krieg und die verlorene Herrenstellung der bisher herrschenden Klassen und die überdies alle Ideologen der heroischen Weltanschauung und des germanischen Aufstieges um sich sammelt.“276 Sehr ernüchternd fiel der „Revolutions-Rückblick“ aus, den Kurt Tucholsky nach einem Jahr in der „Weltbühne“ veröffentlichte: „Ich schau zurück. Die Pressegenerale Ergriff vor einem Jahr der große Schreck. Die O.H.L. verstummt mit einem Male. Vorbei. Die Phrase lag im Dreck. Vorbei die Pläne und die dicken Thesen, vorbei die plumpen Renommisterein. Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen, behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein! […] Wir dachten schon: Jetzt gilts den Offizieren! Wir dachten schon: Hier wird nun ernst gemacht. Wir dachten schon: Man wird sich nicht genieren, das Feuer brennt einmal … es ist entfacht … Wir dachten schon: Nun kommt der Eisenbesen … Doch weicht der Deutsche sich die Hosen ein – Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen, behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein!“277

Die verpassten Chancen standen auch ganz im Mittelpunkt einer Rezension, die Kurt Tucholsky unter seinem Pseudonym Ignaz Wrobel über Emil Barths „Aus der Werkstatt der deutschen Revolution“ im September 1920 in der „Weltbühne“ veröffentlichte: „Die Novembertage des Jahres 1918 sind vorbei. Da, zum ersten, zum bisher einzigen Mal in der Geschichte Preußens, wehte ein freier Wind in diesem Lande. […] Möglichkeiten – Möglichkeiten! Was hätte da alles geschehen können! Ein, zwei Tage lang hielt die deutsche Welt wirklich den Atem an. Alles lag in der Luft, alles im Bereich der Realität: völlige Zertrümmerung der Bundesstaaten, wirkliche Abrüstung, Herrschaft des Mannes und nicht des Herrn, Trennung von Kirche und Staat – alles, alles. Ein Schritt, ein so kleiner Schritt trennte uns damals von alldem … Atmet auf. Die Gefahr ist vorbei. Wer weiß, für wie lange Jahre.“278 Christel Wickert hat 1989 das Gedenken an die Revolution im linksintellektuellen Milieu untersucht und bei dem eher der USPD nahe stehenden Teil der Intellektuel-

276 Ernst Troeltsch: Der Enthüllungssturm. 10.8.1919, in: Ders.: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 (Die andere Bibliothek 109), Frankfurt am Main 1994, S. 73–75, hier 75. 277 Zit. nach: Peter Brandt (Hg.): 1918/19. Ein Lesebuch, Berlin 1979, hier 146. 278 Ignaz Wrobel, in: Die Weltbühne, Nr. 36 (2.09.1920), S. 269.

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len eine vorwiegend kritische Haltung festgestellt: „Es wird immer wieder der ungebrochene Militarismus und die aus der Kaiserzeit erhaltene Bürokratie, Justiz und Schule kritisiert“.279 1926 schrieb Carl von Ossietzky unter außenpolitischen Gesichtspunkten über den „November“ und nannte Mussolini „eine europäische Gefahr“, aus der einzig eine Wiederbelebung der unvollendet gebliebenen Revolution von 1918 herausführe. „Halt, ist es wirklich erst acht Jahre her, daß aus dem Novembergrau rote Fahnentücher leuchteten: Was für Tage voll Verheißungen und Seelenaufruhr waren das!“280 Helene Stöcker, die Herausgeberin der Zeitschrift „Die Neue Generation“ fragte 1928 danach, wer „sich jener Tage in dem Sinn und Geist erinnern wird, der damals die Menschen erfüllte“. Das Verhalten der SPD-Führer, besonders Eberts Bündnis mit Groener, habe das „Schicksal der Revolution“ vorzeitig besiegelt.281 Kritik an der Halbherzigkeit und am Steckenbleiben der Revolution war dominierend in der USPD und bei einem Teil der Linksintellektuellen. Man fand sie vereinzelt allerdings auch innerhalb der SPD. So übte beispielsweise Julius Leber am 1. April 1924 sehr grundsätzliche Kritik an der SPD-Politik in der Revolutionszeit. Aufgabe der SPD wäre es gewesen, so Leber, eine von Grund auf neue Staatsidee zu schaffen, nicht nur eine neue Form, sondern auch neuen Inhalt, einen neuen Geist. Aber der „unbedingte Wille zur politischen Macht“ sei nicht überall vorhanden gewesen. „Man ließ sich von der demokratisch-republikanischen Form täuschen und versäumte dabei vielfach den rücksichtslosen Kampf für den neuen Geist. Man faßte vielfach die neue Regierungsform als eine Art Kompromiß auf zwischen der alten Gewalt und den Ansprüchen der aufstrebenden Arbeiterschaft. Es änderte sich wenig, außer daß in der Regierung einige Sozialdemokraten saßen.“282 Mit der Spaltung und Auflösung der USPD verlor diese am Ideal einer sozialistischen demokratischen Republik orientierte Deutung der Revolution ihre politische „Heimat“ und Vertretung. Dass in der Revolutionszeit die Chance vergeben worden sei, durch tief greifende Reformen von Militär, Bürokratie, Justiz und Bildungswesen eine stabilere Demokratie in Deutschland zu schaffen, wurde in der Folgezeit zunächst nur noch vereinzelt von Intellektuellen beklagt. Einer von ihnen war Carl von Ossietzky. Als er im November 1928 der deutschen Revolution von 1918/19 gedachte, klagte er, sie sei nur ein „kurzes pathetisches Emporrecken“ gewesen, dem allzu schnell ein „Niedersinken in die Alltäglichkeit“ gefolgt sei. An ihrem Ende habe ein „trauriges Umsonst“ gestanden. Insbesondere weil die revolutionären Bewegungen im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik erfolglos geblieben seien,

279 Wickert: „Zu den Waffen des Geistes… Durchgreifen Republik!, 1989, (wie Anm. 222), hier 135. 280 Zit. nach: Wickert: „Zu den Waffen des Geistes… Durchgreifen Republik!, 1989, (wie Anm. 222), hier 133. 281 Zit. nach: Wickert: „Zu den Waffen des Geistes… Durchgreifen Republik!, 1989, (wie Anm. 222), hier 134. 282 Julius Leber: Ein Mann geht seinen Weg. Reden, Schriften, Briefe, Berlin 1952, hier 170.

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schätzte Ossietzky die Bedeutung dieser gescheiterten Revolution höher ein als die meisten seiner Zeitgenossen. Nicht ein verlorener Krieg, hielt er denen entgegen, die von dieser Revolution nichts wissen wollten und sie wegen ihrer angeblichen Schuld an der militärischen Niederlage Deutschlands als „Novemberverbrechen“ diffamierten, sondern eine „verspielte Revolution“ sei die „wahre Niederlage eines Jahrhunderts.“283

Geburtsstunde der deutschen Republik Die eigentlich naheliegendste Charakterisierung der Revolution – als „Geburtsstunde der deutschen Republik“ – hatte unter den politischen Rahmenbedingungen der Weimarer Republik keineswegs viele Anhänger. Die bürgerlichen Parteien gingen schon bald auf deutliche Distanz zur revolutionären Entstehungsgeschichte der Republik, auch um die Propaganda der nationalistischen Rechten ins Leere laufen zu lassen, die mit Schlagworten wie „Novemberverbrecher“ und „Dolchstoß“ Revolution wie Republik zu diskriminieren suchte. Alle sozialdemokratischen Initiativen, den 9. November zum Feiertag zu machen, scheiterten. Weder das Zentrum noch die DDP mochten sich zur Revolution als Geburtstunde der Republik bekennen. Am 9. November 1919 hatte es noch Feiern zum Jahrestag gegeben, die von der sozialdemokratisch-bürgerlichen Regierung angesetzt worden waren,284 in den Jahren danach fanden bürgerliche Feierlichkeiten praktisch nicht mehr statt. Elfi Bendikat kam bei ihrer Untersuchung des „Gesinnungsliberalismus“ – einer Teilkultur, die sie zwischen den reinen Wirtschaftsliberalen und den Linksintellektuellen ansiedelte und der sie insbesondere die „Frankfurter Zeitung“ zurechnete285 – allenfalls zu einem begrenzt positiven Befund in späteren Jahren: „Mit wachsender zeitlicher Distanz waren die Liberalen schließlich in der Lage, die positiven Auswirkungen der Revolution zu würdigen, die als Mittel der Politik ihren gesellschaftlichen und politischen Grundprinzipien widersprach. Ende der 1920er Jahre vermochten Teile der Gesinnungsliberalen schließlich einzugestehen, daß die Revolution das Licht gewesen war, das damals ‚in der Finsternis‘ strahlte.“286 Linksintellektuelle bekannten sich von Anfang an zu Revolution und Republik, wenn auch getrübt durch die nach ihrer Überzeugung viel zu massiven restaurativen Tendenzen. Dieser Zwiespalt war auch nach zehn Jahren nicht aufgehoben. Max

283 Carl v. Ossietzky: Rechenschaft. Publizistik aus den Jahren 1913–1933, Berlin 1972, hier 99f. 284 Hans-Erich Volkmann: Die Gründung der KPD und ihr Verhältnis zum Weimarer Staat im Jahre 1919, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 23 (1972), S. 65–80, hier 79. 285 Vgl. Elfi Bendikat: „Wir müssen Demokraten sein.“ Der Gesinnungsliberalismus, in: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 139–158, hier 139. 286 Ebenda, 153.

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Reinheimer stellt in seinem Leitartikel „Zehn Jahre deutsche Republik“ im Dortmunder „Generalanzeiger“ vom 9. November 1928 fest, für die einen sei der Revolutionstag ein Zusammenbruch, für viele – wie ihn – jedoch eine Befreiung gewesen. Eine Befreiung deswegen, weil der Weg für ein kulturell hochentwickeltes Volk frei wurde, endlich seine Geschichte ohne Bevormundung selbst in die Hand zu nehmen. Die Volksbeauftragten hätten „durch kluge, umsichtige Politik aus dem Chaos wieder geordnete Zustände zu schaffen“ versucht. Der 9. November sei der Grundstein zu einem Volksstaat gewesen, der durch die Verabschiedung der Verfassung erst realisiert worden sei. Leider sei zu viel Fassade geblieben, eine Demokratisierung von Verwaltung, Justiz, Reichswehr und Schule ferner denn je.287 Das Bekenntnis der SPD zum 9. November als Geburtsstunde der Republik stand nie grundsätzlich in Frage. „Die sozialdemokratischen Versammlungsaktivitäten anläßlich der Revolutionstage waren insbesondere während der ersten Jahre der Republik sehr beträchtlich. So fanden z. B. 1919 allein in Groß-Berlin nahezu 70 im ‚Vorwärts‘ angekündigte Veranstaltungen statt, auch 1921/22 waren es noch 30–40, die bis zu diesem Zeitpunkt durch eine demonstrative ‚Arbeitsruhe‘ in Absprache mit der Gewerkschaftskommission flankiert werden konnten. In späteren Jahren sind häufig ‚Revolutions-Gedenkfeiern‘ genannte Versammlungen stets in den Abendstunden – wenn der 9. November nicht auf einen Sonntag fiel – durchgeführt worden, wobei offenkundig die meisten der 20 Berliner Bezirke die Tradition einer eigenen sozialdemokratischen Feierstunde entwickelten. Nach vorliegenden Berichten kann nicht von einer kontinuierlich rückläufigen Beteiligung ausgegangen werden, da z. B. eine USPD-Veranstaltung 1920 in Neukölln ca. 5.000, ein ‚Massenaufmarsch‘ der SPD in diesem Bezirk 1927 jedoch 9.000–10.000 Teilnehmer mobilisiert haben soll.“288 Aufgrund seiner Untersuchung der SPD-Parteipresse kam Detlef Lehnert zu dem Ergebnis, die SPD habe in der Weimarer Republik die Erinnerung an den 9. November als Geburtsstunde der Republik durchaus gepflegt. In der sozialdemokratischen Memoirenliteratur wurde die Revolution allerdings nicht selten einfach weginterpretiert und das Geschehen auf einen bloßen Zusammenbruch reduziert. Offenbar ist aber diese Memoirenliteratur nicht repräsentativ für den Umgang der gesamten SPD mit dem Revolutionsgedenken. Lehnert kam zu dem Ergebnis, dass die durch den „Vorwärts“ repräsentierte Hauptströmung der SPD eine schlüssige Konzeption verfolgte: „Allen restaurativen Tendenzen energisch Widerstand leistend, die Weimarer Verfassung normativ anerkennend und öffentlichkeitswirksam propagierend, aber die demokratischen und sozialen Defizite der Verfassungswirklichkeit kritisch begleitend, sollte die SPD ‚Staatspartei der Republik‘ selbst 287 Zit. nach: Wickert: „Zu den Waffen des Geistes… Durchgreifen Republik!, 1989, (wie Anm. 222), hier 133. 288 Detlef Lehnert: „Staatspartei der Republik“ oder „revolutionäre Reformisten“? Die Sozialdemokraten, in: Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 89–113, hier 107.

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in Phasen der Opposition werden und zugleich Hoffnungsträger ‚revolutionärer Reformisten‘ bleiben.“ Sie habe das Ziel verfolgt, einerseits neben dem traditionellen 1. Mai den Verfassungstag in den Mittelpunkt zu stellen, „gleichzeitig aber nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, daß die Novemberrevolution 1918 die Geburtsstunde der deutschen Republik war und deren Erinnerungswert nicht den ‚Dolchstoß‘-Demagogen kampflos ausgeliefert werden durfte.“289 Anfangs hatten sozialdemokratische Gedenkartikel den Revolutionstag mitunter als den „größten Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Volkes und der Arbeiterschaft“ gefeiert,290 mit fortschreitender Distanz zu den Ereignissen wurde der „Geburtstag der Republik“ dann nüchterner begangen. Waren die sozialdemokratischfreigewerkschaftlichen Aufrufe zum 9. November in den Anfangsjahren der Republik darauf konzentriert, „wie die Revolution erfolgversprechend weitergetrieben werden kann“,291 so war um die Mitte der Zwanzigerjahre eine eher zurückgenommene Position erkennbar. „Obwohl der ‚Vorwärts‘ auch 1925 die Ausrufung der Republik vor sieben Jahren als einen ‚Ehrentag der Sozialdemokratie‘ verteidigte, war die argumentative Defensive in der gegen die Propaganda von rechts vorgebrachten Versicherung unübersehbar, ‚daß die deutsche Staatsumwälzung vom November 1918 weder von ‚Novemberverbrechern‘ herbeigeführt noch durch einen ‚Dolchstoß‘ vorbereitet werden konnte‘. Statt die aktive Rolle der eigenen Partei bei der Durchsetzung der demokratischen Republik zu betonen dominierte unter diesem taktischen Gesichtspunkt die Version, die Revolution sei ‚wie eine reife Frucht vom Baum einer langen Entwicklungsreihe‘ gefallen. ‚Sie war weder gemacht noch vorbereitet. Sie kam, weil sie nach dem Erlebnis des Weltkrieges – so oder so – kommen mußte!‘“292 Die Reichstagswahlen im Mai 1928 brachten der SPD nicht nur einen Zuwachs an Stimmen, die Partei beteiligte sich nach Jahren der Abstinenz auch wieder an der Regierung und stellte mit Hermann Müller den Reichskanzler. Die Folge war eine erneute hohe Identifikation mit der Republik, die auch in den Gedenkveranstaltungen zum 9. November ihren Ausdruck fand. In dem offiziellen Gedenkband „Zehn Jahre deutsche Geschichte“, den die Reichsregierung 1928 veröffentlichte, spielte die Revolution allerdings eine außerordentlich marginale Rolle, als Bekenntnis zur revolutionären Geburtsstunde der Republik kann dieses Werk kaum verstanden werden. In dieser Hinsicht herrschte völlig Übereinstimmung mit den Zielen der begleitenden Ausstellung. Der Leitgedanke der Wanderausstellung „Zehn Jahre Weimarer Republik“ sei es, „daß die Revolution völlig aus dem Spiel bleibt und lediglich als geschichtliches Faktum hingenommen wird, daß dagegen der hinter der Revolution beginnenden 10jährigen Wiederaufbauarbeit ein geistiges Denkmal gesetzt wird“ – so 289 Ebenda, 112. 290 Vorwärts Nr. 564 (4.11.1919). 291 Vgl. Vorwärts Nr. 546 (5.11.1920). 292 Vorwärts (8.11.1925), zit. nach: Lehnert: „Staatspartei der Republik“ oder „revolutionäre Reformisten“?, 1989, (wie Anm. 288), hier 105f.

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der zuständige Staatssekretär in der Reichskanzlei Hermann Pünder am 27. Dezember 1928 in einem Brief an Reichswirtschaftsminister Curtius.293 Deutlich andere Akzente setzte Hermann Müller in seinem eigenen Buch „Die Novemberrevolution“, das ebenfalls 1928 erschien, im selben Jahr, in dem er wieder zum Reichskanzler gewählt werden sollte. Müller hatte während des Krieges die Burgfriedens-Position der SPD-Mehrheit geteilt und war 1916 aufgrund einer Nachwahl Mitglied des Reichstags geworden. Im November 1918 zog er als SPD-Mann in den Vollzugsrat der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte ein. Er war Mitglied der Nationalversammlung und wurde nach Eberts Amtsantritt zu einem der beiden MSPD-Vorsitzenden gewählt. Müllers Perspektive war 1928 die des erfolgreichen sozialdemokratischen Politikers, der offensichtlich für die Republik und die Errungenschaften der Revolution werben wollte. Die in der Nachkriegszeit aufgewachsene Jugend wisse vielfach gar nicht mehr, so Müller, was sich durch die Revolution grundlegend geändert habe. „Die Revolution hat das Werk der Befreiung der Arbeiterklasse eingeleitet. Im Werk von Weimar liegt der Keim für die werdende sozialistische Gesellschaft. Es ist Aufgabe der Zukunft, das in Weimar begonnene Werk zur Reife zu bringen.“294 (Vgl. Kap. 7) Der Umgang der Sozialdemokratie mit der Revolution 1918/19 hatte erkennbar zwei Seiten. War der Adressat der Aktivitäten vorwiegend die eigene Parteibasis, zögerte die SPD nicht, an die Revolution zu erinnern, und schuf gezielt entsprechende Gedenktraditionen. Wandten sich führende Sozialdemokraten dagegen staatstragend an eine breite Öffentlichkeit, streben nach Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien oder waren in Koalitionen eingebunden, dann wurde die Revolution 1918/19 peinlich ins hinterste Zimmer verbannt.

Keine wirkliche Revolution Während sich die Zeitgenossen in den Revolutionstagen des November 1918 völlig einig darüber waren, dass es sich bei dem Geschehen um eine „Revolution“ handelte, wurden angesichts des weiteren Verlaufs schon bald Zweifel formuliert. Walter Rathenau war einer derjenigen, deren Beurteilung der Revolution sich bereits in den ersten Monaten gravierend veränderte. Im Juni 1919 formulierte er in seiner Schrift „Kritik der dreifachen Revolution“, die Revolution sei „eine Revolution aus Versehen“ und ein „Verzweiflungsprodukt“ gewesen. Seine eigene Enttäuschung und seine Zweifel wurden deutlich in der Klage: „Nicht wurde eine Kette gesprengt durch das Schwellen eines Geistes und Willens, sondern ein Schloss ist durchgerostet. Die Kette fiel ab, 293 Zit. nach: Jens Flemming/Claus-Dieter Krohn/Dirk Stegmann/Peter Christian Witt (Hg.): Die Republik von Weimar. Bd. 1. Das politische System, Königstein/Ts., Düsseldorf 1979, hier 95. 294 Hermann Müller-Franken: Die November-Revolution. Erinnerungen, 2. durchgesehene Aufl., 31. bis 38. Tausend, Berlin 1931, hier 286.

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und die Befreiten standen verblüfft, hilflos, verlegen und mussten sich wider Willen rühren […] Den Generalstreik einer besiegten Armee nennen wir deutsche Revolution.“295 Rathenau vermisste im Rückblick schon 1919 den entschiedenen Willen des Volkes, Veränderungen anzustreben und durchzusetzen. „Wir haben keine Revolution gemacht. Einen Heeresstreik, eine militärische Sabotage, eine parlamentarische Palastrevolte haben wir erlebt, und diese Dinge haben teilweise revolutionäre Wirkungen gehabt. Das Volk blieb politisch unbeteiligt, und die alten Männer herrschen in neuer Zusammensetzung.“296 Während Rathenau insbesondere den entschiedenen Willen zu Veränderungen vermisste, kritisierte der junge Liberale Theodor Heuss 1919, der Umsturz sei aus keiner großen Idee oder Vision geboren worden. „Der Umsturz ist eine Sabotage des Militärsystems durch das Militär, eine unblutige Kasernenrevolte, aus dem Zusammenbruch der militärischen Erfolgsmöglichkeiten erwachsen und durch die Agitation einiger Berufsrevolutionäre genährt. Nach dem Geistigen zu suchen, ist eine mühsame und aussichtslose Sache – nicht nur im Abstrakten nach der Idee, sondern auch im Konkreten.”297 Für Max Weber war das Ganze ein „blutiger Karneval, der den ehrenvollen Namen Revolution nicht verdient“.298 Elfi Bendikat kam bei ihrer Untersuchung der liberalen Presse zu dem Ergebnis, dass die Berichterstattung geprägt war von dem Ziel, die Republik möglichst nicht in Verbindung mit einer „Revolution“ zu bringen. Aus diesem Grund hätten die liberalen Zeitungen die Revolution dem monarchisch-autoritären Regierungssystem als dessen „Todesstunde“ zugeordnet.299 Daneben sollte nach ihrem Urteil auch durch die Abschwächung des revolutionären Charakters dieses Ereignisses die Folgebelastung für die Republik gesenkt werden. Die Revolution „wurde deshalb als äußere Erscheinungsform des militärischen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs gedeutet, als ‚passive Kehrseite des rechtlosen, kampflosen Zusammenbruchs aller materiellen und seelischen Kräfte auf der Seite des Bestehenden‘.“300 Im Hinblick auf das liberale Bürgertum kann mit Reinhard Rürup festgestellt werden: „Je weiter man sich von der Revolution entfernte desto stärker wurde die Neigung sie zu einem bloßen Zusammenbruch umzuinterpretieren oder zu einer Übergangszeit zwischen zwei Systemen, durch die man einfach ‚hindurch‘ mußte.“301 Aus ganz anderen Motiven wurden unter Linksintellektuellen Zweifel geäußert: Es hatte sich in ihren Augen am Ende der Umbruchphase schlicht zu wenig verändert, um das große Wort Revolution zu rechtfertigen. Kurt Tucholsky schrieb unter

295 296 297 298 299 300 301

Walter Rathenau: Kritik der dreifachen Revolution, Berlin 1919, hier 9. Ebenda, 63. Theodor Heuß: Zwischen Gestern und Morgen, Stuttgart 1919, hier 54. Max Weber: Politische Schriften, München 1921, hier 484. Bendikat: „Wir müssen Demokraten sein.“, 1989, (wie Anm. 285), hier 153f. Ebenda, 154. Rürup: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, 1968, (wie Anm. 249), hier 49.

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seinem Pseudonym Ignaz Wrobel in der „Weltbühne“: „Wir haben keine Revolution gehabt, aber wir haben eine Gegenrevolution.“302 Ganz ähnlich äußerte sich 1922 Wilhelm Michel in der derselben Zeitschrift: Er gedachte der „Restauration, nicht Revolution“ und meinte, im November 1918 habe lediglich eine „Zuckung“ stattgefunden, „kein Umsturz“.303 1928 schrieb Kurt Tucholsky sein Gedicht „Zehn Jahre deutsche ‚Revolution‘“. Sein Fazit: „Wir haben die Firma gewechselt. Aber der Laden ist der Alte geblieben.“304 Auch aus der Perspektive der USPD schien das Novembergeschehen „bereits nach Jahresfrist ‚weit mehr ein Zusammenbruch als eine bewußte Revolution‘ zu sein, eine ‚geglückte Revolte‘ gegen den morschen Obrigkeitsstaat und insofern nur ein ‚politisches Vorbeben‘ im Hinblick auf künftige Umwälzungsprozesse.“305 Mit eindeutig diffamierender Zielrichtung wurde aus dem extrem rechten Milieu darauf beharrt, von einer Revolution könne eigentlich keine Rede sein, etwa in der Berichterstattung der agrarisch geprägten „Deutschen Tageszeitung“. Deren Position fasste Jürgen Bergmann zusammen: „Es handelte sich zum einen […] 1918 ‚gar nicht um eine Revolution‘, ‚d. h. um keine aus den Tiefen des Volkes kommende soziale Bewegung und Umwälzung, … sondern um eine politisch angemalte und geschickt aufgebaute Meuterei'. Bei den darüber hinausgehenden Erscheinungen ging es jedoch nur um ‚einen Ausbruch niedrigster Masseninstinkte‘ oder um ‚eine gewaltsame, würdelose und selbstmörderische Zerstörung, die sich sinn- und ziellos in den übelsten Instinkten fanatisierter Menschen austobte‘ – es war insofern in seinem ‚ganzen Charakter, mit Deserteuren und sonstigem Gelichter im Vordergrund, nichts als eine Pöbelmeuterei‘.“306 Hitler sprach in „Mein Kampf“ vom „Banditenstreich des Herbstes 1918“, der sich selbst als deutsche Revolution bezeichne.307 Eine wahrhaft deutsche Revolution, daran ließ der Nationalsozialismus von Anfang an keinen Zweifel hatte mit dem Geschehen von 1918/19 nichts gemeinsam. Folgerichtig hieß es in einem der ersten historischen Werke, die nach dem 30. Januar 1933 erschienen: „Es gibt keine Revolution von 1918! Die Revolution der Deutschen hat dort ihren Ursprung, wo die Revolte von 1918 ihre Sühne fand!“308

302 Zit. nach: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke. Bd 2. 1919–1920, Reinbek, hier 87. 303 Zit. nach: Wickert: „Zu den Waffen des Geistes … Durchgreifen Republik!“, 1989, (wie Anm. 222), hier 132. 304 Zit. nach: Helmut Lamprecht (Hg.): Deutschland, Deutschland. Politische Gedichte vom Vormärz bis zur Gegenwart, Bremen 1969, hier 371. 305 Leipziger Volkszeitung (8.11.1919), zit. nach: Lehnert: „Staatspartei der Republik“ oder „revolutionäre Reformisten“?, 1989, (wie Anm. 288), hier 105. 306 Bergmann: „Das Land steht rechts!“, 1989, (wie Anm. 121), hier 192. 307 Hitler: Mein Kampf, 1938, (wie Anm. 132), hier 377f. 308 Hein Schlecht: Einleitung, in: Joseph Goebbels: Revolution der Deutschen. 14 Jahre Nationalsozialismus, Oldenburg 1933, S. 7–11, hier 7.

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Die Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik und ihre Deutungen der Revolution An den Hochschulen der Weimarer Republik überwog, der schwarz-weiß-rote Geist. So Theodor Eschenburg 1965.309 Das galt insbesondere auch für die Historischen Institute. Sozialdemokraten gab es bis 1919 auf historischen Lehrstühlen nicht – und auch später nur in seltenen Ausnahmefällen. Dafür sorgten Berufungsverfahren, die stets den konservativen Geist und die Exklusivität des Professorenstandes wahren sollten. „Charakteristisch ist, daß über den ‚Bruch in der deutschen Geschichte 1918/ 19‘ hinaus die Kontinuität dieses Denkens im allgemeinen bewußt gewahrt wurde.“310 Zentraler Punkt in diesem Denken war ein Staatsverständnis, das sich wesentlich von dem der westlichen Länder und unserem heutigen unterschied und entscheidend die Haltung der Historiker zur Revolution von 1918/19 bestimmte. Auf dieses Staatsverständnis ist daher zunächst etwas genauer einzugehen. Die Prägung der Regierungsgewalt durch Parteien und Interessengruppen, wie sie konstituierend für moderne parlamentarische Demokratien ist, kam nach Überzeugung der Historiker des Kaiserreichs und der Weimarer Republik fast einem Verrat am Volk gleich, formulierte Karen Thiessenhusen, die in den späten Sechzigerjahren „Politische Kommentare deutscher Historiker zur Revolution und Neuordnung 1918/19“ untersucht hat. „Die wahren Interessen des Volkes – das sie nicht als Summe von Einzelwesen oder Gruppen, sondern als unpolitische ‚geistige Einheit‘ verstanden – konnte nach ihrer Meinung nur eine überparteiliche Regierung erkennen und vertreten, die Einsicht in das Lebensgesetz von Staat, Nation und Volk gewonnen hatte und nur ihnen diente. Dieses Ideal einer Regierung verwirklichte für sie die konstitutionelle Monarchie in der Verfassung von 1871, mit der das deutsche Verfassungsleben ‚zum alten germanischen Volkskönigtum‘ zurückkehrte.“311 Der Staat war nach dem Verständnis der deutschen Historiker in allererster Linie durch seine Außenpolitik geprägt. Schon seine Entstehung verdankte er in ihren Augen der Außenpolitik, den Auseinandersetzungen an den Grenzen. „Der Staat wurde – in Fortführung Rankescher Ideen – als Legalisierung der Kriegsformation betrachtet, deren Auflösung automatisch den Untergang des Staates bedeuten müsse; denn nach Ranke kann ein Staat nur durch die Mittel erhalten werden, durch die er entstanden ist, also durch Druck und Gegendruck an seinen Grenzen. Darin liege das ‚geschichtliche Recht des Krieges‘. […] Da die Historiker der Entstehung des

309 Theodor Eschenburg: Aus dem Universitätsleben vor 1933, in: Andreas Flitner (Hg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen, Tübingen 1965, S. 24–46, hier 46. 310 Karen Thiessenhusen: Politische Kommentare deutscher Historiker zur Revolution und Neuordnung 1918/19, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1969), H. 45, S. 3–63, hier 6. 311 Ebenda, 19.

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Staates einzig die Außenpolitik zugrunde legten und gleichzeitig Außenpolitik mit Machtpolitik identifizierten, glaubten sie die einzig mögliche Definition für den Staat gefunden zu haben in der Formel ‚Staat ist Macht‘.“312 Der Staat war in den Augen der deutschen Historiker des Kaiserreichs und der Weimarer Republik also nicht das Produkt eines zweckgerichteten Vertrages, wurde nicht durch die Lehre von der Volkssouveränität definiert. Er besaß vielmehr selbst „Ursprünglichkeit“, erhielt also seine Existenz nicht – in einer wie auch immer gearteten Weise – vom Volk. Die äußere Form des Staates wurde nach ihrer Anschauung nicht aktiv vom Volk bestimmt, sondern nur indirekt vom „Volkstum“ geprägt. Deshalb schien es für einen Staat geradezu unmöglich, Verfassungsformen anderer Völker nach Belieben zu übernehmen. Insofern enthält solches Staatsdenken ein statisches Moment im Vergleich zur dynamischen Staatsauffassung der naturrechtlich-demokratischen Lehre, nach der jedes Volk in freier Entscheidung sich seine Verfassung wählt, entsprechend der jeweiligen besonderen geschichtlichen Situation. Der Staat war im Denken der deutschen Historiker eine objektive, überindividuelle Macht, war selbst eine Art Individuum mit „Eigenwert“, dem der einzelne zu dienen hatte. Konkret war das Deutsche Kaiserreich der Staat der deutschen Historiker. Im preußisch-deutschen Staat sahen sie die Erfüllung der deutschen Geschichte. Das zeigte sich in aller Deutlichkeit während des Ersten Weltkriegs. Während sich die meisten Historiker mit politischen Stellungnahmen zu Tagesfragen vor 1914 zurückgehalten hatten, entwickelten sie mit Ausbruch des Weltkrieges ein eminentes politisches Interesse und zugleich den Anspruch auf die geistige Führung der Nation. Die deutschen Historiker hielten sie es geradezu für ihre nationale Pflicht, die Nation zu weltpolitischen Aufgaben zu erziehen, um damit den machtpolitischen Zielsetzungen des Staates eine breitere Basis im Innern zu schaffen. Es galt, die großartige Einheit der Nation vom August 1914 aufrecht zu erhalten und zu stärken. „Dieses Selbstverständnis überdauerte den Krieg und trat zu Beginn der Weimarer Republik noch stärker in Erscheinung als je zuvor.“313 Ganz selbstverständlich hatten sich die Historiker während des Kriegs an den Forderungen nach Gebiets-Annexionen der unterschiedlichsten Art beteiligt – selbst Meinecke trat zeitweilig für eine weitgehende und dauernde Kontrolle über Belgien ein und forderte die Annexion Marokkos.314 Der Krieg wurde im Verständnis deutscher Historiker aber keineswegs nur um Gebiete und Macht geführt, es ging auch um geistige Weichenstellungen von weltgeschichtlicher Bedeutung. Georg v. Below formulierte 1917: „Die Erlebnisse des Weltkrieges haben den Zusammenbruch der Ideale der französischen Revolution dargetan. Die Ideen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind durch die deutschen Ideen von 1914, Pflicht, Ordnung, Gerechtig-

312 Ebenda, 15. 313 Ebenda, 5. 314 Vgl. Petzold: Die Dolchstoßlegende, 1963, (wie Anm. 82), hier 87.

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keit überwunden.“315 Die Historiker waren vom deutschen Sieg und von der Überlegenheit des deutschen Regierungssystems völlig überzeugt. Entsprechend tief war der Fall, als im Sommer und Herbst 1918 alle Siegeshoffnungen zusammenbrachen. Die publizistische Aktivität der Historiker, vor allem der Konservativen, sank rapide. Und nicht nur das: Auffallend ist, dass es offenbar einen blinden Fleck, ein Tabuthema bei der Beschäftigung mit dem Kriegsende gab. Karen Thiessenhusen ist bei ihrer Untersuchung darauf gestoßen, dass sich in den folgenden Monaten und Jahren nur wenige Historiker zu den einschneidenden Oktobervorgängen äußerten. Im gesamten von ihr untersuchten Material tauchte nur zweimal der Hinweis auf, „daß die Waffenstillstandsbitte und die Regierungsumbildung auf die Initiative von Ludendorff zurückgingen. Für die spätere Beurteilung des Kriegsausganges war das einfache Ignorieren dieser Tatsache von großer Bedeutung: Es erwies sich als ausgezeichnetes Mittel, die These des ‚im Felde unbesiegt‘ und die Dolchstoßlegende mit zu begründen und zu festigen.“316 Im Hinblick auf ihre Position zu Revolution und Republik, insbesondere aber auch zur Dolchstoßthese unterschied Karen Thiessenhusen zwei Gruppen von Historikern. Für die „Rechts-Konservativen“ – Dietrich Schäfer, Georg v. Below, Johannes Haller, Eduard Meyer, A.O. Meyer, Theodor Schiemann, Otto Hoetzsch, Karl Alexander von Müller, Richard Fester, Erich Brandenburg, Adalbert Wahl, Fritz Hartung, Felix Rachfahl, Martin Spahn, Max Lenz, Erich Marcks – sei der „Dolchstoß“ eine feststehende Tatsache gewesen, die „Gouvernemental-Liberalen“ – Hans Delbrück, Otto Hintze, Friedrich Meinecke, Walter Goetz, Hermann Oncken, Ludwig Bergsträßer, Karl Brandi, Johannes Ziekursch, Siegmund Hellmann, Veit Valentin – hätten dagegen die Niederlage nicht als Folge von Verrat gesehen.317 Unter dem Titel „Wie wurden wir ein Volk? Wie können wir es bleiben?“ setzte sich Dietrich Schäfer 1919 mit Revolution und Niederlage auseinander. Schäfer war Vertreter einer betont nationalen und politischen Historiographie, ein Schüler Treitschkes und teilte durchaus auch dessen Judenfeindschaft. Schäfer verstand sich als Erzieher des deutschen Volkes. Sein Hauptwerk „Deutsche Geschichte“, das erstmals 1904 erschien,318 erlebte bis weit in die NS-Zeit hinein zahlreiche Auflagen. Nationalsozialisten sahen in Schäfer einen Vordenker. Für ihn war der „Dolchstoß“ eine klar auf der Hand liegende Tatsache mit weit reichenden Folgen: „Die Männer des 9. November […] haben Deutschland in einen Zustand versetzt, wie es ihn elender und hoffnungsloser nie gesehen hat.“ Das Volk sei den Lügen der Feinde erlegen und habe sich selbst nicht nur wehrlos sondern auch ehrlos gemacht. Das Verhalten seiner Kollegen Delbrück, Meinecke und Goetz war für Schäfer völlig unverständ-

315 Zit. nach: Thiessenhusen: Politische Kommentare deutscher Historiker zur Revolution und Neuordnung 1918/19, 1969, (wie Anm. 310), hier 19. 316 Ebenda, 21. 317 Ebenda, 11f. 318 Dietrich Schäfer: Deutsche Geschichte, 7. Aufl., Jena 1919.

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lich.319 Am neuen Staat ließ Schäfer in seiner „Deutschen Geschichte“ kein gutes Haar: „An die Stelle des Kaiserreichs trat die Republik. Sie verkündete Frieden, Freiheit und Brot. Sie hat Unfrieden, Knechtschaft und Hunger gebracht. […] Es möchte schwer sein, auch nur ein einziges Gebiet zu bezeichnen, auf dem die Umwälzung Besserungen gebracht hätte“.320 Die Revolution sah er als vollständige Verrohung aller Sitten: „Jetzt waren alle Höllengeister losgelassen. Roheste Beuteund Genußgier, brutale Mißachtung jeder Art von Recht und Sitte wurden tägliche Übung. Raub und Plünderung, Erpressung und Diebstahl, Lug und Trug, Gewalttat und Arglist sind in deutschen Landen wohl niemals in dem Maße an der Tagesordnung gewesen wie in den Wochen und Monaten nach der Revolution.“321Zwischen 1918 und 1925 hielt Schäfer nachweislich 137 Vorträge, in denen es meist um den Dolchstoß oder den Machtstaatsgedanken ging. Wie sehr er ganz persönlich unter den Folgen des angeblichen Dolchstoßes gelitten hat, zeigt eine Episode aus dem Jahr 1920. Mit einem Rundschreiben bedankte sich Schäfer für die Glückwünsche zu seinem 75. Geburtstag und verwies zugleich auf das wehrlose, ehrlose, entrechtete und geknechtete Vaterland.322 Auch für Johannes Haller war der Dolchstoß unumstößliche Tatsache. Im Februar 1919 sprach er anlässlich der Eröffnung des Zwischensemesters in Tübingen davon, dass die deutschen Kämpfer auch den vielfach überlegenen Feind geschlagen hätten, „bis die politische Gasvergiftung, von der Heimat ausgehend, die Front erreichte“. Im gefährlichsten Moment habe die Heimat den Kämpfern den Dolch in den Rücken gestoßen.323 Georg von Below, einer der profiliertesten und streitbarsten Köpfe im nationalkonservativen Lager, nannte schon im Dezemberheft 1918 der von ihm ein Jahr zuvor mitbegründeten Zeitschrift „Deutschlands Erneuerung“ als Ursache des militärischen Zusammenbruchs den „Dolchstoß“. 1919 formulierte er: „Es kann unserem Volk nicht oft genug vor Augen gestellt werden: nicht ihren Waffenerfolgen verdanken unsere Feinde ihren Sieg, unserer Erbärmlichkeit in der Heimat verdanken sie ihn.“324 Below war kein sentimentaler Herzensmonarchist, nicht nur Gegner der Republik, sondern entschiedener Feind von Demokratie schlechthin. Eine parlamentarische Monarchie war für ihn ebenso wenig akzeptabel wie die Republik. Belows Ziel war der starke nationale Staat, für den in seinen Augen die parlamentarische Demokratie grundsätzlich eine Gefahr darstellte. In seinen Äußerungen zur Revolu-

319 Dietrich Schäfer: Wie wurden wir ein Volk? Wie können wir es bleiben?, München 1919, hier 72. 320 Schäfer: Deutsche Geschichte, 1919, (wie Anm. 318), hier 516f. 321 Ebenda, 518. 322 Vgl. Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 454. 323 Zit. nach: Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 455. 324 Georg v. Below: Sinn und Bedeutung des deutschen Zusammenbruchs, in: Deutschlands Erneuerung 3 (1919), S. 77–84, hier 78.

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tion von 1918/19 waren von Anfang an deutliche antisemitische Tendenzen festzustellen.325 Für die meisten Historiker des national-konservativen Lagers begann der „Dolchstoß“ nicht erst im Herbst 1918. Below nannte in diesem Zusammenhang auch die Friedensresolution der Reichstagsmehrheit von 1917. Für Johannes Haller war die Revolution „die Tatsache eines ungeheuren Bankrotts, der ebenso schmerzlich wie beschämend ist, weil er einen Fehlbetrag an geistigen und sittlichen Kräften enthüllte, […] der nicht möglich gewesen wäre, wären nicht schon vor dem Kriege Geist und Gewissen der Nation erschlafft und stumpf gewesen.“326 Dietrich Schäfer sah die Ursachen für die „Zermürbung der inneren Front und dadurch Zersetzung auch der äußeren“ im jahrzehntelangen Wühlen „gegen jede Steigerung der Macht, gegen jede Stärkung der Rüstung“.327 Below präzisierte Schäfers allgemein gehaltenes Urteil in einem langen „Sündenregister“ der „Demokratie“, ohne dabei genauer zu definieren, was er unter „Demokratie“ verstand; er benutzte den Begriff schlicht „als simplifizierendes Schlagwort für alle die politischen Tendenzen in Deutschland, die sich nicht eindeutig mit der alldeutsch-annexionistischen Richtung identifizieren ließen.“328 Der „Gebhardt“, damals wie heute das bedeutsamste Handbuch der deutschen Geschichte, vertrat in seiner sechsten Auflage von 1923 inhaltlich die Dolchstoßthese ohne explizit den Begriff zu verwenden.329 Der Gebhardt blieb vollständig dem Staatsverständnis aus der Zeit des Kaiserreichs verhaftet. Das neue Deutschland wurde als „parlamentarische Republik nach französischem Muster“ bezeichnet, ausdrücklich verwiesen wurde auf die Gefahr, „dass die jeweilige parlamentarische Mehrheit der Minderheit rücksichtslos ihren Willen aufzwängt“.330 Die neue Verfassung sei „nichts weniger als ein glücklicher Wurf, als ein aus machtvollem Einheitsgefühl erwachsenes Denkmal deutschen Geistes.“331 In seiner siebten Auflage von 1931 bekannte sich der „Gebhardt“ noch klarer und deutlicher zur Dolchstoßthese, wenn er betonte, „daß die Ursache unserer Niederlage zum großen Teil infolge des in der Heimat ertöteten [!] Willens zum Weiterkämpfen zu suchen

325 Vgl. Töpner: Gelehrte Politiker und politisierende Gelehrte, 1970, (wie Anm. 8), hier 178. 326 Johannes Haller: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, 2. Aufl., Stuttgart 1941, hier 378. 327 Dietrich Schäfer: Ludendorffs „Urkunden der Obersten Heeresleitung“, in: Deutschlands Erneuerung 4 (1920), S. 601–605, hier 604. 328 Thiessenhusen: Politische Kommentare deutscher Historiker zur Revolution und Neuordnung 1918/19, 1969, (wie Anm. 310), hier 26f. 329 Aloys Meister (Hg.): Gebhardts Handbuch der Deutschen Geschichte. Dritter Band: Vom Abschluß der deutschen Bundesakte (1815) bis zum Ende des Weltkriegs, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1923, hier 713f. 330 Ebenda, 717. 331 Ebenda, 717.

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ist.“332 Er blieb bei seiner negativen Bewertung der Republik und der Weimarer Verfassung.333 An der Oktoberreform schieden sich bei den deutschen Historikern die Geister. Während die rechts-konservativen darin nicht nur einen fundamentalen Fehler, sondern einen Teil des Dolchstoßes und des Verrats sahen, betonten die gemäßigten die Notwendigkeit der Reform. Meinecke brachte es auf die bündige Formel: „Der moderne Volkskrieg führt mit notwendiger, unerbittlicher Konsequenz zum Volksstaat.“334 Dabei sah er in diesem modernen Volksstaat nicht zwangsläufig eine Abkehr von den Staatsidealen, für die er als Historiker eintrat: „Nun ist es die Aufgabe des neuen Volksstaates, die Forderungen der großen deutschen Idealisten und preußischen Reformer vor hundert Jahren zu verwirklichen und bis in die tiefsten Schichten des Volkes jenes Staatsethos zu verbreiten, das aus der sittlichen Freiheit des einzelnen fließt.“335 Auch Hans Delbrück begrüßte die Oktoberreformen als politisches Gebot der Stunde. Er war im Oktober 1918 fest davon überzeugt, dass die völlige Neubildung der Regierung und deren nun festgeschriebene Verantwortlichkeit gegenüber dem Reichstag einen entscheidenden Einfluss auf die zukünftigen Friedensverhandlungen haben würden, da Wilson es ja in seinen Noten abgelehnt hatte, mit den alten aristokratisch-militaristischen Führungsschichten Deutschlands zu verhandeln. Außerdem sah Delbrück mit der Oktoberreform die Gefahr einer Revolution gebannt. Delbrück hatte seit längerem einen Freundeskreis, zu dem auch Meinecke gehörte, in der „Mittwochabend“-Gesellschaft versammelt. „Der Grundgedanke unseres Kreises war dabei immer“, charakterisierte Meinecke dessen Ziele und Anschauungen, „Deutschland zu bewahren vor einer Niederlage und einer Revolution. Darum bemühten wir uns um den Verständigungsfrieden mit unseren Gegnern und kämpften an gegen den Annexionismus und den verschärften Unterseebootkrieg, die ihn unmöglich machten. Darum bemühten wir uns auch im Innern um einen Verständigungsfrieden zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft, um einen Kompromiß zwischen Monarchie und Demokratie, zwischen Kapitalismus und Sozialismus.“336 In den Augen Meineckes war die Umgestaltung des Staatswesens „an und für sich schlechthin notwendig geworden“,337 denn die ungeheuere nationale Kraftanstrengung im Krieg habe sich nicht vereinbaren lassen mit der „Entfremdung der Massen vom Staate, hervorgerufen durch das Übergewicht des

332 Robert Holzmann (Hg.): Gebhardts Handbuch der Deutschen Geschichte. 7. Aufl., völlig neu bearbeitet, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1931, hier 803. 333 Ebenda, 836. 334 Friedrich Meinecke: Nach der Revolution. Geschichtliche Betrachtungen über unsere Lage, München/Berlin 1919, hier 5. 335 Ebenda, 8. 336 Ebenda, 44. 337 Ebenda, 60.

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Herrschaftsgedankens, des von Preußen getragenen konservativ-militaristischen Prinzips“.338 Auch über die Mittwochabend-Gesellschaft hinaus stellte Thiessenhusen bei den „gouvernemental-liberalen“ Historikern im Herbst 1918 Veränderungen fest. „Im Oktober 1918 modifizierten die gemäßigten Historiker in einigen Punkten ihr politisches Urteil. Oder besser: Unter dem Eindruck der militärischen und politischen Notlage des Reiches und der oktroyierten Verfassung betonten sie mit stärkerem Nachdruck und in größerem Ausmaß als bisher die dringende Notwendigkeit von Reformen. Das Ziel war das gleiche geblieben: Einheit im Innern und maßvolle Politik auf der Basis von Macht und Stärke nach außen hin. Den Primat der Außenpolitik als politisches Grundprinzip gaben sie keineswegs auf, sondern sie wollten ihn nur noch enger, unlösbar mit der Innenpolitik, mit den Interessen und dem politischen Bewußtsein der Massen verflechten.“339 Die Niederlage im Weltkrieg war für gemäßigte Historiker wie Friedrich Meinecke primär militärisch bedingt und nicht das Ergebnis irgendeines „Dolchstoßes“. In einem Aufsatz, der ursprünglich in der Sonntagsnummer der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ am 10. November 1918 erscheinen sollte, dann aber aufgrund der Revolution erst am 20. November in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ erschien, schrieb er: „Unsere Niederlage wurde doch wohl erst dann unabwendbar, als das physische Übergewicht unserer Feinde unerträglich wurde durch den Eintritt Amerikas in den Krieg. Wir haben ihn selbst heraufbeschworen durch unseren Entschluß zum radikalen Unterseebootkrieg.“340 Diesen Entschluss habe die OHL dem widerstrebenden Reichskanzler abgerungen, was Meinecke als Ergebnis einer Fehlentwicklung deutete: „Bei uns hat der Krieg die Politik, der Soldat den Staatsmann überwuchert.“341 Einen „gewissen geschichtlichen Trost“ glaubte Meinecke deshalb daraus ziehen zu können, dass nicht „das echte, das eigentlich preußische System“ in der Katastrophe von 1918 zugrunde gegangen sei, sondern „das entartete, das aus den Fugen gegangene. Wir haben es nicht nötig, unsere ganze Vergangenheit hinterdrein anzuklagen und die alte preußische Staatsidee deswegen für hybrid zu erklären, weil sie ein so furchtbares Ende genommen hat.“342 Meinecke hatte den Blick bereits nach vorn gerichtet, wenn er das Verdienst, einer Weltübermacht so lange standgehalten zu haben, nicht mehr in erster Linie dem alten System zugute hielt, sondern der „Leistung eines ganzen Volkes mit all seinen geistigen, wirtschaftlichen, technischen und sonstigen Fähigkeiten, das sich zu Beginn des Krieges entschlossen und rück-

338 Ebenda, 43. 339 Thiessenhusen: Politische Kommentare deutscher Historiker zur Revolution und Neuordnung 1918/19, 1969, (wie Anm. 310), hier 23. 340 Meinecke: Nach der Revolution, 1919, (wie Anm. 334), hier 11. 341 Ebenda, 14. 342 Ebenda, 18.

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haltlos in den Dienst des bisherigen Obrigkeitsstaates stellte – nicht schlechthin und ausnahmslos in der Absicht, diesen selbst damit zugleich zu stützen und zu konservieren, sondern um das ganz allgemein bedrohte Dasein der Nation zu verteidigen.“343 In dieser Leistung des ganzen Volkes für den nationalen Staat sah Meinecke die Legitimation für die Forderung nach dem „Volksstaat“, nach der Beteiligung des Volkes am Staatswesen. Meinecke trat der Behauptung der Konservativen entgegen, die „Unreife und Begehrlichkeit unserer Massen“ sei die tiefste Ursache der Revolution und betonte, „dass es zu allen Zeiten und nun zumal in den modernen Zeiten der Großindustrie verwahrloste niedere Volksmassen gibt, die zum Träger revolutionärer Umsturzideen werden können. Sie sind etwas Gegebenes; die Verhältnisse haben sie geschaffen; man muß mit ihnen rechnen. Und die Aufgabe des weisen Staatsmannes ist es, diese schlimmen Entwicklungstendenzen im modernen Massenleben zu bekämpfen durch Förderung aller guten, auf sittliche Hebung, Ordnung und Gesetzlichkeit gerichteten Entwicklungstendenzen in ihnen.“344 Wie Meinecke in einem Vortrag über „Die geschichtlichen Ursachen der deutschen Revolution“ Ende März 1919 vor holländischen Hörern in Groningen und Delft erläuterte, war in seinen Augen die Revolution die unmittelbare Folge des Zusammenbruchs der militärischen Macht: „die Autorität der bisher bei uns herrschenden Gewalten und Einrichtungen, die noch während des Krieges sich als außerordentlich stark erwiesen hat, mußte erst durch den niederschmetternden Eindruck der Niederlage so erschüttert werden, dass die revolutionären Tendenzen freie Bahn bekamen.“345 In der Wiener „Neuen Freien Presse“ hob Meinecke am 11. Juni 1922 hervor, die Dolchstoßlegende diene lediglich dazu, die eigenen Fehler während des Krieges zu überdecken, die im Rechtslager durch mangelndes politisches Augenmaß, phantastische Überschätzung der Siege und geringes Entgegenkommen gegen die demokratischen Massenwünsche begangen worden seien.346 Begrüßt hat Meinecke die Revolution nicht, er hat sie als Bedrohung empfunden, als Ende einer glanzvollen Zeit. In einem Aufsatz „Der nationale Gedanke im alten und neuen Deutschland“, schrieb er im Dezember 1918: „Unersetzliches fühlten wir gefährdet, nicht nur alte lieb gewordene Einrichtungen, die schließlich durch neue ersetzt werden könnten, sondern auch innerste Voraussetzungen der echten Kultur, geistige Freiheit für das Individuum, die durch eine andauernde Herrschaft des Proletariats viel schwerer bedroht werden würde, als durch den Druck des alten Obrigkeitsstaates. […] Man wird vielleicht auch von den voraugustlichen Zeiten einmal sagen, was man in Frankreich nach der Revolution gesagt hat: Wenn man wissen will, was leben heißt, muß man vor 1789 gelebt haben“.347 Der nun unum-

343 344 345 346 347

Ebenda, 2f. Ebenda, 38f. Ebenda, 11. Friedrich Meinecke: Politische Schriften und Reden, (Werke, Bd 2), Darmstadt 1958, hier 334. Meinecke: Nach der Revolution, 1919, (wie Anm. 334), hier 51.

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gängliche „Volksstaat“ hätte nach Meineckes Überzeugung auf dem Weg der Reformen erreicht werden müssen. „Die Revolution hat unser Unglück unübersehbar gesteigert, uns dem äußeren Feinde gegenüber vollends wehrlos gemacht und im Innern unausdenkbare Gefahren heraufgeführt. Unsere Lage wäre unvergleichlich besser, wenn die Umgestaltung unsres ganzen Staatswesens, die an und für sich schlechthin notwendig geworden war, in den gesetzlichen Bahnen geblieben wäre, die unter der Reichskanzlerschaft des Prinzen Max beschritten wurden.” Im Hinblick auf die Meuterei der Kieler Matrosen sprach Meinecke 1919 von einem „nationalen Verbrechen“, eine Position von der er 1930 in einem wissenschaftlichen Handbuchartikel erkennbar abrückte.348 Schon 1919 stellte Meinecke aber auch fest, der „nationale Instinkt unserer Massen“ sei zum nicht geringen Teil deswegen so ungenügend entwickelt, „weil ihnen der nationale Gedanke nur zu oft in einer Form entgegentrat, die sie abstieß, weil sie die Klassen- und Herrenmotive, mit denen er verquickt wurde, witterten. Unsere Massen waren, das hat doch der Krieg überwältigend gelehrt, ganz gewiß nicht unnational gestimmt, aber sie waren ganz und gar nicht zu haben für die offizielle und konventionelle Form, die der nationale Gedanke in unseren bisher führenden Schichten angenommen hatte.“349 Weil für Meinecke „die nationale Einheit der Volksgemeinschaft“ der erste und unentbehrlichste Wert der wirklich lebendigen Werte der Vergangenheit war, forderte er im März 1919, „dass eine ganz neue feste Form des nationalen Staates geschaffen werde, eine solche, die uns so wenig wie irgend möglich voneinander trennt und die allen Schichten des Volkes politische Freiheit und politische Mitarbeit am Ganzen sichert. Nur die demokratische Republik kann dies heute leisten, und alle Herzenswünsche müssen heute schweigen vor der Pflicht, an ihrem Aufbau redlich mitzuwirken.“350 Auch die Sozialisierung sah Meinecke als Element bei der Herstellung der nationalen Einheit der Volksgemeinschaft. „Unsere Nation muß jetzt in ihrem Unglück zusammenrücken zur engsten brüderlichen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Das muß auch der Sinn der wirtschaftlichen Sozialisierung werden, der wir entgegengehen. […] sie muß denen, die sich bisher als Sklaven des Kapitals, als bloße Räder eines ihnen gleichgültigen Mechanismus fühlten, die Rechte und Früchte genossenschaftlicher Arbeit sichern, persönliches Interesse, Verantwortlichkeitsgefühl, Lust und Liebe für ihre Arbeit in ihnen wecken.“351 Im Frühjahr 1919 war für Meinecke klar, dass es jetzt darauf ankomme, „die Revolution aus einem negativen in ein positives Ereignis umzubilden“.352 Dabei hielt er es für außerordentlich hilf-

348 Friedrich Meinecke: Die Revolution. Ursachen und Tatsachen, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hg.): Handbuch des Deutschen Staatsrechts. Bd. 1 (Das Öffentliche Recht der Gegenwart 28), Tübingen 1930, S. 95–119. 349 Meinecke: Nach der Revolution, 1919, (wie Anm. 334), hier 59f. 350 Ebenda, 63. 351 Ebenda, 68f. 352 Ebenda, 43.

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reich, dass es gelungen sei, ein hohes Maß an Kontinuität zu wahren: „Es ist ja doch, bisher wenigstens, keine völlige Revolution der Staats- und Gesellschaftsordnung bei uns erfolgt. Sondern die Organe des alten Obrigkeitsstaates haben sich sogleich, eben unter dem Zwange der Staatsräson, in den Dienst des neuen Volksstaates gestellt, und dieser muß, um das Chaos abzuwehren, auf Schritt und Tritt wieder anknüpfen an die alten Ordnungen und ihre Vertreter zu Hilfe rufen.“353 Meineckes Bild von nationaler Einheit schloss die Mehrheits-Sozialdemokratie ausdrücklich mit ein. Er betonte, dass die Führer der Mehrheitssozialisten die Revolution nicht wollten, sich dem Anstoß aber nicht entziehen konnten, als er von anderer Seite gekommen sei. „Sie mußten ja sonst fürchten, ihre Anhängermassen zu verlieren an die radikalen Sozialisten und als Offiziere ohne Mannschaften dazustehen.“354 Er war der Überzeugung, „dass nationale Einheit und Volksgemeinschaft sich nicht mit jenem Übermaße von Klassenkampf vertragen, an dem wir bis heute litten. Der nationale Gedanke in seiner höchsten Form fordert die soziale Versöhnung der Volksgenossen miteinander und duldet nicht, dass die Nation sich in zwei miteinander hadernde Völker spaltet. Nur gegen diejenigen Volksgenossen ist es erlaubt und ist es Pflicht, entschlossen bis zum äußersten zu kämpfen, die diese Versöhnung hindern und die Diktatur der einen über die andere Klasse aufrichten wollen. Das rohe Herrentum von links, das sich in Gestalt des Bolschewismus bei uns aufzutun versucht, ist der äußerste Gegenschlag gegen das bisherige Herrentum von rechts und in nicht geringem Grade eine geistige Frucht desselben.“355 Gegner, oder besser Feinde, waren die Bolschewisten und alle Kräfte, die für Unordnung und Chaos standen. In dieser Hinsicht stellte Thiessenhusen ein hohes Maß an Übereinstimmung unter den Historikern aller Schattierungen fest: „In den ersten Monaten nach dem November-Umsturz glichen sich die Schriften der rechts stehenden und der gemäßigten Historiker auffallend. Grundtenor war eine scharfe Kritik an den revolutionären Vorgängen, an der Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten, an der Erschütterung von Recht und Ordnung und an der Auflösung der alten deutschen Staatsethik. Man fürchtete allgemein ein Diktat der ‚Straße‘, der ‚Halbbildung‘, die ‚Klassenherrschaft des Proletariates‘, die alle deutschen Kulturgüter zerstören und die dringend notwendige klare Politik nach innen und außen verhindern würde.“356 Im Verlauf des Jahres 1919 äußerte sich auch Friedrich Meinecke immer wieder in Schriften und Vorträgen entsprechend: „Der Bolschewismus, die Ideologie der Zerstörung und des Chaos, klopft an die Pforten Deutschlands, und wir

353 Ebenda, 45. 354 Ebenda, 41. 355 Ebenda, 64. 356 Thiessenhusen: Politische Kommentare deutscher Historiker zur Revolution und Neuordnung 1918/19, 1969, (wie Anm. 310), hier 36.

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haben trüben Bodensatz unter uns, der auf ihn lauert. So wird das deutsche Volk in den nächsten Monaten zu beweisen haben, ob es reif ist zum Volksstaate.“357 Im Kampf gegen den Bolschewismus sah Meinecke auch die entscheidende verbindende Klammer zwischen den deutschen Historikern. Den Konflikt zwischen beiden Lagern hat er in einem dialogischen Text aufgearbeitet. „Ein Gespräch aus dem Herbste 1919“ zwischen „Eberhard“ und „Reinhold“ konfrontierte die Position des national und monarchistisch denkenden Eberhard mit der Reinholds, der für die neue Zeit aufgeschlossen war. Reinhold hielt die Demokratie für unabwendbar, Eberhard meinte, sie werde das Eigenste dessen zerstören, was ihm lieb sei. Reinhold betonte, dass auch er kein Herzens-Republikaner sei: „Mein Herz hing an dem Ideal einer starken, aufgeklärten, volksfreundlichen Monarchie. Dies Ideal ist zertrümmert. Höher noch aber als dies Ideal steht mir das Ideal einer brüderlich geeinten Nation. An dieses klammere ich mich an in dem Zusammenbruche unserer alten Welt. Und nun weiß ich kein anderes Mittel, um ihm nahe zu kommen, als eben jene Spielregel der formalen Demokratie.“358 Das Gespräch arbeitete neben Differenzen vor allem die fundamentalen Gemeinsamkeiten beider Positionen heraus, war erkennbar mit der Absicht geschrieben, Verständnis für die jeweils andere Seite zu wecken und beide Lager zu versöhnen. Übereinstimmend waren Eberhard und Reinhold der Auffassung, dass „unserem Volk“ Fürchterliches beschieden sei. Und beide hatten, bei allen Differenzen, einen gemeinsamen Feind – da war sich Reinhold sicher: „Wir werden uns trotzdem gegen den Bolschewismus zum Kampfe auf Tod und Leben zusammenfinden. Ich sehe in ihm nicht, wie in der Demokratie, eine durch Jahrhunderte vorbereitete organische Weiterbildung unserer geschichtlichen Welt, sondern eine jener pathologischen Wucherungen, wie sie in kranken Zeiten oft genug schon dagewesen sind.“359 Im Zweifel waren Meineckes Reinhold bei diesem Kampf alle Mittel recht, er spielte auch durchaus mit dem Gedanken einer Diktatur: „Cäsarismus ist allerdings für schwer erschütterte, außer Rand und Band geratene Völker oft das einzige traurige Heilmittel, das sich beinahe mit einer gewissen Naturgesetzlichkeit dem kranken Körper der Gesellschaft aufdrängt. Cromwell, wie er die Schwarmgeisterei seiner radikalen Parteigenossen unterdrückt, – man ist fast versucht, an Noske zu denken, der den Spartakus niederwirft. Von Beginn der Revolution an richtete ich mich auf die Möglichkeit ein, dass aus den Reihen der Mehrheitssozialisten eine überragende staatsmännische Persönlichkeit emporsteigen und das Ganze kraftvoll zusammenreißen könne. Noch haben wir nicht, was wir brauchen. Unsere jetzige Regierung hat guten Willen, aber schwache Autorität. Die Entwicklung ist noch nicht reif zur Diktatur. Immer aber müßte sie getragen sein vom Vertrauen und der Zustimmung der Volksvertretung.“360 357 358 359 360

Meinecke: Nach der Revolution, 1919, (wie Anm. 334), hier 8. Ebenda, 117. Ebenda, 113. Ebenda, 121.

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Wie wenig sich in dieser Frage Meineckes Position veränderte, zeigte sich 1930. Da begrüßte er ausdrücklich die Präsidialregierung Brüning, der die Aufgabe zugefallen sei, „die konstitutionelle Demokratie“ zu verwirklichen. In der Stunde der Not galt der „Ersatzkaiser“ mehr als die Demokratie.361 Schon 1925 hatte der intellektuelle Kopf der „Vernunftrepublikaner“ darauf hingewiesen, dass die Verständigung auf eine nationale Volksgemeinschaft Zugeständnisse von beiden Seiten erfordere: „Die Rechten müssen verzichten, endgültig und ohne Hintergedanken verzichten auf die Restauration der Erbmonarchie – die Linken müssen verzichten auf ihre Vorliebe für das parlamentarische System.“362 Republik und Parlamentarismus waren für Friedrich Meinecke keine Primärziele, ganz im Gegensatz zur Einheit der Nation und zu einem nach außen starken Deutschen Reich. Elementare Gemeinsamkeiten gab es unter den deutschen Historikern insbesondere auch in Fragen der nationalen Außenpolitik. Als im Juni 1919 in Versailles die Friedenbedingungen der Alliierten bekannt wurden, ging ein Aufschrei der Empörung durch die deutsche Historikerschaft. „Versailles“ und „Kriegsschuld“ waren die prägenden Signalwörter für nahezu alle Historiker über Generationsgrenzen hinweg. Für die Zeitgenossen der Jahre zwischen 1919 und 1933, und damit gerade für eine außerordentlich national gesinnte Historikerschaft, stellte sich die Lage „als verzweifelt, wenn nicht sogar als ausweglos“ dar.363 „Der Protest gegen die als ungerecht und unwürdig empfundenen Bestimmungen des Versailles ‚Friedensdiktates‘, […] einte alle Generationen deutscher Historiker, in deren Erfahrung der Erste Weltkrieg und seine ‚Abwicklung‘ in Compiègne und Versailles einen wichtigen, in einigen Fällen sogar einen prägenden Einfluß ausgeübt haben.“ Für den ehemaligen Frontsoldaten Hans Rothfels jedenfalls war die Unterzeichnung des „schmachvollen Friedens“ im Spiegelsaal von Versailles, wie er im Jahre 1927 feststellte, „das äußere Schicksalsereignis unserer Generation.“364 Kein anderes historisches Ereignis, so Christoph Cornelißen, der „Politische Kommentare und Deutungsversuche deutscher Historiker zum Versailler Vertrag“ untersuchte, hat vergleichbar nachhaltige Spuren in der deutschen Geschichtswissenschaft der Weimarer Zeit hinterlassen wie der Friedensvertrag von Versailles.365 Der konservativ-liberale Hermann Oncken, Jahrgang 1869, nahm „in seinen wissenschaftlichen und publizistischen Beiträgen einen unermüdlichen Kampf zur histo-

361 Zit. nach: Waldemar Besson: Friedrich Meinecke und die Weimarer Republik. Zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und Politik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), S. 113–129, hier 126. 362 Friedrich Meinecke: Republik, Bürgertum und Jugend. Vortrag gehalten im Demokratischen Studentenbund zu Berlin am 16.1.1925, Frankfurt am Main 1925, zit. nach: Bussmann: Politische Ideologien zwischen Monarchie und Weimarer Republik, 1960, (wie Anm. 45), hier 75. 363 Cornelißen: „Schuld am Weltfrieden“, 2001, (wie Anm. 18), hier 239. 364 Zit. nach: Cornelißen: „Schuld am Weltfrieden“, 2001, (wie Anm. 18), hier 238. 365 Vgl. Ebenda, 237.

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riographisch begründeten Revision der Vertragsbestimmungen auf, da dadurch seiner Ansicht nach Deutschlands tiefste ‚Erniedrigung‘ begründet worden war.“366 Wie Oncken beschäftigten sich die meisten deutschen Historiker weniger mit den konkreten territorialen und materiellen Folgen des Versailler Vertrages, sondern versuchten in erster Linie die Weltkriegsursachen politisch-moralisch so zu deuten, dass „der Begriff der deutschen ‚Ehre‘ immer wieder in den Mittelpunkt gerückt wurde.“367 Daneben besann man sich, wohl ausgelöst durch die Verunsicherungen aufgrund des verlorenen Krieges, verstärkt auf die deutsche „Kulturnation“ – freilich, so Cornelißen, mit klarer außenpolitischer Stoßrichtung: „Man kann die Bedeutung dieser seit 1919 breit nachzuzeichnenden Hinwendung der deutschen Historikerschaft zur Beschwörung der deutschen Kulturnation und ihre politisch-instrumentelle Verknüpfung mit einer Mission der Deutschen zur Revision des Pariser Vertragsystems überhaupt nicht hoch genug bewerten.“368 Nachdem die Empfindungen der Weimarer Historiker von der bundesdeutschen Historiographie lange Zeit beiseite geschoben wurden, riet Gerd Krumeich 2001 dazu, sie ernst zu nehmen und zu akzeptieren, ohne sie deshalb zu teilen. „Hans Rothfels hat noch im Rückblick von 1969 die Tatsache –, für jeden, der die Jahre nach 1919 bewußt miterlebt hat‘ – betont, daß der Schuldvorwurf des Artikels 231 das hauptsächliche Trauma seiner Generation dargestellt habe. […] Für die Deutschen des Jahres 1919 war dieser Verbrechens-Vorwurf das Schlimmste, was ihnen passieren konnte. Die absurde Überzeugung, in Frankreich und anderswo vier Jahre lang alleine einen Verteidigungs-Krieg geführt zu haben, war durch jahrelange Propaganda tief eingewurzelt und diente gerade nach der unerwarteten Niederlage elementarem Selbstschutz. Denn war nicht die Niederlage selber schon schwer genug zu verkraften angesichts der Million gefallener Soldaten und der erlebten ökonomischen Not (aber eben nicht von Besatzung und Zerstörung!). Daß alle diese Opfer nicht nur überflüssig, sondern einem Verbrechen entsprungen sein sollten, war kollektiv nicht aushaltbar. Hitlers Propaganda hat dann von nichts mehr profitiert als von dem Versprechen, den ‚Schandfrieden‘ zu tilgen.“369 In vielfältiger Weise suchten die Historiker wie die gesamten Universitäten Brücken zum Bismarck-Reich zu schlagen bzw. aufrechtzuerhalten. In Tübingen wurde seit 1921 der Reichsgründungstag gefeiert, um den Bemühungen der Regierung entgegenzutreten, den Verfassungstag als Feiertag zu etablieren. „Auf universitären Feiern wurde permanent die Vergangenheit in den strahlendsten Farben beschworen, Dolchstoßlegenden propagiert und Rache und Revanche für Versailles gefordert. Damit war die symbolische Ebene der Feierlichkeiten vollständig antirepublikanisch besetzt. Der Staat von Weimar hatte gegen diese permanente Offensive kaum eine 366 367 368 369

Ebenda, 242. Ebenda, 242. Ebenda, 244. Krumeich: Versailles 1919, 2001, (wie Anm. 191), hier 63.

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Chance, weil er eine vergleichbare integrative symbolische Repräsentation republikanischer Normen nicht zur Verfügung stellten konnte.“370 Beim Antritt seines Amtes als Rektor der Berliner Humboldt-Universität erklärte beispielsweise der Althistoriker Eduard Meyer im November 1919, das „Wahngebilde einer greifbar bevorstehenden Umwandlung des gesamten Menschengeschlechts“ habe zur Selbstentmannung eines ganzen Volkes geführt. Der 9. November war für Meyer das Symbol des politischen, geistigen und moralischen Niedergangs des deutschen Volkes, das plötzlich und vollständig versagt habe. In seinen Augen ein einmaliger Vorgang in der Weltgeschichte. 1924 äußerte er die Befürchtung, ein Volk, das einmal der Demokratie verfallen sei, komme davon nicht wieder los.371 Der erste Inhaber eines Lehrstuhls für osteuropäische Geschichte Theodor Schiemann griff 1921 Karl Kautsky in einem hasserfüllten Pamphlet wegen dessen „Schmähschrift“ zu den Kriegsursachen an.372 Der junge und im Krieg mehrfach verwundete Historiker Gerhard Ritter, in den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren der Nestor der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik, kam nach mehr als dreieinhalb Jahren als Soldat Anfang 1919 nach Heidelberg. Er sprach sich in einem Brief an seine Eltern vom 18. Mai 1919 entschieden gegen eine Unterschrift der deutschen Regierung unter den Vertrag aus, da dieser das Deutsche Reich zu einer „brutal ausgebeuteten Kolonie“ herabstufe.373 Im Zusammengang mit der Ruhrkrise 1923 erklärte er vor Mitgliedern der DNVP, man möchte den Säbel von der Wand reißen und den Stahlhelm aufstülpen und „das feige Diebesgesindel herauswerfen, das sich in unserem Hause herumtreibt“.374 Ritter erhielt 1924 ein Ordinariat in Hamburg, 1925 wurde er Ordinarius in Freiburg. Ritter sah sich jetzt immer wieder dazu berufen, ein „politisches Erziehungsamt“ auszuüben. „Für Ritter, der hier stellvertretend für eine breite Phalanx von Historikern der Frontgeneration im Westen des Reiches zitiert wird, stand […] das Ziel einer ‚moralischen Ermannung‘ der Nation an vorderster Stelle. Auf diesem Wege sollte die staatliche und nationale Einheit der Deutschen, so wie sie im Jahre 1870 definiert worden war, wiederhergestellt werden.“375 Traditionell waren die geisteswissenschaftlichen Professoren daran gewöhnt, verbindliche öffentliche Weltauslegung zu betreiben. Dieses Recht nahmen ganz selbstverständlich die rechts-konservativen Historiker für sich in Anspruch. Aber es galt durchaus auch für Vernunftrepublikaner wie Alfred Weber, Richard Thoma, Ernst Troeltsch, Hans Delbrück oder Lujo Brentano. Die meisten Professoren beanspruchten, heilsame Lehren für die Politik aus der Wissenschaft abzuleiten und nicht

370 Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 463. 371 Vgl. Ebenda, 456f. 372 Theodor Schiemann: Deutschlands und Kaiser Wilhelms angebliche Schuld am Ausbruch des Weltkrieges. Eine Entgegnung an Karl Kautsky, Berlin 1921, hier 31. 373 Vgl. Cornelißen: „Schuld am Weltfrieden“, 2001, (wie Anm. 18), hier 237. 374 Vgl. ebenda, 249. 375 Ebenda, 247.

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nur Spezialisten ihres Fachs zu sein. Hiermit legitimierten sie nicht selten nationalistische politische Positionen.376 Nach dem November 1918 schlossen sich zahlreiche Historiker einer der neu gegründeten bürgerlichen Parteien an. Ihr Ziel blieb – unabhängig von der Partei, für die sie sich entschieden – die innere Einheit der Nation, die Erziehung des Volkes zur Einheit. Für die DNVP entschieden sich u. a. Otto Hoetzsch, Dietrich Schäfer, Martin Spahn, Fritz Hartung, Hans Delbrück, Georg v. Below, Ulrich Kahrstedt; der DVP gehörte z. B. Karl Brandi an, der DDP traten u. a. Friedrich Meinecke, Walter Goetz, Ludwig Quidde, Ludwig Bergsträßer und Wilhelm Mommsen bei.377 Insbesondere das Beispiel Hans Delbrücks zeigt, dass aus der Parteizugehörigkeit nur bedingt Schlussfolgerungen auf historisch-politische Positionen gezogen werden können. Generell dürften die meisten Professoren, auch wenn sie politisch indifferenter waren, mit der DNVP oder der DVP sympathisiert haben, weil die DDP als national unzuverlässig galt.378 Der Schritt von der Dolchstoßthese zur umfassenden Ablehnung der Republik und ihres Zustandekommens sei minimal gewesen, stellte Karen Thiessenhusen fest. Sehr schnell verbreitete sich unter rechtskonservativen Historikern die Meinung, das Geschehen im November verdiene nicht den großen Namen einer Revolution. Im Vergleich mit anderen europäischen Revolutionen, so ihre Überzeugung, sei die deutsche nur Ausdruck der Schwäche gewesen, der Auflösung und des totalen Zusammenbruchs. Eine Revolution ohne starke Führerpersönlichkeiten und ohne einen neuen zukunftsweisenden Gedanken, der auf nationalem und sozialem Gebiet Deutschland kraftvoll hätte einigen können. „Die rasche Liquidierung dieser ‚Ochlokratie‘ und ‚Anarchie‘ war deshalb der Hauptparagraph im politischen Programm, mit dem die rechtskonservativen Historiker die Zukunft des neuen deutschen Staates zu bestimmen hofften.“379 Dem wollten und konnten die Gemäßigten unter den deutschen Historiker wenig entgegensetzen. Sie saßen schon bald deutlich erkennbar zwischen den Stühlen. Sie bekämpften einerseits die Dolchstoßthese und gerieten dadurch in eine Frontstellung gegen die nationale Rechte, sie verurteilten andererseits die Revolution als „schändlichsten Hochverrat“ oder als „nationales Verbrechen“380 und hatten damit einen konfliktreichen Dissens mit der Sozialdemokratie. „Das bedeutet, daß die junge parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik von Anfang an keinen

376 Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 414. 377 Vgl. Thiessenhusen: Politische Kommentare deutscher Historiker zur Revolution und Neuordnung 1918/19, 1969, (wie Anm. 310), hier 10. 378 Vgl. Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003, (wie Anm. 34), hier 418f. 379 Thiessenhusen: Politische Kommentare deutscher Historiker zur Revolution und Neuordnung 1918/19, 1969, (wie Anm. 310), hier 30. 380 Vgl. Karen Fries-Thiessenhusen: Politische Kommentare deutscher Historiker 1918/19 zu Niederlage und Staatsumsturz, in: Eberhard Kolb (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 49), Köln 1972, S. 349–368, hier 359.

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echten Rückhalt bei den deutschen Historikern besaß, die das Geschichtsbild und damit indirekt auch das politische Bewußtsein ihrer Zeit mit prägten. So begrüßten einige der rechtsstehenden Historiker bereits sehr früh die Entstehung und Ausbreitung des Nationalsozialismus und viele von ihnen stellten sich ab 1933 ganz in den Dienst des Dritten Reiches. Auf der Seite der Liberalen wuchs bereits seit Ende 1919 wieder die Kritik an der ‚radikalen Demokratie‘ und dem Parlamentarismus; sie ist weniger auf die gesammelten Erfahrungen mit dem zersplitterten deutschen Parteiwesen zurückzuführen, sondern eher als Symptom dafür aufzufassen, daß diese Professoren sich 1918/19 nicht aus innerer Überzeugung, sondern nur formal aus Pragmatismus den neuen demokratischen Entwicklungen gebeugt hatten.“381 Allenfalls in dem Maß, in dem die Republik sich vom Parlamentarismus entfernte, konnte sie mehr Akzeptanz unter Historikern finden. Beispielhaft dafür war eine Rede Hans Rothfels‘ vom 23. Januar 1930. Rothfels, Jahrgang 1891, ein Historiker also der jungen Generation, lehrte von 1926 bis 1934 in Königsberg. Kernthese seines Vortrags war, dass ein spezifisch deutscher, bis auf Friedrich den Großen zurückzuverfolgender Staatsgedanke die Revolution von 1918/19 überlebt habe. Der „neue Staat“ habe seine innere Stabilität und äußere Sicherheit wesentlich durch Männer erhalten, „die nur unter stärkster Selbstüberwindung auf seinen Boden traten, durch das alte Beamtentum und die Freiwilligenkorps. Ebenso hat an denen, die aus dem Parteileben in verantwortlichen Dienst eintraten, die Staatsidee als solche ihre Kraft erwiesen. Ein bedeutendes Beispiel dafür ist der erste Präsident des Reiches gewesen. Man muß einmal seine Reden im Zusammenhang lesen, um zu sehen, in welchem Maße die staatliche Aufgabe ihn ergriffen und aus der Parteiluft herausgeführt hat.“ In niemand sei dieser Staatsgedanke „so ergreifend verkörpert“ gewesen wie in Ebert. Über dessen Nachfolger im Reichspräsidentenamt, Paul von Hindenburg, meinte Rothfels: „Indem der letzte Führer des kaiserlichen Heeres, ein Mann vom Stil der Zeit Wilhelms I., an die Spitze des Staates trat, hat die Republik nicht nur eine Brücke zur Vergangenheit geschlagen, sondern auch für die Gegenwart und Zukunft das Geschenk einer erhebenden und pflichtenden Ehrwürdigkeit erhalten.“382 Hans Rothfels hat das Manuskript aus dem Jahr 1930 später verändert und mit Bemerkungen versehen, die Heinrich August Winkler 2001 genauer untersucht hat. „Rothfels‘ Position hatte sich in der Zeit der Präsidialkabinette gewandelt: Er war deutlich nach rechts gerückt, blieb aber gouvernemental. Er setzte auf die Einbindung und Zähmung der Nationalsozialisten. Er verfiel damit selbst dem von ihm angeprangerten ‚Illusionismus‘. Zu einem Befürworter diktatorischer Krisenlösungen, wie sie Hugenbergs Deutschnationale propagierten, wurde er aber nicht. Seine Vorstellungen 381 Ebenda, 362. 382 Zit. nach: Heinrich August Winkler: Hans Rothfels – ein Lobredner Hitlers? Quellenkritische Bemerkungen zu Ingo Haars Buch „Historiker im Nationalsozialismus“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 49 (2001), S. 643–652, hier 645.

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von einer Entradikalisierung und Integration der Nationalsozialisten lagen eher auf der Linie gemäßigter Konservativer wie Heinrich Brüning oder auch des letzten Weimarer Reichskanzlers Kurt von Schleicher“.383 Auch Hans Rothfels konnte und wollte sich offenbar den Strömungen der Zeit nicht entziehen. „Der Rechtsruck, den er nach 1930 vollzog, hing auch mit der Radikalisierung seines jungkonservativen Schülerkreises und der Studentenschaft insgesamt zusammen.“384 Am 25. Juli 1934 musste der 43jährige Rothfels, als konvertierter Jude von den Nazis aus dem Lehramt vertrieben, von seinen Schülern Abschied nehmen. In ihrem Wissenschaftsverständnis blieben die Historiker der Weimarer Zeit größtenteils ganz den Traditionen des Kaiserreichs verhaftet. Das gilt nicht nur für den Primat der Außenpolitik und der Nation, sondern auch für die grundsätzliche Frage, wie „politisch“ oder „unpolitisch“ der Historiker sein soll und darf. „Die Revolution von 1918 schien die Gewichte in der Grundsatzdebatte zu verschieben. Webers politischer Gesinnungsfreund Walter Goetz, seit 1915 Inhaber des LamprechtLehrstuhls in Leipzig, veröffentlichte 1919 einen Vortrag, der sowohl die konservative Romantik als auch Treitschke angriff und ganz im Sinne Webers den ‚unpolitischen Historiker‘ forderte“.385 Georg v. Below widersprach. „Er tadelte den Rationalismus, verlangte mutiges Bekenntnis zur nationalen Geschichte und verteidigte die herkömmliche historische Methode mit einer Offenheit der politischen Begründung, die selbst der HZ zu weit ging.“386 Ein bezeichnendes Licht auf die Lage der Zunft warf die Tatsache, „daß die republik-freundliche bürgerliche Geschichtswissenschaft sich auf Webers Trennung von Fach und Politik zurückzog, während die durchaus herrschende ‚nationale Rechte‘ die Pflicht zur Integration im Engagement anerkannte, ja einklagte.“387 Zusammenfassend kam Georg Iggers bei seiner Untersuchung der Historikerschaft der Weimarer Republik zum Ergebnis: „Der Historikerzunft der Weimarer Republik wurde kein Generationswechsel zuteil. Die Lehrstühle waren weitgehend von denselben Inhabern wie unter dem Wilhelminismus besetzt. Eine jüngere Gruppe von Historikern, zu der Hans Rothfels, Hans Herzfeld und Gerhard Ritter zählten, blieb den nationalen Traditionen tief verpflichtet. […] Es gab aber auch eine Gruppe vielversprechender junger Historiker, vor allem Schüler Meineckes, zu der Hayo Holborn, Hans Rosenberg, Ernst Simon, Dietrich Gerhard, Gerhard Masur und Felix Gilbert gehörten. Keiner von dieser Gruppe wurde auf einen Lehrstuhl berufen; der eine oder andere konnte sich höchstens habilitieren. Alle verließen infolge der Ge-

383 Ebenda, 648. 384 Ebenda, 651. 385 Wolfgang Zorn: Engagierte und werturteilsfreie Geschichtswissenschaft, in: Eberhard Jäckel/ Ernst Weymar (Hg.): Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit. Karl Dietrich Erdmann zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1975, S. 74–81, hier 75. 386 Ebenda, 75f. 387 Ebenda, 76.

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schehnisse von 1933 Deutschland und keiner von ihnen ist nach 1945 wieder für dauernd zurückgekehrt.“388 Iggers hatte erhebliche Zweifel, ob die Zunft diese tiefe Verwurzelung in national-konservativen Traditionen aus eigenem Antrieb hätte verändern können und wollen. „Ob die Weimarer Republik, hätte sie fortbestanden, an ihren Universitäten demokratisch gesinnten Historikern eine Wirkungsmöglichkeit geboten hätte, ist durchaus fraglich. Jedenfalls konnten sich nur jene Historiker dort durchsetzen, die später bereit waren, mit dem NS-Regime auszukommen, ob sie nun dessen Ideologie bejahten oder nicht.“389

388 Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971, hier 309f. 389 Ebenda, 310.

2 Das nationalsozialistische Deutschland Die Revolution von 1918/19 in der Geschichtskultur Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten verschwanden konkurrierende Deutungen der Revolution 1918/19 aus der Öffentlichkeit. Die Kategorien „Dolchstoß in den Rücken des Heeres“, „Verrat am Vaterland“, „Nationales Unglück“, „Abwehr der bolschewistischen Gefahr“ und „Keine wirkliche Revolution“ umreißen das Feld, in dem sich die Revolutionsdeutungen von 1933 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland bewegten. Die um „Dolchstoß“ und „Novemberverbrecher“ kreisenden Interpretationen avancierten, wie Eberhard Kolb festhielt, zu einem „wichtigen Bestandteil der offiziellen Staatsideologie“.1 Diese Deutung hatte, so Reinhard Rürup, „unbestreitbare Breiten- und Tiefenwirkung“, weil sie weniger „genuin nationalsozialistisch“ war, als dass sie lediglich die Thesen eines antidemokratischen Geschichtsbildes bündelte und verschärfte, „das im national gesinnten Bürgertum schon vor 1933 weit verbreitet war und auch nach 1945 erst allmählich abgebaut werden konnte.“2 Die nationalsozialistische Propaganda zeigte aber auch ein hohes Maß an Flexibilität im politisch motivierten Umgang mit den – aus ihrer Sicht – bewährten historischen Kampfbegriffen „Novemberverbrecher“ und „Dolchstoß“. Darauf hat Hiller von Gaertringen hingewiesen: „Nach dem 30. Januar 1933 wechselt die Propaganda Hitlers die Angriffsrichtung. Die ‚Novemberverbrecher‘ zu bekämpfen, war bald nicht mehr nötig; daran zu erinnern, dass damals ein ‚Unrecht‘ geschehen sei – wie es monarchistische Kreise taten –‚ konnte sogar unbequeme Folgen haben, es begünstigte die Forderung, das verletzte Recht wiederherzustellen.“3 Solche Bestrebungen waren zumindest noch so lange ins Kalkül zu ziehen, wie Reichspräsident Hindenburg im Amt und am Leben war. Hindenburg hatte zwar in Hitler den Mann gefunden, der allem Anschein nach Hindenburgs eigene Visionen von der inneren nationalen Einheit, der „Volksgemeinschaft“, und einem starken Deutschen Reich umzusetzen begann. Und Hindenburg war auch längst kein Monarchist im eigentlichen Wortsinn mehr, sondern hatte sich in seinem politischen Verhalten bereits 1918 von der Bindung an den preußischen König als letztem irdischem Maßstab gelöst und an dessen Stelle die Bindung an das Vaterland, die Nation gesetzt. Aber es verblieb doch bei ihm eine gefühlsmäßige Nähe zur Monarchie als Staatsform. In seinem politischen Testament von 1934 stellte Hindenburg angesichts des neuen Kanzlers zwar befriedigt fest, das Heldenringen des Vaterlandes im Welt-

1 Eberhard Kolb (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 49), Köln 1972, hier 11. 2 Reinhard Rürup: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, Wiesbaden 1968, hier 5f. 3 Friedrich Freiherr Hiller v. Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten. Geschichte und Gegenwartsbewusstsein. Festschrift für Hans Rothfels zum 70. Geburtstag, Göttingen 1963, S. 122–160, hier 143.

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krieg sei kein Todesringen gewesen, und er fügte hinzu, er hoffe auf eine Wiederherstellung der Monarchie.4 Es gab in den Dreißigerjahren durchaus noch ultrakonservative, monarchistische Kreise, und das Regime ließ sie ihre Erinnerungen nicht nur im privaten Bereich pflegen, sondern auch publizieren. Elard von Oldenburg-Januschau, einer der Führer der ostelbischen Junker, bis 1918 Mitglied des Preußischen Herrenhauses und von 1930 bis 1932 für die DNVP Mitglied des Reichstags, veröffentlichte 1936 seine Erinnerungen, in denen über die Novemberrevolution zu lesen war: „Ohne Macht und in dem rasenden Taumel dieser Tage auch ohne Einfluss gab es für meine Freunde und mich keinen Weg mehr, der Revolution im Innern entgegenzutreten und damit den Zusammenbruch der fünfhundertjährigen Monarchie der Hohenzollern zu verhindern. Ich finde keine Worte, um meinen Schmerz über das Geschehen des Novembers 1918 wiederzugeben, um zu schildern, was in mir zerbrach. Ich fühlte eine Welt einstürzen und unter ihren Trümmern alles das begraben, was der Inhalt meines Lebens gewesen war, was meine Eltern mich von Kindesbeinen an zu verehren gelehrt hatten. Das Werk, an dem Jahrhunderte gebaut, wofür auch meine Vorfahren gestritten hatten, war nicht mehr. Das stolze Königsgeschlecht der Hohenzollern, für das mein Herzblut zu vergießen ich erzogen und bereit war, dem meine ganze Liebe gehörte, war in den Staub gesunken. Der Ehrenschild Preußens, der junge Ruhm des Deutschen Reiches war durch den Verrat des eigenen Volkes im Angesicht des Landesfeindes besudelt worden.“5 Durchaus bemerkenswert ist auch, dass General Walther Lüttwitz, 1920 einer der führenden Putschisten gegen die Republik, in seinen 1934 erschienenen Erinnerungen ein ausgesprochen positives Bild Friedrich Eberts zeichnen konnte: „Der einzige, der eine staatsmännische Veranlagung besaß, war Fritz Ebert, der spätere Reichspräsident.“6 Gegen die nicht nur unter den Junkern, sondern auch im Offizierskorps seit längerem verbreitete Tendenz, mit dem „rasenden Taumel“ der Revolution das eigene kampflose Nachgeben zu rechtfertigen, hatte Hitler schon in „Mein Kampf“ Position bezogen, als er der kaiserlichen Regierung „Schwäche“ vorwarf. Jahrelang hatte er sich danach in dieser Hinsicht sehr zurückgehalten, schließlich wäre es wenig sinnvoll gewesen, seine zeitweiligen Verbündeten aus der „Harzburger Front“ unnötig zu verärgern. 1933 aber hatte sich die politische Lage grundlegend verändert. „Dass der Zusammenbruch nicht unverdient gekommen war, sprach er nun immer

4 Paul v. Hindenburg: Politisches Testament vom 11.5.1934, veröffentlicht am 15.8.1934, vgl. Horst Mühleisen: Das Testament Hindenburgs vom 11. Mai 1934, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ), 44 (1996), S. 355–371. 5 Elard v. Oldenburg-Januschau: Erinnerungen, Leipzig 1936, zit. nach: Miller et al.: Die November-Revolution im Erleben und Urteil der Zeitgenossen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18 (1968), H. 45, S. 3–40, hier 36. 6 Walther Freiherr v. Lüttwitz: Im Kampf gegen die November-Revolution, Berlin 1934, hier 10.

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wieder bei einer Gedenkfeier aus, bei der man eine Stellungnahme zum 9. November 1918 erwarten konnte: alljährlich am Abend des 8. November im Münchner Bürgerbräukeller. Im Ausblick auf die Zukunft versicherte er den Alten Kämpfern, dass er ähnliche Fehler in einem Kriege nicht machen werde – davon sollte das deutsche Volk überzeugt sein“.7 Um deutlich zu machen, dass keinerlei Aussicht bestehe zur Monarchie und den alten Verhältnissen zurückzukehren, erklärte Hitler beispielsweise am 8. November 1933, die Revolution habe „die Gesetze von einst gebrochen“.8 Ein Jahr später legte er mit dem Vorwurf nach, das „alte System“ habe „1918 ohne Kampf feige kapituliert“.9 1938 beklagte Hitler das „Versagen der führenden politischen und militärischen Schichten des Volkes gegenüber den Elementen der Destruktion, der Unordnung, des Aufruhrs“.10 Noch deutlicher wurde er am 7. April 1942 im Führerhauptquartier. „Beim Abendessen brachte Hitler die Sprache auf die Revolution 1918/19. Wenn man sich mit dieser Revolution einmal genauer befasse, müsse man feststellen, daß sie in keiner Weise von weltanschaulichen Gesichtspunkten getragen gewesen, sondern überwiegend von Gesindel geführt worden sei, das erst kurz vorher irgendwelche Gefängnisse oder Strafanstalten verlassen habe. Ob man Berichte über den Verlauf der Revolution in Köln, in Hamburg oder in einer sonstigen Stadt nachlese, immer wieder müsse man feststellen, daß die ganze sogenannte Volksbewegung in eine ganz gewöhnliche, ganz gemeine Dieberei und Plünderei ausgewachsen sei. Man könne daher nur Verachtung für die Schwächlinge haben, die vor diesem ‚Gesox‘ ausgerissen seien.“ Hitler nannte eine Vielzahl von Maßnahmen, die er in einem ähnlichen Fall ergreifen würde, bis hin zur „Erschießung dieses einige hunderttausend Menschen umfassenden ‚Gesox‘“.11 Wenn Hitler gleich am 1. September 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, vor dem Reichstag betonte, „Ein November 1918 wird sich niemals mehr in der deutschen Geschichte wiederholen!“,12 so war das durchaus in beide Richtungen zu deuten, gegen mögliche Revolutionäre und gegen die alten Eliten, die in seinen Augen versagt hatten. Wenige Wochen später, am 6. Oktober 1939, trat er allen denkbaren Spekulationen der Feinde entgegen, die nationale Einheit der „Volksgemeinschaft“ auflösen zu können: „Weder Waffengewalt noch die Zeit werden Deutschland bezwingen. Ein 7 Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten, 1963, (wie Anm. 3), hier 143. 8 Zit. nach: Schultheß’ Europäischer Geschichtskalender N.F., Bd. 74 (1933), München 1934, hier 232. 9 Zit. nach: Schultheß’ Europäischer Geschichtskalender N.F., Bd. 75 (1934), München 1935, hier 255f. 10 Zit. nach: Schultheß’ Europäischer Geschichtskalender N.F., Bd. 79 (1938), München 1939, hier 184. 11 Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–42, Bonn 1951, hier 229. 12 Zit. nach: Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945, Bd. 2.1, München 1965, hier 1316.

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November 1918 wird sich in der deutschen Geschichte nicht mehr wiederholen. Die Hoffnung auf eine Zersetzung unseres Volkes ist kindlich.“13 Das Trauma der angeblich durch Feinde im Innern ausgelösten Niederlage und der Revolution von 1918/19 prägte entscheidend die Vorstellungswelt der „Alten Kämpfer“ und Propagandisten der NSDAP und das nationalsozialistische Geschichtsbewusstsein. Das galt schon zu Zeiten der Republik. „Vor dem Hintergrund dieses von Timothy W. Mason als ‚Novembersyndrom‘ bezeichneten Traumas wurde die Geschichte der Weimarer Republik als Apokalypse gedeutet und propagandistisch dargestellt. Ihr setzten die Nationalsozialisten die Heilsgeschichte der ‚nationalen Wiedergeburt‘ und des ‚kommenden Reiches‘ entgegen, die besonders unter den psycho-sozialen Bedingungen der Weltwirtschaftskrise Deutungskraft unter den Massen gewann.“14 Mit Hans Mommsen kann man feststellen, dass die Nationalsozialisten die Errichtung des „Dritten Reiches“ als „Antwort auf die Novemberrevolution“ verstanden.15 Auch nach 1933 blieben der November 1918 und das mit ihm verbundene Trauma einer der zentralen Bezugspunkte Hitlers. „Beinahe jede Hitler-Rede, auch noch nach der Machtergreifung, begann mit einer Anklage gegen das ‚Verbrechen vom 9. November‘ und brachte in irgendeiner Form eine ‚Abrechnung‘ mit den ‚Novemberverbrechern‘.“16 Regelmäßig kam Hitler in Reden auch während des Krieges auf den November 1918 zu sprechen. Am 31. Januar 1940 rief er in Erinnerung, dass sich die „Vorsehung“ durchaus vom deutschen Volk abwenden könne, wie man 1918 gesehen habe: „Da wurde das deutsche Volk undankbar. Da begann es […] auf die Versprechungen anderer zu vertrauen. Und endlich hat es in seiner Undankbarkeit sich gegen das eigene Reich, gegen die eigene Führung empört. Und da wendete sich dann die Vorsehung vom deutschen Volke ab.”17 Am 25. Februar 1940 rief Hitler: „Wenn damals ein gewisser Adolf Hitler statt deutscher Musketier zu sein, deutscher Reichskanzler gewesen wäre, – (mit brausendem Jubel und stürmischem Händeklatschen antworten die alten Parteigenossen dem Führer) – glaubt man etwa, dass damals diese kapitalistischen Götzen der internationalen Demokratie gesiegt hätten? (Stürmische Zurufe: Nie!

13 Zit. nach: Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945, Bd. 2.1, München 1965, hier 1393. 14 Gerhard Paul: Der Sturm auf die Republik und der Mythos vom „Dritten Reich“. Die Nationalsozialisten, in: Detlef Lehnert, Klaus Megerle (Hg.): Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 255–279, hier 256. 15 Hans Mommsen: Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang, Frankfurt am Main 1989, hier 8. 16 Eberhard Kolb: Revolutionsbilder. 1918/19 im zeitgenössischen Bewusstsein und in der historischen Forschung, (Kleine Schriften d. Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte 15), Heidelberg 1993, hier 18. 17 Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, Nr. 32, (1.2.1940), zit. nach: Joachim Petzold: Die Dolchstoßlegende. Eine Geschichtsfälschung im Dienst des deutschen Imperialismus und Militarismus, Berlin 1963, hier 75f.

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Nie!)“18 Am 8. November 1941 beschwor er: „Niemals wird sich in Deutschland ein November 1918 wiederholen! Er kann sich gar nicht wiederholen. Alles ist denkbar, nur eines nicht: Daß Deutschland jemals kapituliert!“19 Ganz ähnlich äußerte er sich im November 1942: „Das Deutschland von einst hat um ¾ 12 die Waffen niedergelegt – ich höre grundsätzlich immer erst fünf Minuten nach zwölf auf!“20 In der Vorstellungswelt und Propaganda der Nationalsozialisten trat der noch einigermaßen konkret fassbare Vorwurf des „Dolchstoßes“ immer mehr zurück hinter die völlig allgemein gehaltene Erklärung: „Niemals wird sich in Deutschland ein November 1918 wiederholen!“ Für große Teile des Widerstandes gegen Hitler dagegen blieb die Dolchstoßlegende bis zuletzt prägende Kategorie. In deutschen Widerstandsgruppen war die Sorge verbreitet, bei einem erfolgreichen Attentat auf Hitler eine zweite Dolchstoßlegende zu schaffen. Dies galt im Besonderen für den Kreisauer Kreis und Carl Goerdeler. „Während so die Überzeugung, dem neuen Deutschland müsse das Verhängnis einer zweiten Legende mit innerer Verfeindung und Selbsttäuschung erspart werden, die Widerstandskämpfer zu zusätzlichen und zum Teil hemmenden Vorkehrungen zwang, hatte die Gegenseite sich von der alten Vorstellung, 1918 habe allein der Dolchstoß den Zusammenbruch herbeigeführt, schon lange gelöst.“21 Erst nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 griff auch Hitler selbst wieder auf das bekannte Bild des Dolchstoßes zurück, als er im Rundfunk davon sprach, dass eine ganz kleine Gruppe von Verrätern geglaubt habe, „wie im Jahre 1918 den Dolchstoß in den Rücken führen zu können.“ In den folgenden Tagen wurde die Formel oft wiederholt, im November 1944 besonders ausführlich: „Verrat um Verrat hat unser Volk getroffen. Trotzdem sind die Hoffnungen unserer Gegner nicht in Erfüllung gegangen. […] So blieb ihnen nur die eine Hoffnung, den entscheidenden Dolchstoß wie immer dann, wenn sie gegen Deutschland sonst keine Erfolge zu erzielen wussten, im Innern selbst zu führen. Charakterlose Subjekte, eine Mischung von feudaler Arroganz, bürgerlicher Unzulänglichkeit und ehemaliger parlamentarischer Korruption, haben sich zusammengefunden, um, in der Hoffnung, dann sofort für diese Meineidstat einen Lohn empfangen zu können, den deutschen Widerstand an der Wurzel zu brechen […] Wer aber heute den Dolch oder die Bombe gegen Deutschland erhebt, wird unbarmherzig und rücksichtslos vernichtet.“22

18 Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, Nr. 57 (26.2.1940), zit. nach: Petzold: Die Dolchstoßlegende, 1963, (wie Anm. 17), hier 76. 19 Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, Nr. 313 (9.11.1941), zit. nach: Petzold: Die Dolchstoßlegende, 1963, (wie Anm. 17), hier 76. 20 Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, Nr. 314 (10.11.1942), zit. nach: Petzold: Die Dolchstoßlegende, 1963, (wie Anm. 17), hier 76. 21 Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten, 1963, (wie Anm. 3), hier 144f. 22 Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, Nr. 310 (14.11.1944), zit. nach: Petzold: Die Dolchstoßlegende, 1963, (wie Anm. 17), hier 110.

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Unter dem Eindruck des Attentats der Offiziere wendete Himmler die alte Legende nun sogar gegen das Offizierskorps des Jahres 1918. Hiller v. Gaertringen berichtete davon, Himmler habe am 3. August 1944 vor den höchsten Führern der Partei in einer Anklage gegen den Generalstab „eigenartige Erscheinungen“ in der militärischen Führung während des Ersten Weltkriegs erwähnt, die nur als Verrat gedeutet werden könnten. Diesen Erscheinungen schrieb er nun eine ausschlaggebende Wirkung für den Zusammenbruch zu, während man früher in der Propaganda die Revolution als „Aufstand der Untermenschen […], der Deserteure, der Juden, der Asozialen, der Kriminellen“ „absolut in den Vordergrund“ geschoben habe. Himmler sah als Ursache des Geschehens also nicht mehr allein den „Dolchstoß der Heimat“ gegen die Front oder die Zersetzung durch bolschewistische Propaganda, auch nicht nur Schwäche der Führungsschicht oder Illusion gegenüber den Wilsonschen Lockungen, sondern „Verrat des Generalstabs.“23 Die „Dolchstoßthese“ war zu diesem Zeitpunkt zur reinen Chiffre für besonders verabscheuenswürdigen nationalen Verrat geworden. „Die Tat des 20. Juli wird mit dem ‚Dolchstoß‘ offenbar nur verglichen, um das Gefühl nationaler Solidarität anzusprechen, das nach damals verbreiteter Ansicht 1918 mit verhängnisvollen Folgen verletzt worden war.“24 Man darf ohnehin vermuten, dass für Hitler die Begriffe „Dolchstoß“ und „Novemberverbrecher“ politische Kampfbegriffe waren, die um ihrer Wirkung willen eingesetzt wurden, nicht etwa, weil sie in seinen Augen eine hinreichende Erklärung der angeblichen deutschen Misere lieferten. Darauf deutet nicht nur die Einlassung in „Mein Kampf“ hin: „Der tiefste und letzte Grund des Untergangs des alten Reiches lag im Nichterkennen des Rasseproblems und seiner Bedeutung für die geschichtliche Entwicklung der Völker.“25 Selbst in einem Geschichtslehrbuch, das sich an die zukünftige Elite wandte, stand die Dolchstoßthese keineswegs im Mittelpunkt. „Ein Grundriss, der an einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt erarbeitet wurde (Aufriss der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert. Von der französischen Revolution bis zur nationalsozialistischen Revolution 2. Aufl. Leipzig-Berlin 1938), führte den Umschwung der militärischen Entscheidung, die im Frühjahr 1918 ‚auf des Messers Schneide‘ gestanden habe, auf das Eintreffen frischer amerikanischer Truppen zurück, eine Wirkung der ‚marxistischen Propaganda‘ auf die Front stellt er erst für die Zeit nach dem 8. August 1918 fest, als ‚Aussicht auf einen militärischen Sieg‘ nicht mehr bestanden habe.“26 Unter dem Titel „Die Revolution der Deutschen. 14 Jahre Nationalsozialismus“ erschienen 1933 Goebbelsreden in Buchform. Es darf angenommen werden, dass Hein

23 Vgl. Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten, 1963, (wie Anm. 3), hier 145. 24 Ebenda, 145. 25 Adolf Hitler: Mein Kampf. Eine Abrechnung, München 1938, hier 310. 26 Gaertringen: „Dolchstoß“-Diskussion und „Dolchstoß-Legende“ im Wandel von vier Jahrzehnten, 1963, (wie Anm. 3), hier 152.

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Schlecht, der sie zusammenstellte und einleitete, sein Vorwort in enger Abstimmung und nicht gegen die Intentionen des Propagandaministers schrieb. Dieses Vorwort begann mit den Sätzen: „Es gibt keine Revolution von 1918! Die Revolution der Deutschen hat dort ihren Ursprung, wo die Revolte von 1918 ihre Sühne fand! Mit Ekel und Verachtung werden die kommenden deutschen Geschlechter die Novemberlinge einer schändlichen Nachkriegsrevolte an den Pranger des Pazifismus und Landesverrats stellen. Für alle Zeiten wird der 9. November 1918 die Nation an jenen schwarzen Tag ihrer Geschichte erinnern, da ein zügelloser Haufe vaterlandsloser Gesellen das heilige Denkmal des sieggekrönten, deutschen Frontsoldaten – des toten Helden aus dem großen Kriege – mit den wahnsinnigen Parolen internationaler Völkerverbrüderung besudelte.“27 Von „Dolchstoß“ war hier nicht die Rede, wohl aber von einer „Nachkriegsrevolte“. Und offenbar erschien dem Autor sogar die Bezeichnung „Novemberverbrecher“ zu wenig abwertend. „Am 9. November 1918 eroberten zusammengelaufene Horden meuternder Matrosen und Spartakisten die Macht in Deutschland. Betört leisteten die Arbeitermassen den internationalen Parolen der marxistischen Juden und Hetzer Gehorsam. Folgerichtig schlossen die ‚Volksbeauftragten‘ mit den bürgerlichen Parteien des liberalen Pazifismus den schmutzigen Pakt des gemeinsamen Verrates an der Nation.“28 Aus dem Blickwinkel Schlechts bestand kein wesentlicher Unterschied zwischen SPD, liberalen Parteien und Spartakusbund: „Ob Erzberger oder Liebknecht, ob Braun oder Grzesinski – sie alle gehören in die Front der liberal-marxistischen Mächte, die das deutsche Volk in den 14 Jahren ihrer Herrschaft an den Rand des Abgrundes getrieben haben.“29 In aller Deutlichkeit sprachen Goebbels/Schlecht der Revolution 1918/19 das Prädikat „Revolution“ ab. Es war allerdings keineswegs zwingend Bestandteil jeder Revolutionsdarstellung im „Dritten Reich“, nicht mehr von „Revolution“, sondern nur noch von „Revolte“ oder „Umsturz“ zu sprechen. Fritz Hartung, beispielsweise, bezeichnete das Geschehen 1939 nach wie vor als „Revolution“.30 Hitler selbst hat immer wieder auf „den Juden“ als Drahtzieher im Hintergrund hingewiesen, etwa im zweiten Band von „Mein Kampf“, wo er erklärte, „der wirkliche Organisator der Revolution und ihr tatsächlicher Drahtzieher [sei] der internationale Jude“.31 Oder am 9. November 1927 im Münchner Bürgerbräukeller, wo er wetterte: „Auf vielerlei Art sind schon Staaten gegründet worden, aber noch selten wurde wohl ein Staat ins Leben gerufen von einer Koalition von Zuhältern, Dieben, Deserteuren, Einbrechern und Schiebern, und an der Spitze der Organisator dieser

27 Hein Schlecht: Einleitung, in: Joseph Goebbels: Revolution der Deutschen. 14 Jahre Nationalsozialismus, Oldenburg 1933, S. 7–11, hier 7. 28 Ebenda, 8. 29 Ebenda, 8. 30 Fritz Hartung: Deutsche Geschichte 1971–1919, Leipzig 1939, hier 371. 31 Hitler: Mein Kampf, 1938, (wie Anm. 25), hier 369.

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genialen Methode, der internationale Hebräer, der Jude“.32 Aber auch diese rassistische Orientierung der nationalsozialistischen Geschichtsauffassung, wie man sie vielfältig beim NS-„Chefideologen“ Alfred Rosenberg findet, war nicht zwingend Bestandteil jeder Revolutionsbeschreibung im nationalsozialistischen Deutschland. Es gab solche, die von einem massiven Antisemitismus geprägt waren – etwa Walther Gehls „wirkliches Volksbuch“ mit dem Titel „Der deutsche Aufbruch 1918– 1935“33 –‚ doch selbst in der Einleitung zu Joseph Goebbels‘ „Revolution der Deutschen“ fehlte im Zusammenhang mit der „Revolte von 1918“ die rassistische Komponente.34 Auch Wilhelm Zieglers „Volk ohne Führung“ aus dem Jahr 1938 war nicht von offenem Antisemitismus geprägt,35 – was es Hans Herzfeld erleichtert haben dürfte, das Buch noch 1957 in den Studienheften zur Neueren Geschichte als Literatur zum Jahr 1918 aufzuführen.36 Diese Unterschiedlichkeit der Darstellungen kann freilich nicht als „Pluralismus“ gedeutet werden, es gab selbstverständlich mehr als nur vage Vorstellungen davon, wie die Revolution 1918/19 darzustellen sei, aber es gab keine durchformulierte exakte Sichtweise, es gab nicht die nationalsozialistische Deutung der Revolution von 1918/19, „da es nie ein durchgehend beschriebenes, verbindliches NS-Geschichtsbild gab.“37 Am klarsten zeigte sich das politisch gewollte Geschichtsverständnis im Geschichtsunterricht. Ein Regime, das so sehr auf die Prägung einer systemkonformen Jugend setzte wie der Nationalsozialismus, musste daran interessiert sein, historische Bildung ganz in seinem Sinne zu organisieren. Schon im Juli 1933 entwickelte Reichsinnenminister Frick Richtlinien für den nationalsozialistischen Geschichtsunterrichts und damit auch für die historischen Lehrbücher. In ihnen wurden programmatisch die wesentlichen Merkmale des neuen Geschichtsverständnisses zusammengefasst: „Rasse als entscheidende Triebkraft des historischen Geschehens, der völkische Gedanke im Gegensatz zum internationalen, der Vorrang der politischen vor der Kulturgeschichte, Heldentum und Führerideal.“38

32 Adolf Hitler: Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933 (Bd 2/II), München, London, New York, Paris 1992, hier 533. 33 Walther Gehl: Der deutsche Aufbruch 1918–1935, Breslau 1936. 34 Schlecht: Einleitung, 1933, (wie Anm. 27). 35 Wilhelm Ziegler: Volk ohne Führung. Das Ende des Zweiten Reiches, Hamburg 1938, hier 274. 36 Hans Herzfeld: Die moderne Welt 1789–1945. Teil 2: Weltmächte und Weltkriege. Die Geschichte unserer Epoche 1890–1945, 2 Aufl., Braunschweig 1957, hier 192. 37 Karin Schönwälder: „Lehrmeisterin der Völker und der Jugend“. Historiker als politische Kommentatoren 1933 bis 1945, in: Peter Schöttler (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. 1918–1945 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1333), Frankfurt am Main 1999, S. 128–165, hier 139. 38 Zit. nach: Martin Kröger/Roland Thimme: Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann. Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik, München 1996, hier 59.

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Mehr als diese Grundsätze war zunächst nicht festgelegt. Die alten Lehrmittel aus der Weimarer Zeit wurden, teils aktuell ergänzt, weiter benutzt. Bereits 1933 begann die Arbeit an neuen amtlichen Lehrplänen, über die durchaus auch öffentlich diskutiert wurde. Wie groß offenbar der Klärungsbedarf im Einzelnen war, zeigte die Tatsache, dass sich die Erarbeitung der neuen Lehrpläne jahrelang hinzog. Erst am 29. Januar 1938 erließ das Reichs- und Preußische Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung die Bestimmungen über „Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule“, mit denen „im einzelnen vorgeschrieben wurde, in welcher ideologischen Ausrichtung der Geschichtsstoff konkret durchzunehmen war.“39 Im Geschichts-Lehrplan für die fünfte Klasse in der Höheren Schule, in der die Zeit von 1871 bis zur Gegenwart behandelt wurde, war der „Rassegedanke“ als dominierende Triebkraft deutlich herausgearbeitet.40 Bei der Behandlung der deutschen Außenpolitik von 1890 bis 1914 sollte insbesondere auch die „Widerlegung der Kriegsschuldlüge“ in den Mittelpunkt gestellt werden.41 Die Vorgaben für die Behandlung des Weltkriegs machten deutlich, dass dem Fronterlebnis und dem Frontkämpfer eine zentrale Rolle eingeräumt werden sollte. Die großen Leistungen des deutschen Volkes sollten ausgiebig gewürdigt werden – wohl auch, um die sittliche Zersetzung und das „Judentum“ für die Niederlage verantwortlich machen zu können. Im Hinblick auf die Ursachen der Niederlage und der Revolution wurde der Begriff „Dolchstoß“ nicht verwendet, das Stichwort „Novemberverbrechen“ tauchte in den Vorgaben ohne weitere Erläuterung auf und stand, wie der Gesamtzusammenhang zeigte, keineswegs im Mittelpunkt der Betrachtungen.42 Für die Zeit nach dem 9. November 1918 führte der Geschichts-Lehrplan auf: „Das Diktat von Versailles, seine wirtschaftliche, politische, militärische, völkische und sittliche Bedeutung; Schicksal des Grenz- und Auslandsdeutschtums. Die verhängnisvolle Bedeutung von Versailles für Europa und die Welt (u. a. Balkanisierung Europas, Farbigenfrage).“43 Nur am Rande und unter dem Aspekt der „Führerlosigkeit“ war auf das „Weimarer System“ einzugehen. Als wesentlicher wurde dagegen herausgestellt: „Die fortschreitende wirtschaftliche und gesellschaftliche Zerrüttung, Einströmen der Ostjuden, Zersetzung der völkischen Haltung und des Wehrwillens durch das Judentum, Genußsucht und Korruption, Sinken der Volkskraft, Schwinden des Staatsgefühls durch Überwiegen des Parteigeistes. Kommunistische Auf-

39 Ebenda, 60. 40 Vgl. Kröger et al.: Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann, 1996, (wie Anm. 38), hier 118. 41 Ebenda. 42 Ebenda, 119. 43 Zit. nach: Kröger et al.: Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann, 1996, (wie Anm. 38), hier 119.

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stände (z. B. Bayern, Braunschweig, Sachsen, Ruhrgebiet), widerstandslose Erfüllungspolitik.“44 Ohne Rücksicht auf Tatsachen und Plausibilität von Interpretationen wurde so ein Geschichtslehrgang zusammengezimmert, der ideologischen Grundvorgaben genügte, aber durchaus Spielräume für persönliche Vorlieben ließ. Das zeigte sich beispielsweise in dem Schulbuchprojekt, an dem der spätere Kieler Ordinarius Karl Dietrich Erdmann, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren einer der prägenden und einflussreichsten Historiker der Bundesrepublik, als junger Geschichtslehrer mitgearbeitet hat. „Das Erbe der Ahnen. Geschichtsbuch für Oberschulen und Gymnasien“ war auf der Grundlage dieser neuen Lehrpläne erarbeitet worden und sollte 1938 von Erdmanns Schulleiter Oberstudiendirektor Dr. Paul Börger im Leipziger Verlag Quelle & Meyer herausgegeben werden. Im Hinblick auf die Frontgemeinschaft im Schützengraben und die Rolle des „Judentums“ folgte Erdmann ganz den Vorgaben des Lehrplans. Die Matrosenmeuterei wurde als von der MSPD befohlen dargestellt: „Am 20. Oktober hieß es im ‚Vorwärts‘: ‚Deutschland soll – das ist unser fester Wille – seine Kriegsflagge für immer streichen, ohne sie das letztemal siegreich heimgebracht zu haben‘. Gehorsam dieser Losung folgend, rissen auf einigen deutschen Schiffen Heizer das Feuer unter den Kesseln weg, als der Befehl zur Ausfahrt kam.“45 Die „Novemberrevolte“ so Erdmann, sei von den feindlichen Mächten finanziert worden, wobei er nicht nur Russland nannte, sondern erstaunlicherweise auch Frankreich. „Russisches und französisches Geld hatten eifrige Vorarbeit geleistet. Der galizische Jude Kurt Eisner – später Revolutionsminister in München – verausgabte 165 Millionen Mark, um die Revolte zu finanzieren. Der Jude Cohn brüstete sich später offen, er habe von Joffe, dem ersten jüdischen Sowjetbotschafter in Berlin, Geld zur Vorbereitung der Revolte bekommen. Von Düsseldorf aus leitete ein französischer Generalstabsoffizier, Leutnant Desgranges, die Revolutionspropaganda. Deutsche Zeitungsschreiber standen in seinem Sold. Sie bezogen bis zu 4000 Mark im Monat.“46 Es war, wie Erdmann anmerkte, eine erfolgreiche Aktion: „Befriedigt konnte (am 10. November) Leutnant Desgranges seinen Auftraggebern melden: ‚Die deutsche Revolution ist zu dem von uns festgesetzten Zeitpunkt ausgebrochen.‘[fett gedruckt]“47 Die Behauptung, dass Frankreich die Revolution finanziert habe, stellte eine einmalige Besonderheit im Erdmannschen Schulbuch dar, es gibt in den gesamten Darstellungen zur Revolution

44 Zit. nach: Kröger et al.: Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann, 1996, (wie Anm. 38), hier 119f. 45 Zit. nach: Kröger et al.: Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann, 1996, (wie Anm. 38), hier 123. 46 Zit. nach: Kröger et al.: Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann, 1996, (wie Anm. 38), hier 123. 47 Zit. nach: Kröger et al.: Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann, 1996, (wie Anm. 38), hier 123.

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von 1918/19 keinerlei Hinweis darauf. Sie wurde allerdings weder vom Verlag noch von Schulbehörden beanstandet. Zu erklären ist die eigenwillige Frankreichthese möglicherweise mit biographischen Bezügen. Noch Anfang 1933 war bei Erdmann keineswegs eine regimekonforme Haltung festzustellen gewesen. Während eines studentischen Austauschjahres in Frankreich 1933/34 hatte sich diese Haltung offenbar verändert. In Briefen bezeichnete er sich jetzt als „Nationalsozialisten“ – er war allerdings nie der Partei beigetreten. Mitte 1940 besuchte Erdmann Paris und schrieb seiner Frau von dort, „er habe 1934 als Austauschstudent ‚im tiefsten Grund herbeigesehnt‘, als deutscher Soldat in Paris zu sein, und gehofft, ‚daß nach Zerschlagung des französischen Traums einer europäischen Vorherrschaft, nach Zerschlagung seines Unverständnisses und Hochmutes gegenüber Deutschland das wahre Frankreich zum Vorschein‘ komme.“48 Möglicherweise hat der junge Student Karl Dietrich Erdmann bei seinem ersten Frankreichaufenthalt Erfahrungen gemacht, die nicht nur seine Anfälligkeit für nationalsozialistisches Gedankengut deutlich steigerten, sondern ihn 1938 auch zu seiner eigenwilligen Finanzierungsthese veranlassten. Erdmanns Schüler und Freund Eberhard Jäckel berichtete, Erdmann sei nie Nationalsozialist gewesen, „wohl aber konnte er sagen, wenn Hitler sich mit dem Sieg über Frankreich begnügt hätte, wäre alles anders geworden.“49 Auszüge aus „Das Erbe der Ahnen“ wurden erst in den Neunzigerjahren veröffentlicht. Das Werk war nie gedruckt worden, weil die Zulassungsbehörde Einwände gegen einzelne Bände vorgebracht hatte. Aufschlussreich ist, dass im Hinblick auf den von Erdmann formulierten Band nahezu ausschließlich die mangelnde Berücksichtigung der Freimaurer kritisiert wurde: „Sarajewo ohne Kennzeichnung der Rolle der Freimaurer, ebenso eine Schilderung der Einkreisung, der Kriegspolitik Bethmanns, des Novemberverbrechens, der Versailler Schuldlüge und Knechtung Deutschlands ohne Erwähnung der Freimaurer ist eine Unmöglichkeit in einem nat [ional]soz[ialistischen] Lehrbuch!“50 Auch solche Details belegen, wie wenig es dem Nationalsozialismus um Stimmigkeit der Fakten und der Argumentation ging, wie stark im Einzelfall frei gestaltet werden konnte. Wesentlich war nur eines: Der Geschichtsunterricht – wie die gesamte Beschäftigung mit Geschichte – hatte einem klaren Ziel zu dienen, und das formulierten die amtlichen Geschichtslehrpläne ungeschminkt: „Er baut auf der naturgegebenen Verbundenheit des Kindes mit seinem Volke auf und ist, indem er

48 Zit. nach: Martin Kröger/Roland Thimme: Karl Dietrich Erdmann: Utopien und Realitäten. Die Kontroverse, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 46 (1998), S. 603–621, hier 615. 49 Zit. nach: Winfried Schulze/Eberhard Jäckel/Agnes Blänsdorf: Karl Dietrich Erdmann und der Nationalsozialismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 48 (1997), S. 220–240, hier 226. 50 Zit. nach: Kröger et al.: Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann, 1996, (wie Anm. 38), hier 132.

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die Geschichte als den schicksalhaften Daseinskampf der Völker verstehen läßt, in besonderem Maße berufen, die Jugend zu erziehen zur Ehrfurcht vor der großen deutschen Vergangenheit, zum Glauben an die Sendung und Zukunft des eigenen Volkes“.51

Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik Die deutsche Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik war in ihrer überwältigenden Mehrheit deutsch-national oder nationalistisch orientiert gewesen, aber nicht nationalsozialistisch. Nur wenige Universitätshistoriker setzten sich vor 1933 für Hitler und die NSDAP ein. „Die Unterschrift der in Tübingen bzw. an der TH Stuttgart lehrenden Professoren Johannes Haller und Helmut Göring unter einer Erklärung vom Juli 1932, laut der ‚von nationalsozialistischer Führung im Staate die Gesundung unseres ganzen öffentlichen Lebens und die Rettung deutschen Volkstums‘ zu erwarten sei, stellte eine Ausnahme dar.“52 1933 änderte sich die Stimmung rapide. Als durch die Zwangsmaßnahmen der ersten Monate deutlich wurde, welchen Kurs die „Regierung der nationalen Konzentration“ zu steuern gedachte, „brach bei vielen Professoren nicht etwa Entsetzen, sondern Begeisterung aus: Endlich schien der ersehnte – und herbeigeredete – Diktator da, der Deutschland aus dem ‚Chaos‘ der Demokratie führen würde. Die Selbst-Gleichschaltung der Universitäten und zumal der historischen Seminare funktionierte nahezu reibungslos.“53 Aus Anlass der feierlichen Immatrikulation sprach beispielsweise am 13. Mai 1933 der Historiker Willy Andreas, Rektor der Heidelberger Universität, vor den neu immatrikulierten Studierenden. Ihr Eintritt ins akademische Leben vollziehe sich „im Zeichen einer mächtigen Staatsumwälzung“, erklärte er den Studienanfängern. „Die Regierung der nationalen Erhebung hat in kürzester Frist mit einer Planmäßigkeit und Schlagkraft ohnegleichen Dinge vollbracht, um die ganze Generationen deutscher Geschichte vergebens gerungen haben.“ Zwei „Erbübel unserer Geschichte und der jüngsten Vergangenheit“ habe der Nationalsozialismus bereits jetzt beseitigt: die Aufteilung des Reiches in Länder und die „Aufspaltung der Nation in Klassen, […] die Auflösung des Volksganzen in Interessenkämpfen und

51 Erziehung und Unterricht für die Höheren Schulen. Amtliche Ausgabe des Reichs- und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Berlin 1938, hier 69, zit. nach: Kurt-Ingo Flessau: Schule der Diktatur. Lehrpläne und Schulbücher des Nationalsozialismus, München 1977, hier 77f. 52 Schönwälder: „Lehrmeisterin der Völker und der Jugend“, 1999, (wie Anm. 37), hier 129. 53 Peter Schöttler: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945. Einleitende Bemerkungen, in: Peter Schöttler (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1333), Frankfurt am Main 1999, S. 7–30, hier 7f.

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Wirtschaftsegoismus“. In dieser Revolution bleibe deshalb „dem Deutschen, wenn er sich als solcher fühlt, keine andere Entscheidung […], als mit ihr zu gehen.“54 Die meisten Historiker stellten sich allenthalben in den Dienst der „nationalen Revolution“. Reaktionen der Widersetzlichkeit wie etwa Arthur Rosenbergs öffentlicher Protest gegen den rechtsextremen Terror an den Hochschulen im Januar 1933 waren absolute Ausnahmeerscheinungen.55 Die wenigen demokratisch gesinnten Historiker, die ja auch während der Weimarer Republik keine Lehrstühle innehatten, wurden sehr schnell hinausgedrängt und in die Emigration gezwungen. Dies führte zu keinen Auseinandersetzungen zwischen politischer Führung und den maßgeblichen Vertretern der Zunft. Die Jüngeren drängelten sich geradezu auf die Stellen, „die durch antidemokratische und antijüdische Zwangsmaßnahmen freiwurden.“56 „Die ‚große Masse des Kollegengesindels‘, schrieb Gerhard Ritter im Februar 1934 an Hermann Oncken, schwenke ‚das Weihrauchfaß‘.“57 Derselbe Gerhard Ritter betonte 1945, „daß ein Historiker unter der NS-Herrschaft einigermaßen frei lehren konnte und daß seine eigene Verhaftung nicht aufgrund seiner historischen Ansichten, sondern wegen seiner Zusammenarbeit mit Carl Goerdeler erfolgte“.58 1950 erklärte er in einer ersten wissenschaftlichen Abhandlung, die sich auch mit der Historiographie der NS-Zeit beschäftigte, die Professorenschaft habe mehrheitlich auch in der nationalsozialistischen Diktatur die Maßstäbe wissenschaftlicher Objektivität bewahrt.59 Da Ritter stets erkennbare Distanz zum Regime gewahrt hatte und wegen seiner Nähe zum Widerstand sogar mehrere Wochen in Gestapo-Haft verbracht hatte, wurde sein Urteil gern akzeptiert.60 Es wurde zur vorherrschenden Meinung in der Bundesrepublik der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre. Der konservativ-nationale Königsberger Ordinarius Hans Rothfels, prägte mit seiner „Volksgeschichte“ eine Schule, der zeitweise auch Theodor Schieder und Werner Conze zuzurechnen waren. Er vertrat damit in den frühen Dreißigerjahren eine wissenschaftliche Orientierung, die dem Nationalsozialismus überaus willkommen war. Doch Rothfels hatte jüdische Wurzeln, und es kam zu öffentlichen Auseinander-

54 Zit. nach: Schönwälder: „Lehrmeisterin der Völker und der Jugend“, 1999, (wie Anm. 37), hier 128. 55 Vgl. ebenda, 132. 56 Schöttler: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, 1999, (wie Anm. 53), hier 8. 57 Klaus Schwabe/Rolf Reichardt (Hg.): Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen (Schriften des Bundesarchivs 33), München/Wien 1984, hier 278f, zit. nach: Schönwälder: „Lehrmeisterin der Völker und der Jugend“, 1999, (wie Anm. 37), hier 136. 58 Gerhard Ritter: Der deutsche Professor im Dritten Reich, in: Die Gegenwart 1 (1945), S. 23–26, zit. nach: Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971, hier 321. 59 Gerhard Ritter: Deutsche Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 1 (1950), S. 81–96, 129–137. 60 Vgl. Jürgen Elvert: Geschichtswissenschaft, in: Frank-Rutger Hausmann/Elisabeth Müller-Luckner (Hg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945 (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 53), München 2002, S. 87–135, hier 87.

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setzungen. „Obwohl sich Rothfels im Jahr 1934 deutlich radikalisierte, protestierte die nationalsozialistische Studentenschaft weiterhin gegen seinen Verbleib in Königsberg. Rothfels‘ Position war nicht leicht zu erschüttern: Er hatte im Ersten Weltkriegs ein Bein verloren. Als Träger des ‚Verwundetenabzeichens‘ konnte er nicht ohne weiteres aus dem Staatsdienst entlassen werden.“61 Schließlich wurde er, wie er später selbst formulierte, an eine Universität versetzt, „deren Namen ihm nie genannt wurde“, faktisch also aus dem Lehramt gedrängt. Rothfels musste emigrieren, gehörte aber zu den wenigen, die früh wieder nach Deutschland zurückkehrten und die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 maßgeblich mit geprägt haben. Im Rahmen einer Tübinger Ringvorlesung sprach Rothfels 1965 über „Die Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren“ und betonte dabei die ausgeprägte Affinität, die bereits vor 1933 zwischen Nationalsozialismus und Geschichtswissenschaft vorhanden gewesen sei. Starke Einflüsse hatten in seinen Augen der Versailler Vertrag, die Dolchstoßlegende und der „Umbruch von 1918“. „Unter solchen Einflüssen war die Geschichtswissenschaft stärker, als es an sich schon in ihrer Natur liegt, rückwärtsgewandt, nämlich im Sinne der wirklichkeitsfremden Glorifizierung eines verlorenen status quo ante, sei es der deutschen Großmachtstellung, sei es der bürgerlichen Sekurität, sei es der weitgehend obrigkeitlichen Regierungsform. Es kann nicht bezweifelt werden, daß in der dem republikanisch-demokratischen Staatswesen wie dem parlamentarischen Systems gegenüber scharf ablehnenden Haltung vieler Historiker ein Punkt der Affinität zur NS-Propaganda bestand. […] Ein weiterer Punkt der Affinität war der großdeutsche Gedanke, dem das Kriegserlebnis, die Berührung mit Volksgruppen außerhalb des Reiches, aber auch der Mitteleuropagedanke und in anderer Weise die Jugendbewegung starken Auftrieb gegeben hatten.“62 Aber selbst wenn man all dies in Rechnung stelle, führte Rothfels weiter aus, „so bleibt doch die nach der Machtergreifung erfolgende, recht weitgehende und zunächst freiwillige Gleichschaltung der Historiker an den Universitäten etwas Überraschendes, ich würde nicht zögern zu sagend etwas tief Beschämendes.“63 Allerdings sprach Rothfels in seinem Vortrag im Hinblick auf die überzeugten Nationalsozialisten unter den Historikern auch geringschätzig von „wildgewordenen Studienräten oder Außenseitern“.64 Indirekt bescheinigte er damit der großen Mehrheit seiner Fachgenossen doch, dass sie keine überzeugten Nationalsozialisten gewesen seien – und zwar mit der ganzen Autorität des rassisch verfolgten Emigranten.

61 Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143), Göttingen 2000, hier 201. 62 Hans Rothfels: Die Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren, in: Andreas Flitner (Hg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen, Tübingen 1965, hier 94. 63 Ebenda, 97. 64 Ebenda, 99.

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Als nach der enzyklopädischen Arbeit von Helmut Heiber über „Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“65 1967 auch ein vergleichsweise schmales Bändchen von Karl Ferdinand Werner über „Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft“ erschien, wurde das Bild nach und nach deutlicher. Werner stellte fest, dass man von Resistenz der Geschichtswissenschaft allenfalls im Hinblick auf die wissenschaftliche Methodik sprechen konnte: „Waren nämlich deutsche Historiker in strikter Beibehaltung methodischer Forschung und Faktenermittlung von einer kaum zu modifizierenden Korrektheit, so hatten sich andererseits von jeher viele unter ihnen in der Deutung der ermittelten Fakten eine recht große Freiheit genommen, in der Thematik sich ganz überwiegend dem nach außen gerichteten Machtstaat und seinen Erfolgen verschrieben.“66 Werner sprach von einer spezifischen „Anfälligkeit der deutschen Geschichtswissenschaft für einen nicht unerheblichen Teil der Lehren Hitlers und seiner Leute, eine Anfälligkeit, die sie zum Verbündeten des NS-Staates machte, zu einem Verbündeten, den man nicht nur schonen mußte, weil man ihn brauchte, den man vor allem in manchen Punkten gar nicht erst zu ändern hatte, weil er schon weitgehend den Erwartungen entsprach!“67 Wenn bis dahin also immer wieder herausgestrichen worden sei, „daß die Historiker gar nicht ‚gleichgeschaltet‘ wurden“, so formulierte im Anschluss an Werner pointiert dessen Kollege Frantisek Graus, der Häftling in den Konzentrationslagern, Theresienstadt, Auschwitz und Buchenwald gewesen war68‚ dann deshalb, „weil sie in großem Maße überhaupt nicht gleichgeschaltet werden mußten.“69 Während man im Hinblick auf wissenschaftliche Methodik und Quellenarbeit durchaus fachspezifische eigene Vorstellungen gehabt habe, sei das bei der politischen Bewertung anders gewesen: „Es gab einen viel zu breiten, weit zurückreichenden Strom der politischen Übereinstimmung zwischen der konservativ-national geprägten Hochschullehrerschaft im Fach Geschichte (Ausnahmen stets vorausgesetzt) und den ‚Idealen‘, die der NS-Staat propagierte.“70 Schon vor 1933 habe sich das deutsche Geschichtsbild auf das eigene Volk konzentriert, das als der Höhepunkt des bisherigen Geschichtsablaufs begriffen worden sei. „Dazu kam noch der Schock der Niederlage im Ersten Weltkrieg, die die nationalistischen Publizisten und Historiker um nichts auf der Welt anerkennen wollten; sie wollten nicht sehen, wie ihre Konzeption der deutschen Geschich65 Helmut Heiber: Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966. 66 Karl Ferdinand Werner: Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, hier 69. 67 Ebenda, 69. 68 Schöttler: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, 1999, (wie Anm. 53), hier 21, Anm.1. 69 Frantisek Graus: Geschichtsschreibung und Nationalsozialismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 17 (1969), S. 87–95, hier 89. 70 Werner: Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft, 1967, (wie Anm. 66), hier 97.

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te in eine Sackgasse geführt hatte und wie kläglich die Ambitionen scheiterten, den Kontinent zu beherrschen. Schon vor Hitler war im Wesentlichen der Kanon der nationalistischen historischen Vorurteile und Legenden gefestigt, aus der dann die nazistische Geschichtskonzeption entstand.“71 Die Tatsache, dass der Nationalsozialismus selbst niemals eine präzise Geschichtsauffassung formuliert habe, so Graus weiter, habe die hohe Übereinstimmung von Urteilen der Historiker und NS-Geschichtsbildern erleichtert. Die Glorifizierung der Vergangenheit durch den Nazismus habe sich nur auf bestimmte Geschichtsepochen beschränkt, andere habe er aus dem Vergangenheitsbild eliminiert. „Nach 1933 kam es zu keinem ‚Umschreiben‘ der Geschichte; es wurden Lehrkräfte entlassen, die ‚jüdischer Abstammung‘ waren, und ein Teil der Ordinarien trat in die Nazipartei ein. Aber der Versuch nazistischer Studenten einer radikalen Umgestaltung der Universitäten im Geiste der faschistischen Forderungen scheiterte von allem Anfang an, und die deutschen Universitäten ließen in ihrer Gesamtheit nicht von ihren fachlichen ‚akademischen‘ Forderungen. Sie gaben in dieser Hinsicht nicht nach, verfielen aber gleichzeitig dem Nazismus völlig.“72 Ähnliche Wertungen finden sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren von zahlreichen Historikern. Für Karl Otmar Freiherr v. Aretin, beispielsweise, hatte die Geschichtswissenschaft 1933 in einem Ausmaß versagt, „für das es keine Entschuldigung gibt“. Sie sei nicht die große Warnerin der Nation gewesen, sondern habe auch noch jene Argumente geliefert, „mit deren Hilfe es den Nationalsozialisten gelang, gerade das gebildete Bürgertum über ihren wahren Charakter zu täuschen“.73 Jürgen Elvert kam in einer neueren Erhebung zu dem Ergebnis, dass etwa 40 Prozent der nach 1933 im Amt verbliebenen Historiker sich zur offenen Kooperation entschieden, etwa die gleiche Zahl habe sich mit dem Regime arrangiert und versucht im Rahmen des Möglichen das traditionelle Wissenschaftsverständnis zu bewahren. „Nur eine Minderheit unter den Historikern bewahrte sich eine kritische Haltung gegenüber dem NS-System und scheute auch nicht vor Kritik zurück.“74 Was Motive und Hintergründe anging, wurde seit den Sechzigerjahren auf die schon erwähnten Aspekte „Versailles“, „Dolchstoß“ und „Umbruch 1918“ abgehoben, und es herrscht auch heute weitgehend Konsens, dass sie eine zentrale Rolle spielten. „Der Protest gegen das Versailler Vertragssystem blieb auch noch nach dem Januar 1933 die gemeinsame Basis für das politische Denken aller drei HistorikerGenerationen. Die Folgen sind selbst im Falle Gerhard Ritters sichtbar, der noch im Umfeld der Machtergreifung seinen innenpolitisch und religiös begründeten Protest

71 Graus: Geschichtsschreibung und Nationalsozialismus, 1969, (wie Anm. 69), hier 90. 72 Ebenda, 90. 73 Karl Otmar Freiherr v. Aretin: Das Problem der historischen Kontinuität im Geschichtsbewusstseins der Deutschen, in: Dieter Stolte/Richard Wisser (Hg.): Integritas. Geistige Wandlung und menschliche Wirklichkeit, Tübingen 1966, S. 256–268. 74 Elvert: Geschichtswissenschaft, 2002, (wie Anm. 60), hier 132.

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gegen die nationalsozialistische Politik anmeldete, der sich aber danach derart von Hitlers ersten Schritten zur gewaltsamen Revision der Versailler Bestimmungen mitreißen ließ, daß er zumindest zeitweise seine Vorbehalte gegenüber der Politik des Regimes in den Hintergrund stellte.“75 Beim 42. Historikertag 1998 in Frankfurt am Main beschäftigte sich unter großer, auch öffentlicher Resonanz, eine eigene Sektion mit „Historikern im Nationalsozialismus“. Nach den Debatten blieb für Jürgen Kocka als Resümee: „Im Protest gegen die in den Pariser Vorortverträgen kodifizierten Folgen des Ersten Weltkrieges – dieser ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‘ (George F. Kennan) – wurzelte ein erheblicher Teil der verbreiteten Unterstützung für die nationalsozialistische Revisions- und Eroberungspolitik, obwohl diese immer auf sehr viel mehr zielte als auf die Revision von Versailles. Das galt auch und gerade für viele deutsche Historiker, die kräftig daran mitarbeiteten, daß das Erbe des Ersten Weltkriegs weiterwirkte und den Boden für den Zweiten Weltkrieg präparierte.“76 Ähnlich schätzte Winfried Schulze die Hintergründe ein, nachdem er sich insbesondere mit den Biographien von NS-nahen Historikern beschäftigt hatte: „An erster Stelle hat hier die Urerfahrung von 1918 zu stehen. Wohl keine der in den Beiträgen vorgestellten Biographien wurde nicht konfrontiert mit jener fälschlich empfundenen, aber ernsthaft geglaubten Demütigung der Nation durch ein vorschnell herbeigeführtes Kriegsende, einen zutiefst ungerecht anmutenden Friedensschluß sowie dessen noch ungerechtere Folgelasten. Das ‚kollektive Gedächtnis‘ pflanzte so etwas wie den ‚Komplex von Versailles‘ fort und die ideell ständig präsente Zäsur von 1918 ist für die deutsche Gelehrtenwelt fraglos weit prägender gewesen als der ‚Zivilisationsbruch‘ (Dan Diner), der mit der Machtergreifung 1933 seinen Anfang nahm. Für manche der Historiker mag der Komplex von Versailles bis zuletzt tiefer verwurzelt geblieben sein, als die Wahrnehmung von Auschwitz es je hätte werden können.“77 Auch die jüngeren unter den deutschen Historikern, die 1918 nicht politisch bewusst erlebt hatten, hatten gleichwohl Anteil an diesem „Komplex von Versailles“ im kollektiven Gedächtnis. Für die jüngeren, darauf hob Jürgen Kocka ab, „galt über-

75 Christoph Cornelißen: „Schuld am Weltfrieden“. Politische Kommentare und Deutungsversuche deutscher Historiker zum Versailler Vertrag, in: Gerd Krumeich/Silke Fehlemann (Hg.): Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N.F. Bd. 14), Essen 2001, S. 237–258, hier 257. 76 Jürgen Kocka: Zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik. Ein Kommentar, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle/Otto G. Oexle/Gerd Helm/Thomas Ott (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt am Main 1999, S. 340–357, hier 344. 77 Winfried Schulze/Gerd Helm/Thomas Ott: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Beobachtungen und Überlegungen zu einer Debatte, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle/Otto G. Oexle/Gerd Helm/Thomas Ott (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt am Main 1999 S. 11–48, hier 35.

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dies, daß sie von den radikalen Erneuerungsversprechen des Nationalsozialismus fasziniert wurden, von seinem Versprechen rücksichtsloser Modernität – sowohl in bezug auf die radikale und gewaltsame Neugestaltung der ethnischen Landkarte wie auch in bezug auf wissenschaftliche Neuerungen, wie sie sich z. B. in der ‚Volksgeschichte‘ der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre abzeichneten. Man diente dem nationalsozialistischen Projekt nicht nur aus anpasserischem Kalkül, sondern auch aus Überzeugung – auch wenn man nicht jedes Element der nationalsozialistischen Rhetorik und Praxis bejahte.“78 Die Historikerschaft, die zwischen 1933 und 1945 an den deutschen Universitäten lehrte, „war eine eminent politische Historikerschaft“ wie hunderte von politischen Reden, Vorträgen und Artikel belegen.79 Das weitgehende Einvernehmen, das unter Historikern aller Couleur in Fragen der Nation und der Außenpolitik in den Zwanziger- und Dreißigerjahren herrschte, stellte sich nach 1933 auch im Hinblick auf eine grundsätzliche Frage der inneren Verfassung ein: Der Begriff „Gemeinschaft“ hatte schon durch die „Frontgemeinschaft“ und die Katastrophe von 1918 eine enorme Wirkung bekommen. Für die national-konservativen Historiker hatte sich in der Forderung nach innerer Einheit der Nation der Kampf gegen die Parteien- und Parlamentsherrschaft, gegen Republik und Demokratie konkretisiert. Aber auch unter den „Vernunftrepublikanern“ fand sich keiner, der den Streit der Parteien verteidigt hätte. Die Sehnsucht nach innerer Geschlossenheit, immer noch verbunden mit der Erinnerung an das mythische „Augusterlebnis 1914“ war eine gemeinsame Sehnsucht der Historikerzunft. „Wiederherstellung der ‚Einheit‘, dies war die zentrale Kategorie, über die sich 1933/34 die Zustimmung zum nationalsozialistischen Regime vermittelte. Wiederhergestellte Einheit bedeutete dabei in erster Linie Bruch mit der verhaßten Republik, den föderalen Strukturen und den Institutionen differenzierter gesellschaftlicher und politischer Interessen.“80 Selbst ein so eindeutiger Gegner des Nationalsozialismus wie der 1936 zwangsemeritierte Franz Schnabel war 1934/35 von der Idee der „Volksgemeinschaft“ fasziniert, wie neuere Forschungen belegen. Er sah sie als das Ende der „Kulturkrisis“ und als Beginn einer „neuen Zeit“, hat sich allerdings schon bald davon distanziert.81 Friedrich Meinecke formulierte immerhin 1943 in seinen Erinnerungen Kritisches zur praktischen Umsetzung der Volksgemeinschaft im nationalsozialistischen Deutschland und brach eine Lanze für die alte Weimarer Verfassung: „sie war ein gesünderes Band als das, was dann mit Gewalt seit 1933 um sie [die Volksgemeinschaft] geschla-

78 Kocka: Zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik, 1999, (wie Anm. 76), hier 344. 79 Karen Schönwälder: Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus (Historische Studien 9), Frankfurt am Main 1992, hier 276. 80 Ebenda, 33. 81 Winfried Schulze: Vorwort, in: Kröger et al.: Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann, 1996, (wie Anm. 38), hier 7.

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gen wurde.“82 Das Präsidialregiment Brüning/Hindenburg hatte Meinecke 1930 durchaus begrüßt. In der Schlussphase der Weimarer Republik waren auch die „Vernunftrepublikanern“ auf Distanz zur parlamentarischen Republik gegangen. Es lag ganz auf dieser Linie, wenn Hermann Oncken 1934 in einem Aufsatz über Hindenburg schrieb, von außen, durch die Sieger des Weltkrieges, seien dem Reich politische Lebensformen aufgezwungen worden, „aus denen ein möglicher Aufstieg zu kraftvoller Selbstbesinnung am wenigsten erwartet werden konnte.“83 Auch Meinecke hielt 1943 in seinen Erinnerungen fest, dass er schon 1918 den reinen Parlamentarismus als „unerwünscht“ für Deutschland angesehen habe. „Wir brauchten eine starke Zentralgewalt, die auch gegenüber dem Parteitreiben festen Kurs steuern konnte, wir brauchten, so drückte ich mich aus, ein ‚Ersatzkaisertum‘ und nicht die französische oder englische, sondern die nordamerikanische Verfassung mit ihrer starken plebiszitären Präsidentschaft müßte den Typus bilden, nach dem wir zu bauen hätten.“84 Oncken und Meinecke gehörten auch noch in den frühen dreißiger Jahren zu den Meinungsführern unter den deutschen Historikern. „Da Oncken die kritische Schule des Historismus im Vorstand der ‚Deutschen Akademie‘ in München repräsentierte und Meinecke als Vorsitzender der Historischen Reichskommission in Berlin das Amt des Historiographen des preußischen Staates bekleidete, blieb die Vorherrschaft der kritischen Schule des Historismus gewahrt. Die völkische Geschichtswissenschaft stand dem Paradigma der ‚Staats- und Kulturnation‘, das von Hermann Oncken und Friedrich Meinecke vertreten wurde, zwar ablehnend gegenüber, entwickelte aber nicht die konzeptionelle Schärfe, um der kritischen Schule des Historismus den Rang als Leitwissenschaft streitig machen zu können.“85 Meinecke war einer der wenigen Historiker, die den Schritt von Hindenburg zu Hitler nicht mit vollzogen. Als er im Februar 1933 plante, „einen öffentlichen Aufruf gegen die Nationalsozialisten bzw. nur eine Eingabe an Hindenburg zu organisieren, betrachtete er F. Thimme, G. Ritter und W. Goetz als potentielle Unterzeichner, über Oncken war er sich bereits unsicher. Weder Aufruf noch Eingabe wurden realisiert.“86 Es war eine sehr vereinzelte und sehr stille Opposition, die allenfalls ins Werk gesetzt wurde. In die dünne Reihe von öffentlicher Nicht-Konformität gehörte ein einleitender Artikel zum zehnten Band der Propyläen-Weltgeschichte von Walter Goetz. Goetz

82 Friedrich Meinecke: Erinnerungen. Straßburg/Freiburg/Berlin/Stuttgart 1949, hier 284. 83 Hermann Oncken: Hindenburg im Lichte der europäischen Geschichte, in: Europäische Revue 10 (1934), S. 561–571, hier S. 561, zit. nach: Schönwälder: „Lehrmeisterin der Völker und der Jugend“, 1999, (wie Anm. 37), hier 131. 84 Meinecke: Erinnerungen, 1949, (wie Anm. 82), hier 258f. 85 Haar: Historiker im Nationalsozialismus, 2000, (wie Anm. 61), hier 362f. 86 Schönwälder: Historiker und Politik, 1992, (wie Anm. 79), hier 27.

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bekannte sich darin zum Geist der Aufklärung und des Liberalismus.87 Als einer der ganz wenigen etablierten Historiker nahm Goetz dadurch nicht nur öffentlich gegen den Nationalsozialismus Stellung; er griff auch die jungen Nachwuchshistoriker an, die ihre Karriere an den Aufstieg des neuen Regimes gekoppelt hatten. Im Gegensatz zu ihm „vermied Friedrich Meinecke in der Öffentlichkeit jede Konfrontation mit der ‚jungen Generation‘, die sich wie Hans Andres, Erich Maschke oder Erich Otto Volkmann bereits offen zum Nationalsozialismus bekannt hatte.“88 Hans Rothfels hob von den kritischen Geistern vor allem Hermann Oncken hervor. „Er gehörte zu den wenigen, die den Umbruch vom Januar 1933 nicht kampflos hinnahmen. In nicht zu übersehender Parallele veröffentlichte er zu Beginn des Dritten Reichs Studien über Cromwell, ein erstes Beispiel dessen, was man artilleristisch den ‚indirekten Beschuß‘ nennt.“89 Wegen eines Vortrags in der preußischen Akademie über „Wandlungen des Geschichtsbildes in revolutionären Epochen“ im Jahr 1934 kam es dann zu einer Kampagne, die Walter Frank im „Völkischen Beobachter“ eröffnete und die zur Entfernung Onckens aus dem Lehramt führte. Karen Schönwälder kam in ihrer Studie über „Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus“ zu dem Ergebnis, persönliche Feindschaft und Walter Franks Bestreben, sich die von Oncken geleitete „Historische Reichskommission“ anzueignen, seien Triebfedern dafür gewesen, an Oncken eine exemplarische Verurteilung der angeblich liberalen Geschichtswissenschaft zu vollziehen. „Eine umfassende Konfrontation von Geschichtswissenschaft und nationalsozialistischem Herrschaftssystem war der ‚Fall Oncken‘ nicht. Oncken selbst war ‚weit davon entfernt, den Konflikt mit den neuen Machthabern zu suchen‘“90 Allerdings trat Hermann Oncken allen Forderungen nach einer stärkeren Politisierung der Geschichtswissenschaft entgegen und machte sich für das Festhalten an wissenschaftlichen Methoden und Standards stark. Wilhelm Mommsen dagegen, vor 1933 bekannter Anhänger der Republik, erklärte 1935, natürlich seien die Quellen „Grundlage jeglicher geschichtlichen Arbeit“ und der Historiker habe die Tatsachen zu achten. Das Ziel, dem er entgegenstrebe, aber werde durch die „Impulse“ der Gegenwart91 bestimmt und dies sei daher eine Geschichtsauffassung, die den „Kräften des Volkstums“ ihr Recht gebe. „Unsere Zeit verlangt ein neues Geschichtsbild“, eine „schlechthin deutsche Geschichtsauffassung“.92 Je näher die Historiker dem national-

87 Walter Goetz: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Propyläen-Weltgeschichte. Bd. 10. Das Zeitalter des Imperialismus 1890–1933, Berlin 1933, S. XIX–XXIV, hier XXIV. 88 Haar: Historiker im Nationalsozialismus, 2000, (wie Anm. 61), hier 174f. 89 Rothfels: Die Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren, 1965, (wie Anm. 62), hier 101. 90 Schönwälder: Historiker und Politik, 1992, (wie Anm. 79), hier 77. 91 Wilhelm Mommsen: Wandlungen des Geschichtsbildes in revolutionären Epochen, in: Vergangenheit und Gegenwart 25 (1935), hier 110f. 92 Wilhelm Mommsen: Politische Geschichte von Bismarck bis zur Gegenwart 1850–1933, Frankfurt am Main 1935, hier 5, 7.

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sozialistischen Gedankengut standen, desto weit reichender waren ihr Forderungen nach dem „politischen Historiker“. Der Marburger Dozent und spätere Berliner Professor Egmont Zechlin, erklärte schon 1933 ebenso knapp wie klar, auch die Geschichtswissenschaft habe der Aufgabe der „nationalen Neugestaltung“ zu dienen, wie 1914 müsse der Historiker sich „in die Front einreihen“.93 Auch die national orientierten Historiker des Kaiserreichs und der Weimarer Republik hatten sich stets grundsätzlich als politische Historiker gesehen und Legitimationswissenschaft für die nationale Machtentfaltung betrieben. Auf andere Weise und mehr noch als sie stellten sich aber die Historiker der „Volkstumsforschung“ in den Dienst praktischer Politik. Das haben neuere Forschungen zutage gefördert.94 Die deutsche Volkstumsforschung war in ihren Anfängen keineswegs ein Kind des Nationalsozialismus, „sondern entsprang dem gedanklichen Fundus der rechten antidemokratischen Intellektuellen Weimars.“95 Die Volkstumsforschung war, politisch betrachtet, auch ein Reflex auf die Gebietsabtretungen, die der Versailler Vertrag dem Deutschen Reich auferlegt hatte. Die Historiker sahen ihre Aufgabe darin, den Anspruch der Deutschen auf Hegemonie in Mitteleuropa historisch zu legitimieren. Aber nicht nur das. Die Historiker der Volkstumsforschung sahen sich auch als Vorbereiter praktischer Politik: „Die Vereinigung der deutschen Volksgruppen innerhalb eines neuzugestaltenden Zentraleuropa unter deutscher Herrschaft war […] das Ziel der Volkstumsarbeit und -forschung der 1920er Jahre. Im Sinne des zeitgenössischen Revisionismus sollte aus der Not der Pariser Friedensordnung die Tugend der Neuordnung Mitteleuropas nach deutschem Muster erfolgen.“96 Der Machtantritt der Nationalsozialisten änderte die Lage der Volkstumsforschung grundsätzlich, denn nun war der klare politische Gestaltungswille vorhanden, der bis dahin gefehlt hatte. „Erst die Verknüpfung von politischem Ordnungswillen und wissenschaftlicher Deutungsmacht begründete die Erfolgsgeschichte der völkisch orientierten Geistes- und Sozialwissenschaften.“97 Zum Aufstieg der Volksgeschichte trug auch bei, dass konkurrierende Orientierungen unterdrückt wurden, er „hing unmittelbar mit der Verdrängung der demokratisch und sozialistisch orientierten Minderheitenströmung junger Berliner Historiker zusammen.“98 Die karriereorientierten Jungakademiker der dreißiger Jahre waren von gemeinsamen Denkmustern geprägt, die auch beim Führungsnachwuchs der „neuen Eliten“ des Nationalsozialismus zu finden wa-

93 Egmont Zechlin: Geschichtswissenschaft und Gegenwartserleben, in: Westdeutsche Akademische Rundschau. Beilage Literarische Rundschau (1933), zit. nach: Schönwälder: „Lehrmeisterin der Völker und der Jugend“, 1999, (wie Anm. 37), hier 139. 94 Zu nennen sind hier insbesondere: Haar: Historiker im Nationalsozialismus, 2000, (wie Anm. 61) und Elvert: Geschichtswissenschaft, 2002, (wie Anm. 60), hier 116. 95 Elvert: Geschichtswissenschaft, 2002, (wie Anm. 60), hier 116. 96 Ebenda, 116f. 97 Haar: Historiker im Nationalsozialismus, 2000, (wie Anm. 61), hier 364. 98 Ebenda, 366.

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ren, der 1934 seine Karriere im Sicherheitsdienst (SD) antrat. „Sie nahmen gemeinsam den Kampf gegen den vermeintlichen politischen und ‚völkischen‘ Gegner des ‚Dritten Reiches‘ auf. Intellektuelle Militanz, die Vorstellung, unter anderem durch methodische Stringenz gegenüber nichtdeutschen Wissenschaftlern eine Überlegenheit erreicht zu haben, und eine betont fremdenfeindliche Haltung gegenüber der jüdischen und slawischen Bevölkerung inner- und außerhalb der Reichsgrenzen gehörten mit zu dem Motivbündel, das die Aktivitäten dieser neuen NS-Eliten anleitete.“99 In den Neunzigerjahren wurde der rasante Aufstieg der Volkstumsforschung genauer untersucht und festgestellt, dass die Volksgeschichte „von mächtigen Motiven und von einflußreichen Wissenschaftlern vorangetrieben, zusehends junge Historiker an[zog], zumal wenn sie aus dem protestantischen Bildungsbürgertum stammten, wissenschaftliches Leistungsdenken früh verinnerlicht hatten, zu Hause und in den bündischen Jugendverbänden jung-konservative, völkische Ideen, großdeutsche Hoffnungen und Ziele des aggressiven ‚Neuen Nationalismus‘ aufgesogen hatten – wie das etwa auf Conze und Schieder zutrifft.“100 Die Feststellung, dass Werner Conze und Theodor Schieder, zwei hoch geachtete bundesdeutsche Historiker, beide zeitweise Vorsitzende des deutschen Historikerverbandes, sich aktiv an der Umsiedlungspolitik und den ethnischen Säuberungen der Nationalsozialisten im Osten beteiligt hatten, war ein Schock für die deutsche Historikerzunft. Aber der Befund war eindeutig: „Beide haben sich 1939 und in den Jahren danach zu Anwälten einer Politik der völkischen Neuordnung in Ostmitteleuropa und einer ‚Entjudung‘ Polens gemacht.“101 Härter noch als Heinrich August Winkler formulierte es Götz Aly: „Beide haben auf ihre Weise und professionell – als gut ausgebildete Historiker eben – am Menschheitsverbrechen Holocaust mitgewirkt. Schieder propagierte den Krieg und die Vorstellung von der rassisch definierten Nation; er plädierte für die gewaltsame Germanisierung immer größerer eroberter Regionen und schrieb einen Teil seiner Texte ausschließlich für den exekutiven Gebrauch. Er und Conze qualifizierten die Juden als Störfaktoren, Schmarotzer und gefährliche innere Feinde“.102 Erste Entdeckungen zogen intensivere Forschungen nach sich, und es zeigte sich, dass die involvierten Universitätsinstitute nur die Spitze des Eisbergs waren. „Noch bedeutsamer erscheinen die erst jüngst zutage getretenen institutionellen Verflech99 Ebenda, 369. 100 Hans-Ulrich Wehler: Nationalsozialismus und Historiker, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle/Otto G. Oexle/Gerd Helm/Thomas Ott (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt am Main 1999, S. 306–339, hier 312. 101 Heinrich August Winkler: Hans Rothfels – ein Lobredner Hitlers? Quellenkritische Bemerkungen zu Ingo Haars Buch „Historiker im Nationalsozialismus“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 49 (2001), S. 643–652, hier 650. 102 Götz Aly: Theodor Schieder, Werner Conze oder Die Vorstufen der Vernichtung, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle/Otto G. Oexle/Gerd Helm/Thomas Ott (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt am Main 1999, S. 163–182, hier 177.

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tungen der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen 1933 und 1945: die weitreichenden Netzwerke der ‚Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften‘, der sogenannten ‚Ostforschung‘ und ‚Westforschung‘ und des sogenannten ‚Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften‘.“103 Bereits die bis zum Historikertag 1998 vorgelegten Forschungsergebnisse ergaben ein zutiefst ernüchterndes und beschämendes Bild, das Hans-Ulrich Wehler zusammenfasste: „Aus einem breiten Quellenmaterial wird allmählich das ganze Ausmaß der engen Kooperation, der bereitwilligen Zusammenarbeit, zumindest der widerstandslosen Mitwirkung an anrüchigen Vorhaben rekonstruiert. (Und nun treten) die Konturen eines NS-freundlichen Engagements zunehmend klarer hervor, das man wegen der aktiven Teilnahmebereitschaft und Überzeugungsidentität nicht länger mehr mit dem leicht apologetisch wirkenden Begriff der ‚Verstrickung‘, die einem eine fremde Gewalt, ein ‚zufälliges Schicksal‘ von außen aufnötigt, charakterisieren sollte.“ Zu den Zielen der so genannten „Ostforschung“ und „Westforschung“ erläuterte Wehler, dass die bisher unbekannte Landschaft großer Forschungsinstitutionen und -projekte in der Spätphase der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ inzwischen erkundet worden sei: „die ‚Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft‘ (NOFG) und die ‚Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft‘ (unter dem Vorsitz Otto Brunners) mit mehr als tausend Mitarbeitern, das ‚Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums‘ mit gut siebenhundert Mitarbeitern, die Hilfsorganisationen der ‚Volkstumsforschung‘ und ‚Westforschung‘. Sie alle waren auf einen germanozentrischen, slawenfeindlichen, antisemitischen, expansionistischen Kurs eingeschworen. Sie sollten nicht nur die ‚Weltanschauung‘ des Nationalsozialismus durch die ‚Erfindung von Traditionen‘ der regimekonformen Sorte legitimieren, sondern auch seiner Bevölkerungs-, Umsiedlungs- und Vertreibungspolitik den Anschein historischer Notwendigkeit verleihen.“104 „Deutsche Geschichtswissenschaft in jener Zeit“, fasste Winfried Schulze seine Eindrücke zusammen, „stellt sich jedenfalls nicht länger nur als ‚Legitimationswissenschaft‘ dar, sie erscheint mehr noch als initiative, hochgradig politisierte, tonangebende, zuletzt als im Wortsinne ‚kämpfende‘ Wissenschaft. Weiterführend muß daher die Frage gestellt werden, ob es sich lediglich um eine größere Nähe einiger Gelehrter zu den Machthabern des Nationalsozialismus handelt; oder ob nicht gar jenes Einvernehmen von ‚Macht‘ und ‚Geist‘ im Dritten Reich als konstitutiv zu gelten hat.“105 Hans Mommsen kritisierte den Begriff einer ‚Affinität zum Nationalsozialismus‘, der ein bestimmtes Bild vom Nationalsozialismus vor Augen habe, „das durch weltanschaulichen Fanatismus, politischen Aktivismus und äußere Brutalität geprägt ist. Aus dieser Sicht gliedert sich um einen Kern von ‚hundertprozentigen‘ Nationalsozia103 Otto Gerhard Oexle: Die Fragen der Emigranten, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle/Otto G. Oexle/Gerd Helm/Thomas Ott (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt am Main 1999, S. 51–62, hier 52. 104 Wehler: Nationalsozialismus und Historiker, 1999, (wie Anm. 100), hier 309f. 105 Schulze et al.: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, 1999, (wie Anm. 77), hier 31.

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listen eine Fülle von Sympathisanten, die sich jeweils durch den Grad an inneren Vorbehalten gegen das alltägliche Erscheinungsbild der Bewegung und dessen Ideologie auszeichnen. Das führt letzten Endes dazu, daß es den ‚wirklichen‘ Nationalsozialismus nicht gab. In der Tat haben selbst die führenden Satrapen nach 1945 von sich behauptet, in partieller Opposition zum Regime gestanden zu haben. Was am Beispiel der Ostforschung zur Diskussion steht, ist nicht Ausfluß einer Affinität zum NS, sondern ist der wirkliche Nationalsozialismus.“106 Unter dem Eindruck der zutiefst irritierenden Debatte begann die deutsche Geschichtswissenschaft nun über neue Vorstellung von „Nationalsozialismus“ nachzudenken. Hans-Ulrich Wehler schlug vor: „Man sollte nicht von einem harten ideologischen Kern des Nationalsozialismus ausgehen und dann die mehr oder minder große Affinität, etwa der Berufsklasse der Professoren, zu diesem Kern herausarbeiten. Die Metapher vom harten Kern und der graduell abgestuften Affinität führt leicht in die Irre. Realitätsnäher ist es vielmehr, von einem System sich überlappender Kreise auszugehen, wobei dann die gemeinsamen Schnittflächen zwischen nationalsozialistischen Ideen und Auffassungen der Mehrheit der deutschen Universitätshistoriker (zum Beispiel Revision des ‚Versailler Systems‘, Wiederaufrüstung, europäische Hegemonialpolitik, deutsche Kulturmission im Osten, Reichsmythos, Großdeutschland, Honoratiorenantisemitismus) für eine ausreichende partielle Interessen- und Zielidentität sorgten, ohne daß sie notwendig auch Parteigenossen wurden und mit gleichmäßiger Verve für alle nationalsozialistischen Zielvorstellungen eintraten. (Die Summe all dieser oft diffus verschwimmenden Schnittflächen innerhalb der deutschen Gesellschaft war dann der Nationalsozialismus!)“107 Mit dem aktiven Engagement Schieders und Conzes lässt sich nicht vergleichen, was etwa zeitgleich über Karl Dietrich Erdmann an die Öffentlichkeit kam. Aber Erdmann war nicht nur wie Schieder und Conze zeitweise Vorsitzender des „Verbandes deutscher Historiker“ gewesen, sondern sogar der erste deutsche Präsident des „Internationalen Historikerverbandes“, was die Aufmerksamkeit für den „Fall Erdmann“ erhöhte. Und ein zweiter Aspekt kam hinzu. Während Conze und Schieder jahrzehntelang schwiegen, prangerte Erdmann bei verschiedensten Gelegenheiten und unverhüllt „Charakterlosigkeit und Opportunismus“ mancher „Professoren unter Hitler“ an, etwa in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 16. Juni 1965, als er Ernst Bertram, Martin Heidegger, Philipp Lenard, Hans Naumann, Carl Schmitt und Ernst Rudolf Huber angriff. Hans-Ulrich Wehler nahm Erdmann vor allem seine heuchlerischen Urteile über andere und das Stilisieren der eigenen Person zum Benachteiligten des NS-Regimes übel – wegen des fehlenden Ariernachweises seiner Frau, das hatte Erd106 Hans Mommsen: Der faustische Pakt der Ostforschung mit dem NS-Regime. Anmerkungen zur Historikerdebatte, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle/Otto G. Oexle/Gerd Helm/Thomas Ott (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt am Main 1999, S. 265–273, hier 271. 107 Wehler: Nationalsozialismus und Historiker, 1999, (wie Anm. 100), hier 315.

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mann häufig herausgestrichen, sei ihm eine Beamtenstelle als Studienrat verweigert worden. Wehler wies darauf hin, dass der Nachweis mit einer gewissen Verspätung doch kam, die Beamtenstelle bewilligt wurde und das Kriegsgehalt bis Anfang 1945 bezahlt worden sei.108 Speziell über die causa Erdmann entwickelte sich eine Kontroverse, auf die einzugehen hier allerdings zu weit führen würde.109 Deutlich später als andere Disziplinen hat die Geschichtswissenschaft mit der Aufarbeitung ihrer Rolle im Nationalsozialismus ernsthaft begonnen. Vor allem die seit dem Ende der Achtzigerjahre gesammelten Erkenntnisse, so Jürgen Elvert, „zwangen die Wissenschaft zu einem Auszug aus der idyllischen Selbstwahrnehmungsnische der ‚inneren Emigration‘ und grundsätzlichen Resistenz gegenüber dem NSRegime.“110 Diese Diskussion hat mit dem 42. Deutschen Historikertag 1998 in Frankfurt, eine breitere Öffentlichkeit erreicht und wird „wegen der zahlreichen neuen Forschungsmöglichkeiten und wegen unserer Vergangenheitsdiskussion so bald nicht ihr Ende finden.“111 Es ist plausibel, dass eine so verortete Geschichtswissenschaft wenig Anlass sah, sich intensiver mit der Revolution von 1918/19 zu beschäftigen, mit dem „Novemberverbrechen“, um in der Terminologie der Zeit zu bleiben. Dazu bedurfte es keinerlei speziellen Drucks aus dem Bereich der Politik, es ergab sich aus der Entwicklung und Orientierung der Zunft. Mit dem Begriff „Revolution“ verbanden deutsche Historiker seit 1933 die Machtübernahme der Nationalsozialisten: „Bei jüngeren Dozenten wie E. Anrich, K. v. Raumer, R. Stadelmann und R. Craemer, ebenso aber bei etablierten Professoren wie O. Hoetzsch, M. Spahn, K. Breysig, W. Andreas, H. Oncken und G. Ritter war die Rede vom Erleben einer ‚nationalen‘ oder ‚deutschen‘ Revolution.“112 Und anders als im Hinblick auf 1918/19 war der Begriff nun für die meisten deutschen Historiker positiv bewertet. „Daß ‚Revolution‘ nur mit diesem terroristisch-antidemokratischen und nationalistischen Gehalt in der Historikerschaft zu einem positiv besetzten Begriff werden konnte, bezeichnet schon einen wesentlichen Aspekt ihres politischen Bewußtseins.“113 Während der zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft war, um eine Formulierung Eberhard Kolbs abzuwandeln, nur außerhalb Deutschlands „an eine um sachliches Urteil bemühte Beschäftigung mit den Problemen des Weltkriegsendes, der Novemberrevolution und der Friedensverhandlungen“ zu denken.114

108 Ebenda, 325. 109 Vgl. Schulze et al.: Karl Dietrich Erdmann und der Nationalsozialismus, 1997, (wie Anm. 49), Kröger et al.: Karl Dietrich Erdmann: Utopien und Realitäten, 1998, (wie Anm. 48). 110 Elvert: Geschichtswissenschaft, 2002, (wie Anm. 60), hier 89. 111 Wehler: Nationalsozialismus und Historiker, 1999, (wie Anm. 100), hier 306. 112 Schönwälder: Historiker und Politik, 1992, (wie Anm. 79), hier 22. 113 Ebenda, 23. 114 Kolb: Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, 1972, (wie Anm. 1), hier 10.

3 Die Revolution von 1918/19 in der Exil-Geschichtskultur Am 23. März 1933 stand im Reichstag das Ermächtigungsgesetz zur Abstimmung an. Nach dem Brand des Reichstagsgebäudes waren am 28. Februar durch die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ wesentliche Persönlichkeitsrechte und demokratische Rechte außer Kraft gesetzt worden, Beschränkungen der persönlichen Freiheit und des Eigentums waren möglich. Als das Parlament am 23. März in der Kroll-Oper zusammentrat, waren die kommunistischen Abgeordneten bereits verhaftet, soweit es ihnen nicht gelungen war unterzutauchen. SS rückte als „Saalschutz“ in den Parlamentssaal ein, und dennoch hielt der SPD-Vorsitzende Otto Wels eine Rede, in der er das „Nein“ der Sozialdemokraten zum Ermächtigungsgesetz begründete. Es war eine mutige Rede gegen die diktatorische Politik der Nationalsozialisten. Zugleich aber zeigte diese Rede, wie tief die Sozialdemokratie in der Weimarer Zeit in eine Verteidigungsrolle gedrängt worden war. Noch angesichts der nun unabwendbaren diktatorischen Machtfülle der „Regierung der nationalen Konzentration“, betonte Wels die Vaterlandstreue der Sozialdemokraten, noch angesichts drohender Verhaftungen „stimmte Wels der von Hitler erhobenen Forderung nach der Gleichberechtigung Deutschlands ausdrücklich zu und bezog sich dabei auf seine […] Rede am 3. Februar 1919 in Bern, in der er als erster Deutscher auf einem internationalen Forum, der Unwahrheit von der Schuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges entgegengetreten sei.“1 Mit dem Scheitern der Weimarer Republik und der Entfaltung der nationalsozialistischen Diktatur änderten sich die Rahmenbedingungen für die Beurteilung der Revolution von 1918/19 vollständig. Die bis dahin innerhalb der Sozialdemokratie dominierenden Deutungen – „Störung des geordneten Reformprozesses“, „Geburtsstunde der deutschen Republik“ und „Abwehr der bolschewistischen Gefahr“ – konnten in Deutschland nicht mehr offen vertreten und publiziert werden, jedenfalls nicht mit dem Zungenschlag, wie er in der Weimarer SPD vorgeherrscht hatte. Angesichts des Scheiterns der Republik stellte sich nun aber auch für Sozialdemokraten die Frage, ob denn in der revolutionären Anfangsphase der Weimarer Republik wirklich alles getan worden war, sie zu einer stabilen Demokratie zu machen. Eberhard Kolb hat auf einen Brief aufmerksam gemacht, den Rudolf Hilferding Ende September 1933 an Karl Kautsky schrieb. Darin hieß es: „Unsere Politik in Deutschland war seit 1923 sicher im ganzen und großen durch die Situation erzwungen und konnte nicht viel anders sein. In diesem Zeitpunkt hätte auch eine andere Politik

1 Fritz Klein: Versailles und die deutsche Linke, in: Gerd Krumeich/Silke Fehlemann (Hg.): Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N.F., 14), Essen 2001, S. 314–322, hier 317.

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kaum ein anderes Resultat gehabt. Aber in der Zeit vor 1914 und erst recht von 1918 bis zum Kapp-Putsch war die Politik plastisch, und in dieser Zeit sind die schlimmsten Fehler gemacht worden.“2 Zu einer ähnlich massiven Kritik kam im selben Jahr der langjährige Chefredakteur des „Lübecker Volksboten“ Julius Leber. Im Gefängnis formulierte er im Juni 1933 auf mehr als 60 Seiten „Gedanken zum Verbot der deutschen Sozialdemokratie“ und zu den Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik. Als ein wesentliches Ergebnis seiner Analyse hielt er fest: „Wenn die Staatsgründung vom 9. November 1918 und vom 11. August 1919 überhaupt Aussicht auf Lebensfähigkeit und Bestand haben sollte, so mußten die zwei wichtigsten Fundamente jeder Ordnung mit rücksichtsloser Energie gebaut und stabilisiert werden: Eine zuverlässige und sich mit der jungen Republik identisch fühlende Wehrmacht und eine ebensolche Rechtsprechung, wenigstens für staatliche und politische Angelegenheiten. Beides geschah nicht“.3 Leber führte das nicht auf ungünstige Rahmenbedingungen zurück, sondern kritisierte frontal und scharf die Politik des Rats der Volksbeauftragten: „Die Gesamthaltung der revolutionären Zwischenregierung erscheint im unbarmherzigen Urteil der Geschichte als ein bewußter oder unbewußter Verzicht auf die Revolution, auf die geistige und schließlich wirtschaftliche Umformung der deutschen Gesellschaft und des deutschen Menschen. Die Revolution degradierte und entwertete sich dadurch selbst, sie charakterisierte sich als ideenloser Zusammenbruch, als bloße Revolte. Statt der Hochstimmung, die auch wilde, stürmische und teilweise unschöne Revolutionen in ihren Völkern auszulösen pflegen, kam in weiten Kreisen des deutschen Volkes sehr bald das Gefühl der Bedrückung und Niedergeschlagenheit hoch. […] So hatte die Revolution von 1918 stimmungsmäßig ihr Spiel schon nach wenigen Jahren verloren.“4 Suchte man nach den Hintergründen und Ursachen für diese Politik der Volksbeauftragten, so durfte man sich nach Lebers Überzeugung keinesfalls auf die Kritik von persönlichem Verhalten beschränken. Er begann seine Analyse mit der Feststellung: „Die Sozialdemokratische Partei war zur Zeit der Übernahme der Staatsmacht im Jahre 1918 innerlich schon alt. Das war ein großes Verhängnis.“ Diese alte Partei, geprägt durch die Überheblichkeit des Alters, „die nichts mehr will und nichts mehr träumt“, habe der Republik nicht gut getan, „niemals spürte diese Republik einen Hauch revolutionärer Kraft, Begeisterung und Erfüllung. Sie war schon tot, als sie zaghaft und sehr vernunftgemäß ihre endgültige Geburt anzeigte.“5 Die SPD Bebels

2 Zit. nach: Reinhard Rürup: Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichte. Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 4. November 1993 (Gesprächskreis Geschichte 5), Bonn 1993, hier 4. 3 Julius Leber: Gedanken zum Verbot der deutschen Sozialdemokratie Juni 1933, in: Ders.: Ein Mann geht seinen Weg. Reden, Schriften, Briefe, Hg. von seinen Freunden, Berlin 1952, S. 185–247, hier 205f. 4 Ebenda, 203f. 5 Ebenda, 187.

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hatte sich in Lebers Augen zu Beginn des Jahrhunderts viel zu sehr auf die Schaffung eines gut funktionierenden Parteiapparates konzentriert, „wußte zuletzt nichts mehr von den Träumen und triebhaften Leidenschaften in der unendlichen Tiefe von Millionen, viel mächtiger als alle Worte und Lehren, als alle Symbole und Programmpunkte.“6 Der Parteiapparat habe über kurz oder lang entscheidend die Führerauswahl beeinflusst: „Nur wer Gewähr bot, daß er treu und brav Disziplin hielt, wer weder nach oben noch nach unten anstieß, der wurde hereingelassen. Gute geistige Mittelmäßigkeit und einexerzierte Routine beherrschten weit und breit das Feld, und die Macht der Instanzen sorgte dafür, daß der Weg nach oben sich nur auf diesem Felde öffnete.“7 Neben dem Parteiapparat sah Leber auch in der Konzentration auf programmatische Arbeit einen Fehler der SPD: „sie redete und debattierte über die verschlagenen Pfade des wissenschaftlichen Sozialismus und des historischen Materialismus, sie verkündete den Marxismus als Wissenschaft für alle und jeden […] In dieser stickigen Luft einer banalen und selbstgefälligen Wissenschaftlichkeit, die für alle Schwierigkeiten des sozialen Geschehens marxistische Theorien zum bequemen und hirnberuhigenden Hausgebrauch je nach Bedarf bereitstellte, wuchs eine Führergeneration heran, die der wirklichen Problematik der gewaltig sich ankündigenden Entwicklung fern stand und nicht im geringsten geladen war von jener Leidenschaft nach politischer Verantwortung und Gestaltung, die nur aus dem Willen und der Kraft der Persönlichkeit entstehen.“8 Keinen Zweifel ließ Leber darüber aufkommen, dass er die Entscheidung für die Kriegskredite am 4. August 1914 für richtig hielt. Aber in seinen Augen hätte ein wirklicher Führer „Bekenntnis abgelegt für deutsche Einheit, hätte die Partei und die Arbeiterschaft zum höchsten Einsatz aufgerufen, hätte aber zugleich Einfluß verlangt auf die Staatsführung und damit auf die äußere Politik, also auf Krieg und Frieden.“9 Das alles aber sei nicht geschehen, Leber sah nur Verlegenheitslösungen und Halbheiten. „Der 9. November musste so, als er mit Naturnotwendigkeit die ganze Staatsmacht der sozialdemokratischen Bewegung zuwarf, in dieser Bewegung auf eine überraschte, unvorbereitete und deshalb zunächst völlig willenlose Führerschicht treffen.“ Leber sprach deutlich vom „Unvermögen der Verantwortlichen, die gewaltigen sozialen und politischen Aufgaben und Kämpfe zu verstehen oder gar zu bestehen“.10 Er sah aber durchaus, dass die Volksbeauftragten vor die allerschwierigsten Aufgaben gestellt waren. „Viel mehr als ein Trümmerhaufen war von der kaiserlichen Ordnung und Macht nicht übriggeblieben. […] Jedoch selbst unter diesen einschränkenden und entlastenden Voraussetzungen muß auch der vorurteilslose Kritiker zu dem Urteil kommen, daß die Leistungen jener Revolu-

6 Ebenda, 188. 7 Ebenda, 195. 8 Ebenda, 188. 9 Ebenda, 198f. 10 Ebenda, 189.

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tionsregierung zwischen dem 9. November 1918 und dem 11. August 1919 schmählich klein waren. Besonders klein hinsichtlich der größten und schönsten Aufgabe: Der Schaffung eigener und haltbarer Grundlagen für den neuen Staatsaufbau.“11 Die Voraussetzungen waren in Lebers Augen jedenfalls in einer Hinsicht gut: „Nie hatte eine Führung eine ergebenere, eine treuere und selbstlosere Gefolgschaft hinter sich […]. Wagemutige und entschlossene Führer hätten Wunder mit ihnen vollbringen können.“12 Leber war davon überzeugt, dass es weniger die äußeren Umstände als vielmehr der innere Zustand der MSPD und ihres Führungspersonals war, was als hemmender Faktor wirkte: „Man kann sich bei nachträglicher Betrachtung des Eindruckes nicht erwehren, daß sie gar nicht recht wußten, was sie sollten und was sie wollten. […] Und so war es nach Eberts Ansicht noch das beste, das Ganze als ein Provisorium, als eine vorübergehende Verlegenheitslösung anzusehen, das nur die eine Aufgabe hatte, den Weg freizuhalten für ein demokratisches Parlament, dessen höhere Autorität sich ja dann mit den Grundlagen und dem Ausbau der neuen Volksgemeinschaft herumschlagen konnte.“13 Genau darin, in der Beschränkung auf ein Provisorium, im Verzicht auf eigenen Gestaltungswillen, sah Leber 1933 den entscheidenden Fehler der Volksbeauftragten und insbesondere Eberts: „Man muß den Mut haben, es auszusprechen: Aus Umstürzen geborene und vorerst noch illegitime Regierungen müssen trotz aller ihrer Ideale doch von Leidenschaften getragen sein, von Ehrgeiz, Machtgier, aber auch von Haß und Rache. Sonst können sie ihrer gewaltigen Aufgabe nicht gerecht werden. Die Geschichte streicht sie samt ihrem halben Werke aus. Aus den besten Motiven heraus wollte Friedrich Ebert die Macht von Revolutions gnaden in eine Macht von der Gnade des ganzen Volkes verwandeln. Gerade in diesem Gedanken erlag er dem folgenschwersten Irrtum. Volk sowohl wie Klasse sind zunächst vage und gestaltlose Gesamtbegriffe. Sie bekommen erst dann politische Wirksamkeit und formende Kraft, wenn sie sich an lebendige Ideen ankristallisieren, wenn sie sich um führende und tragende Gestalten formieren können. Bis dahin sind sie nur Chaos. Chaos aber gestaltet nicht selbst, sondern wird gestaltet von Männern, die seine Kraft und sein Sehnen am besten verkörpern. Immer wieder stößt man auf die niederdrückende Feststellung, daß in den Männern der Revolution von 1918 kein Wissen lebte von der zu errichtenden neuen deutschen Gemeinschaft.“14 Als Julius Leber im Juni 1933 seine Analyse verfasste, war an einen Wiederaufbau der SPD nicht im Entferntesten zu denken. Leber selbst wurde vier Jahre durch Gefängnisse und Konzentrationslager geschleppt und hat danach sieben Jahre im illegalen Widerstand gearbeitet. 1944 wurde er erneut verhaftet und am 5. Januar 1945

11 12 13 14

Ebenda, 201. Ebenda, 190. Ebenda, 202. Ebenda, 203.

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hingerichtet. Seine „Gedanken zum Verbot der deutschen Sozialdemokratie“ wurden erstmals 1952 veröffentlicht. Sehr kritisch bezog auch das „Prager Manifest“ des Exil-Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom Januar 1934 Position zum Verhalten der SPD-Spitze in der Revolution von 1918/19 – allerdings ohne die Verantwortlichen explizit zu benennen. Der Entwurf des Papiers, mit dem der Exil-Vorstand sich auch als Autorität für die illegal operierenden sozialdemokratischen Gruppen in Deutschland präsentieren wollte, stammte von Rudolf Hilferding. Der Begriff „Revolution“ wurde im Prager Manifest nicht für die Revolutionsmonate 1918/19 verwendet, sondern für die noch anstehenden Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Machthabern. Bei den Vorgängen ab November 1918 habe es sich nicht um einen bewussten revolutionären Akt gehandelt. „Nicht durch den organisierten, vorbereiteten, gewollten, revolutionären Kampf der Arbeiterklasse, sondern durch die Niederlage auf den Schlachtfeldern wurde das kaiserliche Regime beseitigt. Die Sozialdemokratie als einzig intakt gebliebene organisierte Macht übernahm ohne Widerstand die Staatsführung, in die sie sich von vornherein mit den bürgerlichen Parteien, mit der alten Bürokratie, ja mit dem reorganisierten militärischen Apparat teilte. Daß sie den alten Staatsapparat fast unverändert übernahm, war der schwere historische Fehler, den die während des Krieges desorientierte deutsche Arbeiterbewegung beging [letzter Satz fett gedruckt].“15 Ein „schwerer historischer Fehler“ wurde benannt, die Analyse der Ursachen reichte aber mit der Charakterisierung „desorientiert“ nicht sehr tief. Dennoch gab das Prager Manifest sich zuversichtlich: „Die neue Situation schließt jede Wiederholung aus. Die Niederwerfung des nationalsozialistischen Feindes durch die revolutionären Massen schafft eine starke revolutionäre Regierung, getragen von der revolutionären Massenpartei der Arbeiterschaft, die sie kontrolliert. Die erste und die oberste Aufgabe dieser Regierung ist es, die Staatsmacht für die siegreiche Revolution zu sichern, die Wurzeln jeder Widerstandsmöglichkeit auszureißen, den Staatsapparat in ein Herrschaftsinstrument der Volksmassen zu verwandeln.“16 Es folgte eine lange Liste „einschneidender politischer und sozialer Maßnahmen zur dauernden völligen Entmachtung des besiegten Gegners“, die auch erschließen ließ, was der Exil-Vorstand der SPD im nachhinein 1918/19 für notwendig gehalten hätte, u. a.: „Aufhebung der Unabsetzbarkeit der Richter, Besetzung aller entscheidenden Stellen der Justiz durch Vertrauensmänner der revolutionären Regierung. […] Reinigung der Bürokratie [bis hier fett gedruckt], sofortige Umbesetzung aller leitenden Stellen. Organisierung einer zuverlässigen Militär- und Polizeimacht. Völlige Erneuerung des Offizierskorps. […] Unterbindung jeder konterrevolutionären Agitation. […] Sofortige entschädi-

15 Das Prager Manifest von 1934, zit. nach: Wolfgang Abendroth: Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie (antworten 9), Frankfurt am Main 1964, hier 116. 16 Das Prager Manifest von 1934, zit. nach: Ebenda, 116.

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gungslose Enteignung der Großgrundbesitzer. […] Sofortige entschädigungslose Enteignung der Schwerindustrie. […] Vergesellschaftung und Übernahme der Großbanken durch die vom Reich bestimmten Leitungen. Erst nach der Sicherung der revolutionären Macht und nach restloser Zerstörung der kapitalistisch-feudalen und politischen Machtposition der Gegenrevolution beginnt der Aufbau des freien Staatswesens mit der Einberufung einer Volksvertretung“[ab „Unterbindung jeder… fett gedruckt].17 Auch im Hinblick auf die Strategie zeigten die Konsequenzen, die man nun ziehen wollte, was man im Hinblick auf 1918/19 möglicherweise für einen Fehler hielt: „In diesem Kampf wird die Sozialdemokratische Partei eine Front aller antifaschistischen Schichten anstreben. (…) Die Differenzen in der Arbeiterbewegung werden vom Gegner selbst ausgelöscht. Die Gründe der Spaltung werden nichtig. [bis hier fett gedruckt] […] Die Einigung der Arbeiterklasse wird zum Zwang, den die Geschichte selbst auferlegt.“18 Angesichts des Endes der Weimarer Republik kam unter sozialdemokratischen Exilanten und Emigranten auch das Urteil auf, dass der Verlauf der Revolution von 1918/19 wesentlich zum Scheitern beigetragen hatte. Neben selbstkritischen Stimmen sahen aber vor allem ehemals führende Sozialdemokraten die Verantwortung für das Scheitern primär bei anderen – etwa der ehemalige Preußische Ministerpräsident Otto Braun, der in seinen Erinnerungen auf „Moskau und Versailles“ verwies19 oder der ehemalige Chefredakteur des „Vorwärts“ Friedrich Stampfer, der in seiner erstmals 1936 in Karlsbad veröffentlichten, persönlich gefärbten Schrift über „Die vierzehn Jahre der ersten deutschen Republik“ vor allem die Bedeutung der Weltwirtschaftskrise für das Scheitern der Republik herausstrich und im übrigen die Verantwortung vor allem bei den Kommunisten sah.20 Während der Revolutionszeit ging es nach Stampfers Überzeugung um die Frage Demokratie oder Diktatur. Die erfolgreiche Abwehr spartakistisch-kommunistischer Angriffe auf die Demokratie waren in seinen Augen ein wesentliches Charakteristikum der Revolutionszeit. Sehr deutlich stellte Stampfer die sozialen und politischen Veränderungen heraus, die die Revolution gebracht hatte. Er sah die Revolution als Geburtstunde der deutschen Demokratie und beurteilte die Politik der MSPD-Führung während der Revolutionszeit ausgesprochen positiv. Die Republik habe im Inneren das Ende der politischen Klassenprivilegien, der Gesinnungssklaverei, des Herr-im-Haus-Standpunktes gebracht. „Sie machte den Arbeiter und die Frau zu gleichberechtigten Staatsbürgern. Sie gab dem deutschen Volk die menschlich-freieste Zeit seiner bisherigen Geschichte.“21

17 Das Prager Manifest von 1934, zit. nach: Ebenda, 117. 18 Das Prager Manifest von 1934, zit. nach: Ebenda, 121. 19 Otto Braun: Von Weimar zu Hitler, 2. Aufl., New York 1940, hier 5. 20 Friedrich Stampfer: Die vierzehn Jahre der ersten deutschen Republik, 3. Aufl., Hamburg 1947, hier 106f. 21 Ebenda, 670.

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Es herrschte also unter den Exilanten kein Konsens darüber, ob und in welchem Ausmaß die Politik der MSPD in der Revolution zum Scheitern der Republik beigetragen hatte. Ernst Fraenkel, sozialdemokratischer Jurist und Politikwissenschaftler, sah bei allen negativen Konsequenzen im Grunde kaum Gestaltungsspielraum in der Revolutionszeit. Er schrieb 1943 in einer Reflexion zum 25. Jahrestag des 9. November 1918 in der New Yorker „Neuen Volkszeitung“: „Die einen haben uns entrüstet vorgeworfen, daß wir Sozialdemokraten eine Revolution, die anderen ebenso entrüstet, daß wir keine Revolution gemacht hätten […] In diesem Vorwurf spiegelt sich die Logik eines Umsturzes wider, der eine politische Umwälzung herbeiführte, aber eine soziale Revolution vermied. Und weil der Neunte November somit eine halbe Revolution war – unter den besonderen Verhältnissen des verlorenen Krieges damals nichts anderes sein konnte – ist uns vierzehn Jahre später eine ganze Niederlage bereitet worden.“22 Dennoch war Fraenkel der Überzeugung, dass der 9. November nicht vergeblich gewesen sei: „Was immer man auch sonst vom 9. November halten mag, jenes Beispiel wird geschichtsbildende Kraft behalten. Ein Volk, das einmal in kritischer Stunde sein Geschick in die eigene Hand genommen hat, wird auf die Dauer niemals wieder ganz entmündigt werden können.“23 Von solchem Optimismus war Theodor Wolff weit entfernt. Der bürgerlich-liberale Publizist, seit 1906 Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“, hatte 1918 die Deutsche Demokratische Partei mit begründet. 1933 emigrierte er nach Frankreich, er starb 1943 im Konzentrationslager. In seinen 1936 in Amsterdam erschienenen Erinnerungen formulierte er Gedanken, die in mancher Hinsicht denen Julius Lebers durchaus nahe kamen: „Unter dem ermüdeten Novemberrock schlug auch nur selten ein leidenschaftlich revolutionäres Herz. Keine Literatur hatte die Geister auf die Republik vorbereitet. Kein Freiligrath, kein Herwegh hatte mit der Wucht des poetischen Wortes an den Fürstenthronen gerüttelt, und die Prosa der radikalsten Kritiker hatte gerade bei der Staatsform am wenigsten verweilt. Es gab, nimmt man eine Rosa Luxemburg aus, keine starke revolutionäre Figur. […] die sozialdemokratischen Führer waren wie ein Mime, der immer fleißig und anständig die Rolle des alten Vater Miller in ‚Kabale und Liebe‘ gespielt hat und plötzlich den jungen feurigen Ferdinand darstellen soll. Sie waren gezwungen, die revolutionäre Sache in die Hand zu nehmen, weil es eine proletarische Bewegung war und weil sie nicht zulassen konnten, dass der unausgereifte Rebell und der bolschewistische Spartakismus ihnen die Arbeiterschaft entrissen und ein Chaos erzeugten, vor dem ihre alte,

22 Ernst Fraenkel: Novembergedanken, in: Neue Volkszeitung 1943 (13.11.1943), S. 2, zit. nach Reinhard Rürup (Hg.): Arbeiter- und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Studien zur Geschichte der Revolution 1918/19, Wuppertal 1975, hier 13. 23 Fraenkel: Novembergedanken, 13.11.1943, (wie Anm. 22), zit. nach Rürup: Arbeiter- und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, 1975, (wie Anm. 22), hier 13.

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an Ordnung, Vernunft und Disziplin gewöhnte Gewerkschafterseele Abscheu empfand.“24 Hellmut von Gerlach, linksliberaler Publizist und 1919 Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium, sprach in seinen Erinnerungen von „schweren Unterlassungssünden“. Gerlach war 1933 nach Frankreich emigriert, seine Erinnerungen erschienen 1937 in Zürich. „Spielend leicht wäre es damals gewesen, wie in Österreich die Fürstenvermögen zu Gunsten des Volkes zu enteignen. […]Weit schwerer wiegt noch die zweite Unterlassungssünde, dass man nicht den Finger gegen den Großgrundbesitz gerührt hat. In Estland, Litauen, Lettland, Polen und der Tschechoslowakei wurde die Masse der Landbevölkerung der neuen Staatsordnung durch eine Agrarreform gewonnen, die den Großgrundbesitz radikal beschnitt. Bei uns waren die Bauern und namentlich die Bauernsöhne damals fast sämtlich ‚rot‘. Sie erwarteten, dass nun endlich ihr Landhunger gestillt werden würde. Aber nichts Derartiges geschah. […] Die Junker behielten ihre ganze Wirtschaftsmacht, die sie seitdem so trefflich gegen die Republik ausgenützt haben. Die Bauern aber waren tief enttäuscht, dass ihnen die Republik zwar neue Steuern, aber kein neues Land gebracht hatte, und marschierten wieder nach rechts. Die Republik blieb einbeinig, eine städtisch-industrielle Angelegenheit.“ Kritikern hielt Gerlach aber auch entgegen, sie müssten „die verzweifelt schwierige Lage der ersten Monate“ bedenken. „Da waren es die außenpolitischen Verhältnisse, die täglich neue Sorgen heraufbeschworen. Der Siegesrausch der Entente erbitterte das deutsche Volk, das sich von der Bekehrung zur Demokratie einen erträglichen Frieden versprochen hatte. Alles musste die Regierung versuchen, um die Waffenstillstands- und Friedensbedingungen wenigstens von Fall zu Fall zu mildern.“25 Kein Erinnerungsbuch, aber doch sehr von persönlichen Erfahrungen und Eindrücken geprägt war Paul Frölichs Biografie „Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat“. Frölichs Ziel war nicht, sich kritisch mit den Positionen Luxemburgs auseinanderzusetzen, sondern sie einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Die erste Ausgabe der Biografie erschien Ende August 1939 in Paris, im folgenden Jahr gab es eine Londoner Ausgabe, und schließlich erschien das Buch 1949 auch im Hamburger Verlag Friedrich Oetinger. Erstmals stellte Frölich Leben und Werk Rosa Luxemburgs im Zusammenhang dar und vermied Verzerrungen, die von Anfang an über sie – Frau, Jüdin, Kommunistin, Polin – im Umlauf gewesen waren. Als unabhängiger kommunistischer Kopf ging Frölich dabei auch ausführlich auf Rosa Luxemburgs Kritik an den Maßnahmen der Bolschewiki und ihre Sorge um die russische Revolution in den Jahren 1917/18 ein. Diese Kritik war von unmittelbarer Bedeutung für

24 Theodor Wolff: Der Marsch durch zwei Jahrzehnte, Amsterdam 1936, zit. nach Susanne Miller/ Gerhard A. Ritter: Die November-Revolution im Erleben und Urteil der Zeitgenossen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18 (1968), H. 45, S. 3–40, hier 20. 25 Hellmut v. Gerlach: Von Rechts nach links, Zürich 1937, zit. nach Miller et al.: Die November-Revolution im Erleben und Urteil der Zeitgenossen, 1968, (wie Anm. 24), hier 19.

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Luxemburgs Haltung in der deutschen Revolution von 1918/19, denn der „Kernpunkt der Luxemburgschen Kritik“ betraf die Stellung der Bolschewiki „zur Konstituante und zur Demokratie.“26 Rosa Luxemburg war keine Sozialdemokratin im Sinne der MSPD-Führung, daran ließ Frölich keinerlei Zweifel aufkommen. Sie war eine Revolutionärin, trat mit aller Kraft für die sozialistische Revolution ein. „Rosa wollte die rücksichtslose Niederwerfung des gegenrevolutionären Widerstandes und der Sabotage der sozialistischen Maßregeln. Aber sie wollte nicht auf die Kritik verzichten, auch nicht die feindliche Kritik. Denn nur in der ungehemmten Kritik sah sie das Mittel, die Erstarrung des staatlichen Apparates in reinen Bureaukratismus zu verhindern. Darum ständige öffentliche Kontrolle, Presse- und Versammlungsfreiheit. ‚Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden.‘“27 In Frölichs Augen ähnelte der Verlauf der deutschen Novemberrevolution „verblüffend der französischen Februarrevolution“ und er fragte sich, warum die seither erfolgte Entwicklung der Wirtschaft „nicht einen glatten Sieg der proletarischen Revolution mit sich brachte.“ In seinen Augen war dies auf die ambivalente Wirkung der russischen Revolution zurückzuführen: „Sie stellte Wesen und Ziel der Revolution in voller Klarheit vor aller Augen, und die bürgerlichen Schichten begriffen schneller als die proletarischen. Die Kapitalistenklasse mit ihrem kleinbürgerlichen und feudalen Anhang zog sofort großzügig die Schlüsse aus der Situation. Sie machte der Arbeiterklasse politische und wirtschaftliche Konzessionen mit dem Hintergedanken, das aufgegebene Terrain später zurückzuerobern. Zugleich war sie zur rücksichtslosen Verteidigung der politischen Macht und brutalen Niederwerfung des Gegners entschlossen. Sie gruppierte alle Kräfte um die deutsche Sozialdemokratie. […] In Deutschland war der Generalstab der alten Sozialdemokratie, die Ebert, Noske, Legien, Scheidemann, Landsberg usw., vom ersten Tage an bewußt konterrevolutionär. Gewillt, die Macht anzunehmen, die Ihnen der Novembersturm in den Schoß geweht hatte, waren sie gegen jede sozialistische Politik, gegen jede Initiative der Massen, die Gesellschaft umzugestalten.“28 Wesentlicher Bestandteil der gegenrevolutionären Strategie sei die Diskreditierung der Linken gewesen. „Eine Schlammflut von Verleumdungen ergoß sich in diesen Wochen über den Spartakusbund. Seine Führer wie seine Anhänger wurden als Bestien hingestellt, die in geilem Sadismus nur Schrecken und Blutvergießen planen.“29 Dabei habe doch auch das von Rosa Luxemburg formulierte Programm der KPD keine Zweifel daran gelassen, dass sie keine Partei der Gewalt und des Putschismus gewesen sei. „Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der 26 27 28 29

Paul Frölich: Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat, Hamburg 1949, hier 290. Ebenda, 293. Ebenda, 307f. Ebenda, 315.

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großen Mehrheit der proletarischen Masse in ganz Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewußten Zustimmung zu den Ansichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes.“30 Der Spartakusbund hätte, das machte Frölich unmissverständlich klar, auch nicht die Stärke und Schlagkraft für eine andere Politik gehabt. Er „war eine lose Organisation, die während des Krieges einige tausend Mitglieder zählte.“31 Nachdem die Entscheidung für die schnellstmögliche Wahl einer Nationalversammlung gefallen war, sei Rosa Luxemburg für die Beteiligung der KPD an diesen Wahlen eingetreten. Sie hielt die Nationalversammlung für „eine gegenrevolutionäre Festung“, die es jetzt „zu berennen und zu schleifen“ gelte.32 Angesichts der Programmatik der KPD und der Aussagen von Luxemburg stellte sich auch Paul Frölich die Frage, warum die KPD Anfang Januar einen Aufstand unternommen habe. Seine klare Antwort: „Die Wahrheit ist: es hat keinen Spartakusaufstand gegeben. […] Die Wahrheit ist, daß die Januarkämpfe von der Leitung der Konterrevolution mit Umsicht und Entschlossenheit vorbereitet und mit Tücke herausgefordert worden sind.“33 Mit Hinweis auf die gesamte Berichterstattung und Agitation der „Roten Fahne“ in den Januartagen vertrat Frölich die Position, dass nichts auf einen systematisch vorbereiteten Aufstand hingedeutet habe. „Die Initiative zu diesem Entscheidungskampf lag also vollkommen bei der Gegenrevolution.“34 Spartakus sei von einer revolutionären Massenbewegung mitgerissen worden, ohne die Kontrolle über diese Massenbewegung gewinnen zu können. Auch was die Folgen angeht, bezog Frölich eine klare Position: „Dem Januarkampf folgte ein Feldzug der Noskeschen Bürgerkriegsarmee von Stadt zu Stadt, durch den die bürgerliche Republik gerettet wurde. Nicht für immer. Der Sieg der Konterrevolution im Januar 1919 hat den Sieg Hitlers im Januar 1933 nach sich gezogen.“35 Während der Einfluss von Frölichs Luxemburg-Biografie auf Kreise der unabhängigen kommunistischen Linken begrenzt blieb, entfalteten Arthur Rosenbergs Bücher breite Wirkung, vor allem unter den Historikern der USA und Großbritanniens. Rosenberg hatte sich bereits 1928 mit der „Entstehung der Deutschen Republik“ beschäftigt und dabei das Kriegsende und die Novemberrevolution dargestellt (vgl. Kap. 7). 1935 erschien dann in Karlsbad sein Werk über „Die Geschichte der Deutschen Republik“ (vgl. Kap. 7). Rosenbergs Arbeit kam aufgrund ihrer wissenschaftlichen Durchdringung des Gegenstandes, aber auch aufgrund ihrer Deutung der Revolution von 1918/19 eine singuläre, herausragende Position zu. Rosenbergs Darstellung stand ganz unter dem Eindruck des Scheiterns der Republik. Als große Leitfrage durchzog die nach Versäumnissen und Fehlern das

30 31 32 33 34 35

Ebenda, 317. Ebenda, 326f. Ebenda, 329. Ebenda, 334. Ebenda, 338. Ebenda, 352.

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gesamte Buch, auch seine Deutung der Revolution von 1918/19. Die Novemberrevolution hatte in Rosenbergs Augen „die Dynastien beseitigt, aber sonst am deutschen Staatsbau nichts Entscheidendes geändert.“36 Die Revolution sei Anfang November ungeheuer populär gewesen. Am 10. November 1918 habe überall in Deutschland die reale Gewalt bei den Arbeiter- und Soldatenräten gelegen, die sich auf revolutionäre Truppenteile und auf die Arbeiterschaft stützten, die sich an vielen Orten gleichfalls bewaffnet hatte. Die Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten im November hatte nach Rosenbergs Überzeugung mit „Bolschewismus“ nichts zu tun. Es seien „echte“ Räte gewesen. Es habe in der deutschen Republik ja auch gar keine Partei gegeben, die imstande gewesen wäre, eine Diktatur über die Räte auszuüben, wie das in Russland Praxis der Bolschewiki im Umgang mit den Sowjets war. „Der Spartakusbund wäre viel zu schwach gewesen, um die deutschen Arbeiter- und Soldatenräte zu tyrannisieren. Überdies hätten seine theoretischen Führer, vor allem Rosa Luxemburg, derartige Experimente einer Parteidiktatur über das Proletariat selbst aufs schärfste zurückgewiesen. […] Die große politische Frage lautete, ob die Regierung der Räte in Deutschland bestehen bleiben oder ob sie durch einen anderen Zustand wieder abgelöst werden sollte.“37 Mit dieser Frage sei vor allem die Sozialdemokratie konfrontiert gewesen, die nach der Revolution als „Herrin der Situation“ übrig geblieben war. Gestützt auf die roten Soldaten und Arbeiter, sollte sie den Neubau der deutschen Republik vollenden. „Das war freilich eine Aufgabe, von der die deutsche Sozialdemokratie völlig unvorbereitet getroffen wurde.“38 Das alte historische Ideal der deutschen Sozialdemokratie sei die parlamentarische Republik gewesen. Die mehrheitssozialistischen Funktionäre wollten „von einer bolschewistischen Gewaltherrschaft nichts wissen, und sie erkannten nicht, daß Räte und Bolschewismus keineswegs identisch sind. […] In den Räten erblickte man nur eine Übergangserscheinung. Sie waren Produkte der revolutionären Unordnung, und sie sollten so schnell wie möglich verschwinden“39 Die aus der Kriegssituation entstandene Spaltung der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung mit ihren Flügelkämpfen in allen drei Organisationen war nach Rosenbergs Urteil im November 1918 völlig unangemessen. Nach der politischen Logik, so Rosenberg, hätten nur zwei Parteien existieren sollen: eine große demokratische Arbeiterpartei, die zunächst im Rahmen des bürgerlichen Staates arbeiten und nur langsam und vorsichtig sozialisieren wollte. Zu dieser Partei hätten alle Mehrheitssozialisten und der rechte Flügel der USPD gehören können, es wäre die Regierungspartei gewesen. Ihr gegenüber hätte die kleinere Oppositionspartei der

36 Arthur Rosenberg: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1961, hier 6. 37 Ebenda, 17. 38 Ebenda, 11. 39 Ebenda, 20.

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konsequenten Sozialisten stehen können. Sie hätte sich aus den linken Unabhängigen, also v. a. dem Kreis der Revolutionären Obleute und den Anhängern Rosa Luxemburgs im Spartakusbund zusammensetzen können. Diese zweite Partei hätte auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie ohne putschistische Abenteuer Opposition gemacht. Außerhalb beider Parteien hätte das kleine Häuflein der hemmungslosen Utopisten gestanden, das ohne die Autorität eines Liebknecht und einer Luxemburg politisch bedeutungslos gewesen wäre. „Es gehört mit zum Verhängnis der deutschen Revolution, daß die notwendigen Spaltungen der USPD und des Spartakusbundes gar nicht, beziehungsweise viel zu spät, erfolgten. […] Durch die verworrenen Parteiverhältnisse ergab sich die Gefahr, daß diese breite Mitte der sozialistischen Bewegung ausgeschaltet wurde und die äußerste Rechte und die äußerste Linke hemmungslos aufeinander losschlugen.“40 Auch die Politik der Volksbeauftragten trug in Rosenbergs Augen massiv zum „verhängnisvollen“ Verlauf der Revolution 1918/19 bei. Die Volksbeauftragten, so Rosenberg, seien auf den alten Gebieten der SPD aktiv gewesen, der Sozialpolitik und dem Wahlrecht. Alles andere „wurde entweder ignoriert oder nur zaghaft und unzulänglich angefaßt.“41 Mindestens auf zwei Gebieten wäre ein ernsthafter Eingriff in private Eigentumsverhältnisse im Interesse der deutschen Demokratie damals notwendig gewesen, nämlich beim Großgrundbesitz und beim Bergbau. Rosenberg vertrat zwar die Auffassung, „daß der Ruf nach dem Sozialismus nicht eine Ursache, sondern eine Folge der Novemberrevolution gewesen ist.“ Das habe ihn nach dem 9. November nicht weniger wirksam und bedeutsam gemacht. „In weiten Schichten des Volkes, nicht nur bei den Arbeitern, sondern auch bei Intellektuellen usw., war die Überzeugung verbreitet, daß die alte kapitalistische Ordnung sich überlebt habe und daß sie einer neuen Form des Wirtschaftslebens Platz machen müsse.“42 Ebenso katastrophal wie die Wirtschaftspolitik der Volksbeauftragten sei ihre Militärpolitik gewesen, stellte Rosenberg bündig fest43 und bemerkte nicht ohne eine gewisse Ironie: „In den großen Revolutionen der Weltgeschichte haben die neuen Führer sich zugetraut, auf dem Schlachtfeld zu siegen. Die Männer der deutschen Revolution von 1918 glaubten nicht einmal, daß sie ohne Hilfe der kaiserlichen Generäle die Truppen nach Hause bringen könnten.“44 Nach Rosenbergs Überzeugung erkannten die leitenden Offiziere von Anfang an, dass sie ihre Ziele nicht im Frontalangriff erreichen konnten. Sie versuchten, den konservativen Flügel der Mehrheitssozialisten gegen die Unabhängigen, die Spartakisten und überhaupt gegen die Räte, zu mobilisieren. Durch eine Koalition zwischen dem rechten Flügel der Mehrheitssozialisten, den Offizieren und dem Bürgertum sollte es nach diesem Kalkül

40 41 42 43 44

Ebenda, 25f. Ebenda, 29. Ebenda, 19. Ebenda, 35. Ebenda, 36f.

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möglich sein, den revolutionären Sozialismus niederzuwerfen. „Wenn es den Offizieren gelang, dieses Ziel zu erreichen, dann war der bürgerliche Staat in Deutschland gesichert, aber der demokratische Sozialismus tot.“45 Neben einer katastrophalen Wirtschafts- und Militärpolitik kritisierte Rosenberg auch den Umgang mit dem Beamten- und Justizapparat. „Es ist unmöglich, einen revolutionären Staat mit dem Beamten- und Justizapparat des vergangenen Systems aufzubauen. Aber in der deutschen Republik sollte dieses Wunder wirksam werden.“46 Die Januarkämpfe des Jahres 1919 waren nach Rosenbergs Überzeugung „die entscheidende Wendung der deutschen Revolution, denn damals wurde die Offensivkraft der radikalen Arbeiterschaft gebrochen.“47 Eigentlich habe niemand den Aufstand zu Beginn des neuen Jahres gewollt. Von einer ernsthaften bolschewistischen Gefahr habe keine Rede sein können. Nicht aus der Gewaltanwendung als solcher habe sich das „Verhängnis für die deutsche Republik“ ergeben, sondern vielmehr daraus, dass Noske sich auf Freikorps und auf andere Truppenteile gestützt habe, die von Offizieren der alten Armee gebildet worden seien. „Die Oberste Heeresleitung und die Generäle hatten von Anfang an die Situation herbeigesehnt, in der sie im Auftrage von Ebert die radikale Arbeiterschaft niederschlagen konnten. […] Die Offiziere der Freikorps waren von einem leidenschaftlichen Haß gegen die Revolution erfüllt, die das alte Heer und das alte Kaiserreich zerschlagen hatte. Wenn sie vorläufig noch den Mehrheitssozialisten dienen mußten, so rechneten sie um so lieber mit dem Spartakismus ab.“48 Ausdrücklich trat Rosenberg allen Unterstellungen von Seiten der KPD entgegen, der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sei von Ebert und seinen politischen Freunden angeordnet worden. Dafür gebe es nicht den geringsten Beweis.49 Der Mord sei auch „ein furchtbarer Schlag“ für die Regierung der Republik gewesen. „Die Masse der deutschen Arbeiter erkannte jetzt mit Schrecken, was für Truppen zum Schutz der Republik durch Ebert und Noske gerufen waren. Die Entrüstungsopposition eines großen Teils der deutschen Arbeiterschaft gegen die mehrheitssozialistische Partei nahm eigentlich vom 15. Januar 1919 ihren Ausgang.“ Das Ergebnis habe man auch an den Wahlurnen verfolgen können: „In dem Jahre, das auf die Wahlen zur Nationalversammlung folgte, hat die Mehrheitssozialdemokratie ungefähr die Hälfte ihrer Anhänger verloren. Die USPD erlebte dank dem Noskekurs einen mächtigen Aufschwung.“50

45 46 47 48 49 50

Ebenda, 37. Ebenda, 39. Ebenda, 60. Ebenda, 59. Ebenda, 62. Ebenda, 65.

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So war die revolutionäre Regierung in Rosenbergs Augen an ihrer Zaghaftigkeit bei Veränderungen gescheitert. Nicht nur die eigenen Anhänger hätten sich abgewandt, sondern auch die Mittelschichten, die anfangs durchaus bereit gewesen seien, die neue Ordnung anzuerkennen und beim demokratischen Aufbau der Republik mitzuwirken. Gestützt auf die Räte hätte die Regierung der Volksbeauftragten nach Rosenbergs Überzeugung eine Politik ernsthafter Veränderungen einleiten müssen, um der Republik eine stabilere Grundlage zu geben. Arthur Rosenbergs „Geschichte der Deutschen Republik“ und seine „Entstehung der Deutschen Republik“ erschienen nicht nur in deutscher Sprache, sondern wurden bereits in den Dreißigerjahren in viele Sprachen übersetzt. Ein Vergleich mit Heinrich Ströbels „Die deutsche Revolution“ zeigt, dass Ströbel als Politiker des rechten Flügels der USPD wesentliche Positionen Rosenbergs bereits 1920 umrissen hat. Die von Ströbel repräsentierte Position, in der Revolution sei die Chance ungenutzt geblieben, eine demokratische Republik mit stabilerer sozialer Grundlage zu schaffen, ging allerdings aufgrund der Spaltung der USPD politisch „verloren“, wurde weder von der SPD noch von der KPD vertreten und erst unter dem Eindruck des Scheiterns der Republik „wieder entdeckt“ – sicher nicht zufällig von einem Historiker, der in der deutschen Zunft ein Außenseiter war und politische Wechsel zwischen KPD und SPD hinter sich hatte. Bei aller Unterschiedlichkeit der Äußerungen von Exilanten im Einzelnen war nicht zu übersehen: Der Machtantritt Hitlers hatte Perspektive und Beurteilungsmaßstäbe radikal verändert, die man im Exil bei der Deutung der Revolution von 1918/19 zugrunde legte.

4 Bundesrepublik Deutschland Wiederherstellung der Souveränität – 1945–1955 Die Revolution von 1918/19 in der Geschichtskultur Im Hinblick auf die öffentlich formulierten politischen Deutungsmuster der Revolution von 1918/19 bedeutete das Jahr 1945 einen deutlichen Einschnitt. Von einem „Verrat an Kaiser und Reich“ war nach dem Ende des „Dritten Reiches“ und des Zweiten Weltkriegs zunächst keine Rede mehr, jeder Gedanke an Monarchie lag völlig außerhalb des politisch Denkbaren. Des Weiteren hatte das nationalsozialistische Regime sich selbst zur Antwort auf „Schmach“ und „Novemberverbrechen“ stilisiert und sich damit in direkte Verbindung zu bestimmten Deutungen der Revolution von 1918/19 gebracht. Nach dem Mai 1945 war deshalb eine Reihe von Interpretationsmustern des Revolutionsgeschehens obsolet, die mit dem NS-Regime assoziiert wurden. Von einem „Verrat am Vaterland“ sprach im Zusammenhang mit der „Novemberrevolution“ kaum mehr einer, auch von einem „Nationalen Unglück“ war nicht mehr die Rede – angesichts der Lage Deutschlands am Ende des Zweiten Krieges mehr als nahe liegend. Auch die Dolchstoßthese war hoffnungslos diskreditiert. Von ihr, die bereits in der Zeit der Weimarer Republik nicht nur die politischen Debatten geprägt hatte, sondern auch die Positionen der weit überwiegenden Mehrheit der Historiker, nahm man sang- und klanglos Abschied. Ohne erneute Diskussion oder nachdrückliche Beweisführung etablierte sich in Wissenschaft und Öffentlichkeit der Konsens, dass sie eine Geschichtslüge darstelle. „‚Dolchstoßlegende‘, in der Weimarer Zeit eine Bezeichnung, die von der politischen Rechten als Propaganda gesehen wurde und dann zwölf Jahre lang aus der Sprache verbannt war, wurde jetzt die alleingültige Bezeichnung für die ‚Dolchstoß‘-These.“1 Für viele Zeitgenossen aber auch für viele Historiker gilt die Feststellung von Fritz Ernst, sie hätten bis 1933 mit dem „Dolchstoß“ in Bausch und Bogen operiert, nach 1945 aber diese Behauptung mit der gleichen Entschiedenheit als „Legende“ abgelehnt.2 Das Verschwinden bestimmter Deutungsmuster aus dem Raum der öffentlichen Debatte darf allerdings nicht gleichgesetzt werden mit ihrer vollständigen Beseitigung. Darauf hat Eberhard Kolb zu Recht hingewiesen. Weil wesentliche Elemente der NS-Deutung der Revolution schon vor 1933 im nationalen Bürgertum weit verbreitet waren, „ist davon auszugehen, daß mit dem Ende des ‚Dritten Reiches‘ das auf Haßprojektionen beruhende Bild der Revolution von 1918 nicht schlagartig von

1 Bernd W. Seiler: „Dolchstoß und Dolchstoßlegende“, in: Zeitschrift für deutsche Sprache 22 (1966) S. 1–20, hier 18. 2 Fritz Ernst: Zum Ende des Ersten Weltkrieges, in: Die Welt als Geschichte 17 (1957), S. 55–67, hier 61.

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einem Tag zum anderen aus der kollektiven Erinnerung verschwunden ist, sondern über das Jahr 1945 hinaus bei vielen Menschen zumindest residual fortlebte.“3 Vor allem aber ist festzustellen, dass die Revolution von 1918/19 in den westlichen Besatzungszonen kein Gegenstand unmittelbarer politischer Erörterungen war – im Gegensatz zur sowjetischen Zone. Auch in historisch-politisch argumentierenden Aufrufen aus den Reihen der Sozialdemokratie ging es in allererster Linie um die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und die Notwendigkeit, jetzt ein friedliches und demokratisches Deutschland neu aufzubauen. Die Herrschaft des „Militarismus“ müsse ebenso dauerhaft gebrochen werden wie die des „Monopolkapitals“, das Hitler zur Macht verholfen habe.4 Sozialismus galt bis weit ins bürgerliche Lager hinein als das Gebot der Stunde. Aber die Begründungszusammenhänge in politischen Texten und Reden umfassten nicht die Revolution von 1918/19, auf sie wurde nicht Bezug genommen. Das sah bei den Memoiren ehemals führender Sozialdemokraten anders aus, sie behandelten natürlich regelmäßig auch die Revolution von 1918/19. Gustav Noske hatte die Niederschrift seiner Erinnerungen bereits 1936 abgeschlossen, das Buch mit dem Titel „Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie“ erschien 1947. Es offenbarte einen völlig verbitterten Autor, der sich von Öffentlichkeit und Partei unverstanden fühlte – die SPD hatte sich bereits in den Zwanzigerjahren von ihm abgewandt. „Wehe den Besiegten!“5 waren die letzten Worte des Textes – und er meinte damit seine eigene Person. Im Hinblick auf die Revolution von 1918/19 blieb Noske ganz bei der Linie, die er schon 19206 (vgl. Kap. 7) und 19287 formuliert hatte: Die SPD habe eine Revolution nicht gewollt und habe erst als alle Dämme gebrochen waren die Leitung der Bewegung in die Hand genommen, „die ohne sie zur Vernichtung jeder Ordnung in Deutschland geführt hätte.“8 Für Kämpfe und Bürgerkrieg sei ausschließlich die „kommunistische Hetze“ verantwortlich gewesen, „die an zahlreichen Orten zum Bürgerkrieg führte.“9 Im Wesentlichen sei es um die mühsame Abwehr des Bolschewismus gegangen, die Autorität der Regierung habe zum Teil nur durch blutige Kämpfe hergestellt werden können.10 Der sozialdemokratisch orientierte Bollwerk-Verlag schrieb Noske nicht nur zu, „als Oberbefehlshaber der Reichs-

3 Eberhard Kolb: Revolutionsbilder. 1918/19 im zeitgenössischen Bewusstsein und in der historischen Forschung (Kleine Schriften der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte 15), Heidelberg 1993, hier 19. 4 Franz Osterroth/Dieter Schuster (Hg.): Chronik der deutschen Sozialdemokratie. Bd. 3. Nach dem Zweiten Weltkrieg, 2., neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Berlin, Bonn 1978, hier 13. 5 Gustav Noske: Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie, Offenbach 1947, hier 317. 6 Gustav Noske: Von Kiel bis Kapp, Berlin 1920. 7 Gustav Noske: Die Abwehr des Bolschewismus, in: Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918–1928, Berlin 1928, S. 21–38. 8 Noske: Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie, 1947 (wie Anm. 5), hier 90. 9 Ebenda, 93. 10 Ebenda, 84.

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wehr“ den „Spartakistenaufstand“ niedergeschlagen zu haben,11 sondern sah ihn auch maßgeblich daran beteiligt, die „bedrohte Einheit Deutschlands“ gerettet zu haben.12 Ganz ähnlich das Bild, das der langjährige preußische Ministerpräsident Otto Braun in seinem Erinnerungsbuch „Von Weimar zu Hitler“ zeichnete. Der Band war bereits 1939 bzw. 1940 in Zürich und New York erschienen, eine Ausgabe in Deutschland folgte 1949. Eine Alternative zur Politik der SPD habe es nicht gegeben. Es sei um Frieden, Arbeit und Brot gegangen. „Da blieb keine Zeit zu politischen Experimenten“.13 Derselbe Grundtenor beherrschte die Memoiren von Carl Severing, der wie Braun dem rechten Flügel der SPD angehörte und von 1920 bis 1926 sowie von 1930 bis 1932 als preußischer Innenminister, von 1928 bis 1930 als Reichsinnenminister amtiert hatte. Da der Westfale Severing 1919/20 Staatskommissar im Ruhrgebiet gewesen war, stellte er insbesondere seinen Kampf gegen Separationsbestrebungen heraus: „Die wirksamste Bekämpfung der Separationspläne erblickten wir alle in der schnellsten Wiederherstellung normaler Zustände, in der Schaffung eines Rechtsbodens, der jedem Staatsbürger das Gefühl der Sicherheit geben konnte. […] Dagegen wurde von den Spartakus-Anhängern eine Bewegung in Szene gesetzt, die mit dem Schlagwort der russischen Revolutionäre: ‚Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten!‘ in die Massen drang. Jeder Tag dieser wilden, verantwortungslosen Propaganda steigerte die Unruhe im Lande, erschwerte die Lebensmittelversorgung und die Betreuung der Arbeitslosen.“14 Nur durch schnelle Wahl einer Nationalversammlung war in Severings Augen ein blutiger Bürgerkrieg zu verhindern und die deutsche Einheit zu bewahren.15 Als Delegierter hatte Carl Severing im Dezember 1918 am Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin teilgenommen. Das betreffende Kapitel überschrieb er: „Diktatur oder Demokratie? – Arbeiter- und Soldatenkongreß in Berlin“.16 Severing berichtete darin nur von der Entscheidung für rasche Wahlen zur Nationalversammlung, von keinem anderen Beschluss. Zu einer anderen Deutung als die sozialdemokratische Erinnerungsliteratur kam 1948 Ossip K. Flechtheim in seiner Parteigeschichte „Die KPD in der Weimarer Republik“. Flechtheim wurde in Russland geboren, war aber in Deutschland aufgewachsen, wo er von 1927 bis 1931 Rechts- und Staatswissenschaften, Geschichte und Philosophie studiert hatte. 1933 war er aus dem preußischen Staatsdienst entlassen, 1938 ausgebürgert worden. Seine Studie schrieb er als Wissenschaftler im US-Exil.17 Flecht-

11 12 13 14 15 16 17

Ebenda, VI. Ebenda, IX. Otto Braun: von Weimar zu Hitler, Hamburg 1949, hier 19. Carl Severing: Mein Lebensweg. Bd. 1. Vom Schlosser zum Minister, Köln 1950, hier 231. Ebenda, 233. Ebenda, 231. Ossip K. Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik, Offenbach 1948, hier 295.

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heim war keineswegs ein Parteigänger der KPD, sondern setzte sich kritisch mit der „Geschichtsklitterung“ auseinander, die die Partei bei der Darstellung ihrer eigenen Geschichte betrieb.18 Er kam auf der Basis seines Quellenmaterials vor allem zu zwei für seine Darstellung der Revolution bedeutsamen Ergebnissen. Zum einen stellte er fest, dass die Räte der ersten Tage mit „Bolschewismus“ nichts im Sinn hatten: „Nur äußerlich und oberflächlich folgten die Soldaten dem russischen Vorbild, indem sie Soldatenräte bildeten, die schwarz-weiß-rote Fahne durch die rote ersetzten und sich so als Sozialisten oder gar Bolschewisten drapierten. Folglich hatten zwar am 10. November überall in Deutschland die Arbeiter- und Soldaten-Räte die Gewalt; sie folgten jedoch der politischen Führung der SPD und zwangen diese keineswegs, wirklich sozialistische Politik zu treiben.“19 Zum zweiten setzte Flechtheim– auch gestützt auf Paul Frölichs Luxemburg-Biographie – zur Zerstörung der Spartakusaufstands-These an. Er stellte detailliert die Auseinandersetzungen im Führungszirkel der gerade gegründeten KPD dar und kritisierte auch die widersprüchliche Haltung Rosa Luxemburgs, die „so zwiespältig (war), daß sie auf die richtige Forderung Radeks, von sich aus die kämpfenden Arbeiter zum Abbruch des Kampfes aufzufordern, nicht einging.“20 Frölichs Luxemburg-Biografie, erstmals 1939 in Paris erschienen, wurde 1949 in Hamburg neu aufgelegt. Paul Frölich selbst kam Ende 1950 aus dem amerikanischen Exil in die Bundesrepublik zurück, lebte in Frankfurt und schloss sich der SPD an.21 Als drittes Werk beschäftigte sich das Ledebour-Gedächtnis-Buch,22 das Georg Ledebours Frau Minna 1954 zusammengestellt hatte, mit der radikalen Linken. Georg Ledebour war bis 1918 Reichstagsabgeordneter der SPD gewesen und gehörte während der Revolution zum Kreis der „Revolutionären Obleute“. Ledebour war Mitglied des Vollzugsrates der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte gewesen und ab 1920 als USPD-Vorsitzender Mitglied des Reichstags. Ledebour gehörte zum innersten Kreis derjenigen, die Anfang Januar zum Sturz der Regierung Ebert aufgerufen hatten. Alle drei Werke ließen den Januar-Aufstand von 1919, der bis dahin in aller Regel mit dem Schlagwort „Spartakusaufstand“ bezeichnet worden war, in einem neuen Licht erscheinen – wurden aber jahrelang nicht zur Kenntnis genommen. Das galt insbesondere auch für Flechtheims historisch-politikwissenschaftliche Studie und Frölichs Pionierbiografie, denen man wissenschaftliche Relevanz nicht absprechen kann. Erst 1955, und nicht etwa in einer historischen Fachzeitschrift, sondern im SPDTheorieorgan „Die neue Gesellschaft“ wurde erstmals auf den Ertrag dieser Monographien hingewiesen: „Der Spartakusaufstand fand nicht statt!“ wurde als zentrale Aussage festgehalten, „Flechtheim, Frölich und Ledebour liefern so einen entscheid18 19 20 21 22

Ebenda, XIII. Ebenda, 38. Ebenda, 48. Paul Frölich: Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat, Hamburg 1949. Georg Ledebour. Mensch und Kämpfer. Zusammengestellt von Minna Ledebour, Zürich 1954.

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enden Beitrag zur Klärung eines der widersprüchlichsten Zeitabschnitte nicht nur in der Geschichte der SPD und KPD, sondern der neueren deutschen Geschichte überhaupt.“23 Wie noch zu zeigen sein wird, hatte die westdeutsche Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte der Vierziger- und zu Beginn der Fünfzigerjahre ganz andere Themen- und Interessenschwerpunkte als die Geschichte der Revolution von 1918/19. So war „Die Weimarer Republik“ von Ferdinand Friedensburg nicht nur die erste westdeutsche Darstellung nach dem Ende des „Dritten Reiches“, sondern blieb auch jahrelang die einzige. Das Buch erschien 1946, war aber im Manuskript bereits 1934 fertig gestellt worden.24 Friedensburg war in der Zeit der Weimarer Republik Mitglied der DDP gewesen, ein engagierter liberaler Republikaner, der 1933 aus dem Staatsdienst entlassen wurde und 1945 zu den Gründern der CDU in Berlin gehörte. Später war Friedensburg zeitweise Stellvertretender Oberbürgermeister von Groß-Berlin und bis 1965 Mitglied des Deutschen Bundestages. Es war also ein Politiker, kein Historiker, von dem die erste Nachkriegsgeschichte der Weimarer Republik stammte. Friedensburg sah die Revolutionszeit vor allem unter dem Aspekt „Abwehr der bolschewistischen Gefahr“. Nach seiner Meinung war die Revolution „im Grunde gar keine Revolution, sondern ein von außen her – durch den unglücklichen Kriegsausgang – hervorgerufener Zusammenbruch.“25 Einen inneren Zusammenhang zwischen Anfang und Ende der Republik sah Friedensburg nicht, für ihn war „der unglückliche Ausgang keineswegs notwendig“. Der „Umsturzversuch der kommunistischen Bewegung“ habe die Sozialdemokraten zwar zum Bündnis mit den Militärs gezwungen und gerade das habe neue gefährliche Probleme aufgeworfen, es sei jedoch nur einer von zahlreichen Faktoren gewesen. „Der entscheidende Übelstand lag in der politischen Unreife eines übergroßen Teils des deutschen Volkes, zu deren Beseitigung die der Republik von inneren und äußeren Gegnern gewährte Frist nicht ausreichte.“26 Am Ende der Vierziger- und zum Beginn der Fünfzigerjahre waren es vor allem Werke angelsächsischer Autoren, die sich mit der Weimarer Republik und der Revolutionszeit beschäftigten. Nicht alle diese Darstellungen sind auch in deutscher Sprache veröffentlicht worden, dennoch dürfen sie in unserem Zusammenhang keinesfalls vernachlässigt werden, denn in allererster Linie in Abgrenzung von den Positionen dieser angelsächsischen Historiker hat die bundesdeutsche Historikerschaft bis zur Mitte der Fünfzigerjahre ihre eigene Revolutionsdeutung formuliert. 1946 erschien „The Weimar Republic“ von Godfrey Scheele, und bereits der Untertitel machte deutlich, wie der Autor die Zusammenhänge sah: „Overture to the Third

23 Hans Gerd Schumann: Die Geschichte der politischen Parteien in Deutschland. Literaturübersicht (1945–1954), in: Die neue Gesellschaft (1955), S. 73–79, hier 78. 24 Karl Dietrich Erdmann: Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 3 (1955), S. 1–19, hier 4. 25 Ferdinand Friedensburg: Die Weimarer Republik, Berlin 1946, hier 363. 26 Ebenda, 369.

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Reich“.27 Scheele sprach vom „Deutschen Problem“ und traf damit die Stimmungslage in großen Teilen des alliierten Lagers, wo man den deutschen Militarismus, der zwei Mal in einem Jahrhundert einen großen Weltkrieg ausgelöst habe, für das Problem des 20. Jahrhunderts schlechthin hielt. Es war die Zeit, in der grob und holzschnittartig Verbindungslinien von Friedrich dem Großen über Bismarck und Wilhelm II. bis zu Hitler gezogen wurden. Es war die Zeit, in der darüber nachgedacht wurde, was beim ersten Versuch der Demokratiegründung in Deutschland schief gegangen war. „This work makes no attempt to propound a solution to the German problem, but seeks rather to throw light on the results of the failure to solve it a quarter of a Century ago. […] It is essential, if a solution is to be found this time, that the truth should be realised now, that there was a direct and logical road from the Republican constituents of 1919 to the totalitarian tyranny of Hitler. Weimar was the overture to Berchtesgaden.”28 Scheele sah in den Jahren der Republik nur „a period of reconstruction and preparation“, in der die Nation reif werden sollte für das „Dritte Reich“ des Nationalsozialismus.29 Vor allem die Rolle der OHL und insbesondere diejenige Groeners kritisierte Scheele massiv. Dessen Bündnis mit Ebert war in Scheeles Augen von Anfang nur darauf angelegt, der eigenen Verantwortung auszuweichen und die Macht des Generalstabs wiederherzustellen. „The General Stoff saw in this alliance a chance to evade responsibility, while re-establishing itself behind the facade of the Republic. […] From the first the General Stoff acted as master, secure in the knowledge that the Independent Socialists and the extremist elements would never forgive Ebert his alliance with the generals.”30 Die gesamte deutsche Republik erschien Scheele als Kind der Schützengräben, im Grunde nur eine Form, hinter der im Zeichen von Volksstaat und Volksgemeinschaft das neue Reich wachsen konnte. „The German Republic, brought into existence by the Army in the November Revolution, was the child of the trenches. In its attempt to embody the ideal of the ‚Volksstaat‘, it arose from the idealism and the comradeship of the battlefields. It came into being as a haven for all Germans, but beyond the Republican form was the underlying essence of the Reich.”31 Dieser Reichsgedanke, so Scheele schließlich, sei typisch deutsch, Produkt auch der deutschen Geistesgeschichte. „The Germans have learned from their thinkers to value the individual only as a link in the chain of the nation, as an ephemeral bud on the mighty rosebush. The Latin and British view teaches each Man that he has an immortal Soul, something independent and eternal.“32 Alan John Percivale Taylor veröffentlichte 1946 einen Überblick über die Deutsche Geschichte seit 1815. Auch seine große Leitfrage war natürlich, wie es zu Hitler

27 28 29 30 31 32

Godfrey Scheele: The Weimar Republic. Overture to the Third Reich, London 1946. Ebenda, 15. Ebenda, 23. Ebenda, 81. Ebenda, 327. Ebenda, 329.

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und dem nationalsozialistischen Regime kommen konnte. Taylor unterschied zwischen „October-Revolution“ und „November-Revolution“.33 In den November-Ereignissen sah er eher einen Kollaps als eine Revolution,34 doch die weitere Entwicklung hätte nach seiner Überzeugung durchaus zu wirklichem sozialem Wandel und damit zu einer stabilen demokratischen Republik führen können. Er hatte dabei aber nicht die SPD und die bürgerlichen Demokraten im Auge. Voraussetzung für eine stabile demokratische Republik wäre seines Erachtens eine einheitliche sozialistische Bewegung und in erster Linie das Zusammengehen der USPD mit Teilen des Spartakusbundes gewesen. Die USPD „could alone secure a free und peaceful Germany“.35 Doch schließlich habe die „October-Revolution“ (Ebert-Groener) über die „November-Revolution“ (Liebknecht/Luxemburg – USPD) im Januar 1919 gesiegt. Mit weitreichenden Folgen: „The Spartakists were broken; but broken too was the life of German republic, for it could not exist without a united Socialist movement and now the blood of Liebknecht und Rosa Luxemburg ran forever beetwen the associates of Ebert and the Men of the Left.”36 Im Gegensatz zu den Werken Scheeles und Taylors erschien Geoffrey Barracloughs Darstellung „Tatsachen der deutschen Geschichte“ 1947 auch in deutscher Sprache. Barraclough hatte mit der Arbeit an „Factors in German History“ 1944 begonnen, 1946 erschien die englische Originalausgabe. Er war damals Professor für Geschichte an der Universität Liverpool, zuvor hatte er an den Universitäten Oxford und Cambridge gelehrt. Von den zehneinhalb Seiten, die er der Weimarer Republik widmete, beschäftigten sich fünfeinhalb mit der Revolutionszeit. Schon allein das machte deutlich, welche Bedeutung der Autor der Anfangsphase der Republik beimaß. Das Buch war in explizit politischer Absicht geschrieben, der Autor wollte Voraussetzungen dafür liefern, „die gegenwärtige Lage in ihrer ganzen Tragweite und die jetzt erforderlichen Maßnahmen richtig zu begreifen.“37 Barraclough bezeichnete die Revolution – mit deutlichem Bedauern – als eine gescheiterte. Keine der drei grundlegenden Reformen – „Demokratisierung des Heeres, öffentliche Kontrolle der Schwerindustrie, Neuverteilung des Landbesitzes“ – sei durchgeführt worden. „Die Weimarer Verfassung schuf die äußeren Formen der politischen Freiheit, aber ohne den Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse, die ihnen allein Lebenskraft hätten einhauchen können.“ Barraclough ging davon aus, dass von diesem Versagen von Anfang an „überhaupt keine Erholung mehr möglich war“. Im Bürgerkrieg des Frühjahrs 1919 hätten nicht etwa bürgerliche Republik und Demokratie über den Bolschewismus gesiegt, sondern in Wirklichkeit die antidemokratischen Kräfte. Die Verant-

33 Alan John Percivale Taylor: The Course of German History. A Survey of the Development of Germany since 1815, London 1946, hier 184. 34 Ebenda, 179. 35 Ebenda, 184. 36 Ebenda, 183. 37 Geoffrey Barraclough: Tatsachen der deutschen Geschichte, Berlin 1947, hier Vorwort.

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wortung für diese Entwicklung trugen in Barracloughs Augen einerseits die sozialdemokratischen Führer, die nicht begriffen hätten, dass das Risiko einer Politik radikaler, sozialer und ökonomischer Reformen „auch nicht ernster war, als die Gefahr der Untätigkeit, die der Reaktion eine Chance zur Erholung gab.“ Zum anderen sei die deutsche Revolution auch vereitelt worden durch die „Feindseligkeit der Siegermächte“, die aufgrund ihrer Bolschewismusfurcht bereit gewesen seien, einem sozialen Umsturz mit allen Mitteln zu begegnen. Die Politik der sozialdemokratischen Führung beurteilte Barraclough, indem er Rudolf Wissell zitierte, der beim SPD‑Parteitag 1919 erklärt hatte: „Ich glaube, die Geschichte wird wie über die Nationalversammlung so auch über uns in der Regierung hart und bitter urteilen.“38 Mit zunehmendem Abstand zum Kriegsende änderte sich durchaus auch der Charakter der Darstellungen angelsächsischer Historiker. 1949 erschien Joseph A. Berlaus „The German Social Democratic Party 1914–1921“, auch hier fand sich deutliche Kritik an der Politik der SPD-Führung in der Revolutionszeit und die Annahme, dass ein klarer Bruch mit der Vergangenheit der Weimarer Republik eine stabilere Basis gegeben hätte. „In consequence, the SPD was unable to provide a third way out of the unhappy alternative between the old powers and the extreme left which faced Germany after 1918.”39 Auch nach Berlaus Deutung war die Revolution eine verpasste Chance gewesen, eine stabile und tragfähige Republik zu schaffen. Die habe unter anderem schon bald an der Dolchstoßthese gelitten, und in dieser Hinsicht gab es von Berlau Kritik auch an die Adresse der deutschen Historikerzunft in der Weimarer Republik. „The extent to which the Dolchstoss thesis dominated German historiography is surprising indeed. The vast majority of German historians, politicans and actors in the period under discussion accepted it in a more or less qualified form.”40 Betrachtet man als letztes Beispiel John W. Wheeler-Bennetts Studie „Die Nemesis der Macht“ über „Die deutsche Armee in der Politik 1918–1945“, so zeigt sich, dass auch 1954 die Einschätzung vorherrschend blieb, die Weimarer Republik sei von Anfang an schwersten Belastungen ausgesetzt gewesen. Wheeler-Bennett ging sogar so weit, das Bündnis zwischen Ebert und Groener als einen Pakt zu bezeichnen, der zwar „dazu bestimmt war, beide Partner vor den extremen revolutionären Elementen zu schützen, durch den aber die Weimarer Republik schon bei ihrer Geburt dem Untergang geweiht war.“41 Ebert habe aber auch in anderer Hinsicht zur Schwächung der Republik entscheidend beigetragen, als er nämlich bei der Begrüßung der zurückkehrenden Soldaten die Formulierung „Kein Feind hat euch überwunden“ verwendete: „Mit dieser Redewendung, mit der er den Truppen gefällig sein wollte, sprach er

38 Ebenda, 186. 39 Abraham Joseph Berlau: The German Social Democratic Party 1914–1921, New York 1970, hier 340. 40 Ebenda, 341. 41 John W. Wheeler-Bennett: Die Nemesis der Macht. Die deutsche Armee in der Politik 1918–1945, Düsseldorf 1954, hier 42.

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den Generalstab frei und verurteilte die revolutionäre Republik. Die Legende vom ‚Dolchstoß in den Rücken‘ war geboren; die Saat zum zweiten Weltkrieg war gesät.“42 Keiner der angelsächsischen Historiker der späten Vierziger- und der frühen Fünfzigerjahre charakterisierte die Revolution als erfolgreichen Abwehrkampf gegen den Bolschewismus. Auch Wheeler-Bennett betonte vor allem die Abhängigkeit von den alten Militärs, in die Ebert und seine Regierung im Verlauf der Kämpfe immer stärker gerieten: „als am 6. Februar die Nationalversammlung zusammentrat, tat sie es unter dem Schutz der Bajonette Maerkers.“43 Während die angelsächsischen Historiker vor allem unterbliebene Veränderungen im ökonomischen, sozialen und militärischen Bereich für die Schwäche der Weimarer Republik verantwortlich machten und insbesondere die ungebrochene Macht des Generalstabs herausstellten, setzten erste Arbeiten von deutscher Seite ganz andere Akzente. Besonders einflussreich und viel zitiert war Theodor Eschenburgs großer Essay „Die improvisierte Demokratie der Weimarer Republik“ von 1951. Der Revolution von 1918/19 kam im Rahmen seiner Gedankenführung nur untergeordnete Bedeutung zu – und das war durchaus charakteristisch für das Bewusstsein der meisten westdeutschen Historiker und Politikwissenschaftler in den frühen Fünfzigerjahren. Eschenburg begann seine Darstellung in weitem Schwung mit den Strukturen des Bismarck-Reiches, gelangte nach mehr als 20 von 40 Seiten schließlich zur Oktober-Reform die einen oktroyierten, zweckgebunden Parlamentarismus gebracht habe. Seine Ausgangsthese lautete: „Die deutsche Demokratie von 1918/19 war eine Notlösung. Der verlorene Krieg, der die Ursache des Zusammenbruchs der Monarchie war, ließ keine andere Regelung zu, es sei denn die Diktatur des Proletariats nach sowjetrussischem Muster.“44 Eschenburg konstatierte weitgehende Zufriedenheit der Deutschen mit der Gesellschaft des Kaiserreichs, konnte keinen wirklichen Veränderungswillen erkennen und deshalb auch kein Motiv für eine Revolution. „Die Demokratie in dieser Form war nicht erwünscht, sie war nicht begehrt worden. Die Monarchie war nicht verhaßt, sondern der Souverän war verbraucht und mußte ausgewechselt werden. Aber weil er nicht rechtzeitig abzutreten bereit war, wurde er gestürzt und riß die Monarchie mit sich. Gestürzt aber wurde er auch nicht von demokratischen Politikern, sondern durch eine Rebellion von unter der Kriegsnot und dem Sowjeteinfluß radikalisierten Arbeitern und Soldaten, denen es in erster Linie um eine schnelle Beendigung des Krieges und erst in zweiter um den Sturz der Monarchie, die Verhinderung der bürgerlichen Demokratie zum Zweck der Errichtung einer proletarischen Diktatur zu tun war“.45 Eschenburgs ordnete die spontane Bewegung der Arbeiter- und Soldatenräte im Wesentlichen dem Bolschewismus zu. 42 43 44 45

Ebenda, 52. Ebenda, 57f. Theodor Eschenburg: Die improvisierte Demokratie der Weimarer Republik, Laupheim 1951, hier 5. Ebenda, 34f.

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Die Oktoberreform – in seinen Augen mehr eine Revolution von oben als eine Reform46 – habe in überstürzter Weise eine „improvisierte Demokratie“ gebracht, für die Novemberrevolution bestand dadurch in seinen Augen kein Anlass mehr. Die wesentliche Leistung der politischen Akteure sah er darin, eine Machtergreifung des Bolschewismus verhindert zu haben. Dass die deutschen Monarchen „mehr oder minder freiwillig“ so schnell abdankten, blieb für ihn „ein erstaunlicher, fast unerklärlicher Vorgang“.47 Ähnlich wie Rosenberg konstatierte Eschenburg, dass die „drei Machtfaktoren des Kaiserreiches“ – Armee, Schwerindustrie und Großgrundbesitz – die Veränderungen des politischen Systems unbeschadet überstanden hatten, und er war der Meinung, dass dies wesentlich die Entwicklung der deutschen Demokratie beeinflusst habe. Bei Eschenburg mündete diese Feststellung aber nicht in die Frage, ob Versäumnisse während der Revolutionszeit festzustellen sind, sondern in die tragisch-bedauernde Feststellung, man habe versucht, einen Staat auf genossenschaftlicher Basis zu improvisieren zu einer Zeit, als das Volk weithin einer herrschaftlichen Tradition verhaftet war. Auch die 1954 erschienene zweibändige Darstellung der „Geschichte der Weimarer Republik“ von Erich Eyck stellte heraus, dass es in der Revolutionszeit vor allem um die Abwehr des Bolschewismus gegangen sei. „Der wahre Streitpunkt war die Frage: Deutsche Demokratie oder Diktatur des Proletariats nach russischem Muster?“48 Der frühere DDP-Mann Eyck legte schon im Vorwort offen, dass sein Buch „vom Standpunkt eines liberalen und demokratischen Anhängers der Republik“ geschrieben sei49 – was nicht heiße, dass er sich in einer parlamentarische Monarchie wie der englischen nicht wohl fühle; Eyck schrieb sein Werk in London. Aber in Deutschland sei die Republik unter den gegebenen Umständen notwendig gewesen.50 „Das ist das wahrhaft Charakteristische dieser seltsamen Revolution. Es waren Tausende von Offizieren in Berlin, die unter richtiger Führung, unzweifelhaft stark genug gewesen wären, sie im Keim zu ersticken. Aber keine militärische Befehlsstelle wollte sie führen und keiner von ihnen zeigte Neigung, in Erfüllung seines Fahneneids sein Leben einzusetzen. Nicht Handgranaten oder Maschinengewehre haben das deutsche Kaisertum zerstört, sondern der mangelnde Glaube an seine Daseinsberechtigung.“51 Aufgrund der chaotischen Zustände in den Großstädten – Eyck beschrieb sie mit kräftigen Bildern – und um sich auf der Straße behaupten zu können, sei der Regierung schlechterdings nichts anderes übrig geblieben, als sich auf Reste des alten Heeres zu stützen. „Man kann das bedauern – und die weitere Geschichte der

46 Ebenda, 28. 47 Ebenda, 30. 48 Erich Eyck: Geschichte der Weimarer Republik. Bd. 1. Vom Zusammenbruch des Kaiserreichs bis zur Wahl Hindenburgs 1918–1925, Erlenbach-Zürich/Stuttgart 1954, hier 72. 49 Ebenda, 12. 50 Ebenda, 68. 51 Ebenda, 67f.

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deutschen Republik gibt genug Anlaß dazu – aber die Notwendigkeit dieser Entwicklung kann man nicht leugnen. Wenn die Regierung gegenüber ihren – aktuellen und potentiellen – Gegnern von rechts kurz treten mußte, wer anders ist daran schuld, als ihre Nachbarn von links, die sie nicht zur Ruhe kommen ließen?“52 Es war zu Beginn der Fünfzigerjahre in der Bundesrepublik ein hohes Maß an Übereinstimmung festzustellen: Sowohl die sozialdemokratische Memoirenliteratur als auch Werke über die Weimarer Republik aus der Feder von Historikern und Politikwissenschaftlern deuteten die Revolution in allererster Linie als Abwehrkampf gegen den Bolschewismus, eine Deutung, die vorzüglich zur damaligen politischen Situation passte. Daneben wurden vor allem Zweifel formuliert, ob es sich beim Geschehen um eine „wirkliche“ Revolution gehandelt habe. Als Geburtsstunde der deutschen Demokratie wurde sie – nach dem Scheitern der Weimarer Republik – dagegen nicht gesehen. Charakteristisch war eher die trotzige Abkehr: „Bonn ist nicht Weimar.“ In dieser Stimmungslage meldete sich 1952 Werner Conze mit der Auffassung zu Wort, man müsse in diesen Tagen „in denen bisher noch kaum von konservativer, vorwiegend jedoch von liberaler oder sozialistischer Seite zu den Fragen der wilhelminischen und Weimarer Zeit wieder gesprochen worden ist, eine Stimme der Rechten von Gewicht“ zur Geltung bringen.53 Aus diesem Grund veröffentliche er die in den Jahren 1936 bis 1942 zusammengestellten Manuskripte des DNVP-Politikers und Historikers Westarp über den 9. November 1918. Westarps Darstellung kreiste völlig um Fragen der Abdankung des Kaisers. Im Einzelnen ging es ihm erstens darum, die Behauptung zu widerlegen, ein rechtzeitiger Rücktritt hätte die Dynastie retten und die Revolution in gesetzliche Bahnen lenken können. Zweitens um die Frage, ob nicht das Heer dem Kaiser zum Niederwerfen der Revolution gefolgt wäre, wobei er selbst die Meinung vertrat, der Versuch hätte gemacht werden sollen. Drittens erörterte er die Frage, ob der Kaiser den Tod an der Front hätte suchen sollen. Westarps Intention war es, die Fehler aufzudecken, die zur Republik geführt hatten. Von dieser Perspektive distanzierte sich Conze zwar deutlich, doch ebenso deutlich war, dass er selbst eine weitaus konstitutionellere Lösung für angemessen gehalten hätte als die Weimarer Republik es war. Aus seiner Sympathie für die Politik Groeners und den „victorianischen Kompromiß“ des englischen Königtums machte er keinen Hehl.54 Anfang der Fünfzigerjahre erschien auch die erste Nachkriegsauflage („neue, durchgesehene Auflage“) von Johannes Hallers „Epochen der deutschen Geschichte“, mit deren Vorwort Haller auf das Vorwort zur ersten Auflage vom November 1922 zurückgriff – er sah Deutschland 1950 in einer ähnlichen Situation wie 1922 und 52 Ebenda, 76. 53 Werner Conze: Nachwort, in: Kuno Graf v. Westarp: Das Ende der Monarchie am 9. November 1918. Abschließender Bericht nach den Aussagen der Beteiligten, Stollhamm (Oldb.)/Berlin 1952, S. 179–200, hier 179. 54 Ebenda, 200.

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verlieh wieder seiner Hoffnung Ausdruck, „daß aus dem Elend der Gegenwart eine bessere Zukunft hervorgehen muß und ein neues Geschlecht mit neuer Kraft auch der deutschen Geschichte ihren Sinn wiedergeben wird.“ Im Vorwort der Auflage von 1940 hatte Haller mit enthusiastischen Worten das nationalsozialistische Deutschland gefeiert: „Die Nacht die uns umgab, ist einer neuen Morgenröte gewichen. Schneller, als das kühnste Hoffen es zu denken gewagt hätte, ist die Sonne über Deutschland aufgegangen, und ihre ersten Strahlen verheißen einen neuen lichten Tag, der das Erlittene vergessen lasse.“55 Solche Sätze verschwanden 1951 ohne jede Erklärung, als habe es sie nie gegeben. Das einschlägige Schlusskapitel der „Epochen“ von 1951 war aber über weite Strecken identisch mit dem der Auflage von 1940. Da war beispielsweise von „irregeführten und mißbrauchten Volksmassen“ die Rede, deren Aufstand dem Reich von Beginn des Krieges gedroht habe. Da war vom „Verrat“ die Rede, der sich angesichts der äußeren Niederlage hervorgewagt habe und dem Umsturz im Innern die Bahn öffnen sollte. Die Regierung des Kaisers aber habe nicht die Kraft gefunden, „den glimmenden Funken auszutreten, solange es Zeit war. Schritt vor Schritt zurückweichend, lieferte sie das Steuer der Reichspolitik dem Reichstag aus [!], der es in kleinlichem Parteigezänk noch weniger zu führen verstand.“56 Als schließlich die militärische Führung selbst habe eingestehen müssen, daß sie den Krieg verloren gab, sei im ganzen Reich „die längst vorbereitete Revolution“ ausgebrochen. Der Kaiser, „von Ministern und Generälen um die Wette gedrängt“, sei außer Landes gegangen und habe in die geforderte Abdankung eingewilligt, „um dem Volk den Bürgerkrieg zu ersparen“. Erst die Revolution hatte nach Hallers Meinung das Reich wehrlos gemacht: „Nun konnten die siegreichen Feinde Deutschland den Fuß auf den Nacken setzen: am 12. November trat der Waffenstillstand in Kraft, dem das geschlagene Heer sich hatte unterwerfen müssen, weil seine Fortsetzung des Kampfes mit der Revolution im Rücken unmöglich schien [!]. Er glich der Waffenstreckung. Aus ihm ging dann nach sieben Monaten der Friede hervor, den die Siegermächte dem Deutschen Reich aufzwangen.“57 Auch 1951 deutete Johannes Haller also ganz in deutschnationaler Tradition die Revolution als Verrat am Vaterland, in seinen Formulierungen zum Verhältnis von Niederlage und Revolution klingt noch die Dolchstoßlegende an. Allerdings nicht mehr so klar wie 1940. Jetzt entfiel der damals noch formulierte Satz: „Niemals wäre es so schlimm gekommen, hätte den äußeren Feinden nicht ein Feind im Innern die Hand gereicht.“58 Hallers „Epochen“ waren während der Zeit des Krieges zu einem Bestseller geworden, und diese Entwicklung setzte sich in den Fünfzigerjahren fort. 1951 erschien

55 Johannes Haller: Die Epochen der deutschen Geschichte, neue, erweiterte Ausgabe 56.–61. Tausend, Stuttgart 1940, hier 6. 56 Johannes Haller: Die Epochen der deutschen Geschichte, neue, durchgesehene Aufl., Stuttgart 1951, hier 310. 57 Ebenda, 310f. 58 Haller: Die Epochen der deutschen Geschichte, 1940, (wie Anm. 55), hier 390f.

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das 137. Tausend der Gesamtauflage, 1959 mit einer weiteren Neuauflage das 173. Tausend. Vorwort, Einleitung und Schlusskapitel der Neuauflage von 1959 waren textlich identisch mit der Auflage von 1951. Haller sah offenbar keinerlei Anlass, im Hinblick auf die Revolutionsdarstellung irgendwelche Veränderungen vorzunehmen.59 Dass deutsch-nationale Positionen in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre nicht völlig verschwunden waren, zeigte auch die Neuauflage von Fritz Hartungs „Deutsche Geschichte 1871 bis 1919“. Das Loblied auf den Nationalsozialismus, das Hartung in der 4. Auflage von 1939 angestimmt hatte,60 sang er nun zwar nicht mehr, doch der Bezugsrahmen des Autors war nach wie vor nationale Größe und nicht eine freiheitliche Demokratie. Gewisse Korrekturen hatte Hartung an der Darstellung des Versailler Vertrags vorgenommen, angesichts der veränderten politischen Verhältnisse passte die revanchistische Perspektive der Dreißigerjahre ganz und gar nicht mehr in die Zeit. Inhaltlich völlig unverändert gegenüber der 3. Auflage von 1930 blieb dagegen seine Revolutionsdarstellung. Diesbezüglich bestand eine politische Notwendigkeit zur Korrektur offenbar nicht.61 Auch die erste von einem westdeutschen Historiker nach dem Zweiten Weltkrieg neu geschriebene Überblicksdarstellung zur neuesten Geschichte wies erkennbar konservative Züge auf, wenn auch keine deutsch-nationale Perspektive. Dem zweibändigen Werk „Die moderne Welt 1789–1945“ aus dem Jahr 1952 lagen handbuchähnliche wissenschaftliche Ansprüche zugrunde, es wandte sich jedoch an ein breiteres Publikum und hatte vor allem auch Geschichtslehrer als Nutzer im Blick. Der zweite Band stammte von Hans Herzfeld, der seit deren Gründung Ordinarius an der Freien Universität Berlin und Hauptmotor bei der Einrichtung des FriedrichMeinecke-Instituts war. Herzfeld war 1929 zum außerordentlichen Professor für mittlere und neuere Geschichte an der Universität Halle ernannt worden. Wegen seines jüdischen Großvaters waren ihm jedoch 1938 Lehrbefugnis und Professorentitel aberkannt worden. Zunächst hatte er sich als wissenschaftlicher Angestellter an der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres in Potsdam durchgeschlagen. 1943 war er wegen so genannter regimefeindlicher Äußerungen für sechs Wochen in Gestapo-Haft gewesen. Die folgenden Jahre hatte er in Freiburg verbracht, wo er nach dem Ende des „Dritten Reichs“ als „unbelasteter“ Historiker schnell seine akademische Karriere fortsetzen konnte. 1946 war er außerordentlicher Professor an der Universität Freiburg geworden. Schon durch seine Gliederung trennte Hans Herzfeld die November-Revolution deutlich von der Weimarer Republik. In seinen Augen handelte es sich „nicht so sehr um eine echte Revolution aus inneren Voraussetzungen der Nation, etwa durch 59 Johannes Haller: Die Epochen der deutschen Geschichte, neue, durchgesehene Ausgabe, 5. Aufl., Esslingen 1959. 60 Fritz Hartung: Deutsche Geschichte 1971–1919, Leipzig 1939, hier 7. 61 Fritz Hartung: Deutsche Geschichte 1871–1919, Stuttgart 1952, hier 3.

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unwiderstehlich hervorbrechende neue politische und soziale Ideen“, er sah die Novemberereignisse als Folge einer „hoffnungslos übersteigerten Kräfteanspannung“ und in der „grenzenlosen Friedenssehnsucht der breiten, durch Opfer und Not zermürbten Massen“ die „tiefste Wurzel des Geschehens“.62 Vom 9. November sprach Herzfeld als dem „Schlußakt der Tragödie“. Eine positive Perspektive vermochte er den November-Ereignissen nicht abzugewinnen, sie waren für ihn eine „Kette von Irrungen und Wirrungen, die durch die Verzögerung des Abdankungsentschlusses eingetreten waren.“63 Die Auseinandersetzung im Winter 1918/19 stellte er als Kampf gegen die „Übernahme des russischen Rätesystems und die Errichtung einer Diktatur des Proletariats“ dar.64 Nur mühsam habe sich die Sozialdemokratie gegen USPD und Kommunisten durchsetzen können. Im ersten Nachkriegshandbuch zur deutschen Geschichte, das Peter Rassow 1953 herausgab, hat Werner Conze die einschlägigen Teile bearbeitet. Seine Revolutionsdarstellung wich inhaltlich nicht von der Herzfelds ab. Auch Conze sah die Revolutionsmonate als Entscheidung zwischen parlamentarisch-demokratischer Republik und Bolschewismus, die Gefahr aus dem Osten war in seinen Augen außerordentlich groß gewesen: „Die Bolschewisierung Mitteleuropas rückte in greifbare Nähe“.65 Fast wie ein Fremdkörper erschien im Kontext der übrigen Darstellungen der Revolution der 1952 unter dem Titel „Ein Mann geht seinen Weg“ veröffentlichte Band mit Reden, Schriften und Briefen von Julius Leber, herausgegeben von seinen Freunden. Leber war zwölf Jahre Chefredakteur des „Lübecker Volksboten“ gewesen und hatte neun Jahre – von 1924 bis 1933 – dem Reichstag angehört. Vier Jahre KZ-Haft hatten ihn nicht von aktivem Widerstand abgehalten, im Januar 1945 war er hingerichtet worden.66 Der Sammelband enthielt u. a. die in der Gefängnishaft im Juni 1933 entstandene Schrift „Gedanken zum Verbot der Sozialdemokratie“, in der Leber sich ausführlich mit der Revolution von 1918/19 und den Schwächen der Weimarer Republik beschäftigt hatte. Dabei hatte er massive Kritik am Rat der Volksbeauftragten und seinem „Verzicht auf die Revolution“ geübt.67 Leber hatte 1933 den Verlauf der Revolution von 1918/19 in allererster Linie als verpasste Chance gedeutet, eine stabile demokratische Republik aufzubauen. (vgl. Kap. 3)

62 Hans Herzfeld: Die moderne Welt 1789–1945. II. Teil. Weltmächte und Weltkriege. Die Geschichte unserer Epoche, Braunschweig 1952, hier 189. 63 Ebenda, 190. 64 Ebenda, 240. 65 Werner Conze: Die Weimarer Republik. 1819–1933, in: Peter Rassow (Hg.): Deutsche Geschichte im Überblick. Ein Handbuch, Stuttgart 1953, S. 616–666, hier 620. 66 Julius Leber: Ein Mann geht seinen Weg. Reden, Schriften, Briefe, Berlin 1952. 67 Julius Leber: Gedanken zum Verbot der deutschen Sozialdemokratie Juni 1933, in: Ders.: Ein Mann geht seinen Weg. Reden, Schriften, Briefe, Hg. von seinen Freunden, Berlin 1952, S. 185–247, hier 203.

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Ausnahmecharakter hatte auch die Revolutionsdarstellung in Ludwig Bergsträßers „Geschichte der politischen Parteien“, die 1955 in achter, völlig neu bearbeiteter Auflage erschien.68 Bergsträßer hatte mit dem Werk Neuland betreten, als es 1921 erstmals veröffentlicht wurde,69 und bereits die sechste Auflage von 1932 hatte eine außergewöhnlich differenzierte Darstellung der Positionen von MSPD, USPD und Spartakusbund in der Revolutionszeit geboten. Bergsträßer gehörte 1945 zu den politisch unbelasteten Wissenschaftlern und Politikern und war im August 1945 kurzzeitig von den Amerikanern eingesetzter Hessischer Ministerpräsident. Von 1946 bis 1949 war er Mitglied des Hessischen Landtags, er gehörte 1948/49 dem Parlamentarischen Rat an und in der ersten Wahlperiode von 1949 bis 1953 dem Deutschen Bundestag. In der neuen Auflage zeichnete er nun ein modifiziertes Bild der Arbeiter- und Soldatenräte, die er keineswegs insgesamt dem Bolschewismus zuordenen wollte.70 Darüberhinaus charakterisierte er auch die USPD noch einmal präziser. Schon 1932 hatte Bergsträßer deutlich gemacht, dass es innerhalb der USPD unterschiedliche Strömungen gab und dass die Partei „die demokratische Staatsform nicht ablehnte, aber vor ihrer Errichtung der Arbeiterklasse Zeit lassen wollte, von den Forderungen des Sozialismus soviel wie nur möglich durchzusetzen“.71 Nun ergänzte er, die Unabhängigen „wollten eine Zwischenzeit der Diktatur des Proletariats benutzen, um die Demokratisierung der Wirtschaft und der Verwaltung durchzuführen.“ Erstmals war bei Bergsträßer damit von Demokratisierung der Verwaltung die Rede.72 Auf der Seite der Spartakisten arbeitete Bergsträßer 1955 die Rolle Rosa Luxemburgs deutlicher heraus als 1932. Im Hinblick auf den Januar war nicht mehr von „Putschen“ die Rede, die „die Spartakisten“ inszeniert hätten wie in der Auflage von 1932.73 Die achte Auflage von 1955 sprach von Putschen, „die von revolutionären ‚Obleuten‘ großer Berliner Betriebe angestiftet waren, denen sich Spartakus wider bessere Einsicht angeschlossen hatte und in deren Verlauf die beiden Führer der kommunistischen Partei ermordet worden waren“.74 Nicht recht in die damalige Publikationslandschaft passte auch die erste Einzeluntersuchung über die Rätebewegung 1918/19, die Walter Tormin 1954 unter dem Titel „Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie“ veröffentlichte. Tormin hatte seine Dissertation Mitte 1952 abgeschlossen, es handelte sich um die erste gedruckte 68 Ludwig Bergsträßer: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, 8. und 9., völlig neubearbeitete. Aufl., München 1955. 69 Ludwig Bergsträßer: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland (Schriftenreihe der Verwaltungsakademie Berlin 4), 2., verbesserte und ergänzte Aufl., Mannheim/Berlin/Leipzig 1921. 70 Bergsträßer: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, 1955 (wie Anm. 68), hier 251. 71 Ludwig Bergsträßer: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland (Schriftenreihe der Verwaltungsakademie Berlin 4), 6., verbesserte und bis auf die Gegenwart fortgeführte Aufl., Mannheim/Berlin/Leipzig 1932, hier 163f. 72 Bergsträßer: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, 1955 (wie Anm. 68), hier 252. 73 Bergsträßer: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, 1932 (wie Anm. 71), hier 166. 74 Bergsträßer: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, 1955 (wie Anm. 68), hier 257.

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westdeutsche Monographie, die sich überhaupt mit Problemen der Revolutionszeit beschäftigte. Tormin sah die Arbeiter- und Soldatenräte nicht als bolschewistische Kampforgane, die Gefahr einer bolschewistischen Unterwanderung oder gar Machtübernahme sei gering gewesen.75 Die spontan entstandenen Räte seien eigenständige Organe der Revolutionszeit gewesen, wenn sie überhaupt ein staatspolitisches Ziel gehabt hätten, „so war es fast immer eine parlamentarische Demokratie, die die Möglichkeit bot, den Sozialismus einzuführen.“76 Tormin betonte, es sei in der Revolution nicht nur um die Frage der Organisation des Staatsapparates gegangen, sondern auch um die Demokratisierung anderer gesellschaftlicher Bereiche, insbesondere die Sozialisierung der Wirtschaft.77 Deutlich benannte er negative Folgen des Revolutionsverlaufs. Es sei der jungen Republik nicht mehr gelungen, die Reste des alten Obrigkeitsstaates zu beseitigen, Heer und Beamtenschaft mit wirklich demokratischem Geist zu erfüllen und sie zu Stützen des neuen Staates zu machen.78 Die gegenrevolutionären Kräfte hätten so von Anfang an einen verhängnisvoll großen Einfluss in der Republik gewonnen.79 So weit folgte Tormin den angelsächsischen Historikern, die zum Zeitpunkt der Niederschrift noch tonangebend waren. Die Rolle der SPD bewertete er anders und grenzte sich dabei ausdrücklich von Berlau, aber auch auf Rosenberg, Taylor, Barraclough und Meenzen ab.80 Nach seiner Überzeugung fehlte der SPD zwar oft „der Mut zur Verantwortung und es fehlten ihr wohl auch die geeigneten Persönlichkeiten, aber sie beging keinen bewußten Verrat an ihren Prinzipien und an der Revolution, wie von der Linken behauptet wurde.“81 Tormin schrieb seine Dissertation 1952 primär in Auseinandersetzung mit den angelsächsischen Autoren und den Thesen Arthur Rosenbergs, die Ende der Vierzigerund Anfang der Fünfzigerjahre die allem Anschein nach hauptsächlich geäußerte Meinung verkörperten. Als die Arbeit 1954 gedruckt wurde, wirkte diese Auseinandersetzung bereits sehr überholt, denn inzwischen hatte sich in der Bundesrepublik ohne große Debatte eine andere Revolutionsdeutung durchgesetzt, die die Revolution nicht als verpasste Chance der Demokratisierung, sondern als erfolgreichen Abwehrkampf gegen die bolschewistische Gefahr interpretierte. Mit dieser Deutung setzte sich Tormin in seiner gesamten Schrift nicht auseinander – auch ein Indiz dafür, wie schnell sich das vorherrschende Bild verändert hatte.

75 Walter Tormin: Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie. Die Geschichte der Rätebewegung in der deutschen Revolution 1918/19, Düsseldorf 1955, hier 73. 76 Ebenda, 62. 77 Ebenda, 135. 78 Ebenda, 80. 79 Ebenda, 135. 80 Ebenda, 80. 81 Ebenda, 132.

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Tormins Arbeit nahm zwar – gewissermaßen noch in Thesenform und ohne die notwendige Untermauerung durch entsprechende Quellen – manches vorweg, was Ende der Fünfziger- und Anfang der Sechzigerjahre in der deutschen Geschichtswissenschaft über die Revolution von 1918/19 erarbeitet werden sollte, aber seine Darstellung ist nicht in erster Linie als Anfang dieser Revolutionsforschung zu werten, sondern als Auseinandersetzung eines engagierten Sozialdemokraten mit den SPD-kritischen Positionen in der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre. Tormins Arbeit passte allerdings bei ihrem Erscheinen bereits nicht mehr recht in die politische Landschaft der Bundesrepublik und blieb ohne Einfluss auf die in den Fünfzigerjahren erarbeiteten Handbuchdarstellungen, obwohl sie damals die mit Abstand gründlichste und ausführlichste Aufarbeitung der Revolution von 1918/19 darstellte. Erst Erich Matthias erwähnte sie 1956, als er darauf drängte, die Revolutionsdeutung Arthur Rosenbergs einer genaueren Überprüfung zu unterziehen. Tormins Dissertation fand keine Berücksichtigung, als sich Karl Dietrich Erdmann 1955 in einem grundlegenden Aufsatz mit der „Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft“ beschäftigte und dabei einen Überblick über wichtige in den Jahren zuvor erschienene Literatur gab. Erdmann hatte sich 1947 bei Peter Rassow in Köln habilitiert und war 1953 auf einen Lehrstuhl nach Kiel berufen worden. 1950 hatte er die Zeitschrift „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“ (GWU) mitbegründet. Erdmanns Aufsatz von 1955 hat, viel zitiert und bis heute nachwirkend, eine Schlüsselstellung für die Geschichtsschreibung der Revolution von 1918/19 bekommen, weshalb eine ausführliche Analyse angebracht ist. Erdmann begann mit grundlegenden Überlegungen zur Zeitgeschichte und betonte zum einen die grundsätzliche „Offenheit der Situation“, zum anderen die politische Dimension jeder Geschichtsschreibung über die Weimarer Republik: „die Verklammerung des Heute und Gestern durch verwandte Grundprobleme ist so stark, dass jedes Urteil über Verhältnisse und Geschehnisse aus der Zeit der Weimarer Republik zugleich ein politisches Faktum ist. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass sich ein Bild der deutschen Geschichte von 1918 bis 1933 gewinnen ließe, das nicht auf unser eigenes Schicksal heute bezogen wäre.“82 Die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte der Weimarer Republik stehe trotz einiger bemerkenswerter Bücher in ihrem Anfangsstadium. Ein Werk gehöre „dem Gewicht nach“ an die erste Stelle: Arthur Rosenbergs „Geschichte der deutschen Republik“. „Mit diesem Buch beginnt die wissenschaftliche Erforschung der deutschen Geschichte von 1918 bis 1933.“ Einschränkend fügt er hinzu: „Allerdings setzte sie in breiterem Maße erst nach 1945 ein.“83 Das hatte nach Erdmanns Überzeugung nicht in erster Linie mit der verbesserten Quellenlage zu tun. Den entscheidenden Antrieb für die wissenschaftliche Erfor-

82 Erdmann: Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, 1955 (wie Anm. 24), hier 3. 83 Ebenda, 5.

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schung der deutschen Geschichte 1918–1933 sah er in politischen Notwendigkeiten, in der geschichtlichen Situation, „wie sie sich nach dem Zusammenbruch und angesichts der Notwendigkeit ergab einen Neubau unseres politischen Lebens in Angriff zu nehmen. Die Analogie zur Situation von 1919 drängte sich auf. Der damals errichtete Staatsbau hatte sich als nicht fest genug gefügt erwiesen. […] Alle Forschung zur Geschichte der Weimarer Republik steht mit Notwendigkeit – ausgesprochen oder unausgesprochen – unter der Frage nach den Ursachen ihres Zusammenbruchs.“84 Das Jahr 1933 war der Dreh- und Angelpunkt in Erdmanns Argumentation. Sein Bemühen galt nach eigenem Bekunden dem Ziel, den elementaren Bruch, den der Machtantritt Hitlers nach seiner Überzeugung in der deutschen Geschichte darstellte, möglichst klar und deutlich herauszustellen. Jede andere Sichtweise war in seinen Augen nicht hinnehmbar, weil sich daraus inakzeptable Folgen für das Geschichtsbild ergeben würden. „Während die Forschung, wenn anders sie nicht in einer Kollektivverurteilung der deutschen Geschichte enden will [!], notwendigerweise [!] davon ausgeht, daß sich im Jahre 1933 ein Bruch in unserer Tradition vollzogen hat […], so haben wir in der historisch-politischen Literatur doch auch Stimmen der Verzweiflung oder des Hasses [!] gehört, die das Jahr 1933 und das, wohin es geführt hat, das logische Gesamtergebnis, die Quintessenz der deutschen Geschichte nannten. Der Wechsel von der Republik zur Diktatur erschien dann nicht mehr als ein Bruch. Am radikalsten ist diese These formuliert in einer in England erschienenen Studie, die Scheele der deutschen Geschichte von 1918 bis 1933 gewidmet hat. Hier wird die Weimarer Republik selber – und nicht etwa ihre Gegner – zur ‚Ouverture des Dritten Reichs‘, wie der Buchtitel heißt, und zwar im Sinne seiner direkten Vorbereitung.“85 Erdmann wandte sich intensiver Arthur Rosenberg zu, denn „die Deutung, die Rosenberg dem Schicksal der deutschen Republik gab, hat Schule gemacht.“86 Zuvor allerdings hob er auf Rosenbergs politische Haltung ab. Man müsse die Offenheit anerkennen, mit der „der langjährige USPD- und KPD-Abgeordnete und einer der Führer des linken Flügels seiner Partei, seine eigene politische Beurteilung der Dinge herausstellt, ohne sich hinter diesen zu verstecken.“ Dann tat er Rosenbergs Position – wie er sie sah – als „einfach“ ab: „Seine einfache Deutung des Endes der Republik von ihrem Anfang her lautet, daß dieser Staat zugrunde gehen mußte, weil die soziale Revolution unterblieb“.87 Einen Beleg für diese Aussage blieb Erdmann schuldig. Es findet sich auch weder in Rosenbergs „Entstehung der Deutschen Republik“ noch in seiner „Geschichte der Deutschen Republik“ die These, dass die Republik untergehen musste, weil die soziale Revolution an ihrem Anfang unterblieb. Im Gegenteil hielt Rosenberg verschiedentlich sowohl SPD als auch USPD und KPD vor, sie hätten zu späteren Zeit84 85 86 87

Ebenda, 5. Ebenda, 5f. Ebenda, 8. Ebenda, 5f.

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punkten die Chancen nicht genutzt, der Republik eine stabilere demokratische Grundlage zu geben bzw. eine soziale Revolution zu erreichen.88 Anders als etwa Barraclough oder Scheele hat Rosenberg das Ende der Weimarer Republik nie apodiktisch auf ihre Entstehungsphase zurückgeführt. Erdmann irrte also in der Sache, seine Äußerung kann jedoch als Indiz dafür gewertet werden, dass es unter westdeutschen Historikern damals den Eindruck gab, man stehe einer breiten Front gegenüber, die den Machtantritt Hitlers in Zusammenhang mit 1918/19 bringe. Die westdeutsche Geschichtswissenschaft nahm die Revolutionsdeutungen angelsächsischer Autoren allerdings nicht im Detail zur Kenntnis und reagierte auch nicht mit intensiver Forschungstätigkeit. Zu einer an der Sache orientierten, ernsthaften Diskussion dieser Ansichten sah man offenbar keinen Anlass. Und auch Karl Dietrich Erdmann ging es 1955 um größere, rein geschichtspolitische Zusammenhänge. Erdmanns geschichtspolitische Grundüberlegungen hatten elementar mit dem Stellenwert des Jahres 1933 in der deutschen Geschichte zu tun: Je stärker Geburtsfehler und Strukturprobleme der Weimarer Republik betont würden, desto weniger radikal und tief erschien fast zwangsläufig der Bruch des Jahres 1933 – und desto mehr das nationalsozialistische Deutschland als irgendwie doch integrierter Bestandteil der deutschen Geschichte. Immerhin wäre dann ja der Machtantritt Hitlers auch auf Fehler und Versäumnisse zurückzuführen und nicht auf das Walten des Schicksals. Je mehr andererseits die Grundentscheidungen für die konkrete Weimarer Republik als im Prinzip richtig und alternativlos erschienen, desto klarer wurde das NS-Regime als Katastrophenfall aus der deutschen Geschichte ausgegrenzt. Ohne bis dahin durch intensivere Forschungstätigkeit über die Revolutionszeit 1918/19 in Erscheinung getreten zu sein, formulierte Erdmann die einprägsamen, seither wohl am häufigsten zitierten Sätze über das Geschehen. Der Entscheidungsspielraum in den Revolutionsmonaten habe sich beschränkt „auf die Wahl zwischen einem konkreten Entweder – Oder: die soziale Revolution im Bund mit den auf eine proletarische Diktatur drängenden Kräften oder die parlamentarische Republik im Bund mit konservativen Elementen, wie dem alten Offizierskorps“.89 Die Weimarer Republik, so Erdmann, sei das Ergebnis eines „sozialistisch-konservativen Zweckbündnisses. Rosenbergs These, daß sie deshalb zugrunde ging, weil sie nicht unterbaut wurde durch eine soziale Revolution, ist falsch, weil im Gegenteil der Fehlschlag der sozialen Revolution überhaupt die Vorbedingung dafür war, daß sie als das bestimmte historische Phänomen, als das sie vor uns steht, ins Leben trat.“90 Sicher nicht zufällig ließ sich diese Äußerung über die Weimarer Republik auch als Plädoyer für ein sozialistisch-konservatives Bündnis zur Fundierung der Bundesre-

88 Vgl. Arthur Rosenberg: Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1961, hier 98, 135ff, 154, 199ff. 89 Erdmann: Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, 1955 (wie Anm. 24), hier 7. 90 Ebenda, 7.

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publik lesen. Noch hatte die SPD nicht ihren Frieden mit der marktwirtschaftlichen Ordnung der Republik gemacht, noch trat sie vehement gegen die Wiederbewaffnung ein, das Godesberg Programm wurde erst 1959 verabschiedet. Die Deutung der Revolution von 1918/19 als erfolgreichen Abwehrkampf gegen den Bolschewismus hatte sich, als Erdmann 1955 seinen Aufsatz veröffentlichte, weitgehend als Übereinkunft etabliert, hinter der die maßgeblichen Repräsentanten der Zunft standen. Auch die von Erdmann 1955 selbst getroffene Feststellung, die Erforschung der Weimarer Republik stehe erst am Anfang, weist auf geschichtspolitische Dimension dieser schnellen Entscheidung hin. Ohne den politischen Hintergrund bliebe unverständlich, warum nicht zunächst verschiedene Positionen pluralistisch nebeneinander vorläufige Geltung hätten haben sollen. Die weitere Forschung hätte den Ausschlag zugunsten der einen oder anderen Seite geben oder gar eine dritte Deutungsmöglichkeit erarbeiten können, die durch die Quellen gestützt war. Keiner der etablierten Vertreter der westdeutschen Geschichtswissenschaft hat sich jedoch in den Fünfzigerjahren intensiver mit der Revolution von 1918/19 beschäftigt. So hat sich zwar, wie Reinhard Rürup 1967 feststellte, in der Bewertung der Revolutionsvorgänge im Vergleich zur Geschichtsschreibung der Jahre vor 1945 ein tiefgreifender Wandel, „der seinen Niederschlag in den Handbüchern und allgemeinen Darstellungen zur Geschichte der Weimarer Republik gefunden hat“, vollzogen, „freilich mehr unter dem Eindruck der allgemeinen politischen Entwicklung als auf der Grundlage neuer Forschungsergebnisse“.91 Erdmanns griffige Formulierung brachte auf den Punkt, was vorherrschende Meinung war – ein wesentlicher Grund dafür, dass sie so häufig zitiert wurde, aber auch ein wichtiger Grund, warum sich an ihr der Widerspruch entzünden sollte. Neu war die Deutung der Revolution als Abwehrkampf gegen den Bolschewismus nicht. In sozialdemokratischen und bürgerlich-liberalen Kreisen wurde diese Interpretation bereits in der Zeit der Weimarer Republik vertreten, ebenso von Friedrich Meinecke, der in dieser Hinsicht allerdings eher eine Ausnahme unter den deutschen Historikern war. Der Common sense der westdeutschen Geschichtswissenschaft in den Fünfzigerjahren stellte jedoch nicht nur einen Rückgriff auf diese Position dar, sondern war zugleich eine bewusste geschichtspolitische Abgrenzung gegenüber Arthur Rosenberg und angelsächsischen Autoren. Helga Grebing nannte für die Neuorientierung der frühen westdeutschen Geschichtsschreibung über die Revolution von 1918/19 vor allem zwei damals aktuelle politische Gründe: Zum einen habe die ideologische Verschärfung des Ost-WestKonfliktes es nahe gelegt, auf die antikommunistische Revolutionsdeutung der SPD aus der Weimarer Zeit zurückzugreifen; zum anderen habe das Bedürfnis, die Einsicht in den endgültigen Verlust des Reiches begründet abwehren zu können, zu einer

91 Reinhard Rürup: Rätebewegung und Revolution in Deutschland 1918/19, in: Neue Politische Literatur 12 (1967), S. 303–315, hier 303.

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„neuen deutsch-nationale(n) Historiographie (geführt), die die Rehabilitation der Sozialdemokratie für die Nation stellvertretend vollzog. Die Sozialdemokraten waren nun die würdigen, zuverlässigen Söhne des deutschen Volkes aus dem Arbeiterstand, die sich mit Staat und Nation und nicht mit ihrer Klasse identifiziert und dadurch das ‚Reich‘ oder politisch unprätentiöser ‚die Einheit Deutschlands‘ gerettet hatten.“92 Im Übrigen war man bemüht, parlamentarisch-demokratische Traditionen in der deutschen Geschichte aufzuweisen und damit die neu geschaffene Bundesrepublik in eine gewisse historische Kontinuität zu stellen. Im Rahmen dieser Traditionspflege war die Revolution von 1918/19 aber kein Thema von Bedeutung. Es bot sich geradezu an, den Bogen direkt von der Oktoberverfassung von 1918, die ja formal die volle Parlamentarisierung des Kaiserreichs gebracht hatte, direkt zur Weimarer Nationalversammlung und Verfassung zu schlagen und die Revolutionsmonate als im Grunde unnötige und lästige Unterbrechung auszuklammern. Entschiedener als 1918/19 trat allerdings die Führung der deutschen Sozialdemokratie nach 1945 – auch weil nicht ein zweites Mal eine Periode des Umbruchs ohne tief greifende soziale Veränderungen enden sollte – für Sozialisierungsmaßnahmen und eine umfassende Demokratisierung von Staat und Gesellschaft ein. Bis in die Fünfzigerjahre hinein hielten Teile der SPD an diesen Zielen unverändert fest. Die Programmatik der Partei wurde nach ersten Anläufen 1952 und 1954 erst mit dem Godesberger Programm von 1959 einschneidend verändert. Solange große Teile der Sozialdemokratie noch auf fundamentalem Oppositionskurs zur Bundesrepublik mit ihren konservativen Zügen waren, konnte die Hervorhebung und positive Würdigung von Eberts Politik in der Revolutionszeit durchaus ein historisches Argument für die politische Integration der SPD sein. Die Betonung der klaren Alternative „parlamentarische Demokratie oder Bolschewismus“ war so auch von innenpolitischer Bedeutung: Am historischem Beispiel wurde der SPD dargelegt, dass es keinen sozialdemokratischen Mittelweg zwischen Kapitalismus und parlamentarischer Demokratie einerseits und der Herrschaft der Kommunistischen Partei andererseits gebe. So stand die vorherrschende, von Erdmann 1955 prägnant auf den Punkt gebrachte Revolutionsinterpretation, wie Reinhard Rürup feststellte, „im Einklang mit der allgemeinen politischen Entwicklung der Bundesrepublik als einer antikommunistisch interpretierten pluralistischen Demokratie“.93

92 Helga Grebing: Konservative Republik oder soziale Demokratie? Zur Bewertung der Novemberrevolution in der neueren westdeutschen Historiographie, in: Eberhard Kolb (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 49), Köln 1972, S. 386–403, hier 386. 93 Reinhard Rürup: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, Wiesbaden 1968, hier 7.

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Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik nach 1945 Für die deutsche Geschichtswissenschaft brachte das Jahr 1945 zunächst vor allem tiefe Verunsicherung und Verstörung. Das ist der zentrale Befund einer Untersuchung von Winfried Schulze, die 1989 als Beiheft der HZ erschien. Schulze hatte sich ausführlich mit der Geschichtswissenschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit beschäftigt und referierte eindrucksvolle Belege. So hat beispielsweise der Tübinger Historiker Rudolf Stadelmann seine Vorlesung im ersten Nachkriegssemester 1945/46 mit den Sätzen begonnen: „Wir sind allesamt im Dickicht. In einem dunklen Wald sind wir vom Weg abgekommen, halb aus Übermut und Ungeduld, halb aus Panikstimmung und mangelnder Selbstbeherrschung.“ Stadelmann machte sich dann daran, nach den „Knotenpunkten“ der deutschen Geschichte zu suchen, „an denen der Irrweg begonnen hat“. Fritz Hartung griff noch 1950 in einem Brief an Hermann Heimpel das Bild vom Irrweg auf, „den wir im Zeitalter Wilhelms II. begonnen haben und unter Hitler im Amoklauf zu Ende gerannt sind“. In Göttingen sprach Siegfried A. Kaehler „vom dunklen Rätsel deutscher Geschichte“. Johannes Haller formulierte 1946 in seinen Lebenserinnerungen, er glaubte aus einem „schrecklichen Traum“ zu erwachen und es kam ihm vor, „als wären wir einem bösen Zauber erlegen“. Peter Rassow stellte ernüchtert und hilflos fest, dass die „historischen Kräfte, die in der heutigen Gestaltung der Weltverhältnisse am Werk sind, der Worte spotten, mit denen man sie kennzeichnen will“.94 Ähnliche Äußerungen lassen sich aus den ersten Nachkriegsjahren in großer Zahl finden. Offenbar war das Gros der deutschen Historiker erschüttert und konnte das Geschehen nicht wirklich fassen. Die vertrauten Kriterien und Muster der Interpretation versagten, und die Historiker waren der Überzeugung, einen totalen Bruch mit der Vergangenheit zu erleben. „Wie sollte auch ein von den Siegermächten besetztes Land, das ‚Niemandsland‘ Deutschland, in dem die Zeit stillzustehen schien (Tellenbach), unter dem Diktat der Auslöschung seiner bisher gültigen Wertvorstellungen stehend, die Hoffnung hegen können, jemals wieder über die eigene Geschichte verfügen zu können? Deutsche Geschichte ohne ein deutsches Volk, ohne einen deutschen Staat, ohne erkennbare Zukunft, schien abgrundtief sinnlos geworden zu sein.“95 Die Revolution von 1918/19 gehörte in Westdeutschland unter diesen Umständen keinesfalls zu den bevorzugten Themen der Geschichtswissenschaft. Schon in der Zeit der Weimarer Republik hatte das zeitgeschichtliche Interesse der Historiker nur indirekt der Revolution von 1918/19 gegolten, im Mittelpunkt hatten der Versailler Friedensvertrag und das Ende des Ersten Weltkrieges, genauer, die Frage nach den Ursachen des deutschen Zusammenbruchs gestanden. Diese Themen waren aller-

94 Zit nach: Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, hier 16f. 95 Ebenda, 17f.

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dings nach 1945 kein Forschungs- und Diskussionsgegenstand mehr. Die nun nicht mehr zu leugnende militärische Niederlage des Deutschen Reiches und die Teilung Deutschlands in Besatzungszonen hatten diesen historischen Themen die politische Grundlage entzogen. Die in den Zwanzigerjahren mit so viel Herzblut geführten Auseinandersetzungen waren nach 1945 ohne jeden politischen Sinn. Die national orientierte deutsche Geschichtsschreibung sah sich vor einem Trümmerfeld, und der gewiss nicht unter zu großem Affirmationsverdacht stehende Georg Iggers formulierte 1971: „Der Bruch mit den politischen und geschichtswissenschaftlichen Traditionen reichte nach 1945 wesentlich tiefer in die Wirklichkeit als nach 1918. Ein Ausdruck dieser Neuorientierung ist die Betroffenheit, mit der das Thema des ‚Bruches‘ bei den zeitgenössischen deutschen Historikern behandelt wird.“96 Die zeitgenössische Publizistik redete fast unisono einer Revision des bisherigen Geschichtsbildes das Wort, und auch bei Historikern lassen sich in den ersten Nachkriegsjahren viele Belege mit der Forderung nach Neuorientierung finden. Heinrich Heffter, beispielsweise, erklärte 1950 in seiner Hamburger Antrittsvorlesung: „Die nationale Katastrophe ist ein zwingender Grund zur Revision des bisherigen historisch-politischen Denkens“. Hermann Aubin sprach davon, dass die Zeit in „schmerzvoll-gewaltigen Wehen“ eine „neue Geschichtsepoche“ geboren habe, und Hans Herzfeld war angesichts der „unermeßlichen Tiefe des neuen Zusammenbruchs“ überzeugt, es sei notwendig, nach den „Voraussetzungen der Katastrophe auf eigenem Boden“ zu fragen.97 Dieses Bewusstsein eines Bruches, so Iggers 1971 weiter, „führte zu einer Überprüfung der geistigen, politischen und geschichtswissenschaftlichen Traditionen, die nach 1918 nicht möglich gewesen war.“98 Betrachtet man nicht nur die Stimmungs- und Meinungsäußerungen der zeitgenössischen Historiker, sondern auch andere Faktoren, ergibt sich ein etwas anderes Bild, und auch Georg Iggers modifizierte seine Position mit Blick auf die organisatorischen und personellen Kontinuitäten einige Jahre später. „Auch das Jahr 1945“, schrieb er 1978, „brachte für die Historikerschaft in Westdeutschland nicht den radikalen Bruch, von dem einige westdeutsche Historiker gesprochen haben. Die personelle Zusammensetzung der Institute änderte sich nur selten. Keiner der von den Universitäten und aus Deutschland vertriebenen liberalen und demokratischen Historiker kam endgültig zurück. Rassisch verfolgte Historiker konservativer Orientierung wie Hans Herzfeld, der jetzt allerdings demokratischen Auffassungen und methodologischen Neuerungen offener gegenüberstand, Hans Rothfels und Hans-Joachim Schoeps kehrten an deutsche Universitäten zurück. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, verblieben die Historiker, die die geschichtswissenschaftlichen Bemühungen der Nazis unterstützt hatten, an den Universitäten oder kehrten bald wieder an sie

96 Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971, hier 328. 97 Zit. nach: Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, 1989 (wie Anm. 94), hier 16f. 98 Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, 1971 (wie Anm. 96), hier 329.

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zurück.“99 Winfried Schulze wies zwar darauf hin, dass in einer ersten Phase immerhin die so genannten „Unbelehrbaren“ aus dem Dienst entfernt worden seien. „Als solche galten Historiker, von denen man wußte, daß sie ihre akademischen Positionen allein ihrer Nähe oder ihrer Zugehörigkeit zur NSDAP verdankten, daß sie aktiv an der Entfernung politisch mißliebiger Kollegen beteiligt waren, oder daß sie in ihren Schriften eindeutig rassistische Konzeptionen von Geschichte vertreten hatten.“100 Aber Schulze stellte auch fest, es habe sich in aller Regel nur um eine kurzzeitige Entfernung aus dem Dienst gehandelt. „Den meisten Historikern gelang es, nach der mit deutlichem Widerwillen überstandenen Absolvierung der Entnazifizierungsverfahren wieder als akademische Lehrer tätig zu werden.“101 So blieb die westdeutsche Geschichtswissenschaft, wie Hans Mommsen feststellte, in der unmittelbaren Nachkriegszeit, aber auch später „eine überwiegend konservative Domäne“.102 Das Übergewicht deutsch-national bis konservativ-liberal eingestellter Hochschullehrer sei durch die personalpolitischen Auswirkungen des NS-Regimes sogar noch verstärkt worden. Ehemals an ostdeutschen Universitäten lehrende Historiker seien in die westdeutsche Geschichtswissenschaft integriert worden und hätten Lücken gefüllt, die durch den Krieg und das NS-Regime gerissen worden waren. Ein Personalmangel, der jungen Historikern einen schnellen Aufstieg ermöglicht hätte, habe nicht bestanden. Je intensiver und länger die Geschichtswissenschaft sich in den Jahrzehnten danach mit der eigenen Geschichte auseinandersetzte, umso deutlicher traten die Kontinuitäten zutage. Winfried Schulze resümierte 1989: „In der bisherigen Forschung ist gründlich mit dem nicht ganz unbegründeten Irrglauben aufgeräumt worden, die Niederlage von 1945 sei tatsächlich zu einem ‚Nullpunkt‘ in der Entwicklung der Geschichtswissenschaft geworden.“103 Jürgen Kocka sprach weitere zehn Jahre später davon, die Debatte in der Zunft arbeite die „erdrückende Kontinuität heraus, die das nationalsozialistische Deutschland und die Bundesrepublik verband“.104

99 Georg G. Iggers: Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zuur Historischen Sozialwissenschaft (Wissenschaftliche Reihe 4308), München 1978, hier 106. 100 Winfried Schulze/Gerd Helm/Thomas Ott: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Beobachtungen und Überlegungen zu einer Debatte, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle/Otto G. Oexle/Gerd Helm/Thomas Ott (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt am Main 1999, S. 11–48, hier 13f. 101 Ebenda, 14. 102 Hans Mommsen: Betrachtungen zur Entwicklung der neuzeitlichen Historiographie in der Bundesrepublik, in: Géza Alföldy/Ferdinand Seibt/Albrecht Timm (Hg.): Probleme der Geschichtswissenschaft, Düsseldorf 1973, S. 124–155, hier 130. 103 Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, 1989 (wie Anm. 94), hier 19f. 104 Jürgen Kocka: Zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik. Ein Kommentar, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle/Otto G. Oexle/Gerd Helm/Thomas Ott (Hg.): Deutsche Historiker im

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Die inhaltliche Arbeit entsprach weitgehend der personellen Kontinuität. Mit Blick auf das große Ganze ist Werner Conze zuzustimmen, der 1976 feststellte: „Die Forschung und die Lehre konnten dort fortgesetzt werden, wo sie 1944, oder im uneingeschränkt freien Sinne, 1933 abgebrochen worden waren. Bis Ende der Fünfzigerjahre blieb die Lehrkörperstruktur nahezu unverändert. Auch in den Themen und der Lehrweise trat gegenüber der vorhergehenden Zeit – abgesehen von der mühelosen Beseitigung nationalsozialistischer Wucherungen – kein Bruch ein. Vieles ging altgewohnt weiter, als ob nichts Einschneidendes geschehen gewesen wäre.“105 Hans Mommsen stellte fest, die Geschichtswissenschaft habe ihre vornehmste Aufgabe darin gesehen, „einer undifferenzierten Ablehnung des überkommenen, durch die nationalsozialistische Gleichschaltung in vieler Hinsicht verzerrten nationalstaatlichen Geschichtsbilds entgegenzutreten.“106 Was die politische Haltung der Historikerschaft anging, waren Veränderungen gegenüber der Zeit der Weimarer Republik nicht zu übersehen. Es sei „unbestreitbar“, unterstrich Winfried Schulze, „daß die deutschen Historiker nach 1945 die demokratische Neuordnung in jener Geschlossenheit begrüßt haben, in der sie sie nach 1918/19 angegriffen haben.“107 Die Historikerschaft in Westdeutschland bzw. der Bundesrepublik stellte sich auf den Boden der neuen Ordnung, bezog im Nachhinein klar Position gegen den Nationalsozialismus und versuchte zugleich, möglichst viel von der überlieferten Nationalgeschichte zu retten. Vorherrschende Tendenz war es, „das Dritte Reich als zusammenhanglose Einzelerscheinung zu kennzeichnen“108 und damit aus dem Gesamtzusammenhang der deutschen Geschichte auszuklammern. Im Wesentlichen, so Hans Mommsen, sei es darum gegangen, „die fundamentalen Unterschiede zwischen dem Dritten Reich und den politischen Etappen des deutschen Nationalstaats seit der Revolution von 1848 herauszuarbeiten und insbesondere die preußische Tradition von der pauschalen Verdächtigung, der eigentliche Urheber des Nationalsozialismus zu sein, zu reinigen. Parallel dazu trat das Bedürfnis hervor, die […] erstehende demokratische politische Struktur auch im Hinblick auf die eigene Nationalgeschichte zu legitimieren.“109 Eine grundsätzliche Überprüfung ihrer geistigen, politischen und wissenschaftlichen Traditionen nahm die Historikerzunft nicht vor. Hans Ulrich Wehler sah bis ins

Nationalsozialismus (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt am Main 1999, S. 340–357, hier 345. 105 Werner Conze: Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945. Bedingungen und Ergebnisse, in: Historische Zeitschrift (HZ) 225 (1977), S. 1–28, hier 11f. 106 Mommsen: Betrachtungen zur Entwicklung der neuzeitlichen Historiographie in der Bundesrepublik, 1973 (wie Anm. 102), hier 125. 107 Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, 1989 (wie Anm. 94), hier 20f. 108 Hans Mommsen: Haupttendenzen nach 1945 und in der Ära des Kalten Krieges, in: Bernd Faulenbach (Hg.): Geschichtswissenschaft in Deutschland. Traditionelle Positionen und gegenwärtige Aufgaben, München 1974, S. 112–120, hier 117. 109 Ebenda, 114.

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Jahr 1960 keinen „Traditionsbruch“. Imanuel Geiss sprach von einer „Restaurierung mit höchstens durch politische Rücksichten erzwungenen, meist nur verbalen Differenzierungen“, und Rudolf Vierhaus bemängelte, dass „die deutsche Geschichtswissenschaft die als notwendig erkannte Revision des ‚Geschichtsbildes‘ nur zögernd in Gang“ gebracht habe, eine „wirkliche Neuorientierung in ihren Grundlagen“ konnte auch er nicht feststellen.110 Erkennbar, so Iggers, sei nur eine leichte Verschiebung gewesen, weg von deutsch-nationalen hin zu konservativ-liberalen Positionen, wie sie etwa Friedrich Meinecke vertrat. Diese gemäßigte Richtung, „die in der Zeit der Weimarer Republik eine Minderheit gebildet hatte, wurde zur Hauptrichtung“.111 Die vor allem in angelsächsischer Literatur herausgestellte Kontinuitätslinie von Friedrich dem Großen über Bismarck bis zu Hitler, die mit entgegen gesetzter Wertung in den Dreißigerjahren auch von deutsch-nationalen Historikern gezogen worden war, stieß nun in Westdeutschland auf fast einhellige Ablehnung. Bis auf wenige Ausnahmen wie etwa Ludwig Dehio vertraten die westdeutschen Historiker jetzt die These, die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts sei durch Diskontinuitäten geprägt. „Die Verbrechen des Dritten Reiches wurden offen zugestanden, doch das Verhältnis, in dem das Dritte Reich zur deutschen Vergangenheit stand, wurde nur oberflächlich untersucht.“112 Im Wesentlichen hielt man am überkommenen nationalstaatlichen Geschichtsbild fest. „Die wenigen Versuche, einen ‚Irrweg‘ in der Deutschland eigenen politischen Entwicklung aufzudecken, wurden von Außenseitern vorgenommen“.113 Ludwig Dehio, einer der wenigen, die über solche Kontinuitäten nachdachten, beklagte noch 1961, dass man „aus dem Munde ehrenwerter deutscher Historiker“ die Meinung höre, es handele sich bei Hitler, Bismarck, Friedrich dem Großen „um individuelle Einzelerscheinungen, die untereinander kaum zusammenhingen (…) diese Auflösung bisher geglaubter historischer Zusammenhänge erlaubt auch das Dritte Reich als eine zusammenhanglose Einzelerscheinung zu kennzeichnen – eine sehr erwünschte Erlaubnis!“114 Diese Ausrichtung der westdeutschen Geschichtswissenschaft hatte nicht nur mit der personellen Kontinuität zu tun, sie war auch bedingt durch die innen- und außenpolitischen Verhältnisse. Spätestens mit der Währungsreform in den Westzonen Deutschlands war entschieden, dass der zukünftige westdeutsche Staat keine sozialistische Prägung erhalten würde. Die Wahlen von 1949 brachten eine wesentliche Verstärkung des konservativen Elements, das in den Fünfzigerjahren noch weiter an Bedeutung zunahm. Diese innenpolitische Situation war mit bedingt durch die Zuspitzung des Ost-West-Gegensatzes zum Kalten Krieg, die mit der Teilung Deutsch-

110 Zit. nach: Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, 1989 (wie Anm. 94), hier 20f. 111 Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, 1971 (wie Anm. 96), hier 349. 112 Ebenda, 349. 113 Ebenda, 339. 114 Ludwig Dehio: Preußisch-deutsche Geschichte 1640–1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (1961), S. 25–31, hier 25.

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lands auch die feste Integration der zwei Teile in die beiden großen weltpolitischen Blöcke mit sich brachte. Wie im Zeichen des Kalten Krieges schon früh die personelle Entnazifizierung praktisch aufgegeben wurde, so verzichteten die westlichen Siegermächte auch darauf, grundlegende Veränderung in der westdeutschen Geschichtswissenschaft durchzusetzen. Die forcierte Einrichtung von Lehrstühlen für Politikwissenschaft an westdeutschen Hochschulen bildete dafür keinen Ersatz. Ernst Schulins These, die neu etablierte Politikwissenschaft habe gemeinsam mit neuen Sonderrichtungen der Geschichtswissenschaft als Auffangbecken für diejenigen gedient, denen die „gewöhnliche“ Geschichtswissenschaft zu restaurativ war, und somit ein Kritikpotential aufgefangen, ist sicher für die Anfangszeit richtig. Erst in den Sechzigerjahren wirkten die Tendenzen der sich selbständig entwickelnden Politikwissenschaft auch auf die Geschichtswissenschaft zurück. So befand sich in den Fünfzigerjahren die westdeutsche Geschichtswissenschaft nach einer gewissen Kurskorrektur von deutsch-nationalen hin zu konservativen Positionen durchaus in Übereinstimmung mit der dominierenden politischen Strömung in der Bundesrepublik.

Erweiterung der Perspektiven – 1955–1965 Die Revolution von 1918/19 in der Geschichtskultur Widerspruch gegen die nahezu ausschließliche Deutung der Revolution als Abwehrkampf gegen die drohende bolschewistische Gefahr kam in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre aus den Reihen jüngerer Historiker. Eine herausragende Rolle spielte dabei Erich Matthias. 1956 meldete er sich im SPD-Theorieorgan „Die neue Gesellschaft“ mit einer direkten Replik auf Karl Dietrich Erdmanns Literaturbericht aus dem Vorjahr zu Wort – wegen ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Revolutionsrezeption soll auch Matthias‘ Gegenposition ausführlich dargestellt werden. Entschieden wandte sich Matthias gegen die von Erdmann so prägnant formulierte These vom „konkreten Entweder-Oder: die soziale Revolution im Bund mit den auf eine proletarische Diktatur hindrängenden Kräften oder die parlamentarische Republik im Bund mit konservativen Elementen wie dem alten Offizierskorps.“115 Damit werde eine ungemein komplizierte Situation durch eine „viel zu einfache Alternative“ entwirrt. Die These werde auch dadurch nicht glaubwürdiger, „daß sie sowohl von Fachhistorikern als auch von bürgerlichen und mehrheitssozialistischen Schriftstellern und Memoirenschreibern bis in die jüngste Vergangenheit hinein immer wieder bemüht worden ist.“116 Erdmann habe Rosenberg gründlich missverstanden, „wenn 115 Erdmann: Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, 1955 (wie Anm. 24), hier 7. 116 Erich Matthias: Zur Geschichte der Weimarer Republik. Ein Literaturbericht, in: Die neue Gesellschaft 3 (1956), S. 312–320, hier 312.

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er ihm unterstellt ‚seine einfache Deutung des Endes der Republik von ihrem Anfang her‘ laute, ‚daß dieser Staat zugrunde gehen mußte, weil die soziale Revolution unterblieb‘“. Stelle man nämlich die Äußerungen Erdmanns und Rosenbergs nebeneinander so zeige sich paradoxerweise, „dass in der Sicht Rosenbergs die revolutionäre Situation der Jahre 1918/19 weit offener erscheint als in der Erdmanns“.117 Auch in einer zweiten Hinsicht habe Erdmann die Situation 1918/19 unzulässig vereinfacht, nämlich wenn er behaupte, das Fehlschlagen der sozialen Revolution sei überhaupt die Vorbedingung dafür gewesen, dass die Weimarer Republik „als das bestimmte historische Phänomen, als das sie vor uns steht“, ins Leben getreten sei. „Durch diese wiederum verblüffend einfache Formel wird die Bedeutung der inneren Kräfteverschiebungen, die die Zwischenperiode von der ‚Entscheidungssituation‘ des November 1918 über die Wahlen zur Nationalversammlung bis zur Fixierung der Kompromißstruktur des neuen Staates in der Verfassung von Weimar kennzeichnen einfach ausgelöscht.“118 Es sei gerade eines der wesentlichen Verdienste Arthur Rosenbergs, dass er die Aufmerksamkeit so eindringlich auf die Geschehnisse dieser Zwischenperiode gelenkt und die in ihr wirksamen politischen Kräfte sorgfältig analysiert habe. Dabei sei es ihm in erster Linie um die Frage gegangen, warum es nicht gelang, die große Mehrheit der deutschen Arbeiterbewegung, „die mit der bürgerlichen Demokratie und der vorsichtigen Sozialisierung zufrieden war“, zu gemeinsamem Handeln zusammenzuhalten, „obgleich die Parteigrenzen, die die Massen trennten, mehr oder minder zufälligen Charakter hatten, der Drang nach Einigkeit bei den Anhängern der beiden großen sozialistischen Parteien zunächst dominierend war und auch die im Rat der Volksbeauftragten vertretenen Führer von SPD und USPD in den politischen Grundsatzfragen durchaus übereinstimmten.“119 Und ganz direkt an die Adresse Erdmanns gerichtet, fügte Matthias hinzu: „Der Gedanke, daß die breite Mitte der gemäßigt sozialistisch-demokratischen deutschen Arbeiterschaft zugleich zum Kristallisationskern und zum sozialen Träger eines nationalen demokratischen Integrationsprozesses hätte werden können, läßt sich nicht ohne weiteres als utopische Phantasie beiseite schieben.“120 Rosenbergs Darstellung zeige, dass sich im unmittelbaren Anschluss an die Revolution nicht zu übersehende Ansätze zu einer „volkstümlichen aktiven Demokratie“ zu regen begonnen hätten. Die rückläufige Bewegung habe allerdings bereits um die Jahreswende 1918/19 eingesetzt – hier liege die entscheidende Zäsur – und habe die Kräfte der Arbeiterschaft innerhalb ganz kurzer Zeit hoffnungslos zersplittert. Dies sei „nicht ohne die Versäumnisse der Regierung der Volksbeauftragten und das politische Versagen der sozialistischen Führer aller Richtungen“ zu erklären.121

117 118 119 120 121

Ebenda, 312. Ebenda, 312f. Ebenda, 313. Ebenda, 313. Ebenda, 313.

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Nach Matthias’ Überzeugung herrschte im Herbst und Winter 1918/19 eine Situation, „in der die Forderung nach Ablösung der die alte Ordnung symbolisierenden diskreditierten ‚Geheimratsbürokratie‘ weit über die sozialistischen Parteien hinaus Popularität genoß und überall im Lande sich der plötzlich erwachende Drang nach aktiver demokratischer Selbstverwaltung in den Räten manifestierte, der, von der Führung mißverstanden und erstickt oder von radikalen Elementen fehlgeleitet, innerhalb weniger Monate dem Gefühl Platz machte, daß ja alles beim alten geblieben sei. Die Rebellion der Massen gegen den diskreditierten Obrigkeitsstaat, die ein wesentliches Kennzeichen der Zwischenperiode ist, verlief im Sande.“122 Matthias vermutete 1956, dass die Primärquellen „auch eine Korrektur des Ebertbildes“ als „unvermeidlich“ erscheinen lassen. Erdmanns Begriff der „echten geschichtlichen Entscheidungssituation“ verfehle den Kern der Problematik Eberts und der mit ihm wirkenden mehrheitssozialdemokratischen Führer. „In dem Bereich der Freiheit, den ihnen der verlorene Krieg, die revolutionäre Erregung der Massen, die außenpolitische Misere und die trostlose Wirtschaftslage ließen, handelten sie durchaus nicht so bewußt und tatkräftig, wie es diese Deutung glauben macht. Manche Maßnahme, die zur festeren Fundierung der neuen Demokratie hätte dienen können, unterblieb nicht so sehr deswegen, weil keine Verwirklichungschance bestanden hätte, sondern weil die Volksbeauftragten vor jeder aktivistischen, vorwärtsgerichteten Politik zurückschreckten. Mit den elementaren demokratischen Kräften, die sich ihnen entgegendrängten und bereit schienen, sich ihrer Führung anzuvertrauen, wußten sie einfach nichts anzufangen.“123 Entscheidend für das historische Urteil sei die bereits von Rosenberg und neuerdings auch von Tormin unterstrichene Tatsache, dass die führenden Mehrheitssozialdemokraten auch in der neuen Situation den beschränkten Horizont der „traditionalistisch erstarrten Vorkriegssozialdemokratie“ nicht zu überwinden vermochten. „Ihr fehlender Wille zur Macht und ihre mangelnde Elastizität, ihre Unentschlossenheit, Instinktlosigkeit und Passivität, ihr konservatives Ordnungsdenken und ihre Scheu vor der Alleinverantwortung für tiefere Eingriffe in die staatliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Struktur resultieren weitgehend aus dem So-und-nicht-anders-Sein der Partei.“124 Matthias wertete die „Spezialuntersuchung“ Walter Tormins als Bestätigung der Revolutionsdeutung Rosenbergs. „Tormin stellt nachdrücklich fest, daß die Entstehung der Räte in der deutschen Revolution und die Art ihrer Tätigkeit aus den deutschen Verhältnissen begriffen werden müssen, daß sie trotz des russischen Beispiels kaum durch Einflüsse von außen bestimmt waren und erst das unbefriedigende Ergebnis der Revolution die Räte in radikalere Bahnen führte. Wie die Arbeit deutlich zeigt, kann die Frage nach den realen Chancen eines ‚dritten Weges‘ keineswegs durch

122 Ebenda, 315. 123 Ebenda, 313f. 124 Ebenda, 314.

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eine von vornherein negative Antwort, wie Erdmann sie gibt, aus der Welt geschafft werden.“125 Neben Rosenberg und Tormin nannte Matthias auch die von Schüddekopf 1955 herausgegebene Quellensammlung „Das Heer und die Republik“.126 In ihr sehe er Ansatzpunkte für den faszinierenden Gedanken an „eine dritte Möglichkeit zwischen Roter Armee und einer Reichswehr, für deren Führung man auf das Offizierskorps des kaiserlichen Heeres zurückgriff“.127 Ganz offenkundig war hier ein kritischer Sozialdemokrat auf der Suche nach unverwirklichten Möglichkeiten eines demokratischen Sozialismus. Auch für Matthias‘ Fragen und Überlegungen gab es durchaus aktuelle politische Hintergründe. Mit Blick auf die Weimarer und die Bonner Republik sprach er davon, dass „die Kontinuität der Grundprobleme unserer staatlichen Existenz“ verblüffend sei. Ausdrücklich stimmte er Erdmann zu, der 1955 festgestellt hatte, jedes Urteil über Verhältnisse und Geschehnisse aus der Zeit der Weimarer Republik sei zugleich ein politisches Faktum.128 Matthias sah in der „Gespaltenheit des geschichtlichen Bewusstseins“ einen der „wirksamsten Faktoren der Desintegration“ in der Weimarer Zeit und war der Auffassung, sie sei keineswegs überwunden. „Wenn die bundesrepublikanische Demokratie noch immer auf schwankendem Boden steht, liegt das nicht zuletzt daran, daß das deutsche Volk auch nach dem zweiten Weltkrieg vor einer rückhaltlosen Auseinandersetzung mit seiner jüngsten Vergangenheit zurückgewichen ist. Unbequeme Wahrheiten werden aus dem Bewußtsein verdrängt, während biedere Stammtisch- und Kirchturmspolitiker schon wieder das Loblied des starken Mannes anstimmen. […] Man soll den Teufel nicht an die Wand malen; doch wäre es leichtfertig zu übersehen, daß die schlummernden Sentiments und Ressentiments eine latente Gefahr bilden. Zu überwinden sind sie nur durch ehrliche Verarbeitung der Erfahrungen des deutschen Volkes aus der Zeit der tragisch gescheiterten Republik und des Hitlerregimes.“129 Erich Matthias hatte 1952 über das Thema „Sozialdemokratie und Nation“ promoviert. In dieser Monographie „zur Ideengeschichte der sozialdemokratischen Emigration in der Prager Zeit des Parteivorstandes 1933–1938“ war er auch ausführlich auf Rosenbergs „Geschichte der Deutschen Republik“ eingegangen und nannte sie den „bedeutendsten Beitrag zur Kritik der Novemberrevolution, den die sozialdemokratische Emigrantenliteratur aufzuweisen hat“.130 Er zitierte daneben Paul Sering als

125 Ebenda, 313. 126 Otto-Ernst Schüddekopf : Das Heer und die Republik. Quellen zur Politik der Reichswehrführung 1918 bis 1933, Hannover, Frankfurt am Main 1955. 127 Matthias: Zur Geschichte der Weimarer Republik, 1956 (wie Anm. 116), hier 316. 128 Ebenda, 312. 129 Ebenda, 319f. 130 Erich Matthias: Sozialdemokratie und Nation. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der sozialdemokratischen Emigration in der Prager Zeit des Parteivorstandes 1933–1938, Stuttgart 1952, hier 55.

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weiteren Vertreter derjenigen Sozialdemokraten, „die nach Einsicht in die Fehler der sozialdemokratischen Politik streben, um die Bedingungen einer notwendigen sozialistischen Neuorientierung herauszuarbeiten.“131 Dies war allerdings nicht die einzige Tendenz, auf die Matthias gestoßen war. „Neben diesen Urteilen, die davon ausgehen, daß die deutsche Arbeiterbewegung an den Aufgaben, vor die sie 1918 gestellt wurde, gescheitert ist, steht eine zweite Gruppe von sozialdemokratischen Stellungnahmen zur Novemberrevolution, der es in erster Linie um eine Rechtfertigung der offiziellen sozialdemokratischen Politik geht und die ein politisches Versagen der Mehrheitssozialdemokratie – bei aller im einzelnen geübten Kritik – nicht anerkennen will.“ Matthias nannte in diesem Zusammenhang Friedrich Stampfers „Die ersten 14 Jahre der Deutschen Republik“ und Otto Brauns „Von Weimar zu Hitler“.132 1952 war Matthias offenbar noch nicht entschieden, welcher der beiden Haltungen er zuneigen sollte. „Es kann hier nicht erörtert werden, ob in der Situation von 1918/19 eine – im Sinne von Rosenberg und Sering – zielbewußtere und agilere sozialdemokratische Revolutionspolitik eine tragfähigere Basis für eine demokratische Entwicklung Deutschlands hätte schaffen können. Für die Auffassung, daß der offiziellen sozialdemokratischen Politik kaum ein anderer Weg blieb, als sich dem Zwang der Verhältnisse in dem Maße zu fügen, wie es nach Stampfers und Brauns Überzeugung notwendig war, um die Existenz des Reiches nicht verantwortungslos zu gefährden, lassen sich sicher gewichtige Gründe anführen.“1331956 sah Matthias offenbar etwas klarer: Den Ansatzpunkt für seine weitere Arbeit bildeten nun die Thesen Arthur Rosenbergs, an deren detaillierte Überprüfung und Modifizierung aber im Moment noch nicht zu denken sei, weil zuvor zahlreiche Quellen ausgewertet werden müssten. Immerhin waren die beiden Bücher Rosenbergs zur Entstehung und Geschichte der Deutschen Republik 1955 in einer gemeinsamen Ausgabe von Kurt Kersten neu herausgegeben worden. Eine Taschenbuchausgabe sollte 1961 folgen. 1958, drei Jahre nach dem Erscheinen der Leinenausgabe, stellte Hans Herzfeld Rosenbergs „Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik“ in der HZ vor und sprach dabei von „suggestiven und vor allem im Ausland einflußreichen Büchern“.134 Mit einem einzigen, scheinbar wohlklingenden Satz machte Herzfeld deutlich, dass Rosenbergs Deutung für ihn als Historiker nicht wirklich von Belang war. „Beide Bücher haben die Anfänge [!] des historischen Urteils über ihren Gegenstand stark beeinflußt. Sie waren trotz der offen ausgesprochenen ‚Parteilichkeit‘ ihres Urteils vom Standpunkt eines radikalen Sozialismus aus als Werk eines scharfsinnigen Althistorikers [!] aus der Schule Ed. Meyers so bedeutsam, daß ihr zusammenfassender Neudruck nur

131 Ebenda, 59. 132 Ebenda, 55ff. 133 Ebenda, 60. 134 Hans Herzfeld: Arthur Rosenberg: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift (HZ) 185 (1958), S. 401–402, hier 401.

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begrüßt werden kann.“135 Herzfeld gab korrekt Rosenbergs Grundthesen wieder, war aber der Meinung, daß „heute die Tragödie von Kaiserreich und Republik in Deutschland wesentlich komplizierter, ihre Problematik dadurch aber auch inhaltsreicher erscheint, als sie in diesen frühen Pionierbüchern gefaßt ist“.136 Dass es bei diesem Urteil nicht blieb, war insbesondere auf Erich Matthias zurückzuführen. Er trug in der Folgezeit entscheidend dazu bei, die Erforschung der Revolution von 1918/19 auf den Weg zu bringen, zum Teil durch eigene Arbeiten, zum Teil durch Anregungen, die er Kollegen gab. Auch Eberhard Kolbs geradezu Bahn brechende Dissertation über „Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918 bis 1919“ wurde durch Erich Matthias angeregt. Zunächst aber schien sich Mitte der Fünfzigerjahre der Blick noch einmal auf Konflikte zu richten, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – sieht man von der Stimme des Grafen Westarp ab – keine Rolle mehr gespielt hatten. 1955 veröffentlichte die Tochter General Groeners, Dorothea Groener-Geyer, ein Buch über ihren Vaters, das man eher als Rechtfertigungsschrift denn als Biografie sehen sollte. Sie stellte ihm ein Geleitwort Friedrich Meineckes voran, geschrieben im Januar 1953, das ihren Vater in den höchsten Tönen pries und damit auch das Ziel des Buches klar umriss: „Hohe Geistesklarheit und männliche Entschlossenheit vereinten sich in ihm zu bedeutender staatsmännischer Wirksamkeit. An wichtigen Wendepunkten der deutschen Geschichte hat er seinen Mann gestanden. Er verdient einen Ehrenplatz in ihr.“137 Einen großen Schwerpunkt des Buches bildete die Auseinandersetzung mit Anschuldigungen wegen der Reise des Kaisers ins holländische Exil. Über Seiten hinweg versuchte Groener-Geyer aufzuarbeiten und zu belegen, wer wann welchen Rat gegeben oder nicht gegeben habe. Ausführlich beschäftigte sie sich mit Hindenburgs Rolle in diesem Zusammenhang und warf ihm vor, seine Pflicht nicht erfüllt zu haben, weil er alles anderen, insbesondere Groener überlassen habe. Das Fazit der Autorin: Groener „war nie der kaltblütige Zerstörer des deutschen Kaisertums, für den die Welt ihn hielt.“138 Daneben ging es Groener-Geyer auch darum, Verständnis für die positive Rolle ihres Vaters bei der Grundlegung der Weimarer Republik zu wecken. Groeners „vordringliches Anliegen“ sei es in den Monaten „der revolutionären Gärung und des ungewissen Übergangs“ gewesen, „dem demokratischen Staatswesen ein zuverlässiges, verständnisvolles und opferbereites Offizierskorps zu schaffen“, „die besten Offizierstugenden mit den Voraussetzungen zum ‚Staatsbürger in Uniform‘ zu vereinigen“.139

135 Ebenda, 401. 136 Ebenda, 402. 137 Dorothea Groener-Geyer: General Groener. Soldat und Staatsmann, Frankfurt am Main 1955, hier 5. 138 Ebenda, 111. 139 Ebenda, 147.

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Bis hin zu Schlagworten der Fünfzigerjahre wie „Staatsbürger in Uniform“ nahm Groener-Geyer Bezug auf damals aktuelle politische Debatten und suchte ihren Vater als frühen Vorkämpfer einer demokratischen Armee darzustellen. Ohne Zögern positionierte die Autorin ihren Vater schon im Hinblick auf den 10. November auf Augenhöhe mit Ebert und der Regierung. Groener habe im Gespräch mit Ebert „seine Bedingungen“ gemacht: „Er verlangte, daß die Regierung den Kampf gegen Radikalismus und Bolschewismus aufnähme und daß das Offizierkorps in seiner Geschlossenheit und in seiner Autorität, in seinen Rangabzeichen und Würden erhalten bliebe.“140 Die „Vossische Zeitung“ vom 22. November 1927 zitierend, sah sie es als „Groeners historische Stunde“, dass er sich mit Ebert verbündete „zur Niederkämpfung der Revolution […] Denn hier haben zwei Männer sich selbst gemeistert, um eines hohen Zieles willen.“141 Bewegte sich diese Argumentation ganz im Bereich der Konventionen der Fünfzigerjahre, so wich Groener-Geyer im Hinblick auf den Rätekongress davon ab. Während üblicherweise die so genannten „Hamburger Punkte“ zur militärischen Kommandogewalt, die der Kongress beschlossen hatte, nicht erwähnt wurden – sie fügten sich nur schwer in die gängige Argumentation, der Kongress mit seiner sozialdemokratischen Mehrheit sei voll und ganz Ebert gefolgt – ging Groener-Geyer ausführlich auf die „Hamburger Punkte“ ein. Das ist verständlich, weil der Beschluss ihren Vater wochenlang intensiv beschäftigt und zu massiven Interventionen gezwungen hatte. Nach Groener-Geyers Meinung zeigte der Beschluss des Rätekongresses, dass der überwiegende Teil von Eberts eigener Partei noch nicht begriffen hatte, „daß es bei diesem Kampf um die Macht im zukünftigen Staat darum ging, die Demokratie zu sichern, nicht aber, die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen.“142 Was in ihren Augen die „Hamburger Punkte“ mit der „Diktatur des Proletariats“ verband, erläuterte die Autorin nicht. Ausführlich schilderte Groener-Geyer dagegen, wie der Beschluss des Rätekongresses in der Folgezeit gemeinsam von der OHL und dem Rat der Volksbeauftragten unterlaufen wurde.143 Groener erschien in der Darstellung seiner Tochter als Fels in der Brandung. Eberts wankelmütige Haltung in den Weihnachtstagen habe für Verunsicherung gesorgt, während auf der anderen Seite die Spartakisten mit Rosa Luxemburg an der Spitze marschiert seien: „Ihr Programm glich dem Programm Moskaus, ihr Ziel war die Weltrevolution.“144 Groener aber habe schon Ende November vorsorglich begonnen, „Freikorps zu bilden und sie für den Kampf gegen die Revolution ausbilden zu lassen.“145 Im Januar habe man dann in Berlin Ruhe und Ordnung wieder hergestellt –

140 141 142 143 144 145

Ebenda, 116. Ebenda, 118. Ebenda, 122. Ebenda, 123–126. Ebenda, 128. Ebenda, 129.

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den Mord an Luxemburg und Liebknecht erwähnte die Autorin nicht. Im Anschluss sei es nach und nach gelungen, Groeners „Forderung“ zu verwirklichen, die Herrschaft der Regierung über das ganze Reich auszubreiten.146 Zwei Jahre später wurden die Lebenserinnerungen des 1939 verstorbenen Wilhelm Groener veröffentlicht. Er hatte sie in den letzten Monaten vor seinem Tod niedergeschrieben. Deutlich erkennbar war das ganze Buch durchzogen von einer Verteidigungshaltung gegenüber Angriffen von rechts. Im Hinblick auf die Revolution in Berlin nahm Groener Reichkanzler Prinz Max v. Baden in Schutz, der zu Unrecht aufs Schwerste angegriffen worden sei,147 und wehrte sich auch gegen die Unterstellung, die OHL habe im November 1918 versagt. Der Vorwurf scheint ihn sehr beschäftigt zu haben, ebenso die Kritik, er habe entscheidend zum Ende der Monarchie beigetragen. Als Fazit der Vorgänge im Hauptquartier am 9. November hielt er fest, er lehne jede Verantwortung für die Abdankung des Kaisers ab, auch jede Verantwortung für die Reise nach Holland. Umständlich und bis ins Detail rechtfertigte Groener sich in seinen Erinnerungen auch gegen den Vorwurf, er habe die Bildung von Soldatenräten im Heer begünstigt.148 Die gesamte Argumentation zeigt, wie sehr Groener offensichtlich bis zu seinem Tod unter Rechtfertigungsdruck gegenüber Angriffen der politischen Rechten stand. Dabei war er überzeugt, in den Revolutionsmonaten durch seine Zusammenarbeit mit Ebert genau die richtige Strategie im wohlverstandenen Zukunftsinteresse des preußisch-deutschen Offizierskorps und des Deutschen Reiches verfolgt zu haben. Die Zusammenarbeit mit Ebert habe sich bewährt. Nur zweimal habe er sich gezwungen gesehen, „Ebert scharf auf die Bedingungen unseres Bündnisses hinzuweisen“. Im einen Fall sei es um die vom Reichsrätekongress beschlossenen „Hamburger Punkte“ gegangen, das zweite Mal habe das Vorgehen gegen die Volksmarinedivision an Weihnachten betroffen. „Mit Beginn des Jahres 1919 durften wir uns zutrauen, in Berlin zuzupacken und zu säubern. […] Im Gegensatz zu Ebert scheute sich Noske nicht vor energischem Zugriff. Er nahm aus innerster Überzeugung auf sich, bei seinen Parteigenossen der ‚Verräter‘ und ‚Bluthund‘ zu werden.“ Nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Teilen des Landes hätten sich die Freikorps bewährt. „Im Lande säubernd umherziehend, wuchsen die ‚Noske-Truppen‘ immer mehr in ihre militärische Aufgabe hinein, und die Hoffnung auf ein gesundes Später fand in ihnen einen Ansatzpunkt.“149 Sowohl durch Groeners Erinnerungen als auch durch das Buch seiner Tochter wurde in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre ein Teil der Perspektiven wiederbelebt, die in der Zeit der Weimarer Republik prägend gewesen waren. In diesen Zusammen-

146 Ebenda, 129. 147 Wilhelm Groener: Lebenserinnerungen. Jugend, Generalstab, Weltkrieg, Göttingen 1957, hier 448. 148 Ebenda, 469f. 149 Ebenda, 477f.

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hang gehört vielleicht auch, dass ein so einflussreicher Historiker wie Hans Herzfeld 1957 in der zweiten Auflage der historischen Überblicksdarstellung „Die moderne Welt 1789–1945“ zwei erstaunliche Literaturhinweise zu Weimarer Republik und Revolution gab: zum einen auf Wilhelm Zieglers „Volk ohne Führung. Das Ende des Zweiten Reiches“ aus dem Jahr 1939 und zum anderen auf „Revolution über Deutschland“ von Erich O. Volkmann aus dem Jahr 1930. Rosenbergs „Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik“ fand sich in der Empfehlungsliste nicht.150 Selbst monarchische Grundgedanken waren aus der bundesdeutschen Historikerschaft nicht gänzlich verschwunden. So hat beispielsweise der Münchner Historiker Georg Franz-Willing Wilhelm Hoegners „Die verratene Republik“ 1959 in der HZ besprochen und dabei die Überzeugung vertreten, „daß der aus der Revolution hervorgegangene Mehrparteienstaat trotz seiner freiheitlichen Verfassung nicht mehr jene überparteiliche Einrichtung wie die Monarchie war, die die Fähigkeit gehabt hätte, Recht zu wahren und zu setzen. Der Staat als Institution hatte durch die Revolution sein Ansehen verloren.“151 Bis zum Beginn der Sechzigerjahre waren häufig die alten bitteren Auseinandersetzungen der Weimarer Republik über das Ende der Monarchie gemeint, wenn Historiker von den „Streitfragen der Novemberrevolution“ sprachen, und nicht die an Rosenberg anknüpfende Deutung der Revolution von 1918/19 als verpasste Chance der Demokratisierung. Herzfeld, der mit seinen Rezensionen in der HZ das Bild der Weimarer Republik stark prägte, stellte beispielsweise in seiner Besprechung von Martin Göhrings „Bismarcks Erben 1890–1945“ fest: „Die Streitfragen der Novemberrevolution sind nur angedeutet und für Wilhelm II. mit der Bemerkung beiseite geschoben, ‚es sei nicht das Amt des Historikers, zu verurteilen‘“.152 Dabei hatte sich Göhring durchaus mit Streitfragen der Revolution beschäftigt und sich explizit gegen Deutungen des Geschehens gewandt, die an Rosenberg angeknüpft hatten. Es hielt in seinem Buch fest, dass die soziale Revolution durch das Bündnis zwischen SPD und OHL verhindert worden sei, „was manche, ganz besonders Ausländer, in Unkenntnis oder falscher Einschätzung der damaligen Lage, den Deutschen so oft [!] vorgeworfen haben. Sie hätte höchstwahrscheinlich das Abgleiten in den Bolschewismus bedeutet.“153 Offensichtlich gehörte dies aber in den Augen Herzfelds nicht zu den „Streitfragen der Novemberrevolution“. Herzfelds Denken kreiste auch noch 1960 um Monarchie und Kriegsschuld. Es sei doch wohl „ein dem Ausland gegenüber recht

150 Herzfeld: Die moderne Welt 1789–1945, 1957 (wie Anm. 62), hier 407f. 151 Georg Franz-Willing: Wilhelm Hoegner: Die verratene Republik. Geschichte der deutschen Gegenrevolution, in: Historische Zeitschrift (HZ) 188 (1959), S. 406–409, hier 407f. 152 Hans Herzfeld: Martin Göhring: Bismarcks Erben 1890–1945, in: Historische Zeitschrift (HZ) 190 (1960), S. 387–390, hier 389. 153 Martin Göhring: Bismarcks Erben 1890–1945. Deutschlands Weg von Wilhelm II. bis Adolf Hitler, Wiesbaden 1958, hier 135.

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weitgehender Optimismus“, stellte er fest, wenn Göhring meine, „daß die Kriegsschuldfrage ‚keine Streitfrage‘ mehr sei.“154 Martin Göhring selbst – 1934 in die NSDAP eingetreten – war nach Jahren als Lehrbeauftragter in Tübingen und Gastprofessor in Stuttgart seit 1951 Direktor der Abteilung für Universalgeschichte am Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Er bewegte sich bei der Darstellung der Revolution ganz im Rahmen der in den fünfziger Jahren vorherrschenden Deutung der Revolution als Abwehrkampf gegen den Bolschewismus. „Liebknecht und Rosa Luxemburg hatten ein ganz klares Programm: Aufrichtung der Diktatur des Proletariats, Bolschewisierung Deutschlands nach Lenins Vorbild und mit seiner Unterstützung.“ Die Arbeiter- und Soldatenräte waren in seinen Augen „Schrittmacher des Bolschewismus“.155 Ebert habe sich „durch seine damalige Haltung und die bewiesene Geschicklichkeit ein unbestreitbares großes historisches Verdienst erworben.“156 Wichtig war Göhring aber auch die Feststellung, dass – „hätte sich der Kaiser beizeiten besonnen“ – „die monarchische Staatsform hätte erhalten bleiben können.“157 Nur mit der Einschränkung „unvollendet“ könne man von einer Revolution sprechen. Gerade die letzten Wochen der Monarchie hätten dem Bürgertum „alles gegeben, was es unmittelbar wünschen konnte: die konstitutionell-parlamentarische [!?] Monarchie. Es hing an dieser historisch verwurzelten Staatsform, die zwar ihre Kraftprobe nicht bestanden hatte, aber im Kern nicht korrupt, vielmehr unbestreitbar fortbildungsfähig war.“158 In recht uniformer Weise wurde die Revolution in Gesamtdarstellungen zur Weimarer Republik oder zur Zeitgeschichte auch in den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren als Abwehrkampf gegen den Bolschewismus dargestellt. Von besonderer Bedeutung in dieser Hinsicht war zweifellos die Darstellung im wichtigsten Handbuch zur Deutschen Geschichte, im „Gebhardt“. 28 Jahre nach dem Erscheinen der 7. Auflage erschien 1959 die 8. völlig neu bearbeitete Auflage. Herausgegeben wurde das „Handbuch der Deutschen Geschichte“ inzwischen von Herbert Grundmann, Band 4 „Die Zeit der Weltkriege“ stammte von Karl Dietrich Erdmann. Erdmann blieb bei seiner im Kern bereits 1955 formulierten Deutung der Revolution. Die „seit langem fälligen Reformen“ seien in Preußen und dem Reich „in allerletzter Stunde, als es bereits zu spät war“ erfolgt.159 Von ihnen sei keine positive Wirkung mehr ausgegangen. Die entscheidende Alternative während der Regierungszeit der Volksbeauftragten brachte Erdmann auf die Formel: „Rätestaat oder parlamentari-

154 Herzfeld: Martin Göhring: Bismarcks Erben 1890–1945, 1960 (wie Anm. 152), hier 388. 155 Göhring: Bismarcks Erben 1890–1945, 1958 (wie Anm. 153), hier 134. 156 Ebenda, 134f. 157 Ebenda, 133. 158 Ebenda, 133f. 159 Karl Dietrich Erdmann: Die Zeit der Weltkriege (Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte 4), 8., völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart 1959, hier 76.

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sche Demokratie?“160 Deutlich betonte er die Bolschewismusgefahr, die von Anfang an sehr groß gewesen sei. „Die Sowjets schürten das Feuer in Deutschland“.161 Es sei „eine entscheidende Tatsache, daß das aus dem Zusammenbruch am 9. XI. hervorgegangene Regime in seiner Geburtsstunde von links her, nicht von rechts mit Gewalt in seiner Existenz bedroht wurde.“162 Der Einsatz von Freiwilligenverbänden unter der Führung monarchistischer Offiziere war in Erdmanns Augen symptomatisch: Alle großen Revolutionen der Weltgeschichte hätten ihre eigenen Heere geschaffen. Die Sozialdemokraten jedoch und die anderen Parteien der Weimarer Koalition „haben keine Armee eigenen Gepräges zu schaffen vermocht. Die Weimarer Republik ist hervorgegangen aus dem Zusammenwirken der Mehrheitssozialisten mit dem Generalstab, aus dem am 10. XI. geschlossenen Pakt zwischen Ebert und Groener.“163 Die Weimarer Republik deutete Erdmann nicht als Ergebnis der Revolution, sondern vielmehr als Folge der Abwehr einer Revolution. Es sei eine „Lebensfrage für Deutschland“ gewesen, „ob es gelingen würde, das Heer innerlich für den neuen Staat zu gewinnen und in unbezweifelbarer Weise der politischen Führung unterzuordnen.“164 Für die Anfangsphase sah Erdmann dies durch Noskes Politik gewährleistet. „So wurde als Ergebnis der Kämpfe des Jahres 1919 die Einheit des Reiches bewahrt und der Rahmen gesichert für den Wiederbeginn des wirtschaftlichen Lebens in Deutschland.“165 Im Kleingedruckten erörterte Erdmann die „zentrale Frage“, was das Ausbleiben der sozialen Revolution für „Wesen und Schicksal der Weimarer Republik“ bedeutet habe. Rosenbergs These sei, behauptete Erdmann nach wie vor, die Weimarer Republik „mußte zugrunde gehen, weil man Großgrundbesitz und Schwerindustrie, die wirtschaftl.-soziale Basis der bisher führenden Schichten, unangetastet ließ“.166 Manche Erscheinungen der angelsächsischen Literatur – er nannte Scheele, Taylor, Barraclough, Coper – „sehen in dem Ausbleiben der sozialen Revolution ein für das spätere Schicksal der Republik verhängnisvolles Versagen der SPD.“ Diese Vorwürfe gingen von zwei Voraussetzungen aus. Erstens davon, „daß es 1918 noch einen dritten Weg gegeben habe zwischen dem konkreten Entweder-Oder der sozialen Revolution im Bund mit den auf eine proletarische Diktatur hindrängenden Kräften und der parlamentarischen Republik im Bund mit konservativen Elementen wie dem Offizierkorps“ und zweitens, „daß das Experiment der W.R., nachdem es nun einmal unter

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Ebenda, 87. Ebenda, 89. Ebenda, 89. Ebenda, 89f. Ebenda, 99. Ebenda, 99. Ebenda, 91.

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diesen Umständen begonnen war, tatsächlich scheitern mußte. Beide Voraussetzungen stehen auf schwankendem Grund“.167 Der 1962 von Walter Tormin herausgegebene Sammelband „Die Weimarer Republik“, der bis 1987 zahllose Auflagen erlebte und wegens seiner großen Verbreitung von herausragender Bedeutung war, folgte im Wesentlichen der Linie des Gebhardt. Er fasste 1962 erstmals in Buchform „Hefte zum Zeitgeschehen“ zusammen, die ab 1960 erschienen waren und ausführliche Quellenzitate in die Darstellung der Ereignisse integrierten. Hefte wie Buch waren speziell für die historisch-politische Bildungsarbeit geschrieben. Der Teil „Die Entstehung und Entwicklung der Weimarer Republik bis zu Eberts Tod“ wurde von Guntram Prüfer und Walter Tormin verfasst. Die Autoren stellten das Geschehen bis Ende Dezember unter die Überschrift „Demokratie oder Rätesystem?“168 Mit Hinweis auf die Ausrufung der sozialistischen Republik durch Liebknecht hieß es gleich zu Beginn: „schon in der Geburtsstunde der demokratischen Republik erwuchs ihr in der radikalen Linken ein unversöhnlicher Feind.“169 Obwohl die Arbeiter- und Soldatenräte nicht insgesamt als bolschewistisch bezeichnet wurden, hob die Darstellung entscheidend auf die Alternative Bolschewismus oder Demokratie ab. Eine auf die Räte gestützte Demokratisierung, wie sie von Kolb in seiner 1962 veröffentlichten Dissertation in die Diskussion gebracht wurde, wurde nicht einmal am Rande als denkbare Alternative erwähnt – sicher ein Hinweis darauf, dass Tormin dies auch in seiner eigenen Dissertation zu Beginn der 50er Jahren nicht ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Die Auseinandersetzungen und Kämpfe im Frühjahr bekamen in der Darstellung von Prüfer/Tormin eine ausgesprochen tragische Komponente: „Die SPD hatte die Krise nur mit Hilfe gegenrevolutionärer und antidemokratischer Kräfte, der Freikorps, gemeistert. Damit begab sie sich in die Abhängigkeit von diesen Kräften, die bald ihre Rechnung präsentieren sollten. Wie anders aber hätte die Regierung mit den Aufständen fertig werden, eine demokratische Republik errichten und die Einheit des Reiches bewahren können?“170 Auch Wilhelm Hoegner sah die Revolutionszeit vorwiegend als Abwehrkampf gegen den Bolschewismus. Unter dem Titel „Die verratene Republik. Geschichte der deutschen Gegenrevolution“ veröffentlichte der SPD-Politiker und ehemalige bayerische Ministerpräsident 1958 ein Buch, das er bereits 1934 im Schweizer Exil unter dem unmittelbaren Eindruck des Scheiterns der Weimarer Republik verfasst hatte. Durchaus im Einklang mit kritischen sozialdemokratischen Stimmen der damaligen Zeit stellte Hoegner direkte Zusammenhänge zwischen dem Ende der Republik und ihrer revolutionären Entstehungsphase her: „Die deutsche Gegenrevolution von 1933 167 Ebenda, 91. 168 Guntram Prüfer/Walter Tormin: Die Entstehung und Entwicklung der Weimarer Republik bis zu Eberts Tod, in: Walter Tormin (Hg.): Die Weimarer Repulik, Hannover 1962, S. 77–132, hier 77. 169 Ebenda, 77. 170 Ebenda, 88f.

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ist die Beseitigung der durch die Revolution von 1918 geschaffenen Staatsordnung von Weimar, der Deutschen Demokratischen Republik. […] Sie ist nicht das Werk eines einzigen Mannes, sondern einer Gegenbewegung, deren Anfang und Ursachen in der Novemberrevolution von 1918 selbst gelegen sind.“171 Was diese Ursachen angeht, war für Hoegner die drohende bolschewistische Gefahr entscheidend, der die MSPD-Führung habe entgegen treten müssen. Diese Gefahr hatte in seinen Augen eine „weltgeschichtlich bedeutsame“ Dimension. „Das Ereignis der Bruderkämpfe des Jahres 1919 war die Fernhaltung des Bolschewismus von deutschem Land. Aber dieser Sieg des demokratischen Sozialismus war nur durch sein Bündnis mit dem Bürgertum, insbesondere mit dem alten monarchistisch gesinnten Offizierskorps des Weltkrieges möglich geworden.“172 So habe die erfolgreiche Revolution ihren Sieg nicht sichern können. „Die Uneinigkeit der deutschen Arbeiterschaft in der entscheidenden geschichtlichen Stunde erhielt den feudalen Herren und Industriemagnaten nicht nur ihre wirtschaftliche Macht, sondern sie zwang die Sozialdemokratie auch, zur Rettung des deutschen Volkes vor dem Bolschewismus und vor dem Zerfall, die alte Militärorganisation der Kaiserzeit zu Hilfe zu rufen. Das ermöglichte es den gegenrevolutionären Kräften, sich wieder zu sammeln und zielbewußt an die Zerstörung der Weimarer Republik von innen heraus zu gehen.“173 Die Abwehr des Bolschewismus stand zunächst auch im Mittelpunkt von Karl Dietrich Brachers Revolutionsdeutung, dessen Untersuchung über „Die Auflösung der Weimarer Republik“ in anderer Hinsicht durchaus Bahn brechend war – Hitlers Sieg erschien bei ihm nicht mehr als nahezu unvermeidliches Ergebnis der politischen und ökonomischen Krise der Weimarer Republik sowie der außenpolitischer Belastungen. Hans Mommsen nannte Brachers Studie „eine Wende in der Erforschung der Weimarer Republik“.174 Brachers Bild der Revolution von 1918/19 war allerdings 1955 und auch in der zweiten erweiterten und verbesserten Auflage 1957 noch ganz von der Vorstellung des Kampfes gegen eine deutsche Variante der bolschewistischen Oktoberrevolution geprägt. Er beschrieb die Revolution als „Versuch in drei Etappen“: „1. den verspäteten Versuch, die lange zurückgedrängte demokratisch-parlamentarische Bewegung zur Macht zu bringen und auf sie die Neuordnung des Staates zu stützen; 2. den weitergehenden Versuch einer linksradikalen Minderheit, durch die revolutionäre Eroberung des Staates die gesamte politische und gesellschaftliche Struktur im Sinne der als Vorbild genommenen russischen Oktoberrevolution umzuwandeln, während sich gleichzeitig eine rechtsradikale Min-

171 Wilhelm Hoegner: Die verratene Republik. Geschichte der deutschen Gegenrevolution, München 1958, hier 8. 172 Ebenda, 36. 173 Ebenda, 8. 174 Mommsen: Betrachtungen zur Entwicklung der neuzeitlichen Historiographie in der Bundesrepublik, 1973 (wie Anm. 102), hier 135.

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derheit im Schatten antibolschewistischer Abwehrversuche zum Angriff auf die Demokratie überhaupt bereitzustellen suchte; 3. den Versuch, die radikalen Tendenzen abzudämmen und durch ein Bündnis zwischen den alten Ordnungsprinzipien und den vorwärtsdrängenden demokratischen Kräften, das zunächst auf Zeit und für den konkreten Zweck der Wiederherstellung der Ordnung geschlossen war, die staatserhaltende Integration der verschiedenen politischen und sozialen Gruppen in einer Reihe von Kompromissen zwischen den widerstreitenden Mächten zu erreichen.“175 Bracher sah durchaus negative Konsequenzen dieses Revolutionsverlaufs, sprach von „schwerwiegenden Problemen“, die aus dem Charakter der Revolution erwachsen seien. Die neue Ordnung sei von einem großen Teil der alten Macht- und Autoritätsträger grundsätzlich nicht anerkannt worden. Nur für den Augenblick hätten sich Bürokratie, Militärs und politische Gruppen der Rechten stillschweigend der SPD und ihrer gemäßigten Revolution gefügt, die eine gewisse Kontinuität zu wahren versprochen habe.176 Erwähnenswert, weil spezifisch akzentuiert und einflussreich, ist auch die Darstellung Karl Buchheims, der damals in München lehrte. Buchheim charakterisierte das Heer, wie es sich im Weltkrieg entwickelt hatte, als starke demokratische Kraft. Das Bündnis zwischen Ebert und Groener sei folgerichtig gewesen, und so „wurde die Republik zur gemeinsamen Schöpfung der Sozialdemokratie und des Heeres. Die Zusammenarbeit dieser beiden Kräfte mußte damals im Dunkeln gehalten werden; später wurde diese Tatsache geflissentlich verdunkelt. Um so wichtiger ist es, sie für immer ins Geschichtsbewußtsein des ganzen Volkes zu erheben.“177 Die revolutionäre Bewegung im Oktober und November 1918 sah Buchheim nicht als von Moskau gesteuert an. „Dazu fehlte es an ausreichenden Verbindungen.“178 Danach aber habe sich die Revolution zur Kraftprobe mit dem Linksradikalismus und indirekt auch dem Bolschewismus entwickelt. Die Bolschewismusgefahr sei von den Zeitgenossen nicht übertrieben, sondern unterschätzt worden. Wie groß die Ignoranz gegenüber der russischen Gefahr bei „sonst urteilsfähigen Männern“ gewesen sei, „bewiesen deutsche Wirtschaftsführer und Generale, die den bolschewistischen Agenten Radek, der damals auch verhaftet wurde, im Gefängnis besuchten, um sich von ihm erzählen zu lassen, daß Lenin der große Verbündete Deutschlands gegen die westlichen Siegermächte werden wolle.“179 Im Gegensatz zu diesen Kreisen „fühlten die breiten Schich-

175 Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie (Schriften des Instituts für Politische Wissenschaft 4), 2., verbesserte und erweiterte Aufl., Stuttgart/Düsseldorf 1957, hier 21f. 176 Ebenda, 20f. 177 Karl Buchheim: Die Weimarer Republik. Grundlage und politische Entwicklung, München 1960, hier 28f. 178 Ebenda, 19. 179 Ebenda, 32f.

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ten die Bedrohung von Heimat und Lebensart aus dem Osten kommen“,180 und auch Ebert habe „die große Gefahr für Recht und Freiheit in Deutschland aus dem Osten heraufziehen“ sehen.181 Buchheim deutete die Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit als Streit um die außenpolitische Orientierung des Reiches, seinen Platz in der Welt. „Der Kampf um dieses Volk zwischen West und Ost ist durch den zweiten Weltkrieg noch nicht entschieden worden.“182 Buchheims Darstellung galt 1960 als so wesentlich für die politische Bildung breiter Kreise, dass im folgenden Jahr ein vollständiger Abdruck in der Beilage zur Zeitschrift „Das Parlament“ erschien.183 Georg Kotowski, der letzte Assistent von Friedrich Meinecke, machte „Die deutsche Novemberrevolution“ zum Thema seiner öffentlichen Antrittsvorlesung in Berlin am 3. Juni 1959. Der Text wurde geringfügig erweitert ebenfalls in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ abgedruckt.184 Kotowski begann seinen Text mit dem Satz: „Wenige Ereignisse der deutschen Geschichte waren und sind so umstritten wie die Revolution von 1918.“ Und er spielte damit auf die erbitterten Auseinandersetzungen über das Ende der Monarchie und die Dolchstoßthese in der Zeit der Weimarer Republik an, die er offenbar noch nicht für erledigt hielt – und nicht etwa auf die Frage, ob in der Revolutionszeit versäumt worden sei, der Republik eine stabilere Grundlage zu geben. Rosenbergs „Geschichte der Deutschen Republik“ erwähnte Kotowski in der englischen Fassung von 1936 nicht in einer deutschen aus dem Jahr 1935 oder 1955, völlig unerwähnt blieb Tormins Arbeit über die Räte der Revolutionszeit von 1954. Kotowski sah die Revolution zunächst als Störung des geordneten Reformprozesses. Glücklicherweise habe ein erfahrener Politiker wie Friedrich Ebert seinen Einfluss zur Geltung bringen können.185 Kotowski thematisierte zwar die Idee, es hätte eine weitergehende Veränderung der Gesellschaft geben können, tat sie aber rasch als unrealistisch ab: Eine „vollständige Umgestaltung“ von Staat und Gesellschaft sei 1918 „aus außenpolitischen, aber auch aus inneren Gründen ganz unerreichbar“ gewesen, es sei eine „Legende“, wenn man behaupte, es habe damals im Ermessen der SPD gestanden, „Deutschland nach ihren Prinzipien umzugestalten.“186 Stets sei die Gefahr als drohend empfunden worden, dass „eine linksradikale Revolution zu einer bolschewistischen werden und sich dann mit der russischen verbinden würde“. Angesichts der Konflikte mit den Radikalen habe Ebert „in verstärktem Umfang An-

180 Ebenda, 36. 181 Ebenda, 35. 182 Ebenda, 130. 183 Karl Buchheim: Die Weimarer Republik. Grundlagen und politische Entwicklung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1961), S. 289–311. 184 Georg Kotowski: Die deutsche Novemberrevolution, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1960), S. 763–770. 185 Ebenda, 765. 186 Ebenda, 766.

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schluß nach rechts“ suchen müssen,187 die Mehrheitspartei habe den militärischen Verbänden weit mehr faktische Macht einräumen müssen, als sie dies je beabsichtigt hätte.188 „So begann die traurigste Phase der deutschen Revolution, die auf allen Seiten zu grausamer Verhetzung und leidenschaftlicher Verbitterung führte und die Entwicklung der Weimarer Republik auf das schwerste belastet hat.“189 Kotowskis Fazit: „Der radikale Flügel erstrebte das mindestens zur Zeit Unerreichbare, verhinderte damit die Konsolidierung des Erreichten und versperrte so den Weg zum Erreichbaren. Das Ergebnis war ein schwacher Staat, zu dem sich nur eine Minderheit aus wirklicher Überzeugung bekannte und den wenige liebten.“190 Diese Aussage über den radikalen Flügel passte 1959 durchaus auch zu den aktuellen Entscheidungen, vor denen die Sozialdemokraten standen. Fünf Monate nach Kotowskis Antrittsvorlesung fand der Godesberger Parteitag der SPD statt. Peter v. Oertzen war als Delegierter in Bad Godesberg dabei. Er hatte sich bereits 1958 mit der ersten aus den Archivalien gearbeiteten westdeutschen Untersuchung über die Revolutionszeit zu Wort gemeldet. Oertzen gehörte dem linken Flügel der SPD an, er war einer von wenigen Delegierten, die dem Godesberger Programm nicht zustimmten. Vor diesem Hintergrund ist seine Beschäftigung mit der Revolution von 1918/19 sicher auch als Versuch zu werten, aus den historischen Erfahrungen, die die SPD mit ihrer Politik in der Weimarer Zeit gemacht hatte, Anhaltspunkte für die aktuelle Diskussion über die Programmatik der Sozialdemokratie zu gewinnen. Mit seinem Aufsatz „Die großen Streiks der Ruhrbergarbeiterschaft im Frühjahr 1919“ knüpfte Oertzen 1958 an Rosenbergs „Geschichte der Deutschen Republik“ an und versuchte am Beispiel der Bergarbeiterbewegung vom Frühjahr 1919 dessen Thesen und Untersuchungen zu prüfen, zu vertiefen, zu ergänzen und zu konkretisieren. Ausdrücklich wandte er sich gegen Erdmanns Kritik an Rosenberg und gegen „die gängige Auffassung“, „daß es 1918/19 zwischen Roter Armee und einer Reichswehr unter Führung des alten Offizierskorps, zwischen der proletarischen Diktatur und einer im Bündnis mit konservativen Kräften aufgebauten Demokratie realiter keine dritte Möglichkeit gegeben habe.“191 Oertzen kam zu dem Ergebnis: „Die Politik der Unterdrückung der Bergarbeiterbewegung war in der Sache nicht zwingend begründet […]. Eine konstruktive Sozialisierungspolitik und eine sinnvolle Zusammenarbeit mit der wirtschaftlichen Rätebewegung wären im Frühjahr 1919 durchaus möglich gewesen. Die Einigungsbestrebungen bei SPD und USPD waren gerade nach der Katastrophe des Januar-Putsches stark und ehrlich. […] Der Aufbau

187 Ebenda, 767. 188 Ebenda, 769. 189 Ebenda, 769. 190 Ebenda, 770. 191 Peter v. Oertzen: Die großen Streiks der Ruhrbergarbeiterschaft im Frühjahr 1919. Ein Beitrag zur Diskussion über die revolutionäre Entstehungsphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 6 (1958), S. 231–262, hier 233.

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der Freikorps z. B. wäre überflüssig geworden. Das Blut der Kämpfe von Februar bis Mai hätte nicht zu fließen brauchen. Der radikalen Linken hätten sich in ihrer Opposition nicht so wohlfeile Zielpunkte geboten, sie wäre schwächer geblieben und hätte sich zugleich mäßigen müssen. […] Daß eine solche Politik die Demokratie besser hätte sichern können, als es wirklich geschehen ist, liegt auf der Hand.“192 Oertzen sah eine „breite einheitliche sozialistische Mittelströmung in der Arbeiterschaft über die Parteigrenzen hinweg“193 und stellte fest, „daß Rätesystem und Sozialisierung nur als Ergänzung der parlamentarischen Demokratie, nicht als ihre Ersetzung durch die Rätediktatur gedacht waren.“194 Bewegte sich Oertzen mit diesen Feststellungen ganz im Rahmen der früher schon von Rosenberg vertretenen Position, so wich er, was Voraussetzungen und Ursachen der Revolution betrifft, deutlich ab. Im Gegensatz zum gängigen Verständnis, das die Revolution als Hungerund vor allem Friedensrevolte sah, betonte Oertzen ausdrücklich, dass Voraussetzung der Revolution die Auflehnung der Arbeiter gegen ihre spezifische gesellschaftliche Lage gewesen sei.195 Der Position, das sozialistisch-konservative Zweckbündnis sei geradezu Entstehungs- und Lebensbedingung der Weimarer Republik gewesen, hielt Oertzen die Frage entgegen: „Ist eine demokratische Verfassung überhaupt lebensfähig, wenn sie auf dem Zwangsbündnis vollkommen gegensätzlicher gesellschaftlicher Kräfte beruht, wie es die Weimarer Republik tat?“196 Der Herausgeber der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ (VfZ) Hans Rothfels war sich bewusst, dass Peter v. Oertzens Abhandlung „mindestens eine starke Reizwirkung“ haben würde, weil sie „an Stelle einer zugegebenermaßen zur Konvention gewordenen Alternative“ die „offene Situation“ von 1919 betone und der Frage gewidmet sei, „ob in der Entstehungsgeschichte der Weimarer Republik nicht nur theoretisch, sondern praktisch-empirisch eine andere sozialistische Möglichkeit gestanden habe als die Alternative: Kompromiß mit den bürgerlichen und konservativen gesellschaftlichen Kräften oder rote Diktatur.“ Offenbar war schon diese Frage eine Art Tabubruch, weshalb der Herausgeber sich bemüßigt fühlte, in einem Vorwort zu betonen, Oertzens Ansicht sei „forschungsmäßig unterbaut“ und sollte in der Diskussion nicht fehlen.197 Zwei weitere relevante Veröffentlichungen erschienen im selben Jahr. Zum einen war dies Oskar Anweilers Studie über „Die Rätebewegung in Rußland 1905–1921“. Anweiler arbeitete vor allem heraus, dass eine schlichte Identifizierung von „Räten“ mit dem schließlich entstandenen Staat in der Sowjetunion historisch nicht gerechtfertigt sei. „Eine Untersuchung der Entstehung des bolschewistischen Staates zeigt

192 193 194 195 196 197

Ebenda, 261f. Ebenda, 248. Ebenda, 250. Ebenda, 235. Ebenda, 232. Ebenda, 231.

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vielmehr die ursprüngliche Selbständigkeit der Räte, die erst auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung mit einem zweiten Element, der Leninschen Revolutions- und Staatstheorie und der bolschewistischen Partei- und Staatspraxis, zu einem Neuen, dem bolschewistischen Rätesystem, verschmolzen.“198 Die internationale politische Lage Mitte der Fünfzigerjahre ließ eine saubere Unterscheidung zwischen einem Rätesystem und dem Staat der Sowjetunion durchaus als sinnvoll und geradezu zwingend erscheinen: „Die revolutionären Ereignisse in Ungarn und Polen im Herbst des Jahres 1956 offenbarten in kaum erwartbarer dramatischer Weise die Aktualität des Räteproblems wie auch schon vorher das jugoslawische System der Arbeiterräte die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.“199 Zum anderen veröffentlichte Helmut Neubauer 1958 unter dem Titel „München und Moskau 1918/1919“ eine erste Untersuchung zur Geschichte der Rätebewegung in Bayern. Neubauers zentrale Frage war die nach dem Einfluss der russischen Revolution auf die Revolution in Bayern. Selbst für München, das durch die Räterepubliken im Frühjahr 1919 als revolutionäres Zentrum ausgewiesen schien, konnte Neubauer – auch unter Auswertung russischer Quellen – keinen bestimmenden Einfluss der Bolschewiki feststellen. Vorbildcharakter habe die russische Revolution im November 1918 sicher nur für eine kleine Gruppe gehabt, während sie für die Mehrheit in ihrer Bedeutung auf Russland beschränkt geblieben sei. „Dieses Verhältnis verschiebt sich um so mehr, als es sich erweist, daß die neue Macht nicht in der Lage ist, den im ersten Anlauf errungenen Erfolg durch eine zielstrebige Regierungstätigkeit zu festigen und auszubauen.“ Erst jetzt habe man begonnen, sich an einem Modell zu orientieren, das praktisch bereits erprobt sei. Die Ausrufung der kommunistischen Räterepublik sei schließlich zweifellos in dem Bewusstsein erfolgt, damit einen Schritt zu tun, der die Weltrevolution vorantreibe.200 Auch Neubauers Arbeit stützte somit die damals vorherrschende Deutung der Revolution nicht. Im Gegenteil legte auch sie die Frage nahe, ob durch eine andere Politik der gemäßigt-sozialistischen Kräfte nicht eine Radikalisierung der Linken hätte verhindert, und damit auch die blutigen Auseinandersetzungen im Frühjahr 1919 hätten vermieden werden können. Während Neubauers Untersuchung – wohl auch aufgrund der sehr speziellen Thematik und des eingeschränkten Betrachtungshorizonts – kaum Beachtung fand, erregte die im folgenden Jahr fertig gestellte und 1962 gedruckte Dissertation von Eberhard Kolb über „Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918 bis 1919“ große Aufmerksamkeit. Auf der Basis umfangreichen, bis dahin nicht ausgewerteten Archivmaterials zeichnete Kolb ein Bild der Arbeiterräte, das die wesentlichen Grundmuster der zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Revolutionsdeutung grundsätzlich in Frage stellte. Die Arbeiterräte seien als „Improvisation unter dem Zwang der Ver198 Oskar Anweiler: Die Rätebewegung in Russland 1905–1921, Leiden 1958, hier 1. 199 Ebenda, 1. 200 Helmut Neubauer: München und Moskau 1918/19. Zur Geschichte der Rätebewegung in Bayern, München 1958, hier 96.

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hältnisse“ entstanden und keineswegs als bolschewistische Kampforgane zu sehen. Die Analyse des Räteausbaus beweise, „daß Anfang Dezember die SPD in den meisten dieser Spitzengremien die Mehrheit besaß und daß der neuen Regierung und der Parteileitung damit ein für sie im politischen Sinne zuverlässiges Instrument beim Neubau des Staates in die Hand gegeben war, von dem sie Gebrauch machen konnte, wenn sie dazu entschlossen war.“201 Aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Verwaltungsexekutive seien die Arbeiterräte zu der Überzeugung gekommen, „daß eine demokratische Herrschaft nicht gesichert sei, solange die demokratisch-republikanischen Kräfte nicht über bestimmenden Einfluß im Verwaltungsapparat verfügten, der bis 1918 in den meisten Teilen Deutschlands ein streng gehütetes Reservat der konservativen und reaktionären Kräfte war. Daher wurde die Forderung nach ‚Demokratisierung der Verwaltung‘ das entscheidende Anliegen der deutschen Arbeiterräte und der konkrete Ausdruck für das Verlangen weiter Bevölkerungsschichten nach einer entschlossenen demokratischen Ausgestaltung der Republik.“202 Selbst von manchen der „radikalen“ Arbeiterräte sei die Forderung nach Demokratisierung häufiger und dringender vorgebracht worden als die Forderung nach Sozialisierung. Kolb hielt es deshalb für denkbar, dass ein Entgegenkommen der Regierung in dieser Frage „ein Abschwenken dieses gemäßigten Teiles der Linksopposition in das Lager des Linksradikalismus hätte verhindern können. […] 1918/19 waren die Arbeiterräte für die im November zur politischen ‚Mündigkeit‘ gelangten Schichten nicht nur die einzig zur Verfügung stehenden, sondern auch die geeigneten Instrumente zur Erringung und zum Ausbau von Machtpositionen in der Verwaltung und damit zur Sicherung eines demokratischen Charakters der jungen Republik.“203 Ob sie die darin liegenden Chancen nutzen konnte, sei vollständig von dem innenpolitischen Kurs abhängig gewesen, den SPD-Führung und SPD-Regierungsmitglieder einschlugen. Von einer zwangsläufig gegebenen Alternative „Bolschewismus“ oder „Weimarer System“ könne nicht die Rede sein.204 Der politische Spielraum der Handelnden sei in den Monaten November bis Januar wesentlich größer gewesen, als es in jenem langläufigen Urteil zum Ausdruck komme. Stärker als irgendwelche Zwangsläufigkeiten gelte es Verantwortlichkeiten zu sehen und den Entscheidungscharakter in aller Deutlichkeit herauszuarbeiten. „Die seit Januar einsetzende Radikalisierung war die Folge, nicht die Ursache der durch politische Energielosigkeit gekennzeichneten sozialdemokratischen Politik. […] aus Furcht vor dem Bolschewismus engten die SPD-Führer selbst den Spielraum für ihre Politik auf jene einfache Alternative ein, machten dadurch eine elastische politische Aktivität unmöglich und

201 Eberhard Kolb: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918/1919, Düsseldorf 1962, hier 113. 202 Ebenda, 404f. 203 Ebenda, 405. 204 Ebenda, 406.

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trieben eben dadurch einen Teil der Arbeiterschaft ins Lager der Radikalen, die erst dadurch eine wirkliche Gefahr für die Republik wurden.“205 (vgl. Kap. 7) Neben Eberhard Kolb arbeiteten Ende der Fünfzigerjahre noch andere junge Historiker an Problemen der Revolutionszeit. Wolfgang Elben behandelte in seiner Hamburger Dissertation von 1959 „Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution. Die Politik der Staatssekretäre und der militärischen Führung vom November 1918 bis Februar 1919“.206 Elben kam zu ähnlichen Ergebnissen wie Kolb. „Der Zwang der Katastrophensituation, die Hochachtung vor dem Sachverstand des Fachmannes, die Furcht vor einem ‚Weitertreiben der Revolution‘ und die vorrevolutionäre Zusammenarbeit der Mehrheitssozialdemokraten mit ihnen hatten die Volksbeauftragten zu der eminent politischen Entscheidung für die Zusammenarbeit mit den Staatssekretären und den Militärs veranlaßt. Diese Gründe wirkten weiter bis zur Nationalversammlung und verschafften den ins Politische reichenden und sich dort auswirkenden Ansichten der Staatssekretäre über die sachlich notwendigen Maßnahmen zur Wiederherstellung geordneter Zustände autoritative Geltung.“207 Elben stellte deutlich die aktive Rolle der bürgerlichen Staatssekretäre in der Innenpolitik heraus. Solf, Brockdorff-Rantzau und Erzberger hätten sich bemüht, mit „fachlichen“ außenpolitischen Argumenten innenpolitische Maßnahmen zu erreichen. „So wurden in den ersten Wochen und Monaten nach dem 9. November unwiderrufliche Tatsachen geschaffen.“208 Die Chefs der obersten Zivil- und Militärbehörden hätten die Möglichkeit genutzt, „Deutschland von der Revolution wegzuführen, den Bruch mit der Vergangenheit zu mildern oder gar zu verhindern.“209 Auffallend sei ein „spürbarer Mangel an Tatkraft“ beim Rat der Volksbeauftragten, der es insbesondere versäumt habe, „den elementar demokratischen Kräften in den nur äußerst selten von bolschewistischen Theorien beherrschten Arbeiter- und Soldatenräten“ adäquate Aufgaben zu übertragen.210 (vgl. Kap. 7) Weitere Untersuchungen entstanden zur selben Zeit. „Der Kampf um die deutsche Wirtschaftspolitik nach dem Novemberumsturz 1918“ war das Thema der Dissertation von Hans Schieck,211 und Wolfgang Sauer promovierte 1957 an der FU Berlin mit dem Thema „Das Bündnis Ebert-Groener“.212 Peter v. Oertzen schließlich setzte seine 1958 begonnene Arbeit über die zweite Phase der Revolution fort und veröffentlichte 1963 205 Ebenda, 406. 206 Wolfgang Elben: Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution. Die Politik der Staatssekretäre und der militärischen Führung vom November 1918 bis Februar 1919 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien), Düsseldorf 1965. 207 Ebenda, 165f. 208 Ebenda, 169. 209 Ebenda, 169f. 210 Ebenda, 171. 211 Hans Schieck: Der Kampf um die deutsche Wirtschaftspolitik nach dem Novemberumsturz 1918, Heidelberg 1958. 212 Wolfgang Sauer: Das Bündnis Ebert – Groener, Berlin 1957.

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seine Studie über „Betriebsräte in der Novemberrevolution“ (vgl. Kap. 7).213 Gemeinsam sorgten diese „quellengesättigten Studien“, wie Reinhard Rürup 1968 feststellte, für eine „Wiederentdeckung der Revolution“.214 Zweifellos am entschiedensten betonte Oertzen den revolutionären Willen der Rätebewegung: „Eine breite Strömung in der sozialistischen Arbeiterschaft Deutschlands war nicht gewillt, sich bereits mit der parlamentarischen Regierungsform zufriedenzugeben. Sie verlangte als Mindestes eine soziale Demokratie, die als erster Schritt auf dem Wege zum Sozialismus gelten konnte. Die organisatorische Form, in die dieser soziale fortschrittliche Charakter der neuen Republik gekleidet werden sollte, war das Rätesystem.“215 Oertzens starke Betonung eines eigenständigen politischen Willens hing auch damit zusammen, dass Gegenstand seiner Untersuchung vor allem die Rätebewegung im Bereich der Wirtschaft und im Frühjahr 1919 war. Für die Novemberwochen sah auch er eine „aus unterschiedlichen Beweggründen entspringende Volksbewegung“, aus der erst eine starke sozialistische Arbeiterströmung erwachsen sei.216 Im Hinblick auf den Handlungsspielraum der Regierung in der Revolutionszeit stimmen die Arbeiten im Wesentlichen auf der Linie Kolbs überein. Wiederum ging Oertzen am weitesten, wenn er formulierte: „die einzige wirkliche Alternative zur bürgerlichen Demokratie war nicht der ‚Bolschewismus‘, sondern eine auf die Räte gestützte soziale Demokratie“.217 Wiederholt sprach er von der Möglichkeit eines „dritten Weges“ zwischen bürgerlicher Demokratie und Bolschewismus. Ob nun die Räte primär als Instrumentarium gesehen wurden, das der Rat der Volksbeauftragten für das Durchsetzen einer stärkeren Demokratisierung im Rahmen einer grundsätzlich parlamentarischen Demokratie hätte nützen sollen, wie dies etwa Kolb tat, oder ob die Räte als Basis einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaftsordnung gesehen wurden, wie das bei Oertzen der Fall war – beiden Positionen gemeinsam war die Überzeugung, dass die Revolution von 1918/19 nicht adäquat zu erfassen sei, ohne die Rolle der Räte in dieser Revolution angemessen zu berücksichtigen. Neben der Wiederentdeckung der Rätebewegung war aber auch die Einbeziehung gesellschaftspolitischer, insbesondere wirtschaftspolitischer Fragen in die Untersuchung der Revolutionszeit wesentlich. Da überdies nicht mehr nur das Agieren politischer Spitzengremien, sondern auch Entscheidungen und Aktivitäten der politischen Basis berücksichtigt wurden, ergaben die Ende der Fünfzigerjahre durchgeführten Forschungsarbeiten ein detailliertes Bild vom Ablauf und den einzelnen

213 Peter v. Oertzen: Betriebsräte in der Novemberrevolution. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Revolution 1918/19, Düsseldorf 1963. 214 Rürup: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, 1968 (wie Anm. 93), hier 8. 215 Oertzen: Betriebsräte in der Novemberrevolution, 1963 (wie Anm. 213), hier 59f. 216 Ebenda, 67. 217 Ebenda, 67.

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Phasen der Revolution. Sie führten zu einer deutlichen Erweiterung des bis dahin vorhandenen Faktenwissens. Im strengen Sinn des Wortes begann in der Bundesrepublik mit ihnen die Erforschung der Geschichte der Revolution von 1918/19. Angesichts ihrer Breite wurden die neuen Forschungsergebnisse in der westdeutschen Geschichtswissenschaft verhältnismäßig rasch zur Kenntnis genommen. Schon 1959 wies Erdmann in der Neuauflage des Gebhardt auf den Aufsatz Peter v. Oertzens aus dem Vorjahr hin und verlangte von den Verfechtern eines „dritten Weges“ den Nachweis, „daß eine nach dem Rätesystem organisierte Wirtschaft die gesellschaftliche Basis einer parlamentarischen Demokratie zu sein vermöchte“218 – durchaus ein Hinweis auf die politische Dimension, die Erdmann mit den Revolutionsdeutungen verband. Matthias lenkte 1960 die Aufmerksamkeit auf die Dissertationen Kolbs und Elbens und machte sich deren kritische Haltung gegenüber der SPD-Führung zu Eigen, wenn er schrieb, „die Passivität ihrer Revolutionspolitik und ihre mangelnde Gestaltungskraft“ seien nicht ausschließlich die Folge äußerer Faktoren gewesen. Die führenden sozialdemokratischen Vertreter hätten sich am engen Kreis der Anschauungen und Erfahrungen der Vorkriegssozialdemokratie orientiert, und dieses „erstarrte sozialdemokratische Selbstbewusstsein“ habe die Aktionsmöglichkeiten der Partei weit wirksamer begrenzt als die Ungunst der vielberufenen „Verhältnisse“.219 Bracher veröffentlichte 1963 in der Schriftenreihe der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung einen Beitrag über die Entstehung der Weimarer Verfassung, der im folgenden Jahr auch als Aufsatz in einem Sammelband mit Beiträgen zur neueren Politik und Geschichte erschien.220 Er enthielt eine im Vergleich zu 1955/ 57 erkennbar veränderte Deutung der Revolution von 1918/19. Bracher charakterisierte nun den Rat der Volksbeauftragten als „eine Übergangsregierung zwischen parlamentarischer und revolutionärer Legitimierung, deren staatsrechtlicher Charakter kaum zu bestimmen war.“ Es habe sich rasch gezeigt, „daß sie nicht so sehr gegen die untergehende alte Ordnung als gegen die linksradikale Drohung des Bolschewismus gerichtet war.“ Bracher sprach jetzt vom „wohl erheblich überschätzten Linksradikalismus“ und „einer Entwicklung, in der nun allerdings noch einmal – oder schon wieder – die alten Gewalten des Militärs und der Bürokratie eine bestimmende Rolle erlangten.“221 Zur Durchsetzung ihres Kurses hätten Ebert und seine Mitarbeiter, insbesondere Noske, „mit antirevolutionären, vielfach auch antidemokratischen Kräf-

218 Erdmann: Die Zeit der Weltkriege, 1959 (wie Anm. 159), hier 91. 219 Erich Matthias: Das Ende der Parteien 1933. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1960), S. 361–368, hier 361. 220 Karl Dietrich Bracher: Entstehung der Weimarer Verfassung. Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur. Beiträge zur neueren Politik und Geschichte, Bern/München/Wien 1964, S. 11–32. 221 Ebenda, 18.

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ten“ zusammengearbeitet.222 Freikorps und Zeitfreiwillige seien zum „Ausgangspunkt und zur Kerntruppe von rechtsradikalen Gegenbewegungen geworden, die sich bald nicht nur gegen die Revolution, sondern gegen die demokratische Republik insgesamt richteten.“ Auch die Karriere des Gefreiten Adolf Hitler habe von hier aus ihren Anfang genommen. So sei schon in der Periode der Revolution der Keim zu einer neuen Bedrohung der Staatsordnung gelegt worden. „Es wird deshalb mit Recht immer wieder die Frage aufgeworfen, ob die entscheidenden Weichenstellungen von 1918/19, die durch die Revolutionsfurcht des Bürgertums und besonders durch die umstrittene Einschätzung einer bolschewistischen Gefahr auch seitens der Sozialdemokraten bestimmt waren, wirklich die einzige Alternative zu einer Diktaturlösung des deutschen Dilemmas boten. Zu wenig sind die demokratischen Impulse genutzt worden, die in der Rätebewegung angelegt waren.“223 Innerhalb weniger Jahre wurde die zuvor völlig vernachlässigte Revolution von 1918/19 zu einem bedeutsamen Thema der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft. Beim Historikertag 1964 wurde die neue Interpretation der Revolution in einer eigenen Sektion diskutiert. Sie war – neben „Thesenanschlag Luthers“ und „Deutsche Kriegsziele im Ersten Weltkrieg“ – eine der drei Sektionen, in denen auf ausführliche einleitende Referate verzichtet wurde. Das war der Fall, so Erdmann als Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands, wo „scharf pointierte, kontroverse Probleme“ vorlägen, „die z. T. zu antithetischen in der Literatur vertretenen Positionen geführt haben. Es schien uns gut, Historiker, die zum gleichen Thema geschrieben haben, miteinander reden zu lassen.“224 Der größte Sprengstoff steckte damals in der Sektion, die sich mit den deutschen Kriegszielen im Ersten Weltkrieg beschäftigte. Die so genannte Fischer-Kontroverse war in vollem Gang, und Hans Herzfeld leitete die Sektion, an der u. a. Karl Dietrich Erdmann und Gerhard Ritter, Fritz Fischer und Imanuel Geiss teilnahmen.225 Etwas im Schatten dieser Großkontroverse stand die Debatte über „Das Problem der Räte bei der Entstehung der Weimarer Republik“, auch wenn beide nicht zeitgleich stattfanden. An ihr waren mit einleitenden Diskussionsbeiträgen Eberhard Kolb, Peter v. Oertzen, Walter Tormin, Gerhard A. Ritter, Erich Matthias und Waldemar Besson beteiligt. In die Diskussion griffen auch Oskar Anweiler, Allen Mitchell, Otto Heinrich von der Gablentz und Wolfgang Mommsen ein, die Leitung lag bei Karl Dietrich Bracher.226

222 Ebenda, 19. 223 Ebenda, 20. 224 Karl Dietrich Erdmann: Begrüßungsansprache, in: Bericht über die 26. Versammlung deutscher Historiker in Berlin. 7.–11. Oktober 1964 (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Beiheft), Stuttgart 1965, S. 9–11, hier 9f. 225 Bericht über die 26. Versammlung deutscher Historiker in Berlin. 7.–11. Oktober 1964 (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Beiheft), Stuttgart 1965, hier 69. 226 Ebenda, 42.

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Die Protokolle dokumentieren eine lebhafte aber keineswegs hitzig geführte Debatte, die etwas darunter zu leiden schien, dass niemand eine fundamental gegensätzliche Position zu Kolb und Oertzen vertrat. Kolb erläuterte zu Beginn seine Deutung und betonte, im Gegensatz zur hergebrachten einfachen Formel „Weimarer System oder Rätediktatur“ seien die ersten Monate nach dem Staatsumsturz gekennzeichnet durch eine „Offenheit der Situation“, es habe ein wesentlich breiteres Spektrum der politischen Möglichkeiten und ein größerer Spielraum für die politisch Handelnden bestanden, als die „herkömmliche Auffassung“ wahrhaben wolle. Erst im Verlauf der Revolution und gewissermaßen als ihr Ergebnis sei diese Offenheit der Situation zunehmend eingeengt worden. „Bei der Mehrheit der aktiven Rätemitglieder war ein starker demokratischer Impetus vorhanden, der es erlaubt – und erfordert – hätte, die Räte bei der Demokratisierung in allen entscheidenden Bereichen (Verwaltung, Wirtschaft, Heer) mit heranzuziehen und im Rahmen einer parlamentarischen Gesamtverfassung angemessene institutionelle Formen für eine demokratische Kontrolle zu schaffen. Eine auf die Räte gestützte weitgehende Demokratisierung in Wirtschaft und Verwaltung hätte nicht einem ‚Hinübergleiten in den Bolschewismus‘ Vorschub geleistet, sondern die Abwanderung großer Teile der Arbeiterschaft zum Radikalismus verhindert und eine stärkere Verbundenheit der demokratisch-republikanischen Bevölkerungskreise mit dem Staat von Weimar bewirkt.“227 Peter v. Oertzen spitzte noch zu, nannte die Alternativ-Formulierung Erdmanns explizit „falsch“. „Die wirkliche Alternative zur konservativ fundierten parlamentarischen Demokratie war eine gemäßigt sozialistische, auf die Rätebewegung gestützte ‚soziale Republik‘. […] Die Gefahr des ‚Bolschewismus‘ hat in der Novemberrevolution objektiv nie bestanden. […] Die ‚soziale Republik‘ war 1918/19 eine reale politische Alternative. Dafür, daß diese objektive Möglichkeit von der Mehrheit der sozialdemokratischen und Gewerkschaftsführer subjektiv nicht erkannt und ergriffen wurde, gibt es gute historische Gründe. Die objektiven Realisierungschancen einer ‚sozialen Republik‘ waren jedoch vorhanden.“228 Walter Tormin stimmte beiden im Wesentlichen zu, bezweifelte aber, „daß diese Alternative den Zeitgenossen schon so bewußt werden konnte […] Für den Zeitgenossen war nicht erkennbar, welche Tendenz sich bei den Räten durchsetzen würde.“229 In der Stunde des Handelns sähen die Dinge oft anders aus als bei nachträglicher Schreibtischanalyse der Historiker. Vielleicht, so Allen Mitchell, entspreche ja auch die Erkenntnis, die eigentliche Alternative sei die soziale Demokratie gewesen, mehr der Nachtragsweisheit der Historiker als den historischen Möglichkeiten.230 Gerhard A. Ritter wies nicht nur auf die Schwierigkeiten der damaligen Lage hin, sondern formulierte auch erhebliche Einwände gegen Oertzens Thesen. 227 228 229 230

Ebenda, 42f. Ebenda, 44. Ebenda, 45. Ebenda, 47.

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Keiner habe bislang „die Vereinbarkeit einer Kontrolle durch Parlament und Räte“ zu zeigen vermocht.231 Erich Matthias vertrat die Meinung, auf jeden Fall lasse sich sagen, dass die Volksbeauftragten nicht begriffen hätten, was unten vorging. In den Räten habe ein sehr starkes demokratisches Potential gelegen, das über die Anhängerschaft der alten demokratischen Parteien hinausgegriffen habe. Es sei ein Verhängnis gewesen, daß die Regierung nicht verstanden habe, mit diesem Potential zu rechnen und es auszunützen.232 Waldemar Besson meinte, nicht nur der Rätegedanke habe eine Massenbasis gehabt, sondern auch der Parlamentarismus, denn der Rest der Bevölkerung habe zum Massenanhang dieses Gedankens gezählt.233 Schließlich fasste Kolb als positives Ergebnis zusammen, die Sitzung habe gezeigt, dass die Frage, welchen Spielraum die SPD und die Regierung besaß, wieder diskutierbar geworden sei.234 Heinrich August Winkler brachte es 2002 auf den Punkt, als er feststellte, „mit ebendieser Debatte hörte die These Erdmanns auf, die ‚herrschende Lehre‘ zu repräsentieren.“235 Zugleich stellte er diese Veränderung in einen größeren Zusammenhang: „Es war mehr als ein Zufall, daß auf demselben Historikertag eine andere Revision stattfand, die in der Öffentlichkeit noch sehr viel stärker beachtet wurde: die Abkehr von der gängigen Auffassung, Deutschland sei 1914 wie die anderen europäischen Großmächte in den Ersten Weltkrieg ‚hineingeschlittert‘.“236 Ganz offensichtlich war in der westdeutschen Geschichtswissenschaft einiges in Bewegung geraten. So war Mitte der 60er Jahre – symbolträchtig veranschaulicht in der Debatte des Historikerkongresses 1964 – eine Öffnung der Deutungsmöglichkeiten erfolgt. Auch wenn in Handbüchern und Gesamtdarstellungen zur Weimarer Republik die Revolution von 1918/19 fast uniform weiter als erfolgreiche Abwehrschlacht gegen den Bolschewismus dargestellt wurde, gab es unter den Fachleuten keine „herrschende Lehre“ mehr, sondern ein offenbar hoch spannendes Thema, das hervorragend in die politische und soziale Aufbruchsstimmung passte, die um die Mitte der Sechzigerjahre spürbar war. Die Revolution von 1918/19 wurde in den folgenden Jahren zu einem der wichtigsten Themen der Zeitgeschichte.

231 Ebenda, 45f. 232 Ebenda, 47. 233 Ebenda, 47. 234 Ebenda, 50. 235 Heinrich August Winkler: Ein umstrittener Wendepunkt: Die Revolution von 1918/19 im Urteil der westdeutschen Geschichtswissenschaft, in: Ders. (Hg.): Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland (Schriftenreihe der Reichspräsident-FriedrichEbert-Gedenkstätte 10), München 2002, S. 33–42, hier 34. 236 Ebenda, 34f.

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Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik um 1960 Die tiefe Verunsicherung der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte die deutsche Geschichtswissenschaft Mitte der Fünfzigerjahre hinter sich gelassen. Sie war, wie Herzfeld 1962 festhielt, zum zweiten Mal im Laufe einer Generation vor die Frage gestellt gewesen, „ob die politisch-historische Perspektive auf Grund ihr anhaftender konstitutiver Mängel dazu beigetragen habe, sie auf einen Irrweg zu führen. Jede dieser beiden Katastrophen löste den Versuch aus, den Verlauf und die Ursachen dieses wirklichen oder vermeintlichen Irrweges mit den Mitteln historischer Erkenntnis zu klären.“237 Auch nach 1945 war es zunächst eher beim Versuch geblieben. Eine als „Generalrevision“ des Geschichtsbildes zu bezeichnende Anstrengung war nicht unternommen worden. Vielmehr waren vielfach die Forderungen aus dem Lager der westlichen Siegermächte, das deutsche Geschichtsbild einer Revision zu unterziehen, als Zumutung empfunden worden, gegen die man sich behaupten müsse. Das ist für die Deutung der Revolution von 1918/19 offenkundig, wo man sich mit Macht gegen die in England und den USA formulierten Interpretationen gewandt hatte, es galt aber auch und noch stärker für andere Bereiche der neueren Geschichte und der Zeitgeschichte. Von elementarer geschichtspolitischer Bedeutung waren die massiven Versuche, die Jahre des „Dritten Reiches“ als Sonderfall aus der Kontinuität deutscher Geschichte auszugliedern. Um die Mitte der Fünfzigerjahre waren, parallel zum Wiedererreichen staatlicher Souveränität, die meisten Anwürfe zurückgewiesen, die meisten Forderungen nach Revision abgewehrt. Man hatte, wie Ernst Schulin im Rückblick formulierte, zu einem „politisch-moralisch gezähmten Historismus“ gefunden. „Dieser politisch-moralisch gezähmte Historismus hat in den ersten 15 Jahren zu auffallender Friedlichkeit und Kontroversenlosigkeit geführt. Abzuheben brauchte man sich eigentlich nur von den üblen Geschichtsvorstellungen der Nazis, die aber niemand mehr – jedenfalls offen – vertrat, weder die gebliebenen noch die nach 1945 von ihrem Lehrstuhl vertriebenen und darum oft so produktiven Historiker. International trat man umso selbstbewußter auf, etwa im Kampf gegen die moderne französische Schule. Man glaubte gleichsam das Banner von politischer und Ideengeschichte fest- und hochhalten zu müssen zwischen der kommunistischen Geschichtsauffassung im Osten und der sicherheitshalber auch nicht viel besser eingeschätzten sozialwissenschaftlichen im Westen.“238 Aufgrund knapper Stellen verlief der Generationswechsel in den Fünfzigerjahren nur sehr langsam. Außenseiter hatten wenig Chancen, aber sehr vereinzelt waren um

237 Hans Herzfeld: Staat und Nation in der deutschen Geschichtsschreibung der Weimarer Zeit, in: Ders.: Ausgewählte Aufsätze. Dargebracht als Festgabe zum siebzigsten Geburtstage von seinen Freunden und Schülern, Berlin 1962, S. 49–67, hier 49. 238 Ernst Schulin: Rückblicke auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft, in: Eberhard Jäckel/ Ernst Weymar (Hg.): Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit. Karl Dietrich Erdmann zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1975, S. 11–25, hier 15.

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die Mitte der Fünfzigerjahre etwas abweichende politische Orientierungen und neue Fragestellungen erkennbar, und es fanden sich, wie im Fall Erich Matthias 1956, durchaus Publikationsmöglichkeiten außerhalb der klassischen Organe der Zunft. Insbesondere Karl Dietrich Brachers Studie über das Ende der Weimarer Republik von 1955 ist als Wegmarke beachtenswert. Dieter Gessner sah im Rückblick Brachers Untersuchung als Zeichen dafür, dass die deutsche wieder zur internationalen Forschung aufgeschlossen und ein methodisches Instrumentarium entwickelt hatte, welches ihr die Beantwortung struktureller Fragen nach Weimar ermöglichte.239 Es waren in erster Linie jüngere Historiker, die sich in den Fünfzigerjahren neu zu orientieren begannen. Bemerkenswert ist aber auch, dass die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik sich in recht ähnlicher Weise entwickelten. Einerseits dominierte die Union in der Mitte der 50er Jahre das politische Geschehen bis hin zur absoluten Mehrheit bei den Bundestagswahlen 1957, und der Antikommunismus wurde mit dem KPD-Verbot 1956 in den Rang einer staatstragenden Grundorientierung erhoben. Zugleich aber gab es signifikante Oppositionsbewegungen gegen die Wiederbewaffnung 1955 und später gegen die von Bundeskanzler Adenauer angestrebten Atomwaffen für die Bundeswehr. Es war kein Zufall, dass sich der Widerstand an Militärfragen entzündete, erschien dies doch weit über die politische Linke hinaus als der Bereich, an dem sich wie in keinem anderen zeigte, ob die Deutschen Konsequenzen aus ihrer Geschichte zu ziehen bereit waren. Zu Hunderttausenden gingen Gewerkschafter und Sozialdemokraten gegen die Wiederbewaffnung auf die Straße. Die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ erreichte 1957/58 zwar nicht mehr ganz dieselbe Massenwirksamkeit, dafür aber – wie die Protestnote aus Göttingen zeigte – verstärkt die Universitäten. Es kam also – bei grundsätzlicher Dominanz der Konservativen – politisch etwas in Bewegung. In den Zeiten seiner scheinbar größten Popularität – nach der absoluten Mehrheit bei den Bundestagswahlen 1957 – wurde Adenauer immer stärker als Belastung für die Union empfunden. Schon 1959 hätten ihn viele seiner einflussreichen Parteifreunde gern als Bundespräsident kaltgestellt gesehen. Als alle Versuche misslungen waren, ihm das Amt schmackhaft zu machen, wurde zwar der Wunsch nach Veränderung immer stärker, aber der Kanzler beherrschte seine Partei eindeutig und klar. Es bedurfte der SPIEGEL-Affäre, die nicht nur den Verteidigungsminister sein Amt, sondern auch den Kanzler viel Ansehen kostete. Es war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nötig, das Adenauers hochfliegende Pläne für ein regierungsgesteuertes Zweites Deutsches Fernsehen spektakulär kippte. Und es bedurfte schließlich des unverzichtbaren Koalitionspartners – die CDU büßte 1961 ihre absolute Mehrheit ein –, der bereits in den Koalitionsverhandlungen den Abgang des „Alten“ für das Jahr 1963 festgeschrieben sehen wollte. Das alles war nötig, um Adenauer zum – grollenden – Rückzug zu bewegen.

239 Dieter Gessner: Die Weimarer Republik, Darmstadt 2002, hier 22.

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Schon zuvor hatten sich liberale und sozialdemokratisch orientierte Juristen gefunden, die mit viel Geschick und kluger Strategie den Ulmer Einsatzgruppenprozess auf den Weg brachten. Er begann am 28. April 1958 und richtete sich gegen zehn Gestapo, SD- und Polizeiangehörige, die Tausende von jüdischen Kindern, Frauen und Männern im litauisch-deutschen Grenzgebiet ermordet hatten. Es war der erste größere NS-Prozess, der eigenständig in deutscher Regie stattfand, und er führte nicht nur zu umfangreicher Berichterstattung der Medien, sondern fand auch enormes Interesse in der Öffentlichkeit. Zum ersten Mal wurde vielen Zeitgenossen bewusst, über wie viele und wie grausame Verbrechen in den vorangegangenen Jahren der Mantel des Schweigens gebreitet worden war. Auch aufgrund dieser Stimmung gelang es noch 1958, in Ludwigsburg eine „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Verfolgung von NS-Verbrechen“ einzurichten, die zunächst zwar nur dürftig ausgestattet wurde und vor Ort mit mannigfachen Vorbehalten konfrontiert war, aber doch sehr effektiv und wirkungsvoll ihre Arbeit aufnahm. Die großen NS-Prozesse der Sechzigerjahre wie der spektakuläre Auschwitz-Prozess 1965 wären ohne die Zentrale Stelle nicht denkbar gewesen. Auch in diesem Bereich wurde der Grundstein für Veränderungen, die sich in den Sechzigerjahren erkennbar zeigten, bereits in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre gelegt. Es dürfte mit zur „Krise der deutschen Geschichtswissenschaft“ beigetragen haben, die allenthalben mit Blick auf die frühen Sechzigerjahre konstatiert wird, dass die Aufarbeitung der deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs von Juristen initiiert und angegangen wurde; deutsche Historiker spielten in diesem Zusammenhang keine erwähnenswerte Rolle, obwohl ein Gutteil der Arbeit, die die Ludwigsburger Behörde zu leisten hatte, historische Aufklärungsarbeit war. Die späten Fünfzigerjahre waren also, entgegen landläufiger Vorstellung, nicht nur Jahre der politischen Agonie, sie waren – unspektakulär – auch Jahre des Aufbruchs. Die Studien, die Kolb, Oertzen, Elben und andere in dieser Zeit über die Revolution 1918/19 anfertigten, passen hervorragend ins Bild jener Jahre: Einzelne begannen bereits, sich von den scheinbar uneingeschränkt dominierenden Fragestellungen, Bildern und Deutungsmustern zu lösen. Anderen wurden die stereotypen Fragen und Antworten immer suspekter. Eberhard Kolb betonte zwar im Rückblick, er habe sich mit der Revolutionszeit nicht deshalb beschäftigt, weil er nach Alternativen zum Adenauer-Staat gesucht habe. Die Revolution sei als Thema in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre noch nicht politisch besetzt, sondern ein historisches Thema wie jedes andere gewesen. Doch eine kritische Haltung gegenüber der Adenauerschen Kanzler-Demokratie sah er rückblickend bei sich durchaus. Er habe sich zweifellos einen demokratischen Staat weniger autoritär vorgestellt.240 Wie sehr die Deutschen nach den Jahren der Konsolidierung nach Veränderung geradezu lechzten, zeigte exemplarisch ihre Kennedy-Begeisterung. Nicht nur die

240 Gespräch des Autors mit Eberhard Kolb am 12. März 1981.

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Wahl dieses jungen, charismatischen Mannes im November 1960 wurde begeistert gefeiert, legendär war insbesondere der Besuch des US-Präsidenten im Juni 1963 in Berlin, wo er wie ein Erlöser empfangen wurde. Spätestens in der Kuba-Krise 1962 hatte sich gezeigt, dass die bisherigen Konzepte und Strategien westlicher wie östlicher Weltpolitik extrem risikobehaftet waren. Um Haaresbreite war die Welt an einem Atomkrieg vorbeigeschlittert, und es lag sowohl im Interesse der USA wie der Sowjetunion, derartiges für die Zukunft zu vermeiden. Mit der Kuba-Krise hatte der „Kalte Krieg“ als Handlungsmuster der Weltmächte ausgedient. Noch war unklar, wie die Arrangements der Zukunft aussehen würden. Klar aber war: So wie bisher konnte es nicht weitergehen. Öffnung war weltpolitisch das Gebot der Stunde. Weder die deutsche Politik noch die deutsche Geschichtswissenschaft gehörten zu den Speerspitzen des neuen Denkens. Aber auf Dauer entwickelte dieser Prozess der Öffnung eine Dynamik, von der weite Teile der Gesellschaft in der Bundesrepublik erfasst wurden. Für die deutsche Geschichtswissenschaft konstatierte Werner Conze im Rückblick eine „Wende um 1960“.241 Gegen Ende der Fünfzigerjahre hätten sich neue Probleme der Theorie, der Methoden und der Gegenstände historischer Wissenschaft entwickelt, man habe begonnen, über die „Grundlagenkrise“ der Geschichtswissenschaft zu schreiben und zu streiten.242 Nach Hans Mommsens Urteil begann mit dem Anfang der Sechzigerjahre „ein neues Entwicklungsstadium“ der deutschen Geschichtswissenschaft, „das durch kritische Distanz gegenüber der eigenen historiographischen Tradition, Offenheit gegenüber methodischen Anregungen der Nachbarwissenschaften und der Bereitschaft zu vergleichenden sozialgeschichtlichen Analysen bestimmt ist“.243 Ähnlich formulierte es Ernst Schulin, der ab 1960 „als die Geschichtswissenschaft mit ihren restaurativen und zeitgeschichtlichen Hauptaufgaben etabliert war“ eine „Modernisierung“ sah. Aus vielerlei Gründen habe die Geschichtswissenschaft in ihrer ganzen Art begonnen, „fragwürdig“ zu werden.244 Als Ursachen bzw. Bedingungen dieser Entwicklung sind verschiedene Faktoren zu nennen. Hans Mommsen wies darauf hin, dass die neue Führungsgruppe der deutschen Historiographie – er nannte in erster Linie Theodor Schieder, Karl Dietrich Erdmann, Werner Conze, Otto Brunner und Dietrich Gerhard – entschieden dazu beigetragen habe, die bis dahin vergleichsweise introvertierte Haltung der deutschen Geschichtswissenschaft zu überwinden. Die wesentlich engeren Kontakte zur ausländischen, insbesondere angelsächsischen historischen Forschung, hätten vielfach zur

241 Conze: Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, 1977 (wie Anm. 105), hier 13. 242 Ebenda, 17f. 243 Mommsen: Betrachtungen zur Entwicklung der neuzeitlichen Historiographie in der Bundesrepublik, 1973 (wie Anm. 102), hier 139. 244 Schulin: Rückblicke auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft, 1975 (wie Anm. 238), hier 15.

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Überwindung herkömmlicher Auffassungen in der deutschen Historiographie beigetragen.245 Sicher führte der Erfahrungsaustausch mit den weitaus stärker sozialgeschichtlich orientierten amerikanischen und französischen Historikern auch mit dazu, dass entsprechende Fragestellungen von der deutschen Geschichtswissenschaft verstärkt aufgegriffen wurden. Damit aber gerieten – gerade auch im Hinblick auf die Revolution von 1918/19 – Probleme ins Blickfeld der Historiker, die manches von einer ausschließlich auf Staatsgeschichte im engeren Sinn konzentrierten Wissenschaft gefällte Urteil fragwürdig erscheinen ließen. Im weiteren Verlauf der Sechzigerjahre kamen Einflüsse der Systemtheorie, des Strukturalismus, des Neopositivismus, der kritischen Theorie und neo-marxistischer Theoretiker hinzu. Conze sprach in diesem Zusammenhang von der „Tendenz eines anti-historischen Pendelausschlags zu einer sich emanzipatorisch verstehenden kritisch-historischen Sozialwissenschaft in betonter Absetzung von der ‚bisherigen‘ oder ‚traditionellen‘ Historie“.246 Es war allerdings kein gemächlicher und ruhiger Veränderungsprozesse, der um 1960 begann, sondern ein eruptiver, zeitweise hoch emotional geführter Streit in dem keineswegs nur auf Vernunft und die Kraft von Argumenten gesetzt wurde. Der Hauptkampf mit seiner überragenden Signalwirkung fand bezeichnenderweise auf dem ureigenen Terrain der „traditionellen“ Historie statt. Ausgelöst durch Fritz Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht“, kam es zu Beginn der Sechzigerjahre zur ersten großen, eindeutig politisch motivierten Auseinandersetzung innerhalb der westdeutschen Geschichtswissenschaft, die zeitweise den Charakter einer Schlacht annahm, mitunter auch einer Schlammschlacht.247 Fischer hatte nach umfangreicher Auswertung neuer Quellen bereits 1959 in einem Aufsatz in der HZ unter dem Titel „Deutsche Kriegsziele. Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1914–1918“ die Kriegsziele der Reichsregierung unter Bethmann-Hollweg als Fortsetzung der wilhelminischen Außenpolitik vor dem Krieg bezeichnet.248 Herzfeld hatte darauf unmittelbar ablehnend reagiert, wenn auch, wie der Fischer-Schüler Imanuel Geiss festhielt, „noch ganz zurückhaltend und vornehm im Ton“.249 1961 erschien dann Fischers Studie „Griff nach der Weltmacht. Die Kriegs-

245 Mommsen: Betrachtungen zur Entwicklung der neuzeitlichen Historiographie in der Bundesrepublik, 1973 (wie Anm. 102), hier 139f. 246 Conze: Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, 1977 (wie Anm. 105), hier 21. 247 Vgl. Mommsen: Betrachtungen zur Entwicklung der neuzeitlichen Historiographie in der Bundesrepublik, 1973 (wie Anm. 102), hier 138. 248 Fritz Fischer: Deutsche Kriegsziele, in: Historische Zeitschrift (HZ) 188 (1959), S. 249–310. 249 Imanuel Geiss: Die Fischer-Kontroverse. Ein kritischer Beitrag zum Verhältnis zwischen Historiographie und Politik in der Bundesrepublik, in: Imanuel Geiss: Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft (Edition Suhrkamp Neue historische Bibliothek 569), Frankfurt am Main 1972, S. 108–198, hier 123.

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zielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914–1918“.250 Gestützt auf das „Septemberprogramm“ Bethmann-Hollwegs bekräftige und präzisierte Fischer, das Kaiserreich habe schon vor dem Krieg weit reichende Annexionen geplant, zur Hegemonialmacht in Europa werden wollen und darüber hinaus nach der „Weltmacht“ zu greifen versucht. Neben der Kriegszielpolitik nahm Fischer nun auch die deutsche Politik in der Julikrise 1914 ins Visier und attestierte der deutschen Reichsführung „einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch eines allgemeinen Krieges.“251 Peter Graf Kielmannsegg wies später darauf hin, dass bereits Ludwig Dehio als erster deutscher Historiker 1948 Wilhelminisches Deutschland und Drittes Reich, Ersten und Zweiten Weltkrieg zueinander in Beziehung gesetzt habe, indem er davon sprach, „zweimal im 20. Jahrhundert habe Deutschland den Versuch gemacht, sich eine Weltmachtstellung zu erringen; zweimal habe es um dieses Zieles willen einen Hegemonialkrieg geführt“. 1948 seien diese Aussagen Dehios kein Anlass für Auseinandersetzungen gewesen, „erst die Bücher Fritz Fischers haben eine Diskussion über diese Thesen entfacht.“252 Gerhard Hirschfeld stellte darüber hinaus fest, die deutsche Geschichtswissenschaft habe die sehr intensive Forschung des Auslands zum Ersten Weltkrieg nicht zur Kenntnis gekommen. „Dies galt vor allem für das mit großer Akribie und feinsinniger Quellenkritik verfasste Werk zur Julikrise 1914 des italienischen Publizisten und Historikers Luigi Albertini ‚Le origine della guerra‘ (ursprünglich 1942/43), dessen englische Übersetzung in den fünfziger Jahren von deutschen Historikern für kaum der Erörterung wert befunden wurde.“253 Dehios Formulierung unterschied sich 1948 vermutlich nur wenig von dem, was damals aus den Reihen der Siegermächte zu hören war, und konnte so kaum eine Debatte auslösen, zumal die Historikerschaft zu dieser Zeit noch vollauf damit beschäftigt war, Grundorientierungen dafür zu suchen, wie eine national-konservative Traditionslinie unter Ausschluss des Dritten Reiches wieder aufgenommen werden konnte. Der Fall Albertini deutet darauf hin, dass es in erster Linie um die Sicherung von geschichtspolitischen Positionen ging: Albertini konnte ignoriert werden, bei Fischer war das nicht mehr der Fall. Gerhard Ritter selbst, der „große alte Mann“ der westdeutschen Geschichtswissenschaft und Vertreter einer nationalkonservativen Geschichtsschreibung, setzte sich in einer 23-seitigen Entgegnung mit Fischers Buch auseinander. Nach Gerhard

250 Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961. 251 Ebenda, 97. 252 Peter Graf Kielmannsegg: Cum ira et studio. Von den Schwierigkeiten, deutsche Geschichte zu schreiben, in: Peter Graf Kielmannsegg: Nachdenken über die Demokratie. Aufsätze aus einem unruhigen Jahrzehnt, Stuttgart 1980, S. 149–170, hier 154. 253 Gerhard Hirschfeld: Der Erste Weltkrieg in der deutschen und internationalen Geschichtsschreibung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2004), H. 29/30, S. 3–12, hier 6.

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Hirschfelds Überzeugung „sprach [er] den meisten seiner Kollegen aus dem Herzen, als er 1962 in einer Besprechung in der ‚Historischen Zeitschrift‘ Fischer der ‚wissenschaftlichen und politischen Verantwortungslosigkeit‘ zieh: ‚So vermag ich das Buch nicht ohne Traurigkeit aus der Hand zu legen: Traurigkeit und Sorge im Blick auf die kommende Generation.‘“254 Auch Karl Dietrich Erdmann, Egmont Zechlin, Andreas Hillgruber und viele andere bezogen Position gegen Fischers Thesen. Aber die Debatte reichte rasch weit über die Historikerzunft hinaus. Journalisten und Publizisten veröffentlichten eine große Zahl von Rezensionen in Tageszeitungen und stellten sich zum größeren Teil auf Fischers Seite. Sie sahen nicht nur Fischers Neuinterpretation der Kriegsschuld als umfassend belegt an, sondern ordneten Fischers Untersuchungsergebnisse in den Kontext der deutschen Zeitgeschichte ein. Damit aber wurde – was Fischer nur in einem einzigen Satz angedeutet hatte – der Tabupunkt der westdeutschen Nachkriegshistoriographie berührt, die Frage der Kontinuität in der deutschen Geschichte und die Rolle des Dritten Reiches. Es war vor allem diese Dimension, die der Fischer-Kontroverse ihre überragende geschichtspolitische Bedeutung gab, aus ihr den ersten „Historikerstreit“ der Republik machte und hochrangige Politiker wie Bundeskanzler Ludwig Erhard, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß bewog, sich an diesem Streit zu beteiligen. Es war aber auch diese Dimension, die die Heftigkeit der Reaktionen in der Zunft erklärt, die nach Auffassung von Georg Iggers gerade mit sich ins Reine gekommen zu sein schien: „In dieser selbstzufriedenen Stimmung, als die westdeutsche Gesellschaft sich von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit gelöst zu haben schien, ohne ihre nationalen Traditionen aufzugeben, wurde Fritz Fischers Griff nach der Weltmacht 1961 als ein bedeutender Schock empfunden.“255 Oder, wie Imanuel Geiss formulierte: „Ab 1961 ließ sich die Strategie, das Dritte Reich gleichsam wie ein Krebsgeschwür zu isolieren […] mit der neuen Forschung über den Ersten Weltkrieg nicht mehr durchhalten.“256 Es war ein Schock, der zur „Lagerbildung“ in der Zunft führte und in den Augen von Geiss manche Überraschung brachte. Hans Herzfeld, beispielsweise, habe bis zum Auftreten Fritz Fischers „als wahrer Vertreter einer aufgeschlossenen, einer wirklichen Revision der deutschen Geschichte offenstehenden Haltung“ gegolten.257 Golo Mann habe man „wegen der Liberalität und Weltoffenheit seiner Gesinnung eigentlich für außerhalb der orthodoxen Tradition stehend gewähnt“, doch in der FischerKontroverse habe er sich massiv gegen Fischer engagiert.258 Ludwig Dehio habe als

254 Ebenda, 6f. 255 Iggers: Neue Geschichtswissenschaft, 1978 (wie Anm. 99), hier 109f. 256 Imanuel Geiss: Der Ort der Geschichtswissenschaft in der Gesellschaft oder Die Funktion des Historikers, in: Eberhard Jäckel/Ernst Weymar (Hg.): Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit. Karl Dietrich Erdmann zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1975, S. 192–207, hier 195. 257 Geiss: Die Fischer-Kontroverse, 1972 (wie Anm. 249), hier 138. 258 Ebenda, 132.

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Liberaler gegolten, der sogar von einer inneren Kontinuität von der preußisch-deutschen Geschichte zum Nationalsozialismus ausgegangen sei. In der Fischer-Kontroverse sei er „vom äußersten linken Flügel der Zunft“ in die Einheitsfront gegen Fischer eingeschwenkt.259 Gerhard Ritter nutzte seine politischen Kontakte zu Außenminister Gerhard Schröder, um 1964 die bereits bewilligten Fördergelder für eine vom GoetheInstitut geplante Vortragsreise Fischers in die USA zu streichen, und verhinderte dadurch die gesamte Reise. Unter diesen Umständen musste der Historikertag 1964 ganz im Zeichen des Streits über die deutschen Kriegsziele stehen. Vor einem Auditorium von rund 2000 Zuhörern kam es zu einer ersten umfassenden Konfrontation der Ansichten. Hans Herzfeld leitete die Debatte, an der Gerhard Ritter und Karl Dietrich Erdmann sowie Fritz Fischer und Imanuel Geiss teilnahmen. Geiss hielt fest: „Die überwiegende Mehrheit der jungen Historiker – von Studenten bis zu Doktoranten und Assistenten – stand auf Seiten Fischers und seiner noch zahlenmäßig kleinen Gruppe.“260 In seinen Augen wurde insbesondere die Fischer-Kontroverse zum „Kristallisationspunkt für viele kritische jüngere Historiker, die von der Sterilität und geistigen Enge des traditionellen Zunftbetriebs in der deutschen Geschichtswissenschaft unbefriedigt waren“.261 Auch Werner Conze betonte im Rückblick den Aspekt des Generationswechsels: „Die Revision des Geschichtsbildes wurde von Angehörigen der zweiten Generation bereits mit größerem Abstand und daher mit weniger Schonung fortgesetzt. Diese Tendenz spitzte sich zu in dem Staub aufwirbelnden Buch Fritz Fischers ‚Griff nach der Weltmacht‘ (1961), worin die alte Kriegsschuld- und Kriegszielfrage revisionistisch neu aufgegriffen wurde. […] Die ohnehin im Gange befindliche nationale Enttabuisierung erhielt durch das Buch und die anschließende Auseinandersetzung einen entscheidenden Anstoß.“262 Die Generation, die zu Beginn der Sechzigerjahre nachzurücken begann, hatte keinen Kriegsdienst mehr geleistet, die Weimarer Republik überhaupt nicht mehr und den Nationalsozialismus nur noch in der Kindheit erlebt. Das Generationserlebnis dieser Altersklassen war der Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ und die darauf folgende Aufbauphase in Westdeutschland gewesen. Eine kritische Haltung zur konservativ geprägten bundesdeutschen Demokratie der Fünfzigerjahre lag für diese Generation zweifellos näher als für die vorangegangenen. Aber nicht nur die Erfahrungs- und Mentalitätsunterschiede machten diesen Generationswechsel so bedeutsam für die weitere Entwicklung in der deutschen Geschichtswissenschaft, sondern auch die enorme Expansion der Universitäten. Die Zahl der Ordinarien der Geschichtswissenschaft war von 1950 bis 1960 von etwa 50 auf rund 80 gestiegen, zwischen 1960 und 1975 erhöhte sich ihre Zahl auf rund 210. Die Zahl 259 260 261 262

Ebenda, 130. Ebenda, 160. Ebenda, 191f. Conze: Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, 1977 (wie Anm. 105), hier 13f.

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der außerplanmäßigen Professoren, Dozenten, wissenschaftlichen und akademischen Räte nahm von etwa 90 im Jahre 1960 auf rund 230 im Jahr 1975 zu, die der wissenschaftlichen Assistenten von etwa 50 auf rund 380. 1973 waren bereits etwa 45 Prozent aller Ordinariate der Geschichtswissenschaft mit Professoren der Jahrgänge 1929 bis 1941 besetzt.263 Die Aufstiegschancen der in den Sechzigerjahren nachwachsenden Historikergeneration waren äußerst günstig, die vorher maßgeblichen Selektionsmechanismen büßten an Wirkungskraft ein. In der westdeutschen Geschichtswissenschaft begann ein rapider Veränderungsprozess.

Mehr Demokratie wagen – 1965–1975 Die Revolution von 1918/19 in der Geschichtskultur Die Debatte beim Historikertag 1964 hatte die Spannweite der Deutungsmöglichkeiten der deutschen Revolution von 1918/19 erweitert, aber keineswegs rundum Zustimmung zu der mit den Forschungsarbeiten von Kolb, Elben und Oertzen verbundenen Neuinterpretation gebracht. Die Aufnahme der Arbeiten in der Fachpublizistik war sehr unterschiedlich, aber es zeigte sich zugleich, dass die Thesen der „neueren Revolutionsforschung“ in der jüngeren Historikergeneration auf große Offenheit trafen. Während Karl-Erich Born Eberhard Kolbs Studie über die Arbeiterräte in der HZ deutlich ablehnend besprach264 und Heinrich Muth in GWU erhebliche Bedenken formulierte,265 äußerte sich Reinhard Rürup positiv, als er in der NPL 1967 einen zusammenfassenden Überblick gab. Rürup nannte in seiner Einleitung die Revolution „unvollendet“ und sprach von einer „radikaldemokratischen revolutionären Massenbewegung“, die am gemeinsamen, wenn auch höchst unterschiedlich motivierten Widerstand von SPD-Führung, Militär, Bürokratie und politisch organisiertem Bürgertum gescheitert sei. Nicht die Änderung, sondern die Aufrechterhaltung der Ordnung sei als vorrangige Aufgabe der revolutionären Übergangszeit betrachtet worden. Nach der Konsolidierung der Verhältnisse habe sich rasch gezeigt, dass grundlegende Veränderungen nicht mehr möglich waren. Die Revolution sei keine Quelle der Kraft geworden, kaum einer habe sich zu ihr bekannt.266 Auch in der Forschung habe die Revolution von 1918/19 lange Zeit „nur geringes Interesse“ gefunden. In beiden Teilen Deutschlands habe „die eigentliche Revolu-

263 Ebenda, 19f. 264 Karl Erich Born: Kolb, Eberhard: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918–1919, in: Historische Zeitschrift (HZ) 200 (1965), S. 147–149, hier 148f. 265 Heinrich Muth: Literaturbericht. Zeitgeschichte. Innenpolitik 1918–1933, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 16 (1965), S. 582–596, hier 590f. 266 Rürup: Rätebewegung und Revolution in Deutschland 1918/19, 1967 (wie Anm. 91), hier 303.

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tionsforschung“ erst vor einigen Jahren begonnen.267 Rürup ließ keinen Zweifel daran, dass er die wesentlichen Ergebnisse der „neueren Revolutionsforschung“ teilte. Er machte zugleich auf den generationsspezifischen und den politischen Charakter dieser Ergebnisse aufmerksam. Es sei kein Zufall, dass die neuere Revolutionsforschung vor allem von jüngeren Historikern getragen werde. Das Urteil der älteren Historikergeneration sei trotz allem Bemühen um kritische Distanz noch sehr durch Meinungen und Erfahrungen geprägt, die sie bei den Auseinandersetzungen jener Jahre im Lager der politischen Rechten gewonnen habe. Und das „BolschewismusTrauma der Nachkriegszeit“ sowie eine „starre Dogmatisierung des parlamentarischdemokratischen Systems der Bundesrepublik“ habe jede Parlamentarismus-Kritik von vornherein als unzulässig erscheinen lassen.268 Ganz grundsätzlich wies Rürup auf das „allgemeine Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Politik“ hin: „Revolutionsgeschichte ist nicht ohne politische Kategorien und nicht ohne politisches Engagement zu betreiben, jedenfalls nicht, solange die Geschehnisse dieser Revolution noch auf die eine oder andere Weise in unsere Gegenwart hineinwirken. Die Deutung der Ereignisse wird immer, über alle positiven Forschungsergebnisse hinaus, auch vom politischen Standpunkt des Historikers abhängig sein“.269 Rürup plädierte deshalb für eine „bewusste Klärung der unterschiedlichen politischen Kategorien“, damit politische Positionen nicht mehr durch „scheinbar wissenschaftliche Argumentationen“ verdeckt würden.270 Rürup wies im Übrigen darauf hin, dass auch in der DDR die Revolutionsgeschichte „in Bewegung geraten“ sei. Auf der Grundlage einer Darstellung wie sie Band 3 der „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ biete, sollte nach seiner Überzeugung „künftig eine für beide Seiten förderliche Diskussion über die Revolution von 1918/19 auch mit der kommunistischen Geschichtswissenschaft möglich sein“.271 Solche Gedanken passten vorzüglich in eine Zeit, in der sich Willy Brandt als Außenminister daran machte, eine neue gesprächs- und verhandlungsorientierte Ostpolitik zu entwickeln – wie überhaupt die zentralen Ergebnisse der „neueren Revolutionsforschung“ hervorragend mit der Aufbruchstimmung der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre korrespondierten. Kritische Einwände und Bedenken machte Rürup – wie erwähnt – lediglich gegen Oertzens Position geltend. Die Debatte beim Historikerkongress 1964 war auf eine im Aufbruch befindliche wissenschaftliche und intellektuelle Öffentlichkeit gestoßen und schien als Initialzündung für weitere Forschungsarbeiten im Umfeld der Revolution von 1918/19 zu wirken. Der spätere Göttinger Politologe Peter Lösche, beispielsweise, beschäftigte sich in seiner Berliner Dissertation mit einem Thema, das für den Verlauf der Revolu-

267 268 269 270 271

Ebenda, 304. Ebenda, 306. Ebenda, 306. Ebenda, 307. Ebenda, 307.

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tion von eminenter Bedeutung war: „Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903–1920“. Innenpolitisch, so Lösche, „war die Furcht vor dem Bolschewismus, die in den Kämpfen der Novemberrevolution zu einer Ideologie des Antibolschewismus gerann, eines der wichtigsten einengenden und retardierenden Elemente einer demokratisch-sozialistischen Entwicklung in Deutschland.“272 Zunächst hatte nach Lösches Untersuchung keineswegs ein ausschließlich und extrem negatives Bild dominiert. Erst mit der Vertreibung der konstituierenden Nationalversammlung durch die Bolschewiki am 19. Januar 1918 hätten sich die Fronten eindeutig zu klären begonnen.273 Lösche stellte aber zugleich fest, dass die SPD-Führung von nun an die Bolschewismusfurcht als Karte in politischen Auseinandersetzungen gespielt habe. Ebert habe sich beispielsweise die Bolschewismusangst der bürgerlichen Parteien und der Konservativen zunutze gemacht, als er die Verfassungsreformen des Oktobers im Reichstag verteidigte. Das russische Beispiel sei Warnung genug für das, was geschehe, wenn der deutsche Volksstaat sich nicht durchsetzen würde. Nach und nach, so Lösche, sei in der SPD das Bild vom Bolschewismus zu einem Klischee erstarrt, „das sich später, in der deutschen Novemberrevolution, zu einer Art negativen Mythos verfestigte und in der Auseinandersetzung mit den Spartakisten und der USPD instrumentalen Charakter erhielt, mit dem Ziel, die Kommunisten zu isolieren und die Unabhängigen zu spalten.“274 Im November 1918 hätten die Mehrheitssozialisten durchaus klar erkannt, dass der Linksradikalismus zu schwach und die deutsche Entwicklung von der russischen zu verschieden sei, um eine sofortige Machtübernahme des Spartakusbundes oder der linken USPD befürchten zu müssen. „Erst die rücksichtslose Propaganda der Linksradikalen, die nach der Erringung der bürgerlichen Freiheit am 9. November unter den Arbeitern und Soldaten wirkungsvoll werden konnte, und ihre am Vorbild der Bolschewiki orientierte Strategie und Taktik, die rücksichtslos zur Tat drängte und die Regierung der Volksbeauftragten nur als die erste, bürgerliche Phase des zur sozialen Revolution hintreibenden Umsturzes abtat, steigerten die allgemeine, mehr untergründig gefühlte als rational erklärte Furcht vor Chaos und Bolschewismus zu dem Schreckgespenst eines unmittelbar bevorstehenden bolschewistischen Putsches.“275 Hinsichtlich der realistischen Möglichkeiten in der Revolution von 1918/19 nahm Lösche Bezug auf Heinrich Ströbel, in seinen Augen „einer der scharfsinnigsten Beobachter der Novemberrevolution“. Beide Flügel der deutschen Arbeiterbewegung hätten die offene Situation der Novemberrevolution eingeengt auf die Alternative: Demokratie oder Räte, Ablehnung oder Anerkennung des bolschewistischen Bei-

272 Peter Lösche: Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903–1920, Berlin 1967, hier 2. 273 Ebenda, 142. 274 Ebenda, 138. 275 Ebenda, 168f.

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spiels. Dies aber sei falsch und unangemessen gewesen. „Die siegreiche deutsche Revolution hätte dagegen unbeirrt von dem Vorbild der in Rußland praktizierten politischen und wirtschaftlichen Methoden ‚zunächst einmal die Volksherrschaft durch völlige Beseitigung des Militarismus, durch Abdankung der führenden Bürokratie und durch entschlossene Demobilisierungsmaßregeln sicherstellen und auf den dazu geeigneten Gebieten einen kräftigen Anfang mit der Sozialisierung machen müssen‘. Die Durchführung dieser Maßnahmen hätte einige Monate in Anspruch genommen, ‚und während dieser Zeit allerdings hätte die auf Arbeiter- und Soldatenräte gestützte Regierung der Volksbeauftragten von ihrer souveränen Gewalt nachdrücklichsten Gebrauch machen müssen‘. Das Schreckgespenst des Bolschewismus und die Anbetung russischer Revolutionsmethoden verstellten so letztlich die Möglichkeit, den dritten Weg, wie er von der gemäßigten USPD vorgeschlagen wurde, in der Praxis zu gehen.“276 Ebenfalls 1967 erschien in der Taschenbuchreihe „edition suhrkamp“ ein Band von Elisabeth Hannover-Drück und Heinrich Hannover: „Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens“. Akribisch dokumentierte das Paar – er Verteidiger in politischen Strafsachen, sie Geschichtslehrerin – den Mord und den skandalösen Umgang der Justiz der Weimarer Republik mit der Straftat und den Mördern. Wie selbstverständlich war die Darstellung der beiden Autoren geprägt von der Leitfrage, warum es in der Revolutionszeit nicht zu einschneidenden Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland gekommen war. Bitter vermerkten sie, „daß es Sozialdemokraten waren, die damals reaktionärem Militär Schießfreiheit gegen ihre eigenen Klassengenossen gegeben haben.“277 Im selben Jahr kam auch die deutsche Ausgabe von Eric Waldmans Untersuchung über den Januaraufstand auf den Markt: „Spartakus. Der Aufstand von 1919 und die Krise der deutschen sozialistischen Bewegung“. Waldman arbeitete deutlich heraus, dass die Bezeichnung „Spartakusaufstand“ irreführend war, weil das RevolutionsKomitee, das die Arbeiter zum Sturz der mehrheitssozialdemokratisch geführten Regierung aufforderte, „nicht von Spartakisten beherrscht wurde, sondern von den Revolutionären Obleuten.“278 Der Januar-Aufstand sei nicht das Produkt eines vorgefassten Planes gewesen. Die wirklichen Sieger seien weder Sozialdemokraten noch Kommunisten gewesen, „sondern die nationalistischen und reaktionären Kräfte, die der Mehrheitssozialisten-Regierung zu Hilfe kamen.“279 Bedingt durch die gespaltene

276 Ebenda, 227. 277 Elisabeth Hannover-Drück/Heinrich Hannover (Hg.): Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens (Edition Suhrkamp Neue historische Bibliothek 233), Frankfurt am Main 1967, hier 185. 278 Eric Waldman: Spartakus. Der Aufstand von 1919 und die Krise der deutschen sozialistischen Bewegung, Boppard a.Rh. 1967, hier 289. 279 Ebenda, 291.

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Arbeiterbewegung hätten die nationalistischen und reaktionären Kräfte die deutsche Revolution überleben und allmählich ihre frühere Position der politischen Vorherrschaft wieder errichten können. „Dies war ganz sicher einer der Hauptfaktoren, die zum Wachstum des deutschen Faschismus und dem Aufstieg des Nationalsozialismus beitrugen.“280 Vor allem ein Beitrag zur politischen Theorie war Udo Bermbachs gleichfalls 1967 erschienener Literaturüberblick „Das Scheitern des Rätesystems und der Demokratisierung der Bürokratie 1918/19“ in der PVS.281 Bermbach setzte sich mit Kolb, Oertzen, Elben und Runge auseinander. Kolb legte er schnell mit dem Hinweis beiseite, er komme „nicht wesentlich über die Präsentation der historischen Deskription hinaus.“282 Bermbachs Ansatz war ein dezidiert politikwissenschaftlicher mit dem Ziel, grundsätzliche Aussagen über die Verträglichkeit von Rätestrukturen und Parlamentarismus sowie über die Möglichkeitsbedingungen eines Rätesystems zu machen. Gegenüber Kolb und Oertzen, die in Bermbachs Augen „eine grundsätzliche Integrationschance der Räte in das parlamentarische System von Weimar für möglich erachten“,283 vertrat Bermbach die Auffassung, es gebe „eine klare Systeminkompatibilität“ zwischen den Grundlagen des Rätegedankens und repräsentativ strukturierten Organisationsformen. Die rätefeindliche Haltung der SPD-Führung in der Revolution 1918/19 müsse auch daraufhin überprüft werden, „inwieweit ihr Verhalten durch das Bewusstsein dieser Systeminkompatibilität mitbestimmt wurde.“284 Sowohl bei Kolb wie bei Oertzen fänden sich genügend Beispiele, die einen solchen Schluss nahe legten. Als Wiederaufnahme der „Entweder-Oder-Alternative Erdmanns“ wollte Bermbach diese Positon ausdrücklich nicht verstanden wissen: „Nachdem die Arbeiten von Kolb und Oertzen vorliegen, dürfte sie sachlich kaum mehr zu halten sein. Wohl eher bestand die eigentliche Chance von 1918/19 in einer denkbaren, politisch durchaus zu verwirklichenden Verbindung von sozialer Revolution und parlamentarischer Demokratie.“285 Die Wiederentdeckung der Rätebewegung in der Revolutionszeit 1918/19 stieß in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre erstens auf historisches, zweitens auf politikwissenschaftliches und drittens schließlich auf politisches Interesse, wobei im Hinblick auf die letzteren auch andere historische Beispiele von Rätebewegungen – Ungarn, Jugoslawien etc. – aufgegriffen wurden. Historische Forschung, politische Theorie und Diskussionszirkel der neuen Linken sowie der Studentenbewegung hatten in diesen Jahren intensive Berührungsflächen, die 1967/68 besonders offenkundig wur-

280 Ebenda, 291. 281 Udo Bermbach: Das Scheitern des Rätesystems und der Demokratisierung der Bürokratie 1918/19, in: Politische Vierteljahresschrift 8 (1967), S. 445–460, hier 445. 282 Ebenda, 446. 283 Ebenda, 448. 284 Ebenda, 457. 285 Ebenda, 457.

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den. Die plakative Formel „Alle Macht den Räten“ fand ihren Weg auf Demonstrationstransparente und in Sprechparolen der Studentenbewegung. Mit Blick auf den 50. Jahrestag der Revolution veröffentlichte Reinhard Rürup 1968 einen zusammenfassenden Überblick mit dem Titel „Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19“. Der schmale Band war aus einem im Mai 1968 gehaltenen Vortrag hervorgegangen und diente dem Ziel, nach einem Jahrzehnt intensiver wissenschaftlicher Forschung und Diskussion über die deutsche Revolution von 1918/19 „eine vorläufige Bilanz zu ziehen“. Noch sei die Diskussion nicht beendet, betonte Rürup, wichtige Forschungsarbeiten seien nicht abgeschlossen, „aber es kann keinem Zweifel mehr unterliegen, daß das herkömmliche Bild der Revolution einer gründlichen Revision bedarf, und zwar um so dringlicher als inzwischen deutlich geworden ist, daß in den revolutionären Wochen und Monaten des Jahres 1918/19 wesentliche Entscheidungen für das Schicksal der Demokratie in Deutschland gefallen sind.“ Um den aktuellen politischen Stellenwert dieser historischen Fragen zu unterstreichen, fügte Rürup hinzu: „Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Revolution könnte gerade heute beitragen zu der notwendigen Besinnung auf Grundlagen und Ziele einer demokratischen Politik“.286 Rürup gab einerseits einen groben Überblick über den geschichtspolitischen und wissenschaftlichen Umgang mit der deutschen Revolution von 1918/19 seit der Zeit der Weimarer Republik und fasste andererseits die wesentlichen Erkenntnisse und Urteile der neueren westdeutschen Revolutionsforschung anschaulich zusammen. Jahrelang bot Rürups knappe Darstellung den besten Überblick (vgl. Kap. 7). Das Jubiläumsjahr 1968 brachte journalistisch wie publizistisch einen ausgeprägten „Revolutionsboom“. Der war keineswegs nur der „runden“ Zahl 50 geschuldet, sondern vor allem der aktuellen politischen Stimmungslage in Deutschland. Als Fischer-Taschenbuch erschien eine erste Quellensammlung, die sich erkennbar nicht an Spezialisten, sondern an ein breiteres Publikum von Studierenden und historisch Interessierten wandte. Herausgegeben wurde der Band von Gerhard A. Ritter und Susanne Miller. Der Verlag rechnete mit großem Interesse – offenbar zu Recht, denn das Taschenbuch war, wie die Autoren im Vorwort der zweiten Auflage 1975 mitteilten, bald vergriffen.287 Daneben erschienen nicht nur zahlreiche Augenzeugenberichte und Erinnerungen, sondern auch Serien in Tages- und Wochenzeitungen. Illustrierten und Rundfunk nahmen sich des Themas an. „Der Spiegel“, beispielsweise, brachte zwischen dem 3. und dem 24. November 1968 eine vierteilige Serie von Wolfgang Malanowski mit dem Titel „November 1918: ‚Kartoffeln – keine Revolution‘. Die SPD als Junior-Partner der alten Mächte“. „Die Welt“ veröffentlichte vom 24. August bis zum 13. September 1968 unter dem Titel „Als die Fürsten abtraten“ eine 18-teilige

286 Rürup: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, 1968 (wie Anm. 93), hier 3. 287 Gerhard A. Ritter/Susanne Miller (Hg.): Die deutsche Revolution 1918/19. Dokumente, Frankfurt am Main 1968, hier 17.

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Reihe von Walter Görlitz, die sich allerdings ganz auf die Beseitigung der Monarchien in Deutschland konzentrierte.288 In der „Süddeutschen Zeitung“ erschien zwischen dem 2./3. November und dem 6. Dezember 1968 eine 25-teilige Reihe von Leo Sillner unter dem Titel „Vor fünfzig Jahren: Revolution in Deutschland“. Der „Stern“ druckte eine 13-teilige Reihe von Sebastian Haffner mit dem Titel „Der große Verrat“ (vgl. Kap. 7).289 „Die Zeit“ brachte in lockerer Folge zwischen dem 18. Oktober 1968 und dem 17. Januar 1969 vier Beiträge von Alexander Rost bzw. Karl-Heinz Janssen.290 Eine Gruppe Kieler Historiker stellte in einer ersten Analyse dieser Veröffentlichungen unter anderem fest, es gebe in der Publizistik „ein eindeutiges Votum für ein wenigstens vorübergehendes Nebeneinander von Parlamentarismus und demokratischem Rätesystem.“291 Als „bemerkenswert“ dränge sich die Beobachtung auf, „dass die differenzierte Beurteilung der Räte, wie sie in den letzten Jahren die Geschichtswissenschaft entwickelte, stark in den publizistischen und politischen Raum hineingewirkt hat.“292 Die Öffnung nach links habe ihr Symbol gefunden in der Gestalt und dem Tod Rosa Luxemburgs. „Alle Hoffnungen, die sich an die postulierte Offenheit der Situation knüpfen, werden auf ihr unvollendetes Werk projiziert.“293 Die „Frankfurter Rundschau“ zitierten die Kieler Historiker mit der Aussage: „Neuerdings beginnen … weitere Kreise in der Bundesrepublik darüber nachzudenken, ob der scheußliche Tod der Rosa Luxemburg nicht mehr als irgendein anderes Ereignis dazu beigetragen hat, dem moskauhörigen Flügel … zu jenem Übergewicht innerhalb der KPD zu verhelfen, das in der Zeit vor dem Januarende 1933 eine effektvolle Zusammenarbeit von SPD und KPD gegen die Nazi-Partei unmöglich gemacht hat.“294 In der öffentlichen Meinung, so die Kieler Historiker abschließend, habe sich in den letzten zehn Jahren „eine Öffnung nach links vollzogen, die für 1918 die verpaßte Chance eines dritten Weges postuliert und danach fragt, welche Chancen ein freiheitlicher Sozialismus zwischen bürgerlicher Demokratie und dem Leninschen Modell im November und Dezember 1918 tatsächlich gehabt hat. Eine ‚tiefgreifende Umgestaltung der gesellschaftspolitischen Machtstruktur Deutschlands‘ (Bracher), eine ‚durchgreifende Demokratisierung des Staatsapparates‘ (v. Oertzen) sei objektiv möglich und wünschbar gewesen, heißt es. Die verhaltene bis lautstarke Zustimmung zu dieser These reicht von der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ (Besson) über den ‚Vorwärts‘

288 Als Buch: Walter Görlitz: November 1918. Bericht über die deutsche Revolution, Oldenburg/ Hamburg 1968. 289 Als Buch: Sebastian Haffner: Die verratene Revolution, München 1969. 290 weitere Nachweise in: Jens Petersen et al.: 1918 bis 1968. Der fünfzigste Jahrestag der Novemberrevolution im Spiegel der deutschen Presse, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 20 (1969), S. 454–479. 291 Ebenda, 466. 292 Ebenda, 468. 293 Ebenda, 473. 294 Zit. nach: Petersen et al.: 1918 bis 1968, 1969 (wie Anm. 290), hier 474f.

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bis zur ‚Anderen Zeitung‘ (Abendroth). Die Zielsetzungen der Unabhängigen Sozialisten haben in diesem Zusammenhang eine Aufwertung erfahren, die Rätebewegung erscheint als (ungenutztes) Instrument durchgreifender Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, und selbst eine führende Figur des Spartakusbundes wie Rosa Luxemburg findet ein Interesse, das von sympathisierendem Wohlwollen bis zu unverhüllter Bewunderung reicht.“295 Diese weit reichende Zustimmung zu den Ergebnissen und Urteilen der „neueren Revolutionsforschung“ sahen die Kieler auch als politisches Phänomen: „Die Existenz der Außerparlamentarischen Opposition und die sich ausbreitende Parlamentarismus-Verdrossenheit haben auf diesen Vorgang eingewirkt.“296 Von offizieller politischer Seite wurde 1968 nicht an die Revolution erinnert. Denkbar wäre beispielsweise eine Feierstunde zum 9. November gewesen, vergleichbar mit der zum 150. Geburtstag Bismarcks 1965. Aber selbst die von der SPD-Fraktion für den 6. Februar 1969 vorgeschlagene Feierstunde im Bundestag anlässlich des Zusammentritts der Weimarer Nationalversammlung kam nicht zustande.297 Als Partei erinnerte die SPD jedoch an die Revolution von 1918/19 – insbesondere mit einer zentralen Feierstunde am 10. November 1968 in Bad Godesberg. Willy Brandt als Parteivorsitzender unterstrich die Leistungen der Sozialdemokratie für Republik und Demokratie, aber er machte auch deutlich, dass innerhalb der SPD ein Prozess des Umdenkens und der Neubewertung eingesetzt hatte, wenn er formulierte: „Wir müssen uns eingestehen, dass die gesellschaftliche Erneuerung fast schon im Ansatz stecken blieb … Ich habe … das deutliche Empfinden, dass die Frage der Macht im demokratischen Staat nicht klar genug gestellt wurde und dass nicht nur die innenpolitischen Gegner, sondern vor allem die Feinde der Demokratie viel zu zögerlich und zimperlich angegangen worden sind.“ Die Behauptung, es habe BolschewismusGefahr geherrscht, nannte Brandt „eine unerlaubte Vereinfachung“. Die wirkliche Alternative zur damaligen Politik der mehrheitssozialdemokratischen Führer sah Brandt in Rosa Luxemburg verkörpert, deren Position er „eine demokratisch-sozialistische…, nicht eine terroristisch-kommunistische“ nannte.298 Wenn Brandt in seiner ersten Regierungserklärung als Kanzler der sozial-liberalen Koalition den legendären Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ formulierte, so stand dies ganz im Einklang mit seiner Bewertung der sozialdemokratischen Politik in der Revolutionszeit 1918/19. Jetzt endlich sollte die Demokratie in Deutschland – anders als 1918/19 – eine feste und irreversible Verankerung in allen gesellschaftlichen Bereichen und der politischen Kultur des Landes erfahren. Mehr noch als für die SPD wurde die Revolution von 1918/19 für die Außerparlamentarische Opposition zum herausragenden historischen Ereignis, denn zum 295 296 297 298

Ebenda, 477. Ebenda, 477. Vgl. Ebenda, 458. Zit. nach: Jens Petersen et al.: 1918 bis 1968, 1969 (wie Anm. 290), hier 471.

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einen schienen in der Revolutionszeit nach Überzeugung der APO entscheidende Weichenstellungen erfolgt zu sein, die den Sieg des Nationalsozialismus und damit den Zweiten Weltkrieg möglich gemacht hatten. Zum anderen wurde die Revolutionszeit auch von der so genannten Neuen Linken insofern als beispielhaft für die politische Gegenwart angesehen, als aus dem damaligen Scheitern der Demokratisierung praktisch-politische Konsequenzen gezogen werden sollten. Politikwissenschaftler wie Johannes Agnoli und Peter Brückner beklagten mit Blick auf die Bundesrepublik 1967 eine „Transformation der Demokratie“,299 die sie nicht nur durch die Große Koalition von SPD und CDU/CSU und die damit verbundenen Minimalisierung parlamentarischer Opposition eingeleitet sahen, sondern auch durch die Tendenz zur Verselbständigung von Verwaltungsapparaten gegenüber öffentlicher und politischer Kontrolle. Verbunden mit der Feststellung, die Bundesrepublik Deutschland habe mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bisher nicht entschieden genug gebrochen, und der Befürchtung, faschistische oder faschistoide Zustände seien auch in Zukunft durchaus denkbar, ergab sich ein starkes Interesse der Außerparlamentarischen Linken und der Studentenbewegung an Möglichkeiten direkter Demokratie. Die historische Rätebewegung von 1918/19 bezog einen Gutteil ihrer Faszination aus der Vorstellung, damals entwickelte Modelle könnten bei der Lösung von Problemen helfen, die man aktuell der Bundesrepublik attestierte. Mehr noch als die Historiker zeigten deshalb am Ende der Sechziger- und zu Beginn der Siebzigerjahre die Politikwissenschaftler Interesse an der Rätebewegung von 1918/19. Der Schwerpunkt lag hier – auch fachlich bedingt – mehr auf Fragen der Rätetheorie. Beim Berliner Kongress der Vereinigung für politische Wissenschaft 1969 beschäftigte sich die Arbeitsgruppe 2 mit dem Thema „Räte als politisches Organisationsprinzip“. Fruchtbar an dieser politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung war immerhin auch für Geschichtsschreibung, dass verschiedene Typen von Räteorganen deutlich voneinander unterschieden wurden: „Räte als Kampforgane in gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen“, „Räte als Lenkungsorgane eines politischen Gemeinwesens“ und „Räte als Interessenvertretungsorgane innerhalb eines grundsätzlich parlamentarisch organisierten Staatswesens“. Entsprechend dem – im eigentlichen Wortsinn – radikalen aktuellen politischen Bezugsrahmen konzentrierte sich die politikwissenschaftliche Diskussion vor allem auf „Räte als Lenkungsorgane eines politischen Gemeinwesens“. Da es Räte dieses Typs in der Revolutionszeit 1918/19 jedenfalls nicht in ausgeprägter Form gab, blieb schließlich der Forschungsertrag dieser politikwissenschaftlichen Studien für die Historiker vergleichsweise gering, wenn man von der stark historisch geprägten Arbeit Horst Dähns über rätedemokratische Modelle im Frühjahr 1919 absieht.300

299 Johannes Agnoli/Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie, Berlin 1967. 300 Horst Dähn: Rätedemokratische Modelle, Meisenheim 1975.

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Den Charakter einer Überblicksdarstellung hatte der von Dieter Schneider und Rudolf Kuda 1968 veröffentlichte Band „Arbeiterräte in der Novemberrevolution“.301 Daneben wollten die Autoren prüfen, inwieweit die Ideen des wirtschaftlichen Rätesystems unter den veränderten Bedingungen der hoch industrialisierten Gesellschaft eine demokratische Alternative zum organisierten Kapitalismus darstellen. Die Beschäftigung mit dem historischen Phänomen der Räte erfolgte hier in deutlich politischer Absicht – die Autoren waren damals Referenten beim Hauptvorstand der IG Metall. Aktuelle politische Hintergründe hatte auch ein 1968 von Eric Ertl in der Reihe „Theorie und Praxis der Gewerkschaften“ veröffentlichtes Taschenbuch mit dem Titel „Alle Macht den Räten?“.302 Ausdrücklich wies der Klappentext darauf hin, dass unter den sozialistischen Studenten in Berlin und anderswo die Parole „Alle Macht den Räten!“ wieder aufgetaucht sei, dass sich aber die Arbeiterräte nicht zum „antidemokratischen Popanz“ eigneten, denn sie erhielten ihre Legitimation „aus dem Willen der revolutionären Massen zur Selbstbestimmung“. Ein Jahr später erschien bereits die zweite Auflage des Bändchens. In der Politik-Reihe des Wagenbach Verlages brachte Wilfried Gottschalch einen Band über „Parlamentarismus und Rätedemokratie“ heraus, der auch Quellentexte enthielt.303 Er erschien bereits 1973 im 18. Tausend. Der Rowohlt Verlag veröffentlichte in der Reihe rororo Klassiker 1971/72 eine zweibändige Taschenbuchausgabe mit Quellentexten „Die Rätebewegung“, herausgegeben von Günter Hillmann.304 Diese Taschenbuchausgaben mit hoher Auflage unterstreichen die damalige Popularität rätedemokratischer Gedanken über die linke akademische Öffentlichkeit hinaus. Die große Aufmerksamkeit in der Politikwissenschaft und in der akademischen Linken trug sicher ihren Teil dazu bei, dass die deutsche Revolution von 1918/19 in den folgenden Jahren zu einem bevorzugten Forschungsgegenstand der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft wurde. Ein vollständiger Bericht über die seit Mitte der 60er Jahre sehr intensive Forschung würde den hier gegebenen Rahmen sprengen. Aber einige Schwerpunkte sind zu nennen. Umfangreiche Quellenpublikationen schufen dieser Forschung eine immer solidere Basis. Die Bonner Kommission zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, die maßgeblich unter Beteiligung von Erich Matthias arbeitete, hatte daran entscheidenden Anteil. Nachdem sie sich zunächst darauf konzentriert hatte, Ansätze zur Parlamentarisierung, insbesondere während der Kriegsjahre zu

301 Dieter Schneider/Rudolf Kuda: Arbeiterräte in der Novemberrevolution. Ideen, Wirkungen, Dokumente (edition suhrkamp 296), Frankfurt am Main 1968. 302 Eric Ertl: Alle Macht den Räten? (Theorie und Praxis der Gewerkschaften), Frankfurt am Main 1968. 303 Wilfried Gottschalch: Parlamentarismus und Rätedemokratie (Politik 10), Berlin 1968. 304 Günter Hillmann (Hg.): Die Rätebewegung. Bd. 1, Reinbek 1971; Günter Hillmann (Hg.): Die Rätebewegung. Bd. 2, Reinbek 1972.

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dokumentieren,305 erschien 1969 ein zweiteiliger Quellenband über „Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19“306 als Band 6 der ersten Reihe „Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik“. In der zweiten Reihe „Militär und Politik“ wurde 1970 der erste Band über die Zeit von 1914 bis 1918 publiziert,307 der zweite Band, der die Zeit von 1918 bis 1920 behandelte, folgte allerdings erst 1977. An eine Edition von Quellen zur Rätebewegung hatte die Kommission bei ihrer Reihenkonzeption nicht gedacht, zu sehr war wohl der Blick darauf gerichtet gewesen, Traditionslinien des Parlamentarismus herauszuarbeiten. Völlig getrennt von den „Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ wurde so eine gesonderte Reihe „Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19“ geschaffen. Der erste Band, der dem Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik, also der Zeit vom 19. Dezember 1918 bis zum 8. April 1919, gewidmet war, erschien 1968 in den Niederlanden, die Bonner Kommission trat neben dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam als Mitherausgeber in Erscheinung.308 Erst der zweite Band über regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg 1918/19 erschien 1976 unter alleiniger Herausgeberschaft der Bonner Kommission zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien im Düsseldorfer Droste Verlag.309 Später wurde auch der Band über den Zentralrat in eine neu geschaffene 4. Reihe „Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19“ innerhalb der „Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ integriert. Neben diesen umfassenden Quelleneditionen erschie-

305 Insbesondere erwähnenswert: Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18. Bearbeitet von Erich Matthias unter Mitwirkung von Rudolf Morsey (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. 1. Reihe. Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik), Düsseldorf 1959; Erich Matthias/Rudolf Morsey (Hg.): Die Regierung des Prinzen Max von Baden (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. 1. Reihe. Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik), Düsseldorf 1962; Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898–1918. Bearbeitet von Erich Matthias und Eberhard Pikart (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. 1. Reihe. Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik), Düsseldorf 1966. 306 Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19. Teile 1, 2. Eingeleitet von Erich Matthias, bearbeitet von Susanne Miller unter Mitwirkung von Heinrich Potthoff (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. 1. Reihe. Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik 6.1,2), Düsseldorf 1969. 307 Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914–1918, Bearbeitet von Wilhelm Deist (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. 2. Reihe. Militär und Politik), Düsseldorf 1970. 308 Der Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik 19.12.1918 bis 8.4.1919. Vom ersten zum zweiten Rätekongreß. Bearbeitet von Eberhard Kolb unter Mitwirkung von Reinhard Rürup (Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918–19, 1), Leiden 1968. 309 Regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg 1918/19. Bearbeitet von Eberhard Kolb und Klaus Schönhoven (Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19, 2), Düsseldorf 1976.

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nen zahlreiche kleinere zu Einzelfragen, die fast unüberschaubare Zahl von Lokalund Regionalstudien, die in den Siebzigerjahren publiziert wurden, enthielt vielfach auch Quellendokumentation.310 Ausgangspunkt der „neuen“ Revolutionsdeutung war eine veränderte Beurteilung der Rätebewegung in der Revolution 1918/19. Es erstaunt deshalb kaum, dass die Geschichte dieser Rätebewegung zu einem – wenn nicht dem – Schwerpunkt der Forschung wurde. Ulrich Kluge lieferte mit seiner 1975 zu weiten Teilen gedruckten Dissertation über „Soldatenräte und Revolution“311 quasi das Äquivalent zu den Arbeiten von Kolb und Oertzen für die Räte im militärischen Bereich. Zuvor schon hatte Heinz Hürten einen Aufsatz zu diesem Thema vorgelegt.312 Kluge bestätigte und untermauerte in seinen umfangreichen Untersuchungen die Position der „neueren Revolutionsforschung“ und charakterisierte die Revolution in erster Linie als versäumte Chance einer Demokratisierung im militärischen Bereich. Er belegte ausführlich, dass im Verlauf der Revolutionsmonate 1918/19 eine Reihe von konstruktiven Ansätzen und Möglichkeiten für den Aufbau eines demokratischen Wehrsystems vorhanden waren, die jedoch nicht genutzt wurden (vgl. Kap. 7). Hürten dagegen betonte stärker die politische Übereinstimmung vieler Soldatenräte mit der Führung der Mehrheitssozialdemokratie und stellte daher in Frage, ob die Auseinandersetzungen der Revolutionszeit sich wirklich auf die Formel „sozialdemokratisch-bürgerliche Ordnungskoalition“ gegen „von den Arbeiter- und Soldatenräten getragene Massenbewegung“ bringen ließen.313 Eberhard Kolb und Reinhard Rürup fassten 1968 in der Einleitung zur Quellenedition über den Zentralrat nicht nur die bis dahin vorliegenden Erkenntnisse über die Entwicklung der Rätebewegung während der Revolutionszeit zusammen,314 sondern unterstrichen die revolutionäre Komponente des Geschehens, die sich deutlich aus den Quellen ergebe. So habe die SPD-Führung die revolutionäre Legitimierung der neuen Regierung anerkennen müssen, und auch die Vereinbarung über die Kompetenzabgrenzung zwischen dem Rat der Volksbeauftragten und dem Vollzugsrat habe die Formulierung enthalten: „Die Revolution hat ein neues Staatsrecht geschaffen. […] 1. Die politische Gewalt liegt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte der deutschen sozialistischen Republik. Ihre Aufgabe ist es, die Errungenschaften der Revolution zu behaupten und auszubauen sowie die Gegenrevolution niederzu-

310 Vgl. Georg P. Meyer: Bibliographie zur deutschen Revolution 1918/19 (Arbeitsbücher zur modernen Geschichte 5), Göttingen 1977. 311 Ulrich Kluge: Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1918/19, Göttingen 1975. 312 Heinz Hürten: Soldatenräte in der deutschen Novemberrevolution 1918, in: Historisches Jahrbuch 90 (1970), S. 299–328. 313 Ebenda, 328. 314 Eberhard Kolb/Reinhard Rürup: Einleitung, in: Der Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik, 1968 (wie Anm. 308), S. XI–LXVII.

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halten.“315 Entgegen der lange Jahre vorherrschenden Tendenz, unter den Beschlüssen des Reichskongresses der Arbeiter- und Soldatenräte nur denjenigen zu erwähnen, der die baldige Wahl der Nationalversammlung betraf, hielten Kolb und Rürup fest: „Unter den Beschlüssen des Kongresses waren drei von grundlegender Bedeutung: der 19. Januar 1919 wurde als Termin für die Wahlen zur Nationalversammlung festgesetzt; es wurden Bestimmungen über die Kommandogewalt und die Stellung der Soldatenräte festgelegt; es erfolgte eine Kompetenzabgrenzung zwischen dem Zentralrat und dem Rat der Volksbeauftragten. Das Interesse, das die Öffentlichkeit den Beratungen des Kongresses entgegenbrachte, konzentrierte sich ganz auf die Frage ‚Nationalversammlung oder Rätesystem‘.“316 Alles in allem ergab sich auch aus dieser Quellenedition ein differenzierteres und plastischeres Bild der Rätebewegung in der Revolutionszeit. 1972 bemühten sich Kolb und Rürup in einem gemeinsamen Aufsatz mit Gerald D. Feldman auch um eine sozial-ökonomische Fundierung des Phänomens der Räte in der Revolution von 1918/19.317 Der Schwerpunkt der historischen Forschung über die Räte in der Revolutionszeit lag jedoch zu Beginn der Siebzigerjahre klar im Bereich regional- und lokalgeschichtlicher Studien. Dem Phänomen der Räte war dies sehr angemessen: Aufgrund der Selbständigkeit, die die einzelnen Räteorgane hatten, war ein wirklich präzises Bild der Rätebewegung nur als Summe zahlreicher Einzelstudien zu gewinnen. Stark beachtet wurde insbesondere die Entwicklung in Bayern, die sich erheblich von der in Berlin unterschied. Schon 1965 veröffentlichte der amerikanische Historiker Alan Mitchell seine Untersuchung „Revolution in Bavaria 1918–1919“, die zwei Jahre später in deutscher Übersetzung erschien.318 Es handelte sich dabei um die erste aus den Quellen gearbeitete zusammenfassende Darstellung der Revolution in Bayern. Das Schwergewicht der Arbeit, die auf einer Harward-Dissertation basierte, lag auf der ersten Phase der Revolution, die in Bayern bis zur Ermordung Eisners am 21. Februar 1919 reichte. Die Wochen der Räterepublik im April wurden dagegen nur kurz abgehandelt. Im übrigen konzentrierte sich die Untersuchung auf die Vorgänge in München, sowohl die Verhältnisse in der bayerischen Provinz, als auch die Entwicklung im gesamten Reich bezog Mitchell wenig ein, obwohl das revolutionäre Zentrum München stark abhängig von beiden Bereichen war. Breiter angelegt war der 1969 von Karl Bosl herausgegebene Sammelband „Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und

315 Ebenda, XX. 316 Ebenda, XXVIIIf. 317 Gerald D. Feldman/Eberhard Kolb/Reinhard Rürup: Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges (1917–1920), in: Politische Vierteljahresschrift 13 (1972), S. 84–105. 318 Allan Mitchell: Revolution in Bayern 1918/19. Die Eisner-Regierung und die Räterepublik, München 1967.

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ihre Folgen“.319 Das Schwergewicht lag hier bei den Voraussetzungen der Revolution. Während Mitchell die Revolution letztlich als unnötige Störung des Reformprozesses darstellte, kamen die Beiträge des Bosl-Sammelbandes zu dem Ergebnis, dass die Revolution in Bayern nicht wie ein unvermeidbares Naturereignis über München hereinbrach, dass Kriegsverdrossenheit, Hunger und Friedenssehnsucht zwar auslösende Faktoren, keinesfalls aber die eigentliche Ursache der Revolution waren. Der Ursachenkomplex sei vielmehr in der Gesellschaftsstruktur selbst zu suchen. 1969 gab Gerhard Schmolze einen Band mit Augenzeugenberichten über die Münchner Revolution und Räterepublik heraus,320 der später als Taschenbuch weite Verbreitung fand.321 Zahlreiche Lokalstudien wie etwa die zur Entwicklung in Nürnberg322 beleuchteten differenziert die jeweiligen Verhältnisse einzelner bayerischer Kommunen und Subregionen. In einer Sammelrezension sprach Hans Herzfeld von einer ganzen Reihe „entschlossen umwertender Arbeiten zur Vorgeschichte und Geschichte der Novemberrevolution von 1918 und 1919“, deren Nachhaltigkeit er allerdings in Frage stellte: „Es erscheint mir zweifelhaft, ob alle hier, zum Teil sehr energisch vertretenen Werturteile Bestand haben werden: Weder für die Neigung, die Erbsünde auch in der Politik der Kriegsjahre fast ausschließlich im Norden Deutschlands finden zu wollen und dieses für den katastrophalen Ausgang des Ersten Weltkrieges nahezu ausschließlich verantwortlich zu machen, noch für den Grad der hier vertretenen EisnerRenaissance, die in dem bisher zu Unrecht vernachlässigten Manne die eigentliche, human-demokratische Figur der Novemberrevolution erblicken möchte, scheint es mir sehr sicher, ob sie auf die Dauer der Kritik standhalten werden.“323 Ein zweiter regionaler Schwerpunkt lag auf dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Hier fasste ein von Reinhard Rürup herausgegebener Sammelband324 die wesentlichen Ergebnisse zusammen. Auch Revolutionszeit und Räte in Frankfurt325

319 Karl Bosl (Hg.): Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen, München/Wien 1969. 320 Gerhard Schmolze (Hg.): Revolution und Räterepublik in München 1918/19 in Augenzeugenberichten. Mit einem Vorwort von Eberhard Kolb. München 1969. 321 Gerhard Schmolze/Eberhard Kolb: Revolution und Räterepublik in München 1918/19 in Augenzeugenberichten (dtv…in Augenzeugenberichten 1365), im Text ungekürzte Ausg., München 1978. 322 Klaus-Dieter Schwarz: Weltkrieg und Revolution in Nürnberg. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Stuttgart 1971. 323 Hans Herzfeld: Literaturbericht 1862–1918, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 21 (1970), S. 183–196, hier 195. 324 Reinhard Rürup: Arbeiter- und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Studien zur Geschichte der Revolution 1918/19, Wuppertal 1975. 325 Erhard Lucas: Frankfurt unter der Herrschaft des Arbeiter- und Soldatenrats 1918/19, Frankfurt am Main 1969.

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sowie die Räterepublik in Bremen326 wurden untersucht, um nur einige von schier zahllosen Studien zu nennen. Spätestens gegen Ende der Siebzigerjahre konnten die Revolution von 1918/19 und die Rätebewegung der Revolutionszeit als außerordentlich differenziert erforscht gelten. Auch historische Darstellungen von Beteiligten und Augenzeugen wurden in den Siebzigerjahren wieder neu veröffentlicht und rundeten das Bild dieser Revolution ab, die von einer breiteren historisch interessierten Öffentlichkeit neu „entdeckt“ wurde. Dazu gehörte insbesondere die dreibändige Darstellung des Revolutionsgeschehens von Richard Müller, die mehrere Auflagen erreichte, (vgl. Kap. 7)327 sowie die „Illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution“, die im Original 1929 erschienen war (vgl. Kap. 7).328 Auch die Geschichte der politischen Parteien in der Revolutionszeit fand seit Ende der Sechzigerjahre viel Aufmerksamkeit. In Bezug auf das Parteiensystem als Ganzes kam Gerhard A. Ritter 1972 zu dem Ergebnis, es habe keine tief greifenden und dauerhaften Veränderungen gegeben – nicht nur, weil die Revolution unvollendet geblieben sei und schon bald Tendenzen zur Restauration eingesetzt hätten, sondern auch, weil „der frühe Termin der Wahl zur Nationalversammlung in allen Parteien von der DNVP bis zur SPD den Wandlungsprozeß zunächst abstoppte und zur Führung eines effektiven Wahlkampfes bei dem Fehlen neuer Organisationen zum Rückgriff auf den etablierten Apparat der alten Parteien zwang“.329 Besonderes Interesse fand in den Jahren des politischen Aufbruchs zwischen 1965 und 1975 die Geschichte der sozialistischen Parteien. Die USPD wurde im Laufe dieser Forschungen geradezu „wiederentdeckt“. Nachdem jahrzehntelang nur eine Monographie des USPD-Journalisten Eugen Prager vorgelegen hatte, kamen Mitte der Siebzigerjahre drei neue Buchveröffentlichungen von David W. Morgan,330 Robert F. Wheeler331 und Hartfrid Krause332 hinzu. Pragers Arbeit wurde als Reprint neu veröffentlicht. Dabei hat sich die Beschäftigung mit der Partei von ihrem Ausgangspunkt – ihrer Rolle in der Revolution von 1918/19 – gelöst und Eigenständigkeit entwickelt. Trotz deutlicher Unterschiede nicht nur im methodischen Ansatz, sondern

326 Peter Kuckuk (Hg.): Revolution und Räterepublik in Bremen (edition suhrkamp 367), Frankfurt am Main 1969. 327 Richard Müller: Vom Kaiserreich zur Republik, Berlin 1974; Richard Müller: Der Bürgerkrieg in Deutschland, Berlin 1974; Richard Müller: Die Novemberrevolution, 2 Aufl., Berlin 1976. 328 Illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution, Frankfurt am Main 1970. 329 Gerhard A. Ritter: Kontinuität und Umformung des deutschen Parteiensystems 1918–1920, in: Eberhard Kolb (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 49), Köln 1972, S. 244–275, hier 268. 330 David W. Morgan: The Socialist Left and the German Revolution. A History of the German Independent Social Democratic Party 1917–1922, Ithaca/London 1975. 331 Robert F. Wheeler: USPD und Internationale. Sozialistischer Internationalismus in der Zeit der Revolution, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1975. 332 Hartfried Krause: USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt am Main 1975.

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auch in der politischen Wertung – besonders ausgeprägt zwischen Morgan und Wheeler – lässt sich als Gesamtergebnis doch festhalten, dass die USPD als Produkt der Revolution verstanden wurde, als Partei, die am stärksten Bewusstsein und Stimmungen der Massenbewegung in der Revolutionszeit widerspiegelte – die Zahl ihrer Mitglieder verneunfachte sich innerhalb von nur zwei Jahren. Neben den Arbeiter- und Soldatenräten wurde somit die USPD am stärksten als die politische Kraft gesehen, die einen „dritten Weg“ der konsequenten und nachhaltigen Demokratisierung in der Revolution verkörperte. Wer die Revolutionszeit als verpasste Chance einer Demokratisierung sah, bedauerte deshalb in aller Regel auch die Spaltung und Auflösung der USPD – besonders ausgeprägt Wheeler, aber auch spürbar bei Krause. Eine ganze Reihe von Arbeiten befasste sich mit der SPD und ihrer Führung in der Revolutionszeit. Die zweibändige Quellenedition über die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918 stellte bereits 1966 umfangreiches Material über die parlamentarische Entwicklung im Vorfeld der Revolution zur Verfügung. Susanne Miller veröffentlichte 1974 ihre umfassende, aus den Quellen gearbeitete Darstellung über die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg,333 in der sie plastisch die Integration der SPD in Staat und bürgerliche Gesellschaft beschrieb und zugleich auf negative Folgen aufmerksam machte: die dadurch geförderte Spaltung der Arbeiterbewegung, die partielle Entfremdung der SPD-Mehrheit von ihrer Massenbasis und die geringfügigen Konzessionen der herrschenden Kräfte an die SPD. Die herausragende Rolle Friedrich Eberts für den Verlauf der Revolution regte Helga Grebing 1971 – zum 100. Geburtstag Eberts – zu einer biographischen Skizze mit deutlichem Schwerpunkt auf der Revolutionszeit an: „Friedrich Ebert. Kritische Gedanken zur historischen Einordnung eines deutschen Sozialisten“ war ihr Aufsatz überschrieben, der in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ erschien, also mit breiter Rezeption rechnen konnte. Grebing brachte zwar ihre menschliche Anteilnahme am Schicksal „eines redlichen Mannes“ zum Ausdruck, „dessen Leben in vieler Beziehung exemplarisch deutsch war“, aber sie kam zugleich zu dem harten Resümee, dass es „nicht viel gibt, was aus der kritischen Perspektive der Spätergeborenen an seinen politischen Leistungen feierlich zu würdigen wäre“.334 Grebing sah Ebert „als typischen Repräsentanten der deutschen Arbeiterbewegung seiner Zeit“,335 als Funktionär einer Partei, in der der Glaube an die Macht des Stimmzettels ein legalistisches, auf die Parlamentsarbeit fixiertes Bewusstsein hervorgerufen habe, „das 1918/19 seine negativen Auswirkungen eklatant zeigen sollte.“336 Ebert habe sich im letzten Moment an die Spitze

333 Susanne Miller: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 53), Düsseldorf 1974. 334 Helga Grebing: Friedrich Ebert. Kritische Gedanken zur historischen Einordnung eines deutschen Sozialisten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1971), S. 3–18, hier 18. 335 Ebenda, 5. 336 Ebenda, 6.

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der revolutionären Bewegung gesetzt, um sie in den Griff zu bekommen. Bereits am 10. November habe er gegenüber dem Hollandsch Nieuws Bureau erklärt, die Revolution sei beendet. Ebert habe einen Bruch mit den bürgerlichen Koalitionspartnern vermeiden wollen, die schnelle Wahl einer Nationalversammlung habe er selbst später als „Rückkehr ‚auf den Weg der Gesetzmäßigkeit‘“ bezeichnet.337 Durch eine Reihe von Handlungen „oder Nicht-Handlungen“ habe Ebert mit dafür Sorge getragen, dass „statt einer sozialen Demokratie eine konservative Republik etabliert wurde“.338 Die schwierige Situation habe keineswegs die Handlungsfreiheit Eberts und der anderen Volksbeauftragten so sehr eingeschränkt, dass dies „das Verfehlen einer demokratischen Neuordnung“ begründen könnte sowie „den absoluten Mangel an einer konstruktiven Politik, die den politischen Führungsanspruch gegenüber der bürokratischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht der bisher herrschenden Klasse durchgesetzt hätte.“339 Grebing benannte eine Reihe konkreter Versäumnisse: vom Aufbau einer republikanischen Armee verbunden mit dem Versuch einer Spaltung des Offizierskorps über den „Ansatz zur Totalrevision der Bürokratie im Sinne einer konsequenten Demokratisierung“ bis zur Nutzung des zuverlässigen Instruments der Räte für den demokratischen Neuaufbau des Staates als Ergänzung der parlamentarischen Demokratie.340 In der Retrospektive werde inzwischen die historische Rolle Eberts einschätzbar: „Konnte 1918/19 schon gar nicht von einer sozialistischen Revolution die Rede sein, so wurde selbst die 1848 unvollendete bürgerliche Revolution 1918 nicht zu Ende geführt. Erst die Folgewirkungen des Nationalsozialismus haben die Ergebnisse der bürgerlichen Revolution zwangsweise erbracht – freilich auch wieder merkwürdig gebrochen, wenn man sich an die stark kleinbürgerliche Imprägnierung der Führungsschichten der Bundesrepublik nach 1945 erinnert, in der noch immer das nachwirkte, was einst das ‚Ebertinische‘ an Ebert konstituierte.“341 Eberts Rehabilitierung durch das Bürgertum im Zeichen des verschärften Ost-West-Konfliktes in den fünfziger Jahren – er habe die freiheitliche Ordnung gegen die bolschewistische Gefahr verteidigt – passte in Grebings Augen vorzüglich zu dieser Charakterisierung, ebenso die Tatsache, dass die SPD sich in den Fünfzigerjahren sehr viel zögernder mit Ebert identifiziert habe.342 Stärker noch als Grebing stellt Richard N. Hunt in seinem Aufsatz „Friedrich Ebert und die deutsche Revolution von 1918“ persönliche Aspekte heraus. Die deutsche Novemberrevolution habe keinen großen charismatischen Führer hervorgebracht, keinen Cromwell, Robespierre oder Lenin. An der Spitze der SPD sei mit Friedrich Ebert „ein gewissenhafter, aber ziemlich farbloser Funktionär“ gestanden. Eberts zentrale politische Wertbegriffe seien Patriotismus, Demokratie und Sozialismus gewesen, Wer-

337 338 339 340 341 342

Ebenda, 13. Ebenda, 14. Ebenda, 14. Ebenda, 15. Ebenda, 18. Ebenda, 18.

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te, die in der konkreten historischen Lage, der sich Ebert gegenübergesehen habe, gegensätzliche Anforderungen bei der Ausübung der Macht gestellt hätten. „Als ein früherer Bürokrat, der gegen seinen Willen zum Revolutionär wurde, neigte er instinktiv zu einer konservativen Machtausübung und zur Zusammenarbeit mit den alten Kräften.“343 Neuere Untersuchungen hätten gezeigt, dass eine erfolgreiche kommunistische Revolution fast ausgeschlossen gewesen sei.344 Umso realer sei jedoch die „hysterische Angst vor dem Kommunismus“ gewesen, welche die konservativeren Kreise der deutschen Gesellschaft einschließlich der sozialdemokratischen Führer ergriffen hatte.345 Hunt knüpfte ausdrücklich an die von Rosenberg klassisch dargelegte Position an, dass es einen „dritten Weg“ zwischen Bolschewismus und den tragischen Kompromissen der Weimarer Republik gegeben habe. Diese These „ist in Amerika schon seit langem populär und wird durch neuere wissenschaftliche Veröffentlichungen in Deutschland gestützt.“ Ebert und seine Umgebung hätten eine echte Chance versäumt, „eine republikanische Armee aufzubauen, die Räte als Instrumente zur Demokratisierung (besonders in der Verwaltung) einzusetzen sowie ein handfestes Programm zur Sozialisierung und Bodenreform einzuleiten. Nur durch eine wirkliche gesellschaftliche Umwälzung, so lautet das Argument, und indem man die alten autoritären Kräfte entmachtete, konnte eine gesicherte und stabile Demokratie in Deutschland errichtet werden.“346 Dies aber sei wegen Eberts Zusammenarbeit mit den alten Führungsschichten in Militär und Verwaltung nicht gelungen. „Das Mißlingen der deutschen Revolution war in erster Linie ein Versagen der Führung. Die Massen erfüllten alle Erwartungen, die man auf sie setzen konnte: sie erhoben sich und setzten die alten Machthaber, einschließlich der militärischen Führung, ab; zur gleichen Zeit widerstand die große Mehrheit von ihnen der Anziehungskraft des Kommunismus; sie waren bereit, ihre Führer bei der Errichtung einer wirklich demokratischen Regierung zu unterstützen. Aber ihre Führer besaßen nicht das nötige Format, um die gewaltigen Aufgaben erfolgreich anzupacken, die man ihnen aufgebürdet hatte.“347 Durchaus treffend stellte Horst Möller später fest, bis zur Mitte der sechziger Jahre sei Friedrich Ebert als ein Reichspräsident erschienen, auf den sich postum alle demokratischen Kräfte der Bundesrepublik hätten einigen können. Im Zuge der Kritik an der Großen Koalition seit 1966 sei er dann von der politischen Linken zunehmend aus dem Sozialismus ausgebürgert und nahezu zum CDU-Mitglied gemacht worden.348

343 Richard N. Hunt: Friedrich Ebert und die deutsche Revolution von 1918, in: Eberhard Kolb (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 49), Köln 1972, S. 120–137, hier 121. 344 Ebenda, 127. 345 Ebenda, 129. 346 Ebenda, 130. 347 Ebenda, 135. 348 Horst Möller: Die Weimarer Republik in der zeitgeschichtlichen Perspektive der Bundesrepublik Deutschland während der fünfziger und frühen sechziger Jahre. Demokratische Tradition und

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Das offizielle politische Gedenken blieb allerdings bei der früheren Position. Bundespräsident Heinemann, hielt am 4. Februar 1971 im Theater der Stadt Bonn eine Ansprache „Zum 100. Geburtstag des ersten Deutschen Reichspräsidenten Friedrich Ebert“. Darin interpretierte Heinemann, dem die Freiheits- und Demokratiebewegungen in der deutschen Geschichte sehr am Herzen lagen, das Geschehen im Winter 1918/ 19 vor allem als Abwehr einer drohenden bolschewistischen Gefahr und als „Entscheidung zwischen Räterepublik und demokratisch-parlamentarischer Republik“.349 Eindringlich betonte Heinemann „das gewaltsame Aufbegehren der auf Revolution drängenden Kräfte, sonderlich der Spartakisten, gegen die Ebert die Oberste Heeresleitung, d. h. Waffengewalt, zu Hilfe rufen muß – ein Vorgang von tragischer und nachhaltiger Fortwirkung“.350 Heinemann formulierte dies nicht in Unkenntnis der damals aktuellen Ebert-Kritik, sondern in bewusster Abgrenzung von ihr: „An der Vorrangigkeit demokratischer Ordnung hielt Ebert auch 1918 fest, als es möglich schien, die neue Ära mit einer Räteherrschaft und mit einem gewaltsamen, blutigen Umbruch in allen Zweigen des gesellschaftlichen Lebens anzusetzen. In den letzten Jahren ist der Vorwurf gegen Ebert und seine engeren politischen Freunde wieder aufgelebt, daß er gerade hiermit die Revolution verraten habe. Diese Kritiker verkennen, daß Ebert 1918 so handelte, wie sein Leben angelegt war, nämlich auf Mitbeteiligung und Mitverantwortung aller. Weder Ebert noch seine engeren politischen Freunde hatten im Sinne, eine alte Klassenherrschaft durch eine neue andere Klassenherrschaft zu ersetzen.“351 Heinemann deutete also das Geschehen der Revolutionszeit nicht als verpasste Chance der Demokratisierung, sondern sah in der aktuellen Kritik der frühen Siebzigerjahre lediglich die Wiederbelebung der Verratsvorwürfe aus der Zeit der Weimarer Republik. Verglichen mit Ebert und der Sozialdemokratie wurde zur Rolle der KPD wenig geforscht. Am meisten Aufschluss gab zweifellos das von Hermann Weber im Nachlass von Paul Levi in New York aufgespürte Protokoll des Gründungsparteitags der Partei, das 1969 veröffentlicht wurde. Mit seiner Edition war das Bild einer geschlossenen Kaderpartei auf bolschewistischem Kurs wissenschaftlich nicht mehr aufrecht zu erhalten. Das Protokoll bestätigte die schon von Artur Rosenberg formulierte Position, dass der rechte Flügel der KPD um Rosa Luxemburg näher beim linken Flügel der USPD um die Berliner revolutionären Obleute stand als beim linken, aktionistischen Flügel der KPD. Hermann Webers zweibändigen Studie über „Die Wandlungen des deutschen Kommunismus“ erschien 1969.352 Ossip K. Flechtheims „Die KPD in der Weimarer Republik“ wurde neu aufgelegt.

NS-Ursachenforschung, in: Ernst Schulin (Hg.): Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1965), München 1989, S. 157–180, hier 173. 349 Gustav W. Heinemann: Zur Reichsgründung 1871. Zum 100. Geburtstag des ersten Deutschen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, Bonn 1971, hier 11. 350 Ebenda, 12. 351 Ebenda, 15f. 352 Hermann Weber: Die Wandlungen des deutschen Kommunismus, Frankfurt am Main 1969.

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Mehr als die KPD stand Rosa Luxemburg im Blickfeld. Ossip K. Flechtheim gab 1966 „Politische Schriften“ Rosa Luxemburgs heraus und unterstrich in seiner Einführung die grundlegenden Veränderungen des Luxemburg-Bildes: „Es ist nichts Ungewöhnliches, daß in der historischen Perspektive eines halben Jahrhunderts das Charakterbild einer Persönlichkeit neue Gestalt annimmt. Rosa Luxemburgs Statur hat seit ihrem Ende fast ständig zugenommen. Die ‚blutige Rosa‘, einst der Schrecken der Philister und Bonzen, ist heute so gut wie vergessen – in der Verfasserin der ‚Briefe aus dem Gefängnis‘ und der ‚Briefe an Freunde‘ will man jetzt oft nichts als die gütig-zarte Frau sehen. […] Ähnlich wie Karl Liebknecht gehört sie zu den wenigen Menschen, deren körperliche Tapferkeit ihrem geistigen Mut die Waage halten. Bei dieser kleinen, körperlich behinderten Frau wird man unwillkürlich an den ‚Ritter ohne Furcht und Tadel‘ erinnert – trotz all ihren Schwächen. Sie blieb ihr allzu kurzes Leben lang ein ‚Mensch mit seinem Widerspruch‘.“353 1967 veröffentlichte Peter Nettl eine Biografie „Rosa Luxemburg“,354 zwei Jahre später kam eine vom Autor gekürzte Volksausgabe auf den Markt. Ebenfalls 1969 erschienen ein Luxemburg-Band in der Reihe Rowohlt Bildmonographien355 und eine Übersetzung von Lelio Bassos „Rosa Luxemburgs Dialektik der Revolution“ aus dem Italienischen.356 1974 veröffentlichte Udo Winkel „Rosa Luxemburg und die deutsche Sozialdemokratie“.357 Eine anregende Perspektive enthielt „Revolution in Mitteleuropa 1918–1919“,358 die 1973 in deutscher Fassung vorgelegte Darstellung von Francis L. Carsten. Der englische Historiker betrachtete vergleichend die österreichische und die deutsche Entwicklung in der Revolutionszeit. Die sozialen und ökonomischen Ausgangsbedingungen in beiden Ländern seien sehr verschieden gewesen, ebenso Struktur und Bedeutung der Arbeiterbewegung. Die Politik der in beiden Ländern zur Regierung gelangten Sozialdemokratie habe sich wesentlich unterschieden, die in den Revolutionsmonaten erreichten Veränderungen hätten vor allem im Militärbereich sehr differiert. Carsten kam aufgrund seiner Studie zu ähnlichen Bewertungen wie die „neuere“ Revolutionsdeutung. Auch er betonte, die Geschichte der Revolution von 1918 sei „eine solche der verpaßten Gelegenheiten“.359 Trotz intensiver Forschung in allen Bereichen ließ eine wissenschaftlich fundierte Gesamtdarstellung der Revolution von 1918/19 aus der Feder eines westdeutschen

353 Ossip K. Flechtheim: Einführung, in: Rosa Luxemburg: Politische Schriften, Frankfurt am Main 1966, S. 5–46, hier 34. 354 Peter Nettl: Rosa Luxemburg, Köln 1967. 355 Helmut Hirsch: Rosa Luxemburg in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Rowohlt BildMonografien 158), Reinbek 1969. 356 Lelio Basso: Rosa Luxemburgs Dialektik der Revolution, Frankfurt am Main 1969. 357 Udo Winkel: Rosa Luxemburg und die deutsche Sozialdemokratie, Gaiganz/Ofr. 1974. 358 Francis L. Carsten: Revolution in Mitteleuropa 1918–1919, Köln 1973. 359 Ebenda, 269.

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Historikers noch lange Jahre auf sich warten.360 Erich Matthias lieferte allerdings 1970 in seiner Monographie „Zwischen Räten und Geheimräten“ eine vorzügliche Überblicksdarstellung der wesentlichen Probleme und Fragestellungen für die Zeit der Regierung der Volksbeauftragten. Schon der Titel, der sich als Wortspiel gab, brachte die Situation der Revolutionsregierung knapp und präzise auf den Punkt, wobei Matthias ausdrücklich betonte: „Dabei stehen die ‚Räte‘ nicht etwa als Exponenten eines Rätesystems oder einer antiparlamentarischen Rätedoktrin, sondern als Ausdruck der spontanen Volksbewegung, von der die sozialdemokratische Regierung der Volksbeauftragten an die Macht getragen worden war.“361 Matthias‘ Darstellung war ursprünglich als Einleitung zu der von Susanne Miller unter Mitwirkung von Heinrich Potthoff erarbeiteten Quellenedition über „Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/ 19“ verfasst worden362 und fasste die wesentlichen Ergebnisse der neueren Revolutionsforschung prägnant zusammen. Matthias betonte die offene Situation der Revolutionsmonate und bewertete die Anfänge der Revolution in erster Linie als Militärrevolution. Der Ruf nach Sozialismus sei Folge und nicht Ursache der Novemberrevolution gewesen.363 Die radikale Linke stand nach seinem Urteil keineswegs im Zentrum des Geschehens. „Hebt man auf die realen Möglichkeiten der revolutionären Übergangsperiode ab, so waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nur Randfiguren der Geschichte der deutschen Revolution.“ Matthias griff zwar die Formel vom „dritten Weg“ auf, erklärte aber unumwunden, „daß es wohl korrekter wäre, nicht von den Chancen eines ‚dritten‘, sondern eines anderen Weges der Revolution zu sprechen.“ Die bolschewistische Alternative sei rein hypothetisch und keineswegs als reale Möglichkeit vorhanden gewesen.364 Die größte Chance der Regierung der Volksbeauftragten habe nach dem 9. November darin gelegen, sich „den überall im Lande nach Ausbruch der Revolution erwachenden Drang nach aktiver demokratischer Selbstverwaltung, der sich in den Räten manifestierte“, zunutze zu machen. Dabei erscheine es zunächst von sekundärer Bedeutung, ob und auf welche Weise es möglich gewesen wäre, Räteinstitutionen mit dem parlamentarischen System zu verknüpfen. „Wichtig war allein, daß hier ein demokratisches Potential freigesetzt worden war, das der Revolutionsregierung zur Verfügung stand.“365

360 Ulrich Kluge: Die deutsche Revolution 1918/1919. Staat, Politik und Gesellschaft zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch (Edition Suhrkamp Neue historische Bibliothek NF 262), Frankfurt am Main 1985. 361 Erich Matthias: Zwischen Räten und Geheimräten. Die deutsche Revolutionsregierung 1918–1919, Düsseldorf 1970, hier 9. 362 Erich Matthias: Einleitung, in: Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19, 1969 (wie Anm. 306), S. XIII–CXXXI. 363 Ebenda, XX. 364 Matthias: Zwischen Räten und Geheimräten, 1970 (wie Anm. 361), hier 10. 365 Matthias: Einleitung, 1969 (wie Anm. 362), hier CXXIX.

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Überblickscharakter hatte auch der von Eberhard Kolb 1972 herausgegebene Sammelband „Vom Kaiserreich zur Republik“, der den wesentlichen Stand der Forschung aus Kolbs Perspektive präsentierte.366 Helga Grebing beschäftigte sich in diesem Band mit der „Bewertung der Novemberrevolution in der neueren westdeutschen Historiographie“ und skizzierte in ihrem Beitrag die Veränderungen der Revolutionsdeutung seit 1945. Grebing machte sich die Ergebnisse der neueren Forschung zueigen und hielt eine erneute Neubewertung der sozialdemokratischen Politik in der Revolution dringend geboten. „Das Material liegt bereit, die Perspektiven sind aufgezeigt, um die Rolle der deutschen Sozialdemokratie in der Revolution von 1918/19 neu einzuschätzen, das nach 1945 revidierte Geschichtsbild erneut zu revidieren. Auch die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ist noch nicht politisch aufgearbeitet: Die Frage ‚konservative Republik oder soziale Demokratie‘ bleibt aktuell.“367 Der aktuelle politische Bezug in Grebings Formulierungen war fast mit Händen zu greifen. Hans Herzfeld betonte dagegen vor allem den „Wechsel der Generationen“, wenn er vom „Ringen um das Verhältnis unserer Gegenwart zum Erbe der jüngeren deutschen Geschichte“ sprach. In seiner 1966 erschienenen Geschichte der Weimarer Republik benannte er auch die unterschiedlichen Bewertungen der Revolution von 1918/19, referierte die Position „einer jüngeren Generation deutscher Historiker“, die „mit ehrlicher Überzeugung, keineswegs zu unterschätzendem neuen Tatsachenmaterial und beachtenswertem Gewicht der Argumente“ die Auffassung vertreten, die Gefahr einer bolschewistischen Revolution sei damals überschätzt worden, das Potential der Arbeiter- und Soldatenräte habe man verkannt und die eigentliche Bedrohung der jungen Demokratie in Deutschland sei weniger von links als von rechts ausgegangen: von der Stärke der konservativen und traditionellen Elemente in Heer, Beamtentum und in den Führungskreisen der Wirtschaft. Herzfeld machte aber zugleich deutlich, dass es nach seiner Überzeugung keine vertretbare Alternative zur Politik Eberts und der MSPD gab. Die Entscheidung „zwischen der Option für die westliche Demokratie oder der Lösung der jungen Sowjetunion im Osten“ sei den Mitlebenden als „unausweichliche Entscheidung“ erschienen, die keine Verknüpfung der beiden Alternativen gestattet habe. „Eine Vermittlung zwischen Freiheit und drohendem Totalitarismus erschien letzten Endes als unmöglich.“ Lediglich die USPD habe sich um eine Verknüpfung beider Pole bemüht und sich unter dem Druck dieser Aufgabe schon 1922 wieder aufgelöst.368 Auch Helmut Heiber, Jahrgang 1924 und damit ein Historiker der mittleren Generation, blieb in seiner als Taschenbuch weit verbreiteten Geschichte der Weimarer Republik bei der Position, wie sie Erdmann 1955 einprägsam formuliert hatte. Er hatte

366 Eberhard Kolb (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 49), Köln 1972. 367 Grebing: Konservative Republik oder soziale Demokratie, 1972 (wie Anm. 92), hier 399f. 368 Hans Herzfeld: Die Weimarer Republik (Deutsche Geschichte 6), Frankfurt am Main/Berlin 1966, hier 14.

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die Neubewertung der Arbeiter- und Soldatenräte und die Verneinung einer ernsthaften bolschewistischen Gefahr durch Eberhard Kolb u. a. zwar zur Kenntnis genommen, hielt dem jedoch entgegen: „einerseits pflegen zur Stunde des Handelns die Dinge meistens anders zu erscheinen, als die klügsten nachträglichen Schreibtischanalysen sie sezieren, zweitens sind die Analysen zwar sicher richtig, die Möglichkeiten entschlossener Minderheiten aber nicht einkalkuliert“.369 Gerhard Schulz, ebenfalls Jahrgang 1924, bewertete in seinem 1967 erschienenen Band 2 der dtv-Weltgeschichte „Revolutionen und Friedensschlüsse 1917–1920“ die Gefahr einer bolschewistischen Revolution in Deutschland als gering. Allerdings sah er auch keine verpasste Chance im konkreten Verlauf der Revolution. Nach seiner Überzeugung war die „Novemberrevolution“ keine wirkliche Revolution, sondern vor allem eine im Grunde unnötige und von Ebert glücklicherweise schnell überwundene Störung des geordneten Reformprozesses, der auf die alternativlose Weimarer Republik hinauslief.370 Nach dem einschlägigen Band der 8. Auflage von Gebhardts Handbuch der Deutschen Geschichte schrieb Karl Dietrich Erdmann auch den betreffenden Band der 9. Auflage, der 1973 erschien. Erdmann ging ausführlich auf die neueren Studien zur Revolution 1918/19 ein und verteidigte seine bereits 1955 und 1959 vorgenommene Bewertung. Er hielt im Kern an seiner Deutung fest, es habe nur die Alternative Bolschewismus oder Bündnis mit den alten herrschenden Kräften bestanden. „In der Revolution von 1918 ging es daher bei der Frage Nationalversammlung oder Räteherrschaft um die Alternative Demokratie oder Diktatur, und später auf der Basis der tatsächlich für die Nationalversammlung gefällten Entscheidung um das Ausmaß an Sozialpolitik, Sozialisierung und Mitbestimmung innerhalb der zu errichtenden parlamentarischen Demokratie.“371 Im Unterschied zur Darstellung in der 8. Auflage ging Erdmann nun auch ausführlich auf die radikale Linke ein, differenzierte zwischen Spartakusbund, Revolutionären Obleuten, Bremer Linksradikalen und der USPD. Bemerkenswert ist insbesondere die verhältnismäßig intensive Auseinandersetzung mit Rosa Luxemburg und ihren Positionen. Möglicherweise spielte hier die Renaissance eine Rolle, die Rosa Luxemburg in der „Neuen Linken“ der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre erfuhr. Erdmann beschrieb sie als „die überragende und menschlich eindrucksvolle Vorkämpferin eines radikalen Sozialismus“.372 Die Arbeiter- und Soldatenräte behandelte Erdmann nun – ebenfalls im Unterschied zu 1959 – als

369 Helmut Heiber: Die Republik von Weimar (dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts 3), München 1966, hier 17. 370 Gerhard Schulz: Revolutionen und Friedensschlüsse 1917–1920 (Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts 2), München 1967, hier 151. 371 Karl Dietrich Erdmann: Die Zeit der Weltkriege. 1. Teilband. Der Erste Weltkrieg. Die Weimarer Republik (Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte 4.1), 9., neu bearbeitete Aufl., Stuttgart 1973, hier 156. 372 Ebenda, 158f.

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relevante politische Größe. Er betonte, die zu Beginn der Revolution gewählten Räte seien Anhänger der SPD gewesen.373 Anders als 1959 erwähnte Erdmann nun auch den Beschluss des Reichsrätekongresses zur Militärgewalt, die so genannten „Hamburger Punkte“, merkte aber lediglich an, Ebert habe sie auf Einspruch der OHL umgangen, Erdmanns Darstellung deutete in keiner Weise darauf hin, dass die Rätebewegung einen ernsthaften und ernst zu nehmenden politischen Willen formuliert haben könnte, eine tiefer greifende Demokratisierung der Gesellschaft in Angriff zu nehmen. Die wesentlichen Auseinandersetzungen der Revolutionsmonate sah er weiterhin als Abwehr des Versuchs einer Revolution. Eine verpasste Chance konnte er in der Revolutionszeit nach wie vor nicht erkennen.374 In Handbüchern und Gesamtdarstellungen blieb also die Deutung der Revolution von 1918/19 als erfolgreicher Abwehrkampf gegen den Bolschewismus in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren ebenso virulent wie ihre Deutung als eigentlich unnötige Störung eines geordneten Reformprozesses. Das galt durchaus auch im Hinblick auf Vorträge und Aufsätze. So hielt Hans Booms, Jahrgang 1924, Mitarbeiter des Bundesarchivs und ab 1972 dessen Präsident, am 6. November 1968 einen Vortrag zum 50. Jahrestag der Revolution. Er wurde im folgenden Jahr unter dem Titel „Die Novemberereignisse 1918. Ursachen und Bedeutung einer Revolution“ in GWU gedruckt. Booms kam zu der bemerkenswerten Feststellung, die „jüngere nichtmarxistische Geschichtsforschung“ habe „in den letzten Jahren“ mit Hilfe exakter Quelleninterpretation nachgewiesen, dass die von der SED unter Führung Walter Ulbrichts festgeschriebene Charakterisierung der Novemberrevolution als eine „bürgerlich-demokratische Revolution, die in gewissem Umfang mit proletarischen Mitteln und Methoden durchgeführt wurde“ im wesentlichen zutreffend sei.375 Bei der SPD und bei der Mehrheit der USPD habe es „weder eine revolutionäre Ideologie noch ein revolutionäres Bedürfnis“ gegeben.376 Die eben erst eingeführten Formen der parlamentarischen Demokratie seien allerdings noch nicht imstande gewesen, „in ausreichendem Maße ausgleichend zu wirken“.377 So habe es geschehen können, dass „die Friedensrebellion in ihren revolutionären Entschlüssen kein dringlicheres Ziel kannte, als mit Hilfe allgemeiner Wahlen zur Nationalversammlung eine parlamentarische Demokratie anzustreben“.378 Dasselbe Sicherungsbemühen habe auch die revolutionären Auseinandersetzungen nach den Novembertagen gekennzeichnet. Jede Kritik an der Politik der Sozialdemokratie in der Revolutionszeit war in Booms Augen unangemessen, weil Rätesystem und parlamentarische Demokratie „schon

373 Ebenda, 159. 374 Ebenda. 375 Hans Booms: Die Novemberereignisse 1918. Ursachen und Bedeutung einer Revolution, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 20 (1969), S. 577–604, hier 582f. 376 Ebenda, 583. 377 Ebenda, 602. 378 Ebenda, 603.

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damals zu Recht“ als unvereinbar gesehen worden seien und „die Räteidee aus Gründen, die ihrem System immanent sind, systemgerechte Lösungen noch nie realisieren konnte.“379 Im übrigen sei diese Kritik ausschließlich aktuell politisch begründet. Historisch habe sich das revolutionäre Bedürfnis der Massen in der Stabilisierung parlamentarisch-demokratischer Formen erschöpft.380 Ein Beitrag von Alfred Schickel über die Nationalversammlung von Weimar beschrieb die angebliche Alternative mit der Formulierung: „Nationalversammlung und damit parlamentarisch-demokratische Neuordnung oder Rätediktatur“.381 Schickel hielt sogar am Bild vom „Spartakusaufstand“ fest.382 Schickel war Jahrgang 1933, bei Erscheinen des Aufsatzes, Oberstudienpräfekt und Lehrer für Geschichte und Sozialkunde in Ingolstadt, er war 1959–1960 Landesvorsitzender der christlich-sozialen Studenten in Bayern gewesen. Golo Mann hatte aus seiner grundsätzlichen politischen Überzeugung kein Hehl gemacht, als er 1968 in seiner Einleitung zu Erinnerungen und Dokumenten des Prinzen Max v. Baden schrieb: „Wäre der Waffenstillstand vierzehn Tage früher unterzeichnet worden, hätte man gleichzeitig […] die Abdankung Wilhelms bekanntgeben können, so ist wahrscheinlich, daß […] die ganze ‚Revolution‘ unterblieben wäre. Sie war historisch sinnlos, denn das, was die Leute wollten, hatten sie schon oder hätten es demnächst bekommen. […] Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen, der Überzeugung ist, daß die Nation einer anständigen Kontinuität ihrer politischen Entwicklung zutiefst bedurfte und die Monarchie im nächsten Halbjahrhundert noch wesentlich stilgebende, bindende Dienste hätte leisten können, wird nie aufhören, in den Ereignissen um den 9. November 1918 ein Unglück zu sehen.“383 Nach zehn bis fünfzehn Jahren intensiver Forschung konnte von einem völlig einheitlichen Bild der Revolution von 1918/19 keine Rede sein. Durchaus zu Recht stellte Reinhard Rürup allerdings fest, „die in älteren Darstellungen vorherrschende These, dass während der Revolution die größte Gefahr von links gedroht habe, hat mit jeder aus den Quellen gearbeiteten Untersuchung immer mehr an Boden verloren.“384 Es gebe, so Rürup, „einige allgemeine Resultate der internationalen Forschung […], die zumindest weithin Anerkennung gefunden haben und als relativ gesicherte Erkenntnisse gelten können. So ist heute zunächst einmal so gut wie unbestritten, daß im

379 Ebenda, 603. 380 Ebenda, 604. 381 Alfred Schickel: Die Nationalversammlung von Weimar. Personen, Ziele, Illusionen vor 50 Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1969), H.6, S. 3–24, hier 4f. 382 Ebenda, 5f. 383 Golo Mann: Einleitung, in: Prinz Max v. Baden: Erinnerungen und Dokumente, Stuttgart 1968, hier 47f. 384 Reinhard Rürup: Einleitung, in: Reinhard Rürup (Hg.): Arbeiter- und Soldatenräte im rheinischwestfälischen Industriegebiet. Studien zur Geschichte der Revolution 1918/19, Wuppertal 1975, S. 7–38, hier 8.

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Winter 1918/19 tatsächlich politische Entscheidungen gefallen sind, die für das Schicksal der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung und – im Hinblick auf die ‚Machtergreifung‘ des Nationalsozialismus – für die allgemeinen weltgeschichtlichen Entwicklungen unseres Jahrhunderts von grundlegender Bedeutung sind.“385 Weitgehende Einigkeit herrsche auch darüber, dass die Rätebewegung ein „relativ einheitliches politisches Programm“ gehabt habe. „Ihr Ziel war eine alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringende parlamentarisch-demokratische Neuordnung, eine ‚Demokratisierung‘ vor allem des Heeres, der Verwaltung und der Wirtschaft […] Dabei bedeutete die grundsätzliche Entscheidung für die Nationalversammlung und ein parlamentarisches System nicht, daß alle Entscheidungen über den Demokratisierungsprozeß der Nationalversammlung vorbehalten sein sollten. Vielmehr erwartete man von den Regierungen sofortige und entschiedene Initiativen, um die mit dem Umsturz errungenen Machtverhältnisse zu sichern und das Wiedererstarken reaktionärer Kräfte unmöglich zu machen. Der Beginn einer demokratischen Neuordnung kraft revolutionären Rechts – das war das Programm der Arbeiter- und Soldatenräte.“386 Weitgehende Einigkeit sah Rürup auch in dem Urteil, dass die sozialdemokratisch dominierte Regierung der Volksbeauftragten konsequent eine Politik des reinen „Übergangs“ verfolgt habe. Damit habe sie sich auch zu einer – unter diesen Umständen bereits deutlich voraussehbaren – Politik der Konfrontation mit der Massenbewegung entschieden, selbst um den Preis des Bündnisses mit dem alten Offizierskorps. „Damit war die Entscheidung über das Schicksal der Revolution, über die Chancen einer tiefergreifenden demokratischen Neuordnung praktisch gefallen. […] Seit Anfang Januar radikalisierten sich die Massenbewegungen und -kämpfe […] Die Revolution war steckengeblieben und damit gescheitert“.387 Zugleich stellte Rürup allerdings fest, „daß bei einer Revolution, deren Frontstellungen unübersehbar mit zeitgeschichtlichen Erfahrungen und politischen Überzeugungen auch unserer Gegenwart verbunden sind, von der Forschung kein einheitliches, in wesentlichen Punkten allgemein akzeptiertes Bild der geschichtlichen Ereignisse erwartet werden kann.“388 Auch über ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen sei die Revolution von 1918/19 „noch immer ein Politikum“. Vergangenheit und Gegenwart stünden gerade im Hinblick auf diese Revolution in einem – wenn auch überwiegend indirekten und dazu vielfach unbewussten – Wechselverhältnis. „Die Interpretation der Revolution ist in hohem Maße von den politischen Interessen und Kategorien des jeweils Urteilenden abhängig, ebenso wie andererseits die Bedeutung der Revolution für das politische Selbstverständnis unserer Gegenwart nicht unterschätzt werden darf.“389

385 386 387 388 389

Ebenda, 7f. Ebenda, 9. Ebenda, 9–11. Ebenda, 7. Ebenda, 11.

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Diese geschichtspolitische Dimension war ein wesentlicher Faktor – gewiss nicht nur bei Reinhard Rürup. Es sei aus der Geschichte anderer Nationen bekannt, schrieb er 1975, welches politische Gewicht den im Bewusstsein des Volkes fest verankerten Traditionen des Kampfes um Recht und Freiheit, der volkstümlichen Freiheitsbewegungen und der revolutionären Erhebungen zukomme, und es sei nicht einzusehen, warum eine demokratische Ordnung in Deutschland auf solche Traditionen verzichten sollte. „Die Revolution von 1918/19 war, wie die neuere Forschung eindeutig nachgewiesen hat, von einer breiten demokratischen Massenbewegung – vornehmlich in der Arbeiterklasse, aber auch über sie hinausgreifend – getragen, deren Ziel eine freiheitlich-demokratische, in allen Bereichen der Gesellschaft fest verankerte Republik war. Es war einer der wenigen Augenblicke in der deutschen Geschichte, in denen ein mündiges, politisch verantwortliches Volk den Versuch unternahm, die alten Unterdrückungsmechanismen zu zerstören und eine neue demokratische Gesellschaft – den sozialen ‚Volksstaat‘, wie man es damals gern nannte – zu verwirklichen.“390 Die Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19 habe gerade erst begonnen, „es scheint jedoch möglich und nötig, daß auch ihr künftig ein zentraler Platz im demokratischen Geschichtsbild des deutschen Volkes eingeräumt wird.“391

Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik um 1970 Dass die (west)deutsche Geschichtswissenschaft im Verlauf der Sechzigerjahre in vielerlei Hinsicht gravierende Veränderungen erfahren hat, steht außer Zweifel. Werner Conze rückte in seinem Abschlussvortrag beim 31. Deutschen Historikertag in Mannheim 1976 vor allem den quantitativen Sprung seit etwa 1960 in den Vordergrund, eine „ruckartige Generationsverlagerung“, bedingt durch eine, wie er meinte, zum Teil überstürzte und politisierte Expansions- und Gründungsphase.392 Auch Ernst Schulin nannte die „enorme Stellenvermehrung“, die bis 1975 zu einer Vervierfachung der Ordinarien, der Dozenten und Wissenschaftlichen Räte und wohl fast zu einer Verachtfachung der Wissenschaftlichen Assistenten führte, als einen wichtigen Faktor der tiefgreifenden Veränderungen mit zum Teil krisenhaften Begleiterscheinungen. Dadurch, so Schulin, „rückten die nach 1929 geborenen ungewöhnlich schnell und zahlreich neben die ohnehin zahlenmäßig schwächere Generation der Kriegsteilnehmer. Um so deutlicher mußte die allein schon aus der anderen geschichtlichen Erfahrungswelt resultierende Veränderung der Interessen und Betrachtungsweisen in Erscheinung treten.“393 Nach Schulins Überzeugung gab es neben dem

390 Ebenda, 15f. 391 Ebenda, 16. 392 Conze: Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, 1977 (wie Anm. 105), hier 20. 393 Ernst Schulin: Zur Restauration und langsamen Weiterentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, in: Ders.: Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien

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massiven Nachrücken der jüngeren Generation aber fünf weitere „Hauptgründe“ für die elementaren Veränderungen. Erstens habe die Geschichtswissenschaft für die Zeitgeschichte nach 1945 keine wichtige Aufgabe übernommen, sondern das Feld der politischen Wissenschaft überlassen. Zweitens sei der Kalte Krieg abgeflaut. „Entsprechende Grundpositionen der Zeitgeschichte und der osteuropäischen Geschichte wurden dadurch unsicher. Die ideologische Zielrichtung war weniger einfach als früher. Die materialistische Geschichtsauffassung wurde wieder diskutabel und verunsicherte den Historismus.“394 Drittens sei die Zukunftsforschung das Feld der Soziologie geworden, die allenfalls auf Sektorengeschichten zurückgegriffen habe, die bis dahin nicht im Fokus der deutschen Geschichtswissenschaft gestanden hatten (Technikgeschichte, Entwicklung der Bevölkerung). Viertens habe die jahrelange Kontroverse um Fritz Fischer deutlich negative Folgen für die traditionelle Geschichtswissenschaft nach sich gezogen. „Für die Öffentlichkeit und die jüngere Generation hatte dies tatsächlich den Effekt einer Entlarvung, wie national befangen und überholt die ‚Zunft‘ war, die bisher politisch-moralisch so integer zu sein schien. Ein schärferes Nachfragen nach der Nazi-Vergangenheit der Historiker stand damit im Zusammenhang.“ Fünftens, schließlich, habe der studentische Protest der späten 60er Jahre zu einer „radikalen Infragestellung der ganzen bestehenden Geschichtswissenschaft“ geführt. Er habe „ihre falsche Objektivität, ihre Fortschrittsfeindlichkeit und reaktionäre Ideologie“ zu entlarven gesucht.395 Unter maßgeblicher Beteiligung des deutschstämmigen amerikanischen Historikers Georg Iggers begannen Historiker, sich kritisch mit den geistigen Grundlagen der deutschen Geschichtswissenschaft zu beschäftigen. Iggers zeichnete 1968 ein erstes Gesamtbild ihres Zustandes nach dem Zweiten Weltkrieg und machte darauf aufmerksam, dass erst im Verlauf der Sechzigerjahre „die traditionell konservative und nationalbezogene Linie des deutschen Historismus“396 immer mehr zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzung wurde. „Begleitet von einem Generationswechsel in den Reihen der Historikerschaft wurde das bisherige nationalapologetische Geschichtsbild einer grundlegenden Revision unterzogen“,397 stellte Edgar Wolfrum 1999 in seiner Darmstädter Habilitationsschrift über Geschichtspolitik in der Bundesrepublik fest. Dabei wurde keineswegs nur mit dem feinen Florett gefochten, sondern – wie insbesondere die jahrelange Auseinandersetzung um die Thesen Fritz Fischers zeigte – auch zum schweren Säbel gegriffen und gelegentlich die Ebene des

zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, S. 133–143, hier 141. 394 Ebenda, 140. 395 Ebenda, 141. 396 Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, 1971 (wie Anm. 96), hier 349. 397 Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg der bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999, hier 235.

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akademischen Diskurses völlig verlassen.398 Der Fischer-Schüler Imanuel Geiss war aufgrund seiner bitteren Erfahrungen in der Fischer-Kontroverse, „die ja in der Tat erhebliche Schwächen und Voreingenommenheiten der Zunft bloßstellte“,399 einer der engagiertesten Streiter für eine kritische Erneuerung der westdeutschen Geschichtswissenschaft. Geiss gehörte auch zu den Autoren, die Beiträge zu den beiden Sonderbänden „Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft“ beisteuerten, die „Das Argument“ 1972 veröffentlichte. Diese von Wolfgang Fritz Haug herausgegebene „Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften“ war in den Sechziger- und Siebzigerjahren das wohl bedeutsamste Periodikum der linken Intellektuellen, die der Geschichtswissenschaft unter den Sozialwissenschaften besonderen Nachholbedarf attestierten. Nach Meinung von Ernst Schulin ging es hier um „Denkmalsstürze und um den Kampf einer jüngeren gegen eine ältere Historikergeneration, von der behauptet wird, daß sie auch nach 1945 den Krieg gegen Sozialismus und Demokratie – letzteres natürlich getarnt – fortgesetzt habe.“400 Indirekt bestätigte Imanuel Geiss diese Diagnose, wenn er feststellte, der Juni 1967 habe dadurch innere Symbolkraft, dass zwei Ereignisse zusammenfielen: der Beginn der Studentenbewegung und der Tod Gerhard Ritters.401 Nach Geiss’ Überzeugung war 1967 klar: „Was sich beim Berliner Historikertag 1964 bereits angedeutet hatte, wurde nun für alle offensichtlich: Die alten Ideen haben ihre soziale Massenbasis und damit ihre Zukunft verloren.“402 Dazu hatten auch die spektakulären NS-Prozesse ihren Beitrag geleistet, die spät aber nicht zu spät stattfanden: der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958, der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961/62, der Auschwitz-Prozess 1963/64, der KrumeyHunsche-Prozess 1964, sowie die Prozesse zu Belzec 1965, Treblinka 1964/65 und Sobibor 1965/66. Durch die Arbeit der „Zentralen Stelle“ in Ludwigsburg konnten in den Jahren 1961–1968 insgesamt 167 Strafverfahren abgewickelt werden. „Sie konfrontierten die bundesdeutsche Öffentlichkeit erstmals in großem Ausmaß mit den Verbrechen des ‚Dritten Reiches‘. Die Zeit des kollektiven Beschweigens der Schuld war vorbei.“403 Insbesondere der Eichmann-Prozess fand weltweite Aufmerksamkeit. Alle großen deutschen Zeitungen schickten Korrespondenten nach Jerusalem, um über den Ablauf, aber auch über moralische Aspekte des Prozesses zu berichten. Erstmals strahlte auch das Fernsehen Bilder eines solchen Prozesses aus und trug mit dazu bei, dass 95 Prozent der erwachsenen bundesdeutschen Bevölkerung den Eichmann-Prozess zur Kenntnis nahmen.

398 Vgl. insb. Geiss: Die Fischer-Kontroverse, 1972 (wie Anm. 249), hier 127–150. 399 Schulin: Zur Restauration und langsamen Weiterentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, 1979 (wie Anm. 393), hier 135. 400 Ebenda, 135. 401 Geiss: Die Fischer-Kontroverse, 1972 (wie Anm. 249), hier 183. 402 Ebenda, 183. 403 Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999 (wie Anm.: 397), hier 236f.

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Geschichtspolitisch bedeutsam war auch, dass die DDR in diesen Jahren regelrechte Kampagnen gegen die Bundesrepublik startete, in denen es insbesondere um den damaligen Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte Theodor Oberländer und um den Staatssekretär im Bundeskanzleramt Hans Globke ging. Beide waren überzeugte Nationalsozialisten gewesen, die DDR hatte sie in Abwesenheit 1960 bzw. 1963 zu Zuchthausstrafen verurteilt. Anfang 1965 erschien in der DDR ein „Braun-Buch“ über weitere angeblich politisch belastete Persönlichkeiten in der Bundesrepublik.404 Der Vorwurf, die Bundesrepublik habe mit der braunen Vergangenheit nicht klar gebrochen, wurde angesichts personeller Kontinuitäten und jahrlangen Zögerns bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechern keineswegs nur aus der DDR erhoben. Begleitet von heftigen Auseinandersetzungen wurde im Verlauf der Sechzigerjahre die politische Klasse der Bundesrepublik dann aber doch in zunehmendem Maß ihrer strafrechtlichen, moralischen und geschichtspolitischen Verantwortung gerecht. Nachdem 1960/61 eine Debatte über die Verjährung von Totschlag stattgefunden hatte, eines Straftatbestandes, der viele nationalsozialistische Gewaltverbrechen betraf, musste 1965 über die Verjährungsfrist für Mord und Beihilfe zum Mord entschieden werden – beides verjährte damals nach zwanzig Jahren. Die Verjährungsdebatten des Bundestages waren „parlamentarische Sternstunden“, so Edgar Wolfrum. 1969 beschloss der Bundestag schließlich, dass es für Verbrechen des Völkermords keine Verjährung mehr geben solle. „Diese glaubwürdig und ernsthaft geführten Debatten strahlten weit in die Öffentlichkeit aus, sie verstärkten den Prozeß der Bewußtwerdung der NS-Verbrechen. Wichtig war vor allem, daß der landläufige Opferdiskurs – Deutsche als Opfer Hitlers und des ‚alliierten Unrechts‘ nach 1945 – sich in einen Täterdiskurs verwandelte: Deutsche waren Täter und nicht bloß Opfer.“405 Was Wolfrum in der Rückschau nach dreißig Jahren ausgesprochen positiv bewertete, war in den Augen der studentischen und außerparlamentarischen Linken der Sechzigerjahre entschieden zu kurz gesprungen. Für sie zeigte sich in den Debatten über NS-Verbrechen die tiefe Verstrickung der Bundesrepublik in die unaufgearbeitete deutsche Geschichte, im Vietnamkrieg das wahre Gesicht des Kapitalismus, in den Notstandsgesetzen die Vorbereitung für einen autoritären Staat, in der Großen Koalition ab Dezember 1966 die Tendenz zu einer Einschränkung des parlamentarischen Systems. In diesen Jahren vollzog sich in der Bundesrepublik Deutschland ein tief greifender sozialer, politischer und ökonomischer Wandel. Die wirtschaftliche Rezession von 1966/67 und die 68er-Revolte leiteten nachhaltig das Ende der Nachkriegsgesellschaft ein. Mitte der 60er Jahre stellte sich der SDS, die Studentenorganisation der SPD, in die sozialistisch-kommunistische Tradition und sorgte für eine politische Komponente der Protestströmungen. Zur Massenbewegung wurde die APO, als sie

404 Vgl. Ebenda, 239. 405 Ebenda, 238.

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Elemente des kulturellen Protestes der Beatgeneration aufnahm, in dem sich ein völlig neues Lebensgefühl der jungen Generation ausdrückte. Dabei war die Jugendbewegung in der Bundesrepublik Teil einer weltweiten Protestbewegung. „In den Köpfen und Schriften der APO-Strategen verbinden sich die vermeintlich auf permanente Mobilisierung und Zerstörung tradierter Hierarchien drängende chinesische Kulturrevolution, der antikolonialistische Befreiungskampf der Völker der Dritten Welt, die Aufstände der Schwarzen in den USA, die Oppositionsbewegungen im sowjetischen Machtbereich und die antiautoritären Protestbewegungen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften zu einem weltumspannenden antiimperialistischen Kampf. Aus dieser internationalen Dimension des Protestes ziehen die APO der späten 60er Jahre ebenso wie die Nachfolgeorganisationen der 70er Jahre einen Großteil ihrer Legitimation.“406 Im Protest brachte die Bewegung die Notwendigkeit der Modernisierung der gesamten Nachkriegsgesellschaft zum Ausdruck. Angestrebt wurde in den politischen Zirkeln eine antifaschistische, antiimperialistische, antikapitalistische, antiautoritäre und basisdemokratische Gesellschaft. Die führenden Köpfe der APO waren der Überzeugung, dass die Revolte zur Revolution werden müsse. Entsprechend sah Imanuel Geiss auch „die generelle Krise der deutschen Geschichtswissenschaft in der BRD seit 1960 als Ausschnitt der generellen Krise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft“.407 Die vom Historismus geprägte Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik erschien weit über den engen Kreis der politischen Linken hinaus immer mehr als national-apologetische Legitimationswissenschaft ohne Zukunft. Rahmenrichtlinien für den sozialkundlichen Unterricht in Hessen und Nordhein-Westfalen stellten Geschichte als eigenständiges Unterrichtsfach zur Disposition. Unzählige Male wurde in Wissenschaft und Publizistik die Frage „Wozu noch Historie?“ aufgeworfen, etwa von Reinhardt Koselleck in einem Vortrag auf dem Deutschen Historikertag in Köln am 4. April 1970. Jürgen Kocka ging in der „Zeit“ vom 3. März 1972 der Frage „Wozu noch Geschichte?“ nach und erläuterte „Die sozialen Funktionen der historischen Wissenschaften“. Willi Oelmüller fasste die jahrelange (Selbst-)Reflexion in einem Sammelband mit 340 Seiten zusammen.408 „Die öffentliche Reputation der Geschichtswissenschaft war rapide geschwunden“, so die Diagnose von Edgar Wolfrum. „Die Folge davon schien ein verkümmertes Geschichtsbewußtsein der Bundesbürger und dieses wiederum eine latente Gefahr für den Bestand der Demokratie in der Bundesrepublik zu sein.“409 Die Krise der Ge-

406 Klaus Schroeder: Der kurze Sommer der Revolte, in: Werner Süß/Hellmuth G. Bütow (Hg.): Übergänge. Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit. Beiträge zu Philosophie, Gesellschaft und Politik. Hellmuth G. Bütow zum 65. Geburtstag, Berlin 1989, S. 307–315, hier 308. 407 Imanuel Geiss: Kritischer Rückblick auf Friedrich Meinecke, in: Ders.: Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft (Edition Suhrkamp Neue historische Bibliothek 569), Frankfurt am Main 1972, S. 89–107, hier 91. 408 Willi Oelmüller (Hg.): Wozu noch Geschichte? München 1977. 409 Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999 (wie Anm.: 397), hier 276.

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schichtswissenschaft ging Hand in Hand mit einer tiefen Identitätskrise der Bundesrepublik. Das Ende des Kalten Krieges und das damit verbundene Schwinden aller Wiedervereinigungshoffnungen entzog dem konservativen Lager weitgehend seine historische Verwurzelung. Denn, so Richard Löwenthal, „mit der Hinnahme einer auf den Status quo der Teilung Deutschlands und Europas gegründeten Ordnung für unbestimmte Zeit erhebt sich drängender noch als bisher die Frage: Wenn die Bundesrepublik nicht Kern eines wiederherzustellenden Nationalstaats ist – was ist sie dann?“410 Das sozialliberale Lager setzte demgegenüber klare außen- wie innenpolitische Marken mit geschichtspolitischen Implikationen und griff ganz generell politische, soziale, gesellschaftliche Impulse der Protestbewegung auf. Bereits nach der erst im dritten Wahlgang durchgesetzten Wahl des Sozialdemokraten Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten im März 1969 war von einem Stück Machtwechsel die Rede. Die erste Regierungserklärung Willy Brandts enthielt den programmatischen Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ und überhöhte den Amtsantritt der sozialliberalen Koalitionsregierung zu einer historischen Zäsur. Die Bundesrepublik sollte nach innen wie nach außen auf eine angeblich neue, höherwertige Stufe der Demokratieentwicklung gebracht werden. In der Außenpolitik folgten rasch Signale von großer, auch geschichtspolitischer Bedeutung. Kaum gewählt, machte Brandt vor Journalisten deutlich, dass er sich nicht als Kanzler „eines besiegten, sondern eines befreiten Deutschland“ sehe, Hitler habe nun endgültig den Krieg verloren.411 Am 8. Mai 1970 nahm erstmals eine Bundesregierung im Deutschen Bundestag offiziell zum Ende des Zweiten Weltkriegs Stellung, und der Bundeskanzler warb intensiv für eine Aussöhnung mit den Opfern, besonders im Osten. Die CDU/CSU hatte schon Wochen zuvor „nationale“ Bedenken gegen eine „Kapitulations-Würdigung“ angemeldet. Es widerstrebte ihr, dass ein deutscher Bundeskanzler den Tag der deutschen Waffenniederlegung als Tag der Befreiung interpretieren könnte.412 Noch im selben Jahr 1970 wurden der Moskauer und der Warschauer Vertrag unterzeichnet, verbunden mit der völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. „Der Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Gettos verdichtete den moralischen Aspekt der Aussöhnung mit dem Osten. Die sozialliberale Regierungskoalition sah in dem Warschauer Vertrag einen historischen Wendepunkt der europäischen Geschichte, vergleichbar nur mit der Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen.“413 Wolfrum konstatierte für die gesamten Siebziger- und Achtzigerjahre „eine Aufeinanderfolge geschichtspolitischer Konflikte, deren Kern die Frage nach dem historischen

410 Richard Löwenthal: Vom kalten Krieg zur Ostpolitik, Stuttgart 1974, hier 693. 411 Vgl. Willi Brandt: Erinnerungen, Berlin/Frankfurt am Main 1994, hier 186. 412 Vgl. Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999 (wie Anm.: 397), hier 273f. 413 Ebenda, 263f.

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Ort der Bundesrepublik darstellte.“414 In den Jahren 1969 bis 1974 sei ein geschichtspolitisch vorangetriebener zweiter Gründungsakt der Bundesrepublik erfolgt, der aber infolge der innenpolitischen Opposition und neuer Krisenphänomene seit 1973 steckenblieb. „Dieser Neugründungsprozeß mittels Historie und Tradition beinhaltete drei Dimensionen, eine ‚systemische‘, eine nationale und eine demokratische. Im Mittelpunkt stand eine Wiederentdeckung der Revolution von 1848/49, von der aus nun erstmals in einem breiten öffentlichen Diskurs die eigenständigen freiheitlichdemokratischen Traditionen der Bundesrepublik hergeleitet wurden.“415 Großen Anteil an diesem geschichtspolitisch fundierten Prozess hatte Bundespräsident Heinemann. Am 13. Februar 1970, nur ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt, hielt Heinemann im Bremer Rathaus bei der traditionsreichen „Schaffermahlzeit“ eine programmatische Rede über „Tradition und Geschichtsbewusstsein“ in Deutschland. Heinemann kritisierte heftig ein konservatives Traditionsverständnis, das er für die Stagnation der gesellschaftlichen Ordnung und für die Konservierung autoritärer Verhaltensmuster verantwortlich machte. Traditionen seien keineswegs das Privileg konservativer oder gar reaktionärer Kräfte, auch wenn diese am lautesten von ihnen redeten. Heinemann ging es darum, an Ereignisse zu erinnern, die in seinen Augen für eine Ausweitung der Partizipation und in der Tradition der Aufklärung standen, und die gab es nach seiner Überzeugung vielfältig in der deutschen Geschichte. „In diesen bis dahin wenig thematisierten, jedenfalls im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik nicht präsenten freiheitlichen Regungen aus den breiten Schichten des Volkes – den Bauernaufständen im 16. Jahrhundert, dem Hambacher Fest von 1832, der Revolution von 1848/49 – sah er die Wurzeln der Demokratie in Deutschland. […] Es sei an der Zeit, so belehrte der Bundespräsident, ‚daß ein freiheitlich-demokratisches Deutschland unsere Geschichte bis in die Schulbücher hinein anders schreibt‘.“416 Ein knappes Jahr später machte Heinemann vor größtmöglichem Publikum deutlich, dass er es ernst meinte. Am Vorabend des 18. Januar 1971 wurde in den bundesdeutschen Rundfunk- und Fernsehprogrammen eine Rede des Bundespräsidenten zur Proklamation des Deutschen Reiches einhundert Jahre zuvor ausgestrahlt. Für Generationen sei dieser Tag ein Höhepunkt ihres Geschichtsbewusstseins gewesen, erklärte der Bundespräsident. „Uns ist aber heute nicht nach einer Hundertjahrfeier zumute.“417 Heinemann ließ keinen Zweifel daran, dass er die Gründung des Deutschen Reiches nicht als Traditionsbestand eines demokratischen Deutschland sah. „Die Reichsgründung hatte die Verbindung von demokratischem und nationalem Wollen zerrissen. Sie hat das deutsche Nationalbewußtsein einseitig an die monarchisch konservativen Kräfte gebunden“.418 Nach Heinmann war es kein Zufall, „daß 414 415 416 417 418

Ebenda, 270. Ebenda, 276. Ebenda, 280f. Heinemann: Zur Reichsgründung 1871, 1971 (wie Anm. 349), hier 1. Ebenda, 2.

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wir viele freiheitliche, liberale und demokratische Kräfte in Opposition zum Bismarckreich sehen“. Er benannte die Liberalen, das Zentrum und die Sozialdemokraten. „Die drei Gruppen der Opposition gegen Bismarck finden wir später in unserer Geschichte wieder. Sie nämlich sind es gewesen, die im Kriegsjahr 1917 die Friedensresolution des Reichstages mit der Warnung vor gewaltsamen Gebietserweiterungen verfaßt haben. Sie sind es auch gewesen, die eineinhalb Jahre später das militärisch zusammengebrochene Kaiserreich in der Republik von Weimar auffingen. Hier bestehen eher historische Zusammenhänge mit der Frankfurter Nationalversammlung des Jahres 1848 als mit dem Spiegelsaal von Versailles. Die Weimarer Republik hatte die Chancen im Rahmen der nach dem Versailles Vertrag von 1919 verbliebenen Einheit endlich auch die innere Zusammenführung unseres Volkes in einer demokratischen Ordnung hinzuzufügen. Genau dieses aber gelang nicht.“419 Bei allem Bestreben „demokratische“ Traditionslinien deutlich zu machen, ignorierte Heinemann, das sei angemerkt, die Revolution 1918/19 vollständig und schlug den Bogen direkt von der Friedensresolution zur Weimarer Republik. Die von ihm angemahnte Überprüfung unseres Geschichtsbildes von Weimar schloss kein Nachdenken über diese Revolution ein. Ihm ging es um anderes: „Unser Geschichtsbild von Weimar bedarf […] einer kritischen Überprüfung. Wo vom Ersten Weltkrieg als einem bloßen Unglück ohne deutsche Mitschuld und wo vom Unrecht des Versailler Friedensvertrages von 1919 als Entschuldigung für die nationalsozialistische Machtergreifung gesprochen wird, ist man immer noch nicht mit den Ursachen des Zusammenbruchs von 1918 fertig geworden. Hundert Jahre Deutsches Reich – dies heißt eben nicht einmal Versailles, sondern zweimal Versailles, 1871 und 1919, und dies heißt auch Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation von 1945.“420 Kaum war die Ansprache an jenem 17. Januar 1971 beendet, brach ein Sturm der Empörung los – was Heinemann nicht daran hinderte, die Jahre seiner Präsidentschaft weiter intensiv zu nutzen, um an freiheitlich-demokratische Traditionen, Bürgertugenden, soziale und emanzipatorische Bewegungen zu erinnern. Sein Ziel war unverkennbar, die zweite deutsche Demokratie zu einer wahrhaften Bürgerrepublik zu machen, in der Untertanengesinnung keinen Platz hatte, einen Demokratisierungsprozess voranzutreiben, der in eine wirklich freiheitliche Periode deutscher Geschichte münden sollte. Das alles stand sehr im Einklang mit der Programmatik der sozialliberalen Koalition unter Brandt und Scheel. Die Geschichtswissenschaft sollte nach Heinemanns Vorstellung nicht mehr den Nationalstaat in den Mittelpunkt stellen, sondern die Entwicklung von Freiheitsrechten und Demokratie. Und die forschende Beschäftigung mit Geschichte sollte sich nicht auf die Historikerzunft beschränken. Bereits 1973 wurde erstmals ein Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte ausgeschrieben, in dessen Rahmen deutsche Freiheitsbe-

419 Ebenda, 3. 420 Ebenda, 4.

Mehr Demokratie wagen – 1965–1975

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wegungen erforscht werden sollten. Mehr als 4.500 Schüler nahmen an diesem ersten von der Körber-Stiftung geförderten Wettbewerb teil, der die deutsche Revolution von 1848/49 zum Thema hatte. Aus dieser Initiative Heinemanns ist eine dauerhafte Einrichtung geworden – heute unter dem Titel „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Jugendliche forschen vor Ort“. Viele der Ergebnisse konnten sich von Anfang an sehen lassen und haben durch ihre Vielfalt durchaus zur Erweiterung der Forschung beigetragen. Vor allem aber hat der Wettbewerb ganz im Sinne Heinemanns im Hinblick auf Demokratie- und Freiheitsbewegungen traditionsstiftend gewirkt. Dass Heinemann 1974 noch die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt eröffnen konnte, hat er als einen Höhepunkt seiner Präsidentschaft erlebt. Er sprach von einem Ziel, um das er sich während seiner ganzen Amtszeit bemüht habe. Viel zu lange sei die Geschichte der niedergeschlagenen Freiheitsbewegungen von den Siegern mit den Fürstenkronen und ihren Dienern geschrieben worden, die sich nach Kräften darum bemüht hätten, „das Bild der Erinnerung daran bis in die Geschichtsschulbücher hinein zu schmähen, zu verdunkeln, ja nach Möglichkeit ganz zu tilgen.“421 Genau dies habe seine Bemühungen um ein ausgeglichenes Geschichtsbild angetrieben. „Mir liegt daran, bewußtzumachen, daß unsere heutige Verfassung durchaus eigenständige Wurzeln hat und nicht nur eine Auflage der Sieger von 1945 ist.“422 Heinemann benannte auch in dieser Rede eine Vielzahl von Bewegungen von den Salpeterern über die Bauernkriege bis zur Revolution 1848/49. Im Hinblick auf 1918 sprach er vom „Zusammenbruch“.423 Für ihn gab es offenbar keine Revolution von 1918/19, die in die Freiheitsbewegungen der deutschen Geschichte zu integrieren gewesen wäre. Obwohl Heinemann ausdrücklich betonte, der Bundespräsident sei nicht der „Geschichtslehrer der Nation“,424 wurden seine geschichtspolitischen Aktivitäten doch von einem Teil der Historiker genau so wahrgenommen. Theodor Schieder erklärte in einem Artikel in „Deutsche Zeitung/Christ und Welt“ vom 27. Februar 1970 knapp und bündig: „Die Geschichte ist nicht dazu da, diesen Staat zu legitimieren und zu sanktionieren.“425 Ein anderer Teil der Historiker sah sich durch die geschichtspolitischen Aktivitäten der frühen sozialliberalen Ära gestärkt. Bereits 1973 konnte Hans Mommsen festhalten, „daß die politische und soziale Entwicklung seit der Epoche der Reichsgründung und vor allem in der Weimarer Republik unter ganz neuen Gesichtspunkten und unter Preis-

421 Gustav W. Heinemann: Die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 25 (1974), S. 601–606, hier 602. 422 Ebenda, 603. 423 Ebenda, 605. 424 Ebenda, 603. 425 Vgl. Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999 (wie Anm. 397), hier 284f.

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gabe nationalliberaler Harmonisierungen erforscht worden ist.“426 Auch Ernst Schulin bewertete das Ergebnis 1989 sehr positiv: „Was in der DDR durch schnelle, ideologisch vereinfachte kritische Aburteilung der bürgerlichen, imperialistischen und faschistischen Phase deutscher Geschichte geschehen ist, wurde in der Bundesrepublik durch langsame, detaillierte Erforschung der NS-Zeit, der Weimarer Republik, dann der wilhelminischen und Bismarckzeit geschafft, bis zur Revision der Gesamtvorstellung eines ganzen Jahrhunderts deutscher Geschichte. Mir ist kein anderes Beispiel bekannt, daß eine Geschichtswissenschaft so ernsthaft und langanhaltend versucht hätte, die schwer zu tragende Wahrheit über die jüngste Geschichte ihres Landes aufzudecken.“427 Diese kritische Beschäftigung mit der deutschen Geschichte ging einher mit einer Tendenz zu historiographischem Pluralismus, wie er der deutschen Geschichtswissenschaft zuvor fremd gewesen war. Die zunehmende Rezeption neuer sozialwissenschaftlicher Fragestellungen und Methoden aus den USA verstärkte diese Entwicklung noch. Die methodischen Veränderungen befriedigten einen wichtigen Nachholbedarf der deutschen Geschichtswissenschaft auf dem Gebiet der neueren und neuesten Geschichte. Nach Auffassung Schulins hatte sie damit „den Anschluß an moderne Forschungsrichtungen Westeuropas und Amerikas erreicht.“428 Mit der Gründung der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft“ schuf sich diese neue Richtung, verbunden vor allem mit dem Namen Hans-Ulrich Wehler, im Jahr 1975 eine publizistische Plattform. Bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen im Einzelnen, so Wolfgang J. Mommsen, sei sich die Gruppe in einer Hinsicht völlig einig gewesen, „nämlich der Notwendigkeit, mit zentralen Postulaten des klassischen Historismus zu brechen und demgegenüber aufklärerischem Denken in der deutschen Geschichtswissenschaft wieder eine feste Heimstatt zu verschaffen. Dies verband sich mit der Überzeugung, daß die Geschichtswissenschaft eine politische Aufgabe besitze und sich ihrer politischen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bewußt sein müsse. Dabei war eigentlich selbstverständlich, daß der eigene Standort nur ein demokratischer, auf emanzipatorische Politik gerichteter sein könne. Dies war mit Objektivität im Sinne des Historismus, also einer unreflektierten Identifikation des Historikers mit seinem Gegenstand, nicht vereinbar. Vielmehr war unumstritten, daß man Geschichte von einem bestimmten politisch-moralischen Standort aus zu schreiben verpflichtet sei, den freilich jeweils explizit zu deklarieren ein unbedingtes Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit darstelle.“429

426 Mommsen: Betrachtungen zur Entwicklung der neuzeitlichen Historiographie in der Bundesrepublik, 1973 (wie Anm. 102), hier 141. 427 Ernst Schulin: Schlußbetrachtungen: Zur Veränderung der deutschen Geschichtswissenschaft in den sechziger Jahren, in: Ders. (Hg.): Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1965), München 1989, S. 273–276, hier 275. 428 Ebenda, 274. 429 Wolfgang J. Mommsen: Schlußbetrachtungen: Zur Veränderung der deutschen Geschichtswissenschaft in den sechziger Jahren, in: Ernst Schulin (Hg.): Deutsche

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Tendenzwende – 1975–1989 Die Revolution von 1918/19 in der Geschichtskultur Ungeachtet des Fortlebens älterer Auffassungen insbesondere in den Hand- und Lehrbüchern zur Geschichte der Weimarer Zeit könne die mit Namen wie Kolb, Matthias, Oertzen und Rürup verbundene Interpretation der Revolution „gegenwärtig als ‚herrschende Meinung‘ der Forschung gelten, auch wenn die Akzente im einzelnen verschieden gesetzt werden“,430 stellte Wolfgang J. Mommsen 1978 fest. In der Tat hatte die Deutung der Revolution von 1918/19 als verpasste Chance einer Demokratisierung der Gesellschaft mit jeder aus den Quellen gearbeiteten Studie an Zustimmung gewonnen. Zugleich gab um die Mitte der Siebzigerjahre aber auch bereits Anzeichen für Rechtfertigungsdruck, wenn „offiziöse“ Einrichtungen sich mit der Rätethematik beschäftigten. Als 1976 der von Eberhard Kolb und Klaus Schönhoven bearbeitete Band über „Regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg 1918/19“ in der Reihe „Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19“ erschien, wies Rudolf Morsey als Präsident der herausgebenden „Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ in seinem Vorwort ausdrücklich darauf hin, dass der Plan zu dieser Reihe bereits Anfang der Sechzigerjahre entstanden sei, „also zu einer Zeit, als von einem starken theoretischen Interesse an der verfassungspolitischen Bedeutung der Räte noch kaum die Rede sein konnte. Die bald darauf einsetzende theoretische Diskussion über Räte und Rätesystem, die, ursprünglich politisch motiviert, auch auf die fachwissenschaftlichen Auseinandersetzungen einer ganzen Reihe von Disziplinen übergriff, hat ihren Höhepunkt inzwischen längst überschritten und ist anscheinend weitgehend abgeklungen. Damit ist bereits gesagt, daß bei der Begründung der Quellenreihe, die mit diesem Band fortgesetzt wird, eine andere Intention maßgebend gewesen ist, die auch in der Folgezeit nicht modifiziert zu werden brauchte. […] Auch ein dritter, von Reinhard Rürup bearbeiteter Band über die Räteorganisation in Baden ist schon weitgehend vorbereitet.“431 Offenbar bestand Anlass, sich gegen den Vorwurf zu wappnen, hier werde Quellenedition aus politischem Interesse betrieben.

Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1965), München 1989, S. 286–295, hier 292. 430 Wolfgang J. Mommsen: Die deutsche Revolution 1918–1920. Politische Revolution und soziale Protestbewegung, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 362–391, hier 368. 431 Rudolf Morsey: Vorwort, in: Regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg 1918/19. Bearbeitet von Eberhard Kolb und Klaus Schönhoven (Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland, 1918/19, 2), Düsseldorf 1976.

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Der angesprochene Band über „Arbeiter-, Soldaten- und Volksräte in Baden 1918/19“,432 bearbeitet von Peter Brandt und Reinhard Rürup war im Übrigen der letzte der Reihe. Brandt und Rürup griffen darin den Grundgedanken auf, dass Revolutionsgeschichte immer zu einem großen Teil Vorgeschichte sein müsse und bezogen politische Traditionen, wirtschaftliche und soziale Strukturen sowie die Entwicklung der badischen Sozialdemokratie bis weit zurück ins 19. Jahrhundert in ihre Darstellung mit ein. Die Revolution 1918/19 erschien hier keineswegs nur als Folge des verlorenen Krieges, sondern als eruptive Phase im Zuge eines langfristigen Modernisierungs- und Demokratisierungsprozesses. Wie wenig Anlass zu politischem Misstrauen unter sachlichen Gesichtspunkten bestand, wurde auch in den beiden anderen Quellenbänden deutlich. Es ging selbstverständlich um historische Forschung, nicht um „Systemveränderung“ – und immer wieder auch um Belege dafür, dass eine andere Politik in der Revolutionszeit der Weimarer Republik eine stabilere Grundlage hätte geben können.433 Wie sehr sich die politische Stimmungslage in der Bundesrepublik innerhalb von zehn Jahren verändert hatte, zeigt beispielhaft aber auch, dass von „Demokratisierung“ nicht mehr unbefangen gesprochen werden konnte, ohne Misstrauen zu erregen. Eberhard Kolb fühlte sich bemüßigt darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Demokratisierung“ sich in den Quellen der (Revolutions)Zeit finde und dass die Räteforschung diesen Terminus bereits zu einem Zeitpunkt verwendet habe, als er in den aktuellen politischen Diskussionen keine Rolle spielte. „Mit Beginn der Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre hat der Begriff ‚Demokratisierung‘ dann schlagartig Karriere gemacht, so daß sich bei Benutzung dieses Begriffs heute unvermeidlicherweise Assoziationen zu den politischen Konzepten der Studentenbewegung von 1968 einstellen und der Begriff dadurch ‚belastet‘ ist.“ Kolb empfahl daher, den Begriff nicht mehr undefiniert zu verwenden, „weil nur so eine sachliche Diskussion über die Neuordnungsvorstellungen der Sozialdemokratie von 1918/19 möglich ist.“434 Die Auseinandersetzung mit der „neuen“ Deutung der Revolution von 1918/19 als verpasste Chance der Demokratisierung teilte sich in den Siebzigerjahren in zwei deutlich zu unterscheidende Stränge. Der eine, den man unter Zugrundelegung politischer Kriterien „sozialdemokratisch“ nennen kann, akzeptierte die Ergebnisse der historischen Forschung seit den späten Fünfzigerjahren, formulierte jedoch Einwände

432 Arbeiter-, Soldaten- und Volksräte in Baden 1918/19. Bearbeitet von Peter Brandt und Reinhard Rürup (Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland, 1918/19 3), Düsseldorf 1980. 433 Eberhard Kolb/Klaus Schönhoven: Einleitung, in: Regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg 1918/19. Bearbeitet von Eberhard Kolb und Klaus Schönhoven (Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland, 1918/19 2), Düsseldorf 1976, S. IX–LXXXV, hier LXX. 434 Eberhard Kolb: Arbeiter- und Soldatenräte in der deutschen Revolution von 1918/19, in: Michael Salewski (Hg.): Die Deutschen und die Revolution. 17 Vorträge, Göttingen/Zürich 1984, S. 301–319, hier 313.

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gegen einzelne Aspekte der Deutung. Klar erkennbares Ziel war es, im wissenschaftlichen Diskurs zu einer alle Einwände berücksichtigenden (gemeinsamen) Deutung der Ereignisse zu kommen. Ein zweiter Strang, man könnte ihn „konservativ“ nennen, begab sich in eine Position der Fundamentalopposition, lehnte die „neuere Revolutionsforschung“ als Ganze ab und verfolgte das erklärte Ziel zu verhindern, dass die Deutung der Revolution als verpasste Chance der Demokratisierung Eingang in Schulbücher und Gesamtdarstellungen fand. Der „sozialdemokratische“ Strang der Kritik war insbesondere verbunden mit Namen wie Richard Löwenthal, Susanne Miller und Heinrich August Winkler. Löwenthal, bis 1975 Ordinarius für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und Weggefährte Willy Brandts, äußerte 1974 Bedenken gegen eine nur negative Sicht der sozialdemokratischen Volksbeauftragten. Die Sozialdemokratie habe auch „das Hauptverdienst daran, daß Deutschland nach dem militärischen Zusammenbruch von 1918 nicht das Opfer staatlichen Zerfalls, langdauernden Bürgerkriegs oder einer Diktatur wurde, sondern als parlamentarische Demokratie seine neue verfassungsmäßige Ordnung fand.“435 Sie trage allerdings „auch die Hauptverantwortung dafür, daß die demokratische Revolution unvollendet und ein antidemokratischer Staatsapparat erhalten blieb, der in einer späteren Krise den nationalsozialistischen Zerstörern das Tor zur Macht öffnen konnte.“436 Eine kritische Auffassung der Rolle der SPD müsse sich fragen, „warum die sozialdemokratische Führung damals eine Politik verfolgt hat, die im Namen der Sicherung der neuen, demokratischen Ordnung die Vollendung der demokratischen Revolution verhinderte und die Zukunft der Republik schwer belastete, und warum eine Mehrheit der organisierten Arbeiter und der Arbeiterwähler dennoch dieser Partei treu blieb und ihr bei allen Wahlen folgte.“437 Der Hinweis darauf, dass die sozialdemokratischen Führer die bolschewistische Gefahr überschätzt hätten, genügte Löwenthal ebenso wenig wie der Verweis auf die Zusammenarbeit mit den Kräften der alten Ordnung in den Kriegsjahren. Für eine volle Erklärung müsse man nach Vorstellungen suchen, die Führung und Basis gemeinsam hatten. „Die erste war eine übertrieben formalistische Vorstellung von den Bedingungen des Aufbaus einer Demokratie in Deutschland.“438 Löwenthal ging es dabei um die Frage, „welche Veränderungen der Machtverhältnisse vorausgehen [kursiv hervorgehoben] müssen, bevor die neuen formalen Institutionen gesichert funktionieren können: Das eben ist die Kernfrage einer demokratischen Revolution. Die Weimarer Republik hätte mit genau der gleichen Verfassung – trotz aller Gefahren des Artikels 48 – wesentlich stabiler und gesicherter funktionieren können, wenn vor

435 Richard Löwenthal: Die deutsche Sozialdemokratie in Weimar und heute. Zur Problematik der „versäumten“ demokratischen Revolution, in: Helga Grebing (Hg.): Die deutsche Revolution 1918/19. Eine Analyse, Berlin 2008, S. 171–186, hier 171. 436 Ebenda, 171. 437 Ebenda, 173. 438 Ebenda, 174.

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Inkrafttreten dieser Verfassung – oder äußerstenfalls nachher aufgrund der Lehren des Kapp-Putsches – die entscheidenden Machtpositionen der Gegner der Demokratie zerschlagen worden wären. Das hätte den völligen Neuaufbau der Armee und die einmalige Umbesetzung der leitenden Beamtenstellen einschließlich der Richterschaft im Zuge der Revolution erfordert, dazu mindestens die Enteignung des ostelbischen Großgrundbesitzes und Maßnahmen zur Kontrolle der Schwerindustrie.“439 Bei solchen Maßnahmen wäre es in Löwenthals Augen nicht um die Ausübung einer Diktatur gegangen, sondern um die Durchführung einer notwendigen demokratischen Revolution. „Die Vorstellung der Mehrheitssozialdemokratie von der Begründung eines demokratischen Staates war in unserem Sinne formalistisch, nicht weil sie auf die freie Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung drängte, sondern weil sie den Gedanken vorhergehender Änderungen der Machtverhältnisse im Zuge des revolutionären Prozesses ablehnte, soweit er überhaupt in ihren Gesichtskreis trat. Hier rächte sich das Fehlen jeder erfolgreichen revolutionären Erfahrung in der deutschen Geschichte, und zwar nicht nur bei den Führern, sondern auch bei den Anhängern: […] Sie wollten in einer freiheitlichen Demokratie leben, ohne gegen das vorhergehende Regime der Unfreiheit eine demokratische Revolution durchgeführt zu haben.“440 Doch, so Löwenthal, „hinter der formalistischen Auffassung von den Bedingungen des Aufbaus einer Demokratie steckte ein noch grundlegenderer Faktor, der bei Führern und Anhängern gleich wirksam war: die Angst vor dem „Chaos“. „Gerade weil Deutschland ein hochentwickeltes und hochorganisiertes Industrieland mit komplizierter Arbeitsteilung und einem Netz vielseitiger Verwaltungen war, gerade darum erzeugte die Vorstellung, das Funktionieren dieser Verwaltungsorganisation könne unterbrochen werden, Angst und Schrecken sowohl bei den politisch Verantwortlichen wie bei Millionen einfacher Menschen, deren Leben – Beschäftigung, Ernährung, Gesundheit – buchstäblich von diesem Funktionieren abhing.“441 Damit machte Löwenthal Aussagen, die über die Revolution von 1918/19 als historisches Einzelphänomen hinausreichten. Die Furcht vor dem Chaos in hoch komplexen Gesellschaften sei „einer der wesentlichen Gründe, warum es bis heute in keinem entwickelten Industrieland eine ‚proletarische Revolution‘ im Marxschen Sinne […] gegeben hat. Es erklärt auch die in unserem Zusammenhang zentrale Tatsache, daß Länder, die ohne demokratische Revolution die Stufe der modernen Industriegesellschaft erreicht hatten, nirgends auf dieser Stufe eine demokratische Revolution nachgeholt haben. […] Die Revolution als Idee ist ein Lieblingsthema intellektueller Diskussion in der modernen industriellen Welt. Die Revolution als

439 Ebenda, 174. 440 Ebenda, 174f. 441 Ebenda, 175f.

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Ereignis ist, soweit wir sehen können, ein Bestandteil einer früheren Periode der gesellschaftlichen Entwicklung.“442 Löwenthal wollte damit keineswegs behaupten, die Entscheidungen der Mehrheitssozialdemokratie unter Eberts Führung seien „aufgrund ‚historischer Gesetzmäßigkeiten‘ unvermeidlich“ gewesen. Seine Überlegungen über die allgemeinen Hindernisse einer Revolution in entwickelten Industrieländern zielten nicht auf die einzelnen Entscheidungen der Führer, sondern auf „die Durchsetzung ihrer Gesamtpolitik und das Scheitern der demokratisch-revolutionären Alternative: Der Versuch, eine freiheitlich-demokratische Verfassung ohne [kursiv hervorgehoben] Angriff auf den vordemokratischen und im Effekt antidemokratischen Staatsapparat einzuführen, entsprach in all seiner Widersprüchlichkeit den widersprüchlichen Bedürfnissen breiter Massen, die sich zugleich nach einer neuen Freiheit und nach Kontinuität ihrer Lebensordnung und des sie sichernden (alten) administrativen Rahmens sehnten.“443 In Deutschland, so ergänzte Löwenthal, sei 1945 ein wesentlicher Teil der Leistungen einer demokratischen Revolution „auf nichtrevolutionäre Weise“ nachgeholt worden.444 Susanne Miller arbeitete in ihrer umfangreichen Studie „Die Bürde der Macht“ die Politik der deutschen Sozialdemokratie in der Revolutionszeit auf. Dabei stimmte sie in vielerlei Hinsicht mit der bisherigen Revolutionsforschung überein, legte aber entschieden Wert darauf, die SPD an ihren eigenen Ansprüchen zu messen. Man könne der Partei nicht vorwerfen, Ziele nicht verfolgt zu haben, die nie ihre eigenen waren, sondern müsse fragen, „warum es dieser Partei nicht gelang, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die von ihr erstrebten Resultate zu erreichen.“445 Sie wies auch auf die Gefahr hin, die Bedeutung der Rätebewegung als Faktor in der Revolutionszeit zu überschätzen, sie vielleicht sogar zur „Kernfrage der Revolution zu erheben“446 – derartiges könne leicht geschehen, wenn ein bis dahin unterschätzter Faktor ins Blickfeld gerate. Sie betonte auch, dass keineswegs nur die SPDFührung Verantwortung für die Politik der Volksbeauftragten trage, die USPD-Führung habe häufig mit ihr übereingestimmt, jedenfalls keine konstruktive Alternative angeboten und repräsentiert. Schließlich sei bei aller Kritik an der SPD-Politik und insbesondere auch am „Regime Noske“ nicht zu vergessen, „dass die Hemmungslosigkeit und Verantwortungslosigkeit der extremen Linken die Entfaltung dieses Regimes überhaupt erst ermöglicht hat“.447 Als Gesamteindruck blieb gleichwohl, wie nicht nur Volker Ullrich in seinem Literaturüberblick festhielt, ein hohes Maß an

442 Ebenda, 176. 443 Ebenda, 177. 444 Ebenda, 180. 445 Susanne Miller: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918–1920, Düsseldorf 1978, hier 101. 446 Ebenda, 140. 447 Ebenda, 241.

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Gemeinsamkeit mit „den Vertretern der neueren Revolutionsforschung (Kolb, v. Oertzen, Rürup)“.448 Ingesamt war „Die Bürde der Macht“ eine kritische Bestandsaufnahme der Versäumnisse und Fehlentscheidungen der MSPD-Führung. Die MSPD habe die unter äußerst schwierigen Bedingungen übernommene Regierungsverantwortung eher als drückende Last denn als Chance zur durchgreifenden Neuordnung empfunden. Miller deutete die Revolution vor allem als verpasste Chance, „durch eine konsequente sozialdemokratische Politik in den ersten Revolutionsmonaten die Machtverteilung im Sinne der Arbeiterbewegung zu verändern und in der gesellschaftlichen Realität zu verankern.“449 (vgl. Kap. 7) Wolfgang J. Mommsen wies 1978 darauf hin, dass die Revolution 1918/20 – er plädierte dafür, die Revolutionsperiode erst mit dem Scheitern des Kapp-Putsches und der Niederschlagung der Aufstandsbewegung im Ruhrgebiet als beendet anzusehen – seit dem Beginn der Studentenbewegung und mit der Neuen Linken „zu einem Debattierfeld, das der historischen Verifikation möglicher Alternativkonzeptionen zur parlamentarischen Demokratie diente“ geworden sei.450 Aber auch die ältere Forschung sei „in erheblichem Maße von zeitbedingten erkenntnisleitenden Interessen und politischen Bewertungskriterien abhängig gewesen, die in gewisser Hinsicht als Reflex der jeweils in der deutschen Gesellschaft vorherrschenden politischen Grundhaltungen zu gelten haben.“451 Im Ergebnis habe die Deutung durch die neuere Forschung „zu einer wesentlichen Erweiterung unserer Kenntnisse der Revolutionsperiode geführt und zugleich zur Entwicklung neuer Urteilskriterien beigetragen, die, gleichviel ob sie berechtigt sein mögen oder nicht, eine wesentlich genauere Bestimmung der historischen Bedeutung der deutschen Revolution 1918/20 ermöglicht haben.“452 Mommsens Einwände bezogen sich insbesondere auf die Beurteilung der Rätebewegung und den Stellenwert von Sozialisierungsmaßnahmen. Es könne kein Zweifel mehr bestehen, dass die Arbeiter- und Soldatenräte „grundsätzlich eine Reorganisation der deutschen Gesellschaft auf demokratischer Grundlage und insbesondere eine Entmachtung der traditionellen militärischen Instanzen angestrebt haben, während ihre Auffassungen über die Wünschbarkeit der Sozialisierung und deren konkrete Realisierung höchst unterschiedlich und im allgemeinen ziemlich vage gewesen sind.“453 Allerdings hatte Mommsen erhebliche Zweifel, ob die Räte eine effektive Demokratisierung der Verwaltung hätten durchsetzen können, selbst wenn der Rat

448 Volker Ullrich: Die deutsche Arbeiterbewegung im ersten Weltkrieg und in der Revolution von 1918/19. Anmerkungen zu neueren Veröffentlichungen, in: Neue Politische Literatur 27 (1982), S. 446–462, hier 458. 449 Ebenda, 458f. 450 Mommsen: Die deutsche Revolution 1918–1920, 1978 (wie Anm. 430), hier 363. 451 Ebenda, 364. 452 Ebenda, 363. 453 Ebenda, 366.

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der Volksbeauftragten sich ihnen nicht in den Weg gestellt hätte. „Für eine totale Konfrontation mit der Beamtenschaft fehlte den Räten nicht nur die Macht, sondern auch der Wille. […] Die These von den Räten als potentiellen Organen einer durchgreifenden Demokratisierung der Bürokratie muß also mangels entscheidender Aktionen der Räte in entsprechendem Sinne als Überinterpretation betrachtet werden. Es gibt nur einen Bereich, in dem die Räte auch entgegen den Vorstellungen des Rates der Volksbeauftragten mit großem Nachdruck den Abbau traditioneller Herrschaftsstrukturen gefordert haben, die Armee.“454 Zum Teil beruhte Mommsens Einwand auf einem Missverständnis, aber er diente der Präzisierung: Weder Kolb noch Rürup hatten je die Vorstellung geäußert, die Räte selbst hätten die Demokratisierung der Verwaltung vorantreiben müssen. Zweifel äußerte Mommsen auch im Hinblick auf die These, eine stärkere Berücksichtigung der Forderungen aus der Rätebewegung hätte die Radikalisierung der Bewegung im Frühjahr 1919 verhindern können. Die Streikaktionen des Frühjahrs seien insbesondere spontane Aktionen tief enttäuschter Arbeitermassen gewesen, gekennzeichnet vor allem vom Wunsch nach unmittelbarer Verbesserung der eigenen materiellen Lage. „Konfrontiert mit den elementaren Streikbewegungen des Frühjahrs 1919 versagten auch die Arbeiter- und Soldatenräte weitgehend. Sie erwiesen sich ebensowenig wie die sozialistischen Parteien, insbesondere die Mehrheits-Sozialdemokratie, imstande, die amorphe Schubkraft dieser Bewegungen aufzufangen und in konstruktive Bahnen zu lenken“.455 Es bleibe höchst fraglich, „ob durch eine unverzügliche Sozialisierung weiter Teile der Grundstoffindustrien, nach dem Muster bürokratischer Sozialisierung, dem damals alle europäischen sozialistischen Parteien angehangen haben, die Radikalisierung der Arbeitermassen wirklich hätte abgewendet werden können.“456 Ganz grundsätzlich merkte Wolfgang Mommsen an, die Deutung der Revolution als verpasste Chance beruhe „auf einer Prämisse, nämlich, daß eine demokratische Ordnung nur dann Bestand haben könne, wenn nicht nur das politische System, sondern auch die Gesellschaft selbst den Prinzipien einer egalitären Demokratie entspreche.“ Außerdem lasse sich nicht verkennen, „daß ihr ein utopistisches Moment durchaus nicht fehlt, wie denn die Vertreter der These, daß man die deutsche Revolution 1918/20 bis zu einer materiellen Demokratisierung der deutschen Gesellschaft hätte vorantreiben müssen, über die konkrete Politik, die die Realisierung dieser Zielsetzungen hätte bringen sollen, ziemlich vage Aussagen machen; zumeist ist von Sozialisierung der Grundstoff- und Schlüsselindustrien, der Enteignung des Großgrundbesitzes, der Zerschlagung des alten Beamtenapparates und insbesondere des Offizierskorps die Rede, ohne jedoch die konkreten Wege anzugeben, auf denen dies

454 Ebenda, 373. 455 Ebenda, 384. 456 Ebenda, 385.

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hätte erreicht werden können, oder zu sagen, bis zu welchem Punkt dieser Prozeß vorangetrieben werden solle bzw. wann diesem Postulat genüge geleistet gewesen wäre.“457 Als Charakteristikum der Revolution 1918/20 sah Mommsen „die Überlagerung einer politischen Revolution, die eigentlich nur als Rebellion gegen die militärischen Autoritäten und das sie legitimierende monarchische Establishment mit durchaus begrenzter Zielsetzung begonnen hatte, von einer sozialen Protestbewegung von großer Intensität und erheblichem Ausmaß.“458 Da er stärker diese soziale Protestbewegung ins Blickfeld rückte als die Arbeiter- und Soldatenräte, kam er zu dem Urteil, „nicht so sehr die mangelnde Ausnutzung des ‚demokratischen Potentials‘ der Arbeiter- und Soldatenräte“ sei das historische Versäumnis der mehrheitssozialdemokratischen Führung gewesen, „sondern vor allem, daß sie, konfrontiert mit Protesten aus dem eigenen Lager, die die USPD und die KPD zu ihrem Vorteil auszunutzen verstanden, allzu rasch zum Bündnis mit den traditionellen Gewalten griff, um sich politisch zu behaupten, statt die sozialen Protestbewegungen der Arbeiterschaft in eine konstruktive Bahn zu lenken.“ Die SPD habe, durchaus im Bunde mit dem Gros der Arbeiter- und Soldatenräte, die Gründung der parlamentarischen Demokratie von Weimar zu einem frühen Zeitpunkt durchgesetzt. Doch „befangen in einem allzu formalen Demokratieverständnis“ habe die SPD-Spitze das Ausmaß der Unzufriedenheit der Massen mit der tatsächlichen Entwicklung völlig verkannt und sei bestürzt bewesen, „als die militärischen Befriedungsaktionen gegen spartakistische Minoritätsregime Massenstreiks und Aufstandsversuche erheblicher Teile der Arbeiterschaft auslösten, deren Ursachen sie nicht erkannten und deren Motive sie nicht verstanden. Nachdem die Dinge einmal so weit gediehen waren, war der Rückgriff auf traditionelle militärische Machtmittel zur Unterdrückung der Streikbewegungen allerdings in der Tat nahezu unvermeidlich geworden. […] Vor allem dadurch sind die gesellschaftlichen Fundamente der neuen Staatsordnung in den kommenden Kämpfen in entscheidender Weise beeinträchtigt worden.“459 Wenige Ereignisse der neueren deutschen Geschichte seien „bis heute so umstritten geblieben wie die Revolution von 1918/19“,460 stellte der Freiburger Historiker Heinrich August Winkler gleich zu Beginn eines Vortrags fest, den er am 3. November 1978 im Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung hielt. Bei aller Erweiterung des empirischen Fundaments für Urteile über die Revolution, so Winkler, sei die neuere Forschung einigen Fragen nicht systematisch genug nachgegangen. So sei zu fragen, ob es besondere historische Bedingungen gab, die den Erfolg einer Revolution in Deutschland 1918/19 von vornherein erschwerten. Winkler verwies in diesem

457 Ebenda, 367f. 458 Ebenda, 389f. 459 Ebenda, 390f. 460 Heinrich August Winkler: Die Sozialdemokratie und die Revolution von 1918/19. Ein Rückblick nach 60 Jahren, Berlin/Bonn 1979, hier 5.

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Zusammenhang auf Richard Löwenthals Überlegungen. Skeptisch beurteilte Winkler auch die Vorstellung, anstelle einer Zusammenarbeit mit Funktionsträgern des alten Regimes hätte der Rat der Volksbeauftragten allein auf die Kooperation mit den Arbeiter- und Soldatenräten setzen sollen. Nach seiner Überzeugung war eine Zusammenarbeit mit den bisherigen Eliten unumgänglich, wenn nicht der Zusammenbruch von Wirtschaft und Verwaltung in Kauf genommen werden sollte, aber sie hätte völlig anders gestaltet werden können. Eine „Politik der präventiven Demokratisierung“ hätte ein ausreichendes soziales Potential gehabt.461 Eine „Entmachtung der autoritären Speerspitze des Unternehmerlagers“ hätte in Winklers Augen den Arbeitern mindestens ein klares Signal gegeben, „dass der neue Staat wirklich auch ihr [kursiv hervorgehoben] Staat war.“462 Auch Winklers Urteil über die Rätebewegung war von deutlicher Zurückhaltung geprägt. Sie hätte wohl „ein Instrument der sozialdemokratisch geführten Regierung“ sein können, „aber kein Gegengewicht zu ihr“.463 Ein „dritter Weg“ zwischen der parlamentarischen Demokratie und einem Rätesystem oder einem Regime sowjetischer Prägung sei nicht gangbar gewesen. Aber alle Erfahrung der europäischen Revolutionsgeschichte zeige auch, dass eine parlamentarische Demokratie gesellschaftliche Bedingungen voraussetze, „die niemals nur mit parlamentarischen Mitteln hergestellt worden sind.“464 Trotz aller Versäumnisse, trotz verpasster Chance plädierte Winkler dafür, die Revolution auch als historischen Meilenstein auf dem Weg zur Demokratie zu sehen (vgl. Kap. 7). Diese fruchtbare Forschungsdiskussion wurde gebündelt und sichtbar, als der Deutsche Gewerkschaftsbund aus Anlass seines dreißigjährigen Bestehens am 12. und 13. Oktober 1979 zu einer wissenschaftlichen Konferenz unter dem Titel „Aus der Geschichte lernen, die Zukunft gestalten“ nach München einlud.465 Es war die erste Konferenz dieser Art seit Bestehen der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland, und sie war auch motiviert durch vorangegangene „heftige Auseinandersetzungen über die Geschichte der Gewerkschaften“.466 Politiker aus allen Lagern und auch der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie waren nach München gekommen. In der Diskussion über Gewerkschaftsgeschichte wurde der Revolution von 1918/19 herausragende Bedeutung beigemessen. Dem Thema „Räte, Republik, Gewerkschaften“ war eine der beiden Arbeitsgruppen gewidmet – die zweite beschäftigte sich mit

461 Ebenda, 29. 462 Ebenda, 43f. 463 Ebenda, 59. 464 Ebenda, 64. 465 Heinz O. Vetter (Hg.): Aus der Geschichte lernen, die Zukunft gestalten. 30 Jahre DGB. Protokoll der wissenschaftlichen Konferenz zur Geschichte der Gewerkschaften vom 12. und 13. Oktober 1979 in München, Köln 1980. 466 Karl Schwab: Eröffnung und Begrüßung, in: Heinz O. Vetter (Hg.): Aus der Geschichte lernen, die Zukunft gestalten. 30 Jahre DGB. Protokoll der wissenschaftlichen Konferenz zur Geschichte der Gewerkschaften vom 12. und 13. Oktober 1979 in München, Köln 1980, S. 9–11, hier 9.

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der Krise der Weimarer Republik 1930–1933 – und auch in der einleitenden Podiumsdiskussion über „Geschichte und Gewerkschaften“ kam die Sprache immer wieder auf die Politik der Gewerkschaften in der Revolutionszeit. Insbesondere Hans Mommsen, Werner Conze, Peter v. Oertzen und Heinrich Potthoff sprachen das Thema an.467 Kernthema der Debatte, das machte Susanne Millers Hauptreferat von Anfang an deutlich, war „die Frage, ob es in der Geburtsstunde und im Anfangsstadium der Weimarer Republik realistische Alternativen gab, durch die der Weg in die Katastrophe von 1933 hätte vermeiden werden können“.468 Miller betonte in diesem Zusammenhang vor allem Sozialisierungsmaßnahmen, deren Ausbleiben bei breiten Schichten der Arbeiterbewegung „tiefe Enttäuschung über die Ergebnisse der Revolution“ ausgelöst habe.469 Die Parole „Alle Macht den Räten“ sei „ohne jeden Realitätsbezug“ gewesen,470 aber die Sozialisierungsbewegung im Ruhrgebiet im Winter 1919 hätte in Millers Augen „einen Ansatzpunkt geboten, realisierbare Forderungen der Arbeiter zu erfüllen.“471 Peter v. Oertzen als Koreferent betonte, die Erfahrungen mit der Weimarer Republik sowie der Vergleich mit anderen Revolutionen zeigten, „daß auch eine scheinbar so universal gültige Regierungsform und politische Verfassung wie die parlamentarische Demokratie einer ganz bestimmten sozialen Grundlage bedarf und nicht auf jeder denkbaren Gesellschaftsordnung aufruhen kann.“472 Nach seinem Urteil war der Verzicht auf grundlegende Veränderungen „im nachhinein betrachtet ein schwerer strategisch-politischer Fehler“.473 Die Sozialisierungsbewegung im Winter 1919 im Ruhrgebiet, die gemäßigte, realisierbare Forderungen formuliert habe, sei „am Misstrauen von Mehrheitssozialdemokraten und Gewerkschaften“ gescheitert. Die Verwirklichung ihrer Ziele hätte „nicht eine sozialistische Räterepublik bedeutet, sondern die Fortdauer der kapitalistischen Wirtschaft, die Aufrechterhaltung der parlamentarischen Demokratie, aber bei Schwächung der wirtschaftlich sozialen Macht der Schwerindustrie und bei institutionalisierter Stärkung der Macht der Arbeiterbewegung, vor allem durch ihre verstärkte Stellung in den Betriebsräten und eventuell in überbetrieblichen Organen der Mitbestimmung.“474

467 Geschichte und Gewerkschaften. Bestandsaufnahme – Perspektiven, in: Heinz O. Vetter (Hg.): Aus der Geschichte lernen, die Zukunft gestalten. 30 Jahre DGB. Protokoll der wissenschaftlichen Konferenz zur Geschichte der Gewerkschaften vom 12. und 13. Oktober 1979 in München, Köln 1980, S. 24–78, hier 64ff. 468 Arbeitsgruppe 1: Räte, Republik, Gewerkschaften, in: Heinz O. Vetter (Hg.): Aus der Geschichte lernen, die Zukunft gestalten. 30 Jahre DGB. Protokoll der wissenschaftlichen Konferenz zur Geschichte der Gewerkschaften vom 12. und 13. Oktober 1979 in München, Köln 1980, S. 79–138, hier 81. 469 Ebenda, 84. 470 Ebenda, 83. 471 Ebenda, 84. 472 Ebenda, 87. 473 Ebenda, 88. 474 Ebenda, 91.

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Gemeinsamer Nenner war in der Diskussion, dass SPD und Gewerkschaften an den Maßstäben ihrer eigenen Zielsetzungen gemessen werden sollten. Kolb formulierte, man könne den Gewerkschaften nicht vorwerfen, „daß sie nicht den revolutionären Weg beschritten haben, den sie nicht beschreiten wollten“, vielmehr seien sie dafür zu kritisieren, „daß sie die reformistische Politik zugunsten der Arbeitnehmer, die sie machen wollten, nicht konsequent und kraftvoll genug gemacht haben.“475 Winkler unterstrich die große Bedeutung der ausgebliebenen Sozialisierungsmaßnahmen für die grassierende Enttäuschung der Arbeiterschaft. Deswegen sei es „im Zusammenhang der längerfristigen Wirkungen der Revolution von 1918/19 so zu bedauern, daß diese Sozialisierung nicht stattgefunden hat.“476 Er wandte sich zugleich gegen die „vor allem im vorwissenschaftlichen Bereich“ seit Langem kolportierte Behauptung, „die Unterlassungen und Versäumnisse der ersten Phase der Revolution hätten den Zusammenbruch der Weimarer Republik notwendig zur Folge gehabt.“477 Gerhard A. Ritter stellte fest, der Manövrierraum sei „sicher größer“ gewesen, als ihn die Führer der Partei und der Gewerkschaften zu haben glaubten. „Er war aber keineswegs unbegrenzt.“478 Peter Lösche formulierte sicher nicht nur einen subjektiven Eindruck, wenn er festhielt, man sei in der Diskussion doch ein gutes Stück vorangekommen. Ausgangspunkt sei die Alternative Bolschewismus oder Weimarer Republik gewesen. In der Mitte der Sechzigerjahre habe man im Zusammenhang mit der Studentenbewegung Chancen und Ansätze „hin zu einer sozialistischen Revolution“ gesucht. „Und wenn ich jetzt die Bilanz ziehe aus der Diskussion […] sind wir eigentlich an dem Punkt angekommen, an dem die Diskussion über Novemberrevolution eine Diskussion über Reformismus geworden ist und die Fragen der Intensität von Reformismus und der Möglichkeiten reformistischer Politik im Mittelpunkt stehen.“479 Es habe „durchaus reale Chancen“, es habe „Alternativen“ in der Novemberrevolution gegeben, „allerdings im Rahmen des Reformismus.“480 In den Bereich der konstruktiven Weiterentwicklung gehören auch die Einwände Detlev Peukerts, zu diesem Zeitpunkt Direktor der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg und Professor für Neuere Geschichte an der Universität-Gesamthochschule Essen. Er stellte in seiner stark soziokulturell und sozioökonomisch orientierten Darstellung der Weimarer Republik die Revolution von 1918/19 in größere Zusammenhänge des Modernisierungsprozesses in Deutschland und sah sie als „Manifestation der Demokratiegründung“, die zu Recht so viel kontroverse Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung auf sich gezogen

475 476 477 478 479 480

Ebenda, 97. Ebenda, 107f. Ebenda, 108. Ebenda, 113. Ebenda, 123. Ebenda, 124f.

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habe.481 Nach Peukerts Überzeugung waren die Kontroversen über die Revolution 1918/19 nicht nur durch unterschiedliche politische Standpunkte der beteiligten Historiker zu erklären. „Der bis heute erbittert geführte Streit der Historiker um das Wesen der Revolution von 1918/19 spiegelt zwar auch den Weltanschauungsstreit der Geschichtswissenschaft, aber zugleich die Uneinheitlichkeit des revolutionären Prozesses selber.“482 Um diesen Prozess adäquater zu erfassen so Peukert, könnte es sich bewähren, „wenn man in der Geschichte der ‚Deutschen Revolution‘ drei relativ autonome Revolutionsbewegungen idealtypisch unterscheidet: die konstitutionelle Revolution [fett hervorgehoben] der demokratischen Politiker und ihrer Parteien, die sich durch korporativistische Zusammenarbeit der Verbandsführungen von Arbeit und Kapital mit dem Staat ergänzte; die Friedens- und soziale Protestbewegung [fett hervorgehoben], die aus spontanen Aktivitäten (nicht nur) der Arbeiter erwuchs und die in der Rätebewegung ihren institutionellen Rahmen fand; sowie die sozialistische Initiative [fett hervorgehoben] einer heterogenen Gruppe von Politikern der Linken, die erst im Revolutionsverlauf an Bedeutung gewann.“483 Diese Bewegungen durchliefen nach Peukerts Analyse „parallel, sich überlagernd, sich blockierend und sich neu gewichtend drei Entwicklungsetappen: die Zeit der Hoffnungen [fett hervorgehoben] bis zum Sieg der Revolution in Berlin am 9. November 1918; die Zeit der Entscheidungen [fett hervorgehoben] bis zur Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919; und die Zeit der Enttäuschungen [fett hervorgehoben], die man im Frühjahr 1919 enden lassen kann, wenn man die Ereignisse bis zum KappPutsch und zur Märzrevolution 1920 nicht noch einbeziehen will.“484 Was den Beginn angeht, schlug Peukert vor, „die Vorgeschichte der ‚Deutschen Revolution‘ im ‚Deutschen Aufbruch‘ von 1914 aufzusuchen. Nur aus dem Mythos des August 1914 wird das Drama des November 1918 verständlich.“485 Die „euphorische Beschwörung der nationalen Volksgemeinschaft“ habe die Stimmung auch in der Arbeiterschaft beherrscht. „Hier entstand jenes Massenpotential, dessen Erwartungen und Enttäuschungen später die revolutionäre Situation entscheidend mitdefinierten.“486 Ludendorffs Waffenstillstands-Initiative Ende September 1918 habe die Vertreter der konstitutionellen Revolution entscheidend ins Spiel gebracht. „Wären diese Oktoberreformen je in Kraft getreten, hätten sie tatsächlich die Parlamentarisierung der Reichsverfassung bewirkt.“487 Die Staatsstreichspekulationen im kaiserlichen Haupt-

481 Detlev Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987, hier 33. 482 Ebenda, 33. 483 Ebenda, 33f. 484 Ebenda, 34. 485 Ebenda, 34. 486 Ebenda, 35. 487 Ebenda, 37.

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quartier und der Befehl der Flottenführung zum Angriff hätten jedoch zur Meuterei geführt und die Friedensbewegung der Massen zum politisch ausschlaggebenden Faktor gemacht. „Die Schnelligkeit, mit der sich die Rätebewegung ausbreitete, und die Einheitlichkeit ihres spontanen Auftretens bewiesen, daß die kaiserlichen Militärund Zivilbehörden alle Autorität verloren hatten. Gegenüber den Trägern der bisherigen konstitutionellen Reform verhielten sich die Anhänger der Friedens- und Protestbewegung jedoch anders; denn die Räte akzeptierten anstandslos die Führung und Repräsentation durch bewährte Vertreter der beiden Arbeiterparteien“.488 Das faktische Handeln der Rätebewegung habe an die Traditionen der konstitutionellen Bewegung angeknüpft, die gleichzeitigen sozialistischen Parolen der Räte blieben nach Peukerts Urteil „Etikette ohne konkreten Inhalt. Sie signalisierten aber eine diffuse Erwartungshaltung der Friedens- und Protestbewegung, daß am Ende von Krieg und Revolution eine neue gerechte Ordnung erstehen müsse, die die Größe der Opfer legitimieren und die seit dem August 1914 betrogenen millenarischen Erwartungen erfüllen werde.“489 Diese widersprüchliche Einstellung der Räte erkläre, warum die radikale Linke gänzlich einflusslos geblieben sei. Zugleich sei eine Radikalisierung vorauszusehen gewesen. „Der Gegensatz zwischen sozialistischer Erwartung und zurückhaltend konstitutioneller Praxis hätte möglicherweise überbrückt werden können, wenn sich die sozialdemokratischen Politiker auf die radikaldemokratischen Programmelemente der Rätebewegung eingelassen und diese in den konstitutionellen Rahmen der Revolution integriert hätten. Die Probe aufs Exempel wurde jedoch nie gemacht.“490 Stattdessen sei nach dem 9. November „die Belastbarkeit des Bündnisses von konstitutioneller Bewegung und Rätebewegung solange erprobt [worden], bis dieses zerbrach und die erstere erfolgreich und die zweite zunehmend radikalisiert in jene erbitterte Konfrontation eintraten, die zum Merkmal der revolutionären Endphase wurde.“491 Zu den „einprägsamsten und eigentümlichsten Zügen“ der deutschen Revolution von 1918/19 gehöre das „starre Beharren der ihrem Mandat nach revolutionären neuen Reichsführung auf Verwaltungskontinuität“.492 Wer die politische Logik dieser Führung verstehen wolle, der müsse „bei ihrer Fixierung auf den Primat der Ordnung ansetzen.“493 Als Hintergründe nannte Peukert das „niederschmetternde Schicksal Russlands“, die Fülle der anstehenden Probleme, aus der sich auch die Kooperation mit Groener erkläre, und „die etatistische Tradition der deutschen Sozialdemokratie“.494

488 489 490 491 492 493 494

Ebenda, 38. Ebenda, 38. Ebenda, 38f. Ebenda, 39. Ebenda, 39. Ebenda, 40. Ebenda, 40.

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Nach Peukerts Überzeugung gab es drei immanente Probleme, die blieben, auch wenn man diesem Ordnungsstandpunkt Verständnis entgegenbringe. Erstens sei das Vertrauen in die unpolitische Loyalität der Beamten und Militärs schon bald enttäuscht worden. Zweitens habe auch die neue Rätebewegung einen institutionellen Faktor sui generis gebildet. „Die Sozialdemokratie machte jedoch keinen Versuch, gestützt auf die Loyalität der Räte, die Demokratisierung der Verwaltung einzuleiten und eine politisch konformere bewaffnete Macht aufzubauen, als das die alten kaiserlichen Offiziere sein konnten und wollten. Es ist unsicher, wie ein solches Experiment ausgegangen wäre. Fatal blieb aber, daß diese Alternative nie erprobt worden ist.“495 Drittens habe die sozialdemokratische Führung die „folgenschwere Entscheidung“ getroffen, sofortige Reformen nur „im Rahmen des konstitutionellen Demokratiekonzepts“ zuzulassen, während alle weitergehenden Maßnahmen etwa zur Sozialisierung der Schwerindustrie oder zur Aufteilung der ostelbischen Güter an das zukünftige deutsche Parlament überwiesen wurden. „Es ist schwer zu entscheiden, ob die Vertagung substanzieller Reformen weise gewesen ist. Jedenfalls beraubte sie die junge Republik einer spezifischen sozialen Identität, die die Träger der Rätebewegung vielleicht verteidigenswerter gefunden hätten.“496 Mit der Wahl der Nationalversammlung sei die Dynamik der sozialen Protestbewegung keineswegs gebrochen gewesen. „Vielmehr erreichten die Kampfbewegungen der Arbeitermassen in den folgenden Monaten ein Ausmaß, das die eigentliche Revolutionsbewegung vom November 1918 übertraf. Zugleich schälte sich ein klareres Aktionsprogramm heraus, das auf die Beteiligung der Räte an den Entscheidungen aller Ebenen und auf solche Strukturreformen wie die Sozialisierung des Bergbaus zielte.“497 Dennoch lasse sich diese Etappe als „Zeit der Enttäuschungen“ charakterisieren, weil es im Ergebnis der Kämpfe „zu einer gleichzeitigen Politisierung und Entmachtung der Rätebewegung [kam], deren Anhänger sich dann in Verbitterung und Resignation zurückzogen.“498 Am Ende der Epoche hatte sich nach Peukerts Urteil die konstitutionelle Bewegung in allen entscheidenden Punkten durchgesetzt. „Allerdings erkaufte sie diesen Sieg durch eine weitgehende Anlehnung an die alten Eliten in Militär und Verwaltung“.499 Die soziale Protest- und Friedensbewegung habe den Konstitutionellen zwar zur Macht verholfen, habe aber weder in den beiden entscheidenden Monaten einen eigenständigen Kurs entwickeln noch sich dauerhaft „als eine Art alternatives Demokratiepotential“ in der neuen Ordnung verankern können. Im Zeichen der Enttäuschung hätten sich unter Zersetzung der USPD Teile der Protestbewegung der KPD

495 496 497 498 499

Ebenda, 41. Ebenda, 41. Ebenda, 44. Ebenda, 44f. Ebenda, 45.

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angeschlossen und sich „immer bedingungsloser am scheinbar erfolgreicheren bolschewistischen Modell orientiert“.500 Messe man die Neuordnung 1918/19 am Maßstab der sozialen Revolution, dann sei sie gescheitert. Ziehe man die Gesamtsituation in Betracht und vergleiche sie mit den Nachkriegsereignissen in anderen europäischen Ländern, falle die Bilanz positiver aus. Die Weimarer Kompromisslösungen hätten die Widersprüche zwar nur vertagt und den neuen Staat „jenes identitätsstiftenden Glanzes beraubt, der sich in anderen Nationen an solche symbolträchtigen Ereignisse des Neuanfangs knüpft“, aber in Kompromissen könne man sich einrichten.501 „In längerfristiger Perspektive bildete das semitotalitäre Modell von 1917 das entscheidende Gegenstück zu den konstitutionellen Basiskompromissen von 1918. Die nationalsozialistische Machtergreifung von 1933 knüpfte dann an diese Traditionslinie an und radikalisierte sie. Deshalb sollte die Leistung des Weimarer Konstitutionalismus auch im Kontrast zum totalitären Politikmodell von rechts gewürdigt werden und nicht nur durch die Aufzählung von Defiziten demokratisch-sozialistischer Reformtätigkeit. Trotz aller Unvollkommenheit bot die Weimarer Reichsverfassung doch einen offenen und unter günstigeren äußeren Bedingungen durchaus entwicklungsfähigen Rahmen für das Experiment Demokratie.“502 Beides also steckte in Peukerts Deutung. Bei aller Vorsicht mit antifaktischen Aussagen, sah er die Revolutionszeit als verpasste Chance einer stabileren Fundierung der Weimarer Republik. Er sah sie aber auch als Geburtstunde der Demokratie in Deutschland, als „Manifestation der Demokratiegründung“. Von dieser Art der konstruktiven Kritik und Debatte lässt sich deutlich ein zweiter Strang unterscheiden, der eine Art Fundamentalopposition gegen die „neuere Revolutionsforschung“ betrieb. Den Auftakt dazu bildete ein Artikel in der weit verbreiteten Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, den Eckhard Jesse, damals Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier und Henning Köhler, Professor der Neueren Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin, gemeinsam zum 60. Jahrestag der Revolution veröffentlichten. Dieser Aufsatzes griff nicht die wesentlichen Argumentationslinien der „neueren Forschung“ auf, um Einwände vorzutragen oder sie weiter zu entwickeln, sondern reihte Aspekte und Fragen aneinander, denen vielfach in der Argumentation, wie sie etwa Reinhard Rürup, Eberhard Kolb oder Peter v. Oertzen vorgetragen hatten, keinerlei Bedeutung zukam. An der einen oder anderen Stelle enthielt der Beitrag auch Unterstellungen, für die keine Belege angeführt wurden. Auch „vieldeutige“ Vermutungen und Verdächtigungen machten deutlich, dass es offensichtlich darum ging, die neuere Forschung insgesamt in Misskredit zu bringen – und sich selbst als aufrechte Streiter zu präsentieren, die sich

500 Ebenda, 45. 501 Ebenda, 60. 502 Ebenda, 60.

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wagemutig mit ihrer „Kritik an der ‚herrschenden Lehre‘“ dem Meinungsdruck der Linken entgegenstellten. Erklärtes Ziel der Autoren war es, „die heutzutage fast schon kanonische Geltung besitzende These vom ‚dritten Weg‘ in Frage zu stellen.“503 Es sei keineswegs richtig, hoben Jesse/Köhler hervor „dass die Geschichtsschreibung in der Weimarer Republik das Revolutionsgeschehen generell nur verzerrt dargestellt oder aber überhaupt verdrängt hat“. Hans Delbrück und Friedrich Meinecke hätten „beachtenswerte Versuche“ vorgelegt, das Geschehen „angemessen“ zu würdigen.504 Die neuere Beschäftigung mit der Revolution von 1918/19 habe mittlerweile zwar „eine fast unübersehbare Flut von Veröffentlichungen hervorgebracht, jedoch an vielen Punkten nicht zu einem Konsens geführt, sondern zahlreiche Fragen offengelassen: Ist es angesichts der weitgehenden Kontinuität vom Kaiserreich zur Weimarer Republik überhaupt eine Revolution gewesen? Wenn ja, handelt es sich um eine ‚überflüssige‘, eine ‚verratene‘, eine ‚improvisierte‘, eine ‚bürgerlich-demokratische‘ oder eine ‚gescheiterte‘? Wie läßt sich die Revolution zeitlich eingrenzen?“505 Durchgängig ließen die Autoren anklingen, dass die Positionen der „herrschenden Lehre“ in ihren Augen nicht Resultat sachbezogener historischer Forschung, sondern ideologisch bedingter Entscheidungen waren. So etwa, wenn sie formulierten: „Die Einmütigkeit der Forschung in dieser Frage [These vom ‚dritten Weg‘] kontrastiert übrigens erstaunlich zur Vielzahl der ungeklärten und umstrittenen Probleme der Revolution 1918/19.“506 Abgesehen von „sporadisch geäußerten Vorbehalten“ seien die „Grundpositionen der westdeutschen Forschung zur Revolution 1918/19 bisher „auffallenderweise [!] keiner grundsätzlichen wissenschaftlichen Kritik unterzogen worden.“507 Im Hinblick auf die neue Bewertung der Rätebewegung hielten Jesse/Köhler fest, die „nicht zu bestreitende und heutzutage auch keineswegs ernsthaft in Frage gestellte politische Mäßigung der meisten Räte“, die Kolb in seiner Studie 1962 belegt habe, sei für sich genommen wenig aussagekräftig. „Entscheidend bleibt vielmehr: Eigneten sich Räte – mochten sie noch so demokratisch zusammengesetzt sein – überhaupt für die Gestaltung der politischen Neuordnung, speziell für die Demokratisierung der Verwaltung?“ Außerdem blieben „die nicht unwichtigen Fragen offen, ob das Rätesystem mit der parlamentarischen Demokratie kollidiert und inwieweit ein Ausbau der Räte ein Hinausschieben der Wahlen bedeutet hätte.“508 Der „entscheidende Punkt“ der Kolbschen These vom „demokratischen Potential der Arbeiterräte“ bleibe schwach begrün-

503 Eckhard Jesse/Henning Köhler: Die deutsche Revolution 1918/19 im Wandel der historischen Forschung. Forschungsüberblick und Kritik an der „herrschenden Lehre“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1978), S. 3–23, hier 4. 504 Ebenda, 5. 505 Ebenda, 3. 506 Ebenda, 4. 507 Ebenda, 18. 508 Ebenda, 8.

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det. „Um so überraschender ist es, daß die Kritik der etablierten, keineswegs im Geruch besonderer Fortschrittlichkeit stehenden westdeutschen Geschichtswissenschaft eigenartig verhalten blieb. Zu einer Kontroverse kam es nicht, obwohl Kolbs Ausführungen 1962 – unter den Fachhistorikern – sicherlich mehr Ablehnung als Zustimmung gefunden hatten.“509 Die Debatte auf dem Historikertag 1964 erwähnten die Autoren nicht, sondern behaupteten geheimnisvoll: „Das Schweigen vieler Historiker oder die (weitgehende) Hinnahme der Auffassungen Kolbs kontrastierte auffallend zu dem erbitterten Widerstand, den die Kriegsschuldthesen von Fritz Fischer hervorgerufen haben.“510 Sowohl in der Forschung als auch in der Öffentlichkeit hätten sich die Thesen Kolbs und Oertzens „überraschend schnell“ durchgesetzt.511 Die Autoren referierten ausführlich „Propagierung der Rätedemokratie: Wilfried Gottschalch“ und „Propagierung der ‚Verrats‘-These: Sebastian Haffner“. Haffners Darstellung nannten sie „den Höhepunkt modischer Geschichtsklitterung“.512 Weder Gottschalch noch Haffner waren allerdings der „neueren Revolutionsforschung“ zuzurechnen, beide deuteten die Revolution nicht primär als verpasste Chance einer Demokratisierung. Rürup warfen Jesse/Köhler „Idealisierung der Revolution“ vor,513 Kluge neigte nach ihrem Urteil dazu, „alle linksradikalen Aktivitäten herunterzuspielen, um seine These von den verpaßten Chancen untermauern zu können.“514 Wie schon Erich Matthias konstruiere Kluge „gleichsam eine Art revolutionäre Legitimation für die Kräfte des Umsturzes, die es gerechtfertigt hätte, vor der Wahl zur Nationalversammlung vollendete Tatsachen zu schaffen.“515 Ein wesentliches Merkmal der „herrschenden Lehre“ war in den Augen von Jesse/ Köhler die „Konstruktion einer ‚Rätebewegung‘“. Die Rätebewegung sei „in ihrer Eigenständigkeit und ihrer effektiven Rolle als Vertretung eines neuen demokratischen Potentials keineswegs nachgewiesen. Die These eines „dritten Weges“ könne erst dann überzeugen, wenn deutlich gemacht werde, wie die Räte „die – behaupteten – verpaßten Chancen hätten verwirklichen sollen.“516 Außerdem kritisierten Jesse/Köhler eine „Verharmlosung der linksradikalen Bedrohung“.517 Die Autoren räumten zwar ein, „die bolschewistische Diktatur war nur eine entfernte Möglichkeit“, aber sie waren der Überzeugung, die Alternative zur schnellen Wahl der Konstituante hätte „in der Entwicklung zu chaotischen Verhältnissen“ bestanden.518 „Wer die geübte

509 510 511 512 513 514 515 516 517 518

Ebenda, 9. Ebenda, 9. Ebenda, 10. Ebenda, 13. Ebenda, 14. Ebenda, 15. Ebenda, 16. Ebenda, 18. Ebenda, 18. Ebenda, 19.

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Zurückhaltung vor allem auf den Immobilismus und die Phantasielosigkeit der SPD zurückführt, verkennt den Grad der Schwierigkeit.“519 Vielfach habe gar nicht die Möglichkeit einer Demokratisierung bestanden. Niemand habe beispielsweise bislang „bewiesen, ein halbwegs gleichwertiger Ersatz habe für die überkommene Verwaltung zur Verfügung gestanden.“520 Damit hatten die Autoren zweifellos Recht, aber von einem „Ersatz“ für die überkommene Verwaltung war auch in keinem Werk der neueren Revolutionsforschung die Rede gewesen. Jesse/Köhler verwiesen auf außenpolitische Hindernisse einer Demokratisierung und bestritten schließlich auch die Legitimität „eines maßgeblich auf der Rätedemokratie beruhenden ‚dritten Weges‘“.521 Unter den profilierten Vertretern der neueren Revolutionsforschung war allerdings keiner, der ein politisches Rätesystem gefordert hätte. Schließlich kritisierten die Jesse/Köhler eine „Überbetonung der Weichenstellung von 1918/19“.522 Die Beurteilung des Revolutionsgeschehens 1918/19 habe im Laufe der letzten sechzig Jahre häufig gewechselt, stellten die Autoren abschließend fest. „Dies braucht nicht zu verwundern, hängt doch die Haltung zu den Ereignissen 1918/19 auch von der politischen Einstellung des Historikers ab. Nicht zuletzt bestimmt auch der Zeitgeist die Ergebnisse mit.“523 Und dieser Zeitgeist war nun, 1978, offenkundig ein anderer. Jedenfalls schien Jesse/Köhler die Zeit reif für eine erneute Umorientierung: „Eine Revision der herrschenden Richtung tut […] not. Denn die Gefahr, daß ein beträchtlicher Teil der Forschung – im Bestreben, alte Legenden zu zerstören neue hervorgebracht hat, ist keineswegs von der Hand zu weisen.“524 Die Verfasser seien jedenfalls skeptisch, „daß die Räte eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft hätten vorantreiben können.“525 Ein Jahr nach Jesse/Köhler meldete sich Heinz Hürten mit Fragen an die Forschung vor einer größeren Öffentlichkeit zu Wort – sein Aufsatz ging auf einen Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung an der Uni Freiburg im WS 76/77 zurück, wurde jedoch erst 1979 publiziert.526 Hürten hatte sich – anders als Jesse/Köhler – auch forschend mit der Revolution von 1918/19 beschäftigt. Auch er argumentierte von Beginn an politisch, wenn er hervorhob, man könnte die Deutung der „Novemberrevolution“ durch die neuere Forschung „als ‚sozialdemokratisch‘ klassifizieren, denn die orientierende Verwendung von Grundanschauungen des demokratischen Sozialismus unserer Gegenwart als Maßstab für die Beurteilung des historischen Gesche-

519 Ebenda, 20. 520 Ebenda, 20. 521 Ebenda, 21. 522 Ebenda, 22. 523 Ebenda, 22. 524 Ebenda, 23. 525 Ebenda, 23. 526 Heinz Hürten: Die Novemberrevolution. Fragen an die Forschung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 30 (1979), S. 158–174.

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hens dürfte kaum zu übersehen sein.“527 Diese Feststellung bedeute „keinen Einwand gegen die Geltung dieses neuen Bildes oder gar die wissenschaftliche Integrität der daran beteiligten Forscher“. Es zeige sich vielmehr, wie schon Rürup zutreffend festgestellt habe, daß Revolutionsgeschichte nicht ohne politisches Engagement zu betreiben sei. „Für einen späteren Historiker, der über die deutsche Geschichtswissenschaft unserer Gegenwart arbeiten wird, mag auch der Zeitraum aufschlußreich erscheinen, in dem die erwähnten neuen Anschauungen erarbeitet worden sind und sich durchgesetzt haben. Das Tiefenbeben im Gefüge unserer Nachkriegsdemokratie, für das die Unruhen an den Universitäten der Jahre 1967 ff. nur ein Epiphänomen bilden dürften, hat es vielleicht manchem Autor erleichtert, sich von früher geltenden Kategorien der Beurteilung zu trennen und dafür ein auf Sympathie gestütztes Interesse an den im faktischen Verlauf nicht realisierten echten oder vermeintlichen Chancen zu umfassender Demokratisierung zu gewinnen, die heute vielfach als das eigentliche Ziel der Novemberrevolution betrachtet wird.“528 Der politische Charakter der Geschichtswissenschaft sei in dieser Materie offenkundig und „die politische Verantwortung unseres Geschäftes unleugbar. Aber gerade das verbietet uns, politische Überzeugungen und Desiderate bei der Interpretation der Vergangenheit die Stelle einnehmen zu lassen, die allein der nüchternen, methodisch gesicherten Analyse gebührt.“529 Dies galt es offenbar insbesondere den Vertretern der „sozialdemokratischen“ Deutung ins Stammbuch zu schreiben. Er selbst wolle den Versuch unternehmen, „einige Fragen zu formulieren, die beantwortet sein sollten, bevor die eingangs als opinio communis der neueren Forschung bezeichnete Auffassung – zu einem neuen Geschichtsbild geronnen – in Lehrbüchern und öffentlichem Bewußtsein einen festen Platz gewinnt.“530 Hürten machte aus seiner geschichtspolitischen Absicht kein Geheimnis. Zunächst warf er die grundsätzliche Frage auf, mit welchem Recht die Vorgänge vom Herbst und Winter 1918/19 als „Revolution“ bezeichnet würden. Durchaus zu Recht hätte ja bereits nach einigen Jahren die „Deutung der Ereignisse als ‚Zusammenbruch‘ des früher Bestehenden, das dann eben in irgendeiner Form restauriert werden musste“ die unmittelbare Deutung der Zeitgenossen als deutsche „Revolution“ weitgehend verdrängt.531 Ein entscheidendes Problem der Novemberrevolution sah er auch „in ihrer vergleichsweise geringen Schubkraft“, die ihn zu dem Urteil veranlasste: „es sieht so aus, als ob bei den Revolutionären selbst wenig Klarheit bestanden habe, gegen wen sich die Revolution weiter richten solle, nachdem der Kaiser ruhmlos gegangen war. […] Das räsonierende Publikum hat den bestehenden Zustand oder genauer: die vorangegangene Friedenszeit – ohne Hunger und Belage527 528 529 530 531

Ebenda, 159. Ebenda, 159. Ebenda, 159. Ebenda, 160. Ebenda, 160.

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rungszustand – nicht als so schlecht empfunden, daß es sich über seine Veränderung allzu viele Gedanken gemacht hätte.“532 Mit Verweis auf Richard Löwenthal warf Hürten die Frage auf, ob in entwickelten Industriegesellschaften Revolutionen nach Art der großen europäischen überhaupt noch möglich seien.533 Hürtens zweite Frage an die Forschung galt der Rätebewegung und dem Kräftepotential der Revolution. Auf der Basis der späteren Wahlergebnisse vom 19. Januar 1919 stellte er fest, „daß eine auf die Räte gestützte Politik sich nicht auf die Mehrheit des Volkes hätte berufen können“.534 Eine Umwandlung Deutschlands im Sinne der von der USPD und manchen Räten verfochtenen Zielsetzungen hätte daher nach Hürtens Urteil die im Bündnis von Bürgern und Sozialdemokraten vielleicht mögliche Konsolidierung der neuen Republik kaum gewährleistet. „Denn eine soziale Revolution hätte sich spätestens bei den Wahlen zur Nationalversammlung als Werk einer Minderheit erwiesen, das nach aller Wahrscheinlichkeit zum Angriffsobjekt einer wohl unversöhnlichen Opposition geworden wäre. Gab es aber für eine deutsche Demokratie keine tragfähige Mehrheit auf der Linken, so mußte sie notwendig im Ausgleich mit den rechts von der Mehrheitssozialdemokratie stehenden Kräften gesucht werden.“535 Damit war Hürten im Kern wieder bei der klaren Alternativ-Formel Erdmanns aus den Fünfzigerjahren angelangt. Eine von der Sichtweise der neueren Revolutionsforschung abweichende Perspektive hatte Hürten bereits in dem von ihm bearbeiteten Quellenband über Militär und Innenpolitik 1918–20 angedeutet, sie aber nicht näher ausgeführt (vgl. Kap. 7). Dagegen ging Gerhard W. Rakenius 1977 in seiner Studie „Wilhelm Groener als Erster Generalquartiermeister. Die Politik der Obersten Heeresleitung 1918/19“ deutlich auf Distanz zur Revolutionsforschung der vorangegangenen Jahre. Gegen das Urteil, die Volksbeauftragten hätten eine tief greifende Demokratisierung versäumt, fragte er nach den Möglichkeiten, „die Träger der ehemals kaiserlichen Macht in den Weimarer Staat stärker zu integrieren, als es schließlich gelungen ist“, und mit ihnen eine „stabile Demokratie“ aufzubauen (vgl. Kap. 7).536 Während Rakenius sich weitgehend den damaligen Standpunkt der Obersten Heeresleitung und ihres Ersten Generalquartiermeisters zu eigen machte, ging es Hannsjoachim W. Koch in seiner Monographie „Der deutsche Bürgerkrieg“ um eine Ehrenrettung der Freikorps, die man nicht schlicht als „Vortrupp des Nationalsozialismus“ charakterisieren dürfe.537 Koch warf der zeitgenössischen deutschen Historiographie ganz allgemein vor, sie ziehe zuerst ihren theoretischen Rahmen und zwänge

532 Ebenda, 162f. 533 Ebenda, 164. 534 Ebenda, 165. 535 Ebenda, 167f. 536 Gerhard W. Rakenius: Wilhelm Groener als Erster Generalquartiermeister. Die Politik der Obersten Heeresleitung 1918/19, Boppard a. Rh. 1977, hier 13. 537 Hannsjoachim W. Koch: Der deutsche Bürgerkrieg, Berlin 1978, hier 378.

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dann die Resultate der diesem Rahmen entsprechenden Faktensuche in ihn hinein – „viele der in den letzten eineinhalb Jahrzehnten vorgelegten Studien besonders zur Geschichte der Frühphase der Weimarer Republik liefern dafür einen erdrückenden Beweis.“538 Koch vertrat die Meinung, eine „Rätebewegung“ habe es gar nicht gegeben, die Räte seien an ihrer „prinzipiellen Unfähigkeit“ gescheitert, als Partner der Regierung der Volksbeauftragten bei der Erhaltung der „frischen demokratischen Errungenschaften“ seien sie nicht in Frage gekommen.539 Dazu habe es starker Verbündeter bedurft: der OHL und ihrer Streitmacht, der Freikorps. Nach Kochs Überzeugung ging es 1918/19 um eine klare Entscheidung zwischen parlamentarischer Demokratie mit konservativer Unterstützung auf der einen und einem „System organisiert als Imitation der russischen Sowjets“ auf der anderen Seite.540 „Die in den sechziger Jahren wiederauferstandene These, dass die einzig wirkliche Alternative zur bürgerlichen Demokratie nicht der ‚Bolschewismus‘ war, sondern eine auf die Räte gestützte soziale Demokratie, muß bleiben, was sie ist, eine Schreibtischformulierung. Rätesystem und parlamentarische Demokratie schließen einander aus“.541 Dass er das nach wie vor genau so sah, machte Karl Dietrich Erdmann schon durch den Titel seiner 1979 erschienenen Schrift „Rätestaat oder parlamentarische Demokratie“ deutlich. In seinen Augen waren die mit der Revolution von 1918/19 zusammenhängenden Fragen „von höchster Bedeutung nicht nur, um die geschichtliche Vergangenheit zu verstehen, sondern auch, um im gegenwärtigen Deutschland den richtigen Weg zu finden.542 Nach Erdmanns Überzeugung gab es in den Revolutionsmonaten weder eine demokratische Alternative zu einer Koalition zwischen MSPD und nichtsozialistischen Kräften noch eine realistische militärische Alternative zur Zusammenarbeit mit der Obersten Heeresleitung und den Freikorps. Besonders betroffen äußerte sich Erdmann angesichts der Tatsache, dass selbst die Figur Eberts nicht nur in der kommunistischen Literatur „ins Zwielicht der Kritik“ gerückt worden sei, „sondern auch in manchen historischen Darstellungen, die in der Bundesrepublik erschienen sind“ – dabei könne man sich, wenn man die Protokolle des Rats der Volksbeauftragten lese, dem Eindruck nicht entziehen, „dass die Lage wirklich verzweifelt war“.543 Nach wie vor müsse man als schlichte Tatsache festhalten, dass die Weimarer Republik „in der Zeit ihrer Entstehung zunächst von der Linken her bedroht wurde“.544 Seine Formulierung aus den Fünfzigerjahren präzisierte und verschärfte Erdmann eher noch, wenn er nun erklärte, das „Unterbleiben der sozialen Revolution

538 Ebenda, 9. 539 Ebenda, 12. 540 Ebenda, 78. 541 Ebenda, 78. 542 Karl Dietrich Erdmann: Rätestaat oder parlamentarische Demokratie. Neuere Forschungen zur Novemberrevolution 1918 in Deutschland, Kopenhagen 1979, hier 3. 543 Ebenda, 17. 544 Ebenda, 18.

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war die Vorbedingung dafür, dass die Weimarer Republik als […] eine demokratische, auf die Mehrheit des Volkes gestützte Staatsordnung, überhaupt ins Leben treten konnte.“545 Das erste Experiment der Demokratie in Deutschland war nach seiner Überzeugung „ganz gewiß nicht deswegen zum Untergang verurteilt, weil die politische Novemberrevolution nicht durch eine soziale Revolution begleitet wurde oder weil der Sozialdemokrat Ebert nicht die Chancen eines angeblichen dritten Weges zwischen Demokratie und Rätesystem gesehen und gesucht hätte.“546 (vgl. Kap. 7) Bereits ein halbes Jahr vor dem Deutschen Gewerkschaftsbund hatte im Juni 1979 die Fritz Thyssen Stiftung zu ihrem Kölner Kolloquium über das Ende der Weimarer Republik geladen. Karl Dietrich Erdmann und Hagen Schulze gaben den dazugehörigen Band mit dem Titel „Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute“ heraus, der 1980 erschien.547 Hagen Schulze referierte über „Das Scheitern der Weimarer Republik als Problem der Forschung“ – wörtlich identische Passagen dieses Vortrags gingen in sein Werk „Weimar“ (1982) ein. Schulze hielt fest, auf Reichsebene sei „es nie zu einer gezielten Demokratisierung des Beamtenapparats gekommen, und die Reichswehr bildete ohnehin eine exklusive Gesellschaft und war für ihren Mannschafts- und Offiziersersatz eigenverantwortlich. War das aber ein Zustand, der den Bestand der Weimarer Demokratie in erheblichem Maße erschütterte? Diese Auffassung war bis vor etwa zehn Jahren fast Allgemeingut, wird aber mit guten Gründen neuerdings bestritten oder wenigstens relativiert. Bei genauem Hinsehen erweist sich nämlich, daß die Bürokratie, ungeachtete der politischen Präferenzen der Beamten, regelmäßig zur Verfügung dessen stand, der die staatliche Macht innehatte und seinen Machtanspruch auch unmißverständlich vertrat.“548 Wenn also die Bürokratie nicht im Sinne der politischen Macht agierte, so darf man wohl schlussfolgern, war dies in Schulzes Augen nicht ein Mangel an „Demokratisierung“, sondern schlicht eine Führungsschwäche der Politik. Andreas Hillgruber vertrat beim Thyssen-Kolloquium nahezu wörtlich die Positionen Erdmanns aus den Fünfzigerjahren. Dass in Deutschland keine soziale Revolution stattgefunden habe, sei, „was gegenüber vagen Vorstellungen von einem ‚dritten Weg‘ zwischen Parlamentarismus und bolschewistischem Rätesystem nachdrücklich zu betonen ist, die Grundvoraussetzung dafür [gewesen], daß die Weimarer Republik als parlamentarische Demokratie westlicher Prägung überhaupt entstand“. Hillgruber war auch der Meinung, die im Zusammenhang mit den Räten „viel erörterte Vorstellung, der Rat der Volksbeauftragten hätte, statt mit der Obersten Heeresleitung Hindenburg – Groener zu kooperieren, die Reste der

545 Ebenda, 19. 546 Ebenda, 25. 547 Karl Dietrich Erdmann/Hagen Schulze (Hg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, Düsseldorf 1980. 548 Hagen Schulze: Das Scheitern der Weimarer Republik als Problem der Forschung, in: Karl Dietrich Erdmann/Hagen Schulze (Hg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, Düsseldorf 1980, S. 23–41, hier 32.

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alten Armee und ihre Führung gleichsam beiseite schieben und eine neue republikanische Armee bilden sollen, [gehe] an der Realität der äußerst schwierigen inneren und vor allem, was vielfach völlig aus dem Blickfeld gerät, außenpolitischen Situation des Reiches in den Monaten zwischen Waffenstillstand und Friedensvertrag vorbei.“549 Die gesamte Revolutionszeit spielte im Rahmen des Kolloquiums nur eine marginale Rolle. Nachdem jahrelang die Anfangsphase der Republik als Quelle ihrer strukturellen Belastungen betont worden war, zeigte sich bereits darin eine klare Akzentverschiebung, die offenbar von den Veranstaltern auch bewusst noch unterstrichen wurde. Namen wie Eberhard Kolb, Reinhard Rürup, Helga Grebing, Susanne Miller und Heinrich August Winkler fehlten auf der Teilnehmerliste.550 In Handbücher, Lexika und Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte der Zeit dominierten auch in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre Deutungen der Revolution von 1918/19 als Abwehrkampf gegen eine drohende proletarische Diktatur. Das galt insbesondere auch für die 18. Auflage des Großen Brockhaus. Ernst Rudolf Huber umschrieb 1978 in seiner „Deutschen Verfassungsgeschichte“ die Alternative, vor die er Deutschland gestellt sah, mit der Formulierung: „verfassungsstaatliche Gleichheit und Freiheit oder klassenstaatliche Rätediktatur.“551 Gerhard Schulz deutete in seinem Band der dtv-Weltgeschichte die Revolution daneben auch als im Grunde unnötige Störung des Reformprozesses, der schon im Kaiserreich begonnen hatte. Ausdrücklich distanzierte sich Schulz von neueren Auffassungen, denen keine angemessene Beurteilung der Räte zugrunde liege, und brachte deren angebliche Suche nach einem „dritten Weg“ in Zusammenhang mit alten deutschen Sonderwegsvorstellungen.552 Gerhard Binder ließ erhebliche Zweifel daran erkennen, ob es sich beim Geschehen ab dem November 1918 wirklich um eine Revolution gehandelt habe. Auch er blieb 1977 ganz bei der Erdmannschen Alternative von 1955, wenn er sie auch etwas wolkiger als „vom Osten her drohend“ umschrieb.553 Die Vertreter der „neueren Revolutionsforschung“ zeigten sich durchaus offen gegenüber Einwänden. So räumte Kolb 1984 beispielsweise ein, die Revolutionsforschung in den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren habe sich zweifellos „in etwas einseitiger Weise auf die Bewertung der Arbeiter- und Soldatenräte konzentriert, so

549 Andreas Hillgruber: Die Reichswehr und das Scheitern der Weimarer Republik, in: Karl Dietrich Erdmann, Hagen Schulze (Hg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, Düsseldorf 1980, S. 177–192, hier 178. 550 Erdmann et al.: Weimar, 1980, (wie Anm. 547). 551 Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band V. Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914–1919, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978, hier 846. 552 Gerhard Schulz: Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg 1918–1945 (Deutsche Geschichte 10), Göttingen 1976, hier 30. 553 Gerhart Binder: Geschichte im Zeitalter der Weltkriege. Unsere Epoche von Bismarck bis heute, Stuttgart 1977, hier 300.

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daß – wie Susanne Miller vor einiger Zeit anmerkte – eine gewisse Gefahr entstand, die Rätebewegung zur eigentlichen Kernfrage der Revolution zu erheben, was sie doch höchstens mittelbar gewesen sei.“554 In anderem Zusammenhang merkte Kolb an, der Begriff des „dritten Weges“ sei problematisch, weil er zum einen suggeriere, die proletarische Diktatur sei eine reale Möglichkeit gewesen, zum anderen, weil der Eindruck erweckt werde, es sei primär um die Schaffung eines staatlichen Organismus jenseits der parlamentarischen Demokratie gegangen oder um ein Wirtschaftssystem, das weder dem „kapitalistischen“ noch dem „sozialistischen“ Typus entspreche; „aber nicht darum ging es, sondern um eine breite Skala von Maßnahmen und Entscheidungen zur demokratischen Fundierung der Republik.“555 Weil immer wieder argumentiert worden war, die „neuere Forschung“ berücksichtige nicht die außenpolitischen Zwänge, wenn sie von einem Handlungsspielraum der Volksbeauftragten oder gar von einer relativ offenen Situation im Herbst und Winter 1918/19 spreche, setzte sich Kolb in einem 1981 erstmals erschienenen Aufsatz mit diesem Aspekt auseinander. Auf der Grundlage der vorliegenden Forschungsergebnisse kam er zu der Überzeugung, dass der sowjetrussischen Führung alle Möglichkeiten fehlten, tatsächlich Einfluss auf die Entwicklung in Deutschland zu nehmen. Der Antibolschewismus habe sich seit Herbst 1918 zu einer „politischen Größe sui generis“ entwickelt, „die bolschewistische Bedrohung und die Drohung mit einer zum Bolschewismus führenden Entwicklung wurden dadurch zu einem wirkungsvollen Argument, das auch als taktisches Instrument im Kampf sowohl um die innere Neuordnung Deutschlands wie auch um die Bedingungen des Friedens eingesetzt werden konnte und eingesetzt worden ist.“556 Mit Blick nach Westen kam Kolb zu dem Urteil: „Die deutschlandpolitischen Konzeptionen, Strategien und Initiativen der westlichen Siegermächte beließen der deutschen Revolutionsregierung, sofern sie sich nur klar gegen bolschewistische Tendenzen abgrenzte, einen mehr als nur minimalen innenpolitischen Handlungsspielraum, den sie nutzen konnte, auch zu einer ‚konsequenten sozialdemokratischen Reformpolitik‘ nutzen konnte, wenn sie dazu entschlossen war.“557 Das galt, so Kolb weiter, insbesondere im Hinblick auf diejenigen Maßnahmen, die in seinen Augen der Republik eine stabilere Grundlage hätten geben können. „Seitens der Alliierten wurden keine Bedenken laut gegen eine Demokratisierung der Verwaltung, wie sie die Anhängerschaft der Arbeiterparteien forderte, um den neuen Herrschaftsträgern wenigstens ein gewisses Maß an Ein-

554 Kolb: Arbeiter- und Soldatenräte in der deutschen Revolution von 1918/19, 1984, (wie Anm. 434), hier 305. 555 Eberhard Kolb: Internationale Rahmenbedingungen einer demokratischen Neuordnung in Deutschland 1918/19, in: Lothar Albertin/Werner Link (Hg.): Politische Parteien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Entwicklungslinien bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1981, S. 147–176, hier 149. 556 Ebenda, 159. 557 Ebenda, 167.

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flußmöglichkeiten innerhalb der staatlichen und kommunalen Verwaltungsapparate zu sichern. Die Alliierten verlangten auch nicht, die Stellung des kaiserlichen Offizierkorps dürfe nicht angetastet werden und Maßnahmen zu einer Demokratisierung des Heeres hätten zu unterbleiben, weil dadurch die Abwehrkraft gegen den Linksradikalismus geschwächt würde […] Selbst hinsichtlich der Gestaltung der Wirtschaftsverfassung befleißigten sich die Alliierten, nach Ausweis der Quellen, größter Zurückhaltung und enthielten sich einer gezielten Einmischung zugunsten der Aufrechterhaltung einer freien Unternehmerwirtschaft.“558 Es wäre also, urteilte Kolb, auch unter außenpolitischen Gesichtspunkten, „eine andere Ordnungspolitik“ möglich gewesen, die, worauf schon Erich Matthias hingewiesen habe, den eigenen Anhängern demonstriert hätte, dass der neue Staat „ihr eigener Staat war“.559 So entwickelte sich seit den späten Siebzigerjahren einerseits eine durchaus konstruktive wissenschaftliche Diskussion, die zu Modifizierungen auch in wichtigen Detailfragen führte, aber nicht daran rührte, die Revolution von 1918/19 im wesentlichen Kern als verpasste Chance der Demokratisierung zu deuten. Andererseits taten sich die Vertreter der „neueren Revolutionsforschung“ jedoch sehr schwer mit der recht plötzlich aufgekommenen Fundamentalopposition, die bei Jesse, Köhler und Hürten unverkennbar war. Noch im Rückblick betonte Kolb, bis gegen Ende der Siebzigerjahre sei die neue Deutung des Revolutionsgeschehens von deren Kritikern nur selten frontal attackiert, sondern ohne eigentliche Sachargumentation eher beiläufig mit einem Fragezeichen versehen worden. Erst seit Ende der Siebzigerjahre werde die Kritik „grundsätzlicher und entschiedener vorgebracht, allerdings vorwiegend von Autoren, die sich mit dem Zeitraum 1918/19 nicht intensiver auf der Grundlage der Quellen beschäftigt haben (was den argumentativen Diskurs nicht eben erleichtert).“560 Ulrich Kluge hielt bereits 1978 fest, ein sachlicher Dialog zwischen den wissenschaftlichen Kontrahenten scheine immer schwieriger und komplizierter zu werden. Er beklagte die „oft von radikaler Polemik durchsetzte Art der Auseinandersetzung“, die „im Grunde unfruchtbar“ sei.561 „In der Kritik geht es im einzelnen darum, das Bild von der deutschen Revolution von 1918/19, wie es bis etwa in der Mitte der fünfziger Jahre hinein bestand, in großen Zügen zu restaurieren.“562 Gerald D. Feldman hielt den Kritikern vor, es sei gleichermaßen „billig wie unzutreffend“, wenn sie behaupteten, daß die Enttäuschung über die Ergebnisse der Novemberrevolution, die sich in der Geschichtsschreibung auffinden lasse, auf der Annahme beruhe, es sei in diesen Monaten fast alles möglich und machbar gewesen,

558 Ebenda, 174. 559 Ebenda, 176. 560 Kolb: Revolutionsbilder, 1993 (wie Anm. 3), hier 28. 561 Ulrich Kluge: Krisen des politischen und sozialen Wandels in Deutschland zwischen Kaiserreich und Republik. Bemerkungen zu jüngsten Beiträgen der neueren westdeutschen Revolutions- und Räteforschung, in: Archiv für Sozialgeschichte 18 (1978), S. 610–632, hier 611. 562 Ebenda, 610.

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man habe es nur zu wollen und zu verwirklichen brauchen. „Man muß kein Schwärmer für den ‚dritten Weg‘ sein, wenn man feststellt, daß die Mehrheitssozialdemokratie einen unglaublichen Mangel an politischem Feingefühl und an Willen zur Macht zeigte und sich dadurch wichtige potentielle Quellen der politischen Unterstützung entfremdete. Ebenso wenig muß man ein begeisterter Anhänger von Massenbewegungen sein, um anzuerkennen, daß die revolutionären Massen 1917–20 in ihrer Mehrheit zweifellos auf eine Demokratisierung Deutschlands zielten.“563 Rürup fasste 1983 den Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus seiner Sicht zusammen und stellte fest, es gebe inzwischen Befunde, die nicht oder kaum mehr umstritten seien. Angesichts der „bemerkenswerten Übereinstimmung“, die die neuere Revolutionsforschung auszeichne und der „Verfestigung der darauf gestützten Revolutionsdeutung“ sei es „nicht überraschend“, daß in den letzten Jahren mehrere Diskussionsbeiträge veröffentlicht worden seien, die sich kritisch mit der „herrschenden Lehre“ auseinandersetzten.564 Eine „Sonderstellung“ nehme in dieser Debatte Karl Dietrich Erdmann ein, der trotz der neuen Erkenntnisse an seiner alten Position festhalte.565 Erdmann stehe in der Forschungsdiskussion „nahezu allein“, doch es sei „nicht daran zu zweifeln, daß er in der ‚schweigenden Mehrheit‘ der Historiker und Schulbuchautoren noch immer auf eine breite Zustimmung rechnen kann.“566 Entschieden trat Rürup der immer wieder kolportierten These entgegen, die neuere Revolutionsforschung behaupte, Weimar sei zum Scheitern verurteilt gewesen, weil 1918/19 die notwendigen Veränderungen der Machtverhältnisse unterblieben seien: „ein solcher Determinismus wäre durch nichts zu begründen. Doch es wäre nicht weniger verfehlt, wenn man jede Verbindung zwischen 1918 und 1933 leugnen würde. Der Nationalsozialismus ist nicht zuletzt als eine Bewegung gegen die Revolution von 1918 angetreten, und er hat Freiräume für seine Entfaltung vorgefunden, die eine stabil fundierte Demokratie ihm nicht hätte einräumen müssen.“567 In der neueren Forschung, so Rürup, werde die Revolution „in der Regel als eine gescheiterte oder steckengebliebene Revolution – gemessen an den weiterreichenden Zielsetzungen – bezeichnet“.568 Aber er könne durchaus auch Winklers Vorschlag folgen, die Revolution aufgrund des Sturzes der Monarchien als „erfolgreich“ zu bezeichnen, und seiner Formulierung, dass der 9. November 1918 „ein historischer

563 Gerald D. Feldman: Eine Gesamtdarstellung Weimars? Zu Hagen Schulzes Weimar-Buch, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 462–470, hier 469. 564 Rürup: Demokratische Revolution und „dritter Weg“. Die deutsche Revolution von 1918/19 in der neueren wissenschaftlichen Diskussion, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 278–301, hier 280. 565 Ebenda, 281f. 566 Ebenda, 283. 567 Ebenda, 287. 568 Ebenda, 287f.

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Meilenstein ist auf dem Weg vom Obrigkeitsstaat zur Demokratie“, könne er „ohne weiteres zustimmen“, auch wenn er insgesamt dazu neige, weiter „von einer gescheiterten oder vielleicht besser von einer steckengebliebenen Revolution zu sprechen.“569 Im Zentrum der wissenschaftlichen Diskussion sah Rürup „zweifellos die Vorstellung von einem ‚dritten Weg‘.“570 Von ihren Kritikern werde versucht, die neuere Forschung auf die These von einem „dritten Weg“ festzulegen. Es sei nicht zu übersehen, so Rürup, dass diese Versuche „fast durchweg in kritisch-polemischer Absicht erfolgten.“571 Mit dem Reizwort „dritter Weg“ verknüpften sich offenbar Ängste sowohl auf kommunistisch orthodoxer wie auf bürgerlich konservativer bzw. liberaler Seite. Es gehe der Mehrzahl der Revolutionsforscher erklärtermaßen jedoch „nicht um den Nachweis, daß eine dauerhafte Etablierung von Räteinstitutionen auf politischer oder wirtschaftlicher Ebene möglich und notwendig gewesen wäre, sondern um die Einsicht, daß die sozialkonservative Begründung der Republik nicht unvermeidlich war, daß für eine entschieden sozialdemokratische Politik weitaus größere Möglichkeiten bestanden, als gemeinhin angenommen worden ist […] so daß die Polemik gegen die angebliche These von der Rätebewegung als ‚drittem Weg‘ für den weitaus größten Teil der Forschung ins Leere läuft.“572 Andere Aspekte der Kritik sah Rürup als sehr diskussionswürdig an. Nicht ohne Grund sei beispielsweise „bezweifelt worden, ob die Inangriffnahme der geforderten Strukturveränderungen tatsächlich eine Radikalisierung der Massen verhindert hätte, ob eine Politik der begrenzten Weiterführung des revolutionären Prozesses durchführbar und vor allem politisch kontrollierbar gewesen wäre. Eine eindeutige Antwort auf solche Fragen ist nicht möglich, da niemand genau sagen kann, wie ein anderer historischer Prozeß verlaufen wäre.“573 Diese Unsicherheit entwerte aber nicht die quellenmäßig gut abgesicherte Feststellung, dass das Ausbleiben einschneidender Veränderungen eine Radikalisierung und Entfremdung von den sozialdemokratisch geführten Regierungen bewirkt habe.574 Auch von den Kritikern der neueren Forschung werde „kaum bezweifelt“, so Rürup, dass einschneidende Veränderungen, durch die die antidemokratischen und antiparlamentarischen Traditionen in Heer, Verwaltung und Großindustrie gebrochen wurden wären „in hohem Maße wünschenswert waren und die parlamentarische Demokratie auf sicherere Grundlagen gestellt hätten“. In Frage gestellt werde dagegen „bis heute die Möglichkeit einer solchen Politik.“575 In der Revolutionsforschung,

569 570 571 572 573 574 575

Ebenda, 288. Ebenda, 289. Ebenda, 290. Ebenda, 291. Ebenda, 289. Ebenda, 289. Ebenda, 293.

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so Rürup weiter, sei nie behauptet worden, dass man auf die Mitarbeit der Fachleute in Militär und Verwaltung hätte verzichten können. „Das Problem lag, wie Winkler neuerdings formuliert hat, tatsächlich nicht im ‚Ob‘ der Zusammenarbeit, sondern in ihrem Ausmaß und in ihren Bedingungen.“576 Die von Winkler 1982 geprägte Formel „Die Sozialdemokraten hätten bei stärkerem politischem Gestaltungswillen mehr verändern können und weniger bewahren müssen“577 entwickelte sich rasch zur weitgehend akzeptierten Kompromissformel. Es sei kaum mehr umstritten, so Rürup weiter, dass die Volksbewegung der Räte ein demokratisches Potential darstellte, das von den Regierungen hätte genützt werden können. Wenn die Kritiker der neueren Forschung unterstellten, sie seien der Meinung, „die Räte hätten die Neuordnung selber in die Hand nehmen sollen“, so sei dies ein Missverständnis. Es sei auch richtig, dass die Rätebewegung im November/ Dezember keinen „selbständigen Machtfaktor“ darstelle, worauf insbesondere Winkler hingewiesen habe. „Aber – und das allein ist die Kernthese der neueren Forschung – für die Revolutionsregierungen hätten die Arbeiter- und Soldatenräte eine gesicherte Machtbasis im Kampf um die Durchsetzung des Primats der Politik in Heer, Verwaltung und Industrie geboten.578 Löwenthals Hinweis, dass in keinem einzigen industriell entwickelten Land eine politische und soziale Revolution nach klassischem Muster erfolgreich gewesen sei griff Rürup auf, wies aber zugleich darauf hin, dass daraus nicht abzuleiten sei, „daß die sozialdemokratischen Revolutionsregierungen nicht anders handeln konnten, als sie getan haben“.579 Angesichts dieses Diskussionsstandes könne man gewiss nicht „von einer großen wissenschaftlichen Kontroverse über die Erforschung und Deutung der Revolution von 1918/19 sprechen, zumal die unausgesprochenen Vorbehalte gegenüber der neueren Revolutionsforschung und ihren Ergebnissen sich einer offenen und rationalen Diskussion weitgehend entziehen.“580 Rürups Bilanzversuch von 1983 war in seiner Argumentation wissenschaftlichdiskursiv, versuchte Missverständnisse aufzuklären, berechtigte Einwände aufzugreifen und Vorschläge für Neuformulierungen zu machen. Er war unter Gesichtspunkten eines rationalen Diskurses äußerst verdienstvoll – und lief doch angesichts der veränderten Rahmenbedingungen in den Achtziger Jahren weitgehend ins Leere. Die historische Forschung zur Revolution von 1918/19 hatte bereits in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre deutlich nachgelassen. Verglichen mit dem Boom der Sechzigerund der frühen Siebzigerjahre – Meyers „Bibliographie zur deutschen Revolution

576 Ebenda, 293. 577 Heinrich August Winkler: Vorbemerkung, in: Ders.: Die Arbeiterbewegung im gesellschaftlichen System der Weimarer Republik. Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), S. 5–8, hier 5. 578 Rürup: Demokratische Revolution und „dritter Weg“, 1983, (wie Anm. 564), hier 295. 579 Ebenda, 299. 580 Ebenda, 285.

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1918/19“581 nannte 1977 mehr als 1800 Titel, zu einem guten Teil aus jenen Jahren – war dies augenfällig. So musste Eberhard Kolb 1984 feststellen, aus den letzten Jahren lasse sich nur „eine vergleichsweise bescheidene Zahl entsprechender Veröffentlichungen anführen.“582 Im distanzierteren Rückblick sprach er 1994 sogar davon, in den 80er Jahren sei „eine merkwürdige Windstille eingekehrt, vielleicht bedingt durch die Annahme, bei diesem Themenkomplex sei inzwischen alles Wesentliche erforscht.“583 Unter Gesichtspunkten der Forschung waren insbesondere die Studien Heinrich Potthoffs über „Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation“ aus dem Jahr 1979584 und Hans-Joachim Biebers über „Gewerkschaften in Krieg und Revolution“ von 1981585 bemerkenswert. Potthoff beschränkte sich im Kern darauf, die Hauptlinien des Selbstverständnisses und der Politik der Gewerkschaftsführung nachzuzeichnen, ohne Möglichkeiten einer anderen Politik zu skizzieren oder gar Kritik zu formulieren. Er sprach auch nicht von verpassten Chancen in der „vergleichsweise offenen Situation“ nach dem 9. November 1918. Bieber dagegen stellte zwar durchaus die Erfolge der gewerkschaftlichen Politik heraus, zog aber eine deutlich negative Bilanz, weil es nicht gelungen sei, der Weimarer Republik von Anfang an die fundamentalen Voraussetzungen für eine dauerhafte Sicherung der politischen Demokratie zu geben. Dieses Defizit habe sie bis 1933 nicht aufholen können. Bieber deutete die Revolution in erster Linie als verpasste Chance einer Demokratisierung. Detlef Lehnert beschäftigte sich in seiner 1981 abgeschlossenen, 1983 in gekürzter und überarbeiteter Fassung erschienenen Berliner Dissertation mit der „Neuordnungsdebatte 1918/19 in der politischen Publizistik von SPD und USPD“ und arbeitete heraus, dass diese Debatte kein anderes Ergebnis haben konnte als ein klares Bekenntnis zu parlamentarischer Demokratie und verfassunggebender Nationalversammlung. Dem einmal erreichten Niveau der politischen Partizipation breiter Bevölkerungsschichten und rationaler Entscheidungsverfahren könne, das habe die Entwicklung gezeigt, nicht ungestraft der Kampf angesagt werden. Lehnert sah sowohl in der „Alles oder Nichts“-Taktik der Rätebefürworter in der USPD als auch in der zögerlichen und schwankenden Haltung der USPD-Führung zur raschen Einberufung einer Nationalversammlung schwerwiegende politische Fehler. Dadurch sei eine

581 Meyer: Bibliographie zur deutschen Revolution 1918/19, 1977 (wie Anm. 310). 582 Kolb: Arbeiter- und Soldatenräte in der deutschen Revolution von 1918/19, 1984, (wie Anm. 434), hier 301f. 583 Eberhard Kolb: Literaturbericht Weimarer Republik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 45 (1994), S. 523–543, hier 535. 584 Heinrich Potthoff: Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation, Düsseldorf 1979. 585 Hans-Joachim Bieber: Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914–1920 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 15), Hamburg 1981.

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gemeinsame Politik der beiden sozialistischen Parteien praktisch unmöglich geworden, für die Lehnert nach seiner Auswertung der Parteizeitungen durchaus eine Basis sah. Die Neuordnungsdebatte in der Tagespresse von MSPD und USPD sei „in einem bislang nicht wahrgenommenen Maße inhaltsreich, realitätsbezogen und trotz mancher Meinungsverschiedenheiten in wesentlichen Handlungsfeldern konsensfähig“ gewesen586 (vgl. Kap. 7). Heinz Hürten beschäftigte sich 1984 mit dem Thema „Die Kirchen in der Novemberrevolution“ und erhob – das machte der Untertitel deutlich – durchaus den Anspruch, damit „Eine Untersuchung zur Geschichte der Deutschen Revolution 1918/19“ zu leisten. Vorab wies er darauf hin, dass das neue Bild der Novemberrevolution nicht gänzlich unangefochten sei – und es zeugte von bemerkenswertem Selbstbewusstsein, dass die belegende Anmerkungen zu diesem Sachverhalt nur ein einziges Wort aufwies: „Hürten“.587 Hürten kam bei seiner Untersuchung der Kirchen- und Kulturpolitik der Revolutionsregierungen zu einem weit reichenden Ergebnis: „Die These von der attentistischen Politik der nach dem 9. November regierenden Sozialdemokratie bedarf der Modifizierung. In Sachen Kirche und Schule legten alle Regierungen, in denen die Sozialdemokraten ohne Koalitionspartner an der Macht waren, einen Eifer der Umgestaltung an den Tag, der von ‚Legitimitätsskrupeln‘ wenig angekränkelt war. […] Der Konflikt mit der Kirche war durch Programm und Parteiagitation festgelegt, sobald die Sozialdemokratie an die Regierung kam.“588 Anders als die „neuere Revolutionsforschung“, die einhellig einen Prozess der Enttäuschung über ausbleibende Reformen in der Arbeiterschaft diagnostizierte, erkannte Hürten wachsende Ungeduld angesichts des von der Revolution betriebenen Kulturkampfes. „Die ‚Revolutionsgeduld‘ der Bevölkerung, die Autorität der neuen Regierungen wurden schneller abgebaut als die Bereitwilligkeit, sich in das Geschehen zu fügen, die im November fast allein vorhanden war, erwarten ließ. […] Daß die Wahlen zur Nationalversammlung nach dem Urteil der gut beobachtenden Gertrud Bäumer ausgingen, als ob es die Revolution nicht gegeben habe, ist auch eine Folge der sozialdemokratischen Kulturpolitik.“589 Nicht eine tiefer greifende Politik der Demokratisierung wäre also nach Hürtens Urteil eine Erfolg versprechende Strategie für Sozialdemokratie wie Republik gewesen, sondern im Gegenteil weitaus größere Zurückhaltung: „Was die Kirchen nach 1918 an Freiheit errangen, meinten sie nicht der Revolution verdanken zu müssen, sondern ihrer Abwehr“.590

586 Detlef Lehnert: Sozialdemokratie und Novemberrevolution. Die Neuordnungsdebatte 1918/19 in der politischen Publizistik von SPD und USPD, Frankfurt am Main 1983, hier 299. 587 Heinz Hürten: Die Kirchen in der Novemberrevolution. Eine Untersuchung zur Geschichte der Deutschen Revolution 1918/19 (Eichstätter Beiträge 11), Regensburg 1984, hier 8. 588 Ebenda, 128. 589 Ebenda, 128. 590 Ebenda, 129.

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War im Bereich der historischen Forschung in den Achtzigerjahren die Deutung der Revolution von 1918/19 als verpasste Chance zur Demokratisierung die weitaus überwiegende Position, so galt dies nach wie vor nicht für Gesamtdarstellungen zur Weimarer Republik. Natürlich folgte Eberhard Kolb in seinem Studienbuch „Die Weimarer Republik“ 1984 den Grundlinien der von ihm wesentlich mit entfalteten Deutung.591 Auch Heinrich August Winkler neigte im ersten Band seines dreibändigen Monumentalwerkes zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik mit dem Titel „Von der Revolution zur Stabilisierung“ mit der sein Urteil kennzeichnenden eigenen Akzentsetzung dieser Deutung zu.592 Ähnlich Hans Mommsen, der im achten Band der Propyläen Geschichte Deutschlands „Die verspielte Freiheit“ die Revolution in erster Linie als verpasste Chance deutete, die „Volksbewegung“ des November als demokratisches Potential für die Republik zu gewinnen. Der von Michael Stürmer herausgegebene Band „Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas“ sparte dagegen die Revolutionszeit völlig aus – mit Hinweis auf den in derselben Reihe acht Jahre zuvor erschienen Band Kolbs „Vom Kaiserreich zur Republik“.593 Stürmer ließ in seiner Einleitung aber sehr deutlich erkennen, dass er keineswegs zu den Verfechtern eines „dritten Wegs“ gehörte – so charakterisierte er jene Revolutionsdeutung, die seit Rosenberg eine lange Spur bis in die Gegenwart ziehe. Für ihn stand völlig außer Frage: „Eine „konsequente sozialistische Umgestaltung aus einer Minderheitsposition – denn mehr stand nicht zur Verfügung – hätte jenen Konsens der Bürger von vornherein zerstört, ohne den ein demokratisches Gemeinwesen nicht denkbar ist.“594 Die Auseinandersetzung über die Deutung der Revolution war in Stürmers Augen in erster Linie ein Streit über politische Bekenntnisse. Ein entschiedenes Votum gegen das „neue“ Bild der Revolution von 1918/19 legte Hagen Schulze in seiner Monographie „Weimar. Deutschland 1917–1933“ ab, die 1982 in der von Severin und Siedler repräsentativ und für ein breiteres Publikum aufgelegten sechsbändigen Reihe „Die Deutschen und ihre Nation“ erschien. Eine These Buchheims von 1960 aufgreifend, beschrieb er die Weimarer Republik als gemeinsame Schöpfung von Sozialdemokratie und Armee. Die Kernfrage (bis zum 10. November) sah er ähnlich klar wie Erdmann 1955: Bolschewismus oder westliche Demokratie. Diese Entscheidung sei aber bereits am 10. November gefallen, danach sei es nur

591 Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik (Oldenbourg Grundriß der Geschichte 16), München/ Wien 1984. 592 Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin 1984. 593 Michael Stürmer: Vorwort, in: Ders. (Hg.): Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstein/ Ts. 1980, S. 9–11, hier 11. 594 Michael Stürmer: Einleitung. Weimar oder die Last der Vergangenheit. Aufstieg und Fall der ersten Republik als Problem der Forschung, in: Ders. (Hg.): Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstein/Ts. 1980, S. 13–36, hier 19.

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noch darum gegangen, den Machtanspruch der Reichsregierung im gesamten Reich durchzusetzen.595 Ebenso entschieden bekannte sich Horst Möller in seinem dtv-Band „Weimar. Die unvollendete Demokratie“ zur „älteren“ Deutung. Nach seiner Darstellung lautete die „Kernfrage“ vor der Deutschland 1918/19 stand: „Demokratie hier und heute? Ja oder nein?“596 Möller sah deutliche Strukturschwächen der Weimarer Republik, führte sie aber nicht auf die Politik der Sozialdemokratie zurück, ganz im Gegenteil. Friedrich Ebert war in seinen Augen ein Glücksfall für die Deutschen. Möller sah die Revolution einerseits als störende Unterbrechung des längst begonnenen Reformprozesses, andererseits als Abwehrkampf gegen eine sozialistische Republik, die vermutlich in einer „Diktatur des Proletariats“ geendet hätte.597 Der von Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen 1987 herausgegebene Sammelband „Die Weimarer Republik“ setzte klare Schwerpunkte. In drei Beiträgen von Böckenförde, Hürten und Möller wurde die Revolution 1918/19 als Entscheidung zwischen parlamentarischer Demokratie und Rätediktatur (Böckenförde) oder als Abwehr des Versuchs der Minderheit gegen die Mehrheit (Hürten) dargestellt. Möller betonte, „anders als dies manchen Räteforschern scheinen mag“ habe sich durch ihre Erkenntnisse „keineswegs zwangsläufig die prinzipielle Beurteilung der Entscheidungsalternativen von 1918/19 und ihrer langfristigen Wirkungen verändert.“598 Dem stand lediglich ein Beitrag mit anderer Tendenz von Kolb gegenüber, der Nachdruck eines Aufsatzes von 1981 über „Internationale Rahmenbedingungen einer demokratischen Neuordnung in Deutschland 1918/19“. Dieser Gesamtbefund ist allein mit Hinweisen auf die Zähigkeit von Veränderungsprozessen und auf die Trägheit des Wissenschaftsbetriebs nicht zu erklären. Kolbs Formulierung von 1984, die „Schritt für Schritt erarbeitete und konzeptionell durchgeformte Neuinterpretation der deutschen Revolution von 1918/19 ist innerhalb der Forschung erstaunlich rasch rezipiert und in wesentlichen Teilen auch akzeptiert worden“, allerdings halte sich „in einigen Handbuchdarstellungen und in zahlreichen Schulbüchern“ weiterhin die „ältere Auffassung“599 entsprach Mitte der Achtzigerjahre schon nicht mehr der historiographischen Entwicklung. Historiker wie Hürten, Möller, Schulz, Schulze oder Stürmer hielten nicht träge und uninformiert an älteren Auffassungen fest, sondern entschieden sich trotz aller Ergebnisse der Revolutionsforschung für eine Deutung der Revolution als Abwehrkampf gegen Bolschewismus

595 Hagen Schulze: Weimar. Deutschland 1917–1933, Berlin 1982, hier 170. 596 Horst Möller: Weimar. Die unvollendete Demokratie, München 1985, hier 45. 597 Ebenda, 53. 598 Horst Möller: Die Weimarer Republik in der zeitgeschichtlichen Perspektive der Bundesrepublik Deutschland, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hg.): Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 22), Düsseldorf 1987, S. 587–616, hier 608. 599 Kolb: Die Weimarer Republik, 1984 (wie Anm. 591), hier 159.

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und Radikalismus bzw. als Störung des geordneten Reformprozesses. In den Achtzigerjahren war nicht mehr damit zu rechnen, dass sich nach und nach die Deutung der Revolution als verpasste Chance auch in Handbüchern, Gesamtdarstellungen und Schulbüchern durchsetzen würde. Vielmehr gehörte inzwischen die Revolution von 1918/19 wieder „zu den am heftigsten umstrittenen Ereignissen der neueren deutschen Geschichte.“600 In seinem Band „Die deutsche Revolution 1918/19“ stellte Kluge 1985 realistisch, wenn auch durchaus bedauernd fest, er könne „kein verbindliches, allseits akzeptiertes und gesichertes Bild“ der Revolution bieten.601 „Paradoxerweise entstanden in den siebziger Jahren auf einer Quellenbasis zwei voneinander z. T. stark abweichende Bilder der Revolutions- und Rätebewegung.“602 Beide Deutungen standen in Kluges Augen nicht gleichwertig nebeneinander. Das machte er deutlich wenn er betonte, das eine Bild sei „vornehmlich aus einer Reihe ausreichend dokumentierter Einzelergebnisse“ entstanden,603 das andere „nicht aus der unmittelbaren Interpretation von Quellenmaterial“, sondern „primär aus dem grundsätzlichen Widerspruch gegen den vermeintlichen ‚politischen Mythos‘ von der ‚verpaßten Chance eines ‚dritten Weges‘‘ (K.D. Erdmann).“604 Kluge ergänzte: „Die wissenschaftliche Diskussion belastete damit ein gravierendes Mißverständnis; denn die Revolutions- und Räte-Forschung der sechziger und frühen siebziger Jahre hatte der These vom ‚dritten Weg‘ entschieden widersprochen.“605 Damit blieb Kluge eine Erklärung für den Vorgang schuldig. Es ist kaum vorstellbar, dass ein „Missverständnis“ über viele Jahre hinweg den wissenschaftlichen Diskurs gravierend stört, wenn die betroffene Seite mehrfach an prominenter Stelle darauf hinweist, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Viel plausibler lässt sich das Kluge paradox erscheinende Phänomen erklären, wenn man eigene politische sowie weltanschauliche Grundüberzeugungen der Kontrahenten und die der jeweils anderen Seite unterstellten Überzeugungen und Absichten mit ins Kalkül zieht. Wenn man also die Debatte nicht als wissenschaftlichen Diskurs, sondern als Auseinandersetzung zwischen zwei politisch-weltanschaulichen Lagern versteht. In einem solchen Lagerkampf gelten andere Regeln als die des wissenschaftlichen Diskurses. Verdächtigungen und Unterstellungen sind geeignete Mittel, die Position des Gegners zu schwächen. Kommt man nicht umhin, einzelne Ergebnisse anzuerkennen, kann ihre Relevanz für die eigentlichen Kernfragen bestritten werden. Die einschlägigen Beiträge der Kontrahenten zur Revolution von 1918/19 lieferten zahlreiche Beispiele für solche aus politischen Debatten hinlänglich bekannten Ar-

600 601 602 603 604 605

Kluge: Die deutsche Revolution 1918/19, 1985 (wie Anm. 360), hier 2 (Klappentext). Ebenda, 8. Ebenda, 20. Ebenda, 21. Ebenda, 24f. Ebenda, 25.

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gumentationstaktiken. Wie in Lagerkämpfen üblich war das Ziel nicht mehr Verständigung. Nach Kluges Überzeugung belebte das „Gegenbild“ nicht die Diskussion, „sondern erschöpfte sich zuweilen in der bloßen Negation abgesicherter Forschungsresultate.“606 In seinen Augen „verlor die Diskussion über die politisch-sozialen Dimensionen von 1918/19 an Sachlichkeit und zugunsten polemischer Paraphrasierung positiver Quellenforschung an Erkenntnistiefe. […] Es trat ein Verlust an Verständigungsbereitschaft ein, der die Situation der siebziger Jahre weithin prägen sollte. Die Bilanz wies ein deutliches Mißverhältnis zwischen Forschungsaufwand und Übereinkunft über weiterführende Ergebnisse und neue Erkenntnisperspektiven auf.“607 Ein Indiz für die These von streitenden Lagern sind auch bemerkenswerte Vorgänge im Zusammenhang mit der Noske-Biographie von Wolfram Wette. Als der 800Seiten-Band mit dem Titel „Gustav Noske. Eine politische Biographie“ 1987 erschien, hatte ihn Dr. Günter Roth, Oberst i. G., als Amtschef des herausgebenden Militärgeschichtlichen Forschungsamtes mit einer Einführung versehen und bezog darin in zahlreichen Punkten eine Gegenposition zu den Urteilen des Autors, der jahrelange über den Volksbeauftragten und ersten sozialdemokratischen Reichswehrminister geforscht hatte. Roth machte auch aus seiner Ablehnung gegenüber der Person Wettes kein Hehl, wenn er betonte, der Auftrag zu dieser ersten wissenschaftlichen Noske-Biographie sei vom damaligen Verteidigungsminister Georg Leber erteilt worden, „wobei er auch den Autor benannte.“608 Im einzelnen führte Roth aus, Wette habe „einleitend seine Distanz zu den Methoden von Noskes Politik betont und dabei auf die für ihn erkenntnisleitende Fragestellung hingewiesen, ob es realistische Alternativen zu dieser Politik gegeben habe. Indem Wette deutlich machte, daß „die Stabilisierung der Weimarer Republik nur ‚als Ergebnis eines möglichst weitgehenden Bruchs mit den aus der wilhelminischen Ära überkommenen antidemokratischen, antisozialen und besonders auch der militaristischen Strömungen und deren Trägern‘ (S. 789 f.) erreichbar gewesen wäre“, mache er seine politische Position klar.609 Wette zeige „viel Verständnis für die Kritiker Noskes in der MSPD und der USPD“, stellte Roth fest, und er merkte – wohl als Argument gegen so viel Verständnis – an, dass diese Kritiker „gegenüber dem bürgerlichen und konservativen Lager nie eine reale Chance hatten, ihre radikaldemokratischen und gesellschaftspolitischen Ziele in einem parlamentarischen Entscheidungsprozess durchzusetzen, wie die Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 und zum ersten Reichstag im Juni 1920 in aller Klarheit zeigten.“610 Der kritische Ansatz des Autors bewirke ein „deutlich erkennba-

606 Ebenda, 25. 607 Ebenda, 19. 608 Roth, Günter: Einführung des Herausgebers, in: Wolfram Wette: Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987, S. 5–8, hier 5. 609 Ebenda, 5f. 610 Ebenda, 6.

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res Spannungsfeld zwischen der prinzipiellen Standortgebundenheit des Historikers, der den Fortgang der Geschichte kennt, einerseits und dem normativen Prinzip einer möglichst großen Objektivität andererseits“. Ein anderer Ansatz, darf man daraus wohl schlussfolgern, hätte nach Roths Überzeugung dieses Spannungsfeld nicht hervorgerufen. So aber blieb nun offenbar dem Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes keine andere Wahl als selbst der Objektivität zum Durchbruch zu verhelfen. Wette hätte nach Auffassung des Amtschefs stärker die „außenpolitischen, ökonomischen und sozialen Einflußfaktoren“ betonen müssen, „die sich gravierend auf die Gründungsphase der Republik auswirkten und die dem Handlungsspielraum der deutschen Politik engere Grenzen setzten […] Die Frage nach dem Ausmaß der damaligen Gefährdung der inneren und äußeren Sicherheit des Reiches erfordert die Erforschung und Darstellung der damaligen, schwer überschaubaren sicherheitspolitischen Situation. Zur Lösung gerade dieser Aufgabe [Welcher Aufgabe?] hat sich Noske sehr früh dafür entschieden, mehr mit konservativen Militärs, deren professioneller Einsatz schnelle Erfolge versprach, als mit neuen, aus der revolutionären Bewegung erwachsenen und aus seiner subjektiven Erfahrung militärisch nicht durchschlagsfähigen Kräften zusammenzuarbeiten, deren militärische Effektivität ihm zweifelhaft erscheinen mußte [!].“611 Zwar sei Wette der Meinung, die „bolschewistische Gefahr“ sei 1919 in Deutschland ein propagandistisch erzeugter Popanz gewesen, aber „die Ereignisse in Berlin, Dresden, München, Bremen und anderswo hatten durchaus gezeigt, daß die innere Sicherheit des Reiches durch Kräfte gefährdet war, die die parlamentarische Demokratie nicht nur ablehnten, sondern auch noch gewaltsam bekämpften, um eine wie auch immer gestaltete sozialistische Ordnung zu schaffen.“612 Musste, fragte Roth, wenn sich abzeichnete, daß die Bereitschaft der sozialdemokratischen Arbeiter, die neue entstandene Republik notfalls zu verteidigen nicht gerade ausgeprägt war, „mußte Noske dann nicht zwangsläufig auf Kräfte zurückgreifen, die bereit waren, den deutschen Staat zu verteidigen?“613 Man müsse auch bedenken, dass Abwehrreaktionen, „die aus heutiger Sicht übertrieben erscheinen mögen, damals jedoch als unvermeidliche Notwendigkeit angesehen wurden, um eine revolutionäre Entwicklung nach russischem Vorbild zu verhindern.“614 In seiner abschließenden Wertung, so Roth weiter, stelle der Autor bedauernd fest, „daß es den damals regierenden Mehrheitssozialdemokraten an Mut und Kraft gefehlt habe, mit einer offensiven und tiefgreifenden Politik der inneren Umstrukturierung den konservativen Führungseliten dauerhaft den Boden zu entziehen. In diesem Versäumnis sieht er eine Mitverantwortung für das damit quasi vorprogrammierte Scheitern der Weimarer Republik und für den erneuten deutschen Versuch, 611 612 613 614

Ebenda, 6. Ebenda, 7. Ebenda, 7. Ebenda, 7f.

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‚einen neuen ‚Griff nach der Weltmacht‘ vorzubereiten‘ (S. 803). Leser und Wissenschaft sind aufgefordert, sich mit dieser provozierenden These des Autors auseinanderzusetzen.“615 Liest man Wettes Wertung im Original, so ist dort weder von einem „quasi vorprogrammierte[n] Scheitern“ die Rede noch von „den konservativen Führungseliten“, sondern von einer Politik, „die jenen Eliten dauerhaft den Boden hätten entziehen müssen, die dann schon bald wieder den Versuch machen sollten, einen neuen ‚Griff nach der Weltmacht‘ vorzubereiten.“616 Ganz offensichtlich prallten hier nicht nur zwei verschiedene Revolutionsdeutungen aufeinander, sondern zwei unterschiedliche politisch-weltanschauliche Positionen, verbunden mit Unterstellungen und Verdächtigungen. Wie wenig an einen wissenschaftlichen Diskurs mit dem Ziel einer Verständigung zu denken war, zeigte auch die sinnverschiebende Zitierweise des Amtschefs, die wohl auch das Ziel verfolgte, bei heutigen konservativen Führungseliten den Eindruck zu erwecken, sie seien von Wettes Kritik betroffen. Es lässt sich vorstellen, welche nicht-öffentlichen Auseinandersetzungen dieser Art der Veröffentlichung vorausgegangen sein mussten. Wie ein Fremdkörper wirkt in dieser Gemengelage aus heutiger Sicht Peter v. Oertzens Ansatz, die Revolution von 1918/19 in weltgeschichtliche Zusammenhänge einzuordnen. In seinem 1983 erstmals erschienenen Beitrag „Arbeiterbewegung, Arbeiterräte und Arbeiterbewußtsein in der Deutschen Revolution 1918/19“617 ging Oertzen von der Feststellung aus, „daß niemals zu irgendeinem Zeitpunkt seit den Anfängen der sozialistischen Arbeiterbewegung der ernsthafte Versuch unternommen worden ist, die von Marx prognostizierte ‚soziale Revolution‘ (=gesellschaftliche Umwälzung des Kapitalismus) in einem fortgeschrittenen kapitalistischen Lande tatsächlich ins Werk zu setzen, und daß auch niemals die wirkliche ökonomische, soziale und politische Chance dafür bestanden hat.“618 Nur zwei Ausnahmen habe es gegeben: die Spanische Revolution 1936/37 und die Deutschen Revolution 1918/19. Es sei kein Zufall, „daß bis zum heutigen Tage der wissenschaftliche und der politische Streit über die vorhandenen und nicht ergriffenen Möglichkeiten dieser beiden Revolutionen nicht verstummt ist.“619 Die deutsche Novemberrevolution, so Oertzen, sei 615 Ebenda, 8. 616 Ebenda, 9. 617 Peter v. Oertzen: Arbeiterbewegung, Arbeiterräte und Arbeiterbewußtsein in der Deutschen Revolution 1918/19, in: Martin Baethge/Wolfgang Essbach (Hg.): Soziologische Entdeckungen im Alltäglichen. Hans Paul Bahrdt. Festschrift zu seinem 65. Geburtstag, Frankfurt/New York 1983, S. 347–371. Der Aufsatz erschien 2008 erneut in: Grebing, Helga (Hg.): Die deutsche Revolution 1918/19. Eine Analyse, Berlin 2008, S. 68–102. Zitiert wird im Folgenden aus dieser Neuausgabe. 618 Peter v. Oertzen: Arbeiterbewegung, Arbeiterräte und Arbeiterbewußtsein in der Deutschen Revolution 1918/19, in: Helga Grebing (Hg.): Die deutsche Revolution 1918/19. Eine Analyse, Berlin 2008, S. 68–102, hier 68f. 619 Ebenda, 69.

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„ein Kreuzweg in der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands und – entsprechend seiner Bedeutung für die kapitalistische Welt – in der geschichtlichen Entwicklung des Kapitalismus überhaupt. Insoweit ist die Deutsche Revolution von 1918/19 so etwas wie eine historische ‚Fallstudie‘, wie das einzige historische Exempel, das über die Tragweite des Marxschen Konzeptes einer proletarischen sozialistischen ‚Revolution‘ Auskunft geben kann.“620 Aufgrund dieser Einordnung übte auch Oertzen Kritik an der neueren Revolutionsforschung, aber mit völlig anderer Stoßrichtung als das konservative Lager. Oertzen betonte, dass bei allen sonstigen Unterschieden der Beurteilung in der Diskussion über die Deutsche Revolution von 1918/19 nie in Zweifel gestanden habe, „daß starke sozialistische Arbeiterströmungen in ihr eine bedeutende Rolle gespielt haben.“621 Die neuere Revolutionsforschung neigte in Oertzens Augen – insbesondere in der Auseinandersetzung mit der älteren Deutung – dazu, diese sozialistischen Strömungen nicht mehr ernst genug zu nehmen. „Die neuere Revolutionsforschung war in ihrer Kritik an der älteren konservativ-liberal-sozialdemokratischen Auffassung von der Frage nach den Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik ausgegangen und hatte einen Teil der Antwort in den Versäumnissen der demokratischen Revolution von 1918/19 zu finden gemeint. Von daher kritisierte sie die überkommene – falsche – Alternative: ‚Demokratie‘ oder ‚Bolschewismus‘ und setzte – mehr oder weniger ausgeprägt – eine neue Alternative: konservative oder soziale Demokratie an ihre Stelle. Dieser Ansatz barg und birgt jedoch die Gefahr in sich, im Wissen vom schließlichen Endergebnis der Entwicklung – hier: dem Scheitern der Republik 1933 – die tatsächliche revolutionäre Situation von 1918/19 und den Spielraum der in ihr Handelnden zu verzeichnen. Und in dem berechtigten Bestreben, gegen die ‚Bolschewismus‘-Phobie der bürgerlich-sozialdemokratischen Politik in der Revolution und der bürgerlich-sozialdemokratischen Geschichtsschreibung später anzuargumentieren, gerieten darüber hinaus die unzweifelhaft vorhandenen und wirksamen sozialistischen Tendenzen in der revolutionären Volks- und Arbeiterbewegung teilweise aus dem Blick.“622 Oertzen schloss sich selbst in diese Kritik durchaus mit ein. Insbesondere Frank Dingel und Erhard Lucas hätten mit ihren Arbeiten die sozialistischen Strömungen in der Revolution von 1918/19 wieder stärker ins Blickfeld gerückt. So betone Dingel in seiner Einleitung zur Neuausgabe von Richard Müllers „Geschichte der deutschen Revolution“ (Berlin 1979) mit Nachdruck, „daß die sozialistische Alternative 1918/19 nicht die ‚revolutionäre Illusion‘ einer Minderheit in der Arbeiterbewegung, sondern eine wirkliche ‚revolutionäre Chance‘ gewesen sei. ‚Die Revolution war zu Beginn sicherlich eine sozialdemokratische, aber sie ist es nicht geblieben. Sie entwickelte Zielvorstellungen und Realisierungsansätze,

620 Ebenda, 69f. 621 Ebenda, 70. 622 Ebenda, 72.

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die weit über das hinausgingen, was für den sozialdemokratischen Reformismus noch tolerierbar war. Die Charakterisierung der Revolution als bürgerlich-demokratisch vernachlässigt diese Ansätze‘“.623 In Anlehnung an Rosenbergs Diktum von 1933 – „Die Deutsche Republik hätte 1918/19 eine echte Demokratie mit weitgehenden sozialistischen Möglichkeiten werden können“624 – urteilte Oertzen, dass „für eine entschlossene Politik der ‚sozialen Demokratie‘ eine Mehrheit zu erlangen gewesen wäre und damit die Basis für eine wirkliche demokratische Verfassung mit sozialistischen Entwicklungsmöglichkeiten.“625 Dies hätte in seinen Augen allerdings vorausgesetzt, „daß die gesamte ‚reformistische‘, das heißt unter der Führung der SPD und der Gewerkschaften stehende Arbeiterbewegung dieses Programm mitgetragen hätte.“626 Die „objektiven Voraussetzungen für eine ‚soziale Demokratie‘“ seien vorhanden gewesen.627 Oertzens Beitrag wurde Mitte der Achtzigerjahre weder in Fachkreisen noch gar in einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen. Es war, anders als zwei Jahrzehnte zuvor, nicht mehr die Zeit, in der Gedanken sozialistischer Theoretiker Aufmerksamkeit fanden. Dies galt ähnlich für Politikwissenschaftler und Historiker, die ausgesprochene Nähe zur DDR-Geschichtswissenschaft pflegten. Hatten Sie noch in den Siebzigerjahren eine intensive Debatte über deutsche Gewerkschaftsgeschichte ausgelöst, so war Mitte der Achtzigerjahre selbst Reinhard Kühnls Rowohlt-Taschenbuch über „Die Weimarer Republik“ lediglich Ausdruck einer historisch-politikwissenschaftlichen Subkultur.628 In der politischen Erinnerungskultur spielte die Revolution von 1918/19 in den späten Siebziger- und den Achtzigerjahren keine bemerkenswerte Rolle. War zum fünfzigsten Jahrestag 1968 eine regelrechte Revolutionswelle in den Medien zu beobachten, so stand dem 1978 allenfalls eine sanft gekräuselte Oberfläche gegenüber. Keine mehrteiligen Serien, allenfalls knappe Erinnerungsartikel. Meist wurde an die Ereignisse vor sechzig Jahren gar nicht erinnert. Am intensivsten hielt man in der sozialdemokratischen Kultur die Erinnerung wach und deutete die Revolution dabei als verpasste Chance der Demokratisierung. Willy Brandt schrieb als Parteivorsitzen-

623 Zit. nach: Oertzen: Arbeiterbewegung, Arbeiterräte und Arbeiterbewußtsein in der Deutschen Revolution 1918/19, 2008, (wie Anm. 618), hier 73. 624 Arthur Rosenberg: Zum 9. November (1918), in: Ders.: Demokratie und Klassenkampf. Ausgewählte Studien, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1974, S. 209–216, hier 214. 625 Oertzen: Arbeiterbewegung, Arbeiterräte und Arbeiterbewußtsein in der Deutschen Revolution 1918/19, 2008, (wie Anm. 618), hier 94. 626 Ebenda, 94. 627 Ebenda, 96. 628 Reinhard Kühnl: Die Weimarer Republik. Errichtung, Machtstruktur und Zerstörung einer Demokratie (rororo aktuell 5540), Reinbek 1985.

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der im „Vorwärts“ am 9. November 1978 von einer „verfehlten Revolution“.629 Zehn Jahre später kritisierte er als Ehrenvorsitzender der SPD in einem Berliner Vortrag „das wegen ihrer Bolschewismusfurcht allzu vorsichtige Vorgehen der Parteispitze um Ebert gegen überkommene, ja ‚reaktionäre‘ Macht- und Gesellschaftsstrukturen.“630 Der Gedenkartikel im „Vorwärts“ stammte 1988 von Susanne Miller, die von einer „versagenden Revolution“ sprach und die „versäumten Möglichkeiten 1918/19“ in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellte.631 Im Vordergrund aber standen Ende der Achtzigerjahre andere Themen, wie auch Eckhard Jesse durchaus mit Genugtuung vermerkte: „Die hektische Publikationsflut Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre ist längst abgeebbt. Bezeichnenderweise kam Ende des Jahres 1988 zum 9. November 1918 lediglich ein winziger Teil der dem 9. November 1938 gewidmeten Erinnerungsartikel heraus. Dies dürfte einerseits zum Teil an der forciert betriebenen Vergangenheitsbewältigung im Zusammenhang mit der 50. Wiederkehr des Jahrestages der ‚Reichskristallnacht‘ liegen, andererseits aber auch das nachlassende Interesse an den Ereignissen 1918/19 dokumentieren.“632 Zu einer spezifischen geschichtspolitischen Auseinandersetzung über die Revolution 1918/19 kam es in den Achtziger Jahren in Berlin. Ausgelöst wurde die Debatte Ende 1986 durch einen Aufruf des SPD-Landesgeschäftsführers Hans Kremendahl zur Beteiligung an einer Gedenkveranstaltung zu Ehren Luxemburgs und Liebknechts. Eine Gruppe von Sozialdemokraten um den ehemaligen Regierenden Bürgermeister Dietrich Stobbe verfasste daraufhin ein Diskussionspapier, in dem sie gegen die „Legende von einer demokratisch-sozialistischen Theorie und Politik Rosa Luxemburgs“ zu Felde zog. Bei aller Distanz Luxemburgs zum Leninismus/Bolschewismus sei ihre antiparlamentarische, gewerkschafts- und SPD-feindliche Haltung zu bedenken. So müsse man „trotz kritischer Abwägungen in der Kontinuität und Tradition der Politik der SPD in der Novemberrevolution“ auf Distanz zu Rosa Luxemburg bleiben.633 Das Gedenken an Luxemburg und Liebknecht hatte die Stadt seit langem immer wieder sehr kontrovers beschäftigt. 1968 war die Wiedererrichtung des Denkmals gefordert worden, das Mies van der Rohe 1926 auf dem Friedrichsfelder Friedhof erbaut hatte. Das Denkmal, 12 m lang, 4 m tief und 6 m hoch, aus verklinkertem 629 Vorwärts, (9. 11.1978), S. 15f, zit. nach: Alexander Gallus: Die vergessene Revolution von 1918/ 19. Erinnerung und Deutung im Wandel, in: Alexander Gallus (Hg.): Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010, S. 14–38, hier 34. 630 Vgl. ebenda, 35. 631 Vorwärts, (5.11.1988), S. 40f, zit. nach: Gallus: Die vergessene Revolution von 1918/19, 1988, (wie Anm. 629), hier 35. 632 Eckhard Jesse: Friedrich Ebert und das Problem der Handlungsspielräume in der deutschen Revolution 1918/19, in: Rudolf König/Hartmut Soell/Hermann Weber (Hg.): Friedrich Ebert und seine Zeit. Bilanz und Perspektiven der Forschung, München 1990, S. 89–110, hier 91f. 633 Der Tagesspiegel, (19.2.1987), zit. nach: Gallus: Die vergessene Revolution von 1918/19, 2010, (wie Anm. 629), hier 35.

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Eisenbeton und Stahl, war 1933 von den Nationalsozialisten zerstört worden. Der Plan war bereits daran gescheitert, dass Mies van der Rohe seine Zustimmung zur Rekonstruktion des Denkmals verweigerte. Über sein Frühwerk, meinte der damals 82jährige Mies, sei die Zeit hinweggegangen.634 1986 wandte sich dann die Berliner Geschichtswerkstatt an die vier Parteien im Abgeordnetenhaus und forderte, eine neu errichtete Brücke, die offiziell namenlos war, im Volksmund aber Lichtenstein-Brücke genannt wurde, nach Rosa Luxemburg zu benennen. „Nach hitziger Debatte ‚empfahl‘ das Abgeordnetenhaus eine Erinnerungsstätte für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Der Antrag ‚Rosa-Luxemburg-Brücke‘ scheiterte.“635 Am 17. Dezember 1987 wurden schließlich zwei von dem Architektenehepaar Schüler-Witte gestiftete Denkmäler eingeweiht. Aber kaum enthüllt „sind die gußeisernen Gedenkplatten für Rosa Luxemburg und die gemauerte Liebknecht-Säule wiederholten Beschädigungen ausgesetzt. Die Junge Union in Berlin ist ‚für die Entfernung der Gedenkstätte am Landwehrkanal, weil Rosa Luxemburg diese Ehrung in keiner Weise verdient hat.‘“636 In diesem Umfeld bekannte sich ein Gedenkartikel in der SPD-Parteizeitung „Berliner Stimme“ am 5. November 1988 mit Nachdruck zu Luxemburg und zeigte, dass die Debatte um Rosa Luxemburg und die Politik der SPD-Führung in der Revolutionszeit in der SPD keineswegs abgeschlossen war. Der Artikel beklagte „das mangelnde revolutionäre Engagement der eigenen Partei 1918/19, die Chancen ausgelassen und eine ‚SPD-Republik‘ geformt habe, die ‚nichts als Ruhe und Ordnung wollte‘. Rosa Luxemburg wurde dort hingegen zu einer ‚der wenigen historisch-politischen Figuren‘ stilisiert, ‚auf denen sich hierzulande legitimerweise eine demokratische Tradition (mit)begründen ließe‘.“637 Auch vor diesem Hintergrund einer SPD-internen geschichtspolitischen Auseinandersetzung ist zu sehen, dass der damalige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) 1988 „offensiv“ den siebzigsten Jahrestages nutzte, um an die Ausrufung der Republik zu erinnern. In einer Presseerklärung des Berliner Senats teilte er mit, Friedrich Ebert habe nach dem Ende des Ersten Weltkrieges vor der „schicksalhaften Entscheidung“ zwischen westlicher parlamentarischer Demokratie und östlichem Rätesystem gestanden. „Ihm und den anderen Demokraten“, war dort weiter zu lesen, „sei es zu danken, wenn die junge Republik sich nach Westen orientierte, wenn sie die Gewaltenteilung der Diktatur des Proletariats vorzog.“638 Diepgen verband die Deutung der Revolution von 1918/19 als Abwehrkampf gegen das östliche

634 Tatjana Schmolling: Schwierige Erinnerung. Die Auseinandersetzung um ein Denkmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in West-Berlin, in: Revolution und Fotografie. Berlin 1918/19, Berlin 1989, S. 297–299, hier 297f. 635 Ebenda, 299. 636 Ebenda, 297. 637 Stefan Wolle: Rosa Luxemburg, gehaßt und verehrt, in: Berliner Stimme, (5.11.1988), S. 16, zit. nach: Gallus: Die vergessene Revolution von 1918/19, 2010, (wie Anm. 629), hier 35. 638 Zit. nach: Gallus: Die vergessene Revolution von 1918/19, 2010, (wie Anm. 629), hier 36.

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Rätesystem mit einem Bekenntnis zu Friedrich Ebert und setzte damit die SPD an dieser geschichtspolitischen Front unter Druck. Ähnliches ließ sich Ende der Achtzigerjahre auch im wissenschaftlichen Bereich beobachten. Das Ebert-Bild wurde zum Gegenstand einer kleinen „Historikerkontroverse“. Am Anfang stand Peter-Christian Witts „biographischer Versuch“, der sich erklärtermaßen in erster Linie an den interessierten Laien wandte, um öffentliche Debatten, wie sie etwa im Zusammenhang mit einer „Nationalen Gedenkstätte Friedrich-Ebert-Haus“ in Heidelberg stattgefunden hatten, „auf eine rationalere Grundlage zu stellen.“639 Diesem geschichtspolitischen bzw. -pädagogischen Ansatz blieb Witt auch mit einem Artikel treu, der am 11. Februar 1989 im „Vorwärts“ erschien und mit der Titel-Schlagzeile „Historikerstreit um Friedrich Ebert“ versehen war.640 Reinhard Rürup merkte dazu an, er vermöge „bislang einen solchen Streit nirgends zu erkennen“ und deutete Witts Äußerungen als den Versuch, „den hier proklamierten ‚Historikerstreit‘ herbeizuführen“.641 In einem 1989 von der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg durchgeführten Symposium über „Friedrich Ebert und seine Zeit. Bilanz und Perspektiven der Forschung“ wurden die unterschiedlichen Positionen, die natürlich unmittelbar die Deutung der Revolution von 1918/19 betrafen, sehr deutlich. Die Beiträge zu diesem Symposium erschienen im folgenden Jahr in Buchform – herausgegeben von Rudolf König, Hartmut Soell und Hermann Weber. Witt erläuterte in seinem Überblick „Friedrich Ebert: Stadien der Forschung nach 1945“ vor allem auch seine eigene Position. Er sah in Eberts Verhalten während der Revolutionszeit weder Versagen, noch Schwäche oder gar Unfähigkeit, sondern eine kühle politische Strategie: „Denn bei nüchterner Einschätzung der Kriegsfolgelasten mußte ein breiter Konsensus für die Lösung der anstehenden Probleme gefunden werden; wie während des Krieges die Einbindung wenigstens der Mehrheit der Sozialdemokratie für Regierung und bürgerliche Parteien ein unverzichtbares Ziel gewesen war, so wurde enge Kooperation mit den Teilen der bürgerlichen Parteien, der Bürokratie oder der militärischen Führung, die bereit waren, die demokratische Neugestaltung Deutschlands mitzutragen, für Ebert un-

639 Peter Christian Witt: Friedrich Ebert. Parteiführer, Reichskanzler, Volksbeauftragter, Reichspräsident, Bonn 1987, hier 8. 640 Peter-Christian Witt: Größter Staatsmann der SPD, in: Vorwärts, (11.2.1989), S. 31f, zit. nach: Reinhard Rürup: Friedrich Ebert und das Problem der Handlungsspielräume in der deutschen Revolution 1918/19, in: Rudolf König/Hartmut Soell/Hermann Weber (Hg.): Friedrich Ebert und seine Zeit. Bilanz und Perspektiven der Forschung, München 1990, S. 69–87, hier 69. 641 Rürup: Friedrich Ebert und das Problem der Handlungsspielräume in der deutschen Revolution 1918/19, in: Rudolf König/Hartmut Soell/Hermann Weber (Hg.): Friedrich Ebert und seine Zeit. Bilanz und Perspektiven der Forschung, München 1990, S. 69–87, hier 69.

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verzichtbar.“642 Ebert habe zwar fast bis zum Kriegsende verbal an den überkommenen Endzielvorstellungen aus der Vorkriegszeit festgehalten, aber in der Praxis habe er sich bereits dafür entschieden, eine pluralistische Gesellschaftsordnung anzustreben. „Wenn man dieses Urteil akzeptiert, wird deutlich, daß die in der schier unübersehbar gewordenen Literatur zur Novemberrevolution 1918/1919 erhobenen Einwendungen und Angriffe gegen Eberts Politik schlicht ins Leere laufen.“643 Ebert habe den demokratischen, sozialen, parlamentarisch regierten Verfassungsstaat gewollt und sei damit von früheren Vorstellungen abgerückt, aber „liebgewordene Vorstellungen [!] aufzugeben, wenn sich zeigte, daß sie nicht oder nur um einen unvertretbar hohen Preis zu verwirklichen waren, zeichnet nun einmal den verantwortlich handelnden Staatsmann aus.“644 Unabhängig vom Urteil von Historikern und Publizisten sei Eberts politische Konzeption „zukunftsweisend – in diesem Sinne auch politische Phantasie zeigend“ gewesen. In der Forschung zur Geschichte der Revolution und der krisengeschüttelten Anfangsjahre der Weimarer Republik sei mit wenigen Ausnahmen, zu denen die Studien von Susanne Miller und Heinrich August Winkler gehörten, die Konzeption Eberts nicht ernst genommen worden.645 Reinhard Rürup konstatierte in seinem Beitrag mit dem Titel – „Friedrich Ebert und das Problem der Handlungsspielräume in der deutschen Revolution 1918/19“ – „daß es – unter Wissenschaftlern wie Politikern – unterschiedliche und auch extrem gegensätzliche Urteile über das politische Wirken und die historische Bedeutung Friedrich Eberts gibt, aber daran hat sich bisher nichts entzündet, was man mit einigem Recht eine ‚Ebert-Debatte‘ nennen könnte. Es fällt vielmehr auf, daß die vielzitierten Formeln vom ‚Abraham Lincoln der deutschen Geschichte‘ einerseits bis zum ‚Arbeiterverräter‘ andererseits in der Regel völlig unverbunden nebeneinander stehen. Sie sind Bestandteil scharf entgegengesetzter politischer Welt- und Geschichtsbilder, zwischen denen eine fruchtbare Diskussion nur schwer möglich ist.“646 Ebert sei seit den Fünfzigerjahren von Konservativen und Liberalen in einem Maße vereinnahmt worden, wie es zu seinen Lebzeiten ganz undenkbar gewesen sei. „Hier wird er als der große Patriot, der seinem Vaterland unter schwersten persönlichen Opfern diente, als der eigentliche Begründer der parlamentarischen Demokratie in Deutschland und als der würdig-bescheidene, prinzipientreue und kluge Präsident der ersten deutschen Republik nachdrücklich gefeiert. Das positive Ebert-Bild

642 Peter Christian Witt: Friedrich Ebert: Stadien der Forschung nach 1945, in: Rudolf König, Hartmut Soell, Hermann Weber (Hg.): Friedrich Ebert und seine Zeit. Bilanz und Perspektiven der Forschung, München 1990, S. 11–33, hier 29. 643 Ebenda, 29. 644 Ebenda, 29. 645 Ebenda, 29f. 646 Rürup: Friedrich Ebert und das Problem der Handlungsspielräume in der deutschen Revolution 1918/19, 1990 (wie Anm. 641), hier 69.

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des konservativen und liberalen Lagers zeigt einen Politiker, der das Staatsinteresse über die Parteiinteressen stellte, kein ‚Parteimann‘ mehr sein wollte, den Ausgleich auch zwischen den Parteien suchte. Vieles an diesem Bild ist, vor allem soweit es die Meinungen und Absichten Eberts betrifft, richtig, und insofern ist es auch ganz in Ordnung, daß eine parlamentarische, nicht-sozialistische Demokratie wie die Bundesrepublik in Friedrich Ebert einen der Eckpfeiler ihrer politischen Tradition sieht.“647 Auffällig sei allerdings, dass die Meinungen über Ebert innerhalb der deutschen Sozialdemokratie sehr viel weniger einheitlich seien. „Eine uneingeschränkte Zustimmung zu Friedrich Ebert und seiner Politik findet sich im sozialdemokratischen Lager eher selten, und zu einem zentralen Orientierungspunkt sozialdemokratischer Politik ist er sicher nicht geworden.“648 Das beruhe wohl auch darauf, „daß er der sozialdemokratischen Politik eine Richtung gegeben hat, die in ihrem Pragmatismus nicht nur durch ein Mehr an Realitätssinn, sondern auch durch einen Verlust an Veränderungskraft, an beflügelnder Hoffnung, an Utopie bestimmt war.“649 In der neueren historischen Forschung finde die Politik Eberts in der Regel eine differenzierte Würdigung. Vor allem für die Kriegs- und Revolutionszeit sei das Urteil eher kritisch; seine Leistungen und Erfolge würden eher skeptisch beurteilt, die Fehleinschätzungen und Defizite seiner Politik betont. „Die Formel von Ebert als dem ‚größten deutschen Staatsmann, den die deutsche Sozialdemokratie in ihrer über 125jahrigen Geschichte hervorgebracht hat‘, die Peter-Christian Witt gerade jetzt seiner Würdigung Eberts im ‚Vorwärts‘ vorangestellt hat, findet in der neueren Forschung wenig Unterstützung – das gilt auch für seine Tätigkeit als Reichspräsident, vor allem aber für die Revolutionszeit.“650 Von einem „‚Rufmord durch die Historikerzunft‘ an Ebert“, wie Witt behaupte, könne allerdings keine Rede sein. Mit solcher „Diffamierung entgegengesetzter Positionen“ werde „sich gewiß kein Fortschritt in der wissenschaftlichen Diskussion über Friedrich Ebert erzielen lassen.“651 Eckhard Jesses Beitrag mit gleich lautendem Titel – „Friedrich Ebert und das Problem der Handlungsspielräume in der deutschen Revolution 1918/19“ – zielte in seiner Grundstruktur auf die Zurückweisung der Kritik an Ebert, die mit der Deutung der Revolution als verpasste Chance der Demokratisierung verbunden war. Das Urteil, „die Versäumnisse von 1918/19 erleichterten Hitler den Weg zur Macht“, sah er noch immer als „die herrschende Meinung.“652 Ausführlich zitierte er Haffners Verratsvorwürfe gegenüber Ebert, um anschließend festzustellen: „Zugegeben, solche perfiden Urteile sind nicht repräsentativ für die seriöse Forschung gewesen, doch charakteris-

647 Ebenda, 69f. 648 Ebenda, 70. 649 Ebenda, 70f. 650 Ebenda, 71. 651 Ebenda, 71. 652 Jesse: Friedrich Ebert und das Problem der Handlungsspielräume in der deutschen Revolution 1918/19, 1990, (wie Anm. 632), hier 89.

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tisch für den damaligen ‚Zeitgeist‘, dem sich Haffner glänzend anzupassen verstand. Es dauerte bis Ende der siebziger Jahre, ehe die inzwischen ‚herrschende Lehre‘ zwar nicht revidiert, wohl aber modifiziert wurde.“653 Auch in den Achtzigerjahren sei es zu keinem „turning point“ gekommen, „wenngleich die Kritik an Ebert und der Sozialdemokratie heute verhaltener ausfällt als zwei Dezennien zuvor.“654 Im Hinblick auf den Handlungsspielraum der Sozialdemokratie war nach Jesses Überzeugung nur eine Frage angemessen: „Sahen die Akteure 1918/19 eine Alternative zu der von ihnen eingeschlagenen Politik?“655 Es sei wichtig, „den damaligen Bewußtseinshorizont zugrundezulegen, weil man sonst einer unhistorischen ‚Was wäre gewesen, wenn‘ -Perspektive huldigt. Solche Konstruktionen sind aber für den analytisch operierenden Historiker nicht von Belang.“656 Erst nach 1933 und im Rückblick sei die Revolution als verpasste Chance gedeutet worden, behauptete Jesse, ohne Ströbels zeitgenössisches Werk aus dem Jahr 1920 zu erwähnen. Der tatsächliche Befund war nach Jesses Urteil „recht eindeutig“: „Es hat im Jahre 1918/19 entgegen allen Legenden keine ‚verpaßte Chance‘ gegeben. […] Treffender dürfte das Bild von der ‚verhinderten Katastrophe‘ sein, für die ein zugegebenermaßen hoher Preis zu zahlen war“.657 Jesse führte nicht näher aus, was mit „verhinderter Katastrophe“ und was mit „hoher Preis“ gemeint war. Klar aber war in seinen Augen: „Daß die Weimarer Republik scheiterte, hat nichts mit dem Ausgangsjahr 1918/19 und dem – angeblichen – Versagen der Sozialdemokratie zu tun. Zahlreiche andere Faktoren und Bedingungskonstellationen erklären den Aufstieg des Nationalsozialismus weit besser. Die retrospektive Fixierung auf 1933 auch in dieser Frage ist in gewisser Weise für das politische und historische Bewußtsein in der Bundesrepublik bezeichnend – nahezu unabhängig vom Zeitablauf. Insofern dürfte die Beschäftigung mit der Revolution von 1918/19 nicht nur von historiographischem Interesse sein, sondern auch ein Beleg für die Aktualität der mitunter selbstquälerischen Vergangenheitsbewältigung.“658 Der Ebert-Band bestätigte also durchaus Rürups Diagnose, „scharf entgegengesetzter politischer Welt- und Geschichtsbilder, zwischen denen eine fruchtbare Diskussion nur schwer möglich ist“. Dies galt am Ende der Achtzigerjahre für die Urteile über Person und Politik Friedrich Eberts wie für die Deutungen der Revolution von 1918/19. Bei aller Weiterentwicklung der Revolutionsforschung – Winkler sprach im Juni 1989 bei einem Vortrag in Leipzig von einer „Revision der Revision“659 – war eine

653 Ebenda, 90f. 654 Ebenda, 94. 655 Ebenda, 95. 656 Ebenda, 95. 657 Ebenda, 107. 658 Ebenda, 108. 659 Heinrich August Winkler: Die Revolution von 1918/19 und das Problem der Kontinuität in der deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift (HZ) 250 (1990), S. 303–319, hier 304.

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Verständigung zwischen dem „konservativen“ und dem „sozialdemokratischen“ Lager auf ein gemeinsames Bild der Revolution 1918/19 nicht möglich.

Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik um 1980 War zu Beginn der Siebzigerjahre verbreitet eine Krise der Geschichtswissenschaft diagnostiziert und die Frage aufgeworfen worden, warum man sich überhaupt noch mit Geschichte beschäftigen solle, so wendete sich das Blatt im Verlauf eines Jahrzehnts vollkommen. Am augenfälligsten zeigte sich diese Veränderung im Museums- und Ausstellungsbereich, der einen wahren Boom verzeichnen konnte. Im Jahre 1974 hatten erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die historischen Museen mehr Besucher als alle Fußball-Bundesligaspiele der Saison zusammen. Auch die Zahl der Sonderausstellungen nahm in beeindruckender Weise zu. „Zählte man zwischen 1960 und 1965 in der Bundesrepublik, der DDR, Österreich und der Schweiz rund 70 historische Ausstellungen, so waren es im Zeitraum zwischen 1975 und 1980 bereits 600 und in der folgenden Fünfjahresspanne fast 1400.“660 Als die größten Publikumsmagneten erwiesen sich die Stuttgarter Ausstellung „Die Zeit der Staufer“, die im Jahr 1977 700.000 Besucher anzog, und die Berliner Ausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ von 1981 mit 500.000 Besuchern.661 Auch „Tendenzen der zwanziger Jahre“ (Berlin 1977) und „Wittelsbach und Bayern“ (München 1980) waren große Ausstellungserfolge. Diese Konjunktur von Geschichte und Erinnerung war nicht nur ein deutsches Phänomen, sondern „gehört zu den bemerkenswerten Erscheinungen in nahezu allen westlichen Gesellschaften seit dem Ende der siebziger Jahre. Überall kam es zu einer glanzvollen Inszenierung der Kultur, und viele Gesellschaften haben eine Art ‚SelbstArchäologisierung‘ durchlebt. ‚Geschichte‘ stieg zu einer Massenaktivität der Alltagskultur auf.“662 Die neue Faszination der Geschichte zeigte sich als Grundtendenz der kulturellen Entwicklung in ganz unterschiedlichen Formen. In der Bundesrepublik entstanden in Gestalt von Geschichtswerkstätten neue, vor allem lokale Geschichtsbewegungen, die sich vorwiegend mit Alltagsgeschichte beschäftigten. Der von Gustav Heinemann während seiner Präsidentschaft angeregte und von der Körber-Stiftung geförderte Schüler-Wettbewerb deutsche Geschichte fand so vielfältiges Echo an den Schulen – bereits im ersten Jahr beteiligten sich über 5000 Schüler –, dass er schon bald als Pendant zu den naturwissenschaftlichen Wettbewerben „Jugend forscht“ galt. Auch eine florierende „Flohmarkt-Nostalgie“ wies auf ein populäres Interesse an der Ver660 Vgl. Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, (wie Anm. 397), hier 317f. 661 Klaus Große Kracht: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005, hier 168. 662 Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, (wie Anm. 397), hier 316.

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gangenheit hin. Die amerikanische Fernseh-Serie „Holocaust“, die vom 22. bis 26. Januar 1979 im Ersten Deutschen Fernsehen gesendet wurde, entwickelte sich zum herausragenden Medienereignis. Die deutsche Reihe „Heimat“, die Edgar Reitz 1985 inszenierte, war ein großer Publikumserfolg. Die Verlagsproduktion zu historischen Themen wuchs deutlich an. Populäre historische Literatur wurde bestsellerfähig. Eine Fülle biographischer Darstellungen verwies darauf, dass individuelle Geschichten gefragt waren und nicht so sehr komplexe Strukturgeschichte. Auch die Zahl der Tagungen zu historischen Themen nahm zu.663 Eindrucksvoll entwickelte sich die Zahl der Studierenden im Fach Geschichte: Waren es 1969 weniger als 5.000, so lag ihre Zahl 1975 über 14.000, und 1984 waren in der Bundesrepublik mehr als 23.000 Frauen und Männer im Fach Geschichte eingeschrieben.664 Zur Erklärung der neuen Faszination von Geschichte in der Bundesrepublik und in anderen westlichen Gesellschaften sind unterschiedliche Faktoren genannt worden. Edgar Wolfrum verwies auf den „Verlust an utopischen Potentialen“, auf „Fortschrittskritik“ und den „Schwund an Vertrautheit in einer sich rasch verändernden, unwirtlichen Gegenwart“ als wesentliche Gründe. „Das Hauptcharakteristikum des gesamten Geschichtsbooms wurde darin gesehen“, konstatierte er allerdings auch, „daß ein politisches Traditionsbekenntnis fehlte, statt dessen die Geschäftstüchtigkeit der Erinnerungsindustrie im Übermaß vorhanden war.“665 Nach dem Urteil von Wolfgang J. Mommsen entsprang der Trend zunächst „einem ursprünglichen Bedürfnis nach historischer Vergewisserung des eigenen Selbst“.666 Die vorausgegangene Verunsicherung hatte in erster Linie mit gravierenden ökonomischen, politischen und sozialen Veränderungen zu tun. In der Folge der massiven Ölpreiserhöhungen von 1973 kam es zu einer Wirtschaftskrise. Der charismatische Willy Brandt trat als Kanzler zurück, was von vielen als Ende einer Ära wahrgenommen wurde; sein Nachfolger wurde der eher kühle Pragmatiker Helmut Schmidt. Der Terrorismus der RAF ereichte 1977 mit der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und des Sprechers der Dresdner Bank Jürgen Ponto, mit der Entführung und Ermordung von Hanns-Martin Schleyer sowie der Entführung der Lufthansa-Passagiermaschine „Landshut“ seinen Höhepunkt. Zugleich nahmen die ökonomischen Probleme im Zuge der zweiten Ölpreiskrise 1979/80 zu. Weltweit wurde über die Grenzen des Wachstums und die Zukunft der Industriegesellschaften diskutiert. Im Kontrast zu den im Rahmen der KSZE 1975 geschlossenen Vereinbarungen forcierte die Sowjetunion ihre Rüstungsanstrengungen. Auch die Europapolitik kam nicht weiter voran. Von der Aufbruchstimmung der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre war nur noch

663 Vgl. ebenda, 317. 664 Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier 168. 665 Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999 (wie Anm. 397), hier 319. 666 Wolfgang J. Mommsen: Die Deutschen und ihre Nation. Geschichtsschreibung und politisches Bewußtsein in der Bundesrepublik (1987), in: Ders.: Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage, München/Zürich 1990, S. 119–143, hier 125.

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wenig zu spüren. Krisen- und Bedrohungsszenarien beherrschten die öffentliche Debatte, nicht selten mit durchaus hysterischen Zügen und erkennbar geprägt von politischem Kalkül. Keine zehn Jahre nach ‘68 wirkten die Zukunftsentwürfe der Linken unwirklich und überholt. Die Debatte über den politisch-kulturellen Standort der Bundesrepublik wandelte sich grundlegend. Die Zeit der Reformen, des „Mehr Demokratie wagen“ schien abgelaufen. Der Bruch in den Zukunftserwartungen durchzog sämtliche Regierungserklärungen und Parteiprogramme. Er bestimmte zunehmend die öffentliche Debatte. „In einer solchen Situation“, so Hans-Ulrich Wehler, „begann in der Gesellschaft die intensive Suche nach verläßlichem Halt. Sie richtete sich auf die Religion, die neuen Sekten, die sozialen Bewegungen – da gibt es zahlreiche Optionen und Angebote. Sie führte jedoch auch dazu, daß eine wachsende Anzahl von Menschen sich ihrer historischen Herkunft und ihrer historischen Traditionen zu vergewissern strebten, da sie sich davon eine Stabilisierung erhofften.“667 Wehler sah daneben ein zweites Bündel von Motiven in der „Protestreaktion“, die sich gegen Großorganisationen, Großbürokratien, Großtechnologien herausgebildet hatte. „Gegen die Befürchtung oder gegen die Erfahrung, nur mehr als ein winziges, seelenloses Rädchen im Getriebe großer Bürokratien und Unternehmen behandelt zu werde, regte sich ein – zunächst oft unterschätzter – Widerstand, der sich häufig historischer Argumente bediente, um diese Entwicklung in Frage zu stellen, sie des Anscheins der Unaufhaltsamkeit zu entkleiden.“668 In Wehlers Augen hat daher das neue Interesse an Geschichte „einen ambivalenten Charakter“: Einerseits könne es beitragen, „ein kritisches, korrigierendes Verhältnis zur Modernisierung an die Stelle unreflektierter Bewunderung und Unterstützung zu setzen. Auf der anderen Seite regt sich viel falsche Nostalgie und verfälschende Verklärung.“669 Dieses offene, durch das Bedürfnis der Selbstvergewisserung motivierte Interesse an Geschichte traf auf geschichtspolitische Aktivitäten. Jahrelang war über die Geschichtsmüdigkeit und die mangelnde Sozialisation der jüngeren Generation geklagt worden. Hatte Heinemann, durchaus mit dem Ziel, entsprechende Traditionsbildung zu fördern, die Freiheitsbewegungen in den Vordergrund gestellt, gab es nun vorwiegend im konservativen politischen Lager Bestrebungen, „durch eine Belebung des geschichtlichen Denkens und Wissens den Deutschen wieder zu einer eigenen nationalen Identität zu verhelfen, die sie verloren hatten oder doch verloren zu haben schienen.“670 Der Mannheimer Historikertag 1976 bot eine Premiere: Zum ersten Mal

667 Hans-Ulrich Wehler: Das neue Interesse an Geschichte, in: Ders.: Aus der Geschichte lernen? Essays, München 1988, S. 26–33, hier 27. 668 Ebenda, 28f. 669 Ebenda, 29. 670 Wolfgang J. Mommsen: Die Vergangenheit, die nicht vergehen will. Auseinandersetzung oder Schlußstrich? (1987), in: Ders.: Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage, München/Zürich 1990, S. 107–118, hier 114.

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in der Geschichte deutscher Historikertage eröffnete ein Bundespräsident, Walter Scheel, die Versammlung. Nach Wolfrums Urteil stellte dies „ein untrügliches Indiz dafür dar, für wie bedeutsam die Frage nach Geschichte und Geschichtsbewußtsein gehalten wurde“.671 Scheel legte den Historikern nahe, wie es im Bericht der Zeitschrift „Geschichtsdidaktik“ umschrieben wurde, „die nationale Politikgeschichte zu Zwecken der nationalen Identität erneut zum Forschungsgegenstand zu erheben und für ein irgendwie europäisch-verräumtes ‚Geschichtsbild‘ Sorge zu tragen.“672 Bundespräsident Walter Scheel ließ im übrigen nach 1976 keine Gelegenheit aus – sei es bei der Eröffnung von großen historischen Ausstellungen, beim Jubiläum des Germanischen Nationalmuseums, bei Besuchen im Bundesarchiv oder im Institut für Zeitgeschichte –, den Bundesdeutschen das Gefühl für die Notwendigkeit von Geschichte nahe zu bringen, weil er die Bundesrepublik zwischen den altgeprägten Nationen als eine „Technokratie ohne Gedächtnis“ verschwimmen sah. Der von ihm ins Spiel gebrachte Gedanke eines zentralen Museums in Bonn, in dem „der Besucher der Bundeshauptstadt die Geschichte unseres Staates anschauen kann“, mündete in der Ära Kohl in das „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“.673 Zum Hamburger Historikertag wünschte sich die FAZ am 2. Oktober 1978 „wieder ein einigermaßen verbindliches Geschichtsbild“. Doch Helmut Schmidt, der als erster Bundeskanzler die Eröffnungsrede zu einem Historikertag hielt, trat diesem Ansinnen entgegen. Verbindlich sei allein das Grundgesetz, im Übrigen sei toleranter Pluralismus gefordert. Geschichte war unverkennbar auch unmittelbar zum Feld der Politik geworden. Nach Wolfrums Urteil waren die gesamten Siebziger- und Achtzigerjahre eine „Aufeinanderfolge geschichtspolitischer Konflikte, deren Kern die Frage nach dem historischen Ort der Bundesrepublik darstellte.“ Den ersten geschichtspolitischen Akt sah er bereits darin, daß „die sozialliberale Koalition zwischen 1969 und 1974 ihr Bündnis als historische Zäsur überhöhte und die Bundesrepublik in dieser Zeit als die qualitativ höchste Stufe der bisherigen Demokratiegeschichte in Deutschland herauszustellen suchte, indem man sie an die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte anband.“674 Der zweite geschichtspolitische Konflikt sei mit der „Tendenzwende“ seit Mitte der Siebzigerjahre verbunden. „Die Signalwörter: Emanzipation, Fortschritt, kritisches Bewußtsein, Demokratisierung, innere Reformen und Entspannung wurden umfassender Kritik unterzogen. Die linke Theorie und Praxis galt angesichts ausbleibender Erfolge und neuer gesellschaftlicher Bedrohungen als ab-

671 Vgl. Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, (wie Anm. 397), hier 308. 672 Klaus Bergmann/Hans-Jürgen Pandel/Valentine Rothe/Gerda v. Staehr: Ende einer Krise? Anmerkungen zum Deutschen Historikertag 1976 in Mannheim, in: Geschichtsdidaktik 2 (1977), S. 75–84, hier 77. 673 Vgl. Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, (wie Anm. 397), hier: 308. 674 Ebenda, 270f.

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genutzt. Die neue Stimmung im Westen förderte konservatives Denken. ‚Bewahren‘, nicht mehr ‚Verändern‘ sollte nun die erste Bürgertugend sein. Der Terminus ‚Tendenzwende‘ reüssierte in der Folge einer prominent besetzten Tagung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste im November 1974, auf der der Begriff erstmals eine programmatische Verwendung fand.“675 „Tendenzwende“ – wurde zum Schlüsselbegriff, der die Veränderungen der politischen Kultur in dieser Zeitspanne umschrieb, wie der Stuttgarter Politologe Martin Greiffenhagen bereits 1975 in seinem Buch „Freiheit gegen Gleichheit? Zur Tendenzwende in der Bundesrepublik“ festhielt.676 Die bundesdeutschen Konservativen brachen auf der Woge des gewandelten „Zeitgeistes“ zu neuen Ufern auf. In „geschichtslosem Land“, schrieb Michael Stürmer in der Wochenzeitung „Das Parlament“, gewinne die Zukunft, „wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.“677 So stand vor allem der Umgang mit Geschichte im Zentrum des neuen konservativen Diskurses. „Wenn nun von konservativer Seite in der Öffentlichkeit immer nachdrücklicher ‚Mut‘ zu Geschichtsbewußtsein gefordert wurde, so war damit ein nationales anstelle eines angeblich ‚abstrakten‘ freiheitlich-demokratischen gemeint.“678 In der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft, stellte Wolfgang J. Mommsen 1981 fest, schien zumindest streckenweise der Elan, der hinter den Neuansätzen vor allem der Fünfziger- und Sechzigerjahre stand, wieder verloren gegangen zu sein. „Eine gewisse Tendenzwende hat sich, so scheint es, eingestellt, die in einer teilweisen Wiederbelebung von Positionen, die in der Aufbruchstimmung der 60er Jahre als überholt galten, Ausdruck gefunden hat.“ Verbunden sei dies damit, dass „die Richtungskämpfe innerhalb der historischen Wissenschaft neuerdings wieder an Schärfe zugenommen haben.“679 Das hatte sich bereits beim Mannheimer Historikertag 1976 gezeigt. Der Erlanger Historiker Hellmut Diwald forderte in der übergreifenden Sektion „Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein“ in einer programmatischen Rede dazu auf, der Nation ein „einheitliches Geschichtsbild“ zu liefern, das durch seine „Geschlossenheit und Kontur“ den Desintegrationserscheinungen der Gesellschaft entgegenwirken und sie festigen solle. Im Übrigen solle durch ein „geschlossenes Geschichtsbild“ auch der ideologischen Konkurrenz der DDR entgegengetreten werden. Kritiker, etwa Heinrich August Winkler, Ernst Schulin, Jürgen Kocka und Hans Mommsen, wiesen diesen Ansatz zurück und bekannten sich entschieden zur Vielfalt konkurrierender Geschichtsdeutungen und wissenschaftlicher Pluralität. Historiker dürften sich nicht zu

675 Ebenda, 306f. 676 Martin Greiffenhagen: Freiheit gegen Gleichheit? Zur ‚Tendenzwende‘ in der Bundesrepublik, Hamburg 1975. 677 Zit. nach: Mommsen: Die Deutschen und ihre Nation, 1990, (wie Anm. 666), hier 134. 678 Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, (wie Anm. 397), hier: 307. 679 Wolfgang J. Mommsen: Gegenwärtige Tendenzen in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), S. 149–188, hier 149f.

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Geschichtsbildlieferanten degradieren lassen, denn die Geschichte der Historiographie erweise diese Wissenschaft als Bilderstürmerin, die Standbilder zertrümmere und nicht errichte.680 „Hier tauchte erstmals die zentrale Gegenüberstellung auf, die die (Fach-) Öffentlichkeit in der Zukunft polarisieren sollte: einheitlich-affirmatives Geschichtsbild oder demokratisch-kritisches Geschichtsbewußtsein. Zwei Spielarten des allgemeinen Rufes nach mehr Geschichte, eine national-konservative, ‚identitäre‘, und eine liberale, ‚emanzipatorische‘, standen sich gegenüber.“681 Als Gesamteindruck nach Mannheim diagnostizierte die Zeitschrift „Geschichtsdidaktik“ eine „tendenzwendige Lust am Anachronismus“682 und Peter W. Reuter sah „die neuerliche Präsentation einer rechten Pluralismuskritik“ als „Kennzeichen des neu artikulierten Selbstverständnisses der westdeutschen Geschichtswissenschaft.“683 Mit dem Mannheimer Historikertag und seiner Debatte über das „Geschichtsbild“ wurden – scheinbar zunächst vor allem methodische – Konflikte deutlicher, die bereits seit einiger Zeit in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft schwelten. Andreas Hillgruber hatte schon auf dem Regensburger Historikertag von 1972 vor einem „vom studentischen Zeitgeist getragenen ‚Überwuchern‘ der Politikgeschichte durch das gesellschaftsgeschichtliche Modell“ gewarnt.684 Wehler dagegen unterstrich die „emanzipatorische Aufgabe“ einer Geschichtswissenschaft, die sich als historische Sozialwissenschaft verstand. Ihre Aufgabe, hieß es in Wehlers Einleitung zu seinem Buch „Das Deutsche Kaiserreich“ von 1973, „besteht dann darin, ideologiekritisch den Nebel mitgeschleppter Legenden zu durchstoßen und stereotype Mißverständnisse aufzulösen, die Folgen von getroffenen oder die sozialen Kosten von unterlassenen Entscheidungen scharf herauszuarbeiten und somit für unsere Lebenspraxis die Chancen rationaler Orientierung zu vermehren, sie in den Horizont sorgfältig überprüfter historischer Erfahrungen einzubetten.“685 Nipperdey bezog in einer Rezension des Wehler-Buches Position gegen diese „emanzipatorische“ Geschichtswissenschaft. „Die immer neue Entlarvung der Groß- und Urgroßväter (nicht als Personen, aber als Gruppen und Klassen), der unermüdliche Prozeß gegen sie […], in dem der Historiker Ankläger und Richter und Gesetzgeber in einer Person ist, ist immer noch die große Sache“, urteilte Nipperdey und stellte Wehler in die Tradition eines preußisch-nationalistischen Treitschke.686 Nipperdeys Rezension erschien erst-

680 Vgl. Karl Dietrich Erdmann: Die Frage nach dem „Geschichtsbild“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 28 (1977), S. 157–159, hier 159. 681 Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, (wie Anm. 397), hier: 308. 682 Bergmann et al.: Ende einer Krise?, 1977 (wie Anm. 672), hier 77. 683 Peter W. Reuter: Kongreßbericht 31. Historikertag. Mannheim, 22.–26. September 1976, in: Das Argument 19 (1977), S. 393–394, hier 393. 684 Zit. nach: Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier: 87. 685 Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973, hier 12. 686 Thomas Nipperdey: Wehlers Kaiserreich. Eine kritische Auseinandersetzung, in: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1976, S. 360–389, hier 364.

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mals 1975 im ersten Jahrgang von „Geschichte und Gesellschaft“, und die Bielefelder Schule um Wehler, Kocka und W.J. Mommsen demonstrierte damit ihre Offenheit und ihre Bereitschaft zum wissenschaftlichen Dialog.687 Im selben Jahr sprach sich Wehler konsequent, aber für Traditionalisten durchaus provozierend gegen eine methodische Bevorzugung der Politikgeschichte aus, die er lediglich als „Teildisziplin von Gesellschaftsgeschichte“ gelten lassen wollte.688 Klaus Hildebrand prangerte daraufhin Wehlers Modell der Gesellschaftsgeschichte „als einen neuen politisch links orientierten ‚Herrschaftsanspruch‘ in der deutschen Geschichtswissenschaft“ an.689 Er machte damit zugleich deutlich, dass es keineswegs nur um einen Methodenstreit ging. Zurecht stellte Klaus Große Kracht im nachhinein fest: „Im Streit um die Reichweite des gesellschaftsgeschichtlichen Ansatzes zeichnete sich Mitte der siebziger Jahre eine deutliche Lagerbildung ab, die den Frontverlauf des zehn Jahre später erbittert geführten ‚Historikerstreits‘ bereits vorkonturierte.“690 Hellmut Diwald veröffentlichte 1978 seine „Geschichte der Deutschen“,691 die auch deshalb für Aufsehen sorgte, weil Diwald den stärksten Bruch in der deutschen Geschichte ins Jahr 1945 datierte – aber nicht etwa, weil hier Krieg und Nationalsozialismus am Ende waren, sondern weil durch die Umerziehungspolitik der Siegermächte das deutsche Geschichtsbewusstsein zerstört und die historischen Traditionen Deutschlands moralisch entwertet worden seien. Diwald lieferte mit seinem Buch „die erste – von einem angesehenen Verlagshaus (Propyläen) herausgegebene – revisionistische Beschönigung des ‚Dritten Reiches‘, die man bis dahin nur aus neonazistischen Konventikelschriften gekannt hatte.“692 Auch die geschichtspolitischen Debatten um „Identität“, die in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre geführt wurden, erscheinen in der Rückschau als Vorläufer des ‚Historikerstreits‘ von 1986/87. Der zuvor kaum in historischem Kontext verwendete Begriff „Identität“ wurde als Schlagwort „Emanzipation“ entgegengesetzt, der „Freiheitsdiskurs“ der frühen sozialliberalen Ära wurde durch einen „Identitätsdiskurs“ verdrängt. Der Geschichtsschreibung wurde in diesem Zusammenhang die Aufgabe zugewiesen, nationale Identitäten zu veranschaulichen – so beispielsweise der neokonservative, zuvor der SPD angehörende Philosoph und Politologe Her-

687 Vgl. Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier: 85. 688 Hans-Ulrich Wehler: Moderne Politikgeschichte oder „Große Politik der Kabinette“, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 344–369, hier 369. 689 Klaus Hildebrand: Geschichte oder „Gesellschaftsgeschichte“? Die Notwendigkeit einer politischen Geschichtsschreibung von den internationalen Beziehungen, in: Historische Zeitschrift (HZ) 223 (1976), S. 328–357, hier 335. 690 Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier: 88. 691 Hellmut Diwald: Geschichte der Deutschen, Frankfurt am Main 1978. 692 Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999 (wie Anm. 397), hier 449 Anm.20.

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mann Lübbe im September 1976 in einer Rede „Zur Identitätspräsentationsfunktion von Historie“.693 In dem von ihm herausgegebenen Doppelband „Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘“ suchte Jürgen Habermas nicht nur den verschiedenen Facetten der Tendenzwende auf die Spur zu kommen, sondern zugleich eine Gegenbewegung zu organisieren. In seiner Einleitung hob er hervor, dass er hinter den Einzelphänomenen einen gezielten und strategisch durchdachten Angriff auf die liberal-emanzipatorischen Tendenzen der vorangegangenen Jahre sah. Die „Tendenzschriftsteller“ erklärten mittlerweile offensiv „ihr Interesse an der Besetzung von Wortfeldern, an Benennungsstrategie, an der Rückeroberung von Definitionsgewalten, kurz, an Ideologieplanung mit Mitteln der Sprachpolitik“.694Aus den Reihen der Historiker beteiligten sich Wehler sowie Hans und Wolfgang J. Mommsen an der Publikation. Wehler kritisierte namentlich Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand und Michael Stürmer. Hans Mommsen prangerte den Versuch Ernst Noltes an, den Holocaust „mit äußerlich vergleichbaren Fällen von bewußtem Genozid in Verbindung zu bringen“.695 Nolte hatte schon 1974 in seinem Buch „Deutschland und der Kalte Krieg“ von einer „Pluralität der Hitlerzeit“696 gesprochen und den Ursprung der nationalsozialistischen Verbrechen nach Osten verlegt: „Daß die Politik der systematischen Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen nach rein sozialen und von individueller Zurechnung abstrahierenden Kriterien zuerst in Sowjetrußland postuliert und praktiziert worden“ sei, lasse „sich schlechterdings nicht leugnen“.697 Noltes Aussagen waren in Fachkreisen heftig kritisiert worden, doch er spitzte seine Argumentation im Verlauf der folgenden Jahre immer weiter zu. Am 25. November 1978 wandte er sich in der FAZ dezidiert gegen angebliche „Frageverbote“, die die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung in Deutschland behinderten. Am 24. Juli 1980 erläuterte er wiederum in der FAZ seine Position zum Holocaust: „Auschwitz resultierte nicht in erster Linie aus dem überlieferten Antisemitismus und war im Kern nicht ein bloßer ‚Völkermord‘, sondern es handelte sich vor allem um die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der russischen Revolution.“698 Äußerungen Noltes an anderer Stelle war zu entnehmen war, dass seines Erachtens in Europa eine Gegenbewegung zum Bolschewismus entstehen „musste“, wie er selbst ausdrücklich hervorhob. Dies wies „dem nationalsozialistischen Vernichtungswahn

693 Hermann Lübbe: Zur Identitätspräsentationsfunktion von Historie, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.): Identität, München 1977, S. 277–292. 694 Jürgen Habermas: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“, Frankfurt am Main 1979, S. 7–35, hier 21. 695 Hans Mommsen: Die Last der Vergangenheit, in: Jürgen Habermas (Hg.): Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“, Frankfurt am Main 1979, S. 164–184, hier 177. 696 Ernst Nolte: Deutschland und der Kalte Krieg, München 1974, hier 601. 697 Ebenda, 119. 698 Zit. nach: Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier: 94.

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letztendlich den Stellenwert einer unvermeidlichen Konsequenz aus dem sozialrevolutionären Projekt der russischen Revolution zu“.699 Der historische Ort des Nationalsozialismus wurde nach und nach zum Drehund Angelpunkt der Auseinandersetzungen. Es sei „ein sich stillschweigend, aber mit bemerkenswerter Stetigkeit vollziehender Paradigmawechsel“ festzustellen, erklärte Wolfgang J. Mommsen 1981. „Bislang war ein großer Teil der historischen Forschung der Bundesrepublik nicht nur im Bereich der neueren und der neuesten Geschichte direkt oder indirekt von der Fragestellung beherrscht, wie es denn zum Jahre 1933 oder, genereller, zur Machtergreifung der Faschismen in Europa, hat kommen können. […] Zunehmend aber wird fraglich, ob die ‚Vorgeschichte‘ des Nationalsozialismus, bei aller Berechtigung, weiterhin das herrschende Paradigma historischer Forschung und Lehre in der Bundesrepublik bleiben wird.“700 Zugleich stellte er „mit einiger Besorgnis“ fest, „daß im Zuge der ‚Tendenzwende‘ zu konservativeren Positionen stellenweise innerhalb der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik vielfach eine dogmatische Verhärtung der Positionen eingetreten ist, die in einem bemerkenswerten Kontrast zu der Aufbruchstimmung der 50er und 60er Jahre steht.“701 Mangelnde Dialogbereitschaft der neokonservativen Seite habe dazu geführt, dass „sich die gegenwärtigen Hauptrichtungen vielfach in ihren universitären Festungen verschanzt haben und von dort aus bittere polemische Kriege gegeneinander führen.“702 Noch aber handelte es sich dabei um fachinterne Auseinandersetzungen. Über die FAZ wurden Noltes Thesen zwar spätestens 1980 einem breiteren Publikum bekannt, aber erst Mitte der Achtzigerjahre entwickelten sie sich zum öffentlichen Skandalthema. Klaus Große Kracht vermutete, dass dies an den inzwischen eingetretenen Veränderungen der kulturpolitischen Situation lag: „Was um 1980 noch als spekulative Marotte eines geschichtsphilosophischen Außenseiters der Zunft hätte abgetan werden können, wurde nun als ein alarmierendes ‚Signum der Zeit‘ wahrgenommen, das auf einen Wandel innerhalb der erinnerungspolitischen Lage der Bundesrepublik hinzuweisen schien.“703 Vorausgegangen war inzwischen die große Preußenrenaissance zu Beginn der Achtzigerjahre, die Wolfrum als „einen signifikanten Wendepunkt“ deutete.704 Nach Wolfgang J. Mommsens Überzeugung konnte die „so überraschend aufgeflammte Begeisterung für Preußen“ durchaus als ein Symptom dafür gewertet werden, „daß konservative Orientierungsmuster wieder gute Chancen

699 Ebenda, 95. 700 Mommsen: Gegenwärtige Tendenzen in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik 1981 (wie Anm. 679), hier 181. 701 Ebenda, 179. 702 Ebenda, 188. 703 Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier: 95f. 704 Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999 (wie Anm. 397), hier: 271.

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haben.“705 Das Erwachen der Deutschen „aus ihrer selbstgewählten partiellen Geschichtslosigkeit“706 schien jedenfalls dem konservativen politischen Lager ideale Anknüpfungsmöglichkeiten zu bieten, um daraus politisches Kapital zu schlagen – zumal in einer sich rapide verändernden politischen Lage. Im Herbst 1982 verließ die FDP die Koalition mit den Sozialdemokraten und bildete mit der Union eine christlich-liberalen Koalition, die ihre Amtsgeschäfte mit dem Anspruch aufnahm, eine grundlegende politische wie auch „geistig-moralische Wende“ einzuleiten. Die neue Bundesregierung schrieb in diesem Zusammenhang geschichtspolitischen Aktivitäten große Bedeutung zu. Zu den ersten gehörte, dass bereits 1983 der 17. Juni wieder in traditioneller Form begangen wurde. Besonders massenwirksam waren die symbolischen Erinnerungsgesten und der namentlich von Bundeskanzler Helmut Kohl initiierte geschichtspolitische Diskurs; beides zielte auf einen neuen Umgang der Deutschen mit ihrer jüngsten Vergangenheit ab. Am 25. Januar 1984 sprach der Kanzler in der israelischen Knesset von der „Gnade der späten Geburt“, und versuchte damit die Last der NS-Vergangenheit mit dem Verweis auf das Nachwachsen einer neuen, unbelasteten Generation in Deutschland sowie der Betonung der deutsch-israelischen Freundschaft zu relativieren. Bei manchem Beobachter erweckte Kohl den Eindruck, dass er als erster Kanzler aus der Generation nach Hitler einen Schlussstrich unter dieses Kapitel der deutschen Geschichte ziehen wolle. „Diese Vermutungen schienen sich zu bestätigen, als Kohl aus Anlass des 40. Jahrestages der Kapitulation eine öffentliche Versöhnungsgeste zwischen sich und dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg inszenierte und auch noch an dem Plan festhielt, als bekannt wurde, dass dort neben Wehrmachtssoldaten auch Angehörige der Waffen-SS lagen, was vor allem in den USA heftige Proteste gegen die geplante Zeremonie hervorrief.“707 Habermas nannte diese Symbolpolitik in der „Zeit“ vom 17. Mai 1985 den Versuch einer „Entsorgung der Vergangenheit“. Offensichtlich ging es dem Kanzler und seinen Beratern darum, den Besuch Reagans dazu zu nutzen, die Bundesrepublik in den Stand eines „normalen“ Staates zu heben. Im Ergebnis, so Wolfrums Urteil, habe sich dieses geschichtspolitische Unterfangen als kontraproduktiv erwiesen. „Die Bitburg-Affäre löste geradezu einen erneuten Thematisierungsschub zur NS-Vergangenheit aus; weltweit und zumal in der Bundesrepublik stellten sich Fragen nach der Qualität der deutschen Vergangenheitsbewältigung nun wieder brennender.“708 Hilf-

705 Wolfgang J. Mommsen: Wandlungen der nationalen Identität der Deutschen (1983), in: Ders.: Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage, München/Zürich 1990, S. 55–86, hier 72. 706 Wolfgang J. Mommsen: Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage, München/Zürich 1990, hier 197. 707 Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier 96. 708 Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, (wie Anm. 397), hier: 340.

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reich für die internationale Stimmung war dagegen zweifellos, dass Bundespräsident Richard v. Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai klare und angemessene Worte fand, wenn er den 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ auch für die Deutschen nannte. Es sei ermutigend, formulierte Karl-Ernst Jeismann, dass der Bundespräsident „ein Zeichen des Geschichtsbewußtseins gesetzt hat, das die billige Polarisierung und die vage Harmonisierung hinter sich läßt.“709 Auch andere Facetten ihrer geschichtspolitischen Offensive entwickelten sich nicht so, wie die Regierung das wohl angestrebt hatte. Schon in seiner Regierungserklärung hatte Helmut Kohl die Absicht geäußert, ein „Haus der Geschichte der Bundesrepublik“ in Bonn gründen zu wollen. Das irritierte in doppelter Weise: auf der einen Seite, weil angesichts der angestrebten geistig-moralischen Wende mancher Kritiker den Verdacht hegte, hier werde das dazu passende Geschichtsbild regierungsamtlich geliefert, auf der anderen, weil befürchtet wurde, man verliere durch ein „Haus der Geschichte der Bundesrepublik“ die nationalstaatliche Perspektive aus dem Auge. Auch um solche Sorge zu entkräften, kündigte der Kanzler auf dem Historikertag 1984 an, zusätzlich zum Bonner Haus ein großes nationalhistorisches Museum in Berlin errichten zu wollen, das Berlin zur 750-Jahr-Feier 1987 als Geschenk übergeben werden sollte. Doch die Berliner hatten andere Pläne. Vor allem sahen nun erst recht viele Kritiker in Kohls Plänen „den Versuch, ein regierungsamtliches Bild der deutschen Nationalgeschichte von oben statuieren zu wollen.“710 So kritisierte beispielsweise Hans Mommsen das Museumsprojekt als Versuch einer „künstlichen Identitätsstiftung“, um über den Weg eines verordneten Geschichtsbildes einen „neuen historischen Konsens“ zu verordnen.711 Auch sein Bruder Wolfgang kritisierte „eine zunehmende Tendenz, sich des historischen Bewußtseins zu politischen Zwecken zu bedienen.“ Die mit großer Leidenschaft geführte Kontroverse über die Museumspläne der Bundesregierung weise darauf hin, dass hier grundlegende Bewertungsprobleme ins Spiel kämen. „Im Regierungslager wird von solchen Projekten eine Stärkung des Identitätsbewußtseins der Bürger der Bundesrepublik erhofft. Umgekehrt besteht im Lager der Opposition die Besorgnis, daß damit der Versuch der Festschreibung eines einseitig nationalkonservativen Geschichtsbildes verbunden sei.“712 Die Diskussion über die Museumspläne spitzte sich im Frühsommer 1986 zu und beherrschte im Juni die hochrangig besetzten Frankfurter „Römerberggespräche“ zum Thema „Politische Kultur – heute?“. Als Referenten waren Hans und Wolfgang J. Mommsen beteiligt sowie Michael Stürmer und Jürgen Habermas. Nicht anwesend

709 Karl-Ernst Jeismann: „Identität“ statt „Emanzipation“? Zum Geschichtsbewußtsein in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1986), H. 20/21, S. 3–16, hier 15f. 710 Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier: 98. 711 Hans Mommsen: Verordnete Geschichtsbilder. Historische Museumspläne der Bundesregierung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 37 (1986), S. 13–24, hier 13f. 712 Mommsen: Die Deutschen und ihre Nation, 1990, (wie Anm. 666), hier 123.

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war Ernst Nolte, der zunächst eingeladen worden war. „Unklarheiten in der Absprache mit den Veranstaltern“, so Große Kracht, hatten im Vorfeld dazu geführt, dass das Nolte genannte Vortragsthema „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ an Wolfgang J. Mommsen vergeben wurde, woraufhin Nolte seine Teilnahme brüskiert absagte und statt dessen seine Rede in der FAZ am 6. Juni 1986 veröffentlichte: „Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte“. Nolte wiederholte in seiner Rede seine bereits an anderen Stellen geäußerte Position und meinte, folgende Frage müsse „als zulässig, ja unvermeidbar erscheinen“: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel GULag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten? (…) Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit her, die nicht vergehen wollte?“713 Angesichts dieses Artikels erklärte Habermas noch im Verlauf der Römerberggespräche, Nolte gehe es nicht mehr nur um Sinnstiftung und Stärkung nationaler Identität. Hier sei ein „qualitativer Sprung“ in der „Bearbeitung unseres Geschichtsbewusstseins“ erreicht.714 In der „Zeit“ vom 11. Juli 1986 kritisierte Habermas generalisierend „die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung“. Habermas verwies dabei auch auf einen englischsprachigen Beitrag Noltes, in dem der sich auf Argumentationen des Holocaust-Leugners David Irving stützte, und er machte deutlich, dass er Nolte nicht als völlig isolierten Außenseiter sah. Stürmer habe sich während der Römerberggespräche mit Nolte solidarisiert, Hildebrand habe Noltes neuesten Arbeiten unkritisch Anerkennung gezollt, und auch Andreas Hillgruber sei nun in diesem Zusammenhang zu nennen. 1986 war eine kleine Schrift Hillgrubers mit dem Titel „Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums“ erschienen. Darin behandelte er in zwei Beiträgen unterschiedlicher Länge und Diktion die beiden angesprochenen Themenkomplexe, wobei der sicher nicht ohne Hillgrubers Zustimmung gewählte Titel der Schrift nahezuliegen schien, die „Zerschlagung“ des Deutschen Reiches sei ein mit größerer Gewalt verbundener Vorgang als das „Ende“ des europäischen Judentums. In seinem Vorwort stellte Hillgruber den Mord an den europäischen Juden völlig auf eine Stufe mit der „Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa“ und der „Zertrümmerung des preußisch-deutschen Reiches 1944/ 45“, wenn er die Ereignisse „zwei nationale Katastrophen“ nannte, „deren Nachwirkungen voraussichtlich noch mehrere Generationen nicht nur der unmittelbar betroffenen Nationen, sondern aller Europäer direkt oder indirekt zu tragen haben

713 Zit. nach: Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier: 100. 714 Zit. nach: Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier: 101.

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werden“.715 Auch durch seine Kritik an der Rede des Bundespräsidenten zum 40. Jahrestag des Kriegsendes hatte Hillgruber das Misstrauen von Habermas gestärkt – für die Nation als Ganzes, hatte Hildebrand geurteilt, könne man den 8. Mai 1945 nicht als „Tag der Befreiung“ bezeichnen.716 Habermas‘ Essay war, wie Große Kracht formulierte, „mehr als nur eine ‚Kampfansage‘, er war zugleich bereits der Höhepunkt des ‚Historikerstreits‘ der Jahre 1986/87. Wie kein zweiter Text hat er die Frontlinien gezogen und die Wahrnehmung strukturiert, so daß bisweilen sogar von einer ‚Habermas-Kontroverse‘ gesprochen wurde. In der Tat erreichte Habermas durch seine öffentliche Intervention, was in den schwelenden Debatten über die ‚Tendenzwende‘, über ‚Bitburg‘ und das Museumsprojekt in Berlin bislang unterblieben war: die Konstruktion des Gegners.“717 Was später als „Historikerstreit“ bezeichnet wurde, spielte sich im Sommer und Herbst des Jahres 1986 zunächst vor allem als eine polemische Schlacht wechselseitiger Unterstellungen in den Leserbriefspalten der großen Tages- und Wochenzeitungen ab. Fachzeitschriften spielten in der Debatte, in der nach dem Urteil von Große Kracht „persönliche Anfeindungen zunehmend wichtiger erschienen als der Austausch sachlicher Argumente“, kaum eine Rolle: „So war der ‚Historikerstreit‘ im Grunde weniger ein Streit unter Historikern, in dem es um die Klärung sachlicher Fragen ging, als vielmehr ein Kampf um die publizistische Deutungshoheit über die jüngste Vergangenheit“.718 Auf Habermas‘ Seite fochten insbesondere Kocka, Winkler und die Mommsens, auf der Gegenseite neben Nolte, Stürmer, Hildebrand und Hillgruber auch Hagen Schulze und Thomas Nipperdey. Die wissenschaftliche Lagerbildung, die durch die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern einer linksliberal ausgerichteten „historischen Sozialwissenschaft“ und ihren fachlich und hochschulpolitisch konservativ orientierten Gegenspielern seit den frühen siebziger Jahren vorgezeichnet war, wurde im „Historikerstreit“ befestigt und politisiert. Der öffentliche Charakter des Streits ermunterte die interessierte Politik zu Wortmeldungen. Aus dem konservativen Lager war zu hören, nun müsse dem Abbau von Wertetraditionen abendländischer, christlicher und nationaler Überlieferung ein Ende gesetzt werden, es gelte das nationale Erbe zu rehabilitieren und die Störung des deutschen Nationalbewusstseins zu beheben.719 Eine „Entkriminalisierung“ der deutschen Geschichte sowie ein Ende der Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche „Dauerbüßeraufgabe“ wurde als die notwendige Voraussetzung eines neuen Patriotismus postuliert. Im Zeichen einer verstehenden Geschichtsschreibung wurde

715 Andreas Hillgruber: Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums, Berlin 1986, hier 9. 716 Zit. nach: Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier: 104. 717 Ebenda, 104f. 718 Ebenda, 107f. 719 Vgl. Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, (wie Anm. 397), hier: 327.

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„mehr Gerechtigkeit für unsere Väter und Großväter“ (Nipperdey) gefordert.720 Die Deutschen sollten „mehr aufrechten Gang“ praktizieren, forderte Franz Josef Strauß in einer Rede, die er im Juni 1987 in der Freiheitshalle in Hof hielt,721 und der Generalsekretär des Bundes der Vertriebenen Hartmut Koschyk betonte, die deutsche Geschichte sei kein „Verbrecheralbum“.722 Die Forderung nach einem „Schlussstrich“ kam in Mode. Eine repräsentative Umfrage des Allensbacher Instituts kam zu dem Ergebnis, dass zwei Drittel der Bürger der Bundesrepublik nichts mehr von den Verbrechen der Nazizeit hören und unter diese Vergangenheit einen Schlussstrich ziehen möchten.723 Es entwickelte sich eine heftige Auseinandersetzung über die Rolle Adolf Hitlers innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, hinter der Wolfgang J. Mommsen unmittelbar geschichtspolitische Interessen vermutete: „Die zentrale Funktion des Führers in allen entscheidenden Fragen, so namentlich der Politik der Judenvernichtung, wurde vielfach deshalb betont, um […] die Verantwortung der deutschen Nation für die schrecklichen Geschehnisse während der nationalsozialistischen Ära in jenen Grenzen zu halten, die die Strategie der Neubelebung eines deutschen bzw. eines bundesrepublikanischen nationalen Bewußtseins aussichtsreich erscheinen ließen.“724 Parallel dazu wurde von konservativer Seite auch wieder neu über den Ersten Weltkrieg nachgedacht, und dabei, so Helmut Böhme, „gewann die alte, die machtpolitisch-argumentierende Tradition wieder deutlich an Boden. ‚Machtpolitik‘ als Geschichte und als Schicksal des ‚Landes der Mitte‘ ist wieder gefordert. Geopolitisches, Geohistorisches und die Wiederkehr des Raumes erhalten wieder Platz zur politisch-historischen Ortsbestimmung, geben Hilfestellung zur politischen Orientierung. Es soll offensichtlich wieder glaubhaft gemacht werden, daß neuzeitliche deutsche Politik letztlich doch immer defensiv gewesen sei.“725 Auch Klaus Hildebrand und Gregor Schöllgen hatten sich zur Julikrise und zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs geäußert und dabei, wie Wolfgang J. Mommsen urteilte, „die überwiegende Verantwortlichkeit der kaiserlichen Regierung für die Auslösung des Ersten Weltkriegs nahezu totgeschwiegen. Die deutsche Politik in der Julikrise 1914 sei, so heißt es statt dessen, primär von defensiven Momenten gestimmt gewesen. Dies geschieht

720 Vgl. Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Welche Vergangenheit hat unsere Zukunft? Anmerkungen zum „Historikerstreit“ (1987), in: Ders.: Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage, München/Zürich 1990, S. 145–164, hier 157. 721 Frankfurter Rundschau, (14.6.1987), zit. nach: Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999 (wie Anm. 397), hier 333. 722 Die Welt, (17.11.1987), zit. nach: Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, (wie Anm. 397), hier 333. 723 Mommsen: Die Deutschen und ihre Nation, 1990, (wie Anm. 666), hier 143. 724 Ebenda, 128f. 725 Helmut Böhme: „Primat“ und „Paragidma“. Zur Entwicklung einer bundesdeutschen Zeitgeschichtsschreibung am Beispiel des Ersten Weltkrieges, in: Hartmut Lehmann (Hg.): Historikerkontroversen, Göttingen 2000, S. 87–139, hier 135f.

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ungeachtet des erdrückenden Materials, das Fritz Fischer sowie andere beigebracht haben“.726 In Stürmers Stellungnahme anlässlich der Römerberggespräche am 7. Juni 1986 habe selbst „die These, die zur Vergiftung einer sachlichen Politik in der Weimarer Zeit mehr als alles andere beigetragen hat, daß nämlich Versailles als ein ‚tödlicher Fehler der Alliierten‘ zu werten sei, eine Wiederbelebung erfahren.“727 In Wolfgang J. Mommsens Augen zielten die neuen Interpretationen „darauf ab, die Frontlinie der Kritik an der jüngeren deutschen Vergangenheit so weit zurückzunehmen, daß dem allgemeinen Publikum wieder eine unbefangene oder doch wenigstens unbefangenere Identifikation mit der eigenen nationalen Vergangenheit ermöglicht werden soll.“728 Auf Seiten der emanzipatorisch-kritischen Geschichtswissenschaft hatte man nicht ohne Grund den Eindruck, mit einem umfassenden Roll-Back konfrontiert zu sein, das sich wenig oder gar nicht um Ergebnisse historischer Forschung seit den Fünfzigerjahren kümmerte. „Die schon überwunden geglaubte ‚deutsche Tradition‘, deren ideologisch-apologetischer Charakter in der Fischer-Kontroverse um Kriegsschuld und Kriegziele bloßgestellt wurde, ist also am Wiedererstarken“, resümierte Böhme,729 und Wolfgang J. Mommsen stellte fest: „Im Lichte dieser Beispiele, die sich unschwer vermehren ließen, muß der jüngst in der Bundesrepublik aufgebrochene ‚Historikerstreit‘ als Steigerung, wenn nicht als Kulminationspunkt eines schon länger im Gange befindlichen Prozesses angesehen werden, der auf eine mehr oder minder stillschweigende Änderung grundlegender Positionen des historischen Bewußtseins hinausläuft.“730 Es war eine Änderung, die Mommsen als zumindest durch die Politik mit initiiert sah: „Es ist sicher nicht ungerechtfertigt, wenn man unterstellt, daß die Förderung eines ‚gesunden‘ Nationalgefühls der Deutschen ein erklärtes politisches Ziel der Regierung Kohl darstellt“.731 Vor allem der Eindruck, mit einer umfassenden geschichtspolitischen Offensive eines konservativ-nationalen Lagers konfrontiert zu sein, gab dem Streit seine Schärfe. Es sei ein „politisch hochbrisanter Vorgang“,732 urteilte Wehler 1988. „Der kleinen ‚Kulturrevolution von rechts‘, die seit einiger Zeit mit dem Ruf nach ‚Identität‘ und positivem Nationalismus, mit der Berufung auf die ‚Mittellage‘ und vermeintliche geopolitische Sachzwänge das öffentliche Bewußtsein zu verbiegen sucht, muß […] entschieden entgegengetreten werden.“733 Zeitweise waren die Fronten so verhärtet, dass persönliche Begegnungen kaum mehr möglich schienen. Beim 36. Historikertag in Trier Anfang Oktober 1986 gelang

726 727 728 729 730 731 732 733

Mommsen: Die Deutschen und ihre Nation, 1990, (wie Anm. 666), hier 128. Ebenda, 128. Ebenda, 134. Böhme: „Primat“ und „Paragidma“, 2000, (wie Anm. 725), hier 138. Mommsen: Die Deutschen und ihre Nation, 1990, (wie Anm. 666), hier 129. Mommsen: Welche Vergangenheit hat unsere Zukunft?, 1990, (wie Anm. 720), hier 155. Wehler: Das neue Interesse an Geschichte, 1988, (wie Anm. 667), hier 31. Ebenda, 33.

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es beispielsweise nicht, Stürmer zu einer gemeinsamen Podiumsdiskussion mit Wehler zu bewegen. Es gehe nicht an, erklärte der Vorsitzende des Historikerverbandes Christian Meier in seiner Eröffnungsrede am 8. Oktober 1986, „daß Historiker sich weigern, Räume zu betreten, in denen bestimmte andere Historiker sich aufhalten – um nicht in Versuchung zu kommen, ihnen die Hand zu geben.“734 Diskutiert wurde im „Historikerstreit“, der im Sommer 1986 begann und um die Jahreswende 1987/88 auslief, über die Vergleichbarkeit des Nationalsozialismus und des nationalsozialistischen Völkermords, über die Frage, inwieweit der nationalsozialistische Völkermord als verständliche Reaktion auf die bolschewistischen Massenvernichtungen im Bürgerkrieg und unter dem Stalinismus zu deuten sei, und nicht zuletzt über die Frage, inwieweit deutsche Geschichte aus der geographischen Position Deutschlands in der Mitte Europas zu erklären sei. Es ging auch um die „Historisierung“ des Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt stand die Frage nach dem Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte und damit zugleich die Frage nach dem Selbstverständnis der Bundesrepublik. „Von diesem ideenpolitisch zentralen Problem her gewann der Streit seine Schärfe und Publizität“,735 urteilte Jürgen Kocka. Für den Verlauf der Auseinandersetzung zwischen emanzipatorisch-kritischer und national-konservativer Geschichtswissenschaft war es von entscheidender Bedeutung, dass sie entlang dieser Frontlinie geführt wurde. Weder Noltes extreme Position noch die massive Zuspitzung der Auseinandersetzung stieß auf positive Resonanz. Karl-Ernst Jeismann, beispielsweise, urteilte: „Eine ‚neue Polarisierung des Geschichtsbildes in der Bundesrepublik Deutschland‘ mag manchen Heißspornen wohl recht sein; sie ist aber nichts als der Wunsch nach einer Klärung der Fronten zum Zweck der geistigen und politischen Majorisierung des Gegners und darum ebenso bedenklich wie eine Harmonisierung des Geschichtsbewußtseins, die die Gegensätze verdeckt und damit Geschichte belanglos macht.“736 Auch Ernst Schulin brach gegen „eine Renaissance nationaler Sinnstiftung“ eine Lanze für „die genaue und kritische Beschäftigung mit der deutschen Geschichte der letzten 100 Jahre“. Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte sei sehr hochzuschätzen und müsse weiter entwickelt werden, „durchaus unter weiterer wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Kritik und mit einer Vielfalt von Methoden und Betrachtungsweisen.“737 Während die geschichtspolitische Offensive des konservativ-nationalen Lagers auf immer mehr Widerspruch stieß, legte Nolte 1987 ein über sechshundert Seiten starkes Werk mit dem Titel „Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945“ vor, in dem er seine Positionen noch einmal in aller Breite erläuterte. Damit löste er eine zweite

734 Zit. nach: Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier: 109. 735 Jürgen Kocka: Deutsche Identität und historischer Vergleich, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1988), H. 40/41, S. 15–28, hier 15. 736 Jeismann: „Identität“ statt „Emanzipation“?, 1986, (wie Anm. 709), hier 15. 737 Schulin: Schlußbetrachtungen: Zur Veränderung der deutschen Geschichtswissenschaft in den sechziger Jahren, 1989, (wie Anm. 427), hier 275.

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Welle des „Historikerstreits“ aus, in der vor allem Winkler und Hans Mommsen scharfe Kritik an Nolte übten, Habermas hielt sich zurück. Die Zahl der Unterstützer Noltes schwand nun merklich. „Weder Hildebrand noch Hillgruber, auch nicht Thomas Nipperdey oder Hagen Schulze eilten Nolte diesmal öffentlich zur Hilfe, der nun mehr oder weniger allein für seine Sache ins Feld zog.“738 Wichtiger noch als die Zurückhaltung der Historikerkollegen war die Tatsache, dass auch die zuvor selbstverständliche publizistische Unterstützung für Nolte immer mehr ausblieb. „Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die sich zu Beginn des Historikerstreits so eindeutig auf die Seite Noltes gestellt hatte, kündigte ihm einige Jahre später schließlich die Unterstützung auf, nachdem er in einer Fernsehdiskussion Überlegungen zum rechnerischen Zusammenhang von Partisanenbekämpfung und Judenmord angestellt und sich in neueren Veröffentlichungen mit den Thesen notorischer Holocaustleugner ausführlich beschäftigt hatte: Aus Nolte, so der damalige FAZ-Redakteur Gustav Seibt im November 1994, spreche nur noch der ‚Wahn des von ihm erforschten Zeitalters‘.“739 Auch nach dem „Historikerstreit“ gehörte die kritische Auseinandersetzung mit der neueren Geschichte, besonders mit dem Nationalsozialismus zum Fundament der Bundesrepublik. „Die Last der deutschen Geschichte wurde nicht aus der Erinnerungskultur entfernt. Die kritische Holocaust-Identität, basierend auf einem aufgeklärten Geschichtsbewußtsein, wurde vielmehr an die geistige Westbindung gekoppelt und dem konservativen Unterfangen gegenübergestellt“, resümierte Edgar Wolfrum, und er wies zugleich auf einen bemerkenswerten und dauerhaften Effekt hin: „Die gemäßigte Linke entdeckte im ‚Historikerstreit‘ so nachhaltig wie nie zuvor die Bundesrepublik aufgrund ihrer geistigen, politischen und kulturellen Westbindung als ‚ihre‘ Republik.“740

738 Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005 (wie Anm. 661), hier: 111. 739 Ebenda, 111f. 740 Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, (wie Anm. 397), hier: 341f.

5 Deutsche Demokratische Republik Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft Die bislang dieser Arbeit zugrunde gelegte Struktur ging von den konkreten Darstellungen der Revolution von 1918/19 aus, nahm sie als Quellen mit eigener Substanz ernst und interpretierte sie entsprechend. Es wurden die wissenschaftlichen und politischen Entwicklungen der jeweiligen Zeit beschrieben, und es ging wesentlich um die Frage, inwieweit die „Zeitläufte“ Einfluss auf die jeweiligen Deutungen der Revolution von 1918/19 hatten. Diese Verfahrensweise ist für die DDR nur begrenzt sinnvoll und ergiebig. Im Fall der DDR-Geschichtsschreibung war – jedenfalls bei parteipolitisch so zentralen Themen wie der „Novemberrevolution“ – wissenschaftliche Freiheit nicht gegeben. Es ist deshalb sinnvoll, von dem durch die SED verordneten und im Fall der „Novemberrevolution“ auch praktizierten Primat der Politik auszugehen. Zumal er nicht nur dem Willen der Partei entsprach, sondern sich auch aus dem historischen und dialektischen Materialismus als theoretischem Überbau ergab – jedenfalls so wie er in KPdSU und SED verstanden wurde. Geht man davon aus, dass es letztlich die Entwicklung der Produktivkräfte ist, die gesellschaftlichen Fortschritt voranbringt, und geht man ferner davon aus, dass der Kapitalismus als Summe der Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft einer bestimmten Entwicklung der Produktivkräfte entspricht, aber bei deren Weiterentwicklung zur Fessel werden kann, so ergibt sich daraus die Vorstellung, dass eine Zeit „reif“ sein kann für den Übergang zu neuen Produktionsverhältnissen, etwa vom Kapitalismus zum Sozialismus. Diese schematisch einfache Formel wirft in der Praxis eine Fülle von Fragen und Problemen auf. An welchen Indikatoren ist der Reifegrad einer Gesellschaft im Hinblick auf anstehende Veränderungen festzustellen? Wie – konkret messbar – müssen sich die Produktivkräfte entwickelt haben, damit der Sozialismus „auf der Tagesordnung“ steht? Wenn die Durchsetzung der neuen Produktionsverhältnisse das Ergebnis von erfolgreichen Klassenkämpfen ist, wovon hängt dann der Erfolg dieser Kämpfe ab? Welche Rolle spielt dabei der „subjektive Faktor“? Welche das Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse? Welche ihre Erfahrungen aus vorangegangenen Kämpfen? Welche ihr Organisationsgrad? Welche die Form und Gestalt ihrer politischen Partei? Die sozialistische Arbeiterbewegung ist seit ihren Anfängen der Idee gefolgt, aus der Beschäftigung mit der bisherigen Geschichte Anhaltspunkte für das erfolgreiche Führen zukünftiger Klassenkämpfe zu gewinnen. Das galt bereits für die klassische Sozialdemokratie. Aber nach dem „Sieg“ der Bolschewiki in der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ wurde es immer mehr zur Perspektive der kommunistischen Parteien (gemacht), vom Erfolgsrezept Lenins und der Bolschewiki zu profitieren, ihrem Beispiel zu folgen und es – verbunden mit der historischen Analyse der Verhältnisse im jeweiligen Land – auf die eigene Situation zu übertragen. Nach dem Übergang zum Sozialismus waren – der Theorie folgend – Klassenkämpfe und eine

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grundsätzliche Veränderung der Produktionsverhältnisse zwar obsolet, es blieb aber die Aufgabe, innerhalb der entwickelten sozialistischen Gesellschaft Fortschritt zu organisieren, und auch dafür war das Studium der bisherigen geschichtlichen Entwicklung unabdingbar. Eine zentrale Aufgabe von Geschichtsschreibung in der DDR war daher „das Ausloten des Handlungsspielraums der Menschen für das Vorantreiben des gesellschaftlichen Fortschritts (strategiebildende Funktion).“1 Die andere ergab sich aus der Bedeutung des „subjektiven Faktors“ für die gesellschaftliche Entwicklung. Das „Handbuch zur Auseinandersetzung mit der westdeutschen bürgerlichen Geschichtswissenschaft“ erklärte es 1970 zur zweiten Hauptaufgabe der Geschichtsschreibung, im sozialistischen Staat DDR das sozialistische Bewusstsein zu vertiefen, „da das sozialistische Bewußtsein zu einer wichtigen Triebkraft unserer Entwicklung geworden ist.“2 Neben der strategiebildenden Funktion hatte die Geschichtsschreibung in der DDR also auch eine „bewußtseinsbildende Funktion“. Da aber in allen wesentlichen Fragen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der marxistisch-leninistischen Partei die entscheidende Rolle zukam, konnten aus Sicht der SED diese beiden zentralen Funktionen der Geschichtsschreibung nicht einer parteiunabhängigen, neutralen Geschichtswissenschaft überantwortet werden. Aufgrund der herausragenden Bedeutung von Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein war speziell die Geschichtswissenschaft eng an die Partei gebunden. Diese Vorstellung von den Aufgaben und dem Stellenwert der Geschichtswissenschaft in der Gesellschaft war 1945 allerdings rein theoretischer Natur. Werner Conze hat als Vorsitzender des Verbands Deutscher Historiker in seinem Schlussvortrag beim Mannheimer Historikertag 1976 über „Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945“ auf die Einheitlichkeit der deutschen Geschichtswissenschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit hingewiesen. „Im Jahre 1945 waren das nationale Erbe, die Erfahrung des Zusammenbruchs und die unbestimmte Vorstellung eines Neubeginns mit neuen Aufgaben für alle deutschen Historiker noch gemeinsam gegeben.“3 Auch die einheitliche marxistisch-leninistische Partei der Arbeiterklasse – begründet insbesondere mit den „historischen Lehren“ der Novemberrevolution – war noch nicht Realität, sondern Vision deutscher Kommunisten. Erst im April 1946 entstand durch den erzwungenen Zusammenschluss von SPD und KPD in der sowjetischen Besatzungszone die SED, und es dauerte Jahre, bis sie zur Partei „neuen Typus“ geformt

1 Alexander Decker: Die Novemberrevolution und die Geschichtswissenschaft in der DDR, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschiche der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 10 (1974), S. 269–299, hier 271. 2 Werner Berthold/Gerhard Lozek/Helmut Meier/Walter Schmidt (Hg.): Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung. Handbuch, Köln 1970, hier 5. 3 Werner Conze: Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945. Bedingungen und Ergebnisse, in: Historische Zeitschrift (HZ) 225 (1977), S. 1–28, hier 4.

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war. Im Nachhinein bezeichnete die Geschichtsschreibung der DDR diese Phase als „antifaschistisch-demokratische Revolution“, die nachgeholt habe, was in der Novemberrevolution versäumt worden sei. Für den Bereich der Geschichtswissenschaft hielt Conze fest, die sowjetische Besatzungsmacht und die SED hätten bald „die Initiative zur raschen und vollständigen Abtrennung der in ihrem Machtbereich verfügbaren Historiker von der allgemeinen deutschen Geschichtswissenschaft“ ergriffen. Hier seien „schon vor 1949 und nach der Staatsgründung erheblich beschleunigt Lehre und Forschung rücksichtslos und konsequent in den Dienst des politischen Systems gestellt und von Grund auf binnen weniger Jahre verwandelt“ worden.4 Allerdings fehlten zur Umsetzung der SED-Geschichtspolitik anfangs die nötigen wissenschaftlichen und personellen Ressourcen. „Von den 25 Professoren und Dozenten im Fach Geschichte, die 1946 an den sechs ostdeutschen Universitäten lehrten, waren zunächst nur zwei, Walter Markov und Alfred Meusel, überzeugte Kommunisten. Markov galt wegen seines unorthodoxen Marxismus als unsicherer Kantonist und wurde bereits 1951 wieder aus der SED ausgeschlossen. Meusel, der in der Weimarer Republik Volkswirtschaftslehre und Soziologie gelehrt hatte, stieg in zentrale akademische Führungspositionen auf. Mit Jürgen Kuczynski, Albert Schreiner, Leo Stern und Ernst Engelberg waren 1950 schließlich wichtige Professuren an den Universitäten von Berlin, Halle und Leipzig mit Parteimitgliedern besetzt.“5 Martin Sabrow, der sich mit einer Arbeit über die Geschichtswissenschaft in der DDR habilitierte,6 sprach von einem Fünfgestirn „leitender Genossen Historiker“, das in den Fünfzigerjahren „die fachliche Etablierung der staatssozialistischen Geschichtswissenschaft“ vorangetrieben habe, und schloss neben den vier Genannten Alfred Meusel mit ein.7 Vor allem durch die massive Ausweitung und parteipolitisch motivierte Besetzung der neuen Dozenten- und Assistentenstellen gelang es der SED, die universitäre Geschichtswissenschaft auf den gewünschten Kurs zu bringen. Dieser Prozess verlief in den Augen führender Parteigenossen aber nicht schnell und nicht konsequent genug. Auf einer Tagung im Sommer 1951 griff die neu ernannte Direktorin der Parteihochschule der SED Hanna Wolf die damalige Historikerschaft der DDR scharf an. Diese habe sich den Marxismus-Leninismus noch nicht zu eigen gemacht, vernachlässige ihre politischen Erziehungsaufgaben und verharre semester-

4 Ebenda, 5. 5 Klaus Große Kracht: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005, hier 30f. 6 Martin Sabrow: Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 8), München 2001. 7 Martin Sabrow: Kampfplatz Weimar. DDR-Geschichtsschreibung im Konflikt von Erfahrung, Politik und Wissenschaft, in: Heinrich August Winkler (Hg.): Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland (Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-FriedrichEbert-Gedenkstätte 10), München 2002, S. 163–184, hier 169f.

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lang bei nebensächlichen Problemen.8 Im Oktober 1951 verabschiedete das Zentralkomitee der SED Beschlüsse über „die wichtigsten ideologischen Aufgaben der Partei“. Im Kampf um die „Zerschlagung unwissenschaftlicher Geschichtsauffassungen“ wurde u. a. der Ausbau des seit längerem geplanten „Museums für Deutsche Geschichte“ in Berlin beschlossen, die Gründung eines zentralen „Instituts für Deutsche Geschichte“ an der Akademie der Wissenschaften und die Erarbeitung eines marxistisch-leninistischen Hochschullehrbuchs zur Geschichte des deutschen Volkes. Das Museum wurde 1952 eröffnet und stellte das neue Geschichtsbild von nun an im Zentrum Berlins aus. Seine Leitung wurde Alfred Meusel übertragen, der über bis zu 85 Mitarbeiter verfügte. In der Frühphase der DDR war das Museum eine „Art Kaderschmiede des marxistischen Historikernachwuchses“.9 Im selben Jahr formulierte Leo Stern in einem Beitrag über die „Gegenwartsaufgaben der deutschen Geschichtswissenschaft“ ein eigenes Programm der neuen Geschichtswissenschaft, so dass nach Sabrows Urteil das Jahr 1952 „zur entscheidenden Binnenzäsur in der Etablierungsphase einer sozialistischen Historiographie“ wurde.10 Am Ende des Jahres erhielt die marxistisch-leninistische Fachwissenschaft mit der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ (ZfG) ihren publizistischen Unterbau. Nach Stern ging es nun darum, die DDR in der nationalen Konkurrenz als das bessere Deutschland auszuweisen und „die Historiker der Deutschen Demokratischen Republik mit dem sanctus amor patriae, mit der heiligen Liebe zum Vaterland, zu erfüllen“.11 Das „Institut für Geschichte“ nahm am 1. März 1956 mit zunächst drei marxistischen und drei „bürgerlichen“ Abteilungsleitern seine Arbeit auf. Die Erarbeitung des Hochschullehrbuchs, eine Art „Meistererzählung“ der deutschen Geschichte, erwies sich dagegen als äußerst schwierig: Der erste Beitrag erschien erst 1959, und es vergingen weitere zehn Jahre, bis alle zwölf Bände dieses „Lehrbuchs der deutschen Geschichte“ mit ihren knapp 5000 Druckseiten veröffentlicht vorlagen.12 Was die SED im Bereich der Geschichtswissenschaft durchsetzte, war formal charakteristisch für „die Institutionalisierungsgeschichte vieler nationaler oder staatlicher Historiographien im 19. und 20. Jahrhundert, die regelmäßig etwa in der Errichtung einer zentralen nationalgeschichtlichen Forschungsstätte, in der Gründung eines eigenständigen Fachverbandes und einer repräsentativen Fachzeitschrift oder in den Bemühungen um eine mehr oder minder kodifizierte historische ‚Meistererzählung‘ ihren Niederschlag findet.“13 Dieser Prozess war für die Herrschaft der SED

8 Vgl. Joachim Petzold: „Meinungsstreit“ im Herrschaftsdiskurs, in: Martin Sabrow (Hg.): Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR (Zeithistorische Studien 14), Köln, Weimar, Wien 2000, S. 287–314, hier 289f. 9 Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005, (wie Anm. 5), hier 32f. 10 Sabrow: Das Diktat des Konsenses, 2001, (wie Anm. 6), hier 428. 11 Zit. nach: Sabrow: Das Diktat des Konsenses, 2001, (wie Anm. 6), hier 429. 12 Große Kracht: Die zankende Zunft, 2005, (wie Anm. 5), hier 32f. 13 Sabrow: Das Diktat des Konsenses, 2001, (wie Anm. 6), hier 394.

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von geradezu existentieller Bedeutung. „Sich der Vergangenheit zu bemächtigen und sie zu einem sozialistischen Geschichtsbild zu formen, war Lebensbedingung einer Herrschaft, deren totaler Geltungsanspruch Nischen und Freiräume weder im Heute noch im Gestern duldete und die auf die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft, von Führung und Massen zielte.“14 Mit Stolz wurde in der ZfG schon 1955 die erfolgreiche Bildung der „geschichtswissenschaftlichen Kader“ registriert. Die Zahl der Geschichtsstudenten habe sich seit 1950 vervierfacht, die Anzahl der Doktoranten – nach russischem Vorbild „Aspiranten“ genannt – habe sich seit 1952 verdoppelt. „Damit war die alte Struktur des Fachs Geschichte an den Universitäten gesprengt. Die sprunghafte Neubildung zeigte an, welche Bedeutung der Geschichtswissenschaft für die politische Bewusstseinsbildung beigemessen wurde.“15 Entsprechend den Vorstellungen der SED von der Rolle des Historikers im Prozess des gesellschaftlichen Fortschritts hatte sich auch das Berufsbild vollständig verändert. „An die Stelle des auf Habilitation und Ordinariat gerichteten freien wissenschaftlichen Forschers war der politisch ausgelesene ‚Wissenschaftler‘ im Dienst an einer politisierten Historie getreten. […] An die Stelle freier Wissenschaft war die als Vorzug hingestellte Einordnung in die Bedürfnisse der den gesetzmäßigen Fortschritt auslegenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands getreten.“16 Dieses Wissenschaftsverständnis hatte in seinem Kern keine Gemeinsamkeiten mehr mit den „bürgerlichen“, westlichen Vorstellungen von Geschichtswissenschaft. „Die Einheit von Politik und Wissenschaft, die die Parteinahme zum unentbehrlichen Konstituens historischer Erkenntnis erklärte und das ‚bürgerliche‘ Ideal wertfreier Wissenschaft zu einer ideologischen Chimäre, bildete gleichsam das Grundgerüst der sozialistischen Geschichtsverfassung“.17 Die Ausbildung einer systemkonformen Historiographie dauerte fast zwei Jahrzehnte und war ein mehrere Etappen umfassender Prozeß, der aber keineswegs linear und kontinuierlich verlief. Einschneidende Ereignisse im Machtbereich der Sowjetunion wirkten sich unmittelbar aus, so etwa der Arbeiteraufstand im Juni 1953 in der DDR und vor allem der XX. Parteitag der KPdSU, auf dem Chruschtschow in einer Geheimrede am 25. Februar 1956 heftige Kritik am Personenkult um Stalin sowie an dessen Herrschaftsmethoden übte und ihn als Klassiker entmachtete. Die darauf folgende Tauwetterperiode brachte einen Akzentwechsel auch in der Geschichtswissenschaft der DDR, prägte auch das Zusammentreffen der beiden deutschen Historiographien auf dem Ulmer Historikertag 1956 und sorgte für den Grundton einer friedlichen Verständigung. Die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes im Herbst 1956 löste dann aber einen „politischen roll back in Politik, Kultur und Wissenschaften aus,

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Ebenda, 8. Conze: Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, 1977, (wie Anm. 3), hier 6f. Ebenda, 7. Sabrow: Das Diktat des Konsenses, 2001, (wie Anm. 6), hier 395.

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in dessen Zuge […] allen Spielarten des ‚Revisionismus‘, des ‚Liberalismus‘ und des ‚Objektivismus‘ der Kampf angesagt wurde.“18 Als fundamental prägendes Merkmal der DDR-Historiographie hat Sabrow den „historischen Herrschaftsdiskurs“ herausgearbeitet, der zu einer einvernehmlichen Darstellung führen sollte und führte. Das „leitende Prinzip der fachlichen Einmütigkeit“ hat die Konstituierung und Konsolidierung einer SED-verbundenen Geschichtsschreibung auf allen Ebenen durchzogen.19 Dem Pluralismus der westlichen Historiographie hat die DDR einen „radikalen Monismus“ entgegen gestellt. „Auf dem Boden des historischen Herrschaftsdiskurses war kein Platz für die Vorstellung, daß es dauerhaft voneinander abweichende und womöglich sogar gleichberechtigte Sichtweisen auf dieselbe Vergangenheit geben könne.“20 So hat beispielsweise der zuständige Referent der ZK-Abteilung Wissenschaft 1957 geklagt: „Der gegenwärtige Zustand der Auffassungen über die Triebkräfte und den Charakter der Novemberrevolution ist nicht mehr tragbar. Jeder vertritt in dieser wichtigen Frage seine Privatmeinung. Besonders im Hinblick auf den 40. Jahrestag sollte in den kommenden 1 1/2 Jahren diese Frage durch eine umfassende Diskussion zu einem einheitlichen Standpunkt geführt werden.“21 Wobei in diesem Diskursfeld, darauf wies Sabrow ausdrücklich hin, Begriffe wie „Diskussion“ und „Auseinandersetzung“ eine semantisch veränderte Bedeutung gehabt hätten: „sie dienten weniger der Klärung offener Fragen als der Durchsetzung von Parteibeschlüssen und verbargen hinter der vermeintlichen Offenheit des Diskussionsausgangs nur ein immer schon feststehendes Resultat.“22 Jürgen John, Historiker der mittleren Generation, in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre am Akademieinstitut tätig, in den Neunzigern Professor für Moderne Regionalgeschichte Mitteldeutschlands und später Mitglied der Historischen Kommission für Thüringen, machte allerdings darauf aufmerksam, dass es im Lauf der Zeit durchaus Veränderungen gab und man nicht für jeden Zeitabschnitt und jeden Themenkomplex von durchgreifenden Richtlinien der SED sprechen konnte. Die Staatspartei habe die Diskursherrschaft vor allem auf den Feldern historischer Untersuchung und Darstellung ausgeübt, „die ihre eigene Vorgeschichte unmittelbar berührten. Das betraf in erster Linie die Geschichte der Arbeiterbewegung und diejenige des 20. Jahrhunderts und dabei nicht zuletzt die Deutung der Revolution 1918/19, in deren Kontext die KPD als Vorläufer und Hauptquelle der SED entstand.“23

18 Ebenda, 429. 19 Ebenda, 409. 20 Ebenda, 406. 21 Zit. nach: Sabrow: Das Diktat des Konsenses, 2001, (wie Anm. 6), hier 406f. 22 Ebenda, 407. 23 Jürgen John: Das Bild der Novemberrevolution in Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft der DDR, in: Heinrich August Winkler (Hg.): Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland (Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-EbertGedenkstätte 10), München 2002, S. 43–84, hier 44.

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Nach einer ersten Phase der Durchsetzung einer marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft bis etwa 1957/58, folgte bis gegen Ende der Sechzigerjahre eine „Zeit der Normalisierung“ und Konsolidierung. In dieser selbstbewussteren Phase gab es erkennbare Ansätze einer sachlichen Auseinandersetzung auch mit der westdeutschen Geschichtsschreibung über die Novemberrevolution.24 Wie Susanne Miller berichtete, brachen diese Ansätze „jedoch nach 1968 völlig ab und jede Kooperation wurde schroff abgelehnt. So erhielt beispielsweise Eberhard Kolb keine Lizenz, Beiträge von DDR-Historikern in seinen Sammelband „Vom Kaiserreich zur Republik“ aufzunehmen.25 Kolb sprach von einer „dogmatischen Verhärtung“ und brachte sie in Zusammenhang mit „dem ‚Prager Frühling‘ und dem Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die CSSR“.26 Der Sturz Walter Ulbrichts als 1. Sekretär des ZK der SED im Mai 1971 markierte eine klare Zäsur in der Geschichte der DDR. Ulbricht wurde der „nationalistischen Abweichung“ beschuldigt, und es wurde deutlich gemacht, dass die DDR ohne wenn und aber „Bestandteil des sozialistischen Weltsystems“ war.27 Nach dem Urteil von Sabrow zog Ulbrichts Sturz „unmittelbare Folgen für das sozialistische Geschichtsbild nach sich und leitete den dritten Entwicklungsabschnitt der DDR-Geschichtswissenschaft ein, der bis in die Mitte der achtziger Jahre reichte und als Zeit der Anpassungsschritte und reaktiven Positionswechsel den Übergang von der Offensive zur Defensive auch in der deutsch-deutschen Fachkonkurrenz markierte. Der VII. Parteitag der SED nahm die Sonderstellung zurück, die Ulbricht der DDR im revolutionären Weltprozeß zugedacht hatte, und gliederte sie wieder fest in die sozialistische Staatenwelt unter Moskauer Führung ein. Für die Geschichtswissenschaft bedeutete dies die Aufgabe der nationalen Grundkonzeption zugunsten einer internationalistischen Betrachtungsweise, die die dominante Rolle der Sowjetunion wieder stärker in die Vergangenheit verlängerte.“28 Wenige Jahre danach gab es allerdings wieder Anzeichen eines spezifisch deutschen Geschichtsverständnisses in der DDR, die im Westen mit höchstem Erstaunen zur Kenntnis genommen wurden. Parallel zur Entwicklung in der Bundesrepublik, die in die Berliner Preußen-Ausstellung 1981 mündete, entdeckte man auch in der DDR die preußische Geschichte neu. Ende 1980 wurde gar das Rauchsche Reiterstandbild 24 Vgl. Decker: Die Novemberrevolution und die Geschichtswissenschaft in der DDR, 1974, (wie Anm. 1). 25 Susanne Miller: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918–1920, Düsseldorf 1978, hier 20. 26 Eberhard Kolb: Einleitung, in: Eberhard Kolb (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 49), Köln 1972, S. 9–32, hier 27f. 27 Bernd Florath: Von der historischen Mission der SED. Wandel der politischen Vorgaben in den sechziger Jahren und die Entpolitisierung der Historiker, in: Georg G. Iggers et al. (Hg.): Die DDR-Geschichtswissenschaft als Forschungsproblem (Historische Zeitschrift. Beihefte N.F. 27), München 1998, S. 205–225, hier 205. 28 Sabrow: Das Diktat des Konsenses, 2001, (wie Anm. 6), hier 432.

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Friedrichs II. an seinem alten Platz „Unter den Linden“ in Berlin wieder aufgestellt. Die Absolutismusforscherin Ingrid Mittenzwei hatte 1978 eine Debatte über „Die zwei Gesichter Preußens“ angestoßen, die sich schnell zu einem die öffiziöse Geschichtskultur der DDR insgesamt erfassenden Umbruch entwickelt hatte: „das SED-Regime wurde traditionsbewußt. Das entscheidende Signal gab Honecker selbst mit der Übernahme des Vorsitzes im staatlichen Komitee zur Vorbereitung des Luther-Gedenkjahres 1983. Derselbe Staat, der in den fünfziger und sechziger Jahren mit dem Abriß des B