Die gefeierte Linie: Rituale und Komplizenschaft an der US-mexikanischen Grenze [1. Aufl.] 9783839431504

Complicity instead of confinement! What are the dynamics that evolve on the US-Mexican border?

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German Pages 218 Year 2015

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Die gefeierte Linie: Rituale und Komplizenschaft an der US-mexikanischen Grenze [1. Aufl.]
 9783839431504

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Konzeptionelle Einführung
1.1 Die US-mexikanische Grenze
1.2 Komplizenschaft
1.3 Ethnologen als Komplizen
1.4 Feldforschung – an, auf und über die Grenze
2. Archäologie der Linie
2.1 Die Linie und die Operation Gatekeeper
2.2 Die Linie und der Grenzübergang
3. Ein „Gasthaus“ beiderseits der Grenze
3.1 Posada Sin Fronteras
3.2 Ein Park in zwei Staaten
3.3 Mit Papieren oder ohne Papiere
3.4 Rituale, Status und Grenze
4. „Hilf, dass sie mir Papiere geben!“ Die Genese eines Grenzheiligen
4.1 Der Día de Juan
4.2 Besucher des Día de Juan
4.3 Zwei Kapellen für Juan Soldado
4.4 Die Widersprüche der Gestalt Juan Soldados
4.5 Die Komplizenschaft eines Grenzheiligen
5. Auf der Grenze einer „neuen Chichimeca“
5.1 Rituale der Kumiai
5.2 Der heilige Berg „Cuchumaa“
5.3 Danza Azteca
5.4 Indigenismen und Komplizenschaft
Über die Grenze? – Schlussbemerkungen
Literatur
Karten und Bilder 197

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Theresa Elze Die gefeierte Linie

Theresa Elze, geb. 1980, ist Ethnologin und lebt in Berlin. Sie forscht zu Staatsgrenzen und über Fragen des Status, die diese provozieren.

Theresa Elze

Die gefeierte Linie Rituale und Komplizenschaft an der US-mexikanischen Grenze

Als Dissertation eingereicht, Theologische Fakultät, Universität Rostock, 2014.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Theresa Elze, Tijuana, 2012, © Theresa Elze Satz: Theresa Elze Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3150-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3150-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Danksagung

Ich bin einer großen Gruppe von Personen zu Dank verpflichtet. Nur durch ihre Hilfe ist dieses Buch entstanden. Mit meinen Betreuern Prof. Dr. Andreas Brockmann, Prof. Dr. Klaus Hock und Prof. Dr. Ursula Rao hatte ich großes Glück. Sie haben mich an den passenden Stellen unterstützt und mir gleichzeitig meine Freiheiten gelassen. Unterstützung erhielt ich auch von den KollegiatInnen am Graduiertenkolleg „Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs“. In den gemeinsamen Kolloquien und bei unseren Ausflügen an die Ostsee haben wir wichtige Fragen diskutiert und Probleme behandelt. Katja Müller danke ich dafür, dass wir uns gegenseitig motiviert haben unsere zeitlichen Fristen einzuhalten, um Schritt für Schritt unsere Projekte fertigzustellen. Stefan Höhne hat meine Arbeit mit wertvollen Korrekturen verbessert und wichtige theoretische Gespräche mit mir geführt. Für die spannenden Diskussionen, die in das Zentrum meiner Arbeit zielten, danke ich Cristian Alvarado Leyton. Zu tiefstem Dank bin ich auch jenen verpflichtet, die mir ihre Geschichten und Probleme an der Grenze anvertraut haben. Bianca Barbara Lehner hat mir in Tijuana, wenn immer ich es dringend benötigte, ein Dach über dem Kopf gegeben. Prof. Dr. Manuel Valenzuela Arce vom „Colegio de la Frontera Norte“ hat mir geholfen, mich im urbanen Grenzgebiet von Tijuana und San Diego zu orientieren. Ich danke meiner Familie, meiner Mutter Bettina, meinem Vater Gerhard und meiner Schwester Stephanie, weil sie mich mit Freude darin unterstützt haben zu forschen. Von Herzen danke ich schließlich meinem Lebensgefährten André Reichert, der mich über die Jahre mit wertvollen philosophischen Impulsen motiviert hat und meine Launen tolerierte, wenn ich einmal zweifelte.

Inhalt

Einleitung | 9

1.1 1.2 1.3 1.4

Konzeptionelle Einführung | 21 Die US-mexikanische Grenze | 24 Komplizenschaft | 33 Ethnologen als Komplizen | 42 Feldforschung – an, auf und über die Grenze | 46

2.

Archäologie der Linie | 51

1.

2.1 Die Linie und die Operation Gatekeeper | 51 2.2 Die Linie und der Grenzübergang | 57 3.

Ein „Gasthaus“ beiderseits der Grenze | 67

3.1 3.2 3.3 3.4

Posada Sin Fronteras | 69 Ein Park in zwei Staaten | 88 Mit Papieren oder ohne Papiere | 94 Rituale, Status und Grenze | 99

4.

„Hilf, dass sie mir Papiere geben!“ Die Genese eines Grenzheiligen | 105

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Der Día de Juan | 107 Besucher des Día de Juan | 110 Zwei Kapellen für Juan Soldado | 125 Die Widersprüche der Gestalt Juan Soldados | 128 Die Komplizenschaft eines Grenzheiligen | 143

5.

Auf der Grenze einer „neuen Chichimeca“ | 147

5.1 5.2 5.3 5.4

Rituale der Kumiai | 150 Der heilige Berg „Cuchumaa“ | 160 Danza Azteca | 166 Indigenismen und Komplizenschaft | 173

Über die Grenze? – Schlussbemerkungen | 175 Literatur | 185 Karten und Bilder | 197

Einleitung

Die Schlange am Grenzübergang von Tijuana nach San Diego ist einen knappen Kilometer lang. Ich werde an diesem Tag circa neunzig Minuten brauchen, um La Línea, „die Linie“, wie die Grenze in Tijuana genannt wird, zu überqueren. Eine ganze Ökonomie hat sich an dieser Schlange gebildet. Es gibt Musik, Dinge, die religiöse Bedürfnisse befriedigen, Leckerbissen in jeglicher Form von süß bis herzhaft, Getränke und Sonnenschutz, damit die Hitze erträglicher wird. Zudem gibt es verschiedene Angebote, die Grenze schneller zu überqueren, in einem kleinen Reisebus für fünf Dollar oder durch den Kauf eines Platzes ganz vorne in der Schlange für zehn Dollar, der von einem Platzhalter freigehalten wird. Ich entscheide mich für das Warten, wie viele Menschen vor und hinter mir. Jeder Einzelne reiht sich passiv ein und bildet damit ein Glied in einer Kette. Es geht voran. Ich passiere ein Schild, auf dem geschrieben steht: „Nicht die arbeitenden Hunde streicheln“. Die Verbotsschilder, die sich entlang der Schlange mit einer ganzen Flut von Botschaften lesen lassen, enthalten immer schon die Geschichte ihrer Übertretung. Der Grenzübergang, den ich nehme, ist der größte im urbanen Grenzgebiet von San Diego und Tijuana. Ich warte etwas länger als zunächst angenommen. Nach fast zwei Stunden Wartezeit erreiche ich endlich den Schalter. Die Frau in der Schlange vor mir wurde mit Handschellen abgeführt. Ihre Dokumente waren nicht in Ordnung. Ich halte meinen Pass in den Händen, der meine privilegierte Staatsbürgerschaft bescheinigt. Auf Anfrage reiche ich ihn dem Beamten am Schalter. Er fragt mich, was ich in den USA zu tun vorhabe. Ich sage ihm, dass ich meinen Briefkasten hinter der Grenze leeren will, denn ich habe einen Briefkasten in San Diego und eine Wohnung in Tijuana. An der Grenze treffe ich einige, die es ähnlich handhaben. Es setzt voraus, dass man die entsprechenden Dokumente hat, um die Grenze in Richtung Briefkasten zu überqueren. Ich habe weitere Dinge zu erledigen, die zu erklären mir aber zu lang dauert, daher wird der Briefkasten meine beliebteste und häufigste

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Antwort auf das kurze Interview, dem ich mich viele Male stellen musste, um über die Grenze zu gelangen. Grenzen sind niemals fertiggestellt. Sie sind stattdessen verbunden mit der beständigen Arbeit ein Grenzregime zu schaffen, das ihrer regulativen Funktion gerecht wird. Am Grenzübergang erleben die Menschen, welche die Grenze zwischen Tijuana und San Diego überqueren, die Auswirkungen dieses Grenzregimes. Sie werden mit einem Status versehen, der bestimmt, ob und wie sie passieren dürfen. Statusunterschiede sind die Folge. Diese Unterschiede im Status haben Auswirkungen auf die Art und Weise wie Menschen sich an der Grenze verhalten, wie sie diese überqueren und wie sie dabei Gemeinschaften bilden. Ausgehend von dieser zentralen Annahme wird die Arbeit durch die folgenden Fragen geleitet: Wie und warum nehmen Menschen die Grenze zum Anlass, um Gemeinschaften herzustellen? Welche Rituale erhalten in der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung mit der Grenze eine besondere Bedeutung? Wie widmen sich diese Gemeinschaften mit ihren Ritualen den Statusunterschieden der Grenze, während sie diesen einen alternativen rituellen Status entgegensetzen? Dabei möchte ich erfahren, wie diese Rituale, die häufig den religiösen Bereichen entstammen, zum Ausdruck einer fehlenden politischen Arena werden. Das urbane Grenzgebiet zwischen Tijuana und San Diego und damit zwischen Mexiko und den USA, in der Sprache der Grenzsicherung auch San Diego Sector genannt, ist eine Region in der sich derartige Gemeinschaften in Auseinandersetzung mit der Grenze formen. Daher bildet dieser Sektor urbaner Grenzsicherung das Untersuchungsgebiet dieser Arbeit. Die Menschen sind es, die über ihre Handlungen Orte schaffen und Räume herstellen – Grenzen dazwischen ziehen und Verbindungen hervorbringen. Als Akteure produzieren sie Grenzen und überqueren sie. Am Rand einer hegemonialen Ordnung gestalten sie diese so, dass sie das dazugehörige Zentrum beeinflussen, ihm aber auch entfliehen können. Besonders sichtbar wird dieser Zusammenhang, wenn die Grenze selbst zum Anlass für gemeinsame Handlungen wird, die nicht mit der funktionalen Ordnung einer Grenze und des entsprechenden Grenzregimes übereinstimmen. Diese Auseinandersetzung mit der „Linie“1 zeigt sich zum Beispiel in gemeinschaftlichen rituellen Handlungen, die so einen politischen Ausdruck bekommen. Sie bilden den Gegenstand dieser Arbeit.

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Die Bezeichnung „Linie“ ist eine populäre inoffizielle Bezeichnung für die Grenze im urbanen Grenzgebiet von Tijuana und San Diego. Innerhalb der Arbeit werde ich häufiger inoffizielle geografische Namen verwenden. Diese sind jeweils in Anführungszeichen gesetzt. Zudem werden jene Bezeichnungen mit Anführungszeichen versehen, die ich unübersetzt in die Arbeit übernehme.

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Die unzähligen Arten, wie Grenzen räumlich oder auch zeitlich beschaffen sein können, machen es notwendig, dieser Arbeit einen konkreten Grenzbegriff voranzustellen. In meinen konzeptionellen Überlegungen (1. Kapitel) entwerfe ich einen Begriff, der paradigmatisch ist für meine Grenzbetrachtungen: die schwingende Grenze. Die schwingende Grenze beschreibt Zustände, in denen sich Menschen zusammenfinden, nicht nur trotz der Grenze, sondern vor allem weil es die Grenze gibt. Sie ist der Anlass für ihre Handlungen. In diesen Zuständen schöpfen die Menschen ihr ökonomisches, politisches oder auch soziales Potential aus der Grenze. Das Bild der Schwingung beschreibt somit einen Grenzraum, in dem die Akteure die Grenze und ihre Ressourcen für sich ausnutzen. Es ist ein Raum, der beide Seiten der Grenze symmetrisch umfasst, und in dessen Zentrum, nicht an dessen Peripherie, sie, „die Linie“, sich befindet. „Die Linie“ entspricht einer Grenze, die zwischen einem geografischen Innen und einem geografischen Außen in der Form eines Grenzregimes vermittelt. Das Grenzregime der US-mexikanischen Grenze ist zunächst ein bürokratischer Apparat, der durch die Praktiken der Agenten des Grenzschutzes umgesetzt wird und zur funktionalen Regulation von Mobilität bestimmt ist. Außerdem bildet es eine Ansammlung diverser Technologien zur Strukturierung des Raums, in dem diese Mobilität stattfindet. Jede Grenze begünstigt jedoch auch die Entstehung andere Räume, die in keiner Weise dieser Funktionalität einer optimalen Grenze entsprechen. Stattdessen handeln Menschen in diesen Räumen in ihrem eigenen Interesse und nicht im Interesse einer funktionalen Grenze. Derartige Räume werden durch Formen gemeinschaftlichen Handelns hervorgebracht, die ich mit dem Konzept der Komplizenschaft beschreibe. Neben den Begriffen des Grenzregimes und der schwingenden Grenze wird das Konzept der Komplizenschaft zentral für die vorliegende Arbeit sein. Die Schärfung dieses Konzepts bildet damit den zweiten Schwerpunkt meiner konzeptionellen Überlegungen. Es eignet sich, die Verbindungen zwischen verschiedenen Gruppen und Individuen in der Auseinandersetzung mit der Grenze zu beschreiben. Als Komplizen schaffen Menschen Verbindungswege über die Grenze, die sich komplementär zum Grenzregime verhalten. Komplizenschaften sind oft durch ökonomische Ziele gekennzeichnet. In der vorliegenden Arbeit wird jedoch deutlich, dass sie vor allem auch durch religiöse oder politische Zielsetzungen motiviert sein können. Daher werde ich im Folgenden öffentliche religiöse Handlungsorte und das Phänomen ihrer produktiven Vergemeinschaftung im Kontext der Grenze behandeln. Ich verwende das Konzept der Komplizenschaft zusammen mit dem des Grenzregimes und der schwingenden Grenze, weil es mehr als ein Konzept braucht, um Grenzen und Grenzgebiete zu verstehen. Immerhin ist das US-

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mexikanische Grenzgebiet wie viele andere Grenzgebiete eine konfliktreiche Zone, in der ganz unterschiedliche Interessen aufeinanderprallen. Der Begriff befindet sich im Spannungsfeld von legal und illegal oder auch formell und informell. Dieses Spannungsfeld wird von der Grenze gestützt und verstärkt. Die Komplizenschaft tritt in dieses Spannungsfeld ein, setzt ein eigenes Territorium, mit bestimmten Orten, die verbunden sind und die mit den Ordnungs- und Sicherungsmaßnahmen der Grenze in Konflikt stehen. Damit schafft sie neue Beziehungen zwischen Akteuren, nicht als Reaktionen auf die Grenze, sondern als Aktionen mit der Grenze. In den konzeptionellen Überlegungen, die dieser Arbeit vorangestellt sind, nähere ich mich dem Begriff der Komplizenschaft auf verschiedenen Ebenen. Durch diese intensive Beschäftigung wird er zu einem Konzept und einem analytischen Instrument geformt, das mir bei der Betrachtung der Grenzsituationen, in denen Akteure gemeinsam agieren, hilfreich ist. Die Diskussion des Begriffs ist jedoch aus einem weiteren Grund dringend notwendig. Der Begriff ist in der Alltagssprache negativ konnotiert. Er bezeichnet eine Gemeinschaft, die Gesetze verletzt. Daher ist es notwendig, an dieser Stelle zu vermerken, dass der Begriff im Deutschen und auch im Spanischen zwei wesentliche Grundbedeutungen hat: Zum einen beschreibt er eine „kriminelle Gemeinsamkeit“ und zum anderen eine „Gemeinsamkeit, die sich in Zusammenarbeit mit gegenseitiger Begünstigung ausdrückt“.2 Diese beiden Ebenen decken sich mit einer Außenperspektive und einer Innenperspektive, in denen ein Handlungszusammenhang jeweils entweder von außen etisch oder als Teilnehmer emisch beurteilt wird. Diese Arbeit folgt vor allem dem zweiten Weg, berücksichtigt aber hintergründig auch die Deutungsmacht der ersten Ebene von Komplizenschaft, die Außenperspektive. Ich gehe davon aus, dass sich beide Ebenen gegenseitig informieren, daher können sie nicht gänzlich getrennt voneinander betrachtet werden. Da in der vorliegenden Arbeit vor allem rituelle Vergemeinschaftungen behandelt werden, wird der Begriff Komplizenschaft zunächst auf Festgemeinschaften übertragen. Dafür ist eine theoretische Verschiebung des klassischen 2

Beide Deutungen sind dem Duden entnommen (Duden. Deutsches Universalwörterbuch 2011: 1024; Stichwort: Komplizentum). Im Spanischen finden sich diese zwei Bedeutungen ebenfalls: 1.) „Condición que tiene una persona cómplice de un delito“, und 2.) „Colaboracion o ayuda en la ejecución de una acción, generalmente preparada en secreto“ (Diccionario Manual de la Lengua Española Vox. 2007: 303; Stichwort: complicidad). Im Spanischen variieren die beiden Bedeutungen noch stärker in der Hinsicht, dass die erste Bedeutung vor allem für eine einzelne Person verwendet wird, während die zweite eher auf einen gemeinschaftlichen Zusammenhang verweist. Zudem ist die zweite Bedeutung stark mit geheimen Vorbereitungen konnotiert.

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Begriffs der communitas (Turner 2005 [1969]) als ritueller Gemeinschaft, in der jeder Teilnehmer den gleichen Status besitzt, hin zu einem anderen Modell einer Gemeinschaft die durch Statusunterschiede zwischen ihren Teilnehmern bestimmt ist, die unterschiedliche Interessen haben. Wenn die festlichen Gemeinschaften nicht durch die Gleichheit ihrer Mitglieder geprägt sind, sondern durch unterschiedliche Interessen, dann betreffen sie die ethnologischen Betrachtungen zur Transaktion. Daher wird in einem weiteren Punkt dieser Arbeit geklärt, was Komplizenschaften mit Allianzen oder Fraktionen gemeinsam haben, die als klassische Formen von Vergemeinschaftung in Situationen des Transaktionalismus gelten. Schließlich ergibt sich für das Konzept der Komplizenschaft auch die dringende Frage nach ihren spezifischen Konstellationen der Macht. Ein derartiges Machtverhältnis lässt sich theoretisch als eine Verwicklung von horizontalen und vertikalen Formen von Macht verstehen. Der Dualismus von „Oben“ und „Unten“ wird abgeschwächt und zugunsten der gemeinsamen Handlung verschleiert. Aus der verbundenen Lektüre der Machtbegriffe von Guha (1997) und Foucault (1978) ergibt sich die These, dass bei einer Komplizenschaft die Momente der Macht darin bestehen, dass die Teilnehmer auf die strategischen Momente des Widerstands und des Zwangs verzichten. Stattdessen stellen sie mit den Mitteln der Überredung und der Kollaboration eine Ordnung von Dominanz und Subordination in Frage, die im Grenzgebiet vor allem durch Statusunterschiede ausdifferenziert wird. Damit verzichten sie gleichzeitig auch auf Momente des Widerstands gegen das Grenzregime. Am Ende meiner Überlegungen zu diesem Konzept und seiner Relation zur Grenze bleibt noch die Frage zu klären, inwieweit gerade Ethnologen zu Komplizen in ihren vielfältigen Feldern werden können. Mit dieser Frage gehe ich schließlich in die Betrachtung meiner Methode über und versuche dabei meine eigene Komplizenschaft mit dem Feld zu berücksichtigen. Um das urbane Grenzgebiet mit den beiden Seiten der Grenze zu beschreiben, ist es notwendig die Grenze beständig zu überqueren. Der Briefkasten auf der einen und die Wohnung auf der anderen Seite der Grenze sind Ausdruck einer mobilen Forschung, die den besonderen Bedingungen eines Grenzgebiets methodisch gerecht werden möchte. Während die teilnehmende Beobachtung die wichtigste Methode dieser Perspektive bleibt, wird die Koresidenz weniger relevant. Mit der Wahl meiner Wohnung folgte ich somit eher praktischen Überlegungen. Meine Forschung fand nicht in den Privatbereichen eines Hauses statt, sondern an den öffentlichen Orten des urbanen Grenzgebiets von Tijuana und San Diego, in dem ich mich tagtäglich bewegte. Welche methodischen Besonderheiten diese Mobilität im Grenzgebiet mit sich bringt, werde ich im letzten Abschnitt meiner konzeptionellen Einführung behandeln. Mit diesen Überle-

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gungen gehe ich in die Beschreibung der machtvollsten Räume des Grenzregimes über. Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Wie strukturiert es die Grenzlandschaft von Tijuana und San Diego? Das Grenzregime dieser Grenzlandschaft behandele ich hier (2. Kapitel) vor dem Hintergrund seiner historischen Dimensionen und seiner aktuellen Praktiken. Dabei gilt es auszuloten, welches die dominanten Räume des Grenzregimes sind und wie diese funktionieren. Zudem muss an dieser Stelle gefragt werden, wie durch die Praktiken der Grenzsicherung Unterschiede zwischen den Grenzüberquerern hergestellt werden. Des Weiteren werde ich in diesem Kapitel klären, wie diese Unterschiede eine weitere Öffentlichkeit im Umfeld der Grenze beeinflussen. Die Grenzlandschaft ist charakterisiert durch eine stark gesicherte Grenzlinie, die seit der Operation Gatekeeper in den 90er Jahren durch eine verstärkte Militarisierung bestimmt ist. Diese aktuelle Grenzlandschaft wird oft als Folge neoliberaler Politiken und der entsprechenden Wirtschaftsabkommen, hier das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA), betrachtet. Diese Grenzlinie besteht aus komplementären Widersprüchen: Sie ist durch eine Zunahme des Grenzverkehrs geprägt – bei gleichzeitiger Zunahme der Grenzsicherung. Im Zeitraum, in dem ich meine Untersuchung durchgeführt habe, wurden große Teile der Grenzanlage des San Diego Sector durch zusätzliche Zäune gesichert sowie mit neuester Technik hochgerüstet. Gleichzeitig erfolgte in diesem Zeitraum ein umfassender Umbau des Grenzübergangs. Der Grenzübergang ist bedeutend für ein Grenzgebiet wie jenes von Tijuana und San Diego. Am Grenzübergang lässt sich die Arbeitsweise des Grenzregimes sehr gut betrachten. Der Grenzübergang dient der praktischen Umsetzung der Regulation von Mobilität, wie sie durch das Grenzregime vorgegeben wird. An der Stelle, wo die Grenze alltäglich überschritten wird, lassen sich die Prozesse der Klassifizierung von Menschen und die Produktion von Statusunterschieden am deutlichsten erfassen. Es folgen drei Kapitel, von denen jedes einzelne einen Teilkomplex ritueller Komplizenschaft umfasst. Die Kapitel 3 bis 5 entsprechen ganz unterschiedlichen festlichen Zusammenhängen und sie weisen ganz unterschiedliche Positionen an und zu der Grenze auf.3 Was alle Komplexe gemeinsam haben, ist, dass sie durch andere Umgangsformen mit der Grenze produziert werden, die nicht den offiziellen Passagen und ökonomisch intendierten Allianzen entsprechen.

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Zur Illustration der einzelnen Komplexe wurde der Arbeit ein Appendix angefügt. Er enthält Karten, um die Lage der einzelnen Orte in der urbanen Grenzlandschaft von Tijuana und San Diego besser nachvollziehen zu können. Zudem beinhaltet er fotografisches Material, das die Ausführungen der einzelnen Kapitel veranschaulicht.

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Zuerst betrachte ich die Posadas Sin Fronteras, die jedes Jahr im Rahmen der Weihnachtsfeierlichkeiten durch Gruppen und Individuen verschiedener Konfessionen und mit unterschiedlichem legalem Status direkt am Grenzzaun begangen werden (3. Kapitel). In diesem Festtypus wird die Grenze auf eine unmittelbare und prägnante Art sichtbar gemacht. Die vorweihnachtliche Veranstaltung ist in einer ganz bestimmten geografischen Grenzlandschaft angesiedelt, nämlich da, wo die Grenzlandgeografie auf die maritime Geografie des Ozeans stößt. An dieser westlichsten Stelle der US-mexikanischen Grenze befindet sich ein kleiner binationaler Park. Trotz der zunehmenden Sicherung der Grenze, ermöglicht der Park, dass Menschen von beiden Seiten durch den Zaun kommunizieren können. Diese geografische Situation wird vor allem von jenen Familien genutzt, die durch die Grenze sowohl räumlich als auch über ihren Status sozial getrennt sind. Gleichzeitig ist dieser Ort ein Handlungsort für verschiedene politische und religiöse Handlungen, die sich die Grenze zum Anlass nehmen, um Fragen des sozialen Status zu thematisieren. Im Rahmen der Forschung konnte ich zweimal an den Posadas Sin Fronteras teilnehmen, einmal im Jahr 2010 und einmal im Jahr 2012. Die Zusammenschau beider Jahre zeigt zum einen, dass es sich bei den Posadas Sin Fronteras um eine Festlichkeit mit Kontinuität handelt, die aber gleichzeitig extrem von den Konditionen der Grenze und ihren formalen Bedingungen abhängig und somit durch eine ständige Anpassung an diese Bedingungen geprägt ist. Die Veranstaltung besteht vor allem in einer öffentlichen Verhandlung der Statusunterschiede der Teilnehmer. Über religiöse Rituale und die Bildung einer christlichen Festgemeinschaft, die sich beständig an der Grenze vergegenwärtigt, verbinden sich jene ohne offizielle Dokumente mit jenen, die über derartige legale Dokumente verfügen, und verhandeln die Fragen nach dem Status in einer christianisierten Landschaft der Grenze. Die Posadas Sin Fronteras stellen eine der offensten Auseinandersetzungen mit der aktuellen Grenze, der Grenze der Operation Gatekeeper, dar. Anschließend behandele ich einen weiteren Komplex ritueller Komplizenschaft, in dem die Grenze Anlass für gemeinsame Handlungen ist (4. Kapitel). Das Kapitel beschäftigt sich mit der Genese und dem Aufstieg des „Grenzheiligen“ Juan Soldado. Die Festlichkeiten am Día de Juan, die jährlich am 24. Juni an den beiden Kapellen, an denen er verehrt wird, stattfinden, werden in die Betrachtung einbezogen. Die beiden Kapellen dieser noch sehr jungen Heiligenfigur befinden sich auf einem Friedhof in unmittelbarer Nähe des Grenzzaunes. Juan Soldado ist ein populärer Heiliger für Menschen, deren Position an der Grenze durch einen unterprivilegierten Status gekennzeichnet ist. Jedes Jahr treten ganz verschiedene Besucher mit sehr unterschiedlichen Positionen zur Grenzsituation bei dem Fest für den Heiligen auf und teilen damit ihre Versionen

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Juan Soldados einer Öffentlichkeit mit. Am Día de Juan habe ich im Verlauf der Forschungen zweimal teilgenommen, einmal im Jahr 2011 und im Folgejahr 2012. Auch hier ermöglichte die kurze zeitliche Abfolge der teilnehmenden Beobachtung zweier Feiertage die konsistentere Beobachtung der sozialen Gruppen und ihrer Interessen und Ansichten im Umfeld der Kapellen. Der Grenzbezug Juan Soldados wird nur von einem Teil der Besucher seiner Kapellen hergestellt. Andere Besucher schreiben ihre eigenen Deutungen in den Komplex der Verehrung Juan Soldados ein. Wie im vorangegangenen Kapitel werden auch hier die Ortsspezifik der Verehrung Juan Soldados sowie die angeschlossenen wissenschaftlichen Diskurse einen wesentlichen Teil der Betrachtungen dieses Kapitels ausmachen. Schließlich behandele ich eine Reihe von Festen und Veranstaltungen, mit denen sich Akteure in einer indigenen Grenzlandschaft positionieren (5. Kapitel). Ich bezeichne diese Landschaft als „neue Chichimeca“. Diese indigene Landschaft ist eine Kontaktzone zwischen differenzierten Teilnehmern, die über ihre rituelle Komplizenschaft die aktuelle Grenze verhandeln. Diese Verhandlungen betreffen die räumlichen Gegebenheiten der Grenzlandschaft und die sozialen Statusunterschiede der Grenze insofern, als die Akteure einer „neuen Chichimeca“ eine eigene soziale und räumliche Ordnung etablieren, die in Kontrast zu den nationalstaatlichen Grenzen steht. Die teilnehmende Beobachtung erfolgte daher für diesen dritten Komplex an ganz verschiedenen Orten dieser „neuen Chichimeca“, die öffentliche Rituale vor allem in öffentlichen städtischen Parks durchführt oder in den heiligen Landschaften der indigenen Gruppen des Grenzgebiets, namentlich denen der Kumiai. Eine dieser heiligen Landschaften der Kumiai ist der Berg „Cuchumaa“, der durch die Grenze geteilt ist. Die beschriebenen Handlungsorte sind, wie die Handlungsorte der vorhergehenden Kapitel, durch eine zentrale Vergegenwärtigung der Grenze geprägt – sowie durch die Statusunterschiede und andere Differenzen sozialer Kategorien, die diese produziert. Die Arbeit folgt in diesen drei Hauptteilen (Kapitel 3 bis 5) vor allem einer räumlichen Ordnung, wie sie durch die aktuelle Grenzsituation vorgegeben wird. Sie beginnt am westlichsten Punkt der Grenze, wo sich das erste Grenzsteinmonument mit der Nummer 258 befindet. Von dort aus folgt sie dem Grenzverlauf durch die urbane Grenzlandschaft, um an spezifischen Orten, die durch eine starke Verflechtung beider Seiten der Grenze durch verschiedene Akteure geprägt sind, die Betrachtung fortzusetzen. Gleichzeitig folgt die Arbeit einer zeitlichen Ordnung. Für die Betrachtung der einzelnen Komplexe war jeweils auch die Betrachtung der historischen Ordnungen der Grenzlandschaft notwendig, da diese mitunter bis heute wirksam sind. In diesem Sinne werden der räumliche und

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der zeitliche Rahmen im Verlauf der Arbeit beständig erweitert. La Línea bleibt dabei jedoch die wichtigste Bezugsgröße der vorliegenden Arbeit. Alle drei Komplexe verweisen auf komplementäre Ordnungen in der Grenzlandschaft. Sie bestehen in außergewöhnlichen Kontakten über die Grenze hinweg und konstituieren transnationale Räume, die sich nicht einfach in die Ordnungen des neoliberalen Grenzregimes zwischen Staat und Markt einfügen. Theoretisch lassen sich die Betrachtungen an die Diskussionen um Globalisierung und kulturelle Hegemonie anschließen, die seit 1988 vor allem stark durch die Zeitschrift Public Culture angestoßen wurden. Die Diskussionen fokussieren auf Felder öffentlicher Sphären, die durch die Globalisierung geprägt sind und zeitlich das Ende des 20. und den Anfang des 21. Jahrhunderts betreffen. Seither werden Handlungsorte untersucht, an denen kulturelle, politische und soziale Differenzen als öffentliche Phänomene auftauchen. Macht stellt sich in diesen Zusammenhängen weniger als hegemoniales, sondern als dominantes Verhältnis dar. Eine dieser Diskussionen wurde zum Beispiel über die sich wandelnde Rolle von Städten in der Verhandlung von Staatsbürgerschaft geführt (vgl. Appadurai/ Holston 1996). Städte werden zum Testfeld für neue demokratische Formen von Staatsbürgerschaft, gleichzeitig bilden sich intensivierte Formen privatisierter Zugehörigkeit (Appadurai/Holston 1996: 199f.). Das urbane Grenzgebiet von Tijuana und San Diego, in dem sich die Öffentlichkeiten zweier Nationalstaaten unmittelbar verflechten, ist eine Forschungsregion, in der diese Prozesse angesichts einer nationalstaatlichen Grenze eine ganz spezifische Dynamik aufweisen. Diese Dynamiken fordern gängige Vorstellungen von Moderne und kultureller Hegemonie heraus. Die Prozesse werden als Gegenstand der vorliegenden Arbeit an dem Konzept einer gemeinschaftlichen Verbindung gemessen, die einen Dialog zwischen den Eliten und den Massen oder zwischen den dominanten Produzenten von Kultur und den subordinanten Konsumenten herstellt. In der vorliegenden Arbeit entsprechen diese Ebenen von „Oben“ und „Unten“ vor allem den von der Grenze reproduzierte Statusunterschieden von Staatsbürgerschaft. Die Grenze produziert nicht nur räumliche, sondern auch soziale Differenzen. Das „Oben“ ist gegenüber dem „Unten“ privilegiert. Die Statusunterschiede der Grenze haben einen Einfluss auf andere soziale Kategorien. Sie beeinflussen vor allem die Kategorie der Klasse. Aber sie wirken auch auf die Differenzen von Geschlecht, Generation oder ethnischer Zugehörigkeit. Zudem können sie den Zugang bestimmter Gruppen zu den staatlichen Sphären des Politischen öffnen oder versperren. Die vorliegende Arbeit ist durch den Gedanken motiviert, dass Ideen der Hegemonie, auf die sich die Kritische Theorie der Frankfurter Schule bezieht, an einer Staatsgrenze neu reflektiert werden müssen. Hier ergeben sich Zusammen-

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hänge dominanter und nicht hegemonialer Ordnungen. Da, wo die zwei Seiten einer staatlichen Grenze zu einer Landschaft gehören, ist die Grenze nicht am Rand, sondern im Zentrum jeder Geschichte und jeder Handlung. Sie entzieht sich den hegemonialen Ordnungen ihrer zwei Seiten. Die Praktiken und Handlungen, die diese Prozesse tragen, beruhen auf Vergemeinschaftungen, die damit zu Trägern eigener öffentlicher Sphären werden. Komplizenschaft gestaltet sich in diesem Sinn als konkretes öffentliches Phänomen sozialer Vergemeinschaftung, das als Herausforderung der staatlichen öffentlichen Definition eines illegalen Aktes im Grenzgebiet alternative Ordnungen entwirft. Sie enthält damit auch einen politischen Anspruch, denn sie wird von jenen umgesetzt, denen aufgrund ihres Status herkömmliche politische Felder versperrt sind. Wie sich diese Verbindungen im urbanen Grenzgebiet gestalten und welche Machtkonstellationen sie ausprägen, während die Teilnehmer unterschiedliche Interessen verfolgen, ist eine wichtige Frage dieser Arbeit. Die Grenze steht hier demnach als Produkt diverser Aushandlungen im Zentrum der Betrachtung. Als buchstäbliche Grenze eines Grenzregimes reguliert sie nicht nur die Mobilität von Waren und Menschen, sondern auch die Prozesse ihrer Deutung. Grenzsicherung ist somit immer auch ein performativer Akt. In der Herstellung einer hegemonialen Deutung muss das Grenzregime, so die These, allzu oft scheitern, da sie den Deutungen jener ausgesetzt ist, die mit ihr umgehen. Nicht allen Menschen erschließt sie sich auf die gleiche Weise. Manuel Sánchez, der seine Lebensgeschichte und seine Weltvorstellung vom unteren Ende sozialer Klassenunterschiede auf das Tonbandgerät von Oscar Lewis gesprochen hat, berichtet eindrücklich von seinem Grenzübertritt (vgl. Lewis 1982 [1961]: 224ff.). Manuel überquert die Grenze in den 1950er Jahren, zu einer Zeit, als die USA sogenannte braceros, „Feldarbeiter“, aus Mexiko anwarben. Er beantragt in der Grenzstadt Mexicali die entsprechenden offiziellen Dokumente. Nach mehreren Wochen Wartezeit hält er endlich die Papiere in seinen Händen. Nun beginnt der „offizielle Grenzübertritt“. Manuel schildert eine Masse von Menschen, die in der Schlange stehen und sich dabei beinahe gegenseitig zerquetschen. Es gelingt ihm, sich am Hals zweier kräftiger Männer festzuhalten, die ihn Stück für Stück bis an die Kontrollstellen vorwärtsziehen. Was jedoch viel schlimmer ist, Manuel macht sich Sorgen, dass er nicht durchgelassen wird, weil er nicht wie die anderen Grenzüberquerer große Schwielen an den Händen hat, die ihn als erfahrenen Feldarbeiter erkennbar machen. Manuel gelangt dennoch über die Grenze. Seine Sorge, dass seine Hände ihn nicht als fähigen Arbeiter ausweisen, zeigt, dass die Papiere nicht für jede Person den gleichen Wert besitzen, wohingegen die Hände mehr über Personen sagen können als die offiziellen Dokumente. Sämtliche Papiere, die den Status einer Per-

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son durch die Klassifizierungen des Grenzregimes bestimmen, erscheinen offen, abstrakt und unnütz für jene, denen sie keine weiteren Privilegien versprechen. Die Schilderungen Manuels zeigen die Grenze als dominant, aber nicht als hegemonial. Sie wird vielmehr zum Gegenstand verschiedener Deutungen. Wie Akteure die US-mexikanische Grenze betrachten und mit ihr umgehen ist sehr verschieden, auch wenn diese einen formalen Rahmen für Handlungen vorgibt. Die Statusunterschiede und die Passagen, die ihr zugerechnet werden, produzieren diverse Sichtweisen auf diese Grenze und die Wege sie zu überqueren. Die Absicherung der US-mexikanische Grenze bewirkt soziale Unterschiede, indem Menschen über die Praktiken der Klassifizierung mit einem Status behaftet werden. Zudem besteht sie auch aus Mechanismen räumlicher Differenzierung, die Grenzübertritte notwendig machen. Welche Konzepte und Methoden eignen sich für meine Betrachtungen der verschiedenen Wege über diese Grenze? Um diese Frage zu klären, werde ich im folgenden Kapitel zunächst grundlegende konzeptionelle Überlegungen entwickeln.

1. Konzeptionelle Einführung

La Mojonera, auch bekannt als Boundary Monument 258, ist der westlichste Grenzstein zwischen Tijuana und San Diego, Mexiko und den USA.1 Er bildet einen wichtigen Ort für die Auseinandersetzung mit der Grenze. „Das ist das Denkmal von der Grenze, wie sie früher einmal war, da konnte man noch ganz um den Grenzstein herumgehen und ihn von allen Seiten sehen!“, sagte mir einmal eine Besucherin, als ich mich im Bereich des Grenzsteins aufhielt.2 Zu der Zeit unseres Zusammentreffens war der Stein wiederum von zwei Seiten in den Grenzzaun eingefasst, so dass sich die eine Hälfte des Steins auf der einen Seite und die andere Hälfte auf der anderen Seite des Grenzzaunes befanden. Als ich ein Jahr später an den Grenzstein zurückkehrte, konnte ich ihn komplett umrunden. Ein neuer Grenzzaun verlief nun in einem Bogen auf der einen Seite des Steins. „Der Grenzstein hat gar keine Bedeutung mehr für die Grenze; jetzt ist er nichts weiter als ein schlechtes Versteck für die Kinder, die dort spielen“, erzählte mir Martín, der am Grenzstein in Tijuana Mais verkauft. „Nun, ja“ ergänzt er: „immerhin weiß ich jetzt, was auf der Rückseite des Steins geschrie-

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La Mojonera markiert den Startpunkt der 3142,72 Kilometer langen Grenze, die Mexiko und die USA trennt. Die Errichtung des Grenzsteines erfolgte am 14. Juli 1851. La Mojonera ist einer von 276 Grenzsteinen zwischen den USA und Mexiko (Hughes 2007: 126). Der Vertrag von Guadalupe Hidalgo vom 2. Februar 1848 gilt als das Fundament für die Grenzziehung zwischen den USA und Mexiko und markiert gleichzeitig das Ende des Krieges zwischen den beiden Ländern. In diesem Vertrag wurde fixiert, dass eine binationale Kommission den exakten Grenzverlauf festlegen und diesen entsprechend markieren soll. Die Kommission bestimmte derzeit, dass insgesamt lediglich sieben Monumente den Grenzverlauf ausreichend markieren würden, da sie nicht davon ausgingen, dass die Siedlungsdichte im Grenzgebiet zunähme (Hughes 2007: 138).

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Tagebuchnotizen, 19.06.2011.

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ben steht, ohne die Grenze zu überqueren, nämlich genau das Gleiche!“3 Wie der Grenzstein mit der Grenze und der Grenzlandschaft verbunden ist, ist einem beständigen Wandel unterzogen. Inzwischen steht der Grenzstein unter Denkmalschutz, da die Infrastruktur der Grenzsicherung durch Zäune seine Existenz bedroht. Bevor der Ausbau der Technologie der Grenze zu einer Gefahr für den Grenzstein wurde, gab es Angriffe auf dieses symbolische Monument, so dass es selbst durch einen Zaun gesichert werden musste. Diese Absicherung von La Mojonera ist auf einem historischen Postkartenmotiv festgehalten (siehe Abb. I). Die Postkarte dokumentiert eine Zeit, als die Grenzlandschaft lediglich symbolisch als solche markiert war. Der Grenzstein La Mojonera war und ist noch immer ein beliebtes touristisches Ziel der Besucher der Grenzstadt Tijuana. Abbildung I: La Mojonera – der Grenzstein, eingezäunt zur Sicherung vor Übergriffen.

Postkartenmotiv aus dem Jahr 1899. Das Motiv des gesicherten Grenzsteins war beliebt. Es zeigt Konflikte um die staatliche Grenzsteinsymbolik, aufgegriffen für die touristischen Imaginationen einer abenteuerlichen Grenze (Quelle: Edward H. Mitchell, Postkarte 787, „Boundary Monument between United States and Mexico, Tia Juana, Mexico“).

Das Bild des Grenzsteins dokumentiert zwei Ebenen, die für meine Betrachtung der urbanen Grenzlandschaft von Tijuana und San Diego bedeutsam sind. Beide Ebenen lassen sich anhand des Bildes thematisch nachvollziehen. Sie bilden auch den Rahmen der vorliegenden Arbeit. 1.) Die Grenze ist im Bild als Grenzregime präsent. La Mojonera verdeutlicht dabei zunächst den Versuch, staatlich

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Gespräch mit Martín, Tagebuchnotizen, 15.12.2012.

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gesetzte Grenzen über materielle Spuren als Landschaft zu verdichten, indem diese mit konkreten bedeutungsvollen Zeichen versehen werden.4 So alt wie die Geschichte der Grenzsteine sind jedoch die Geschichten sie zu verrücken oder zu zerstören, weil es keine Grenze gibt, die nicht überschritten wird. Damit bin ich bei dem zweiten Thema der Arbeit, dass auch im Postkartenmotiv präsent ist: 2.) Der Grenzstein und die eindeutig markierte Grenze wird durch die Handlungen von Menschen beeinflusst. La Mojonera ist ein wichtiger öffentlicher Ort, an dem verschiedene Akteure zu Tage treten, Feste veranstaltet werden und Gemeinschaften entstehen. Dabei nehmen sie die Grenze zum Anlass für ihre Handlungen mit ihren eigenen Interessen, die häufig in Konflikt mit dem Grenzregime stehen.5 In der vorliegenden Arbeit möchte ich die US-mexikanische Grenze auf diesen unterschiedlichen Ebenen betrachten und dabei fragen, wie sie zusammenkommen. Welche Ansätze helfen dabei, die komplexen Zusammenhänge der USmexikanische Grenze zu verstehen und die verschiedenen Ebenen zu berücksichtigen? Wie die beiden Ebenen sich gegenseitig durchdringen, beschreibe ich mit dem Konzept der schwingenden Grenze. Anschließend werde ich die thematische Ebene des Grenzregimes mit den Überlegungen Arjun Appadurais zur Globalisierung (2008) beleuchten. Anhand dieser Überlegungen kann einerseits verdeutlicht werden, dass die US-mexikanische Grenze die Differenzierung bestimmter soziokultureller Landschaften der Globalisierung politisch und ökonomisch maßgeblich beeinflusst. Zudem kann deutlich gemacht werden, dass sie andererseits auch eine Hierarchisierung zwischen diesen Landschaften bewirkt. Anschließend begebe ich mich auf die Ebene der Akteure, um ihre Gemeinschaftlichkeit im Umgang mit der Grenze über das Konzept der Komplizenschaft zu betrachten. Schließlich, so werde ich zeigen, sind derartige Handlungen in komplizierte Machtverhältnisse eingebunden, die nur mit einem mehrstufigen Machtbegriff verstanden werden können, in dem die Trennung von „Oben“ und 4

Benedict Anderson hat die Bedeutung dieser Imagination für die Bildung von Nationalstaaten unter historischer Perspektive eindrucksvoll herausgearbeitet (Anderson 1983).

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Cole und Wolf sehen bei ihrer zum Klassiker gewordenen Betrachtung der Grenze, die in einem Alpental zwischen zwei Dörfern verläuft, ebenfalls Kräfte auf verschiedenen Ebenen am Werk, die sich gegenseitig informieren. Auf der einen Ebene folgen die Dorfbewohner den ökologischen Bedingungen des Tals und auf der anderen Ebene jenen der „weiteren Gesellschaft“, die sie in einen ideologischen, ökonomischen und politischen Zusammenhang versetzt. Letztere Ebene gestaltet sich für die beiden Dörfer auf den beiden Seiten einer Verwaltungsgrenze unterschiedlich und es zeigt sich, wie sie beide und jedes für sich die Ebenen verhandeln (vgl. Cole/Wolf 1974: 21).

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„Unten“ problematisiert wird. In einem weiteren Abschnitt werde ich die Rolle von Ethnologen in derartigen Komplizenschaften betrachten. Am Ende des vorliegenden Kapitels hinterfrage ich meine eigene Komplizenschaft in diesen Handlungsorten an der US-mexikanischen Grenze und stelle dabei grundlegende methodische Überlegungen für diese Arbeit an.

1.1 D IE US- MEXIKANISCHE G RENZE Staatsgrenzen wie die US-mexikanische sind ambivalente Gebilde. Die unterschiedlichen Ebenen, auf denen diese Grenze jeweils verhandelt wird, durchdringen sich gegenseitig. Das historische Postkartenmotiv hat gezeigt, wie diese Ebenen in der Vorstellung von einer abenteuerlichen Grenze zu einem Bild verschmelzen. Es zeugt auch von den Konflikten, die durch das Zusammenwirken dieser Ebenen an der US-mexikanischen Grenze stattfinden. In meinen Augen lassen sie sich daher nur mit sehr unterschiedlichen Diskursen betrachten, die häufig als widersprüchlich und unvereinbar gelten: Zunächst braucht es einen marxistischen Diskurs, der die gesellschaftlichen Machtkonstellationen eindeutig mit einem „Oben“ und einem „Unten“ sichtbar macht. Das Grenzregime kann mit den Begrifflichkeiten von Josiah Heyman als historisches Problem des Kapitalismus verstanden werden. Heyman betrachtet Grenzen als bürokratische Ränder, die dem Kapital dazu dienen, sich über Nationen zu transformieren um damit Wert zu realisieren (Heyman 1994: 47). Dabei verfügen staatliche Akteure über die Macht, diese Ränder in Form von Grenzen so zu gestalten, dass sie diese Realisierung von Wert ermöglichen. In diesem Zuge entstehen durch Grenzen auch hierarchische Räume und soziale Differenzen. Mit Heyman lassen sich demnach das Kapital und der Staat als Grenzregime am einen Ende der Macht positionieren, während auf der anderen Seite die Bevölkerung des Grenzgebiets zu finden ist, deren Handlungen durch das Grenzregime beeinflusst werden (Heyman 1994: 52). Heyman macht deutlich, dass diese Bewohner des Grenzgebiets gegenüber den staatlichen Akteuren und den Akteuren des Kapitals täglich kapitulieren. Sie müssen sich mehrfach lokalisieren in verschiedenen Nischen, die durch die verschiedenen komplizierten Aktivitäten von Staaten und Kapitalisten entstehen (ebd.). Auf dieser Seite der Macht produzieren Akteure jedoch auch ihre eigenen Nischen mit der Grenze, die sich am ehesten mit den Diskursen um die Mikropolitiken von Macht betrachten lassen, wie sie sich mit Foucault längst in vielen wissenschaftlichen Debatten durchgesetzt haben, vor allem auch in jenen, die sich auf Grenzgebiete beziehen. Im Rahmen dieser Diskurse des Poststruktura-

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lismus wurde die US-mexikanische Grenze vor allem als Ort der Produktion und Aushandlung von Differenzen in machtvollen Zusammenhängen betrachtet (vgl. Gupta/Ferguson 1992). Zudem werden Grenzen hier als Globalisierungsgrenzen neu bewertet (Gupta/Ferguson 1992; Rouse 1991). In der widersprüchlichen urbanen Grenzlandschaft ist die Berücksichtigung beider thematischer Ebenen notwendig. Vertreter der einen und der anderen Richtung sind grundlegend für meine Betrachtung der komplementären Verbundenheit des Grenzregimes mit den Umständen der Überschreitung dieser Grenze. Die „Schwingende Grenze“ La Línea bezeichnet, wie eingangs gezeigt wurde, nicht nur die Grenze in ihrer Länge, sondern vor allem den Grenzübergang, den Punkt, an dem in Tijuana und San Diego die Grenze Richtung Norden oder Süden überquert werden kann. Das Bild einer Grenzlinie kann aufschlussreich sein für die Frage, wie Grenzen beschaffen sind. Die Grenze als Linie trennt zwei Seiten voneinander. Gleichzeitig betont sie die Nachbarschaft der beiden getrennten Seiten. Auch wenn sie zunächst als Markierung einer Differenz gesetzt wird, findet durch diese Linie eine mögliche Verbindung statt. Diese Verbindung durch die Linie ist ein Zirkulationsraum. Aus diesem Zirkulationsraum heraus wird die Grenze als Mechanismus zur Regulation von Bewegung und zur Bestimmung von Verbindungen sichtbar. Die Grenze wird damit zunächst aus einem einfachen funktionalen Bewegungszusammenhang heraus erfassbar, der in seiner Leistung für den umgrenzten Gesamtzusammenhang definiert wird. In dem Erhalt dieses einfachen Bewegungszusammenhangs liegt die Aufgabe des Grenzregimes. Bewegungen lassen sich jedoch niemals vollständig kontrollieren. Wie Verbindungen an und über eine bestehende Grenze hergestellt werden, ist in keiner Weise nur durch eine einfache und einheitliche Weise determiniert. Es gibt eine Fülle an Wegen und Richtungen, um sich in einer Grenzlandschaft zu bewegen. Die Grenze besteht aus einer Ansammlung von Zirkulationsräumen, die man zum Beispiel als formelle und informelle charakterisieren kann, als gebilligte und als sanktionierte. Der Zusammenhang, der sich aus diesen unterschiedlichen Zirkulationsräumen ergibt, ist konstitutiv für eine schwingende Grenze. Inwiefern lässt sich die US-mexikanische Grenze als schwingende Grenze betrachten? Vor allem der komplementäre Zusammenhang der populären offiziellen und inoffiziellen Zirkulationsräume der US-mexikanischen Grenze mit seinen spezifischen Akteuren hilft an dieser Stelle, ihren Charakter als schwingende Grenze näher zu bestimmen.

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In diesen Zirkulationsräumen agieren zunächst die Agenten des Grenzschutzes. Heyman hat die Arbeitsweisen dieser Agenten, hauptsächlich der U.S. Immigration Officers, untersucht und die Bedingungen ihrer alltäglichen Interaktionen ausführlich beschrieben (Heyman 2002). Heyman legt seinen Fokus zum Beispiel auf die Selbstbeschreibungen mexikanisch-amerikanischer Agenten, die sich eher über ihre US-amerikanische Staatsbürgerschaft als mit den Erfahrungen der „Migranten ohne Papiere“ (undocumented migrants) identifizieren.6 Im Verlauf seiner vielfältigen Untersuchungen des Grenzregimes führte Heyman umfassende Befragungen mit Beamten des Grenzschutzes durch. In Bezug auf ihre ethnische Identifizierung variierten ihre Antworten. Konsistenz herrschte jedoch in Bezug auf die Identifizierung der Befragten mit der Staatsbürgerschaft und den damit verbundenen spezifischen Rechten, Arbeitsplätzen und Privilegien. Gleichzeitig standen sie dem Thema der Migration, ob legal oder illegal, sehr kritisch gegenüber (Heyman 2002: 479).7 Die Mehrzahl der Agenten ist in den Grenzstädten aufgewachsen. In diesen Städten gilt der Beruf als erstrebenswert, da er Vergünstigungen verspricht. Ein Großteil derjenigen, die in den öffentlichen Bereichen des Grenzschutzes arbeiten, entstammt der Arbeiterklasse. Sie ehren die Grenze, sind sozial mobil und bevorzugen eine Karriere im öffentlichen Dienst (Heyman 2001: 687). Die Überwachung der Grenze mit Hilfe von machtvollen Bürokratien und Technologien ist die zentrale Aufgabe dieser Beamten (vgl. Heyman 1995 und 1999). Sie lassen sich in dieser Hinsicht als Akteure betrachten, welche die Bewegungen über und durch die US-mexikanischen Grenze regulieren und kanalisieren. Mit ihren Handlungen, aber auch mit ihren Selbstbeschreibungen und Positionen an der Grenze determinieren sie das Grenzregime. Heymans Untersuchungen verdeutlichen zudem, dass Statusunterschiede zu den wichtigsten Kriterien für soziale Unterschiede im US-mexikanischen Grenzgebiet zählen.8 In Hinblick auf derartige Statusunterschiede konstituiert sich ein weiterer populärer Zirkulationsraum, der eng mit dem Grenzregime verknüpft ist, und damit bestimmend wird für eine schwingende Grenze: der Raum, in dem die

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Laut Heyman sind 71% der U.S. Immigration Officers mexikanisch-amerikanischer Herkunft (Heyman 2001: 686).

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„Citizenship privileges render the imagination less able to envision other, unprivileged ways of life and hence less likely to emphasize with them. Such motivations support the daily work of enforcing distinctions and sustain the broader ‚citizenship politics‘ justifying and promoting this work“ (Heyman 2002: 480).

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Auch Nevins macht die Bedeutung von Statusunterschieden deutlich (vgl. Nevins 2002, 2010 und Kap. 3.1 dieser Arbeit).

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indocumentadas/os, die illegal aliens9, sich über die Grenze bewegen – ein Raum unkontrollierbarer menschlicher Mobilität. Der kalifornische Ethnologe Michael Kearney forscht und arbeitet in diesem Zirkulationsraum. In seinem Buch The Changing Fields of Anthropology (1991) beschreibt er, wie er im Verlauf seiner Karriere in den 1970er und 1980er Jahren quasi zufällig auf die Bedingungen der Grenze stieß, die ihn am Anfang seiner Karriere noch klassisch von seinem Feld getrennt hatten. Als Ethnologe war er nicht mehr geografisch und kulturell klar von seinen Forschungssubjekten getrennt, vielmehr wurden beide Teil einer spezifischen Grenzlandschaft. Die Mixteken Oaxacas, zu denen Kearney im ethnologischen Auftrag bisher gereist war, wurden plötzlich in Kearneys Heimatstadt Riverside präsent, wo sie als indocumentadas/os auf den Obstplantagen arbeiteten. Die Feldforschung wurde für Kearney alltäglich, da er viele Oaxacanas/os bei sich aufnahm und als politischer Aktivist Anwalt ihrer Probleme wurde. Das anthropologische „Ich“ Kearneys wurde Teil einer „organischen Anthropologie“ (Kearney 2004: 86). Diese Verflechtungen hatten theoretische Konsequenzen, die in die Bestimmung transnationaler und globaler Felder10 mündeten. Kearney schildert einen Zusammenhang konfliktgeladener Zirkulationsräume der Grenze, die sich gegenseitig beeinflussen und durch das Grenzregime entstehen. Seine „Border Area“ ist zugleich eine Gegend, die bewohnt wird von den Border Patrols und den coyotes11, „Kojoten“, die den Weg der Grenzüberschreiter verstellen oder erleichtern. Das Grenzgebiet ist ein umkämpfter Raum. Die Kämpfe beziehen sich nicht auf das Territorium, sondern auf Identitäten, Bewegungen von Personen sowie kulturelle und politische Hegemonie (Kearney 2004: 261). Die kulturellen und demografischen Realitäten weichen von den juristischen Bestimmungen des Territoriums ab, das im geschilderten Fall durch staatliche Macht besetzt ist (ebd.). Die Grenzübertritte der indocumentadas/os 9

Der Begriff illegal alien ist einer der umstrittensten in der Öffentlichkeit der USmexikanischen Grenze. Im Jahr 2013 wurde er als Bezeichnung für eine Person aus der medialen Öffentlichkeit verbannt und seine Verwendung für unzulässig erklärt. In vielen anderen offiziellen und inoffiziellen Zusammenhängen wird er aber dennoch verwendet.

10 Siehe auch die Arbeiten zum Transnationalismus von Hannerz (Hannerz 1992, 1997, 2003 [1996] und 2010) und zur Globalisierung von Appadurai (Appadurai 2004, 2005 [2001], 2008 [1996] und 2009). 11 Als coyotes („Kojoten“) oder auch polleros („Geflügelhändler“) werden die Akteure des informellen Sektors bezeichnet, die den inoffiziellen Grenzübertritt von Individuen und Gruppen als Dienstleistung anbieten. Als pollos („Hühnchen“) werden diejenigen bezeichnet, die diese Dienstleistung nutzen.

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entziehen sich staatlicher Kontrolle und zugleich der Macht des Staates, Identitäten zu definieren, zu akzeptieren oder abzulehnen (ebd.). Der alien tritt in die Passage ein, kann die transnationale Zone aber niemals komplett durchqueren und verbleibt damit in der liminalen Region, wenn er als ambivalente, stigmatisierte und verwundbare Person klassifiziert wird (ebd.). Diese liminale Region bezeichnet Kearney in Anlehnung an Van Gennep12 als raites of passage, wobei raite eine Abwandlung des Wortes ride, „Mitfahrgelegenheit“, ist. Die raiteros verschaffen den Grenzüberquerern eine informelle Fahrt in den Norden. In dieser Passage siedelt Kearney auch die pollos („Hühnchen“) an. In dieser Bezeichnung für die Migranten, die in die informelle Passage über die Grenze eintreten, sieht Kearney ihren Charakter als Initianden. Wie Neugeborene sind sie verletzlich und schutzlos. Denn die Helden der liminalen Grenze sind die coyotes. Ihr Bild stammt aus der indigenen Mythologie Mexikos und Nordamerikas, wo sie als Tricksterfiguren mit ihren Ambivalenzen schöpferisch und zerstörerisch zugleich sind. Die Hühnchen begeben sich in die Hände der Kojoten und werden entweder beschützt oder von ihnen gefressen (Kearney 2004: 261f.). Das Grenzregime und die Zirkulationsräume bedingen einander komplementär. Ihr Zusammenhang bringt die Grenze in Schwingung, ohne dass sie je endgültig aus- oder eingrenzt oder endgültig und einmalig überschritten wird. Damit komme ich zu einer Definition: Die schwingende Grenze bezeichnet den fortwährenden Prozess, die Grenze in ihrer Funktion als Kanal für gewünschte Austauschprozesse zu erhalten und zugleich andere Austauschprozesse zu ermöglichen, die zwar unerwünscht sind, aber die Grenze konstituieren. Die schwingende Grenze kann somit über die Akteure mit ihren unterschiedlichen Wegen durch die Grenzlandschaft und deren Lokalisierungen und Beziehungen verstanden werden. In der Landschaft finden sich die materiellen Spuren der Grenze, die nicht nur die Handlungen der coyotes, pollos, indocumentadas/os und Border Patrols beeinflusst, sondern auch die Handlungen der Festteilnehmer an bestimmten Festorten zwischen Tijuana und San Diego, die sich wegen der Grenze zusammenfinden. Ihre Handlungen in den Zirkulationsräumen der Grenze sind geprägt durch die ungleichmäßige Verteilung von Menschen, Medien, Technologien, Finanzen und Ideologien auf beiden Seiten der Grenze. Ihre Zirkulation über die Grenze differenziert sich entlang unterschiedlicher Zirkulationsräume, die mit unterschiedlichen Intensitäten die Verbindungen durch die Grenze herstellen. Die Zirkulationsräume stehen demnach in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, das sich aus der Regulation durch das Grenzregime ergibt. Doch was 12 Es handelt sich um ein Wortspiel, das sich auf Van Genneps berühmte Betrachtung der Übergangsrituale, den rites de passage, bezieht (Van Gennep 2005 [1906]).

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zirkuliert? Wie zirkuliert es? Was passiert bei der Zirkulation über die Grenze? Antworten auf diese Fragen lassen sich durch die Betrachtung des Themas der Globalisierung finden. Welche Bedeutung die Funktionalität von Staatsgrenzen für globale kulturelle Ökonomien hat, möchte ich im folgenden Abschnitt klären. Staatsgrenzen und die globale kulturelle Ökonomie Welche ökonomische Rolle spielen Staatsgrenzen? Am Anfang meiner konzeptionellen Überlegungen habe ich auf ihre Bedeutung für die Realisierung von Mehrwert hingewiesen und damit ihren Einfluss auf die Kapitalakkumulation betont. Welche Bedeutung haben Staatsgrenzen in der Globalisierung und in der globalen Ökonomie? Häufig wurde Globalisierung als Prozess der Deterritorialisierung verstanden. Damit schienen Staatsgrenzen Relikte im Verschwinden zu sein (vgl. Appadurai 2008 [1996]; Basch/Glick Schiller/Szanton Blanc 1997). Diese sind jedoch nicht dabei, zu verschwinden (vgl. Alvarez 1995: 449 und 1999: 225; Anderson 1997: 12f. und 191f.; Donnan/Wilson 2010: 1). Stattdessen werden sie höher und dichter denn je. Die neuesten Technologien kommen zum Einsatz, um die Mobilität über die Grenze zu regulieren. Die Globalisierungsgrenze besteht aus einer Reihe widersprüchlicher Prozesse. Sie steckt gleichzeitig in der Krise und sie hat Konjunktur. Die Grenze erfüllt die doppelte Aufgabe, Zirkulation zu ermöglichen und zu verhindern. Beide Aufgabenbereiche entsprechen widersprüchlichen Prozessen, die einen komplexen Zusammenhang herstellen. Staatsgrenzen dienen dazu, diese Prozesse zu simplifizieren. In diesem Sinne lassen sich Grenzen als Landschaften vereinfachender staatlicher Praktiken betrachten. James C. Scott benutzt in seinem Buch Seeing Like a State für derartige Praktiken die Metaphorik des staatlichen Tunnelblicks (Scott 1998: 13). Er beschreibt wie dieser Blick sich auf wenige Aspekte der Landschaft konzentriert und diese auf ein bestimmtes Ziel hin vereinfacht. Mit dieser Standardisierung von lokalen sozialen Praktiken können diese aufgezeichnet und kontrolliert werden. Der staatliche Tunnelblick hilft demnach bei der Organisation der natürlichen Umgebung. Als Beispiel nennt Scott die simplifizierte Darstellung der Umgebung in Landkarten. Dadurch, dass diese Darstellungen an staatliche Macht gekoppelt sind, wird ihre Vereinfachung auch jenseits ihrer Darstellung realisiert (Scott 1998: 2f.). Diese Überlegung lässt sich auch auf die Grenzen des Staates übertragen, die von den Karten als erste Vereinfachung in Form einer Linie in der Landschaft umgesetzt werden. Als Globalisierungsgrenze muss diese vereinfachte Linie jedoch der Funktionalität eines Grenzregimes gerecht werden, das komplexe Zusammenhänge vermittelt.

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Staatliche Grenzen bleiben wichtige Mechanismen für die geregelte und wertsteigernde Zirkulation kultureller Güter. Aktuelle Grenzen erlauben die Ausdifferenzierung von Zirkulationsprozessen. Sie sind durchlässig für bestimmte Personen oder Güter, während sie anderen die Durchlässigkeit mit Restriktionen, Statusdifferenzen, Zöllen oder auch ihrer schlichten Materialität, die sich in Überwachungstechniken und Barrieren, wie Zäunen, ausdrückt, verwehren. Diese Ausdifferenzierung bestimmter Zirkulationsprozesse durch die Staatsgrenzen hat strukturelle Folgen für das Phänomen der Globalisierung. Diese Folgen lassen sich mit den Begrifflichkeiten Appadurais, einem der großen Theoretiker der Globalisierungsdebatte, präziser fassen. Die Ursache für die Komplexität der globalen Ökonomie sieht Appadurai in einer fundamentalen Ausdifferenzierung von soziokulturellen Landschaften in scapes. Auch wenn Appadurai einen Ansatz stark macht, in dem Staaten und Staatsgrenzen kaum mehr eine Rolle spielen, kann man seine Überlegungen mit der Wirkung von Staatsgrenzen im Hinblick auf die Prozesse von Globalisierung verbinden: Staatsgrenzen begünstigen eine Abkopplung dieser Landschaften voneinander. Indem Grenzen diese Landschaften abtrennen, können kulturelle Formen durch Grenzen zirkulieren, werden konsumierbar und zum Teil einer Wertsteigerung. Doch was für differenzierte Landschaften beschreibt er? Wie genau wirken Grenzen auf die Differenzierung dieser in Appadurais Begrifflichkeit sogenannten scapes? Appadurai identifiziert fünf von diesen scapes, „Landschaften“ globaler Ströme, die voneinander abgekoppelt die Welt globalisieren, die Teile einer globalen kulturellen Ökonomie werden und miteinander variable Beziehungen eingehen. Er identifiziert 1.) das ethnoscape, die Landschaft global zirkulierender Menschen. Zu dieser Landschaft zählen die Migranten, Flüchtlinge und Exilanten, aber auch die Touristen. Neben dieser Landschaft mobiler Menschen existiert 2.) die Landschaft zirkulierender Medien, das mediascape, 3.) die Landschaft zirkulierender Technologien, technoscape, 4.) die Landschaft zirkulierender Finanzen, financescape und schließlich 5.) eine Landschaft der zirkulierenden Ideologien, ideoscape (Appadurai 2008 [1996]: 297f.). Im Sinne Appadurais sind die globalen Ströme deterritorialisiert: Die verschiedenen Landschaften sind beweglich, sie lösen sich von ihren Orten und werden erneut reterritorialisiert (Appadurai 2008 [1996]: 303). In Anschluss an Appadurais Überlegungen lässt sich die These formulieren, dass den Staatsgrenzen eine entscheidende Bedeutung in der Differenzierung dieser Landschaften zukommt. Durch sie werden die Ströme kanalisiert, einige verhindert, andere wiederum ermöglicht und dadurch ausdifferenziert. Viele Menschen können bestimmte Grenzen kaum überqueren oder nur mit einem

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extremen Risiko für ihr Leben und ihre Freiheit, während die Grenze für Kapital, Güter und auch Medien kaum ein Hindernis darstellt. Diese Tatsache verdeutlicht, dass Grenzen diese Landschaften nicht nur ausdifferenzieren, sondern dass sie sie auch in ein hierarchisches Verhältnis setzen.13 Diese Hierarchisierung wird in den unterschiedlichen Konditionen für die Zirkulation deutlich. An der Grenze ist diese Hierarchisierung der verschiedenen Landschaften gut beobachtbar. Jährlich wird sie von Millionen von Menschen überquert (ethnoscapes). Die meisten folgen der Nachfrage nach Arbeitskraft. Gleichzeitig wird man alltäglich Zeuge von den Deportationen von Menschen. „Ich war noch nie zuvor in Tijuana“, sagte mir einmal ein Mann in Tijuana, der am Grenzübergang abgesetzt wurde. „Was soll ich hier machen? Ich kenne mich hier nicht aus. Meine ganze Familie lebt auf der anderen Seite der Grenze. Ich muss wieder zu ihnen hinübergelangen, aber ich weiß nicht, wann und wie es mir gelingen kann.“14 Stimmen wie diese sind keine Seltenheit im urbanen Grenzgebiet von Tijuana und San Diego.15 Finanzen nehmen hingegen ganz einfach ihren Weg über die Grenze (financescapes). Die unzähligen Büros für Geldtransfers direkt am Grenzübergang sind hierfür ein geeignetes Beispiel sowie die familiären Strategien, finanzielle Mittel aus den USA nach Mexiko zu senden, die mit derartigen Büros verbunden sind. Einige Personen begeben sich extra über die Grenze, um die Dollars, mit denen ihre Arbeit in Tijuana bezahlt wurde, in San Diego auf ein USamerikanisches Konto einzuzahlen, weil die mexikanische Bank hohe Gebühren für ein Dollarkonto nimmt und eine internationale Überweisung zu teuer ist. Auch den Technologien lassen sich entsprechend differenzierte Zirkulationsräume der Grenze zuordnen (technoscapes). Sichtbar werden diese vor allem in der Bedeutung der Maquiladoras16 für die Ökonomien der Grenzgebiete. Hier werden Einzelteile mit Hilfe von Technologien zu Halbfabrikaten gefertigt und dann als Güter über die Grenze transportiert, damit sie wiederum in einem anderen Land zu einem Fertigfabrikat zusammengesetzt werden können. Für die Zirkulation dieser Technologien und anderer Produkte existiert im urbanen 13 In der gleichen Weise kritisiert auch Heyman den Ansatz Appadurais (vgl. Heyman 2009). 14 Tagebuchnotizen 19.01.2011. 15 Für eine ausführlichere Betrachtung der Grenzkontrollen menschlicher Mobilität und deren Strategien der Kriminalisierung siehe auch Pickering und Weber (2006). 16 Die Maquiladoras („Montagefabriken“) produzieren Einzelteile von Produktionsketten innerhalb von Freihandelszonen. Sie ermöglichen die Senkung der Lohnkosten für bestimmte Produktionsabschnitte. Die Maquiladora-Industrien stellen einen riesigen Arbeitsmarkt dar, der Arbeitssuchende und Unternehmen an die Grenze lockt.

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Grenzgebiet von San Diego und Tijuana ein weiterer Grenzübergang: „Otay Mesa“, an dem sich die Lastkraftwagen in einer unendlichen Schlange aneinanderreihen. Dieser Funktionalität des Öffnens und des Schließens entspricht die neoliberale Grenze17, die im Grenzgebiet von USA und Mexiko etwa im Ausgang des NAFTA-Abkommens wirksam wurde. Sie wird durch den umfangreichen Ausbau des Grenzübergangs im urbanen Grenzgebiet von Tijuana und San Diego weiter geöffnet, gleichzeitig wird sie mehr und mehr gesichert. Auf diese Art ist sie den Bedingungen differenzierter globaler Ströme angepasst: Sie verschließt sich der einen Landschaft und ihrer Zirkulation, während sie für eine andere weit geöffnet bleibt. Die Praktiken der Grenze ermöglichen diese Differenzierungen, indem sie Menschen einen Status zuweisen. Zudem werden Dinge mit rechtlichen Auflagen für die Ein- und Ausfuhr versehen. Derartige Prozesse beschreiben die Kräfteverhältnisse des Grenzregimes, das nicht nur die Bildung differenzierter Landschaften und ihrer Ströme begünstigt, sondern dabei auch Statusunterschiede erzeugt. In der Auseinandersetzung mit der Grenze, ihren Statusunterschieden und Klassifizierungen bilden sich Festgemeinschaften wie die der Posadas, des Día de Juan oder der Feste der neoindigenen Mexica mit den Kumiai. Sie existieren in und durch diesen Zusammenhang mit der Grenze. Derartige Festgemeinschaften setzen sich mit dieser Grenze, ihren Statusunterschieden und Klassifizierungen auseinander. Das, was die Grenze in ihrer Funktionalität voneinander abkoppelt und hierarchisch besetzt, wird im Rahmen dieser Feste wieder zusammengeführt. Ausgehend von den Statusunterschieden müssen derartige heterogene Festgemeinschaften von den klassischen Festgemeinschaften, die den gleichen Status besitzen, unterschieden werden. Im folgenden Abschnitt werde ich somit klären, wie festliche Handlungen zwischen Festteilnehmern, die eine derartige Grenze und ihre Statusunterschiede zum Anlass nehmen, konzeptuell beschrieben werden können?

17 Für eine breitere Auseinandersetzung mit den diversen Bedeutungen des vielseitig verwendeten und daher auch zunehmend unscharfen Begriff des Neoliberalismus vgl. Ferguson (2010). Ich verwende den Begriff vor allem im Sinne von Comaroff und Comaroff (2002). Neoliberalismus löst die Arbeitskraft von ihrem menschlichen Kontext, um Gesellschaft durch Markt zu ersetzen. Dabei werden Lokalitäten an den Staaten vorbei umgeformt (Comaroff/Comaroff 2002: 14). Ökonomie und Medien ersetzen den Staat. Die Bedeutung der Staatsgrenzen ist jedoch gestiegen (Comaroff/Comaroff 2002: 38ff.).

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1.2 K OMPLIZENSCHAFT Nachdem ich einmal von einem Forschungsaufenthalt an der US-mexikanischen Grenze zurückgekehrt war, stieß ich auf einen alltäglich verwendeten Begriff, der mir auf die Handlungen der Menschen im Umgang mit der Grenze perfekt zu passen schien: Komplizenschaft. Ich begann den Begriff zu einem Konzept auszuarbeiten, das mir helfen würde, die Bedingungen des Grenzgebiets zu beschreiben. Der Begriff ist nicht unproblematisch, da er negativ konnotiert ist. Doch diese problematischen Konnotationen erschienen mir fruchtbar. Ich entdeckte, dass der Begriff der Komplizenschaft auch schon für andere Untersuchungen herangezogen wurde, so durch die Kulturwissenschaftlerin Gesa Ziemer. Sie veröffentlichte eine Monografie mit dem Titel „Komplizenschaft“ (2013). Komplizenschaft wurde zunächst, so vermerkt Ziemer, für eine informelle Mittäterschaft verwendet, die staatlich sanktioniert ist (vgl. Ziemer 2013). Er behandelt den Grad der Schuld, die dem Mittäter zukommt, der, so die Annahme, mitschuldig ist, da er die Tat positiv beeinflusst. Der Begriff beschreibt somit zunächst einen komplizierten juristischen Zusammenhang aus Täterschaft und Mittäterschaft, wobei das Verhältnis der beiden möglicherweise die Ursache der Komplikation ist, aber auch der Garant für die erfolgreiche Tat. In seiner Etymologie lässt sich das Wort „Komplize“ dabei auf das lateinische complectere zurückführen. Es besteht aus dem Präfix com, „zusammen mit“, und dem Wortstamm plectere, „flechten“ (vgl. Kluge 2001: 561). Beide Elemente, das der Täterschaft, welches auf einen Handlungszusammenhang verweist und das der zielorientierten Verflechtung von vormals Getrenntem, geben einen Impuls für eine Lesart von Komplizenschaft, die ich dem Konzept der schwingenden Grenze zur Seite stellen will. Während Ziemer sich vor allem auf eine Innenperspektive derartiger Gemeinschaften stützt, möchte ich auch die äußeren Bedingungen für diese gemeinschaftlichen Handlungen zwischen den Komplizen berücksichtigen. Ziemer spricht zum Beispiel den Handlungen von Künstlergruppen und den gemeinsamen Handlungen zwischen Gefängnisinsassinnen die gleichen Qualitäten zu (vgl. Ziemer 2013: 129ff.), weil sie die übergeordneten Strukturen vernachlässigt, in denen diese Gemeinschaften angesiedelt sind. In der vorliegenden Betrachtung wird jedoch die Grenze als Bedingung für die Handlungen der Menschen in den Blick genommen. Sie ist auch die Bedingung für die Bildung von Komplizenschaft und muss daher in die Betrachtung einbezogen werden. Für die Verwendung des Begriffs der Komplizenschaft in der vorliegenden Untersuchung spricht demnach ein grundlegender Aspekt, der die Perspektive Ziemers erweitert. Die informellen Handlungen an der Grenze sind zugleich

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Ausdruck machtvoller staatlicher Objektivierungsprozesse des Grenzregimes. Die informellen Handlungen an und über die Grenze hinweg haben Donnan und Wilson als das „Andere“18 aus staatlicher Sicht beschrieben (Donnan/Wilson 2010: 8). Mit diesem Begriff bekommt meines Erachtens dieses „Andere“ eine konkretere Repräsentation an der Schnittstelle zwischen staatlicher Macht und lokalen sozialen Bezügen im Grenzkontext. Diese Schnittstelle verbindet offizielle und inoffizielle, zentrale und periphere sowie öffentliche und verborgene Aspekte. An dieser Schnittstelle informieren, verhandeln und objektivieren sich nationalstaatliche und lokale soziale Bezüge gegenseitig. Hier werden auch die festlichen Handlungen im urbanen Grenzgebiet von Tijuana und San Diego begangen. Dieser spezifische Grenzkontext beeinflusst den Charakter der Festgemeinschaft dahingehend, dass die Festteilnehmer eine Beziehung unterhalten, die durch räumliche und soziale Positionierungen der Grenze geprägt ist. Statusunterschiede sind bestimmend für die gemeinschaftlichen Handlungen, die Thema dieser Arbeit sind. Sie sind ganz wesentlich dafür, dass sich rituelle Gemeinschaften bilden und dafür, dass die Teilnehmer zu Komplizen werden. Komplizen, Status und Rituale Staatsgrenzen produzieren Differenzen im Status. Festliche Zusammenhänge hingegen relativieren Status. Als Zwischenstadien gesellschaftlicher Ordnungen enthalten sie Momente der Statuslosigkeit (vgl. Turner 2005 [1969]: 96f.). Die festlichen Veranstaltungen im urbanen Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA, die die Grenze zum Anlass haben und damit zum Gegenstand dieser Arbeit werden, sind als Praktiken in Relation zur Grenze sowie ihrer räumlichen und sozialen Differenzen zu verstehen. „Das Fest findet auf den zwei Seiten der Grenze statt“, erklärte Mary Galván, die Organisatorin eines dieser Feste. „Die Menschen auf der einen Seite symbolisieren jene, die die Türen verschließen, die Menschen auf der anderen Seite, jene, die um Einlass bitten.“ Sie ergänzt: „Mit diesem Widerspruch bilden wir eine Gemeinschaft!“.19 Das Fest ist eine Posada Sin Fronteras. Sie findet direkt am Grenzzaun statt. Die Teilnehmer besitzen einen unterschiedlichen Status an der Grenze, wobei ihre Differenzen thematisch im Zentrum des Festes stehen. Feste wie dieses bilden spezifische Formen der Vergemeinschaftung, die sich der räumlichen und sozialen Differenzierung

18 „‚Frontier‘ where there is always an explicit expectation of meeting and mixing with others, many of whom in national senses at international borders are the ‚Other‘“ (Donnan/Wilson 2010: 8). 19 Tagebuchnotizen, 26.12.2010.

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sowie der Produktion von derartigen Statusunterschieden durch die Grenze innerhalb eines festlichen Rahmens widmen. Nicht die festliche Statuslosigkeit erscheint mir somit das entscheidende Kriterium dieser Feste zu sein, vielmehr bilden Statusdifferenzen die zentralen Momente innerhalb dieser Feste und ihrer Festgemeinschaften. Diese spezifischen Formen des gemeinsamen Handelns im Umfeld der Grenze beschreibe ich mit dem Konzept der Komplizenschaft. Die öffentlichen Feste im urbanen Grenzgebiet sind verbindende Handlungen von Menschen mit Statusunterschieden. Meine Überlegungen werden daher von der Annahme geleitet, dass der festliche und zugleich informelle Umgang mit der Staatsgrenze des untersuchten Gebiets über derartige Formen der festlichen Vergemeinschaftung beschrieben werden kann. Die besondere Rolle des Status in rituellen Handlungen wurde mit dem Konzept der communitas Turners bereits hervorgehoben. Turner beschreibt Übergangsrituale, die eine besondere Gemeinschaft zwischen den Ritualteilnehmern herstellen.20 Das Besondere ist nun, dass er das Konzept auch auf breitere gesellschaftliche Zusammenhänge überträgt. Damit betont er zugleich die politischen Dimensionen von Ritualen. Als Gesellschaftsmodell beschreibt communitas den Übergangsbereich zwischen zwei festen Strukturen und enthält die Funktion einer „unerlässlichen Leere in der Mitte“, die eine utopische Verbundenheit zwischen den Menschen ermöglicht (Turner 2005 [1969]: 124). In diesem Zustand, Turner nennt ihn Liminalität, sind die Teilnehmer gleich, ihre herkömmlichen Positionen des alltäglichen kulturellen Raums sind aufgehoben (Turner 2005 [1969]: 95). Zudem wird der Status der Teilnehmer in diesen rituellen Passagen vereinheitlicht (vgl. Turner 2005 [1969]: 96f.). Die Mitglieder der communitas haben sich gemeinschaftlich den Bedingungen des Rituals unterworfen, sie teilen die gleiche Position. In diesem Sinne ist die communitas egalitär, denn, so Turner: „Der Schwellenzustand impliziert, dass es kein Oben und kein Unten gibt und dass der, der oben ist, erfahren muss, was es bedeutet unten zu sein“ (ebd.). Die Ritualteilnehmer treten von einem Status in einen anderen ein und erreichen diesen Statuswechsel über die Statuslosigkeit dieses Schwellenzustands. Mit Turners Modell werden die Schwellenzustände als communitas mit positiven Wirkungen vorgestellt: Sie sind Möglichkeiten zur Befreiung aus

20 Angelehnt an die Übergangsriten Van Genneps, die in drei Phasen unterteilt sind, das Hineingehen, das Warten und das Hinausgehen (Van Gennep 2005 [1906]: 21 und 33), hat sich Turner für die zentrale Phase interessiert, die Phase des eigentlichen Übergangs.

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festen Ordnungen.21 Aber gleichzeitig ist die communitas an die Struktur der herrschenden Ordnung gebunden, aus der sie entstanden ist. Damit ist ihre Kraft begrenzt. Sie bildet lediglich den Durch- und Übergang eines gesellschaftlichen Zusammenhangs. Turners Modell ist außerordentlich hilfreich, um die Bedeutung von Status in der gesellschaftlichen Ordnung und der strukturellen Umordnung derselben in Festen und ihren Ritualen zu verstehen. Zudem hilft dieses Modell dabei die politischen Aspekte ritueller Handlungen zu betonen. Allerdings muss es im vorliegenden Fall ergänzt und teilweise sogar umgestoßen werden. Der festliche Umgang mit Grenzen und den entsprechenden sozialen und räumlichen Differenzen ist eine Verstetigung derselben und nicht ihre temporäre Auflösung. Aus diesem Grund kann das Modell einer communitas nicht direkt auf die gemeinschaftlichen Zusammenhänge der Aushandlungen von Grenzen übertragen werden. Diese Handlungen sind vielmehr geprägt durch Momente sozialer Differenz im Umfeld der Grenze. Daher sollen die Festgemeinschaften, die sich im Schatten der Grenze bilden nicht als communitas betrachtet werden, sondern als Komplizenschaften. Ihre Handlungen sind durch Statusdifferenzen geprägt. Diese sind zentral für die Rituale im Umgang mit der Grenze. Dabei werden zum Beispiel Pässe und andere legale Dokumente durch die Teilnehmer zu rituellen Objekten erklärt.22 Bei einer Veranstaltung, die ich besuchen konnte, erklärte einer der am Fest beteiligten Pastoren den Pass und die Notwendigkeit ihn herzuzeigen als eine Steigerung des heiligen Anlasses für das Fest (vgl. Kap. 4.3). Da nicht jeder Teilnehmer über einen Pass verfügt, wird deutlich, wie zentral die Statusunterschiede für derartige Rituale an der Grenze sind. Wie die communitas sind die rituellen Komplizenschaften jedoch in Hinblick auf ihre politischen Dimensionen interessant. Diese Überlegungen führen zu der Frage nach der Bedeutung bestimmter gemeinschaftlicher Praktiken. Anders als die communitas sind die Komplizenschaften also nicht durch eine gesellschaftliche Logik gesetzt. Vielmehr müssen sie erst hergestellt werden. Wie sich derartige Gemein21 In einem ähnlichen zeitlichen Umfeld wie Turners Konzept der Liminalität sind Foucaults Veröffentlichungen über „Heterotopien“ erschienen. Diese Heterotopien versteht Foucault als reale Gegenräume zu Orten normaler Struktur (Foucault 2005: 7ff.). Auch hier handelt es sich um Räume umgekehrter Ordnung, welche die normierten Orte in Frage stellen. 22 In diesen Praktiken werden Personen mit den Dingen der Grenze derart verbunden, dass diese Dinge eine Art von Handlungsmacht erhalten, die Mauss im Gabentausch als den „Geist der Dinge“ beschrieben hat: die Gegenstände sind nicht leblos, sondern individualisiert (Mauss 1990 [1950]: 31ff.). Dieser Geist der Dinge erscheint als eine Kraft, die Handlungen veranlasst.

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schaften bilden, kann über den Ansatz des Transaktionalismus näher beleuchtet werden. Das folgende Unterkapitel widme ich daher den transaktionalen Aspekten in der Bildung dieser Gemeinschaften. Rituelle Komplizenschaft als Transaktion Der Begriff der Komplizenschaft fehlt bis dato in ethnologischen Betrachtungen transaktionaler Zusammenhänge, die sich den informellen Situationen sozialer Verflechtungen verschrieben haben. Der Grund, warum der Begriff zum Verständnis von bestimmten Formen der Vergemeinschaftung nicht herangezogen wurde, liegt womöglich darin, dass er als Kategorie der Strafverfolgung in der Kriminalistik erscheint und damit im alltäglichen Gebrauch negativ konnotiert ist.23 Er spiegelt eine staatliche Praxis der Kategorisierung und Objektivierung von informellen Allianzen wider. Wird der Begriff diesen Zusammenhängen und seinen negativen Konnotationen enthoben, lässt er sich zunächst den Netzwerken mit ihren Allianzen, Aktionsgruppen, Banden und Cliquen, Freunden und Fraktionen24 zuordnen, mit diesen abgleichen und diese erweitern. Das Konzept der Komplizenschaft ist wie das Netzwerk mit seinen Formen der Transaktion in komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen anzusiedeln. Als Ausdruck zielorientierter gemeinsamer Handlungen ist das Konzept wie die verschiedenen Formen des Netzwerks den Bereichen sozialer Praktiken zuzuordnen.25 In einigen Punkten lässt es sich jedoch klar von den Eigenschaften des Netzwerks abgrenzen und so klarer beleuchten. „Das Netzwerk ist Lebenswerk“ sagt etwa Streck in Verweis auf Boswells Copperbelt-Studie (vgl. Boswell 1969). Das Netzwerk einer Person verdeutlicht sich am stärksten in der Trauergemeinschaft, die sich anlässlich ihres Todes an ihrem Grab versammelt. Sie veranschaulicht, wie bekannt, wie beliebt und wie einflussreich die Person war (Streck 1985: 574). Netzwerke sind somit dauerhaft, und das Ende des Lebens markiert den Höhepunkt, aber auch das Ende des Netzwerks. Komplizenschaft ist hingegen temporär, ihr Potenzial besteht gerade in einer kurzfristigen und zeitlich limitierten Form der Zusammenkunft.

23 Der Begriff wird zunehmend auch in den Cultural Studies verwendet und dort als Strategie der Repräsentation sozialer Verflechtungen verstanden (vgl. Probyn Rapsey 2007). 24 Boissevain hat die verschiedenen sozialen Formen transaktionaler Zusammenhänge zusammengetragen (vgl. Boissevain 1974: 173). 25 Pine verwendet das Konzept ebenfalls in einem transaktionalen Zusammenhang „affektiver Gemeinschaften und Ökonomien“ (vgl. Pine 2008).

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Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Netzwerke egozentriert sind. Jeder Einzelne kann in das Zentrum eines Netzwerks gesetzt werden. Die Analyse des Netzwerks fragt dann nach den verschiedenen sozialen Beziehungen Einzelner. Jede Netzwerkanalyse beginnt damit, die Verbindungen, die ein Ego unterhält, quantitativ auszuzählen, und erst in einem weiteren analytischen Schritt werden die Qualitäten der Beziehungen hinterfragt. Komplizenschaft ist jedoch nicht eine Frage der Quantität, sondern die Qualität der Beziehung ist vordergründig und entscheidend. In diesem Sinne zeichnet auch Boissevain das Netzwerk als vereinfachtes Diagramm von Punkten und Linien. Die Punkte repräsentieren die Personen, die in einem Netzwerk verbunden sind. Sie scheinen der entscheidende Anlass des Netzwerks zu sein: „Diagrammatically,[…]: it indicates that certain persons are in touch with each other, but in its simplest form, it says nothing about how they are in touch“ (Boissevain 1974: 25). Eine diagrammatische und vereinfachte Form der Darstellung und Repräsentation von Komplizenschaft müsste in meinen Augen den umgekehrten Weg nehmen. Die Linien wären die involvierten Beziehungsträger und die Punkte die Situationen sozialer Beziehung, deren Qualität es zu hinterfragen gilt. Das Konzept der Komplizenschaft ist somit nicht brauchbar um eine Aussage über die Reichweite sozialer Kontakte zu treffen, sondern um die Intensität, das „Wie“ sozialer Kontakte, in spezifischen Kontexten zu beschreiben. Dieses „Wie“ der sozialen Formen eines Netzwerks lässt sich vor allem über die verschiedenen möglichen Verbindungen beschreiben, die Ergebnis „intensiver Netzwerkarbeit“ (Streck 1985: 579) sind. Unter den Formen möglicher Verbindungen sind besonders die Koalitionen in ihrer breiten Definition mit den Komplizenschaften vergleichbar. Boissevain etwa definiert Koalitionen26 als temporäre Allianzen distinktiver Parteien mit einer limitierten Absicht (Boissevain 1974: 171). Diese Definition verweist auf einen Differenzaspekt, der als wesentliche Eigenschaft von Komplizenschaften gelten kann. Denn die Bildung von Allianzen enthält implizit eine verbindende Verwendung von Ressourcen, die durch die jeweilige Partei zur erfolgreichen Durchführung des Vorhabens eingebracht werden. Diese Ressourcen, so hebt Boissevain hervor, werden zwar verbindend verwendet, verbleiben jedoch bei der Person oder der Gruppe, welche sie in die Koalition eingeführt hat und sie der Verbindung zu jedem möglichen Zeitpunkt entziehen kann (Boissevain 1974: 171f.). Die Parteien bleiben in dieser Hinsicht distinktiv im Vorhaben enthalten. Es kommt nicht zu der Ausbildung einer Gruppenidentität, zu vereinheitlichten Rechten und Verpflichtungen 26 Boissevains Definition stammt aus The Shorter Oxford English Dictionary (vgl. Boissevain 1974: 171).

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oder gemeinsamen Ideologien (Boissevain 1974: 172). Komplizenschaften sind demnach dynamische, temporäre Allianzen. Wie andere Formen von Netzwerkarbeit sind sie Ausdruck von sozialen und kulturellen Wandlungsprozessen und kreieren solche Wandlungen (Boissevain 1974: 203). Damit fordern sie die Ordnung des Grenzregimes mitunter heraus, helfen andererseits aber auch bei der Etablierung dieser Ordnung. Komplizenschaften sind durch Mikrophysiken der Macht geprägt, und sie besitzen eine Schlüsselposition im Zusammenhang mit übergeordneten staatlichen Machtsphären. Ihr machtvoller Zusammenhang wirkt demnach auf verschiedenen Ebenen. Um das Phänomen der Komplizenschaft im Spiegel der Macht umfassend betrachten zu können, hilft die Kritische Theorie, die verschiedene Machtbegriffe auf mehreren Ebenen fruchtbar macht. Es braucht zunächst einen marxistisch geprägten Machtbegriff, der eine Bezugnahme auf Klassenstandpunkte enthält. Ein derartig konnotierter Machtbegriff eignet sich dafür, auch übergeordnete Machtsphären zu berücksichtigen, die als staatliche und rechtliche Macht wirksam sind. Diese Ebene zentralisierter Macht verdeutlicht sich in den Praktiken der Klassifizierungen der Grenze, die auch eine ökonomische Relevanz haben. Mit dieser Ebene produziert die Grenze räumliche und soziale Differenzen. Und zum anderen braucht es einen Begriff der Macht, der eher die Kämpfe in den Blick nimmt. Dieser Begriff kann die Momente der Macht erfassen, die an konkrete Befreiungspraktiken gebunden sind und in denen Macht immer wieder transformiert wird (Demirović 2008: 179). Letzterer Machtbegriff findet sich in den Arbeiten von Foucault. Für das Konzept der Komplizenschaft in Auseinandersetzung mit dem Grenzregime sind beide Ebenen relevant. Wie sie in derartigen Momenten der Vergemeinschaftung verschränkt werden, möchte ich im folgenden Unterkapitel diskutieren. Komplizenschaft und Macht Komplizenschaften sind durch widersprüchliche Machtverhältnisse gekennzeichnet, die auf verschiedenen Ebenen verwirklicht werden. Sie können Ordnungen provozieren und stabilisieren. Sie sind zum einen in ein weiteres Feld staatlicher machtvoller Objektivierungsprozesse eingebunden und verhandeln diese mikropolitisch in ihrem unmittelbaren Handlungszusammenhang. Als Einstieg in dieses komplizierte Machtverhältnis eignet sich daher zunächst ein Machtbegriff, der durch einem einfachen Antagonismus geprägt ist und diesen jedoch in mehreren Stufen differenziert. Ranajit Guhas mehrfach gestufter Machtbegriff wird diesem Anspruch gerecht, die Beziehungen der Komplizen über die Frage nach ihren Machtverhält-

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nissen präziser zu fassen. Guhas Begriff von Macht speist sich aus den Lektüren von Marx und Gramsci. Mit Gramsci nahm er verstärkt die Politiken als eigenständige Handlungssphäre in den Blick und nicht allein die ökonomischen Kräfteverhältnisse der Geschichte.27 Guhas Machtbegriff bleibt von einem Klassenstandpunkt geprägt, der sich in einem dualen Machtverhältnis widerspiegelt.28 Dieser enthält neben dem Dualismus der Macht von Dominanz und Unterordnung auch noch zwei Ebenen, die jeweils einem Teil dieser machtvollen dualen Partnerschaft entsprechen: 1.) die dominante Machtkonstellation ergibt sich aus den elementaren Ebenen von Zwang und Überredung, und 2.) die unterordnende Konstellation ergibt sich aus Kollaboration und Widerstand (Guha 1997 [1989]: 20f.). Die Hauptebenen sind dabei absolut. Die Akteure sind auf jeweils eine der Hauptebenen festgelegt. Manche Machtverhältnisse lassen sich jedoch nicht eindeutig einem Dualismus der Macht von „Oben“ und „Unten“ zuordnen. Mit Foucault (1978) gelesen, löst sich diese Festlegung auf, der Dualismus erster Ordnung verblasst. Widerstand ist punktuell wirksam. Akteure positionieren sich auf allen Ebenen der Macht und können somit ihre Geschicke bestimmen.29 Bei Foucault ist Macht ein Kräfteverhältnis, sie wird nicht besessen, sondern ausgeübt, und sie verläuft genauso durch jene, die Oben sind, die Herrschenden, wie durch jene, die Unten sind, die Beherrschten (Deleuze 1992 [1986]: 99f.). Einem derart bestimmten Machtverhältnis entspricht eine Komplizenschaft. Wie sich Komplizen in einem Machtverhältnis zusammenfügen, ist jedoch durch einige strukturelle Besonderheiten gekennzeichnet. Akteure begünstigen sich im Verhältnis dieser festlichen Handlungen gegenseitig, nicht jedoch, ohne ihre eigenen Interessen aus den Augen zu verlieren. Hier eignet sich ein Rückgriff 27 Dass Gramsci Politik als eine der wesentlichen produktiven Handlungen von denen der ökonomischen Produktionen abkoppelt, macht seinen Erfolg für die Rezeption von Marx aus und auch seine eigene Rezeption in den Subaltern Studies (vgl. Hobsbawm 2012: 310). 28 Hier ist der marxistische Klassenantagonismus impliziert (vgl. Marx 1955 [1867]: 606). 29 Rao drückt es wie folgt aus: „Alle Akteure kämpfen für ihre Momente des Triumphs. Dabei nehmen sie alle vier Haltungen ein, die Ranajit Guha als Machtbeziehungen beschrieben hat. Sie produzieren situationsbedingte Momente von Widerstand und Kollaboration und nutzen Strategien von Überredung und Zwang“ (Rao 2008: 228, Guha 1989: 229ff.). Ihr Erfolg hängt von ihrem symbolischen Kapital ab. Je nachdem, wie viel sie davon erwerben konnten, so erfolgreich werden sie in der Unternehmung (Bourdieu 1993). Der Erfolg in einer Komplizenschaft ist bestimmt durch die Überredung zur Kollaboration.

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auf Guhas Stufen der Macht, welche aus machtvollen Strategien bestehen, die sich vertikal anordnen lassen und dabei einem Dualismus erster Ordnung gehorchen, dem von Dominanz und Unterordnung. Durch die Positionierungen der Handlungen in der Gesamtheit der vertikalen Strategien fällt dieser Dualismus weg, wie in Foucaults Entwürfen zur Macht. Jeder Teilnehmer kann potenziell alle Strategien anwenden. Diese Strategien können jedoch auch ohne den vorangestellten Dualismus in eine vertikale Ordnung gebracht werden. Von oben nach unten bleiben: 1.) Zwang, 2.) Überredung, 3.) Kollaboration und 4.) Widerstand somit erhalten, ohne, dass sie dabei eindeutig auf die beiden Positionen von Dominanz und Unterordnung reduziert werden können. Als spezifische Machtkonstellation lässt sich Komplizenschaft in ihrer Ausgangssituation mit diesem Machtverhältnis näher bestimmen. Die Komplizen verzichten auf die machtvollen Strategien des Zwangs und des Widerstands. Dieser Verzicht ist, so scheint es, unerlässlich für eine erfolgreiche Unternehmung. Stattdessen fügen sich Handlungen der Kollaboration und der Überredung ineinander, welche die Ausgangssituation dieser Machtkonstellation bilden. Als strategische Allianz verraten Komplizen die beiden Seiten des „Oben“ und des „Unten“ und zugleich die beiden machtvollen Strategien des Zwangs und des Widerstands an den äußersten Enden der Macht. Gleichzeitig ermöglicht dieser Verzicht einen Positionswechsel. Aus diesem Wechsel der Positionen des „Oben“ und „Unten“ ergibt sich auch die Provokation, die derartige Feste auf ihre Umgebung ausüben.30 Indem sich die Komplizen in ein einfaches vertikales Spannungsfeld der Macht begeben und dieses in Momente horizontaler Machtkonstellationen wandeln, provozieren sie die Zwänge des Grenzregimes und loten die Möglichkeiten des Widerstands aus. Diese Konstellation spannt somit zudem ein transversales Machtverhältnis auf, das quer zu den vertikalen und horizontalen Anordnungen der Macht steht (vgl. Guattari 1976: 39ff.; Deleuze 1976: 7ff.; Foucault 2001 [1982]: 1041ff.). Der Begriff der Transversalität eignet sich jedoch, wie auch die Begriffe der Horizontalität und der Vertikalität, vor allem für die Beschreibung hegemonialer Machtverhältnisse, da sie jeweils die zeitliche und räumliche Ausdehnung von Macht umfassen. Auch Guattari, Deleuze und Foucault verwenden diese Begriffe für die „institutionelle Analyse“ (Guattari 1976) und für hegemoniale Organisationsformen von Macht. In der vorliegenden Betrachtung wird jedoch eher von dominanten Machtverhältnissen

30 Mit Rao gesprochen „thematisieren“ diese Feste einen „Mythos und drängen ihn der Ordnung auf“ (Rao 2008: 232). Dabei werden mit populären Glaubenspraktiken verbindende Rituale und Werte geschaffen, die zudem häufig politische Auseinandersetzungen sind (vgl. Hatfield 2010).

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ausgegangen, in denen durch verschiedene Akteure jeweils strategische Richtungswechsel in horizontale, vertikale und schließlich transversale Richtung vorgenommen werden. Die untersuchten Handlungszusammenhänge etablieren sich außerhalb dieser institutionellen und hegemonialen Organisationsformen. Die festlichen Handlungsorte in den Zirkulationsräumen der Grenze enthalten daher eine Vielzahl an Möglichkeiten für die Teilnehmer, aber auch Probleme, wie in der Betrachtung einzelner Handlungsorte im Verlauf der Arbeit deutlich wird. Zunächst möchte ich die Position der Ethnologen als Komplizen, ihre Möglichkeiten und Probleme betrachten. Durch die beschriebenen Verwicklungen ist auch die ethnologische Position beeinflusst. Die Verbindung der Ethnologin oder des Ethnologen zu den Forschungssubjekten kann nicht länger als eine einfache Beobachterposition verstanden werden. Die Ethnologen werden ebenfalls zu Komplizen, wie ich im folgenden Kapitel zeigen werde.

1.3 E THNOLOGEN

ALS

K OMPLIZEN

„Fast in einer Razzia von der Polizei gefangen zu werden“, stellte für den Ethnologen Clifford Geertz und seine Ehefrau Hildred die entscheidende Situation dar, die ihnen einen Platz in der balinesischen Dorfgemeinschaft verschaffte. Im gemeinsamen Davonlaufen vor der Polizei wurde das Forscherehepaar Geertz zu Komplizen balinesischer Hahnenkämpfer, die daraufhin zu ihren Informanten wurden. Der Sprecher des Dorfs schützte das Ehepaar Geertz und sagte der Polizei, sie hätten nichts von den Hahnenkämpfen gewusst. Ab diesem Tag war das Paar nicht mehr unsichtbar im Dorf, sondern Teil der Dorfgemeinschaft (Geertz 1973: 416 und vgl. Marcus 1997: 85f.). Die Feldforschung des Ehepaars Geertz beginnt demnach mit einer Komplizenschaft. Im Kontrast zu den Feldforschungsmethoden von Geertz, die auf diese Komplizenschaft folgen, wird dieselbige jedoch in anderen Fällen immer bestimmender für die Feldforschung selbst. Die Rolle des Ethnologen als Komplize lässt sich dabei entlang unterschiedlicher Feldforschungsideologien betrachten. Marcus beschreibt diese Komplizenschaft des Ethnologen mit seinem Feld als dessen „vulnerability of finding himself on the side of the village against the state and it’s agents“ zusammen mit seinem gleichzeitigen Status als Offizieller, der unter der Schirmherrschaft des Staates steht (Marcus 1997: 89).31 Diese Ambivalenz

31 Auch Geertz hat sich mit diesem doppelten Status in einer Selbstreflexion auseinandergesetzt (Geertz 1968: 154f. und Marcus 1997: 89). Inzwischen beschreiben auch andere Ethnologen ihre eigenen produktiven Verflechtungen mit dem Feld unter der

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ethnologischer Wissensproduktion ist ausschlaggebend für die Krise der Repräsentation ethnologischer Forschung (Marcus 1997: 90f.). Die Krise führte dazu, dass die intensive emphatische Aufmerksamkeit32 zwischen Forscher und Forschungssubjekt durch die Idee der Kollaboration abgelöst wird, wie sie etwa die dialogischen Formen der Feldforschung inspirierte (vgl. Clifford 1983). Die Inszenierung der dialogischen Feldforschung geschah dabei immer noch „vor Ort“ mit fixierten lokalen Bezügen. Sie diente der Repräsentation einer umgrenzten Kultur (Marcus 1997: 92).33 An dieser Stelle setzt George Marcus an, wenn er vermerkt, dass sich die Feldforschungsideologie gewandelt hat. Diesen Wandel markiert Marcus ebenfalls mit dem Konzept der Komplizenschaft, indem er dieses neu zum Feldforschungsprozess in Verbindung bringt (Marcus 1997: 96). Diese veränderte Feldforschungsideologie beinhaltet die Verwerfung des Projekts einer ethnologischen „Innenansicht“ von Gemeinschaft. Stattdessen besteht sie in der neuen Konzeption eines Dilemmas, das der Ethnologe mit seinen Forschungssubjekten teilt, und dieses gemeinsame Dilemma versetzt beide in die Beziehung einer Komplizenschaft: „This recognition of a common predicament is the primary motivation for thinking about the changed conception of fieldwork relationship in terms of complicity” (Marcus 1997: 98). Das gemeinsame Dilemma äußert sich in lokalem Wissen, hat seine Ursachen aber anderswo. Es verlangt vom Forscher, seine Positionen zu wechseln. Multisited research nennt Marcus diese neue Inszenierung des Feldforschungsprozesses (ebd.). Dieser Wechsel von Orten, von Positionen und Perspektiven im Feldforschungsprozess hängt zusammen mit einer komplexen Beziehung des Forschers zu seinen Forschungssubjekten (Marcus 1997: 99). Solche wechselnden Kontextualisierungen der Forschung sind zugleich der Ausgangspunkt, um die entsprechenden ethischen Implikationen von Komplizenschaft zu reflektieren, die an dieser Stelle als die gängige Form von BezieBerücksichtigung beider Formen der Komplizenschaft, die Marcus benennt. Hatfield macht zum Beispiel deutlich, dass er auch Kollaborateur als Reiseleiter, Fotograf und als alltäglicher Helfer war (Hatfield 2010: 19). 32 Bei Geertz und in den Ausführungen von Marcus ist diese Beziehung als rapport, frz. „Zusammenhang“, benannt. Der Begriff ist der Therapeuten-Klienten-Beziehung der Psychoanalyse entlehnt, wo sich der Therapeut an die verbale und non-verbale Kommunikation des Klienten in einem „Haltungsecho“ anpasst. 33 Renato Rosaldo führte diese Kritik an kolonialen Verwicklungen der Anthropologie auf eine andere Ebene, indem er sie mit dem Konzept der Komplizenschaft des Ethnologen mit dem Kolonialismus bezieht. Für Rosaldo ist nun jede Form ethnologischer „Innenansicht“ eine Komplizenschaft mit kolonialen Projekten (Rosaldo 1989: 87).

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hung zwischen dem Forscher und seinem Forschungssubjekt gesetzt wird. Wesentlicher Punkt für die ethischen Implikationen sind dabei die sich verschiebenden Machtrelationen, die derartige mobile Forschungszusammenhänge bedingen. Der Feldforscher ist nicht mehr automatisch ein machtvolles Subjekt im Prozess der Forschung. Stattdessen muss er sich mit verschiedenen Zugehörigkeiten konfrontiert sehen. Der Feldforscher hat nun viel häufiger Kontakt zu Personen, die etwa der Mittelklasse entstammen und die die gleichen Ängste teilen, oder er verhandelt mit Personen machtvollerer Zusammenhänge. Diese Zusammenhänge können das ethnografische Engagement limitieren oder managen, nicht der Feldforscher selbst (Marcus 1997: 99f.). In dieser Hinsicht ist der Ethnologe praktisch immer im Übergang zum Aktivismus. Marcus nennt diesen Übergang auch die Affinität des Feldforschers zu seinem Feld, die sich aus einem beiderseitigen Interesse für etwas Drittes speist: „This affinity arises from their mutual curiosity and anxiety to a ‚third‘ – not so much the abstract contextualizing world system but the specific sites elsewhere that affect their interactions and make them complicit“ (Marcus 1997: 100). Komplizenschaft als Ideologie im Feldforschungsprozess, wie sie Marcus hier beschreibt, muss, wie die anderen Feldforschungsideologien auch, kritisch betrachtet werden. Sie birgt die Gefahr, dass der Forscher sich zu sehr an den Mächtigen im Feldforschungsprozess orientiert, weil er seine Interessen mit Ihnen leichter verwirklichen kann. Plötzlich wird die Forschung durch eine Perspektive der Mittelklasse dominiert. Es fällt dem Forscher leichter sich Akteuren zuzuwenden, die ihm selbst ähnlich sind. Über gemeinsame Ängste zu kommunizieren ist viel einfacher, als erst einen mühsamen Verstehensprozess einzuleiten, fremde Sprachen zu lernen, andere Werte kennenzulernen und einen anderen Lebensstandard zu erfahren. Die neue Feldforschungsideologie der Komplizenschaft rechtfertigt diese Orientierung an den Mächtigen und Kollaboration entlang gemeinsamer Interessen, die einen echten Dialog überflüssig macht. Wenn der Forscher derart mit seinem Feld verstrickt ist, so wie ich selbst es auch war, dann hat er schnell mit Menschen zu tun, die ihm selbst sehr ähnlich sind. Es ist schwer sich aus diesem Umfeld zu befreien. Die Zirkulationsräume des urbanen Grenzgebiets, in denen ich mich bewegte, werden zum Beispiel durch intensive Verbindungen zwischen Wissenschaftlern und ihren Forschungssubjekten bestimmt. Als ich eine Konferenz zum Thema der Grenze in San Diego besuchte, begegnete ich einigen Personen, die ich zuvor direkt an der Grenze als Aktivisten getroffen hatte. Als Akademiker hielten sie Vorträge über ihre Handlungen im Umfeld der Grenze. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Komplizenschaften immer durch mächtige Teilnehmer beeinflusst werden, auch

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wenn diese selbst im Hinblick auf die Grenze mitunter machtlos erscheinen mögen. Dass die Ressourcen dieser mächtigen Komplizen aber auch für die Interessen jener ohne Macht und Status an der Grenze eingesetzt werden, muss auch deutlich gemacht werden. Ein sehr gutes Beispiel ist die Arbeit Michael Kearneys in den verschiedenen Zirkulationsräumen der indocumentadas/os, die ich an anderer Stelle bereits dargestellt habe (vgl. Kap. 2.1). Sie lässt sich als Komplizenschaft34 betrachten. Kearney bestimmt diese Verbindung mit seinen Informanten im US-mexikanischen Grenzgebiet (vgl. Kearney 1991), wenn er die Wege beschreibt, mit denen er den migrierenden Mixteken Ressourcen hilfreich zur Verfügung stellt. Er holt sie mit dem Auto ab, seine Wohnung wird zu einem Zufluchtsort, er tritt als Übersetzer und Vermittler auf, wenn es um die Klärung der formalen Bedingungen eines Aufenthaltes geht. Mit diesen Handlungen bildet sich ein Raum geteilten intimen Wissens über die Grenze und die Bedingungen der Grenze. Die Zirkulationsräume der Grenze als Gegenstand der vorliegenden Untersuchungen sind allesamt geprägt durch derartige Verbindungen der Wissenschaftler zu ihrem Forschungsfeld. Viele schreiben nicht nur als Akademiker, sondern auch als Aktivisten, wie die Position Kearneys zu der Grenze verdeutlicht hat.35 Wiederum andere halten ihre eigene Position an der Grenze in autoethnografischen Schriften fest. Viele produzieren Wissen in Auseinandersetzung mit den spezifischen Positionen und Situationen, die diverse Zirkulationsräume der Grenze in Auseinandersetzung mit dem Grenzregime bereithalten. Sie bilden dabei eine machtvolle Gruppe in diesen Verbindungen. Die Macht entsteht durch ihre Ressourcen, ihren gesicherten Status und ihre Fähigkeit mit den offiziellen Akteuren der Grenze zu verhandeln. Damit sind die Problematiken einer Komplizenschaft umrissen, die immer durch derartige Machtgefälle geprägt ist – ein Umstand, der für die Teilnehmer immer Vorteile aber auch Nachteile bringt. Über meine Präsenz an den Orten, wo sich Komplizen finden, die Bestätigung ihrer Öffentlichkeit und die Erweiterung derselben, schließlich durch ihre Beschreibung in einem Text, bin auch ich Teil einer Komplizenschaft. Sie hat die Wege bestimmt, die mich beständig an, auf und über die Grenze führten.

34 Auch wenn er selber diesen Begriff nicht verwendet, lassen sich die Verwicklungen mit seinen Informanten auf diese Art repräsentieren. 35 Im Verlauf der Arbeit wird die Reihe der Beispiele erweitert (vgl. Kap. 3, Kap. 4 und Kap. 5).

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1.4 F ELDFORSCHUNG –

AN , AUF UND ÜBER DIE

G RENZE

Auf zwei Seiten einer Staatsgrenze zu forschen bedeutet, sich mit einer doppelten Perspektive auseinandersetzen zu müssen. Leider ist es nur möglich, auf einer Seite zur gleichen Zeit zu sein. Die andere Seite kann nur über einen Grenzübertritt eingeholt werden, der manchmal mit mehrstündigem Warten am Grenzübergang verbunden ist. Wenngleich beide Seiten der Grenze alltäglich über vielfältige Wege zusammengefügt werden, bleibt die strukturelle Zweiseitigkeit der Grenze bestehen. Umso hilfreicher erscheinen da die Löcher im Grenzzaun, die in einigen Situationen die Verbindung beider Seiten stärker spürbar machen, und die einen unmittelbaren Blick von der einen Seite der Grenze auf die andere ermöglichen.36 Um diese Löcher im Zaun soll es in diesem Abschnitt gehen und um die Methoden, die Beschaffenheit der Grenze aus diesen Löchern zu bestimmen. In dem ich mich mit derartigen Löchern dieser Grenze beschäftigte und dabei ein Interesse daran entwickelte, wie sie sich vermehren und erweitern, wurde ich selbst zu einer Komplizin von jenen, die diesen Löchern und ihrer Öffnung ebenfalls Aufmerksamkeit schenkten. Meine eigene Komplizenschaft bedeutete, dass ich selber bestimmte Handlungen durchführte. Ich sang die Lieder der Posadas, berührte die Menschen durch den Zaun und teilte durch dessen Löcher mein Wissen mit jenen auf der anderen Seite. Ich half Zettel der Posadas und Gesangshefte zu verteilen. Ich brachte Blumen für Juan Soldado, reinigte seine Kapelle am Tag der Toten. Ich dokumentierte die verschiedenen Schritte der Aktivisten und partizipierte an einigen ihrer Aktivitäten am Grenzzaun. Wenn ich am Zaun war und die Spuren dieser Aktivismen langsam verwischt wurden, rückte ich sie wieder zurecht, damit sie noch ein bisschen länger sichtbar waren. Gleichzeitig folgte ich meinem Interesse, ein Forschungsvorhaben erfolgreich umzusetzen, das insgesamt dazu beitragen soll, meinen eigenen Status zu erhöhen. Dabei handelt es sich somit um meine eigene Gewinnbeteiligung. Die Verwicklung in die Handlungen und die Auswirkungen auf meine Position als Forscherin waren dabei beständig herausgefordert. Gleichzeitig machte es der situative Charakter der Handlungsorte leicht, mit diesem Umstand umzugehen, da Komplizenschaften niemals verbindlich sind. Wurde ich positioniert entlang bestimmter Differenzen, hatte ich stets die Möglichkeit, meine eigene Position zu reflektieren und zu verändern. Umgekehrt zeigt sich, dass für die Erfassung

36 De Certeau zitiert Christian Morgensterns Gedicht „[…] ein Lattenzaun mit Zwischenraum hindurchzuschaun“, um derartige Löcher und ihre Räumlichkeiten zu thematisieren (de Certeau 1988: 234).

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dieser situativen Zusammenhänge spezifische Methoden angewendet werden müssen, die helfen, diese situativen Verwicklungen und die übergeordneten Verhältnisse in die sie eingebettet sind, zu verstehen. Ich greife auf die Methoden der Grenzregimeanalyse37 zurück, denn mit ihrer Hilfe können sowohl die Strukturierungsprozesse wie auch die Handlungsspielräume der Grenze erfasst werden (vgl. Tsianos/Hess 2010: 252). Die Stärke der Grenzregimeanalyse besteht darin, dass sie dem situativen Charakter vieler Handlungsorte an der Grenze gerecht wird, weil sie verschiedene Methoden kombiniert, welche die Bedingungen der Zweiseitigkeit der Grenze nachvollziehbar machen. Wie in der Grenzregimeanalyse vorgesehen, habe ich mich an verschiedene Orte im Grenzgebiet begeben. Hier habe ich teilnehmende Beobachtung bei festlichen Veranstaltungen an der Grenze durchgeführt. Ich habe öffentliche Handlungen und Reden38 protokolliert sowie die dazugehörigen Handlungsorte beschrieben. Außerdem habe ich Gespräche auf beiden Seiten der Grenze und Interviews mit wichtigen Akteuren geführt, die vor allem dem Fokus der Grenzthematiken unterlagen. Überdies habe ich Handlungszusammenhänge per Video dokumentiert, die das spätere Memorieren erleichtern sollten. Meine fortwährende Mobilität im urbanen Grenzgebiet von Tijuana und San Diego machten es auch möglich, ereignishafte und zufällige Gegebenheiten und Gespräche zu verfolgen (vgl. Tsianos/Hess 2010: 257). Während meiner Aufenthalte im Grenzgebiet besuchte ich eine ganze Reihe von Veranstaltungen, die sich allesamt zu der Grenze positionieren ließen. Diese festlichen Handlungen bestimmten auch den zeitlichen Rahmen der Forschung, da ich an jeder der genannten Veranstaltungen mindestens einmal teilgenommen 37 Die Methode der Grenzregimeanalyse wurde im Forschungsprojekt „Transit Migration“ erarbeitet. Sie setzt die entscheidenden Parameter in ihrer Perspektive auf einen Zirkulationsraum Grenze, der die Grenze als Gegenstand der Produktion von Verbindungen in die Betrachtungen einbezieht (vgl. Tsianos/Hess 2010). Im Rahmen des Forschungsprojektes wurde der Begriff des Grenzregimes bewusst verwendet, um neben den Dispositiven und der Ebene der Diskurse eine Korrespondenz mit aktivistischen Praktiken herzustellen (Tsianos/Hess 2010: 252). 38 Das „Protokoll“ (transcript) ist den Überlegungen Scotts entlehnt. Scott verwendet den Begriff des „Protokolls“ in einem beinahe juristischen Sinn, „als eine komplette Aufzeichnung dessen, was gesagt wurde“ unter Einbezug von Gesten und Ausdrücken (Scott 1990: 2). Zudem unterscheidet Scott zwischen versteckten und öffentlichen Protokollen (ebd.). Scotts populärer Entwurf einer Theorie der „versteckten Protokolle“ lässt sich für die vorliegende Arbeit jedoch nicht fruchtbar machen, denn hier haben wir es mit öffentlichen Protokollen zu tun, wenn diese auch Teil einer konfliktgeladenen Öffentlichkeit sind.

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habe. Manche konnte ich auch in zweijähriger Abfolge besuchen. Dadurch wurde ein Vergleich zwischen den Veranstaltungen möglich. Die Feldforschung lässt sich somit als temporäre Feldforschung charakterisieren mit mehr oder weniger längeren stationären Phasen – der längsten mit sechs Monaten und mehreren folgenden kürzeren Aufenthalten von ein bis drei Monaten. Bei den Festen notierte ich den Ablauf. Für die spätere Auswertung fertigte ich zudem Foto- und Videodokumentationen an. Des Weiteren führte ich kurze Interviews mit verschiedenen Teilnehmern durch. Da der Rahmen der Veranstaltung häufig keine intensiveren Befragungen zuließ, vereinbarte ich zusätzlich Treffen mit einigen Teilnehmern, um in der Folge mehr über die Beweggründe ihrer Teilnahme zu erfahren und um die Verbindungen zur Festgemeinschaft, biografische Hintergründe und die Erfahrungen der Teilnehmer mit der Grenzsituation genauer zu erfragen. Einige der Festteilnehmer wurden zu wichtigen Informanten, die ich regelmäßig kontaktierte, und deren Familien und freundschaftliche Netzwerke und Wohnsituationen dadurch zusätzlich in den Blick rückten. Da ich die längste Zeit der Forschungsaufenthalte in Tijuana verbrachte – zugleich der Ort, an dem ich während der Feldforschung lebte – intensivierten sich meine Kontakte schneller auf dieser Seite der Grenze. Verabredungen auf der anderen Seite erforderten hingegen einen Grenzübertritt. Trotz der häufigen Grenzübertritte – ich habe die Grenze im Forschungsverlauf an die fünfzig Mal Richtung Norden überquert – war es schwer, eine symmetrische Forschungssituation auf beiden Seiten der Grenze herzustellen, was sich auch in der Arbeit widerspiegeln wird. Der Großteil der von mir in der vorliegenden Arbeit beschriebenen Orte der Handlungen befindet sich auf der mexikanischen Seite des urbanen Grenzgebiets. Die Grenze ist von Süden her viel stärker sichtbar als aus der nördlichen Perspektive, wo sie für die Bewohner des Grenzgebiets mitunter einfach unsichtbar ist. Die Intensität mit der die Grenze wahrgenommen wird, ist demnach abhängig von der Perspektive. Diese unterschiedlichen Intensitäten in der Wahrnehmung zeugen von den starken Asymmetrien, welche die Bewohner der zwei Grenzstädte gegenseitig konstruieren, unabhängig davon, dass die Grenze, die zwischen ihnen liegt, täglich von so vielen Personen überquert wird. In der vorliegenden Arbeit werde ich mich auf jene Personen konzentrieren, welche die Grenze überqueren und damit eine Symmetrie der beiden Seiten begünstigen. Bevor ich mich mit meiner Betrachtung an die Orte festlicher Handlungen im urbanen Grenzgebiet begebe, möchte ich die Bedingungen des Grenzregimes in der Grenzlandschaft betrachten. Anhand von historischen Diskursen und Praktiken werde ich die machtvollsten „Räume der Entzweiung“ des Grenzregimes sichtbar machen. Das Ziel des folgenden Kapitels ist es, die räumlichen und sozialen Differenzierungen in der Grenzlandschaft zu beschreiben. Diese sind

1. K ONZEPTIONELLE E INFÜHRUNG | 49

entscheidend dafür, dass Menschen im urbanen Grenzgebiet als Komplizen handeln.

2. Archäologie der Linie

Wenn die Bewohner der Grenzstadt Tijuana von La Línea reden, bezeichnen sie zwei Bezugspunkte, welche die Staatsgrenze in diesem Grenzgebiet konstituieren. Zum einen benennen sie damit die gesicherte Grenzanlage, welche die Grenzlandschaft dominiert und zum anderen auch den Grenzübergang, an dem die Grenze überquert werden kann. Diese beiden Bezugspunkte werde ich in zwei Abschnitten betrachten. Im ersten Abschnitt konzentriere ich mich auf die Entstehung und Entwicklung der urbanisierten kalifornischen Grenze, die seit den 90er Jahren hochgerüstet wird. Ich betrachte die hochgerüstete Grenze als eine Folge des Freihandelsabkommens zwischen Mexiko und den USA und der Operation Gatekeeper. Im zweiten Abschnitt widme ich mich dem Grenzübergang, der maßgeblich für die Produktion von Differenzen ist, die die Grenze räumlich, sozial, politisch und ökonomisch bestimmen.

2.1 D IE L INIE

UND DIE

O PERATION G ATEKEEPER

Bei einem meiner Besuche jener Stelle in der Grenzlandschaft, wo die Grenze in das Meer verläuft, sah ich einmal, wie ein Mann durch die großen Löcher im Grenzzaun, die das Meer dort hineingespült hatte, von Tijuana nach San Diego hindurchtrat. Er lief circa fünfzig Meter mit ruhigen Schritten den Strand hinunter. Ich hielt den Atem an und dachte mir, dass er wohl nicht weiß, dass er gerade die Logik des Grenzregimes verletzt hat. Es geschah nichts, alles war ruhig. Er stand am Strand auf der anderen Seite des Zaunes und blickte auf das Meer hinaus. Auf einmal begann der Lärm. Zwei Einsatzwagen kamen mit Blaulicht die Dünen heruntergefahren. Der ohrenbetäubende Lärm eines Hubschraubers ertönte. Nur wenige Minuten später erreichten Einsatzwagen und Hubschrauber den Mann. Die Agenten stiegen aus und legten ihm Handschellen an. Dieser beobachtete die Situation fassungslos. Es sah so aus, als könnte er nicht begrei-

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fen, dass es so viel Einsatz gab für jemanden, der den Strand entlang läuft. Sie ließen ihn in den Einsatzwagen steigen und fuhren mit Blaulicht davon. Diese Situation macht das Kräfteverhältnis der Grenze und ihrer Akteure in der Grenzlandschaft unmissverständlich klar. Diese Grenzlandschaft wurde geschaffen durch die Operation Gatekeeper und das NAFTA-Abkommen. Ein doppelter Zaun steht im Zentrum dieser Grenzlandschaft, an dem sich jedes Jahr die Teilnehmer der Posadas Sin Fronteras auf beiden Seiten versammeln. Ihr Ziel ist es dabei, den Kontakt über die Grenze abseits der offiziellen Grenzübergangsstellen nicht abreißen zu lassen − eine Möglichkeit des Kontakts, der vor allem für Menschen ohne Dokumente, ohne offiziellen Status, von Bedeutung ist. Die Landschaft, in der diese Posadas Sin Fronteras stattfinden, ist die urbane Grenzlandschaft zweier Städte (Tijuana und San Diego), die von über fünf Millionen Menschen bewohnt wird. Die Zahl ihrer Bewohner ist in wenigen Jahren rasant gestiegen.1 In dieser urbanen Grenzlandschaft intensivieren sich die Kontakte über die Grenze. Zugleich handelt es sich um eine Grenzlandschaft, in der die Grenze so sichtbar und gesichert ist wie niemals zuvor (siehe Abbildungen 1-9: 197ff.). Diese widersprüchliche Grenze hatte ihre Geburtsstunde mit der Operation Gatekeeper des Jahres 1994. Die historischen Zusammenhänge dieser Grenzlandschaft der Operation Gatekeeper, die im gleichen Jahr ins Leben gerufen wurde wie das Freihandelsabkommen zwischen Kanada, den USA und Mexiko (NAFTA), zeichnet der Geograf Joseph Nevins (2002 und 2010) nach. Für Nevins ist die Operation Gatekeeper ein spezifisches Phänomen des kalifornischen Grenzgebiets. Der San Diego Sector der Grenze ist ein Grenzabschnitt, in dem derartige Praktiken zur verstärkten Sicherung der Grenze intensiv umgesetzt werden.2 In seinem Buch mit dem Titel Operation Gatekeeper (2002) stellt Nevins die kalifornische Grenze daher als Prototyp dieser Grenzlandschaft dar. Der Prozess 1

Vgl. XII Censo General de Población y Vivienda, INEGI, 2010; abrufbar unter: http://www.inegi.org.mx/prod_serv/contenidos/espanol/bvinegi/productos/censos/pobl acion/2010/princi_result/bc/02_principales_resultados_cpv2010.pdf (letzter Zugriff: 26. Mai 2015).

2

Nevins zeigt, indem er theoretisch auf den Historiker Peter Sahlins verweist, dass diese Grenzziehung sowohl durch die staatlichen Akteure als auch durch lokale Prozesse und Akteure geprägt ist (Nevins 2002: 74). Sahlins konnte in einer Studie über die Spanisch-Französische Grenze in der „Cerdanya“, einem Tal der Pyrenäen, zeigen, wie lokale Akteure die Grenzziehung beeinflussten, indem sie mit staatlichen Akteuren verhandelten und eigene Entscheidungen über den Verlauf der Grenze trafen und diese auch durchsetzen konnten (Sahlins 1989).

2. A RCHÄOLOGIE DER L INIE | 53

der zunehmenden Grenzsicherung begann in den 1930er Jahren, als Folge der US-amerikanischen wirtschaftlichen Depression. 1933 wurde die INS („Immigration and Naturalization Service“) gegründet, die Institution, die sich seither mit den formalen Vorgängen der US-amerikanischen Immigration befasst (Nevins 2002: 30).3 In dieser Zeit wurde die Anzahl der Border Patrol Agents erhöht, es wurden Wachtürme und ein Stacheldrahtzaun errichtet. Solche staatlichen „Praktiken der Trennung“ waren entscheidend für die Konstruktion sozialer Differenz, die später die Installation der Operation Gatekeeper begünstigte.4 In dieser Phase taucht auch das erste Mal der Begriff alien im Kontext der Grenze auf. Die gesetzlichen Änderungen, die von Menschen entworfen wurden, die außerhalb der sozialen Netzwerke des Grenzgebiets standen und für jene gedacht waren, die eng mit dieser „transnationalen Region“ verflochten waren, beeinflussten in hohem Maße die Verhärtung der juristischen Kategorien von Staatsbürger und alien (Nevins 2002: 52ff.). Sie wurden dadurch zu wesentlichen öffentlichen Kategorien, die bestimmend sind für Prozesse sozialer Differenzierung im Grenzgebiet. Die Präsidentschaft Jimmy Carters zwischen 1977 und 1981 brachte schließlich eine Veränderung der lokalen Wahrnehmung. In dieser Zeit traten lokale und nationale Politiker in ein dialektisches Verhältnis. Der damalige Bürgermeister von San Diego, Pete Wilson, schrieb etwa einen Brief an Carter mit der Bitte um öffentliche Gelder, um den Kriminalitätsproblemen, die durch die Flut von illegal aliens verursacht werde, beizukommen. Carter plante einen neuen Zaun und den Einsatz einer größeren Zahl von Border Patrol Agents. Diese Pläne steigerten zunehmend die lokale öffentliche Wahrnehmung und sorgten für Kontroversen: „Carter Curtain“ oder „Tortilla Curtain“ waren Begriffe, die in dieser Zeit entstanden (Nevins 2002: 70ff.). Das dialektische Verhältnis der lokalen und nationalen Ebenen führte zu einer Intensivierung der Aktivitäten zur Grenzsicherung, eine Tendenz, die sich verstärkt in den 1980er und 1990er Jahren zeigt (Nevins 2002: 74). Im September 1989 experimentierte die Border Patrol mit neuen Flutlichtern am Grenzstreifen. Im Mai des darauffolgenden Jahres wurden 16 permanente Flutlichter installiert. Die Anzahl der Agenten stieg von 740 auf 830. Straßen wurden am Grenzstreifen gebaut, um die Patrouille zu erleichtern. Am augenfälligsten war 3

Pässe und Visa gab es schon seit 1917, als die Grenze in der Folge des Ersten Weltkrieges stärker gesichert wurde (Nevins 2002: 27).

4

Dieser Prozess wurde jedoch nicht nur durch die legalen Praktiken der USA beeinflusst, auch Mexiko trug zur „Mexikanisierung“ des Grenzgebiets bei, indem etwa öffentliche Programme für die Stärkung mexikanischen historischen Bewusstseins geschaffen wurden (Nevins 2002: 55).

54 | DIE GEFEIERTE L INIE

jedoch die Konstruktion einer Stahlmauer, die aus Landematten bestand, die im Vietnam-Krieg zum Einsatz gekommen waren (Nevins 2002: 79).5 In Zusammenarbeit mit der mexikanischen Seite der Grenze gründete sich die Grupo Beta, die in Kooperation mit der Border Patrol zum Schutz der Migranten vor kriminellen Übergriffen gedacht war (Nevins 2002: 80). In den 1990er Jahren bemühte sich Pete Wilson, inzwischen Gouverneur von Kalifornien, weiter darum, die Grenzsicherung in der nationalen politischen Agenda zu verankern. Für die Clinton-Regierung hatte dieses Thema jedoch zunächst keine Priorität (Nevins 2002: 86). Verschiedene Faktoren führten während der Präsidentschaft schließlich dazu, dass das Thema politisch an Bedeutung gewann: eine ökonomische Krise, die Zündung von Bomben im „World Trade Center“ durch verdächtigte „unbefugte Immigranten“, die Ermordung zweier Mitarbeiter der Central Intelligence Agency durch pakistanische Immigranten, und der Skandal um Golden Venture, einem Boot mit 286 chinesischen Migranten ohne Papiere, das vor der Küste von New York entdeckt wurde. All diese Ereignisse fanden Anfang des Jahres 1993 statt. In diesem Jahr nahm Clinton verstärkt die Thematik der Grenze in den Blick (Nevins 2002: 88). Zugleich startete der Leiter der Border Patrol in El Paso in Eigeninitiative Operation Blockade. In einem Akt der „show of force“ wurden 400 Agenten in ihren Fahrzeugen auf dem Grenzstreifen stationiert. Innerhalb von einer Woche sank die Zahl der Verhaftungen von unbefugten Migranten in diesem Gebiet rapide. Daher wurde diese Operation als Erfolg gewertet, zugleich aber auch kontrovers diskutiert, da sie die Beziehungen zu Mexiko verschlechtern hätte können (Nevins 2002: 90). 1994 liefen die Verhandlungen um das Freihandelsabkommen NAFTA, und gleichzeitig bereitete die Clinton Regierung eine Erweiterung der Grenzkontrollen vor. In Kalifornien wurde die Proposition 187 debattiert, auch genannt SOS – „Save our State“. Die Proposition war dazu gedacht, den „unbefugten Migranten“ öffentliche Bildung, Gesundheitsversorgung und andere soziale Leistungen zu verwehren. Zudem standen im November des Jahres 1994 Wahlen an. Nevins wertet die Operation Gatekeeper, die schließlich am ersten Oktober 1994 ins Leben gerufen wurde, als Möglichkeit, Proposition 187 zu verhindern, als Version der Operation Blockade in einer adaptierten Form für den San Diego Sector und schließlich auch als medialen Showact der Regierung Clinton für die anstehenden Wahlen, die durch die Debatten der Republikaner um die Grenzsiche5

Die Umnutzung von militärischer Technologie ist eine gängige Strategie in der zunehmenden Sicherung der US-mexikanischen Grenze. Aktuell werden zum Beispiel Predator-Drohnen zur Überwachung des Grenzgebiets eingesetzt, die ursprünglich in Afghanistan zum Einsatz gebracht wurden.

2. A RCHÄOLOGIE DER L INIE | 55

rung unter Druck geraten war (Nevins 2002: 92). Historisch stellt sich die Grenzlandschaft der Operation Gatekeeper demnach als Kristallisation lang-, mittelund kurzfristiger Entwicklungen dar, vor allem aber als Ergebnis von Aktivitäten lokaler und nationaler Akteure (Nevins 2002: 93). Die Operation Gatekeeper wurde in mehreren Phasen vollzogen. Jede Phase folgte als Reaktion auf die Folgen der vorhergegangenen. In der ersten Phase, die am ersten Oktober 1994 begann, konzentrierte sich die Operation auf die ersten westlichsten fünf Meilen des San Diego Sector, jenen Teil der Grenze, der vom Pazifik bis zum Grenzübergang von San Ysidro reicht, dem derzeit westlichsten Grenzübergang. Diese Operation führte dazu, dass sich die Möglichkeiten zur inoffiziellen Grenzüberquerung nach Osten, in die urbanen Randgebiete verschoben. Als Antwort auf diese Verschiebung wurde Operation Disruption realisiert. Da die Grenzüberquerer nun die Highways nehmen mussten, um die urbanen Gebiete zu erreichen, wurden an diesen Kontrollstationen der Border Patrols eingerichtet, die Fahrzeuge kontrollierten und so verhinderten, dass Migranten die Städte erreichten (Nevins 2002: 125). Im Oktober 1995 wurde die zweite Phase von Operation Gatekeeper umgesetzt. In dieser Phase wurde der erste Gerichtshof für Einwanderungsfragen direkt am Grenzübergang installiert. Ein neues Computeridentifikationssystem kam zum Einsatz. Zudem wurden die Sicherungsmaßnahmen sukzessive weiter in das Landesinnere nach Tecate verlegt. In einer dritten Phase der Operation wurden die Maßnahmen bis in den Campo Sector der Grenze erweitert, den Nachbarsektor des San Diego Sector der Grenze (Nevins 2002: 126). Trotz dieser Notwendigkeit massiver struktureller Anpassung wurde die Operation als Erfolg für eine neue Ordnung des urbanen Grenzgebiets gefeiert. Nevins führt jedoch Studien an, die zeigen, dass die „illegalen Grenzübertritte“ nicht reduziert wurden. Sie wurden lediglich in andere Gebiete abgedrängt. Auch brachten sie neue Strategien und Veränderungen im Migrationsverhalten hervor. Während die Migrationen vor der Operation Gatekeeper häufig zirkulär verliefen und viele Migranten saisonal die Grenze überquerten, blieben sie jetzt für längere Phasen in den USA (Nevins 2002: 128). Zudem zeigen sich alters- und geschlechterspezifische Veränderungen. Frauen, Kinder und ältere Personen versuchen aufgrund der anstrengenden Grenzüberquerungen in den urbanen Randgebieten eher mit gefälschten Dokumenten über die Grenze zu gelangen und die offiziellen Grenzübergänge zu nutzen. Eine Strategie war es, so Nevins, in den Morgenstunden in einem Auto an den Grenzübergang heranzufahren und zu hoffen, dass der Officer aufgrund der Übermüdung das Fahrzeug durchwinkt. Gibt es eine Kontrolle, so sagt die betreffende Person, dass sie ihre Dokumente zu Hause vergessen hat. Das Fahrzeug kehrt um (Nevins 2002: 124). Außerdem

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sondert die Grenze Ältere und Schwächere, Frauen und Kinder aus und funktioniert so gleichzeitig als Filter für einen „idealen Arbeiter“ (Huspek zit. nach Nevins 2002: 137). Letzteres verdeutlicht zudem, welche Funktion die Grenze in der Regulation der „Ressource Mensch“ hat. Schließlich diskutiert Nevins die Frage, inwiefern die Grenze der Operation Gatekeeper als optimale Grenze für NAFTA und den Neoliberalismus verstanden werden kann, und nicht als Widerspruch. Nevins verdeutlicht, dass die konfligierenden Prozesse einer teilweise offenen und teilweise geschlossenen Grenze einem einzigen Projekt entsprechen: eine Grenzregion zu schaffen, in der Gesetz und Ordnung vorherrschen, und die gleichzeitig ökonomischen Erfolg verspricht (Nevins 2002: 135). Die Grenze wird zu einem Rahmen für einen florierenden Markt (ebd.). NAFTA und Operation Gatekeeper weisen zudem einen weiteren sehr wichtigen Zusammenhang auf. Die Liberalisierung mexikanischer Ökonomien, wie sie in der Folge des Freihandelsabkommens auftritt, führt zu einer signifikanten Abwanderungsbewegung aus den ruralen Gegenden Mexikos. Dieser Bewegung gehören Menschen an, die auf der Suche nach einem Arbeitsmarkt ebenfalls in die Grenzregion und über die Grenze gehen. Dieser Zusammenhang wurde auch von der Regierung Clintons im Rahmen der NAFTA Realisierung diskutiert. In diesen Diskussionen wurde auch die Notwendigkeit einer strategischen Stärkung der Grenze deutlich (Nevins 2002: 138). Die Entwicklung dieser Grenzlandschaft, als deren Anfang die Operation Gatekeeper und NAFTA des Jahres 1994 geltend gemacht wurden, hat sich in den letzten Jahren weiter fortgesetzt. Nevins selbst hat in einer Neuauflage seines Buches unter dem Titel Gatekeeper and Beyond (2010) auf die jüngeren Entwicklungen in der kontrollierten Grenzlandschaft hingewiesen. Entscheidend für eine noch stärkere Sicherung der Grenzlandschaft der Operation Gatekeeper war der 11. September (Nevins 2010: 5). In der Folge der Attentate verschoben sich, nach Nevins vor allem rhetorisch, die Prioritäten der Grenzsicherung. Zu den Aufgaben eines Krieges gegen Drogen und der Verhinderung illegaler Immigration kam nun die Aufgabe, den Terrorismus zu verhindern (ebd.). Das Budget für die Sicherheit der Grenzen wurde in der Folge des 11. Septembers im Jahr 2001 drastisch erhöht (ebd.).6

6

In der Folge des 11. Septembers hat sich auch die Kooperation zur Grenzsicherung zwischen Mexiko und den USA erweitert. Mexiko wird zu einer Pufferzone, die dadurch entsteht, dass die mexikanische Regierung der Sicherung ihrer südlichen Grenzen mehr Aufmerksamkeit schenkt. So kommen dort jetzt Detektoren für falsche Dokumente zum Einsatz und es wurde eine nationale Immigrationsdatenbank angelegt (Nevins 2010: 165).

2. A RCHÄOLOGIE DER L INIE | 57

Eng mit dieser Grenzlandschaft verbunden sind neue soziale Differenzierungen. Die Macht der differenzierenden Kategorie „illegal“ ist durch diese Grenzlandschaft produziert worden (Nevins 2002: 111f.). Sie entspringt einer großen Öffentlichkeit, die den kollektiven Vorstellungen einer Staatsbürgerschaft entspricht (Nevins 2002: 121). Die Schuld der „Illegalen“ besteht in der geografischen Transgression dieser Landschaft (ebd.). Diese soziale Differenzierung ist ein Produkt staatlicher machtvoller Praktiken (Nevins 2002: 122). Die urbane Grenze wird zur Zone staatlicher Überwachung, zu einer „Landschaft der Angst“ (Nevins 2002: 144). Im zweiten und folgenden Abschnitt dieses Kapitels widme ich mich dem größten Grenzübergang des urbanen Grenzgebiets von Tijuana und San Diego. Ich möchte zeigen, dass er als „Raum der Entzweiung“ über Praktiken der Klassifizierung die Produktion von sozialen Unterschieden zusätzlich begünstigt.

2.2 D IE L INIE

UND DER

G RENZÜBERGANG

Eine „Archäologie“ der Grenzlandschaft von Tijuana und San Diego darf nicht enden ohne eine Betrachtung ihrer machtvollsten Räume. Es handelt sich um den formalen Zirkulationsraum des Grenzregimes – den offiziellen Grenzübergang zwischen Tijuana und San Diego. Der Grenzübergang ist der Ort, an dem die Geschichte der Grenzlandschaft geschrieben wird, denn an diesem Ort wird die Grenze alltäglich gezogen und überschritten. Die Grenzübergänge zwischen Tijuana und San Diego sind zudem die historische Grundlage für die Entstehung des urbanen Grenzgebiets (vgl. Heyman 2001b: 681). Sie sind die strategischen Punkte in der Regelung der Mobilität durch das Grenzregime.7 Zudem sind sie entscheidend für die territoriale Durchsetzung der Statusunterschiede, die die Grenze produziert. Die Bezeichnung Línea in Tijuana meint dementsprechend nicht nur den gesicherten Grenzzaun, der die Menschen am Übertritt hindert,

7

Die Eingangshäfen der USA bilden gemeinsam mit der INS das intensive Bestreben, menschliche Mobilität zu kontrollieren (Heyman 1995: 261). Die INS stellt Visa für Einwanderer und Touristen aus. Sie führt Inspektionen aller Personen, Staatsbürger, Immigranten und Besucher an Flughäfen, Seehäfen und Grenzübergängen zu Land durch. Die Durchsetzung der Einwanderungsgesetze der USA ist ihre Hauptaufgabe. Die Border Patrol ist die uniformierte Polizeieinheit, die die Grenze zwischen den Übergangsstellen überwacht (Heyman 1995: 266).

58 | DIE GEFEIERTE L INIE

sondern vor allem auch den Übergang, der beide Seiten der Grenze verbindet.8 Die regulierenden Handlungen, die mit der Klassifikation und Kategorisierung von Menschen einhergehen, bewirken Statusunterschiede, die auch außerhalb des Grenzübergangs wirksame soziokulturelle Relationen bedingen. Heyman beschreibt den Grenzübergang als den „lokalen Staat“, in dem sich zwei Ebenen verbinden, jene der funktionalen Eliten, die eine bestimmte Region dominieren, und jene des operationalen Arms des Staates, der unmittelbar mit der lokalen Bevölkerung interagiert (Heyman 2001b: 692). In dieser Hinsicht kreiert die Grenze als Grenzregime mit ihrem entsprechenden Zirkulationsraum auch eine weitere Öffentlichkeit, die an diesen Grenzübergang gebunden ist und in der La Línea alltäglich von den Bewohnern des urbanen Grenzgebiets verhandelt wird. Viele Bewohner des urbanen Grenzgebiets überqueren die Grenze täglich aus verschiedenen Gründen. In der Organisation der Schlange am Grenzübergang von Tijuana nach San Ysidro9 werden bereits die ersten Differenzierungen sichtbar: Es gibt eine Schlange für jene, die keinen Pass besitzen, aber auf eine andere Art in der Lage sind, ihre US-amerikanische Staatsbürgerschaft zu beweisen. Ich konnte einmal Zeuge werden, wie ein stark übermüdeter und alkoholisierter U.S.Citizen die Agenten am Grenzübergang in dieser Hinsicht überzeugte. „Ich bin in Colorado geboren!“ sagte er. „Meinen Pass habe ich verloren“.10 Es war allerdings weniger die Überzeugungskraft seiner Worte, wie mir schien, als vielmehr der Klang seiner Sprache, seine weiße Hautfarbe und sein sozialer Typ, der durch die Immigration Officers eingeschätzt wurde. Eine weitere Schlange, es ist mit Abstand die längste, ist für jene, die ein Visum mit einem Reisepass oder eine Border Crossing Card besitzen. In diese Schlange hatte auch ich mich einzureihen. In dieser Schlange erschienen auch oft Menschen mit falschen Dokumenten oder ohne Dokumente. Eine Frau versuchte etwa einmal die Beamten zu überzeugen sie durchzulassen. Sie erklärte ihnen, sie gehöre zur indigenen Bevölkerung des Grenzgebiets und benötige daher keinen Pass, um die Grenze zu überqueren. Der Grenzübergang wurde ihr verwehrt, und sie wurde aufgefordert umzukehren.11 Häufig wurden in der Schlange Verhaftungen durchgeführt 8

Grenzübergänge bestimmen die Infrastruktur urbaner Grenzgebiete. Ihre zunehmende Frequentierung führt zu der Frage, ob die beiden Grenzstädte Tijuana und San Diego zunehmend zu einer gemeinsamen Metropole zusammenwachsen. Mit den Betrachtungen Tito Alegrías lässt sich diese Frage eindeutig verneinen. Alegría macht deutlich, dass das urbane Grenzgebiet lange keine maximale Durchlässigkeit erreicht hat, sondern immer restriktiver wurde (Alegría 2008 und 2009; Dilla Alfonso 2008).

9

San Ysidro ist der Vorort von San Diego, der sich direkt an der Grenze befindet.

10 Tagebuchnotizen, 22.6.2011. 11 Tagebuchnotizen, 09.12.2012.

2. A RCHÄOLOGIE DER L INIE | 59

und die Verhafteten mit Handschellen neben der Schlange positioniert oder an der Schlange entlang abgeführt. Zudem gab es mehrere Schlangen, die schnellere Grenzübertritte ermöglichten, wie SENTRI12, Ready Lane13 oder Fast Lane14, die extra für den Medizintourismus eingerichtet wurde. Für diese Schlangen müssen bestimmte Pässe und Dokumente vorliegen und ein Geldbetrag bezahlt werden. Im Verlauf des Forschungsprojekts nahm nicht nur die Absicherung der Grenze zu, auch die Infrastruktur der Grenze wurde mit ihren Grenzübergängen an die sich wandelnden Bedingungen und den zunehmenden Verkehr angepasst. Der „San Ysidro Port of Entry“ von Tijuana nach San Diego und der Übergang „El Chaparral“ in die umgekehrte Richtung von San Diego nach Tijuana erfuhren einen Um- und Neubau (siehe Abbildung 6: 200). Der Bau der alten Anlage stammt aus den 1970er Jahren und erschwert zunehmend die Arbeit des Grenzregimes. Das Projekt der US Customs and Border Protection zielte vor allem darauf ab, die neuesten Sicherheitstechnologien und Methoden der Terrorismusabwehr einzubinden, die Abwicklung des Grenzübertritts zu verbessern, die operationale Effektivität zu erhöhen, für eine stärkere Sicherheit der Beamten, aber auch der Öffentlichkeit zu sorgen, Unterhaltungskosten zu senken und die Erfahrung der Durchreise insgesamt zu verbessern.15 Im Rahmen des Projekts wurden statt den alten 28 Inspektionsspuren Richtung Norden nun über 63 Spuren erbaut. Richtung Süden wurden die Inspektionsspuren von acht auf 22 Spuren erweitert.16

12 SENTRI ist die Abkürzung für „Secure Electronic Network for Travelers Rapid Inspection“. 13 SENTRI und Ready Lane werden über elektronische Chipkartensysteme zur Datenerfassung geregelt. 14 Fast Lane-Pässe werden von bestimmten Kliniken und Hotels einmalig ausgestellt und sind nur für einen einzigen Grenzübergang gültig. Personen, die aus medizinischen Gründen nach Tijuana gekommen sind, sollen so eine Möglichkeit bekommen, die Grenze schneller zu überqueren. 15 Die Projektziele sind einem Faktenpapier der US Customs and Border Protection entnommen, es ist abrufbar unter: http://gsa.gov/graphics/pbs/FY2015_San_Ysidro_CA_ San_Ysidro_U_S_Land_Port_of_Entry.pdf (letzter Zugriff: 22.06. 2015). 16 Diese Informationen sind dem „El Chaparral Transition Information Sheet“ entnommen (www.gsa.gov/portal/getMediaData?, letzter Zugriff: 27. März 2013). Die Asymmetrie des Verkehrs Richtung Norden und Süden bleibt dabei augenfällig. Zum einen führen sicher die stärkeren Kontrollen zu einem höheren Verkehrsaufkommen. In Richtung Mexiko hat es und wird es in Zukunft auch keine umfangreichen Kontrollen

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Die Regulation des Grenzregimes17 beruht auf einer Arbeitsteilung. Diejenigen, die mit den Reisenden am Grenzübergang in Kontakt treten, sind die Inspektoren. Ob zur Kontrolle der Reisenden in den Autos, oder jener, die die Grenze zu Fuß überqueren – dem Inspektor am Grenzübergang bleiben durchschnittlich 45 Sekunden, um sein Gegenüber einzuschätzen und darüber zu entscheiden, ob er passieren darf oder von der ersten in eine zweite Revision überführt wird (Heyman 2001: 689). Der Inspektor tippt das Nummernschild ein und scannt die Dokumente. Er fragt nach der Staatsbürgerschaft, dem Ziel der Reise, dem Grund der Reise und ob die Reisenden etwas aus Mexiko mit sich führen (ebd.). Dabei schätzt er oder sie ein, ob die Geschichte der betreffenden Person einen Sinn ergibt, gleichzeitig beobachtet der Inspektor das Verhalten der Person und „testet seine Nerven“.18 Der Inspektor sieht sich die Dokumente an, die Bilder, die Daten und prüft deren Gültigkeit (ebd.). Neben den Inspektoren gehören zu der sozialen Organisation der Arbeitsteilung des Grenzregimes die Manager. Sie sind die Direktoren verschiedener Distrikte und der Grenzübergänge. Sie tragen die Verantwortung für alle legalen Operationen der INS (Heyman 1995: 268). Die Border Patrol ist ihnen jedoch nicht unterstellt. Jene Agenten, die vor allem für die Sicherung zwischen den Grenzübergängen zuständig sind, operieren unabhängig (ebd.). Sie bewegen sich mit der taktischen Infrastruktur des Grenzregimes, um illegal aliens aufzugreifen, die nicht den Weg durch den offiziellen Grenzübergang gewählt haben. Die Arbeitsformen und Entscheidungen am Grenzübergang werden passiv beeinflusst durch die Einwanderungsgesetze. Gleichzeitig werden diese Gesetze an den Grenzübergängen aktiv durchgesetzt. Am Grenzübergang muss sich jede Person der INS-Inspektion unterziehen (Heyman 2001b: 684). Es gibt nicht nur ein einziges Dokument zum Beweis der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft, sondern eine Reihe von Dokumenten (ebd.). Legal permanent residents sind im am Grenzübergang geben. Die eigentlichen Grenzkontrollen werden erst im Süden durchgeführt, da Tijuana zu einer Grenzzone gehört. 17 Im vorliegenden Kapitel wird vor allem der „San Ysidro Port of Entry“ betrachtet, denn er ist machtvoller in der Regulierung der Mobilität von Menschen und in der Produktion von Statusunterschieden als der Grenzübergang Richtung Mexiko. Der Unterschied zwischen beiden Grenzübergängen gibt Anlass, über die Asymmetrien der beiden Seiten der Grenze nachzudenken. 18 Das „Testen der Nerven“ war tatsächlich aus meiner Perspektive ein wesentlicher Teil der Grenzübergänge, häufig geschah dies über einen kurzen Flirt oder einen humorvollen Spruch, der die Inspektion kurz aus ihrem formalen Rahmen und den erwartbaren Fragen heraushob und eine riskante und unsichere Situation erzeugte, die ich häufig als unangenehm empfand.

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Besitz einer Green Card. Diese vermeintliche Eindeutigkeit der Green Card enthält jedoch eine Komplikation, denn die USA erlaubt nur einer kleinen Anzahl von Menschen, in Mexiko zu leben und über die Grenze zur Arbeit in den USA zu pendeln (Heyman 2001b: 684). Normalerweise dürfen jene mit dem Status permanent resident nicht länger als ein Jahr am Stück außerhalb der USA leben. Die meisten, die täglich über die Grenze zur Arbeit pendeln, sind jedoch nicht im Besitz dieser Erlaubnis (ebd.). Die INS bietet mexikanischen Staatsbürgern, die die USA besuchen wollen, weiterhin zwei legale Möglichkeiten: Border Crossing Cards und Touristenvisa, permisos. Die Border Crossing Cards enthalten die Erlaubnis, bis zu 25 Meilen in die USA zu reisen, für einen Zeitraum von maximal 72 Stunden. Der Zweck dieser Reisen dient nicht dem Arbeiten oder der Residenz, sondern lediglich dem Einkaufen oder zum Besuch von Verwandten. Die Border Crossing Card können jene beantragen, die eine Arbeit und einen Wohnsitz in den Grenzstädten haben (ebd.). Falls die Bewohner des Grenzgebiets größere Distanzen in den USA zurücklegen wollen oder für einen längeren Zeitraum bleiben möchten, müssen sie das Touristenvisum beantragen (ebd.). Die Grenzübergänge sind jedoch auch dazu da, das Überqueren der Grenze durch bestimmte Personen zu verhindern. Die Gründe, eine Person am Überqueren der Grenze zu hindern, reichen von begangenen Straftaten über Missbrauch verbotener Substanzen bis hin zu Missbrauch der US-amerikanischen Sozialsysteme. Einige verdächtige Personen sind in einem „lookout book“ gelistet. Häufig sind diese Personen kriminelle Flüchtige (Heyman 2001b: 685). Die meisten der Personen, die das Einwanderungsgesetz verletzen, sind der Regierung jedoch unbekannt. Sie fallen in drei Gruppen: 1.) Menschen, die fälschlicherweise behaupten, US-amerikanische Staatsbürger zu sein, 2.) jene, die Dokumente Dritter benutzen und sie als ihre eigenen ausweisen, und 3.) jene, die gefälschte oder abgewandelte Papiere verwenden (Heyman 2001b: 685). Auch wenn alle diese Vergehen nach den Immigrationsgesetzen strafbar sind und zu einer formalen Exklusion durch ein Gericht führen können, verhandeln die Inspektoren derartige Fälle taktisch. An besonders frequentierten Grenzübergängen werden nur jene mit falscher Staatsbürgerschaft verfolgt, die eine kriminelle Vergangenheit haben und falsche Ansprüche auf die US-amerikanische Staatsbürgerschaft anmelden, und einige Verstöße mit kommerziell gefälschten Dokumenten. Für die meisten anderen Fälle verwenden die Inspektoren Alternativen zur Durchsetzung der Gesetze. Dazu zählt, dass sie Menschen an der Grenze abweisen und ihnen empfehlen, sie sollten mit mehr Dokumenten zurückkommen, die ihre Staatsbürgerschaft beweisen (Heyman 2001b: 685).

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Diese Form der Abweisung innerhalb der Regulation der Mobilität des Grenzregimes der US-mexikanischen Grenze bezeichnet Heyman als den „Komplex der freiwilligen Abreise“ (Heyman 1995: 267). Die freiwillige Abreise der Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis ist eine Alternative zur formalen Deportation. Die verhafteten aliens werden dabei dazu überredet, auf ihre Rechte einer Anhörung vor der Deportation zu verzichten und stattdessen unverzüglich nach Mexiko oder in ein anderes Herkunftsland zurückzukehren.19 Der Effekt ist, dass der Grenzübertritt vor allem als ein Risiko wahrgenommen wird, das wiederholt in Kauf genommen werden kann. Dieser „Komplex der freiwilligen Abreise“ zeigt zudem, dass an der Grenze sowohl formale als auch verdeckte Strategien für die Regulation von menschlicher Mobilität zum Einsatz kommen (ebd.). Aus dieser Perspektive erscheint die Regelung, wer wann einreisen darf, weniger strikt und eindeutig. Stattdessen wird die Grenze im Zusammenhang mit diesem „Komplex der freiwilligen Abreise“ durchlässiger. Gleichzeitig begünstigt dieser Komplex die informellen Grenzübertritte. Die Arbeitskraft ohne gültige Papiere erneuert sich dadurch beständig. Zyklische Migration über die Grenze wird begünstigt (Heyman 1995: 271). Welche sozialen und kulturellen Auswirkungen haben die Bedingungen des Grenzregimes durch die Regulation der Mobilität von Menschen anhand von Statusunterschieden? Heyman betont, dass sich in den Praktiken zur Regelung dieser Mobilität formale und informelle Klassifizierungen von Menschen gegenseitig informieren (Heyman 2001a: 129). Heymans Untersuchung ist geleitet von der Frage, wie Status auf Menschen so übertragen wird, dass er haften bleibt, kurz: wie er öffentlich perpetuiert, anerkannt und über Handlungen verinnerlicht wird (Heyman 2001: 129). Die formalen Klassifizierungen entsprechen vier großen Gruppen: Staatsbürger20, legale Immigranten21, nichteinwandernde Besucher22 und Migranten ohne Papiere23 (ebd.). Die legalen Immigranten ähneln den Staatsbürgern in ihren öffentlichen Rechten, in ihrer Erlaubnis, zu arbeiten und sich frei im Land aufzuhalten. Auf der anderen Seite können alle Menschen ohne Staatsbürgerschaft deportiert werden. Sie können nicht wählen, sie sind ausgeschlossen von bestimmten Leistungsansprüchen, bewegen sich außerhalb der gesetzlichen Bereiche und sind „fremd“ in der öffentlichen Wahrnehmung (ebd.). Heyman macht zudem deutlich, dass legale Klassifizierung, wie detail19 1989 wurden 87% der verhafteten Menschen zu einer freiwilligen Abreise überredet (Heyman 1995: 266). 20 Engl. „Citizens“. 21 Engl. „Legal permanent residents“. 22 Engl. „Nonimmigrant visitors“. 23 Engl. „Undocumented migrants“.

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liert sie auch sein möge, sich nicht von selbst verfügt. Sie benötigt aktive Anwendung und Interpretation. Sie gewinnt ihre Bedeutung in der Praxis (Heyman 2001: 131). Die Interpretationen der Agenten des Grenzregimes verlaufen häufig informell. Dabei kommen verborgene Klassifizierungen zur Anwendung, die symbolisch in den sozialen Handlungen wirksam sind (ebd.). Die erste Nuance sozialer Klassifikation durch die Officers liegt in der Abschätzung der moralischen Wertigkeit der Grenzüberquerer. Dabei unterscheiden sie implizit zwischen dem „Amerikanischen Traum hart arbeitender Migranten“ und „kriminellen Figuren“24 der marginalisierten Teile der Gesellschaft und der Wirtschaft (ebd.). Ein weiterer Bereich verborgener Klassifizierungen entspricht nationalistischen Stereotypen á la: „sag mir die Nationalität und ich sage dir das Verbrechen“25 (Heyman 2001: 131). Eine weitere versteckte Kategorie ist die soziale Klasse. Heyman macht deutlich, dass die Praxis der Klassifizierung an der Grenze Klassenpositionen erzeugt: „Für einen Inspektor bist du deine Kleidung, wenigstens, bis er es besser weiß“26 (ebd.). Diese oberflächlichen Klassenzuschreibungen weist Heyman als Besonderheit des urbanen Grenzgebiets der USA und Mexikos aus (ebd.). An den Grenzübergängen wird etwa die Border Crossing Card ausgestellt, die es auch erleichtert, ein Visum zu erhalten. Dabei beurteilen die Beamten, ob der Antragsteller illegal einwandern wird. Um dieses Urteil zu fällen, beginnen sie abzuwägen, ob der Antragsteller Arbeit hat, Hausbesitzer ist und welchen „Klassenstil“ er pflegt. In dieser Hinsicht wird Armut mit illegaler Einwanderung assoziiert, während die mittleren und oberen Klassen ohne Bedenken zum Einkaufen über die Grenze gehen können (Heyman 2001: 132). Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass die Durchsetzung der Immigrationsgesetze an den Grenzübergängen zur ungleichen Kategorisierung von Menschen führt. Diese Kategorisierung hat wichtige praktische Konsequenzen wie Deportationen und Verhaftungen (Heyman 2001: 133). Die Klassifikationen haben soziale Effekte (ebd.). Diese Effekte spiegeln sich auch wider in der unterschiedlichen Wahrnehmung der Immigrationsgesetze im Grenzgebiet. Durch jene, die die Grenze überqueren, werden diese nicht als verbindliche Regeln wahrgenommen, sondern sie werden abgewogen in Hinblick auf Risiken als auch Möglichkeiten und 24 Als typische Symbole dieser „kriminellen Figuren“ in ihrer Deutung am Grenzübergang führt Heyman Tätowierungen und Muskeln vom Training in Gefängnissen an (Heyman 2001: 131). 25 Heyman zitiert den Satz von einem der Inspektoren, die er befragt hat (ebd.). 26 Heyman zitiert diesen Satz von einem INS Supervisor, mit dem er während seiner Untersuchung gesprochen hat (ebd.).

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als sinnlose Strafe angesehen, die Menschen davon abhält, mit ihrer Familie zusammen zu sein oder zu arbeiten (Heyman 2001: 136). Jene Grenzüberquerer ohne Papiere sehen sich nicht als passiv und unterdrückt, sondern als mutig, hartnäckig und herausgefordert (ebd.). Sie produzieren eine eigene Öffentlichkeit, die sich in den corridos zeigt, in denen Migrationen besungen werden (vgl. Herrera Sobek 1993 und 2006), oder in retablos (vgl. Durand/Massey 1995; Arias/Durand 2009 und Hagan 2008), die als Dank für einen erfolgreichen Grenzübertritt betrachtet werden, oder auch in der Verehrung Juan Soldados als Grenzheiligen (vgl. Kap. 5). In dieser Hinsicht macht der Grenzübergang verschiedene Öffentlichkeiten sichtbar. Die Ethnologin Rihan Yeh hat ethnografisch die Statusunterschiede in der Schlange des Grenzübergangs betrachtet (Yeh 2009a und 2009b) und diese ebenfalls als Ausdruck pluraler Öffentlichkeiten der Grenze beschrieben. Die fundamentalen sozialen Kategorien der documentadas/os und indocumentadas/os werden an verschiedenen öffentlichen Orten unterschiedlich in die diskursiven Handlungen eingebunden. Auf der internationalen Linie, La Línea, und ihren Grenzübergängen werden Statusunterschiede produziert. Hier werden die indocumentadas/os von einer „reisenden Öffentlichkeit“ (Yeh 2009a) getrennt und sichtbar am Grenzübergang verhaftet. Derartige Verhaftungen, so habe ich an dieser Stelle bereits angemerkt, gehören zu den alltäglichen Handlungen der Beamten am Grenzübergang. Die Handlungsorte ritueller Komplizenschaft, die in den folgenden Kapiteln verhandelt werden, schließen hier an und lassen nach verbindenden Öffentlichkeiten innerhalb einer gemeinschaftlichen Vergegenwärtigung der Grenze fragen. In dieser Landschaft der Linie treffen sich auch die Teilnehmer der Posadas Sin Fronteras, um in dem urbanen Grenzgebiet einen öffentlichen Ort zu kreieren, an dem ihre Vorstellungen und Interessen zum Ausdruck kommen. Sie gestalten einen Handlungsort, an dem die Statusunterschiede von legal und illegal verhandelt werden. Ihre Handlungen zeigen die zahlreichen Unternehmungen, die in diesem Grenzgebiet ihren Platz beanspruchen. Trotz und wegen NAFTA und der Operation Gatekeeper kreieren sie eigene Ordnungen transnationaler Räume. Es ist Zeit, die offiziell geregelten Räume des Grenzregimes zu verlassen und einen Blick durch die Löcher im Zaun der Grenze zwischen Tijuana und San Diego zu werfen. Dort finden sich jene Zirkulationsräume mit ihren Handlungsorten, die durch die Komplizenschaft ihrer Akteure der aktuellen Grenze andere Ordnungen aufdrängen, indem sie sich gegen die Logiken des Grenzregimes auflehnen und gleichzeitig an diesen gebunden bleiben. Der erste Ort, der durch diesen Handlungszusammenhang geprägt wird und dabei fest an die Ordnung

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einer aktuellen Grenzlinie gebunden bleibt, ist der „Parque del Mar“ und „Friendship Park“, ein geteilter Park, in dem die Menschen jedes Jahr die Posadas Sin Fronteras begehen.

3. Ein „Gasthaus“ beiderseits der Grenze

„Ich bitte um Herberge“, singt eine Gruppe von Menschen auf der einen Seite des Grenzzaunes. Auf der anderen Seite antwortet eine andere Gruppe singend: „Hier ist kein Gasthaus […], ich kann nicht öffnen.“1 Durch die Maschen und Löcher des Zaunes hindurch, der zwischen Tijuana und San Diego verläuft, zelebriert jedes Jahr eine Gruppe von Menschen die Posada Sin Fronteras, „Gasthaus ohne Grenzen“. Die Grenze ist der Anlass für das vorweihnachtliche Fest, bei dem sich Menschen von beiden Seiten des Zaunes direkt an der Grenze begegnen. Die Posadas Sin Fronteras werden im „Friendship Park“ und „Parque del Mar“ gefeiert. Im Gebiet dieser binationalen Parkanlage können Menschen von beiden Seiten auch trotz der zunehmenden Absicherung der Grenze in der Folge von NAFTA und der Operation Gatekeeper in Kontakt treten. Dadurch ist der Ort geeignet für die Durchführung des Festes (siehe Abbildungen 10-12: 200f.). Die Posadas Sin Fronteras sind eine Umdeutung der vorweihnachtlichen Posadas, die einen populären katholischen Ritualkomplex bilden. La Posada, „das Gasthaus“, bezeichnet eine Reihe von rituellen Handlungen mit ganz unterschiedlichen lokalen Ausprägungen. Die Posadas dauern mehrere Tage. Sie finden vor allem zwischen dem 16./17. und dem 23. Dezember statt. An den Abenden dieser Tage werden Prozessionen zwischen Haushalten begangen, bei denen die Geschichte des Lukasevangeliums – die Suche der heiligen Familie nach einer Herberge – nachempfunden wird. Die Pilger tragen Bilder oder Figuren der heiligen Jungfrau und von Jesus Christus von einem Haushalt zum nächsten. Die Pilger werden mit diesen an den verschiedenen Abenden in den verschiedenen Haushalten gastfreundlich empfangen. Auf die abendlichen Prozessionen folgen mitunter ausgelassene Feiern: Es werden Feuerwerke entzündet, Piñatas zerschlagen und Erfrischungen jeglicher Art gereicht. Gastfreund-

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Tagebuchnotizen, 16.12.2010.

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schaft ist ein wesentliches Ideal, das während der Posadas zelebriert und demonstriert wird. Die beteiligten Haushalte demonstrieren ihre Gastfreundschaft mit Musik, Süßigkeiten und anderen Verköstigungen. Gleichzeitig kann es zu einer Wettbewerbsstimmung kommen, wenn es darum geht, den eigenen Haushalt für die Aufnahme der Maria besonders üppig zu gestalten.2 Die Posadas Sin Fronteras unterscheiden sich von den familiären oder nachbarschaftlichen Posadas. Sie weichen somit von der oberen Schilderung ab. Ihr Handlungsort ist nicht die Nachbarschaft mit verschiedenen Haushalten, sondern er umfasst die zwei Seiten einer Grenze. Nicht die Türschwelle, sondern die Grenze zwischen zwei Staaten ist der Anlass für dieses Fest. Der Grenzzaun ersetzt die Haustür. Der Status der Abweisenden und der Abgewiesenen entspricht jenen der documentadas/os und jenen der indocumentadas/os.3 Das Fest findet auch nicht am Abend in der Dunkelheit statt, sondern mitten am Tag. Es dauert nicht mehrere Tage an, sondern wird nur an einem einzigen Tag in der Vorweihnachtszeit begangen, häufig schon einige Tage vor den „echten“ Posadas in nachbarschaftlichen und familiären Kreisen. Kreuze ersetzen Bilder der Jungfrau Maria und von Jesus Christus. Es gibt keine Feuerwerke, keine Süßigkeiten, keine Kinder, und die Piñatas besitzen nicht die Form von Sternen oder Kinderhelden, sondern, falls sie überhaupt zum Einsatz kommen, die Form von Polizisten. Einige Kontinuitäten gibt es neben der Namensgebung dennoch. Zum einen ist die Posada Sin Fronteras, wie andere Posadas bedeutungsvoll in der

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Zu einer ausführlichen Beschreibung einer Posada (in Tzintzuntzan) siehe Brandes (1988: 149ff.).

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Die Posadas Sin Fronteras im urbanen Grenzgebiet von Tijuana und San Diego werden seit beinahe zwei Jahrzehnten begangen. In dieser Zeit rückten sie bereits einige Male in das Blickfeld von Wissenschaftlern. Häufig wurden die Posadas Sin Fronteras dabei von der US-amerikanischen Seite der Veranstaltung aus untersucht. Sie wurden vor allem in Hinblick auf Immigrationsdiskurse betrachtet. HondagneuSotelo beschreibt die Veranstaltung vor dem Hintergrund der zunehmenden Absicherung der Grenze und US-Immigration als eine Form der „regional ethnisch-kulturellen Expansion“, in der mexikanische katholische Traditionen mit denen interdenominationeller christlicher Frömmigkeitspraxis verbunden werden (Hondagneu-Sotelo 2004a: 135). Ebenfalls dem Immigrationsdiskurs verhaftet beschreiben die beiden Stadtforscherinnen Clara Irazábal und Grace R. Dyrness die Posadas Sin Fronteras: About 100 people congregate at each side of the border for the Posadas, densely populating for some 3 hours an otherwise desolate and grim place. People pack against each other and against the fence, always aware of the limitations posed by the fence, yet always challenging them. (Irazábal/Dyrness 2010: 362f.)

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Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums begründet, die nicht nur eine biblische Geschichte der Geburt Jesu ist, sondern auch eine Geschichte von Abweisung und Gastfreundschaft. Pedir Posada, das „Bitten um Herberge“, ist übertragen auf die räumlichen Grenzen das zentrale Ritual in allen diesen Posadas.

3.1 P OSADA S IN F RONTERAS Im folgenden Kapitel beschreibe ich den Ablauf der Posadas Sin Fronteras, wie ich sie in zwei verschiedenen Jahren erleben konnte. Zwischen den Jahren 2009 und 2012 – zugleich die Phase, in der die Forschungsaufenthalte stattfanden – wurde die Grenzlandschaft des urbanen Grenzgebiets von Tijuana und San Diego mit umfangreichen Baumaßnamen umgestaltet. Diese Baumaßnahmen führten dazu, dass sich die Bedingungen für die hier stattfindenden Posadas verschoben haben. Daher bietet es sich an, die Posadas aus zwei verschiedenen Jahren in meine Betrachtung einzubeziehen. 2010 Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Menschen blicke ich durch den Grenzzaun, um die Ankunft der Teilnehmer des kleinen Festes auf der anderen Seite der Grenze, der USamerikanischen, nicht zu verpassen. Der Grenzkorridor zwischen zwei Sicherheitszäunen, in das die Teilnehmer auf dieser Seite der Grenze bald eintreten werden, ist noch menschenleer. Die Fahrzeuge der ‚Border Patrol‘ stehen bereit, um den Einlass in den Korridor zu gewähren. Aus der Ferne nähert sich eine kleine geschlossene Gruppe von Menschen. Langsam pilgern sie auf die Grenze zu. Es ist der Tag der 17. ‚Posada Sin Fronteras‘ im urbanen Grenzgebiet von Tijuana und San Diego.4

Etwa fünfzig Personen haben sich auf den Weg Richtung Grenze begeben. Es dauerte eine Weile, bis die Gruppe hinter dem zweiten Grenzzaun auf der USSeite der Veranstaltung angekommen ist. Die kleine Gruppe teilt sich nun in zwei Gruppen mit je circa 25 Personen, die daraufhin von der Border Patrol für jeweils dreißig Minuten in den Korridor zwischen den beiden Grenzzäunen gelassen werden, in dem sich der „Friendship Park“ seit dem Bau des zweiten Zaunes befindet. Damit sind der räumliche und der zeitliche Rahmen für die Veranstaltung vorgegeben.

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Tagebuchnotizen, 16.12.2010.

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Um Zutritt zu dem Korridor zu erhalten, müssen die Teilnehmer auf der USamerikanischen Seite ihre Dokumente vorzeigen. Die Kontrolle der Dokumente nimmt einige Zeit in Anspruch, während die Teilnehmer auf der mexikanischen Seite an den Zaun gelehnt warten, ihre Blicke durch dessen Löcher auf die andere Seite gerichtet. Nachdem die erste Gruppe endlich den Korridor betritt und auf den Grenzzaun zugeht, begrüßen sich die Teilnehmer auf beiden Seiten. Sie sind endlich zusammen, wenn auch getrennt durch den Zaun. Die Veranstaltung kann beginnen, die Festgemeinschaft an der Grenze ist quasi vereint. Der Moment der Begrüßung ist sehr emotional. „¡Hola compañeros! ¡Buenas tardes compañeros!“, rufen sich die Teilnehmer von den zwei Seiten aus gegenseitig zu. Einer der Teilnehmer auf der US-amerikanischen Seite des Zaunes erklärt, dass sie zwanzig Minuten Zeit haben und dann für die zweite Gruppe Platz machen. Das erste Aufeinandertreffen der Teilnehmer auf beiden Seiten ist demnach nicht nur durch die räumlichen Bedingungen des Grenzregimes geprägt, sondern auch durch die strengen zeitlichen Vorgaben. Die erste Gruppe besteht aus den Organisatoren und den Predigern. Die Zusammensetzung verdeutlicht die Arbeitsteilung, auf der die Veranstaltung beruht. In der zweiten Gruppe folgen später der Chor und andere Teilnehmer, die mit den Teilnehmern auf der anderen Seite singen und reden. Die Zeit, die der 17. Posada Sin Fronteras im Jahr 2010 gewährt wird, ist nur sehr knapp kalkuliert. Der erste Teil der Posadas Sin Fronteras besteht in einer Abfolge von offiziellen Reden, die alle dazu dienen, die Grenzsituation zu vergegenwärtigen und die Teilnehmer in dieser Grenzsituation zu positionieren. Diese Vergegenwärtigung der Grenze über die Mittel der öffentlichen Rede geschieht vor allem durch die Organisatoren und die Glaubensvertreter auf beiden Seiten der Grenze. Dieser Teil erscheint als „Überredung zur Kollaboration“. Sie wird dem Teil der Veranstaltung vorangestellt, der in der gemeinsamen Durchführung der Rituale besteht. Auf der mexikanischen Seite beginnt die Sozialarbeiterin Mary Galván damit, die Teilnehmer der Posada Sin Fronteras auf beiden Seiten der Grenze zu begrüßen. Galván gehört zu den Organisatoren der Veranstaltung auf der mexikanischen Seite der Grenze. Seit vielen Jahren arbeitet sie am „Instituto Madre Asunta“, einer Einrichtung, die Migrantinnen unterstützt. Sie gehört zu der „reisenden Öffentlichkeit“5 der Stadt Tijuana, die mit Visa und Border Crossing Cards die Grenze jederzeit offiziell überqueren kann. Sie steht direkt am Zaun und richtet sich mit ihren Worten an die Teilnehmer auf beiden Seiten des 5

Der Begriff der „reisenden Öffentlichkeit“ (traveling public) ist Yeh entnommen. Sie verwendet ihn für die Bezeichnung der Öffentlichkeit jener Bewohner Tijuanas, die offizielle Dokumente besitzen und regelmäßige Reisen über die Grenze unternehmen, wobei sie den offiziellen Grenzübergang benutzen (Yeh 2009 a und 2009b).

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Grenzzaunes. Zunächst erwähnt sie die jährlich wechselnde Festgemeinschaft. Sie sei, so vermerkt sie, Teil des Dilemmas der Grenze. Galván verweist auf die Gegenwart als eine schwere Zeit für Familien, die durch die Migrationspolitiken getrennt sind.6 Sie fragt nach Möglichkeiten, diesen Ängsten zu entkommen. Die Menschen sollen sich verbinden zu einer „Gerechtigkeit ohne Grenzen, ohne Konditionen.“7 Diese Verbindung besteht für Galván in der Anwesenheit der Teilnehmer der Posada Sin Fronteras an diesem Ort an der Grenze. Denn jeder, so bemerkt sie, verändert über seine Anwesenheit an diesem Ort die existentielle Realität der Migranten. Während sie die aktuellen Bedingungen der Grenze in Hinblick auf die Statusunterschiede benennt, stellen die Teilnehmer auf der USamerikanischen Seite der Veranstaltung Holzkreuze an den Zaun.8 Schließlich wird das Wort auf die andere Seite der Grenze übergeben. Als erster offizieller Redner spricht dort Art Cripps, Pastor der „San Marino United Church of Christ“. Er hebt die Situation hervor, die ihn als Teilnehmer der Posada Sin Fronteras trotz seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft in einer Grenzlandschaft positionierten: Ich muss sagen, dass ich heute das erste Mal meinen Pass vorgezeigt habe, ohne mein Land zu verlassen. Und die Idee, den Ausweis innerhalb seines Landes zeigen zu müssen, ist eine neue Realität auf dieser Seite der Grenze. Es bedeutet jedoch auch, dass wir uns näher sind, weil wir alle die gleiche Erfahrung teilen, ob sie nun richtig oder falsch ist. So wird die Notwendigkeit, den Pass innerhalb unseres Landes zu zeigen, zu einem noch heiligeren Anlass, der uns zusammen bringt.9

Cribbs verweist auf die Situation, in der die Teilnehmer, um in den Korridor zwischen den beiden Grenzzäunen zu gelangen, ihren Pass vorzeigen mussten. Nicht mehr das Kreuz wird nun als verbindendes sakrales Objekt in das Zentrum der Zusammenkunft gerückt, sondern das legale Dokument, das die Identität ausweist. Art Cripps hält das Dokument während seiner Rede kontinuierlich nach oben. Der Reisepass und die Handlung, den legalen Status zu dokumentieren, erklärt er zu einer verbindenden sakralen Erfahrung. Damit verdeutlicht Cribbs die Bedeutung des legalen Status für die Durchführung der Posadas Sin Fronteras. 6

Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 16.12.2010.

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Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 16.12.2010, Übersetzung aus dem Englischen durch die Verfasserin.

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Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 16.12.2010. Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 16.12.2010, Übersetzung aus dem Englischen durch die Verfasserin.

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Wayne Riggs, Pastor der „Plymouth Congregational Church“ und Mitglied des „Interfaith Comitee for Worker Justice San Diego“, ebenfalls ein USamerikanischer Staatsbürger, bemüht sich im Anschluss darum, die Weihnachtsgeschichte mit den Grenzerfahrungen in einen Zusammenhang zu bringen. Er vergleicht die „Brüder“ und die „Schwestern“, die an einer Staatsgrenze um Einlass in ein Land bitten, mit der heiligen Familie. Er verweist auf die „Hoffnung auf eine perfekte Welt“ an einem Ort nicht perfekter fragmentarischer Welten.10 Riggs stellt die Grenze als Anlass dar, das gemeinsame Projekt eines verbindenden Christentums zu verhandeln. Er spricht davon, dass die Grenzen sich über die Glaubensgemeinschaft auflösen können: Gottes Liebe für Christus löst die Grenzen auf, welche die Angehörigen der Heiligen Familie voneinander trennen. Wir müssen in der Hoffnung leben, dass unsere Liebe eine vereinende Kraft in dieser Glaubensgemeinschaft an dieser Grenze, an diesem Ort sein wird, eine Stimme, die so kraftvoll ist, dass sie nicht überhört werden kann, auch nicht von den Mächtigen unserer Zeit. Glaube, Liebe und Hoffnung können uns verbinden […].11

Nach Riggs entwirft der Erzbischof Tijuanas, Rafael Romo Muñoz, seine Version der Situation auf der mexikanischen Seite der Veranstaltung. Auch er lässt sich, wie seine Vorredner, der „reisenden Öffentlichkeit“ der Stadt Tijuanas zuordnen. Die Geschichte und damit die Grenzen sind in seiner Version gottgewollt und damit das Fundament religiöser Geschichten und Erfahrungen. Er legt den Schwerpunkt der Rede darauf, dass Gott den Weg bestimmt, dass Maria gewirkt durch Gott Jesus in Bethlehem zur Welt brachte. Er bewegte die Herrschenden dazu, dass sie eine Volkszählung durchführten, so dass Maria und Josef angehalten waren, Richtung Bethlehem aufzubrechen. Denn die ganze Welt sollte an den Ort der Herkunft zurückkehren, um sich registrieren zu lassen.12 Muñoz entwirft die Grenze als göttliche Notwendigkeit, „als Königreich Gottes inmitten der Gemeinschaft“, die sich in der Zusammenkunft der Posada bildet.13 Nachdem der Teil der offiziellen Reden als eine Form von „Überredung“ abgeschlossen ist, folgt der zweite wesentliche Teil der Veranstaltung: der Teil der gemeinsamen Handlungen, der „Kollaboration“ in Form von Ritualen. Dadurch, 10 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 16.12.2010. 11 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 16.12.2010, Übersetzung aus dem Englischen durch die Verfasserin. 12 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 16.12.2010. 13 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 16.12.2010, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin.

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dass die Auflagen des Grenzregimes bei der 17. Posada Sin Fronteras zu einer zeitlichen Verknappung geführt haben, besteht der Teil der Rituale lediglich in der zentralen Handlung der Pedir Posada in Gestalt eines gemeinsamen Gesangs, der die Beidseitigkeit der Grenze betont. Die Rolle der Singenden wird auf die räumliche Differenzierung durch die Grenze hin aufgeteilt. Die Teilnehmer auf der mexikanischen Seite singen den Teil der Abgewiesenen Maria und Josef und diejenigen auf der US-amerikanischen Seite den Teil der Abweisenden.14 Dadurch betont der gemeinsame Gesang gleichzeitig die soziale Differenzierung der Grenzsituation: [gesungen auf mexikanischer Seite] San José: En nombre del cielo/ Les pido posada, Pues no puede andar Mi esposa amada. [„Heiliger Joseph: Im Namen des Herren/ Ich bitte Sie um Herberge, denn meine geliebte Frau kann nicht mehr gehen.“] [Gesungen auf US-amerikanischer Seite] Casero: Aquí no es mesón; Sigan adelante. Yo no puedo abrir. No sea algún tunante. [„Hausbesitzer: Hier ist kein Wirtshaus; gehen Sie weiter. Ich kann nicht öffnen. Ihr könntet Gauner sein.“] [Den Refrain singen die Teilnehmer beider Seiten gemeinsam] Entren, Santos peregrinos, peregrinos, reciban este rincón/ Que aunque es pobre la morada, la morada, se la doy de corazón. Cantemos con alegría, todos al considerar Que Jesús, José y María nos venieron a honorar. Humildes Peregrinos: Jesús, María y José, Mi alma doy, con ella, mi corazón también.15 [„Tretet ein, heilige Pilger, Pilger nehmt diese Ecke. Auch wenn die Wohnstatt ärmlich ist, so kommt sie doch von Herzen. Wir singen mit Leichtigkeit, da Jesus, Josef und Maria uns ehren. Bescheidene Pilger Jesus, Maria und Josef. Meine Seele sei mit ihnen, wie auch mein Herz.“]16

Dieser Ablauf zeigt, wie beide Seiten über gemeinsame Handlungen verstrickt werden. Zunächst wird im Lied die Differenz in der Erfahrung betont, doch dann singen beide Seiten gemeinsam. Das gemeinsame Singen und auch das gemeinsame Beten begleiten die gesamte Posada Sin Fronteras. Nach der Durchfüh14 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 16.12.2010. 15 Dem Gesangsheft der 17. Posada Sin Fronteras entnommen. 16 Freie Übersetzung der Verfasserin.

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rung der Pedir Posada sind die ersten zwanzig Minuten der Veranstaltung zu Ende und die Teilnehmer auf der US-amerikanischen Seite werden durch die Border Patrol veranlasst, mit der anderen Gruppe zu wechseln. Die zweite Gruppe betritt den Grenzkorridor unter Vorlage der Dokumente.17 In diese zweite Phase der Posada Sin Fronteras, im Anschluss an den Wechsel der beiden Gruppen, fällt auch einer der zentralen Momente der Veranstaltung: Wie in jedem Jahr schildern Migrantinnen ihre Grenzerfahrungen, vor allem die Tragödien, die sich ergeben, weil die Grenze sie als Mütter von ihren Kindern trennt. Im Jahr 2010 gibt es nur wenig Raum und Zeit für diese Stimmen, wegen der zeitlichen Begrenzung der Veranstaltung durch die Border Patrol.18 Eine dieser Stimmen gehört Esther Morales, die als indocumentada bereits neun Mal aus den USA deportiert wurde. Für die Posadas Sin Fronteras ist sie inzwischen eine Ikone. Sie versteht es, ihre Position zu nutzen. So erhält sie auch in der kleinen Posada des Jahres 2010 die Möglichkeit, als Mutter zu sprechen, denn ihre weibliche Perspektive in der Auseinandersetzung mit dem Grenzregime verbindet sie wie die anderen Frauen, die während der Posadas Sin Fronteras eine Stimme bekommen, mit dem Konzept der Mutterschaft. So berichtet sie, dass der Grenzzaun und das Grenzregime sie von ihrer einzigen Tochter trennen: Sie haben mich an viele Orte gebracht und immer habe ich alles für das Lächeln meiner Tochter getan. Weil ich Tag für Tag die Traurigkeit in ihrer Stimme am Telefon hörte, ihre Angst vor dem Leben und ihre Einsamkeit. Ich handelte viele Male für das Lächeln meiner Tochter. Zurzeit lebt meine Tochter in Los Angeles. Sie geht dieses Jahr auf die Universität und wir leben getrennt. Aber die Mauern können uns nicht trennen!19

Esther nimmt in ihrer Rede die Position der Mutter ein, womit sie die allgemeinen Vorstellungen der Festgemeinschaft bestätigt.20 Gleichzeitig nutzt sie die Situation, um sich selbst als Aktivistin und Autorin zu positionieren: Ich wurde neunmal deportiert, bis ich ins Gefängnis kam. Im Gefängnis für ‚indocumentados‘ in Dublin, Kalifornien, habe ich zu schreiben begonnen. Und jetzt bin ich Aktivis17 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 16.12.2010. 18 Ebd. 19 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 16.12.2010, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin. 20 Hier befinden wir uns in den Momenten der Missrepräsentation, die sich mit Scott den public transcripts zuordnen lassen und den Momenten, in denen dominante und subordinante Akteure gemeinsam agieren (vgl. Scott 1990: 2).

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tin. Ich arbeite zusammen mit dem ‚Casa Madre Asunta‘. Dieses hier ist mein letztes Buch [sie zeigt ihr Buch], die letzte Geschichte, sie heißt ‚Soziale Gerechtigkeit‘.21

Esthers Schilderungen machen deutlich, dass sie sich einer einfachen Positionierung in der Veranstaltung entzieht. Stattdessen setzt sie sich in Beziehung zu jener ersten Gruppe der Teilnehmer, die mit ihren Reden den wesentlichen Rahmen für die Veranstaltung gesetzt hatten. Mit den Schilderungen Esthers wird auf der US-amerikanischen Seite das Ende des Festes eingeleitet. Die verknappten zeitlichen und räumlichen Bedingungen der Posada Sin Fronteras des Jahres 2010, die durch das Grenzregime geschaffen werden, bedingen eine schnelle Auflösung der US-amerikanischen Seite der Festgemeinschaft. Die Border Patrol hat demnach einen großen Einfluss auf die Konditionen des Festes.22 Border Patrol Auf der US-amerikanischen Seite der Posada Sin Frontera hat die Border Patrol einen wesentlichen Einfluss auf den Ablauf der Veranstaltung. Sie bestimmen den zeitlichen und den räumlichen Rahmen der Veranstaltung. Bereits zu Beginn der Veranstaltung haben sie mit den Organisatoren die Rahmenbedingungen abgeklärt. Zwei Beamte sind extra zur Kontrolle des Verlaufs des Festes und zur Inspektion der Festteilnehmer erschienen. Einer der beiden hat sich am Eingang des Korridors zwischen den beiden Zäunen positioniert, der andere steht im Korridor neben den Festteilnehmern der Posada Sin Fronteras auf der USamerikanischen Seite.23 Zu Beginn des Festes führen sie eine kurze Inspektion der Festteilnehmer durch, die hierzu ihre Dokumente herzeigen müssen. Die Teilnehmer werden dazu angehalten, hinter einem weiteren Zaun zu verbleiben, der den Korridor wiederum von dem alten Grenzzaun abtrennt. Zudem wird den Teilnehmern untersagt, Gegenstände durch die Löcher des Zaunes zu reichen oder sich zu berühren. Dadurch wird die Einnahme einer gemeinsamen Mahlzeit verhindert, die wesentlicher Teil einer festlichen Posada ist. Die Beamten kommunizieren nicht direkt mit den Festteilnehmern. Stattdessen vermitteln sie ihre 21 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 16.12.2010, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin. Esther hat ihren Text mit eigenen Mitteln mehrfach kopiert und gebunden. Er ist jedoch nicht als Teil eines offiziellen Verlagsprogramms erschienen. In dieser Schrift erzählt Esther Morales ihre persönliche Migrationsgeschichte. Zur Zeit der Veröffentlichung war sie inhaftiert. Sie wurde erst im September 2010 entlassen, zwei Monate vor der Posada dieses Jahres. Sie musste eine 24-monatige Haftstrafe verbüßen. 22 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 16.12.2010. 23 Ebd.

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Auflagen den Organisatoren, die angehalten sind, diese an die Teilnehmer zu kommunizieren.24 Als die erste Zeiteinheit vorbei ist und die Teilnehmer der ersten Gruppe veranlasst werden, den Korridor zu verlassen, wird die zweite Gruppe einer Inspektion unterzogen und darf den Korridor betreten.25 Die Border Patrol beeinflusst vor allem den Ablauf des Festes auf einer Seite der Grenze. Wie lassen sich demnach die Beamten der Border Patrol als Teilnehmer der Posada Sin Fronteras charakterisieren? Für die beiden Beamten stellten die Aufgaben bei der Posada Sin Fronteras einen Arbeitseinsatz dar. Sie agieren am Rand der Veranstaltung und nicht in ihrem Zentrum und dennoch haben sie einen wesentlichen Einfluss auf ihren Ablauf. Sie haben die Macht, die Verbindung der Festgemeinschaft mit ihren Handlungen zu gestatten, zu verwehren und sie aufzulösen. Die Teilnehmer auf der mexikanischen Seite fuhren fort mit den Feierlichkeiten, nachdem die Border Patrol die Teilnehmer auf der USamerikanischen Seite bereits aus dem Korridor hinausgeleitet und den Durchgang zum Park verschlossen hatte.26 Sie reichen eine gemeinsame Mahlzeit mit Burritos und Champurrado, um die Posada in Form einer gemeinsamen Speise zu einem weiteren Höhepunkt zu führen.27 Die Veranstaltung endet auf der mexikanischen Seite des Zaunes schließlich mit einem kleinen Protestmarsch. Eine Gruppe von sieben männlichen Vertretern der Organisation „Angeles Sin Fronteras. Migrantes Deportados“ halten Schilder hoch mit der Aufschrift: „Alto Deportación Nocturna“28. Der Protest ist gegen die polizeilichen Praktiken auf beiden Seiten der Grenze gerichtet. Einer der beteiligten „Engel ohne Grenzen“ hält eine Piñata in der Form eines Beamten der Policia Municipal mit der Aufschrift Golpeador – „Schläger“. Ich hatte die Gelegenheit, eine weitere Posada Sin Frontera im Jahr 2012 zu besuchen. In diesem Jahr war der neue Grenzzaun fertiggestellt. Zugleich war der Zugang zum „Friendship Park“ neu geregelt. Die Posada Sin Fronteras verfügt in diesem Jahr über einen größeren zeitlichen und räumlichen Rahmen. Dadurch haben die Teilnehmer die Möglichkeit, weitere Rituale durchzuführen und weiteren Stimmen und Positionen innerhalb der Veranstaltung Raum zu geben. Die Border Patrol trat in der Folge des Umbaus bei der Veranstaltung weiter in den Hintergrund. Die Betrachtung der Posada Sin Fronteras des Jahres 2012 ist ein Beispiel dafür, wie erfolgreich sich die Akteure an dieser Grenze mit 24 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 16.12.2010. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 „Schluss mit den nächtlichen Deportationen“ (ebd.).

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ihren veränderten Bedingungen auseinandersetzen. Daher begebe ich mich jetzt ein zweites Mal an den Grenzzaun einer Posada Sin Fronteras, um gemeinsam mit anderen die Grenze zum Anlass für eine Zusammenkunft zu nehmen. 2012 Die Grenze ist umgebaut worden. Der Grenzstein – ‚La Mojonera‘ – befindet sich jetzt gänzlich auf einer Seite der Grenze. Der Zaun ist höher und dichter als zuvor. Der Zugang zum ‚Friendship Park‘, dem US-amerikanischen Halbkreis, ist jetzt durch ein riesiges Schiebegatter möglich, das zum Anlass der ‚Posada Sin Fronteras‘ des Jahres 2012 weit geöffnet ist. Eine zuverlässige Größe in dieser sich beständig verändernden Grenzlandschaft ist der Ozean, der unermüdlich seine Wellen an Land schiebt. So verlässlich wie die Wellen sind auch die Menschen, die nun bereits zum 19. Mal mit der ‚Posada Sin Fronteras‘ an der sich ständig verändernden Grenze ihre eigene Grenzlandschaft kreieren.29

Auf der US-amerikanischen Seite der Veranstaltung des Jahres 2012 haben sich bereits viele Menschen versammelt, um an der Posada teilzunehmen, denn in diesem Jahr müssen sich die Teilnehmer auf dieser Seite der Grenze nicht auf einen langen Fußmarsch einlassen. Sie fahren stattdessen mit ihren Autos über eine neu gebaute Straße durch das unwegsame Gelände im Umfeld der Grenze auf der US-amerikanischen Seite direkt an den Festort. Auf der mexikanischen Seite des freundschaftlichen Kreises ist hingegen noch niemand zu sehen. Verstreut spielen Kinder, Familien sitzen beisammen. Vereinzelt stehen Personen am Zaun, um die Anwesenden auf der anderen Seite zu begrüßen, indem sie sich an den Fingerspitzen durch den Zaun berühren, denn mehr ist nicht möglich.30 Der Handschlag zur Begrüßung an dem erneuerten und dichten Zaun bleibt verwehrt. Nur langsam versammeln sich hier die Teilnehmer und endlich erscheint auch Mary Galván (vgl. Kap. „2010“).31 Sie ruft die umstehenden Menschen zusammen, damit sie sich im Bereich des Kreises einfinden. Auch auf der anderen Seite werden die Teilnehmer ebenfalls gebeten, sich direkt am Zaun zu versammeln.32 Die Teilnehmerzahl hat sich im Vergleich zu 2010 erhöht. Insgesamt sind achtzig Personen, circa dreißig mehr als im Jahr 2010, am Grenzzaun erschienen. Fünfzig Personen befinden sich auf der US-amerikanischen Seite 29 Tagebuchnotizen, 08.12.2012. 30 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012. 31 Die Organisatoren blieben in den verschiedenen Jahren die gleichen. Die Festgemeinschaft setzt sich hingegen, wie sich noch zeigen wird, in den verschiedenen Jahren unterschiedlich zusammen. 32 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012.

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und dreißig auf der mexikanischen Seite des Grenzzaunes.33 Auch im Jahr 2012 beginnt die Posada Sin Fronteras mit der Vergegenwärtigung der Grenzsituation in einer religiösen Landschaft. Eine Reihe von Rednern wird sich dieser Vergegenwärtigung widmen, bevor der rituelle Teil der Veranstaltung beginnt.34 Mary Galván verbindet in ihrer Rede die Situation der Migranten mit der Weihnachtsgeschichte: Heute, wo viele Migranten Opfer von Missbrauch sind, […] ist unsere Feier noch wichtiger. Heute, anlässlich der 19. ‚Posada Sin Fronteras‘ sind wir aus Tijuana gekommen, um uns mit unseren Brüdern und Schwestern aus den USA zu einer einzigen Familie zu vereinigen. […] Danke dafür, dass Sie hier sind, danke, dass sie sich uns anschließen zu der Mission, den Migranten zu helfen, die deportiert wurden, jenen Frauen, die von ihren Kindern getrennt wurden, jenen Vätern, die ihre Familien in den USA lassen mussten.35

Sie macht den Teilnehmern ihre Anwesenheit in der Grenzsituation bewusst und verbindet diese in ihrer Rede mit dem Status der Migranten. Wieder muss der Anlass der Veranstaltung benannt werden. Wie in den Jahren zuvor variiert die Festgemeinschaft der Posada stark. Zudem wird die Zusammenkunft als notwendiger denn je dargestellt. So beendet Mary Galván ihre Begrüßung mit dem Verweis auf die Mütter und die Väter, die von ihren Kindern und ihren Familien getrennt sind. Schließlich übergibt sie das Wort an Padre Luiz Kendzierski, der Direktor des „Casa del Migrante“, der wie sie zu der reisenden Öffentlichkeit Tijuanas gehört (vgl. Kap. 2.1).36 Der Padre begrüßt die Teilnehmer auf beiden Seiten des Zaunes. Er verweist zuerst auf die neue Grenzsituation, die dazu führt, dass sich die Teilnehmer auf den beiden Seiten nicht mehr gegenseitig sehen können, und er hofft für alle, dass es einen Tag in der Zukunft geben wird, an dem sie sich wieder besser sehen werden können.37 Die compasión, das „Mitleid“, führt Kendzierski als das Ziel und ein zentrales Motiv in der Veranstaltung an. Mit diesem Punkt verweist er auf die Rituale der Zusammenkunft, zu der auch die gemeinsame Klage ge33 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012. 34 Ebd. 35 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin. 36 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012. 37 In der Tat ist es so, dass man nur aus absoluter Nähe, wenn man das Auge direkt an eines der Löcher im Zaun führt, die Menschen auf der anderen Seite sehen kann, allerdings nicht ohne dass ihre Gesichter und Körper optisch durch die Teile des Zaunes in viele kleine Teile zerlegt sind.

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hört, wie sie die Zeugnisse der Mütter begleitet, die als Migrantinnen ihre Grenzsituation beschreiben.38 Im Fortgang der Veranstaltung erhalten anschließend die Teilnehmer auf der US-amerikanischen Seite der Veranstaltung das Wort. Jamie Gates, Vorsitzender des Organisationskomitees und Professor für Soziologie, richtet sich mit einigen Worten an die Teilnehmer auf beiden Seiten der Grenze. Er verweist auf die territorialen Bedingungen der Veranstaltung im „Friendship Park“: „Wir konnten das erste Mal seit 2008 das Tor zur Seite rollen, um zu ermöglichen, dass wir uns alle zusammen für La Posada so nah wie möglich an dem ersten Zaun treffen.“ Schließlich fügt er aufmunternd hinzu: „Das ist ein Grund zu feiern, denn wenigstens kommen wir uns näher.“39 Der situative Verweis von Gates enthält einen entscheidenden Aspekt der Veranstaltung in jenem Jahr. Er bezieht sich zunächst auf die Teilnehmer auf der US-Seite, die nun mit Hilfe des neuen Tores wieder zum Anlass der Veranstaltung an den alten Grenzzaun gelangen können, um dort den Teilnehmern auf der anderen Seite der Grenze nahe zu sein. Die Festgemeinschaft ist wieder vereint.40 Die situative Bestimmung durch Gates ist Ausdruck der harten Verhandlungen mit den Interessenvertretern des Grenzschutzes. In diesem Sinne schließt er an seine situative Bestimmung des Ortes zugleich die Hinweise und Verbote für die Teilnehmer an, die er im Namen der Border Patrol ausspricht. Er fordert die Menschen auf, innerhalb einer markierten Absperrung zu bleiben.41 Das Territorium des Parks innerhalb des Korridors zwischen den beiden Grenzzäunen ist genau markiert. „Bitte halten sie sich an diese räumliche Beschränkung“,

38 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012. 39 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Englischen durch die Verfasserin. 40 Was er als Errungenschaft in der Zusammenführung darstellt, hat jedoch auf einer anderen Ebene Konsequenzen, die er unerwähnt lässt. Eine der positiven Konsequenzen ist, dass die Teilnehmer auf der US-Seite nicht mehr ihre Dokumente vorzeigen müssen, um den festlichen Rahmen, den „DHS Corridor“, zu betreten. Eine der negativen Konsequenzen ist, dass die Teilnehmer auf der mexikanischen Seite nun nahezu unsichtbar geworden sind, da die Maschen des erneuerten Zaunes sehr eng sind, so eng, dass keine Objekte durch den Zaun zirkulieren können, wie es sonst der Fall war. Bei den Posadas Sin Fronteras früherer Jahre wurden Speisen und Getränke durch den Zaun hindurch gereicht. Bei Messen konnten die Teilnehmer auf beiden Seiten des Zaunes Brot und Wein miteinander teilen. 41 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012.

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sagt er in einem dringlichen Tonfall, „wenn wir diese Markierungen missachten, wird es schwer, diese Veranstaltung wiederholen zu können“.42 Durch die Hinweise werden die strategischen Verhandlungen mit den Border Patrols deutlich, die zur Folge hatten, dass durch die Öffnung bestimmter Barrieren wiederum andere strategisch eingesetzt werden müssen. Die Festgemeinschaft kann sich nun nur im Rahmen der Posadas versammeln, wenn sie diese neuen Barrieren akzeptiert. Anders als bei herkömmlichen Festen, wo der festliche raumzeitliche Rahmen in den Bedingungen des Festes selbst zu suchen ist, wird er hier, zumindest auf der US-Seite der Veranstaltung, durch die Border Patrol43 bestimmt. Der organisatorische Hinweis von Jamie Gates überführt die Teilnehmer in die Ordnung des Grenzregimes, die durch die Border Patrol vorgegeben wird. Nachdem die Teilnehmer auf beiden Seiten der Grenze gemeinsam Lieder gesungen haben und die Weihnachtsgeschichte erzählt wurde, erhält erneut Mary Galván das Wort.44 Galván wiederholt den Versuch, die Bedeutung der Posada Sin Frontera am Ort zu vergegenwärtigen. Sie bezeichnet die Posadas als „populäre Feste, die an die Pilgerschaft Marias und Josefs erinnern“, als jene auf dem Weg nach Bethlehem nach einer Bleibe suchten. Mit „religiösem Geist“ und mit „Gesang“, steht die „Gesellschaft der Grenze“ für die „Rechte der Migranten“ ein.45 In diesem populären Fest, so fährt Galván mit ihrer Rede fort, verschwinden die Grenzen symbolisch: Auf symbolische Weise verschwindet die Grenze, und die Bewohner beider Staaten vereinen ihren Geist und ihre Stimmen durch die Kraft der Kooperation und dank der Hilfe durch Netzwerke, die jedes Jahr gemeinsame Handlungen ermöglichen. An ihrem Anfang waren sie spontan, mit der Zeit werden sie aber verbindlich. So ist es mit der ‚Posada Sin Fronteras‘, die Jahr für Jahr durch Gruppen von beiden Seiten der Grenze in unmittelbarer Nähe der internationalen Linie Tijuana-San Diego realisiert wird […].46

42 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Englischen durch die Verfasserin. 43 Auf der mexikanischen Seite ist die Policia Federal, wie auch 2010, nicht erschienen, um das Fest an der Grenze zu kontrollieren (Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012). 44 Ebd. 45 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin. 46 Ebd.

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Galváns Vergegenwärtigung bildet die Überleitung zu einer Predigt auf der mexikanischen Seite der Grenze. In der 19. Posada Sin Fronteras wird sie durch Padre Lambert vollzogen, der in diesem Jahr den Erzbischof Tijuanas Muñoz vertritt.47 Lambert bezeichnet die Posada als Botschaft der Hoffnung. Aufgrund der „Zusammenkunft in Jesus“48 verweist er darauf, dass Brücken der Liebe konstruiert werden, die sich gegen die Angst vor den Fremden richten, während die Autoritäten Grenzen bauen. In der Zukunft, so sagt er, sollen keine Grenzen existieren. Wenn neue Grenzen entstehen, soll sich der Glauben verstärken. Lambert verweist auf die weihnachtliche Hoffnung und auf die Aspekte der Gemeinschaft, des Glaubens und der Arbeit, die sich an den Zäunen stärken können. In dieser Hinsicht sieht er da, wo die Zäune, Mauern und Grenzen fallen, bereits die nächsten entstehen, aus denen sich die Gemeinschaften, denen sie zum Dilemma werden, bilden können. In dem gleichen Paradox besteht in seiner Ansprache auch die Weihnachtsgeschichte, die in Jesus Wiederauferstehung mündet und in der freudigen Rückkehr nach Jerusalem.49 Als nächste offizielle Rednerin spricht Bishop Minerva G. Carcaño aus der „United Methodist Church, California-Pacific Annual Conference“.50 Sie verbindet in ihrer Rede schließlich symbolisch die Erfahrungen der Migranten mit religiösen Erfahrungen. Die Grenzlandschaft erklärt auch Carcaño zu einer religiösen Landschaft. Für Carcaño ist die Posada die Erinnerung daran, dass Gott auf der Seite der „Machtlosen unter jenen mit Macht steht“. Ein Zusammentreffen mit den „immigrierenden Brüdern und Schwestern“ sei ein „Zusammentreffen mit Gott.“51 Bischof Carcaño betont, dass Gott mit den Migranten ist. Sie gibt mit ihrer Rede den Weg für die Positionierung der Migranten im religiösen Kontext frei, da, wo sie selbst zu sakralisierten Verkörperungen von Maria, Joseph und Jesus werden. Sie schildert, wie sie selbst in einer Nacht mit Maria und Josef, verkörpert in einem Paar, an der Grenze zusammentraf: Vor nicht so langer Zeit an eben dieser Grenze in einer sehr dunklen Nacht habe ich eine Maria und einen Josef, ein junges Paar getroffen. Sie hatten ein Baby in ihren Armen. Sie waren draußen in der Wildnis, buchstäblich in der Wildnis. Sie schliefen in der Wüste und sie versteckten sich in den Bergen für viele, viele Tage. Die ‚Border Patrol‘ hat sie 47 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012. 48 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin. 49 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012. 50 Ebd. 51 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Englischen durch die Verfasserin.

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schließlich gefunden, aufgesammelt und sie direkt zurück über die Grenze geschickt. In einer Zuflucht [für Migranten] auf der anderen Seite der Grenze habe ich sie getroffen. Es war spät in der Nacht. Ich hatte Angst, sie müssen Angst gehabt haben. Ich schloss sie in ein Gebet ein. Ich betete für sie und als ich meine Augen von dem Gebet mit ihnen öffnete, sah ich Tränen und Freude in ihren Gesichtern und sie dankten mir für das Gebet.52

In der Schilderung Carcaños wird die Positionierung der Migrantinnen und Migranten in einer religiösen Landschaft überdeutlich. Nach dieser Verknüpfung der Grenzsituation mit der Weihnachtsgeschichte erfolgt der Übergang der Veranstaltung in die Phase gemeinsamer Rituale und Kollaboration.53 Zunächst wird ein Ritual für diejenigen durchgeführt, die beim Grenzübertritt aus dem Leben gegangen sind. Zur Durchführung dieses Trauerrituals haben Teilnehmer braune Tüten verteilt, auf die mit bunten Farben die Namen jener, die bei Grenzübertritten gestorbenen sind, geschrieben stehen. Auf einigen Tüten war „hermano“ oder „hermana“ geschrieben, oder auch „mama“, „friend“ und „amigo“, „hija“, „amor“ oder auch „inidentificado“. Nun werden die Teilnehmer aufgefordert, die Namen der Verstorbenen oder die Bezeichnungen auf ihrer Tüte laut zu verlesen und anschließend dreifach das Wort „¡Presente!“, „Anwesend!“, zu wiederholen: „¡Presente! ¡Presente! ¡Presente!“. Die Handlung diente, wie erläutert wurde, als Gebet für die Familien der Migranten: „Uno, dos, tres“. Ein gewaltiges Namensgewirr ertönt: „¡Presente! ¡Presente! ¡Presente!“.54 Die Kollaboration besteht in diesem Fall darin, dass jeder Teilnehmer stellvertretend einem Verstorbenen seine Stimme gibt.55 Auf dieses Ritual folgen in diesem Jahr die Zeugnisse der Migrantinnen und Migranten.56 Sie bilden gemeinsam mit der Pedir Posada den Kern der Veranstaltung, um die alle anderen Rituale gruppiert werden. Die Migrantinnen be52 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Englischen durch die Verfasserin. 53 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012. 54 Ebd. 55 Das Ritual ist anderen Zusammenhängen entlehnt. Colwell schildert ein ähnliches Ritual, das bei Gemeinden der zapatistischen Bewegung durchgeführt wurde. Es diente als gemeinschaftliches Heilungsritual bei einer Tzotzil-Gemeinde. Die Gemeinde war durch Militärs attackiert wurden. Das betreffende Ritual fand in Acteal am 22. Dezember 1998 statt. Dort hatten sich überlebende Abejas versammelt. In diesem Ritual wurde das Massaker nachgespielt und am Ende wurden die Namen der Verstorbenen aufgerufen, gefolgt von dem Ruf „¡Presente!“ (vgl. Colwell und Myers 2012: 44f.). 56 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012.

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mühten sich, ihre Geschichte als eine „besondere Geschichte“ darzustellen. Unter Tränen berichteten sie öffentlich über ihre familiären Grenzsituationen und ihr Leid als Mütter, die von ihren Familien getrennt sind. Wie schon im Jahr 2010, als die Geschichte von Esther Morales im Zentrum des Geschehens stand und als quasi-rituelle Vergegenwärtigung eines gemeinsamen Dilemmas diente, werden auch 2012 diese Stimmen im Zentrum der Veranstaltung positioniert. Im Jahr 2012 berichten vier Migrantinnen und ein Migrant von ihrer Grenzsituation. Vier von ihnen sprechen auf der mexikanischen Seite der Veranstaltung, eine der weiblichen Rednerinnen befindet sich auf der US-Seite der Veranstaltung.57 Das erste Zeugnis einer Mutterschaft im Kontext der Grenze liefert Edith Moreno. Mary Galván stellt sie mit den folgenden Worten vor: „Jetzt werden wir die Geschichte hören von einer Migrantin, die von ihrer Tochter getrennt ist“,58 und fordert die anderen Teilnehmer auf, mit dem Beten und dem Trauern fortzufahren.59 Edith Moreno reagiert gleich zu Beginn ihrer Rede auf diese Positionierung und kündigt an, dass ihre Geschichte sich von denen der anderen Mütter und Migrantinnen unterscheidet: „Guten Tag, mein Name ist Edith Moreno. Mein Fall unterscheidet sich stark von dem der anderen Frauen“.60 Edith berichtet von der Grenzsituation, in der sie sich gemeinsam mit ihrer Tochter befindet. Sie hebt dabei jedoch hervor, dass ihre eigenen Entscheidungen und Unternehmungen für ihre Positionen auf beiden Seiten der Grenze von Bedeutung sind. Edith berichtet, dass sie elf Jahre mit ihrer Tochter in den USA gelebt hat und dann schließlich, in ihrem Bericht ist es neun Monate her, nach Mexiko zurückkehren musste, weil ihre Mutter schwer erkrankt war.61 Edith bringt ihre Tochter mit zurück über die Grenze. „Meine Tochter ist lesbisch“, so hebt Edith hervor: „und ich schäme mich nicht dafür!“, ergänzt sie mit Bestimmtheit. 62 Sie spricht kein Spanisch, versteht nichts in der Schule. Sie liebt Mexiko, sie ist jedoch, so gibt Edith die Worte ihrer Tochter wieder, in den USA aufgewachsen, und dort möchte sie auch leben. So weinte Ediths Tochter jeden Tag und fragte, wann sie zurückkehren würden.63 Ediths Tochter hatte eine schwere Depression und versuchte sich umzubringen. Dennoch kehrte Edith, wie sie den Anwesen57 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012. 58 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin. 59 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012. 60 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd.

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den berichtet, alleine in die USA zurück, da sie ihre Tochter nicht mit sich nehmen konnte. Dabei wurde sie jedoch gefasst. Die Person, die sie stellte, sagte vor allen Umstehenden: „Schaut her, ich habe eine indocumentada!“. Für Edith klang es, als würde sie sagen: „Seht her, ich habe eine Fliege gefangen!“.64 An dieser Mauer, so sagt sie, hängt das Leben ihrer Tochter, die schon mehrfach versucht hat sich umzubringen.65 Ediths Tochter befindet sich auf der falschen Seite der Grenze. Auf dieser Seite vermag sie zwar mit ihrer Familie zusammen zu sein, dennoch kann sie nur auf der anderen Seite glücklich werden. Ihr Glück liegt demnach nicht in den Händen ihrer Familie. Stattdessen stellt sich Ediths Tochter die Frage, auf welcher Seite der Grenze sie überhaupt leben kann. Damit wird deutlich, dass die zirkulären Grenzübergänge eine Unmöglichkeit in ihrer Position an der Grenze darstellen, denn Edith und ihre Tochter genießen nicht die Privilegien der reisenden Öffentlichkeit. Im Anschluss an Edith erhält eine weitere Mutter das Wort.66 Mary Galván kündigt sie mit folgenden Worten an: „Nun hören wir Irma Mora. Sie möchte ihrer Tochter in den USA eine Nachricht senden.“67 Irma hat eine kranke Tochter, die ihre Hilfe benötigt. Irma wurde in San Bernadino verhaftet, weil sie keinen Führerschein hatte, anderthalb Monate, bevor die Posada Sin Fronteras stattgefunden hat: „Alles nur, weil ich keinen Führerschein besaß. Und wie man weiß, muss man dort [in den USA] immer ohne Führerschein fahren, weil man ja zur Arbeit kommen muss.“68 Irma Mora ist damit in derselben Situation wie viele, die aufgrund einer fehlenden Fahrerlaubnis auf dem Weg zur Arbeit verhaftet werden. Nachdem sie die Bedingungen ihrer Deportation beschrieben hat, fährt sie mit der Beschreibung ihrer Situation als Mutter fort. Sie hat drei Kinder. Alle ihre Kinder leben in den USA. Ihre Lage unterscheidet sich jedoch von der der anderen Mütter, denn sie hat eine „spezielle Tochter“. Diese ist 22 Jahre alt, autistisch und benötigt eine besondere Behandlung. Sie ist die Tochter, welche Irma „am meisten braucht“.69 Ausgehend von ihrer Situation als Mutter nutzt sie die Gelegenheit, sich bei ihren Helfern zu bedanken: „Als sie mich hinüberbrachten, habe ich gedacht, was soll ich hier in Tijuana machen, ich bin niemals 64 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin. 65 Ebd. 66 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012. 67 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin. 68 Ebd. Einen Führerschein erhalten lediglich die Personen, die im Besitz einer offiziellen Aufenthaltsgenehmigung für die USA sind. 69 Ebd.

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hier gewesen. Ich habe niemanden. Gottseidank haben wir das Haus für die Mütter gefunden.“ Sie betont, dass sie dort sehr gut unterstützt worden sei. „Wir fühlen uns wie eine Familie. Wir sind sehr dankbar, dass sie uns geholfen haben. Ich wüsste nicht, wie es mir sonst hier ergangen wäre.“ Sie sagt, sie fühle sich beruhigt, wegen dieses Tages, an dem sich alle an diesem Ort versammeln. Sie dankt Gott für diesen Tag.70 Nachdem sie die Unterstützung durch die „Casa Madre Asunta“ hervorgehoben hat, berichtet sie noch von ihren Hoffnungen für die Zukunft. Diese richtet sich auf eine baldige Vereinigung mit ihrer Tochter: „Aber immer denke ich an meine Tochter. Sie heißt Isabel Lopez. Falls sie mich hört, ich liebe sie sehr. Mit der Kraft von Jesus Christus, lass uns zusammen sein!“.71 Auch Irma ist nicht einfach Mutter, wie die anderen Migrantinnen, die sich hier positionieren, sondern sie hebt die Besonderheit ihrer Situation hervor, wie zuvor auch Edith. Zudem ist Irmas Zeugnis, das sie unter Tränen vorträgt, von tiefstem Kummer gefärbt. Einige der Teilnehmer lauschen ihrem Zeugnis unter Tränen. Es entsteht eine Stimmung gemeinsamer Trauer.72 Irma möchte ihre Töchter wiedersehen. Sie verweist an einer anderen Stelle aber auch auf die allgemeine Ungerechtigkeit, die sie mit ihren compañeras des „Trayecto Muros“ besprochen hat: „die Ungerechtigkeit, dass alles von der Familie abhängt“.73 Auf Irmas Ausführung folgt eine Rede von der anderen Seite der Grenze. Montserrat Ramirez erhält das Wort. Ihre Position unterscheidet sich von denen der anderen Migrantinnen in der Hinsicht, dass sie nicht auf der mexikanischen Seite der Grenze spricht, sondern auf der US-amerikanischen.74 Sie beginnt mit der Beschreibung ihrer Familiensituation. Sie ist nicht von ihrer Tochter getrennt, sondern von ihrer kleinen Schwester. Diese hat sie schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Nur durch die kleinen Löcher der Mauer haben sie sich vor wenigen Minuten im Rahmen der Posada Sin Fronteras begrüßt. Doch diese Treffen an der Mauer sind nur unzulänglich, da sie sich keine Dinge hindurchreichen und auch keine Berührungen austauschen können. Bis jetzt habe ich sie nur an der Mauer durch die kleinen Löcher gesehen, […]. Das ist die einzige Möglichkeit, wie ich sie treffen konnte. Das letzte Mal, dass wir uns richtig gese70 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Englischen durch die Verfasserin. 71 Ebd. 72 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012. 73 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin. 74 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012.

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hen haben, ist sehr lange her. Diese Trennung war sehr schwer für die Familie. Für uns gibt es kein glückliches Leben, kein gemeinsames Neujahr, weil ich nicht mit ihnen zusammen sein kann, weil ich nicht zurückkehren kann. Wir können nicht raus und nichts durchreichen. Wir können uns keine Umarmung geben. Wenn sie krank ist, kann ich sie nicht unterstützen. Aber ich weiß, dass wir eines Tages wieder zusammen sein werden.75

Mit ihren Worten bestätigt Montserrat die Schwierigkeiten, die die Grenze für viele Familien verursacht. Damit bestätigt sie die Veranstaltung und ihre Position innerhalb derselben. Die letzte Rede stammt von Esther Morales, die auch während der Posada Sin Fronteras der vergangenen Jahre eine entscheidende Position eingenommen hatte. Die Beziehung zu ihrer Tochter ist durch gemeinsamen politischen Aktivismus gekennzeichnet. Das Muttersein Esthers besteht nicht nur in einem Mutter-Tochter Verhältnis, die Beziehung der beiden ist auch durch eine weiterreichende politische Kollaboration gekennzeichnet. In diesem Aktivismus selbst liegt nun auch der Grund, warum Esther aktuell von ihrer Tochter getrennt ist. Eigentlich sollte sie an der Posada teilnehmen, da sie zu den Organisatoren des Events gehört. Sie wurde jedoch zu einer anderen Veranstaltung nach Washington D.C. eingeladen, um dort zu reden: Meine Tochter würde auch hier sein heute Nachmittag, weil sie eine Kollaborateurin der Gruppe ist, die dieses Event koordiniert. Sie musste aber nach Washington zu einer anderen Veranstaltung fahren. Darum kann sie nicht hier sein. Ich möchte ihr einen Gruß senden, weil sie sich nicht scheut, all den Jugendlichen zu helfen, die in dieser Situation sind.76

Neben den vier weiblichen Stimmen der Mütter kommt auch ein Migrant zu Wort. Er spricht auf der mexikanischen Seite der Grenze.77 Seine Positionierung innerhalb der Veranstaltung unterscheidet sich stark von jener der Migrantinnen, denn er wird nicht etwa als Vater positioniert, sondern als Arbeiter. Jesús Salinas berichtet, wie er auf dem Weg zur Arbeit noch mit seiner Arbeitsbekleidung verhaftet wurde, weil er keinen Führerschein hatte. Er entschuldigt sich dafür, dass er bei der Veranstaltung noch in derselben Arbeitsbekleidung spricht. In seiner Rede positioniert er sich als wichtige Figur, die männliche Ergänzung der Mutter und der Mutterschaft: es ist die des Arbeiters, der mit wichtigen Arbeiten,

75 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin. 76 Ebd. 77 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012.

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wie etwa den Bauarbeiten, daran beteiligt ist, das Land zu dem zu machen, was es ist.78 Mary Galván beschließt diesen Teil der Posada Sin Fronteras im Jahr 2012 mit der Aufforderung, dass alle Teilnehmer zu voceros, zu „Sprechern“, werden und die Stimmen der Migrantinnen und Migranten in ihre Familien, Freundschaften und Schulen tragen sollen.79 Die Zeugnisse der Migrantinnen und Migranten münden in eine gemeinsame Trauer. Einige Teilnehmer weinen gemeinsam mit den Sprechenden. Direkt im Anschluss an die Zeugnisse der Migrantinnen und Migranten erfolgte das gemeinsame Pedir Posada, das sich kaum von dem des Jahres 2010 unterscheidet. Die Teilnehmer singen wie auch in den anderen Jahren jeweils den Part, der ihrer Position auf der mexikanischen oder der US-amerikanischen Seite des Grenzzaunes entspricht, wie sie durch die räumliche Differenzierung vorgegeben wird.80 Die Posada endet zuerst auf der US-amerikanischen Seite der Veranstaltung. Während auf der mexikanischen Seite nun der wesentliche Teil der Posada in ihrem klassischen Sinne beginnt, bei dem die Erfrischungen gereicht werden und gemeinsam gespeist wird, müssen die Teilnehmer auf der US-amerikanischen Seite das Territorium des Korridors wieder verlassen und über die neue Straße die Heimreise antreten. Die Organisatoren machen zum Abschied ein Gruppenfoto mit den Border Patrol Agents. Dann wird das neue Schiebegatter wieder geschlossen. Auf der mexikanischen Seite werden auch in diesem Jahr Speisen und Getränke mit den Anwesenden geteilt.81 Auf dieser Seite der Grenze endet die Veranstaltung erst, als die Sonne langsam untergeht. Die Posadas Sin Fronteras bilden ein erstes prägnantes Beispiel ritueller Komplizenschaft. Die Grenze wird im Fest beständig als räumliche Trennung vergegenwärtigt. Auch werden die durch die Grenze produzierten Statusunterschiede unmittelbar verhandelt. Sie beeinflussen die Positionen, die die verschiedenen Teilnehmer innerhalb der Posadas Sin Fronteras einnehmen. Grenzlandbewohner mit US-amerikanischer Staatsbürgerschaft und jene mit mexikanischer Staatsbürgerschaft, die die Erlaubnis für offizieller Reisen haben, agieren 78 Transkription der Tonaufzeichnungen der Posada Sin Fronteras, 08.12.2012, Übersetzung aus dem Spanischen durch die Verfasserin. In einer überzeugenden Monografie hat Don Mitchell die „Lüge des Landes“ behandelt. Er beschreibt die Diskrepanz, die in der Imagination der kalifornischen Landschaft mit der „realen“ Landschaft besteht, die erst mit der Arbeitskraft der Arbeiter hergestellt werden muss (Mitchell 1996). 79 Verlaufsprotokoll Posada Sin Fronteras, 08.12.2012. 80 Ebd. 81 Ebd.

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mit jenen, die durch die Grenze ganz anders klassifiziert wurden und denen der offizielle Grenzübergang verwehrt ist. Sie alle stellen aktiv eine Gemeinschaft her. Der Status der Grenze wird als festliche Angelegenheit in einen unmittelbaren räumlichen und sozialen Zusammenhang gesetzt. Doch welche räumlichen Bedingungen gibt die Grenze am Ort der Veranstaltungen vor? Im nächsten Kapitel werde ich zunächst den Ort, an dem die Posadas de Fronteras stattfinden, näher betrachten.

3.2 E IN P ARK IN ZWEI S TAATEN Der Ort, an dem die Posadas Sin Fronteras vollzogen werden, ist eine binationale Parkanlage. Sie erstreckt sich auf beiden Seiten des Grenzzauns. Beide Seiten dieses Parks sind ganz unterschiedlichen Bedingungen unterworfen. Gleichzeitig beeinflussen sich die beiden Parkhälften gegenseitig, da sie zusammen einen transnationalen Raum bilden.82 Die Bedeutung des Parks hat sich in den Jahren seit der Zunahme der Grenzsicherung durch Operation Gatekeeper (vgl. Kap. 2 und Nevins 2002) gesteigert. Die Landschaft im Umfeld der Parkanlage „auf der Grenze“ blieb trotz dieser Sicherungsmaßnahmen ein Ort, an dem sich Familien trafen, die durch die Grenzformalitäten getrennt waren. Durch eine Verschärfung der Kontrollen des Gebiets und die Schließung des Parks für die Öffentlichkeit im Jahr 2002 verschwanden derartige familiäre Alltagsaktivitäten zunehmend. Die Grenzzaun und der Park wurden nun vor allem von Aktivistengruppen aus dem christlichen und dem akademischen Umfeld besucht. Diese Gruppen versuchen seither den doppelten Park zu erhalten und die Zugänglichkeit auf beiden Seiten des Zaunes sicher zu stellen. Auf der US-amerikanischen Seite des Zauns sind die Konflikte um die Parkanlage dabei wesentlich größer.

82 Die doppelte Geschichte jener Parkanlage, die auf beiden Seiten der Grenze zwischen Mexiko und den USA liegt, beginnt am 18. August 1971 mit dem Besuch von Patricia Nixon am historischen Grenzsteinobjekt La Mojonera. Zu dieser Zeit bestand die Grenzanlage aus einem Stacheldrahtzaun von etwa einem Meter Höhe. Im Verlauf des Besuchs soll Pat Nixon die Border Patrol dazu überredet haben, den Stacheldraht zu zerschneiden, um die Menschen auf der anderen Seite des Zaunes mit den Worten „I hope there wont be a fence here to long“ zu begrüßen. Diese Begebenheit zeugt von der Möglichkeit des spielerischen Umgangs mit dem Grenzregime, vorausgesetzt, man ist in der Position dazu. Ihre Äußerung betont jedoch gleichzeitig die aktuelle Notwendigkeit eines Zaunes.

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Der Halbkreis in den USA In welchem komplizierten Verhältnis der Park zum Grenzregime auf der USamerikanischen Seite des Zauns steht, schildert die Literaturwissenschaftlerin und Grenzaktivistin Jill Holslin anhand einer konkreten Begebenheit. Sie schildert, wie ein Aktivist, Dan Watman83, am 18. September 2008 durch den Grenzzaun hindurch Journalisten aus Baja California, Mexiko, ein Interview gibt. Er gerät mit den Bedingungen des Grenzregimes in Konflikt, als er die Visitenkarte von einem der Journalisten durch den Zaun entgegen nimmt. In den Augen der U.S. Customs and Border Protection hat Watman damit eine Straftat begangen, weil er unreguliert Waren über die Grenze brachte. Holslin beschreibt, wie durch diese Handlung der Park plötzlich zu einem Ort illegaler Einfuhr wurde. Plötzlich war der Park ein Ort für „kriminelle Unternehmungen“ (Holslin 2011: 2). Diese Begebenheit umreißt die Bedingungen des Parks, der als undichte Stelle im urbanen Grenzgebiet Kontakte durch die Grenze ermöglichte, die außerhalb der Zirkulationsräume des Grenzregimes eigene Zirkulationsräume darstellen. Jedoch bestanden diese Zirkulationsräume nicht im Schatten der Grenze, wie die unzähligen informellen Handlungen der coyotes und ihrer pollos, sondern bis zu dieser Begebenheit des Jahres 2008 in stiller Übereinkunft mit den Border Patrols. Vor 2008, so fährt Holslin fort, war es gängige Praxis der Border Patrol, zu erlauben, dass mexikanische Familien sich am Zaun treffen und Dinge auszutauschen oder sogar durch den Zaun hindurch Süßigkeiten von den Verkäufern auf der anderen Seite der Grenze zu kaufen. Mitunter schlüpften sie sogar durch die Stelen des Zaunes, um gemeinsam mit Verwandten am Strand von „Playas de Tijuana“ zu sitzen (Holslin 2011: 2). Der Ort verwehrte zwar das unauthorisierte Überqueren der Grenze, aber nicht, dass sich Familien dort trafen, um eine sonntägliche Mahlzeit zu teilen, eine quincañera zu feiern oder sich „auf Wiedersehen“ zu sagen (ebd.). Im Juli 2008 wurde dieser freie Zugang zum Park beschränkt. Um den Einlass zum Park als Zirkulationsraum zu erhalten, der durch das Grenzregime geduldet wurde, versammelten sich jede Woche verschiedene Teilnehmer zu einer Kommunion an der Grenzmarkierung und erzeugten eine internationale Öffentlichkeit. Am 21. Februar 2009 erreichten die Spannungen einen Höhepunkt. Border Patrol Agents und Minutemen suchten die Messe zu verhindern, die diesmal etwas umfangreicher mit einem Chor gestaltet

83 Dan Watman leitet eine binationale Gruppe mit dem Namen „Border Encuentro“, die den Park und seine beiden Hälften für verschiedene Veranstaltungen nutzt, wie den „Signing Through“, bei dem Menschen mit Gebärdensprache durch den Grenzzaun kommunizieren. Zudem pflegt er mit Unterstützern einen binationalen Garten.

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wurde, der auf beiden Seiten des Zaunes sang. Die Veranstaltung endete mit der Verhaftung des Priesters John Fanestil und des Grenzaktivisten Dan Watman (Holslin 2011: 6). Der Zugang zum Park ist inzwischen durch einen massiven Zaun mit 5,48 Meter hohen Metallstelen, eine Straße für den Zugang der Border Patrol und einen dritten kleineren Zaun versperrt, der den Beginn von Staatseigentum („state property“) markiert (ebd.). Die US-mexikanische Seite des Parks ist als ein „öffentliches Zugangsareal“ (public acess area) definiert, das durch Zugangsregeln und den konstruierten Grenzzaun limitiert ist. Die folgenden Regeln sind auf einem Schild am Grenzzaun angebracht: Rules for Entry: Maximum Occupancy – 25. Government issued photo ID is required to gain access. Individuals and organizations are responsible for ensuring the public access area remains a clean litter free environment. The exchange of items through, over or under the fence is prohibited. Physical contact with individuals in Mexico is not permitted. No weapons permitted. Disturbing, moving or altering infrastructure designed to limit access is prohibited.84

Die hohe Anzahl an Verbotsschildern im Umfeld der Grenze reguliert die unerwünschten Bewegungen und Handlungen. Mit ihrem Text etablieren sie den richtigen Umgang mit dem Zirkulationsraum der Grenze. Sie sind dabei gleichzeitig Ausdruck des fragmentarischen Charakters, der den meisten sozialen Räumen an der Grenze zu eigen ist. Gleichzeitig erzählen sie, wie bereits im dritten Kapitel dieser Arbeit gezeigt, eine Geschichte von Handlungen, die im Konflikt mit der Grenze stehen. Tatsächlich war das Areal des „Friendship Parks“ dafür bekannt, dass es körperlichen Kontakt durch die Grenze ermöglicht. Die neuen Zugangsregeln und die entsprechenden baulichen Bedingungen des Parks lassen diesen Kontakt jedoch kaum mehr zu. Holslin beschreibt die neuen Regeln für den Eintritt in diese Parkhälfte wie folgt: New rules for public access to the gathering place leave families feeling like they have entered a maximum security prison on visiting day: visitors must wait outside the border wall 150 feet away from Friendship Park, seek permission to enter a locked gate, then be escorted by a border patrol agent into a ‚security zone‘, a five-foot tall pedestrian barrier that confines the space of the concrete circle of Friendship Park. The barrier keeps park visitors at least four or five feet away from the fence. No longer can lovers entwine their fingers nor grandmothers kiss their grandchildren through the fence – no touching permitted. (Holslin 2011: 2) 84 Der Text ist im Wortlaut der Beschilderung entnommen (Tagebuchnotizen, 05.12.10).

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Der Park ist verbunden mit einer Strategie, alternative soziale Praktiken an der Grenze in spezifischen Zirkulationsräumen zu etablieren, die von denen des Grenzregimes abweichen, aber dennoch von diesem als „legale Praktiken“ gebilligt werden.85 Die Ermöglichung dieser Praktiken wurde zur Grundlage für einen Entwurf zu einer neuen Architektur des Parks. Zum Teil wurde der Park nach diesem neuen Entwurf gestaltet, wobei jedoch die Möglichkeit des Körperkontakts nach wie vor verwehrt blieb. Die wesentliche Veränderung besteht darin, dass der zweite Grenzzaun über ein Rollgatter geöffnet werden kann. Die Limitierung des Zugangsareals wird dadurch mit unterschiedlichen Sicherheitsgraden regulierbar.86 Während das Rollgatter im neu erbauten zweiten Grenzzaun als Erfolg der Aktivisten gefeiert wurde, erfolgte jedoch im Sommer 2011 die Ausbesserung des alten Grenzzaunes zu einem höheren und wesentlich dichteren Zaun. Der neue Zaun erschwert Körper- und Sichtkontakte auf die andere mexikanische Seite des Parks. Die mexikanische Hälfte des Parks ist nicht von derartigen strukturellen Veränderungen betroffen, wie ein kurzer Blick auf seine Geschichte im nächsten Abschnitt zeigt. Der Halbkreis in Mexiko Die Parkhälfte des mexikanischen Territoriums ist zunächst ein touristischer Ort, denn er bildet den nordwestlichsten Punkt Mexikos in „Playas de Tijuana“, einem Stadtteil von Tijuana. Besucher können neben den Pazifikstränden den Grenzzaun besuchen, den historischen Grenzstein La Mojonera, die bewachten Strände des „Border Field State Parks“, und in der Ferne das Downtown San Diegos sehen. Der Halbkreis des Parks auf der mexikanischen Seite ist Teil des „Parque del Mar“87, einer Aussichtsplattform mit einer Delfinskulptur und einem

85 Warum werden diese Praktiken durch das Grenzregime gebilligt? Die Entwicklung des Parks zeigt, dass die Beziehungen zwischen Staat und Akteuren der Grenze prozessual sind. Reale Praktiken bestimmen die Entscheidungen über undichte Stellen, wie den Park (vgl. Heyman 1999: 1). Die Dichte der Grenze ist also an bestimmten Orten von den Ambitionen lokaler Akteure abhängig. 86 Dies folgt aus dem proposal der „Friends of the Friendship Park“ (2008). 87 Auch der „Parque del Mar“ hat im Verlauf seiner historischen Genese die Zeugenschaft einer Präsidentengattin genossen. Der junge Park wurde am 10. Februar 2011 durch Margarita Zavala, die Gattin Felipe Calderóns, nach kleineren Umbauarbeiten als neuer Park eingeweiht. Als binationaler Park wurde er symbolisch mit seiner USamerikanische Hälfte verbunden, da nun beide Hälften durch die ersten Damen ihrer Staaten geweiht worden waren.

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alten Leuchtturm, El Faro, von der aus man die gesamte Grenzlandschaft am Pazifischen Ozean überblicken kann. Die beiden Hälften des Parks sind damit Teil ganz unterschiedlicher landschaftlicher Gegebenheiten und zunächst, wenn nicht gerade eine Veranstaltung durch den Grenzzaun stattfindet, strukturell in unterschiedliche soziale Räume einzuordnen. Der Zugang zum Park auf der mexikanischen Seite ist durchweg gewährleistet. Neben den maritimen Symbolen finden sich jedoch Objekte und Aussagen am Grenzzaun, die zeigen, dass auch dieser Ort Teil einer Öffentlichkeit ist, die Konflikte mit dem Grenzregime sichtbar macht. Am Grenzzaun neben La Mojonera befand sich eine gerahmte Namensliste von Personen, die beim Übertritt der Grenze den Tod gefunden haben.88 Nach dem Neubau des Grenzzaunes im Sommer des Jahres 2011 wurden die Stehlen des Zaunes mit Botschaften durch Grenzaktivisten beschrieben. Das Repertoire der Phrasen reichte von humoristisch: „Don‘t feed the gringos!“, über globalisierungskritisch: „To keep us out, or to keep us in?“, oder „¿Que chinga su madre? ¡La Frontera!“, „¡Muros no, puentes si!“, und marxistisch „La religion es el opium de las masas“, bis hin zu Liebesbotschaften, wie: „Liebe kennt keine Grenzen […]“ in den Sprachen Spanisch und Englisch. Der Grenzzaun im Umfeld des „Parque del Mar“ ist immer wieder die Bühne oder Leinwand für künstlerische Inszenierungen von Grenzübertritten. Eines der berühmtesten Beispiele ist die „menschliche Kanonenkugel“, nach einer Idee von Javier Tellez, der David Schmidt mit einem Katapult über den Grenzzaun schießen ließ.89 Am Día de los muertos90 am 4. November des Jahres 2010 wurden Altäre am Zaun aufgebaut. Skelette (Calaveras) wurden szenisch so am Grenzzaun angebracht, dass es auf den Betrachter wirkte, als hätten sie den Grenzzaun erklommen, um ihn im nächsten Moment zu überschreiten. Über die Bedingungen des Parks sind beide Seiten verbunden. Der neue Grenzzaun enthält im Bereich des Parks eine massive, stets verschlossene Tür91, so dass es zumindest theoretisch möglich ist, von der einen Hälfte des Parks durch eine Tür im Grenzzaun zu der anderen zu gelangen. Bei meinem Aufenthalt im Grenzgebiet existierten Gerüchte, dass diese Tür als ein neuer offizieller Grenzübergang dienen soll. Dieses Gerücht hat sich bisher nicht bestätigt. Es ist 88 Diese Namensliste wurde beim Bau des neuen Grenzzaunes während meiner Forschungsarbeiten abgehängt und nicht durch eine neue ersetzt. 89 Ausführliche Betrachtungen der Grenze als Quelle für künstlerische Produktion liegen vor von Fox (1999) und Iglesias-Prieta (2004, 2007 und 2008). 90 Für Betrachtungen des Día de los Muertos in transnationalen Zusammenhängen siehe Marchi (2009). 91 Niemals wurde ich Zeuge, dass jemand diese Tür durchschritten hätte. Sie eröffnet dennoch eine Möglichkeit.

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jedoch nicht auszuschließen, dass die Tür zu bestimmten Anlässen als Durchgang genutzt werden wird, zum Beispiel, um auch von Mexiko aus den Zugang zum Korridor zwischen den Grenzzäunen zu ermöglichen. In der Nähe der Tür ist auf der mexikanischen Seite des Parks ein Verbotsschild angebracht, das die Verbote auf der US-mexikanischen Seite wieder aufgreift. Das Verbotsschild beinhaltet folgende Überschrift: „Die folgenden Regeln wurden von der Border Patrol der Vereinigten Staaten von Amerika in Hinblick auf die Nutzung der Einrichtung des ‚Friendship Circle-Circulo de Convivencia‘ installiert.“92 Mit dem Schild wird denjenigen auf der mexikanischen Seite des Parks deutlich gemacht, mit welchen Restriktionen jene zu rechnen haben, die sich auf der anderen Seite befinden. Da aber beide aufeinander bezogen sind, sind auch die Teilnehmer auf der mexikanischen Seite von diesem Verbot betroffen. Die Regeln der US-amerikanischen Parkseite wurden auf die Seite des mexikanischen Territoriums übertragen, auch wenn die Individuen und Gruppen, die sich dort befinden, nur über die Idee der Parkgemeinschaft von diesen Verboten auf der anderen Seite erfasst werden. Diese „Globalisierung des staatlichen Verbots“ zeigt den Zusammenhang von Grenzregime und Zirkulationsraum, in den sich Menschen mit ihren eigenen unterschiedlichen Interessen unter den Bedingungen asymmetrischer Machtverhältnisse einbringen. Gleichzeitig wird der „Parque del Mar“ oder auch „Circulo de Convivencia“, wie er hier genannt wird, zu einer Erweiterung des US-amerikanischen Parks und dessen formaler Regeln. Die Durchführung der Posadas Sin Fronteras wird durch diese sich beständig verändernden Bedingungen des Grenzregimes beeinflusst und beeinflusst diese auch umgekehrt. Vor allem auf der US-amerikanischen Seite der Veranstaltung müssen die Teilnehmer ihre Handlungen an die sich ständig verändernden Be92 Der Text entspricht der englischen Fassung auf der anderen Seite: „Las siguientes reglas han implementadas por la patrulla fronteriza de los Estados Unidos respecto al uso de las instalaciones del Friendship Circle-Circulo de Convivencia: No se permiten armas. El acceso será permitido los días sábado y domingo de 10:00 am a 2:00 pm. El acceso por Estados Unidos será permitido con la Patrulla Fronteriza. Si no existe presencia de agentes de la Patrulla Fronteriza, el teléfono de su oficina en los Estados Unidos es (619) 628-2900. La capacidad máxima en el Friendship Circle-Circulo de Convivencia es de 25 Personas. Una identificación oficial con fotografía le será requerida. Las personas seran responsables de la limpieza e higiene del parque. El intercambio de artículos por el bordo esta prohibido. El contacto físico entre individuos esta prohibido. La alternación o movimentos de infrastructura no es permitida. Maria Luisa Sanchez Meza. Regidora. Comision de Asuntos Fronterizos. XX Ayuntamiento Tijuana“. Der Text ist dem Verbotsschild im Bereich des Parks entnommen (Tagebuchnotizen, 17.06.2012).

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dingungen des Grenzregimes anpassen, um in Zusammenarbeit mit den Teilnehmern auf der anderen Seite ihre Handlungsspielräume auszuloten. Beide Posadas Sin Fronteras hatten durch den stetigen Umbau der Grenze mit unterschiedlichen Bedingungen zu rechnen. Dadurch variierten auch die Positionen bestimmter Teilnehmer. Bestimmte Rituale und Handlungen blieben jedoch auch mit den veränderten Bedingungen innerhalb der Posadas Sin Fronteras zentral. Neben den räumlichen Bedingungen der Grenze, werden die Posadas Sin Fronteras auch von den sozialen Bedingungen der Grenze beeinflusst. Im Zentrum dieser Feste werden Statusunterschiede behandelt.

3.3 M IT P APIEREN

ODER OHNE

P APIERE

Formale Statusunterschiede werden in den Posadas Sin Fronteras im Sinne eines religiösen Status umgedeutet. Welche Rolle die Statusunterschiede für diese Feste spielen möchte ich in diesem Kapitel anhand von zwei Beispielen zeigen. Zunächst möchte ich mich auf die Texte des Aktivisten und politischen Theologen Ched Myers und des presbytarianischen Pfarrers Matthew Colwell (Knox Presbyterian Church, Pasadena) konzentrieren. Die beiden Autoren haben als Teilnehmer der Posadas Sin Fronteras auch das erste Ritual dieser Art an der Grenze erlebt und seither seine Bedeutung im Grenzkontext beschrieben. Dannach möchte ich mich auf die Deutungen der Mütter konzentrieren, die im Rahmen der Veranstaltung sprechen, weil sie keine offiziellen Dokumente besitzen. „Our God is Undocumented“ Groups gather on both sides of the wall, watched carefully by the Border Patrol and, more recently, by anti-immigrant counterprotestors. The U.S.-side resides the role of the innkeeper in the litany, the Mexican side that of the Holy Family – and the story comes uncomfortably alive right at the heart of the border war zone. (Myers and Colwell 2012: 171)

In dem Buch Our God is Undocumented (2012) von Ched Myers und Matthew Colwell werden die Posadas Sin Fronteras als wichtigstes Ritual in der religiösen Landschaft der Grenze beschrieben. Wesentlich für dieses Ritual ist die Trennung der Festgemeinschaft in zwei Hälften, wie sie durch die Grenze vorgegeben wird. Die Trennung erfolgt räumlich sowie aufgrund von Statusdifferenzen. Auch die Beschreibung der allerersten Posada Sin Fronteras im Jahr

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199493 von Myers ist durch die Erfahrung dieser Zweiseitigkeit und ihrer verbindenden Handlungen geprägt: It is a few nights before Christmas 1994. A small group of us are singing timidly, clutching candles against a chilly drizzle. We slowly make our way up a muddy hill. Below us an orange glow floats like an fog above the border checkpoint at San Ysidro, CA. ‚En nombre del cielo, les pido posada‘, sings an unseen group on the Tijuana side of the border fence. ‚Pues no puede andar mi esposa amada‘ (‚In the name of heaven I beg you for lodging, for my beloved wife cannot walk‘). (Myers/Colwell 2012: 170)

In dieser Schilderung wirkt die Bitte um Herberge durch die Teilnehmer auf der anderen Seite wie nicht verabredet, als bestünde kein Zweifel daran, dass die Teilnehmer auf der anderen Seite der Grenze um Herberge bitten würden, also darum, die Grenze in die Vereinigten Staaten von Amerika überqueren zu können. Doch, so schildert Myers seine Eindrücke weiter: „Between us is a menacing ten-foot high metal wall, donated to the U.S. Border Patrol by the Pentagon after Desert Storm – one war’s surplus bolstering another war’s front line.“ Diese Grenze, die zwischen den Teilnehmern liegt, bestimmt auch die Antwort, welche die Teilnehmer auf der US-Seite den Teilnehmern auf der anderen Seite bei dieser ersten Posada geben: „We respond: Aqui no es mesón; sigan adelante. Yo no puedo abrir; no sea algún tonante“94 (Myers/Colwell 2012: 170). Die Grenze hat für Myers in dieser Posada eine starke Präsenz, sie „verläuft durch das Herz dieser Versammlung, und der Kirche“ (Myers/Colwell 2012: 172f.). Die christlichen Rituale bekommen an der Grenze einen Sinn, der in einem gemeinsamen Dilemma außerhalb ihrer selbst liegt: „It is precisely this nontraditional geography that brings this old pageantry alive again“ (Myers/ Colwell 2012: 173). Die Grenze und die Wege, sie zu überqueren, oder den Weg verwehrt zu bekommen, werden zum Kern verbindender Erfahrung, die christlich gedeutet wird. Der Argumentation von Emmanuel Levinas folgend beschreiben die Autoren einen komplizierten Schuldzusammenhang. Diesen Zusammenhang, angelehnt an Levinas’ Idee der „halben Schuld“ von Menschen, die stellvertretend für ein Unterdrückungssystem handeln (Levinas 1994), übertragen die Autoren auf die migratorischen Zusammenhänge. Sie entwerfen einen Zusammenhang aus „halber Schuld“ und „halber Unschuld“: 93 Die erste Posada Sin Fronteras wurde im gleichen Jahr durchgeführt, in dem auch die Operation Gatekeeper und NAFTA ihren Anfang nahmen. 94 „This is not an inn, so keep going. I can not open, for you may be bad people“ (Übersetzung durch Myers und Colwell 2012: 170).

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So U.S. citizens who offer sanctuary are only ‚half-innocent‘ since we are part of a system that routinely displaces people. Undocumented immigrants who receive sanctuary, on the other hand, are only ‚half-guilty‘ insofar as they were driven to cross the border without papers out of desperation due to economic or political forces not of their making. (Myers/ Colwell 2012: 56)

Der Zusammenhang, der hier deutlich gemacht wird, besteht in seinem konstitutiven Inneren aus Statusunterschieden. Diese werden damit zu den grundlegenden Kategorien für eine Komplizenschaft. In dieser Lesart wird auch die Position von Jesus zur Grenze gedeutet. Er wird zu einem buen coyote erkoren. Die beiden Autoren verweisen hier auf eine Lesart ihres Freundes und Kollegen Bob Ekblad (Presbyterian Church), der die Illegalität der Handlungen der „Koyoten“ in einen breiteren Zusammenhang der Statusdifferenzen der Grenzen einordnet: Jesus can be viewed as comparable to a coyote in his embrace –his ‚crossing‘– of people who cannot fulfill the legal requirements to enter legitimately into the reign of God. Jesus eats with tax collectors and sinners, heals on the Sabbath, touches lepers, and speaks with Samaritans – practices that mark him as an alien smuggler. (Ekblad 2011: 164)

In der Version Ekblads ist Jesus ein besserer coyote, da er sich von der Border Patrol seiner Zeit fassen lässt: Jesus is such a good coyote that he actually gets caught by the Border Patrol agents of his time, while the real lawbreakers run free. His work undoes the legal basis for borders or barriers of any kind, destroying distinctions based on compliance with laws, and making everyone children of good. (Ekblad 2011: 165)

Jesus, der hier als „guter Koyote“ seiner Zeit behandelt wird, hat demnach den Status jener Statuslosen, die in den machtvollen Differenzen der Grenze „unten“ sind. Er ist jedoch im Stande, diese Differenzen sichtbar zu machen. In dieser Version zeigt Jesus die Widersprüche und die komplementäre Verbundenheit der verschiedenen offiziellen und inoffiziellen Zirkulationsräume der Grenze, indem er beide in der Handlung des Gefasstwerdens zusammenführt. Diese Jesusfigur als Akteur an der Grenze veranschaulicht, wie die Grenze als religiöse Landschaft gedeutet wird. In dieser Landschaft finden die Posadas Sin Fronteras als räumliche und soziale Auseinandersetzungen mit der Grenze statt. Myers und Colwells Deutung enthält ein religiöses Ideal, das dem Interesse bestimmter Teilnehmer der Posadas Sin Fronteras entspricht. Dieses Ideal wird mit bestimmten Teilnehmergruppen assoziiert. Der Vergleich der beiden Po-

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sadas Sin Fronteras zeigte deutlich, dass vor allem den Müttern und ihrem Status eine wesentliche Position im Rahmen der Posadas Sin Fronteras zukommt. Sie verkörpern allesamt die Maria in der Weihnachtsgeschichte. Sie reagieren jedoch mit ihren eigenen Interessen auf diese Position, die nicht immer mit den christlichen Idealen im Einklang sind. Der Charakter der Posadas Sin Fronteras macht jedoch die Überwindung dieser Widersprüche möglich. Im folgenden Abschnitt werde ich diese Positionen der Mutterschaft daher zusammenfassend beleuchten. „Für das Lächeln meiner Tochter“: Positionen der Mutterschaft Migrantinnen und Mütter werden über ihre Mutterschaft in das Zentrum der Posadas Sin Fronteras gesetzt. Mit dieser Positionierung werden sie zu wichtigen religiösen Figuren stilisiert. Sie werden mit der Jungfrau Maria assoziiert, die im Zentrum der Weihnachtsgeschichte der Grenze steht. Auf diese Positionierung reagieren sie jedoch, indem sie ihre eigenen Interessen in die Veranstaltung einschreiben. Die Positionierung der Migrantinnen als Mütter kann nun innerhalb der Vergemeinschaftung der Posada Sin Fronteras näher beleuchtet werden. Die Strategien, mit denen die Mütter und Migrantinnen im Rahmen der Posada Sin Fronteras zu Wort kommen, etabliert eine Komplizenschaft. Die Position der Migrantinnen entspricht dem Interesse anderer Teilnehmer, die Grenze in Bezugnahme auf christlichen Erfahrungen zu thematisieren. Die Migrantinnen überführen diese jedoch in einen politischen Diskurs um ihr Interesse zu vertreten, das Besondere ihrer eigenen Grenzsituation herauszustellen.95 Die Teilnehmer der Posadas vertreten allerdings nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern auch die ihrer Familien und Kinder, die jedoch häufig auch im Widerspruch zum etablierten Narrativ der Posada Sin Fronteras stehen können. Die eigenen Interessen, welche die Migrantinnen formulieren, werden im Rahmen der Posada Sin Fronteras vor allem dann deutlich, wenn sie das Besondere ihrer Familiensituation betonen. Die Gegebenheiten, von denen sie berichten, widersprechen dem familiären Narrativ, wie es üblicherweise im Kontext der Grenze im Rahmen der Posada Sin Fronteras entfaltet wird. Teilweise erscheint die Familie selbst dabei als Dilemma, und nicht die Grenze und die Statusdifferenzen. Ediths lesbische Tochter, die autistische Tochter von Irma oder das kollaborative Verhältnis, das Esther mit ihrer Tochter pflegt, sind alle Aus-

95 Der Begriff des Interesses entspricht dabei im Wesentlichen dem des intéressement von Law und Callon, die diesen Begriff nehmen, um die unterschiedlichen Handlungsstrategien von Akteuren zu betrachten (Law/Callon 1982: 620).

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druck davon, wie die Positionen gegenüber der Grenze variieren und wie die Migrantinnen und Mütter ihre eigene Position in die Posada Sin Fronteras einschreiben. Dies stellt nicht allein eine Reaktion auf ihren Status als indocumentada und Mutter dar. Zugleich etablieren die Positionierungen der Migrantinnen im Zentrum der Veranstaltung nämlich die Möglichkeit einer rituellen Verstrickung von Menschen mit differentem Status. Personen mit privilegierter Staatsbürgerschaft führen gemeinsam mit Personen ohne diese Staatsbürgerschaft Rituale durch, was sie im Rahmen der Handlungen zu Komplizen macht. Die Zeugnisse der Migrantinnen werden im Rahmen der Posadas zum Ausgangspunkt für die Pedir Posada genommen. Sie bilden damit eine Reihe zentraler Handlungen der Posadas Sin Fronteras und dienen der rituellen Herstellung einer Komplizenschaft zwischen indocumentadas/os und documentadas/os, den Grenzschützern und jenen, welche die Grenze übertreten. Die Pedir Posada dient der Verbindung von Menschen mit Statusunterschieden. Gleichzeitig verbindet sie Menschen verschiedener Konfessionen. Die variantenreichen Narrative der Migrantinnen deuten auf eine Innenperspektive komplizitärer Verflechtungen. Ihre einfache Positionierung nach den Kategorien der Mutterschaft entspricht jedoch einer verallgemeinerten Perspektive von Außen. Beide Perspektiven, die Innen- und die Außenperspektive, sind wesentlich für die strategischen Verflechtungen von Differenz innerhalb der Posadas Sin Fronteras. Betrachtet man die Protokolle der öffentlichen Reden der Veranstaltung in Zusammenhang mit den durchgeführten Ritualen, dann wird eines besonders auffällig. Im ersten Teil äußern sich vornehmlich die etablierten Geistlichen und die Organisatoren der Posada. Diese besitzen durchweg eine privilegierte Staatsbürgerschaft oder aber gehören der „reisenden Öffentlichkeit“ Tijuanas an. Sie definieren die Posada Sin Fronteras in ihren räumlichen, sozialen und auch religiösen Kontexten und setzen sie zugleich in einen legalen Zusammenhang mit der Grenze. Dieser Teil lässt sich somit tendenziell als Form der Überredung verstehen. Indem nun in diesem ersten Teil gleichzeitig der Rahmen für die Rituale und die Zeugnisse der Migrantinnen geschaffen wird, sind die Redner des ersten Teils auch in Prozesse der Klassifizierung eingebunden, die sich kaum von denen am Grenzübergang unterscheiden (vgl. Kap. 2.2). Sie klassifizieren Teilnehmer als indocumentadas/Mütter, oder als indocumentados/Arbeiter, womit sie zugleich auch etablierte Narrative erschaffen, die feste Positionen an der Grenze bewirken. Hier lässt sich diese Komplizenschaft als Erweiterung zum Grenzregime verstehen. Denn die Verbindung zwischen den Praktiken der Klassifizierungen am Grenzübergang und jenen innerhalb dieses ersten Teils der Posadas Sin Fronteras ist augenfällig. Andererseits kommen im zweiten Teil, dem kollaborativen Teil, die indocumentadas zu Wort, deren Status Anlass war,

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die Grenze als religiöse Landschaft zu verhandeln. Hier zeigt sich, dass die Mütter auf diese Klassifizierung und ihren Status keineswegs eindeutig reagieren. Wenn Esther sagt, sie tut alles „für das Lächeln ihrer Tochter“, dann ist lediglich ein Teil ihrer Beziehungen umschrieben, der, indem Mutter und Tochter in politischen Belangen kollaborieren.96 Eine derartige Möglichkeit der „Missrepräsentation“ (vgl. Scott 1990: 2) zu entkommen, bildet ein Charakteristikum für Komplizenschaft, dass potentiell Machtverhältnisse umkehren kann und Raum für die Interessen der Teilnehmer lässt. Ausgehend von der spezifischen Positionierung der Mütter im Zentrum der Posada Sin Fronteras und den vorhergehenden Betrachtungen lassen sich die Posadas Sin Fronteras als Praxis inmitten von Statusdifferenzen und räumlichen Differenzen betrachten.

3.4 R ITUALE , S TATUS

UND

G RENZE

Die Grenze wird innerhalb dieses Festes im Sinne ihrer räumlichen Ordnung verhandelt. Zudem reagiert die Festgemeinschaft auf die soziale Ordnung von Statusdifferenzen, welche durch die Grenze produziert werden. In der räumlichen Zusammenführung der Differenz und der Verhandlung des differenzierten Status agieren die Festteilnehmer der Posadas Sin Fronteras als Komplizen. Die Teilnehmer mit ihren unterschiedlichen räumlichen und sozialen Positionen stellen über gemeinsame Handlungen eine verbundene Öffentlichkeit der Grenze her. Die Posadas Sin Fronteras bilden Zirkulationsräume, die sich komplementär zu den „offiziellen“ Zirkulationsräumen des Grenzregimes verhalten. Sie sind geradezu paradigmatisch für das Bild einer schwingenden Grenze, da sie unmittelbar von dem lokalen Grenzregime abhängen. Daher habe ich sie an den Beginn meiner Betrachtung der Rituale einer Komplizenschaft an der Grenze gesetzt. Die Veranstaltung wird von den Bedingungen des Grenzschutzes mitbestimmt. Die Grenze wird zudem im Verlauf der rituellen Handlungen permanent vergegenwärtigt. Insofern bestehen die Verbindungen hier nicht allein zwischen den Teilnehmern in einem geteilten Dilemma der gesicherten Grenze des NAFTA-Raumes. Vielmehr werden sie über ihre Handlungen auch mit den Grenzschützern und der Grenze verstrickt, da eine erfolgreiche Durchführung des Festes von diesen abhängt. Das Fest generiert überhaupt seinen ganzen Sinn über die Grenze und die Anwesenheit der Grenzschützer.

96 Für eine weiterführende Untersuchung zu den diversen Politiken in den Kontexten der Migration ohne offizielle Dokumente vgl. Schmidt Camacho (2008).

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Dieses Kapitel fragte nach dem Charakter der Beziehungen und der Positionen zwischen den Teilnehmern derartiger Feste im Grenzgebiet, die ihre eigenen Versionen von Grenzen und Grenzübergängen mit spezifischen Diskursen, Handlungen und Objekten demonstrieren. Diese sprengen aber zugleich durch ihre eigenen Interessen, durch Praktiken der Gewinnbeteiligung und der Arbeitsteilung den symbolischen Rahmen der festlichen Veranstaltungen und überführen ihn in andere Machtkonstellationen. Die Differenz, die Anlass für die gemeinsamen Handlungen der Teilnehmer ist, besteht vor allem in den Statusunterschieden, welche die Grenze produziert hat. Bei den Posadas Sin Fronteras werden räumliche Differenzen und Statusdifferenzen in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht. Demnach ist auch die materielle Grenze – einschließlich der Mechanismen zu ihrem Schutz, kurz: das Grenzregime – ein Akteur, der sich in die Veranstaltungen machtvoll einschreibt. Zugleich erscheint die Grenze als animiertes und belebtes Objekt, das die Macht des Staates mit den eigenen Interessen der Teilnehmer komplementär verbindet. Die Posadas Sin Fronteras erscheinen als unmittelbare Verkörperung der schwingenden Grenze. Sie werden in den unintendierten Zirkulationsräumen des Grenzregimes, von dem ihre Handlungen sowie Erfolg und Misserfolg abhängen, vollzogen. Die Teilnehmer der Posadas Sin Fronteras nehmen die Grenze zum Anlass, um sich zu einer Festgemeinschaft zusammenzuschließen. Aus der Grenze schöpfen sie ihr gemeinschaftliches Potential. Die Grenze verläuft dabei räumlich und sozial. Die Festgemeinschaft ist somit durch eine räumliche Differenz geprägt, über die zwei Seiten des Veranstaltungsortes und durch eine soziale Differenz, die sich vor allem im unterschiedlichen legalen Status von Staatsbürgerschaft und reisende Öffentlichkeit versus illegal alien – von documentada/o versus indocumentada/o – widerspiegelt. Diese Differenzen werden im Rahmen des Festes über die Mittel der Überredung durch öffentliche Ansprachen und Kollaboration durch gemeinsame Rituale miteinander verflochten. Daher kann das Fest der Posada Sin Fronteras als rituelle Komplizenschaft beschrieben werden. Diese Komplizenschaft besteht aus der Verbindung verschiedener Interessen und Positionen der Teilnehmer – mithilfe der gemeinsamen Handlungen der Posada – vor dem Hintergrund eines spezifischen Dilemmas, der Grenze. Die Differenzen der Teilnehmer, die im Zentrum der Posadas Sin Fronteras stehen, verweisen auf die strukturellen Unterschiede, die im Hinblick auf Turners Modell der communitas benannt wurden (vgl. Kap. 1.2). Die Teilnehmer sind nicht statuslos und damit gleich. Sie sind verschieden. Ihre Differenzen werden im Rahmen des Festes sichtbar gemacht. Diese Differenzen sind mitsamt der Grenze der grundlegende Anlass für das Fest, bei dem eine christliche Gemeinschaft hergestellt werden soll, die ihre Verbindung über diese Differenzen

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hinweg vermittelt. Der Sinn der Posada wird dabei immer wieder fortgeschrieben, wie ein Kristall, das zwischen den Teilnehmern getauscht wird und dem immer wieder Schichten hinzugefügt werden. So verbleibt die Posada stets im Prozess ihrer Erfindung. Ihre erfolgreiche Durchführung ist immer auch davon abhängig, wie gut die Organisatoren und Teilnehmer es verstehen, sich an die lokalen Bedingungen des Grenzregimes anzupassen, ohne dabei die inneren Differenzen zwischen den Teilnehmern aus den Augen zu verlieren. Aus ihnen generieren sich die bedeutungsvollen Positionen des vorweihnachtlichen Festes. Die Erfahrung derjenigen mit untergeordnetem Status, derjenigen ohne legale Papiere, wird dabei in den Bereich sakraler Erfahrung gehoben. Dadurch werden sie in den Mittelpunkt der Veranstaltung gerückt und zugleich in das Zentrum der Geschichte dieser spezifischen Grenzlandschaft. Die Statusunterschiede, die durch die Grenze produziert wurden, werden innerhalb der Veranstaltung miteinander verflochten. Hier zeigt sich, in welchen Machtrelationen sich die Komplizenschaft mitunter entfaltet. Sie wird vor allem von Akteuren hergestellt, die auf verschiedenen Ebenen unterschiedliche Interessen zusammenfügen können. Diese Interessen verknüpfen sie zu einem Handlungszusammenhang mit den Mitteln der „Überredung zur Kollaboration“. Diese beiden machtvollen Strategien der Überredung und der Kollaboration erscheinen somit als die wesentlichen strategischen Phasen, in denen diese Zusammenfügung realisiert wird. Zudem verbinden sich Teilnehmer mit unterschiedlichem konfessionellem Hintergrund. Dabei kommt es je nach Konfession zu divergierenden Deutungen der Grenze. Dieser Aspekt wird überdeutlich in der Tatsache, dass die Grenze zum einen als „menschengemacht“ reflektiert wird, wie zum Beispiel durch den Anwesenden protestantischen Glaubensvertreter Wayne Riggs, der eine Botschaft an die „Mächtigen unserer Zeit“ zu senden beabsichtigt, und zum anderen als „Ausdruck göttlicher Fügung“, wie durch den katholischen Glaubensvertreter der Erzbischof Tijuanas, Rafael Muñoz. Beide Deutungen erscheinen widersprüchlich. Sie werden aber, wie auch die Statusunterschiede, mit Hilfe verbindender Rituale miteinander verflochten, denn alle Anwesenden beteiligen sich an den gemeinsamen Ritualen. Die kollaborativen Handlungen sind gegenüber inhaltlichen Deutungen machtvoller. Letzteres erscheint als wesentliche Kondition für den Erfolg einer Komplizenschaft, da sie eine Form der Kollaboration darstellt, die von unterschiedlichen Interessen geprägt ist. Die Kollaboration bildet demnach einen Hauptaspekt für das Konzept der Komplizenschaft. Diese Kollaboration ist mit verschiedenen Arbeitstypen im Sinne einer spezifischen Arbeitsteilung verbunden. Mary Galván, die Leiterin des „Casa Madre Asunta“, führt die Regieanweisungen durch. Dabei vergegen-

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wärtigt sie stets die Grenze. Die Migrantinnen vermitteln ihre Erfahrungen, um eine gemeinsame Trauer mit den anderen Teilnehmern zu ermöglichen.97 Die offiziellen religiösen Vertreter schaffen die religiösen Kontexte. Die übrigen Teilnehmer vollführen die gemeinsamen Rituale und werden zu voceros, zu stellvertretenden Sprechern der Grenzsituation, erklärt. Die verbindende Trauer wird über Rituale in eine Kollaboration überführt. Erst die gemeinsamen Handlungen erschaffen die Komplizenschaft. In den beschriebenen Prozessen erhalten bestimmte Objekte eine besondere Bedeutung. Dabei werden vor allem jene Objekte, die die Legitimität der Grenze repräsentieren, als sakrale Gegenstände in die Veranstaltung eingebunden. Sie helfen bei der Verbindung der Teilnehmer, die durch Statusunterschiede gekennzeichnet sind. Zu diesen Objekten gehört der Grenzzaun, auf dessen Löcher während der Veranstaltung immer wieder hingewiesen wird, etwa durch die Schilderung der Möglichkeit, sich zu berühren oder auch durch den Hinweis auf die Unmöglichkeit Gegenstände hindurchzureichen. Neben dem Zaun hat auch der Pass einen besonderen Stellenwert erhalten. Das legale Dokument, welches im Kontext der Grenze eine große Bedeutung hat, weil es Ausdruck für einen bestimmten Status ist, wurde im Rahmen der Veranstaltung zu einem Objekt erhoben, das eine geteilte Erfahrung im Grenzkontext markiert. Die Bedeutungsverschiebung des Passes ist auf einer weiteren Ebene relevant, denn das Dokument löst gleichzeitig jenen Differenzaspekt aus, der die Festgemeinschaft in zwei Gruppen mit wesentlichem Statusunterschied spaltet. Dieser Unterschied besteht darin, im Besitz eines derartigen Dokuments zu sein oder eben nicht – mit der Folge sich ausweisen zu können oder nicht. Was jedoch im Rahmen der Posada als verbindende Erfahrung benannt wird, ist die Gegebenheit sich ausweisen zu müssen, denn die Teilnehmer auf der US-amerikanischen Seite mussten zum Beispiel bei der Posada im Jahr 2010 ihre Dokumente vorzeigen. Diese Notwendigkeit sich auszuweisen wird in diesem Moment zu einem gemeinsamen Dilemma erklärt. Dieses Dilemma erscheint als grundlegend für die Komplizenschaft, die während der Posada Sin Fronteras zwischen den Teilnehmern besteht. Zu Pass und Grenzzaun gehört auch die Arbeitskleidung eines männlichen Migranten, der auf seinem Arbeitsweg verhaftet wurde. Auch die Piñata in der Form eines Polizisten gehört in die Reihe der Objekte, die Relevanz für diese spezifische Form der Posada im urbanen Grenzgebiet von San Diego und Tijua97 Die Rituale gemeinsamer Trauer können vor dem Hintergrund von Nietzsches radikaler Kritik am „Mitleid“ (Nietzsche 2006 [1878]) betrachtet werden. Hier wird die bloße Mitleidsbekundung, die bei Nietzsche eine problematische Beziehung zwischen Individuen und Gesellschaft darstellt, jedoch durch gemeinsame Handlungen relativiert.

3. E IN „G ASTHAUS “

BEIDERSEITS DER

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na haben. An diesen Gegenständen manifestierte sich das Projekt der Kollaboration angesichts eines geteilten Dilemmas. Die Objekte und die Teilnehmer mit unterschiedlichem Status und verschiedenen Aufgaben werden über die rituellen Handlungen in den Posadas Sin Fronteras unmittelbar verflochten. Zu diesen rituellen Handlungen zählt das gemeinsame Singen des Pedir Posada, die Namensnennung verstorbener Migrantinnen und ihre Repräsentation mit dem Ausruf „¡Presente!“. Die Mitarbeit drückt sich jedoch schon in der Anwesenheit am Handlungsort in dieser spezifischen Grenzlandschaft aus, dem „Parque del Mar“ und „Friendship Park“. Die Kollaboration besteht im Mitsingen, Mitleiden und in dem gemeinsamen Vergegenwärtigen der Grenzsituation, um schließlich als vocero von dieser Situation in der spezifischen Grenzlandschaft der NAFTA-Grenze zu berichten, ganz so, wie es in der vorliegenden Arbeit geschehen ist. Die unmittelbare Beziehung der Handlungen mit den Bedingungen der Grenze ist der Hauptgrund dafür, dass die Posadas Sin Fronteras den Anfang der Betrachtung verschiedener Handlungsorte bildete. Während in diesem ersten paradigmatischen Fall die rituelle Komplizenschaft eine offene Strategie ist, eine spezifische Öffentlichkeit herzustellen, sind die rituellen Komplizenschaften, die im Folgenden behandelt werden, zudem durch Vermeidungsstrategien und Momente der Auflösung geprägt: Einige der Teilnehmer ziehen sich aus dem verbindenden Handlungszusammenhang zurück, die Arbeitsteilung macht keinen Sinn, die Position einzelner Teilnehmer wird zu stark. Die Ablehnung von Kollaboration wird demnach zum entscheidenden Kriterium für den Ausgang der Komplizenschaft. Die Ablehnung der Kollaboration entspricht häufig einem räumlichen Rückzug in private und intime Bereiche. Jene, die sich zurückziehen, schaffen es nicht, ihre Interessen in dieser Gemeinschaft zu verwirklichen. In der Komplizenschaft können demnach Differenzen überhand nehmen, das Gemeinsame geht verloren. Dann zerfallen sie, und ihre Machtverhältnisse verstärken sich. Dieser Zerfall findet sein Bild in der Kristallisation. Werden die inneren Differenzen der Komplizenschaft zu stark, dann erfolgt ein Rückzug bestimmter Teilnehmer und eine räumliche Differenzierung. Georg Simmel bezeichnet Kristallisationspunkte als Lokalisierungen, die durch räumliche Fixierungen entstehen und für den Ansatz bleibender Werte gewonnen werden (Simmel 1992 [1908]: 634). Kristallisation trägt wesentlich dazu bei, dass räumliche Differenzen durch soziale Differenzierungen hervorgebracht werden (vgl. Simmel 1992 [1908]). Bei den Posadas Sin Fronteras steht die Kontinuität der Veranstaltung, die vor allem durch die Organisatoren hergestellt wird, einer jährlich wechselnde Festgemeinschaft gegenüber. Bei der Veranstaltung im Jahr 2012 fragte Art

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Cribbs die Anwesenden, wer schon bei der ersten Posada Sin Fronteras teilgenommen habe: Niemand meldete sich. Er fragte weiter, wer im vorhergehenden Jahr teilgenommen habe: Dieses Mal meldete sich nur ein kleiner Teil. Die Posada Sin Frontera bleibt die gleiche, aber die kollaborierenden Teilnehmer wechseln. Der Aufbau der Posada Sin Fronteras mit ihren Anweisungen, ihren Vergegenwärtigungen, ihrer Arbeitsteilung und der Unmittelbarkeit der Handlungen an der Grenze ermöglicht trotz und vielleicht gerade wegen dieses Wechsels der kollaborierenden Teilnehmer eine gewisse Kontinuität. Im folgenden Kapitel behandele ich ein weiteres Beispiel ritueller Komplizenschaft im Umfeld der Grenze. Im folgenden Kapitel werde ich den Aufstieg Juan Soldados zu einem Grenzheiligen betrachten. Dabei werde ich mich mit den aktuellen räumlichen Differenzen in der Verehrung Juan Soldados beschäftigen. Diese möchte ich zudem vor den Hintergrund einer spezifischen historischen Grenzlandschaft beleuchten. Bei letzterer handelt es sich um die Phase der frühen Urbanisierung Tijuanas und die städtischen Konflikte, die in diese Phase fallen.

4. „Hilf, dass sie mir Papiere geben!“ Die Genese eines Grenzheiligen

Zweihundert Meter entfernt vom Grenzzaun im Zentrum Tijuanas befindet sich ein kleiner Friedhof. Er ist einer der ältesten der Stadt. Die Friedhofswärter sagen, es gäbe den Friedhof seit den 1920er Jahren. Zu dieser Zeit hatte Tijuana drei kleinere Friedhöfe, die sich alle in der Nähe der Grenze befanden. Die Grenze bildete damals wie heute zugleich den geografischen Stadtrand und das Zentrum Tijuanas. Die große urbane Ausdehnung Tijuanas Richtung Osten und Süden hatte noch nicht begonnen. Tijuana war noch kein Komplex industrieller Produktion, stattdessen erblühte die Stadt langsam als ein Zentrum des Vergnügungs- und Glückspieltourismus. Sie war ein kleiner Außenposten der großen Städte nördlich der Grenze (vgl. Kap. 5.1). Einer der drei alten Friedhöfe nahm eine besondere Entwicklung, denn er wurde zum Ort der Verehrung eines lokalen Heiligen, genannt „der kleine Soldat“ – Juan Soldado (siehe Abbildungen 13-21: 204ff.). Die Menschen, die sich seiner Verehrung widmen, nennen ihn mitunter auch „Juanito“ oder „Soldatito“. Auf dem Friedhof mit dem Namen „Panteón Número Uno“ befinden sich zwei Kapellen für den Santo1. Eine der beiden Kapellen für Juan Soldado befindet sich genau im Zentrum des Friedhofs. Sie besteht aus einem einräumigen kleinen Gebäude mit einem überdachten Vorhof. Diese Kapelle ist diejenige mit dem größeren Besucherstrom, während die hintere Kapelle – sie ist eigentlich am Rand des Friedhofs gelegen und die Fläche der Kapelle befindet sich außerhalb der Friedhofsumzäunung – etwas verwahrlost wirkt. Nicht alle, die zu den Kapellen des Soldaten pilgern, machen sich die Mühe, den Friedhof komplett zu überqueren, um an dessen Rand auch die zweite Kapelle zu besuchen. Andere laufen zielgerichtet 1

Juan Soldado wird nicht durchweg als santo, („Heiliger“) bezeichnet. Mitunter benennen seine Verehrer ihn auch als („Seele“), alma oder als („Geist“), espiritú oder fantasma.

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zur hinteren Kapelle, ohne die Kapelle im Zentrum des Friedhofs zu beachten. Warum wird dieser junge Heilige an zwei Kapellen verehrt, die in unmittelbarer Nachbarschaft liegen? Welchen Grund gibt es für diese räumliche Differenzierung? Zwei Friedhofswärter sorgen dafür, dass der Friedhof und die beiden Kapellen immer in einem sauberen und ordentlichen Zustand sind. Einer der beiden hat den Beruf von seinem Vater geerbt, der bereits Friedhofswärter war. Er sagte, dass er „Juan“ heißt, weil seine Mutter Juan Soldado verehrt habe. Er selbst glaubte jedoch nicht an die Wunderwirksamkeit Juan Soldados. Auch die anderen Menschen, die auf dem Friedhof arbeiten, zeigen sich dieser Wunderwirksamkeit gegenüber skeptisch, wie Luz und ihre Tochter Consuelo, die täglich Devotionalien am Eingangstor des Friedhofs verkaufen. Juan wendet für die Pflege der Kapelle im Zentrum des Friedhofs mehr Zeit auf. Regelmäßig entsorgt er die alten Blumen, wäscht die Skulpturen und reinigt den Boden und die Wände. Die Kapelle am Rand des Friedhofs bekommt weitaus weniger Aufmerksamkeit durch die Friedhofswärter. Nicht selten türmen sich welke Blumen, Schnapsflaschen und alte Eier – die frischen und nicht mehr ganz frischen Spuren, welche die Besucher Juan Soldados hier hinterlassen. Es sind nicht sehr viele Menschen, welche die beiden Kapellen Juan Soldados besuchen. Es besteht ein beständiger kleiner Strom von Familien oder einzelnen Personen. Es ist jedoch nichts zu sehen, was an ein Gedränge erinnert. Am Wochenende kommen ein paar Leute mehr und an manchen Tagen bildet sich sogar eine winzige Schlange an der zentralen Kapelle. Die Besucher führen unterschiedliche Rituale aus. Sie beten, legen Blumen nieder, einige entzünden Räucherwerk und führen rituelle Reinigungen mit Eiern durch. Andere bringen Steine und Briefe oder entzünden Kerzen. Bei einem Besuch der Kapelle macht es zunächst den Anschein, dass es sich hierbei nicht gerade um einen florierenden Kult handelt. An manchen Tagen wirkt der Friedhof verlassen, und die Friedhofswärter liegen schlafend auf den Grabsteinen. Dadurch entsteht der Eindruck, die Menschen könnten den Soldaten vergessen, zumal viele, die eines seiner Wunder erfahren durften, längst an anderen Orten leben. Die meisten von ihnen wohnen auf der anderen Seite der Grenze. Dort hat der Soldat seine treuesten Anhänger. Dem dünnen Besucherstrom an seinen Kapellen steht die mediale Popularität des „Grenzheiligen“ Juan Soldado gegenüber. Kulturwissenschaftler, Ethnologen und Historiker haben diese Popularität des „Grenzheiligen“ zusätzlich gespeist, um zu zeigen, wie charakteristisch die Landschaft der Grenze ist. Viel Aufmerksamkeit bekommt in diesem Zusammenhang die Ambivalenz seiner Figur. Juan Soldado wurde öffentlich in Tijuana hingerichtet, obwohl seine

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Schuld nicht bewiesen war – er war angeklagt, ein neunjähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet zu haben. In seiner Geschichte verschwimmen zwei Versionen seiner Person, die des Täters und die des Opfers. Die genauere Betrachtung des Aufstiegs Juan Soldados zum Grenzheiligen und der Widersprüchlichkeit seiner Legende erlauben eine Erklärung für die räumliche Differenzierung seiner Verehrung zu finden. Der Día de Juan, der wichtigste Feiertag für den Heiligen Juan Soldado, ist nicht durch eine Unmittelbarkeit in der Vergegenwärtigung von Differenzen gekennzeichnet. Er beinhaltet keine öffentlichen Reden oder Rituale, in denen die Menschen kollaborieren. Die Teilnehmer ziehen sich in ihre Kapellen zurück. Die zentrale Kapelle wird dabei von jenen bevorzugt, die sich einen privilegierten Status an der Grenze erwerben konnten, jene, die die Grenze überqueren, manchmal erlaubt und manchmal unerlaubt. Einige gehören zur reisenden Öffentlichkeit Tijuanas, und andere haben sich erfolgreich den legalen Status permanent resident alien erworben. Wieder andere wurden deportiert und beten dafür, die Grenze erneut zu überqueren und ihren Status an der Grenze zu erhöhen. An der hinteren Kapelle fehlen diese Themen des Grenzübertritts. Diejenigen, die sich mit Vorliebe an der hinteren Kapelle an den Heiligen wenden, haben keine eindeutige Position zur Grenze. Ihnen fehlen die Papiere zum Grenzübertritt und sie haben sich auch nicht zum Ziel gesetzt, die Grenze zu überqueren. Die Grenze und die Position zur Grenze scheint demnach einen Einfluss auf die Verehrung Juan Soldados zu haben.

4.1 D ER D ÍA

DE

J UAN

Etwa zwanzig Menschen stehen auf dem Vorplatz vor der zentralen Kapelle Juan Soldados. Es ist 10:00 Uhr morgens an Juans Namenstag. So voll ist es an der Kapelle nur an diesem einen Tag im Jahr. Nur an diesem Tag kommen viele Menschen extra über die Grenze, um den Friedhof zu besuchen, auf dem der kleine Soldat begraben liegt.2

Es haben sich schon zwanzig Leute vor der „weißen Tür“, der Puerta Blanca3, versammelt.4 Eine kleine Gruppe von Menschen wartet, dass die Friedhofswärter endlich die Tür aufschließen, so dass sie zu den Kapellen gelangen können. Die Tore des Friedhofs öffnen sich Punkt 10:00 Uhr, nicht früher als an einem ge-

2 3

Tagebuchnotizen, 24.06.2011. So lautet die Aufschrift über dem Tor des Friedhofs. Mitunter wird der Friedhof noch mit diesem alten Namen bezeichnet.

4

Quelle für die folgenden Beschreibungen sind die Tagebuchnotizen, 24.06.2011.

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wöhnlichen Morgen. Die Wartenden haben wohl den Ehrgeiz, die ersten Gäste an den Kapellen Juan Soldados zu sein, denn als die Türe aufgeschlossen wird, strömen sie mit eiligen Schritten durch das Tor, den Hauptweg entlang, direkt zu der Kapelle im Zentrum des Friedhofs. Luz, die Blumenverkäuferin, hat ihren Stand an diesem Morgen schon früher aufgebaut. Bei ihr haben einige Menschen schon Sträuße und Kerzen erworben, um sie dem Soldaten mitzubringen. Ein älteres Ehepaar ist mit seinen Enkeln als erstes an die Kapelle im Zentrum des Friedhofs gelangt. Sie treten in den kleinen Raum, um ihr Geschäft mit dem Heiligen an seinem Namenstag zu vollziehen. Eine kleine Gruppe von drei Frauen geht gleich weiter zu der hinteren Kapelle, dort haben sie noch die Chance, die Ersten zu sein. Kurz nach 10:00 Uhr trifft die erste Musikkapelle ein. Die Musiker erlangen mit ihren Instrumenten einen Platz ganz vorne an der Kapelle, wo sie gleich zu spielen beginnen. Die Musik markiert auch den Beginn für den Konsum von Bier und Burritos. Die Musikkapelle spielt ein Lied mit dem Titel Día de Juan. Es wurde für den Namenstag des katholischen Heiligen geschrieben. Weil Juan Soldado den gleichen Namen trägt, wird das Lied den ganzen Tag begleiten. Eine Familie beginnt, Bier aus einer Kühltasche an die umstehenden Menschen zu verteilen. Es ist amerikanisches Bier und sie reden Englisch. Sie sind aus Los Angeles angereist. Ihre Großmutter lebt allerdings, so berichten sie, noch in Tijuana, und so gehen sie in diesem Jahr für ein Promesa gemeinsam mit der Großmutter an diesem Namenstag zur Kapelle. Nach und nach treffen weitere Musiker ein, eine Mariachi-Musikgruppe, eine weitere Musikkapelle und ein Gesangsduett, welches aus einer älteren Frau und ihrem Enkel besteht. Die ältere Dame ist die einzige Musikerin, die am Tag des Juan für den Heiligen singt. Es ist 10:30 Uhr und der Friedhof hat sich bereits mit einigen Familien gefüllt. Die meisten von ihnen, die an diesem Vormittag erschienen sind, sprechen Englisch. Eine Frau bahnt sich ein Promesa einlösend ihren Weg als Büßerin auf Knien Richtung Kapelle. Einige Umstehende sehen diesen religiösen Einsatz mit Ehrfurcht und Bewunderung, andere mehr mit Erstaunen. Die Musikgruppen wechseln sich unterdessen beim Musizieren ab, wobei sie versuchen, jeweils den besten Platz an einer der Kapellen zu ergattern. Schnell ist klar, dass der Día de Juan wie viele Pilgerreisen zu heiligen Orten durch die persönlichen Ziele der Pilgernden beeinflusst wird. Es gibt keinen, der das Fest organisiert. Stattdessen läuft es von selbst. Nach der ersten Stunde haben schon etwa zwanzig Personen in der zentralen Kapelle von Juan Soldado gebetet. Nur etwa die Hälfte von ihnen hat sich auch die Mühe gemacht, die zweite Kapelle am Rand des Friedhofs zu besuchen. Die Meinungen über die Bedeutung der zweiten Kapelle sind unter den Besuchern sehr unterschiedlich.

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Für fast alle besteht jedoch Einigkeit darin, dass die zentrale Kapelle bedeutender ist, da hier Juan Soldado „offiziell“ begraben liegt. Am Vormittag überwiegen die Besucher, die vor allem aus San Diego und den USA angereist sind. Einige von ihnen bringen große Blumengebinde. Diese sind zugleich Anzeichen für ihren ökonomischen Erfolg. Am frühen Mittag treffen jene Besucher ein, die aus der Nachbarschaft kommen. Sie besetzten sogleich den Vorplatz der zentralen Kapelle. Die andere Kapelle am Rand des Friedhofs interessiert sie nicht. Kaum einer stattet ihr einen Besuch ab. Auf diesen Vorplatz bringen jetzt auch die meisten Besucher ihre Geschenke, die aus Bier und Burritos für die Anwesenden bestehen. Der Platz vor der Kapelle ist somit die günstigste Stelle, denn dort werden die Gaben nach der Ankunft neuer Besucher sofort verteilt. Diejenigen, die diese Situation am meisten für sich nutzen, sind die Besucher aus der Umgebung des Friedhofs. Nicht wenige Besuchergruppen sind Familien, die aus drei Generationen bestehen. Vor allem jene, die von der anderen Seite der Grenze gekommen sind, erscheinen in Begleitung ihrer Familienmitglieder. Das Verteilen der Speisen und Getränke verläuft meistens schnell und anonym. Manche stellen das Mitgebrachte auch einfach auf den Platz vor der Kapelle. Andere reichen es den Anwesenden. Selten wird dabei geredet. Jeder verfolgt seine eigenen Ziele an der Kapelle. Das Hauptziel ist es schließlich, für einige Zeit mit Juan Soldado in seiner Kapelle für ein Gebet allein zu sein und Zeit zu haben, die Heiligenfiguren zu berühren. Da die zentrale Kapelle sehr klein ist, bietet sie Raum für einen intimen Moment, in dem sich die Teilnehmer ihrem Heiligen auf unterschiedliche Weise widmen. Die meisten hinterlassen Blumen, kleine Votivgaben, Steine und beten. Die Aktivitäten in der zentralen Kapelle sind zwar intimer, sind aber auch mit einer gewissen Eile verbunden, wegen dem Andrang vor der Kapelle. Die hintere Kapelle ist durch andere Bedingungen für ihre Besucher geprägt. In die hintere Kapelle passen mindestens zehn Leute. Dort erweitert sich der Kreis der Ritualteilnehmer um einige stumme Zeugen, die die Stimmung genießen und den anderen Menschen zusehen und wiederum andere, die gemeinsam mit Unbekannten singen, rauchen und Bier trinken, Salbei verbrennen oder eine Limpieza5 mit einem Ei durchführen. Einige hinterlassen für Juan Soldado etwas Schnaps. Insgesamt ist die Verweildauer der einzelnen Besucher in der hinteren Kapelle länger, da hier mehr Leute Platz finden. Diese Kapelle füllt sich solange, bis es jemandem zu eng wird. An der hinteren Kapelle sind die Form der Verehrung und die entsprechenden Rituale somit öffentlicher und viel weniger privat als bei der Kapelle im Zentrum des Friedhofs. 5

Es handelt sich dabei auch um ein Reinigungsritual. In der wortgetreuen Übersetzung bedeutet Limpieza „Reinigung“.

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So verläuft der Tag mit Musik, Getränken, Speisen und Gebeten in den Kapellen. Am Nachmittag kommt niemand mehr von der anderen Seite der Grenze angereist. Stattdessen dominieren die Nachbarn und die Besucher aus der Stadt Tijuana. Diese Besuchergruppe feiert und tanzt noch, bis die Tore des Friedhofs um 16:00 Uhr geschlossen werden sollen. Kurz vor 16:00 Uhr kommt noch eine Gruppe von Menschen, die ihre eigene Mariachi-Musikgruppe für Juan Soldado und zwei Stiegen Bier mitgebracht hat. Den Friedhofswärtern wird klar, dass sie an diesem Tag nicht um 16:00 Uhr schließen werden können. Nach einer halben Stunde gehen auch die letzten Besucher und der Día de Juan des Jahres 2011 ist zu Ende. Juan, der Friedhofswärter mit dem gleichen Namen wie der heilige Soldat, verschließt die Puerta Blanca. Woher kommen die Besucher am Día de Juan und wie positionieren sie sich zur Grenze? Der folgende Abschnitt ist diesen Positionen der Teilnehmer des Día de Juan gewidmet. Indem ich nach der räumlichen und sozialen Position der verschiedenen Besucher im Kontext der Grenze frage, versuche ich die Aspekte ihrer Gemeinschaftlichkeit zu deuten, wie sie im Rahmen dieser Feierlichkeiten erkennbar werden. Die Betrachtungen des folgenden Abschnitts werden von der übergeordneten Frage geleitet, wie die Grenze und der Grenzübergang diese Gemeinschaftlichkeit beeinflussen.

4.2 B ESUCHER

DES

D ÍA DE J UAN

Anlässlich des Día de Juan kommen vor allem Nachbarn der „Colonia Castillo“, Familien aus den USA, Bewohner des Stadtzentrums Tijuanas und Bewohner der neuen Siedlungen am Stadtrand, um die Kapellen Juan Soldados zu besuchen. In diesem Kapitel stehen folgende Fragen im Vordergrund: Werden die Positionen, die die einzelnen Teilnehmer an den beiden Kapellen einnehmen, von ihrem Status an der Grenze beeinflusst? Welche Rolle spielt der Status dafür, dass sich bestimmte Teilnehmer gemeinsam an einer der beiden Kapellen positionieren? Welche Züge weist dieser räumliche Zusammenhang auf? Das Fest hat keinen Mayordomo, der die Organisation der Patronatsfeste der Heiligen in einem festlichen Ämtersystem verwaltet.6 Diese Position hat es in der Verehrung Juan Soldados nie gegeben. Er galt nie als ein Ortspatron der Stadt Tijuana oder des Stadtteils „Castillo“, wo sich sein Friedhof und seine Kapellen mit seinem Grab befinden. In diesem Sinne bringt jeder Teilnehmer in die Veranstaltung ein, was für ihn wichtig ist. Zum Anlass gegenseitiger Verkös-

6

Vgl. zu den religiösen Ämtersystemen Brockmann (2006).

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tigung und als Opfer für Juan Soldado tauschen und teilen die Teilnehmer des Festes Getränke oder Essen mit anderen Teilnehmern. Häufig verläuft der Tausch der mitgebrachten Dinge direkt. Hat der eine Bier mitgebracht, tauscht er es gegen Burritos mit einem anderen Teilnehmer, der kein Bier, aber Essen hat. Die erste Aufgabe nach der Ankunft der Teilnehmer, noch bevor sie zur zentralen Kapelle des Soldaten vordringen, ist das Verteilen der Getränke und der Speisen unter den Anwesenden. Diese Art der gemeinschaftlichen Verköstigung hat sich aber nur an der zentralen Kapelle ausgebildet. An der hinteren Kapelle konsumieren die Teilnehmer des Día de Juan ihre mitgebrachten Güter selbst. Neben der Verköstigung der Teilnehmer untereinander gibt es Mariachis und Musikkapellen, die darum bemüht sind, die Musik den ganzen Tag nicht abreißen zu lassen. Anstelle von Speisen und Getränken beglücken sie die Anwesenden mit ihrem Gesang und dem Spiel ihrer Instrumente. Die Musikkapellen sind darum bemüht sich abzuwechseln. Der Wechsel läuft nicht immer reibungslos, so dass häufig mehrere Gruppen nebeneinander und zur selben Zeit spielen. Die meisten Teilnehmer lassen sich mit bestimmten lokalen Bezugspunkten gruppieren. Da sind zum einen die Nachbarn aus der „Colonia Castillo“, in der sich der Friedhof mit den Kapellen befindet. Die meisten von ihnen besuchen schon seit vielen Jahren den Friedhof am Namenstag des Heiligen. Sie bleiben häufig den ganzen Tag über und feiern. Eine weitere Gruppe von Besuchern, besteht aus Personen, die aus den USA kommend die Grenze überquert haben, um Juan Soldado an seinem Namenstag zu besuchen. Neben diesen beiden Besuchergruppen erscheinen die Stadtbewohner aus Tijuanas Zentrum mit ihren spezifischen Geschichten und jene, die aus den neuen Siedlungen der Stadt angereist sind. Zu ihnen gesellen sich jene, die zum Arbeiten erschienen sind und die sich den Verdienst an diesem Tag nicht entgehen lassen. Nimmt man ihre Positionen und Perspektiven zusammen in den Blick, wird deutlich, dass der Día de Juan ein komplexes Fest ist, das keine konsistente Figur eines Grenzheiligen zeichnet. Der Día de Juan ist für die einen ein Ausdruck ihrer Nachbarschaft, für die anderen schlicht Ausdruck ihrer lokalen Zugehörigkeit zu einer Stadt, für wiederum andere ist er mit einer längeren Pilgerreise über die Grenze verbunden.7 Schließlich kommen einige, um Krisen betend zu bewältigen oder um sich zu amüsieren, aber nicht, weil sie eine religiöse Verbindung zum Ort oder zum Grab Juan Soldados pflegen. 7

Theoretisch lassen sich diese Betrachtungen des Día de Juan mit den Beobachtungen zu Pilgerreisen von John Eade und Michael Sallnow zusammenbringen. Sie widersprechen ebenfalls dem Konzept der Liminalität Turners und verdeutlichen, dass bei Pilgerreisen ganz verschiedene Individuen mit ihrem Glauben und ihren Erwartungen in Kontakt kommen, das Heilige somit „umkämpft“ ist (Eade/Swallow 1991).

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Besucher aus der Nachbarschaft Der Día de Juan ist, wie viele andere Feste für Lokalheilige auch, in einer sozialen Geografie verortet. Im Falle der Verehrung Juan Soldados ist die unmittelbarste lokale Bezugsgröße die Nachbarschaft der Siedlung „Castillo“. Die Teilnehmer aus dieser Siedlung verbringen die meiste Zeit bei dem Fest, und mehrere von ihnen pflegen diese Tradition seit vielen Jahren. Die Nachbarn „Castillos“ besetzen am Festtag den Platz vor der zentralen Kapelle im Zentrum des Friedhofs.8 Nach dem Motiv ihrer Anwesenheit befragt, erzählen sie, dass sie vor allem wegen der anderen Besucher aus der Nachbarschaft kommen und nicht so sehr wegen des Heiligen. Tatsächlich kennen sie sich alle bereits seit vielen Jahren. Sie sitzen in einer offenen Runde, unterhalten sich und lachen viel. An den beiden Nachmittagen hat die Feststimmung unter ihnen einen ersten Höhepunkt erreicht, und sie haben begonnen zu tanzen. Die Nachbarn sind nicht mit ihren Familien anwesend. Ihre Gruppe setzt sich zusammen aus mehreren alleinstehenden älteren Männern und Frauen, von denen einige mit ihren Geschwistern gekommen sind. Insgesamt sind nicht mehr als zehn Personen aus der „Colonia Castillo“ erschienen. Die meisten Bewohner dieser alten urbanen Siedlung Tijuanas wurden dort geboren. Sie zählen somit zu der reisenden Öffentlichkeit, die als Bewohner des Grenzgebiets ohne weiteres die Grenze überqueren kann. Viele der Bewohner dieser Colonia haben familiäre Verbindungen zur anderen Seite der Grenze. Zu diesen Besucherinnen zählt Laura, die schon seit langem jedes Jahr den Soldaten an seinem Namenstag besucht. Sie ist diejenige, die mit der längsten Kontinuität jährlich an sein Grab kommt. 45 Jahre lang erschien sie jährlich auf dem Friedhof am Día de Juan. Sie ist sechzig Jahre alt und verwitwet. „Ich habe mein ganzes Leben in der Colonia verbracht, jetzt bin ich jedoch alleine hier“, sagt sie. „Meine Kinder leben auf der anderen Seite der Grenze.“9 Sie hat aber viele Kontakte in der Nachbarschaft und somit feiert sie mit anderen Besuchern aus dieser Siedlung. Sie verbringt den Tag an der zentralen Kapelle im Zentrum des Friedhofs, die andere Kapelle besucht sie nicht. „Ich war schon länger nicht mehr an der hinteren Kapelle“, erzählt sie. „Ich weiß ja gar nicht, was ich dort soll, wenn Juan Soldado hier begraben liegt und wenn alle meine Bekannten hier sind.“10 Da sie gleich morgens erscheint und am längsten bleibt, sichert sie sich

8

Dort haben sie auch 2011 und 2012, den Jahren in denen ich das Fest besuchen konnte, Platz genommen.

9

Gespräch mit Laura, Tagebuchnotizen, 24.06.2012.

10 Ebd.

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auch den besten Platz an der zentralen Kapelle auf einem großen Grabstein direkt am Zugang zur Kapelle im Zentrum des Friedhofs. Von dort aus kann man jeden Ankommenden sehen. Sie verbreitet Feststimmung, singt laut, trinkt Bier, tanzt und begrüßt alle Leute, die an der zentralen Kapelle erscheinen. „Ich glaube nicht an die Wunder Juan Soldados, aber er ist hier im Viertel gestorben.“11 Für Laura gehört Juan Soldado auch ohne seine Wunderwirksamkeit in die „Colonia Castillo“. Wie Laura verhalten sich auch die beiden Geschwister Olivia und Gilberto. Olivia ist beinahe sechzig und verwitwet. Gilberto ist ihr jüngerer Bruder. Er hat keine Frau. Beide leben gemeinsam in einem Haushalt. Ihre Kinder sind in die USA gegangen. „Ohne Papiere“, gestehen die beiden: „daher können sie nicht zu Besuch kommen.“12 So sind die beiden nur zu zweit auf dem Friedhof erschienen. Auch sie wohnen in der Nachbarschaft in der „Colonia Castillo“ unweit vom Friedhof und den Kapellen. Ihr gemeinsamer Cousin heißt Juan, wie der Soldat, und ist ebenfalls auf dem Friedhof begraben. So kommen sie jedes Jahr wegen den beiden Juans. Olivia sagt: „Es ist schön, dass so viele Menschen die Nachbarschaft am Día de Juan besuchen“. „Woher kommst du, aus Deutschland?“, fragt sie. „Oh, das klingt weit weg!“13 Sie verweist auf die anderen Gäste, die sie nicht kennt und bemerkt: „Die meisten kommen von der anderen Seite der Grenze, del otro lado. Sieh mal, wie berühmt Juan Soldado ist! Er ist die größte Berühmtheit in unserer Colonia.“14 Auch Roberto hat sich Zeit genommen und sitzt lange auf dem kleinen Platz vor der zentralen Kapelle. Er ist Anwalt und ebenfalls in der „Colonia Castillo“ aufgewachsen. Blumen und Getränke hat er nicht gebracht. Roberto freut sich darüber, einige Menschen zu treffen, die er selten sieht und mit denen ihn Freundschaften verbinden. Er ist sich nicht sicher über die Wunderwirksamkeit des Soldaten. „Es gibt viele Legenden in Tijuana, wie die von Juan Soldado“ erzählt er. Er begeistert sich eher für „die lebenden Legenden“. Er sagt aber, dass seine Mutter an die Wunder Juan Soldados geglaubt hätte.15 Die „Colonia Castillo“, aus der Laura, Olivia, Gilberto und Roberto kommen, zählt zu den ältesten Colonias der Stadt Tijuana. Sie bildet eine der ersten Westerweiterungen der Stadt entlang der Grenzlinie. Heute schließt sie direkt an die „Zona Norte“ an, jene Zone, die durch eine große Dichte von Nachtclubs und Prostitution gekennzeichnet ist. Wie in dem Rest der Stadt gibt es in dieser Siedlung neben den 11 Gespräch mit Laura, Tagebuchnotizen, 24.06.2012. 12 Gespräch mit Olivia und Gilberto, Tagebuchnotizen, 24.06.2012. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Gespräch mit Roberto, Tagebuchnotizen, 24.06.2012.

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Wohnhäusern viele Autowerkstätten, Schrotthändler und Lagerhäuser.16 Die „Colonia Castillo“ ist eine kleinbürgerliche Wohngegend. Durch die Nähe zur Grenze bei gleichzeitiger Distanz zu den offiziellen Grenzübergängen gilt sie für andere soziale Klassen nicht zu den bevorzugten Gegenden, vor allem nicht für jene, die täglich die Grenze überqueren, um zur Arbeit zu gelangen. Die Geschichte der „Colonia Castillo“ Die Nachbarn Juan Soldados besuchen den Día de Juan weniger aus religiösen Gründen, als vielmehr aufgrund ihrer nachbarschaftlichen Beziehungen und der lokalen Geschichte des Viertels, mit der sie sich verbunden fühlen. Die Geschichte der „Colonia Castillo“ entspricht der Geschichte der ersten konfliktreichen Urbanisierungswelle Tijuanas (vgl. Kap. 4.4). Wie die anderen Siedlungskolonien „Libertad“ und „Morelos“ ist „Castillo“ als Resultat eines wachsenden Arbeitsmarktes entstanden, der sich der touristischen Infrastruktur verdankte, die ihr Potential aus der US-amerikanischen Prohibition, dem ley seca, schöpfte.17 Die Gründung dieser Siedlungen ist eng mit der Arbeiterbewegung der Stadt verbunden. Die Ausgangssituation für diese Gründungen waren Auseinandersetzungen um Siedlungsgebiete in der Nähe der Grenze. Diese Auseinandersetzungen waren typisch für diese Zeit Ende der zwanziger Jahre, als die Grenzlage ökonomische Vorteile versprach und einen großen Beschäftigungssektor ausbildete. Das Verbot von Alkohol und Glücksspiel auf der einen Seite der Grenze wird auf der anderen Seite zum Geschäft. Aus diesem Grund verfügte Tijuana über ein großes Angebot an Arbeitsplätzen im touristischen Wirtschaftsbereich der Stadt. Die Migranten, die sich auf der Suche nach Arbeitsplätzen in die Städte begaben, waren zu einem großen Teil stark politisiert, da sie zu der Generation gehörten, die Teil der mexikanische Revolution war. Sie fanden Arbeit in Tijuana. Neben einem reichen Angebot an Arbeitsplätzen gab es aber einen Mangel an städtischem Wohnraum (vgl. Santiago Guerrero 2012). Dieser Mangel entstand aus dem Umstand, dass der Großteil der städtischen Gebiete zum Großgrundbesitz von Rancheros gehörte.18 Gewerkschaften, wie das „Sindicato de Pequeño Poseedores“, versuchten in diesem Konflikt, Siedlungsgebiete für die Arbeiter zu besetzen. Durch derartige 16 Ihre Dichte ist jedoch gering im Vergleich zu den „Yonkes“, die sich einer nach dem anderen im Südosten der Stadt aufreihen und verdeutlichen, dass der Schrotthandel einen wichtigen Wirtschaftssektor der Stadt bildet, der vor allem davon lebt, die Gebrauchtwagen nördlich der Grenze aufzukaufen. 17 Für eine ausführliche Beschreibung der Zusammenhänge vergleiche Santiago Guerrero (2012). 18 Die „Rancho Tijuana“ gehörte den Erben der Familie Argüello (ebd.).

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Landbesetzungen entstanden die ersten Arbeiterkolonien Tijuanas. Teilweise arbeiteten diese Gewerkschaften mit der nationalen Regierung zur Zeit der Präsidentschaft von Emilio Portes Gil zusammen. Lokale Gewerkschaften und die nationale Regierung wirkten zusammen in einem dialektischen Verhältnis in der Nationalisierung der Grenze (vgl. Kap. 5.1). Auf der anderen Seite standen die lokalen Großgrundbesitzer, die sich vor Gericht erfolgreich gegen die Landbesetzung wehrten und die Räumung von Siedlungen erstritten. Portes Gil verfasste ein Dekret, in dem er neue Pläne zur Verteilung des Landes ankündigte. Einige Monate nach der Räumung dieser Kolonien besetzten die Arbeiter des „Sindicato de Pequeño Poseedores“ wiederum städtischen Raum. Die besetzten Gebiete lagen allerdings in den städtischen Randzonen. Diese Lokalität am Rand der Stadt für eine neue Arbeitersiedlung wurde nicht von allen Mitgliedern der Gewerkschaft anerkannt. Sie gründeten eigenständig die zentralen Siedlungen „Morelos“ und „Puerta Blanca“, später als „Castillo“ bekannt, und auf anderem Wege auch die „Libertad“ (Santiago Guerrero 2012).19 Die Genese Juan Soldados als Heiliger fällt in die Jahre unmittelbar nach den Auseinandersetzungen um die urbanen Siedlungsgebiete. Damit wird die Geschichte Juan Soldados zugleich Ausdruck von Konflikten zwischen lokalen und nationalen Interessengruppen, zwischen Gewerkschaften und Rancheros. Vermutlich hatte die Verehrung Juan Soldados von Anfang an auch eine politische Dimension, die Ausdruck einer Lokalisierung von mexikanischen Arbeitern in der umkämpften Grenzstadt Tijuanas ist. Diese Version der Genese Juan Soldados kann eine Erklärung für die Verehrung Juan Soldados als lokalem Heiligen der „Colonia Castillo“ liefern. In dieser Verehrung treten die Besucher des Día de Juan aus „Castillo“ eher mit lokalen und nachbarschaftlichen als mit religiösen Anliegen an die Kapellen des Heiligen heran. In ihren Augen ist Juan Soldado daher vor allem ein Lokalheiliger. Die Bewohner „Castillos“ und der umliegenden Colonias, die schon lange in dem Viertel wohnen, zeigen kein großes religiöses Interesse an dem Schrein. Ihre Positionierung am Día de Juan lässt sich eher als eine Form der Zusammenkunft beschreiben, die sich aus einer alten lokalen gemeinsamen Geschichte speist, aber nicht aus dem Glauben an die Wunderwirksamkeit Juan Soldados. Für die Anwesenden aus der „Colonia Castillo“ scheint diese Wunderwirksamkeit ohne Bedeutung zu sein. Befragt man sie 19 Die Hinrichtung Juan Soldados auf dem Friedhof in der „Colonia Castillo“ fand neun Jahre nach der Gründung der Siedlung statt. Die Umstände der Hinrichtung, so konnte bereits gezeigt werden, standen wie die Gründung der ersten Colonias von Tijuana im Zusammenhang mit Arbeiterunruhen und politischen Auseinandersetzungen, in denen verschiedene Konfliktparteien verschiedene Öffentlichkeiten kreierten (vgl. Santiago Guerrero 2012).

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nach dem Motiv ihrer Teilnahme am Festtag, so antworten sie etwa, dass sie hier im Viertel geboren und mit dem Soldaten und seinen Kapellen aufgewachsen sind. Die Geschichte Juan Soldados sei eine Legende aus ihrem Viertel.20 Diese nachbarschaftlichen Besucher sind eher zum Feiern ihrer lokalen Gemeinschaft als zum Beten gekommen. Die Lokalität ist für sie auschlaggebend. Die Geschichte des Soldaten wiegt schwerer als die Wunder, die ihm zugeschrieben werden. Der Lokalheilige Juan Soldado stärkt die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den Bewohnern der umliegenden Viertel, gerade da, wo die Familienstrukturen durch die verstärkte Mobilität der Verwandten bedroht sind. Die Treffen an der zentralen Kapelle am Namenstag Juans stärken die Verbindungen gerade zwischen jenen älteren Bewohnern des alten Viertels, die aus einer bestimmten sozialen Klasse stammen, welche aktuell mit dem spezifischen Status einer reisenden Öffentlichkeit der Grenze einhergeht. Besucher aus dem Zentrum Tijuanas Juan Soldado wird auch von jenen verehrt, die in Tijuana geboren sind und im alten Stadtzentrum wohnen. Diese „alten“ Bewohner der Stadt sind mit den Geschichten und Legenden Tijuanas engstens vertraut. Zu diesen Legenden zählt auch die von Juan Soldado. Cecilia ist entsprechend ihrer Selbstbezeichnung eine Vertreterin dieser Tijuanense, sie wohnt im Stadtzentrum und ist in Tijuana geboren. Am Día de Juan besucht sie die zentrale Kapelle des Heiligen. Für Cecilia hat Juan Soldado religiöse Bedeutung. Sie ist von seiner Wunderwirksamkeit überzeugt. Zudem unterstreicht Cecilia die Bedeutung Juan Soldados als Grenzheiliger. „Tijuana“ ist für sie das „alte Stadtzentrum“ und nicht die Ausläufer der Stadt, „da, wo der Adler kreist“21. Damit bezeichnet Cecilia „jene Siedlungen der Stadt, von deren Fenstern aus man schon die Häuser des Nachbarortes Tecate sehen kann“22, den Nachbarort von Tijuana an der Grenze. Cecilia bezeugt ihre lokale Verbundenheit damit, dass sie sagt, dass ihre Großmutter die erste Heilerin von Tijuana war, die Erbin der Tia Juana, jener Figur, die nach manchen Legenden der Stadt ihren Namen gegeben hat.23 Cecilia bezeichnet Tijuana als „kleine Stadt in großer Hölle“, und sie sagt: „Tijuana ist noch immer eine Ranch“.24 Zu dieser Ranch zählen die alten Viertel der Stadt, die historisch

20 Tagebuchnotizen, 24.06.2011 und 24.06.2012. 21 Gespräch mit Cecilia, Tagebuchnotizen, 24.06.2011. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd.

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mit der anderen Seite der Grenze verbunden sind, nicht jedoch jene großen Gebiete, die durch die Versprechungen der Maquiladora-Industrie besiedelt wurden. Cecilia kommt jedes Jahr am Namenstag Juan Soldados für einen kurzen Besuch auf den Friedhof. Manchmal kommt sie allein, manchmal bringt sie auch ihre erwachsenen Kinder mit, die beide in San Diego auf der anderen Seite der Grenze leben. Cecilia sagt, sie sei eine „Hexe“, eine bruja. Im Zentrum ihres Glaubens steht die Virgen de Guadalupe. Für Cecilia ist sie mit Tonantzin verschmolzen, der Mutter der Erde in den mythischen Erzählungen der Nahuas.25 Juan Soldado habe schon einige Wunder für sie gewirkt, erzählt sie. Als sie mittellos war, habe sie Geld gefunden, nachdem sie an der Kapelle des Soldaten war. Sie berichtet, dass er als Geist an verschiedenen Orten im Zentrum der Stadt erscheine.26 Cecilias Landkarte der Stadt Tijuana besteht aus Landmarken, an denen Geister wohnen und in Erscheinung treten. Alle diese Geister haben mit der alten Geschichte der Stadt und mit ihren historischen Gebäuden zu tun, mit den Kinos und den Casinos, die heute leer stehen und baufällig sind. Diese Häuser stammen aus der Blütezeit Tijuanas und zählen trotz ihres Zustands zu den auffälligsten Gebäuden in der Innenstadt. Juan Soldado ist für Cecilia einer dieser Geister, der mit der Geschichte der Stadt verbunden ist. Er hat für Cecilia somit auch eine Bedeutung für sie als Tijuanense. Sie besucht die Kapelle im Zentrum des Friedhofs. Zu jener Kapelle, die sich am äußersten Rand des Friedhofs befindet, geht sie am Día de Juan nicht.27 Tijuanense ist eine flexible Kategorie in der städtischen Öffentlichkeit Tijuanas. Meistens wird sie mit den Bewohnern des Zentrums assoziiert, mit dem städtischen Bürgertum der ersten Generation in der urbanen Geschichte Tijuanas, die von dem wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt zu einer Metropole des Amüsements profitiert hat. An die Tijuanense sind somit auch die Geschichten der Stadt geknüpft. Die Kategorie dient dazu, Distinktionen in der Zusammensetzung der Bevölkerung Tijuanas vorzunehmen. Für Cecilia ist die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie eindeutig geregelt. Sie bezeichnet mit dieser Kategorie jene Bewohner der Stadt, die in der Nähe der Grenze leben, die in Tijuana geboren sind, und deren Leben mit der anderen Seite der Grenze verflochten ist. Cecilias Kinder leben al otro lado, „auf der anderen Seite“. Sie selbst, so berichtet sie, sei jedoch derzeit nicht im Besitz eines Visums und kann deswegen mo25 Gespräch mit Cecilia, Tagebuchnotizen, 24.06.2011. Im folgenden Kapitel wird sich noch zeigen, dass die Version der Virgen de Guadalupe als Tonantzin in der populären Religiosität der Chicano-Bewegung eine maßgebliche Rolle spielt (vgl. Kap. 6). 26 Gespräch mit Cecilia, Tagebuchnotizen, 24.06.2011. 27 Ebd.

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mentan nicht über die Grenze reisen. Es sei jedoch keinerlei Problem, ein derartiges Visum zu beantragen. Noch vor einigen Jahren hat sie ihre Kinder in den USA regelmäßig besucht. Sie war vor wenigen Jahren mit einem Gabacho28 zusammen. Dieser schenkte ihr neue Zähne und finanzierte ihr eine Ausbildung zur Schneiderin. Zuvor hat sie ihren Unterhalt in den Bars der Stadt verdient. Als der Gabacho sie einsperrte, ist sie abgehauen und hat ihn für immer verlassen.29 Inzwischen gibt sie Massagen gegen Geld, und vor kurzem hat sie ihren Körper fotografieren lassen, der, wie sie findet, trotz ihres Alters noch immer sehr schön sei.30 Mit einem gewissen finanziellen und zeitlichen Aufwand, so versichert sie mir, könne sie alle Dokumente erhalten, um die Grenze offiziell überqueren zu dürfen.31 Juan Soldado ist in Cecilias Augen Grenzheiliger. So hat sie mehrfach betont, dass er für jene hilfreich sei, deren Leben mit der anderen Seite der Grenze verflochten ist. Juan Soldado als Grenzheiliger ist für Cecilia jedoch nur eine mögliche Version Juan Soldados. Denn er ist auch ein Geist, der Wunder wirkt. Als religiöse Figur gehört Juan Soldado zur weißen Magie, gemeinsam mit der Virgen de Guadalupe und der Santa Muerte, während auf der schwarzen Seite ihrer Skala Voodoo und Santería zu finden sind.32 Der Friedhof mit seinen Gräbern ist mit der historischen Tijuanense verbunden. Die größten Gruften und Gräber gehören zu den alten Familien der Stadt, die zu den Gewinnern der ersten Urbanisierung der Stadt gehörten und deren Leben durch ökonomischen Aufstieg gekennzeichnet war. Unter diesen Gräbern findet sich auch das Grab der Familie Camacho, die Teil der Legende Juan Soldados ist.33 Die alten Friedhöfe in der Grenze sind die Friedhöfe der Tijuanense. Cecilia hat ihren verstorbenen Mann in einer Urne bei sich zu Hause. Einen Platz auf einem Friedhof in Tijuana zu finden, gestaltet sich schwierig, vor allem auf dem „Panteón Número Uno“, dessen Gräber seit langem im Besitz

28 Der Begriff wird im Grenzgebiet häufig verwendet, um US-amerikanische Staatsbürger zu bezeichnen. 29 Gespräch mit Cecilia, Tagebuchnotizen, 13.11.2010. 30 Ebd. Im Zentrum von Tijuana gibt es eine Vielzahl von Frauen, die auf die eine oder andere Art ihren Körper verkaufen. Nicht alle würden sich deswegen als Prostituierte bezeichnen. Für viele alleinstehende Frauen ist es ein notwendiger Nebenverdienst. Das Zentrum von Tijuana ist noch immer das Zentrum der Prostitution der Stadt. 31 Gespräch mit Cecilia, Tagebuchnotizen, 13.11.2010. 32 Ebd. 33 Olga Camacho ist das 9-jährige Mädchen an dem das Verbrechen verübt wurde, als dessen Schuldiger Juan Soldado hingerichtet wurde.

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alter Familien der Stadt sind und auf dem es keinen Raum mehr für Gräber neuer Verstorbener gibt.34 Cecilia als Vertreterin der Tijuanense, die an Juan Soldado glaubt, zeigt deutlich, dass Juan Soldado auch mit der Wahrnehmung gewisser Privilegien und mit einem privilegierten Status an der Grenze verbunden ist. Die Geschichte Juan Soldados verbindet sich in dieser Wahrnehmung mit einer Zeit, in der sozialer Aufstieg im Stadtbild sichtbar wurde, ein sozialer Aufstieg, der auch an den alten Familiengräbern auf dem Friedhof abgelesen werden kann. Juan Soldados Grab ermöglicht auch jenen, die keines dieser Familiengräber im Zentrum der Stadt haben, die Pflege der Erinnerung an die glanzvollen Toten, auch wenn sie, wie Cecilia, die verstorbenen Angehörigen nicht dort bestatten durften. Der Position einer Tijuanense, wie sie hier durch die Darstellungen Cecilias deutlich wurde, zeugt auch von einer Positionierung an der Grenze, welche die Verehrung Juan Soldados immer begleitet hat. Die städtische Schicht der Tijuanense ist jene, die die Grenze überquert oder, wie im Fall Cecilias, die Möglichkeit hätte, sie zu überqueren. Die Tijuanense entspricht damit – wie die Bewohner der „Colonia Castillo“ – ebenfalls einer reisenden Öffentlichkeit. Ihre Aufmerksamkeit gehört der zentralen Kapelle Juan Soldados. Besucher, die über die Grenze kommen An der zentralen Kapelle Juan Soldados versammeln sich am Día de Juan auch viele Familien, welche die Grenze überquert haben, um „Juanito“ zu feiern. Einige führen ihre Gespräche auf Englisch. Viele erscheinen am Vormittag. Die Intensität, mit der sie ihre Rituale durchführen, unterscheidet sie deutlich von jener Gruppe, die durch nachbarschaftliche Beziehungen untereinander verbunden ist, aber auch von der Besuchergruppe, die als Tijuanense beschrieben wurde. Der Día de Juan ist für sie ein Anlass, um die promesas einzulösen, die als Gegenleistung für die gewirkten Wunder gelten, von denen die Mehrzahl im Zusammenhang mit der Grenze steht. Die meisten Besucher dieser Gruppe haben mindestens den Status permanent resident alien. Dadurch können sie die Grenze ohne Probleme überqueren. Die Mehrheit von ihnen bezeichnet sich selbst als „Chicano“ oder „Chicana“. Mit der Bezeichnung „Chicana/o“, die als Selbstbezeichnung im kalifornischen Grenzgebiet allgemein gebräuchlich ist, signalisieren sie, dass sie auf der anderen Seite der Grenze leben. Ihr bevorzugtes Ziel ist, wie bei den Besuchern, die bereits beschrieben wurden, die zentrale Kapelle. Die meisten Besucher, die extra die Grenze anlässlich des Día de Juan

34 Gespräch mit Cecilia, Tagebuchnotizen, 13.11.2010.

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überquert haben, erfüllen ihr rituelles Programm in aller Kürze. Dazu zählen vor allem das Entzünden einer Kerze und das Gebet. Zudem wird eine der Statuen Juan Soldados zur Begrüßung und zum Abschied berührt. Viele haben einen Stein und manchmal auch Kopien der Dokumente, die ihnen den Grenzübertritt gewährten, mitgebracht. Zudem hinterlassen sie häufig große Blumenkränze und üppige Sträuße. Diese zeugen auch von dem ökonomischen Erfolg der Besucher, die auf der anderen Seite der Grenze wohnen. Viele dieser Familien erfüllen ihre promesas35 bei einem einzigen Besuch. Zudem werden mitunter Stellvertreter an die Kapellen entsendet, um Steine und Blumen zu überbringen. Ein Mann bezahlt schon seit mehreren Jahren die Mariachi-Musikgruppe, die jährlich an der Kapellen spielt, denn er hat Juan Soldado die promesa gegeben, ihn an seinem Namenstag mit Musik zu bedenken. Er selbst erscheint allerdings nicht.36 Eine Familie aus Los Angeles hatte die Kapelle im Jahr 2011 besucht. Sie kamen schon am frühen Morgen und zählten zu den ersten Besuchern auf dem Friedhof. Der Vater der Familie mit dem Namen Manuel, so erklärte seine Frau Montse, war vor einigen Jahren deportiert worden: „Sie haben ihn ohne Fahrerlaubnis auf seinem Weg zur Arbeit erwischt.“ Daraufhin habe sie ihn zum Beten an die Kapelle geschickt: „Am Telefon haben wir gesprochen, und er klang besorgt. Ich sagte ihm er soll zum Beten an die Kapelle gehen.“ Dort hätte er, so Montse, versprochen zurückzukehren, wenn er die Möglichkeit erhalte, wieder über die Grenze zu gehen. Als er nach mehreren Monaten zurückkehren durfte, hat die Familie als Dank eine Votivtafel an der Wand der Kapelle Juan Soldados in Auftrag gegeben. Heute besuchen sie den Día de Juan das erste Mal. „Wir wollen sehen, wo die Tafel hängt, die wir von Los Angeles aus anbringen lassen haben“.37 Sie sind mit Blumen für den Heiligen und mit US-amerikanischem Bier für die anderen Besucher erschienen. Sie verteilen zunächst das Bier. Dann betreten sie bei der ersten Gelegenheit die Kapelle im Zentrum des Friedhofs, um die Blumen zu hinterlegen. Jeder steht still und betend für sich. Beim Abschied berührt die Familie, die aus zwei Generationen besteht – Manuel und Montse haben zwei Töchter mitgebracht – die Heiligenfiguren. Sie verlassen die Kapelle und den Friedhof, um, wie sie sagen, in einem Restaurant der Stadt zu essen und danach über die Grenze zurückzukehren. Am selben Tag wollen sie die Heimreise nach Los Angeles antreten.38

35 Zu einer ausführlichen Darstellung der promesas im Migrationskontext siehe Hagan (Hagan 2008: 133ff.) 36 Tagebuchnotizen, 24.06.2011 und 24.06.2012. 37 Gespräch mit Montse, Tagebuchnotizen, 24.06.2011. 38 Tagebuchnotizen, 24.06.2011.

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Der Pilgerstrom jener, die die Grenze überqueren, um Juan Soldado an seinem Namenstag zu besuchen, ist jedes Jahr zu beobachten. Eine Kontinuität der Besuche, wie sie bei den untereinander bekannten Nachbarn der „Colonia Castillo“ zu vermerken war, lässt sich jedoch nicht erkennen. Der Juan Soldado der Chicanas/os ist ein Grenzheiliger, den vor allem diejenigen verehren, die Erfahrungen mit den Grenzübertritten haben und keinen privilegierten Status an der Grenze besitzen.39 Juan Soldado und die „Chicanas/os“ Der Religionswissenschaftler der Chicano Studies, Alberto Lopez Pulido, erwähnt die Bedeutung Juan Soldados für die Chicanas/os. Juan Soldado steht als Outlaw und Heiliger, der den indocumentadas/os über die Grenze hilft, in einer Reihe mit dem Gott Huitzilopochtli, der die Mexica des präkolonialen Kontinents von Aztlán nach Tenochtitlan geführt hatte (López Pulido 2003: 69). Auch der Religionswissenschaftler Luis D. León bestätigt die Bedeutung Juan Soldados im Pantheon der populären Religiosität der Chicanas/os (León 2004: vii). Dort nimmt er sogar einen besonders exponierten Platz ein für jene, die nicht auf die Unterstützung von Institutionen zählen können und deren offizieller Status entsprechend problematisch ist (ebd.). Auch hier werden die Statusunterschiede und Ungerechtigkeiten neu ausgelotet und in eine neue Geschichte überführt: In 1938, Soldado, then known as Juan Castillo Morales, was tried and convicted in a Mexican Court for the rape and the murder of a young girl. A very popular myth has judged Juan Soldado innocent, a victim of his military superior. […] Thus others who suffer injustice flock to his shrine seeking understanding and help. […] The story of Soldado’s unjust death and his sacred recompense serves as a discourse around which to imagine a community that does not depend on institutional support. […] This is but one of many examples in the U.S.-Mexican borderlands in which religion is a tool to invert justice and injustice and to rewrite the religious, cultural, and mythical maps in ways that privileges those outside the official cartography of history; in the case of Juan Soldado, his mythology demonstrates a preference for the poor, the undocumented border crossers. (León 2004: viif.)

39 Juan Soldado wird in den USA durch Chicanas/os auch in Hinblick auf einen weiteren Zusammenhang verehrt: Der Weg vieler junger Chicanos führt in das Militär. Viele Chicanos kämpften im Vietnamkrieg. Juan Soldado wurde viel von den Müttern und Frauen dieser Soldaten verehrt oder von den Soldaten selbst. So fanden sich an der zentralen Kapelle Juan Soldados auch immer Danksagungen mit Fotografien von Chicanos, die eine Karriere beim US-amerikanischen Militär gemacht haben.

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Die Botánicas40 nördlich der Grenze, selbst jene, die sich in unmittelbarer Nähe des Grenzzaunes befinden, verkaufen keine Devotionalien des kleinen Soldaten, obwohl sie sonst das komplette Repertoire anbieten, bis hin zu San Simón41 und Jesús Malverde42 oder der Santa Muerte43. Daher liegt der Eindruck nahe, dass Juan Soldado als Heiligenfigur den Weg über die Grenze nicht geschafft hat, obwohl er den indocumentadas/os als Grenzheiliger zur Seite steht. Das legt den Schluss nahe, dass Juan Soldado tatsächlich an die Situation der Grenze gebunden bleibt und Aspekte seiner lokalen Verehrung in Tijuana ebenso wichtig bleiben wie seine „Grenzheiligkeit“. Da es keine Kapellen in Mexiko Stadt, San Diego oder Los Angeles gibt, sind die Menschen, die an seine Wunder glauben, dazu angehalten, über die Grenze nach Tijuana zu seiner Kapelle zurückzukehren. Die Rückkehr markiert gleichzeitig einen bestimmten Statusunterschied, denn nur mit offiziellen Dokumenten in Form von Aufenthaltsgenehmigungen kann der Pilger den Weg antreten und dem Heiligen einen „offiziellen“ Besuch abstatten. Häufig lösen die Verehrer Juan Soldados auf der anderen Seite der Grenze ihr promesa aus diesem Grund erst nach vielen Jahren ein. Die Besucher, die diesen offiziellen Besuch am Día de Juan von der anderen Seite der Grenze

40 Ein Geschäft für alternative Medizin, in dem vor allem Heilpflanzen und Zaubermittel verkauft werden. 41 San Simón fehlt in keiner Botánica auf beiden Seiten der Grenze. Häufig wird er mit Maximón, einer guatemaltekischen Heiligenfigur der Maya, in Zusammenhang gebracht. 42 Jésus Malverde wird häufig als santo de los narcos bezeichnet, als „Heiliger der Drogenschmuggler“. Er ist zugleich ein Lokalheiliger Sinaloas, dem Bundesstaat, in dem tatsächlich viele Drogen von den Bergen auf ihren Weg Richtung Norden gebracht werden. In Tijuana, wo das Sinaloa-Kartell die Vormacht hat, ist Jesús Malverde besonders populär. Er wird aber auch von vielen Menschen verehrt, die keinerlei Kontakt zum Drogenhandel haben. Für eine ausführlichere Betrachtung der berühmtesten Heiligen, die im Grenzgebiet verehrt werden, siehe Arias und Durand (2009: 51ff.) und Rodolfo und Quiroz (2009: 75ff.). 43 Die Santa Muerte genießt ebenfalls außerordentliche Berühmtheit als populäre Heiligenfigur auf beiden Seiten der Grenze. Ihr wird die besondere Fähigkeit zugesprochen, bei allen Problemen einen positiven Ausgang zu erwirken. Zugleich soll sie einen ungeheuren Tribut für ihre Wunder fordern. Die Santa Muerte wird vor allem in den urbanen Zentren wie Mexiko Stadt oder Los Angeles, aber auch im urbanen Grenzgebiet verehrt. Zur Popularität der Santa Muerte siehe auch Graziano (2007).

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aus leisten wollen, benötigen also mindestens ein Visum oder den Status Resident Alien44. „Tijuaneras/os“ als Besucher Die hintere Kapelle wird am Día de Juan, wie bereits beschrieben, von jenen lokalen Gruppen der Nachbarschaft und der Tijuanense oder den Chicanas/os nicht besucht. Stattdessen versammeln sich hier vor allem Familien und einzelne Frauen, die nicht zu der reisenden Öffentlichkeit der Grenze gezählt werden können. Zu dieser Gruppe gehören vor allem jene Besucher, welche die meiste Zeit an der hinteren Kapelle am Rand des Friedhofs verbringen. Die dort anwesenden Personen lassen sich nicht eindeutig einer Besuchergruppe entsprechend ihrer lokalen Bezüge zur Grenze zuordnen. Die dort Anwesenden haben jedoch die Gemeinsamkeit, dass sie kein Interesse daran haben, die Grenze zu überqueren, und daher definitiv nicht zur der reisenden Öffentlichkeit gehören, der die anderen Besucher zugeordnet werden können. Unter den Gästen an der Kapelle am Rand war die Familie Reyes. Sie zählt zu jener Gruppe, von denen sich Cecilia mit der Bezeichnung „Tijuaneras/os“45 abgegrenzt hatte. Der Großteil der Familie war erst vor fünf Jahren aus Michoacán nach Tijuana gekommen. Der Großvater und seine Tochter wollten am Día de Juan erscheinen, denn es hatte eine Reihe von Krankheiten in der Familie und finanzielle Not gegeben. Inzwischen sind die Krankheiten geheilt und die Familie hat Arbeit gefunden. Für den Soldaten tranken sie jetzt alle Bier und die Männer rauchten Zigaretten, da sie die Vorliebe Juan Soldados für Tabake und Zigarettenqualm kannten. Sie blieben, bis alle Zigaretten geraucht und die Bierdosen gelehrt waren, um dann nach knapp zwei Stunden den Friedhof wieder zu verlassen. Es war ihre erste Teilnahme am Día de Juan, weil sie erst vor kurzem von seiner Wunderwirksamkeit erfahren hatten.46

44 Der Status betrifft Personen, die sich in den USA aufhalten dürfen, ohne die Staatsbürgerschaft zu haben. Diesen Status haben zum Beispiel Personen im Besitz einer Resident Alien Card („Green Card“). Sie haben die Verpflichtung, Steuern zu zahlen, genießen aber nicht die gleichen Privilegien wie US-amerikanische Staatsbürger (vgl. Kap. 2.2). 45 Die Bezeichnung „Tijuaneras/os“ benutzte Cecilia, als sie sich als Tijuanense von den Bewohnern der übrigen Stadtteile abgrenzen wollte, vor allem von jenen, die erst neu hinzugezogen sind (Gespräch mit Cecilia, Tagebuchnotizen, 13.11.2010). 46 Tagebuchnotizen, 24.06.2012.

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An der hinteren Kapelle treffe ich am Día de Juan auch Arturo mit seiner Mutter und seinen Kindern. „Es sind keine guten Zeiten“, sagt er. „Die Mutter wollte, dass wir kommen, weil sie gehört hat, dass die Kapelle hier ein guter Ort zum Beten ist“. Arturo berichtet, dass er seine Arbeit verloren hat. Die Familie sitzt drei Stunden vor dem Eingang der Kapelle. Arturo raucht Zigaretten. Sie unterhalten sich und trinken gemeinsam Bier. Arturo erzählt, dass er noch nicht in den USA war. „Mein Bruder war vor längerer Zeit einmal dort“. Wegen des Bruders sind sie nach Tijuana gekommen. „Es schien, als gäbe es hier mehr Arbeit als im Süden.“ Mexiko verlassen wollten sie nicht. „Ich war schon einige Male am Grenzübergang, dort lässt sich gut Geld verdienen!“, erzählt er. Arturo berichtet, dass er einen Freund hat, der dort arbeitet und verschiedene Dinge an die in der Schlange stehenden Personen verkauft.47 Die Praktiken variieren an der hinteren Kapelle. Ein älterer Mann hat sich eine große Zigarre mitgebracht. Er erzählt mir, dass sie von seiner Familie aus Sinaloa ist, dort wächst der Tabak am Haus. „Die Zigarre war ein Geschenk“ erzählt er. „Rauchen wollte ich sie zu einer besonderen Zeit an einem besonderen Ort.“48 Zwei ältere Frauen haben sich zwei Eier mitgebracht mit denen sie sich in einem Ritual reinigen, indem sie die Eier vorsichtig über ihren Körper reiben. Eine andere Frau sitzt klagend und weinend auf einem Grabstein neben der Kapelle. Ihre Tränen sind für ihren verstorbenen Mann, von dem sie ein Foto mitgebracht hat. Alle diese Handlungen der Besucher finden gleichzeitig ihren Platz an der hinteren Kapelle.49 Die Betrachtung der verschiedenen Gruppen von Besuchern der Kapellen Juan Soldados am Día de Juan machte deutlich, dass sich Differenzen innerhalb der Verehrung in einer spezifischen Räumlichkeit niederschlagen. Diese räumlichen Differenzen entsprechen den Logiken der sozialen Differenzierungen, die die Grenze produziert. Der eine Raum (die zentrale Kapelle) wird durch eine Besuchergruppe geprägt, welche die Grenze überquert und Ressourcen auf beiden Seiten der Grenze aktiviert. Der andere Raum (die Kapelle am Rand) wird hingegen durch eine Besuchergruppe geformt, die zwar mitunter von der Grenze ökonomisch profitiert, diese aber nicht überquert und daher nur Ressourcen auf der einen Seite der Grenze für sich nutzen kann. Diese räumliche und soziale Differenzierung der Bedingungen der Grenze findet daher ihre Entsprechung in der Verehrung Juan Soldados. Sie steht für einen Konflikt, der nicht öffentlich ausgetragen wird, der sich hingegen durch räumliche Fragmentierung verschiebt. Im folgenden Abschnitt widme ich mich dieser räumlichen Differenzierung in 47 Gespräch mit Arturo, Tagebuchnotizen, 24.06.2012. 48 Tagebuchnotizen, 24.06.2012. 49 Ebd.

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der Verehrung Juan Soldados, indem ich zunächst die beiden Kapellen besuche und sie kurz in ihrer Lage auf dem Friedhof und ihrer Geschichte vergleiche.

4.3 Z WEI K APELLEN

FÜR

J UAN S OLDADO

Für die Verehrung Juan Soldados sind zwei Kapellen von Bedeutung. Sie liegen zwar nahe beieinander, nehmen aber im Aufbau des Friedhofs verschiedene Positionen ein. Auch sind sie unterschiedlich mit der Geschichte Juan Soldados verbunden. Zudem entsprechen die Kapellen heute divergierenden Tendenzen innerhalb der Verehrung Juan Soldados. Diese Unterschiede machen es lohnenswert, beide Kapellen in einem Zusammenhang zu betrachten. Insgesamt erscheint die hintere Kapelle des Soldaten viel ungeordneter als jene im Zentrum. Die Besucher der Kapellen Juan Soldados differenzieren ihre Positionen auf dem Friedhof diesen beiden Kapellen entsprechend. Einige bevorzugen die hintere Kapelle für ihre Rituale und andere wiederum die zentral gelegene. Doch woher kommt diese räumliche Differenzierung der Verehrung Juan Soldados? Am Día die Juan teilen sich tendenziell verschiedene Gruppen auf die beiden Kapellen auf, jedoch nicht im Sinne einer scharfen Distinktion, denn einige Anwesende besuchen beide Kapellen. Der Grad der Aufmerksamkeit, die sie den Kapellen jeweils zukommen lassen, variiert allerdings. Einige besetzten den ganzen Tag den Platz an der zentralen Kapelle. Zu ihnen zählen vor allem die Nachbarn aus den umliegenden Colonias, vor allem der „Colonia Castillo“ sowie jene, die extra die Grenze überquert haben und deren Auftritte nicht selten ein gewisses Prestige mitbringen, weil sie deutlich machen, dass diese Besucher die Grenze überqueren können. Diese schenken der hinteren Kapelle keine Aufmerksamkeit. An der hinteren Kapelle halten sich vorwiegend Besucher auf, die erst vor Kurzem von der Heiligenfigur Juan Soldados erfahren haben. Vor allem feiern dort Familien, die noch nicht lange in Tijuana leben und die hier ungestört ihre eigenen Praktiken verorten können, wie das Abbrennen von Zigaretten, das Opfern von Schnaps oder die Reinigung mit Eiern. An der hinteren Kapelle halten sich häufig auch jene auf, die nicht vorhaben, die Grenze zu überqueren. Dadurch besitzen sie keine eindeutige Position zur Grenze. Ich beginne mit der Betrachtung der Kapelle im Zentrum des Friedhofs, denn sie ist die erste, auf die man trifft, wenn man als Besucher den Hauptweg des Friedhofs entlang geht.

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Die zentrale Kapelle Die zentrale Kapelle befindet sich in der Mitte des Friedhofs „Panteón Número Uno“. Sie besteht aus einer kleinen Hütte mit einem Vordach. Sie ist von außen und von innen mit einer großen Anzahl verschiedener Plaketten gestaltet, die häufig Danksagungen für Juan Soldado enthalten. Auf dem Dach befindet sich eine größere Statue des Heiligen. Es ist die größte Figur Juan Soldados auf dem gesamten Friedhof. Sie wurde von einer Familie gespendet, die inzwischen in Los Angeles lebt. Im Inneren befindet sich direkt hinter dem Eingang eine Büste des Heiligen, dahinter eine Ablagefläche für Votivgaben, davor ein Kasten für die Almosen. Eine weitere große Figur von Juan Soldado befindet sich an der hinteren Wand. Alle diese Figuren sind bildliche Adaptionen eines kleinen Devotionalienbildes, das unbestritten im Zentrum der Verehrung Juan Soldados steht (siehe Abbildung 17: 206). Die zentrale Kapelle ist immer gereinigt und aufgeräumt. Auch im Alltag finden sich hier täglich neue Spuren der Verehrung: neue Fotos, Briefe, Blumen und Bilder für den Heiligen. Die Kapelle wurde auf dem Grab Juan Soldados errichtet. Nach seiner Hinrichtung im Jahr 1938 soll er genau an dieser Stelle des Friedhofs bestattet worden sein. Wie Vanderwood in seinen historischen Untersuchungen deutlich machen konnte, war das Grab im Zentrum des Friedhofs in den 1950er Jahren durch Fahrgestelle von vier Autos geschützt. In der Folge brachten Besucher am Grab Juan Soldados weitere alte Autotüren, Kotflügel, Seitenwände von Fahrzeugen und Autoscheinwerfer an.50 Erst in den 1960er Jahren wurde die Grabstelle erneuert und durch eine Holzhütte geschützt. Ein Jahrzehnt später gab es einen Brand, der die Hütte zerstörte. Nach diesem Brand wurde eine neue Hütte aus Ziegelsteinen errichtet. Diese Hütte hat bis heute überdauert. Sie hat einen kleinen Eingang und zwei Fenster. Sie bietet Platz für eine Familie oder eine Gruppe mit maximal sechs Personen. Die kleine Kapelle ist etwa drei Meter tief und nicht mehr als zwei Meter breit. Die Höhe bis zum Dach beträgt etwa drei Meter. Durch die geringe Größe der Kapelle treten die Besucher immer einzeln,

50 Vanderwood beschreibt, dass die Grabstelle wie ein Schrottplatz aussah (Vanderwood 2004: 251). Warum die Verehrer Juan Soldados Autoteile an sein Grab brachten, versucht Vanderwood wie folgt zu erklären: In den 50er Jahren fanden Migranten es gefährlicher, die Gebirgskette der Rumorosa zwischen Tecate und Mexicali östlich von Tijuana mit dem Bus, Auto oder Lastwagen zu durchqueren, als die damals noch nicht so stark gesicherte Grenze zu überqueren. Als Dank für eine überstandene Passage durch die Rumorosa hinterließen sie Autoteile. Noch heute erzählen die Bewohner von Tijuana und Tecate viele Legenden über die Rumorosa.

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mit der Familie oder mit Freunden ein. Selten begeben sich jedoch zwei einander unbekannte Personen gemeinsam in die Kapelle. Ihr Innenraum ist vor den Blicken anderer Besucher geschützt. Als Inventar enthält die Kapelle neben den beschriebenen Einrichtungsgegenständen zwei Gebetsstühle. Die Kapelle liegt direkt am Hauptweg des Friedhofs. Dadurch kommt jeder Besucher der diesem Weg folgt, direkt an ihr vorbei. Viele Besucher verweilen an dieser Kapelle. Andere setzen ihren Weg über den gesamten Friedhof fort, um dann an seiner hinteren Seite eine zweite Kapelle für Juan Soldado zu besuchen. Wieder andere ignorieren die zentrale Kapelle und begeben sich direkt an diese hintere Kapelle. Im folgenden Abschnitt begebe ich mich nun ebenfalls an diese Kapelle. Die Kapelle am Rand Am hinteren südlichen Ende des Friedhofs befindet sich eine zweite Kapelle. Ihr Eingang liegt exakt auf einer Höhe mit der Begrenzung des Friedhofs. Das Innere der Kapelle befindet sich räumlich schon außerhalb des Friedhofsgeländes. Die Kapelle soll sich an jenem Ort befinden, wo Juan Soldado gestorben ist. Nach Vanderwood berichten Verehrer des Heiligen, dass unter der Kapelle noch sein Blut zu finden sei (Vanderwood 2004: 254). Eine Version der Legende besagt, dass Juan Soldado – veranlasst durch das Ley Fuga – im Begriff war davonzulaufen und schließlich von den Kugeln in jenem Moment getroffen wurde, als er die Begrenzung des Friedhofs überwinden wollte. Daher liegt wohl auch die Kapelle heute außerhalb des Friedhofs, kann aber gleichzeitig nur vom Friedhof aus betreten werden. Die Kapelle ist wesentlich größer als jene im Zentrum des Friedhofs. Sie liegt leicht erhöht auf einem kleinen Hügel. Um in das Innere zu gelangen, muss man mehrere Treppenstufen hinaufsteigen. Der vordere Teil der Kapelle ist offen, so dass sie keinen Sichtschutz bietet. Allerdings ist sie durch ihre Randlage der Öffentlichkeit entzogen. Einige Verehrer meinen, dass diese Kapelle die „echte“ Kapelle sei. Da Juan Soldado für einen einflussreichen Mann ein Wunder gewirkt habe, hat er zum Dank die andere Kapelle im Zentrum des Friedhofs gebaut und ließ Juan Soldado dort erneut bestatten (vgl. Vanderwood 2004: 254). Tatsächlich wird diese Kapelle von einigen Besuchern als die wichtigere gewertet. Liest man die Spuren der Verehrung an beiden Schreinen und vergleicht sie, so fällt auf, dass nur an der hinteren Kapelle leere Schnapsflaschen, Eier, manchmal Federn und abgebrannte Zigaretten liegen. Martha, die beide Kapellen sehr gut kennt und die an die Bedeutung beider glaubt, verbindet die vordere eher mit dem Katholizismus und die hintere eher mit Hexerei. Dort, sagt sie, hat sie schon öfter Juan

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Soldado gesehen. Hier sei sein bevorzugter Ort als Geist. Die hintere Kapelle sei auch besser geeignet für die Limpiezas, Reinigungsrituale, die dort mit Eiern durchgeführt werden.51 Der Zusammenhang beider Kapellen ist Ausdruck eines Konflikts, der sich aus den unterschiedlichen religiösen Praktiken ergibt, mit denen sich die Menschen Juan Soldado zuwenden. Dass beide Kapellen überdauern konnten und die Leute teilweise den Zugang und die Bedeutung der einen Kapelle gegenüber der anderen vorziehen, liegt daran, dass bestimmte religiöse Praktiken öffentlich unterschiedlich bewertet werden. Theoretisch ist dieses Phänomen mit dem Konzept der Intimität verbunden, die dadurch entsteht, dass die Gläubigen die Objektivierungstendenzen in der öffentlichen Wahrnehmung von Religion vermeiden.52 An der hinteren Kapelle können Besucher ungestört ihren Praktiken nachgehen, die womöglich in einer weiteren Öffentlichkeit Stein des Anstoßes sein könnten. Gleichzeitig bildet diese Kapelle eine eigene Öffentlichkeit. Die räumliche Differenzierung, die sich in der Existenz beider Kapellen widerspiegelt, entspricht jedoch auch einer sozialen Differenzierung innerhalb der Verehrung Juan Soldados, die wiederum mit der Position an der Grenze zu tun hat. Während sich an der zentralen Kapelle vor allem jene Besucher zusammenfinden, denen es möglich ist, die Grenze legal oder auch illegal zu überqueren, treten an der hinteren Kapelle vor allem Besucher in Erscheinung, die die Grenze nicht überqueren können oder wollen. Die Konflikte, die sich hier andeuten, haben auch Auswirkungen auf die Gestalt Juan Soldados und seine Widersprüchlichkeit. Diese Widersprüchlichkeit ist eng mit der Genese Juan Soldados verbunden und mit den historischen Bedingungen derselben. Im folgenden Abschnitt verfolge ich diese widersprüchlichen Dimensionen Juan Soldados, ihre historischen Ursachen und ihre aktuellen Tendenzen.

4.4 D IE W IDERSPRÜCHE

DER

G ESTALT J UAN S OLDADOS

Seitdem die Grenze urbanisiert wurde, hat sie gleichzeitig Prozesse der sozialen Differenzierung hervorgerufen. Diese soziale Differenzierung der urbanisierten Grenze reflektiert sich in widersprüchlichen Öffentlichkeiten. Ein Beispiel dieser

51 Gespräch mit Martha, Tagebuchnotizen, 06.11.2010. 52 Vergleiche hierzu die überaus aufschlussreiche Arbeit von Herzfeld zu „kultureller Intimität“ (Herzfeld 2005). In gewisser Weise sind die hinteren Kapellen auch Ausdruck der hidden transcripts jenseits der Bühne machtvoller Verhältnisse, wie sie von Scott beschrieben wurden (Scott 1992: 2 und vgl. Kap. 1.2).

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widersprüchlichen Öffentlichkeiten stellt die historische Wahrnehmung der lokalen Heiligenfigur Juan Soldado dar. Ob Juan Soldado historisch als Täter oder als Opfer gesehen wird, ist somit zugleich Ausdruck verschiedener Geschichten und sozialer Unterschiede in einer Grenzstadt.53 Diese widersprüchliche Öffentlichkeit setzt sich bis heute fort, wenn die sozialen Differenzen, die sich in der Soldado-Verehrung manifestieren, durch Statusfragen und Statusprobleme im Kontext der Grenze ergänzt werden. Der Rückzug in die Privatheit seiner kleinen Kapellen zeigt jedoch zugleich die Fragilität dieser Öffentlichkeit. Um die Geschichte und die Genese Juan Soldados zu betrachten, werde ich im ersten Teil dieses Abschnitt „archäologisch“ eine weitere Schicht der Grenzlandschaft mit ihrer eigenen spezifischen Ordnung freilegen. Diese Schicht zeigt eine Grenzlandschaft am Beginn ihrer Urbanisierung. In dieser konfliktbeladenen Grenzlandschaft wird ein Mythos geboren: Tijuana „die Schreckliche“. Der folgende Abschnitt ist dieser „schrecklichen“ Grenzstadt und dem Anfang ihrer Urbanisierung gewidmet. Anschließend werde ich den unterschiedlichen Perspektiven auf die Figur Juan Soldados nachgehen, indem ich mit ihren aktuellen „offiziellen“ Legenden beginne und diese schließlich mit persönlichen Geschichten verbinde, die mir an seinen Kapellen durch seine Besucher zugetragen wurden. Anschließend werde ich die Widersprüche der Gestalt Juan Soldado durch die Betrachtung historischer lokaler Zusammenhänge deuten. Zudem möchte ich die Bedeutung Juan Soldados in Hinblick auf die Subalternität jener, die ihn verehren, abschließen. Das Unterkapitel kann so deutlich machen, dass seine Widersprüchlichkeit durch die Verflechtung verschiedener Versionen seiner Geschichte in verschiedenen Öffentlichkeiten entsteht: erstens die Version der „offiziellen“ Legende und zweitens die verschiedenen Versionen, die hier als subalterne Versionen bezeichnet werden. „Tijuana die Schreckliche“. Die Urbanisierung des Grenzstreifens Juan Soldado wurde in den 30er Jahren, einer Phase von Konflikten in der wachsenden Grenzstadt Tijuana als Heiligenfigur generiert. So wie verschiedene Menschen glauben, dass Juan Soldado Macht über die Grenze und deren formale Bedingungen besitzt und damit ihren Status an der Grenze positiv beeinflussen kann, so haben auch verschiedene lokale Gruppen in dieser ersten Phase der Urbanisierung Tijuanas um die Kontrolle über die Grenze und ihre Position an

53 Tijuana ist geprägt durch ein „verwundbares historisches Erbe“ (vgl. Olmos/Mondragón 2011).

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der Grenze gekämpft. Diese Grenze, an der sich das erste Mal umfassende ökonomische, soziale und kulturelle Beziehungen ausbilden, ist noch nicht gesichert. Die Grenzlinie ist noch nicht eindeutig in der Landschaft demarkiert. In dieser Zeit werden lediglich einige offizielle Grenzübergangspunkte in Form von Zollhäuschen geschaffen. Grenzmarkierungen, wie das Boundary Monument 258, La Mojonera, von dem im Ausgang der Betrachtungen bereits die Rede war, wurden in dieser Zeit zu touristischen Attraktionen in der jungen Grenzlandschaft. Die räumliche Regelung von Verboten, die durch die Grenze möglich wird, hatte einen wichtigen Anteil an dieser Entwicklung Tijuanas. Aus einer kleinen ranchería, die Tijuana zunächst war – im Jahr 1900 hatte Tijuana lediglich 242 Einwohner (Arreola/Curtis 1993: 24) – wurde eine rasant wachsende Stadt. Die Gründe für das Wachstum Tijuanas liegen in den ökonomischen Begünstigungen, die sich aus einer Reihe US-amerikanischer Verbote ergaben – dem Verbot von Alkohol (Prohibition, 1913-1933) und dem Verbot des Glücksspiels. Die Stadt entwickelte sich zu einer Landschaft des Glücksspiel- und Vergnügungstourismus. Die Möglichkeit, über die Grenze auch eine sozioökonomische Räumlichkeit von Verboten und deren Überschreitung zu schaffen, kann als der maßgebliche Faktor für die Entwicklung dieser urbanisierten Grenzlandschaft betrachtet werden.54 Die folgende große Depression der USA in den 1930er Jahren führte zu einem weiteren Anwachsen der Bevölkerung aufgrund von Deportationen, aber auch aufgrund der relativ stabilen Wirtschaft des Tourismussektors Tijuanas in dieser Zeit. Zwischen den Jahren 1921 und 1930 stieg die Zahl der Stadtbewohner von 1028 auf 8384. Im Jahr 1950 hatte sie bereits 59 952 erreicht (ebd.).55 Der urbane Plan Tijuanas entwickelte sich entlang dieser Gegebenheiten. Ab 1921 war nicht mehr der zentrale Platz der Stadt ausschlaggebend für ihren Siedlungsplan, sondern der Übergang der línea international und die 54 Die Entwicklung der Tourismuswirtschaft in Tijuana wurde zudem durch Faktoren auf der anderen Seite der Grenze begünstigt, die sich bereits einige Jahre zuvor am Ende des 19. Jahrhunderts ergeben hatten. Ende des 19. Jahrhunderts wurde San Diego an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Diese neue Infrastruktur beeinflusste auch den Tourismus San Diegos und den frühen Tourismus Tijuanas (Berumen 2011 [2003]: 59). 55 Die Zahlen stammen von dem „US Census Büro“ (www.census.gov, letzter Zugriff: 18.03.2013). Der Bevölkerungsanteil auf der anderen Seite der Grenze im „San Diego County“ wuchs ebenfalls. Um 1900 lebten dort 35 090 Menschen und im Jahr 1930 waren es 209 659 Menschen. Das Wachstum San Diegos und des San Diego County hat verschiedene Gründe, die sich nicht so klar auf die Grenzlage der Stadt beziehen lassen, wie es für Tijuana der Fall ist. Einflussfaktoren bestehen auch im Goldrausch, oder darin, dass San Diego ein wichtiger Militärstützpunkt wurde.

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sie umgebenden touristischen Attraktionen (Méndez Sáinz nach Berumen 2011 [2003]: 59). Diese Attraktionen bestanden aus Cantinas, Tavernen, Bordellen, Wettbüros und Spielhallen (Berumen 2011 [2003]: 61). Die Infrastruktur Tijuanas ermöglichte mit dem Grenzübertritt ein problemloses Überschreiten USamerikanischer Verbote, die in den Praktiken des Alkoholkonsums, des Glücksspiels und des Konsums sexueller Dienstleistungen bestanden. In dieser Phase entsteht auch der Mythos der lasterhaften Grenzstadt Tijuana, der bis heute wirksam tradiert wird, ob nördlich oder südlich der Grenze. Tijuana erlangt als „die Schreckliche“ eine allgemeine Berühmtheit (Berumen 2011 [2003]).56 Strukturell lässt sich Tijuana in dieser Phase zwischen den Jahren 1916 und 1937, der Konstruktion des „Hipódromo“ (erstes Casino und Pferderennbahn) und dem Verbot des Glücksspiels in Mexiko, als eine touristische Enklave, ein Ort „neokolonialer Besatzung“ betrachten (Berumen 2011 [2003]: 85). Nicht nur die Arbeitgeber kamen aus den USA, auch die Arbeiter kamen von Norden über die Grenze, um die Bedürfnisse der Touristen gleicher Herkunft zu bedienen (ebd.).57 Vom Organisationsprinzip lässt sich diese touristische Enklave Tijuana mit den Minenenklaven vergleichen. Dieser Vergleich bietet sich vor allem für die Art der Organisation der Produktion mit ihrem spezifischen System sozialer Relationen an (Berumen 2011 [2003]: 86). Beide Formen von Enklaven liegen abgeschieden von den Zentren des Staates. Sie befinden sich häufig in dünn besiedelten Gebieten. Wenn man von Mexiko Stadt nach Tijuana reiste, führte die Route über die USA (Berumen 2011 [2003]: 87). Der übliche Weg nach Tijuana schloss demnach den Grenzübertritt ein. Von Mexiko aus musste die Grenze demnach sogar zweimal überquert werden, um Tijuana zu erreichen. Die Produktion war auf einen externen Markt ausgerichtet. Im Fall der Grenzstadt Tijuana ist wohl der Dienstleistungssektor von Anfang an bedeutender gewesen, als jener der Produktion. Die geografische Lage ermöglichte eine Monopolisie56 Die Grenze half dabei, die Trennung zwischen dem Verbotenen und dem Akzeptierten zu stärken. Tijuana wurde mit dem Ruf des Lasterhaften belegt. Dieses Lasterhafte bestand etwa in der Gleichsetzung Tijuanas mit einer nicht reproduktiven Sexualität, unnormal und unerlaubt, die einer legitimierten reproduktiven Sexualität San Diegos gegenübergestellt wurde (Berumen 2011 [2003]: 74). Tijuana wurde zu einem Ort der Zulässigkeiten (Berumen 2011 [2003]: 75). 57 Berumen betrachtet Tijuana in dieser historischen Situation mit Foucault als Heterotopie. Die Stadt fungierte als „Gegenort“ zu San Diego und anderen Orten der USA. In Momenten der Krise wurde die Grenze, die den Zugang zu dieser Heterotopie regelte, mitunter ganz geschlossen. Die Heterotopie bestand dabei darin, dass Tijuana die Grenze selbst ist, der Nachtclub derselben (Berumen 2011 [2003]: 107 und 112ff.).

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rung der ökonomischen Aktivitäten (Berumen 2011 [2003]: 86).58 Beide Formen von Enklaven waren auch durch eine soziale Arbeitsteilung geprägt, die einer ethnischen Hierarchisierung entsprach (Berumen 2011 [2003]: 87). Arbeitskonflikte, die hier aufkommen, trugen häufig einen nationalistischen Charakter (ebd.). Die Beschäftigungsfelder hielten vor allem für mexikanische Arbeiter nicht viele Alternativen bereit. Außerhalb der Prostitution und der Arbeiten, die mit dem Vergnügungssektor assoziiert waren, wurden die anderen Beschäftigungsfelder für die US-Amerikaner reserviert. Hieraus lässt sich der nationale Charakter der frühen Arbeiterbewegung Tijuanas erklären. Denn sie richtete ihr Bemühen darauf, für die Mexikaner das Anrecht auf Arbeit in „ihrem Land“ wiederzuerlangen und damit der ethnischen Segregation in den Beschäftigungsfeldern Tijuanas zu entkommen (Berumen 2011 [2003]: 88). John A. Price beschreibt in einer Monografie über die Urbanisierung Tijuanas, wie im Jahr 1923 fünfzig Mexikaner die „Tivoli Bar“ im Zentrum der Stadt stürmten, um gegen die Diskriminierung von mexikanischen Arbeitnehmern zu protestieren (Price 1973: 55). Die Tendenz der Nationalisierung und Mexikanisierung Tijuanas setzte sich nach dem Ende der Prohibition 1933 bis in die 1960er Jahre verstärkt fort (Berumen 2011 [2003]: 89). Tijuana wurde territorial „zurückerobert“. Die Mexikaner wendeten sich etwa über ihre Arbeitergewerkschaften an die Regierung und gestalteten von der Grenze aus die Entwicklung mit, die auch den Charakter der Grenze veränderte. Diese Entwicklung führte dazu, dass aus Tijuana mehr und mehr eine Stadt der Arbeiter mit billiger Arbeitskraft wurde und sich damit – sowie durch entsprechende gesetzliche Vergünstigungen – die MaquiladoraIndustrien ansiedelten. Dieser Prozess stand zudem in Konflikt mit der moralisch besetzten Grenze einer „Landschaft der Laster“. Er brachte eine neue Moralisierung der Stadt in Gang, die schließlich auch vom Zentrum Mexikos aus unterstützt wurde. Diese Moralisierung, die durch lokale Akteure bestimmt wurde, führte zudem dazu, dass die Grenze sich veränderte. Sie begünstigte die Entwicklung von einem Grenzstreifen hin zu einer zunehmend gesicherten Grenzlinie. Mit dieser 58 Tijuana fungiert hier wie eine „Zona Libre“ oder eine „weit offene Stadt“. Diese Offenheit für ausländische Investitionen ist für Berumen auch Anlass, das spätere Phänomen der Maquiladora-Industrien zu interpretieren, die sich aus diesem Schema finanzieller Förderung für ausländische Investitionen auf der Suche nach billiger Arbeit ergeben. In dieser Hinsicht bezeichnet Berumen die Maquiladora-Industrie als Durchreiseindustrie oder auch als Industrie der Übergangslösung. Dieser Charakter spiegelt sich auch in den Fabrikgebäuden wider, die nur für kurze Zeit gebaut werden (Berumen 2011 [2003]: 103).

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Entwicklung sind auch die Genese und der Aufstieg Juan Soldados verbunden. Durch die Veränderung der Grenze hat sich auch die Bedeutung Juan Soldados verschoben. Aus einer lokalen Heiligenfigur wurde zunehmend ein Grenzheiliger. Die Figur Juan Soldado wird durch unterschiedliche Öffentlichkeiten verschieden gedeutet. Die konfligierenden Perspektiven auf die historische Figur Juan Soldado haben eine widersprüchliche Figur erzeugt. Der folgende Abschnitt ist diesen Widersprüchen gewidmet und der historischen Dimension, die dieser Widersprüchlichkeit anhaftet. Juan Soldado als Täter und als Opfer Wer ist dieser Juan Soldado? Ist er ein Täter oder ist er ein Opfer? Maria, eine der Frauen, die Juan Soldados Kapelle regelmäßig besucht, war wie die anderen Menschen an seinem Schrein fest von der Unschuld des Heiligen überzeugt: „Natürlich ist Juan Soldado unschuldig!“.59 Ihre Version der „offiziellen“ Legende Juan Soldados hat sie einem kleinen Buch entnommen, das es überall zu kaufen gibt.60 Maria liest mir die Geschichte vor, da sie die „offizielle Legende“ nicht mit ihren eigenen Worten wiedergeben möchte: Die Geschichte des Lebens von Juan Soldado ist vergessen. Es ist nichts oder fast nichts bekannt über das kurze Leben des Mannes und Soldaten, der so berühmt werden sollte. Das, was man weiß, ist, dass im Jahr 1938 in der Stadt Tijuana ein Verbrechen verübt wurde. Ein Mädchen wurde von einem Mitglied des Militärs vergewaltigt und ermordet. Dieser Täter hat seinen Rang missbraucht, um einem Subalternen [‚Subalterno‛] dieses Verbrechen anzuhängen. Der war ein anonymer Soldat niedrigsten Ranges [‚soldado raso‛], der auf den Namen Juan hörte. Niemand weiß genau, wer der wahre Schuldige des Verbrechens gegen die Kleine war, deren Familie sich noch immer nicht von dem schrecklichen Schmerz erholt hat. Es wird erzählt, dass die Ehefrau des Soldaten Juan, verwirrt durch die Fragen, gegen ihn aussagte, ohne die Konsequenzen abwägen zu können. Ohne Anwalt und ohne richtige

59 Gespräch mit Maria, Tagebuchnotizen, 22.02.2011. 60 Ein Großteil des mexikanischen Buchmarktes besteht aus diesen kleinen Heften, die meistens nicht mehr als hundert Seiten umfassen, eine große Schrift haben und bebildert sind. Die Themen, die sie behandeln, reichen von Alltagspraktiken über Esoterik bis hin zu religiösen Fragen. Ansonsten wird das gesamte Spektrum der Ratgeberliteratur abgedeckt. Beim Besuch einer Buchmesse in Tijuana war ich erstaunt über den Umfang dieses Heftebuchmarktes, der den Bedürfnissen des kleinbürgerlichen Lesepublikums angepasst ist.

134 | DIE GEFEIERTE L INIE Verteidigung wurde er auf einen bekannten Friedhof ‚Puerta Blanca‛61 gebracht, wo das angewandt wurde, was seit langem bekannt ist als ‚ley fuga‛. Sie ließen ihn glauben, dass er ohne ihren Einwand fliehen könne, um dann, als er losrannte, einige Momenten später durch die Kugeln aufgehalten und getötet zu werden. Andere glauben an seine Unschuld und sehen in der Beschuldigung den Missbrauch von Macht. Sie manifestierten ihre Trauer, indem sie ihn bestatteten, Blumen wie auch Kerzen auf sein Grab legten, für seine ewige Ruhe betend. Vielleicht war es die Reue, vielleicht war es die Schuld oder die Empörung, vielleicht auch einfach das Bedürfnis, sich an jemandem festzuhalten, was dazu führte, dass ein gewisser Teil der Bevölkerung in einem exzessiven Kult an ihn erinnert, und einige gedenken seiner wie einem Märtyrer. Die Menschen haben angefangen Juan [den Soldaten] um Beistand, um Gefallen, Heilung und seine Gunst zu bitten. Über dem Grab desjenigen, der für viele der unschuldige Juan war, wurde ein kleiner Raum in Form einer Kapelle62 errichtet, wo man an ihn glauben kann und wo sich alle Arten von ‚Retablos‛, Petitionen, Bildern von Heiligen, Stofffetzen von Kleidung und eine Gipsbüste in der Form eines Soldaten finden, der Juan sein soll, denn von ihm soll es keine Fotografie geben.63 An diesem Ort befindet sich auch ein Spendenkasten für die Almosen seiner Gläubigen, die ohne Zweifel mit Treue von den Kirchendienern verwendet werden. Es heißt, dass Personen mit unterschiedlichsten Bedürfnissen, ‚indocumentados‛, die darauf warten, die Grenze mit der Hoffnung auf ein besseres Leben zu überqueren, Obdachlose, die Zuflucht suchen, bis hin zu einigen Drogenhändlern [‚Narcotraficantes‛], sich mit ihrem Glauben jenem zuwenden, der ein Heiliger ist, ihrem Heiligen Juan Soldado. Mehr als 60 Jahre nach dem Vorfall ist klar, dass der Spendenkasten gute Dividenden abwarf und dem Schatzmeister der Kapelle ein besseres Leben beschert hat. Es wird gesagt, dass es Dank der treuen Verehrung ein saftiges Bankkonto auf den Namen Juan Soldado gibt. 61 „Puerta Blanca“ war der damalige Name des städtischen Friedhofs, wo sich die Kapellen Juan Soldados befinden. Heute trägt er, wie bereits erwähnt, den Namen „Panteón Número Uno“. 62 Da hier vom Grab Juan Soldados die Rede ist und nicht von der Stelle, an der er verstorben ist, kann davon ausgegangen werden, dass die Legende sich hier auf die Kapelle im Zentrum des Friedhofs bezieht. 63 Anmerkung der Verfasserin: Dieser Aspekt entspricht nicht den Gegebenheiten des aktuellen Kultes um Juan Soldado. Eine Fotografie zirkuliert sehr wohl unter jenen, die an Juan Soldado glauben. Durch die Arbeit von Historikern gelangen auch weitere Fotografien aus den Archiven an die Öffentlichkeit und werden zu Devotionalienbildern verarbeitet. Die Bildersituation um Juan Soldado hat sich demnach gewandelt.

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Jeder, der mehr über die Person erfahren will, wird frustriert sein, wie wenig es zu erfahren gibt. Mit ausreichend Neugier kann man aber seine Kapelle besuchen, um sich von seiner Verehrung ein Bild zu machen. (Caraval/del Postigo 2010: 73ff.)64

Angepasst an die Tatsache, dass Juan Soldado eine widersprüchliche Figur ist, wird seine Verehrung in dieser weit verbreiteten Version der Legende „den Anderen“, den Subalternen zugeschrieben. Zu jenen „Anderen“ zählt auch Maria. Für sie stellt diese Version die offizielle Version der Legende dar, und diese handelt von einem unschuldigen Juan Soldado. Ihre persönliche Geschichte Juan Soldados besteht jedoch in den Wundern, die er für sie gewirkt hat. Sie sind von unschätzbarem Wert. Ihre beiden Töchter waren drogenabhängig. Mit der Hilfe Juan Soldados haben sie ihre Abhängigkeit mit einem Entzug hinter sich gelassen. Ihre Schwester konnte keine Kinder bekommen. Durch die Hilfe Juan Soldados ist sie jetzt Mutter von zwei Söhnen. Sie berichtet, dass es wichtig sei, einen der Steine aus Juan Soldados Schrein zu nehmen, wenn man ihn um etwas bittet, und diesen später unbedingt zu ihm zurückzubringen. Mit dieser Handlung werden die Verehrer Juan Soldados räumlich an seinen Schrein gebunden, indem sie sich verpflichten, zurückzukehren. Maria berichtet auch, dass ihr Juan Soldado einmal in ihrem Haus erschienen ist und ihr geraten hat, es mit dem Glücksspiel zu versuchen. Sie erzählte, dass sie daraufhin einhundert Pesos eingesetzt hat und damit viel Geld gewann.65 „Der blutige Tag von Tijuana“ Doch was waren die genauen Umstände, die am Anfang der Genese Juan Soldados zu einem Heiligen stehen? Am 16. Februar 1938 meldet die Presse in San Diego: „Der blutige Tag von Tijuana“66. Circa 1500 Menschen hatten sich versammelt, um Juan Castillo Morales für die Vergewaltigung und die Strangulation des Mädchens Olga Camacho zu lynchen (vgl. Valenzuela 2000: 93). Die Masse zog bis zum Rathaus und setzte die Polizeistation in Brand. Die Grenzübergänge wurden geschlossen.67 Die Stadt war in einem Ausnahmezustand. Viele der Versammelten wurden verhaftet, andere lieferten sich einen Schusswechsel mit der Polizei (Valenzuela 2000: 93). Am Folgetag, dem 17. Februar 64 Übersetzung der Verfasserin. 65 Gespräch mit Maria, Tagebuchnotizen, 22.02.2011. 66 „El día sangriento de Tijuana!“ (In der San Diego Union vom 16. Februar 1938, zitiert nach Valenzuela 2000: 93). 67 Valenzuela vermerkt auch, dass John E. Parish, der Direktor der Feuerwehr von San Diego, die Situation als internationale Angelegenheit beschrieben hat (Valenzuela 2000: 93).

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1938, wurde Juan Castillo Morales öffentlich auf dem städtischen Friedhof „Panteón Número Uno“ durch das Ley Fuga hingerichtet. Anhand historischer Quellen lässt sich der Tag, an dem das Verbrechen verübt wurde und der Juan Soldado zu einer widersprüchlichen Figur machen sollte, in einer Phase schwerer urbaner sozialer Konflikte einordnen. Die Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas brachte, wie beschrieben, ein radikales „moralisches“ Reformprogramm für den Tijuana-San Diego-Sektor: die Schließung des zentralen Casino-Komplexes „Agua Caliente“ am 20. Juli 1935 (Vanderwood 2004: 158ff.). Diese Maßnahme hinterließ 1500 Arbeitslose. Mehr als die Hälfte der Stadtbevölkerung war direkt von der Schließung betroffen (Vanderwood 2004:160). Die CROM, eine Gewerkschaft, verhandelte und scheiterte. Am 2. Januar 1938, nur zwei Wochen vor dem Verbrechen an Olga Camacho besetzten 400 Arbeiter den Casino-Komplex (Vanderwood 2004: 166). Sie führten Verhandlungen, die ebenfalls fehlschlugen. Die CROM rief zum Generalstreik auf, das Rathaus wurde besetzt (Vanderwood 2004: 168). Diese Ereignisse schienen Einfluss gehabt zu haben auf die Entscheidung, ob Juan Soldado schuldig oder unschuldig war. Eine Partei, der Mob, der Juan Soldado lynchen wollte, bestand aus Arbeitern, die unter der privilegierten Gewerkschaft CROM in Aktion traten, die jedoch aufgrund der gesamten Reformen ihre Arbeitsplätze im Vergnügungssektor verloren hatten. Die CTM68, eine weitere zu dieser Zeit noch weniger privilegierte Gewerkschaft, deren Mitglieder nicht im Vergnügungssektor beschäftigt waren, sondern eher Industriearbeiter oder Bauern waren, hatte sich während dieser Ereignisse gegen die CROM und deren Proteste positioniert (vgl. Valenzuela 2000: 97). Die Konflikte um Juan Castillo Morales machen zugleich die historische Auseinandersetzung dieser Organisationen sichtbar. Der Konflikt der CTM und der CROM war Ausdruck der tiefsitzenden sozialen Ungleichheiten, die den Kontext des Falls Juan Soldado ausmachten (Valenzuela 2000: 96). Hinzu kam der dominante Ordnungskomplex der Stadt: Polizei, Feuerwehr, Militär, Rathaus. Es ist keine homogene „Tijuanense“ mit engen nachbarschaftlichen Beziehungen, die am Anfang der Genese des Juan-Soldado-Mythos in Erscheinung tritt. Es war vielmehr eine heterogene städtische Bevölkerung mit unterschiedlichen Privilegien für die verschiedenen sozialen Schichten, die sich in sozialen Konflikten gegenüberstanden.

68 Die CTM gewann später entscheidenden Einfluss, denn sie arbeitete eng mit der PRI zusammen. Heute zählt sie noch immer zu den großen „offiziellen“ Gewerkschaften Mexikos. Häufig wird ihr Versagen vorgeworfen, weil sie nicht imstande sei, die Beschäftigten der Maquiladora-Industrien zu vertreten und zu unterstützen.

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Die Gestalt Juan Soldados wurde mit verschiedenen Perspektiven unterschiedlich gedeutet, die diesen konfligierenden sozialen Gruppen der Stadt entsprachen. Diese Perspektiven entsprachen unterschiedliche Öffentlichkeiten in der Wahrnehmung Juan Soldados als schuldig oder als unschuldig, als Täter oder als Opfer. Die soziale Differenzierung, die sich ausgehend von diesen Zusammenhängen in der Verehrung Juan Soldados widerspiegelt, findet sich auch in den zahlreichen wissenschaftlichen Studien zur Soldado-Figur wieder. Die Bekundung seiner Unschuld und seine Verehrung werden in diesen Betrachtungen immer in Hinblick auf soziale Aspekte und Subalternität bestimmter Bevölkerungsgruppen an der Grenze gelesen. Der US-amerikanische Volkskundler James S. Griffith hat sich mit den Volksheiligen des Grenzgebiets beschäftigt. Er beschreibt die Grenze als Magnet und als Ort mit Spannungen (Griffith 2003: 14). Diese Spannungen kommen daher, dass an der Grenze zwei kulturelle Zonen aufeinander treffen, eine des Wohlstands und eine der Armut (ebd.). In diesem Grenzland, wo „Risiken und Prämien gleichsam hoch sein können“, siedelt Griffith seine Betrachtungen an (ebd.). Dort werden Volksheilige populär, die außerhalb der formalen Struktur der Kirche Verehrung finden. Juan Soldado ist einer dieser Volksheiligen des Grenzgebiets, die Griffith beschreibt. Er bezeichnet ihn auch als „Geist“, spirit (Griffith 2003: 21). Als Fürsprecher für die Opfer („victim intercessor“) intervenieren Geister wie Juan Soldado zu Gunsten ihrer Bittsteller. Neben ihrem gewaltvollen Tod ist nichts über ihr Leben bekannt (Griffith 2003: 40). Woher die historische Version seiner Unschuld kommt, stellt Griffith jedoch vor ein Rätsel, denn, so vermerkt er, die Leute Tijuanas hätten kurz vor seinem Tod noch an seine Schuld geglaubt (Griffith 2003: 40f.). Beweise finden sich in den Zeitungsartikeln dieser Tage. In jenen wird berichtet, dass ein Lynchmob durch die Straßen Tijuanas zog, um den vermeintlich schuldigen Soldaten für die begangene Vergewaltigung und den Mord zu verurteilen. Juan Soldados Geschichte ist demnach umgeben von widersprüchlichen Öffentlichkeiten: „Changes in popular opinion, especially in a strongly class-oriented society, are often almost impossible to trace, and while there may well be documentary evidence pointing to an answer; I have not found it in my review of the secondary literature“ (ebd.). Diese widersprüchliche historische Öffentlichkeit könnte darauf hindeuten, dass die historische Situation von den Menschen verschiedener gesellschaftlicher Klassen unterschiedlich gedeutet wurde. Diese Widersprüchlichkeit in der Geschichte Juan Soldados ist es, die seine Bedeutung in den öffentlichen Diskursen des Grenzgebiets fortwährend bestimmt hat. So beschreibt der Kulturwissenschaftler Valenzuela Arce die Verehrung Juan Soldados als eine Form populärer Religiosität, die als typischer Ausdruck für die

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Bedingungen des Grenzgebiets gelesen werden können. Die Verehrung Juan Soldados besteht für Valenzuela in einer chiliastischen Religiosität, die sich säkularisiert, indem sie traditionelle religiöse Bilder aufgibt, gleichzeitig aber fundamentale religiöse Elemente der populären Religiosität beibehält. Ein weiteres Element dieser populären Religiosität ist die soziale Wehrlosigkeit, die in der Suche nach einem magischen Ausweg mündet (Valenzuela 2000: 102). Juan Soldado ist in der populären Religiosität von den Widersprüchen seiner Geschichte befreit – er ist Opfer. Er wurde, so schildert Valenzuela, von dem General benutzt, um die Schuld abzuwälzen (ebd.). Zudem wird die Gestalt Juan Soldados von Valenzuela als „Sammler von Mikro-Geschichten“ bezeichnet. Diese Mikro-Geschichten beschreiben ein komplexes Netz, in dem sich persönliche Biografien mit der sozialen Geschichte verbinden. Innerhalb dieses Netzes nimmt Juan Soldado einen wichtigen Platz in einer kollektiven Imagination ein (Valenzuela 2000: 104). Auch Ungerleider konstatiert diese Komplexität der populären Religiosität Tijuanas und der Grenze im Hinblick auf soziale Differenzen (Ungerleider 1999: 89). Die urbane Grenzsituation auf der Seite Tijuanas besteht aus Armut, dem Fehlen öffentlicher Dienstleistungen und dem Fehlen öffentlicher Infrastruktur. Vor diesem Hintergrund eines „urbanen Präkariats“ betrachtet Ungerleider das Phänomen populärer Religiosität Juan Soldados (Ungerleider 1999: 90). Mit den Begriffen des berühmten mexikanischen Kulturwissenschaftlers Nestor Canclini nimmt er die populäre Religiosität um Juan Soldado als ein Beispiel dafür, wie Symbole durch mobile Menschen in Zusammenhängen von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung neu zusammengesetzt werden (Ungerleider 1999: 91).69 Ungerleider sieht die Verehrung Juan Soldados als „Beschäftigung der mittellosen Leute“, während die vermögende Klasse ihre Freizeit in den Shoppingzentren auf der anderen Seite der Grenze in San Diego verbringt (Ungerleider 1999: 92). Die Gründe, warum sich die untere Klasse Juan Soldado zuwendet, sieht Ungerleider nicht darin, dass sein Bild historisch wertvoll oder besonders alt ist, sondern vielmehr darin, dass er unter einem ungerechten System gelitten hat

69 Canclini sieht in diesen Prozessen den Verlust der „natürlichen Verbindungen“ zur Gesellschaft und zum Territorium. In diesem Verlustgeschäft wird dann Neues mit Altem, also das Mitgebrachte mit dem Vorgefundenen, neu zusammengesetzt (Canclini 1989: 288). Dabei muss dann auch Geschichte neu erzählt werden, denn jegliche Erinnerung ist verwundbar (vgl. Aguilera 2011). In diesem Prozess wird Kultur zur Ware, denn sie wird konsumierbar (vgl. Appadurai 1986 The Social Life of Things oder die Theorien zum Konsum von Bourdieu 1982).

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(Ungerleider 1999: 94). Damit siedelt auch Ungerleider die Geschichte der Verehrung Juan Soldados in einer spezifischen sozialen Schicht an.70 Folgt man diesen Annahmen, nach denen Juan Soldado und seine Verehrung Ausdruck von sozialer Differenzierung in einer Grenzstadt ist, die sich im Prozess der Urbanisierung befindet, dann kann davon ausgegangen werden, dass er zunehmende Relevanz für die soziale Differenzierung hat, die durch die Grenze vorangetrieben wird. Die soziale Differenzierung von Statusunterschieden, die in verstärktem Maße durch das aktuelle Grenzregime produziert wird, ist so zunehmend Teil der Verehrung Juan Soldados. Statusunterschiede werden in seine Öffentlichkeit eingeschrieben. Mit diesem Prozess wird Juan Soldado zunehmend zum Grenzheiligen erklärt, weil er den Menschen bei Statusproblemen im Grenzkontext hilft. Zu seinen Verehrern zählen somit zunehmend vor allem jene, die einen problematischen legalen Status an der Grenze besitzen und jene, die die Grenze regelmäßig überqueren. Der zweite Abschnitt dieses Unterkapitels ist daher der Bedeutung Juan Soldados als Grenzheiligem gewidmet. Juan Soldado, ein „Grenzheiliger“? Juan Soldado hilft als Heiliger, Krankheiten zu heilen, bei der Beschaffung offizieller Dokumente, jemanden vor dem Gefängnis zu bewahren oder einen Angehörigen aus dem Gefängnis zu befreien. Er hilft bei Geldnöten und dabei, die entfernten oder verschollenen Verwandten wiederzufinden. Hin und wieder hilft er jenen, die ihn um Hilfe bitten, um auf die andere Seite der Grenze zu gelangen. Während „Soldatito“ häufig als Heiliger der Subalternen angesehen wurde, wird er inzwischen in einer breiten Öffentlichkeit als „Heiliger der indocumentados“ oder als „Grenzheiliger“ betrachtet. Ein Aspekt der Subalternität

70 „[…] algunas autoridades decían que fue inocente, otros que fue culpable de ese crimen, pero como nunca nos dicen la verdad aquí en Tijuana, yo se que fue inocente por los milagros que nos hace“ [Übersetzung der Verfasserin] (Ungerleider 1999: 92). Der Historiker Paul Vanderwood beschreibt die Figur Juan Soldados in einer Monographie im Vergleich zu den anderen Autoren mit großer Ambivalenz. Er versucht nur im Ansatz die Widersprüche der historischen Figur in seiner Historiografie aufzuarbeiten. Juan Soldado ist in seinen Betrachtungen zugleich „Vergewaltiger, Mörder, Märtyrer und Heiliger“ (Vanderwood 2004). Er fragt sich, wie es möglich ist, dass ein Mörder und Vergewaltiger als Heiliger verehrt wird (Vanderwood 2004: xi). Vanderwood sucht jedoch die Ursachen für die Ambivalenz der Figur Juan Soldados nicht in eben diesen historischen Umständen, da er von einer homogenen „Tijuanense“ ausgeht (Vanderwood 2004: 169).

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scheint damit im Kontext der Soldado-Verehrung stärker geworden zu sein, jener des problematischen Status an der Grenze. Alle Autoren, die bereits im vorangegangenen Kapitel zitiert worden, fragten auch nach der Rolle Juan Soldados als Grenzheiligem. „[…] Father Cisneros is emphasizing Juan’s role in getting Mexican People across the United States border. Two of three testemonials […] also deal with border issues“, lautet das Zitat eines Zeitungsartikels, den Griffith für die Frage heranzieht, ob Juan Soldado eine Bedeutung als Grenzheiliger habe (Griffith 2003: 41). Auch Valenzuela betont diese Position des Heiligen, der für ihn über die Verflechtung der persönlichen Geschichten hinaus auf die Geschichte einer sozialen Schicht verweist. Um diesen Punkt deutlich zu machen, verweist er auf Votivgaben, die zum Dank für einen erfolgreichen Grenzübertritt in Juan Soldados Kapelle hinterlassen worden waren (Valenzuela 2000: 104ff.). Valenzuelas Juan Soldado nimmt eine Position auf der Grenze ein, nicht nur, wegen der Geografie seiner Verehrung an einer Staatsgrenze, sondern auch wegen dem Symbolismus der Grenze, die ihm anhaftet, weil seine Verehrer zum Beispiel ihre legalen Dokumente für den Grenzübertritt an dem Ort seiner Verehrung hinterlegen (vgl. Valenzuela 2000: 106). Ungerleider drückt es am prägnantesten aus, wenn er herausstellt, dass der „öffentliche Friedhof der Stadt Tijuana nur 500 Meter von der Grenze entfernt ist“ (Ungerleider 1999: 94f.).71 Er vermerkt, dass „an diesem Ort ein Strom von Migranten vorbeireist, die ‚über Bord gehen‘72 wollen, um in die USA zu gelangen“ (ebd.). Der Schrein Juan Soldados liegt, so formuliert es Ungerleider, „auf ihrem Weg“ (ebd.). Er schreibt weiter, dass Juan Soldado Opfer eines ungerechten Systems und von Machtmissbrauch war. Viele Migranten fühlen sich als Opfer eines Systems, dass sie dazu bringt, ihren Herkunftsort zu verlassen und an die Grenze zu kommen, nach Arbeit und einer besseren Zukunft für ihre Familien suchend. Ungerleider betrachtet Juan Soldado, wie auch die Migranten als Opfer (ebd.). Er fährt fort zu verdeutlichen, dass Juan Soldado Ausdruck des Widerstandes gegen seine Ankläger ist und dass die Migranten und Armen in Juan Soldado ein Beispiel für den Kampf um das Überleben sehen (Ungerleider 1999: 95). Tatsächlich befinden sich an Juan Soldados Schrein einige Hinweise, dass er neben den vielen Wundern, die er zu wirken imstande sei, auch ein guter Helfer im Kontext der Grenze sei. Folgende Danksagungen verweisen auf seine Bedeutung in der Grenzsituation:

71 Es sind sogar nur 200 Meter vom Eingang des Friedhofs bis an den Grenzzaun. 72 Ungerleider benutzt die verbreitete Redewendung: „Brincar al bordo“, die „über Bord gehen“ bedeutet.

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Juan Soldado, Juanito, ayúdame, que me den los papeles, 19.03.2011 [„Juan Soldado, Juanito, hilf mir, dass sie mir die Papiere geben“]. Gracias por mis papeles Juan Soldado, 04.11.2011 [„Danke für meine Papiere Juan Soldado“]. Muchas Gracias Juanito, ayudarme con los papeles, 13.01.2011 [„Vielen Dank Juanito, hilf mir mit den Papieren“]. San Juan Soldado, Le pido que entersedas a Dios que mi nieta C,Y,P,G, que no tenga problemas emigración que sea rápido y sin problemas (…) Gracias, 03.08.2011 [„San Juan Soldado, ich bitte ihn, dass er Gott veranlasst, dass meine Nichte C,Y,P,G keine Probleme mit der Emigration hat, dass es schnell geht und ohne Probleme (…) Danke“]. Gracias Juan Soldado para haber recuperado mis papeles, 03.12.2010 [„Danke Juan Soldado, dass ich meine Papiere zurückbekommen habe“]. Da le la [unlesbar] de Migración [ohne Datum, geschrieben auf ein Foto; „Gib ihm die (…) der Migration“]. Juan soldado, grasias por ayudarme a sacar mi visa te agradesco con todo mi corazón, tengo 8 anos, grasias [ohne Datum; „Juan soldado, danke dass du mir geholfen hast mein Visum zu bekommen, ich danke dir von ganzem Herzen, ich bin acht Jahre alt, danke“]. Gracias Juan Soldado por el milagro concedido por ver recuperado mis papeles, 07.03.1994 [„Danke Juan Soldado für das Wunder, das du mir gewährt hast, dafür, dass ich meine Papiere zurückbekommen habe“]. Gracias Juan Soldado para haberme concedido a emigración [ohne Datum; „Danke Juan Soldado, dass du mir die Emigration gewährt hast“].73

Auffällig ist, dass die Danksagungen, die sich auf den formalen Status von Personen beziehen, meistens mit einfachen Mitteln in der zentralen Kapelle Juan Soldados angebracht sind. Sie unterscheiden sich stark von den umfangreichen Votivgaben, die in Form von gravierten Steinplaketten das Innere dieser Kapelle schmücken und meistens im Namen ganzer Familien als Dank für mehrere Wunder hergestellt wurden.

73 Tagebuchnotizen, 15.11.2010.

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Mitunter hinterließen Besucher an dieser Kapelle Juan Soldados Kopien der Dokumente, die sie benötigten, um einen offiziellen Einreisestatus in die USA zu erhalten. Dort wurden etwa Kopien von Ausweispapieren abgelegt, die von den US-Behörden abgestempelt worden waren. Manchmal wurden auch Listen dort hinterlassen, die zum Erwerb eines Visums benötigt wurden.74 Am häufigsten wurden jedoch Deportationspapiere, Departure Verification, im Schrein mit der Bitte hinterlegt, eine Möglichkeit zu erwirken, dass die betreffende Person die Grenze wieder überqueren kann. Den Deportationspapieren kann man bestimmte Details der Ausweisung entnehmen, wie den Namen, Aliens Full Name, den Ort, an dem die betreffende Person aufgegriffen wurde, sowie durch welchen Beamten. Zudem befindet sich das Foto, Fotograf of the Alien removed, und der Name der betreffenden Person mit seinem Fingerabdruck, Right index Fingerprint of Alien removed, auf dem Papier. Dem offiziellen Papier ist auch zu entnehmen, über welchen Zeitraum die betreffende Person die USA nicht mehr betreten darf, ob es fünf, zehn, zwanzig Jahre sind oder ob es sogar für immer ist. Die Dauer hängt davon ab, ob eine Person schon einmal zu einem früheren Zeitpunkt deportiert wurde oder ob sie eines Verbrechens beschuldigt wird. Die Kapelle Juan Soldados wird so zu einem Ort, an dem die offiziellen Dokumente von Migranten ihre Geschichte mit formaler Exaktheit und in allen Details wiedergeben, bis hin zu der Art, wie die betreffende Person die Grenze rücküberquert hat. Insgesamt produzieren diese Danksagungen im Grenzkontext und die Zeugnisse formaler Grenzproblematiken eine Öffentlichkeit. Die Bedeutung Juan Soldados im Grenzkontext bestätigt zugleich, dass die Öffentlichkeit, welche die Kapelle produziert, eine Verschiebung zu Problemen mit Status im Umfeld der Grenze erfahren hat. Viele der Personen, die sich zu den Kapellen Juan Soldados begeben, sehen in Juan Soldado einen Heiligen im Grenzkontext. Martha, eine Frau um die fünfzig, die ihr Leben in Tijuana verbracht hat, erzählte die Geschichte Juan Soldados sogar noch expliziter als Geschichte der Grenze. In ihrer Version ist Juan Soldado nicht auf dem Friedhof gestorben, sondern genau an der „Puerta Blanca“. Die „Puerta Blanca“ – zugleich der alte Name des Friedhofs – ist in Marthas Version der Geschichte ein alter Grenzübergang, der sich genau an der Grenze im Umfeld des Friedhofs befunden habe. Juan Soldados Hinrichtung, so erzählt sie, sei in jenem Moment vollstreckt worden, als er im Begriff war, die

74 Den Danksagungen in Form von Votivgaben entsprechen jedoch ebenso viele andere Bitten, denen um Genesung, Lösung finanzieller Probleme, um das Wiederfinden geliebter und verwandter Menschen, um Arbeit, neben Bitten, die den komplexen Problemen des Lebens und Wirtschaftens in städtischen Lebensbereichen entsprechen.

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Grenze in Richtung der USA zu überqueren.75 Tatsächlich war die „Puerta Blanca“ ein altes Zollhaus in unmittelbarer Nähe des Friedhofs. In dem Bild Juan Soldados als Grenzheiligem werden gleichzeitig die diversen Aktivitäten sichtbar, mit denen die Menschen im Grenzgebiet auf die Zwänge des Grenzregimes reagieren, um ihr Leben zu gestalten. Zumindest eine der beiden Kapellen für Juan Soldado ist gefüllt mit gemalten Bildern, Collagen und Spuren verschiedener Rituale, die sich in die einzigartige Öffentlichkeit dieser Kapelle einschreiben. In der zentralen Kapelle befinden sich Listen von Personen mit den Kopien ihrer Aufenthaltsgenehmigungen als Resident Alien, die sich nun im Zusammenschluss dankend an „Juanito“ wenden (siehe Abbildung 15: 205). Es gibt ganze Körbe mit Steinen von Dankenden, die von einzelnen Personen stellvertretend für andere über die Grenze gebracht werden und dabei die ökonomischen Implikationen des Dankens deutlich machen, weil sie beinahe an eine Form der wirtschaftlichen Transaktion erinnern. In den Praktiken der Verehrung Juan Soldados als Grenzheiliger offenbart sich eine Logistik, die den Bedingungen der Grenze folgt. Nicht jeder bringt die Zeit und das Geld auf, um dem Heiligen persönlich an seinem Schrein zu danken und aus diesem Grund die Grenze zu überqueren, um sich anschließend in die lange Schlange am Grenzübergang zu begeben. Die widersprüchlichen Öffentlichkeiten und ihre Versionen für die Verehrung Juan Soldados finden ihre Entsprechungen in den sozialen Differenzen, die das Grenzregime schafft. Einige Menschen, die in der Grenzstadt Tijuana leben, überqueren die Grenze und andere nicht. Diese sozialen Differenzen haben räumliche Differenzierungen in der Verehrung Juan Soldados zur Folge. Ablesbar wird diese räumliche Differenz an der Existenz der zwei Kapellen für Juan Soldado, die sich beide auf dem Friedhof „Panteón Número Uno“ befinden und die sich beide unterschiedlich im Kontext der Grenze positionieren lassen.

4.5 D IE K OMPLIZENSCHAFT

EINES

G RENZHEILIGEN

„Juan Soldado ist unschuldig!“ Über diese Tatsache herrscht Einigkeit unter jenen, die an seine Wunder glauben oder die seine Kapelle besuchen. Dennoch gibt es innerhalb der Verehrung Juan Soldados unterschiedliche Positionen, die als eine Auseinandersetzung mit der Grenzsituation betrachtet werden können. Diese Positionen ergeben sich durch die räumliche Lage der beiden Kapellen für Juan Soldado auf dem Friedhof, auf dem er verstorben ist und begraben liegt.

75 Gespräch mit Martha, Tagebuchnotizen, 13.11.2010.

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Wenn von Juan Soldado als „Grenzheiligem“ die Rede ist, dann wird dieses Wissen vor allem an der zentralen Kapelle des Friedhofs situiert. Dort befinden sich die Danksagungen für Grenzübertritte, die Kopien der Deportationspapiere und der erhaltenen Resident Cards. Diese Kapelle generiert eine Öffentlichkeit, in der Statusunterschiede der Grenze über die Figur des Grenzheiligen Juan Soldados verhandelt werden. Gleichzeitig wird diese von einer reisenden Öffentlichkeit geprägt, die eine machtvolle Position an der Kapelle einnimmt und gleichzeitig ihre Interessen einer etablierten Positionierung im urbanen Grenzgebiet stärkt, um sich von den übrigen Öffentlichkeiten der Stadt abzugrenzen. Dadurch werden andere Kapellenbesucher, deren Position an der Grenze unbestimmt ist, von dieser Öffentlichkeit ausgeschlossen. An diesen Kapellen wird so auch jeweils unterschiedlich situiertes Wissen produziert.76 Die zentrale Kapelle dient für die Produktion einer Öffentlichkeit, die sich zur Grenze positioniert. Alle anderen, die Juan Soldado aus anderen Motiven verehren und deren Position zur Grenze irrelevant ist, weichen an die hintere Kapelle aus. Diese räumliche Differenzierung der Soldado Verehrung zeigt, dass Komplizenschaften zerfallen, wenn sie nicht mehr auf ein gemeinsames Dilemma hin ausgerichtet sind und so ein gemeinsames Projekt verfolgen. Juan Soldado wird als Grenzheiliger verehrt, wenn die Interessen der Komplizen mit der Grenze verbunden sind. Diese „Grenzheiligkeit“ Juan Soldados entspricht mitunter auch politischen oder sozialen Projekten, welche die Performativität religiöser Bereiche betreffen. Die Akzeptanz dieses Bildes eines „Grenzheiligen“ durch die verschiedenen Besucher, vor allem durch die einer Tijuanense, können als Komplizenschaft betrachtet werden. Lokale und mobile Formen seiner Verehrung bilden in der Version einer derartigen Tijuanense einen Zusammenhang. Juan Soldado ist zugleich ein Lokalheiliger und ein Grenzheiliger. Aus dieser Perspektive scheint es, als wenn die Gewinner, also jene, die sich erfolgreich im Grenzgebiet etablieren konnten und die Grenze zum Anlass für die Gestaltung neuer Lebensentwürfe nahmen, diejenigen sind, die das Bild des Heiligen am stärksten beeinflussen. Die Verehrung Juan Soldados verbindet beide Seiten der Grenze. Jene Verehrer, die sich in ihren Biografien und alltäglichen Handlungen auf beiden Seiten der Grenze positionieren, die Chicanas/os, schreiben sich erfolgreich in die Verehrung des Heiligen ein und beeinflussen sein Bild. Damit wird die Verehrung 76 Für Harraway ist die Situiertheit von Wissen mit einer lokalen Sichtweise verbunden, die von ihrer Position abhängig ist (Harraway 1991: 188). Sie fragt demnach, welche Position es in spannungsgeladenen Situationen, Widerständen und Komplizenschaften einzunehmen gilt. Sie argumentiert schließlich für eine Lokalisierung, Situierung und Positionierung von Epistemologien wo, Anteilnahme die Kondition für das Gehörtwerden ist und nicht der Anspruch an einen Universalismus (Harraway 1991: 195).

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Juan Soldados zu einer Praxis im Grenzgebiet, und die Grenze wird zum Anlass seiner Verehrung. Juan Soldado ist als Soldat nicht ein Behüter des Grenzregimes, sondern ein Vermittler der schwingenden Grenze und der Unternehmungen von Menschen, die den Raum dieser Schwingung bestimmen. So hat die Tijuanense das Soldado-Bild der Chicanas/os übernommen: das Bild Juan Soldados als Grenzheiligen. Deutlich wurde das in Marthas Erzählung über Juan Soldado, der am Grenzübergang gestorben war (vgl. Kap. 4.2). Im Spiegel machtvoller Strategien, an dem man das Konzept der Komplizenschaft stets messen muss, wird auch hier deutlich, dass Überredung und Kollaboration die maßgeblichen Strategien sind, mit der sich die Komplizenschaft dieses Grenzheiligen hergestellt hat. Dabei haben vor allem die beiden Gruppen der Tijuanense und der Chicanas/os gemeinsam eine Öffentlichkeit von „Überredung“ und „Kollaboration“ hergestellt.77 Diese Öffentlichkeit ist jedoch fragil. Die zentrale Kapelle wird so gebaut, dass jeder seinen intimen Moment mit dem „Grenzheiligen“ vollziehen kann. Gleichzeitig wird die hintere Kapelle zum Rückzugsort für jene, die kein Interesse am Grenzübertritt haben. Diese räumliche Differenzierung zeigt, dass jene, die die Grenze überqueren, eine privilegierte Position im Zentrum der Verehrung Juan Soldados und ihrer Öffentlichkeit einnehmen. Während das vorhergehende Beispiel der Posadas Sin Fronteras eine unmittelbare Öffentlichkeit an der Grenze hervorbrachte, sind im vorliegenden Beispiel zugleich die Folgen derartiger Verwicklungen sichtbar, die für sich eine 77 Eric Wolf konnte zeigen, dass auch die Virgen de Guadalupe unterschiedliche Öffentlichkeiten und Aspekte in sich vereint, die man ebenfalls als konfliktreich begreifen könnte: Die Virgen de Guadalupe als Mastersymbol ermöglicht es verschiedenen Gruppen, miteinander zu verhandeln. Dabei kreieren sie unterschiedliche Repräsentationen ihrer Virgen de Guadalupe und speisen diese in das Mastersymbol (Wolf 1958: 34). Ihren Ursprung hat das Mastersymbol der Guadalupe in der Kolonialgesellschaft, in der kulturelle Formen erfunden wurden, in denen parallel unterschiedliche Interessen ausgedrückt werden konnten (Wolf 1958: 35). Das Fragmentarische mexikanischer Geschichte untersucht Claudio Lomnitz anhand des Todes als mexikanischem Nationalsymbol. Das Symbol ist nach Lomnitz verbunden mit der fragmentarischen Öffentlichkeit Mexikos. Mexiko hat sich selbst als „Nation von Feinden“ definiert. Es sind Feinde, die verstanden haben, dass sie sich nicht ausschalten können. Auseinandersetzungen fragmentieren die nationale Öffentlichkeit, statt sie zu vereinheitlichen (Lomnitz 2005: 20f.). Der mexikanische Totentotemismus, wie Lomnitz ihn nennt, verweist auf strukturelle Differenzen der Formation von Nationen in starken und in schwachen Nationen. In dieser Weise betrachtet Lomnitz Mexiko als einen postimperialistischen und postkolonialistischen Staat (Lomnitz 2005: 28).

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Öffentlichkeit beansprucht: der Rückzug aus der Öffentlichkeit in die privaten Bereiche einer kleinen Kapelle, die vor den Blicken anderer Besucher schützt und die Abdrängung und Differenzierung von Besuchern, die die Grenze nicht überqueren können und wollen. An diesen räumlichen Spuren der Verehrung Juan Soldados lässt sich die soziale Geografie der Grenzstadt Tijuana ablesen. Jene, welche die Grenze überqueren und zu einer reisenden Öffentlichkeit gehören, befinden sich räumlich im Zentrum des Friedhofs. Jene anderen, die die Grenze nicht überqueren, befinden sich räumlich am Rand der Juan Soldado-Verehrung des Día de Juans. Dieser räumliche Zusammenhang macht deutlich, dass sich die Statusunterschiede in der Position zur Grenze auch in den räumlichen Differenzen der SoldadoVerehrung widerspiegeln.78 Diese räumliche Differenzierung ist Ergebnis einer Verflechtung, bei der Differenzen gegenüber den Verbindungen wichtiger wurden und die daher Machtverhältnisse verstärkt haben. Die räumliche Gegebenheit der Soldado-Verehrung und ihr historischer Zusammenhang zeigen daher, wie fragil die Zusammenschlüsse sind. Im Zerfall verstärken sie das Verhältnis der Macht. Zwänge treten in das Verhältnis aus Überredung und Kollaboration ein. Im vorliegenden Fall vollzieht sich dieser Zwang entlang einer räumlichen Differenz der Verehrung Juan Soldados. Die Grenze wird dadurch für einige Besucher stärker gezogen und ihre Position an derselben marginalisiert. Im letzten analytischen Kapitel der Arbeit werde ich mich einem Zirkulationsraum der Grenze mit diversen Handlungsorten widmen, den ich als „neue Chichimeca“ bezeichne. Die Gründe, die verschiedenen Handlungsorte des folgenden Kapitels zusammenzufassen, liegen darin, dass sie sich alle zu einer neoindigenen Grenzlandschaft in Beziehung setzen und mit dieser unterschiedliche Differenzen der Grenze verhandeln. In dem folgenden Kapitel widme ich mich damit zum einen den Ritualen der Kumiai, dann den Festlichkeiten, die am Fuße des heiligen Berges „Cuchumaa“ stattfinden und schließlich der Danza Azteca. Alle diese Handlungsorte zusammengenommen, weisen Gemeinsamkeiten auf. Diese Handlungsorte werden weiterhin durch die Mobilität bestimmter Akteure im Grenzgebiet verbunden. Diese Verbindung wird durch die Grenze intensiviert.

78 Die räumliche Differenzierung der beiden Kapellen erschließt sich demnach über einen historischen Materialismus, wie er von LeFebvre vertreten wird. Hier lässt sich nachvollziehen, was LeFebvre die „Produktion von Raum“ nennt. Sozialer Raum wird erst durch räumliche Praktiken produziert (vgl. LeFebvre 2010 [1974]).

5. Auf der Grenze einer „neuen Chichimeca“

Viel lauter als das Hupen der Autos klingen die Rasseln und Trommeln einer Gruppe von Menschen, die sich in einem städtischen Park in San Diego versammelt haben und dort inmitten eines Gewirrs aus mehrspurigen Straßen den Tanz der Azteken tanzen. „Wir sind Chichimeca“ berichtet mir einer der Tänzer. „Der Boden, auf dem wir tanzen, ist Aztlán.“1 Die Chichimeca, „Chichi“ – Söhne, der „meca“ – Hündin, waren aus der Perspektive der urbanisierten Mexica des präkolonialen Mesoamerikas die Bewohner der marginalen Wüstenregionen im Norden. Gleichzeitig bezeichnet der Begriff die Gegend, aus der die Mexica einst selbst in den fruchtbaren Süden gewandert war. Der Begriff dient zudem als wissenschaftliche Kategorie in den Geschichtswissenschaften, der Archäologie und der Ethnologie, wo er zur Bezeichnung der Kontaktzone zwischen Mesoamerika und dem Südwesten der USA dient (Di Peso 1974, Wilcox 2000, Bonfiglioli 2008). Aktuell wird der Begriff der Chichimeca im Grenzgebiet populär. Aus der Fremdbezeichnung wird eine Selbstbezeichnung – „soy chichimeca“. Vor allem für die Bewegung einer neoindigenistischen Mexica im Grenzgebiet ist der Terminus als Referenzpunkt von Bedeutung (siehe Abbildungen 2231: 209ff.) „Aztlán“ wird die Gegend genannt, in der diese alte Chichimeca siedelte. Mit der Chichimeca sind große historische Erzählungen verbunden, aber auch viele Legenden. Aus der Verwendung der Bezeichnung im Zusammenhang mit neoindigenen Bewegungen des urbanen Grenzgebiets zwischen Tijuana und San Diego leite ich für diese Arbeit den Begriff einer „neuen Chichimeca“ ab. Diese „neue Chichimeca“ lässt sich als eine Bewegung neoindigener mobiler Akteure verstehen, die an die Bedingungen der Grenze geknüpft ist. Sie setzen sich mit der Grenze, mit ihren räumlichen Bedingungen und mit ihren Statusfragen auseinander. Die Akteure dieser einmal mehr, einmal weniger stark religiös geprägten Bewegung verhandeln aktualisierte populäre Traditionen

1

Tagebuchnotizen, 13.06.2012.

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einer Mexica des Zentrums von Mexiko, populäre Glaubensinhalten der Lakota und der lokalen Religionen der indigenen Gruppen der Kumiai des Grenzgebiets (vgl. Olmos 2008: 47).2 Die „neue Chichimeca“ verbindet dabei den Status der Grenze und die Differenzen, die sie produziert, mit Fragen der Indigenität. Die Anhänger dieser „neuen Chichimeca“ können die Grenze überqueren. Sie besitzen häufig den Status Resident Alien oder Border Crossing Cards. Dennoch ist ihr Status an der Grenze nicht durchweg unproblematisch und somit Gegenstand diverser Verhandlungen. Frederic Barth hat die transaktionalen Aspekte ethnischer Kategorien untersucht und treffenderweise festgestellt, dass sie, wenn sie als spezifische Form von Status gelten, anderen Formen von Status übergeordnet werden und deren zulässige Konstellationen definieren (Barth 1998 [1969]: 17). Wenn ethnische Kategorien als übergeordneter Status wirksam werden, können sie dem Status, der durch die Grenze produziert wird, als eigene Ordnung entgegen gesetzt werden.3 Zu den populären Ritualen, Objekten und Handlungen dieser Bewegung zählen vor allem die Rituale einer mexicanidad, die sich aus dem mexikanischen Altiplano und den mesoamerikanischen Zentren speisen (Olmos 2008: 48).4 Zu diesen sich wiederholenden rituellen Handlungen gehört etwa die Schaffung eines rituellen Kreises der Teilnehmer. Im Zentrum werden die Objekte der rituellen Handlungen aufbewahrt. Außerdem wiederholt sich die Verwendung bestimmter Ausdrücke auf Nahuatl, vor allem das rituell aufgeladene Wort ometeotl 5, der Name der dualen Gottheit des aztekischen Götterpantheons (von ome – „Zwei“, und teotl – „Gott“), das Verbrennen von weißem Salbei und vor allem von copal, Baumharz, um Ritualteilnehmer und Objekte zu reinigen. Für diese 2

Die neoindigenen Bewegungen des Grenzgebiets, von Olmos auch als „Mexicanistas“ bezeichnet, haben in den letzten fünfzehn Jahren an Bedeutung gewonnen. Diese Bewegung umfasst ideologische Tendenzen. Sie ist durch eine massive Teilnahme von Mestizen geprägt, die sich prähispanische Glaubensinhalte, vor allem aber die alte Philosophie der Mexicas aneignen (Olmos 2008: 53).

3

Die Wirksamkeit ethnischer Kategorien für bestimmte Strategien hat auch Gayatri Chakravorty Spivak festgestellt und sie als „strategische Essentialisierung“ im Zusammenhang mit postkolonialen Projekten beschrieben (vgl. Spivak 1988).

4

Olmos nennt hier zudem die Bedeutung von Ritualen der Peyote-Religion, die durch neoindigenen Gruppen in das Gebiet eingeführt wurden (Olmos 2008: 48). Während meiner Aufenthalte habe ich jedoch kein derartiges Ritual erlebt und auch nichts von der Durchführung derselben erfahren.

5

Die Originalbezeichnungen sind in der Öffentlichkeit einer „neuen Chichimeca“ wichtig, sie werden daher auch hier ernst genommen. Mit den Originalbezeichnungen wird zugleich die Richtung markiert, aus der das jeweilige Objekt kommt.

5. A UF

DER

G RENZE

EINER „ NEUEN

C HICHIMECA“ | 149

Reinigung wird ein Räuchergefäß, pebetero, verwendet. Wesentlich ist auch die Verwendung der huéhuetl, einer hölzernen Standtrommel, und eines Muschelhorns, concha, dessen Klang den Beginn und das Ende vieler ritueller Handlungen signalisiert.6 Begleitet werden diese häufig von den Bildern göttlicher Figuren, wie dem Gran Espiritu („großer Geist“) (Olmos 2008: 48). Zum anderen bildet die Ideologie des New Age einen wichtigen Komplex, aus dem sich diese Rituale, Objekte und Handlungen speisen (ebd.). Die indigenen Gruppen bringen Bilder heiliger mythischer Figuren, wie den Kojoten, die Schlange, das Kaninchen, den braunen Geier und den Hermano Mayor (der „große Bruder“) ein (Olmos 2008: 50).7 Zudem vollziehen sie ihre Tänze und Gesänge, wie den Kuri Kuri, in dieser Bewegung. Die Handlungsorte dieser Zirkulationsräume besitzen keinen institutionellen Rahmen. Die Partizipation der Fest- und Ritualteilnehmer entspricht wie bei den Posadas Sin Fronteras am Grenzzaun (vgl. Kap. 3) und dem Día de Juan (vgl. Kap. 4) somit auch in den Handlungsorten der neoindigenen Bewegung unterschiedlichen Positionen an der Grenze. Ihre Teilnahme wird durch eine ganze Reihe verschiedener Interessen im Umfeld der Grenze bestimmt. Die Rituale einer „neuen Chichimeca“ im Grenzgebiet, denen jeweils ein eigenes Unterkapitel gewidmet wird, sind erstens die Rituale der Kumiai, wie der Tanz Kuri Kuri. Die Kumiai sind die indigene Gruppe des Grenzgebiets, deren Rituale die „neue Chihimeca“ besonders beeinflussen. Vor allem, weil sie durch die Grenze getrennt sind. Im zweiten Teil des Kapitels behandele ich kein Ritual, sondern einen Ort, der für die Rituale der „neuen Chichimeca“ von herausragender Bedeutung ist: der Berg „Cuchumaa“, der durch die Grenze geteilt ist. In einem letzten Abschnitt behandele ich einen rituellen Komplex, der sich besonders stark mit den Bedingungen der Grenze und den Fragen des Status auseinandersetzt – die Danza Azteca, der „aztekische Tanz“. In diesem werde ich fragen, wie im aztekischen Tanz der Status des aztekischen Kriegers den Status der Grenze und die Klassengrenzen transzendiert.

6

Für eine umfassendere Darstellung der „zeremoniellen Landschaften der Azteken“ siehe Carrasco (1999).

7

In dieser Hinsicht stellt sich die Grenze für Olmos als religiöses Paradox dar. Sie trennt einerseits Ideologien und Religionen, funktioniert aber andererseits als „Generator von Glaubenssystemen“ (Olmos 2008: 60).

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5.1 R ITUALE

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Die Kumiai leben im Grenzgebiet von Tijuana und San Diego. Die Grenze hat ihre ethnische Gemeinschaft getrennt. In einer „Kumeyaay Border Task Force“ setzen sie sich für Sonderrechte an der Grenze ein, die es ihnen etwa ermöglichen, zu rituellen Anlässen die Grenze zu überqueren. Die heutigen Siedlungen der Kumiai (engl. Kumeyaay) liegen vor allem in den umliegenden urbanen Randgebieten von Tecate, Rosarito, Ensenada (Mexiko) und San Diego County (USA). Die Kumiai sind heute auf mexikanischer Seite in der Landwirtschaft des ruralen Sektors tätig, während sie nördlich der Grenze verstärkt in der CasinoÖkonomie beschäftigt sind. Die Population der Kumiai in Baja California wurde 2010 mit 585 gezählt, während sie in Alta California für das Jahr 1968 mit 1.322 angegeben wird (Loumala 1978: 596). Inzwischen erfolgt die politische Organisation auf kommunaler Ebene (eje común). In den meisten Gemeinden wird heute ein Gouverneur gewählt. Die aktuelle Gouverneurin der Kumiai ist die 94jährige Teodora Cuero. Sie besitzt aber nicht mehr als eine Vermittlerrolle mit der „mestizischen Umgebung“ (vgl. Olmos 2011: 214). Die aktuelle Organisationsform der Kumiai-Reservationen in San Diego County entspricht einer sichselbst-regierenden Organisation.8 Eines der wichtigsten Rituale, das auch heute noch Bedeutung hat, ist der Tanz Kuri Kuri (vgl. Olmos 2011: 213). Kuri Kuri wird von den Kumiai auch an den rituellen Handlungsorten einer „neuen Chichimeca“ getanzt. Neben den Tänzern des Kuri Kuri tanzen dabei meistens auch aztekische Tänzer. Gemeinsam konstituieren sie die Landschaft einer „neuen Chichimeca“. Die Kumiai und die Chichimeca Noch bevor die Grenzlandschaft territorial markiert wurde, war sie eine deterritoriale Kontaktzone des spanischen Kolonialreichs. „The earliest border settlements were part of New Spain’s push to occupy and control its far northern frontier“ (Gerhard zit. nach Arreola 1993: 14). Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Quellen über die Siedlungen der Kumiai, deren ethnische geografische Position in Konflikt mit der heutigen Grenze steht.9

8 9

Für eine ausführliche Beschreibung siehe Shipek (1987: 136-151). Sie teilen dieses Schicksal mit anderen Gruppen des Grenzgebiets, so mit den Papagó (Tohono O’odham), Cucapá (Cocapah) und Kikapo (Kickapoo). Zum Vergleich, siehe für den Fall der Kikapo im Grenzgebiet die Monografie von Latorre (1991).

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Die erste koloniale Expansion in den Nordwesten unternahm die spanische Kolonialregierung im Jahr 1769. Sie sandte spanische Armeeeinheiten nach Oberkalifornien, um die nordwestliche frontier strategisch gegen die russischen und britischen Expansionsbewegungen zu verteidigen (Shipek 1987: 19; siehe auch Spicer 1962).10 Im Zuge dieser vor allem militärischen Expansion wurden Truppen in presidios am Monterey Bay und dem San Diego Bay stationiert (ebd.).11 Die Missionen der Franziskaner und Dominikaner wurden zur Unterstützung dieser Militärexpansion gesandt. Sie waren dafür zuständig, die indianische Bevölkerung zum Katholizismus zu konvertieren und sie als Arbeiter und Bürger in das spanische Empire zu integrieren (ebd.). Zudem hatten die Missionare die Aufgabe, die Militärposten und privaten Ansiedlungen, die ayuntamientos, mit Arbeitskraft und Nahrung zu versorgen. Dafür entzogen sie der indigenen Bevölkerung Land, das diese für ihre Subsistenz benötigte (Shipek 1987: 20; Arreola/Curtis 1993: 14). Doch die missionarischen Quellen der frontier sind wenig informativ. Beide, Dominikaner und Franziskaner, fertigten kaum Aufzeichnungen über die Landschaft der lokalen indigenen Bevölkerung in der kolonialen Grenzlandschaft an. Es gibt nur sehr wenige Ausnahmen, die heute Auskunft über die indigene Seite der frontier geben können. Eine dieser Ausnahmen sind die Beschreibungen des Dominikaners Geronímo Boscana. Er benennt die Bräuche, Schöpfungsmythen, die wichtigsten Feste, Wirtschaftsweisen und das Kalendersystem der Bevölkerung im kolonialen Grenzgebiet. Boscanas Beschreibungen entstammen seiner Zeit als Missionar zwischen 1812 und 1822. Einer der berühmten Texte von Boscana ist Chinigchinich. In ihm liefert er eine Beschreibung der indigenen Landschaft der Missionsstation „St. Juan Capistrano“, die etwa 100 Kilometer nördlich von der Missionsstation „San Diego de Alcala“ lag. Seine Beschreibungen sind in einer Zeit entstanden, als Mexiko bereits unabhängig war. Boscana beginnt seine Darstellung, indem er zunächst versucht, die Herkunft der indigenen Bewohner Kaliforniens zu beschreiben. Er ordnet sie der Gruppe der Chichimeca zu und stützt sich dabei auf Padre Tourquemada, der in seiner Mo10 Für die nördliche frontier des spanischen Kolonialismus wurde in der US-amerikanischen Forschung auch der Begriff der Spanish Borderlands geprägt. Der Begriff wurde von dem Historiker Herbert Eugene Bolton (1921) geprägt. Er sollte die historische Erfahrung der anglo-amerikanischen frontier um die spanische Geschichte im Süden erweitern. Boltons Definition der Spanish Borderlands bezieht sich auf die Regionen zwischen Florida und Kalifornien, die heute zu den USA gehören, aber über Jahrhunderte von Spanien dominiert wurden (Bolton 1921: vii). 11 Die Entdeckung der beiden Buchten geht auf Cabrillo (im Jahr 1542) und Vizcaíno (im Jahr 1602) zurück (Shipek 1987: 19).

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narquia Indiana vier große Populationen unterscheidet, die das mexikanische Territorium besiedeln: die Tolteca, die Chichimeca, die Mexica und die Aculna. Boscana ordnet die kalifornischen Gruppen in der Gegend seiner Missionsstation den Chichimeca zu, weil diese am besten auf die entsprechende Beschreibung von Padre Tourquemada passen: Near the northern boundary of Mexico there was a province, the principal city of which was called Amaqueme; its inhabitants, Chichimecas, were people entirely naked, fierce in appearance, and great warriors. Their arms the bow and arrows; their ordinary sustenance game and wild fruits, and their habitations where caves, or huts made of straw. As it was their manner of life to roam about among the mountains, in search of game, they paid but little or no attention to the art of building. (zit. nach Boscana 1970: 1)

Zudem beschreibt Boscana, dass die indigenen Bewohner Kaliforniens wie die Chichimeca in Dörfern siedeln würden, die den Charakter einer losen Siedlung haben. Weiter hebt er hervor, dass sie keine Herrschaft kennen würden. Sie besäßen lediglich einen capitán, dem jedoch nur eingeschränkte Macht zukomme (Boscana 1970: 1f.). Die Siedlungen seien jedoch nicht permanent, sondern würden durch die Jagdgebiete und die Suche nach Wild bestimmt (ebd.). Auch präzisiert Boscana die Machtposition des capitán für die einzelnen rancherías. Die capitánes würden Krieg und Frieden erklären und somit über den Ausgang von Differenzen mit benachbarten Siedlungen entscheiden. Zudem hätten sie bestimmt, an welchen Tagen Feste abgehalten und wann Jagdzüge durchgeführt werden oder auch wann Getreide eingesammelt wird (Boscana 1970: 22). Auch schildert Boscana die Heiratsrituale, bei denen sich die Verwandten zu Festen zusammenfinden würden und die bis zu drei Tage dauern konnten. Die Heiratsallianzen, so vermerkt er zudem, müssten aber nicht von Dauer sein, denn das Paar könne die Verbindung lösen, wann es ihm beliebt (Boscana 1970: 30). Die Kumiai wurden demnach in den missionarischen Quellen des Kolonialismus mit den Chichimeca in Verbindung gebracht. In den heutigen Auseinandersetzungen mit der Grenze spielt diese Verbindung eine starke Rolle. Gemeinsam mit anderen Akteuren, setzen sich die Kumiai als Teil einer „Chichimeca“ gegen Probleme im Grenzgebiet ein. Vor allem der Kuri Kuri, Gesang und Tanz, steht dabei im Zentrum.

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Der Kuri Kuri Der Kuri Kuri gehört zum rituellen Repertoire der Kumiai. Auch die anderen Gruppen der Yuma-Sprachfamilie wie die Pa Ipai, Cucapa und Kiliwa im Südwesten der USA und im Nordwesten Mexikos vollziehen den Kuri Kuri bei verschiedenen Gelegenheiten. Es handelt sich dabei um eine Kombination aus Tanz und Gesang. In einer seiner populärsten Varianten bildet er ein ganzes Fest. Dieses findet jedes Jahr im Oktober statt. Zusätzlich wird Kuri Kuri zu verschiedenen Anlässen getanzt. In der verbreitetsten Form des Kuri Kuri singt ein Sänger einen Zyklus von zehn Liedern. Der Gesang wird stets begleitet durch eine Rassel. Zum Gesang gehört weiterhin der Tanz. Die Tänzer und Tänzerinnen, hier tanzen häufig die weiblichen Festteilnehmer und die Heranwachsenden, nehmen sich an den Händen und begleiten den Gesang. Der häufigste Rhythmus des Tanzes nennt sich kuñmi. Zu diesem Rhythmus zählen alle Gesänge, die mit einer Vorwärts- und einer Rückwärtsbewegung des Körpers getanzt werden (vgl. Olmos Aguilera 2011: 260). Die populären Formen wie der Kuri Kuri im urbanen Grenzgebiet in Tijuana getanzt wird, sind jedoch eine vereinfachte und gekürzte Variante dieses Kuri Kuri. In diesen Zusammenhängen wird er häufig in Kombination mit anderen Tänzen und Gesängen vollzogen. Er bildet aber eines der zentralen Rituale innerhalb der „neuen Chichimeca“. In dieser Hinsicht kann er als eines der wichtigsten Rituale einer neoindigenen Bewegung im Grenzgebiet betrachtet werden. Die Ethnomusikologin Atsumi Guadalupe Ruelas Takayasu betrachtet ebenfalls die wichtige Rolle des Kuri Kuri als interethnisches, verbindendes Ritual, das dabei hilft eine Gemeinschaft im Hinblick auf bestimmte Probleme zu bilden (Ruelas Takayasu 2014: 445f.) Kuri Kuri ist ein wichtiger Bestandteil einer kulturellen Revitalisierung der Yuma-Gruppen, die in den letzten Dekaden stattgefunden hat. Das Fest des Kuri Kuri dient dazu Personen einzuladen, die weit entfernt wohnen. Neben dem Gesang, dem Tanz und der Entspannung werden dabei Nachrichten über Fragen des Ein- und Auswanderns, über Abwesende, Geburten, Todesfälle, über Arbeitsplätze, Rechtsfragen, den Fischfang, die Jagd oder die Verwendung neuer Technologien ausgetauscht (ebd.). Kuri Kuri wird so zu einem Ritual, welches hilft, Gemeinschaften herzustellen. Dabei dient es auch dazu, die Gruppen über die Grenze hinweg zu verbinden (ebd.). Durch diese interethnische Öffnung, die Gruppen auf beiden Seiten der Grenze einbezieht, wurde dieses Ritual auch für die neoindigenen Rituale im Kontext derselben Grenze relevant. Kuri Kuri wird so auch ein Teil weiterer Kontexte und politischer Fragen im Umfeld der Grenze. Diesen Zusammenhang zeige ich im Folgenden am Beispiel einer Caminata, einem „Umzug“ in Tijuana, bei dem Frauen

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ihre Position an der Grenze thematisieren. Kuri Kuri nimmt eine wichtige Position in dieser Veranstaltung ein. Die Caminata Soraya, die Organisatorin der Veranstaltung, steht vor einer Gruppe von Menschen auf einem großen Betonplatz, der zwischen der Stadtautobahn zur Grenze und einem kleinen Park mit dem Namen ‚Parque Benito Juarez‘ gelegen ist. Sie trägt den Kopfschmuck einer Fruchtbarkeitsgöttin aus dem aztekischen Götterpantheon. Sie begrüßt die Anwesenden im Namen der Mutter Erde. Auffällig ist die große Anzahl von Frauen verschiedenen Alters, die sich für die Caminata, die ‚Wanderung‘, versammelt haben.12

Die Caminata des Jahres 2012 ist für zehn Uhr an einem Samstagmorgen im April angesetzt. Etwa hundert Leute aus allen Altersgruppen sind erschienen. Weibliche Teilnehmer bilden die Mehrzahl. Die meisten von ihnen tragen weiße Kleidung.13 Einige Personen tragen besonderen Kopfschmuck, wie den Federschmuck der Mexica. Wieder andere sind mit Federschmuck und Ketten der Lakota ausgestattet. Die Organisatorin Soraya Duarte, die auch die Rituale anleitet und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch die „Wanderung“ führt, trägt neben der weißen Kleidung auch den Kopfschmuck der Fruchtbarkeitsgöttin Xochiquetzal. Soraya Duarte ist Psychologin. Sie hat das „Centro de Capacitación y Servicios Psicológicos A.C.“ gegründet, eine Einrichtung zur psychologischen Betreuung von Frauen, die im urbanen Grenzgebiet Opfer von Gewalt geworden sind. Während die Menschen sich langsam auf dem Platz versammeln, wird frischer Salbei und copal verbrannt.14 Die Zeremonie beginnt mit der Bildung eines Menschenkreises. In dessen Mitte wird von fünf Frauen eine mesa errichtet. Die mesa besteht aus fünf Tüchern. Auf den fünf Tüchern sind fünf Räuchergefäße platziert. Die mesa wird von den fünf Frauen betreut, die beständig darum bemüht sind, dass copal und Salbei brennen. Jede der Frauen ist für eine Seite der mesa verantwortlich, die nach den vier Himmelsrichtungen und ihrem Zentrum ausgerichtet sind. Nach der Bildung des Menschenkreises und der Errichtung der mesa führt die Veranstalterin Soraya Duarte die Gouverneurin der Kumiai, Teodora Cuero, den Kreis

12 Tagebuchnotizen, 21.04.2012. 13 Weiße Bekleidung findet konstante Verwendung in den neoindigenen Bewegungen des Grenzgebiets. Sie wird als wichtige Farbe wahrgenommen, die spirituelle Reinheit symbolisiert. 14 Verlaufsprotokoll der Caminata, 21.04.2012.

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entlang. Sie begrüßt jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer im Kreis mit einem Händedruck.15 Nachdem Teodora Cuero den Kreis umrundet hat, nimmt sie im Zentrum des Kreises Platz. Es wird fotografiert und geredet, der Kreis löst sich nun im allgemeinen Gedränge um die wichtigen Personen in seinem Zentrum auf.16 Nach einiger Zeit des Redens und der Begrüßungen fordert Soraya Duarte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf, sich in Reihen aufzustellen.17 „Jetzt wollen wir mit der ‚Zeremonie der vier Winde‘ beginnen. Sie ist ein Teil der Tradition der Mexica von der Grenze!“, kündigt sie an.18 Soraya muss für eine erfolgreiche Durchführung Anweisungen für die Handlungen geben, da vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Rituale unbekannt sind. Die „vier Winde“ beziehen sich auf die vier Himmelsrichtungen der Mexica, die von vier Göttern gelenkt werden. Die Zeremonie beginnt mit den einsetzenden Trommelschlägen und Flöten, das Muschelhorn wird geblasen und der copal brennt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden gebeten, sich Richtung Osten zu wenden und die Hände zu heben. Neben dem rituellen Text der Anrufung erhalten sie Anweisungen, in welche Richtung sie sich jeweils drehen sollen.19 So wird die rituelle Anrufung der einen Priesterin stets begleitet durch die profanen Regieanweisungen einer Helferin. So werden nach einander alle Himmelsrichtungen angerufen. Nachdem der Osten, Tlauiztlampa, wo die Sonne aufgeht, der „Ort des Lichts“, angerufen wurde, drehen sich alle Richtung Westen Cihuat-

15 Teodora Cuero gilt als die Autorität der verschiedenen indigenen Gruppen „Baja Californias“. Sie ist 93 Jahre alt und kommt aus der entlegenen Gemeinde „La Huerta“, von wo aus sie beständig Reisen im urbanen Grenzgebiet unternimmt, um die Kumiai-Gemeinden zu repräsentieren. 16 Verlaufsprotokoll der Caminata, 21.04.2012. Neben Teodora Cuero sind auch andere weibliche Autoritäten der verschiedenen Kumiai-Gemeinden anwesend: aus der Kumiai-Gemeinde San José de la Zorra: Doña Eva Carillo, aus der Gemeinde Juntas de Neji: Andrea Cota. 17 Die Handlungsanweisungen erinnern an den „Unterricht“ der Danza Azteca. Auch hier müssen die Teilnehmer erst in Position gebracht werden, damit sie gemeinsam handeln können. 18 „Entonces vamos a empezar con la ceremonia cuatro vientos, por parte de la tradición mexica frontera“ (Transkription der Tonaufnahmen der Caminata, 21.04.2012). Tatsächlich findet diese Zeremonie sowohl in der Danza Azteca als auch an vielen anderen zeremoniellen Handlungsorten verschiedener Zusammenhänge statt. Sie ist damit eine der zentralen öffentlichen Zeremonien im urbanen Grenzgebiet der „neuen Chichimeca“. 19 Ebd.

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lampa.20 Der Ablauf wiederholt sich in die Himmelsrichtung des Nordens, Mictlampa sowie in Richtung Süden, Huitzlampa.21 In einem letzten Schritt wendet sich die Priesterin gemeinsam mit den Teilnehmern in das Zentrum der Menge der Teilnehmer. Dort bittet sie die „Mutter Erde“ um Erlaubnis die Caminata durchführen zu dürfen.22 Sie nennt sie bei ihrem Nahuatl-Namen, TonantzinCoatlicue.23 Unmittelbar nachdem die Zeremonie der „Vier Winde“ abgeschlossen ist, erhebt Teodora Cuero ihre Stimme. Sie beginnt mit ihrer Segnung. Dann singt sie ein Lied, während Salbei verbrannt wird. Anschließend wendet sie sich dankend an den Hermano Mayor, der im Schöpfungsmythos der Kumiai die Erde brachte. Sie schließt ihre Segnung mit einer Einladung zum heiligen Berg „Cuchumaa“ und zu den Tänzen, die dort in regelmäßigen Abständen zu Ehren der Mutter Erde abgehalten werden. Bevor die Caminata beginnt, tanzt Teodora Cuero noch inmitten der Menge mit ihren Begleiterinnen, die sie stützen. Sie tanzt und singt Kuri Kuri.24 Damit leitet sie die Caminata ein. Die Menge setzt sich entsprechend einer spezifischen Arbeitsteilung in Bewegung. Die Priesterinnen reinigen den Weg am Kopf der Caminata. Dahinter sollen die aztekischen Tänzerinnen und Tänzer folgen, die mit ihren Schritten und verschiedenen Rasseln, die sie an den Beinen und in den Händen tragen, den Rhythmus vorgeben (vgl. Kap. 5.3). Sie tanzen zudem, um der Erde zu danken, wie Soraya erläutert. Die Tänzer sind notwendig, „um eine Schlaufe um die Anwesenden zu spannen und diese in einem gemeinsamen Rhythmus zu verbinden.“25 Hinter den Trommlern und Tänzern folgt Soraya mit den offiziellen Teilnehmern und den weiblichen Autoritäten der Kumiai „auf dem gereinigten Weg“.26 Die Caminata läuft vorbei am „Palacio Municipal“ aus dem Park heraus auf die polizeilich gesperrte Hauptstraße, „Paseo Centenario Tijuana“. Tanzend und singend überquert die Caminata die „Netzahualcóyotl“ und führt in das Straßennetz aus „Linea Internacional“, die Straße, die zum Grenzübergang führt, 20 Transkription der Tonaufnahmen der Caminata, 21.04.2012, Übersetzung durch die Verfasserin. 21 Verlaufsprotokoll der Caminata, 21.04.2012. 22 Ebd. 23 Transkription der Tonaufnahmen der Caminata, 21.04.2012, Übersetzung durch die Verfasserin. 24 Das Lied und der Tanz sind im kuñmi-Rhythmus, dem traditionellen Rhythmus der meisten Lieder und Tänze der Kumiai. 25 „Para extender un lazo en este momento para todos los estamos aquí presente […] “ (Transkription der Tonaufnahmen der Caminata, 21.04.2012). 26 Verlaufsprotokoll der Caminata, 21.04.2012.

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und „Paseo Cuauhtémoc“, die Straße, die Tijuana mit der Stadt Ensenada verbindet. Die Caminata behindert den Verkehr, der zum Grenzübergang führt. Für die Mutter Erde wird der alltäglich zirkulierende Grenzverkehr auf dieser Straße für kurze Zeit unterbrochen. In diesem Geflecht aus Straßen befindet sich das Ziel der Caminata. Dort liegt inmitten des Straßenlärms ein kleiner Park, in dessen Zentrum das „Monumento de las Mujeres Kumiai“ steht. Das Denkmal zeigt zwei Frauen, die eine sitzend, die andere stehend. Es wurde 2001 eingeweiht. Die ankommenden weiblichen Autoritäten der Kumiai schreiten langsam und bedeutungsvoll auf das Denkmal zu. Teodora Cuero tanzt und singt erneut Kuri Kuri. Neben ihr tanzen die aztekischen Kriegerinnen und Krieger. Soraya Duarte erhebt erneut ihre Stimme, um eine Ansprache zu halten. Sie beginnt ihre Rede mit der Beschreibung der aktuellen Zeit als einer Zeit der Krise, in der „schlechte Dinge passieren können.“27 „Doch es ist“, so sagt Soraya, „auch eine Zeit der Möglichkeiten“. „Unsere Zeit kennt zerstörerische Kräfte, wie den Tod vieler Frauen in der Grenzstadt Juarez, Ausdruck von Gewalt gegen die Frauen an der Grenze.“ Sie fährt fort, indem sie betont, dass die Caminata zum Dank für alles, was die Erde gibt vollzogen wird. „Es muss so gemacht werden, wie sie es machen, die in der Natur leben“, sagt sie und deutet auf das Denkmal der beiden Kumiai-Frauen.28 In ihrer kleinen Ansprache verbindet Soraya demnach alle Themen, die in der Caminata ihren Platz haben: die Positionierung von Frauen an der Grenze als verwundbare Subjekte, die Vorteile ökologischer Strategien im Umgang mit der Erde, und schließlich repräsentiert sie die Kumiai im urbanen Grenzgebiet. Wie Soraya angekündigt hatte, führt die Caminata nach einer Umrundung der Kreuzung zurück zum „Parque de Benito Juarez“ die „Avenida del Centenario“ entlang. Erneut muss der Grenzverkehr an dieser Stelle umgeleitet werden. Im „Parque de Benito Juarez“ wird nun erneut Kuri Kuri durch Teodora Cuero getanzt und gesungen.29 Er bildete den zeremoniellen Rahmen der Caminata. Kuri Kuri wurde am Beginn, am Ziel und nach der Rückkehr an den Ursprungsort der zeremoniellen „Wanderung“ getanzt. Innerhalb der Caminata wurden die Rituale ausschließlich von Frauen durchgeführt. Dabei wurden verschiedene Themen von Weiblichkeit an der Grenze verhandelt. Zu Ehren der „Mutter Erde“ führen weibliche Vertreter verschiedener Kumiai-Gemeinden und Organisatoren der Stadt Tijuana seit sieben Jahren die zeremonielle Caminata in Tijuana durch. Die Veranstaltung ist vor allem durch die rituellen Handlungen von Frauen geprägt, die ihre Positionen an der Grenze 27 Verlaufsprotokoll der Caminata, 21.04.2012. 28 Ebd. 29 Tagebuchnotizen, 21.04.2012.

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thematisieren. Die „Wanderung“ zu Ehren der Mutter Erde besteht aus Ritualen der Mexica und der Kumiai. Sie werden über die gemeinsamen Handlungen ineinander verwickelt. Die generales der Kumiai-Dorfgemeinschaften feiern gemeinsam mit aztekischen Kriegerinnen und Kriegern sowie Priesterinnen, sacerdotas. Dabei wird die zeremonielle Caminata von unterschiedlichen Interessen und Positionierungen der Teilnehmer begleitet. Zum einen geht es darum, die Kumiai-Gemeinden im Umland des urbanen Grenzgebiets in der Stadt zu repräsentieren. Zum anderen positionieren sich Frauen in der neoindigenen Bewegung des Grenzgebiets. Ein weiteres Interesse von Teilnehmern besteht in der Thematisierung ökologischer Strategien im urbanen Grenzgebiet. Was ist eine Caminata? Worin liegt die Besonderheit des gemeinsamen Gehens an der Grenze? Die Caminata ist eine rituelle „Wanderung“, die bedeutungsvolle Orte verbindet und so eine spirituelle Landschaft hervorbringt. Mit der Caminata wird die alltägliche Handlung des Gehens zu einer rituellen und performativen Handlung. Das Gehen wird zu einer Taktik, sich an der Grenze mit ihren problematischen mobilen Zusammenhängen zu bewegen. Tim Ingold hat sich ausführlich mit dem Gehen beschäftigt. Er betrachtet es treffend als zutiefst soziale Aktivität (Ingold 2008: 1). „Die Füße antworten beim Gehen genau wie die Stimme in der Präsenz anderer“ (ebd.). Das Gehen hat demnach eine wichtige Bedeutung dafür Beziehungen herzustellen. Die Caminata schöpft aus diesem Potential des Gehens. In ihrem Inneren hilft die Caminata als Aktivität, die verschiedenen Teilnehmer in eine soziale Beziehung zu versetzen. Gleichzeitig wirkt die Caminata auf die Ordnung ihrer Umgebung als performative Form. Das Gehen verwirrt die offensichtliche Ordnung der Straßen (vgl. de Certeau 1988), die hier den Logiken des Grenzverkehrs folgt. Sie stört für kurze Zeit die reibungslose Zirkulation über die Grenze und schreibt sich dadurch temporär in die Ordnung der Grenzlandschaft ein. Im Kontext der Grenze hilft die Caminata dabei, vor allem weibliche Positionen an der Grenze zu thematisieren. Dabei rückt vor allem der problematische Status der Frauen in den Vordergrund, der in den Kontexten von Prostitution, Vergewaltigung und Mord zu suchen ist. Frauen an der Grenze werden als verwundbare Subjekte entworfen. Während meines Aufenthalts in Tijuana bin ich häufig zu Fuß gegangen. Auf meinen Wegen stieß ich immer wieder auf Unverständnis. Viele Menschen, die mich laufend sahen, meinten, ich begebe mich in Gefahr und sie sagten, ich solle lieber nach Hause gehen. Sie fragten mich, was ich denn vor hatte zu tun. Dass Frauen alleine auf der Straße gehen, erschien ungewöhnlich. Auf diese Weise ist auch die Caminata als Gang von Frauen auf der Straße zu verstehen, die mit diesem Gang auch die Gefahren thematisieren und sich zugleich der Positionierung als verwundbare Subjekte auf den städti-

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schen Straßen entgegensetzen, denen Frauen auf ihren alltäglichen Wegen im urbanen Grenzgebiet mitunter ausgesetzt sind. Für die Caminata gehen die Frauen auf den Straßen, die direkt zur Grenze und über die Grenze führen. Sie besetzen diese mit ihrer eigenen Mobilität. Die „weibliche“ Caminata verdeutlicht mit ihrer Positionierung zur Grenze, dass diese neben den Differenzen des Status auch Geschlechterdifferenzen produziert. Letzteres äußert sich vor allem in der Verhandlung der Frauen als verwundbaren Subjekten der Grenze. Die Darstellung der Frauen als Mord- und als Vergewaltigungsopfer in den urbanen Randgebieten der Grenze sind die berühmtesten Versionen von Gewalt im Grenzgebiet. Diesem populären Narrativ wird auch in der offiziellen Rede entsprochen. Gleichzeitig verbinden sich die Teilnehmer, ob weiblich oder männlich, zu einer kollaborativen „Wanderung“. Für die Frauen wird die Grenze somit gleichzeitig zum Dilemma und zum Projekt – ein Zusammenhang, der auch bei den anderen Fällen ritueller Komplizenschaft gezeigt werden konnte. Die Huldigung der Mutter Erde findet im Zentrum der Grenzstadt statt, als Reaktion auf das Bild der Frau an der Grenze, die zum Opfer von Gewaltverbrechen wird. Die Grenze stellt somit einen Anlass für den Aktivismus von Frauen dar. Mit der Caminata etablieren die Frauen ihre eigene Positionierung an der Grenze, die sich nicht an die räumliche Ausdifferenzierung der Geschlechter hält, wie sie durch die Öffentlichkeit der Grenze vorgegeben wird. Indem Geschlecht und Indigenität an der Grenze gegenüber der Klasse als die wirkungsvollere kategorische Verbindung verhandelt wird, zeigt sich hier zugleich die Tendenz des Neoliberalismus, die Themen der Arbeit von den gesellschaftlichen menschlichen Komplexen abzukoppeln. Die Caminata kann damit auch als ein neoliberales Projekt verstanden werden. Im Zentrum dieses Zusammenhangs steht Teodora Cuero, die Autorität der Kumiai Baja Californias. Für die Indigenität des urbanen Grenzgebiets hat sie eine außerordentliche Bedeutung, was sich vor allem in ihrem spezifisch positionierten Wissen von Sprache und lokalen Pflanzen zeigt. Der Kuri Kuri rahmt viele Veranstaltungen. Er ist einer der wichtigsten Rituale von Indigenität im urbanen Grenzgebiet von Tijuana und San Diego. Wo er getanzt und gesungen wird, steht er immer auch mit politischen Themen in Verbindung. Bei der Caminata wurde er zu einem politischen Ausdruck in der Auseinandersetzung mit der Gewalt gegen Frauen an der Grenze. Die Komplizenschaft zwischen den Teilnehmern der Caminata besteht darin, verschiedene Arbeitstypen zu verbinden. Soraya Duarte sorgt mit ihren Erläuterungen und Anweisungen dafür, dass die einzelnen Teile verflochten, und die verschiedenen Rituale und Teilnehmer sinnvoll zueinander positioniert werden. Zunächst erfolgt dabei eine offizielle Ansprache, die mit einem Dank an die

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Teilnehmerinnen und Teilnehmer verbunden ist. Anschließend wird ein sakraler Raum mit der Zeremonie der „vier Winde“ für Tonantzin geschaffen. Schließlich werden die Anwesenden durch Teodora Cuero gereinigt, die als kontinuierliche Behüterin weiblichen indigenen Wissens im Zentrum der Veranstaltung steht. Erst ihre zentrale Position mit dem Kuri Kuri vollzogen wird, verleiht den anderen Ritualen ihre Authentizität. Tonantzin, die mythische „Mutter Erde“, steht im Zentrum der Veranstaltung. Teodora Cuero, die offizielle Vertreterin der Kumiai, wird hingegen als Bewahrerin spezifischen lokalen Wissens über die Erde selbst zur „Mutter“ der Veranstaltung erklärt. Sie ist mit Abstand die älteste. Sie lebt im ruralen Randgebiet der Grenzstadt Tijuana. Gegenüber ihrer weiblichen Autorität erscheinen die anderen Teilnehmer wie ihre Kinder. Teodora Cueros Präsenz in der Veranstaltung, ihre zentrale Position und die Zentralität ihres Gesangs und des Kuri Kuri, den sie tanzt, zeugen von diesem Verhältnis. In der Caminata werden verschiedene Interessen verflochten: Zum einen wird eine weibliche Öffentlichkeit etabliert, die im Zusammenhang mit feministischen Aktivitäten im Grenzgebiet steht, und zum anderen werden Indigenität und Ökologie im urbanen Kontext verhandelt. Nicht nur bestimmten Ritualen, wie dem Kuri Kuri, kommt im Grenzgebiet Bedeutung zu. Bestimmte Orte werden bevorzugt für die Durchführung derartiger Rituale aufgesucht, weil sie zum Beispiel durch die Grenze getrennt sind.

5.2 D ER HEILIGE B ERG „C UCHUMAA “ Die Grenze und ihre Landschaft bilden mitunter ein Spannungsfeld, das die Bedeutung bestimmter Orte steigert. Dieses Spannungsfeld hat auch zu einer Steigerung der Bedeutung des 1183 Meter hohen Berges30 „Cuchumaa“ geführt. Der „Cuchumaa“ gehört zu der Gemeinde Tecate, eine Kleinstadt an der Grenze, die durch die wachsende Urbanisierung inzwischen die unmittelbare Nachbarschaft von Tijuana bildet. Der „Cuchumaa“ wird regelmäßig von Bewohnern des urbanen Grenzgebiets besucht. An seinen Hängen wachsen heilsame Pflanzen. Seine Bedeutung als heiliger Berg wird inzwischen von einer großen Öffentlichkeit nördlich und südlich der Grenze anerkannt. Vor allem die Stärkung grenzübergreifender Kontakte durch die Kumiai-Gemeinden rückte den Berg, der sich auf beiden Seiten der Grenze erstreckt, zunächst stärker in den buchstäblichen

30 Es gibt bei der Höhe leicht abweichende Angaben. Der Berg ist aber, darin stimmen alle überein, knapp über 1000 Meter hoch.

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Mittelpunkt dieser Gemeinschaftsarbeit über die Grenze hinweg. Er wurde dabei zudem von modernen Mystikern und Theosophen entdeckt, die ihn ihrerseits zu einem Zentrum mystischer Heilkraft erklärten. Inzwischen finden in der Umgebung des Berges regelmäßig Sonnentänze und Zeremonien für die Mutter Erde statt, oder auch Caminatas an seinen Hängen, wegen der heilsamen Wirkung, die ihm zugesprochen wird. In mystischen Erklärungen wird die Heilung durch Energien produziert, die vom Gipfel des Berges ausstrahlen und sich nicht durch die Grenze an seinen Hängen aufhalten lassen. Der „Cuchumaa“ und die Kumiai Neben den verstreuten Siedlungen der Kumiai, von den Spaniern als rancherías bezeichnet, bestand diese indigene Landschaft aus einem unpolitischen „nationalen ethnischem Territorium“, das in dem Bewusstsein der Bewohner über einen verwandten Dialekt oder über die Teilung bestimmter Ressourcen vermittelt war (Shipek 1987: 13). Diesen beiden Ebenen war eine weitere Kategorie von Land zugeordnet, die des heiligen Landes. Einer dieser heiligen Orte der Kumeyaay ist der „Cuchumaa“ (Shipek 1987: 13). Der heilige Berg ist in den Legenden der Kumiai des Grenzgebiets mythische Figur, Gott und Krieger (vgl. Valenzuela Arámburo 2012).31 Auch Teodora Cuero und andere offizielle Vertreterinnen der Kumiai aus Tecate wie Josefina Lopez Mesa und Norma Alecia Lopez Mesa bestätigen die Bedeutung des Berges. Auch sie unterstreichen die Wirksamkeit der Heilpflanzen, die dort wachsen. Norma Alecia Lopez Mesa betont zudem, dass der Berg eine Markierung des Territoriums der Kumiai darstellt. Im selben Moment beklagt sie, dass der Berg zum Teil in den USA und zum Teil in Mexiko liegt, wie die Kumiai selbst, deren Gemeinschaft durch die Grenze geteilt ist (ebd.). Florence Shipek hat einen umfangreichern Blick auf die Bedeutung des Berges für die Kumiai geworfen. 1985 publizierte Shipek Material, das aus der

31 Im „Colegio de la Frontera Norte“ (ElColef) wurde unter der Aufsicht von José Manuel Valenzuela Arce ein Forschungsprojekt zum Mystizismus und zu populären Religionen im Grenzgebiet durchgeführt: Mística Popular Transfronteriza: Tradiciones, Mitos y Santos Populares en la Frontera México-EstadosUnidos. Im Rahmen dieses Forschungsprojekts erhält auch der Berg „Cuchumaa“ als ein Zentrum dieses populären Mystizismus eine entscheidende Bedeutung vor allem für das urbane Grenzgebiet von Tijuana und San Diego, zu dessen Ausläufern Tecate hier gezählt wird.

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Zusammenarbeit mit einigen Ältesten entstand, mit denen sie zusammen auf den Gipfel des Berges gestiegen war. Dies ist eine Unternehmung, die für gewöhnlich nur den religiösen Autoritäten der Kumiai vorbehalten war. Dieses Vorhaben diente jedoch, so versicherte Shipek, dem Schutz des Berges (Shipek 1985: 67f.). In der Publikation Shipeks wird der Berg als der heiligste Ort der Kumiai dargestellt. Er ist mit den Schöpfungsmythen verbunden (Shipek 1985: 69). In diesem Mythos taucht der Berg als spezieller Ort auf, der von dem Schöpfer der Kumiai als Behausung für den ersten Menschen mit demselben Namen, „Cuchumaa“, geschaffen wurde. Er wuchs heran und wurde „Schamane“, kuseyaay (Shipek 1985: 69f.). Er überbrachte den anderen Menschen am Fuße des Berges sein Wissen (ebd.). Der erste Mensch Cuchumaa wurde nach seinem Tod auf dem Berg bestattet (Shipek 1985: 71). Seitdem konnte spezielles Wissen in Träumen auf dem Berg erworben werden (Shipek 1985: 70). In dieser Hinsicht wird Wissen buchstäblich auf dem Berg situiert. Am Fuße des Berges findet zum Beispiel jährlich ein Fest für traditionelle Medizin statt. Die Eröffnungszeremonie dieses Festes beschreibe ich im folgenden Kapitel. Eine Zeremonie am Fuße des „Cuchumaa“ Es ist ein heißer Tag am Fuße des heiligen Berges ‚Cuchumaa‘. Einige Menschen haben sich im Schatten der Bäume versammelt und lauschen dem Rasseln der ‚sonaje‘ und den Worten einiger Frauen, die sich vor ihnen versammelt haben, um sie am Fuße des heiligen Berges willkommen zu heißen. Der Berg wird angesprochen, als wäre er eine Person, die ebenfalls über die Grenze gekommen ist, um an der Gemeinschaft der Mediziner im Rahmen dieses Festivals teilzuhaben.32

Die vier Redner, die im Verlauf der Eröffnungszeremonie zu Wort gekommen sind, haben sich alle in ihren Reden auf den Berg bezogen und auf die Ahnen der Medizin. Den ersten Teil übernimmt Abuelita Amalia aus Xochimilco, die gekommen ist, um über die Verwendung von Rosen für Limpiezas als Heilmittel zu berichten. Sie dankt den Hütern des Ortes. Sie vergegenwärtigt den Ort am Fuße des „Cuchumaa“, dem auch sie besondere Energien zuschreibt. Hier soll, so verkündigt sie, ein Samen „mit ganzem Herzen“ gepflanzt werden, der für alle von Nutzen sein wird.33 Auch Rosalina aus Michoacán, Curandera der Medizin der Purépecha von Cherán, verbindet die medizinischen Traditionen mit dem Berg. Sie ruft die Ahnen der Purepechá: „Ich danke dem Kosmos, der Erde und den Elementen und ich danke Großmutter Cuerápuri, die die Erde lenkt und hier 32 Verlaufsprotokoll der Eröffnungsfeier, 18.05.2012. 33 Ebd.

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den heiligen Berg eingerichtet hat, der uns erwartet, uns alle, die hierhergekommen sind, um unsere Traditionen, die wir praktizieren, zu teilen.“34 Auch Brian Hornbeck, der Veranstalter, gibt schließlich dem Berg und den „Alten“ einen besonderen Raum in seiner Eröffnungsrede: „In meiner Tradition bringt der Hüter des Westens die Medizin. Großvater, bitte bringe uns die Medizin! Wir alle suchen überall nach der Medizin. Hier werden wir die Medizin unter uns finden, zwischen unseren Herzen.“35 Schließlich positioniert sich auch Brian zum Berg „Cuchumaa“. Er spricht zu dem Berg „Cuchumaa“ wie zu einem „Freund“, wenn er ihn um Erlaubnis bittet, „hier sein zu dürfen“. An dich, mein Freund der Berg Cuchumaa, Danke wie immer, dass ich die Möglichkeit habe, in deinem Schatten zu sein. Bringe uns den Ausgleich und gib uns die Erlaubnis hier zu sein und gib uns die Energien, die du immer teilst. Ometeotl! 36

Der Berg wird in seiner Gegenwärtigkeit zur entscheidenden und verbindenden Lokalität für die Teilnehmer des Festivals, die zugleich eine Gemeinschaft sein wollen, weil sie zum Teil sensibles medizinisches Wissen zirkulieren lassen und die dazugehörigen Praktiken gegenseitig zu testen bereit sind. Der Berg wird so zu einem Akteur in der Veranstaltung der traditionellen Medizin. Er bildet den Ort, an dem sich die festliche Verbindung der Teilnehmer vergegenwärtigt. Auch der Berg soll mit den Menschen teilen, was er teilen kann: la balancea, den „Ausgleich“. Auch die vierte und letzte Rednerin der Eröffnungsfeier verwies auf den „Cuchumaa“. Marcela, Vertreterin des „Tlahuilli, A.C.“ dankt den Großmüttern und Großvätern der Medizin und den „Hütern des Ortes“. Vor diesem Hintergrund fordert sie die Anwesenden auf, gemeinsam einen Kreis zu bilden.37 Die Teilnehmer, es sind vierzig Personen, begeben sich in den Kreis. Ein Muschelhorn (concha) ertönt. Marcela erhebt ihre Stimme im Kreis der Teilnehmer, die sich nun stehend an den Händen halten. Sie bittet die Hüter des Ortes „Cuchumaa“ um Erlaubnis. Dann wendet sie sich dankend an die Alten. „Ich bitte für alle Anwesenden, für ihre Familien, ihre Freunde, für ihre Arbeit, ihre Gesundheit, damit sie durch diese etwas über die Medizin erfahren. Ich gebe einen Dank an die Elemente und einen Dank an die Großmutter. Ich bedanke mich bei allen, die uns

34 Transkription der Tonaufzeichnungen, 18.05.2012, Übersetzung durch die Verfasserin. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd.

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Gestalt geben, bei unseren Ahnen, den Verstorbenen, den Heiligen, die uns die Worte gelehrt haben. Ometeotl!38 Anschließend wurde eine Caminata an den Hängen des Berges durchgeführt. Der Weg führte die Teilnehmer über die schmalen Wege am Südhang des Berges entlang. „Der Berg ist berühmt für den Salbei, der hier wächst“, sagt Brian Hornbeck.39 Tatsächlich wächst überall am Wegrand weißer Salbei. Die Caminata war wie ein Unterricht gestaltet, die Benutzung verschiedener Pflanzen wurde erklärt. Zwischendurch sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Wanderung jedoch die Energien des Berges spüren und an den Pflanzen riechen. Brian verbindet diese Situation des Berges mit kritischen Zeiten. „Der Berg selbst ist durch die Grenze erkrankt, aber er entwickelt erstaunliche Kräfte der Heilung.“ Brian Hornbeck machte diese Kräfte deutlich anhand der vielen Pflanzen, die an seinen Hängen wachsen und sich für die Heilung eignen. Es ging höher an den Hängen hinauf. Bis der Grenzzaun deutlich zu sehen war und schließlich zur Umkehr zwang.40 Die Positionierung am „Fuße des Berges“ wurde im Verlauf des Festivals beständig durch die Teilnehmer vergegenwärtigt, vor allem bei der Caminata an den Hängen, die den Pflanzen des Berges gewidmet war. So wurde der Berg auch materiell für die praktischen Handlungen des Festivals benutzt, da derartige Pflanzen, vor allem der Salbei, für die einzelnen medizinischen Methoden verwendet wurden. Während die Eröffnungszeremonie als Form der Überredung verstanden werden kann, stellte die Caminata eine Form der Kollaboration dar. Innerhalb dieser Caminata waren der Berg und die Grenze wesentliche Elemente der Handlungen. Auf der Suche nach Heilung und dem Wissen für diese Heilung begeben sich curanderos, Spiritualisten und Kranke auf die Wege des Berges „Cuchumaa“. Vor allem der Gipfel wird in seinen Legenden mit der Produktion von medizinischem Wissen assoziiert. Aus diesem Grund wird dem Berg aus medizinischer 38 „Primeramente voy a pedir permiso a los guardianes de este lugar, para el trabajo de la que vienen. Vengan las fuerzas de conocimiento otra vez, de los elementos para llegar a nuestra amistad. Pido por todos aquí presente por sus familias, por sus amigos, por su trabajo, por su salud. Para que encuentren a través de esto saber algo de las medicinas. Doy gracias a los elementos, y doy gracias a los amigos, que nos acompañen, a la Nana, a la María, a Tata Francisco. Para que ellos también compartan con todos – corazones compuestos. Agradezco finalmente a todos de ellos que nos dieron forma, a nuestros ancestros, a nuestros muertos, a los santos que nos han enseñado las palabras […]. Ometeotl!“ (Transkription der Tonaufzeichnungen Eröffnungsfeier, 18.05.2012). 39 Tagebuchnotizen, 20.05.2012. 40 Ebd.

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Perspektive eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. An dem südlichen Hang verläuft jedoch auch die US-mexikanische Grenze. Die Menschen auf der Suche nach Heilung und nach zirkulierenden medizinischen Wissen stoßen auf ihren Wegen an den Hängen des Berges daher beständig an diese Grenze, die sie auf mexikanischer Seite von dem wirkungsvollen Gipfel des Berges trennt. Der Gipfel durfte jedoch seit jeher ohnehin nur von den religiösen Autoritäten der Kumiai betreten werden. Somit deckt sich das Verbot, dass die Grenze evoziert, mit den Verboten und Tabus in den Legenden, die sich um den Berg ranken. In Tecate wurde die „Rancho La Puerta“ gegründet, in der die erste YogaLehrerin Kaliforniens, Indra Devi, praktizierte (vgl. Valenzuela Arámburo 2012). Der Berg bekam die popularisierte Bedeutung, einer der heiligsten Berge Nordamerikas zu sein. Indra Devi betonte die Bedeutung ihrer Praktiken in der Nähe zum Berg „Cuchumaa“. Zu dieser Zeit existierten noch nicht die Restriktionen der Migration. Die Grenze existierte jedoch sehr wohl. Indra Devi betrachtete den Berg als mystischen Ort, als einen Tempel ohne Hindernisse. Zudem bestätigen die Heiler Brian Hornbeck und Tata Cachora, der es im urbanen Grenzgebiet von Tijuana zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat, die Bedeutung des Berges – sie nutzen die Hänge und die Umgebung des Berges für ihre Feierlichkeiten und medizinischen Praktiken. Ihrer Ansicht nach seien vor allem die Vielfalt der medizinischen Pflanzen des Ortes von großer Bedeutung sowie die Energie, die der Ort spende. Die Wege an den Hängen des Berges besitzen, so betonen sie, heilsame Wirkung (vgl. Valenzuela Arámburo 2012). Diese Wege werden jedoch auch durch die Grenze beeinflusst, denn ein Teil des Berges liegt in den USA und ein anderer in Mexiko. In den verschiedenen Stimmen, die sich auf den Berg und seine Bedeutung beziehen, wird diese physische Präsenz der Grenze beklagt. Gleichzeitig wird jedoch beständig hervorgehoben, dass die Grenze nicht die Energien aufhalten kann, die der Berg ausstrahlt (vgl. Valenzuela Arámburo 2012). Die Grenze selbst wird somit zu einer Markierung für die wirkungsvollen Energien des Berges. Rituale am „Cuchumaa“ Als Handlungsort kommt dem „Cuchumaa“ eine wichtige Bedeutung zu, da der durch die Grenze geteilte Berg hilft, dass sich die Teilnehmer verbinden können. Gleichzeitig handeln sie mit ganz unterschiedlichen Interessen. Die gemeinsame Akzeptanz und Übereinkunft über die Bedeutung des geteilten und heiligen Berges ist wesentlich für die Erschaffung einer Beziehung zwischen den verschiedenen Akteuren, wie zwischen den sich fremden Heilern und ihren diversen Medizinen von beiden Seiten der Grenze. Der „Cuchumaa“ hat in diesen Prozes-

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sen und weil er zum Handlungsort für entsprechende Veranstaltungen erklärt wird, an Bedeutung gewonnen. Seine Position auf der Grenze ist dabei ein entscheidender Faktor für die große Bedeutung des Berges. Der Berg bildet einen kontinuierlichen Raum über die Grenze. Er ist auch Teil einer neuen Grenzlandschaft, die mit den Zirkulationsräumen des Grenzregimes in Konflikt steht. Denn bei der Suche nach den besten Heilpflanzen an den Hängen des Berges stoßen die Suchenden irgendwann an den Grenzzaun, der den Berg zerteilt. Der Berg hat jedoch auf der mexikanischen Seite der Grenze eine größere Bedeutung, und das, obwohl oder vielleicht gerade weil sein Gipfel auf der anderen Seite der Grenze in den USA liegt. Seine räumliche Grenzlage prägt ein gemeinsames Dilemma. Mit diesem können sich sehr unterschiedliche Akteure zu einem gemeinsamen Projekts zusammenschließen. Das Beispiel um die Zirkulation medizinischen Wissens hat deutlich gemacht, dass der „kranke Berg“ sich eignet, die Grenze zu thematisieren. Im folgenden Abschnitt widme ich mich einem weiteren rituellen Komplex, der eine Auseinandersetzung mit der Grenze und zugleich eine Komplizenschaft bildet. Es handelt sich um die Danza Azteca.

5.3 D ANZA A ZTECA Die Tänzer und Tanzgruppen, die sich der Danza Azteca aus dem historischen Zentrum von Mexiko widmen, haben eine große Präsenz an vielen öffentlichen Orten des urbanen Grenzgebiets. Der Federschmuck der Tänzer ist nicht zu übersehen, und die Rasseln und Trommeln der Tänzer und Tänzerinnen übertönen hier und da den Lärm der Autos auf den Straßen. Die Tänzer folgen einem Selbstverständnis als aztekische Krieger und Kriegerinnen. Sie tanzen auch an Orten und in Situationen, wo es zu Auseinandersetzungen mit der Grenze kommt. Als tanzende Krieger setzen sie dem Status der Grenze einen rituellen Status als Mitglied in einem calpulli, der Gemeinschaft der Tänzer und Tänzerinnen, entgegen. Wie die Tänzer und Tänzerinnen sich im Grenzgebiet präsentieren, möchte ich im Folgenden am Beispiel der Gruppe Danza Mexi’cayotl und einem ihrer Auftritte in der Nähe der Grenze am Dia de San Ysidro behandeln. „Aztekische Krieger“ beim Día de San Ysidro Durch die unerwartet lange Schlange am Grenzübergang (Wartezeit 1:40 Stunden) an diesem Sonnabendmorgen bin ich gerade pünktlich beim Fest angekommen, um das Geräusch des Muschelhorns zu hören, das den Beginn des Tanzes ankündigt. Der ‚capi-

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tán‘ der Gruppe leitet den Tanz für Tonantzin ein. Die Stimmung ist enorm. Heute sind die tanzenden aztekischen Krieger und der Lärm ihrer Schreie wirklich beeindruckend.41

Der Anlass des Tanzes ist der Día de San Ysidro. Die Gruppe, die sich hier präsentiert, heißt Danza Mexi’cayotl. San Ysidro, der Ort dessen Gemeinde hier feiert, liegt unmittelbar an der Grenze. Es wird sehr stark von der Infrastruktur der Grenze bestimmt. Der Aufbau des Viertels ist geprägt vom Grenzübergang „San Ysidro Port of Entry“, der das urbane Grenzgebiet von San Diego und Tijuana zusammenhält. Die Transportsysteme und Infrastruktur des Grenzverkehrs wie die „Interstate 5“ und die Verbindungslinien des öffentlichen Nahverkehrs „MTS“ verlaufen mitten durch San Ysidro und trennen das Viertel in mehrere Teile. Der San Ysidro-Tijuana Grenzübergang ist der entscheidende NAFTA-Nexus in Nordamerika (Herzog 2006: 198). San Ysidro wird in den Statistiken als zu den ärmeren Vierteln von San Diego gehörig geführt (ebd.). Der Día de San Ysidro wurde am 19. Mai 2012 in einem kleinen öffentlichen Park des barrios zelebriert. Hauptorganisator war das „Casa Familiar“, ein Wohn- und Kulturprojekt, das sich vor allem für in Armut geratene ältere Bewohner des barrios einsetzt. Neben einigen Informationsständen öffentlicher Einrichtungen des Viertels war auch die Border Patrol anwesend. Sie verteilte Informationsmaterial für schnellere und reibungslosere Grenzübertritte wie SENTRI und die Ready Lane. Auch informierte sie über die Umbauarbeiten am Grenzübergang. Die aztekischen Tänzer von Danza Mexi’cayotl sind Teil der Veranstaltung. Alle Tänzer tragen ihre Tracht, die sie selbst hergestellt haben. Die riesigen Fasanen- und Adlerfedern lassen sie imposant erscheinen. Rasseln an ihren Beinen und Armen geben jeder ihrer Bewegungen einen lauten Klang. Sie bilden ihren zeremoniellen Kreis. Das rituelle Zentrum des Kreises bildet die mesa42, wo das Baumharz (copal) im Räuchergefäß brennt und die huehuétl-Trommel geschlagen wird. Die Mandolinen sind nicht Teil der Zeremonie, obwohl sie die zentralen Instrumente der wöchentlichen Zeremonien von Danza Mexi’cayotl bilden. In der öffentlichen Wahrnehmung des aztekischen Tanzes als alter Tradition der Mexica präkolumbischer Nationen haben die Zupfinstrumente keinen Platz, da sie durch die spanischen Eroberer mit dem aztekischen Tanz in Verbindung gebracht wurden. Als der erste Tanz für Tonantzin zu Ende ist, beginnt der 41 Tagebuchnotizen, 19.05.2012. 42 Das Errichten einer mesa gehört zu den meisten öffentlichen Zeremonien, die im Rahmen dieser Arbeit einer „neuen Chichimeca“ zugeordnet werden. Die mesa ist eine Art des Opferaltars. Auf einer textilen Unterlage werden bestimmte Paraphernalien platziert. Die mesa steht immer im Zentrum der rituellen Handlungen.

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capitán, sein Name ist Mario Aguilar, mit seinem „Unterricht“ für die anwesende Öffentlichkeit, die vor allem aus Spanisch sprechenden Familien besteht.43 Er lädt die Anwesenden ein, die Sprache der aztekischen Krieger zu lernen: Capitán:

How do I say ‚Gracias‘ en Inglés?

Teilnehmer:

THANK YOU!

Capitán:

And in Español?

Teilnehmer:

GRACIAS! [sie lachen]

Capitán:

In Mexicano?

Teilnehmer:

[sie geben keine Antwort, einige lachen]

Capitán:

Si es nuestra idioma de Mexico: Nahuatl. ¡Decimos ‚tlazcamati! Aunque todos…

Teilnehmer:

TLAZCAMATI. [murmelnd]

Capitán:

Tlazcamati! Aun usted no lo crean, even though you not realize it, you speak a little bit of Mexican, a little pocito de Mexicano! ¿‚Chile‘, que es Chile en Ingles?

Ein Teilnehmer:

Chili.

Capitán:

¿‚Tomatl‘ en Español?

Teilnehmer:

TOMATE.

Capitán:

¿En Inglés?

Teilnehmer:

TOMATO.

Capitán:

Hay una palabra, que no van a conocer: ‚Huexolotl‘. ¡A ver! ¿Quién sabe ‚Guajolote‘ en Inglés?

Teilnehmer:

TURKEY […].44

Nachdem der Tanz für den Gott Huitzilopochtli getanzt ist, liefert der capitán Erklärungen, um die Danza Azteca für die Umstehenden zu erklären, denn viele sind nicht mit diesem Tanz und seiner Tradition vertraut. „Huitzilopochtli“, so erklärt er, „ist der Gott der Azteken, der sie anwies, das Land ihrer Ahnen – Aztlán – zu verlassen.“45 Der Tanz, so erklärt der capitán, ist ein Symbol für die mexikanischen Krieger, die zwar nicht mehr Nahuatl sprechen und keine Federn mehr tragen, aber das Blut ihrer indigenen Vorfahren in den Adern haben.46 Schließlich überredet der capitán die Anwesenden zum Mittanzen. Er sagt, es sei der Lieblingstanz der Gruppe: Danza Ahuiliztli, der Tanz der Leichtigkeit. Leichtigkeit wird, so erzählt er, innerhalb der Gruppe als Synonym für Freund43 Tagebuchnotizen, 19.05.2012. 44 Transkription der Tonaufzeichnungen des Día de San Ysidro, 19.05.2012. 45 Tagebuchnotizen, 19.05.2012. 46 Ebd.

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schaft verstanden. Er weist auf die Wichtigkeit von Freundschaft hin und darauf, dass derjenige, der keine Freunde hat, nichts besitzt, arm ist, auch wenn er Ruhm und Geld hat: In diesem Tanz nun wollen wir sie einladen mitzutanzen, einen sehr einfachen ‚Tanz der Freundschaft‘. Haben sie keine Angst. […] Kommen sie, kommen sie! Auf geht’s! Wir tanzen acht Schritte nach links und acht Schritte nach rechts. Später werden wir die Schritte in Mexicano zählen.[…] Also, die Nummer eins spricht sich ‚ce‘, die Nummer zwei ‚ome‘, die Nummer drei ‚eyi‘ und Nummer vier ‚nahui‘. Dann zählen wir ‚ce, ome, eyi, nahui‘.47

Die Umstehenden erheben sich von ihren Plätzen. Der gemeinsame Tanz beginnt. Die Teilnehmer bewegen sich nach einer einfachen Schrittfolge. Der capitán fordert die Tanzenden auf, in das Zentrum des Kreises zu tanzen und dort „so wie die Mexicanos“ einen Schrei von sich zu geben: „Schreit lauter, damit uns die Border Patrol hört, ein Schrei für San Ysidro und noch einen Schrei, den man in Tijuana hören kann“, fordert er die Tanzenden auf.48 Der gemeinsame Tanz und die Schreie der Tanzenden markieren den Höhepunkt der öffentlichen Zeremonie der Danza Azteca, die weniger auf die Gruppe Danza Mexi‘cayotl selbst gerichtet ist, sondern auf die Bewohner San Ysidros. Der Rhythmus wird schneller, die Stimmung steigt, und dann ist der Tanz vorbei und die Tänzer kehren auf ihre Plätze zurück.49 Der capitán beginnt schließlich den umstehenden seine Lebensgeschichte und die Geschichte seines erfolgreich abgeschlossenen PhDs zu erzählen. Der capitán schildert die Lebenserfahrungen seines bürgerlichen Ichs als Mario Aguilar: „Mein Vater hat Orangen gepflückt. Als Feldarbeiter ist er über die Grenze gekommen. Meine Mutter war Putzfrau.“ Er fährt fort: „Meine Kinder studieren an der Universität. Es braucht nur eine Generation, um die Gemeinschaft zu ändern!“. Mit Nachdruck fügt er hinzu: „Ich bin Dr. Mario Aguilar und ich bin aztekisch“.50 Mit der Danza Azteca erhält Mario Aguilar den Status eines aztekischen Kriegers, der sich einen Platz in der USamerikanischen Mittelklasse erkämpft. Der Status als aztekischer Krieger hilft dabei, den anderen Statusdifferenzen zu entkommen, die durch die Grenze produziert wurden. Der capitán beschließt seinen Tanz und entlässt die temporären

47 Transkription der Tonaufzeichnungen des Día de San Ysidro, 19.05.2012, Übersetzung durch die Verfasserin. 48 Ebd. 49 Tagebuchnotizen, 19.05.2012. 50 Ebd.

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Mittänzer aus ihrer Komplizenschaft im Schatten der Grenze in den sonnigen Nachmittag Kaliforniens. Der capitán mit dem bürgerlichen Namen Mario Aguilar ist Ethnologe. Er hat die Geschichte des Danza Azteca im Grenzgebiet beschrieben. Diese Geschichte ist zugleich seine eigene Geschichte. Er selbst kommt in dieser Geschichte als der erste capitán mit einer eigenen Gruppe nördlich der Grenze vor. Wie die Danza Azteca über die Grenze kahm Es ist schwer, eine lineare Geschichte und konsistente Beschreibung der Danzas im urbanen Grenzgebiet der US-mexikanischen Grenze zu entwerfen. Es gibt eine Fülle an akademischen Studien und an Experten außerhalb universitärer Zusammenhänge, die ihr Wissen über moderne Medien in die Danza Azteca einschreiben und für ihre Popularisierung und Verbreitung sorgen (vgl. Polkinhorn/Trujillo Muñoz/Reyes 1994; Gonzáles 2005; Nájera Ramírez/ Cantú/ Romero 2009; Hernandez Guerrero 2011 u.a.). Der breiteste Konsens in der Beschreibung der Danzas besteht wohl darin, dass ihre Formationen, ihre Rituale und musikalischen Traditionen mit vorkolumbischen Elementen konnotiert sind, was sie mit der Geschichte Mesoamerikas verbindet, aber häufig auch mit den Ideen einer authentischen mexikanischen Nation eines präkolumbischen Zeitalters. Die Geschichte der Verortung der Danza Azteca im US-mexikanischen Grenzgebiet werde ich daher an dieser Stelle aus der Perspektive von Mario Aguilar erzählen. Er hat die Geschichte des aztekischen Tanzes im Grenzgebiet von San Diego und Tijuana in der Arbeit: The Rituals of Kindness. The Influence of the Danza Azteca Tradition of Central Mexico on Chicano-Mexcoehuani Identity and Sacred Space (2009) geschildert. In einer Autoethnografie behandelt er zudem seine Rolle in der „formativen Phase“ der Danza im Grenzgebiet (Aguilar 2009: 203). Mario Aguilars Forschungsarbeit speist sich aus seiner Lebensgeschichte sowie aus seiner Position als Tänzer. Als Mario Aguilar anderthalb Jahre alt war, zog er mit seiner Familie nach San Diego. Er beschreibt sich als „low-income first generation Mexican kid“, das aber einen Zugang zur Bildung der upper class bekam, weil sein Vater über seine Arbeit Werbegeschenke erhielt, die eine zusätzliche Geldquelle darstellten (Aguilar 2009: 220f.). Er besuchte die Universität, wo er mit der studentischen Chicana/o-Bewegung in Kontakt kam. Abgesandte der Iroquois, Hopi und mexikanischer indigener Nationen teilten ihre Vorstellungen mit den Mitgliedern der Bewegung. Sie argumentierten, dass ihre Wurzeln in den indigenen Nationen lägen und dass sie sich aus diesem Grunde nicht nach den europäischen „ismen“ richten dürften, wie Kapitalismus oder

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Marxismus, sondern einen eigenen Weg in der Spiritualität suchen sollten (Aguilar 2009: 228f.). Bei einem Treffen von Chicana/o-Theaterorganisationen in Mexiko Stadt unter der Schirmherrschaft der TENAZ („Teatro Chicano en Aztlán“) traf Mario Aguilar schließlich auf die ersten aztekischen Tänzer (Aguilar 2009: 233). Mit diesen Tänzern meinte er jenen Weg der Spiritualität gefunden zu haben, von dem die Abgesandten der indigenen Nationen gesprochen hatten. Im Dezember des Jahres 1974 lernte Mario Aguilar den capitán Florencio kennen. Florencio sollte sein wichtigster Lehrer werden. Ihre gemeinsame Beziehung beschreibt Mario Aguilar als „the first flowering of la Danza Azteca in the United States“ (Aguilar 2009: 237). Bereits einen Monat zuvor hatte er Florencio und seine Gruppe von zwölf Tänzern direkt hinter der Grenze entdeckt, als er für Weihnachtseinkäufe über die Grenze nach Tijuana gegangen war. Er glaubte jedoch nicht daran, die Tänzer jemals wiederzusehen (Aguilar 2009: 235), denn es schien ihm nicht möglich, dass sie über die Grenze gelangen könnten. Aber die Tänzer kamen über die Grenze. Doña Mona, ein Gemeindemitglied der Kirche „Our Lady of Guadalupe“ in Chula Vista (Stadtteil von San Diego), hatte die Tänzer auf der „Avenida Revolución“ in Tijuana gesehen und sie gebeten, am 12. Dezember, dem Feiertag der Virgen de Guadalupe, in einer Prozession in ihrem barrio nördlich der Grenze zu tanzen. Sie hatte es auch geschafft, die Immigration Officers davon zu überzeugen, dass sie die Grenze zu diesem Anlass überqueren mussten. Diese Geschichte ist interessant, denn sie zeugt davon, dass die ersten Tänzer des Danza Azteca in den USA zwar illegal über die Grenze kamen, aber mit der Zustimmung der Immigration Officers. Fünf der Tänzer blieben in San Diego. Die anderen kehrten zurück nach Mexiko Stadt. Florencio, der capitán der Gruppe wurde Mario Aguilars Lehrer. Schließlich wurde Mario Aguilar als erster Chicano in Mexiko Stadt als capitán für eine eigene Gruppe anerkannt (Aguilar 2009: 269). Mit seinen Mittänzern in San Diego gründete er schließlich seine eigene Gruppe: Danza Mexi’cayotl – „der Tanz der mexikanischen Nation“ (Aguilar 2009: 272). Mario Aguilar sieht die Danza als Beweis dafür, dass Grenzen („borders, boundaries and walls“) keine spirituellen Bewegungen aufhalten können (Aguilar 2009: 276). Der „heilige Raum“, der durch die Tanzenden hergestellt wird, könne die gelebte Realität der Klassen-, Geschlechter- und Sprachgrenzen und auch den Statusunterschied von Immigrant und Staatsbürger transzendieren (Aguilar 2009: 2). Die aztekischen Krieger und ihr Tanz sind in die USA gekommen, um jenen zu helfen, die auf beiden Seiten der US-mexikanischen Grenze marginalisiert sind (Aguilar 2009: 565). Die Krieger helfen, indem sie

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diese Marginalisierten dazu überreden, sich selbst als Krieger wahrzunehmen und mitzutanzen. Der Status der Krieger und soziale Kategorien Im aztekischen Tanz erhalten die Tänzer einen Status als aztekische Krieger. Mit diesem entfliehen sie dem Status, der ihnen im Umfeld der Grenze angehängt wird oder erweitern ihn. Als Strategie der Selbstermächtigung, empowerment, stellt der aztekische Tanz somit auch eine Reaktion auf die sozialen Kategorien dar, die durch die Grenze und den Grenzübertritt beeinflusst werden. Mit diesem wesentlichen Gedanken lässt sich die Betrachtung der Danza Azteca im urbanen Grenzgebiet zusammenfassen. Das Selbstverständnis des aztekischen Kriegers bildet die Möglichkeit, den sozialen Differenzen und auch den Statusdifferenzen zu entkommen. Mario Aguilars aztekischer Krieger besitzt die Stärke, den Klassengrenzen in einem sozialen Aufstieg zu entkommen. Seine Version des aztekischen Kriegers hängt mit den Strategien der Selbstermächtigung zusammen, um die eigene Position in der Gesellschaft positiv zu beeinflussen. Südlich der Grenze verdienen die meisten Tänzer Geld51, während sie nördlich der Grenze Prestige verdienen und populäre Rituale an vielen öffentlichen Handlungsorten der „neuen Chichimeca“ kreieren. In der Danza Azteca von Mario Aguilar kommt ein soziales Klassenbewusstsein zum Ausdruck, das in Hinblick auf die Grenze verhandelt wird.

51 Die Popularität der Danza im urbanen Grenzgebiet von Tijuana und San Diego spiegelt zudem die Asymmetrien der Grenze wider. Danza Mexi‘cayotl teilt sich den städtischen Raum nördlich der Grenze mit 36 weiteren Gruppen, während es in Tijuana nur vier Gruppen gibt. Neben den wenigen offiziellen Gruppen Tijuanas, welche die Danza als Form sozialen Kontakts verstehen, hat ein Großteil der Tänzer im städtischen Raum Tijuanas ökonomische Zielsetzungen. Meistens tanzen Gruppen von zwei Männern an Kreuzungen und im Gebiet des Grenzübergangs, um Geld zu verdienen. Die Praxis, mit der Danza Geld zu verdienen, ist unter den Tanzenden in San Diego hingegen verpönt. Sie tanzen nur für Freunde oder bei öffentlichen Veranstaltungen. Die Danza ist für sie ein sozialer und nicht ein ökonomischer Mehrwert. Diese beiden Ebenen wurden auch in der Geschichte der Danza Azteca im urbanen Grenzgebiet deutlich. Zunächst bestand die Danza in einer ökonomischen Angelegenheit, während er, nachdem die Tänzer erfolgreich die Grenze überquert hatten, in soziale Zusammenhänge überführt wurde.

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5.4 I NDIGENISMEN UND K OMPLIZENSCHAFT Alle diese Handlungsorte neoindigener Bewegungen einer „neuen Chichimeca“ gehören zu einem komplexen Gefüge, das sich an der US-mexikanischen Grenze bildet. Bestimmte Personen, Objekte und Handlungen sind dabei an allen Handlungsorten gegenwärtig. Zu denken ist dabei an das Wort „Ometeotl“, an die huehuétl-Trommel, den Menschenkreis und die Zeremonie der „vier Winde“. Während das Grenzregime eigene Zirkulationsräume reguliert und andere zu verhindern sucht, stellen diese Handlungsorte und ihr Zusammenspiel in der Landschaft einer „neuen Chichimeca“ eigene Austauschprozesse dar, die durch die Grenze nicht intendiert sind und trotzdem von dieser beeinflusst werden. Die soziale Organisation, veranlasst durch die schwingende Grenze, entspricht einer Komplizenschaft. Sie sind zugleich Reaktionen auf die Unterschiede und entsprechenden sozialen Positionen, welche die Grenze produziert. Erst die Verbindung zwischen Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Positionen im Grenzgebiet bringt den an den Handlungen Beteiligten die Möglichkeit, Projekte mit eigenen Werten zu realisieren. Die „neue Chichimeca“ zeigt, wie sie als Projekt die Brüche, welche die Grenze produziert, in neuen Gemeinschaften wieder zusammenfügt. Indigenität wird ein wirksames Mittel, diese Verbindungen herzustellen. Die neoliberale Grenze des urbanen Grenzgebiets ist somit eine Grenze, an der das Projekt dieser Indigenität eine ungeheure Bedeutung gewinnt. Zudem fällt auf, dass in der Öffentlichkeit der „neuen Chichimeca“ vor allem den Frauen eine starke Position zukommt. Die neoliberale Grenze fördert so eine Verstrickung von Weiblichkeit und Indigenität. Diese Aspekte des Sozialen werden durch Überredung und Kollaboration miteinander verbunden. Derartige Verbindungen der „neuen Chichimeca“ zeigen, dass nicht nur die Statusunterschiede, sondern auch andere soziale Kategorien, die durch die Grenzsituation beeinflusst werden, zum Projekt gemeinsamer Verstrickung werden. Maculan, Martinez und Torres entwerfen in einem Aufsatz über die neuen religiösen Bewegungen eine These, die besagt, dass die Anhänger dieser Bewegungen „detraditionalisiert“ sind, was ihnen erlaubt, an den polyphonen Ritualen teilzunehmen (Macklin/Martinez/Torres 1999: 35). Was aber wird aus dieser These, wenn man den Charakter dieser Teilnahme genauer betrachtet? Die Teilnehmer erschaffen in Kooperation mit anderen Teilnehmern eine Komplizenschaft. Es ist jene Verflechtung, die es möglich macht, an den polyphonen Ritualen teilzunehmen. Diese entsteht durch ein geteiltes Dilemma und nicht durch die Tatsache, keine Traditionen zu haben. Die Teilnehmer bringen vielleicht keine Traditionen in den Austauschprozess ein, die sie von ihren Eltern geerbt

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haben. Sie bringen aber sehr wohl einen spezifischen Habitus (Bourdieu [1982] 2012) und unterschiedliche Interessen mit in die Verbindung. Mit der Komplizenschaft können diese Unterschiede verbunden werden. Dabei werden bei den Teilnehmern Selbstreflektionen angeregt, Positionierungen herausgefordert und situiertes Wissen produziert. Die vorangegangenen Ausführungen verdeutlichen, dass die Grenze nicht nur eigene Klassifizierungen und Statusdifferenzen produziert und dadurch Menschen an die Bedingungen der Grenze bindet, sondern dass diese Klassifizierungen auch andere soziale Kategorien, wie Klasse, Geschlecht und Alter, beeinflussen. Die Indigenität hilft, aus diesen verschiedenen Grenzen sozialer Kategorien, die durch die Grenze begünstigt werden, ein gemeinsames Projekt zu machen. Sie ermöglicht es, eine Landschaft ohne Grenzen zu sehen. Gleichzeitig werden die sozialen Kategorien dabei derart kombiniert und entsprechend ihrer Bedeutsamkeit neu gewichtet, sodass ihre herkömmlichen Relationen unscharf werden. Die soziale Kategorie der Klasse gerät damit in Bezug auf Indigenität mitunter in den Hintergrund. Das Verbindende sozialer Kategorien und ihrer Relationen untereinander wird zugunsten neoliberaler individueller Experimente verschoben. Die schwingende Grenze produziert erfolgreiche Allianzen zwischen einzelnen Kategorien, während sie andere von diesen abkoppelt.

Über die Grenze? – Schlussbemerkungen

Am Ende der Arbeit bleibt die offene Frage, welchen Sinn es macht, über die Grenze zu schreiben, während sie überquert wird. Immer wieder wurde ich mit dem Problem der Grenzen des Systems und der strukturellen, verbindlichen Macht der Grenze konfrontiert. Die strukturelle Macht des Grenzregimes ist, so zeigten die Akteure, deren Handlungen Gegenstand der vorliegenden Arbeit waren, nicht umfassend und ausschließlich. Die Grenzen des urbanen Grenzgebiets bestehen aus einer Vielzahl von möglichen Handlungszusammenhängen, in denen die Grenze nicht den Rand eines funktionalen Systems beschreibt, sondern das Zentrum des Schaffens und Tuns. Im Umfeld des Grenzregimes kreieren Menschen ihre eigenen Räume. Unterschiede, wie diejenigen des Status, werden zu Anlässen dafür, Gemeinschaften zu kreieren, mit denen jeder seine eigenen Projekte an der Grenze verwirklichen kann. Diese Gemeinschaften reagieren auf das Dilemma der Grenze mit dem Projekt der Grenze und verhandeln die sozialen Unterschiede, welche die Grenze produziert. Als Komplizenschaften, die in der vorliegenden Arbeit anhand einer Reihe von festlichen Komplexen, ihrer Grenzlandschaft und ihren Handlungsorten vorgestellt wurden, sind sie zugleich Ergebnis und Ursache des Grenzregimes. Damit sind sie auch Komplizen des Grenzregimes. Die Widersprüche, die dem komplexen neoliberalen Grenzregime der Operation Gatekeeper zugeschrieben wurden, finden sich damit auch auf der Ebene der Akteure, der Festteilnehmer, der Migranten, Pfarrer, Mütter, Mediziner, curanderos, Wissenschaftler, Journalisten und Menschen auf der Suche nach Gemeinschaft, einer Lösung für Statusprobleme oder einem günstigen Augenblick, um die eigenen Interessen zu verwirklichen. Anders als bei Allianzen, in denen Akteure mit unterschiedlichen Fähigkeiten ein gemeinsames Ziel verfolgen, haben die Komplizenschaften kein einheitliches Ziel. Vielmehr schreiben verschiedene Akteure ihre Interessen in die Komplizenschaft ein. Das Ergebnis ist eine heterogene Öffentlichkeit, die sich aus einer Reihe von Regieund Handlungsanweisungen und aus der situativen Bedeutung eines spezifischen

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Ortes und einer spezifische Zeit eines Handlungszusammenhangs ergibt. Die situative Bedeutung ist dabei direkt von der Räumlichkeit der Grenze beeinflusst, an der sich die Komplizenschaften vergegenwärtigen. In dieser räumlichen und sozialen Grenzsituation werden die unterschiedlichen Positionen von Menschen zur Grenze ineinander verschränkt. Mitunter verhalten sich diese Positionen komplementär und widersprüchlich zueinander. Rituelle Komplizenschaft macht die Situierung von Wissen entlang von Statusdifferenzen öffentlich sichtbar. Sie ist ein Ausdruck dafür, dass eine politische Arena fehlt, in der Personen mit problematischem Status ihre Situation verhandeln und somit auch verbessern können. In dieser Arbeit wurde Komplizenschaft als eine Form gemeinschaftlicher menschlicher Handlung betrachtet, die im Sinne einer Allianz über spezifische Arbeitsteilungen charakterisiert ist, die aber durch die unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen ihrer Teilnehmer auch Widersprüche produziert. In dieser Form der Gemeinschaft zahlen die Teilnehmer einen Preis: Sie verzichten auf die Strategien an den äußersten Enden der Macht. Jene, die potentiell eher „oben“ sind, wie zum Beispiel jene, die über einen gesicherten Status an der Grenze verfügen, verzichten auf die Instrumente des Zwangs, während jene, die potentiell „unten“ sind, etwa jene ohne Status, auf die Instrumente des Widerstands verzichten. Dieser Verzicht hat eine Zunahme an Horizontalität gegenüber der Vertikalität der Ebenen der Macht zur Folge und eröffnet die Möglichkeit, die Differenzen, die die Grenze strukturell geschaffen hat, innerhalb dieser Handlungen aufzulösen und sie in transversale Momente von Macht zu überführen. Die Transversalität bildet dabei einen Fluchtpunkt gegenüber dem reinen Übereinander und Nebeneinander jener die „Oben“ und jener die „Unten“ sind. Die Komplizen handeln demnach ausschließlich mit den Instrumenten der Überredung und der Kollaboration. Ihre Differenz können sie jedoch im Übergang von Überredung und Kollaboration nicht ganz beilegen. Diese bleiben sichtbar und können bei genauer Betrachtung des Zusammenhangs nachvollzogen werden. In diesem machtvollen Zusammenhang wirken die in der vorliegenden Arbeit beschriebenen Handlungsorte. Die leitenden Gedanken waren dabei die folgenden: 1.) Die Grenze ist als Grenzregime Anlass dafür, spezifische Gemeinschaften zu erschaffen. 2.) Menschen produzieren in derartigen Grenzsituationen spezifische Formen von Gemeinschaften, die als Komplizenschaften charakterisiert werden können. 3.) Diese Komplizenschaften sind derart mit dem Charakter und den Bewegungen des Grenzregimes zwischen Mexiko und den USA verbunden, dass sich das Bild einer schwingenden Grenze ergibt, das bestimmte Machtkonstellationen aufweist. Die grundlegenden Gedanken wurden durch die Untersuchung von drei

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Komplexen konkretisiert. Allen diesen Komplexen entsprechen rituelle Komplizenschaften in Auseinandersetzung mit der Grenze, die zudem einen religiösen Zusammenhang aufweisen. Der Grund dafür, spezifische religiöse Handlungsorte zu untersuchen, entsprang dabei der Überlegung, dass sich in Ritualen, die häufig vor allem im religiösen Bereich eine Rolle spielen, die Produktion von Status und die Praktiken der Klassifizierung besonders deutlich zeigen. Zunächst wurde die urbane Grenze, La Línea, als Grenzlandschaft mit einer „Archäologie“ gelesen, die helfen sollte, dass aktuelle Grenzregime zu bestimmen. In der Betrachtung konzentrierte ich mich auf zwei wesentliche Bedingungen der urbanen Grenzlandschaft: zum einen die Grenze der Operation Gatekeeper und zum anderen der Grenzübergang, der Tijuana und San Diego verbindet. Die Handlungen, die in den folgenden Kapiteln der Arbeit als rituelle Komplizenschaften beschrieben wurden, zeigen die Auseinandersetzung mit diesen Bedingungen. Sie sind spezifische Manifestationen verschiedener Ordnungen in der Grenzlandschaft. Diese Ordnungen bestehen im Zusammenhang mit dem und im Kontrast zum Grenzregime. Die Posadas Sin Fronteras nutzen die räumliche Situation der Grenze im binational geteilten „Parque del Mar“ und „Friendship Park“, um eine Gemeinschaft in einer christlichen Grenzlandschaft zu etablieren. Die Grenze und die Situation der Grenze dienen der Herstellung dieser Gemeinschaft und ihrer entsprechenden Öffentlichkeit, die eine spezifische Grenzlandschaft sichtbar macht. Die Grenze der Operation Gatekeeper und die zunehmende Grenzsicherung, die auch soziokulturelle Statusunterschiede produziert, dient den Teilnehmern dazu, eine neue Form von Gemeinschaft zu etablieren. Diese Gemeinschaft vergegenwärtigt sich ihr Bestehen mit der Grenze, weil sie durch wesentliche Statusunterschiede geprägt bleibt. Diese Statusunterschiede bestehen vor allem in Hinblick auf die Teilnehmer, die zum einen keine legalen Dokumente besitzen und die damit den Status der Illegalität bekommen, und jenen Teilnehmern, die wiederum die nötigen Dokumente besitzen, um an der Veranstaltung mit ihrem offiziellen Status teilzunehmen. Die Komplizenschaft der Veranstaltung besteht nun zum einen darin, dass die migratorische Praxis jener Teilnehmer im Bereich der Illegalität der Grenze, jener also, die durch die Lücken des Grenzregimes schlüpfen, in das Zentrum einer religiösen Erfahrung gesetzt wird. Damit verwirklichen die Teilnehmer der Posadas Sin Fronteras einen Zirkulationsraum an der Grenze, der zwar an die Bedingungen des Grenzregimes gebunden bleibt, aber gleichzeitig diesem Grenzregime eine eigene Ordnung aufzwingt und eine eigene Grenzlandschaft etabliert. Die Teilnehmer, die im Rahmen dieser Veranstaltung eine besondere Positionierung an der Grenze im religiösen Kontext erfuhren, waren die Mütter. Sie überführen die religiöse Landschaft, in die sie versetzt

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werden, in eine politische, indem sie zum Beispiel wie Esther das Verhältnis zu ihren Kindern als politische Kollaboration darstellen. Die Mütter, deren Mutterschaft im Grenzkontext prekär wird, erhalten an der Grenze eine öffentliche zentrale Position. Hier wird zugleich deutlich, wie an der Grenze Geschlechterdifferenzen produziert und positioniert werden. Gleichzeitig und trotz dieser starken Zuschreibung der Mutterschaft entwickeln „die Mütter“ ausgehend von dieser Position ihre eigenen Positionen und schreiben so ihre spezifischen Interessen in die Posadas Sin Fronteras ein. Der zweite Fall ritueller Komplizenschaft wurde mit der Heiligenverehrung Juan Soldados an seinen beiden Kapellen auf einem der ältesten Friedhöfe der Stadt Tijuana in der Nähe der Grenze thematisiert. Die Besonderheit Juan Soldados liegt darin, dass er durch einen Teil seiner Verehrer und in einer ganzen Reihe öffentlicher Diskurse als Grenzheiliger betrachtet wird. Gleichzeitig verbinden sich im Rahmen der Verehrung Juan Soldados vor allem am Día de Juan, dem wichtigsten Feiertag des Heiligen, Gruppen, die sich ganz unterschiedlich räumlich und sozial zur Grenze positionieren, die aber historiografisch eine komplizitäre Öffentlichkeit zusammenbringt. Diese Besucher des Friedhofs verbindet, dass sie an die Unschuld des Heiligen Juan Soldado glauben. Es konnte gezeigt werden, dass die Betrachtung Juan Soldados häufig mit der Zuschreibung von Ambivalenz einhergeht. Diese Ambivalenz ergibt sich historisch daraus, dass der Heilige als Mörder und Vergewaltiger angeklagt und mit dem beschriebenen Ley Fuga öffentlich hingerichtet wurde. Juan Soldado ist Heiliger und Mörder. Im entsprechenden Kapitel habe ich jedoch argumentiert, dass diese Ambivalenz das Ergebnis verschiedener Öffentlichkeiten und Ordnungen ist, die Bestand hatten, als Tijuana und die Grenze eine erste Urbanisierung erfuhren. Die Genese des Heiligen verweist auf eine Grenzlandschaft anderer Ordnung. In dieser Version der Verehrung Juan Soldados kommen Chicanas/os aus den USA mit den lokalen Bewohnern der Nachbarschaft der „Colonia Castillo“ und den Bewohnern des Zentrums Tijuanas zusammen, die beide zu Komplizen in dieser Geschichte verbunden sind. Dieser Zusammenhang hilft dabei, Juan Soldado neu im Kontext der Grenze zu betrachten. Im Entwurf einer sich verändernden Grenze wird er zu einem „Grenzheiligen“. Juan Soldado und seine Genese als Grenzheiliger wird somit gleichzeitig ein Ausdruck von widerstreitenden Interessen und deren Verbindung im Grenzgebiet. Die aktuelle Grenze sowie ihre Mechanismen und die Menschen, die an ihr agieren, sind folglich imstande, diese Widersprüche in ihrer Landschaft mit aufzunehmen und zu beleben. Juan Soldado besitzt demnach komplementäre Bedeutungen im Grenzkontext. Zunächst steht seine Genese im Kontext von Klassenunterschieden und der Nationalisierung sozialer Fragen, die mit einer Mexikanisierung der Grenze einhergeht. Dann

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durchläuft er eine weitere Karriere als „Grenzheiliger“, der mit Statusunterschieden einer sich wandelnden Grenze verbunden ist. Schließlich widmete ich mich einer weiteren Grenzlandschaft und ihren Komplizenschaften im urbanen Grenzgebiet. Der dritte Teil der Arbeit bestand in einem Komplex von Handlungsorten, den ich als „neue Chichimeca“ bezeichnet habe. Diese „neue Chichimeca“ ist durch eine hohe Mobilität im Grenzgebiet gekennzeichnet. Dabei entwirft sie eine deterritoriale neoindigene Grenzlandschaft. Hier zeigten sich bestimmte Parks als historisch relevante Handlungsorte für die Rituale oder auch bestimmte indigene, heilige Landschaften. Letzteres findet sein herausragendes Beispiel im Berg „Cuchumaa“, der durch die Grenze geteilt ist. Seine Bedeutung hat sich, und diese These wird mit Detailanalysen bestätigt, durch die Grenzlage verstärkt. In dieser Grenzlandschaft verbinden sich verschiedene Akteure zu einer Komplizenschaft, so vor allem die Teilnehmer der Mexica und die Kumiai des Grenzgebiets, und führen gemeinsam festliche Handlungen mit einer spezifischen Arbeitsteilung unter der Einschreibung eigener Interessen durch. Die Grenzlandschaft der „neuen Chichimeca“ wurde hier vor allem anhand der öffentlichen Handlungen der Kumiai und der Danza Azteca betrachtet. Die Indigenität der „neuen Chichimeca“ ergibt ein gemeinsames Projekt mit dem Dilemma der Grenze. In ihren Zirkulationsräumen wird die Grenze nicht nur zu einer Markierung von unterschiedlichem sozialem Status, sondern markiert auch andere soziale Differenzen in Bezug auf Klasse, Geschlecht oder Alter. Die Indigenität hilft dabei, diesen Status und derartige Differenzen in der Auseinandersetzung mit der Grenze neu zu verhandeln. Mit den Ritualen der Kumiai, wie beim Kuri Kuri beschrieben, positionieren sich Frauen mit spezifischem weiblichem Wissen auf dieser Grenze. Sie berufen sich dabei auf die aztekischen Fruchtbarkeitsgöttinnen, die „Mutter Erde“ und das Wissen der weiblichen Ältesten der Kumiai, um in Anbetracht des Dilemmas von Weiblichkeit an der Grenze ihren Feminismus zum Ausdruck zu bringen. An anderer Stelle veranlasst die Grenze den Austausch von Wissen an bestimmten Orten, die geografisch von der Grenze geteilt werden, wie der Berg „Cuchumaa“. Ein weiteres Beispiel bildeten die aztekischen Krieger. Sie überwinden mit ihrem Status die sozialen Differenzen, und dabei vor allem jene, die zwischen den Klassen verlaufen, die sich für viele aus dem Übertritt der Grenze ergaben. In dieser Hinsicht ist der Status des Kriegers eine Form der Selbstermächtigung. Die Ungleichheit zwischen Klassen wird zudem im selben Zusammenhang des aztekischen Tanzes mit den sozialen Konstellationen eines spirituellen Plans ungültig gemacht. Die Indigenität vermittelt soziale Unterschiede über das Dilemma der Grenze. Gleichzeitig werden die sozialen Kategorien und

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ihre Relationen untereinander als neoliberale Projekte voneinander losgelöst neu gewichtet. Komplizenschaften sind Formen von Vergemeinschaftung, die ein Dilemma als gemeinsames Projekt angehen. In der vorliegenden Arbeit ist die Grenze dieses Dilemma als Projekt. Die Komplizenschaften im urbanen Grenzgebiet von Tijuana und San Diego konstituieren ein Grenzgebiet. Sie schöpfen produktiv aus den Differenzen, die ein Grenzgebiet bewirkt. Sie sind somit ein wesentlicher Teil der öffentlichen urbanen Kultur zwischen den Städten San Diego und Tijuana. Die neoliberale Grenzregion scheint derartige Projekte zu begünstigen, da sie selbst auch diese Ambivalenzen produziert, die Komplizenschaften als Gemeinschaften in sich tragen. Sie gehören demnach fest zum Dispositiv einer Grenze und der menschlichen Unternehmungen, die mit ihr verbunden sind. Sie kreieren dabei selbst Gefüge, die sich dem Grenzregime einerseits widerspenstig und unkontrollierbar entgegenstellen, gleichzeitig aber auch wesentlich zur Konstitution des Grenzgebiets und der Grenze beitragen. In dieser Hinsicht enthalten Gefüge dieser Komplizenschaften die beschrieben Machtverhältnisse. Sie stellen Reaktionen auf die Statusunterschiede und Differenzen dar, die die Grenze produziert. Komplizenschaften ermöglichen jedoch auch, diese Statusunterschiede neu zu verhandeln und somit die Teilnehmer in ein Verhältnis von Überredung und Kollaboration zu versetzen. Diese Verhandlungen sind Ausdruck einer fehlenden politischen Arena. Als Ergänzung zum Status, den die Grenze produziert, sind für die vorliegenden Handlungsorte vor allem die Geschlechterdifferenzen an der Grenze ein Anlass für gemeinsame Projekte. Die neoliberale Grenze ist auch eine feministische Grenze. In den öffentlichen religiösen Handlungsorten sind die weiblichen Stimmen besonders präsent. Die Grenze produziert als Dilemma Geschlechterdifferenzen. Als gemeinsames Projekt ermöglicht sie jedoch auch, diese zu überschreiten. Mutterschaft bleibt dabei ein wesentlicher Aspekt, mit dem Frauen an der Grenze positioniert werden und sich zusammentun. Die neoliberale Grenze, an der die Stimmen des Feminismus besonders präsent sind, lässt sich so als Paradigma einer Komplizenschaft verstehen. Die Untersuchung öffentlicher ritueller Handlungsorte in den urbanen Übergangszonen des Grenzgebiets von Tijuana und San Diego hat demnach gezeigt, wie stark deren Handlungen von der Grenze selbst abhängig sind. Diese Abhängigkeit von der Grenzsituation produziert zugleich spezifische Formen von Gemeinschaft. Diese Formen von Gemeinschaft geben Aufschluss darüber, welche Machtverhältnisse diese Zirkulation determinieren. Die Zirkulationsräume der Grenze werden nicht nur durch die Zirkulation von Objekten bestimmt, sondern vor allem auch durch die Zirkulation von Menschen. Eine derartige Mobilität ist

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immer auch ein Ausdruck von Privilegien und Restriktionen, die hier öffentlich sichtbar gemacht werden. In dieser Hinsicht bleibt hervorzuheben, dass Komplizenschaft eine Form von Vergemeinschaftung ist, die kein Feld aufspannt, sondern aufgrund ihrer inneren Differenz ein Gefüge darstellt. In dieser Hinsicht ist Komplizenschaft selbst als ein Machtverhältnis zu betrachten. Es dient dazu, die spezifischen menschlichen Relationen in Grenzgebieten zu verstehen, mitsamt ihrer Differenzen und Asymmetrien. Komplizenschaften, in einem breiteren Diskurs kritischer Theorien betrachtet, erscheint als ein komplizierter Dialog zwischen den Eliten und den Massen. Indem dieser Dialog die Grenze zum Anlass für eine öffentliche Auseinandersetzung nimmt, wird die Komplikation der Eliten und der Massen sichtbar. Komplizenschaften als Machtkonstellation sind widerspenstig gegenüber hegemonialen Ordnungen. Stattdessen helfen sie, dominante Ordnungen zu produzieren. Sie können demnach sowohl Machtverhältnisse auflösen, als auch neu etablieren und stabilisieren. Sie lassen sich nicht klar der einen oder der anderen Seite zuordnen. Strukturell sind sie so an die Grenze gebunden, in der die Unterscheidung von „Oben“ und „Unten“ durch die Zweiseitigkeit der Grenze unscharf wird. Sie entziehen sich jeder ideologischen Verwertbarkeit. Derartige Verbindungen machen Verborgenes öffentlich sichtbar. In der Öffentlichkeit offenbart sich der performative Charakter der Komplizenschaft. Komplizenschaften wurden in der vorliegenden Arbeit daher strickt als Teil der öffentlichen urbanen Grenzlandschaft betrachtet. Ein zukünftiges Projekt kann hier ansetzen und die Bedeutung der Planungsphasen jenseits der öffentlichen Handlungsorte in den Blick nehmen. Die Phasen, die den öffentlichen Handlungen vorrausgehen und die Menschen schließlich zur aktiven Durchführung ihrer Projekte motivieren, könnten das Konzept der Komplizenschaft zusätzlich schärfen. Komplizenschaft muss im Zusammenhang mit neoliberalen Staaten und Grenzgebieten, wie dem in der vorliegenden Arbeit untersuchten, als wichtige soziale Kategorie kulturellen Wandels neu betrachtet werden. Sie hilft die Machtverhältnisse zu verstehen, die Akteure in ihren Handlungen zwischen Staat und Markt verwirklichen und denen sie auch selbst ausgesetzt sind. Diesen Komplizenschaften entsprechen Handlungen, die einen eigenen Wert in einer globalen und transnationalen Welt besitzen. Insbesondere ihre politische Dimension als handlungsorientierte Gefüge gilt es auszuloten. Entsprechende Zusammenhänge lassen sich besonders im urbanen Grenzgebiet beobachten, das einzigartige komplementäre und widersprüchliche Entwicklungen aufzeigt. Die Menge an derartigen Zusammenschlüssen beeinflusst abseits einer herkömmlichen politischen Arena die Grenzlandschaft.

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Hier entstehen zunehmend urbanisierte transnationale Räume in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander. Es bilden sich zwischenstaatliche Zonen, die wegen ihrer Lage durch wachsende Urbanisierung gekennzeichnet sind. Gleichzeitig nimmt die Sicherung und Kontrolle des Grenzregimes zu. Die Untersuchung des urbanen Grenzgebiets zwischen Tijuana und San Diego, so hat die vorliegende Arbeit gezeigt, kann die Fragestellungen der urbanen Anthropologie erweitern, denn hier liegen staatliche Regulation und transnationale soziale und kulturelle oder auch ökonomische Dispositive komplementär vor. Für die Teilnehmer von öffentlichen Festen stellt die Nähe räumlicher und landschaftlicher Regulationen spezifische Handlungsmöglichkeiten und nicht nur Hindernisse dar. Durch diese Handlungen begünstigen die Akteure jedoch auch die Wirksamkeit des Grenzregimes. Alle untersuchten öffentlichen, festlichen Vergemeinschaftungen und ihre räumlichen Bezüge sind Teil kultureller Produktion, deren Grundlage die Grenzsituation ist. Diese öffentlichen festlichen Gemeinschaften gestalten so die Grenze. Ihre Handlungen werden durch die Grenze strukturiert, und sie strukturieren wiederum die Grenzlandschaft. Ihre Existenz ist demnach an die Existenz der Grenze gebunden. Dieser Zusammenhang ermöglicht, dass eine Kategorie gemeinschaftlichen Handelns, die sonst für Operationen des Illegalen und des Heimlichen in einem hegemonialen staatlichen Deutungssystem fungierte, nun als öffentliche Handlungsstrategie sichtbar gemacht wird. Diese Handlungsstrategie besteht in einer Zusammenarbeit, die als Auseinandersetzung mit der Grenze verwirklicht wird. Diese öffentliche Komplexität als Zustand und ihre mediale Akzeptanz nehme ich als Beweis für die öffentlichen Strukturen des Grenzgebiets, in denen solche Zusammenhänge wegen der inneren Differenz zwischen den Teilnehmern immer auch Widersprüche produzierten, wie jene eines ambivalenten Grenzheiligen, Mörders und Vergewaltigers wie Juan Soldado. Im urbanen Grenzgebiet von San Diego und Tijuana existiert ein dominanter Diskurs darüber, dass die Region ein Labor für die Zukunft sei. Das Grenzgebiet und insbesondere Tijuana wird als Stadt der Experimente dargestellt. Jedoch betreffen diese Experimente oftmals nicht die Menschen, die ihre geordneten Kategorien in Sicherheit bringen wollen, weil ihnen das riskante Spiel mitunter zu bedrohlich erscheint. Dann wird die Grenze auf beiden Seiten zum Bollwerk gegen die Unsicherheit. Sie wird zum Anlass, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Nicht die Grenze allein ist es, die eine Grenzsituation produziert. Vor allem sind es die Menschen, die sie überqueren, oder aber lieber hinter ihren Mauern verbleiben. Der Ausgang ist ungewiss. Beide Strategien, die des Überschreitens der Grenze und die der Grenzziehung haben ihre Konsequenzen. Jene, die sich hinter den Mauern zurückziehen, müssen ihren Kindern erklären, wer

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ihre Feinde auf der anderen Seite sind. Jene, die die Mauern überschreiten, müssen damit leben, dass sie diese Mauern niemals einreißen können, weil ihre Handlungen von ihnen abhängen. „Die Grenze“ der vorliegenden Arbeit wurde als ein wiederkehrendes geteiltes Dilemma betrachtet. Sie dient Menschen als Anlass sich zu verbinden und eigene Interessen zu verfolgen. Diese Menschen sind Komplizen, weil sie die Differenzen, die die Grenze räumlich und sozial ausbildet, als gemeinsames Dilemma erkennbar machen. Sie sind aber auch Komplizen, weil sie diese Differenzen in einem gemeinsamen Projekt miteinander verbinden und somit bestätigen. Durch diese Arbeit bin auch ich eine Komplizin dieser Grenze, wenn ich mein Projekt in eben diesen Zusammenhängen realisiere. In diesem Sinne halte ich es mit den Stimmen der Grenzaktivisten und schließe mich ihrem Ruf an: „¡Si se puede!“1. Die Grenzen müssen auf vielen verschiedenen Wegen überquert werden, wenn die Chancen verfliegen, sie einzureißen.

1

Vgl. Ortiz (2007). Der Ruf bedeutet: „Es ist zu schaffen!“

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ABBILDUNGSNACHWEIS (T EXT ) Abbildung I: „La Mojonera – der Grenzstein, eingezäunt zur Sicherung vor Übergriffen“. (Quelle: Edward H. Mitchell, Postkarte 787, „Boundary Monument between United States and Mexico, Tia Juana, Mexico“ (1899), online verfügbar: http://tommy.coquillevalley.org/images/ TJ_Boundry1918.jpg, letzter Zugriff: 12.05.2015).

Karten und Bilder

Abbildung 1: Die urbane Grenzlandschaft von Tijuana und San Diego

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Abbildung 2: „Puente Mexico“, alter Grenzübergang Richtung Mexiko

Abbildung 3: Autoschlange am Grenzübergang Richtung USA

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Abbildung 4: Alter Grenzzaun, das Meer hat Löcher hineingetrieben

Abbildung 5: Blick Richtung San Diego durch den alten Zaun auf den neuen Zaun mit Flutlichtanlagen

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Abbildung 6: Plan des Um- und Neubaus des größten Grenzübergangs zwischen Tijuana und San Diego „San Diego Port of Entry“ und „El Chaparral“, Beginn des Umbaus Dezember 2009

Abbildung 7: Bau des neuen Grenzzaunes

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Abbildung 8: La Mojonera im „Parque del Mar“ mit neuem Grenzzaun

Abbildung 9: Sonntägliches Treffen am Grenzzaun

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Abbildung 10: Die Grenze der Posadas Sin Fronteras

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Abbildung 11: Posada Sin Fronteras 2010 am alten Grenzzaun

Abbildung 12: Posada Sin Fronteras 2012 am neuen Grenzzaun

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Abbildung 13: Der Friedhof in der „Colonia Castillo“ in Grenznähe

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Abbildung 14: Heiligenfigur Juan Soldado

Abbildung 15: Dank an Juan Soldado für den Status Resident Alien

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Abbildung 16: Ein singender Hahn für Juan Soldado

Abbildung 17: Die populärste Abbildung Juan Soldados in seiner Ikonografie

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Abbildung 18: Die zentrale Kapelle

Abbildung 19: Die zentrale Kapelle, Día de Juan 2012

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Abbildung 20: Die Kapelle am Rand des Friedhofs

Abbildung 21: Die Kapelle am Rand, Día de Juan 2011

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Abbildung 22: Die „Große Chichimeca“ als Kontaktzone

Abbildung 23: Am Denkmal der Kumiai in Tijuana

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Abbildung 24: Teodora Cuero, die Gouverneurin der Kumiai, (sitzend) bei der Caminata für die Mutter Erde

Abbildung 25: Caminata

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Abbildung 26: Der „Cuchumaa“ und die Grenze

Abbildung 27: Der „Cuchumaa“ und der Grenzzaun

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Abbildung 28: Curanderos vermitteln ihr medizinisches Wissen am „Cuchumaa“

Abbildung 29: Mesa zur Heilung am „Cuchumaa“

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Abbildung 30: Mario Aguilar und seine Tänzer

Abbildung 31: Danza Mexi‘cayotl

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Q UELLEN Abbildung 1:„Primary urban area of San Diego-Tijuana“, online unter: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/11/Location_map_San_Diego% E2%80%93Tijuana.png (letzter Zugriff: 05.07.2015), bearbeitet von Theresa Elze. Abbildung 2: Theresa Elze. Abbildung 3: Theresa Elze. Abbildung 4: Theresa Elze. Abbildung 5: Theresa Elze. Abbildung 6: „Planned Reconfiguration of San Ysidro Port of Entry“; Quelle: U.S. Customs and Border Protection, U.S. General Service Administration, Miller Hull Partnership; Mexican Consulate, SanGIS; online verfügbar unter: http://www.attheedges.com/wpcontent/uploads/2012/06/MAP-Chaparral.jpg (letzter Zugriff 14.08.2013). Abbildung 7: Theresa Elze. Abbildung 8: Theresa Elze. Abbildung 9: Theresa Elze. Abbildung 10: Karte erstellt durch Theresa Elze mit Stepmap.de (OpenStreetMap). Abbildung 11: Theresa Elze. Abbildung 12: Theresa Elze. Abbildung 13: Karte erstellt durch Theresa Elze mit Stepmap.de (OpenStreetMap). Abbildung 14: Theresa Elze. Abbildung 15: Theresa Elze. Abbildung 16: Theresa Elze. Abbildung 17: Kopie eines Gebetskärtchens (Urheberrecht am Bild ist abgelaufen). Abbildung 18: Theresa Elze. Abbildung 19: Theresa Elze. Abbildung 20: Theresa Elze. Abbildung 21: Theresa Elze. Abbildung 22: WOOSLEY, Anne; John RAVESLOOT (Hg.) (1993): Culture and Contact. Charles C. Di Peso’s Gran Chichimeca. Albuquerque, Abb. 1. Abbildung 23: Karte erstellt durch Theresa Elze mit Stepmap.de (OpenStreetMap). Abbildung 24: Theresa Elze. Abbildung 25: Theresa Elze. Abbildung 26: Karte erstellt durch Theresa Elze mit Stepmap.de (OpenStreetMap). Abbildung 27: Theresa Elze. Abbildung 28: Theresa Elze. Abbildung 29: Theresa Elze.

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Abbildung 30: Theresa Elze. Abbildung 31: Online verfügbar unter https://www.facebook.com/DanzaMexicayotl (letzter Zugriff: 19.05.2015).

Global Studies Daniela Mehler Serbische Vergangenheitsaufarbeitung Normwandel und Deutungskämpfe im Umgang mit Kriegsverbrechen, 1991-2012 Oktober 2015, ca. 370 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2850-0

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Ernst Halbmayer, Sylvia Karl (Hg.) Die erinnerte Gewalt Postkonfliktdynamiken in Lateinamerika 2012, 340 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1858-7

Roman Loimeier Eine Zeitlandschaft in der Globalisierung Das islamische Sansibar im 19. und 20. Jahrhundert 2012, 216 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1903-4

2013, 352 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2570-7

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