Strafjustiz und DDR-Unrecht: Teilband 1 Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze 9783110899542, 9783899490060

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Strafjustiz und DDR-Unrecht: Teilband 1 Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze
 9783110899542, 9783899490060

Table of contents :
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
Einführung in die Dokumentation „Strafjustiz und DDR-Unrecht“
Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze im Spiegel der Strafjustiz
Dokumente
Teil 1 : Strafverfahren gegen Grenzsoldaten
Lfd. Nr. 1 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers – Fall Gueffroy
Lfd. Nr. 2 ERSCHIeßung eines flüchtenden DDR-Bürgers – Fall M.-H. Schmidt
Lfd. Nr. 3 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers – Fall Weylandt
Lfd. Nr. 4 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers – Fall Hannemann
Lfd. Nr. 5 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers – Fall Fechter
Lfd. Nr. 6 Erschießung eines Fahnenflüchtigen – Fall Kollender
Lfd. Nr. 7 Erschießung eines Bundesbürgers nach unrechtmäßigem Grenzübertritt in die DDR – Fall Müller
Lfd. Nr. 8 Erschießung eines Bundesbürgers nach unrechtmäßigem Grenzübertritt in die DDR – Fall Lichtenstein
Lfd. Nr. 9 Erschießung eines Ausländers nach vorschriftswidrigem Grenzübertritt an einer Grenzübergangsstelle – Fall Corghi
Lfd. Nr. 10 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers nach Gefangennahme – Fall Kittel
Lfd. Nr. 11 Schüsse über die Grenze – Fall Preußner
Teil 2: Strafverfahren gegen militärische Vorgesetzte
Lfd. Nr. 12 Erteilung genereller Befehle, insbesondere Vergatterung
Lfd. Nr. 13 Erteilung von Befehlen im konkreten Fall – Fall Kühn
Lfd. Nr. 14 Erteilung von Befehlen zur Minenverlegung

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Strafjustiz und DDR-Unrecht Dokumentation

Herausgegeben von Klaus Marxen und Gerhard Werle

w DE

G_ RECHT

De Gruyter2002 Recht · Berlin

Band 2/1. Teilband: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze

Unter Mitarbeit von Toralf Rummler und Petra Schäfter

w DE

G_ RECHT

De Gruyter2002 Recht · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministerium der Justiz

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt

Die Deutsche

Bibliothek

-

CIP-Einheitsaufnahme

Strafjustiz und DDR-Unrecht : Dokumentation / hrsg. von Klaus Marxen und Gerhard Werle. - Berlin ; New York : De Gruyter Recht Bd. 2. Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze / unter Mitarb. von Toralf Rummler und Petra Schäfter Teilbd. 1 . - (2002) ISBN 3-89949-006-1 (De Gruyter Recht) ISBN 3-11-017400-6 (de Gruyter)

© Copyright 2002 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung außerhalb der e n g e n Grenzen d e s Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort zum zweiten Band Die Dokumentation „Strafjustiz und DDR-Unrecht" präsentiert der Öffentlichkeit erstmals ein vollständiges Bild der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Unrecht. Die Dokumentation ist aus dem Forschungsprojekt „Strafjustiz und DDR-Vergangenheit" hervorgegangen, das wir mit Unterstützung der VolkswagenStiftung an der HumboldtUniversität zu Berlin durchführen. Kooperationsvereinbarungen mit den Justizbehörden haben uns den Zugang zu allen einschlägigen Verfahrensunterlagen ermöglicht. Gelingen kann ein Vorhaben dieser Art und Größenordnung nur, wenn tatkräftige Hilfe von außen kommt und tüchtige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt sind. Wir haben daher zahlreichen Personen und Institutionen zu danken. Unser besonderer Dank gilt den Ministerien und Staatsanwaltschaften der Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie der Bundesanwaltschaft für die Bereitschaft, die Justizmaterialien zur Verfügung zu stellen. Gedankt sei ferner den Mitgliedern des Projektbeirats, Herrn Generalstaatsanwalt a.D. Schaefgen, dem Leiter der Abteilung Strafrecht in der Berliner Senatsverwaltung für Justiz Herrn Diwell, dem ehemaligen Richter am Bundesgerichtshof Herrn Prof. Dr. Horstkotte sowie dem Strafverteidiger Herrn Priv. Doz. Dr. Dr. Ignor, die uns bei der Konzipierung dieser Dokumentation beraten haben. Großen Dank schulden wir auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Forschungsprojekts „Strafjustiz und DDR-Vergangenheit" sowie unserer Lehrstühle, die das Werk auf vielfältige Weise unterstützt haben. An erster Stelle sind Toralf Rummler und Petra Schäfter zu nennen, die durch konzeptionelle und praktische Mitarbeit besonderen Anteil am Gelingen dieses Bandes haben. Weiterhin danken wir Johannes Beleites, Harm-Randolf Döpkens, Jenny Krieger, Alexander Lambor, Volker Neriich, Antje Pedain Camill Sander, Gregoria Palomo Suárez und Gunnar Theißen, die in verschiedenen Phasen an dem Vorhaben mitwirkten. Die VolkswagenStiftung hat durch die großzügige Förderung des Projekts „Strafjustiz und DDR-Vergangenheit" eine entscheidende Voraussetzung für die vorliegende Dokumentation geschaffen. Das Bundesministerium für Justiz schließlich hat ebenso wie die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur durch die Gewährung von Druckkostenzuschüssen den Druck dieses zweiten Bandes ermöglicht. Berlin, im Juli 2002 Klaus Marxen

Gerhard Werle

Inhalt Band 2/1 Vorwort

V

Abkürzungsverzeichnis

XI

Einführung in die Dokumentation „Strafjustiz und DDR-Unrecht" Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze im Spiegel der Strafjustiz

XVII XXVII

Dokumente Teil 1 : Strafverfahren gegen Grenzsoldaten Lfd. Nr. 1 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Gueffroy 1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 20.1.1992, Az. (523)2 Js 48/90 (9/91) 2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 25.3.1993, Az. 5 StR 418/92 3. Erneutes tatrichterliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 14.3.1994, Az. (527) 2 Js 48/90 Ks (3/93) Lfd. Nr. 2 Ern.

eliung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall M.-H. Schmidt

3 5 71 89 103

1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 5.2.1992, Az. (518)2 Js 63/90 KLs (57/91) 2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 3.11.1992, Az. 5 StR 370/92

105 135

Lfd. Nr. 3 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Weylandt

157

1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 17.6.1993, Az. (513) 2 Js 55/91 KLs (15/92) 2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 26.7.1994, Az. 5 StR 167/94 [3. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24.10.1996, Az. 2 BvR 1851/94; 2 BvR 1852/94; 2 BvR 1853/94; 2 BvR 1875/94] siehe lfd. Nr. 15-3 4. Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 22.3.2001, Beschwerde Nr. 37201/97

159 179

189

Lfd. Nr. 4 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Hannemann

217

1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 29.9.1993, Az. (529) 2 Js 153/90 Ks (24/92) 2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 20.3.1995, Az. 5 StR 111/94

219 229

Lfd. Nr. 5 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Fechter

239

Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 5.3.1997, Az. (521 ) 27/2 Js 83/90 Kls (28/96)

241

Inhalt Lfd. Nr. 6 Erschießung eines Fahnenflüchtigen - Fall Kollender

249

1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 12.9.1995, Az. (528) 2 Js 79/91 (8/92) 2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 17.12.1996, Az. 5 StR 137/96

251 277

Lfd. Nr. 7 Erschießung eines Bundesbürgers nach unrechtmäßigem Grenzübertritt in die D D R - F a l l Müller

283

1. Nichteröffnungsbeschluss des Landgerichts Berlin vom 30.3.1992, Az. (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91) 2. Beschluss (Aufhebung und Zurückverweisung) des Kammergerichts Berlin vom 9.6.1992, Az. 4 Ws 86/92; (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91 ) 3. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 28.10.1992, Az. (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91 ) 4. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 19.4.1994, Az. 5 StR 204/93

285 289 295 309

Lfd. Nr. 8 Erschießung eines Bundesbürgers nach unrechtmäßigem Grenzübertritt in die DDR - Fall Lichtenstein

315

Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Stendal vom 10.9.1997, Az. 503 Kls 16/95; 33 Js 20365/95

317

Lfd. Nr. 9 Erschießung eines Ausländers nach vorschriftswidrigem Grenzübertritt an einer Grenzübergangsstelle - Fall Corghi

333

1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Gera vom 13.5.1994, Az. 400 Js 13276/92 - 2 Ks 2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 15.2.1995, Az. 2 StR 513/94

335 347

Lfd. Nr. 10 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers nach Gefangennahme Fall Kittel

351

1. Erstinstanzliches Urteil des Bezirksgerichts Potsdam vom 9.12.1992, Az. 3 Ks 67/92 2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 20.10.1993, Az. 5 StR 473/93

353 379

Lfd. Nr. 11 Schüsse über die Grenze - Fall Preußner

389

1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 1.7.1993, Az. 1 Ks 11 Js 4457/92 2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 18.1.1994, Az. 1 StR 740/93 3. Erneutes tatrichterliches Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 20.6.1994, Az. 2 Ks 11 Js 4457/92

391 411 419

Teil 2: Strafverfahren gegen militärische Vorgesetzte Lfd. Nr. 12 Erteilung genereller Befehle, insbesondere Vergatterung

429

1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 7.6.1995, Az. (529) 27/2 Js 193/90 Ks 22/94 2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 20.3.1996, Az. 5 StR 623/95

431 441

VIII

Inhalt Lfd. Nr. 13 Erteilung von Befehlen im konkreten Fall - Fall Kühn

445

1. Nichteröffnungsbeschluss des Landgerichts Berlin vom 10.7.1992, Az. (507) 2 Js 67/90 (68/91 ) 2. Beschluss (Aufhebung und Zurückverweisung) des Kammergerichts Berlin vom 17.12.1992, Az. 4 Ws 160/92; (507) 2 Js 67/90 (68/91) 3. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 24.2.1995, Az. (507) 2 Js 67/90 KLs (68/91) 4. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 24.4.1996, Az. 5 StR 322/95

463 473

Lfd. Nr. 14 Erteilung von Befehlen zur Minenverlegung

481

Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Stendal vom 24. Mai 2000, Az. 502 K s - 6 5 4 Js 41887/98-9/98

483

447 453

Band 2/2 Teil 3: Strafverfahren gegen die politische und militärische Führung Lfd. Nr. 15 Aufrechterhaltung des Grenzregimes - Der Nationale Verteidigungsrat 1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 16.9.1993, Az. (527) 2 Js 26/90 Ks (10/92) 2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 26.7.1994, Az. 5 StR 98/94 3. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24.10.1996, Az. 2 BvR 1851/94; 2 BvR 1852/94; 2 BvR 1853/94; 2 BvR 1875/94 [4. Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 22.3.2001, Beschwerden Nr. 34044/96, 35532/97 und 44801/98] siehe lfd. Nr. 16-4 Lfd. Nr. 16 Aufrechterhaltung des Grenzregimes - Das Politbüroverfahren

499 501 599 609

643

1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 25.8.1997, Az. (527) 25/2 Js 20/92 Ks (1/95) 2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 8.11.1999, Az. 5 StR 632/98 3. Beschluss (Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde) des Bundesverfassungsgerichts vom 12.1.2000, Az. 2 BvQ 60/99; 2 BvR 2414/99 4. Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 22.3.2001, Beschwerden Nr. 34044/96, 35532/97 und 44801/98

915

Lfd. Nr. 17 Aufrechterhaltung des Grenzregimes - Das zweite Politbüroverfahren

939

Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 7.7.2000, Az. (532) 25 Js 4/94 Ks (9/96)

941

Anhang

961

645 891

911

Auswahlbibliographie zum Thema Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze

1003

Verfahrensübersicht

1013

Fundstellenverzeichnis

1049

IX

Inhalt

Gesetzesregister

1055

Ortsregister

1067

Personenregister

1069

Sachregister

1083

X

Abkürzungsverzeichnis a.A. a.F. AA aaO AB1KR ABM Abs. Abschn. ADH ADN AK AK 47 Allg. AllgErklMenschenR Alt., Altern. Amtsbl. Ani. Anm. APuZ Art. ASV AT Aufl. Az. Bd. BeHaLa BerlVGH Beschl. BG BGBl. BGH BGH LM BGHR BGHSt BGS Bl. BR BRD BT BT BT Drucks., BT-Drucks. Buchst. BVerfG BVerfGE BVerwGE bzw.

anderer Ansicht alter Fassung anderer Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Absatz Abschnitt alcohol dehydrogenase assay (Methode zur Blutalkoholbestimmung) Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Alternativkommentar Bezeichnung fiir ein Kalaschnikow Maschinengewehr Allgemein(-e, -er, -es) Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Alternative Amtsblatt Anlage Anmerkung Aus Politik und Zeitgeschichte Artikel Armeesportvereinigung Allgemeiner Teil Auflage Aktenzeichen Band Berliner Hafen- und Lagerhausbetriebe Berliner Verfassungsgerichtshof Beschluß Bezirksgericht Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, hrsg. v. Lindenmaier, Möhring u.a. (Loseblattsammlung) BGH-Rechtsprechung, hrsg. von den Richtern des Bundesgerichtshofs (Loseblattsammlung) Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bundesgrenzschutz Blatt Bundesrat Bundesrepublik Deutschland Beobachtungsturm Bundestag Bundestags-Drucksache Buchstabe Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Beziehungsweise

Abkürzungsverzeichnis ccm CDU cm CSSR CSU DA DBD DDR DFD DHO DM Drs. DSF DTSB DtZ DuR DV DVdl DVP ebd. EG EGBGB EGMR EGStGB ehem. EK EKHK EMRK EuGRZ EV EVG f. FDGB FDJ FDP ff. FRR FS GA GBl. geb. gel. gem. gez. GG GK GMS GR GrenzG GrenzO GSSD GST GT XII

Kubikcentimeter Christlich-demokratische Union Centimeter Tschechoslowakische Sozialistische Republik Christlich-soziale Union Deutschland-Archiv Demokratische Bauernpartei Deutschlands Deutsche Demokratische Republik Demokratischer Frauenbund Deutschlands Diensthabender Offizier Deutsche Mark Drucksache Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft Deutscher Turn- und Sportbund Deutsch-deutsche Rechts-Zeitschrift Demokratie und Recht Dienstvorschrift Deutsche Verwaltung des Innern Deutsche Volkspolizei ebenda Europäische Gemeinschaft Einfiihrungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch ehemalig(er) Entlassungskandidaten Erste/r Kriminalhauptkomissar/in Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Grundrechtszeitschrift Einigungsvertrag Europäische Verteidigungsgemeinschaft folgende Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei folgende Flak-Raketen-Regiment Festschrift Goltdammer's Archiv Gesetzblatt geboren gelernt(er) gemäß gezeichnet Grundgesetz Grenzkommando Gesellschaftlicher Mitarbeiter Staatssicherheit Grenzregiment Grenzgesetz (der DDR) Grenzordnung (der DDR) Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland Gesellschaft für Sport und Technik Grenztruppen

Abkürzungsverzeichnis GÜST GVG GVS GWW HA Hrsg. i.d.F. i.d.R. i.V. i.V.m., i.V. mit ICCPR ICJ Reports ICTY id idF IKRK IM IMT Inf.-Sperre IPBPR, IPbürgR iV JGG JR JuS JZ Κ Kai. Kap. KB Kdr. Kfz KG KHK KK km KOK KP KPD KPdSU KPI KPP KPTsch KritV KS KSZE LDPD lfd. lit. LK Lkw, LKW LMG

Grenzübergangsstelle Gerichtsverfassungsgesetz Geheime Verschlußsache Gesellschaftswissenschaftliche Weiterbildung Hauptabteilung Herausgeber in der Fassung in der Regel in Verbindung oder in Vertretung in Verbindung mit International Convention on Civil and Political Rights (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte) International Court of Justice - Reports (Entscheidungssammlung des Internationalen Gerichtshofes) International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia in der in der Fassung Internationales Komitee vom Roten Kreuz Inoffizieller Mitarbeiter (des Ministeriums für Staatssicherheit) International Military Tribunal Infanteriesperre Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte in Verbindung Jugendgerichtsgesetz Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung Kontrollstreifen oder Kalaschnikow (Maschinenpistole) Kaliber Kapitel Kulturbund Kommandeur(e) Kraftfahrzeug Kammergericht Kriminalhauptkommissar Karlsruher Kommentar Kilometer Kriminaloberkommissar Kontrollpunkt Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Kriminalpolizeiinspektion Kontrollpassierpunkt bzw. Kontrollpassierposten Kommunistische Partei Tschechiens Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Maschinenpistole) Kalaschnikow Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Liberaldemokratische Partei Deutschlands laufend(e) Buchstabe Leipziger Kommentar Lastkraftwagen leichtes Maschinengewehr XIII

Abkürzungsverzeichnis LPG m, M m.w.N., m.w.Nachw. m/s, m/sec. marx.-lenin. MB1.-DDR Mdl MDR MfNV MfS MG MilStGB mm mN MOT MP, MPi MRK MStGB MUK n.F. n.n.bez. NATO NDPD Nds. Rpfl. NJ NJW Nr. nrk NStE NStZ NVA NVR NZWehrR öff. OEEC OG OGHSt OLG OPD OStA OZW Ρ PaßG PaßVO PB PDS PF PHK PKE PKW PMD

XIV

Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Meter mit weiteren Nachweisen Meter pro Sekunde marxistisch-leninistisch Ministerialblatt der Deutschen Demokratischen Republik Ministerium des Innern Monatsschrift für Deutsches Recht Ministerium für Nationale Verteidigung Ministerium für Staatssicherheit Maschinengewehr Militärstrafgesetzbuch Milimeter mit Nachweisen motorisiert Maschinenpistole (Europäische) Menschenrechtskonvention Militärstrafgesetzbuch Morduntersuchungskommission neue(r) Fassung Nicht näher bezeichnet North Atlantic Treaty Organization (Nordatlantikpakt) Nationaldemokratische Partei Deutschlands Niedersächsische Rechtspflege Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Nummer nicht rechtskräftig Neue Entscheidungssammlung für Strafrecht, hrsg. von Kurt Rebmann u.a. Neue Zeitschrift für Strafrecht Nationale Volksarmee Nationaler Verteidigungsrat Neue Zeitschrift für Wehrrecht öffentlich(-e, -er, -es) Organisation for European Economic Co-operation (Organisation fur Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit) Oberstes Gericht der Deutschen Demokratischen Republik Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone in Strafsachen Oberlandesgericht Operativ(er) Diensthabender Oberstaatsanwalt Operatives Zusammenwirken Posten Paßgesetz (der DDR) Paß- und Visaverordnung (der DDR) Politbüro Partei des demokratischen Sozialismus Postenführer Polizeihauptkommissar/-in Paßkontrolleinheit Personenkraftwagen Bezeichnung eines Minentyps

Abkürzungsverzeichnis PMN PMO PMP POMS PPM PTU PVAO Rdn., RdNr. RGBl. RGW RHG RIAS-TV rk RuP s. S. s.o. s.u. Sankra SBZ SED SEK SJZ SKK Slg. SM SMAD sog. SPD S-Rolle SRR st. Rspr. StÄG StEG Stellv. Sten. StGB StGB-DDR StGB/DDR StPO StrEG StRG stRspr StrV, StV TNT u.B. U. v. UA UdSSR UN UNO UNTS Urt.

Bezeichnung eines Minentyps Bezeichnung eines Minentyps Bezeichnung eines Minentyps Bezeichnung eines Minentyps Bezeichnung eines Minentyps Polizeitechnische Untersuchungsanstalt Paß- und Visaanordnung (der Deutschen Demokratischen Republik) Randnummer Reichsgesetzblatt Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Rechtshilfegesetz Fernsehen des Rundfunks im Amerikanischen Sektor rechtskräftig Recht und Politik siehe Seite siehe oben siehe unten Sanitätskraftwagen Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sondereinsatzkommando Süddeutsche Juristenzeitung Sowjetische Kontrollkommission Sammlung Schützenmine, Splittermine bzw. Signalmine Sowjetische Militäradministration in Deutschland sogenannt(-e, -er, -es) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Stacheldrahtrolle Sozialistische Republik Rumänien ständige Rechtsprechung Strafrechtsänderungsgesetz Strafrechtsergänzungsgesetz stellvertretende(-r, -s) Stenographisch Strafgesetzbuch Strafgesetzbuch der D D R Strafgesetzbuch der DDR Strafprozeßordnung Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen Strafrechtsreformgesetz Ständige Rechtsprechung Strafverteidiger Trinitrotoluol (Bezeichnung für Sprengstoff) unter Berücksichtung Urteil vom Urteilsausfertigung oder Urteilsabschrift Union der Sowjetischen Sozialistischen Republiken United Nations (Vereinte Nationen) United Nations Organization United Nations Treaty Series Urteil

XV

Abkürzungsverzeichnis US USA UVR UZwG UZwGBw V0 VdgB VEB Verf. VerfDDR verh. VerjährungsG vgl. VO VoPoG vorl. VP VPKA VRB VRP VSH-Kartei VVDStRL WS Wahlper. WStG ZaöRV ZB1. DDR Ziff. ZK ZRP ZStW, ZStrW zul.

XVI

United States (Vereinigte Staaten) United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika) Ungarische Volksrepublik Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwangs und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und zivile Wachpersonen Mündungsgeschwindigkeit Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe Volkseigener Betrieb Verfassung Verfassung der DDR verheiratet Verjährungsgesetz vergleiche Verordnung Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei vorläufige(-r, -s) Volkspolizei Volkspolizeikreisamt Volksrepublik Bulgarien Volksrepublik Polen Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Vertrauliche Verschlußsache Wahlperiode Wehrstrafgesetz Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zentralblatt der Deutschen Demokratischen Republik Ziffer Zentralkomitee Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zuletzt

Einführung in die Dokumentation „Strafjustiz und DDR-Unrecht" Beabsichtigt ist eine umfassende Dokumentation der strafrechtlichen Verfolgung systembedingten DDR-Unrechts. Zeitlich setzt die Dokumentation im Jahre 1989 ein, denn erste Verfahren wurden schon unmittelbar nach der politischen Wende noch in der DDR betrieben. Den weitaus größeren Teil der dokumentierten Verfahren führte allerdings die Strafjustiz der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung durch. Die Dokumentation bietet vor allem zwei übergreifende Perspektiven. Sie zeigt erstens die Strafverfolgungsaktivitäten der Justiz auf, und sie gibt zweitens zeitgeschichtlich bedeutsame Feststellungen wieder. Damit ermöglicht die Dokumentation nicht nur eine fundierte kritische Auseinandersetzung mit der strafrechtlichen Aufarbeitung des DDRUnrechts selbst; vielmehr wird auch die DDR-Vergangenheit mittelbar zum Gegenstand der Dokumentation. So richtet sich das Angebot des Gesamtvorhabens sowohl an die allgemeine Öffentlichkeit wie auch an die Fachöffentlichkeit verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen: Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Sozialwissenschaften.

I. Begründung des Vorhabens Mit der Strafverfolgung von DDR-Unrecht unternahm die deutsche Justiz einen weiteren Versuch, Systemkriminalität aufzuarbeiten. Zuvor waren - im Osten und im Westen Deutschlands - Strafverfahren gegen NS-Täter durchgeführt worden. Ihnen waren die Strafverfolgungsmaßnahmen der Alliierten vorangegangen, die mit den Nürnberger Prozessen ihren Anfang genommen hatten. Die Linie der Verfolgung staatlich initiierter Kriminalität führt bis hin zu den Tribunalen, die derartige im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda begangenen Verbrechen ahnden. Die Verfolgung von DDR-Unrecht ist ungeachtet aller Besonderheiten dieser Verfahren - Bestandteil einer Entwicklung, die darauf zielt, die faktische Straflosigkeit der Kriminalität der Mächtigen zu beenden. Diese Ausdehnung der Herrschaft des Rechts verdient es, eine Wende genannt zu werden. Sie leitet einen neuen Abschnitt in der Entwicklung des Rechts ein. Gesellschaftlich, politisch und juristisch sollte diesem Vorgang daher höchste Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dazu bedarf es einer uneingeschränkten und ungefilterten Wahrnehmung. Eine solche Wahrnehmung soll diese Dokumentation für den Bereich der Strafverfolgung von DDR-Unrecht ermöglichen. Auch zeithistorische Gründe rechtfertigen das Vorhaben. Zum einen bieten die Justizdokumente eine wertvolle historische Materialgrundlage, denn sie enthalten zeitgeschichtlich bedeutsame Feststellungen, die durch die hohen Beweisanforderungen des Strafverfahrens abgesichert sind. Zum anderen bildet die Dokumentation einen justiziellen Vorgang ab, der sich nach Art und Umfang deutlich von den sonstigen Justizaktivitäten abhebt. Bei der politischen und historischen Bewertung dieses Vorgangs wird nicht allein danach gefragt werden, ob die Justiz ihre selbst gesteckten Ziele erreicht hat. Vielmehr werden Nutzen und Nachteil der Verfahren für den Prozess der deutschen

Einführung

Rechtsgrundlagen der Strafverfolgung von DDR-Unrecht

Vereinigung ein wichtiges Thema sein, für dessen Behandlung die Dokumentation das wesentliche Material bereitstellt. Die Bewertungen der Strafverfahren wegen DDR-Unrechts gehen weit auseinander. Nicht wenige sind der Ansicht, dass die Justiz einen Irrweg beschritten habe. Sie vermissen eine ausreichende Rechtsgrundlage, erheben wegen der Unvergleichbarkeit von DDR-Unrecht und NS-Verbrechen den Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit und kritisieren die Verfahren als verkappte politische Abrechnung und letztlich als „Siegeijustiz". Andere dagegen lasten der Justiz an, nur halbherzig gegen Systemtäter vorgegangen zu sein und dadurch den Systemopfern Genugtuung verweigert zu haben. Die Justiz habe die Hauptverantwortlichen verschont und viel zu milde Strafen verhängt. Dieser Meinungsstreit beruht zu einem erheblichen Teil auf einer jeweils nur selektiven Wahrnehmung des Gesamtvorgangs. Darin wirkt sich nicht allein der Unterschied der politischen Standpunkte aus. Grenzen sind auch denjenigen gesetzt, die sich unvoreingenommen eine Meinung bilden wollen. Denn die dafür nötige Materialbasis steht nicht zur Verfügung. Die Medien und die juristische Fachpresse bieten nur Ausschnitte. Die Medien konzentrieren sich auf spektakuläre Einzelfälle. In der juristischen Fachöffentlichkeit sind fast nur Entscheidungen aus dem Bereich höchstrichterlicher Rechtsprechung präsent. Ihre Auswahl erfolgt nach rein rechtlichen Gesichtspunkten. Als Endprodukte verraten sie nichts über den Verlauf der Strafverfolgung und über den Rechtsfindungsgang. Weitgehend ausgeblendet bleibt auch der zeithistorisch besonders bedeutsame Vorgang der Sachverhaltsfeststellung, für den die unteren Instanzen zuständig sind. Nicht einmal ansatzweise kommt der Gesamtvorgang in den Blick. Die Selektivität der Wahrnehmung gilt es zu beseitigen, damit eine sachliche Diskussion über Stärken und Schwächen der Strafverfolgung von DDR-Unrecht geführt werden kann. Ein geeignetes Mittel dafür ist eine auf Vollständigkeit angelegte Dokumentation.

II. Rechtsgrundlagen der Strafverfolgung von DDR-Unrecht Auch nach der deutschen Wiedervereinigung sollte DDR-Unrecht verfolgt werden können. Das geht zweifelsfrei aus Regelungen im Einigungsvertrag und in Folgegesetzen hervor, die das anzuwendende Recht und Verjährungsfragen betreffen. Nach Artikel 8 des Einigungsvertrages wurde mit dem Beitritt der DDR das Strafrecht der Bundesrepublik gesamtdeutsch verbindlich. Auf vorher in der DDR begangene Straftaten, sog. „DDR-Alttaten", ist nach Artikel 315 Absatz 1 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch § 2 des Strafgesetzbuches anzuwenden. Daraus ergibt sich: Zunächst muss die Tat nach beiden Rechtsordnungen, also nach DDR-Recht wie nach bundesdeutschem Recht strafbar sein (Zwei-Schlüssel-Ansatz). Trifft dies zu, so ist das mildere Recht anzuwenden. Für die Ahndung von DDR-Unrecht ist damit das Meistbegünstigungsprinzip maßgeblich. Es veranlasst eine Prüfung in mehreren Schritten. Dem ersten Prüfungsschritt liegt das Strafrecht der DDR zugrunde. Ausgeschieden werden die Fälle, die bereits nach diesem Strafrecht straflos sind. Der zweite Prüfungsschritt gilt der Frage, ob in den verbleibenden Fällen eine Strafbarkeit auch nach dem Strafrecht der Bundesrepublik gegeben ist. Ein positives Ergebnis hat zur Folge, dass nun nach der Unrechtskontinuität zwischen den anwendbaren Vorschriften des DDRStrafrechts und des Strafrechts der Bundesrepublik gefragt wird. Eine bloß formale XVIII

Konzeption und Ziele der Dokumentation

Einführung

Übereinstimmung der Vorschriften genügt nämlich nicht. Es muss sichergestellt sein, dass das alte und das neue Recht im Wesentlichen denselben Unrechtstyp erfassen. Andernfalls würde das strafrechtliche Rückwirkungsverbot verletzt. Wird die Unrechtskontinuität bejaht, so folgt als letzter Prüfungsschritt der Vergleich der Strafvorschriften mit dem Ziel, die mildere Strafdrohung zu bestimmen. Verjährungsfragen regelt Artikel 315a des Einfuhrungsgesetzes zum Strafgesetzbuch. Die Vorschrift sieht vor, dass eine bis zum Beitritt noch nicht eingetretene Verjährung mit dem Tag des Beitritts als unterbrochen gilt. Die Unterbrechung hat zur Folge, dass die Frist in voller Länge erneut zu laufen beginnt. Die Regelung zielt auf eine Kompensation des Zeitaufwandes, der fur den Neuaufbau der Justiz auf dem Gebiet der früheren DDR zu veranschlagen war. Nachdem sich abzeichnete, dass der justizielle Neuaufbau mehr Zeit in Anspruch nahm, als ursprünglich vorgesehen, wurden 1993 und 1997 Gesetze erlassen, die die Verjährungsfristen verlängerten. Zudem stellte ein weiteres 1993 erlassenes Veijährungsgesetz klar, dass systembedingte Straftaten verfolgbar blieben, auch wenn die Verjährungsfrist noch vor dem Beitritt abgelaufen war. Da eine Verfolgung von Taten dieser Art in der DDR unterblieb, wurde - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung zu systembedingten Straftaten in der NS-Zeit - ein Ruhen der Verjährung angenommen. Im Wesentlichen blieb es bei diesen Vorgaben. Verfassungs- und Gesetzgeber verzichteten auf eine weitergehende Gestaltung der Strafverfolgung von DDR-Unrecht. Die Aufgabe einer Präzisierung der rechtlichen Grundlagen musste zur Hauptsache von der justiziellen Praxis bewältigt werden. Auch dieser Umstand rechtfertigt eine Dokumentation des justiziellen Vorgehens.

III. Konzeption und Ziele der Dokumentation Dokumentiert werden soll die strafrechtliche Aufarbeitung des systembedingten DDRUnrechts. Was unter „systembedingt" zu verstehen ist, hat die Justiz selbst durch die Organisationsform der Schwerpunktstaatsanwaltschaft und die Bildung von Fallgruppen in der Entscheidungspraxis näher bestimmt. Als systembedingt sind danach Taten anzusehen, die durch das System, das den Staat DDR trug, initiiert, gefördert oder geduldet wurden. Dazu sind folgende Fallgruppen zu zählen: Wahlfälschung, Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, Rechtsbeugung, Amtsmissbrauch und Korruption, Straftaten unter Beteiligung des Ministeriums für Staatssicherheit, Denunziation, Misshandlung von Gefangenen, sonstige Wirtschaftsstraftaten, Doping sowie Spionage. Darüber hinaus wurden von den Schwerpunktstaatsanwaltschaften teilweise auch Taten verfolgt, die erst nach dem Ende der DDR begangen wurden. Dazu gehören etwa Fälle vereinigungsbedingter Wirtschaftskriminalität und Aussagedelikte, die im Zusammenhang mit Strafverfahren wegen DDR-Unrechts verübt wurden. Diese Bereiche bleiben hier jedoch unberücksichtigt, weil schon aus zeitlichen Gründen allenfalls ein mittelbarer Zusammenhang mit dem System der DDR besteht. Die Dokumentation soll gewährleisten, dass die Strafverfolgung in ihrem zeitlichen Ablauf vollständig abgebildet wird. Einbezogen werden daher auch die Verfahren, die nach der politischen Wende noch in der DDR begonnen und teilweise dort sogar abgeschlossen wurden. Im Zentrum stehen allerdings die Strafverfahren, die die Justiz der

XIX

Einführung

Materialgewinnung

Bundesrepublik Deutschland nach dem Beitritt der DDR am 3. Oktober 1990 durchgeführt hat. In die Dokumentation werden nur Verfahren aufgenommen, in denen Anklage erhoben wurde. Denn erst mit der Anklageerhebung verlässt das Strafverfahren das Stadium unabgeschlossener Ermittlungen und ungesicherter Annahmen über Tat und Täter. Zur Hauptsache werden gerichtliche Sachurteile dokumentiert. Die in ihnen getroffenen oder überprüften Sachverhaltsfeststellungen sind durch erhöhte Anforderungen an die Beweiserhebung und -Würdigung abgesichert. Auch bestimmen maßgeblich Entscheidungen dieser Art über die Reichweite staatlicher Strafverfolgung, weil sie verbindlich zwischen strafbarem und straflosem Verhalten abgrenzen. Daneben werden Prozessurteile und gerichtliche Beschlüsse wiedergegeben, sofern sie Verlauf und Ergebnis des Verfahrens wesentlich mitgestaltet haben. Auf Anklagen und Einstellungsentscheidungen wird ausnahmsweise dann zurückgegriffen, wenn eine Identifizierung des Verfahrensgegenstandes anders nicht möglich ist. Die Fallgruppen bestimmen den Aufbau der Dokumentation. Nach ihnen richtet sich auch die Aufteilung in Einzelbände. Damit wird den erheblichen Unterschieden zwischen den Fallgruppen Rechnung getragen. Sie betreffen nicht allein die tatsächliche und rechtliche Seite des jeweiligen Unrechtskomplexes, sondern auch die Verfolgungspraxis. Die Präsentation nach Fallgruppen lässt die jeweiligen Besonderheiten in der Entwicklung der justiziellen Verarbeitung deutlich hervortreten und bringt über den einzelnen Fall hinausgehende zeithistorische Zusammenhänge zur Geltung.

IV. Materialgewinnung Das Dokumentationsvorhaben war nicht leicht zu realisieren. Denn die Strafverfolgung von DDR-Unrecht wurde dezentral betrieben. Auf die Einrichtung einer zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen, vergleichbar derjenigen in Ludwigsburg zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, wurde verzichtet. Die Materialien mussten also über die im jeweiligen Fall zuständigen Staatsanwaltschaften gewonnen werden. Diese Bemühungen konnten sich auf die neuen Bundesländer und Berlin konzentrieren, weil die Verfahren nach den strafprozessrechtlichen Zuständigkeitsregeln fast ausnahmslos dort durchzufuhren waren. Etwas erleichtert wurde das Vorhaben durch organisatorische Maßnahmen im Bereich der Staatsanwaltschaften in den Jahren 1992 und 1993. Die neuen Bundesländer übertrugen die Zuständigkeit auf Schwerpunktstaatsanwaltschaften oder Schwerpunktabteilungen bei Staatsanwaltschaften. Berlin richtete eine allein mit den Verfahren wegen DDR-Unrechts befasste Staatsanwaltschaft II ein. Mit diesen Staatsanwaltschaften sowie mit der für die Spionageverfahren zuständigen Bundesanwaltschaft mussten unter Einbeziehung der jeweiligen Justizministerien Absprachen darüber getroffen werden, wie die einschlägigen Verfahren erfasst werden konnten und in welchen Formen eine Überlassung und Verwertung von Verfahrensmaterialien möglich war. Zu beteiligen waren auch die für den Datenschutz zuständigen Behörden, weil StrafVerfahrenakten datenschutzrechtlich besonders sensibles Material enthalten. Es bedurfte somit umfangreicher Kooperationsvereinbarungen. Auch musste für die Erfassung, die Übergabe, die Anonymisierung, die Verarbeitung mit EDV-Mitteln und die Aufbewahrung der Materialien ein hoher personeller und organisatorischer Aufwand XX

Materialauswahl

Einführung

geleistet werden. Derartige Aufgaben überfordern Einzelpersonen und auch universitäre Einrichtungen. Nötig war die Etablierung eines Forschungsprojekts auf Drittmittelbasis. Die Förderungszusage der VolkswagenStiftung ermöglichte die Einrichtung des Forschungsprojekts „Strafjustiz und DDR-Vergangenheit" an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Projekt entwickelte Formen der Kooperation mit den beteiligten Behörden, die eine vollständige Erfassung und sachgerechte Verarbeitung gewährleisteten. Die Staatsanwaltschaften machten dem Projekt die relevanten Verfahrensmaterialien in kopierter Form zugänglich. Die Anonymisierung der Daten solcher Personen, die nicht zu den Personen der Zeitgeschichte gehören, erfolgte zunächst noch vor Übernahme der Materialien in den Arbeitsbereich des Projekts, nach Änderung der datenschutzrechtlichen Auflagen vor Veröffentlichung der Texte. Im Projekt wurden die Verfahren und die Materialien mit kennzeichnenden Daten sowie die Texte der Materialien unter Einsatz von EDV-Techniken verarbeitet. In regelmäßig Abständen wurde der Bestand an Verfahren und Verfahrensmaterialien mit den Staatsanwaltschaften abgeglichen. Dadurch ist sichergestellt, dass das Projekt zumindest für den Zeitraum seit der Begründung spezieller staatsanwaltschaftlicher Zuständigkeiten in den Jahren 1992 und 1993 über eine vollständige Materialsammlung verfugt. Dagegen können Lücken für den Zeitraum davor nicht völlig ausgeschlossen werden. Betroffen sind Verfahren, die vor der Wiedervereinigung noch von DDR-Staatsanwaltschaften und in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung von örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften der Bundesrepublik Deutschland eingeleitet wurden. Sie sind nirgends systematisch erfasst. Die Quote fehlender Verfahren dürfte jedoch gering sein. Das Projekt ist allen Hinweisen auf derartige Verfahren nachgegangen, die sich aus den erfassten Verfahren und aus der Presseberichterstattung ergaben. V. Materialauswahl Der Intention einer vollständigen Dokumentation würde der Volltextabdruck sämtlicher Dokumente aus allen Verfahren am besten entsprechen. Der Umfang einer solchen Publikation würde jedoch jedes vertretbare Maß übersteigen. Zudem hätten zahlreiche Dokumente einen weitgehend identischen Inhalt. Es war daher eine Materialauswahl vorzunehmen. Sie orientierte sich an den folgenden generellen Leitlinien. Es war sicherzustellen, dass die wesentlichen Strafverfolgungsaktivitäten vollständig abgebildet wurden. Auch mussten die dokumentierten Verfahren in ihrem Ablauf nachvollziehbar bleiben. Zur Hauptsache sollten, wie oben dargelegt, tat- und revisionsrichterliche Entscheidungen mit wichtigen rechtlichen Aussagen und zeitgeschichtlich bedeutsamen Sachverhaltsfeststellungen zur Geltung kommen. Nur ausnahmsweise sollte auf sonstige richterliche und staatsanwaltschaftliche Entscheidungen oder sonstige Materialien zurückgegriffen werden. Welche Konsequenzen diese Leitlinien für die einzelnen Fallgruppen hatten, wird in der Einleitung der einzelnen Bände dargelegt. Dort werden auch zusätzliche spezielle Auswahlkriterien erläutert, die sich aus den Besonderheiten der einzelnen Fallgruppen ergaben.

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Einführung

Systematik der Dokumentation/Bearbeitung der Materialien

VI. Systematik der Dokumentation Die Dokumentation ist nach Fallgruppen in Einzelbände aufgeteilt. Besonders umfangreiche Fallgruppen erstrecken sich auf zwei Bände. Die Dokumentation der Fallgruppen ist so angelegt, dass eine separate Nutzung der Bände möglich ist. Geplant ist ein Gesamtumfang von etwa zehn Bänden. Die Abfolge des Erscheinens richtet sich nach dem Stand der Verfolgungsaktivitäten. Vorrangig werden Fallgruppen dokumentiert, in denen die Strafverfolgung vollständig oder nahezu abgeschlossen ist. Im Zentrum jedes Einzelbandes steht der Dokumententeil. Die darin enthalten Verfahren sind mit laufenden Nummern und einem Kurztitel versehen, der den Verfahrensgegenstand benennt. Vorangestellt ist ein Verzeichnis der aus diesem Verfahren zum Abdruck kommenden Materialien. Die Abfolge der dokumentierten Verfahren richtet sich nach den Besonderheiten der Fallgruppe. Sie wird in der Einleitung des Einzelbandes dargelegt und begründet. Die zu einem Verfahren gehörenden Dokumente werden chronologisch nach dem Zeitpunkt der Entscheidung angeordnet. An erster Stelle ist in der Regel das erstinstanzliche Urteil abgedruckt. Es folgen, soweit vorhanden, Entscheidungen weiterer Instanzen. Die jeweils zuletzt wiedergegebene Entscheidung hat, sofern nichts anderes angemerkt ist, Rechtskraft erlangt. Den einzelnen Dokumenten ist ein Inhaltsverzeichnis vorangestellt. Dem Dokumententeil geht ein einleitender Beitrag voraus. Er enthält für die jeweilige Fallgruppe einen Überblick über Gegenstand, Umfang und Entwicklung der Strafverfolgungsmaßahmen. Ferner werden darin die Materialauswahl und die Reihenfolge der Wiedergabe erläutert. Ein dem Dokumententeil nachfolgender umfangreicher Anhang bietet weiterfuhrende Informationen sowie mehrere Register (näher dazu unten VIII).

VII. Bearbeitung der Materialien Größtmögliche Authentizität ist durch Wiedergabe von Dokumenten im FaksimileAbdruck erreichbar. Davon wurde jedoch abgesehen, weil die Bände viel zu umfangreich geworden wären. Auch wäre es wegen der erheblichen formalen Unterschiede der einzelnen Dokumente nicht möglich gewesen, eine übersichtliche und gut lesbare Dokumentation vorzulegen. Günstige Rezeptionsbedingungen lassen sich unter weitgehender Wahrung der Authentizität durch einen Abdruck von Texten im Wortlaut erreichen. Dieser Weg wurde hier gewählt. Die editorische Grundlinie lautet daher: Texteingriffe werden nur vorgenommen, wenn sie aus datenschutzrechtlichen Gründen unvermeidlich und zur Gewährleistung von Übersichtlichkeit und Lesbarkeit geboten sind. Selbstverständlich werden Eingriffe durch Kürzungen oder Zusätze als solche kenntlich gemacht. Annotierungen haben, wie es dem Charakter einer Quellenedition entspricht, lediglich die Funktion, Verständnishilfe zu bieten. Auf Bewertungen jeder Art wird verzichtet. Im Einzelnen wurden an den Materialien, die fast ausnahmslos als Kopien der Originaldokumente vorlagen, folgende Bearbeitungsschritte vorgenommen (vgl. auch das Beispiel auf S. XXV). Zunächst erfolgte eine Überprüfung der Materialien unter dem Gesichtspunkt des Persönlichkeitsschutzes. Stets wurden Tag und Monat des Geburts-

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Bearbeitung der Materialien

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datums sowie Angaben zum Geburts- und Wohnort entfernt. Ferner wurden Nachnamen bis auf den Anfangsbuchstaben unkenntlich gemacht, sofern die Betroffenen nicht zum Kreis der Personen der Zeitgeschichte gehören. Wiesen Personen identische Anfangsbuchstaben auf und war eine Verwechslung nicht auszuschließen, so blieb auch der zweite Buchstabe des Namens erhalten. Im Falle einer auch dann noch bestehenden Übereinstimmung wurden völlig andere Buchstaben vergeben. Nach der Anonymisierung personenbezogener Angaben wurden die Kopien mit Hilfe eines Scanners eingelesen. Es schloss sich eine Bearbeitung der Dateien mittels eines Textverarbeitungsprogramms an. In mehreren Korrekturdurchläufen wurde die Übereinstimmung mit der kopierten Vorlage überprüft. Eine inhaltliche Überprüfung - z.B. der in den Texten verwendeten Zitate - wurde nicht vorgenommen. Die äußere Gestaltung der Texte wurde unter Wahrung größtmöglicher Nähe zum Original vereinheitlicht. Zur Erleichterung der Identifizierung und Zuordnung des Dokuments wurde ein Text mit folgenden Angaben vorangestellt: Aussteller sowie Datum, Aktenzeichen und Art des Dokuments. Zitate im Text erhielten eine einheitliche Form. Hervorhebungen blieben erhalten, soweit sie nicht Namen von Verfahrensbeteiligten betrafen. Das gilt auch für Hervorhebungen in Zitaten. Bei ihnen muss offen bleiben, ob sie Bestandteil des Zitats sind oder hinzugefügt wurden. Aufgenommen wurde die Seitenzählung des Originals. Sie ist mit geschweiften Klammern „{ }" eingefugt. Genannt wird die Zahl der Seite, die im Original der angegebenen Stelle folgt. Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden in der vorgefundenen Form belassen. Eingegriffen wurde lediglich in Fällen offensichtlicher Schreib- und Zeichensetzungsfehler. Sie wurden - ohne Kennzeichnung - korrigiert. Fehler sonstiger Art wurden durch Ann* ingen ausgewiesen. Fehlten Wörter oder Satzteile, so wurde der fehlende Text in eckigen Klammern eingefügt, falls er aus dem Kontext zweifelsfrei zu erschließen war. Selten aufgetretene unleserliche Passagen wurden durch den Hinweis „ unleserlich kenntlich gemacht. Über die Anonymisierung personenbezogener Angaben hinaus wurden Textkürzungen nur in Ausnahmefällen vorgenommen. Im Wesentlichen dienten sie dazu, unnötige Wiederholungen zu vermeiden oder Textteile entfallen zu lassen, die wegen der Anonymisierung bedeutungslos geworden waren. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden gelegentlich auch Textpassagen mit datenschutzrechtlich besonders sensiblen Informationen gestrichen, wie etwa gutachtliche Aussagen über den Gesundheitszustand von Angeklagten. Die Stelle des weggelassenen Textes nimmt eine kurze Beschreibung des Inhalts ein. Ihr ist das Zeichen „®" voran- und nachgestellt, das die Kürzung kenntlich macht. Es unterscheidet sich deutlich von Auslassungen im Original („...")· Generell weggelassen wurden Verweise auf Beiakten und Beweismittelordner, ebenso wie Ausführungen zu den Verfahrenskosten. Gelegentlich wurde, um den Text besser erfassbar zu machen, eine Überschrift hinzugefugt, die sich auf Grund der Untergliederung des Textes aufdrängte. Eckige Klammern markieren den Beginn und das Ende des Zusatzes. Die Anmerkungen, die dem jeweiligen Dokument nachfolgen, sind knapp gehalten. Sie erklären Fachbegriffe und weisen auf historische Zusammenhänge hin, die nicht als bekannt vorausgesetzt werden können. Nähere Erläuterungen zu historischen und politischen Hintergründen enthalten die Einleitungen zu den Einzelbänden. Die AnmerkunXXIII

Einführung

Hilfsmittel/Ergänzung der Dokumentation

gen verweisen ferner auf verfahrenspraktische Zusammenhänge, z.B. auf andere Strafverfahren gegen den Angeklagten oder auf Strafverfahren gegen im Dokument erwähnte Personen. Vollständigkeit ist insoweit jedoch nicht gewährleistet. Die Anonymisierung, die nach den zunächst geltenden datenschutzrechtlichen Auflagen vor der Verarbeitung vorzunehmen war, erschwerte die Zuordnung. Abkürzungen werden nicht in Anmerkungen, sondern in einem gesonderten Verzeichnis erläutert.

VIII. Hilfsmittel Die Erschließung der Dokumente wird durch verschiedene Hilfsmittel erleichtert. Das Abkürzungsverzeichnis steht vor dem Dokumententeil. Im Anhang sind zunächst Gesetze und andere Rechtsvorschriften abgedruckt, die für die jeweilige Fallgruppe von Bedeutung sind. Gelegentlich werden weitere Materialien hinzugefügt, die für das Verständnis historischer Zusammenhänge wichtig sind, z.B. Organigramme von DDRInstitutionen. Anschließend ist in einer Auswahlbibliographie die einschlägige juristische und zeitgeschichtliche Literatur zusammengestellt. Es folgt eine Übersicht über alle Verfahren der jeweiligen Deliktsgruppe, die bis zur Fertigstellung des Manuskripts bekannt waren. Dieser Übersicht lassen sich die Aktenzeichen, die Urteile sowie die Verfahrensergebnisse für die einzelnen Angeklagten entnehmen. Das Fundstellenverzeichnis zeigt auf, ob und wo die abgedruckten Dokumente gegebenenfalls bereits veröffentlicht wurden. Den Abschluss bilden verschiedene Register. Das Gesetzesregister ermöglicht die gezielte Suche nach gesetzlichen Vorschriften, die in der Dokumentation erwähnt sind. Das Personenregister führt zu den Textstellen, an denen bestimmte Personen genannt werden. Allerdings sind wegen der Anonymisierung im Übrigen nur Personen der Zeitgeschichte recherchierbar. Das Ortsregister enthält Verweise auf geographische Begriffe. Das Sachregister erschließt die Dokumentation nach Schlagworten und enthält auch Namen von Institutionen. Die Register werden mit Beendigung der Dokumentation zu einem Gesamtregister zusammengefasst werden.

IX. Ergänzung der Dokumentation Eine Dokumentation dieser Art ist mit dem Risiko verbunden, dass Nachträge notwendig werden. Zwar ist die Strafverfolgung von DDR-Unrecht insgesamt weitgehend abgeschlossen. Auch kann durch die Abfolge der Bände ein größtmögliches Maß an Vollständigkeit gewährleistet werden, indem diejenigen Fallgruppen den Vorrang erhalten, in denen die Verfolgung am weitesten vorangeschritten ist. Gleichwohl können Lücken dadurch entstehen, dass Verfahren zum Erscheinungszeitpunkt noch nicht beendet sind. Diese Möglichkeit lässt sich allein schon wegen der Dauer der Rechtsmittelverfahren und der verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht ausschließen. Auch können noch so intensive Recherchen nicht vollständig davor bewahren, dass in bereits abgeschlossenen Verfahren relevante Materialien erst nach dem Erscheinen der Buchpublikation bekannt werden. Um derartige Lücken schließen zu können, wird die Buchpublikation durch eine Volltextedition aller Verfahren in digitalisierter Form ergänzt werden.

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Einführung

Beispiel einer Dokumentseite

Beispiel einer Dokumentseite

Bezirk Erfurt

©

Φ

Landgericht Erfurt Az.: Js 6/94 - 2 KLs

Lfd. Nr. 12

3. November 1994

URTEIL

( J ) Kurztitel, charakterisiert den Verfahrensgegenstand Laufende Nummer Aussteller, Datum und Aktenzeichen

@

Art des Dokuments

Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen den Rentner Gerhard Müller, geboren 1928, Deutscher, verheiratet,

Angaben zu den Angeklagten (ohne Geburtsund Wohnort)

Θ

wegen Anstiftung zur Wahlfälschung hat die 2. Große Strafkammer des Landgerichts Erfurt aufgrund der Hauptverhandlung vom 11.10.1994, 12.10.1994, 18.10.1994, 19.10.1994, 25.10.1994, 26.10.1994 und 03.11.1994, an der teilgenommen haben: ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ®

(6)

am 03.11.1994 für Recht erkannt: Der Angeklagte wird wegen Anstiftung zur Wahlfälschung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Angewendete Strafvorschriften: §§ 107a Abs. 1, 26, 56 StGB; Art. 315 Abs. 1 EGStGB, § 211 Abs. 1 StGB/DDR {3}

®

Gründe

Redaktionelle Zusammenfassung einer gekürzten Passage zwischen Auslassungszeichen

( 7 ) Beginn der Originalseite in geschweiften Klammern

(abgekürzt nach § 267 Abs. 4 StPO) /.

[Feststellungen zur Person]

\Q/

Der Angeklagte Müller wurde 1928 in C. als uneheliches Kind einer Arbeiterin geboren. Da seine Mutter allein für den Lebensunterhalt zu sorgen hatte, wurde er bereits kurz nach seiner Geburt in die Familie eines Schneiders zur Pflege gegeben. Dort wuchs er als letztes von zwölf Kindern auf. Von 1934 bis 1942 besuchte er in Bad Brambach die Grund- und weiterführende Schule, anschließend absolvierte er bis Januar 1945 eine Lehrausbildung im Lehrerbildungsinstitut in Auerbach. Nach Kriegsende arbeitete der Angeklagte zunächst in Bad Brambach in der Landwirtschaft, um dann von Januar bis August 1946 einen Kurs für

Redaktionelle Textergänzung in eckigen Klammern

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XXV

Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze im Spiegel der Strafjustiz Diese Einleitung befasst sich zunächst mit Gegenstand, Umfang und Entwicklung der Strafverfolgungsmaßnahmen der DDR-Justiz und der bundesdeutschen Strafverfolgungsorgane (I.). Anschließend werden Auswahl und Präsentation der Materialien erläutert und begründet (II.).

I. Die strafrechtliche Aufarbeitung der Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze 1 An der Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland sowie an der Berliner Mauer kamen zahlreiche Menschen bei Fluchtversuchen und anderen Zwischenfällen durch den Einsatz von Schusswaffen, Minen und Selbstschussanlagen ums Leben oder wurden verletzt. Nach Angaben der ehemaligen Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin wurden zwischen 1946 und 1989 mindestens 264 Menschen getötet.2 Wegen dieser Taten wurden nach der Vereinigung gegen alle Beteiligten, deren Identität die Justiz feststellen konnte, Ermittlungsverfahren eingeleitet. Dabei hatten sich nicht nur diejenigen Personen zu verantworten, die durch ihr Handeln die sogenannten Grenzverletzer an Leib und Leben unmittelbar geschädigt oder diesen Taterfolg durch eine Weiterleitung der bestehenden Befehle an die unmittelbar Handelnden verursacht oder gefördert hatten. Vielmehr wurden - und werden zum Teil noch heute - auch Mitglieder der politischen und militärischen Führung dafür zur Rechenschaft gezogen, dass sie die administrativen Voraussetzungen für die Begehung der Taten schufen, indem sie das Grenzregime aufbauten und aufrechterhielten sowie die Befehlslage herbeiführten oder indem sie Befehle auf der jeweils nächsten Hierarchieebene präzisierten und weiterleiteten. 1

2

Da sich die vorliegende Dokumentation auf die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Systemunrecht beschränkt, werden unter „Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze" im Folgenden nur solche Taten verstanden, die von Grenzsicherungskräften der DDR oder der militärischen und politischen Führungsebene begangen wurden. Körperverletzungs- oder Tötungsdelikte zum Nachteil von Grenzsoldaten bleiben hier außer Betracht. Zu einem solchen Fall (Erschießung eines Grenzpostens an der Berliner Mauer durch Fluchthelfer) vgl. LG Berlin, Urteil v. 22.4.1999 - Az. 1 Kap Js 1422/90 Ks (3/97); BGH, Urteil v. 5.7.2000 - Az. 5 StR 629/99 = NJW 2000, 3079; BVerfG, Beschluss v. 30.11.2000 - Az. 2 BvR 1473/00. Vgl. Rummler, Gewalttaten, S. 74. Über die Zahl der Toten an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze gibt es bis heute unterschiedliche, stark voneinander abweichende Zahlenangaben. Die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin meldete mit Stand vom 9.6.2000 270 nachweisliche Todesfalle infolge Gewaltakts. Die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität verzeichnete 421 Grenz- und Mauertote (Stand: 2000), wohingegen die Arbeitsgemeinschaft 13. August bislang 960 Todesopfer ermittelt hat. In die Zählung wurden jedoch sämtliche Personen einbezogen, die „im Zusammenhang mit Flucht und/oder dem Grenzregime ums Leben gekommen sind. Das reicht vom sogenannten Fremdverschulden (Mord, Totschlag) bis zu Unfällen (z.B. Ertrinken, Abstürze) und Selbstmord oder Hinrichtung im Ergreifungsfall." (Manuskript zur 127. Pressekonferenz am 10.8.2001).

Strafrechtliche Aufarbeitung

Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Der weitere Text vermittelt, ausgehend von den gerichtlichen Feststellungen, zunächst einen Überblick über das Grenzregime der DDR (1.). Es folgen eine Zusammenstellung der relevanten Fallgruppen (2.) und eine Schilderung der Verfolgungsaktivitäten der Justiz der DDR und der Bundesrepublik (3.), bevor die rechtliche Argumentation der Gerichte skizziert wird (4.).3 1. Allgemeine zeitgeschichtliche Feststellungen der Justiz zum Grenzregime der DDR Das Grenzregime der DDR zeichnete sich dadurch aus, dass die politische Führung alle Anstrengungen unternahm, die Grenze hauptsächlich fur fluchtwillige Bürger der DDR undurchlässig zu machen. Zu diesem Zweck wurden mit enormem Aufwand Grenzsicherungsanlagen errichtet und Befehle zum Schusswaffengebrauch erteilt. a) Rechtsgrundlagen des Schusswaffengebrauchs Die Rechtslage an der Grenze war seit der Sperrung der Demarkationslinie zwischen beiden Teilen Deutschlands in der DDR durch Vorschriften bestimmt, die die Ausreise der Bürger bis hin zu einer Versagung des Ausreiserechts beschränkten. 1954 erklärte § 8 des Passgesetzes die nicht genehmigte Ausreise für strafbar. 1968 wurde diese Norm durch § 213 DDR-StGB abgelöst. Das Verfassungsrecht wurde an diese Situation angepasst. Die DDR-Verfassung von 1949 gewährte in Artikel 8 „das Recht, sich an einem beliebigen Ort niederzulassen" und garantierte in Artikel 10 Absatz 3 noch das Recht auf Auswanderung. Dagegen wurde die Freizügigkeit in Artikel 32 der Verfassung der DDR von 1968 und in der Fassung vom 7. Oktober 1974 ausdrücklich nur noch innerhalb der DDR eingeräumt.4 Die Gewährung des Rechts auf Ausreise entfiel. Die Ausreisepraxis der DDR war äußerst restriktiv. Die Ausreise wurde regelmäßig und ohne Begründung verwehrt.5 Viele Menschen, die wegen der wirtschaftlichen oder politischen Verhältnisse nicht in der DDR leben wollten, entschlossen sich angesichts fehlender Möglichkeiten einer legalen Ausreise zur Flucht. Die Ausreisebeschränkungen wurden an der Grenze mit Waffengewalt durchgesetzt. Bis zum Jahre 1982 regelte ein undurchsichtiges Geflecht inoffizieller Anweisungen aus Dienstverordnungen und Befehlen den Schusswaffengebrauch gegenüber den sogenannten Grenzverletzern.6 Im Jahre 1982 wurde das Grenzgesetz7 erlassen, das in § 27 den Schusswaffengebrauch vorsah8, der sich insbesondere gegen aus der DDR Flüchtende richtete. Dennoch bestanden weiterhin inoffizielle Anweisungen zur Anwendung der Schusswaffe, die § 27 Grenzgesetz überlagerten. Für die Grenzsoldaten blieb somit die 3 4 5

6 7 8

Vgl. auch die Gesamtdarstellungen bei Rosenau, Schüsse; Rummler, Gewalttaten; Eser/Arnold, Strafrecht, S. 49ff. sowie Marxen/Werle, Aufarbeitung, S. 8ff. Vgl. Anhang S. 967. BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 27, 30 = BGHSt 39, 1, 19, 21 = lfd. Nr. 2-2, S. 145, 146; BGH, Urteil v. 26.7.1994 - Az. 5 StR 98/94, UA S. 14 f. = BGHSt 40, 218, 226 f. = lfd. Nr. 15-2, S. 600 iVm lfd. Nr. 15-1, S. 544 ff. Vgl. Anhang S. 973ff. DDR-GB1.1 1982, 197. Vgl. Anhang S. 970.

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Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Strafrechtliche Aufarbeitung

Befehlslage ausschlaggebend. An der Praxis der Grenzsicherung änderte sich nichts.9 Die politische Führung schuf somit zugleich die Ursachen für die Fluchtversuche und ihren tödlichen Ausgang.

b) Aufbau der Grenzanlagen Nachdem Grenzsicherungsanlagen an der innerdeutschen Grenze anfänglich nur spärlich vorhanden waren oder gänzlich fehlten, wurden auf Anordnung der politischen Führung der DDR im Jahre 1961 zur Eindämmung des anschwellenden Flüchtlingsstroms massive Grenzanlagen errichtet und ständig perfektioniert. Die Grenzanlagen waren im Grundsatz wie folgt aufgebaut. Aus Richtung der DDR waren der Berliner Grenze eine Hinterlandsmauer und der Grenze zur Bundesrepublik eine etwa fünf Kilometer tiefe Sperrzone vorgelagert. Es folgten üblicherweise Signalzaun, Beobachtungstürme, Kolonnenweg, Kontrollstreifen, Kfz-Sperrgraben und als letztes Hindernis die Grenzmauer beziehungsweise der Grenzzaun. Zusätzlich war die Grenze zur Bundesrepublik ab 1961 über weite Strecken mit Erdminen versehen, die seit Anfang der siebziger Jahre in weiten Teilen durch Selbstschussanlagen ersetzt wurden. Erst Mitte der achtziger Jahre erfolgte die ersatzlose Räumung dieser Minen.10 c) Die Befehlskette11 Leitentscheidungen bezüglich der Grenzsicherung traf allein das Politbüro.12 Auf der Grundlage dieser Vorgaben fasste der Nationale Verteidigungsrat entsprechende Beschlüsse. Diese Beschlüsse waren notwendige Voraussetzung für die Jahresbefehle des Ministers für Nationale Verteidigung gegenüber dem Chef der Grenztruppen. Dessen Anordnungen wiederum richteten sich an die Kommandeure der drei Grenzkommandos13, die ihrerseits den Kommandeuren der Grenzregimenter Befehle erteilten. In den Grenzregimentern wurden diese Vorgaben umgesetzt. Letztlich beruhten sämtliche Handlungen der Grenztruppen auf dieser Befehlskette.14

d) Instruktion der ausführenden Grenzposten Eine Unterrichtung über die gesetzlichen Bestimmungen zum Schusswaffengebrauch, insbesondere über den Inhalt der §§26 und 27 des Grenzgesetzes, erfolgte nach den 9

10 11 12 13 14

BGH, Urteil v. 26.7.1994 - Az. 5 StR 98/94, UA S. 9 = BGHSt 40, 218, 222 = lfd. Nr. 15-2, S. 600 iVm LG Berlin, Urteil v. 16.9.1993 - Az. (527) 2 Js 26/90 Ks (10/92), UA S. 112 = NJ 1994, 210, 212 = lfd. Nr. 15-1, S. 541. LG Berlin, Urteil v. 16.9.1993 - Az. (527) 2 Js 26/90 Ks (10/92), UA S. 39 ff., 117 f. = NJ 1994, 210 (insoweit nicht abgedruckt) = lfd. Nr. 15-1, S. 514, 543. Vgl. das Schaubild im Anhang auf S. 966. LG Berlin, Urteil v. 25.08.1997 - Az. (527) 25/2 Js 20/92 Ks (1/95), UA S. 276 = lfd. Nr. 16-1, S. 878. Vor 1971 richteten sie sich an die Kommandeure der sechs Grenzbrigaden. LG Berlin, Urteil v. 16.9.1993 - Az. (527) 2 Js 26/90 Ks (10/92), UA S. 25 = NJ 1994, 210 = lfd. Nr. 15-1, S. 509 f.; LG Berlin, Urteil v. 10.9.1996 - Az. (536) 2 Js 15/92 Ks (2/95), UA S. 30; LG Berlin, Urteil v. 30.7.1997 - Az. (536) 25 Js 112/95 Ks (1/97), UA S. 10 f.

XXIX

Strafrechtliche Aufarbeitung

Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Feststellungen der Gerichte bei der Ausbildung der Soldaten nur allgemein und bewusst unzureichend. Statt dessen wurde in Befehlen die Verhinderung der Flucht um jeden Preis angeordnet, notfalls auch durch die bewusste Tötung von Flüchtenden. Dementsprechend enthielt die vor jedem Ausrücken zum Grenzdienst vorgenommene „Vergatterung", die das Kernstück der Befehlslage bildete, die Aussage: „Grenzdurchbrüche sind auf keinen Fall zuzulassen. Grenzverletzer sind zu stellen oder zu vernichten." Als Faustregel wurde vermittelt: „Besser der Flüchtling ist tot, als dass die Flucht gelingt." Auch wurde von den Vorgesetzten das Motto ausgegeben: „Keiner darf durchkommen, lieber schießen, wir schützen Euch schon." In dem abgestuften Handlungsschema, welches den Soldaten zur Verhinderung einer Flucht vorgegeben wurde, war als letztes Mittel vorgeschrieben: „Weiterschießen, egal wie, notfalls auch erschießen, bis die Flucht verhindert ist." In den letzten Jahren des Bestehens der DDR wurde den Soldaten zwar nicht mehr ausdrücklich gesagt, dass Grenzverletzer zu vernichten seien. Die Flüchtenden sollten durch Schüsse in die Füße fluchtunfähig gemacht werden. Andererseits wurde aber bei der Vergatterung generell suggeriert, kein Flüchtender dürfe durchkommen und ein Grenzdurchbruch sei auf jeden Fall zu verhindern. Gleichzeitig machten die Vorgesetzten den Soldaten unterschwellig klar, dass eine Tötung hingenommen werde. Bei den Soldaten entstand nach den gerichtlichen Feststellungen daher der Eindruck, ein toter Flüchtling sei allemal besser als ein entkommener Flüchtling.15 Die Rechtsprechung wertete diese Art der Beeinflussung als „perfide Doppelstrategie".16 Lediglich bei politisch wichtigen Anlässen wie Staatsbesuchen oder an bestimmten Feiertagen wurde der Schießbefehl auf Fälle der Notwehr, der Verwendung „schwerer Technik" und der Fahnenflucht beschränkt. Dabei wurde zum Ausgleich die Postendichte erhöht.17 In der praktischen Ausbildung der Grenzsoldaten spielte der Schutz des Lebens sogenannter Grenzverletzer ebenfalls keine Rolle. Es wurde nicht geübt, Menschen fluchtunfahig zu schießen, gleichwohl aber lebensgefährliche Verletzungen zu vermeiden. Vielmehr war die Schießausbildung darauf ausgerichtet, das Ziel - egal wie - überhaupt zu treffen. Da bei der im Grenzdienst hauptsächlich verwendeten Schusswaffe Kalaschnikow bei Dauerfeuer eine sehr große Streuung auftrat, war ein zielgenaues oder annähernd punktgenaues Schießen kaum möglich. Selbst wenn auf die Füße geschossen wurde, bestand infolge der Geschossstreuung ein hohes Risiko, das Opfer in anderen Körperbereichen tödlich zu treffen. Ballistische Grundkenntnisse wurden den Soldaten nicht vermittelt. Auch die praktische Übung der Handlungsabläufe bei einer Grenzverletzung entsprach nicht den tatsächlichen Gegebenheiten. An einer „Übungsgrenze" wurden lediglich Grenzdurchbrüche von Ost nach West nachgestellt, welche die Soldais

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BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 17 = BGHSX 39, 1, 3 = lfd. Nr. 2-2, S. 140; BGH, Urteil v. 25.3.1993 - Az. 5 StR 418/92, UA S. 7 f. = BGHSX 39, 168, 169 ff. = lfd. Nr. 1-2, S. 72 iVm lfd. Nr. 1-1, S. 13 ff.; KG, Beschluss v. 6.3.1991 - Az. 4 Ws 288/90, BA S. 10 = NJW 1991,2653,2654. LG Berlin, Urteil v. 20.1.1992 - Az. (523) 2 Js 48/90 (9/91), UA S. 132 = lfd. Nr. 1-1, S. 50. Die Formulierung wurde vom BGH wörtlich übernommen, vgl. ders., Urteil v. 25.3.1993 - Az. 5 StR 418/92, UA S. 8 = BGHSX 39, 168, 170 = lfd. Nr. 1-2 (insoweit nicht abgedruckt). LG Berlin, Urteil v. 20.1.1992 - Az. (523) 2 Js 48/90 (9/91), UA S. 34 = lfd. Nr. 1-1, S. 16; LG Berlin, Urteil v. 16.9.1993 - Az. (527) 2 Js 26/90 Ks (10/92), UA S. 57 = NJ 1994, 210 = lfd. Nr. 15-1, S. 521; KG, Beschluss v. 6.3.1991 - Az. 4 Ws 288/90, BA S. 16 = NJW 1991, 2653, 2655.

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Strafrechtliche Aufarbeitung

ten primär ohne Einsatz von Waffen im Wege der Festnahme eines sogenannten Grenzverletzers abzuwehren hatten, obwohl dies in der Praxis aufgrund der geringen Postendichte faktisch kaum möglich war.18 e) Indoktrination und Beeinflussung der Grenzsoldaten Die Rechtsprechung ist zu der Bewertung gelangt, dass die in der Hierarchie ganz unten stehenden Grenzsoldaten in gewisser Weise auch selbst als Opfer anzusehen seien. Nach den getroffenen Feststellungen war ihr Vorstellungsbild überdurchschnittlich von der herrschenden Ideologie und der in der Ausbildung besonders intensiven Indoktrination bestimmt. Die Grenzsoldaten wuchsen auf „im Geiste des Sozialismus mit entsprechenden Feindbildern von der Bundesrepublik Deutschland und von Personen, die unter Überwindung der Sperranlagen die DDR verlassen wollen". Im Politunterricht wurden ihnen vermittelt, dass „Personen, die die DDR ohne Genehmigung verlassen wollten, Verbrecher, Kriminelle und Verräter seien, deren Grenzüberschreitung verhindert werden müsse; normale DDR-Bürger hätten ja die Möglichkeit, einen Ausreiseantrag zu stellen". Auch würden westliche Provokateure, zum Teil im Zusammenwirken mit aus der DDR stammenden Grenzverletzern, bewaffnete Angriffe auf Grenzposten und Grenzanlagen unternehmen.19

fi Auswahl der Grenzsoldaten Die zur Grenzsicherung eingesetzten Soldaten wurden im Hinblick auf ihre Einstellung zum Staat und ihre politische Zuverlässigkeit sowie auf das Fehlen von Westkontakten, Vorstrafen und persönlichen oder familiären Problemen besonders ausgewählt. Vordringlich wurde auf die Bereitschaft geachtet, die Schusswaffe gegen Grenzverletzer einzusetzen. Während des Wehrdienstes setzte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zur Überprüfung der Soldaten in den Kasernen Spitzel ein. Sie hatten die Stimmung in der Truppe in Erfahrung zu bringen und insbesondere potentiell Fluchtwillige ausfindig zu machen sowie Fahnenfluchten zu verhindern. Aus Furcht vor abgesprochenen Fahnenfluchten wurde die Zusammensetzung der Postenpaare stets verändert, wobei grundsätzlich in jedem Postenpaar mindestens ein als besonders zuverlässig geltender Soldat eingesetzt wurde.20

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Vgl. z.B. LG Berlin, Urteil vom 20.1.1992 - Az. (523) 2 Js 48/90 (9/91), UA S. 23 = lfd. Nr. 1-1, S. 12; LG Berlin, Urteil v. 5.2.1992 - Az. (518) 2 Js 63/90 KLs (57/91), UA S. 10 = lfd. Nr. 2-1, S. 108; LG Berlin, Urteil vom 12.9.1995 - Az. (528) 2 Js 79/91 (8/92), UA S. 10 = lfd. Nr. 6-1, S. 256. So BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 44 f., 48 = BGHSt 39, 1, 33, 36 = lfd. Nr. 22, S. 154, 155; BGH, Urteil v. 25.3.1993 - Az. 5 StR 418/92, UA S. 6, 39 = BGHSt 39, 168, 169, 193 = lfd. Nr. 1-2, S. 72 iVm lfd. Nr. 1-1, S. 11 sowie lfd. Nr. 1-2, S. 85; BGH, Urteil v. 20.10.1993 - Az. 5 StR 473/93, UA S. 5 = BGHSt 39, 353, 355 = lfd. Nr. 10-2, S. 379 iVm lfd. Nr. 10-1, S. 363; BGH, Urteil v. 8.6.1993 - Az. 5 StR 88/93, UA S. 9 = NStZ 1993, 488. LG Berlin, Urteil v. 20.01.1992 - Az. (523) 2 Js 48/90 (9/91), UA S. 12 f., 18 f., 85 f., 89 f. = lfd. Nr. 1-1, S. 8, 10, 34, 35; LG Berlin, Urteil v. 25.08.1997 - Az. (527) 25/2 Js 20/92 Ks (1/95), UA S. 57 = lfd. Nr. 16-1, S. 688.

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Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

g) Folgen einer verhinderten oder gelungenen Flucht für die Grenzsoldaten Die Erschießung eines Flüchtenden hatte nach den Feststellungen der Gerichte keine negativen Konsequenzen für die Schützen. Zu einem Verfahren oder zu einer Untersuchung gegen die Täter kam es nie. Der Schusswaffeneinsatz wurde letztlich immer als rechtmäßig angesehen. Ein Soldat, der eine Flucht - wie auch immer - verhindert hatte, wurde ausgezeichnet und belohnt, erhielt Orden und eine Geldprämie. Auch erfolgten Beförderungen.21 Für eine Befehlsverweigerung oder mangelhafte Befehlsausführung, zum Beispiel durch auffälliges Danebenschießen, wurden hingegen disziplinarische oder strafrechtliche Folgen angedroht. Die Soldaten befürchteten, wegen Beihilfe zum ungesetzlichen Grenzübertritt oder wegen Nichtausführung eines militärischen Befehls22 mit einer hohen Freiheitsstrafe bestraft zu werden. In diesem Zusammenhang war die Militärstrafanstalt in Schwedt besonders berüchtigt. In der Regel wurden die Grenzsoldaten jedoch nicht persönlich für gelungene Grenzdurchbrüche zur Verantwortung gezogen23: In einzelnen Fällen wurden zwar für die Grenzsoldaten nachteilige Folgen nachgewiesen24, jedoch ist kein Fall belegt, in dem jemals ein Grenzsoldat im Rahmen eines Militärstrafverfahrens verurteilt wurde, weil er die Schußwaffe zur Verhinderung einer Flucht nicht eingesetzt hatte.25 h) Geheimhaltung der Grenztötungen und Umgang mit verletzten Fluchtwilligen Um das Bekanntwerden eines Grenzvorfalls zu verhindern, wurden nach den gerichtlichen Feststellungen vielfältige Maßnahmen zur Geheimhaltung getroffen. Sie hatten selbst bei schweren Verletzungen Vorrang vor dem Schutz des Lebens. So kam es vor, dass der Verletzte vor der ärztlichen Behandlung an eine aus westlicher Richtung nicht einsehbare Stelle gebracht wurde. Weitere Verzögerungen ergaben sich beispielsweise dadurch, dass der angeschossene Flüchtling nicht mit einem gewöhnlichen Kranken21

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BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 18 f. = BGHSt 39, 1, 11 = lfd. Nr. 2-2, S. 140; BGH, Urteil v. 25.3.1993 - Az. 5 StR 418/92, UA S. 11 = BGHSt 39, 168, 173 = lfd. Nr. 1-2, S. 72 iVm lfd. Nr. 1-1, S. 25; BGH, Urteil v. 17.12.1996 - Az. 5 StR 137/96, UA S. 8 = BGHSt 42, 356, 359 = lfd. Nr. 6-2, S. 277 iVm. lfd. Nr. 6-1, S. 262; LG Berlin, Urteil v. 5.2.1992 - Az. (518) 2 Js 63/90 KLs (57/91), UA S. 20 f. = NStZ 1992, 492 = lfd. Nr. 2-1, S. 113; LG Berlin, Urteil v. 3.7.1992 - Az. (529) 2 Js 98/90 Ks (29/91), UA S. 32 f.; LG Berlin, Urteil v. 4.9.1995 - Az. (529) 2 Js 159/90 Ks (21/94), UA S. 25; LG Berlin, Urteil v. 24.7.1998 - Az. (529) 26 Js 1/96 (10/96), UA S. 20, 50; LG Gera, Urteil v. 12.1.1996-Az. 551 Js 96067/95- 1 K s . U A S . 12 f. §§ 213, 257 DDR-StGB. BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 17 f. = BGHSt 39, 1, 11 = lfd. Nr. 2-2, S. 140; BGH, Urteil v. 25.3.1993 - Az. 5 StR 418/92, UA S. 6, 11, 25, 32 = BGHSt 39, 168, 169, 173, 183, 188 = lfd. Nr. 1-2, S. 72 iVm lfd. Nr. 1-1, S. 11, 26 sowie lfd. Nr. 1-2, S. 79, 82; BGH, Urteil v. 19.4.1993 - Az. 5 StR 602/92, UA S. 4 = BGHSt 39, 199, 201. Verhängung eines drei- bzw. fünftägigen Arrestes: LG Berlin, Urteil v. 6.3.1996 - Az. (540) 27/2 Js 103/90 Ks (1/96), UA S. 20; LG Berlin, Urteil v. 2.12.1993 - Az. (509) 2 Js 60/90 KLs (28/93), UA S. 9; „unangenehme Verhöre": LG Berlin, Urteil v. 23.8.1994 - (507) 2 Js 82/90 KLs (66/92), UA S. 13. Die Angaben von Grasemann, Grenzregime, S. 1248 f. zum Fall der Verurteilung eines Grenzsoldaten zu zehn Jahren Zuchthaus, weil er sich geweigert hatte, auf einen Flüchtenden zu schießen, beruhen ausschließlich auf Aussagen des betroffenen Soldaten selbst.

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Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Strafrechtliche Aufarbeitung

wagen in das nächstgelegene Krankenhaus abtransportiert werden durfte. Vielmehr wurde er mit einem Sanitätswagen des Regiments, dessen Anfahrt in der Regel zusätzliche Zeit in Anspruch nahm, in ein entfernteres Krankenhaus der Volkspolizei eingeliefert. Im Sanitätswagen befand sich kein Arzt, denn bei der Anforderung des Wagens durfte nicht mitgeteilt werden, dass jemand schwer verletzt war. Diese Maßnahmen hatten zur Folge, dass Verletzte starben, obwohl sie bei sofortiger ärztlicher Versorgung hätten gerettet werden können. Der Zugführer musste bescheinigen, dass der Dienst ohne besondere Vorkommnisse verlaufen sei. Der Name des Opfers wurde im Eingangsbuch des Krankenhauses und auf dem Totenschein nicht genannt. Weiterhin wurden Aufzeichnungen des Krankenhauses über die ärztliche Versorgung des Getöteten unkenntlich gemacht und alle schriftlichen Unterlagen des Grenzregiments vernichtet, die Rückschlüsse auf die Tat zuließen. Nach einem Schusswaffeneinsatz herrschten Nachrichtensperre und Schweigegebot. Schützen wurden versetzt. Angehörige eines Getöteten wurden oftmals erst einige Zeit nach der Tat von der Tötung unterrichtet und über die Umstände des Ablebens getäuscht.26 Teilweise ließ sich nicht einmal mehr der Verbleib der Leiche feststellen.27 Fluchtwillige, die den Schusswaffeneinsatz überlebten, wurden vom MfS festgenommen, inhaftiert und von Gerichten der DDR regelmäßig zu Freiheitsstrafen verurteilt.28 i) Allgemeine Einstellung der Bevölkerung und der Grenzsoldaten zum Grenzregime Nach den Feststellungen der Justiz war es allgemeinkundig, dass die große Mehrheit der DDR-Bevölkerung den Schusswaffengebrauch an der Grenze missbilligte. Auch die Grenzsoldaten strebten überwiegend danach, den Grenzdienst mit „weißen Handschuhen" zu beenden, also ohne auf Menschen geschossen zu haben.29

2. Die konkreten Tathandlungen Innerhalb der gerichtlichen Tatsachenfeststellungen zu den Gewalttaten an der deutschdeutschen Grenze kann sachverhaltsbezogen sowie nach Tätergruppen differenziert werden. a) Sachverhalte Die einschlägigen Sachverhalte lassen sich in sechs Fallgruppen typisieren. Diese Fallgruppen können sich im Einzelfall überschneiden oder kombiniert auftreten. Neben

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27 28 29

BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 18 f. = BGHSt 39, 1, 12 f. = lfd. Nr. 2-2, S. 140; BGH, Urteil v. 25.3.1993 - Az. 5 StR 418/92, UA S. 11 = BGHSt 39, 168, 173 = lfd. Nr. 1-2, S. 72 iVm lfd. Nr. 1-1, S. 24 f.; BGH, Urteil v. 26.7.1994 - Az. 5 StR 167/94, UA S. 5 ff. = BGHSt 40, 241 (insoweit nicht abgedruckt) = lfd. Nr. 3-2, S. 179 iVm lfd. Nr. 3-1, S. 165 ff. Vgl. z.B. LG Berlin, Urteil v. 03.07.1992 - Az. (529) 2 Js 98/90 Ks (29/91), UA S. 35. Vgl. z.B. BGH, Urteil v. 25.3.1993 - Az. 5 StR 418/92, UA S. 11 = BG//St 39, 168, 173 = lfd. Nr. 12, S. 72 iVm lfd. Nr. 1-1, S. 28. BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 46 = BGHSt 39, 1, 34 = lfd. Nr. 2-2, S. 154; BGH, Urteil v. 25.3.1993 - Az. 5 StR 418/92, UA S. 34 = BGHSt 39, 168, 189 = lfd. Nr. 1-2, S. 83.

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Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

vollendeten Tötungen umfassen die Fallgruppen auch Körperverletzungsdelikte 30 und Versuchstaten31. Die erste Fallgruppe bildet den „Standardfall", der den meisten Verfahren in dieser oder ähnlicher Form zugrunde lag. Hierbei handelt es sich um die Tötung republikflüchtiger DDR-Bürger. Einen solchen Standardfall hatte der Bundesgerichtshof in seinem ersten Urteil vom 3. November 199232 zu entscheiden. In diese Fallgruppe gehören etwa auch die Erschießung von Chris Gueffroy 33 und Peter Fechter 34 . Die zweite Fallgruppe betrifft die Tötung von Fahnenflüchtigen. 35 Eine dritte Fallgruppe wird durch die Tötung von Bürgern der Bundesrepublik oder Ausländern gebildet, die die Grenze aus der Bundesrepublik kommend überquerten.36 Der Fall der Erschießung des Journalisten Lichtenstein37 ist hier einzuordnen. Zur vierten Fallgruppe gehören die sogenannten „Exzessfälle". Zu nennen sind beispielsweise die Erschießung bereits festgenommener Personen 38 oder Schüsse auf den Geflüchteten nach dem Gelingen seiner Flucht39. Die fünfte Fallgruppe umfaßt die Fälle der Tötung durch Minen und Selbstschussanlagen.40 Die sechste Fallgruppe beinhaltet die Fälle der Tötung auf dem Gebiet der Bundesrepublik einschließlich Westberlins. Erfasst ist einmal der Fall, dass der Grenzsoldat die Schüsse, die den Flüchtenden auf bundesdeutschem Territorium tödlich treffen, vom Gebiet der DDR aus abgibt.41 Zum anderen ist die Konstellation betroffen, daß der Flüchtende auf dem Gebiet der Bundesrepublik den Verletzungen erliegt, die er noch auf dem Gebiet der DDR erlitten hat.

b) Tätergruppen Es können drei Gruppen von Tätern unterschieden werden. Die erste und zahlenmäßig größte Tätergruppe besteht aus den unmittelbar handelnden Grenzsoldaten. Zu diesen Personen sind alle Angehörigen der Grenztruppen zu zählen, soweit sie selbst Schüsse auf Grenzverletzer abgegeben oder als Pioniere Minen verlegt und Selbstschussanlagen installiert sowie diese in Stand gehalten haben.42 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Vgl. z.B. lfd. Nr. 1. Vgl. dazu beispielsweise den Sachverhalt in BGHSt 41, 10 und LG Berlin, NJ 1994, 588. Das Verfahren konnte aus Platzgründen nicht dokumentiert werden. BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92 = BGHSt 39, 1 = lfd. Nr. 2-2. Vgl. lfd. Nr. 1. Vgl. lfd. Nr. 5. Vgl. lfd. Nr. 6. Vgl. lfd. Nr. 7, 8 und 9. Vgl. lfd. Nr. 8. Vgl. lfd. Nr. 10. Vgl. lfd. Nr. 11. Entsprechende Sachverhalte sind in den Verfahren unter lfd. Nr. 14, 15 und 16 geschildert, denen einige dieser Fälle zugrundelagen. Diese Fallgestaltung liegt bereits dem Verfahren unter der lfd. Nr. 11 zugrunde. Vgl. lfd. Nr. 1 bis 10. Die Dokumentation enthält keine Verfahren gegen Angehörige der Pioniereinheiten, die selbst Minen verlegten, da gegen diese Personengruppe wegen Ermittlungsschwierigkeiten keine einzige Anklage erhoben werden konnte.

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Bei der zweiten Tätergruppe handelt es sich um Personen, die keinen maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung des Grenzregimes hatten, sondern in die Befehlskette eingebunden waren. Sie waren aber den Schützen bzw. Pionieren als Vorgesetzte übergeordnet und veranlassten deren Taten durch Vergatterungen 43 , Einzelbefehle 44 oder den Befehl zur Errichtung und Instandsetzung von Minen und Selbstschussanlagen 45 . Die dritte Tätergruppe wird durch die Zugehörigkeit zur politisch-administrativen Führungsebene bestimmt. Ihr gehören die Machthaber an, die maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der Grenzsicherung und der Befehlslage hatten. Dazu zählen beispielsweise Mitglieder des Politbüros 46 , Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates 47 , des Kollegiums des Ministeriums für Nationale Verteidigung, der Chef der Grenztruppen, Angehörige des Kommandos der Grenztruppen und weitere diesen Personen nachgeordnete Angehörige der Führungsebene 48 . Auch der Fall Erich Honecker, gegen den das Verfahren aus Gründen der Achtung der Menschenwürde eines todkranken Angeklagten eingestellt wurde 49 , ist dieser Gruppe zuzuordnen. Eine Sonderstellung in der militärischen Hierarchie nahm das Pionierwesen ein, da es zwar eine mit den militärischen Hierarchieebenen verzahnte, aber dennoch eigene Parallelstruktur unterhielt. 50

3. Verfolgungsaktivitäten der Justiz a) Ermittlungen der DDR-Justiz In der Endphase der DDR waren im Gegensatz zur konsequenten Verfolgung der Korruption und des Amtsmissbrauchs sowie der Wahlfälschungen nur zögerliche Ansätze einer rechtlichen Auseinandersetzung mit den Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze zu verzeichnen. 51 Sie beschränkten sich im Wesentlichen darauf, dass in einigen Fällen aufgrund von Anzeigen Ermittlungen aufgenommen oder dass einzelne von bundesdeutschen Staatsanwaltschaften übergebene Ermittlungsverfahren weiterbearbeitet wurden. 52 Selbst gegen Honecker wurde zunächst nur unter den Gesichtspunkten des Vertrauensmissbrauchs und der Untreue zum Nachteil sozialistischen Eigentums in ei43 44 45 46 47 48 49

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51 52

Vgl. lfd. Nr. 12. Vgl. lfd. Nr. 13. Vgl. lfd. Nr. 14. Vgl. lfd. Nr, 16 und 17. Vgl. lfd. Nr. 15. Aus Platzgründen mußte von einer Dokumentation dieser Verfahren leider abgesehen werden. Zu den Gründen siehe BerlVerfGH, Beschluss v. 12.1.1993 - Az. VerfGH 55/92 = NJW 1993, 515. Zum Meinungsbild im Schrifttum siehe Bartlsperger DVB1 1993, 333; Berkemann NVwZ 1993, 409; Meurer JR 1993, 89; Paeffgen NJ 1993, 152; Schoreit NJW 1993, 881; Starck JZ 1993, 231; Wesel, Honecker-Prozeß; Wilke NJW 1993, 887. Vgl. dazu z.B. LG Berlin, Urteil v. 30.7.1997 - Az. (536) 25 Js 112/95 Ks (1/97) (Urteil gegen den Leiter der Abteilung Pionierwesen im Kommando der Grenztruppen sowie vier seiner Mitarbeiter). Aus Platzgründen konnte leider keines dieser Verfahren dokumentiert werden. Vgl. Marxen/Werle, Aufarbeitung, S. 151 ff. Vgl. „Information zum Stand der Untersuchung von Fällen der Anwendung der Schußwaffe sowie der Detonation von Minen mit gesundheitlichen Schäden oder Todesfolge an der Staatsgrenze der DDR zur BRD und Berlin (West)", Militär-Oberstaatsanwalt der DDR vom 6.8.1990 - Az. AR-IV12/90 (dieses Dokument befindet sich in der Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin zum Verfahren 2 Js 26/90).

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Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

nem schweren Fall ermittelt. Erst mit Verfügung vom 8. August 1990 wurde das Verfahren auf den Vorwurf der Grenztötungen erweitert. Anklagen wegen der Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze wurden durchweg erst nach der Vereinigung erhoben. 53

b) Strafverfolgung in der Bundesrepublik Mit der Vereinigung ging die Strafverfolgungskompetenz auf die Bundesrepublik über. Anhängige Verfahren wurden übernommen und bald setzte eine breite Ermittlungstätigkeit der bundesdeutschen Justiz ein. Aufgrund einer Zuständigkeitsvereinbarung mit den Generalstaatsanwälten der Bundesländer übernahm zunächst die Arbeitsgruppe Regierungskriminalität der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin (später als Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin organisatorisch verselbständigt), die Bearbeitung sämtlicher Ermittlungsverfahren wegen Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze. 54 Nachdem die Verfahren ausermittelt waren, wurden die nicht in die Berliner Zuständigkeit fallenden Verfahren an die örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften der neuen Bundesländer abgegeben. Diese Verfahrensweise zielte darauf ab, den Zusammenhang mit den Verfahren gegen die auf der militärischen und politischen Leitungsebene der DDR Verantwortlichen zu wahren, die ohnehin in Berlin geführt wurden. Die Strafverfolgung bezog sich grundsätzlich auf alle Personen, die einen für die Begehung der Taten ursächlichen Tatbeitrag geleistet hatten. Insbesondere wurden Angehörige der politischen und militärischen Führung nicht von der Ermittlungstätigkeit ausgenommen. Bei der Aufklärung der Taten orientierte sich die Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin zunächst an der Dringlichkeit. So konzentrierte sie sich erst einmal auf die von den Justizbehörden der DDR übernommenen Haftsachen. 55 Im Übrigen wurde gleichzeitig sowohl auf der untersten Ebene gegen die unmittelbar handelnden Grenzsoldaten ermittelt, als auch auf der höchsten politischen und militärischen Führungsebene gegen das Führungspersonal. Man ging also gewissermaßen zugleich „von unten nach oben" und „von oben nach unten" vor, bis man sich „in der Mitte" traf. Da die Ermittlungen gegen Angehörige der Führungsebenen aufgrund der langen Zeiträume ihrer Tätigkeit als Funktionäre und der Komplexität der zugrundeliegenden Sachverhalte naturgemäß länger dauerten, betrafen sowohl die ersten Anklagen als auch die ersten Urteile Angehörige der untersten Hierarchieebene. Nicht vermeiden ließ sich, dass die vollständige Aufklärung einiger Taten aufgrund verfahrensrechtlicher Probleme nicht mehr möglich war. Angesichts der teilweise schon Jahrzehnte zurückliegenden Taten und des Versuchs ihrer umfassenden Verschleierung in der DDR gab es teilweise erhebliche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Ermittlung der konkreten Taten, der Todesopfer und der Täter. Die Identität einzelner Täter oder gar ganzer Tätergruppen - wie etwa bei den Angehörigen der Pioniereinheiten, welche eigenhändig die Minen verlegten und Selbstschussanlagen installierten und warteten - ließ sich oft nicht mehr feststellen. Auch von den unmittelbaren Vorgesetz53 54 55

Vgl. die Verfahrensübersicht auf S. 1013ff. Die früheste Anklage datiert vom 27.5.1991 (= lfd. Nr. 1-1). Vgl. Rummler, Gewalttaten, S. 16 ff. Zu den organisatorischen Voraussetzungen der Strafverfolgung von DDR-Unrecht insgesamt vgl. Marxen/Werle, Aufarbeitung, S. 157 ff. U.a. wegen der Grenztaten befand sich zu diesem Zeitpunkt allerdings nur Erich Honecker in Haft.

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ten der Grenzsoldaten konnten nur noch wenige namentlich ermittelt und für die Weitergabe der Befehle an die Schützen zur Verantwortung gezogen werden. Mittlerweile kann die strafrechtliche Aufarbeitung der Gewalttaten an der deutschdeutschen Grenze als im Wesentlichen abgeschlossen gelten. Die Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin wurde zum 30. September 1999 aufgelöst. Einzelne gerichtliche Verfahren sind allerdings noch offen. Insgesamt nahmen die Verfahren wegen der Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze einen Anteil von 24,5% aller wegen der sogenannten Regierungskriminalität geführten Verfahren ein. Mitte 2002 war für 395 der insgesamt 457 angeklagten Personen (86,4%) das Verfahren erledigt. Für 331 Angeklagte (83,8%) endete das Verfahren mit einer rechtskräftigen Verurteilung. Der Anteil der Freisprüche an diesen Aburteilungen betrug 29,6%. Freiheitsstrafen ohne Bewährung wurden dabei lediglich in 29 Fällen verhängt, darunter für acht Angeklagte einer Freiheitsstrafe fünf Jahren und mehr. Die Verurteilung eines Angeklagten zu lebenslanger Haft wegen Mordes ist noch nicht rechtskräftig.56 Bei den Verurteilungen wurde ganz überwiegend ein minder schwerer Falls des Totschlags angenommen.57 4. Zur strafrechtlichen Einordnung durch die Gerichte a) Strafanwendungsrecht Im Bereich des Strafanwendungsrechts folgt die Rechtsprechung dem Günstigkeitsprinzip des Artikels 315 Absatz 1 EGStGB in Verbindung mit § 2 Absatz 3 StGB. Als das für den Täter mildeste Recht wird bei den Tötungsdelikten im Falle des Mordes § 112 DDR-StGB und im Falle des Totschlages §§ 212, 213 StGB angesehen.58 Eine Besonderheit ergibt sich für Taten, bei denen das Opfer auf dem Gebiet der Bundesrepublik erschossen oder aber auf dem Gebiet der DDR angeschossen wurde, jedoch erst in der Bundesrepublik seinen Verletzungen erlag. Wegen des bundesdeutschen Tatorts gemäß §§ 3, 9 StGB kommt in diesen Fällen nach Artikel 315 Absatz 4 EGStGB allein das Recht der Bundesrepublik zur Anwendung.59 Bundesdeutsches Recht ist gemäß § 7 Absatz 1 StGB auch dann anwendbar, wenn es sich bei den Opfern um Bürger der Bundesrepublik handelte.60

b) Vorsatz Probleme ergeben sich für die Strafjustiz beim Nachweis des Vorsatzes der unmittelbar handelnden Grenzsoldaten. Nicht selten hängt der Vorsatznachweis vom Einlassungs56

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59 60

Auswertung der Daten des Projekts „Strafjustiz und DDR-Vergangenheit" mit Stand vom 1.7.2002 (Verfahren ohne Spionage); für eine detaillierte statistische Auswertung mit Stand von Anfang/Mitte 1998 vgl. Rummler, Gewalttaten, S. 29 ff. § 213 StGB; 1998 betrugt der Anteil 83,5%, vgl. Rummler, Gewalttaten, S. 52. BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 4 0 = BGHSt 39, 1, 30 = lfd. Nr. 2-2, S. 151; BGH, Urteil v. 20.10.1993 - Az. 5 StR 473/93, UA S. 26 f. = BGHSt 39, 353, 370 f. = lfd. Nr. 10-2, S. 387 f. BGH, Urteil v. 26.7.1994 - Az. 5 StR 98/94, UA S. 22 = BGHSt 40, 218, 231 = lfd. Nr. 15-2, S. 600. BGH, Urteil v. 19.4.1994 - Az. 5 StR 204/93, UA S. 5 = BGHSt 40, 113, 114 f. = lfd. Nr. 7-4, S. 309.

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geschick der Täter ab. Regelmäßig kommt die Rechtsprechung zur Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes. Hierbei schließt sie oftmals vom äußeren Geschehensablauf auf die innere Tatseite. Beispielsweise werden die besondere Gefährdung des Opfers durch die Abgabe von Dauerfeuer, die hohe Treffsicherheit der Waffe bei Einzelfeuer, die guten Sichtverhältnisse oder die Tatsache, dass der Täter ein guter Schütze war oder der Befehlslage entsprechen wollte, als Indizien für das Vorliegen des Tötungsvorsatzes angesehen.61 Insbesondere bei versuchten Tötungen ist jedoch der Nachweis des Vorsatzes angesichts der strengen Beweisanforderungen schwierig, da hier der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als wesentliches Indiz für den Willen zur Tötung fehlt. Dementsprechend wurde in aller Regel nur dann Vorsatz bejaht, wenn das Opfer getötet wurde. Die Ablehnung des Vorsatzes bei der Abgabe tödlicher Schüsse blieb die Ausnahme. Bei den Vorgesetzten der Grenzsoldaten bereitete der Vorsatznachweis geringere Schwierigkeiten, da die Erteilung eines Befehls zur Grenzsicherung nach der Befehlslage nur als Anweisung zur Tötung verstanden werden konnte. Als unproblematisch stellte sich auch die Annahme des bedingten Vorsatzes der Mitglieder der politischen und militärischen Führung dar.

c) Rechtswidrigkeit

von Tötungen

Den Schwerpunkt der Rechtsprobleme bildet die Frage der Rechtswidrigkeit. Nachdem zunächst Urteile des Landgerichts Berlin mit unterschiedlichen Argumentationen ergingen62, folgt die Rechtsprechung seit der Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs vom 3. November 199263 einer einheitlichen Linie. Diese Rechtsprechung wurde im Ergebnis sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt. aa)

Rechtsprechung

Eindeutig ist, dass eine Rechtfertigung der Taten nach bundesdeutschem Recht ausscheidet. Die Rechtswidrigkeit der Taten nach DDR-Recht ist dagegen zweifelhaft. Die Rechtsprechung verfolgt zwei grundlegende Ansätze, die zumeist in einem Stufenverhältnis geprüft werden. Ein erster Ansatz unterzieht das DDR-Recht einer immanenten Betrachtung, bei der die Rechtswidrigkeit anhand der Maßstäbe der DDR-Rechtspraxis untersucht wird. Die Rechtsprechung zieht hierbei nicht nur den Wortlaut von § 27 Grenzgesetz, sondern auch die vom Norminhalt abweichende Staatspraxis und die Befehlslage zur Ermittlung des DDR-Rechts heran. Nach dieser Praxis wurde kein Fall des Schusswaffengebrauchs disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Der Bundesgerichtshof kommt daher zu dem 61

62

63

BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 41 = BGHSt 39, 1, 30 = lfd. Nr. 2-2, S. 152; BGH, Urteil v. 25.3.1993 - Az. 5 StR 418/92, UA S. 21 f. = BGHSt 39, 168, 180 = lfd. Nr. 1-2, S. 77. Vgl. einerseits LG Berlin, Urteil v. 20.01.1992 - Az. (523) 2 Js 48/90 (9/91) = JZ 1992, 691 = lfd. Nr. 1-1 und andererseits LG Berlin, Urteil v. 5.2.1992 - Az. (518) 2 Js 63/90 KLs (57/91) = NStZ 1992,492 = lfd. Nr. 2-1. BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92 = BGHSt 39, 1 = lfd. Nr. 2-2.

XXXVIII

Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Strafrechtliche Aufarbeitung

Ergebnis, dass die Schüsse sowohl für die Zeit nach als auch vor der Geltung des Grenzgesetzes in den „Normalfallen" von § 27 Absatz 2 Grenzgesetz gedeckt waren. 64 Dies betrifft vor allem Schüsse auf einen fliehenden DDR-Bürger mit (bedingtem) Tötungsvorsatz und Einzelfeuer oder bei unmittelbar bevorstehendem Fluchterfolg auch mit sofortigem Dauerfeuer. Diese Rechtfertigung findet jedoch bei von den „Normalfällen" extrem abweichenden Tatabläufen wie den oben genannten „Exzessfällen" der vierten Fallgruppe eine Grenze. Nicht ganz auf einer Linie liegen jedoch unterinstanzliche und höchstrichterliche Rechtsprechung bei der Beantwortung der Frage, wann eine Exzesstat vorliegt.65 Ein zweiter Ansatz der Rechtsprechung legt Maßstäbe an, die der DDR-Rechtspraxis fremd waren (sogenannte transzendente Betrachtung). Leitend ist einmal eine naturrechtliche Argumentation unter Verwendung der sogenannten Radbruchschen Formel. Danach hat das positive Recht im Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit grundsätzlich auch für den Fall seiner inhaltlichen Ungerechtigkeit den Vorrang, es sei denn, der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit erreicht ein so unerträgliches Maß, dass das Gesetz als „unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat.66 Dabei konkretisiert die Rechtsprechung den Bereich, in dem gesetztes Recht der Gerechtigkeit zu weichen habe, anhand der völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte. Zu nennen ist einmal der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR). 67 Die generelle Versagung einer Ausreise in der DDR habe dem in Artikel 12 Absatz 2 verankerten Recht auf Ausreise widersprochen. Die Tötung der für Leib und Leben der Grenzsoldaten nicht gefährlichen Flüchtenden zur Abschrekkung anderer Fluchtwilliger habe gegen das in Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 und 3 IPBPR gewährleistete Recht auf Leben verstoßen.68 Herangezogen wird ferner die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die schon vor Inkrafttreten des IPBPR einen verbindlichen Maßstab für die Geltung von Menschenrechten normiert habe. Sie habe in Artikel 3 und 13 Nr. 2 die Rechte auf Leben und Ausreise in ähnlicher Weise wie der IPBPR geschützt.69 Diese Argumentation wendet die Rechtsprechung auch auf die Fälle des Eindringens in die DDR an.70 Ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Artikels 103 Absatz 2 GG liegt nach Auffassung der Rechtsprechung bei der Anwendung der Radbruchschen Formel nicht vor. Das folge aus der Erwägung, dass eine Freistellung von Strafbarkeit, die derart gegen die Menschenrechte verstoße, von vornherein unwirksam, also überhaupt nicht Recht geworden sei.71 64 65

66 67 68 69 70 71

Vgl. z.B. BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 16 ff. = BGHSt 39, 1, 10 ff. = lfd. Nr. 2-2, S. 139 ff. So wertete das LG Mühlhausen in seinem Urteil v. 31.8.1995 - Az. 551 Js 96030/95 - 1 Ks) die Tötung eines Fahnenflüchtigen als Exzess, anders als der BGH in diesen Fällen (vgl. etwa Urteil v. 18.1.1994-Az. 1 StR 740/93, UA S. 5 f. = BGHSt 40, 48, 51 = lfd. Nr. 11-2, S. 412). Radbruch SJZ 1946, 105, 107. Vom 19.12.1966; BGBl. 1973 II, S. 1534. BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 23 ff. = BGHSt 39, 1, 16 ff. = lfd. Nr. 2-2, S. 143 ff. BGH, Urteil v. 26.7.1994 - Az. 5 StR 167/94, UA S. 13 ff. = BGHSt 40, 241, 245 ff. = lfd. Nr. 3-2, S. 183 ff. LG Berlin, Urteil v. 28.10.1992 - Az. (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91), UA S. 25 = lfd. Nr. 7-3, S. 304. BGH, Urteil v. 20.3.1995 - Az. 5 StR 111/94, UA S. 15, 26 = BGHSt 41, 101, 105, 112 = lfd. Nr. 42, S. 232 f., 237.

XXXIX

Strafrechtliche Aufarbeitung

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Der Bundesgerichtshof belässt es jedoch innerhalb des zweiten Ansatzes nicht bei der Anwendung der Radbruchschen Formel. Alternativ untersucht er die Möglichkeit einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung des DDR-Rechts. Er kommt zu dem Ergebnis, dass § 27 Grenzgesetz und die vorher geltenden inoffiziellen Vorschriften in der DDR einer an den Menschenrechten orientierten Interpretation zugänglich gewesen seien. Verwiesen wird auf die Menschenrechte aus Artikel 6 und 12 IPBPR sowie auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Artikel 30 der DDR-Verfassung habe das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit beinhaltet. Eine an Artikel 6 und 12 IPBPR orientierte Auslegung habe den sich aus Artikel 30 Absatz 2 Satz 2 der DDR-Verfassung ergebenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, der seinen Niederschlag auch im Grenzgesetz72 gefunden habe. Dieser Grundsatz sei in der DDR verletzt worden, wenn die einfache Republikflucht als Verbrechen im Sinne des § 27 Grenzgesetz angesehen worden sei. Überdies sei im Rahmen des § 27 Grenzgesetz eine Auslegung möglich gewesen, die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Erfordernis der Schonung des Lebens aus § 27 Absatz 5 Satz 1 Grenzgesetz gerecht geworden wäre. Nach dieser Interpretation habe auf einen unbewaffneten und nicht für Leib und Leben der Grenzsoldaten gefährlichen Flüchtenden nicht mit Tötungsvorsatz geschossen werden dürfen. Die entgegenstehende Staatspraxis in der DDR, nach der die tödlichen Schüsse an der deutsch-deutschen Grenze nicht geahndet worden seien, widerspreche diesem Ergebnis nicht, denn sie habe kein Recht zu schaffen vermocht.73 Ähnlich wurde mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bei Taten argumentiert, die vor der Geltung des IPBPR begangen wurden.74 Diese Auffassung verstoße nicht gegen das Rückwirkungsverbot, meint der Bundesgerichtshof, denn er habe nur die im Recht der DDR angelegten Möglichkeiten zu einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung genutzt. Die Tat sei schon bei ihrer Begehung nach dem richtig ausgelegten Recht der DDR strafbar gewesen. Eine bloße Änderung der Auslegung einer Norm tangiere das Rückwirkungsverbot nicht.75 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtsprechung mit seinem Beschluss vom 24. Oktober 1996 als verfassungskonform bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass das Rückwirkungsverbot im Einzelfall eingeschränkt werden könne. Artikel 103 Absatz 2 GG sei auf Taten zugeschnitten, die innerhalb der Bundesrepublik begangen worden seien. Hier böten die unter demokratischen Zuständen zustande gekommenen Gesetze genügend Gewähr für ein Strafrecht, das prinzipiell den Erfordernissen der materiellen Gerechtigkeit genüge. Nur diese besondere Vertrauensgrundlage 72 73

74

75

§ 26 Abs. 2 S. 2 und 3 sowie § 27 Abs. 1 S. 1, vgl. Anhang S. 970. BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 32 f. = BGHSt 39, 1, 23 ff. = lfd. Nr. 2-2, S. 147 f.; BGH, Urteil v. 20.3.1995 - Az. 5 StR 111/94, UA S. 16 f. = BGHSt 41, 101, 105 f. = lfd. Nr. 4-2, S. 233. Ähnlich EGMR, Urteil vom 22.3.2001 - Beschwerde Nr. 34044/96, 35532/97 und 44801/98, Rdnr. 62ff„ 87 = NJW 2001, 3035, 3038, 3040 = lfd. Nr. 16-4, S. 920 ff., 925. BGH, Urteil v. 26.7.1994 - Az. 5 StR 167/94, UA S. 19 = BGHSt 40, 241, 249 = lfd. Nr. 3-2, S. 186; BGH, Urteil v. 20.3.1995 - Az. 5 StR 111/94, UA S. 16 ff. = BGHSt 41, 101, 105 f. = lfd. Nr. 4-2, S. 232 f. BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 39 f. = BGHSt 39, 1, 29 f. = lfd. Nr. 2-2, S. 151; BGH, Urteil v. 19.4.1994 - Az. 5 StR 204/93, UA S. 7 f. = BGHSt 40, 113, 116 = lfd. Nr. 74, S. 310; BGH, Urteil v. 20.3.1995 - Az. 5 StR 111/94, UA S. 25 ff. = BGHSt 41, 101, 111 f. m.w.N. = lfd. Nr. 4-2, S. 236 f.

XL

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Strafrechtliche Aufarbeitung

rechtfertige die Einhaltung des strikten Rückwirkungsverbots. Diese Grundlage entfalle, wenn ein Staat unter schwerwiegender Missachtung allgemein anerkannter Menschenrechte schwerstes kriminelles Unrecht durch die Schaffung von über die geschriebenen Normen hinausgehenden Rechtfertigungsgriinden begünstige. In einer solchen Situation müsse das Rückwirkungsverbot zugunsten des Gebots der materiellen Gerechtigkeit zurücktreten, da die Strafrechtspflege der Bundesrepublik sonst zu ihren eigenen Prämissen in Widerspruch geraten würde. 76 Der Europäische Gerichtshof fur Menschenrechte hat in seinen Entscheidungen vom 22. März 2001 festgestellt, dass diese Rechtsprechung der deutschen Gerichte mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar ist. Insbesondere wird ein Verstoß gegen das in Artikel 7 der EMRK verankerte Rückwirkungsverbot verneint. Die Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze seien nämlich zur Tatzeit sowohl nach dem innerstaatlichen Recht der DDR als auch nach internationalem Recht strafbar gewesen. In voller Übereinstimmung mit dem Bundesgerichtshof ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Ergebnis gelangt, das geschriebene Recht der DDR habe, insbesondere unter Berücksichtigung der DDR-Verfassung, die Tötungen an der deutsch-deutschen Grenze nicht rechtfertigen können.77 Die Legitimität einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung des DDR-Rechts wird anerkannt; darüber hinaus betont der Gerichtshof ausdrücklich das Recht demokratischer Nachfolgestaaten, die Auslegung von Gesetzen aus der Zeit der Diktatur im rechtsstaatlichen Sinne zu ändern. Den Gerichten eines Nachfolgestaates könne man „nicht vorwerfen, dass sie die zur Tatzeit geltenden Rechtsvorschriften im Lichte der Grundsätze angewendet und ausgelegt haben, die in einem Rechtsstaat gelten".78 Daneben hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch eine Strafbarkeit der Tötungsvorgänge nach internationalem Recht bejaht. Die Tötungen hätten nicht nur das ranghöchste Menschenrecht, das Recht auf Leben verletzt, sondern auch gegen das Recht auf Freizügigkeit verstoßen79.

bb)

Stellungnahmen im Schrifttum 80

Im Schrifttum findet die Linie der Rechtsprechung vielfach Zustimmung. Es gibt jedoch auch erhebliche Kritik an ihrem Vorgehen. Zwei grundsätzliche Positionen lassen sich ausmachen. Vielfach wird eine transzendente Betrachtung abgelehnt und eine rechtliche Bewertung der Taten anhand immanenter Kriterien favorisiert. Lediglich Taten, die sich schon nach dem in der DDR praktizierten Recht als Exzesse dargestellt hätten, seien verfolg76

77 78 79 80

XLI

BVerfG, Beschluss v. 24.10.1996 - Az. 2 BvR 1851/94, 1853/94, 1875/94 und 1852/94, UA S. 46 ff. = BVerfGE 95, 96, 131 ff. = lfd. Nr. 15-3, S. 631 fif.; bestätigt in BVerfG, Beschluss v. 21.7.1997 Az. 2 BvR 1084/97, 1120/97, 1121/97 und 1122/97 = EuGRZ 1997, 413, 416. EGMR, Urteil vom 22.3.2001 - Beschwerde Nr. 34044/96, 35532/97 und 44801/98, Rdnr. 64ff. = NJW 2001, 3035, 3038 = lfd. Nr. 16-4, S. 921. Ebd. Rdnr. 81 (= lfd. Nr. 16-4, S. 923). Ebd., Rdnr. 92ff. (= lfd. Nr. 16-4, S. 925) - Näher dazu Werle, NJW 2001, 3001, 3007. Zu dem kaum noch übersehbaren Schrifttum vgl. die Nachweise bei Lackner/Kühl § 2 Rn. 16, 16a sowie die Übersicht kritischer Stimmen in BGH, Urteil 20.3.1995 - Az. 5 StR 111/94, UA S. 18 = BGHSt 41, 101, 107 = lfd. Nr. 4-2, S. 233. Grundlegend zum Positivismusproblem im Zusammenhang mit Systemunrecht vgl. Naucke, Privilegierung sowie Rogali, Bewältigung.

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bar. Uneinigkeit besteht dabei jedoch darin, wie weit dem Selbstverständnis des Rechts der DDR gefolgt werden darf. Während teilweise unter Anerkennung der Faktizität als Recht die Straflosigkeit aller Taten angenommen wird81, stellen andere auf den Wortlaut des § 27 Grenzgesetz als Maßstab fur den Umfang der Rechtfertigung ab82. Darüber hinaus wird die Rechtswidrigkeit zum Teil aus der innerstaatlichen Geltung völkerrechtlicher Bestimmungen hergeleitet.83 Die Maßgeblichkeit einer transzendenten Betrachtung wird mit unterschiedlichen Erwägungen begründet. Die menschenrechtsfreundliche Auslegung des Bundesgerichtshofs trifft nur selten auf Zustimmung84, weil man sie überwiegend für mit dem Rückwirkungsverbot unvereinbar hält. Am weitesten verbreitet ist die Berufung auf die Radbruchsche Formel.85 Dieser Ansicht wird jedoch eine Verletzung des Rückwirkungsverbots und des Gesetzlichkeitsprinzips86 entgegengehalten. Darüber hinaus wird teilweise grundsätzlich bezweifelt, dass das Naturrecht einen zulässigen und praktikablen Maßstab für die Ermittlung rechtlich verbindlicher Aussagen abgeben könne.87 Gegen die Konkretisierung der Radbruchschen Formel mittels Völkerrecht wird auch eingewandt, dass der Bundesgerichtshof völkerrechtliche Pakte trotz ihrer fehlenden innerstaatlichen Geltung in der DDR unzulässigerweise zum Maßstab gegenüber den Bürgern der ehemaligen DDR gemacht habe.88 Im übrigen sei fraglich, ob die angeführten völkerrechtlichen Bestimmungen überhaupt dem „Kernbereich des Rechts" angehörten und sich zu einer Konkretisierung der Formel eigneten.89 Teilweise wird auch ein Verstoß gegen die herangezogenen Völkerrechtspakte bestritten.90 Die Kritik mündet vielfach in der These, dass die Zulässigkeit von Bestrafungen die Schaffung eines offen rückwirkenden Gesetzes beziehungsweise die förmliche Änderung des Artikels 103 Absatz 2 GG erfordere.91

d) Rechtswidrigkeit der Erschießung Fahnenflüchtiger und Rechtswidrigkeit von Körperverletzungen Zur Rechtswidrigkeit der Erschießung Fahnenflüchtiger und von Körperverletzungen durch den Schusswaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht geäußert. Die zu diesem Komplex ergangenen

81 82

Isensee, Rechtsstaat, S. 105 ff.; Jakobs GA 1994, 1, 5 ff.; Pawlik GA 1994, 472 ff. Lüderssen ZStW 1992, 735, 739 ff.; Miehe, Rechtfertigung, S. 647, 650 ff.; Roggemann DtZ 1993,

83

Blumenwitz DA 1992, 567, 575 ff. i.V.m. Fn. 70; Buchner, Rechtswidrigkeit, S. 196 ff., 204 ff., 225 ff., 237 ff., 265 ff. Zustimmend Dreier, Vergangenheitsbewältigung, S. 31; Eser/Arnold, Strafrecht, S. 83f.; Eser, Schuld, S. 337, 338 f.; Hirsch, Strafrecht, S. 16 ff. Alexy, Mauerschützen, S. 28 ff.; Herzog NJ 1993, 1, 2 f.; Hruschka JZ 1992, 665, 667 f. Dencker KritV 1990, 299, 305; Jakobs GA 1994, 1,11 ff.; Miehe, Rechtfertigung, S. 647, 658 ff. Kuhlen, Normverletzungen, S. 63, 92 ff.; Pawlik GA 1994, 472, 479 f., 483. Amelung NStZ 1995, 29, 30; Gropp NJ 1996, 393, 395 f.; Ott NJ 1993, 337, 340 f.; Roggemann DtZ 1993, 10, 17 f. Grünwald StV 1991, 31, 37; Rittstieg DuR 1991, 404, 417; Roggemann DtZ 1993, 10, 18. Alexy, Mauerschützen, S. 17 fif.; Rittstieg DuR 1991,404,416 ff. Dencker KritV 1990, 299, 306 f.; Isensee, Rechtsstaat, S. 107; Joerden GA 1997, 201,211.

10, 16.

84 85 86 87 88 89 90 91

XLII

Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Strafrechtliche Aufarbeitung

Urteile lassen die Frage vielmehr offen und verneinen die Tatschuld.92 Exzesse sind jedoch auch in diesem Bereich in jedem Fall als rechtswidrig anzusehen. e) Rechtswidrigkeit der Tötung durch Minen und Selbstschussanlagen Die Rechtswidrigkeit der Tötung sogenannter Grenzverletzer durch Minen und Selbstschussanlagen ergibt sich nach der Rechtsprechung schon aus dem Fehlen einer entsprechenden Ermächtigungsgrundlage im Recht der DDR. Insbesondere könnten weder § 8 Absatz 2 noch §§ 26, 27 Grenzgesetz als Rechtsgrundlage angesehen werden.93 fi Schuld Im Rahmen der Schuld werden insbesondere zwei Probleme relevant. Einerseits hatte die Rechtsprechung zu prüfen, ob die Schuld wegen Handelns auf Befehl (§ 258 Abs. 1 DDR-StGB) entfällt. Entscheidend ist hier, ob die Täter die Rechtswidrigkeit ihrer Taten erkannt haben oder ob deren Rechtswidrigkeit jedenfalls offensichtlich war. Ersteres verneint die Rechtsprechung, geht jedoch von der Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit aus. Die Gewalttaten an der Grenze seien ein derart schreckliches und jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogenes Tun gewesen, dass der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres habe einsichtig sein müssen. Diese Argumentation der Rechtsprechung resultiert aus ihrer Ansicht zur Rechtswidrigkeit der Taten. Da dort von extremem Unrecht ausgegangen wird, ist es naheliegend, dieses zugleich auch als evidentes Unrecht anzusehen. Andererseits war zu klären, ob sich die Täter in einem Verbotsirrtum nach § 17 StGB befanden. Dies nahmen die Gerichte in der Regel an. Der Irrtum sei aber aus den Gründen vermeidbar gewesen, welche die Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit des Handelns auf Befehl begründeten.94 Teile der Literatur wenden sich entschieden gegen diese Auffassung.95 Von der Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit beim Handeln auf Befehl könne angesichts der Indoktrination der Soldaten, ihrer sozialistischen Erziehung seit dem Kindesalter und der

92

93 94

95

BGH, Urteil v. 25.3.1993 - Az. 5 StR 418/92, UA S. 41 f. = BGHSt 39, 168, 194 f. = lfd. Nr. 1-2, S. 86; BGH, Urteil v. 8.6.1993 - Az. 5 StR 88/93, UA S. 8 ff. = NStZ 1993, 488; BGH, Urteil v. 17.12.1996-Az. 5 StR 137/96, UA S. 11 f. = BGHSt 42, 356, 361 = lfd. Nr. 6-2, S. 279. LG Berlin, Urteil v. 16.9.1993 - Az. (527) 2 Js 26/90 Ks 10 (92), UA S. 216 f. = NJ 1994, 210, 213 = lfd. Nr. 15-1, S. 578 f. BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 46 f. = BGHSt 39, 1, 34 = lfd. Nr. 2-2, S. 154; BGH, Urteil v. 25.3.1993 - Az. 5 StR 418/92, UA S. 37 = BGHSt 39, 168, 191 f. = lfd. Nr. 1-2, S. 84; EGMR, Urteil vom 22.3.2001 - Beschwerde Nr. 37201/97, Nr. 68 ff. = NJW 2001, 3042, 3044 = lfd. Nr. 3-4, S. 196; vgl. aber auch die dortigen Sondervoten der Richter Cabrai Barreto sowie Pellonpää (lfd. Nr. 3-4, S. 207 ff. bzw. S. 211 f f ) . Führende Repräsentanten der DDR können sich nach Ansicht des EGMR schon deshalb nicht auf Unkenntnis berufen, weil sie selbst „eine Staatspraxis begründet oder aufrechterhalten haben, die offensichtlich die ureigenen Grundsätze" des DDR-Rechtssystems missachtet habe; EGMR, Urteil v. 22.3.2001 - Beschwerde Nr. 34044/96, 35532/97 und 44801/98, Rdnr. 88 = NJW 2001, 3035, 3040 = lfd. Nr. 16-4, S. 925. Adomeit NJW 1993, 2914, 2915; Amelung NStZ 1995, 29, 30; Hohoff DtZ 1997, 308 ff.; Miehe, Rechtfertigung, S. 663 ff.

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Befürwortung des Schusswaffengebrauchs in der Propaganda der DDR nicht die Rede sein. Der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums stünden diese Umstände ebenfalls entgegen. Im übrigen genüge es für die Vermeidbarkeit nicht, dass ein Täter bei gehöriger Anspannung seiner geistigen Kräfte erkennen könne, dass sein Tun unmoralisch, unmenschlich oder ungerecht sei; vielmehr müsse ihm die Erkenntnis möglich sein, gegen das Recht verstoßen zu haben. Dies sei aber sehr fraglich. Bei Körperverletzungen geht der Bundesgerichtshof vom Fehlen der Schuld aus. Im Rahmen der Vorschriften des Handelns auf Befehl fehle es an der Offensichtlichkeit des Strafrechtsverstoßes. Bei Schüssen ohne Tötungsvorsatz seien die Flüchtenden zwar auch daran gehindert worden, die DDR zu verlassen, jedoch habe keine Verletzung des elementaren Tötungsverbots vorgelegen.96 Mit denselben Argumenten bejaht die Rechtsprechung in diesen Fällen das Vorliegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums.97 Auch bei der Erschießung bewaffneter Fahnenflüchtiger kann nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht von einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit ausgegangen werden. Im Vergleich zu den bereits genannten Fällen, in denen die Annahme der Schuld schon nicht unproblematisch sei, würden hier gewichtige, fur die Möglichkeit der Rechtmäßigkeit des Befehls sprechende Besonderheiten hinzukommen.98 g) Täterschaft und Teilnahme

Auch mit Problemen aus dem Bereich von Täterschaft und Teilnahme hatte sich die Rechtsprechung intensiv zu befassen. Im Hinblick auf die Angehörigen der politischen und militärischen Führung ist seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Bezug auf die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates anerkannt, dass sich diejenigen Angehörigen der Führung als mittelbare Täter verantworten müssen, welche die grundlegenden politischen Entscheidungen zur Grenzsicherung getroffen oder selbst als Befehlsgeber für die Konkretisierung und Weiterleitung der Befehlslage gesorgt haben. Dass bereits die unmittelbar handelnden Schützen als Täter angesehen würden, schließe zwar normalerweise die Annahme einer mittelbaren Täterschaft aus, stehe ihr in diesem Fall jedoch nicht entgegen. Denn hier liege der - erstmals von der Rechtsprechung anerkannte - Ausnahmefall des „Täters hinter dem Täter" vor. Der Beitrag der Mitglieder der politischen und militärischen Führung habe durch die Ausnutzung der Befehlskette nahezu automatisch zu der erstrebten Tatbestandsverwirklichung durch die Grenzsoldaten geführt. Der zur Verfugung stehende organisatorische Machtapparat habe regelhafte Abläufe garantiert. Dies hätten sich die Täter zunutze gemacht, indem sie die unbedingte Bereitschaft der unmittelbar Handelnden zur Tatausführung ausgenutzt hätten.99 Die übrigen Angehörigen der Füh-

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BGH, Urteil v. 8.6.1993 - Az. 5 StR 88/93, UA S. 9 f. = NStZ 1993, 488, 489. BGH, Urteil v. 25.3.1993 - Az. 5 StR 418/92, UA S. 42 = BGHSt 39, 168, 194 f. = lfd. Nr. 1-2, S. 87. BGH, Urteil v. 17.12.1996 - Az. 5 StR 137/96, UA S. 12 = BGHSt 42, 356, 362 = lfd. Nr. 6-2, S. 279. BGH, Urteil v. 26.7.1994 - Az. 5 StR 98/94, UA S. 21 ff. = BGHSt 40, 218, 230 ff. = lfd. Nr. 15-2, S. 600 ff.

XLIV

Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Strafrechtliche Aufarbeitung

rungsebenen, die lediglich im Vorfeld an der Erstellung der Beschlüsse und Befehle dieser mittelbaren Täter beteiligt waren, wurden als Gehilfen verurteilt.100 Unmittelbare Vorgesetzte der Schützen wurden bei der Erteilung eines Tötungsbefehls im konkreten Einzelfall als Anstifter bestraft 101 . Die Erteilung eines generellen Befehls - insbesondere im Rahmen der „Vergatterung" - wurde hingegen als Beihilfe gewertet.102 Im Gegensatz zu seiner früheren Rechtsprechung zu den NS-Verbrechen hat der Bundesgerichtshof die Schützen als Täter angesehen und nicht als bloße Gehilfen. Im Verhältnis der Posten zueinander kommt der Bundesgerichtshof selbst bei fehlender Kommunikation unter den unmittelbar Beteiligten zum Ergebnis, dass im Regelfall Mittäterschaft vorliege, da alle Beteiligten unter dem Einfluss des gleichen Befehls und mit gleicher Zielrichtung gehandelt hätten.103 Die Annahme der mittelbaren Täterschaft bei den sogenannten Schreibtischtätern stößt im Schrifttum auf Zustimmung 104 und Widerspruch. Alternativ wird teilweise Anstiftung 105 , Mittäterschaft 106 oder Nebentäterschaft 107 angenommen. h) Verjährung Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze sind nach der Rechtsprechung noch nicht verjährt. Bezüglich der Taten, die sich nach bundesdeutschem Recht als Mord darstellen, besteht Unverjährbarkeit (§ 78 Absatz 2 StGB, Artikel 315a Absatz 3 EGStGB). Vollendete und versuchte Totschlagsdelikte können nach Auffassung der Rechtsprechung bereits dann bestraft werden, wenn ihre Verjährung auch nur nach einer der beiden Rechtsordnungen nicht eingetreten ist. Zumindest nach dem Recht der DDR seien die Taten noch verfolgbar, da die Verjährung während des Bestehens der DDR geruht habe.108 100 Vgl. z.B. das Urteil des LG Berlin gegen den Chef der Grenztruppen und fünf seiner Stellvertreter v. 10.9.1996 - A z . (536)2 Js 15/92 Ks (2/95), UA S. 111 f. Der BGH hat in seinem Urteil v. 8.3.2001 Az. 4 StR 453/00 = NJW 2001, 2409 - allerdings festgestellt, dass die bloße Mitwirkung an der Erstellung von Befehlen zur Grenzsicherung fur sich allein noch keine strafbare Beihilfe zur Tötung oder Verletzung von Personen durch die dort verlegten Minen darstellt und damit den erstinstanzlichen Freispruch (vgl. LG Stendal, Urteil v. 7.3.2000 - Az. 502 Ks - 33 Js 27676/95 - 16/95) zweier Stellvertreter des Kommandeurs des Grenzkommandos Nord im Ergebnis bestätigt. 101 BGH, Urteil v. 24.4.1996 - Az. 5 StR 322/95, UA S. 10 = NStZ-RR 1996, 323, 324 = lfd. Nr. 13-4, S. 474. 102 BGH, Urteil v. 30.8.2001 - Az. 5 StR 259/01. Einen Anstiftervorsatz des Offiziers, der die Vergatterung durchführt, verneint auch bereits LG Berlin, Urteil v. 7.6.1995 - Az. (529) 27/2 Js 193/90 Ks (22/94), UA S. 24 ff. = lfd. Nr. 12-1, S. 439. Dieses Urteil gelangt im Ergebnis zwar zu einem Freispruch, setzt sich aber eingehend mit den Problemen von Täterschaft und Teilnahme auseinander. 103 BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 41 f. = BGHSt 39, 1, 31 f. = lfd. Nr. 2-2, S. 152; BGH, Urteil v. 26.7.1994 - Az. 5 StR 167/94, UA S. 8 f. = NJW 1994, 2708 = lfd. Nr. 3-2, S. 181. 104 Roxin JZ 1995, 49 ff.; Schroeder JR 1995, 177 ff.; Gropp JuS 1996, 13, 15 ff.; im Ergebnis auch Rogali, Bewältigung, S. 418ff, 105 Bottke, Verfolgung, S. 224 f.; Jescheck/Weigend, Strafrecht, S. 669. 106 Jakobs NStZ 1995, 26, 27. 107 Bockelmann/Volk, Strafrecht, S. 191 f. 108 BGH, Urteil v. 18.1.1994 - Az. 1 StR 740/93, UA S. 11 ff. = BGHSt 40, 48, 55 f. = lfd. Nr. 11-2, S. 414 ff.; BGH, Urteil v. 19.4.1994 - Az. 5 StR 204/93, UA S. 5 ff. = BGHSt 40, 113, 114 ff. = lfd. Nr. 7-4, S. 309 ff.

XLV

Auswahl der Dokumente

i)

Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Strafzumessung

Die Rechtsprechung verhängte meist milde Strafen. Bei den Grenzsoldaten wurde der Strafrahmen in aller Regel dem § 213 StGB entnommen. Selbst die Angehörigen der Führungsebenen kamen nicht selten in den Genuss dieser Vorschrift. Regelmäßig wurden Freiheitsstrafen bis zu maximal zwei Jahren verhängt, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Die Rechtsprechung begründete die im Verhältnis zur Schwere der Tat recht niedrigen Strafen insbesondere mit der außergewöhnlichen Situation, in der sich die Grenzsoldaten befanden. Die Täter seien in das politische System der DDR und in die Befehlsstruktur der Grenztruppen eingebunden gewesen und gewissermaßen selbst als Opfer der politischen Verhältnisse und des Grenzregimes anzusehen. Lediglich die Strafaussprüche gegen die Mitglieder der Führungsebenen und bei Exzesstaten fielen höher aus.109

II. Auswahl und Präsentation der Dokumente Im folgenden wird zunächst die Auswahl der dokumentierten Materialien begründet (1.). Anschließend wird die Reihenfolge des Abdrucks erläutert. (2.) 1. Auswahl der Materialien Grundgedanke bei der Auswahl der Dokumente war es, aus der Fülle des zur Verfügung stehenden Materials einen möglichst repräsentativen Querschnitt der Justizaktivitäten zu erhalten. Die folgenden Kriterien wurden dabei gleichrangig berücksichtigt. Zunächst sollten die ausgewählten Verfahren möglichst sämtliche in tatsächlicher Hinsicht vorhandenen Fallvarianten aufzeigen. Dabei wurde das Augenmerk einerseits auf solche Entscheidungen gerichtet, die sich den zeitgeschichtlich bedeutsamen Umständen eingehend widmeten. 110 Andererseits durften Taten nicht vergessen werden, deren Begehung oder Aburteilung in der Öffentlichkeit besondere Aufmerksamkeit fand. Hierzu gehört etwa die Erschießung Peter Fechters111, die oft als Synonym für die Unmenschlichkeit des Grenzregimes verstanden wurde. Auch die Tötung des Journalisten Kurt Lichtenstein112 hat seinerzeit fur Aufsehen gesorgt. Das Verfahren wegen der Tötung von Chris Gueffroy 113 fand als erstes sogenanntes Mauerschützenverfahren nach der Vereinigung ein besonders intensives Interesse und prägte somit das öffentliche Bild der Aufarbeitung. Gleiches gilt für die Verfahren gegen die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates114 und die Politbüromitglieder um Egon Krenz 115 . Darüber hinaus sind Verfahren zu allen drei Tätergruppen 116 dokumentiert.

109 110 111 112 113 114 115 116

Vgl. z.B. lfd. Nr. 15 und 16. Vgl. z.B. lfd. Nr. 1-1. Lfd. Nr. 5. Lfd. Nr. 8. Lfd. Nr. 1. Lfd. Nr. 15. Lfd. Nr. 16. Vgl. dazu oben unter I.2.b) auf S. XXXIV f.

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Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Auswahl der Dokumente

Neben der Repräsentativität im Hinblick auf zeitgeschichtlich bedeutsame Sachverhalte sollte die Auswahl die Linie der Rechtsprechung zu allen relevanten Rechtsproblemen und ihre Herausbildung und Entwicklung in besonders problematischen Bereichen verdeutlichen. Aufgenommen wurden daher diejenigen Verfahren, die einen richtungweisenden Einfluss auf die rechtliche Beurteilung der Taten hatten oder zu einer wichtigen Rechtsprechungsänderung führten. Dies trifft beispielsweise auf die beiden zuerst abgedruckten Verfahren zu 117 , die Probleme im Bereich des Strafanwendungsrechts, der Rechtswidrigkeit, der Schuld, der Mittäterschaft unter den Grenzsoldaten, der möglichen Verfahrenshindernisse und der Strafbarkeit von Körperverletzungen aufgeworfen und zu richtungsweisenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs geführt haben. Deutlich werden zunächst die unterschiedlichen Lösungsansätze, die im Rahmen der Rechtswidrigkeit auf der unterinstanzlichen Ebene vertreten wurden. Während das erste Urteil des Landgerichts Berlin die Radbruchsche Formel anwendete 118 , gelangte das zweite Urteil des Gerichts über eine rechtsstaatliche Auslegung der DDR-Normen zur Rechtswidrigkeit119. Der Bundesgerichtshof legte sodann in seiner ersten Entscheidung die Leitlinie für den Umgang mit der Rechtswidrigkeit fest. 120 Er knüpfte einerseits an die Anwendung der Radbruchschen Formel des ersten Landgerichtsurteils an und konkretisierte sie mit einer an den Menschenrechten orientierten Argumentation. Andererseits knüpfte der Bundesgerichtshof im Grundsatz auch an das zweite Urteil des Landgerichts an, ersetzte jedoch die rechtsstaatliche Auslegung durch eine menschenrechtsfreundliche Interpretation. An diesem Urteil des Bundesgerichtshofs orientierten sich in der Folgezeit die unterinstanzlichen Gerichte. Später entwickelte die Rechtsprechung ihre Argumentation zur Rechtswidrigkeit für Taten fort, die sich vor der Geltung des Grenzgesetzes und des Internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) ereignet hatten.121 Weitere Verfahren betreffen die anfänglich kontrovers beantwortete Frage, ob für den Zeitraum des Bestehens der DDR von einem Ruhen der Veqährung ausgegangen werden kann. Zur Veranschaulichung der Rechtsprechungsentwicklung werden entsprechende Nichteröffnungsbeschlüsse des Landgerichts Berlin sowie Beschwerdeentscheidungen des Kammergerichts dokumentiert.122 Aus der Anzahl der zu einer Sachverhaltsgruppe aufgenommenen Verfahren kann nicht auf die Häufigkeit derartiger oder vergleichbarer Taten geschlossen werden. Beispielsweise ging die Rechtsprechung nur sehr selten vom Vorliegen eines Exzesses aus.

117 Vgl. lfd. Nr. 1 und 2. 118 LG Berlin, Urteil v. 20.01.1992 - Az. (523) 2 Js 48/90 (9/91), UA S. 136 ff. = JZ 1992, 691 ff. = lfd. Nr. 1-1, S. 51 ff. 119 LG Berlin, Urteil v. 5.2.1992 - Az. (518) 2 Js 63/90 KLs (57/91), UA S. 33 ff. = NStZ 1992, 492, 493 f. = lfd. Nr. 2-1, S. 118. 120 BGH, Urteil v. 3.11.1992 - Az. 5 StR 370/92, UA S. 14 ff. = BGHSt 39, 1, 8 ff. = lfd. Nr. 2-2, S. 138 ff. 121 BGH, Urteil v. 26.7.1994 - Az. 5 StR 167/94, UA S. 9 ff. = BGHSt 40, 241, 242 ff. = lfd. Nr. 3-2, S. 181 ff.; BGH, Urteil 20.3.1995 - Az. 5 StR 111/94, UA S. 12 ff. = BGHSt 41, 101, 103 ff. = lfd. Nr. 4-2, S. 231. 122 LG Berlin, Beschluss v. 30.3.1992 - Az. 513 KLs 92/91 = lfd. Nr. 7-1; KG, Beschluss v. 9.6.1992 Az. 4 Ws 86/92 = NStZ 1992, 542 = lfd. Nr. 7-2; LG Berlin, Beschluss v. 10.7.1992 - Az. 507 KLs 68/91 = DtZ 1992, 335 f. = lfd. Nr. 13-1; KG, Beschluss v. 17.12.1992 - Az. 4 Ws 160/92 = NStZ 1993, 240 = lfd. Nr. 13-2. XLVII

Auswahl der Dokumente

Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Dennoch sind zur Veranschaulichung dieser Konstellation zwei Entscheidungen zu Exzessfallen in die Dokumentation einbezogen.123 Teilweise konnten Sachverhaltsgruppen aus Platzgründen überhaupt nicht berücksichtigt werden. Dies betrifft beispielsweise die Erschießung von Bundesbürgern bei Grenzdurchbrüchen in Ost-West-Richtung, die Tötung von DDR-Bürgern bei einer Grenzüberschreitung von West nach Ost oder die Schussabgabe auf Personen, die irrtümlich für sogenannte Grenzverletzer gehalten wurden. 124 In diesen Fällen weichen jedoch weder die Tathandlungen selbst noch die rechtlichen Bewertungen der Gerichte von den dokumentierten Verfahren entscheidend ab. In allen neuen Bundesländern fanden Verfahren wegen der Gewalttaten statt. Selbst in Sachsen, das nur über wenige Kilometer eine gemeinsame Grenze mit der Bundesrepublik hatte, kam es zu vereinzelten Strafverfahren. Dennoch wurde auf den Versuch verzichtet, geographische Repräsentativität zu erreichen. Da die Gewalttaten durch die Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin zentral ausermittelt wurden und die rechtliche Handhabung dieser Fälle früh durch die höchstrichterliche Rechtsprechung festgelegt wurde, ergaben sich bei der Beurteilung der Taten auch zwischen Gerichten aus unterschiedlichen Bundesländern keine nennenswerten Differenzen. Die Dokumentation beschränkt sich - mit einer Ausnahme 125 - auf rechtskräftige Urteile und Beschlüsse. Zwar hätte die Berücksichtigung von Anklageschriften und sonstigen Materialien einen noch differenzierteren Überblick über die Tätigkeit der Justiz ergeben und insbesondere gezeigt, welche verschiedenen rechtlichen Auffassungen vor allem zu Beginn der Strafverfolgung von Grenztaten bestanden. Doch hätte ihre Berücksichtigung letztlich den Umfang der Dokumentation gesprengt.

2. Reihenfolge des Abdrucks Die Reihenfolge des Abdrucks der Verfahrensdokumente orientiert sich an folgenden Leitlinien. Als übergeordnetes Differenzierungskriterium dienen zunächst die drei Tätergruppen. Die Darstellung beginnt mit den Grenzsoldaten126 und wird mit den jeweils übergeordneten Hierarchieebenen fortgesetzt127. Dadurch wird zunächst ein Einblick in die konkreten Geschehnisse an der Grenze vermittelt, bevor die komplexen Zusammenhänge des Zustandekommens der fur die Grenzsoldaten maßgeblichen Befehlslage sowie die Einflussnahmen der politischen und militärischen Führung der DDR auf das Grenzregime dargestellt werden. Außerdem wird so die zeitliche Entwicklung abgebildet. Die ersten Verfahren richteten sich gegen die unmittelbar handelnden Grenzsoldaten.128 Innerhalb der ersten Tätergruppe der Grenzsoldaten wurde nach Fallgruppen gegliedert; innerhalb dieser Fallgruppen sind die einschlägigen Entscheidungen wiederum in

123 124 125 126 127

Vgl. lfd. Nr. 10 und 11. Vgl. mit Beispielen zu diesen und weiteren Sachverhaltsgestaltungen Rummler, Gewalttaten, S. 7 ff. Vgl. lfd. Nr. 17. Vgl. Teil 1 (lfd. Nr. 1 bis 11). Teil 2: Strafverfahren gegen militärische Vorgesetzte (lfd. Nr. 12 bis 14), Strafverfahren gegen die militärische und politische Führung (lfd. Nr. 15 bis 17). 128 Vgl. hierzu bereits oben auf S. XXXVI.

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Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Literatur

chronologischer Reihenfolge der erstinstanzlichen Urteile geordnet, um die Herausbildung und Entwicklung der Rechtsprechungslinie zu verdeutlichen. Bei der zweiten Tätergruppe wird nach der konkreten Tathandlung des Vorgesetzten untergliedert. Grund dafür sind Unterschiede rechtlichen Bewertung je nachdem, ob der Vorgesetzte einen konkreten Befehl zum Schießen erteilte, die Vergatterung vornahm oder das Verlegen von Minen befahl. In der dritten Tätergruppe wurde nach der jeweiligen Hierarchieebene bzw. der Zugehörigkeit zu einem konkreten staatlichen, militärischen oder Parteiorgan differenziert. Aufgenommen wurden die Verfahren gegen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates129 sowie des Politbüros130.

Literatur Adomeit, Klaus: Die Mauerschützenprozesse - rechtsphilosophisch, NJW 1993, S. 2914ff. Alexy, Robert: Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, Hamburg 1993. Ambos, Kai: Nuremberg Revisited. Das Bundesverfassungsgericht, das Völkerstrafrecht und das Rückwirkungsverbot, StV 1997, S. 39ff. Amelung, Knut: Anmerkung zum Urteil des BGH vom 26.07.1994 - 5 StR 167/94, NStZ 1995, S. 29f. Bartlsperger, Richard: Einstellung des Strafverfahrens von Verfassungs wegen. Zum Strafverfahren Erich Honecker, DVB1. 1993, S. 333ff. Berkemann, Jörg: Ein Landesverfassungsgericht als Revisionsgericht - Der Streitfall Honecker, NVwZ 1993, S. 409ff. Blumenwitz, Dieter: Zur strafrechtlichen Verfolgung Erich Honeckers. Staats- und völkerrechtliche Fragen, DA 1992, S. 567ff. Bockelmann, Paul/Klaus Volk: Strafrecht allgemeiner Teil, 4. Aufl., München 1987. Bottke, Wilfried: Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach dem Beitritt der neuen Länder, in: Deutsche Wiedervereinigung, Die Rechtseinheit, Arbeitskreis Strafrecht, Band II, Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, hrsg. von Ernst-Joachim Lampe, Köln u.a. 1993, S. 203ff. Buchner, Silke: Die Rechtswidrigkeit der Taten von „Mauerschützen" im Lichte von Art. 103 II GG unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts. Ein Beitrag zum Problem der Verfolgung von staatlich legitimiertem Unrecht nach Beseitigung des Unrechtssystems, Frankfurt 1996. Dencker, Friedrich: Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Lehren aus der Justizgeschichte der Bundesrepublik, KritV 1990, S. 299ff. Dreier, Ralf: Juristische Vergangenheitsbewältigung, Baden-Baden 1995. Eser, Albin: Schuld und Entschuldbarkeit von Mauerschützen und ihren Befehlsgebern. Zu einem unbewältigten Problem bei der Bewältigung von DDR-Alttaten, in:

129 Vgl. lfd. Nr. 15. 130 Vgl. lfd. Nr. 16 und 17.

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Literatur

Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Festschrift für Walter Odersky zum 65. Geburtstag, hrsg. von Reinhard Böttcher u.a., Berlin u.a. 1996, S. 337ff. Eser, Albin; Arnold, Jörg (Hg.): Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse. Bd. 2: Deutschland, Freiburg 2000. Grasemann, Hans-Jürgen: Das DDR-Grenzregime und seine Folgen. Der Tod an der Grenze, in: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit (13. Wahlperiode), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. VIÏÏ/2: Das geteilte Deutschland im geteilten Europa, Baden-Baden 1999, S. 1209ff. Gropp, Walter: Die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates als „Mittelbare MitTäter hinter den Tätern"? - BGHSt 40, 218. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 26.07.1994 - 5 StR 98/94, JuS 1996, S. 13ff. ders. : Naturrecht oder Rückwirkungsverbot? - Zur Strafbarkeit der Berliner „Mauerschützen", NJ 1996, S. 393ff. Grünwald, Gerald: Die strafrechtliche Bewertung in der DDR begangener Handlungen, StV 1991, S. 3Iff. Herzog, Felix: Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Todesschützen an der innerdeutschen Grenze, NJ 1993, S. Iff. Hirsch, Hans Joachim: Rechtsstaatliches Strafrecht und staatlich gesteuertes Unrecht, Opladen 1996. Hohoff, Ute: Vorsatz und „Unrechtsbewußtsein" im Strafrecht der DDR als Problem aktueller Rechtsanwendung, DtZ 1997, S. 308ff. Hruschka, Joachim: Die Todesschüsse an der Berliner Mauer vor Gericht, JZ 1992, S. 665ff. Isensee, Josef: Der Rechtsstaat vor seinem unrechtsstaatlichen Erbe, in: Vergangenheitsbewältigung durch Recht, hrsg. von Josef Isensee, Berlin 1992, S. 37ff. Jakobs, Günther: Anmerkung zum Urteil des BGH vom 26.07.1994 - 5 StR 98/94, NStZ 1995, S. 26f. ders. : Untaten des Staates - Unrecht im Staat. Strafe für die Tötungen an der Grenze der ehemaligen DDR?, GA 1994, S. Iff. Jescheck, Hans-Heinrich/Thomas Weigend: Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage, Berlin 1996. Jochum, Dietmar: Der Politbüroprozeß. Dokumentation eines Justiztheaters. Kückenshagen 1996. Jochum, Dietmar: Die Plädoyers und das Urteil im Politbüroprozeß. Berlin 1998. Joerden, Jan C.: Wird politische Machtausübung durch das heutige Strafrecht strukturell bevorzugt?, GA 1997, S. 20Iff. Kuhlen, Lothar: Normverletzungen im Recht und in der Moral, in: Die moderne Gesellschaft im Rechtsstaat, hrsg. von Michael Baurmann und Hartmut Klient, Freiburg u.a., 1990, S. 63ff. Lackner, Karl/Kristian Kühl·. Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 23. Auflage, München 1999. Lüderssen, Klaus: Kontinuität und Grenzen des Gesetzlichkeitsprinzips bei grundsätzlichem Wandel der politischen Verhältnisse. „Guter" Positivismus im Strafrecht?

L

Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Literatur

Zur Auseinandersetzung über die Verfolgung in der ehemaligen DDR begangener Delikte, ZStW 104 (1992), S. 735ff. Marxen, Klaus/Gerhard Werte: Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz, Berlin 1999. Meurer, Dieter: Der Verfassungsgerichtshof und das Strafverfahren. Zehn Bemerkungen zu der Kassationsentscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofes vom 12.1.93 und zu dem Beschluß des Kammergerichts vom 13.1.93, JR 1993, S. 89ff. Miehe, Olaf: Rechtfertigung und Verbotsirrtum. Zum Stand der Diskussion über die Strafbarkeit der Todesschützen an Berliner Mauer und innerdeutscher Grenze, in: Festschrift für Wolfgang Gitter zum 65. Geburtstag, hrsg. von Meinhard Heinze, Wiesbaden 1995, S. 647ff. Naucke, Wolfgang: Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, Frankfurt/M. 1996. Ott, Hermann: Die Staatspraxis an der DDR-Grenze und das Völkerrecht. Zugleich Anmerkung zum Urteil des BGH vom 03.11.1992 - 5 StR 370/92, NJ 1993, S. 337ff. Paeffgen, Hans-Ullrich: Wozu dient der Strafprozeß und inwieweit darf ein Landesverfassungsgericht in ihn intervenieren? Überlegungen aus Anlaß des Verfahrens gegen Honecker u.a. und der Entscheidung des VerfGH Berlin vom 12.1.1993, NJ 1993, S. 152ff. Pawlik, Michael: Strafrecht und Staatsunrecht. Zur Strafbarkeit der „Mauerschützen", GA 1994, S. 472ff. Radbruch, Gustav: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, S. 105 ff. Richter, Peter: Kurzer Prozeß. Honecker & Genossen - ein Staat vor Gericht? Berlin 1993. Rittstieg, Helmut: Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Grenzsoldaten der DDR. Ein Beitrag zu den völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Problemen, DuR 1991, S. 404ff. Rogali, Klaus: Bewältigung von Systemkriminalität, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof. Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV: Strafrecht, Strafprozessrecht, hg. von Claus Roxin und Gunter Widmaier, S. 382ff. (406ff.) Roggemann, Herwig: Zur Strafbarkeit der Mauerschützen, DtZ 1993, S. lOff. Rosenau, Henning: Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag. Die strafrechtliche Verantwortung von Grenzsoldaten fur den Schußwaffengebrauch an der deutschdeutschen Grenze, 2. Aufl., Baden-Baden 1998. Roxin, Claus: Anmerkung zu BGH JZ 1995, 45, JZ 1995, S. 49ff. Rummler, Toralf: Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht, Berlin 2000. Schoreit, Armin: Absolutes Strafverfahrenshindernis und absolutes U-Haftverbot bei begrenzter Lebenserwartung des Angeklagten? Bedeutung, Auswirkungen und Wirksamkeit des Beschlusses des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin auf die im Verfahren gegen Erich Honecker eingelegte Verfassungsbeschwerde, NJW 1993, S. 88Iff.

LI

Literatur

Gewalttaten an der Grenze im Spiegel der Strafjustiz

Schroeder, Friedrich-Christian: Der Sprung des Täters hinter dem Täter aus der Theorie in die Praxis. Zugleich Besprechungsaufsatz zum Urteil des BGH v. 26.7.94 - 5 StR 98/94, JR 1995, S. 177ff. Starck, Christian: Der Honecker-Beschluß des Berliner VerfGH. Anwendung von Bundesprozeßrecht durch Landesgerichte unter Kontrolle der Landesverfassungsgerichte?, JZ 1993, S. 23Iff. Welke, Wanja Andreas: Rückwirkungsverbot zugunsten staatlicher Kriminalität?, KJ 1995, S. 369ff. Werle, Gerhard: Rückwirkungsverbot und Staatskriminalität, NJW 2001, S. 3001ff. Wesel, Uwe: Der Honecker-Prozeß. Über den Rechtsstaat, seine Peinlichkeiten und seine Schwierigkeiten, KJ 1993, S. 198ff. Wilke, Dieter: Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Einheit des Bundesrechts. Bemerkungen aus Anlaß des Honecker-Beschlusses des Berliner Verfassungsgerichtshofs, NJW 1993, S. 887fr.

LII

Dokumente

Teil 1: Strafverfahren gegen Grenzsoldaten

Lfd. Nr. 1 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Gueffroy 1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 20.1.1992, Az. (523) 2 Js 48/90 (9/91)

5

2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 25.3.1993, Az. 5 StR 418/92

71

3. Erneutes tatrichterliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 14.3.1994, Az. (527) 2 Js 48/90 Ks (3/93)

89

Lfd. Nr. 1-1

Dokumente - Teil 1

Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 20.1.1992, Az. (523)2 Js 48/90 (9/91) Gründe

6

I.

Lebensläufe der Angeklagten

6

II.

Einberufung der Angeklagten zum Militär

8

III. Militärische Ausbildung der Angeklagten 1. Allgemeines 2. Spezielle Grenzausbildung 3. Schießausbildung 4. Schußwaffengebrauch

10 10 12 12 13

IV. Innere Einstellung der Angeklagten vor der Tat 1. K 2. S 3. Sch 4. He

16 16 17 17 18

V.

19

Das Tatgeschehen

VI. Einlassungen der Angeklagten 1. K 2. S 3. Sch 4. He

29 29 31 32 33

VII. Beweiswürdigung

34

VnL Rechtliche Würdigung 1. He

48 49

2. Κ

61

3. S 4. Sch

64 66

IX. Strafzumessung

67

X.

68

Entschädigung

XI. Kosten

68

XII. Hilfsbeweisanträge

68

Anmerkungen

4

69

Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Gueffroy

Landgericht Berlin Az.: (523) 2 Js 48/90 (9/91)

Lfd. Nr. 1-1

20. Januar 1992

URTEIL1 Strafsache gegen 1. den Elektromontierer Andreas K. geboren 1964, 2.

den Elektromonteur Peter S., geboren 1964,

3. den Fräser Mike Sch., geboren 1964, 4.

den Elektromonteur Ingo He., geboren 1965, {2}

wegen Totschlags. Die 23. große Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Berlin hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 2., 4., 9., 11., 16., 19., 25., 30. September, 2., 7., 9., 16., 24. Oktober, 4., 11., 13., 25., 27. November, 2., 4., 9., 11., 16., 20., 30. Dezember 1991, 6., 8., 13. und 20. Januar 1992, an der teilgenommen haben: ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® in der Sitzung vom 20. Januar 1992 für Recht erkannt: {4} Es werden verurteilt: Der Angeklagte He. wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 3 (drei) Jahren und 6 (sechs) Monaten, der Angeklagte K. wegen zweier in Tateinheit begangener Verbrechen des versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 2 (zwei) Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Die Angeklagten Sch. und S. werden freigesprochen, der Angeklagte He. auch insoweit, als ihm ein weiteres Verbrechen des versuchten Totschlags zur Last gelegt worden ist. Soweit die Angeklagten verurteilt worden sind, tragen sie die Kosten des Verfahrens sowie ihre und die der Nebenklägerin entstandenen notwendigen Auslagen.

5

Lfd. Nr. 1-1

Dokumente - Teil 1

Im übrigen trägt die Kosten und die notwendigen Auslagen die Landeskasse. Die Nebenklägerin trägt insoweit ihre notwendigen Auslagen selbst. Dem Angeklagten Sch. steht fur die in der Zeit vom 14. Juni 1991 bis zum 19. Juli 1991 erlittene Untersuchungshaft eine Entschädigung zu; desgleichen dem Angeklagten S. für die Zeit vom 14. Juni 1991 bis zum 27. Juni 1991. Angewendete Vorschriften: a) [fur den] Angeklagten He.: §§ 212, 213 StGB, b) [für den] Angeklagten K.: §§ 212, 213, 22, 23,49, 52, 56 StGB. {5} Gründe I.

Lebensläufe der Angeklagten

1. Der jetzt 27 Jahre alte, nicht bestrafte Angeklagte K. ist zusammen mit einem drei Jahre jüngeren Bruder in E. in der damaligen DDR zunächst im elterlichen Haushalt aufgewachsen. Sein Vater war Verkäufer, die Mutter Schneiderin. 1969 kam er in die Vorschule. Von 1970 bis 1978 besuchte er die Polytechnische Oberschule in E., die er mit der 8. Klasse abschloß. Nach der Scheidung der Eltern im Jahre 1972 lebten der Angeklagte und sein Bruder im Haushalt der Mutter, der das Sorgerecht zugesprochen worden war. Die Mutter heiratete nach einiger Zeit erneut. Zur Mutter, dem Stiefvater und seinem Bruder hatte der Angeklagte stets ein gutes Verhältnis: Schwierigkeiten traten in der Familie nicht auf. Nach dem Schulabschluß erlernte der Angeklagte von 1978 bis 1981 im Funkwerk E. den Beruf eines Elektromontierers. Diese Ausbildung Schloß er mit dem Facharbeiterbrief ab. Danach arbeitete er bis 1987 in seinem Ausbildungsbetrieb als Fachgütekontrolleur. {6} Vom Herbst 1987 bis zum April 1989 versah er als Wehrpflichtiger Dienst in den Grenztruppen der damaligen DDR. Während seiner Militärdienstzeit heiratete er; seine Ehefrau ist Schuhfacharbeiterin. Aus der Ehe ist ein jetzt drei Jahre altes Kind hervorgegangen. Nach Beendigung seiner Militärdienstzeit arbeitete der Angeklagte zunächst bis zum Juli 1990 wiederum in seinem alten Beruf im Funkwerk E., zuletzt als Kurzarbeiter. Seit Juli 1990 ist der Angeklagte arbeitslos und und bezieht monatlich in der sogenannten „Warteschleife O."2 etwa 900,00 bis 1.000,00 DM; seine Ehefrau ist Kurzarbeiterin. Politisch war der Angeklagte in der damaligen DDR nicht besonders stark engagiert. Er durchlief zwar die damals üblichen Massenorganisationen wie die Jungen Pioniere, auf deren rotes Halstuch er stolz war, die FDJ und die Deutsch-Sowjetische-Freundschaft, trat jedoch noch vor Ableistung des Wehrdienstes aus der FDJ wieder aus, weil diese Organisation nicht seinen Vorstellungen entsprach. Einer Partei gehörte er nicht an. Die Zeitung „Neues {7} Deutschland" wurde zu Hause nicht regelmäßig gelesen, allenfalls deren Regionalteil. Der Angeklagte war nie nennenswert krank und hat auch keine mit Folgen verbundenen Unfälle erlitten. 2. Der jetzt 27 Jahre alte, nicht bestrafte Angeklagte S. ist zusammen mit einem Zwillingsbruder, einem sechs Jahre älteren Bruder und einer fünf Jahre älteren Schwester im elterlichen Haushalt in D. Kreis C. in der damaligen DDR aufgewachsen. Sein 6

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Vater war Traktorist, die Mutter war anfangs nicht berufstätig und arbeitete später bei einer LPG. Von 1970 an besuchte der Angeklagte bis zur 5. Klasse zunächst die Polytechnische Oberschule in D. und anschließend die Juri-Gagarin-Oberschule in P., die er mit der 10. Klasse mit der Gesamtabschlußnote „sehr gut" abschloß. Seine Lieblingsfächer waren, Mathematik und Sport; darüber hinaus interessierte er sich für Technik und Fußball. Nach dem Schulabschluß absolvierte er eine zweijährige Lehre als Elektromonteur und war anschließend ein Jahr lang als Facharbeiter in C. tätig. Da er zu heira-{8}ten beabsichtigte und zu Hause wohnen wollte, wechselte er im November 1983 zur LPG Tierproduktion in D. über, wo er anschließend als Rinderzüchter und Melker tätig war. Im Jahre 1984 heiratete er eine Verkäuferin. Aus der Ehe sind zwei jetzt fünf und sieben Jahre alte Kinder hervorgegangen. Im Herbst 1987 wurde der Angeklagte als Wehrpflichtiger zu den Grenztruppen der damaligen DDR eingezogen. Zur Zeit arbeitet der Angeklagte wieder als Rinderzüchter und verdient ca. 1.300,00 DM brutto monatlich; seine Ehefrau ist nicht berufstätig. Der Angeklagte war, obwohl politisch nicht sonderlich engagiert und interessiert, Mitglied der Jungen Pioniere, der Thälmann-Pioniere, der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft und der FDJ der damaligen DDR. 3. Der jetzt 27 Jahre alte, nicht bestrafte Angeklagte Sch. ist zusammen mit einer drei Jahre jüngeren Schwester im elterlichen Haushalt in D. aufgewach-{9}sen. Sein Vater, der sich vom Feinmechaniker weitergebildet hat, ist Diplom-Ökonom, die Mutter Elektromontiererin. Von 1971 an besuchte der Angeklagte die Polytechnische Oberschule in D., die er mit dem Abschluß der 8. Klasse verließ. Von 1980 bis 1983 erlernte er den Beruf eines Fräsers und Hoblers und war in seinem erlernten Beruf in der Folgezeit beschäftigt. Von 1984 bis 1986 besuchte er eine Abendschule und holte dort die 9. und 10. Klasse nach. Aus einer 1984 geschlossenen Ehe sind zwei in den Jahren 1984 und 1987 geborene Kinder hervorgegangen. Der Angeklagte gehörte den Jungen Pionieren, der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft und der FDJ der ehemaligen DDR an und war in letzterer Organisation ehrenamtlich Mitglied der FDJ-Leitung. Am Stadtgericht D. war er drei Jahre lang Schöffe in Zivilsachen (Familien- und Scheidungssachen). 1986 meldete er sich als freiwilliger Helfer zur sogenannten Volkspolizei der damaligen DDR. Im November 1987 wurde er als Wehrpflichtiger zu den Grenztruppen der ehemaligen DDR eingezogen. {10} Zur Zeit ist er nach kurzer Tätigkeit als Fräser in D. arbeitslos. 4. Der zur Zeit 26 Jahre alte, nicht bestrafte Angeklagte He. ist zusammen mit einer fünf Jahre jüngeren Schwester im elterlichen Haushalt in J. in der damaligen DDR aufgewachsen. Sein Vater war Schlosser, die Mutter Kindergärtnerin. Von 1972 bis 1982 besuchte der Angeklagte die Polytechnische Oberschule in K., die er nach der 10. Klasse mit dem Prädikat „gut" abschloß. Seinen Berufswunsch, Kraftfahrzeugschlosser zu werden, konnte er, weil keine Ausbildungsstelle frei war, nicht verwirklichen. Er absolvierte daher anschließend erfolgreich von 1982 bis 1984 in C. eine Lehre als Elektromonteur und arbeitete danach in seinem erlernten Beruf im S.Werk in Α., wohin er 1985 umzog und seither lebt.

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Im März 1986 heiratete der Angeklagte; aus dieser Ehe sind zwei in den Jahren 1986 und 1990 geborene Söhne hervorgegangen. {11} Der Angeklagte war in der damaligen DDR Mitglied der Jungen Pioniere, der Thälmann-Pioniere, der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft sowie der Gesellschaft für Sport und Technik, wo er mit mäßigem Erfolg Schießübungen mit Kleinkaliberwaffen (Pistolen) absolvierte; einer Partei gehörte er nicht an. Von Mai 1988 bis November 1989 leistete der Angeklagte seinen Grundwehrdienst bei den Grenztruppen der ehemaligen DDR ab. Danach arbeitete er wieder bis September 1990 in dem S.-Werk und ist seither in A. bei einer privaten Firma als Elektroinstallateur mit einem Monatsverdienst von 1.100,00 DM beschäftigt. Der Angeklagte war nie nennenswert krank und hat auch keine mit Folgen verbundenen Unfälle erlitten. Alkohol trinkt er nur gelegentlich. Etwa seit 1986 treibt er regelmäßig Sport und spielt Volleyball sowie Fußball. {12}

II. Einberufung der Angeklagten zum Militär 1. Als die Angeklagten zur Ableistung des damals 18monatigen Wehrdienstes in der ehemaligen DDR einberufen wurden, waren sie hierüber nicht sonderlich erfreut, sondern nahmen dies als nicht zu vermeidendes notwendiges Übel in Kauf, weil sie glaubten, damit gegenüber ihrem Staat eine staatsbürgerliche Pflicht erfüllen zu müssen. Auf die Idee, die in der damaligen DDR bestehende und ihnen bekannte Möglichkeit zu nutzen, den Dienst mit der Waffe zu verweigern und stattdessen als sogenannte Bausoldaten eingesetzt zu werden, kam keiner von ihnen. Die Angeklagten wurden nach ihrer Einberufung zum Dienst bei den Grenztruppen der damaligen DDR eingeteilt, ohne daß sie sich dies aussuchen konnten. Zuvor wurden die Angeklagten - wie alle Wehrpflichtigen, die zu den Grenztruppen kamen - vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) besonders auf ihre Zuverlässigkeit sowie daraufhin überprüft, daß sie keine sogenannten Westkontakte, keine Vorstrafen und keine persönlichen oder familiären Probleme hatten, da das damalige DDR-Regime seine Grenzen nur durch besonders ausgesuchte, zuverlässige Soldaten zu sichern bestrebt war, die die Gewähr dafür boten, dem Regime treu zu dienen und alle ihnen erteil-{13}ten Befehle im Sinne der damaligen Machthaber bedingungslos auszuführen. Derartige Sicherheitsüberprüfungen fanden später auch noch während des Wehrdienstes an der Grenze statt. Die Grenztruppen der ehemaligen DDR hatten von daher gesehen eine herausgehobene Stellung innerhalb der bewaffneten Streitkräfte und galten als eine Art Elitetruppe, die wegen ihres Auftrags, die Grenzen abzuriegeln und Fluchten von DDR-Bürgern in den Westen, notfalls mittels Schußwaffeneinsatzes, zu verhindern, bei einem großen Teil der Bürger der ehemaligen DDR besonders unbeliebt - wenn nicht verhaßt - war. Alle zu den Grenztruppen eingeteilten Wehrpflichtigen wurden entweder schon beim Ausbildungsregiment, in welches sie zunächst nach ihrer Einberufung kamen, spätestens aber bei Versetzung in das eigentliche Grenzregiment gefragt, ob sie an der Grenze bei sogenannten Grenzdurchbrüchen notfalls von der Schußwaffe Gebrauch machen und auf Menschen schießen würden. Weigerte sich ein Soldat, dies zu tun, drohten ihm keinerlei schwerwiegenden Nachteile oder gar strafrechtliche Konsequenzen, sondern er

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wurde, weil im Sinne der damaligen DDR-Machthaber unzuverlässig, entweder gar nicht erst zum Dienst an der Grenze eingeteilt, sondern für den Innendienst verwendet oder ins Hinterland oder zu anderen {14} Einheiten versetzt. Sämtliche Angeklagten wurden - der generellen Übung entsprechend - ehe sie zum Grenzdienst eingesetzt wurden, über ihre Bereitschaft zum Schußwaffeneinsatz befragt. Die Angeklagten Sch. und He. bejahten dies, der Angeklagte S. mit der Einschränkung, daß er auf Fahnenflüchtige schießen würde. Der Angeklagte K. weigerte sich, als er zum eigentlichen Grenzregiment kam, zunächst, auf Menschen zu schießen. Er wurde daraufhin nicht zum Grenzdienst eingesetzt, sondern mußte Küchendienst leisten. Er wurde in der Folgezeit von seinen Kameraden deswegen gehänselt und als „Küchenschabe" bezeichnet, wodurch er sich erniedrigt fühlte, so daß er schließlich auf Anraten von Kameraden, denen er sich anvertraut hatte, eine schriftliche Verpflichtungserklärung über seine Bereitschaft zur Anwendung der Schußwaffe abgab; einige Tage danach wurde er dann zum eigentlichen Grenzdienst eingesetzt. {15} 2. Der Angeklagte K. kam nach seiner Einberufung zunächst für ein halbes Jahr zur Grundausbildung in das Grenzausbildungsregiment nach Wilhelmshagen, wo er eine taktische Ausbildung, eine Ausbildung am Schützenpanzerwagen sowie eine Schießausbildung absolvierte. Im Februar 1988 kam er dann zum Grenzregiment 33 nach Berlin-Treptow, das dem Grenzkommando Mitte unterstand und für die Sicherung der Sperranlagen an der Berliner Mauer zwischen der Puschkin-Allee in Berlin-Treptow und dem Grenzübergang Waltersdorfer Chaussee zuständig war. Das Grenzregiment 33 hatte insgesamt drei Sicherungsabschnitte, wobei der Abschnitt 2, bedingt durch den Grenzübergang Sonnenallee, geteilt war und es zusätzlich durch den Britzer-Zweig-Kanal eine zu bewachende Schiffsübergangsstelle gab. Der Angeklagte S. kam nach seiner Einberufung ebenfalls zunächst für sechs Monate in das Grenzausbildungsregiment in Wilhelmshagen, wo er als Schützenpanzerwagenfahrer sowie im Schießen ausgebildet wurde. Danach wurde er ebenfalls als Gefreiter dem Grenz-{16}regiment 33 in Berlin-Treptow zugeteilt. Der Angeklagte Sch. absolvierte nach seiner Einberufung seine sechsmonatige Grundausbildung beim Grenzausbildungsregiment in Oranienburg, wo er als MOT-Schütze und als MP-Schütze für Schützenpanzerwagen sowie allgemein im Schießen ausgebildet wurde. Im Mai 1988 wurde er dem Grenzregiment 33 in Berlin-Treptow als Gefreiter zugeteilt. Der Angeklagte He. kam nach seiner Einberufung im Mai 1988 zunächst in das Grenzausbildungsregiment Wilhelmshagen, wo er seine Grundausbildung absolvierte, die nur drei Monate dauerte, weil er als Kraftfahrer eingesetzt werden sollte. Anschließend wurde auch er dem Grenzregiment 33 zugewiesen. Nach ihrer Einberufung zu den Grenztruppen mußten die Angeklagten in einer feierlichen Zeremonie einen Fahneneid auf die damalige DDR leisten, der folgenden Wortlaut hatte: {17} „Ich schwöre: Der Deutschen Demokratischen Republik, meinem Vaterland, allzeit treu zu dienen und sie auf Befehl der Arbeiter-und-Bauern-Regierung gegen jeden Feind zu schützen.

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Ich schwöre: An der Seite der Nationalen Volksarmee und der anderen Schutz- und Sicherheitsorgane der Deutschen Demokratischen Republik sowie fest verbunden mit den Armeen und den Grenztruppen der Sowjetunion und der anderen verbündeten sozialistischen Länder als Soldat der Grenztruppen der Deutschen Demokratischen Republik jederzeit bereit zu sein, standhaft und mutig, auch unter Einsatz des Lebens, die Grenzen meines sozialistischen Vaterlandes gegen alle Feinde zuverlässig zu schützen. Ich schwöre: Ein ehrlicher, tapferer, disziplinierter und wachsamer Soldat zu sein, den militärischen Vorgesetzten unbedingten Gehorsam zu leisten, die Befehle mit aller Entschlossenheit zu erfüllen, und die militärischen und staatlichen Geheimnisse immer streng zu wahren. Ich schwöre: Die militärischen Kenntnisse gewissenhaft zu erwerben, die militärischen Vorschriften zu erfüllen und immer und überall die Ehre unserer Republik {18} und ihrer Grenztruppen zu wahren. Sollte ich jemals diesen meinen feierlichen Fahneneid verletzen, so möge mich die harte Strafe der Gesetze unserer Republik und die Verachtung des werktätigen Volkes treffen."

III. Militärische Ausbildung der Angeklagten 1. Allgemeines Während des Wehrdienstes im Grenzregiment 33 waren die Angeklagten dienstlich stark beansprucht. Normalerweise hatten sie sogenannten Dritteldienst (Früh-, Spät- und Nachtdienst), wobei der Grenzdienst normalerweise acht Stunden betrug; es kam jedoch durch Besonderheiten wie Alarme, Fluchtversuche oder witterungsbedingte Zustände (z.B. Nebel) vor, daß diese Einsatzzeiten an den Grenzanlagen überschritten wurden. Teilweise hatten die Soldaten nur drei bis vier Stunden Schlaf bis zum nächsten Grenzdienst. Zum eigentlichen Grenzdienst wurden die Angeklagten stets als Doppelstreife, bestehend aus einem Postenfuhrer und einem Posten, eingeteilt, wobei die Zusammenset{19}zung des Postenpaares stets geändert und erst kurz vor Dienstbeginn bekanntgegeben wurde, weil auf diese Weise verhindert werden sollte, daß Grenzposten sich näher kennenlernten oder gar anfreundeten, da die Vorgesetzten befürchteten, daß dies zu Absprachen zur Fahnenflucht führen könnte. U m die Stimmungslage in der Truppe zu erfahren und potentielle Fahnenfluchten bereits im Vorbereitungsstadium erkennen und unterbinden zu können, hatte die dem MfS unterstehende Militärabwehr in den Stuben der Kasernen eine größere Anzahl von als „Quellen" bezeichnete Spitzel untergebracht, die entsprechende Berichte fertigten und an die Militärabwehr, deren Aufgabe vornehmlich in der Unterbindung von Fahnenfluchten bestand, weiterleiteten. Da die wehrpflichtigen Grenzsoldaten dies wußten, waren sie in ihren Äußerungen im Kameradenkreis zumeist sehr vorsichtig und zurückhaltend. Gleichwohl war etwa seit 1987 bei den eingezogenen Wehrpflichtigen eine zunehmend kritischere Einstellung zum Grenzregime und zum Schußwaffengebrauch offenbar geworden, so daß dem seitens der Politoffiziere im Rahmen des wöchentlichen Politunterrichts verstärkt entgegengewirkt wurde. Dennoch gab es unter den Soldaten Diskussionen über Sinn und Zweck ihres Einsatzes an der Grenze und über den {20} Schußwaffengebrauch. Auch wurden in der Kaserne häufig mit Transistorradios westliche Rundfunkstationen abgehört.

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Im Rahmen des Politunterrichts erfolgte eine massive und konsequente Indoktrination und Beeinflussung der Grenzsoldaten im Sinne der damaligen Machthaber in der DDR. So wurde ihnen ein Feindbild von einer aggressiven, kapitalistischen Bundesrepublik vermittelt, die die DDR angreifen und deren „Errungenschaften" beseitigen wolle. Die Berliner Sektorengrenze wurde als „Staatsgrenze der DDR" zu West-Berlin, das als kapitalistisches Ausland angesehen wurde, bezeichnet. In diesem Zusammenhang wurden z.B. bei Richtungsangaben die Begriffe „feindwärts" und „freundwärts" gebraucht. Der Grenzdienst wurde als „Friedensdienst" hingestellt und den Soldaten als Motivation fur ihren Dienst erzählt, es gelte die DDR gegen Angriffe aus dem Westen zu schützen. Gleichwohl war die Ausbildung, der Anlage der Grenzsperren entsprechend, lediglich darauf ausgerichtet, sogenannte Grenzdurchbrüche von Ost nach West zu verhindern, die tunlichst schon im Hinterland zu vereiteln waren, ehe ein „Grenzverletzer" überhaupt in den eigentlichen Handlungsraum der Grenztruppen eindringen konnte. So wurden den Soldaten Flüchtlinge als Verbrecher, Kriminelle und {21} Verräter hingestellt, die es zu stellen und deren Grenzüberschreitung es zu verhindern gelte, da „normale" DDR-Bürger ja die Möglichkeit hätten, einen Ausreiseantrag zu stellen. Den Soldaten wurde außerdem erzählt, daß es von westlicher Seite aus an der Grenze „Provokateure" und „kriminelle Menschenhändlerbanden" gebe, die teilweise mit aus der DDR kommenden „Grenzverletzern" zusammenwirkten und teilweise auch bewaffnete Angriffe auf Grenzposten und Grenzanlagen unternähmen. In diesem Zusammenhang wurden ihnen Ausstellungen und Fotodokumentationen über bei Grenzzwischenfallen ums Leben gekommene Grenzsoldaten gezeigt, die als Helden hingestellt wurden und die Soldaten im Eigeninteresse zu besonderer Wachsamkeit motivieren sollten. Die Soldaten wurden zu unbedingtem Gehorsam gegenüber Anordnungen und Befehlen ihrer Vorgesetzten angehalten und ihnen gesagt, Befehle seien zunächst auszuführen, dagegen beschweren könne man sich gegebenenfalls hinterher. Lediglich Befehle, die offensichtlich gegen Strafgesetze oder anerkannte Normen des Völkerrechts verstießen, brauchten nicht befolgt zu werden, was der Regelung in § 258 StGB/DDR3 entsprach. Den Soldaten wurde bedeutet, daß sie im Falle einer Befehlsverweigerung oder mangelhafter Ausführung eines Befehls mit disziplinari-{22} sehen oder strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hätten und in diesem Zusammenhang die im schlechten Ruf stehende damalige Militärstrafanstalt in Schwedt erwähnt, vor der sich alle fürchteten, über die aber kaum jemand Näheres wußte, auch nicht die Angeklagten, da hierüber nicht gesprochen werden durfte. Gelungene oder auch gescheiterte Grenzdurchbrüche wurden in der Regel vor den Soldaten ausgewertet, um daraus zu lernen und etwaige Fehler oder Versäumnisse in Zukunft zu vermeiden. Bei ihrem Grenzdienst waren die Soldaten normalerweise mit einer sowjetischen Maschinenpistole Kalaschnikow, Kai. 7,62 mm, die in der DDR in Lizenz hergestellt wurde und in deren Magazin sich 30 Schuß Munition befanden, bewaffnet. Diese Waffe ließ sich mit einem Hebel von Einzel- auf Dauerfeuer umstellen und besaß ein variables Visier mit Kimme und Korn. Die Zieleinrichtung dieser Waffe war normalerweise auf die Position Ν oder III eingestellt, was einer Schußentfernung bis etwa 300 m entspricht. {23}

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2. Spezielle Grenzausbildung Während ihrer Ausbildung im Grenzausbildungsregiment wurden die Angeklagten u.a. an einer Übungsgrenze, die aus einer naturgetreuen Nachbildung der damals in der DDR üblichen Grenzsicherungsanlagen bestand, ausgebildet. Dort wurde das Stellen und Überwältigen von Flüchtlingen ohne Schußwaffen im Wege der Nacheile geübt. Die Angeklagten S. und Sch. absolvierten eine spezielle Ausbildung zum Postenführer, die mit einer Prüfung abgeschlossen wurde. Nach Aushändigung der Waffen, wobei jeder in der Regel stets dieselbe Waffe erhielt, vor dem Beginn des eigentlichen Grenzdienstes begaben sich die Postenführer zum sogenannten Postenführerkabinett, in welchem ein Modell für den jeweiligen Sicherungsabschnitt stand. An diesem Modell wurden die Postenführer auf ihre jeweilige Position eingewiesen. Es bestand die Anweisung, daß die Posten sich nicht zu eng zusammenziehen sollten, um in dem von ihnen zu sichernden Grenzabschnitt möglichst keine größeren Lücken entstehen zu lassen. Seit 1988 waren daher auch die Beobachtungstürme normalerweise nicht besetzt. Befehlsbefugt war im Normalfall der {24} jeweilige Postenfiihrer; jedoch hatte ein Posten dann selbständig zu handeln, wenn seine Entfernung zum Postenführer zu groß war und deshalb Kommunikationsschwierigkeiten entstanden. Nach der Einweisung erfolgte vor jedem Einsatz an der Grenze die sogenannte Vergatterung durch den Kompaniechef oder den jeweiligen Kommandeur. Diese „Vergatterung" hatte stets denselben Wortlaut und lautete wie folgt: „Grenzposten/Einheit! Stillgestanden! (Einzelne Grenzposten sind hier und im weiteren mit Dienstgrad und Name anzusprechen) Ich befehle: Die . Grenzkompanie (der Zug/die Gruppe/der Grenzposten PF/P mit Dienstgrad/Name) ist eingesetzt zum Grenzdienst im Grenzabschnitt des Grenzregimentes 33/im Sicherungsabschnitt mit der Aufgabe, die Unverletzlichkeit der Staatsgrenze im zugewiesenen Grenzabschnitt zu gewährleisten und den Grenzdienst auf der Grundlage der Rechtsvorschriften und militärischen Bestimmungen politisch verantwortungsbewußt, initiativreich, wachsam und entschlossen, getreu dem Fahneneid durchzufuhren. Vergatterung!". {25} Im Anschluß hieran wurden, soweit erforderlich, Hinweise auf die jeweils gegebene besondere Situation gegeben. Hierzu zählten auch - die noch zu erörternden - Einschränkungen des Schußwaffengebrauchs. Trotz dieser formellen Einschränkungen wurde wie auch bei anderer Gelegenheit - immer wieder betont, daß kein Flüchtling durchkommen dürfe, ein Grenzdurchbruch auf jeden Fall zu verhindern sei. Wie diesem Gebot Rechnung getragen werden sollte, wurde den Grenzsoldaten nicht gesagt. Danach bezogen Postenführer und Posten die ihnen jeweils zugewiesene Position. 3.

Schießausbildung

Während ihrer Ausbildung im Grenzausbildungsregiment wurden die Angeklagten in der Handhabung der Maschinenpistole Kalaschnikow Kai. 7,62 mm geschult. Diese in erster Linie für den Kampfeinsatz bestimmte Waffe hat zwar bei Einzelfeuer eine hohe Treffsicherheit, bei Dauerfeuer jedoch die Tendenz, nach rechts oben wegzuziehen, so

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daß eine breite Streuung der Schüsse eintritt und ein genaues Zielen nicht möglich ist, was den Angeklagten aufgrund ihrer Schießausbildung auch bekannt {26} war. Im Zuge der Schießausbildung wurde sowohl Einzel- als auch Dauerfeuer geübt; es wurde teils im Stehen, teils im Knien, teils im Liegen geschossen, und zwar auf Klappscheiben, laufende Scheiben mit einem Durchmesser von 180 bis 200 cm sowie auf lebensgroße Pappfiguren (sogenannte Pappkameraden), die teils standen, teils lagen. Die Entfernung zum Ziel betrug bis zu 300 m; aufliegende „Pappkameraden" wurde aus einer Entfernung von 200 m geschossen. Es kam nur darauf an, daß die Pappschilder umfielen, wobei egal war, in welche Körperteile die „Pappkameraden" getroffen wurden. Teilweise fielen die Schilder aber bereits um, wenn eine Kugel vor den Schildern in den Sand ging. Auch das Schießen bei Nacht wurde geübt; hierbei wurde auf schwach beleuchtete Ziele mit Leuchtspurmunition geschossen und ein sogenanntes Nachtschußvisier, d.h. eine phosphoreszierende Punktmarkierung an der Spitze des Korns, verwendet. Bei den Übungen wurde solange geschossen, bis die Soldaten die Note „zwei" erreichten; bei Note „drei" mußte die Übung wiederholt werden. {27} Der Angeklagte K. war ein sehr guter Schütze und erzielte beim Schießen die Note „eins". Der Angeklagte He. war ebenfalls ein sehr guter Schütze und wurde bereits im Ausbildungsregiment mit der sog. Schützenschnur ausgezeichnet, die er in der Folgezeit jedoch nicht trug, weil dies nach seinen eigenen Bekundungen bei großen Teilen der Bevölkerung nicht gut angesehen war und Träger dieser Auszeichnung als „Scharfschützen" beschimpft wurden. Der Angeklagte S. erzielte beim Schießen Noten von „gut" bis „sehr gut"; der Angeklagte Sch. hat seine eigenen Schießkünste als „nicht gut" bezeichnet. Nach ihrer Versetzung in das Grenzregiment 33 absolvierten die Angeklagten alle sechs Monate eine Gefechtsausbildung sowie ein Schulschießen, wobei aus 300 m auf 120 χ 120 cm große Pappscheiben geschossen wurde, die bei jedem Treffer umfielen, teilweise sogar bei Schüssen in den Sand; auf Ringscheiben wurde nicht geschossen. Bei nächtlichen Übungen waren die Ziele schwach beleuchtet. Die Zieleinrichtung stand auf „N" oder „III", was einer Schußentfernung bis 300 m entspricht. Vor dem Schuld e } schießen wurden von jedem Soldaten im Schießkeller zu Übungszwecken ca. 10 Patronen verschossen.

4.

Schußwaffengebrauch

Die Ausbildung der Angeklagten im Rahmen ihrer Tätigkeit an der Grenze erfolgte im wesentlichen wie folgt: Die seinerzeit in der DDR geltenden gesetzlichen Bestimmungen (§§ 26, 27 Grenzgesetz i.V.m. § 213 StGB/DDR) wurden erwähnt. Diese Bestimmungen des Gesetzes über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik (Grenzgesetz) vom 25. März 1982 (GBl. 1982 Teil I Nr. 11) und § 213 StGB/DDR hatten folgenden Wortlaut:

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1. Grenzgesetz: §26: Durchsetzung von Maßnahmen der Grenztruppen der DDR (1) Wird den Angehörigen der Grenztruppen der DDR bei der Ausübung ihrer Befugnisse Widerstand entgegengesetzt oder werden die von ihnen auf der Grundlage dieses Gesetzes oder der zu seiner Durchführung erlassenen Rechtsvorschriften angeordneten Maßnahmen behindert oder nicht befolgt, ist die körperliche Einwirkung zulässig, {29} wenn andere Mittel nicht ausreichen, um ernste Auswirkungen für die Sicherheit und Ordnung im Grenzgebiet zu verhindern. (2) Die Anwendung von Hilfsmitteln ist nur gestattet zur Abwehr von Gewalttätigkeiten, Verhinderung von Fluchtversuchen oder wenn die körperliche Einwirkung nicht zum Erfolg führt. Es sind dabei diejenigen Mittel anzuwenden, die im Verhältnis zur Art und Schwere der Rechtsverletzung und des Widerstandes stehen. Die körperliche Einwirkung und die Anwendung von Hilfsmitteln ist nur so lange zulässig, bis der Zweck der Maßnahme erreicht ist. §27 Anwendung von Schußwaffen (1) Die Anwendung der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Die Schußwaffe darf nur in solchen Fällen angewendet werden, wenn die körperliche Einwirkung ohne oder mit Hilfsmitteln erfolglos blieb oder offensichtlich keinen Erfolg verspricht. Die Anwendung von Schußwaffen gegen Personen ist erst dann zulässig, wenn durch Waffenwirkung gegen Sachen oder Tiere der Zweck nicht erreicht wird. (2) Die Anwendung der Schußwaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt. Sie ist auch gerechtfertigt zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind. (3) Die Anwendung der Schußwaffe ist grundsätzlich durch Zuruf oder Abgabe eines Warnschusses anzukündigen, sofern nicht eine unmittelbar bevorstehende Gefahr nur durch die gezielte Anwendung der Schußwaffe verhindert oder beseitigt werden kann. (4) Die Schußwaffe ist nicht anzuwenden, wenn a) das Leben oder die Gesundheit Unbeteiligter gefährdet werden können, {30} b) die Personen dem äußeren Eindruck nach im Kindesalter sind oder c) das Hoheitsgebiet eines benachbarten Staates beschossen würde. Gegen Jugendliche und weibliche Personen sind nach Möglichkeit Schußwaffen nicht anzuwenden. (5) Bei der Anwendung der Schußwaffe ist das Leben von Personen nach Möglichkeit zu schonen. Verletzten ist unter Beachtung der notwendigen Sicherheitsmaßnahmen Erste Hilfe zu erweisen. 2. Strafgesetzbuch/DDR: §213 Ungesetzlicher Grenzübertritt (1) Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratische Republik passiert oder Bestimmungen des zeitweiligen Aufenthalts in der Deutschen Demokratischen Republik sowie des Transits durch die Deutsche Demokratische Republik verletzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik rechtswidrig nicht oder nicht fristgerecht in die Deutsche Demokratische Republik zurückkehrt oder staatliche Festlegungen über seinen Auslandsaufenthalt verletzt.

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(3) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn 1. die Tat Leben oder Gesundheit von Menschen gefährdet; 2. die Tat unter Mitfiihrung von Waffen oder unter Anwendung gefahrlicher Mittel oder Methoden erfolgt; 3. die Tat mit besonderer Intensität durchgeführt wird; {31} 4. die Tat durch Urkundenfälschung (§ 240), Falschbeurkundung (§ 242) oder durch Mißbrauch von Urkunden oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt; 5. die Tat zusammen mit anderen begangen wird; 6. der Täter wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist. (4) Vorbereitung und Versuch sind strafbar. Eine Schulung an diesen Bestimmungen fand nicht statt. Nur beispielhaft wurde den Angeklagten erklärt, daß von der Schußwaffe dann Gebrauch zu machen sei, wenn ein gewaltsamer Angriff auf die eigene Person, ein Angriff mit schwerer Technik gegen die Grenzanlagen bzw. eine Gruppenflucht vorliege, wobei der Begriff „Gruppe" dann gegeben war, wenn mehr als eine Person zu fliehen versuchte. Auf Frauen und Kinder sollte nicht geschossen werden und es sollte so geschossen werden, daß keine Kugeln auf Westberliner Gebiet einschlugen. Auf Fahnenflüchtige sollte stets rücksichtslos geschossen werden. Die Schußwaffenanwendung war begrenzt auf Fälle der sog. Republikflucht; bei anderen Straftaten sollte nicht geschossen werden. Bevor die Schußwaffe eingesetzt werden sollte, sollte zunächst versucht werden, Flüchtende auf andere Art und Weise, z.B. im Wege der Nacheile, an der Flucht zu hindern. Erst wenn dies aufgrund der Gegebenheiten nicht mehr möglich war, sollte als letztes Mittel von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden. Bevor scharf geschossen wurde, sollten zuvor ein Warnruf und ein Warnschuß abgegeben werden. Auf einzelne Flüchtlinge sollte nicht geschossen werden und nicht, wenn Flüchtende ihr {32} Vorhaben aufgaben. Allerdings wurde den Angeklagten zu verstehen gegeben, daß ihnen nichts passieren würde und sie belobigt würden, wenn sie auch Einzelflüchtlinge mittels Schußwaffeneinsatzes an der Flucht hinderten, da man dann später immer sagen könne, man habe noch einen Schatten gesehen oder gemeint, der Einzelflüchtling greife in seine Tasche, um eine Waffe zu ziehen. Wie geschossen werden sollte, ob mit Einzel- oder Dauerfeuer und auf welche Körperpartien, wurde den Angeklagten konkret nicht gesagt. Es hieß allgemein nur, daß fluchtunfähig zu schießen sei, was unter den Soldaten bei Diskussionen über den Schußwaffeneinsatz dahin interpretiert wurde, daß man auf die Füße oder auf den unteren Bereich der Beine zielen sollte. Dies war jedoch praxisfern, weil in der Regel davon auszugehen war, daß mit der Maschinenpistole Kalaschnikow mit Dauerfeuer geschossen wurde, wobei - wie die Angeklagten von ihrer Schießausbildung her wußten - eine sehr große Streuung auftrat. {33} Im Vordergrund stand die Anweisung, sog. Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen. Unterschwellig wurde den Angeklagten die Auffassung der Vorgesetzten klargemacht, daß auch die Tötung eines Flüchtlings hingenommen werden würde; hinterher könne man alles schon richten. Andererseits war seitens der Vorgesetzten von „Vernichten" von Flüchtlingen nicht die Rede.

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Hinzu kam, daß die Weisungen zum Schußwaffengebrauch seit Mitte 1988 häufig wechselten und bei konkreten Rückfragen keine konkreten Antworten seitens der Vorgesetzten gegeben wurden. Es hieß dann stets nur, Grenzdurchbrüche seien zu verhindern. Bei Fluchtversuchen im Bereich zwischen zwei Postenpaaren bestand die Anweisung, daß eines der Postenpaare zum letzten Grenzzaun vorlaufen und parallel zu diesem Sperrfeuer legen sollte, damit Flüchtlinge die letzte Sperranlage nicht überwinden konnten, während das zweite Postenpaar die Flüchtlinge stellen und dabei darauf achten sollte, nicht in das Feuer des anderen Postenpaares zu gelangen. {34} Bei besonderen Anlässen wie z.B. bei Besuchen ausländischer Staatsgäste in der DDR, an Staatsfeiertagen oder beim Besuch des Staatsratsvorsitzenden in der Bundesrepublik gab es - stets nur mündlich angeordnete - Einschränkungen des Schußwaffengebrauchs. Bei derartigen Anlässen durfte nur bei Angriffen auf das eigene Leben und bei Fahnenfluchten geschossen werden, weil die auf internationale Anerkennung bedachten damaligen Machthaber in der DDR in der Weltöffentlichkeit kein schlechtes Bild abgeben und nicht das internationale Medieninteresse insoweit auf das Grenzregime lenken wollten. Bei solchen Anlässen wurde zum Ausgleich die Postendichte erhöht, um so auch ohne Schußwaffeneinsatz Fluchtversuche zu unterbinden.

IV. Innere Einstellung der Angeklagten vor der Tat 1.

K.

Der Angeklagte hat - wie die übrigen Angeklagten auch - das Weltbild des Sozialismus in Erziehung und Ausbildung eingeprägt bekommen und daran geglaubt. Der Kapitalismus wurde ihm als Feindbild dargestellt. Er war innerlich den damaligen Verhältnissen in der DDR angepaßt, wollte seine Ruhe haben. {35} Im großen und ganzen fühlte er sich in der DDR glücklich und zu Hause, wobei er keine Vergleichsmöglichkeiten zu anderen Gesellschaftssystemen oder anderen Ländern hatte. Ins westliche Ausland war er - wie die anderen Angeklagten auch - nie gereist. Die DDR empfand er nicht als Unrechtsstaat, obwohl ständig Druck ausgeübt und alles vorgezeichnet wurde, so daß eigene Entscheidungen weitgehend überflüssig waren. Er hatte Angst vor Polizei, Gerichten und Gefangnissen und deshalb den Wehrdienst nicht verweigert. An Politik war er nicht interessiert. Er sah sich zu Hause westliche Fernsehprogramme an und hatte den Eindruck, daß im Westen alles freier sei, Auslandsreisen (z.B. nach Holland) ohne besondere Formalitäten möglich und der Lebensstandard höher sei, was sich für ihn z.B. in besseren Autos manifestierte. In der Familie hatte er eine im Rentenalter stehende Großmutter, die in die Bundesrepublik reisen durfte. Er glaubte aufgrund seiner Erziehung und Ausbildung, daß die DDR vom Kapitalismus bedroht werde, die DDR den Frieden wolle, der Kapitalismus der Aggressor sei und deshalb die Grenzsperranlagen gebaut worden seien. An der Grenze bekam er dann mit, daß auf westlicher Seite entsprechende Grenzanlagen nicht vor-{36}handen und die Grenze von westlicher Seite aus nicht bewacht wurde. Aufgrund der Ausbildung und des Politunterrichts bei den Grenztruppen kam er zu der Überzeugung, daß „Grenzverletzer" Verbrecher und Verräter seien, die etwas „ausgefressen" und zu verbergen hätten, da ja die Möglichkeit bestanden habe, Ausreiseanträge zu stellen. Er wußte, daß

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Ausreisewillige mit Unannehmlichkeiten zu rechnen hätten, machte sich aber darüber keine Gedanken. Im Grenzdienst empfand er die ihm erteilten Befehle als richtig; was ein Offizier gesagt habe, sei für ihn richtig gewesen. Auf entsprechenden Befehl hätte er beispielsweise auch eine Toilette mit einer Zahnbürste geputzt; Straftaten hätte er allerdings auch bei entsprechendem Befehl nicht ausgeführt. Wie die anderen Angeklagten auch, war er bestrebt, aus dem Grenzdienst mit sog. „Weißen Handschuhen" herauszukommen, d.h. er hoffte, daß es während seines Dienstes zu keiner Festnahme eines Flüchtlings oder gar zu einer Schußwaffenanwendung kommen würde. {37}

2. S. Der Angeklagte S., der im West-Fernsehen von der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter4 und von Schüssen an der Mauer gehört hatte, empfand- einen gewissen Stolz, als er im Fernsehen den Besuch Erich Honeckers in Bonn verfolgte und daraus schloß, die DDR werde von der Bundesrepublik anerkannt. Von Menschenrechten hatte er gehört, auch daß es ein Recht auf Leben gebe, aber man müsse sich doch an bestehende Gesetze halten. Er glaubte, daß die Todesstrafe in der DDR abgeschafft war und konnte sich die Todesstrafe nur für allerschwerste Taten vorstellen. Über Befehle machte er sich Gedanken und hätte beispielsweise einen Befehl, einen Kameraden zu schlagen, aus menschlichen Gründen nicht ausgeführt. Ansonsten zweifelte er an der Rechtmäßigkeit von Befehlen nicht. Über die Einschränkung der Schußwaffengebrauchsbestimmungen bei Staatsbesuchen machte er sich keine Gedanken. Es habe außer Kriminellen, Staatsfeinden und Verbrechern auch Personen gegeben, die beispielsweise aus persönlichen Konflikten heraus die DDR hätten verlassen wollen, aber deswegen habe man nicht illegal die Grenze überwinden müssen, weil die Möglichkeit bestanden habe, Ausreiseanträge zu {38} stellen; wenn ein „Grenzverletzer" nach Anruf und Warnschuß nicht stehen blieb, war seiner Meinung nach davon auszugehen, daß es sich um einen Kriminellen handele. In Gesprächen mit anderen Soldaten über den Schußwaffengebrauch habe jeder den Grenzdienst ohne Tötungshandlung und mit „Weißen Handschuhen" überstehen wollen.

3.

Sek

Der Angeklagte Sch., der in D. keine westlichen Fernsehsender empfangen konnte und keine familiären oder sonstigen Beziehungen zur Bundesrepublik hatte, hat über Befehle nicht weiter nachgedacht und befürchtete eine Bestrafung bei Befehlsverweigerung. Vor seiner Einberufung hatte er keine Einstellung zu den Grenztruppen, bemerkte aber nach seiner Einberufung in Berlin, daß die Meinungen zu ihnen geteilt waren und es einerseits Anerkennung, andererseits Anpöbeleien gab. Er hatte gehört, daß Flüchtlinge an der Grenze erschossen worden waren; Flüchtlinge waren für ihn Menschen, die schlagartig die Grenze durchbrechen wollten, obwohl sie die - allerdings langwierige und Hartnäckigkeit erfordernde - Prozedur der Stellung eines Ausreiseantrages {39} gehabt hätten. Er fand es gut, daß die Schießautomaten an der Grenze abgebaut worden 17

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waren, dies aber deswegen, weil dadurch die Sicherheit der Grenzsoldaten besser gewährleistet gewesen sei. Im übrigen war er von dem ihm eingeprägten Feindbild des Kapitalismus geleitet. In Gesprächen mit anderen Soldaten über den Schußwaffengebrauch habe die einhellige Meinung geherrscht, daß nur fluchtunfähig und auf die Füße oder auf die Beine geschossen werden solle.

4.

He.

Der Angeklagte He., dem ebenfalls in Erziehung und Ausbildung das Weltbild des Sozialismus eingeprägt und dem das Feindbild des Kapitalismus gezeichnet worden war, glaubte nicht alles, was in der offiziellen DDR-Propaganda über die Bundesrepublik Deutschland behauptet wurde, da er westliche Fernseh- und Rundfunkprogramme empfing. Er lebte im großen und ganzen gern in der DDR, obwohl er nicht mit allen Dingen, die dort geschahen, einverstanden war; letztlich akzeptierte er jedoch die Verhältnisse in der DDR so wie sie waren. Die Bundesrepublik war für ihn {40} Ausland. Er wußte, daß DDR-Bürger vor dem Mauerbau in die Bundesrepublik reisen konnten und daß viele es bedauerten, daß dies nach 1961 nicht mehr möglich war. Die Mauer wurde seiner Meinung nach gebaut, damit die DDR-Bürger ihr Land nicht mehr verlassen sollten und vom Westen aus keine Propaganda gegen die DDR betrieben werden konnte. Den Sinn des Grenzdienstes sah er darin, daß nicht viele DDR-Bürger das Land verlassen sollten. Er wußte, daß umgekehrt Bundesbürger zu Besuchen in die DDR reisen konnten. Er kannte die Grenze zu Polen, die nur aus einem Fluß bestand und nicht besonders bewacht war, weil Polen eben Mitglied des Warschauer Paktes war. Bei seinem Grenzdienst bekam er mit, daß die Grenze von westlicher Seite aus nicht bewacht war. Ehe er zu den Grenztruppen eingezogen wurde, hatte er gehört, daß Menschen an der Mauer erschossen worden waren. Er hielt dies, ehe er zu den Grenztruppen kam, fur Unrecht und den Schießbefehl für ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit", weil für ihn Flüchtlinge „ganz normale Menschen" und keine Verräter waren und sie an der Mauer „gewissermaßen zum Tode verurteilt" wurden. {41} Er änderte diese Meinung jedoch nach seiner Einberufung zu den Grenztruppen infolge des ihm dort erteilten Politunterrichts, wo ihm gesagt worden sei, Flüchtlinge seien Verbrecher, die mit allen Mitteln versuchten, die Grenze zu überwinden und hierbei auch schwere Technik einsetzten und daß im Hinterland Flüchtlinge mit Waffen festgenommen worden seien. Es habe den Satz der Offiziere gegeben: „Soldaten haben nicht zu denken, sondern Befehle auszuführen!" Allerdings hätte er selbst nicht jeden Befehl ausgeführt, z.B. keinen Befehl, der die Ausführung einer Straftat zum Gegenstand gehabt hätte oder einen Befehl, jemand grundlos zu schlagen oder „abzustechen", da er derartiges für gesetzeswidrig hielt. Den Schußwaffengebrauch an der Grenze habe er als Befehl hingenommen und nicht daran gedacht, durch Schüsse gegen DDR-Gesetze zu verstoßen. Danebenschießen habe er für Befehlsverweigerung gehalten und befürchtet, dann in die Militärstrafanstalt Schwedt zu kommen. Der Postenfuhrer konnte seiner Meinung nach den Posten verbindliche Befehle erteilen. {42}

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Daß es die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter gab, wußte er und war der Meinung, daß dort jeder Grenzsoldat erfaßt worden sei. Der Begriff der „Weißen Handschuhe" galt auch für ihn in dem oben erörterten Sinne.

V. Das Tatgeschehen Etwa im Jahre 1986/87 lernten sich der am 21. Juni 1968 geborene Chris Gueffroy und der 1968 geborene Zeuge Christian Gaudian anläßlich ihrer gemeinsamen Kellnerausbildung im damaligen Ostsektor Berlins kennen und freundeten sich an. Da beide mit dem Leben und den Verhältnissen in der DDR unzufrieden waren, dort keine erfolgversprechenden beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten sahen und sich bessere Lebensumstände in der Bundesrepublik versprachen, faßten beide 1987 den Entschluß, die DDR irgendwann und irgendwie zu verlassen. Aktivitäten zur Verwirklichung ihres Vorhabens entwickelten sie zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht. Einen Ausreiseantrag stellten sie nicht, weil sie in diesem Falle mit Unannehmlichkeiten in Beruf und Privatleben rechneten. {43} Ende 1988 faßten beide dann konkrete Fluchtpläne. Beide arbeiteten zu dieser Zeit als Kellner, Gueffroy im Café Rambo in den Rathaus-Passagen, Gaudian im Restaurant Ephraim-Palais im Nicolai-Viertel, einem Restaurant der gehobenen Klasse, in dem. vorwiegend westliche Touristen und Alliierte verkehrten. Während Gaudian wegen mangelhafter Hör- und Sehleistungen als dauernd dienstuntauglich eingestuft worden war und keinen Wehrdienst abzuleisten brauchte, stand zu diesem Zeitpunkt eine Einberufung Gueffroys bevor. Dieser Umstand war unter anderem mit ein Grund dafür, daß beide Freunde nunmehr konkrete Fluchtpläne faßten. Anfang Januar 1989 versuchten sie, einen Fluchtplan aufzustellen. Zu diesem Zweck erkundeten sie das Grenzgebiet in Berlin-Treptow (Baumschulenweg), wo Gueffroy sich gut auskannte. Sie beobachteten in der Folgezeit wiederholt die Grenzsicherungsanlagen und die Postenbewegungen im Bereich des Britzer Kanals. Mitte Januar 1989 faßten sie dann eines Nachmittags spontan den Entschluß, die Grenzanlagen zu überwinden, gaben dieses Vorhaben aber wegen häufiger Polizeikontrollen im Vorfeld des Grenzgebietes wieder auf. Als neuen Fluchttag legten sie den 5. Februar 1989 fest, da beide an diesem Tage Urlaub hatten. {44} Am Vormittag des 5. Februar 1989 kamen sie überein, ihr Fluchtvorhaben in der folgenden Nacht endgültig in die Tat umzusetzen. Da wenige Tage zuvor der damalige schwedische Ministerpräsident Ost-Berlin besucht hatte und sie gehört hatten, daß bei Staatsbesuchen an der Grenze nicht und wenn doch, dann nur auf die Füße geschossen würde, hielten sie diesen Tag als für eine Flucht besonders geeignet. Mit der Möglichkeit von tödlichen Schüssen rechneten sie nicht, da sie in einem solchen Falle von ihrem Fluchtvorhaben Abstand genommen hätten. Beide gingen davon aus, daß schlimmstenfalls auf ihre Füße geschossen werden würde und rechneten für den Fall ihrer Festnahme und Verurteilung wegen sog. Republikflucht mit einer baldigen Abschiebung in die Bundesrepublik. Beide unterlagen insoweit einem tragischen Irrtum, weil der schwedische Ministerpräsident Ost-Berlin bereits vor dem 5. Februar 1989 wieder verlassen hatte und die Einschränkungen des Schußwaffengebrauchs aufgehoben worden waren.

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Für die geplante Flucht führten sie zwei Wurfanker mit sich, die sie aus mit Seilen verbundenen Haken selbst hergestellt hatten und die ihnen bei der Überwindung der Grenzsperranlagen behilflich sein sollten. {45} Nachdem sie gegen Mittag von der Baumschulenbrücke aus erneut die Grenzsicherungsanlagen und Postenbewegungen beobachtet hatten, begaben sie sich unter Mitfuhrung der Wurfanker am Abend des 5. Februar 1989 gegen 21.00 Uhr in das Grenzgebiet, wo sie zunächst eine zwischen Britzer Allee und Straße 16 gelegene Kleingartenkolonie durchquerten, sich dort bis in die Nähe der Hinterlandsmauer vorarbeiteten und von einem Versteck aus das Grenzgebiet und die Grenzposten beobachteten, um einen möglichst günstigen Fluchtzeitpunkt abzupassen. Gegen 23.30 Uhr schien ihnen dieser Moment gekommen und beide begannen, ihr Fluchtvorhaben nun zu wagen. Die Grenzsperranlagen waren an dieser Stelle wie folgt aufgebaut: Zunächst kam die etwa 3,50 m hohe Hinterlandsmauer, die die rückwärtige Begrenzung des Handlungsraums der Grenztruppen bildete. Sodann folgte der etwa 2 m hohe Grenzsignalzaun, bei dessen Berührung ein optischer Alarm in Form einer rot/grün blinkenden Rundumleuchte (sog. Disco-Leuchte) sowie ein akustischer Alarm ausgelöst wurde. Daran schloß sich der Kolonnenweg und die Lichtertrasse mit jeweils in 25 m Abstand aufgestellten, {46} numerierten Lichtmasten, die das Grenzgelände beleuchteten, an. Hierauf folgte ein Kontrollstreifen, in dem sich ein Kraftfahrzeug-Sperrgraben befand, sodann erneut ein geharkter Kontrollstreifen und als letztes Hindernis ein etwa 3 m hoher engmaschiger Metallgitterzaun. Dahinter befand sich eine Uferböschung sowie der Britzer Zweigkanal, an dessen anderem Ufer sich Westberliner Gebiet befand. Die Entfernung von der Hinterlandsmauer zum Grenzsignalzaun betrug etwa 6,50 m; die Entfernung von Grenzsignalzaun zum Metallgitterzaun betrug 36,00 m. Das Licht der Lichtmasten beleuchtete vor allem den Kolonnenweg und die ersten Meter des Kontrollstreifens; der letzte Lichtkegel fiel auf den Grenzsignalzaun. Am 5. Februar 1989 versahen die Angeklagten als Angehörige der 1. Grenzkompanie Grenzdienst am Britzer Zweigkanal zwischen Straße 16 und Britzer Allee. Sie waren in zwei Postenpaare aufgeteilt. Die Angeklagten S. (Postenführer) und K. (Posten) bildeten das eine Paar; das andere Postenpaar bestand aus dem Angeklagten Sch. (Postenführer) und dem Angeklagten He. (Posten). Beide Postenpaare hatten benachbarte Grenzabschnitte zu bewachen. {47} Der Postenpunkt der Angeklagten S. und K. befand sich an der Sprechstelle am Ende der Straße 16 am Lichtmast 261, wo der Angeklagte S. Posten zu beziehen hatte. Aufgabe des Angeklagten K. war es, bis ca. 75 m entfernt rechts (die Begriffe rechts/links verstehen sich, sofern nichts anderes angegeben, jeweils in Richtung Berlin West gesehen) vom Postenführer vom Lichtmast 258 aus in Richtung Britzer Allee auf Streife zu gehen. Beide waren mit Maschinenpistolen Kalaschnikow Kai. 7,62 mm und einem Magazin mit je 30 Schuß Munition ausgerüstet. Der Postenpunkt des benachbarten Postenpaares Sch./He. befand sich am bzw. auf dem Postenturm an der Britzer Allee am Lichtmast 245, wo der Angeklagte Sch. Stellung zu beziehen hatte. Der Angeklagte He. hatte ca. 150 m links vom Postenturm an der Sprechstelle in Höhe des Lichtmastes 250 in Richtung des Postenpaares S./K. Streifendienst zu leisten. Der Angeklagte He. war mit einer Maschinenpistole Kalaschnikow, Kai. 7,62 mm und einem mit 30 Schuß gefüllten Magazin ausgerüstet; der Angeklagte

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Sch., der infolge einer vorangegangenen Blinddarmoperation keine schwere Waffe tragen konnte, war mit einer Pistole Makarow bewaffnet. {48} Die Angeklagten hatten an diesem Tage Spätdienst, der um 16.00 Uhr begonnen hatte und um 24.00 Uhr endete. Als Chris Gueffroy und Christian Gaudian ihr Fluchtvorhaben auszuführen begannen, befand sich das Postenpaar Sch./He. auf dem an der Britzer Allee gelegenen Beobachtungsturm, von wo aus der Angeklagte Sch. seinem Posten das Gelände erklärte. Der Angeklagte S. befand sich in der ihm zugewiesenen Position, der Angeklagte K. pendelte rechts von S. bis zur Mitte des Feldes Kirschallee bis zu einer Entfernung von 175 m und wieder zurück. Mittels einer sog. Räuberleiter, bei der Chris Gueffroy - mit dem Rücken zur Hinterlandsmauer stehend - seine Hände als Steighilfe für Christian Gaudian vor seinem Unterkörper gefaltet hatte, kletterte letzterer zwischen Britzer Allee und Straße 16 auf die Hinterlandsmauer und war dann seinerseits Chris Gueffroy - auf der Maueroberkante liegend - beim Hinaufklettern behilflich. Einen der Wurfanker ließen sie dort zurück. Anschließend ließen sich beide nach unten gleiten und liefen zum Grenzsignalzaun vor, dessen Drähte sie auseinanderbogen und durch den sie hindurchkletterten. Hierbei lösten sie {49} optischen Alarm an der sog. Disco-Leuchte sowie akustischen Alarm aus, die mit kurzer Verzögerung einsetzten. Beide rannten weiter in Richtung des Metallgitterzauns über den Kolonnenweg zwischen zwei Lichtmasten hindurch, passierten den Stolperacker, wo Gaudian über einen Stolperdraht hinfiel, und gelangten in den Kraftfahrzeugsperrgraben. Als der Alarm ausgelöst wurde, befand sich der Angeklagte K., dem unmittelbar davor über die Sprechanlage von S. das Eintreffen der Ablösung angekündigt worden war, auf dem Kolonnenweg auf dem Rückweg zu seinem Postenfuhrer, von dem er etwa 20 m entfernt war; die Entfernung zum Postenpaar Sch./He. betrug ca. 200 bis 250 m. Als K. das optische Signal bemerkte, sah er im selben Moment in einer Entfernung von ca. 100 bis 150 m, etwas nach rechts versetzt von ihm, die beiden Flüchtlinge, die gerade den Kraftfahrzeugsperrgraben überwunden hatten und in Richtung des letzten Grenzzaunes rannten. {50} Als der Angeklagte S. die rote Rundumleuchte bemerkte, wußte er, daß in dem von ihm zu bewachenden Feld, das acht Lichtmasten mit brennenden Lampen, mithin 175 m umfaßte, Alarm ausgelöst war. Für diesen Fall bestand die Anweisung, daß beide Posten im rechten Winkel auf den Metallgitterzaun zuzulaufen hatten. Beide hatten durch Sperrfeuer parallel zum Metallzaun den Fluchtweg abzuriegeln. Zugleich mit der Alarmauslösung bemerkte der Angeklagte S. rechts von ihm die beiden Flüchtlinge, die bereits den Signalzaun überwunden, den Kolonnenweg schon verlassen hatten und in Richtung des letzten Grenzzaunes liefen. Eine Gefahr für einen der Angeklagten ging von den Flüchtlingen zu keinem Zeitpunkt aus. Der Angeklagte S. rannte nunmehr nahezu im rechten Winkel in Richtung des letzten Grenzzaunes nach vorn und durchquerte den Kraftfahrzeugsperrgraben. Auch K. rannte jetzt los und überquerte den Kraftfahrzeugsperrgraben an einem Übergang, nachdem sein Postenführer ihn aufgefordert hatte, den Flüchtlingen nachzulaufen. Die Angeklagten S. und K. riefen ihnen zweimal laut zu: „Halt! Stehenbleiben!" Möglicherweise fügten sie dabei auch hinzu, daß anderenfalls geschossen werden würde. {51}

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Gueffroy und Gaudian reagierten auf diese Warnrufe jedoch nicht, sondern rannten weiter in Richtung des letzten Grenzzauns. Nunmehr lud der Angeklagte S. seine Maschinenpistole durch, kniete nieder, brachte die Waffe in Schulteranschlag, wobei er den linken Ellenbogen auf sein Bein stützte, zielte nach unten in Richtung der Füße der Flüchtenden, die jetzt den letzten Grenzzaun erreicht hatte, und gab in dieser Position, mit Einzelfeuer schießend, insgesamt sechs Schüsse auf die Flüchtenden ab, um sie durch Schüsse in die Beine fluchtunfähig zu schießen; daß er hierbei auch ihren Tod billigend in Kauf genommen hatte, konnte in der Hauptverhandlung nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit festgestellt werden. Auch konnte nicht geklärt werden, ob einer der Schüsse einen der Flüchtlinge getroffen hatte. Die Entfernung zu den Flüchtlingen betrug bei Schießbeginn mindestens mehr als 100 m, die Zieleinrichtung war auf N. bzw. III wie oben angegeben eingestellt. Die Beleuchtungsverhältnisse waren gut und ein Zielen in der konkreten Situation gut möglich. Nach den ersten Schüssen liefen die Flüchtlinge, um diesen auszuweichen, weiter nach rechts an dem Zaun entlang, so {52} daß die Entfernung zum Postenpaar S./K. nunmehr größer wurde. Als der Angeklagte S. zu schießen begann, faßte K., der sich wenige Meter vom S. entfernt befand, dies als Befehl auf, nun seinerseits ebenfalls das Feuer zu eröffnen. Er wollte ebenfalls Einzelfeuer schießen, hatte den Hebel der Kalaschnikow aber versehentlich auf Dauerfeuer gestellt. Die Zieleinrichtung der Waffe war wie bei S. eingestellt. Der Angeklagte K. hielt beim Hinterherlaufen inne und schoß stehend mit an der Schulter angelegter Waffe aus einer Entfernung von über 100 m in Richtung der Flüchtenden, wobei er mit der Waffe nach unten und nicht ausschließbar 3 bis 4 m links neben die Flüchtenden zielte. Die Licht- und Sichtverhältnisse waren gut. Wegen der Einstellung der Waffe auf Dauerfeuer erfolgte sogleich ein Feuerstoß von etwa drei bis vier Schuß. Danach lief der Angeklagte K. weiter, stoppte und gab erneut - wieder mit Dauerfeuer schießend - in gleicher Position einen Feuerstoß auf die Flüchtenden ab, wobei er infolge der ihm bekannten hohen Streuung der Waffe bei Dauerfeuer aus einer derartigen Entfernung nunmehr damit rechnete, daß die Schüsse für beide Flüchtlinge tödliche Wirkung haben könnten und dies zumindest billigend in {53} Kauf nahm. Da die Flüchtlinge kontinuierlich nach rechts weiter rannten, während K. in Richtung Grenzzaun lief und immer wieder stoppte, hatten die Flüchtlinge spätestens nach dem zweiten Feuerstoß einen Abstand von mindestens 125 m erreicht. Entsprechend vergrößerte sich der Abstand zu S. K. gab insgesamt drei bis vier Feuerstöße ab, wobei er wegen des Dauerfeuers befürchtete, er könne zu hoch und über den Zaun schießen, so daß Kugeln auf Westberliner Gebiet einschlagen würden. Infolge der großen Streuwirkung bei Dauerfeuer konnte der Angeklagte K. nicht verhindern, daß auch in einer Entfernung von 1 bis 3 m vor den Flüchtenden Geschosse in Oberkörper- und Kopfhöhe der Flüchtlinge in den Metallgitterzaun einschlugen und dort rotleuchtende Lichtblitze verursachten. Spätestens vom zweiten Feuerstoß an rechnete der Angeklagte K. damit, daß seine Salven auch tödliche Wirkung haben konnten und nahm diese Möglichkeit auch billigend in Kauf, wenngleich ein Todeserfolg ihm nicht recht war. Insgesamt verschoß er bei seinen Feuerstößen zwölf Patronen. Daß eine der Kugeln einen der Flüchtlinge getroffen hat, konnte in der Hauptverhandlung nicht festgestellt werden. Nach der letzten Salve stolperte der Angeklagte K. beim Hinterherlaufen und fiel hin. {54}

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Gueffroy

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Die Signalanlage und das kurz darauf einsetzende Feuer des Postenpaares S./K. hatten auch das benachbarte Postenpaar Sch./He., das - in Richtung Grenze gesehen - den rechts des Postenpaares S./K. gelegenen Grenzabschnitt bewachte, alarmiert. Beide befanden sich auf dem Beobachtungsturm an der Britzer Allee, erwarteten die Ablösung, die sie schon durch das Hinterlandstor sehen konnten und wollten den Turm gerade verlassen. Der Angeklagte He. war bereits im Begriff, die Leiter des Turms herunterzuklettern, als die Rundumleuchte anging und Alarm anzeigte. Sch. und He. ließen sich nun an der Leiter herabgleiten und rannten nach links in Richtung des Geschehens zu einem an der Kirschallee befindlichen Lichtkasten, wo sie die Warnrufe des Postenpaares S./K. und danach die von diesem Postenpaar abgegebenen Schüsse hörten. Kurz danach bemerkten sie auch die beiden Flüchtlinge. Deren Versuch, den Metallgitterzaun mit Hilfe des mitgefühlten Wurfankers zu überwinden, scheiterte. Da dicht neben ihnen mehrere Projektile in Körper- bzw. Kopfhöhe in den Grenzzaun einschlugen und dort Lichtblitze verursachten, rannten sie weiter am Zaun entlang in Richtung Britzer Allee, wobei der gegen sie gerichtete Beschüß {55} seitens des Postenpaares S./K. fortdauerte. Beide Flüchtlinge versuchten nun, den Metallgitterzaun mittels einer sog. Räuberleiter zu überwinden; hierbei war Gueffroy der Untermann, Gaudian stieg über die vor dem Bauch verschränkten Hände Gueffroys auf, verlor jedoch das Gleichgewicht und sprang wieder herunter. Beide liefen nun eine Stück am Zaun entlang weiter in Richtung des Postenpaares Sch./He. und versuchten erneut eine sog. Räuberleiter. Hierbei stand Gueffroy als Untermann mit dem Rücken zum Metallgitterzaun und verschränkte die Hände vor dem Bauch, so daß Gaudian aufsteigen konnte. Gaudian hatte seine Hände bereits an der Oberkante des Metallgitterzauns, um sich hinaufzuziehen, als das Postenpaar Sch./He. in das Geschehen eingriff, da sich die Flüchtlinge jetzt in dem von ihnen zu bewachenden Grenzabschnitt befanden und Gaudian im Begriff war, den Metallgitterzaun zu überwinden. Die Angeklagten Sch. und He. waren inzwischen nahe an die Flüchtenden herangekommen und blieben in der Nähe einer Sprechstelle stehen. Ihre Entfernung zum Zaun betrug - in der Senkrechten auf den Zaun gesehen - 36 m. Die Flüchtlinge standen ca. 10 bis 15 m von ihnen aus gesehen nach links versetzt am Zaun, woraus sich eine {56} Höchstlänge der Hypotenuse zwischen Flüchtlingen und Postenpaar von 39 m ergibt. Gaudian hatte als Untermann der sog. Räuberleiter mit dem Rücken zum Zaun stehend den Posten das Gesicht zugekehrt. Der Angeklagte Sch. zog seine Pistole, zielte auf die Flüchtlinge, schoß jedoch nicht. Er rief statt dessen seinem Posten, dem Angeklagten He. zweimal zu: „Schieß doch!" Nicht ausschließbar ging er bei diesem Befehl davon aus, daß He. die Flüchtlinge nur fluchtunfähig, d.h. in die Füße oder Beine schießen, nicht jedoch tödliche Schüsse abgeben würde. Der Angeklagte He. kniete daraufhin an der genannten Position der Sprechstelle etwa auf der Linie der Lichtmasten nieder, stützte den linken Arm auf das linke Knie und gab aus seiner Maschinenpistole, mit Einzelfeuer schießend, an der Sprechstelle angelehnt, insgesamt drei Schüsse auf die Flüchtlinge ab. Die Lichtverhältnisse waren gut; die Flüchtlinge waren in einem Lichtkegel, außerdem war die auf Westberliner Gebiet gegenüberliegende Jacobs-Kaffee-Fabrik gut beleuchtet und spendete zusätzlich Licht;

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He. selbst befand sich ebenfalls im Hellen, konnte - wie er selbst angibt - Kimme und Korn der Waffe gut erkennen und genau {57} zielen. Der Angeklagte He. zielte über Kimme und Korn zunächst auf die Füße von Chris Gueffroy und gab auf diese zwei Einzelschüsse ab, von denen einer Gueffroy in den rechten Fuß traf und diesen von innen nach außen durchschlug. Da Gueffroy aber keine Wirkung zeigte und stehenblieb, gab der Angeklagte He. in kurzem zeitlichem Abstand einen dritten Schoß auf Gueffroy ab, wobei er über Kimme und Kom auf dessen Oberkörper zielte und hierbei zumindest damit rechnete, daß dieser Schuß tödlich sein könnte und diese Möglichkeit billigend in Kauf nahm. Das Geschoß traf Chris Gueffroy in die Brust, 1,5 cm einwärts der linken Brustwarze, zertrümmerte die rechte Herzkammer sowie die Herzkammer- und Herzvorhofscheidewand, durchschlug den Körper und trat im Bereich des hinteren Randes der rechten Achselhöhle wieder aus dem Körper aus. Chris Gueffroy brach tödlich getroffen zusammen und verstarb wenige Minuten später an den Folgen des Herzschusses noch am Tatort. Nachdem Gueffroy zusammengebrochen war, stellten die Angeklagten das Feuer ein; K. war kurz vor dem tödlichen Schuß hingefallen. Christian Gaudian wurde festgenommen; kurz davor gelang es ihm noch, seinen {58} Personalausweis über den Grenzzaun zu werfen, um die Feststellung seiner Personalien zu erschweren und die Ausreise seines Stiefvaters, der einen Ausreiseantrag gestellt hatte, nicht zu gefährden. Gaudian wurde bei dem Beschüß am Spann des rechten Fußes von einem Durchschuß getroffen, der keine Knochen verletzt hatte; welchem der Schützen dieser Schuß zuzuordnen ist, konnte in der Hauptverhandlung nicht festgestellt werden: Die Angeklagten, die alle sehr erregt waren, stellten, als sie - fast gleichzeitig - zu den Flüchtlingen herangekommen waren, fest, daß Gueffoy am Boden lag und schwer verletzt war. Der Angeklagte Sch. bedrohte Gaudian mit seiner Pistole und rief ihm zu, daß er ihn „abknallen" werde, wenn er sich rühren sollte. Außerdem beschimpfte er Gaudian mit „Schwein" bzw. „Sau". Um Beobachtungen der weiteren Geschehnisse von westlicher Seite aus zu verhindern, wurden beide Flüchtlinge - entsprechend der den Angeklagten für einen solchen Fall gegebenen Anweisungen - zunächst in den von westlicher Seite nicht einsehbaren Kraftfahrzeugsperrgraben verbracht, wobei die Angeklagten Sch. und S. dem bewegungsunfähigen Gueffroy unter die Arme griffen und mit ihm in den Graben sprangen. Gaudian hatte seine {59} Fußverletzung noch gar nicht bemerkt und konnte allein laufen. Kurz danach kam eine Grenzstreife mit einem Trabant-Kübelwagen, auf den die Flüchtlinge verbracht und aus dem Grenzstreifen ins Hinterland gefahren wurden. Dort wurden beide mit gespreizten Beinen bäuchlings auf den Boden gelegt und durchsucht. Kurz danach wurde Gueffroy erneut von dem inzwischen am Ort eingetroffenen Zeugen Romanowski nach Waffen durchsucht. Danach wurden beide Flüchtlinge mit Decken abgedeckt. Etwa gegen 0.15 Uhr des 6. Februar 1989 traf der Zeuge B., der als Arzt bei den Grenztruppen Dienst tat, am Ort ein, wo er Gueffroy im Krankenwagen untersuchte und dessen Tod feststellte. Er versuchte bei Gueffroy sogleich Wiederbelebungsmaßnahmen, die jedoch erfolglos blieben und wegen der massiven Blutung, die bei der Herzdruckmassage aus dem Einschußloch in der Brust austrat, abgebrochen werden mußten.

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Gueffroy

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Gueffroy und Gaudian wurden daraufhin mit einem Krankenwagen der Grenztruppen in das damalige Volkspolizeikrankenhaus in der Scharnhorststraße verbracht, wo auch der Zeuge Dr. Lieber den Tod Gueffroys feststellte. {60} Christian Gaudian, den man nicht vom Tode seines Freundes informierte, sondern ihm bedeutete, Gueffroy sei schwer verletzt, wurde in demselben Krankenhaus von Dr. Lieber wegen seiner Fußverletzung ärztlich behandelt. Anfangs weigerte sich Gaudian, im Krankenhaus seinen Namen anzugeben. Sein Fuß wurde geröntgt und dabei festgestellt, daß es sich um einen Durchschuß ohne Verletzung eines Knochens handelte. Die Verletzung imponierte als reine Hautverletzung, bei der Ein- und Ausschuß ca. 1,5 bis 2 cm auseinanderlagen. Beide Wunden wurden unter Betäubung gemeinsam ausgeschnitten, um dazwischen liegendes lebloses Gewebe zu entfernen. Danach wurde die Wunde desinfiziert und verbunden und Gaudian zum Verhör beim MfS in die Keibelstraße verbracht und dort sogleich verhört. Noch während der ärztlichen Behandlung Gaudians waren Angehörige des MfS im Krankenhaus eingetroffen. Die Leiche Gueffroys wurde auf Anweisung des MfS in einen gesonderten, abschließbaren Raum verbracht. Die Aufnahmeärztin K. mußte auf Anordnung des MfS den ursprünglichen Totenschein Gueffroys, in welchem als Todesursache „Herzdurchschuß" vermerkt war, durch einen neuen Totenschein mit der Todesursachenangabe „Herzmuskelzerreißung" ersetzen; außerdem wurde noch in der{61}selben Nacht zur weiteren Verschleierung des Geschehens vom MfS in dem Buch „Chirurgie" des Volkspolizeikrankenhauses die Eintragung bezüglich der Wundversorgung des Gaudian durch Überkleben mit anderen Aufzeichnungen unkenntlich gemacht. Nach dem Abtransport der Flüchtlinge wurden die vier Angeklagten, die wegen des Geschehens niedergeschlagen und bedrückt waren, zur Kompanie zurückgebracht und dort kurz zu dem Vorfall befragt. Sie mußten die noch vorhandenen Patronen in ihrem Magazin zählen, waren hierzu aber zu aufgeregt. Die Patronen wurden anschließend noch von dem Kompaniechef, dem Zeugen Fabian5 (damals: Major) und von dem Regimentskommandeur Schulze6 (damals: Oberst) gezählt. Hierbei wurde festgestellt, daß bei K. 12, bei S. 6 und bei He. 3 Patronen fehlten. Eine kriminaltechnische oder ballistische Untersuchung der Tatwaffen oder der Projektile fand in der Folgezeit nicht statt; Projektile oder Hülsen wurden auch nicht sichergestellt. Die drei Maschinenpistolen Kalaschnikow wurden sichergestellt. Sie verblieben noch bis Februar/März 1990 in der Kompanie und wurden anschließend vermutlich vernichtet. {62} Etwa eine Stunde nach der Festnahme wurde den Angeklagten in der Cafébar der Kompanie im Beisein einiger Offiziere zum Zweck der Beruhigung Alkohol verabreicht. Der Kompaniechef Fabian belobigte sie und erklärte ihnen, sie hätten eine gute Leistung vollbracht. Daß Chris Gueffroy getötet worden war, erfuhren die Angeklagten erst einige Tage später. Die Angeklagten wurden sogleich aus dem Grenzdienst herausgenommen und erhielten einige Tage später zwei bis drei Tage Sonderurlaub. Anschließend versahen sie noch fur einige Zeit Dienst im Hinterland und wurden dann in andere Einheiten versetzt. Neben einer weiteren Belobigung durch den Regimentskommandeur Schulze wurden die Angeklagten vom Kommandeur des Grenzkommandos Mitte, dem das Grenzregiment 33 unterstand, mit einer Urkunde, einem Orden und einer Geldprämie von

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150,00 DM ausgezeichnet; der Angeklagte He. wurde zudem zum Gefreiten befördert. Keiner der Angeklagten trug jedoch in der Folgezeit die ihnen verliehenen Orden, weil sie sich schämten, diese in der Öffentlichkeit zu tragen. Von Angehörigen des MfS wurden alle Angeklagten zum Schweigen über den Vorfall und den {63} Grund ihrer Versetzung verpflichtet; zugleich bot das MfS ihnen Hilfe und Unterstützung an fur den Fall, daß Schwierigkeiten auftreten würden. Eine disziplinar- oder strafrechtliche Untersuchung des Vorfalles und eine Überprüfung dahingehend, ob der Schußwaffengebrauch rechtmäßig war oder nicht, fand in der Folgezeit nicht statt. Vielmehr wurden, um eine Aufklärung der Ereignisse zu verhindern, auf Anordnung des MfS eine Nachrichtensperre verhängt und in der Folgezeit alle schriftlichen Unterlagen des Grenzregiments 33 (unter anderem Ausbildungsjournale, Grenzdienstbücher, Zugjournale, Beobachtungsblätter, Zugfahrer- und Gruppenbücher, das Politschulungsjournal, diverse Belege und militärische Aufzeichnungen, Militärfahrkarten, Wäschescheine, Urlaubsscheine etc.), aus denen sich Rückschlüsse auf das Ereignis und deren Beteiligte hätten ziehen lassen, durch den als Abwehroffizier des MfS tätigen Zeugen Berger eingezogen und vernichtet. In dem alphabetischen Namensverzeichnis der Angehörigen des betroffenen Truppenteils wurden die verzeichneten Wohnanschriften der vier Angeklagten gelöscht. Im Dezember 1989 wurde festgelegt, daß die Blätter des Namensverzeichnisses, die die Namen der Angeklagten enthielten, zu vernichten seien. {64} Der Angeklagte K., der mit dem Geschehen innerlich am wenigsten fertig wurde, war in der Folgezeit wegen des Vorfalls von Gewissensbissen geplagt und äußerte nach seiner Abversetzung in eine andere Einheit gegenüber dem Angeklagten He.: „Hoffentlich habe ich den nicht getroffen, wenn ich nur wüßte, ob ich ihn erschossen habe oder nicht!" He. antwortete zu K., er (He.) glaube, daß er selbst den tödlichen Schuß abgegeben habe. In der Hauptverhandlung hat He. hierzu erklärt, er habe das nur getan, um K. zu beruhigen. Die Obduktion der Leiche des 20 Jahre alt gewordenen, 173 cm großen, schlankwüchsigen Chris Gueffroy am 6. Februar 1989 durch den Sachverständigen Prof. Dr. Schmechta, der damals Leiter des Instituts für gerichtliche Medizin der Militärmedizinischen Akademie war, erbrachte unter anderem folgende Befunde: „I. Sektionsdiagnose Schußverletzung des Brustraumes: Einschußverletzung: Kreisrunde Hautdurchtrennung von 1,0 cm Durchmesser 1,5 cm einwärts in Höhe der linken Brustwarze an der linken vorderen Brustkorbwand. 1 bis 3 mm breite braunrote Oberhauteintrocknung des unmittelbaren Wundrandes. {65} Unregelmäßige, strahlige Durchtrennung von 1,0 mal 0,5 cm Ausdehnung der Mitte des knorpligen Anteils der linken 5. Rippe. Frische dunkelrote, kinderhandtellergroße Blutung der Brustmuskulatur des Zwischenrippenraumes oberhalb und unterhalb des knorpligen Anteiles der linken 5. Rippe. 2 mal 3 cm große Zerreißung und flächenhafte Unterblutung der Vorderwand des Herzbeutels. Ausgedehnte fetzige bogenförmige Wandzerreißung der rechten Herzkammer vom oberen Rand der Kammerscheidewand über die Mitte der rechten Herzkammer bis zum rechten Herzohr. Zerreißung der Vorderwand des rechten Herzvorhofes und der 3-Segelklappe. 6 cm lange quergestellte Zerreißung der Herzkammerscheidewand dicht unterhalb der Klappe der großen Körperschlagader. 4 cm lange quergestellte Zerreißung der Mitte der Herzvorhofscheidewand.

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Zerreißung der rechten Herzkranzschlagader am Abgang aus der großen Körperschlagader sowie 3 cm unterhalb desselben. Ausgedehnte längsverlaufende Zerreißung der rechten Seite des Herzbeutels in gesamter Ausdehnung. Etwa pflaumengroße frische dunkelrote Lungengewebsblutung des vorderen unteren Randes des linken Lungenunterlappens. Fetzige Zerreißung des rechten Lungenunterlappens von etwa 5 cm Länge von der Vorder- bis zur Rückseite. Ausgedehnte frische dunkelrote Blutung des gesamten rechten Lungenunterlappens. Frische blaurote Lungenfellunterblutung und Lungengewebsblutung des rechten Mittellappens sowie der basalen Segmente des rechten Lungenoberlappens. Fetzige, 2 mal 4 cm große längs-ovale Zerreißung der Brustmuskulatur des 8. Zwischenrippenraumes und Knochenzertrümmerung des Oberrandes der 9. rechten Rippe in der rechten hinteren Achselhöhlenlinie. {66} Handflächengroße frische dunkelrote Blutung der Brustmuskulatur der rechten seitlichen Brustwand zwischen dem 7.-9. Zwischenrippenraum. Flüssiges Blut in beiden Brusthöhlen (in der linken Brusthöhle jetzt 500 ml, in der rechten Brusthöhle jetzt 250 ml flüssiges Blut). 4 mal 2,5 cm große frische blaurote Unterblutung der Leberkapsel der Mitte der Oberkante des rechten Leberlappens. Daselbst feine, bis 2 mm tiefe oberflächliche Lebergewebseinrisse unter der Leberkapsel. Ausschußverletzung: 2 mal 1 cm große längs-ovale Hautdurchtrennung der rechten seitlichen Brustwand 11 cm unterhalb des hinteren Randes der rechten Achselhöhle (131 cm oberhalb der Fußsohle; 18 cm rechts seitlich der Rückenmitte). Schußverletzung des rechten Fußes: Beschriebene kreisrunde Hautdurchtrennung der Innenseite des rechten Fußes 4,5 cm oberhalb der Fußsohle. Kreisrunde Hautdurchtrennung von 0,5 cm Durchmesser der Außenseite des rechten Fußes 5,5 cm oberhalb der Fußsohle. III. Todesursache: Herzmuskelzerreißung IV. ... Die Leichenöffnung ergab Befunde einer Schußverletzung des Brustraumes mit weitgehender Zertrümmerung der rechten Herzkammer sowie der Herzkammer- und Herzvorhofscheidewand. Diese offene Herzverletzung stellt die unmittelbare Todesursache dar. Die Einschußverletzung befindet sich an der linken vorderen Brustwand in Brustwarzenhöhe (126 cm oberhalb der Fußsohle). Sie stellt sich als rundliche Hautdurchtrennung mit 0,1 bis 0,3 mm breiter braunroter Vertrocknung der Wundränder dar. Bei der 2 mal 1 cm großen längs-ovalen Hautdurchtrennung der rechten seitlichen Brustwand (131 cm oberhalb der Fußsohle) handelt es sich um die Ausschußverletzung. Sogenannte Nahschußzeichen waren weder an der beschossenen Bekleidung noch an der Hautoberfläche ausgeprägt. Das Geschoß hat den Brustkorb offenbar in horizontaler {67} Richtung (bezogen auf aufrechte Körperhaltung) durchsetzt. Eine weitere Schußverletzung betraf den rechten Fuß. Die linke Seite des Oberleders des rechten Schuhes wies um eine frische Lederdurchtrennung einen deutlichen sog. Abstreifring auf, so daß die Einschußverletzung an der Innenseite des rechten Fußes lokalisiert ist. Zwischen der Herzmuskelzerreißung und dem Todeseintritt besteht ein direkter ursächlicher Zusammenhang. Es handelt sich um einen nichtnatürlichen Tod."

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Hautproben aus der Umgebung der Verletzung wurden nicht asserviert. Die Wundränder wurden mittels Auge und Lupe morphologisch untersucht; alles war ohne weitere Hilfsmittel erkennbar. Die Kleidungsstücke Chris Gueffroys wurden von den Nähten aus vermessen; sie wiesen Schußbeschädigungen an jeweils korrespondierenden Stellen auf. Eine Kopfverletzung lag nicht vor. Es wurden keine Schmauch- und Pulverteile gefunden, die auf einen Nahschuß, d.h. auf einen Schuß aus maximal 1 m Entfernung, hindeuteten. Die Schußverletzung in das Herz erfolgte zu Lebzeiten, da vitale Reaktionen, wie Blutungen im Herzbeutel, festgestellt wurden. Die durch die Schußwaffeneinwirkung verursachte Herzmuskelzerreißung war tödlich, medizinische Hilfe nicht möglich. Der Tod ist unmittelbar nach der Einwirkung eingetreten; die Überlebenszeit bewegte sich im Minutenbereich. Die Einschußverletzung {68} neben der Brustwarze wies eine schürzenartige Wundeintrocknung mit einem Wundrand von 1 bis 3 mm auf, was aus einem schrägen Eintreffen der Kugel resultiert. Der Schußkanal verlief leicht schräg, ungefähr diagonal. Die Kugel hat den Körper unverformt durchdrungen; sie hatte vorher keinen Kontakt mit anderen Gegenständen. Es handelte sich nicht um einen Querschläger, weil Ein- und Ausschußwunde kreisrund waren; bei Querschlägern sind regelmäßig ovale oder andere verformte Einschuß- und Hautverletzungen zu verzeichnen. Der Fuß wurde von links nach rechts getroffen, d.h. die Kugel durchdrang zuerst die Innenseite, dann die Außenseite des rechten Fußes. Dies ergab sich aus den an der Innenseite des Schuhs festgestellten Schmauch- und Schmutzspuren; dort wurde unter anderem abgelagerter Pulverschmauch festgestellt. Der Ausschuß war an der Außenseite. Der Größenunterschied zwischen Ein- und Ausschuß betrug lediglich 1 mm; es war nicht ungewöhnlich, daß die Einschußwunde geringfügig größer war, was auch auf in diesem Größenbereich nicht zu vermeidende meßtechnische Ungenauigkeiten zurückzufuhren sein kann. Beide bei Gueffroy festgestellten Schußverletzungen wurden von Kugeln aus der gleichen Richtung verursacht. Beide Geschosse durchdrangen - aus Blickrichtung {69} Gueffroys in Richtung He. gesehen - den Körper von links nach rechts, wobei der Schußkanal im Oberkörper wie beschrieben diagonal verlief. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. Schmechta müssen die Geschosse, wenn Gueffroy aufrecht mit dem Rücken zum Grenzzaun gestanden hat, von links gekommen sein. Der leicht nach hinten ansteigende Schußkanal des Herzschusses kann darauf zurückzufuhren sein, daß der Schütze aus etwas tieferer Position geschossen hat oder der Körper des Gueffroy beim Einschlagen der Kugel leicht geneigt war. Christian Gaudian, der nach seiner Festnahme in Untersuchungshaft kam, wurde durch Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 24. Mai 1989 - 19 S 139/89 (211-80-89) - wegen sogenannten versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall (§213 Abs. 1 und 3 Nr. 2 und 5, Abs. 4 StGB/DDR) zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Das Urteil wurde am 1. Juni 1989 rechtskräftig. Gaudian verbüßte diese Strafe bis zum 17. Oktober 1989 und wurde dann in die Bundesrepublik Deutschland entlassen. {70} Die Mutter des getöteten Chris Gueffroy, Karin G., hat sich dem Verfahren gemäß § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO als Nebenklägerin angeschlossen; die Kammer hat mit Beschluß vom 27. Juni 1991 festgestellt, daß ihr die Rechte einer Nebenklägerin zustehen.

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Aufgrund des Haftbefehls der Kammer vom 12. Juni 1991 befanden sich die Angeklagten K., He. und Sch. - letzterer nach Aufhebung des ursprünglichen Haftbefehls gegen ihn und Erlaß eines neuen Haftbefehls der Kammer vom 28. Juni 1991 - in vorliegender Sache in der Zeit vom 14. Juni 1991 bis zum 19. Juli 1991, der Angeklagte S. in der Zeit vom 14. Juni 1991 bis zum 27. Juni 1991 in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl gegen den Angeklagten S. wurde an diesem Tage durch Beschluß der Kammer vom selben Tage aufgehoben; die Angeklagten K., Sch. und He. sind aufgrund des Beschlusses des Kammergerichts vom 19. Juli 1991 - 4 Ws 136 bis 138/91 - mit dem weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont. {71}

VI. Einlassungen der Angeklagten Die Angeklagten K., S. und He. räumen ein, in der Tatnacht von ihren Schußwaffen Gebrauch gemacht, der Angeklagte Sch. räumt ein, seinem Posten He. den Befehl zum Schießen erteilt zu haben. Die Angeklagten bestreiten, hierbei rechtswidrig gehandelt zu haben, da sie gemäß damals geltenden Bestimmungen der damaligen DDR gehandelt bzw. Befehle ihrer Vorgesetzten befolgt hätten; sie bestreiten auch, bei den Schüssen mit Tötungsvorsatz gehandelt zu haben. Im einzelnen lassen sie sich im wesentlichen wie folgt ein:

1.

K.

Seine Einberufung zum Wehrdienst in der damaligen DDR und seine Zuweisung zu den Grenztruppen habe sich so wie oben festgestellt zugetragen. Er habe zunächst die oben festgestellte Ausbildung im Grenzausbildungsregiment erfahren und die oben erwähnte Schießausbildung absolviert. Er sei ein sehr guter Schütze gewesen und habe mit der Maschinenpistole Kalaschnikow gut umgehen können. Bei Dauerfeuer habe diese so gut wie keinen Rückstoß gehabt, jedoch habe der Lauf dabei nach rechts oben weg-{72}gezogen. Als er dann in das Grenzregiment 33 gekommen sei, sei er gefragt worden, ob er auf Menschen schießen könne. Dies habe er gegenüber dem Kommandeur verneint und habe daraufhin keinen Grenzdienst, sondern Küchendienst verrichten müssen. Er sei deswegen von seinen Kameraden gehänselt und als „Küchenschabe" bezeichnet worden, was er als grobe Erniedrigung empfunden habe. Nach Gesprächen mit Kameraden habe er sich schließlich schriftlich verpflichtet, sein Vaterland unter Einsatz der Schußwaffe zu verteidigen. Er sei sich zu diesem Zeitpunkt nicht sicher gewesen, ob er wirklich auf Menschen würde schießen können und habe nur aus dem Küchendienst herausgewollt. Daraufhin habe er nach einigen Tagen Grenzdienst verrichten dürfen. Im Politunterricht seinen ihm „Grenzverletzer" stets als Verräter und Verbrecher hingestellt worden, die etwas ausgefressen hätten. Vor jedem Dienstantritt habe es die sog. Vergatterung gegeben. Er habe vor der Tatnacht nichts davon gehört, daß Grenzsoldaten ins Gefängnis gekommen wären, wenn sie daneben geschossen hätten oder ob ihnen überhaupt etwas passiert wäre. Die Unterrichtung zur Anwendung der Schußwaffe habe sich so wie oben festgestellt zugetragen. Von den Vorgesetzten sei ihnen gesagt worden, daß die Schußwaffe unter anderem bei einer sog. Gruppenflucht, d.h. einer Flucht von mehr als einer {73} Person, anzuwenden sei. Dies sei damit begründet worden, daß „Grenz-

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verletzer" oft bewaffnet seien und die Grenzposten bei ihrer Festnahme überwältigen könnten. Sein Hauptfeldwebel, der Zeuge K., habe gesagt, man werde bei Schußwaffeneinsatz schon alles richten, die Soldaten seien ihm wichtiger als „Vaterlandsverräter"; wenn bei der Flucht eines Einzelnen geschossen wurde, habe man eben noch einen Schatten gesehen. Allgemein sei bekannt gewesen, daß nur fluchtunfähig geschossen werden solle; allerdings hätten die Offiziere nicht gesagt, wie, ob mit Einzel- oder Dauerfeuer und wohin geschossen werden solle. Bei besonderen Anlässen wie dem „Geburtstag der Republik" oder ausländischen Staatsbesuchen sei der Schußwaffengebrauch auf Fälle von Fahnenflucht und Angriff auf das eigene Leben eingeschränkt gewesen; zur Begründung sei ihnen hierzu gesagt worden, daß sich an derartigen Tagen die Anwendung der Schußwaffe zum Nachteil der DDR auswirken könne. Aus dem Grenzdienst mit „Weißen Handschuhen", d.h. ohne irgendeinen Zwischenfall, wozu bereits die bloße Festnahme eines Flüchtlings ausgereicht habe, herauszukommen, sei das begehrte Ziel der Grenzsoldaten gewesen. {74} Das eigentliche Tatgeschehen habe sich dann so wie oben festgestellt abgespielt. Zunächst hat er angegeben, die Flüchtlinge seien 100 bis 150 m von ihm entfernt gewesen, als er diese bemerkt habe. Später hat er dazu behauptet, es könnten auch nur 70 m gewesen sein. Die Flüchtlinge hätten den Kraftfahrzeugsperrgraben überwunden und seien schräg in Richtung des letzten Grenzzaunes gerannt; eine Gefahr für die Soldaten sei von ihnen nicht ausgegangen. S. und er seien wie festgestellt losgerannt. Als die Flüchtlinge trotz zweimaligen Anrufens nicht stehengeblieben seien, habe S. seine Waffe durchgeladen und mit Einzelfeuer zu schießen begonnen; dies habe er (K.) als Befehl seines Postenführers aufgefaßt, selbst auch zu schießen. Seine Maschinenpistole sei versehentlich auf Dauerfeuer eingestellt gewesen. Er habe im Stehen insgesamt drei bis vier Feuerstöße mit Dauerfeuer abgegeben, wobei er die Waffe jeweils an der Schulter angelegt habe und zwischendurch wieder hinterhergerannt sei, gestoppt und geschossen habe. Die Licht- und Sichtverhältnisse seien gut gewesen, so daß er die Flüchtlinge und ihre Bekleidung gut habe erkennen können. Er habe bei seinen Salven zwar in Richtung der Flüchtenden, aber immer 3 bis 4 m links daneben und ziemlich tief gezielt; eine Wirkung seiner {75} Schüsse habe er nicht feststellen können. Er habe es in der Nähe der Flüchtlinge am Metallgitterzaun aufblitzen sehen und aus Richtung des benachbarten Postenpaares Sch./He. den Ruf „Schieß doch!" gehört. Er habe wegen des Dauerfeuers Angst gehabt, zu hoch und über den Zaun zu schießen und Westberliner Gebiet zu treffen. Zum Schluß habe er die Flüchtlinge am Grenzzaun übereinanderstehend gesehen; dann sei er hingefallen, die beiden Flüchtlinge hätten zu diesem Zeitpunkt noch gestanden; der Beschüß seitens des benachbarten Postenpaares hätte noch angedauert; als er wieder hochgekommen sei, sei einer der Flüchtlinge umgefallen und das Feuer eingestellt worden. Er glaube nicht, einen der Flüchtlinge direkt getroffen zu haben, wenn überhaupt, dann allenfalls durch einen Querschläger; er selber habe während des Schießens große Angst gehabt, von einem Querschläger getroffen zu werden. Das weitere Geschehen, die Festnahme der Flüchtlinge, das Zählen der Patronen, die Belobigung, Auszeichnung, Gewährung von Sonderurlaub und Geldprämie, die Verpflichtung zum Schweigen und die Versetzung in andere Einheiten habe sich dann, so wie oben festgestellt, zugetragen. Er sei hinterher nervlich völlig fertig gewesen und habe die oben wiedergegebene Äußerung ge-{76}genüber dem Angeklagten He. gemacht.

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Diese Angaben des Angeklagten K. stimmen im wesentlichen mit seinen Einlassungen in dem Ermittlungsverfahren gegenüber den ihn vernehmenden Kriminalbeamten KOK A. und KHK G., die als Zeugen vernommen worden sind, überein; allerdings hat der Angeklagte im Ermittlungsverfahren nicht angegeben, daß er drei bis vier Meter neben die Flüchtlinge gezielt habe, sondern vielmehr in seiner bereits nach der Wiedervereinigung erfolgten polizeilichen Vernehmung gegenüber dem Zeugen KOK A. ausgesagt, er habe die Waffen „in Richtung der Flüchtlinge" gehalten, wenngleich nicht über Kimme und Korn gezielt. Wenn er gegenüber der Polizei von Danebenschießen nichts erwähnt habe, so sei dies deshalb erfolgt, weil er gehofft habe, daß niemand das Danebenschießen bemerken sollte, da er Angst vor dem Gefängnis gehabt habe.

2.

S.

Seine Einberufung, Einteilung zu den Grenztruppen, Schießausbildung und die Anweisung zum Schußwaffengebrauch seien so, wie oben festgestellt, erfolgt. {77} Vor Antritt des Grenzdienstes sei er gefragt worden, ob er Probleme habe und ob er bei Fahnenflucht die Schußwaffe anwenden würde; letzteres habe er bejaht, weil er befürchtet habe, im Weigerungsfalle Innendienst oder etwas Vergleichbares machen zu müssen; ihm sei kein Fall bekannt, bei dem die Verneinung dieser Frage zu schwereren Konsequenzen gefuhrt habe. Die vor der Tat erworbene Schützenschnur habe er aus Furcht vor Reaktionen in der Bevölkerung nicht getragen. Es habe der Befehl bestanden, daß jeder Grenzdurchbruch zu verhindern sei. Er habe befürchtet, wenn er sich zu schießen geweigert hätte, vor ein Militärgericht zu kommen; denn Nichtschießen hätte seiner Meinung nach eine Befehlsverweigerung bedeutet. Er habe allerdings nie etwas von Bestrafungen gehört, wenn danebengeschossen worden sei. An der Rechtmäßigkeit der Befehle habe er nicht gezweifelt. Wenn ihm allerdings befohlen worden wäre, auf Einzelflüchtlinge zu schießen, hätte er dies verweigert. Über die Einschränkung des Schußwaffengebrauchs bei hohen Feiertagen oder Staatsbesuchen habe er sich keine Gedanken gemacht. In Gesprächen mit anderen Grenzsoldaten sei allgemein die Meinung vorherrschend gewesen, den Grenzdienst mit „Weißen Handschuhen" im oben erörterten Sinn zu überstehen. Zum Schußwaffengebrauch sei von den Vor-{78}gesetzten gesagt worden, zuerst seien „Grenzverletzer" anzurufen, dann ein Warnschuß abzugeben, und wenn Flüchtlinge dann noch immer nicht stehen blieben, sei davon auszugehen, daß es sich um Kriminelle handele, die unter Anwendung der Schußwaffe als äußerstes Mittel der Gewaltanwendung zu stoppen seien. Hierbei habe das Leben geschont und auf die Beine geschossen werden sollen. Auf Kinder, Frauen und ins „Feindgebiet" habe nicht geschossen werden sollen. Bei einem Grenzdurchbruch von mehr als einer Person (sogenannte Gruppenflucht), Fahnenflucht und Angriff mit schwerer Technik habe geschossen werden dürfen; wann geschossen wurde, habe jeder selbst zu entscheiden gehabt. Daß „Grenzverletzer" zu „vernichten" seien, sei nicht gesagt worden. Das Tatgeschehen und das Geschehen danach habe sich so wie oben festgestellt zugetragen. Er habe bei guten Beleuchtungsverhältnissen und guter Sicht nach zwei vergeblichen Warnrufen in kniender Position, die Waffe in Schulteranschlag und aufgestützt haltend

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aus einer Entfernung von 120 bis 200 Meter mit Einzelfeuer insgesamt sechs Schuß abgegeben, wobei er nach unten in Richtung der Füße der Flüchtenden gezielt habe, die er gut habe erkennen können; das Zielen sei {79} trotz der herrschenden Hektik gut möglich gewesen. Eine Gefahr sei von den Flüchtenden zu keinem Zeitpunkt ausgegangen. Zuletzt hätten beide in „Räuberleiterposition" am letzten Grenzzaun am Rande des Lichtkegels einer der Peitschenlampen gestanden; der untere von beiden habe mit dem Rücken zum Zaun gestanden, der obere von beiden habe seine Hände bereits auf der Oberkante des Zaunes gehabt. Dann sei der untere der beiden umgefallen, und das Feuer sei eingestellt worden; K. sei zuletzt gestolpert und hingefallen. Er, S., habe die Flüchtenden nicht töten, sondern nur fluchtunfähig schießen wollen. Er könne allerdings nicht ausschließen, daß die tödliche Kugel von ihm stamme, dann aber nur als Querschläger. Die Festnahme und der Abtransport der Flüchtlinge, das Patronenzählen, die Belobigungen, Auszeichnungen, die Gewährung von Sonderurlaub und Geldprämie, die Verpflichtung zum Schweigen und Versetzung in andere Einheiten hätten sich so wie oben dargelegt abgespielt. Den verliehenen Orden habe er hinterher nicht getragen, weil er Gewissensbisse gehabt habe. Erst nach der „Wende" habe er Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Schußwaffengebrauchs bekommen. Die Einlassungen des Angeklagten S. stimmen im wesentlichen mit seinen Angaben im Ermittlungsverfahren überein. {80} 3.

Sch.

Seine Einberufung zum Militär, seine Zuweisung zu den Grenztruppen, seine militärische und seine Schießausbildung habe sich so wie oben festgestellt zugetragen. Über Befehle habe er nicht weiter nachgedacht; er habe Angst vor Bestrafung im Falle einer Befehlsverweigerung gehabt. Ein besonders guter Schütze sei er nicht gewesen. Ihm sei beigebracht worden, von der Schußwaffe als letztes Mittel bei Fahnenflucht, Flucht von mehr als einer Person und bei Angriff mit schwerer Technik Gebrauch zu machen. Die Vorgesetzten hätten gesagt, es solle fluchtunfähig geschossen werden; allerdings sei ihnen nicht gesagt worden, wie und wohin geschossen werden solle. In Gesprächen im Kameradenkreis sei man sich aber einig gewesen, auf die Beine der Flüchtenden zu schießen. Bei hohen Feiertagen und Staatsbesuchen sei der Schußwaffengebrauch eingeschränkt worden, was durch eine Verstärkung der Anzahl der Posten ausgeglichen worden sei. Das Geschehen in der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 habe sich dann so wie oben festgestellt zugetragen. Als er den Befehl zum Schießen an seinen Posten He. gegeben habe, seien die Flüchtlinge etwa 30 bis 40 Meter von ihnen entfernt gewesen. Zuvor habe er den Warnruf {81} des benachbarten Postenpaares und die ersten Schüsse gehört. Er habe die Flüchtlinge als junge, schlanke Männer erkannt. Als He. dann mit Einzelfeuer auf seinen Befehl hin geschossen habe, hätten beide Flüchtlinge in der Position der sogenannten „Räuberleiter" am letzten Grenzzaun gestanden. Der untere der beiden habe mit dem Rücken zum Zaun gestanden; bei der ersten „Räuberleiter" sei der obere der beiden abgerutscht und habe es ein zweites Mal versucht; er habe jetzt die Hände schon auf der Oberkante des Zaunes gehabt; er habe He. daher den Befehl zum Schießen gegeben, weil der obere der beiden es schon fast geschafft habe, über den Zaun zu gelangen und er (Sch.) jetzt habe handeln müssen; die Flüchtlinge hätten sich in dem

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von ihm und He. zu sichernden Abschnitt befunden. Bei seinem Befehl sei er davon ausgegangen, daß He. auf die Beine schießen würde, wie dies unter den Grenzsoldaten allgemein verabredet worden sei. Mit tödlichen Schüssen sei er keinesfalls einverstanden gewesen und habe solche auch nicht gewollt. Als daraufhin der untere der beiden Flüchtlinge zusammengebrochen sei, hätten die Schützen das Feuer eingestellt und die Flüchtlinge festgenommen. Er sei erregt gewesen und habe den einen der beiden mit „Schwein" oder „Sau" beschimpft, weil er durch das Fluchtgeschehen seine „Weißen Handschuhe" eingebüßt {82} habe. Das weitere Geschehen habe sich dann wie oben festgestellt zugetragen.

4.

He.

Seine Einberufung und Ausbildung beim Militär habe sich so wie oben festgestellt zugetragen. Er könne sich nicht erinnern, ob er im Ausbildungsregiment oder im Grenzregiment 33 gefragt worden sei, ob er notfalls auf Menschen schießen würde. Er sei ein guter Schütze gewesen. Im Schießunterricht sei gesagt worden, daß bei Fahnenflucht, Angriff mit schwerer Technik und Flucht von mehr als einer Person geschossen werden solle, weil dies als Angriff auf das eigene Leben zu werten sei; im konkreten Falle sei hier von den Flüchtlingen aber keine Gefahr ausgegangen. Wenn einer Person die Flucht gelang und nicht geschossen worden sei, sei den Soldaten nichts passiert. Die Schußwaffe habe als letztes Mittel eingesetzt und nur fluchtunfahig geschossen werden sollen. Es sei aber nicht gesagt worden, wie und wohin geschossen werden solle. Die Soldaten {83} hätten dies so ausgelegt, daß nur auf die Füße bzw. die Beine geschossen werden solle. Bei Einschränkung des Schußwaffengebrauchs bei Feiertagen und Staatsbesuchen sei die Postendichte zum Ausgleich verstärkt worden. Das eigentliche Tatgeschehen habe sich in objektiver Hinsicht so wie oben festgestellt zugetragen, jedoch habe er nicht auf die Brust des Chris Gueffroy gezielt. Als sein Postenfuhrer Sch. ihm zweimal den Befehl zum Schießen erteilt habe, habe er sich etwa 30 bis 35 Meter vom letzten Grenzzaun entfernt befunden, die Flüchtlinge hätten etwa 10 bis 15 Meter von seiner Sicht aus nach links versetzt gestanden. Eine erste „Räuberleiter" sei gescheitert, die Flüchtlinge hätten zum Zeitpunkt seiner Schußabgabe ein zweites Mal eine „Räuberleiter" gebildet; der untere der beiden habe mit dem Rücken zum Grenzzaun gestanden, der obere der beiden habe die Hände bereits auf der Zaunoberkante gehabt, seine Füße hätten sich in Bauchhöhe des unteren befunden. Die Sichtverhältnisse seien sehr gut gewesen; die Flüchtlinge hätten sich, von links nach rechts laufend, im Lichtkegel einer der Peitschenlampen befunden, außerdem sei die auf Westberliner Gebiet gegenüberliegende Fabrik beleuchtet gewesen und habe zusätzlich Licht gespendet; er selbst habe sich im Hellen befunden, habe Kimme und Korn sehr {84} gut erkennen und ganz genau zielen können, da die Sicht gut und die Entfernung nicht sehr weit gewesen seien. Er habe niedergekniet, den linken Arm auf dem linken Knie abgestützt und über Kimme und Korn mit am Lichtkasten angelegter Waffe auf einen Fuß des unteren Flüchtlings geschossen, wobei er mit Einzelfeuer drei Schüsse abgegeben habe. Auch die anderen Soldaten hätten noch geschossen; der untere Flüchtling sei dann umgefallen und alle hätten das Schießen eingestellt.

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Das weitere Geschehen habe sich dann wie oben festgestellt zugetragen. Später habe er gegenüber K., der befürchtet habe, er könne den tödlichen Schuß abgegeben haben, um diesen zu beruhigen, geäußert, er (He.) habe den Todesschuß gesetzt. Er habe jedoch Chris Gueffroy nicht töten, sondern nur fluchtunfähig schießen wollen und mit einem tödlichen Ausgang nicht gerechnet und keinesfalls einen solchen beabsichtigt. {85}

VII. Beweiswürdigung Die Feststellungen zu den Lebensläufen und zur inneren Einstellung der Angeklagten vor der Tat beruhen auf ihren eigenen Angaben. Die Feststellungen zur Einberufung der Angeklagten zum Militärdienst beruhen auf ihren eigenen entsprechenden Angaben. Daß die zum Dienst bei den Grenztruppen eingeteilten Wehrpflichtigen einer besonderen Sicherheitsüberprüfung durch das MfS unterzogen wurden, beruht auf den übereinstimmenden Bekundungen der Zeugen Bernd Berger, Günter Nieter und Dr. Gerhard Neiber. Der Zeuge Berger war zur Tatzeit als Abwehroffizier des MfS im Range eines Hauptmannes im Grenzregiment 33 tätig; der Zeuge Nieter war seinerzeit stellvertretender Leiter der Militärabwehr der DDR im Range eines Obersten und als solcher fur alle Grenztruppen zuständig; der Zeuge Dr. Neiber war seinerzeit stellvertretender Minister für Staatssicherheit im Range eines Generalleutnants. Alle drei Zeugen haben übereinstimmend bekundet, daß die zum Dienst bei den Grenztruppen eingezogenen Wehrpflichtigen einer besonderen Sicherheitsüberprüfung durch das MfS unterzogen {86} wurden; wer sogenannte Westkontakte hatte, als charakterlich schwach eingestuft war oder sonst als unzuverlässig galt, wurde nach ihren übereinstimmenden Bekundungen nicht bei den Grenztruppen, sondern in anderen Truppenteilen eingesetzt. Derartige Sicherheitsüberprüfungen fanden nach den Bekundungen dieser Zeugen routinemäßig auch später während der Dienstleistung bei den Grenztruppen statt, weil man an der Grenze nur besonders zuverlässige und regimetreue Soldaten einsetzen und eventuellen Fahnenfluchten bereits im Vorfeld entgegenwirken wollte. Traten später Probleme auf, wurden die Soldaten vom Grenzdienst abgezogen und in andere Einheiten versetzt. An der Richtigkeit dieser Angaben bestehen keine Zweifel; denn es ist offenkundig, daß die Verantwortlichen nur zuverlässige Leute für den Grenzschutz einsetzen wollten. Daß alle Angeklagten entweder beim Ausbildungsregiment, spätestens aber bei Dienstantritt im Grenzregiment 33 gefragt wurden, ob sie notfalls die Schußwaffe gegen Flüchtlinge einsetzen würden, beruht, soweit es die Angeklagten K. und Sch. betrifft, auf deren übereinstimmenden Angaben; S. räumt ein, befragt worden zu sein, ob er notfalls auf Fahnenflüchtige schießen würde. Der Angeklagte He. konnte sich an {87} eine derartige Frage nicht erinnern. Daß jedoch generell alle zu den Grenztruppen eingezogenen Wehrpflichtigen vor Antritt des Grenzdienstes entsprechend befragt wurden, beruht auf den entsprechenden übereinstimmenden glaubhaften Bekundungen der Zeugen Nieter, Berger, Walter Schulze, Erhard Ke. und Alexander Ha. Der Zeuge Schulze war seinerzeit im Range eines Obersten Kommandeur des Grenzregiments 33; der Zeuge Ke. war seinerzeit als Hauptfeldwebel in der 1. Kompanie des Grenzregiments 33 tätig; der Zeuge H. war seinerzeit Unterleutnant und Zugführer in

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der 1. Kompanie des Grenzregiments 33. Nach den Bekundungen des Zeugen Schulze gab es für die Wehrpflichtigen sogar die Möglichkeit, den Dienst bei den Grenztruppen generell abzulehnen. Wenn dies bei der Musterung oder später beim Erstgespräch bei den Grenztruppen geäußert worden sei, seien die Soldaten in andere Einheiten gekommen, ohne daß es deshalb zu Disziplinarmaßnahmen gegen sie gekommen sei. {88} Eine Bestätigung dafür, daß die Grenzsoldaten vor ihrem Eintritt in das Grenzregiment 33 danach befragt worden sind, ob sie bereit sind, notfalls die Schußwaffe anzuwenden, findet sich auch in dem von dem Zeugen Schulze vorgelegten Vordruck „Ausspracheprotokoll mit ...", welches beim Eintritt eines Grenzsoldaten in das Grenzregiment 33 nach der obligatorischen Aussprache mit diesem ausgefüllt wurde. Dieser Vordruck enthält die Rubrik: „Einstellung zum Einsatz der Schußwaffe". Daß den zu den Grenztruppen eingezogenen Wehrpflichtigen, die bei der genannten Befragung erklärten, von der Schußwaffe keinen Gebrauch machen zu wollen, keine schwerwiegenden Nachteile oder gar strafrechtliche Konsequenzen drohten, sondern sie dann lediglich ins Hinterland, in den Innendienst oder in andere Einheiten versetzt wurden, folgt aus der Behandlung des Angeklagten K. sowie den übereinstimmenden glaubhaften Bekundungen der Zeugen Ke., Berger, Schulze, Nieter und Dr. Neiber. Der Angeklagte K. hat sich nach seiner eigenen Einlassung anfänglich geweigert, die Schußwaffe anzuwenden, und wurde daraufhin lediglich zum Küchendienst eingesetzt. Die aufgeführten Zeugen haben übereinstim-{89}mend und glaubhaft bekundet, daß den Soldaten, die sich weigerten, die Schußwaffe einzusetzen, nichts weiter passiert ist, sondern sie lediglich nicht im Grenzdienst, sondern an anderer Stelle eingesetzt wurden, da sie in diesem Falle als Grenzbewacher im Sinne des Grenzregimes als unzuverlässig und unbrauchbar galten. Die Feststellungen zum Fahneneid, den die Angeklagten leisten mußten, beruhen auf der Verlesung der entsprechenden Eidesformel. Die obigen Feststellungen zur allgemeinen militärischen Ausbildung, dem Ablauf des Grenzdienstes, der politischen und ideologischen Indoktrination der Soldaten sowie ihrer Bewaffnung beruhen auf den Einlassungen der Angeklagten und den Bekundungen der Zeugen Schulze, Ke. und Ronald Fabian. Daß die Grenzsoldaten auf ihren Stuben von dem MfS bespitzelt wurden, haben die Angeklagten übereinstimmend geschildert. Ihre Angaben sind von dem Zeugen HansJoachim Mühlmann, der im Range eines Majors bei der Militärabwehr im Grenzregiment 33 tätig war, bestätigt worden, wonach auf etwa sechzehn Soldaten ein Mitarbei{90}ter des MfS kam, der sogenannte „Stimmungsberichte" über die Truppe verfaßte und als „Quelle" bezeichnet wurde. Daß es gleichwohl unter den Soldaten zu Diskussionen, z.B. über den Schußwaffengebrauch, kam, haben die Angeklagten übereinstimmend geschildert; denn hiernach sei unter den Soldaten der Befehl, fluchtunfähig zu schießen, dahin interpretiert worden, daß man übereingekommen sei, auf die Füße bzw. auf die Beine der Flüchtlinge zu schießen. Dies wird bestätigt durch die glaubhaften Bekundungen des Zeugen Fabian, wonach die zum Grenzdienst einberufenen Wehrpflichtigen etwa ab 1987 zunehmend kritischer wurden und Fragen nach dem Sinn und Zweck der Schußwaffenanwendung an der Grenze stellten, so daß es verstärkter Indoktrination bedurfte, um kritischen Einstellungen entgegenzuwirken.

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Daß man in der Truppe heimlich westliche Rundfunkstationen mit Transistorradios empfing, haben die als Zeugen gehörten Grenzsoldaten Uwe Kn. und Mario W., die gleichfalls in der 1. Kompanie des Grenzregiments 33 gedient haben, übereinstimmend glaubhaft bekundet. Die Angeklagten S. und He. haben im übrigen eingeräumt, zumindest vor der Tat westliche Rundfunk- und {91} Fernsehsender empfangen zu haben. Daß die Soldaten bestrebt waren, den Grenzdienst „mit weißen Handschuhen", d.h. ohne Festnahme eines Flüchtlings oder gar Schußwaffengebrauch zu beenden, haben alle Angeklagten übereinstimmend geschildert. Diese Einstellung der Soldaten ist von dem Zeugen Rn. bestätigt und als allgemein vorherrschende Auffassung im Grenzregiment 33 bezeichnet worden. Die Feststellungen über die Grenzausbildung beruhen auf den Einlassungen der Angeklagten, die diese übereinstimmend so wie oben festgestellt geschildert haben. Die Feststellungen zur täglichen sogenannten „Vergatterung" beruhen auf den entsprechenden Angaben der Angeklagten, den glaubhaften Bekundungen der Zeugen H., W., Ke., S. (Grenzsoldat im Grenzregiment 33), Fabian und Schulze sowie der Verlesung des sogenannten „Vergatterungstextes". Nach den Bekundungen des Zeugen Fabian hat dieser die „Vergatterung" zu Beginn des Dienstes am 5. Februar 1989 selbst vorgenommen; hierbei hat er seinen Soldaten nichts über den Inhalt der Schußwaffengebrauchsbestimmungen gesagt, sondern nur auf diese verwiesen; eine Einschränkung des Schußwaffenge-{92}brauchs habe es an diesem Tage nicht gegeben. Die obigen Feststellungen zur Schießausbildung der Angeklagten beruhen auf ihren eigenen Einlassungen, ebenso die Feststellungen zu ihren Schießleistungen. Die Zeugen Schulze und Fabian haben die Schießausbildung und Schießübungen in gleicher Weise glaubhaft geschildert. Daß die Maschinenpistole Kalaschnikow, Kai. 7,62 mm, bei Einzelfeuer sehr genau schießt, bei Dauerfeuer dagegen nach oben rechts wegzieht und eine starke Streuung hat, beruht auf dem überzeugenden, in sich widerspruchsfreien, vom Gericht durch Inaugenscheinnahme der Zielscheiben überprüften Ausführungen des Schußwaffensachverständigen PHK Kutschker von der PTU Berlin, den glaubhaften Bekundungen der Zeugen Fabian und Schulze sowie der Einlassung des Angeklagten K. Der Sachverständige PHK Kutschker hat im Auftrage des Gerichts Schießversuche zur Treffsicherheit der Maschinenpistole Kalaschnikow, Kai. 7,62 mm, unter verschiedenen Schießbedingungen durchführen lassen und diese überwacht und ausgewertet, um die Entfernung der Abweichung {93} der Schüsse vom angewählten Ziel zu ermitteln. Hierbei wurden gut erhaltene Maschinenpistolen Kalaschnikow, Kai. 7,62 mm, aus der Produktion und den Beständen der ehemaligen DDR sowie Munition des Kalibers 7,62 χ 39 mm verwendet. Um eine breite Basis für die Auswertung zu erlangen und zufallsbedingte Ergebnisse weitgehend auszuschalten, wurden statt eines Schützen drei Beamte einer Einsatzbereitschaft der Berliner Polizei als Schützen herangezogen, die ca. 20 bis 25 Jahre alt, gute Schützen, aber nicht Mitglied in einem Schießsportverein oder Präzisionsschützen waren. Vor dem Versuchsschießen wurden die Schützen in die Bedienung der Maschinenpistole eingewiesen und hatten Gelegenheit, Probeschüsse aus verschiedenen Entfernungen und in verschiedenen Anschlagarten, unter anderem auch mit aufgelegter Waffe am Anschußtisch, abzugeben. Die Schießversuche fanden in einer Schießhalle mit gedeckten Schießbahnen bis zu 200 Meter und künstlicher Be-

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leuchtung statt. Für jede Übung wurden neue numerierte Schießscheiben verwendet. Das jeweilige Trefferergebnis wurde auf Protokollblättern mit jeweils der gleichen Nummer ausgewertet. Es wurden zwei Gruppen von Schießversuchen durchgeführt, nämlich mit Einzelund mit Dauerfeuer. {94} Beim Einzelfeuer knieten die Schützen nieder, lehnten die Waffe an der Schulter an, stützten den Arm mit der Waffe auf Oberschenkel oder Knie ab und schössen aus Entfernungen von 36,5 Meter, 37,5 Meter, 150 Meter und 190 Meter auf Ringscheiben mit einem Kreisdurchmesser von 120 Zentimeter und einem Spiegeldurchmesser von 30 Zentimeter. Bei den Schußentfernungen von 36,5 Meter und 37,5 Meter wurden bei sämtlichen 54 abgegebenen Schüssen die Spiegel der Zielscheiben immer getroffen. Da jeweils der Mittelpunkt angezielt wurde, bedeutet das, daß die maximale Abweichung nach oben nicht mehr als 15 cm betrug. Dies läßt zur Überzeugung der Kammer den Schluß zu, daß bei Einzelfeuer auf ein entsprechend großes Ziel und bei einer Entfernung von ca. 35 bis 40 Meter zumindest eine Abweichung nach oben von mehr als 30 cm nicht in Betracht kommt. Bei Einzelfeuer und einer Entfernung von 150 Meter wurde der Spiegel der Zielscheiben nicht mehr sicher getroffen; die Treffer aller 27 Schüsse lagen jedoch innerhalb der Ringe des 120 Zentimeter-Kreises; die größte gemessene Trefferstreuung betrug über 59 Zentimeter, die größte Abweichung nach oben 36 cm. {95} Bei 190 Meter Entfernung und Einzelfeuer traten wesentlich schlechtere Trefferergebnisse und die ersten Fehlschüsse auf. Von 27 abgegebenen Schüssen wurde die Zielscheibe (120 χ 120 cm) nur 21 mal getroffen. Bei der zweiten Übungsserie, bei der mit Dauerfeuer geschossen wurde, wurde unter folgenden Bedingungen geschossen: Die Schützen rannten etwa 15 Meter, stoppten und schössen mit an der Schulter angelehnter Waffe in vier bis fünf Feuerstößen insgesamt jeweils 13 Schuß auf die 150 Meter entfernten Scheiben. Hier wurden bei den insgesamt 39 Schüssen nur noch insgesamt sechs Scheibentreffer erzielt, davon lediglich drei innerhalb der Ringe. Alle drei Schützen tätigten Fehlschüsse, bei denen der Fußboden, die rechte Seitenwand und/oder die Decke des Schießstandes getroffen wurden, so daß um weitere Beschädigungen der Schießhalle zu vermeiden - davon abgesehen wurde, aus 190 Meter Entfernung zu schießen. Diese Ergebnisse belegen zur Überzeugung der Kammer, daß bei Dauerfeuer und einer Entfernung von 150 Metern unter den gegebenen Bedingungen von einer kontrollierten Schußabgabe nicht mehr gesprochen werden kann. {96} Bei einem ergänzenden Probeschießen mit Dauerfeuer unter den oben angegebenen Bedingungen, jedoch aus Entfernungen von 70 Meter und 100 Meter wurden folgende Ergebnisse festgestellt: Es wurde zunächst ein Vorversuch mit Patronen verschiedener Hersteller und unterschiedlichen Alters (DDR 1965 bis 1971, UdSSR 1971) durchgeführt. Die hierbei gemessenen Mündungsgeschwindigkeiten dieser Patronen von 714 m/sec bis 719 m/sec entsprachen den Sollwerten. Da sich weiterhin beim Schießen mit aufgelegten Waffen und einer Zielentfernung von 100 Meter bei den verschiedenen Munitionsarten keine auffälligen Treffpunktabweichungen ergaben, konnte davon ausgegangen werden, daß

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die im Frühjahr 1989 verwendete DDR-Munition in ihrem außenballistischen Verhalten den bei den Versuchen verwendeten Patronen entsprochen hätte. Zwar nimmt mit zunehmender Kälte die Geschoßgeschwindigkeit ab, jedoch sind diese Abweichungen so gering, daß sie keine praktische Auswirkung haben. Um eine breitere Auswertungsbasis zu erlangen und zufallsbedingte Ergebnisse weitgehend auszuschalten, wurden beide Übungen (70 Meter und 100 Meter Zielentfernung) von den Schützen jeweils zweimal geschossen. Zwei der drei Schützen hatten bereits die Erstversuche durchgeführt. {97} Bei den zwölf geschossenen Übungen wurden (per Dauerfeuer) insgesamt 156 Schüsse abgefeuert, wovon lediglich 54 die Scheiben, 46 den Ringkreis und neun den Spiegel trafen. Hierbei war aber davon auszugehen, daß unter den vorgegebenen Bedingungen bei der Abgabe von Dauerfeuer jeweils nur der erste Schuß eines Feuerstoßes gezielt verschossen wird, weil anschließend die Waffe nach rechts oben verzogen wird. Die Maschinenpistole Kalaschnikow, Kai. 7,62 mm, wandert nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen PHK Kutschker bei Dauerfeuer schräg nach oben rechts aus, so daß bereits beim zweiten Schuß auf mittlere Entfernung die Scheibe nicht mehr getroffen wurde. Versuchte ein Schütze in Kenntnis dieses Umstandes, die Waffe krampfhaft nach unten im Ziel zu halten, kam es zu Treffern im Boden des Schießstandes, die teilweise als Abpraller dennoch die Zielscheibe trafen. Bei einer Zielentfernung von 70 m betrug die Abweichung (Streuung) bereits über 6 m. Bei Vergrößerung der Zielentfernung von 70 m auf 100 m nahm die Trefferstreuung naturgemäß zu. Erkennbar wurde, daß die Trefferergebnisse des jeweils ersten Schusses eines Feuerstoßes aus 70 m bzw. 100 m Entfernung deutlich schlechter waren, als bei Abgabe von Einzelschüssen auf eine Entfernung von 150 m, wobei nicht feststellbar war, {98} ob dies auf das vorangegangene Anlaufen der Schützen, auf die andere Schießhaltung (kniend) oder auf sonstige Ursachen zurückzuführen war. Diese Schießergebnisse stellen zur Überzeugung der Kammer keine absoluten Werte dar, weil z.B. durch die Auswahl anderer Schützen oder bei veränderten Umfeldbedingungen (z.B. offenes Gelände, unterschiedliche Beleuchtungsverhältnisse) abweichende Ergebnisse zu erwarten und die konkreten, in der Tatnacht herrschenden Bedingungen (z.B. Erregung der Schützen) nicht rekonstruierbar sind. Die Ergebnisse lassen aber einen Trend erkennen, der im übrigen durch den Angeklagten K. und die Zeugen Fabian und Schulze bestätigt worden ist. Der Angeklagte K. hat selbst angegeben, daß die Maschinenpistole Kalaschnikow Kai. 7,62 mm bei Dauerfeuer nach rechts oben auswandert. Dies ist von dem Zeugen Fabian bestätigt worden, nach dessen glaubhaften Bekundungen mit der Waffe bei Dauerfeuer und einer Zieleinstellung auf bis 300 m alles bis zu einer Höhe von 170 cm getroffen wird. Nach den Bekundungen des Zeugen Fabian war es praxisfern, zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen auf die Beine zu zielen, weil die Maschinenpistole Kalaschnikow bei Dauerfeuer eine sehr große Streuung hat und in der Regel davon auszugehen war, daß {99} mit Dauerfeuer geschossen wurde. Auch der Zeuge Schulze hat bestätigt, daß die Waffe bei Dauerfeuer nach oben rechts wegwandert. Daß dem Angeklagten K., der sich selbst als sehr guter Schütze bezeichnet hat, die große Streuung der Waffe bei Dauerfeuer zur Tatzeit bekannt war, folgt zur Überzeugung der Kammer aus seiner Schießausbildung und dem Umstand, daß er das Hochziehen der Waffe nach oben rechts selbst bestätigt hat. Das war ihm auch bei Abgabe der

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Schüsse bewußt; denn er hatte - wie er bekundet hat - Angst, daß diese über den 3 m hohen Metallgitterzaun nach Berlin-West fliegen könnten. Die obigen Feststellungen zum Schußwaffengebrauch beruhen auf den Einlassungen der Angeklagten sowie auf den glaubhaften Bekundungen der Zeugen H., Ha., Kn., W., S., Ke., Fabian, Schulze und Berger. Die Angeklagten haben die ihnen erteilten Weisungen hinsichtlich des Schußwaffengebrauchs an der Grenze so wie oben festgestellt im wesentlichen übereinstimmend geschildert. Ihre Einlassungen sind von den übrigen oben aufgeführten Zeugen in den wesentlichen Punkten bestätigt worden. Bis auf den Zeugen Schulze haben die Zeugen {100} übereinstimmend bekundet, daß eine gründliche Schulung der Grenzsoldaten an den Schußwaffengebrauchsbestimmungen nicht erfolgt ist, sondern daß die gesetzlichen Bestimmungen nur am Rande erwähnt wurden. Lediglich der Zeuge Schulze hat bekundet, die Ausbildung sei auf der Grundlage der §§ 26, 27 Grenzgesetz erfolgt, ohne allerdings näher darzulegen, wie gründlich eine Schulung an diesen Vorschriften stattgefunden hat; er hat auch bestritten, seinen Soldaten geraten zu haben, bei einem Einzelflüchtling einen „Schatten" gesehen zu haben. Die Kammer ist aufgrund der insoweit entgegenstehenden übereinstimmenden Bekundungen der als Zeugen vernommenen Soldaten überzeugt, daß der Zeuge Schulze insoweit, um sich nicht selbst zu belasten, nicht die Wahrheit gesagt hat. Insbesondere der Kompaniechef Fabian hat eindrucksvoll und mit großer Ehrlichkeit bekundet, daß selbst bei den Offizieren Unklarheit darüber bestand, wann und wie geschossen werden durfte oder mußte, und daß bei konkreten diesbezüglichen Nachfragen beim Regimentskommandeur keine konkreten Antworten zu erlangen waren. Nach den Bekundungen des Zeugen Fabian gab es nach 1988 oft neue Weisungen zum Schußwaffengebrauch. Grundlage seien die §§ 26, 27 Grenzgesetz gewesen; der Gesetzestext habe von {101} jedem eingesehen werden können. Hiernach habe die Schußwaffe u.a. bei einer Gruppenflucht, d.h. einer Flucht von mehr als einer Person, als letztes Mittel angewendet werden dürfen. Allerdings seien auch Schützen belobigt und nicht etwa zur Verantwortung gezogen worden, wenn sie den Grenzdurchbruch eines Einzelflüchtlings mit der Schußwaffe verhindert hatten. Oberster Grundsatz sei gewesen, Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, weil der Regimentskommandeur Schulze dies so angeordnet habe. Es habe auch nicht geheißen, es solle geschossen werden, sondern nur, daß Grenzdurchbrüche zu verhindern seien. In diesem Zusammenhange habe Schulze gesagt, daß bei Schußwaffenanwendung auf Einzelflüchtlinge der Soldat eben noch einen Schatten gesehen habe. Er (Fabian) habe den Befehl, Grenzdurchbrüche mit allen Mitteln zu verhindern, an seine Soldaten weitergegeben. Es sei zwar gesagt worden, es solle lediglich fluchtunfähig geschossen und auf die Beine gezielt werden; dies sei jedoch praxisfern gewesen, weil die Maschinenpistole Kalaschnikow bei Dauerfeuer eine sehr große Streuung gehabt habe und man in der Regel habe davon ausgehen müssen, daß mit Dauerfeuer geschossen wurde. Diese Bekundungen sind von den Zeugen Kn. und S. glaubhaft bestätigt worden; nach den Bekundungen des Zeugen S. war im Februar 1989 die Schußwaffenanwen{102} dung bei einem Angriff mit schwerer Technik, bei einem Angriff auf das eigene Leben, bei Fahnenflucht und bei Gruppenflucht zugelassen, wobei den Soldaten nicht gesagt worden sei, was eine „Gruppe" sei; es habe auch keiner nachgefragt. Wie mangelhaft die Soldaten an den gesetzlichen Bestimmungen geschult wurden, wird insbe-

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sondere auch durch die Bekundungen des Zeugen W. deutlich, der der Meinung war, eine „Gruppe" sei mehr als zwei Personen. Übereinstimmend haben die genannten Zeugen sowie der Zeuge Wi., ehemals Militärstaatsanwalt in der DDR, glaubhaft bekundet, daß die Schußwaffengebrauchsbestimmungen bei hohen Staatsfeiertagen und Staatsbesuchen stark eingeschränkt waren und zu diesen Anlässen nur bei Angriff auf das eigene Leben und bei Fahnenflucht geschossen werden durfte. Nach den Bekundungen des Zeugen Fabian, der die „Vergatterung" der Angeklagten am Tattage selbst vorgenommen hat, galt am Tattage keine Einschränkung des Schußwaffengebrauchs, da der kurz zuvor im damaligen Ost-Berlin zu Besuch weilende schwedische Ministerpräsident bereits wieder abgereist war. {103} Daß bei Grenzdurchbrüchen im Bereich zweier Postenpaare dasjenige Postenpaar, bei dem Alarm ausgelöst wurde, zur ersten Linie vorlaufen und parallel zum letzten Grenzhindernis Sperrfeuer geschossen werden sollte, hat der ebenfalls in der 1. Kompanie des Grenzregiments 33 als Grenzsoldat dienende Zeuge Kn. bekundet. Die obigen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen von Chris Gueffroy und Christian Gaudian sowie der Planung, Vorbereitung und des Beginns der Ausführung der Flucht beruhen auf den entsprechenden glaubhaften Bekundungen des Zeugen Christian Gaudian, der dies so, wie oben festgestellt, geschildert hat. Der Zeuge Gaudian hat sodann das eigentliche Fluchtgeschehen - mit Ausnahme der Endphase - in der Hauptverhandlung so wie oben festgestellt und im wesentlichen übereinstimmend mit den Angeklagten geschildert. Nach den Bekundungen Gaudians ertönte, nachdem sie bereits im Kraftfahrzeugsperrgraben waren, eine Alarmsirene. Unmittelbar daraufhabe er von links die Rufe: „Halt! Stehenbleiben!" gehört; kurz danach sei sofort von links geschossen worden; Gueffroy und er seien dann aus dem {104} Graben geklettert und unter andauerndem Beschüß, um diesem auszuweichen, nach rechts schräg auf den letzten Grenzzaun zugerannt. Er habe die Schützen schemenhaft erkennen, die Entfernung zu ihnen aber nicht einschätzen können. Ein Versuch, den Zaun mittels des mitgefühlten Wurfankers zu überwinden, sei gescheitert. Am letzten Zaun habe er in Höhe des Körpers bis in Kopfhöhe, etwa 1 bis 3 m in Laufrichtung vor ihm, roten Funkenschlag der in den Zaun einschlagenden Kugeln gesehen. Trotz des Beschusses seien sie weiter nach rechts gerannt; ein Versuch, den Zaun mittels einer „Räuberleiter", bei der Gueffroy der Untermann gewesen sei, zu überwinden, sei mißlungen, weil er (Gaudian) das Gleichgewicht verloren habe und wieder heruntergesprungen sei. Auch ein zweiter, auf gleiche Weise ausgeführter Versuch, den Zaun mittels einer „Räuberleiter" zu überwinden, sei fehlgeschlagen und er (Gaudian) sei erneut zu Boden gesprungen. Zu dieser Zeit sei noch keiner von ihnen von einer Kugel getroffen worden. Nach dem Scheitern der zweiten „Räuberleiter" hätten sie die weitere Flucht aufgegeben und er und Gueffroy hätten regungslos mit Blickrichtung zu den Soldaten am Zaun gestanden und auf ihre Festnahme gewartet. Gueffroy habe mit dem Rücken zum Zaun gestanden, er selbst etwa 1 Vi m von Gueffroy entfernt, etwas schräg versetzt neben ihm, so {105} daß er ihn im Blickfeld gehabt habe; Gueffroys Entfernung zum Zaun habe etwa 1 Vi m betragen, seine eigene Entfernung zum Zaun etwa 2 m, und zwar rechtwinklig, mit der rechten Schulter zum Britzer-Kanal und zum Zaun, so daß rechts von ihm der Zaun und West-Berlin, links Ost-Berlin mit Blickrichtung zu

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den Schützen, gewesen sei. Ihr Standort habe gegenüber der auf der West-Berliner-Seite befindlichen Fabrik gelegen. Es sei weitergeschossen worden, er glaube - von seiner Blickrichtung aus - von rechts. Er habe auch Dauerfeuer wahrgenommen; zum Schluß sei jedoch nur mit Einzelfeuer geschossen worden. Nach der letzten Räuberleiter sei beider Blickrichtung zuletzt zum Postenpunkt Straße 16, entgegengesetzt der Britzer Allee, gewesen. Nach wenigen Augenblicken habe Gueffroy aufgestöhnt, sich an den Bauch gefaßt und sei zusammengesackt; kurz darauf sei auch er (Gaudian) getroffen worden; daß es sich bei seiner Verletzung um eine Schußverletzung gehandelt habe, habe er zunächst gar nicht bemerkt, sondern lediglich gefühlt, daß er am Fuß verletzt worden sei; der gesamte Bereich sei hell erleuchtet gewesen; die Zahl der Schüsse habe seiner Schätzung nach bei etwa 25 gelegen. Er habe noch seinen Ausweis über den Zaun geworfen, um seine Personalien zu verschleiern und die geplante Ausreise seines Stiefvaters nicht zu gefährden. Dann hätten die Grenzsoldaten {106} beide eingekreist, sie festgenommen und abtransportiert. Sie seien zunächst in den Kraftfahrzeugsperrgraben verbracht und dann mit einem Kübelwagen ins Hinterland abtransportiert worden. Dort seien sie durchsucht und mit Decken zugedeckt worden. Etwa nach einer halben Stunde seien sie mit einem Krankenwagen ins Krankenhaus verbracht worden, wo er (Gaudian) ärztlich versorgt worden sei, die gesamte Behandlung sei sehr grob gewesen. Er sei dann inhaftiert und zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Vom Tode Gueffroys habe er erst viel später erfahren. Noch heute habe er in Belastungssituationen Schmerzen in dem verletzten Fuß. Diese in der Hauptverhandlung und bei seiner polizeilichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren und gegenüber dem Zeugen Wi. von der Militärstaatsanwaltschaft der DDR am 3. Juli 1990 abgegebene Schilderung des Geschehensablaufs steht, was seine und Gueffroys Position in der Endphase bei Abgabe des tödlichen Schusses angeht, im Gegensatz zu seinen früheren Angaben in dem gegen ihn damals geführten Strafverfahren. So hat er sowohl in seiner Erstvernehmung noch in der Tatnacht als auch in seiner Vernehmung vom 21. Februar 1989 gegenüber der Untersuchungsabteilung des MfS angegeben, zum Zeitpunkt des letzten Schusses hätten beide in der Position der {107} „Räuberleiter" gestanden, wobei er der Obermann gewesen sei und gerade an die Oberkante des letzten Zaunes habe greifen wollen; Gueffroy habe mit dem Rücken zum Zaun gestanden. Diese in den beiden ersten Vernehmungen gegenüber der Untersuchungsabteilung des MfS abgegebene Darstellung ihrer Position bei Abgabe des tödlichen Schusses als die einer „Räuberleiter" mit Gueffroy als Unter-, Gaudian als Obermann, deckt sich mit den Einlassungen der Angeklagten S., Sch. und He., die diese Position übereinstimmend im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung beschrieben haben; der Angeklagte K., der zuletzt hingefallen war, hat zwar keine direkte „Räuberleiter" gesehen, jedoch ausgesagt, beide Flüchtlinge hätten zuletzt übereinander gestanden. Die Strafkammer ist überzeugt, daß die Erstdarstellung des Zeugen Gaudian und die damit übereinstimmenden Einlassungen der Angeklagten die letzte Position der Flüchtlinge zutreffend beschreiben und ist von einer derartigen Position zur Zeit der Abgabe des letzten Schusses ausgegangen; denn der Zeuge Gaudian hat eine plausible Erklärung dafür, warum er in diesem Punkt seine Darstellung geändert hat, nicht geben können und {108} insbesondere bekundet, er sei bei seinen Vernehmungen durch das MfS nicht

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unter Druck gesetzt worden. Seine Erklärung, das MfS habe keinen besonderen Wert auf die Darstellung der Position der beiden Flüchtlinge im fraglichen Zeitpunkt gelegt, sondern sei vielmehr in erster Linie an der Vorbereitung, Planung und eventuellen Beteiligung weiterer Personen interessiert gewesen, ist zwar nachvollziehbar, macht aber nicht plausibel, warum er, wenn er überhaupt zur Position in der Endphase etwas gesagt hat, eine unrichtige Darstellung gegeben hat. Der Zeuge D., der zur Tatzeit auf der gegenüberliegenden West-Berliner-Seite bei der Firma Jacobs-Kaffee als Wachmann seinen Dienst versah und etwa 40 m, getrennt durch den Britzer-Kanal, vom Ort des Geschehens entfernt war, vermochte zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts nichts beizutragen; nach seinen Bekundungen hörte er zunächst die Warnrufe, sah das Aufsteigen einer roten Leuchtkugel am Hinterlandstor hinter der Mauer und vernahm dann zunächst ein bis zwei Schüsse Einzelfeuer und danach zwei Feuerstöße Dauerfeuer; das weitere Geschehen konnte er indes nicht weiterverfolgen, weil er zu seinem Pförtnerhaus ging und die Polizei alarmierte; als er zurückkam, bemerkte er lediglich mehrere Grenzsoldaten, die im Kreise herumstanden und zu Boden blick-{109}ten; die Flüchtlinge selbst konnte er nicht sehen; erst als nach einiger Zeit ein Geländewagen auftauchte, bemerkte er, daß eine Person dort eingeladen wurde; einen zweiten Flüchtling nahm er nicht wahr. Sonstige unmittelbare Tatzeugen waren nicht vorhanden. Von den Örtlichkeiten hat sich die Kammer durch Inaugenscheinnahme der vom Tatort gefertigten Lichtbilder, die teilweise im Mai 1990, teilweise im Januar 1991 nach weitgehendem Abbau der Grenzsicherungsanlagen angefertigt worden sind, einen hinreichenden eigenen Eindruck verschafft, ergänzt durch die Angaben der Angeklagten und der Zeugen Fabian und KHK G. Die Feststellungen zu den Schußentfernungen K./S. beruhen auf deren Angaben. S. hat die Anfangsentfernung auf mindestens 120 bis 200 m angegeben, K. auf 100 bis 150 m. Später hat er behauptet, daß es auch nur 70 m gewesen sein könnten. Beide haben übereinstimmend angegeben, daß die Schießentfernung rasch größer wurde, weil die Flüchtlinge schräg nach rechts wegliefen, während die Posten rechtwinklig auf den Metallgitterzaun zurannten. {110} Die obigen Feststellungen zum Abtransport der Flüchtlinge beruhen auf den Bekundungen der Zeugen Gaudian, Romanowski, B. und He. Der Zeuge Gaudian hat den Abtransport ins Hinterland und von dort ins Krankenhaus im wesentlichen so wie oben festgestellt geschildert. Der Zeuge Romanowski, damals Major im Grenzregiment 33 und in der Tatnacht im Hinterland zur verdeckten Kontrolle des Ablösungszuges eingesetzt, hat die Durchsuchung der am Boden liegenden Flüchtlinge eingeräumt, jedoch bestritten, Chris Gueffroy dabei grob angefaßt und sich auf ihn gekniet zu haben; er sei dann mit den verletzten Flüchtlingen ins Krankenhaus gefahren. Daß Chris Gueffroy bereits vor dem Abtransport ins Krankenhaus tot war, beruht auf den glaubhaften Bekundungen des Zeugen B., der seinerzeit als Arzt bei den Grenztruppen Dienst tat, Gueffroy noch vor dem Abtransport ins Krankenhaus untersucht und bei ihm keine Lebenszeichen mehr festgestellt und seine Reanimationsversuche wegen des massiven Blutaustritts aus der Brustwunde abgebrochen hat. Der Zeuge He., der seinerzeit in der 1. Grenzkompanie des Grenzregiments 33 stellvertretender Zugführer war, hat bestätigt, daß die Flüchtlinge von ihm mit einem {111} Kübelwagen ins Hinterland gebracht, Chris Gueffroy dort von dem Zeugen Romanowski

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ein zweites Mal durchsucht worden sei und beide Flüchtlinge dann ins Krankenhaus transportiert worden seien. Der sachverständige Zeuge Dr. Lieber hat nach seinen glaubhaften Bekundungen als Arzt im Volkspolizei-Krankenhaus bei der Einlieferung Chris Gueffroys dessen Tod und eine Einschußwunde in der Nähe der linken Brustwarze festgestellt. Der Zeuge Dr. Lieber hat sodann nach seinen Bekundungen die Fußverletzung des Zeugen Gaudian in der oben festgestellten Weise ärztlich versorgt. Von der Verletzung hat sich die Kammer durch Inaugenscheinnahme des Lichtbildes des verletzten Fußes, auf dem noch die Operationsnarbe zu erkennen ist, einen eigenen Eindruck verschafft. Nach den Bekundungen des Zeugen Dr. Lieber waren in dieser Nacht auch Mitarbeiter des MfS im Krankenhaus, die noch in der Tatnacht die Aufzeichnungen im Aufnahmebuch des Aufnahmearztes unkenntlich machten. Daß die Leiche Gueffroys in einen besonderen, abschließbaren Raum verbracht wurde, beruht auf den entsprechenden Bekundungen der seinerzeit als Krankenschwester dort tätigen Zeugin R., die auch bekundet hat, daß die Eintragungen im chirurgischen Ambulanzbuch von einem MfS-Offizier durchgestrichen und zusätzlich überklebt {112} worden seien. Daß auch der Totenschein Chris Gueffroys in der oben beschriebenen Art und Weise verändert worden ist, beruht auf den entsprechenden Bekundungen der als Zeugin gehörten Aufnahmeärztin K. Daß alle Angeklagten nach dem Geschehen bedrückt und niedergeschlagen waren, haben sie selbst übereinstimmend geschildert; dieser Zustand ist von den Zeugen Fabian, Ha. und Schulze bestätigt worden. Die Feststellungen über die Anzahl der von den Angeklagten K., S. und He. jeweils abgegebenen Schüsse beruhen auf ihren eigenen Angaben sowie auf den Bekundungen der Zeugen Fabian und Schulze, die die in den Magazinen der Maschinenpistolen noch vorhandenen Patronen gezählt haben, sowie dem Inhalt der Tagesmeldung und Eintragung im Arbeitsbuch, worüber der Zeuge Wi. berichtet hat, ferner auf dem Inhalt des in Ablichtung verlesenen Dienstbuchs. Das nachfolgende Geschehen (Belobigung durch den Kompaniechef und den Regimentskommandeur, Ablösung vom Grenzdienst, die Einziehung der benutzten Maschinenpistolen, die Auszeichnung der Angeklagten mit Orden, die Gewährung von zwei bis drei Tagen Sonderurlaub und einer {113} Geldprämie von 150 Mark, die Beförderung He.'s zum Gefreiten, das Sprechverbot und spätere Versetzung in andere Einheiten) haben die Angeklagten übereinstimmend so wie oben festgestellt geschildert. Daß die drei benutzten Maschinenpistolen - wie stets bei Schußwaffenanwendung sichergestellt wurden, haben die Zeugen Fabian, Berger und B. bestätigt. Nach Aussage der Zeugen P. und Berger wurden die Waffen später, wie festgestellt, eingezogen und vermutlich vernichtet. Ihr Verbleib ist ungeklärt. Eine Untersuchung der Waffen erfolgte nach Aussage des Zeugen P. nicht. Nach Aussage des Zeugen Fabian wußten alle Grenzsoldaten, daß sie im Falle einer Schußwaffenanwendung versetzt würden. Daß hinterher eine Nachrichtensperre über das gesamte Geschehen verhängt wurde, haben die Zeugen Mühlmann und Kr. übereinstimmend bekundet. Alle Angeklagten haben übereinstimmend angegeben, daß sie zum Schweigen verpflichtet worden seien. {114}

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Daß nach dem Vorfall alle Unterlagen, in denen die Namen der Angeklagten auftauchten, auf Anordnung des MfS vernichtet wurden, haben die Zeugen Fabian, Ha., H., W., Berger und Leonhardt übereinstimmend bekundet, da dies bei Grenzdurchbrüchen mit tödlichem Ausgang infolge Anwendung der Schußwaffe so üblich war. Daß ballistische und kriminaltechnische Untersuchungen nach dem Vorfall nicht stattgefunden haben, hat der damalige Leiter des Kriminaltechnischen Instituts der DDR und Sachverständige für Gerichtsballistik Peters glaubhaft bekundet, da er als Institutsleiter derartiges erfahren hätte. Daß keine Ereignisortuntersuchung durchgeführt und auch keine Projektile oder Geschoßhülsen sichergestellt wurden, haben die Zeugen B., Berger, Lorenz, Be., H., Bü., Mühlmann und Leonhardt übereinstimmend bekundet. Hiernach war es so, daß derartige Untersuchungen lediglich bei gelungenen Grenzdurchbrüchen zur Ermittlung der Identität der Flüchtlinge durchgeführt wurden; bei mißlungenen Fluchtversuchen dagegen wurden nur manchmal Spuren gesichert und teilweise die Vorfallsberichte der {115} Grenztruppen übernommen. Die Spezialkommission des MfS hatte u.a. die Aufgabe, die Personalien von Flüchtlingen zu ermitteln, soweit diese nicht festgenommen werden konnten; es wurden nur die Hintergründe, das Umfeld und eventuelle Mitwisserschaften bei der Flucht zu ermitteln versucht; bei gelungenen Fluchten wurde nur gegen die Flüchtlinge, nicht gegen die Grenzsoldaten ermittelt. Da es im vorliegenden Falle keinen Anlaß gegeben habe, an der Rechtmäßigkeit des Schußwaffengebrauchs zu zweifeln, sei auch nicht ermittelt worden, wer der Todesschütze gewesen sei. Im Mittelpunkt der Untersuchungen des MfS stand stets der versuchte Grenzdurchbruch; weshalb es zur Anwendung der Schußwaffe kam sowie die Umstände der Festnahme wurden von dort aus nicht aufgeklärt. Daß im vorliegenden Fall keine Untersuchung seitens der Militärabwehr stattfand, haben die Zeugen B. und L. übereinstimmend bekundet. Nach den Aussagen der Zeugen L. und B. hat die am Geschehensort anwesende Spezialkommission des MfS lediglich die Informationen der Grenztruppen übernommen, aber keine eigenen kriminaltechnischen Untersuchungen vorgenommen, weil der Grenzdurchbruch mißlungen und die Täter gestellt waren und daher keine Notwendigkeit zu derartigen Untersuchungen bestanden habe. {116} Daß der Angeklagte K. nach der Tat gegenüber dem Angeklagten He. geäußert hat, er hoffe, daß er nicht den tödlichen Schuß abgegeben habe, hat er selbst angegeben; zudem hat der Angeklagte He. diese Äußerung K.'s bestätigt. Die obigen Feststellungen zur Todesursache und zu den Verletzungen von Chris Gueffroy beruhen auf den überzeugenden Ausführungen des Obduzenten Professor Dr. Schmechta, denen das Gericht nach eigener Überprüfung folgt, sowie auf den ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen Professor Dr. Schneider vom Institut für Rechtsmedizin der Freien Universität Berlin und der Inaugenscheinnahme der Lichtbilder von der Leiche Chris Gueffroys. Hiernach steht anhand des kreisrunden Einschußlochs zur Überzeugung der Kammer fest, daß Chris Gueffroy nicht von einem Querschläger oder Abpraller, sondern von einem Direktschuß ins Herz getroffen worden ist, weil anderenfalls die Wundränder infolge eines verformten Geschosses nicht kreisrund gewesen wären. Anhaltspunkte dafür, daß das Geschoß mit der Breitseite oder deformiert in den Körper eingedrungen

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sein könnte, haben beide Sachver-{ 117}ständige übereinstimmend verneint. Der Sachverständige Prof. Dr. Schmechta hat überzeugend ausgeführt, daß ein Geschoß, wäre es beispielsweise zuvor auf einem Stein oder auf gefrorenem Boden abgeprallt, erheblich deformiert oder zerlegt worden wäre. Beide Sachverständige sind auch wegen der unterschiedlichen Schürfungen an der Einschußwunde (1 bis 3 mm) übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, daß das Geschoß den Körper schräg von links vorn nach rechts hinten durchdrungen hat. Die Feststellungen zur Verurteilung Gaudians beruhen auf seinen eigenen Angaben und auf der Verlesung des gegen ihn ergangenen Urteils des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 24. Mai 1989. Die übrigen in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen vermochten zur Sachverhaltsaufklärung nichts beizutragen. Daß der Angeklagte He. den tödlichen Schuß auf Chris Gueffroy abgegeben hat, ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus folgendem: {118} Die Obduktion der Leiche Chris Gueffroys hat ergeben, daß das Geschoß in einer Höhe von 126 cm, gemessen von der Fußsohle, links neben der rechten Brustwarze in den Brustraum eingedrungen ist, den Körper schräg durchschlagen und diesen in einer Höhe von 131 cm, gemessen von der Fußsohle, unterhalb der rechten Achselhöhle verlassen hat. Nach den übereinstimmenden Angaben der Angeklagten S., Sch. und He. sowie den ursprünglichen Angaben des Zeugen Gaudian in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren - der Angeklagte K. hat den fraglichen Moment nicht beobachtet, weil er hingefallen war - stand Chris Gueffroy zum Schluß mit dem Rücken zum Grenzzaun als Untermann einer sogenannten „Räuberleiter", während Gaudian oben stand, als der tödliche Schuß fiel. Auch in der Hauptverhandlung hat der Zeuge Gaudian angegeben, daß Chris Gueffroy zuletzt mit Blickrichtung nach Ost-Berlin stand. Auch der Schußkanal des Fußdurchschusses bei Chris Gueffroy verlief - wie der Herzschuß - von vorn links nach hinten rechts; die Kugel durchschlug nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. Schmechta zuerst die Innenseite des Fußes und trat an der Außenseite wieder aus. {119} Hiernach steht zur Überzeugung der Kammer fest, daß sowohl der Herz- als auch der Fußdurchschuß, aus der Blickrichtung Gueffroys gesehen, von links abgefeuert wurde, und zwar mit ansteigender Flugbahn. Der einzige der drei schießenden Angeklagten, der von links geschossen hat, war der Angeklagte He., und zwar aus kniender Position, was den ansteigenden Schußkanal erklärt. Die Angeklagten K. und S. schössen - aus der Blickrichtung der Flüchtlinge gesehen - von rechts. Auch der Sachverständige Prof. Dr. Schmechta hat ausgeführt, daß aus medizinischer Sicht, wenn Gueffroy mit dem Rücken zum Zaun gestanden hat, beide Schüsse - aus Blickrichtung Gueffroys - von links gekommen sein müssen, wobei der leicht ansteigende Schußkanal davon herrühren könne, daß die Position des Schützen etwas tiefer war oder Gueffroy nicht völlig aufrecht, sondern leicht gebeugt stand. Daß die das Herz Gueffroys treffende tödliche Kugel von den Angeklagten K. oder S. abgefeuert worden sein könnte, ist nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung ausgeschlossen. {120} Dies ergibt sich aus folgendem:

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In der von den Angeklagten He., S. und Sch. sowie übereinstimmend anfangs auch von dem Zeugen Gaudian geschilderten Position Gueffroys am Ende des Geschehens, nämlich mit dem Rücken zum Zaun stehend, kann die tödliche Kugel nicht aus Richtung des Postenpaares S./K. gekommen sein, weil diese von rechts schössen; die Kugel hätte in diesem Fall einen Bogen von fast 360° fliegen müssen, was ausgeschlossen ist. Daß der tödliche Schuß vom Postenpaar S./K. abgegeben wurde, wäre nur dann möglich, wenn der Schußkanal in deren Richtung gezeigt hätte. Dazu hätte sich Gueffroy aber um etwa 135° nach rechts drehen, die Vorderseite seines Körpers hätte also in einem Winkel von etwa 45° zum Metallgitterzaun zeigen müssen. Abgesehen davon, daß eine derartige Position den Angaben der Angeklagten He., S. und Sch. und den anfänglichen, als zutreffend anzusehenden Bekundungen des Zeugen Gaudian völlig widerspricht, hätte, wenn Gaudian die „Räuberleiter" bestiegen hätte, was in der Regel auf der Bauchseite des Untermannes geschieht, über Gueffroy hinweg zurück in den Grenzbereich gelangen müssen, wofür nichts spricht. Auch ist schwer nachvollziehbar, weshalb {121} Gueffroy, der schmal und nicht besonders kräftig war, die „Räuberleiter" in einem Winkel zum Zaun gebildet haben und darauf verzichtet haben sollte, sich dabei voll an den Zaun anzulehnen; eine derart ausgeführte „Räuberleiter" wäre mehr als unsicher und wackelig gewesen. Aus diesem Grunde ist erst recht nicht vorstellbar, daß Gaudian vom Rücken Gueffroys aufgestiegen sein soll; alle Beteiligten haben die „Räuberleiter" so beschrieben, daß Gueffroy mit dem Rücken zum Zaun stand und Gaudian von vorn aufgestiegen ist. Wäre der Aufstieg auf die „Räuberleiter" von hinten erfolgt und hätte Gueffroy im Winkel von ca. 45° gestanden, hätte Gaudian über die Distanz, die durch den Winkel gebildet worden wäre, über Gueffroy hinübergreifen müssen, um sich hochzuziehen; ein derartiges Akrobatenstück unter Beschüß zu wagen, ist aber schlechterdings nicht vorstellbar. Mit der Brustseite angelehnt an den Zaun kann Gueffroy aber nicht gestanden haben, weil dann nach der Lage des Schußkanals die Kugel aus Richtung Berlin-West - durch den Metallgitterzaun hindurch! - hätte kommen müssen. Irgendwelche tatsächlichen Anhaltspunkte für die von dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in seinem Schlußvortrag aufgestellte, durch keinerlei Hinweise erhärtete, vielmehr begründungslos aufgestellte Hypothe-{122}se, Gueffroy könne sich im entscheidenden Moment gedreht haben, haben sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung nicht ergeben. Der Angeklagte He. selbst hat angegeben, Gueffroy habe zuletzt als Untermann der „Räuberleiter" mit dem Rücken zum Zaun gestanden und die Füße des Obermannes hätten sich in Bauchhöhe des Untermannes befunden. Nach alledem hat die Kammer keine Zweifel, daß die tödliche, das Herz Gueffroys treffende Kugel nur von dem einzigen Schützen, der von links schoß, also von dem Angeklagten He., abgegeben werden konnte. Die Verteidigung des Angeklagten He. ist im übrigen an einem der letzten Verhandlungstage selbst nicht davon ausgegangen, daß die tödliche Kugel etwa von dem Postenpaar S./K. abgefeuert worden sein könnte und hat in diesem Zusammenhang die Frage aufgeworfen, ob die tödliche Herzverletzung durch einen Querschläger oder Abpraller verursacht worden sein könnte. Daß die bei Gueffroy vorhandenen Verletzungsspuren hierfür keinerlei Hinweise geben, haben die Sachverständigen Prof. Dr. Schmechta und Prof. Dr. Schneider zur Überzeugung der Kammer, die die Gutachten überprüft und die Lichtbilder der Ein- und Ausschußwunde in Augenschein genommen hat, über-

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einstimmend ausgeführt. Hinzu kommt, daß, wenn der Angeklagte He. auf den Boden gezielt {123} hätte und das Geschoß dort abgeprallt wäre, dieses jedenfalls eine solche Deformierung hätte aufweisen müssen, daß diese sich im Körper markiert hätte und jedenfalls kein kreisrundes Einschußloch entstanden wäre. Im übrigen ist nicht vorstellbar, wie bei der von dem Angeklagten He. selbst angegebenen Entfernung von etwa 35 m bis höchstens 40 m ein abgepralltes Geschoß zu dem festgestellten Einflugwinkel gekommen sein soll. Zum Einflugwinkel ist noch folgendes festzustellen: Geht man davon aus, daß der Ausschußpunkt im Körper Gueffroys - wie feststeht 5 cm höher lag als der Einschußpunkt und unterstellt man einen Schußkanal von etwa 35 cm Länge - Genaueres hierzu konnte nicht festgestellt werden, nur, daß Gueffroy schlankwüchsig war - ergibt sich, wenn man den sich ergebenden Winkel des Schußkanals in Richtung des Schützen verlängert, ein Standpunkt des Schützen, der wesentlich näher als 36 m von Gueffroy entfernt gewesen sein muß. Wenn sich eine Gerade zwischen Schußkanal und in Betracht kommendem Abfeuerungspunkt ergeben soll, muß Gueffroy im Zeitpunkt des Einschlagens des Geschosses leicht nach rechts hinten gebeugt gestanden haben. Hierzu einen Sachverständigen zu hören, war jedoch nicht erforderlich, weil die Absenkung {124} nach hinten maximal knapp 5 cm betragen haben kann. Hätte nämlich die Neigung mehr als 5 cm betragen, hätte der Ausschußpunkt unter dem Niveau des Einschußpunktes gelegen, so daß das Geschoß von oben nach unten hätte fliegen müssen. Hierfür gab es jedoch keinerlei tatsächlichen Anhaltspunkte. Eine Absenkung von maximal knapp 5 cm ist in der Position des Untermannes einer „Räuberleiter" infolge der Gewichtsbelastung durch den Obermann leicht möglich und erklärbar; die Neigung ist auch so gering, daß sie den Beobachtern nicht als Besonderheit hätte auffallen müssen. Auch die Verletzung am rechten Fuß Gueffroys kann nur von He. verursacht worden sein. Der Schußkanal verlief von innen nach außen. Das Postenpaar K./S. befand sich in keinem Zeitpunkt in einer Position, von der aus sie diesen Treffer hätten erzielen können; denn es war nie auf gleicher Höhe mit den Flüchtlingen, vielmehr stets etwas zurück in den Grenzraum versetzt. Aus dieser Position konnten sie den rechten Fuß nie innen treffen. Das wäre allenfalls dann möglich gewesen, wenn Gueffroy bei dem Versuch, den Metallgitterzaun mit Hilfe des Wurfankers oder der ersten Räuberleiter zu überwinden, eine Drehung von 360° vorgenommen hätte. Daß Gueffroy eine solche, für das {125} Gelingen des Vorhabens Völlig überflüssige, nur Zeit kostende Drehung vorgenommen haben soll, hält die Kammer für ausgeschlossen. Deshalb kann die Fußverletzung nur von He. verursacht worden sein, und zwar in dem Moment, als die Flüchtlinge versuchten, mit Hilfe der letzten Räuberleiter zu entkommen. Daß der Angeklagte He. bei Abgabe seiner drei Schüsse, bei denen ein Schuß fehlging, zunächst auf die Füße des Chris Gueffroys, sodann auf dessen Oberkörper gezielt hat, ergibt sich aus folgendem: Aufgrund der Schwere der Verletzung des Brustschusses, der den Herzmuskel zerriß und binnen ganz kurzer Zeit zur Handlungsunfähigkeit und zum Tode Gueffroys führte, steht zur Überzeugung der Kammer fest, daß Gueffroy zuerst in den Fuß getroffen wurde, ähnlich wie Gaudian aber keine Reaktion zeigte und erst infolge des Herzschusses zusammenbrach, der in kurzem zeitlichem Abstand folgte. Nach den Einlassungen der

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Angeklagten wurde das Feuer eingestellt, nachdem Gueffroy zusammengebrochen war, so daß auszuschließen war, daß er erst nach dem Herzschuß in den Fuß getroffen wurde. Daß er nach dem Herzschuß noch hat stehen können, hält die Kammer für ausgeschlossen. {126} Der Angeklagte He. hat selbst angegeben, daß die Lichtverhältnisse gut gewesen seien; er habe Kimme und Korn sehr gut erkennen und daher sehr gut zielen können. Da er im Bereich heller Bogenlampen kniete, ist diese Angabe auch glaubhaft. Es brauchten daher auch nicht, wie von der Verteidigung beantragt, weitere Schießversuche mit einem sogenannten Nachtvisier, d.h. mit phosphoreszierender markierter Kimme und markiertem Korn durchgeführt zu werden. Der Angeklagte He. schoß nach seinen Angaben auch nicht unmittelbar nach dem Rennen, sondern stand einen Augenblick, wie er selbst angegeben hat, sah die Flüchtlinge kommen, die erste „Räuberleiter" scheitern und schoß erst, als sein Postenführer S. ihm den Befehl dazu gab. Der Angeklagte He. war ein guter Schütze und Träger der Schützenschnur. Wie die oben wiedergegebenen Schießversuche mit der Maschinenpistole Kalaschnikow ergeben haben, ist diese bei Einzelfeuer, zumal bei kurzen Entfernungen, eine sehr präzise Waffe; die Abweichung nach oben betrug bei einer Entfernung von 37,5 m maximal 15 cm. Daß er etwa infolge Aufregung gezittert hat und etwa nicht genau habe zielen können, hat der Angeklagte He. selbst nicht behauptet. Seine Einlassung, er habe nur auf die Füße des Untermannes der Räuberleiter {127} gezielt, jedoch nach dem Fußschuß nur versehentlich den Oberkörper Chris Gueffroys im Bereich der Brustwarze getroffen, dies aus einer Entfernung von weniger als 40 m, ist nach Lage der Dinge unmöglich. Der Brustschuß läßt sich nur dadurch erklären, daß He. - entgegen seiner Einlassung - auch auf den Oberkörper Chris Gueffroys gezielt hat, nachdem er nämlich bemerkte, daß die ersten, auf die Fuße Gueffroys gezielten Schüsse keine Wirkung erzielten und die „Räuberleiter" noch immer stand. Die Kammer ist überzeugt, daß He. daraufhin höher, nämlich auf den Oberkörper Gueffroys, zielte, um die Flucht endgültig zu verhindern. Von welchem der Angeklagten die Kugel stammt, die Christian Gaudian in den Fuß traf, konnte in der Hauptverhandlung nicht festgestellt werden.

VIII.

Rechtliche Würdigung

Nach dem festgestellten Sachverhalt war der Angeklagte He. unter Freisprechung im übrigen wegen Totschlags (§§ 212, 213 StGB), der Angeklagte K. wegen zweier tateinheitlich begangener Verbrechen des versuchten Totschlags (§§ 212, 213, 22, 23, 49, 52, 56 StGB) zu verur-{128}teilen; die Angeklagten S. und Sch. waren freizusprechen. Die Strafbarkeit der Angeklagten ist in erster Linie nach dem Tatortrecht der ehemaligen DDR zu beurteilen (§ 2 Abs. 1 StGB). Nach Artikel 3, 8 und 9 des Einigungsvertrages vom 6. September 1990 in Verbindung mit Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1 b und Abschnitt III Nr. 1 und 2 (vgl. BGBl. II vom 28. September 1990 Seiten 890, 892, 954 bis 956) ist - von wenigen Ausnahmen abgesehen - am 3. Oktober 1990 das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland in dem ehemaligen Gebiet der DDR mit den in Artikel 315 bis 315c n.F. EGStGB geregelten Maßgaben in Kraft getreten; zugleich ist das Strafgesetzbuch der DDR - von hier nicht bedeutsamen Ausnahmen abgesehen - außer Kraft getreten. Nach Artikel 315 EGStGB in der Fassung

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des Einigungsvertrages findet auf vor dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik, also vor dem 3. Oktober 1990 in der DDR begangene Taten § 2 StGB mit den in Artikel 315 Abs. 1 bis 3 EGStGB geregelten Maßgaben Anwendung. Die Taten der Angeklagten sind daher zunächst nach dem am Tatort zur Tatzeit geltenden DDR-Strafrecht zu beurteilen (§ 2 Abs. 1 StGB) und sodann zugunsten der Angeklagten an dem inzwischen an seine Stelle getretenen Strafrecht der {129} Bundesrepublik zu messen (§ 2 Abs. 3 StGB). Hierbei ist ein Gesamtvergleich des früheren und des derzeit geltenden Rechts vorzunehmen (vgl. BGH NJW 1991, 1242 und BGH NJW 1991,2496 (2497)). Im vorliegenden Fall war - wie später noch zu erörtern sein wird - davon auszugehen, daß es sich um einen minder schweren Fall des Totschlags im Sinne von § 213 StGB handelt, der eine Strafdrohung von Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und fünf Jahren vorsieht; nach DDR-Recht wäre die Tat als Totschlag im Sinne von § 113 Abs. 1 Nr. 3 StGB/DDR, zu beurteilen gewesen mit einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe (§§ 113, 40 Abs. 1 StGB/DDR), so daß die Strafdrohung des StGB geringer ist und dieses daher zur Anwendung zu kommen hat. Für die einzelnen Angeklagten gilt folgendes:

1.

He.

a) Mit dem aus einer Entfernung unter 40 m in der oben dargelegten Weise gezielten, mit der Maschinenpistole Kalaschnikow mit Einzelfeuer abgegebenen Schuß auf den Oberkörper des am Grenzzaun, mit dem Gesicht ihm zugewandt stehenden Chris Gueffroy hat der Angeklagte {130} He. einen Menschen getötet, ohne Mörder zu sein (§212 StGB). Chris Gueffroy ist an den Folgen dieses das Herz durchschlagenden Schusses binnen weniger Minuten am Ort verstorben. Auch sofortige ärztliche Hilfe hätte den Todeseintritt nicht abwenden können. b) Die Tötung Chris Gueffroys war rechtswidrig; Rechtfertigungsgründe standen dem Angeklagten nicht zur Seite. Der Angeklagte He. kann sich zur Rechtfertigung seines Tuns weder auf §§ 26, 27 Grenzgesetz in Verbindung mit § 213 StGB/DDR noch auf Handeln nach Weisung seiner Vorgesetzten berufen, weil diese Vorschriften und darauf beruhende Weisungen nichtig waren. Nach § 27 Abs. 2 Satz 1 Grenzgesetz war die Schußwaffenanwendung im Grenzdienst gerechtfertigt, wenn sie dazu diente, die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellte oder zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig waren. Der ungesetzliche Grenzübertritt (§213 StGB/DDR) war {131} jedoch nur in schweren Fällen, also insbesondere unter den qualifizierenden Merkmalen des § 213 Abs. 3 StGB/DDR, als Verbrechen einzuordnen und zwar dann, wenn nach der konkreten Betrachtungsweise der Richter im Einzelfall auf eine Freiheitsstrafe von über zwei Jahren erkennen würde (vgl. § 1 Abs. 3 StGB/DDR, Brunner NJW 1982, 2479, 2482). Letzteres zu beurteilen war einem Grenzsoldaten im Zeitpunkt des konkreten Schußwaffengebrauchs ohnehin unmöglich. Im vorliegenden Falle lag nach DDR-Recht ein schwerer Fall des versuchten Grenzübertritts vor, weil die Tat zusam-

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men mit anderen begangen wurde (§ 213 Abs. 3 Nr. 5 StGB/DDR, OGH/DDR 7 10/222) und weil die Tat unter Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden, nämlich unter Benutzung des Wurfankers, erfolgte (§213 Abs. 3 Nr. 2 StGB/DDR). Bei oberflächlicher Lektüre des § 27 Abs. 2 Grenzgesetz, der in Abs. 1 und Abs. 4 und Abs. 5 den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz enthält, könnte der Eindruck entstehen, daß es sich hierbei um eine rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechende Schußwaffengebrauchsregelung handelt, weil der Schußwaffengebrauch in den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland scheinbar ähnlich geregelt ist (z.B. §§ 10, 11, 12 {132} UZwG, §§ 11, 12 UZwG/Berlin, §§ 15, 16, 17 UZwGBw). Bei einer näheren vergleichenden Betrachtung zeigt sich indes, daß dieser Eindruck falsch ist. Im Gegensatz zum DDR-Recht sind in der Bundesrepublik nur wirklich schwerwiegende Delikte als Verbrechen qualifiziert. In der damaligen DDR konnte aber der bloße „ungesetzliche Grenzübertritt" schon dann zum „Verbrechen" werden, wenn er - wie hier - von mindestens zwei Personen gleichzeitig oder, um ein andere Bestimmung mit besonderer Dehnungsfähigkeit zu nennen, - „mit besonderer Intensität" durchgeführt wurde (§213 Abs. 3 Nr. 3 StGB/DDR). In all diesen Fällen durfte geschossen werden; über das Wie sagte das Gesetz nur: „Das Leben von Personen ist nach Möglichkeit zu schonen" (§ 27 Abs. 5 Satz 1 Grenzgesetz). In der zur Tatzeit in der damaligen DDR geübten Rechtspraxis sahen die Schußwaffengebrauchsanordnungen nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung so aus, daß die Grenzsoldaten von ihren Vorgesetzten in einer Art perfider Doppelstrategie beeinflußt wurden. Zum einen wurde den Soldaten bei ihrer - nur sehr dürftig und oberflächlich durchgeführten - Unterrichtung über {133} den Schußwaffengebrauch, wobei zahlreiche der vernommenen Soldaten nur eine ungenaue Vorstellung hatten, gesagt, daß nur fluchtunfähig und auf die Füße geschossen werden sollte. Dabei blieb offen, ob Einzeloder Dauerfeuer zu schießen war. Diese Entscheidung blieb praktisch den Soldaten überlassen. Daneben wurde den Soldaten jedoch wiederholt bei der „Vergatterung" - so der Zeuge Fabian - generell suggeriert, daß kein Flüchtling durchkommen dürfe und ein „Grenzdurchbruch" auf jeden Fall verhindert werden müsse. So mußte und konnte bei vielen Soldaten der Eindruck entstehen, daß ein toter Flüchtling allemal besser sei als ein entkommener Flüchtling mit der Folge, daß ihre Hemmschwelle, mit der Maschinenpistole auf unbewaffnete Menschen zu schießen, herabgesetzt war. Daß dies seitens der Vorgesetzten so gewollt war, wird besonders deutlich durch die Aussage des Zeugen Fabian belegt, wonach Soldaten auch dann belobigt wurden, wenn sie nur auf einen einzelnen Flüchtling geschossen hatten, obwohl selbst nach damals geltendem DDR-Recht nicht auf diesen hätte geschossen werden dürfen. In solchen Fällen wurde den Soldaten von vornherein zu verstehen gegeben, man habe dann eben noch einen Schatten gesehen, passieren wegen unbe-{134}rechtigter Schußwaffenanwendung werde ihnen jedenfalls nichts. Daß der Schußwaffeneinsatz letztlich immer als gerechtfertigt angesehen wurde, bestätigt auch der vorliegende Fall; denn eine Untersuchung der Rechtmäßigkeit des Schußwaffeneinsatzes fand überhaupt nicht statt; vielmehr wurden die Angeklagten belobigt und mit Sonderurlaub und Geldprämien ausgezeichnet. Wollte man diese, der damaligen Gesetzeslage und Rechtswirklichkeit in der DDR entsprechende Realität, daß tödliche Schüsse auf Flüchtlinge ohne Überprüfung ihrer Berechtigung akzeptiert wur-

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den, unter Zugrundelegung rechtsstaatlicher Prüfungsmaßstäbe untersuchen, müßte man feststellen, daß auch die Verfassung der DDR in Art. 30 ihren Bürgern den Schutz des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit garantierte (vgl. Grundrechte, Autorenkollektiv E. Poppe, Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik, 1980, Seite 154). Hieraus ist abzuleiten, daß sich ein staatlicher Eingriff in diese Güter im Rahmen eines gesetzlich zulässigen Schußwaffengebrauchs streng am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientieren mußte, wie er - wenn auch unzureichend auch im Grenzgesetz festgelegt ist. Es {135} hätte hiernach, da es sich lediglich um einen Fall des ungesetzlichen Grenzübertritts handelte, wenn überhaupt, allenfalls mit Einzelfeuer auf die Füße geschossen werden dürfen; keinesfalls war jedoch ein gezielter vorsätzlicher Todesschuß erlaubt. Eine solche Auslegung entsprach aber - wie oben ausgeführt - nicht der damals in der DDR herrschenden Rechtsauffassung; Untersuchungen über die Rechtmäßigkeit des Schußwaffeneinsatzes fanden nicht statt; dieser wurde stets für rechtmäßig gehalten, obwohl nach § 27 Abs. 5 Grenzgesetz das Leben von Personen „nach Möglichkeit zu schonen" war. Damit stellt sich die Frage, ob es zu beachtendes „Recht" sein kann, wenn die Erschießung von Menschen, die einen Staat - dessen Machthaber im übrigen durch nichts legitimiert waren - lediglich ohne Erlaubnis verlassen wollen, schlechthin für rechtmäßig erklärt wird. Für die Beantwortung dieser Frage kann es nach Auffassung der Kammer dahinstehen, ob man bereits die in der damaligen DDR geltenden Ausreisebestimmungen, aus welchen Gründen auch immer, für nichtig ansehen muß {136} oder nicht; denn wie es Grünwald, auf den noch einzugehen sein wird und der die Auffassung des Gerichts nicht teilt, im Strafverteidiger 1991, 31, 37 und JZ 1966, 638 zutreffend formuliert, ist das Verbot eine Sache, seine Durchsetzung mittels Schußwaffengebrauchs eine andere, weitaus gravierendere. Bei der Prüfung der Frage, ob es zulässig sein kann, demjenigen, der sich nicht an das Ausreiseverbot halten und - dieses mißachtend - die Grenze überqueren will, mit dem Tode zu bedrohen und notfalls auch zu töten, stellt sich die Frage, ob alles rechtens ist, was formal und durch Auslegung als Recht angesehen worden ist. Hierzu ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung anerkannt, daß es einen Kernbereich des Rechts gibt, den nach dem Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit kein Gesetz und kein obrigkeitlicher Akt antasten darf. Hierzu heißt es in einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1952 (BGHSt 2, 234, 237): {137} „Die Freiheit eines Staates, für seinen Bereich darüber zu bestimmen, was Recht und was Unrecht sein soll, mag noch so weit bemessen werden, sie ist jedoch nicht unbeschränkt. Im Bewußtsein aller zivilisierten Völker besteht bei allen Unterschieden, die die nationalen Rechtsordnungen im einzelnen aufweisen, ein gewisser Kernbereich des Rechts, der nach allgemeiner Rechtsüberzeugung von keinem Gesetz und keiner anderen obrigkeitlichen Maßnahme verletzt werden darf. Er umfaßt bestimmte als unantastbar angesehene Grundsätze des menschlichen Verhaltens, die sich bei allen Kulturvölkern auf dem Boden übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der Zeit herausgebildet haben und die als rechtlich verbindlich gelten, gleichgültig, ob einzelne Vorschriften nationaler Rechtsordnungen es zu gestatten scheinen, sie zu mißachten."

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Ähnliche Ausführungen finden sich in den weiteren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs aus den Jahren 1952 und 1960 (BGHSt 3, 347; 14, 104 und 15, 60). In der letztgenannten Entscheidung heißt es hierzu: {138} „Besonders strenge Anforderungen müssen gestellt werden, wenn es sich um Angriffe gegen das Leben handelt. Denn es entspricht der in allen Kulturnationen herrschenden Rechtsüberzeugung, die später auch in der Konvention zum Schutze der Menschenrechte ihren Niederschlag gefunden hat, daß das Recht des Menschen auf das Leben in erhöhtem Maße geschützt werden muß. Tötungen ohne gerichtliches Urteil sind danach nur zulässig, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergeben."

Auch das Bundesverfassungsgericht erkennt den Satz, daß Gesetze, die in den geschilderten Kernbereich des Rechts eingreifen, nichtig sind, an. In einer Entscheidung aus dem Jahre 1953 (BVerfG 3, 232), deren hier interessierenden Inhalt es im Jahre 1957 (BVerfG 6, 199) beiläufig bekräftigt hat, heißt es: „Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann, daß also, soll die praktische Rechtsübung solchen geschichtlich denkbaren Entwicklungen nicht ungewappnet gegenüberstehen, in äußersten Fällen die Möglichkeit gege-{139}ben sein muß, den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit höher zu werten, als den der Rechtssicherheit, wie er in der Geltung des positiven Gesetzes für die Regel der Fälle zum Ausdruck kommt."

Als Kriterium fur das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalles verweist das Bundesverfassungsgericht auf die Formulierung von Gustav Radbruch (vgl. Radbruch in Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105), wonach ein solcher Fall dann vorliegt, wenn der Widerspruch des positiven Gesetzes zu der Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht hat, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat. Zur Rechtsstaatlichkeit gehört nicht nur die Rechtssicherheit, sondern auch die materielle Gerechtigkeit (BVerfG 25, 284 m.w.N.). Diese Rechtssätze sind zwar aus Anlaß der Verbrechen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes in Deutschland entwickelt worden, die in der Ungeheuerlichkeit ihres Ausmaßes mit dem hier in Rede stehenden Sachverhalt nicht vergleichbar sind. Gleichwohl hat die Kammer keine Bedenken, dieser Rechtsprechung auch im vorliegenden Falle zu folgen; denn der Schutz {140} menschlichen Lebens gilt ganz generell und kann nicht vom Eintritt einer bestimmten Anzahl von Tötungen abhängig sein. Die Erlaubnis und darüber hinaus sogar der den Grenzsoldaten unterschwellig von der Obrigkeit suggerierte Wunsch, Personen, die ohne Erlaubnis das Land verlassen wollen, notfalls, wenn das durch andere Methoden nicht zu verhindern war, zu erschießen, war rechtlich unbeachtlich, weil der Anlaß für das Erschießen, nämlich der bloße Grenzübertritt ohne behördliche Erlaubnis, in einem solch unerträglichen Mißverhältnis zur möglicherweise eintretenden Folge, nämlich dem Tod eines Menschen, steht, daß eine solche Regelung keinen Respekt verdient und ihr der Gehorsam zu verweigern war. Diese Auffassung ist in Rechtsprechung und Literatur weitgehend anerkannt (vgl. etwa OLG Düsseldorf NJW 1983, 1277 und NJW 1979, 58, 62, 63). Hiemach können jedenfalls solche im Tatortrecht vorgesehenen Straffreistellungen, die im krassen Widerspruch zu allgemein anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätzen stehen, eine Bestrafung schwerster Rechtsgutsverletzungen - hier von Tötungsdelikten - nach deutschem Recht nicht hindern. Daß diese im internationalen und interlokalen Strafrecht geltenden

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Grundsätze (vgl. {141} Schönke/Schröder/Eser, StGB, 23. Aufl., Randnummer 56 vor §§ 3-7, LK-Tröndle, 10. Aufl. 1985, Anm. 99 vor § 3; LK-Spendel, 10. Aufl., 1988, Anm. 52 zu § 336; Dreher/Tröndle StGB, 45. Aufl. 1991, Anm. Ii zu § 3 und 7; Eser GA 1991/257 Anm. 77) auch bei der Beurteilung von DDR-Taten nach DDR-Recht durch bundesdeutsche Gerichte nach dem Einigungsvertrag beachtet werden müssen, hält die Kammer für selbstverständlich. Die mit langjährigen Strafandrohungen bewährte Vorschrift über den ungesetzlichen Grenzübertritt (§213 StGB/DDR) sollte die Bevölkerung am Verlassen des sozialistischen Machtbereichs der DDR hindern und damit den Fortbestand des totalitären Herrschaftssystems sichern; wer aus derartig politischen Gründen vorsätzlich einen Menschen tötet, verstößt gegen fundamentale Grundsätze des Rechts und der Menschlichkeit. Kritik an dieser Rechtsauffassung ist im wesentlichen von Grünwald (vgl. JZ 1966, 638 und Strafverteidiger 1991, 37) und von Rittstieg in dessen von der Verteidigung dem Gericht überreichten Gutachten formuliert und von der Verteidigung vorgetragen worden; auch in dem von der Verteidigung vorgetragenen völkerrechtlichen Gutachten von Pepper finden sich Aus-{142} fuhrungen zur Frage der Rechtswidrigkeit. Die hier ins Feld geführten Argumente halten jedoch zur Überzeugung der Kammer einer Nachprüfung nicht stand. Rittstieg führt zunächst - mit Recht - aus, daß das Verbot der Todesstrafe ohne gerichtliches Verfahren zu den allgemein anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätzen gehöre und daß dagegen verstoßen werde, wenn ein mutmaßlicher Rechtsbrecher nicht festgenommen oder an der Flucht gehindert, sondern von den Vollzugsorganen exekutiert werde. Er meint dann allerdings, daß ein solcher Verstoß hier nicht vorliege, weil die Anwendung der Schußwaffe nur die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung sei und ein solches Einschreiten auch nach den Bestimmungen der Bundesrepublik zulässig sei. Dieser Auffassung ist auch Pepper in seinem sich in erster Linie mit völkerrechtlichen Fragen beschäftigenden Gutachten. Er meint sogar, daß die Praktiken und Vorgehensweisen der Grenzsoldaten weltweit den Verhältnissen an den Grenzen anderer Staaten entsprächen. Er beruft sich hierfür auf den Umstand, daß er auf entsprechende Anfragen bei den nationalen Vertretungen bei der UN im wesentlichen positive Ant{143}worten auf seine Fragen, ob die Grenzsicherungsorgane der jeweiligen Länder Waffen trügen oder Zugang zu ihnen hätten und es ihnen gestattet sei, diese Waffen in Übereinstimmung mit festgelegten Regeln oder Verfahrensweisen zu nutzen, erhalten habe. Auch Grünwald (aaO) erkennt an, daß Schußwaffengebrauchsbestimmungen wegen Verstoßes gegen überpositives Recht nichtig sein können, kommt aber zu dem Ergebnis, daß das nicht der Fall sei, weil auch das bundesrepublikanische Recht der Bundesrepublik Deutschland ähnliche Vorschriften enthalte. Diese Auffassungen sind zur Überzeugung der Kammer nicht haltbar. Soweit Pepper meint, aus den Antworten auf seine Fragen auf einen gleichartigen internationalen Gebrauch schließen zu können, bleibt es unerfindlich, wie er zu dieser Schlußfolgerung kommen kann, da er die entscheidende Frage, nämlich die nach den Voraussetzungen für den Schußwaffengebrauch, überhaupt nicht gestellt hat. {144} Rittstieg und Grünwald berufen sich zum Beleg für ihre Auffassung, daß das Recht der Bundesrepublik Deutschland ähnliche Regelungen kenne, auf die für die Vollzugs-

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beamten des Bundes, also Bundesgrenzschutz und Zoll, geltende Vorschrift, wonach im Grenzdienst die Schußwaffe auch gegen Personen gebraucht werden darf, die sich der wiederholten Weisung, zu halten oder die Überprüfung ihrer Person oder der etwa mitgefühlten Beförderungsmittel und Gegenstände zu dulden, entziehen (§ 11 Abs. 1 des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes - UZwG; § 15 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Anwendung und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und zivile Wachpersonen - UZwGBw - ) . Diese Vorschriften regeln aber nur die Bedingungen, unter denen überhaupt geschossen werden darf; sie sagen noch nichts darüber, in welcher Weise die Waffe zu gebrauchen ist. Dies wird in § 12 Abs. 2 UZwG bzw. § 16 Abs. 2 UZwGBw geregelt, den die Autoren nicht erwähnen und wo es heißt: {145} „Der Zweck des Schußwaffengebrauchs darf nur sein, angriffs- oder fluchtunfähig zu machen." Wie man hierin - wie es ein Verteidiger getan hat - eine „Ermächtigung für vorsätzliche Tötungshandlungen" sehen kann, ist schlechthin unerfindlich. Es kann im Gegenteil kein Zweifel daran bestehen, daß die genannten Bestimmungen einen direkt oder bedingt vorsätzlichen Todesschuß nicht erlauben (vgl. Wacke in JZ 1962, 200; Lüderssen in StV 1991, 485). Wäre es anders, wäre im übrigen der Streit um die Frage, ob der sogenannte finale Todesschuß in den Waffengebrauchsbestimmungen zu regeln sei oder nicht, ohne jede Grundlage. Zum Beleg dafür, daß die Regelungen der Bundesrepublik zum Schußwaffengebrauch denen in der damaligen DDR ähnlich seien, berufen sich Grünwald und die Verteidigung auf den vom Bundesgerichtshof im Jahre 1988 entschiedenen sog. Motorradfahrerfall (BGH 35, 379 ff.). Auch dieser Hinweis ist nicht stichhaltig. Dieser Fall lag wie folgt: {146} Zwei mit zwei Personen besetzte Motorräder hatten nachts die Grenze zur Bundesrepublik von Holland aus überquert. Als sie von Zollbeamten überprüft werden sollten, rief einer der beiden Motorradfahrer plötzlich: „Hau ab!", woraufhin beide mit Vollgas davonfuhren. Nach vergeblichen Anrufen und Warnschüssen schoß daraufhin ein Beamter mit Körperverletzungsvorsatz mit einer Maschinenpistole aus einer Entfernung von ca. 100 m auf eines der in der Dunkelheit entschwindenden Motorräder, wobei ein Beifahrer im Rücken getroffen und verletzt wurde. Später hatten die Motorradfahrer unwiderlegt angegeben, sie hätten sich nur deshalb entfernt, weil sie unter Alkoholeinfluß gestanden und den Entzug der Fahrerlaubnis befurchtet hätten. Die Frage eines mit direktem oder bedingtem Tötungsvorsatz abgegebenen Schusses stand überhaupt nicht zur Entscheidung. Vielmehr hatte der Bundesgerichtshof nur zu entscheiden, ob in der gegebenen Situation überhaupt geschossen werden durfte. Er hat dies fur zulässig gehalten, zugleich aber ausgeführt, daß, wenn auf eine Person geschossen werde, dies als besonders schwerer Angriff auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu werten sei und allein {147} der Umstand, daß sich jemand der Kontrolle entziehe, keinesfalls zum Einsatz der Schußwaffe berechtige; vielmehr müsse der Beamte vor dem Schußwaffeneinsatz die in der konkreten Situation auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit und der körperlichen Unversehrtheit der Fliehenden unter sorgfältiger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeneinander abwägen. Mit dieser Entscheidung hat der Bundesgerichtshof eindeutig zu er-

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kennen gegeben, daß der Beamte nicht hätte schießen dürfen, wenn er gewußt hätte, daß die Motorradfahrer sich nur ihrer Verantwortung wegen Fahrens unter Alkoholeinfluß entziehen wollten. Hiernach kann kein Zweifel bestehen, daß die Beamten auch dann nicht hätten schießen dürfen, wenn - soweit dies in Europa überhaupt noch vorstellbar ist - jemandem aus paßrechtlichen oder ausländerpolizeirechtlichen Gründen das Überschreiten der Grenze verboten ist, er es aber dennoch tut. Auch in den Besprechungen dieses Urteils (vgl. Dölling JR 1990, 170; Waechter, StV 1990, 23) ist dieses als Einschränkung des Einsatzes der Schußwaffe gewürdigt worden. {148} Auch der Grundsatz, daß eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde (Art. 103 Abs. 2 GG, Art. 7 EMRK), steht einer Bestrafung hier nicht entgegen. Wenn auch das Bundesverfassungsgericht akzeptiert, daß es schlechthin unbeachtliche Gesetze gibt, kann in diesen Fällen kein Verstoß gegen dieses Gebot oder Verbot vorliegen, weil anderenfalls der Rechtssatz von der Nichtigkeit ins Leere liefe. Ausdrücklich hat das Bundesverfassungsgericht betont, daß in den in Rede stehenden Fällen der Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit höher zu bewerten sei als der der Rechtssicherheit (BVerfG 3/232, vgl. auch BVerfG 25/284). Schließlich steht auch der von der Verteidigung vorgetragene Hinweis auf Artikel 100 GG einer Bestrafung nicht entgegen, weil hier eine andere Qualität von Nichtigkeit von Rechtsvorschriften vorliegt. Es ist etwas anderes, ob zum Beispiel das für Ehegatten geltende Namensrecht gegen Verfassungsrecht verstößt und es bis zu einer Nichtigkeitserklärung durch das Bundesverfassungsgericht zunächst zu respektieren ist oder ob - wie hier - ein Rechtssatz aus geringem {149} Anlaß das vorsätzliche Töten von Menschen erlaubt. Auch die von der Verteidigung vertretene Auffassung, die Bundesrepublik habe mit Abschluß des Grundlagenvertrages vom 21. Dezember 1972 mit der damaligen DDR die hier in Rede stehenden Sachverhalte für rechtens erklärt, ist unzutreffend. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr in seinem Urteil vom 31. Juli 1973 (BVerfG 36, 1 ff.) zum Grundlagenvertrag folgendes ausgeführt: „Schließlich muß klar sein, daß mit dem Vertrag schlechthin unvereinbar ist die gegenwärtige Praxis an der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, also Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl. Insoweit gibt der Vertrag eine zusätzliche Rechtsgrundlage dafür ab, daß die Bundesregierung in Wahrnehmung ihrer grundgesetzlichen Pflicht alles ihr mögliche tut, um diese unmenschlichen Verhältnisse zu ändern und abzubauen." {150}

c) Der Angeklagte He. handelte bei seinem auf den Oberkörper Chris Gueffroys gezielten Schuß schuldhaft und mindestens mit bedingtem Tötungsvorsatz. Der Angeklagte war ein guter Schütze und Träger der Schützenschnur; die Lichtverhältnisse waren nach seinen eigenen Angaben gut, weil die Flüchtlinge zuletzt in den Lichtkegel eines Lichtmastes gelaufen waren; er konnte Kimme und Korn sehr gut erkennen und daher sehr gut zielen. Er schoß aus einer Entfernung von höchstens 39 m mit Einzelfeuer im Knien seitlich angelehnt mit aufgestützter Waffe; bei dieser Entfernung und Einzelfeuer ist die Maschinenpistole Kalaschnikow - wie oben ausgeführt -

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eine sehr präzise Waffe, was der Angeklagte aus seiner Schießausbildung wußte. Er bemerkte, daß seine zunächst auf die Füße Gueffroys gezielten Schüsse keine Wirkung zeigten und die „Räuberleiter" noch immer stand, und die Flucht zu gelingen drohte, so daß er jetzt auf den Oberkörper Gueffroys zielte, um die Flucht endgültig zu verhindern. Der Angeklagte He. schoß wissentlich und willentlich auf Gueffroy und wollte ihn auch in den Oberkörper treffen. Sein Handlungswille, der auf das {151} Treffen gerichtet war, war insoweit unbedingt. Allerdings war ihm nicht nachzuweisen, daß er Gueffroy dabei unbedingt töten wollte; denn es kam ihm nur darauf an, die Flucht Gueffroys und Gaudians zu verhindern. Dennoch handelte er zumindest mit bedingtem Tötungsvorsatz. Als er aus kurzer Entfernung auf den Oberkörper Gueffroys zielte, war er sich im klaren darüber, daß sein Schuß unter Umständen tödlich treffen konnte, und daß es unmöglich war, diese Möglichkeit bei einem gezielten Schuß auf den Oberkörper eines Menschen, wo sich lebenswichtige Organe befinden, auszuschließen. Damit hat er zwangsläufig den als möglich vorgestellten Todeserfolg in Kauf genommen und gebilligt; denn er hat diese unter Umständen unvermeidliche Nebenfolge seiner beabsichtigten Handlung in seinen Willen aufgenommen, ohne deswegen seinen Handlungswillen aufzugeben. Bedingter Vorsatz liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vor, wenn der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und billigt. Die Annahme von Billigung liegt nahe, wenn der Täter sein Vorhaben trotz äußerster Gefährlichkeit durchfuhrt, ohne auf einen glücklichen Ausgang vertrauen zu können, und wenn er es dem Zufall überläßt, ob sich die von ihm {152} erkannte Gefahr verwirklicht oder nicht. So verhielt es sich hier. Auch der Umstand, daß sich der Angeklagte zur Tatzeit in einer gewissen Aufregung befand und zu raschem Handeln gezwungen war, vermag den bedingten Tötungsvorsatz nicht zu beseitigen, weil die in diesem Zusammenhang vom Angeklagten geforderten inneren Vorstellungen keiner langen Überlegungszeit bedurften, sondern sich mehr oder weniger zwangsläufig aus den Entschließungen zu einem bestimmten äußeren Verhalten ergeben. Wer in der geschilderten Art und Weise auf den Oberkörper eines Menschen schießt, kann nicht ernsthaft darauf vertrauen, der als möglich vorausgesehene Todeserfolg werde nicht eintreten. Schießt er dennoch, handelt er mit bedingtem Tötungsvorsatz und nicht etwa nur bewußt fahrlässig. He. hatte auch einen einsichtigen Beweggrund für eine so schwere Tat wie die Tötung eines Menschen, bei der die Hemmschwelle besonders hoch liegt. Er wollte die Flucht, dem Wunsche seiner Vorgesetzen folgend, auf jeden Fall verhindern. Als er bemerkte, daß Schüsse auf die Füße keine Wirkung erzielt hatten, zielte er auf den Oberkörper, weil er einsuggeriert bekommen hatte, daß ein toter Flüchtling allemal besser sei als ein entkommener. {153} Daß auch nach damals geltendem DDR-Recht ein Handeln mit bedingtem Vorsatz strafbar war, ergibt sich aus § 6 Abs. 2 StGB/DDR. Soweit der Angeklagte glaubte, aufgrund des ihm von seinem Postenfuhrer Sch. erteilten Kommandos zum Schießen in Verbindung mit den Schußwaffengebrauchsbestimmungen zur Tat verpflichtet und berechtigt zu sein, irrte er sich über die rechtliche Tragweite des Befehls und der Schußwaffengebrauchsbestimmungen. Dieser Irrtum bezog sich nicht auf tatsächliche Umstände, sondern lag allein auf dem Gebiet des rechtlichen Sollens. Er berührt daher als Verbotsirrtum den Vorsatz nicht, sondern kann nur bei der Frage des Vorliegens eines Schuldausschließungsgrundes eine Rolle spielen.

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Daß der Angeklagte aus niedrigen Beweggründen im Sinne von § 211 StGB gehandelt hat, konnte in der Hauptverhandlung nicht festgestellt werden. d) Ein Schuldausschließungsgrund lag bei dem Angeklagten He. zur Tatzeit nicht vor. {154} Der Angeklagte kann sich hier nicht auf § 258 StGB/DDR berufen. Nach dieser Vorschrift war ein Soldat für eine Handlung, die er in Ausführung des Befehls eines Vorgesetzten beging, strafrechtlich nicht verantwortlich, es sei denn, die Ausführung des Befehls verstieß offensichtlich gegen anerkannte Normen des Völkerrechts oder gegen Strafgesetze. Die Anwendung dieser Vorschrift kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil ein konkreter Tötungsbefehl nicht vorlag. Als „Befehl" im Sinne dieser Vorschrift war allein das Kommando des Postenführers Sch. anzusehen: „Schieß doch!". Von „Erschießen" war hierbei nicht die Rede. Die dem Angeklagten bekannten Schußwaffengebrauchsbestimmungen enthielten keinen unmittelbaren dienstlichen Befehl, sondern gaben als Rechtsnormen bzw. Verwaltungsvorschriften nur die formelle Grundlage zur Erteilung eines militärischen Befehls ab. Alle Angeklagten und die oben aufgeführten Angehörigen der Grenztruppen haben angegeben, daß nach der offiziellen Anweisung nur auf die Füße bzw. fluchtunfähig geschossen werden sollte. Daneben wurde zwar suggeriert, daß kein Flüchtling durchkommen dürfe. Als Befehl zum Erschießen kann das jedoch {155} nicht gewertet werden. Aber selbst wenn man die allgemein ausgesprochene Forderung, keiner dürfe durchkommen, als „Befehl" im Sinne des § 258 StGB/DDR auffassen wollte, wäre das Ergebnis kein anderes. Ein solcher Befehl wäre rechtswidrig und hätte keinen Gehorsam verdient, weil damit zur Begehung von Verbrechen, nämlich der rechtswidrigen und vorsätzlichen Tötung von Menschen, aufgefordert und die Ausführung des Befehls gegen Strafgesetze (§§ 112, 113 StGB/DDR) verstoßen hätte; es ergäbe sich hier die gleiche bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit aufgezeigte Problematik. Auf ein die Strafbarkeit ausschließendes Handeln auf Befehl kann sich der Angeklagte daher nicht berufen. Eine Bestrafung des Angeklagten He. wäre dann nicht möglich, wenn er sich zur Tatzeit in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden hätte. Daß der Angeklagte zur Tatzeit geglaubt hat, daß er das, was er getan hat, tun durfte, sein Handeln also rechtmäßig sei, war ihm nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung nicht zu widerlegen. Er handelte also in einem Verbotsirrtum im Sinne von § 17 StGB. {156} Der Verbotsirrtum des Angeklagten He. war vermeidbar (§ 17 S. 2 StGB). Das tötungsgeeignete Schießen auf Menschen, die lediglich das Gebiet der ehemaligen DDR verlassen wollten, verstößt derart gegen die Normen der Ethik und des menschlichen Zusammenlebens, daß sich, auch unter Berücksichtigung der Indoktrination, Erziehung und Schulung in der ehemaligen DDR, schlechterdings nicht vorstellen läßt, daß sich der Angeklagte unter Berücksichtigung seiner Herkunft, seiner schulischen Bildung und seiner Persönlichkeit bei dem ihm zur Last gelegten Vorgehen gegen die Flüchtenden in einem die Schuld ausschließenden Verbotsirrtum befunden hat. Es ist bei dem Angeklagten nicht davon auszugehen, daß er die wenigen, für das menschliche Zusammenleben unentbehrlichen Grundsätze, die zu dem unantastbaren Grundstock und Kernbereich des Rechts gehören, wie er im Rechtsbewußtsein aller Kulturvölker lebt, nicht habe erkennen können, etwa weil er in ihnen nicht herangebildet wor-

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den wäre. Auch in der ehemaligen DDR wurden Gerechtigkeit und Menschlichkeit als Ideale erläutert und dargestellt. Insofern wurden im allgemeinen ausreichende Vorstellungen von der Basis einer natürlichen Rechtlichkeit gelegt. Daß {157} dem so ist, zeigt auch der Umstand, daß eine erhebliche Vielzahl von Bewohnern der ehemaligen DDR das Vorgehen gegen sog. Grenzverletzer an der Berliner Mauer sowie an der innerdeutschen Grenze für Unrecht hielten. Der Lebensweg des Angeklagten, seine Schulbildung und seine Äußerungen zu den Motiven und Einschätzungen der Konflikte, in denen sich sogenannte Grenzverletzer befanden, zeigen, daß er über die Grundlagen eines normalen Rechtsbewußtseins verfugte und verfugen konnte. Er hatte allen Anlaß, darüber nachzudenken, ob es sein durfte, daß Menschen an der Grenze nur deshalb notfalls erschossen werden dürfen, weil sie die DDR ohne behördliche Erlaubnis verlassen wollten. Er hatte genügend Hinweise, bei deren Überdenkung er zu dem Ergebnis hätte kommen können, daß ein Geschehen, wie es hier zur Beurteilung steht, mit den Wertvorstellungen seiner Umwelt nicht zu vereinbaren war. Bei dieser Prüfung können als Repräsentanten der Umwelt selbstverständlich nicht - wie die Verteidigung meint - die Stützen des Unrechtssystems der damaligen DDR, wie Angehörige des MfS, Richter oder Staatsanwälte, angesehen werden, sondern es kommt vielmehr darauf an, ob das „Staatsvolk" der DDR die in Rede stehenden Geschehensweisen gebilligt hat oder nicht. Diese Überlegungen hatte der Angeklagte auch {158} nicht erst im Zeitpunkt seines Handelns, sondern schon vorher anzustellen; denn das Gewissen ist rechtzeitig zu prüfen, dies um so mehr, als der Angeklagte sich gedanklich mit der möglichen Tatsituation schon lange vor der Tat befassen konnte und auch befaßt hat, wie sich aus der von den Grenzsoldaten in Diskussionen allgemein vertretenen Auffassung, man müsse das Fluchtunfahigkeitsschießen in der Praxis durch Schießen auf die Beine erreichen und dem allgemein unter den Soldaten verbreiteten Streben, aus dem Grenzdienst mit „Weißen Handschuhen" herauszukommen, ergibt. Die Erkenntnis, daß tödliche Schüsse an der Grenze krasses Unrecht waren und in eklatantem Widerspruch zu den allgemein anerkannten Grundsätzen von Recht und Gerechtigkeit standen, hätten bei entsprechender Gewissensanspannung bei den Grenzsoldaten und ihren Vorgesetzten Allgemeingut sein müssen und können. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, daß bei hohen Staatsfeiertagen und Besuchen ausländischer Staatsgäste mit Ausnahme von Fahnenflucht und Notwehr nicht geschossen werden durfte. Hier bestand Anlaß, darüber nachzudenken, warum der Schuß Waffengebrauch in diesen Fällen eigentlich eingeschränkt war; denn welcher {159} Staat reduziert seine Verbrechensbekämpfung und verzichtet darauf, Verbrecher einzufangen und notfalls zu erschießen, nur weil ein ausländischer Staatsgast zu Besuch weilt? Dies konnte nur Hinweis dafür sein, daß die damalige DDR-Führung befürchtete, im Falle der Erschießung eines Flüchtlings an der Grenze von dem Staatsgast zur Rede gestellt zu werden und daß diese Vorfälle vor der Weltöffentlichkeit als Verbrechen angeprangert werden würden. Hinzu kommt, daß der Angeklagte He. - wie die übrigen Angeklagten auch - seine hinterher verliehene Verdienstmedaille und auch seine schon zuvor erworbene Schützenschnur tunlichst in der Öffentlichkeit nicht trug, weil alle befürchteten, sich damit in der Öffentlichkeit zumindest unfreundlichen verbalen Attacken der Bevölkerung auszusetzen und als „Scharfschützen" beschimpft zu werden.

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Daß selbst die damaligen Machthaber in der DDR kein reines Gewissen hatten, ergibt sich auch daraus, daß - wie in derartigen Fällen üblich und den Grenzsoldaten und auch dem Angeklagten He. vor der Tat bekannt - eine generelle Nachrichtensperre über das Geschehen verhängt, den Soldaten Schweigegebot aufer-{160} legt, ihre Waffen eingezogen, die Soldaten vom Grenzdienst versetzt und ihre Namen in den Unterlagen der Grenztruppen gelöscht wurden, um tunlichst alle Spuren zu löschen. Auch der Name des Getöteten wurde nachträglich in den Unterlagen des Krankenhauses beseitigt. Das geschah zwar nach der Tat, belegt aber, daß man tödliche Schüsse auf Flüchtlinge tunlichst vertuschen wollte, weil man wußte, daß die Bevölkerung sie bei Bekanntwerden nicht billigen würde. Natürlich wurde mit diesen Maßnahmen auch bezweckt, zu verhindern, daß westliche Medien über derartige Vorfälle berichteten, das aber gerade deshalb, damit über diese auch die eigene Bevölkerung möglichst nichts erfährt. Der allgemein verbreitete Wunsch der Grenzsoldaten, von den Grenztruppen mit „Weißen Handschuhen" entlassen zu werden, d.h. ohne in eine Situation zu geraten, in der man gegen einen Flüchtling einschreiten mußte, belegt ebenfalls, daß den meisten Grenzsoldaten bei ihrer Aufgabe nicht ganz wohl war, obwohl sie ständiger politischer Indoktrination ausgesetzt waren. Welcher Strafverfolgungsbeamte wünscht sich schon, seinen Dienst versehen zu können, ohne gegen einen Verbrecher einschreiten zu müssen? Auch die offenbar {161} weit verbreitete Angst der Soldaten, daß sie und die Vorfälle in der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter registriert würden, belegt, daß sie und auch der Angeklagte He. genügend Anlaß zum Nachdenken hatten. Die Aufforderung, einen versuchten „Grenzdurchbruch" von mehr als einer Person notfalls auch durch den lebensgefährlichen Einsatz der Maschinenpistole auf jeden Fall zu verhindern, weil eine Flucht von zwei Personen stets auch als ein Angriff auf das Leben der Posten zu werten sei, wie der Angeklagte S. ausgesagt hat, mußte jedem Grenzsoldaten klar machen, daß es hierbei nicht um die Abwägung von Rechtsgütern nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sondern um die Verhinderung der „Republikflucht" auch um den Preis des Lebens der Flüchtlinge ging. Diese Einstellung der Führungsspitze der DDR wird im übrigen eindrucksvoll durch die frühere Installierung der Selbstschußanlagen und Minen dokumentiert, deren Auslösung ohne jegliche Güterabwägung zum Tode des ohne jeden Erschwerungsgrund fliehenden einzelnen DDR-Bürgers fuhren konnte. Auch konnte dem Angeklagten He. nicht verborgen geblieben sein, daß die Grenzsperren ihrem Aufbau nach nur gegen aus Richtung Osten kommende „Grenzverletzer" gerichtet waren. Daß der Angeklagte auch intellektuell in der Lage gewesen {162} wäre, sich aus den ihm bekannten offensichtlichen Umständen ein richtiges Bild über das Unrecht der Schußwaffenanwendung gegenüber unbewaffneten Flüchtlingen zu machen, wird zudem dadurch deutlich, daß er selbst angegeben hat, bis zu seiner Einberufung zu den Grenztruppen von der Rechtswidrigkeit des Erschießens von Menschen an der Grenze überzeugt gewesen zu sein und dies als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen zu haben, da dies sozusagen einem Todesurteil gleichkäme; erst im Laufe der militärischen Ausbildung und Indoktrination im Politunterricht sei er dann anderen Sinnes geworden. Wenn es um die Tötung von Menschen im Interesse der Machterhaltung der Obrigkeit geht, darf man aber im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts sein Gewissen nicht so schnell abschalten. Der Angeklagte He. hätte allen Anlaß dazu gehabt, außerhalb der Armee herumzuhören, ob die Rechtsgemeinschaft der da-

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maligen DDR-Bürger das Erschießen von Menschen an der Grenze im Jahre 1989, ein halbes Jahr vor der sogenannten Wende, fiir rechtens hielt oder nicht. Eine Straflosigkeit des Angeklagten He. wegen Vorliegens eines rechtfertigenden Notstandes im Sinne des § 34 StGB oder eines entschuldigenden Notstandes {163} in Sinne von § 35 StGB ist nicht gegeben, weil die Voraussetzungen hierfür zur Tatzeit nicht vorlagen. Die Anwendung dieser Vorschriften setzt voraus, daß der Täter die ihm angesonnene, mit Strafe bedrohte Handlung begangen hat, um einer ihm sonst drohenden gegenwärtigen Leibes- oder Lebensgefahr zu entgehen. Diesen Bestimmungen liegt der Gedanke der Zumutbarkeit zugrunde. Die Voraussetzungen des Notstandes liegen hier schon deshalb nicht vor, weil die Beweisaufnahme eindeutig ergeben hat, daß die Grenzsoldaten entweder schon im Ausbildungsregiment, auf jeden Fall aber spätestens bei Eintritt in das Grenzregiment 33 gefragt worden sind, ob sie bereit wären, notfalls die Schußwaffe gegen Flüchtlinge einzusetzen; bei Verneinung dieser Frage geschah den Soldaten nichts, außer daß sie nicht an der Grenze, sondern anderweitig eingesetzt wurden, wie am Beispiel des Angeklagten K. geschehen. Der Angeklagte He. hat das somit selbst zu vertreten, daß er in die Situation gekommen ist, in der er gehandelt hat. Daß ein solches Verhalten zu verlangen ist und damit von den Soldaten kein Heroismus erwartet wird, hat der Bundesgerichtshof bereits im Jahre 1965 angedeutet (U. v. 16.3.1965-5 StR 63/65). {164} Anhaltspunkte dafür, daß die Schuldfähigkeit des Angeklagten He. zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB genannten Gründe aufgehoben oder erheblich im Sinne des § 21 StGB herabgesetzt war, haben sich in der Hauptverhandlung nicht ergeben. Der Angeklagte He. war nach alledem wegen mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz begangenen Totschlags zu bestrafen. e) Er war Täter, nicht nur Gehilfe; denn er hat alle Tatbestandsmerkmale des § 212 StGB selbst erfüllt. Er wollte die Tat als eigene und nicht nur als Werkzeug oder Hilfsperson bei fremder Tat mitwirken (vgl. BGH NJW 1963, 355 ff.). Er hatte zwar kein nachweisbares eigenes Tatinteresse, sondern handelte in Erfüllung der von ihm erwarteten Bereitschaft, Flüchtlinge notfalls auch zu erschießen, wenn die Flucht anders nicht zu verhindern war. Allerdings setzte er diese unterschwellige Anweisung nicht sofort in die Tat um, sondern versuchte zunächst, ihren Zweck auf weniger einschneidende Weise, nämlich durch Schießen auf die Füße Chris Gueffroys, zu erreichen und zielte erst {165} auf den Oberkörper, als er sah, daß die „Räuberleiter" noch immer stand. Er mißbilligte andererseits die unterschwellige Anweisung, Flüchtlinge eher zu erschießen als sie durchzulassen, grundsätzlich nicht; denn wäre dies der Fall gewesen, hätte nichts näher gelegen, als beim Schießen das Ziel unauffällig zu verfehlen. Für den Fall, daß die Flucht mit Schüssen auf die Beine nicht zu verhindern war, war er bereit, sie durch gezieltes Schießen auf den Oberkörper des Flüchtlings zu verhindern. Dies wird durch sein Gesamtverhalten beim Schießen deutlich. Der Angeklagte hatte „nur" die Anweisung, zu schießen. Er konnte diesen Befehl ausführen, ohne genau zu zielen; auch wenn er den Befehl befolgte, hatte er für seinen eigenen Willen noch einen Spielraum. Er war somit Täter und nicht nur Gehilfe oder Werkzeug der Obrigkeit. f) Soweit Anklage und Eröffnungsbeschluß dem Angeklagten He. vorwerfen, er habe durch eine weitere selbständige Handlung versucht, Christian Gaudian durch die von

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ihm abgegebenen Schüsse zu töten, war der Angeklagte nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung aus tatsächlichen Gründen freizusprechen; denn er hat mit {166} der Maschinenpistole aus einer Entfernung von weniger als 40 m mit Einzelfeuer schießend unter den oben wiedergegebenen günstigen Schießbedingungen, unter denen ein genaues Zielen für ihn möglich war, lediglich auf Chris Gueffroy, nicht jedoch auf Gaudian gezielt. Bei der Genauigkeit, mit der die Maschinenpistole Kalaschnikow aus dieser kurzen Entfernung bei Einzelfeuer schießt, war dem Angeklagten He. nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit nachzuweisen, daß er bei den auf Gueffroy gezielten Schüssen billigend in Kauf genommen hat, daß auch Gaudian tödlich getroffen werden könnte. Ein - auch nur bedingter - Tötungsvorsatz konnte ihm insoweit nicht nachgewiesen werden, so daß er wegen dieses Tatvorwurfs freizusprechen war.

2.

K.

Der Angeklagte K. war wegen versuchten Totschlags in zwei tateinheitlich begangenen Fällen zu bestrafen. Er schoß aus einer Entfernung von mindestens 100 m zunächst versehentlich mit Dauerfeuer die erste Salve in Richtung der beiden Flüchtlinge; unwiderlegt hatte er {167} den Hebel der Waffe hierbei versehentlich auf Dauerfeuer zu stehen. Daß er bei dieser ersten Salve bereits einen - auch nur bedingten - Tötungsvorsatz hatte, konnte nicht festgestellt werden, da er wegen der versehentlichen Hebeleinstellung mit einer hohen Streuwirkung bei Dauerfeuer auf diese Distanz nicht rechnete. Dies war jedoch von der zweiten Salve an anders; denn jetzt wußte der Angeklagte, daß die Waffe auf Dauerfeuer gestellt war; gleichwohl schoß er weiter, ohne den Hebel auf Einzelfeuer umzustellen. Auch war die Zielentfernung und damit die Streuwirkung inzwischen noch größer geworden, weil er und S. im rechten Winkel auf den letzten Zaun zuliefen, während die Flüchtlinge schräg nach rechts wegliefen, um den Schüssen des Postenpaares S./K. auszuweichen. Die Entfernung zwischen K. und den Flüchtenden hatte sich bei den späteren Feuerstößen auf mindestens 125 m vergrößert. Aus einer solchen Entfernung ist, wie die Schießversuche des Sachverständigen PHK Kutschker eindeutig ergeben haben, ein gezieltes Schießen mit Dauerfeuer mit einer Maschinenpistole Kalaschnikow aber nicht mehr möglich, zumal dann nicht, wenn gerannt, gestoppt und aus dem Schulteranschlag geschossen wird. Die unter diesen Schießbedingungen durchgeführten Versuche haben ergeben, daß bei {168} einer Entfernung von 100 m die Abweichung vom anvisierten Punkt nach jeder Seite bei deutlich über 3 m lag, bei einer Entfernung von 150 m war sie so groß, daß Geschosse in die Decke und in die Seitenwände der geräumigen Schießhalle einschlugen und die Schießversuche abgebrochen werden mußten. Zwar hat der Angeklagte K. unwiderlegt nach unten und etwa 3 bis 4 m hinter die Flüchtenden gezielt. Daß im vorliegenden Falle die Geschosse aber nicht nur hinter den Flüchtenden landeten, wird durch die glaubhafte Bekundung des Zeugen Gaudian belegt, wonach etwa 1 bis 3 m vor ihm in Körperhöhe Geschoßeinschläge im Metallgitterzaun aufblitzten. In dieser Höhe hat auch der Angeklagte He. das Aufblitzen bemerkt, wobei er allerdings die Entfernung der Einschläge von den Flüchtlingen nicht anzugeben vermochte. Auch der Zeuge Fabian hat bestätigt, daß bei Dauerfeuer ein gezieltes Schießen nicht möglich ist. Hiernach kann kein Zweifel daran bestehen, daß der

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Angeklagte K. die Flüchtlinge mit seinem Dauerfeuer in höchste Lebensgefahr brachte und die Streuwirkung der Waffe bei Dauerfeuer aus seiner Schießausbildung - er bezeichnet sich selbst als sehr guten Schützen - kannte. Daß er während des Schießens an diese Streuwirkung gedacht hat, wird durch seine gegenüber der Polizei und in der Hauptverhandlung geäußerte Befürchtung während des {169} Schießens, daß bei Dauerfeuer Geschosse über den 3 m hohen Grenzzaun nach West-Berlin fliegen könnten, wohin zu schießen den Grenzsoldaten verboten war, deutlich. Es ist ausgeschlossen, daß K. angenommen haben kann, bei der Art und Weise seines Schießens werde nichts passieren. Daß er dies auch tatsächlich nicht getan hat, ergibt sich zur Überzeugung der Kammer auch daraus, daß er später gegenüber dem Angeklagten He. die Befürchtung geäußert hat, er könne möglicherweise den tödlichen Schuß abgegeben haben. Wer in der geschilderten Art und Weise mit Dauerfeuer auf Menschen schießt, kann nicht darauf vertrauen, daß nichts passiert. Wenn er dennoch schießt, kann er dies nur tun, wenn er auch einen tödlichen Ausgang zumindest billigend in Kauf nimmt. Daß dem Angeklagten K. ein derartiger Erfolg unerwünscht und es ihm lieber war, er werde nicht eintreten, schließt den bedingten Tötungsvorsatz nicht aus (vgl. BGH Holtz MDR 1989, 305). Da feststeht, daß der tödliche Schuß nicht vom Angeklagten K., sondern vom Angeklagten He. abgegeben wurde, war der Angeklagte nur wegen zweier in Tateinheit begangener Verbrechen des versuchten Totschlags zu bestrafen. {170} Die obigen bei dem Angeklagten He. gemachten Ausführungen zur Rechtswidrigkeit gelten auch für den Angeklagten K. Daß auch der Angeklagte K. sich nicht auf § 258 StGB/DDR berufen kann, ergibt sich aus den oben bei dem Angeklagten He. aufgeführten Gründen, die für K. gleichermaßen gelten. Auch der Angeklagte K. handelte bei Abgabe seiner Feuerstöße auf die beiden Flüchtlinge in einem Verbotsirrtum (§ 17 StGB); denn er glaubte, daß er das, was er getan hat, tun durfte, sein Handeln also rechtmäßig sei. Dieser Verbotsirrtum war für ihn jedoch vermeidbar. Zum einen gelten für ihn die auch fur den Angeklagten He. geltenden oben erörterten Gründe, die ihm Anlaß hätten sein müssen, darüber nachzudenken, ob es rechtens war, Menschen an der Grenze notfalls nur deswegen zu erschießen, weil sie ohne behördliche Erlaubnis die DDR verlassen wollten. Zum anderen kam hinzu, daß der Angeklagte K. auch seiner Persönlichkeit und seinen intellektuellen Fähigkeiten nach dazu in der Lage war, sich ein zutreffendes Bild über das Unrecht der Schußwaffenanwendung gegenüber unbewaffneten Flüchtlingen zu {171} machen und dies zumindest für fragwürdig hielt; dies wird dadurch deutlich, daß er sich anfangs geweigert hat, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen und daraufhin Küchendienst verrichten mußte; nur um dem Spott seiner Kameraden zu entgehen, erklärte er sich schließlich doch zur Anwendung der Schußwaffe bereit. So schnell und nur um sich selbst vor Hänseleien durch Kameraden zu schützen, darf niemand sein Gewissen abschalten. Aus den oben bei dem Angeklagten He. aufgeführten Gründen lag auch bei K. weder ein rechtfertigender noch ein entschuldigender Notstand vor. Auch haben sich bei ihm in der Hauptverhandlung keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß seine Schuldfähigkeit zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB aufgeführten

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Gründe aufgehoben oder erheblich im Sinne des § 21 StGB herabgesetzt gewesen sein könnte. Daß er nach der Tat nervlich stark mitgenommen war und erwog, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben, ist nachvollziehbar, gibt aber in Anbetracht seines bei der Tatausfiihrung gezeigten Verhaltens keinen Anlaß, seine volle Schuldfähigkeit zur Tatzeit in Frage zu stellen. {172} Der Angeklagte K. hat durch seine zeitlich eng zusammenliegenden Feuerstöße auf die räumlich dicht zusammen laufenden bzw. stehenden Flüchtlinge beide gleichzeitig in höchste Lebensgefahr gebracht, insoweit aber nicht zwei selbständige Verbrechen des versuchten Totschlags, sondern nur tateinheitlich einen versuchten Totschlag begangen; insoweit liegt bei natürlicher Betrachtungsweise nur eine Handlung vor; daß mehrere höchstpersönliche Rechtsgüter, nämlich das Leben zweier Menschen, gefährdet wurden, steht dem nicht entgegen (vgl. Dreher/Tröndle, StGB, 45. Auflage, RdNr. 2c vor § 52). Die Tötungshandlung des Angeklagten He. ist dem gleichfalls mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnden Angeklagten K. nicht zuzurechnen; denn beide handelten nicht als Mittäter. Zwar könnte auch nach der vom Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland abweichenden Täter-Teilnehmer-Abgrenzung im StGB/DDR - § 22 Abs. 1 - Mittäterschaft in Betracht kommen, weil auch K. Handlungen begangen hat, die geeignet gewesen sind, den Tötungserfolg unmittelbar herbeizufuhren (OG DDR NJ 1973/177). Mittäterschaft liegt aber nicht vor, weil beide Posten bzw. Postenpaare nicht verabredungs-{ 173} gemäß in der Weise zusammengewirkt haben, daß die Tötungshandlung unmittelbar jeweils durch das Tun der anderen gefördert werden sollte. Vielmehr haben die beiden Posten unabhängig voneinander auf den gleichen Angriffsgegenstand mit dem gleichen Angriffsziel eingewirkt. Sie handelten somit als Nebentäter. Nebentäterschaft hatte auch im Strafrecht der DDR die gleichen Voraussetzungen wie im Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland (vgl. StGB/DDR, Allgemeiner Teil Lehrbuch 1978, Herausgeber: Sektion Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität, Seite 374). Es trifft zwar zu, daß die beiden Postenpaare S./K. und Sch./He. in der Tatnacht aufgrund eines einheitlichen Handlungs- und Einsatzplanes nebeneinander Posten mit dem gemeinsamen Auftrag bezogen hatten, Fluchtversuche notfalls durch Schußwaffeneinsatz zu verhindern und hierbei gegebenenfalls auch zusammenzuwirken, und daß ein gemeinschaftlicher Tatentschluß im Sinne der Mittäterschaft auch dann gegeben sein kann, wenn die Beteiligten oder ein Teil von ihnen sich nicht kennen, sofern sich nur jeder bewußt ist, daß neben ihm noch andere mitwirken und diese vom gleichen Bewußtsein erfüllt sind, d.h. sofern sie alle im bewußten und gewollten Zusammenwirken handeln (vgl. Schön-{174}ke/Schröder, StGB, 22. Auflage 1985, RdNr. 71 zu §25); hierbei genügt, daß die Willensübereinstimmung irgendwie hergestellt wird. Eine besondere Verabredung ist dabei nicht erforderlich. Es gab auch Anweisungen dazu, wie Postenpaare sich zu verhalten hatten, wenn Flüchtlinge einen „Grenzdurchbruch" zwischen zwei benachbarten Postenpaaren versuchten. So mußte das den Flüchtlingen am nächsten befindliche Postenpaar sofort zur letzten Grenzlinie vorlaufen, um den Flüchtlingen den Weg abzuschneiden, während das andere Postenpaar auf dem Kolonnenweg bleiben mußte, um nicht in die Schußlinie des Nachbarpostens zu geraten. Die Annahme einer Mittäterschaft scheitert hier aber daran, daß das jeweils eröffnete Feuer nicht der Unterstützung der Handlung des anderen Postenpaares diente, sondern dies den Auftrag unabhängig vom Einschreiten der anderen unmittelbar erfüllen sollte.

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Es liegt auch keine sukzessive Mittäterschaft vor, die immer dann gegeben ist, wenn jemand in Kenntnis und Billigung des von dem anderen begonnen tatbestandsmäßigen Handelns in das tatbestandsmäßige Geschehen als Mittäter eingreift, wobei der Hinzutretende selbst einen für die Tatbestandsverwirklichung ursächlichen Beitrag leistet (vgl. BGH NStZ 1984, 548, BGH GA 1985/233). Hier wollte der {175} Angeklagte K. bei seinem Schießen nicht den Angeklagten He. bei dessen Schießen unterstützen, sondern selbst unmittelbar einen „Grenzdurchbruch" gemäß den ihm erteilten Weisungen unmittelbar verhindern, unabhängig davon, ob auch das andere Postenpaar schoß; denn jetzt waren die Flüchtlinge in den von dem Postenpaar Sch./He. zu bewachenden Grenzabschnitt gelangt, so daß sich fur dieses Postenpaar, unabhängig davon, was die Nachbarposten taten, die Notwendigkeit zum Eingreifen ergab.

3.

S.

Nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung war der Angeklagte S. freizusprechen, weil ihm nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit ein (bedingter) Tötungsvorsatz nachzuweisen war. Der Angeklagte S. hat aus einer Entfernung zwischen über 100 bis 200 m im Knien, mit an der Schulter angelegter und auf den Beinen abgestützter Waffe, mit Einzelfeuer schießend, insgesamt sechs Schüsse auf die Flüchtlinge abgegeben, wobei er auf deren Füße zielte. Auch er konnte die Visiereinrichtung der Maschinenpisto-{176}le und die Flüchtlinge gut erkennen. Seine eigenen Schießleistungen hat er als gut bis sehr gut bezeichnet. Die Maschinenpistole Kalaschnikow ist unter diesen Schießbedingungen eine sehr genau schießende Waffe. Nach den von dem Sachverständigen PHK Kutschker durchgeführten Schießversuchen betrug die Maximalabweichung bei Einzelfeuer und einer Entfernung von 150 m nach oben 36 cm. Unter diesen Umständen ist schon zweifelhaft, ob durch den Angeklagten S. objektiv eine konkrete Lebensgefahr für die Flüchtlinge heraufbeschworen wurde. Mit Sicherheit läßt das Verhalten des Angeklagten S. jedoch keine Tatsachen erkennen, die für den Nachweis eines bedingten Tötungsvorsatzes ausreichen (vgl. hierzu auch BGHSt 35, 379). Sein Verhalten stellt sich objektiv vielmehr als versuchte Körperverletzung in zwei Fällen (§115 Abs. 1 und 2 StGB/DDR, § 223a Abs. 1 und 2 StGB) dar; denn S. nahm bei seinen auf die Füße der Flüchtenden gezielten Einzelschüssen, zumindest mit bedingtem Vorsatz handelnd, deren Verletzung im Bereich der Füße bzw. Beine billigend in Kauf und schoß gleichwohl. Hier kann zweifelhaft sein, ob das Verhalten des Angeklagten S., welches auf Schüsse auf die Beine abzielte, als rechtswidrig anzusehen ist und ob auch insoweit von einer {177} Nichtigkeit des Grenzgesetzes wegen eines krassen Mißverhältnisses des darin enthaltenen Erlaubnissatzes zur materiellen Gerechtigkeit gesprochen werden muß. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß das mit der Strafdrohung des § 213 StGB/ DDR bewehrte allgemeine Ausreiseverbot für alle Einwohner der damaligen DDR ohne vorherige behördliche Genehmigung, das sogar die bloße Vorbereitung der Ausreise mit hohen Freiheitsstrafen bedrohte (vgl. § 213 Abs. 4 StGB/DDR), keine rechtsstaatlich vertretbare Ordnungsaufgabe erfüllte; noch viel weniger ist ein Verstoß gegen das allgemeine Ausreiseverbot kriminelles Unrecht (vgl. BGH[St] 14, 104, 107). Das Verbot

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hatte vielmehr den alleinigen politischen Zweck, das damalige kommunistische Zwangsregime in der DDR zu stabilisieren und zu fördern. Wer selbständig Anstalten traf, die DDR zu verlassen, wurde allein schon deshalb als politischer Gegner angesehen und verfolgt. Der politische Charakter des Ausreiseverbots wird besonders an der rücksichtslosen Verfolgung bloßer Vorbereitungshandlungen deutlich. Das Vorgehen der damaligen DDR-Machthaber gegen Fluchtwillige stellte keine Verfolgung kriminellen Unrechts, sondern eine Verfolgung aus politischen Gründen dar; denn sie diente nur oder auch dem Zweck, den Bestand und die Sicherheit des totalitären {178} Regimes zu erhalten und seine Entwicklung durch Zwangsmaßnahmen gegen die Einwohner zu fördern; die Verfolgung aus politischen Gründen wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß sie formell im Rahmen des positiven Rechts eines autoritären Zwangsstaates vor sich geht (vgl. BGH[St] 14, 104, 106; Maurach in NJW 1952, 164). Ein sachgerechtes Unterscheidungsmerkmal zwischen der Verfolgung strafbaren Unrechts und einer Verfolgung aus politischen Gründen liegt darin, ob die Verfolgung zum Zwecke des Rechtsgüterschutzes aufgrund einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen übereinstimmenden Ordnungsaufgabe oder zur Förderung eines Zwangsregimes geschieht (vgl. BGH aaO). Das Verbot der sogenannten Republikflucht in der damaligen DDR hatte ausschließlich politische Gründe, weil es sicherstellen sollte, daß die den damaligen Machthabern in der DDR Unterworfenen gegen ihren Willen und unter Verstoß gegen Grundrechte als freie Einzelpersonen zur Aufrechterhaltung des Zwangsregimes beitrugen. Der politische Charakter der Verfolgungsmaßnahmen wegen „Republikflucht" ergibt sich auch daraus, daß sich allgemeine Ausreiseverbote aus solchen Gründen in den Gesetzgebungen freiheitlich-demokratischer Staaten nicht finden, da solche Staaten es nicht nötig haben, Maßnahmen gegen den Verlust ihres Staatsvolkes durch Flucht großer Bevölkerungsteile zu ergreifen, während totalitäre und besonders kommunistisch beherrschte Staaten durch {179} strenge Grenz- und Reisesperren geradezu gekennzeichnet waren (vgl. BGHSt 14, 104, 108). Aus der genannten Entscheidung des Bundesgerichtshofes läßt sich jedoch nichts zur Beantwortung der hier entstehenden Frage herleiten, ob das Grenzgesetz auch insoweit als nichtig anzusehen ist, als es das Schießen auf die Beine erlaubt, und zwar mit der Folge, daß der Grenzposten, der entsprechend handelt, rechtswidrig handelt. Eine solche Frage stellte sich in dem entschiedenen Fall nicht; denn dort ging es um die Frage der Tatbestandsmäßigkeit des Handelns nach § 241a StGB. Die Rechtswidrigkeit ergab sich problemlos aus der Erfüllung des Tatbestands. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann von der Nichtigkeit eines Gesetzes mit der dargelegten Folge nur in „extremen Fällen" gesprochen werden. Es muß daher abgewogen werden, ob das Prinzip der Rechtssicherheit im Hinblick auf die gegebene Rechtsgutverletzung ausnahmsweise hinter dem Erfordernis materieller Gerechtigkeit zurückzutreten hat. Die Kammer ist, auch unter Berücksichtigung des historischen Hintergrundes, der Auffassung, daß das Grenzgesetz, soweit es das Schießen auf die Füße zuläßt, nicht in einem {180} solchen Maße gegen das Erfordernis materieller Gerechtigkeit verstößt, daß das Gebot der Rechtssicherheit und das Prinzip des Art. 103 Abs. 2 GG zurückzutreten haben. Selbst wenn man aber die Rechtswidrigkeit bejahen würde, könnte der Angeklagte S. sich insoweit auf einen Verbotsirrtum (§ 17 StGB) berufen, bei dem ihm nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung nicht nachzuweisen ist, daß dieser für ihn unter Berück-

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sichtigung der oben aufgeführten Kriterien, seiner Persönlichkeitsstruktur, Erziehung und Indoktrination in der DDR, vermeidbar war. Hier muß berücksichtigt werden, daß es auch nach dem Recht der Bundesrepublik - wenn auch unter völlig anderen Grundvoraussetzungen - zulässig sein kann, in ähnlicher Weise auf grenzüberschreitende Personen einzuwirken, wenn sie jedenfalls den äußeren Anschein eines schwerwiegenden Anlasses bieten. Da der Angeklagte S. die mit bedingtem Körperverletzungsvorsatz auf die Füße der Flüchtlinge abgegebenen Schüsse zumindest in einem für ihn nicht vermeidbaren Verbotsirrtum abgefeuert hat, handelte er insoweit ohne Schuld, so daß insoweit eine Bestrafung nicht in Betracht kam. {181}

4.

Sch.

Der Angeklagte Sch. hat selbst nicht geschossen, sondern lediglich seinem Posten, dem Angeklagten He., zweimal durch den Zuruf: „Schieß doch!" den Befehl zum Schießen erteilt. Damit wollte er erreichen, daß He. rasch handelte, da die „Räuberleiter" der Flüchtlinge trotz des Beschusses durch das Postenpaar S./K. noch immer stand und der Zeuge Gaudian als Obermann dieser „Räuberleiter" bereits seine Hände an der Zaunoberkante hatte, so daß seine Flucht jeden Moment zu gelingen drohte. Dies wollte der Angeklagte Sch. durch seine Zurufe an seinen Posten verhindern. Nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung konnte nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, daß der Angeklagte Sch. bei seiner Befehlserteilung an He. damit rechnete, daß dieser auch auf den Oberkörper eines der Flüchtlinge schießen würde und dieses auch billigend in Kauf genommen hat. {182} Der Angeklagte Sch. hat lediglich befohlen, zu schießen, nicht, einen der Flüchtlinge auch zu erschießen. Da die offizielle Anweisung lautete, lediglich fluchtunfähig zu schießen, was die Grenzsoldaten unter sich als Schießen auf die Beine auslegten, war dem Angeklagten Sch. nicht zu widerlegen, daß er bei seiner Befehlserteilung auch hier davon ausging, daß He. auf die Füße oder auf die Beine der Flüchtlinge schießen würde, nicht jedoch einen tödlichen Schuß auf den Oberkörper abgeben würde. Sichere Rückschlüsse auf einen Tötungsvorsatz lassen sich zur Überzeugung der Kammer auch nicht aus seiner Äußerung gegenüber dem Zeugen Gaudian nach dessen Festnahme ziehen, in welcher der Angeklagte ihn als „Schwein" oder „Sau" bezeichnete und ihm mit gezogener Pistole drohte, ihn „abzuknallen", wenn er sich rühre. Dies kann auch als Ausdruck der Erregung und des Entsetzens darüber interpretiert werden, daß die Flüchtlinge durch die Tatsache ihres Fluchtversuchs und dessen Verhinderung mittels Schußwaffeneinsatzes sein angestrebtes Ziel, den Grenzdienst mit „Weißen Handschuhen" durchzustehen, vereitelt hatten. Hiernach kam mangels festzustellenden Tötungsvorsatzes eine Bestrafung des Angeklagten Sch. wegen Anstiftung zum Totschlag (vgl. § 22 StGB/DDR) nicht in Betracht. {183} Sein Verhalten stellt sich vielmehr rechtlich nur als Anstiftung zur Körperverletzung (§§ 115, 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB/DDR, §§ 223a, 26 StGB) dar. Eine Bestrafung wegen dieser Straftat kam jedoch aus den oben bereits bei dem Angeklagten S. erörterten Gründen nicht in Betracht, da die Tat rechtmäßig war, zumindest

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auch Sch. sein Verhalten für rechtmäßig hielt und der insoweit bei ihm bestehende Verbotsirrtum (§ 17 StGB) aus denselben Gründen wie bei dem Angeklagten S. unter Berücksichtigung seiner Persönlichkeitsstruktur und seiner Erziehung und Indoktrination in der DDR unwiderlegbar nicht vermeidbar war.

IX. Strafzumessung Bei der Bemessung der gegen den Angeklagten He. wegen Totschlags und gegen den Angeklagten K. wegen tateinheitlich begangenen versuchten Totschlags in zwei Fällen zu verhängenden Strafen ist die Kammer davon ausgegangen, daß es sich hier bei beiden Taten um minder schwere Fälle des vollendeten bzw. versuchten Totschlags im Sinne des § 213 {184} StGB in Verbindung mit § 113 StGB/DDR handelte; denn die Taten weichen in ihrem gesamten Erscheinungsbild so wesentlich von üblicherweise vorkommenden Fällen des Totschlags bzw. des Totschlagsversuchs ab, daß die Anwendung des Regelstrafrahmens des § 212 StGB unangemessen hart wäre. Daß hier ein „sonst minder schwerer Fall" im Sinne des § 213 StGB vorliegt, ergibt sich aus folgendem: Die Taten der Angeklagten sind vor dem Hintergrund des in der damaligen DDR herrschenden unmenschlichen Zwangssystems zu sehen, das die Angeklagten mit allen Mitteln der Massenpsychologie zu blinder Einseitigkeit und einem beschränkten Weltbild erzogen hat, dem die Angeklagten ihrer Persönlichkeit und Bildung nach nur wenig entgegenzusetzen hatten. Es war hier auch zu berücksichtigen, daß all diejenigen, die zur Deformierung des Rechtsbewußtseins der Grenzsoldaten beigetragen haben, sei es in der Schule, den sogenannten Massenorganisationen oder im Politunterricht beim Militär, dafür ohnehin nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, weil das Gesetz hierfür keinen Straftatbestand kennt. Des weiteren war hier mildernd zu berücksichtigen, daß die Angeklagten in einer außergewöhn-{185Jüchen, sich für sie nie wiederholenden Lebenssituation gehandelt haben. Das allein würde nach Auffassung der Kammer zwar die Anwendung von § 213 StGB nicht rechtfertigen. Es kommt aber hinzu, daß die Angeklagten in einem vermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt haben. Eine Gesamtwürdigung aller dieser Umstände rechtfertigt es daher, die Taten als minder schwere Fälle im Sinne des § 213 StGB zu werten, so daß die Strafe dem Strafrahmen dieser Vorschrift zu entnehmen war. Innerhalb dieses Strafrahmens ist strafmildernd bei beiden Angeklagten berücksichtigt worden, daß sie nicht bestraft sind, den äußeren Sachverhalt im wesentlichen eingeräumt, nur mit bedingtem Vorsatz gehandelt, sich dem langen Verfahren unter fur sie schwierigen Bedingungen gestellt und Reue gezeigt haben. Daß sie im vermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt haben, wurde nicht erneut strafmildernd gewertet, weil dieser Umstand mit den minder schweren Fall im Sinne des § 213 StGB begründet. Bei dem Angeklagten He. mußte sich erschwerend auswirken, daß sein mit bedingtem Tötungsvorsatz abgegebener Schuß auf den Oberkörper Chris Gueffroys aus der geschilderten kurzen Distanz ein besonderes Maß an Gefühlskalte und Verwerflichkeit erkennen läßt. Es macht im Schuldgehalt {186} einen erheblichen Unterschied, ob sich ein Grenzsoldat in der Vorstellung, so handeln zu müssen, entschließt, mit bedingtem

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Tötungsvorsatz aus einer Entfernung von 125 m und mehr einige kurze Feuerstöße in Richtung von Flüchtlingen zu schießen oder ob er aus einer Entfernung von höchstens 39 m auf die Brust eines aufrecht am Grenzzaun stehenden Menschen zielt. Die gegen den Angeklagten He. zu verhängende Strafe war daher der oberen Hälfte des Strafrahmens des § 213 StGB zu entnehmen. Bei dem Angeklagten K. hat die Kammer von der Möglichkeit, die Strafe gemäß den §§ 22, 23, 49 StGB zu mildern, weil die Tat im Versuchsstadium steckengeblieben ist, angemessen Gebrauch gemacht. Straferschwerend fiel bei K. dagegen ins Gewicht, daß er tateinheitlich zwei versuchte Tötungshandlungen begangen und dabei zwei Menschen in höchste Lebensgefahr gebracht hat. Bei Abwägung aller fur und gegen die Angeklagten sprechenden Umstände war die Verhängung folgender Strafen schuldangemessen, ausreichend, aber auch erforderlich, um ihnen eindringlich das Unrecht ihres Tuns vor Augen zu führen: {187} Bei dem Angeklagten He. eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten; bei dem Angeklagten K. eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Die gegen den Angeklagten K. verhängte Freiheitsstrafe konnte gemäß § 56 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden; denn es steht zu erwarten, daß der bisher nicht bestrafte Angeklagte sich bereits die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen wird. Nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Angeklagten liegen besondere Umstände vor, die es rechtfertigen, die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung auszusetzen. Dies ergibt sich aus dem Ausnahmecharakter der Tat, die unter Umständen begangen wurde, die bei dem Angeklagten nie wieder eintreten werden, weil er nicht wieder in vergleichbare Situationen kommen wird, sowie aus der Tatsache, daß der Angeklagte noch heute psychisch an den Tatfolgen leidet. Die Untersuchungshaft der beiden Angeklagten ist auf die erkannten Strafen anzurechnen, ohne daß es insoweit eines ausdrücklichen Ausspruches im Urteilstenor bedurfte (§ 51 StGB). {188}

X.

Entschädigung

Die Feststellung der Entschädigungspflicht der Landeskasse für die von dem Angeklagten S. und Sch. erlittene Untersuchungshaft ergibt sich aus § 2 Abs. 1 StrEG.

XI. Kosten Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus den §§ 464, 465, 472 StPO, soweit die Angeklagten verurteilt worden sind; im übrigen beruht sie auf § 467 StPO.

XII. Hilfsbeweisanträge ® Im Folgenden werden mehrere Hilfsbeweisanträge der Angeklagten He. und Sch. dargestellt und die Gründe für ihre Ablehnung erläutert. ® {205}

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Anmerkungen 1

Dem Urteil ging ein Beschluss des Landgerichts Berlin vom 27.6.1991 - Az. 523 - 7/91 - voraus, in dem das Verfahren gegen S. abgetrennt und die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn abgelehnt wurde. Im Wesentlichen wurde damit argumentiert, dass sich der Vorsatz des Angeschuldigten S. nicht nachweisen lasse. Soweit man von einer versuchten Körperverletzung ausgehe, liege ein unvermeidbarer Verbotsirrtum vor. Das Kammergericht Berlin hat diesen Beschluss am 29.7.1991 Az. 3 Ws 143/91 - aufgehoben und die Anklage unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zugelassen.

2

Der Einigungsvertrag enthielt eine sogenannte „Warteschleifenregelung", nach der mehrere hunderttausend Beschäftigungsverhältnisse ehemaliger DDR-Staatsbediensteter mit Wirksamwerden des Beitritts zunächst ruhen und später auslaufen sollten (vgl. Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Absatz 2 Satz 2 und 5 sowie Absatz 3 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - vom 31.8.1990 (BGBl. II, S. 889, 1140). Die Arbeitnehmer hatten während des Ruhens des Arbeitsverhältnisses Anspruch auf ein monatliches Wartegeld in Höhe von 70% der bisherigen durchschnittlichen Bezüge. Fand sich nach sechs Monaten keine Weiterverwendung innerhalb der Verwaltung, endete das Arbeitsverhältnis mit Ablauf dieser Frist. Zur Verfassungsmäßigkeit der Reglung vgl. BVerfGE 84, 133. Vgl. Anhang S. 969. Mit der Allgemeinen Verfugung des niedersächsischen Justizministers vom 15.11.1961 (Nds. Rpfl. S. 263) wurde eine „Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen" in Salzgitter errichtet. Die Erfassungsstelle war der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht Braunschweig angegliedert. Die Dienstaufsicht wurde dem Generalstaatsanwalt in Braunschweig übertragen (a.a.O., Ziff. 3). Aufgabe der Erfassungsstelle war es, „die im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen der letzten Monate, insbesondere seit dem 13.8.1961 in Ost-Berlin und in der SBZ begangenen Gewaltakte, für deren Verfolgung keine örtliche Zuständigkeit in der Bundesrepublik und in WestBerlin besteht, zu erfassen, das darüber vorhandene Material zu sammeln und die zugänglichen Beweise - soweit erforderlich - zu sichern." (a.a.O., Ziff. 4). Während ihres Bestehens war die Erfassungsstelle Gegenstand erheblicher Kontroversen. Die DDR forderte mehrfach ihre Auflösung als Voraussetzung fur eine Normalisierung der deutsch-deutschen Beziehungen. Auch in der Bundesrepublik war die Einrichtung umstritten. Nach der Vereinigung gab die Zentralstelle die meisten der von ihr geführten Vorermittlungsverfahren an die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften ab. Sie bildeten in vielen Fällen die Basis späterer Strafverfolgung. Gemäß dem Beschluss der 61. Justizministerkonferenz im Mai 1990 in München wurde die Behörde in eine „Zentrale Beweismittel- und Dokumentationsstelle" (ZBDoSt) umgewandelt, die beim Generalstaatsanwalt in Braunschweig angesiedelt ist.

3 4

5

6

7

Die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin klagte Ronald Fabian am 5.2.2000 unter Az. 27/2 Js 299/91 wegen Anstiftung zum Totschlag an. Das Landgericht Berlin sprach den Angeklagten am 15.12.2000 - Az. (536) 27/2 Js 299/91 Ks (2/2000) - schuldig, sah jedoch gem. § 25 StGB/DDR von strafrechtlichen Maßnahmen ab. Der Bundesgerichtshof verwarf am 6.11.2001 - Az. 5 StR 455/01 die Revision des Angeklagten mit der Maßgabe, dass er der Beihilfe zum Totschlag schuldig sei. Die Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin erhob am 12.12.1997 unter Az. 27 Js 18/97 Anklage gegen den Regimentskommandeur Walter Schulze und seinen Stellvertreter Reinhard Gentzsch wegen Totschlags zum Nachteil von Chris Gueffroy und zweier weiterer Fälle. Schulze entzog sich zunächst dem Verfahren durch eine Flucht ins Ausland. Der Mitangeklagte Gentzsch wurde durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 25.11.1998 - Az. (529) 27 Js 18/97 Ks (1/98) wegen Beihilfe zum Totschlag rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Bewährung verurteilt. Nach seiner Festnahme und Auslieferung wurde Schulze durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 21.8.2000 - Az. (529) 27 Js 2/99 Ks (19/98) - zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Gemeint ist wohl das Oberste Gericht der DDR, das in der Regel allerdings mit OG abgekürzt wird.

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Inhaltsverzeichnis Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 25.3.1993, Az. 5 StR 418/92 Gründe

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A.

[Das Urteil der Strafkammer] I. [Verfahrensergebnisse] II. [Sachverhaltsfeststellungen zum Grenzdienst allgemein] III. [Sachverhaltsfeststellungen zu den konkreten Tatumständen] IV. [Rechtliche Würdigung]

72 72 72 72 72

B.

[Zu I. II. III. IV. V.

73 73 75 75 77 85

C.

[Zu den Sachrügen bezüglich des Urteils gegen Sch.] I. [Bewertung des Schußbefehls von Sch.] II. [Bewertung der anderen Rügen]

den Sachrügen bezüglich des Urteils gegen K. und He.] [Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns] [Befangenheit des Richters wegen Fluchthilfe] [Aufhebung des Urteils gegen K. wegen versuchten Totschlags] [Bestätigung des Schuldspruchs gegen He.] [Aufhebung des Strafmaßes gegen He.]

Anmerkungen

70

86 86 86 87

Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Gueffroy

Bundesgerichtshof Az.: 5 StR 418/92

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25. März 1993

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen 1. Andreas K., geboren 1964, 2. Peter S. aus D., geboren 1964, 3.

MikeSch., geboren 1964,

4.

Ingo He., geboren 1965,

wegen Totschlages {2} Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom 23. März 1993 in der Sitzung vom 25. März 1993, woran teilgenommen haben: Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® {3} für Recht erkannt: 1. Das Urteil des Landgerichts Berlin vom 20. Januar 1992 wird a) auf die Revision des Angeklagten K. aufgehoben, soweit es diesen Angeklagten betrifft; der Angeklagte K. wird freigesprochen; b) auf die Revision des Angeklagten He. im Strafausspruch gegen diesen Angeklagten mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben; c) auf die Revision der Staatsanwaltschaft, soweit der Angeklagte Mike Sch. freigesprochen worden ist, mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die weitergehende Revision des Angeklagten He. und die gegen den Freispruch des Angeklagten Peter S. gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft werden verworfen. 3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision des Angeklagten He. und der den Angeklagten Sch. betreffenden Revision der Staatsanwaltschaft, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. {4} 4. Die Staatskasse trägt a) die Kosten des Verfahrens gegen den Angeklagten K. und die ihm entstandenen notwendigen Auslagen;

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b) die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft, soweit sie den Angeklagten S. betrifft, und die notwendigen Auslagen, die diesem Angeklagten durch die Revision der Staatsanwaltschaft entstanden sind. 5. Der Angeklagte K. ist wegen der in dieser Sache erlittenen Untersuchungshaft zu entschädigen. - Von Rechts wegen Gründe A. [Das Urteil der Strafkammer] Den Angeklagten wurde vorgeworfen, als Grenzposten an der Berliner Mauer in der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 einen Flüchtling vorsätzlich erschossen zu haben und versucht zu haben, einen weiteren Flüchtling zu erschießen. {5} I.

[Verfahrensergebnisse]

Das Schwurgericht hat den Angeklagten He. wegen Totschlages zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt; vom Vorwurf des versuchten Totschlages ist dieser Angeklagte freigesprochen worden. Gegen den Angeklagten K. hat das Schwurgericht wegen zweier in Tateinheit begangener Verbrechen des versuchten Totschlages eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt. Die Angeklagten Sch. und S. hat es vom Vorwurf des Totschlags und des versuchten Totschlags freigesprochen. Mit der Revision wenden sich die Angeklagten He. und K. gegen ihre Verurteilung; die Revision der Staatsanwaltschaft betrifft nur noch den Freispruch der Angeklagten Sch. und S.

II. [Sachverhaltsfeststellungen zum Grenzdienst allgemein] ® Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen zum Grenzdienst allgemein. ® {8} III. [Sachverhaltsfeststellungen zu den konkreten Tatumständen] ® Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen zu den konkreten Tatumständen. ® {12} IV. [Rechtliche Würdigung] Die Frage, welches Recht auf den festgestellten Sachverhalt anzuwenden sei, hat der Tatrichter aufgrund des Artikels 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB idF des Einigungsvertrages (Ani. I Kap. III Sachgebiet C Abschn. II Nr. 1) nach § 2 Abs. 1 und 3 StGB entschieden. Er hat mit Rücksicht auf den gegenüber dem Strafrecht der DDR (§§112, 113 StGB-DDR) milderen Strafrahmen des §213 StGB das Recht der Bundesrepublik Deutschland angewandt.

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Einen Rechtfertigungsgrund nach § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes der DDR, der das Recht der DDR wiederum als milder erscheinen lassen würde, hat der Tatrichter nicht angenommen; er hält vielmehr diese Vorschrift des Grenzgesetzes und die auf ihr beruhenden Weisungen für nichtig. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit war nach Ansicht des Tatrichters auch nicht durch § 258 StGB-DDR (Handeln auf Befehl) 1 ausgeschlossen. Hierzu führt das Urteil aus: Ein „konkreter Tötungsbefehl" habe nicht vorgelegen; er wäre auch wegen Verstoßes gegen das strafrechtliche Tötungsverbot unwirksam gewesen. Daß den Angeklagten das Bewußtsein, Unrecht zu tun, gefehlt hat (§ 17 StGB), schließt das Landgericht nicht aus; es ist aber der Ansicht, daß die Angeklagten diesen Verbotsirrtum vermeiden konnten (§ 17 Satz 2 StGB). Das Handeln der Angeklagten S. und Sch., deren Vorsatz sich möglicherweise nur auf Verletzungen an Füßen oder Beinen richtete, war nach Auffassung des Tatrichters durch den insoweit im Interesse der Rechtssicherheit hinzunehmenden Rechtfertigungsgrund des Grenzgesetzes der DDR gerechtfertigt (UA S. 179 f., 183). Der {13} Tatrichter fügt hinzu: Falls der Rechtfertigungsgrund nach dem Grenzgesetz der DDR auch in diesem Falle unwirksam sein sollte, hätte bei den Angeklagten S. und Sch. ein unvermeidbarer Verbotsirrtum nach § 17 StGB angenommen werden müssen. B. [Zu den Sachrügen bezüglich des Urteils gegen K. und He.] Die Revision des Angeklagten K. fuhrt zum Freispruch dieses Angeklagten. Die Revision des Angeklagten He. hat Erfolg, soweit sie sich gegen die verhängte Strafe richtet. Soweit sie den Schuldspruch betrifft, ist sie unbegründet.

I.

[Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns]

Die Revision des Angeklagten He. macht geltend, die Grenzsoldaten der ehemaligen DDR dürften nach der „act of state doctrine" nicht zur Rechenschaft gezogen werden, weil sie bei den ihnen zur Last gelegten Handlungen staatliche Tätigkeit der DDR ausgeübt hätten (Revisionsbegründung vom 17. Juli 1992). In die gleiche Richtung geht das weitere Revisionsvorbringen dieses Angeklagten (Revisionsbegründung vom 16. Juli 1992), der Einigungsvertrag verbiete nach den Grundsätzen der Staatennachfolge den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland, Rechtsvorschriften der DDR als unwirksam zu betrachten, und, abgesehen von den im Einigungsvertrag besonders geregelten Fällen (Art. 17, 18 Abs. 2), Handlungen, die während des Bestehens der DDR dort vorgenommen worden sind, anders zu beurteilen als nach dem Recht der DDR; in diesem Zusammenhang weist die Revision darauf hin, daß die frei gewählte Volkskammer der DDR zwar mit dem 6. Strafrechtsänderungsgesetz vom 29. Juni 1990 (GBl. DDR I S. 526; vgl. dort Ani. 1 Nr. 48) die Vorschrift des § 213 StGB-DDR aufgehoben, {14} das Grenzgesetz jedoch in Geltung gelassen habe. Schließlich macht die Revision des Angeklagten K. geltend, das Landgericht sei nach Art. 100 Abs. 1 GG verpflichtet gewesen, die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, damit dieses über die Frage einer Unbeachtlichkeit des Rechtfertigungsgrundes nach § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes der DDR entscheide. Diese Einwände greifen nicht durch.

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1. Der Senat hat in seinem Urteil vom 3. November 1 9 9 2 - 5 StR 370/92 - (zum Abdruck in BGHSt vorgesehen2; vollständig abgedruckt in EuGRZ 1993, 37; weiterer Abdruck in NJW 1993, 141) in Abschn. Β I ausgeführt, daß die „act of state doctrine" keine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG sei und nicht die Auslegung des innerstaatlichen deutschen Rechtes bestimme. Daran hält der Senat fest. 2. Der Senat hat in dem genannten Urteil ferner ausgeführt, daß der Einigungsvertrag Akte, die der Staatstätigkeit der DDR zuzuordnen sind, nicht der Nachprüfung durch Strafgerichte der Bundesrepublik Deutschland entzogen hat. Die im Einigungsvertrag enthaltenen Regeln über eine Beseitigung rechtsstaatswidriger Gerichtsentscheidungen (Art. 18 Abs. 2; Ani. I Kap. III Sachgebiet A Abschn. III Nr. 14 d; vgl. auch Art. 4 Nr. 2 der Vereinbarung vom 18. September 1990 zur Durchführung des Einigungsvertrages BGBl. II S. 1239 - ) , Verwaltungsakte (Art. 19 Satz 2) und Benachteiligungen (Art. 17) sind nicht in dem Sinne zu verstehen, daß die Strafgerichte der Bundesrepublik Deutschland in allen anderen Fällen verpflichtet wären, Regelungen der DDR und Handlungen, die bei der Ausübung von Staatstätig-{15}keit der DDR vorgenommen worden sind, allein deswegen als rechtmäßig anzuerkennen, weil sie Ausfluß staatlichen Handelns waren. Die Zielsetzung des Einigungsvertrages, wie sie in der Präambel mit dem Hinweis auf die Achtung der Menschenrechte zum Ausdruck gekommen ist, gibt keinen Anlaß anzunehmen, daß die Gerichte außerhalb der genannten besonderen Verfahren gehindert wären, in der Vergangenheit begangene Straftaten zu verfolgen. Daß dabei Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten ist, hat der Senat in seinem Urteil vom 3. November 1992 dargelegt (Abschn. C II 4). Sollte die Revisionsbegründung vom 16. Juli 1992 so zu verstehen sein, daß der Einigungsvertrag eine Art Anwendungsgarantie für DDR-Recht begründe, das zum Inkrafttreten des Einigungsvertrages gegolten hat und von diesem nicht ausdrücklich aufgehoben worden ist, so käme es hier aus dem folgenden, von der Revision genannten Grund auf eine solche Konstruktion nicht einmal an: Das Regelungsgefüge des DDRRechts, aus dem die Revision einen Rechtfertigungsgrund herleiten will (§ 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes i.V. mit dem Verbrechenstatbestand des ungesetzlichen Grenzübertritts nach § 213 Abs. 3 StGB-DDR), wurde vor dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages dadurch gegenstandslos, daß § 213 StGB-DDR mit Wirkung vom 1. Juli 1990 außer Kraft getreten war. 3. Der Umstand, daß der Tatrichter nicht nach Art. 100 Abs. 1 GG das Verfahren ausgesetzt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingeholt hat, begründet keinen Rechtsverstoß, der mit der Revision gerügt werden könnte. In der Revisionsinstanz kann in solchen Fällen nur die sachlichrechtliche Frage geprüft werden, {16} ob das vom Tatrichter angewandte Recht wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz unwirksam ist. Kommt das Revisionsgericht zu einem solchen Ergebnis, so hat es, sofern nachkonstitutionelles Recht betroffen ist, seinerseits nach Art. 100 Abs. 1 GG zu verfahren. Hierzu sieht der Senat aber keinen Anlaß. Da nur Bundes- oder Landesgesetze die Pflicht zur Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG begründen (vgl. BVerfGE 12, 281, 288; 29, 348, 358; vgl. auch BVerfGE 11, 150, 160, 163), käme eine Vorlage nur in Betracht, wenn der Senat annehmen müßte, die Vorschriften des Einigungsvertrages, die die Anwendung von DDR-Recht vorsehen, seien ihrerseits verfassungswidrig (vgl. Klein in Umbach/Clemens, BVerfGG [1992] § 80 Rdn. 17, 28 f.). Dabei würde hier nur

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Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB idF des Einigungsvertrages (Ani. I Kap. III Sachgebiet C Abschn. II Nr. 1) in Betracht kommen. Der Senat legt diese Regelung des Einigungsvertrages jedoch verfassungskonform dahin aus, daß sie nur in dem Umfang auf das Recht der DDR verweist, in dem dessen Inhalt mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Über diese Grenzen hinaus wollte der Gesetzgeber des Einigungsvertrages nicht die materielle Geltung des Rechts der DDR bestätigen (vgl. auch Art. 143 GG idF des Einigungsvertrages sowie BVerfGE 16, 343, 346). Eine andere Frage ist es, ob wegen Art. 103 Abs. 2 GG Rechtfertigungsgründe aus dem Recht der DDR, die nicht am Grundgesetz zu messen sind, in den Grenzen einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung anerkannt werden müssen (vgl. Abschn. C II 3 b des Senatsurteils vom 3. November 1992). {17}

II. [Befangenheit des Richters wegen Fluchthilfe] Auf die Verfahrensrüge des Angeklagten K. kommt es nicht an, weil dieser Angeklagte aus sachlichrechtlichen Gründen freizusprechen ist. Die Verfahrensrügen des Angeklagten He. sind aus den Gründen, die der Generalbundesanwalt in seiner nach § 349 Abs. 2 StPO eingereichten Antragsschrift vom 6. Januar 1993 genannt hat, unbegründet. Das gilt insbesondere auch für die Rüge, ein gegen den Vorsitzenden Richter angebrachtes Ablehnungsgesuch sei vom Landgericht zu Unrecht verworfen worden. Das Gesuch berief sich darauf, daß der Richter im Anschluß an den Bau der Berliner Mauer (1961) die Tätigkeit von Fluchthelfern unterstützt habe. Dieser Sachverhalt kann auch unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Angeklagte in der DDR aufgewachsen ist und bei den Grenztruppen gedient hat, kein Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters (§ 24 Abs. 2 StPO) rechtfertigen. Der Bau der Berliner Mauer im Jahre 1961 begründete fur zahlreiche Bewohner des östlichen und westlichen Teils der Stadt Berlin und der übrigen Gebiete Deutschlands eine schwerwiegende Notlage, indem er persönliche, zumal familiäre Beziehungen zerriß und Lebenspläne zunichte machte. Unentgeltliche Fluchthilfe ist in der damaligen Zeit von vielen Menschen auf beiden Seiten der Mauer mit guten Gründen als humanitäre Pflicht verstanden worden. {18}

III. [Aufhebung des Urteils gegen K. wegen versuchten Totschlags] Die Verurteilung des Angeklagten K. wegen versuchten Totschlages in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen hat keinen Bestand. Die Feststellungen tragen nicht die Annahme, der Angeklagte K. habe bei seinen Schüssen, die nicht getroffen haben, mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt. Der Angeklagte hat „nach unten und nicht ausschließbar drei bis vier Meter links neben die Flüchtenden" gezielt (UA S. 52). Diese wurden von ihm auch nicht getroffen. Ihre Tötung wäre ihm „nicht recht" gewesen (UA S. 53). Daß der Angeklagte gleichwohl nach Abgabe des ersten Feuerstoßes die Möglichkeit erkannt hat, sein jeweils aus wenigen Schüssen bestehendes, neben die Flüchtenden gezieltes Dauerfeuer könnte sie töten, und daß er sich mit diesem Erfolg abgefunden hat, belegt der Tatrichter ausschließlich mit Erwägungen, die sich aus dem Maß der Lebensgefahr ergeben, die durch die dem Angeklagten bekannte Streuwirkung des Dauerfeuers begründet wurde. Erwä-

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gungen dieser Art können regelmäßig nur das Wissenselement des bedingten Vorsatzes belegen; sie können aber ein Hinweis auf das Vorliegen des Willensmomentes sein, wenn die außerordentliche Größe der bewußt herbeigeführten Gefahr den Erfolg besonders naheliegend erscheinen läßt und der Täter trotzdem weiterhandelt. Diese Erwägung ist hier nicht tragfähig. Nach den Feststellungen ist zugunsten des Angeklagten, der „ein sehr guter Schütze" war (UA S. 27), davon auszugehen, daß er gerade zu dem Zweck „nach unten" und „drei bis vier Meter links neben die Flüchtenden" gezielt hat, um ihre Tötung zu vermeiden. Einer Annahme, er habe mit dieser Art des Zielens das „Hochziehen" der Waffe nach rechts oben ausgleichen, mithin die Flüch-{19}tenden treffen wollen, widersprechen die sonstigen Feststellungen, zumal da dem Angeklagten der Tod der Flüchtlinge „nicht recht" war. Die Befürchtung des Angeklagten, die Geschosse könnten über den Metallgitterzaun hinwegfliegen, besagt nicht notwendig, daß er sich der besonderen Gefahrdung der Flüchtlinge bewußt war; denn er konnte der Auffassung gewesen sein, daß die Geschoßbahn einen genügenden seitlichen Abstand zu den Flüchtenden einhalten würde. Daß die Geschosse den Metallgitterzaun getroffen haben, konnte gerade die Einlassung des Angeklagten belegen, er habe bewußt links neben die Flüchtlinge geschossen; diese liefen, aus der Sicht des Angeklagten, rechts vom Zaun. Eine besondere Gefährlichkeit des abgegebenen Dauerfeuers hätte allerdings darin gesehen werden können, daß die Geschosse einen bis drei Meter vor den Flüchtlingen, also auf der dem Angeklagten abgewandten Seite der Fliehenden, in das Metallgitter eingeschlagen sind, und zwar in Kopf- und Oberkörperhöhe. Indessen ergeben die Feststellungen nicht eindeutig, daß die Schüsse des Angeklagten eine solche Wirkung hervorgerufen haben und daß er das wahrgenommen hat. Er hat gesagt, er habe es in der Nähe der Flüchtlinge am Metallgitterzaun aufblitzen gesehen (UA S. 75), im übrigen aber eine „Wirkung seiner Schüsse" nicht feststellen können (UA S. 74 f.). Die Angaben über den Ort der Einschläge stammten nicht von dem Angeklagten K. selbst, sondern von dem Zeugen Gaudian (UA S. 168). Der Angeklagte He., der sich ersichtlich näher am Einschlagsort befand als der Angeklagte K., konnte nicht angeben, wie weit die Einschläge in den Metallgitterzaun von den Flüchtlingen entfernt waren (UA S. 168). Da die Feststellungen keine Angaben über das zeitliche Verhältnis der von den Angeklagten S. und K. abgegebenen Schüsse machen, ist es {20} nicht einmal ausgeschlossen, daß die von Gaudian wahrgenommenen, in den Zaun eingeschlagenen Geschosse nicht von dem Angeklagten K., sondern aus der Waffe seines Postenführers stammten. Mit diesen Erwägungen, die dem Schluß von der Gefährlichkeit des Dauerfeuers auf den bedingten Vorsatz des Angeklagten K. entgegenstehen können, hat sich der Tatrichter nicht auseinandergesetzt. Er hat im übrigen zu Unrecht als Beleg des Tötungsvorsatzes eine Äußerung des Angeklagten K. herangezogen, die dieser später getan hat: Der Angeklagte K. hat gegenüber dem Angeklagten He. die Befürchtung geäußert, der tödliche Schuß sei möglicherweise von ihm gekommen (UA S. 169). Diese Äußerung kann in gleichem, wenn nicht in höherem Maße dafür sprechen, daß der Angeklagte K. absichtlich daneben schießen wollte und sich nunmehr ein fahrlässiges Verhalten vorwirft; daß dieser Angeklagte für den Anruf seines Gewissens empfänglich ist, hatte er bereits dadurch gezeigt, daß er sich zunächst geweigert hatte, seine Bereitschaft zum Schießen auf Menschen zu erklären.

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Der Senat schließt aus, daß eine erneute Beweisaufnahme ausreichende Feststellungen erbringen wird, die den bedingten Tötungsvorsatz des Angeklagten K. belegen könnten. Hierbei ist der inzwischen eingetretene Zeitablauf ebenso von Bedeutung wie der Umstand, daß im vorliegenden Fall Rückschlüsse aus einem eingetretenen Erfolg auf den Vorsatzinhalt nicht möglich sind. Unter diesen Umständen spricht der Senat den Angeklagten K. vom Vorwurf des versuchten Totschlages in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen frei. {21}

IV. [Bestätigung des Schuldspruchs gegen He.] Die sachlichrechtliche Nachprüfung aufgrund der Revision des Angeklagten He. hat keinen Rechtsfehler aufgedeckt, soweit der Schuldspruch betroffen ist. 1. Bei der Beurteilung der Frage, welches Recht für die im Februar 1989 innerhalb des östlichen Teils von Berlin begangene Tat anzuwenden ist, hat der Tatrichter § 2 Abs. 1, 3 StGB iV mit Art. 315 Abs. 1 EGStGB idF des Einigungsvertrages zugrunde gelegt. Das entspricht der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 3. November 1992 zu C I). 2. Der Tatrichter hat sich ohne Rechtsverstoß davon überzeugt, daß Chris Gueffroy durch einen Schuß aus der Waffe des Angeklagten He. getötet worden ist. 3. Auch der bedingte Tötungsvorsatz des Angeklagten He. ist ohne Rechtsverstoß festgestellt. Der Einlassung dieses Angeklagten, er habe auch beim dritten Schuß auf die Füße gezielt, begegnet der Tatrichter mit Erwägungen, die aus Rechtsgründen nicht beanstandet werden können. Der Tatrichter hat ausgeführt, daß der Angeklagte He., ein sehr guter Schütze, aus einer Entfernung von nur 39 m Einzelfeuer geschossen hat und daß die Tatwaffe bei Einzelfeuer eine sehr hohe Treffsicherheit aufweist (UA S. 27). Besonderes Gewicht legt er darauf, daß die Sichtverhältnisse trotz der Nachtzeit ein sicheres Zielen ermöglichten. Der Angeklagte He. hat selbst angegeben, die Beleuchtung seines Standortes und des Zieles habe ausgereicht; er hat insbesondere entgegen dem Revisionsvorbringen gesagt, Kimme und Korn seien sehr gut zu erkennen gewesen (UA S. 150). Nach den Feststellungen befand sich der Angeklagte beim Schießen „auf der Linie der Lichtmaste" (UA {22} S. 56). Die von der Revision in diesem Zusammenhang behaupteten Widersprüche bestehen nicht. Es gibt keinen Erfahrungssatz, daß bei Lampen, die in Abständen von 25 m aufgestellt und an Lichtmasten angebracht sind (UA S. 45), der Lichtkegel einen weniger als 36 m entfernten (UA S. 46) Zaun nicht erreichen kann (vgl. UA S. 150, 190, 202). Mit dem letzten Lichtkegel, der nach den Feststellungen auf den Grenzsignalzaun fiel (UA S. 46), war ersichtlich die Begrenzung des Lichtkegels auf der Hinterlandseite gemeint; daß der Kegel in dieser Richtung weniger weit reichte als in Richtung auf die Bezirksgrenze, liegt nahe. Schließlich durfte der Tatrichter auch daraus, daß der Angeklagte He. mit einem der beiden ersten Schüsse, seinem Vorsatz entsprechend, einen Fuß getroffen hat, den Schluß ziehen, daß auch der Brustschuß seinem Vorsatz entsprach. Der zumindest bedingte Tötungsvorsatz versteht sich bei der hohen Gefährlichkeit eines bewußt auf den Oberkörper eines Menschen abgegebenen Schusses von selbst. 4. Der Angeklagte He. hat rechtswidrig gehandelt. a) Der Tatrichter, der mit Rücksicht auf die Strafdrohung des § 213 StGB das Recht der Bundesrepublik Deutschland als milderes Recht (§ 2 Abs. 3 StGB) anwendet, hat

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die Frage geprüft, ob die Anwendung dieses Rechtes etwa deswegen zugunsten des Tatortrechtes entfällt, weil dem Angeklagten, wenn DDR-Recht angewandt würde, der Rechtfertigungsgrund nach § 27 Abs. 2 Satz 1 des Grenzgesetzes der DDR vom 25. März 1982 (GBl DDR I S. 197) in Verbindung mit dem Verbrechenstatbestand nach § 213 Abs. 3 Nr. 5 StGB-DDR zur Seite stehen würde. Er hat die Frage verneint. Das steht im Einklang mit den Grundsätzen, die der Senat in seinem Urteil vom {23} 3. November 1992 dargelegt hat und auch nach Prüfung der darauf bezogenen Äußerungen im Schrifttum (Herrmann NStZ 1993, 118; K. Günther StV 1993, 18; Schroeder JR 1993, 45; Fiedler JZ 1993, 206; Roggemann DtZ 1993, 10; vgl. auch Dreher/Tröndle, StGB, 46. Aufl., vor § 3 Rdn. 52) weiterhin fur richtig hält. b) Die vorliegende Sache betrifft einen Vorgang, der sich vier Jahre später ereignet hat als die tödlichen Schüsse vom 1. Dezember 1984, die Gegenstand des Senatsurteils vom 3. November 1992 gewesen sind. Der Senat übersieht nicht, daß die Feststellungen des Tatrichters Unterschiede zwischen beiden Fällen erkennen lassen: Nach dem der Senatsentscheidung vom 3. November 1992 zugrunde liegenden tatrichterlichen Urteil hatte die Vergatterung im Jahre 1984 den Satz enthalten: „Grenzverletzer sind zu stellen oder zu vernichten" (vgl. Abschn. C II 2 a, aa des Urteils vom 3. November 1992). Für den Fall, daß Warnschüsse und gezieltes Einzelfeuer auf die Beine nicht ausreichten, galt damals das Handlungsschema: „Weiterschießen, egal wie, notfalls auch erschießen" (aaO Abschn. Α.). Demgegenüber ist weder bei der Unterrichtung noch bei der Vergatterung der jetzt abgeurteilten Angeklagten ausdrücklich von einer Vernichtung der Flüchtlinge die Rede gewesen (UA S. 24, 33). Nach der „offiziellen Anweisung" sollte nur auf die Füße bzw. fluchtunfähig geschossen werden (UA S. 154). Indessen wurde stets betont, daß kein Flüchtling durchkommen dürfe. Allerdings wurde den Soldaten nicht erklärt, „wie diesem Gebot Rechnung getragen werden sollte" (UA S. 25). Ob mit Einzel- oder Dauerfeuer und auf welche Körperpartien geschossen werden sollte, wurde nicht gesagt; „es hieß allgemein nur, daß fluchtunfähig zu schießen sei, was unter den Soldaten {24} bei Diskussionen dahin interpretiert wurde, daß man auf die Füße oder auf den unteren Bereich der Beine zielen sollte" (UA S. 32). Unterschiedlich sind desweiteren die Feststellungen über die Bergung der verletzten Personen: Während das Tatopfer im Jahre 1984 erst mehr als zwei Stunden nach den Schüssen ärztlich behandelt werden konnte und bei rechtzeitiger ärztlicher Hilfe hätte gerettet werden können, ist im vorliegenden Fall um 0.15 Uhr ein Arzt eingetroffen, der in einem Krankenwagen den Tod von Chris Gueffroy feststellte und erfolglos Wiederbelebungsmaßnahmen durchführte; das gescheiterte Fluchtvorhaben hatte 45 Minuten vorher begonnen (UA S. 45, 59). Diese Unterschiede ändern aber nichts an der Anwendbarkeit der im Senatsurteil vom 3. November 1992 entwickelten Grundsätze. Die Feststellungen des angefochtenen Urteils ergeben in ihrer Gesamtheit, daß auch Anfang 1989 von denjenigen, die fur das Grenzregime an der Berliner Mauer Verantwortung trugen, der Verhinderung des ungesetzlichen Grenzübertrittes Vorrang vor dem Schutz des Lebens gegeben und daß nach der von diesem Ziel bestimmten Staatspraxis die vorsätzliche Tötung von Flüchtlingen für rechtmäßig gehalten wurde, wenn sie das „letzte Mittel" (UA S. 31) war, um Personen am unerlaubten Überschreiten der Grenze zu hindern. Nach § 213 Abs. 3 Nr. 5 StGB-DDR war es unverändert ein Verbrechen, die Grenze „zusammen mit anderen" -

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wozu die Beteiligung einer anderen Person ausreichte - ohne Erlaubnis zu überschreiten; die zusätzliche Voraussetzung, daß eine solche Tat im Einzelfall mit einer Freiheitsstrafe von über zwei Jahren bestraft wurde (§ 1 Abs. 3 Satz 2 StGB-DDR), war, wie auch die Verurteilung des Zeugen Gaudian zeigt, regelmäßig gegeben. Unverän{25}dert bestimmte weiterhin § 27 Abs. 2 Satz 1 des Grenzgesetzes, daß die Anwendung der Schußwaffe gerechtfertigt war, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellte; bei der Anwendung der Schußwaffe sollte nach § 27 Abs. 5 Satz 1 des Grenzgesetzes das Leben von Personen „nach Möglichkeit", also nicht unbedingt, geschont werden. Einem solchen Verständnis des Grenzgesetzes sowie des § 213 StGB-DDR entsprach es, daß die Angeklagten nach dem tödlichen Schuß belobigt, ausgezeichnet und geringfügig belohnt und disziplinar- oder strafrechtliche Ermittlungen wegen der Schüsse nicht geführt worden sind. Die Beteiligten sind ersichtlich davon ausgegangen, daß der von dem Angeklagten He. abgegebene dritte Schuß das „letzte Mittel" war, um jedenfalls den Zeugen Gaudian, der schon die Oberkante des letzten Grenzzauns ergriffen hatte, an der Überquerung der Grenze zu hindern. Dem entspricht es, daß nach den Feststellungen der Schußwaffeneinsatz „letztlich" immer als gerechtfertigt angesehen wurde (UA S. 134). Daß Tötungen in diesem Sinne hingenommen werden würden, wurde den Soldaten „unterschwellig" klargemacht (UA S. 33). Ihnen wurde „suggeriert", der Tod eines Flüchtlings sei besser als eine gelungene Flucht (UA S. 152); kein Flüchtling dürfe durchkommen (UA S. 132). Was das Schwurgericht nicht sehr klar als „unterschwellige Anweisung" (UA S. 164) und als „Suggerieren" bezeichnet, war also auch Anfang 1989 die faktische Handhabung des Grenzregimes durch die dafür Verantwortlichen. Wenn es in dem angefochtenen Urteil heißt, das Akzeptieren tödlicher Schüsse ohne Überprüfung habe der „damaligen Gesetzes-{26}läge und Rechtswirklichkeit" entsprochen (UA S. 134) ist dies, was die Gesetze angeht, ersichtlich so gemeint, daß die Gesetze in dem genannten Sinne tatsächlich angewandt wurden. Für die geschilderte Staatspraxis, die die vorsätzliche Tötung von Flüchtlingen durch Schußwaffen einschloß, gilt dasselbe wie für die Verhältnisse, die Gegenstand des Senatsurteils vom 3. November 1992 waren: Wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen die Menschenrechte, die zu schützen sich die DDR als Vertragsstaat des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (GBl DDR 1974 II S. 57; BGBl. II 1973 S. 1533) verpflichtet hatte, konnte § 27 des Grenzgesetzes der DDR in der Auslegung, die durch eine solche Staatspraxis gekennzeichnet war, keine rechtfertigende Wirkung entfalten. Der Senat verweist im übrigen auf seine Ausführungen im Abschn. C II 2 b seines Urteils vom 3. November 1992. c) Andererseits gilt hier wie in dem früher entschiedenen Fall, daß § 27 des Grenzgesetzes der DDR mit Auslegungsmethoden, die dem Recht der DDR eigentümlich waren, so hätte ausgelegt werden können, daß schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen vermieden wurden; insoweit verweist der Senat auf den Abschn. C II 3 seines Urteils vom 3. November 1992. Dort hat der Senat näher dargelegt, daß die Verfassung der DDR in Art. 30 Abs. 2 Satz 2 eine Art Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorsah, der auch in § 26 Abs. 2 Satz 2, 3 und in § 27 Abs. 1 Satz 1 des Grenzgesetzes Ausdruck gefun-

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den hat. Im Lichte dieses Prinzips und der Artikel 6 und 12 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische {27} Rechte konnten und mußten das Grenzgesetz und die damit zusammenhängende Strafbestimmung (§213 Abs. 3 StGB-DDR) menschenrechtsfreundlich ausgelegt werden. Es ist dann schon zweifelhaft, ob eine Auslegung des § 213 Abs. 3 Nr. 5 StGB-DDR (schwerer, ein Verbrechen begründender Fall des ungesetzlichen Grenzübertrittes, wenn „die Tat zusammen mit anderen begangen wird") zulässig war, die den Verbrechenscharakter - und damit die Anwendbarkeit des § 27 Abs. 2 Satz 2 des Grenzgesetzes - begründete, wenn nur zwei Personen die Grenze überqueren wollten (vgl. zu dieser Auslegung den vom Ministerium der Justiz der DDR herausgegebenen Kommentar zum StGB-DDR „Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik" - fortan: „DDR-Kommentar" genannt - , 5. Aufl. 1987 § 213 Anm. 12), und deswegen die Rechtfertigung des Schußwaffengebrauchs nach § 27 Abs. 2 Satz 1 des Grenzgesetzes auslöste. Jedenfalls war es aber möglich, die genannte Vorschrift des Grenzgesetzes mit Rücksicht auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. auch § 27 Abs. 5 Satz 1 des Grenzgesetzes) und den Vorrang des Lebensschutzes dahin auszulegen, daß das Schießen auf „Grenzverletzer" mit unbedingtem oder bedingtem Tötungsvorsatz unverhältnismäßig und deshalb unzulässig war, wenn es sich um allenfalls zwei nach den Umständen unbewaffnete und auch sonst nicht für Leib oder Leben anderer gefährliche Flüchtlinge handelte (vgl. Senatsurteil vom 3. November 1992 zu C II 3 d). Nach dieser Auslegung des DDR-Rechts hat der Angeklagte He., indem er mit bedingtem Tötungsvorsatz auf die beiden Flüchtlinge schoß, rechtswidrig gehandelt. {28} Der Senat hat in seinem Urteil vom 3. November 1992 ausgeführt, daß das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG nicht verbietet, bei der Aburteilung des Angeklagten von einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung des DDR-Rechts auszugehen, auch wenn diese von der damaligen Rechtspraxis abweicht (Abschn. C II 4); darauf wird verwiesen. Der Senat hat sich in seinem Urteil vom 3. November 1992 auch mit den von der Revision des Angeklagten He. hervorgehobenen Einwänden auseinandergesetzt, die die Anwendung des § 11 UZwG sowie der §§ 15, 16 UZwGBw in der Bundesrepublik Deutschland betreffen (C II 2 b cc); die im Schrifttum geäußerte Auffassung, nach § 16 UZwGBw sei unter Umständen auch das Schießen mit bedingtem Tötungsvorsatz gerechtfertigt (Jess/Mann UZwGBw, 2. Aufl. 1981 § 16 Rdn. 4; ähnlich Stauf in: Das deutsche Bundesrecht, I. P. 39 S. 7), teilt der Senat, wie im Urteil vom 3. November 1992 dargelegt, nicht. Aus der Entscheidung BGHSt 35, 379 ergibt sich nichts Gegenteiliges, weil der BGH dort einen Fall zu beurteilen hatte, in dem die hingenommenen tatrichterlichen Feststellungen keinen bedingten Tötungsvorsatz ergaben (vgl. Abschn. C III 1 des Urteils vom 3. November 1992). 5. Der Angeklagte He. hat auch schuldhaft gehandelt. a) Der Tatrichter hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob das Handeln des Angeklagten nach § 258 StGB-DDR entschuldigt gewesen ist. Er ist der Ansicht, daß kein Befehl im Sinne dieser Vorschrift erteilt worden sei. {29} Die Revision des Angeklagten bemängelt zutreffend, daß der Tatrichter, der sonst Recht der Bundesrepublik Deutschland angewandt hat, hier auf § 258 StGB-DDR zurückgreift. Dieser Mangel würde für sich allein nicht entscheidend ins Gewicht fallen, weil der Regelungsinhalt des § 5 Abs. 1 WStG mit § 258 Abs. 1 StGB-DDR überein-

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stimmt. Den auf Befehl Handelnden trifft nach beiden Gesetzen eine Schuld nur, wenn er erkennt, daß die befohlene Tat gegen das Strafrecht verstößt, oder wenn dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist. Der Senat hat in seinem Urteil vom 3. November 1992 (C III 2 a) dargelegt, daß der Wortlaut des § 258 Abs. 1 StGB-DDR eine - vom DDR-Kommentar (§ 258 StGB Anm. 2, 3 d) vorgeschlagene - Auslegung ausschließt, nach der die Entschuldigung nur entfällt, wenn der Soldat den Verstoß gegen das Strafrecht positiv erkannt hat. Ferner hat der Senat in seinem Urteil vom 3. November 1992 (C III 2 a) daraufhingewiesen, daß § 5 WStG zwar unmittelbar nur für Soldaten der Bundeswehr gilt (§ 1 Abs. 1 WStG), hier jedoch zugunsten eines ehemaligen Angehörigen der Grenztruppen der DDR entsprechend anzuwenden ist. Der Senat teilt nicht die Auffassung des Tatrichters, daß der Angeklagte He. nicht auf Befehl gehandelt habe. aa) Es kann dahinstehen, ob die Auffassung des Tatrichters zutrifft, daß die zur Tatzeit erlassenen „offiziellen Anweisungen" (oben Β. IV 4 b) den dritten Schuß des Angeklagten He. nicht gedeckt haben. Jedenfalls hat der Angeklagte He. mit diesem Schuß den vom Tatrichter so bezeichneten „unterschwelligen", {30} „suggerierenden" Erwartungen und Äußerungen seiner Vorgesetzten entsprochen, indem er einen mit bedingtem Tötungsvorsatz abgegebenen Schuß als „letztes Mittel" einsetzte, um eine nicht genehmigte Grenzüberschreitung zu verhindern. Es wird den Verhältnissen, die zur Tatzeit in der DDR bestanden haben, nicht gerecht, wenn im Hinblick auf die Befehlsvorschriften (hier: § 5 Abs. 1 WStG; ebenso § 258 Abs. 1 StGB-DDR) zwischen „offiziellen Anweisungen" und jenen anderen handlungsleitenden Äußerungen unterschieden wird, die die Verantwortlichen damals in „unterschwelliger" oder „suggerierender" Weise gegeben haben. Tatsächlich ergänzten diese informellen Einflußnahmen die offiziellen Anweisungen in einer Weise, daß die Soldaten, wie es von den Verantwortlichen auch gewollt war, die Gesamtheit der Äußerungen als verpflichtend und damit als Befehle aufgefaßt haben. Befehle sind Anweisungen zu einem bestimmten Verhalten, die ein militärischer Vorgesetzter einem Untergebenen mit dem Anspruch auf Gehorsam erteilt (§ 2 Nr. 2 WStG). Voraussetzung eines Befehls ist, daß der Vorgesetzte die spezifische militärische Reaktion des Gehorsams für sich in Anspruch nimmt (Schölz/Lingens WStG 3. Aufl. 1988 § 5 Rdn. 9). In diesem Sinne wurde den Soldaten der Grenztruppen deutlich gemacht, daß sie Flüchtlinge unter allen Umständen am unerlaubten Überschreiten der Grenze zu hindern hätten. Ihnen wurde zwar, anders als einige Jahre vorher, nicht im einzelnen gesagt, welche Mittel sie zur Erreichung dieses Zweckes einzusetzen hätten; insbesondere wurde ihnen nicht ausdrücklich befohlen, Flüchtlinge zu „vernichten", wenn sich die Grenzüberschreitung anders nicht vermeiden ließ. Trotzdem war die Verhinderung des „Grenzdurchbruchs" in den {31} Augen der Vorgesetzten „oberster Grundsatz" (UA S. 101); jedenfalls die „Gruppenflucht", die schon bei einem Zusammenwirken von zwei Flüchtlingen vorlag, sollte unbedingt unterbunden werden (vgl. UA S. 101, 102). So haben die Angeklagten in ihrer im Urteil wiedergegebenen Einlassung (UA S. 72, 77, 78, 80) die Erwartung ihrer Vorgesetzten, daß insbesondere die Gruppenflucht unter allen Umständen zu verhindern sei, ohne weiteres als „Befehl" (UA S. 72, 77) aufgefaßt.

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Was der Tatrichter als „Doppelstrategie" der Verantwortlichen bezeichnet (UA S. 132), war nicht ein Nebeneinander von Befehlen und unverbindlichen Einflußnahmen. Vielmehr wurden, wie der Tatrichter mitteilt (UA S. 133), die bewußt ungenau und unvollständig abgefaßten offiziellen Anweisungen durch die in anderer Weise ausgeübte Einflußnahme ergänzt; der Befehl bekam hierdurch einen für den Soldaten greifbaren Inhalt. Diese Wirkung wurde dadurch verstärkt, daß nach tödlichen Schüssen disziplinar- und strafrechtliche Untersuchungen gegen den Schützen unterblieben und statt dessen die beteiligten Soldaten belobigt, belohnt und zum Teil befördert wurden. Zu den Mitteln einer insgesamt auf Gehorsam zielenden Einflußnahme gehörten auch bestimmte verallgemeinernde Tatsachenbehauptungen wie die Angabe, in Fällen der „Gruppenflucht" sei mit Gefahren fur Leib und Leben der Grenzsoldaten zu rechnen (UA S. 72); ebenso verhält es sich mit der ausgestreuten und möglicherweise auch von den Soldaten geglaubten Information, Flüchtlinge seien regelmäßig Kriminelle oder Verräter, weil ehrliche Bürger einen Ausreiseantrag stellen könnten. Daß die Soldaten die Einflußnahme der Verantwortlichen in ihrer Gesamtheit als verbindliche Weisungen verstanden, mit denen der Anspruch auf Gehorsam erhoben {32} wurde, ergibt sich aus den Feststellungen, nach denen die Grenzsoldaten befürchteten, bei Gehorsamsverweigerung, wozu sie auch das auffallige Danebenschießen zählten, disziplinarisch oder militärstrafrechtlich verfolgt, insbesondere in die gefürchtete Militärstrafanstalt in Schwedt gebracht zu werden (UA S. 41, vgl. auch die Angaben der Angeklagten UA S. 38, 76, 77). Unter diesen Umständen kann die Verständigung von Grenzsoldaten, man solle auf die Füße oder Beine zielen (UA S. 32), nicht als eine Interpretation der Befehlslage verstanden werden. Vielmehr drückt sich in dieser Verständigung ersichtlich ein gewisses Abrücken dieser Soldaten von der verbindlichen Erwartung ihrer Vorgesetzten aus; das mag Beobachtungen über eine zunehmend kritische Haltung der Soldaten (UA S. 40, 90) entsprochen haben. Nach allem bewertet der Senat die Gesamtheit der tatrichterlichen Feststellungen in rechtlicher Hinsicht anders als das Schwurgericht: Die bedingt vorsätzliche Tötung von Chris Gueffroy durch den dritten Schuß des Angeklagten He. entsprach der allgemeinen Befehlslage. bb) Zugunsten des Angeklagten He. ist unter diesen Umständen davon auszugehen, daß der Befehl seines Postenfuhrers „Schieß doch!" so zu verstehen war und von He. so verstanden worden ist, daß er im Einklang mit der allgemeinen Befehlslage handeln, also zunächst in schonender Weise (§ 27 Abs. 5 des GrenzG) auf die Füße und, wenn hierdurch der Grenzübertritt nicht mehr verhindert werden konnte, mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz weiterschießen sollte. {33} cc) Soweit er sich auf eine vorsätzliche Tötung richtete, verstieß der Befehl, wie dargelegt, gegen die Strafgesetze. Daß der Angeklagte He. dies positiv gewußt hat, kann nicht angenommen werden, weil die für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen ergeben, daß sich der Angeklagte He. im Verbotsirrtum befunden hat. Eine Entschuldigung nach § 5 Abs. 1 WStG findet gleichwohl nicht statt, weil es nach den dem Angeklagten He. bekannten Umständen offensichtlich war, daß die befohlene Tat gegen die Strafgesetze verstieß. Die Revision beanstandet zwar zu Recht, daß der Tatrichter zu dieser Frage keine Ausführungen gemacht, sondern lediglich die Frage erörtert hat, ob der Verbotsirrtum

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des Angeklagten He. vermeidbar (§ 17 Satz 2 StGB) gewesen ist. Die Kriterien, nach denen sich diese Frage entscheidet, stimmen nicht vollständig mit den Umständen überein, aus denen sich die Annahme herleitet, der Verstoß einer befohlenen Handlung gegen das Strafrecht sei offensichtlich gewesen. Im Interesse der militärischen Disziplin und wegen des Drucks, den ein militärischer Befehl auf den Untergebenen ausübt, sind an die Annahme der Offensichtlichkeit (§ 5 Abs. 1 WStG) hohe Anforderungen zu stellen. Der Soldat hat keine Prüfungspflicht. Hegt er Zweifel, die er nicht beheben kann, so darf er dem Befehl folgen. Offensichtlich ist der Strafrechtsverstoß nur, wenn er jenseits aller Zweifel liegt (Senatsurteil vom 3. November 1992 - C III 2 b m.w.N.). Auf den vom Tatrichter genannten Gesichtspunkt, daß der Angeklagte Anlaß zum Nachdenken und zur Erkundigung über die Zulässigkeit tödlicher Schüsse gehabt habe (UA S. 157, 161 f.), kann hier nicht abgestellt werden. Entscheidend ist, ob {34} der Verstoß gegen das Strafrecht derart auf der Hand lag, daß er fur einen durchschnittlichen Soldaten mit dem Informationsstand des Angeklagten ohne weiteres Nachdenken und ohne weitere Erkundigungen einsichtig war. Auch wenn die Ausführungen des Tatrichters, die sich an § 17 StGB orientieren, hiernach rechtlichen Einwänden ausgesetzt sind, so schließen doch die ausführlichen Erörterungen im angefochtenen Urteil (UA S. 155-162) tatsächliche Feststellungen ein, die dem Senat die Bewertung erlauben, daß der Strafrechtsverstoß des von dem Angeklagten He. befolgten Befehls im Tatzeitpunkt offensichtlich im Sinne des § 5 Abs. 1 WStG gewesen ist: Der Tatrichter hat festgestellt, daß Herkunft und Erziehung des Angeklagten ihm trotz politischer Indoktrination ausreichende Vorstellungen von Gerechtigkeit und Menschlichkeit sowie davon vermittelt haben, daß das Tötungsverbot zum Kernbereich der Ethik gehört (UA S. 156 f.). Der Angeklagte He. hat vor seiner Einberufung das Erschießen von Menschen an der Grenze als rechtswidrig, ja als Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet, mag er auch im Laufe seiner militärischen Ausbildung anderen Sinnes geworden sein (UA S. 162). Die Feststellungen ergeben, daß im Kreise der Grenzsoldaten „allgemein" die Auffassung vertreten wurde, man solle Flüchtlinge durch Schießen auf die Beine fluchtunfahig machen und danach streben, den Wehrdienst mit „weißen Handschuhen", also ohne auf Menschen geschossen zu haben, zu absolvieren (UA S. 158, 160). Schließlich weist der Tatrichter auf die dem Angeklagten bekannten Besonderheiten der Staatspraxis hin: An {35} bestimmten Feiertagen und bei Staatsbesuchen durfte in Fällen der hier einschlägigen Art nicht geschossen werden (UA S. 158); auf einen Schußwaffengebrauch an der Grenze folgten Nachrichtensperre und Schweigegebot (UA S. 159). Daraus und aus den sonstigen Umständen ergab sich für den Grenzsoldaten, daß dem befohlenen Schußwaffengebrauch keine Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, etwa mit Rücksicht auf eine Gefährdung der Grenzsoldaten durch Grenzbrecher, sondern die Durchsetzung des Prinzips zugrunde lag, die „Republikflucht" müsse, auch um den Preis des Lebens von Flüchtlingen, unbedingt verhindert werden (UA S. 161). Hier haben die Flüchtlinge keinerlei Anstalten gemacht, die Grenzsoldaten anzugreifen oder zu bedrohen; ihr gesamtes Tun war nur darauf gerichtet, die Grenze in Richtung auf den Bezirk Neukölln zu überqueren. Bei diesen Voraussetzungen war es - nicht anders als in dem Fall, der der Senatsentscheidung vom 3. November 1992 zugrunde lag - für jeden Soldaten ohne weiteres ein-

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sichtig, daß es ein jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogener Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot war, wenn ein Grenzsoldat mit bedingtem Tötungsvorsatz einen sicher gezielten Schuß auf den Oberkörper eines Flüchtlings abgab. b) Der Angeklagte He. ist auch nicht wegen Verbotsirrtums entschuldigt. Daß eine Entschuldigung nach § 5 Abs. 1 WStG nicht stattfindet, macht die Erörterung von Fragen des Verbotsirrtums hier nicht überflüssig: Der Angeklagte kann sein Handeln trotz Offensichtlich-{36}keit des Strafrechtsverstoßes fur nicht rechtswidrig gehalten haben. Nach den Urteilsgründen (UA S. 155) kann dem Angeklagten He. eine solche Annahme nicht widerlegt werden. Der Tatrichter hat aber angenommen, daß der Angeklagte diesen Irrtum vermeiden konnte (§ 17 Satz 2 StGB). Das hält der rechtlichen Nachprüfung stand. aa) Die Anwendung des DDR-Rechts hätte insoweit zu keiner milderen Beurteilung (§ 2 Abs. 3 StGB) geführt. Bei Zugrundelegung des DDR-Rechts wäre nicht anzunehmen, daß der Verbotsirrtum unabhängig von seiner Vermeidbarkeit eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tötung ausschließt. Mit dieser von der Revision des Angeklagten He. aufgeworfenen Frage hat sich der Senat schon in seinem Urteil vom 3. November 1992 (C III 3) auseinandergesetzt; er hält an seinem damals vertretenen Standpunkt fest. Die Revisionsbegründungen geben Anlaß zu folgenden Bemerkungen: Zwar ist in dem Lehrbuch „Strafrecht der DDR" (1988, S. 237) die Auffassung vertreten worden, daß der Vorsatz die „Selbsterkenntnis" voraussetze, „sich entgegen den Grundregeln menschlichen Zusammenlebens zu einem sozial negativen Verhalten entschieden zu haben" (ebenso, jedoch mit der Beschränkung auf „Ausnahmefälle", in denen der Handelnde sein Verhalten als „durchaus gesellschaftsgemäß" ansieht, das 1976 erschienene Lehrbuch „Strafrecht, Allgemeiner Teil", S. 297, 301 f.). Doch wurde dabei - was für die DDR ungewöhnlich war - daraufhingewiesen, daß es hierzu keine einheitliche Auffassung gebe (Lehrbuch 1988 S. 237; vgl. Lehrbuch 1976 S. 300 Fn. 117). In einer älteren Ausgabe des Lehrbuchs (Lehrbuch des Strafrechts der DDR, Allg. Teil, 1957, S. 377 f.) hatte es noch geheißen, das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit gehöre {37} nicht zum Vorsatz. Daß die Gerichte der DDR angenommen haben, irrige Vorstellungen über die Rechtswidrigkeit einer Tötungshandlung ständen der Annahme einer vorsätzlichen Tötung entgegen, ist nicht ersichtlich; auch die Revision hat keine Belege in dieser Richtung vorgetragen. Der vom Ministerium der Justiz der DDR herausgegebene Kommentar „Strafrecht der DDR" (1987) führt zwar aus, zum Vorsatz gehöre das Bewußtsein, gegen die sozialen Grundnormen zu verstoßen; andererseits heißt es dort aber, die Verteidigung des Angeklagten, er habe mit einer ungesetzlichen Handlung „recht getan", hebe nicht die Bewußtheit auf, sich zu einem sozial-negativen Verhalten entschieden zu haben (§ 6 Anm. 1). Bei diesem offenbar nicht abgeklärten Meinungsstand hat der Senat keinen Anlaß, das DDR-StGB dahin auszulegen, daß die irrige Annahme, entsprechend den Befehlen der Vorgesetzten sei eine Tötung von „Grenzverletzern" zulässig, den Vorsatz ausgeschlossen hat. bb) Die Gründe, mit denen der Tatrichter die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums bejaht hat (UA S. 155-162), halten unter dem Gesichtspunkt des § 17 Satz 2 StGB der rechtlichen Nachprüfung stand. Ist der Strafrechtsverstoß offensichtlich, so ist regelmäßig auch der Verbotsirrtum i.S. des § 17 Satz 2 StGB vermeidbar. So verhält es sich hier. Auf die vorstehenden Ausführungen zu Β. IV 5 a, cc) wird verwiesen. {38}

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V. [Auftiebung des Strafmaßes gegen He.] Die gegen den Angeklagten He. verhängte Strafe kann aus sachlichrechtlichen Gründen nicht bestehenbleiben. Der Tatrichter hat zwar einen minder schweren Fall des Totschlags (§213 StGB) angenommen. Der Senat kann aber nicht ausschließen, daß die innerhalb dieses Strafrahmens gefundene Strafe auf fehlerhaften rechtlichen Erwägungen beruht. 1. Der Angeklagte He. hat, wie dargelegt, auf Befehl gehandelt: Sein Handeln entsprach der Befehlslage, nach der ungesetzliche Grenzübertritte mit allen Mitteln, auch unter Inkaufnahme der Tötung von Flüchtlingen, zu verhindern waren; zugunsten dieses Angeklagten ist überdies anzunehmen, er habe angenommen, der ihm von seinem Postenführer erteilte Befehl fuge sich in die allgemeine Befehlslage ein. Der Senat kann nicht ausschließen, daß der Tatrichter - wobei auch § 5 Abs. 2 WStG zu bedenken ist die Strafe milder bemessen hätte, wenn er von einem zutreffenden rechtlichen Verständnis der Befehlslage ausgegangen wäre. Für die Beurteilung des Tatmotives und des Tatentschlusses macht es einen Unterschied, ob der Angeklagte He. nur „unterschwellig" zum Ausdruck gebrachte Wünsche und Erwartungen seiner Vorgesetzten erfüllen oder aber einem Befehl gehorchen wollte. 2. Der Tatrichter hat zugunsten des Angeklagten He. eine größere Zahl von Strafmilderungsgründen (UA S. 184 f.) angeführt und nur einen einzigen strafschärfenden Gesichtspunkt genannt: Der tödliche Schuß lasse „ein besonderes Maß an Gefühlskälte und Verwerflichkeit erkennen" (UA S. 185 f.). Das wird den besonderen Voraussetzungen des Falles nicht gerecht: Der Angeklagte He. hatte sich bei den ersten beiden Schüssen be-{39}müht, der unmittelbar vorher ergangenen Aufforderung seines Postenführers „Schieß doch" in möglichst schonender Weise (§ 27 Abs. 5 Satz 1 des Grenzgesetzes) nachzukommen. Welche Motive ihn bestimmt haben, den dritten Schuß mit bedingtem Tötungsvorsatz auf die Brust des Opfers zu richten, hat der Tatrichter nicht dargelegt. Die Annahme von „Gefühlskälte" hat jedenfalls dann keine tragfähige Grundlage, wenn der Angeklagte He., was naheliegt, einem Befehl gehorchen wollte. Daß der Tatrichter keinen direkten Tötungsvorsatz angenommen hat, muß das Revisionsgericht bei den festgestellten Begleitumständen hinnehmen. 3. Hinzu kommt folgendes: Der Tatrichter hat zwar strafmildernd berücksichtigt, daß diejenigen, die in Schule, Massenorganisation und Politunterricht das Rechtsbewußtsein der Grenzsoldaten deformiert haben, mangels Straftatbestandes nicht zur Verantwortung gezogen werden können (UA S. 184). Die Urteilsgründe lassen aber nicht erkennen, daß er auch folgenden Gesichtspunkt strafmildernd berücksichtigt hat: Der Angeklagte stand in der militärischen Hirarchie ganz unten. Er ist in gewisser Weise auch Opfer des Grenzregimes gewesen. Aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, sind Funktionsträger, die über einen größeren Überblick und über eine differenziertere Ausbildung verfügten, bisher nicht zur Verantwortung gezogen worden (vgl. das Senatsurteil vom 3. November 1992, Abschn. C III 4 sowie das Senatsurteil vom 3. März 1993 - 5 StR 546/92, zum Abdruck in BGHSt vorgesehen3 - ) . Das legt hier die Verhängung einer Strafe nahe, die noch zur Bewährung ausgesetzt werden kann.

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C. [Zu den Sachrügen bezüglich des Urteils gegen Sch.J {40} Die Revision der Staatsanwaltschaft, die der Generalbundesanwalt nicht vertritt, hat aus sachlichrechtlichen Gründen Erfolg, soweit sie den Freispruch des Angeklagten Sch. betrifft. Soweit sie sich gegen den Freispruch des Angeklagten S. richtet, ist sie unbegründet. I.

[Bewertung des Schußbefehls von Sch.]

Der Tatrichter hat sich nicht davon überzeugt, daß der Angeklagte Sch., der als Postenfuhrer dem Angeklagten He. vor den Schüssen „Schieß doch" zugerufen hat, angenommen und - im Sinne des bedingten Vorsatzes - gewollt hat, He. werde auf den Oberkörper eines der Flüchtlinge schießen (UA S. 181 f.). Der Angeklagte Sch. hat sich dahin eingelassen, daß er davon ausgegangen sei, He. werde auf die Füße oder Beine des Flüchtlings schießen, wie dies unter den Grenzsoldaten verabredet gewesen sei (UA S. 81). Nach den Feststellungen waren neben den für den Angeklagten sprechenden Umständen auch Gesichtspunkte vorhanden, die gegen die Einlassung des Angeklagten Sch. sprachen. Die Urteilsgründe ergeben, daß der Tatrichter solche Gesichtspunkte nicht geprüft hat, obwohl dies nahelag. Das Landgericht beruft sich bei der Beweiswürdigung auf eine „offizielle Anweisung", nur fluchtunfähig zu schießen (UA S. 182). Wie der Senat ausgeführt hat, kennzeichnete die vom Tatrichter genannte „offizielle Anweisung" nicht die wirkliche Befehlslage. Diese war vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß die Verantwortlichen in vielfältiger Weise den Soldaten die Vorstellung vermittelten, ein ungesetzlicher Grenzübertritt, wie er hier stattfand, müsse mit allen Mitteln, äußerstenfalls auch mit tödlichen Schüssen {41} verhindert werden. Hätte der Tatrichter die Befehlslage so verstanden, so hätte er Anlaß gehabt zu prüfen, ob sich der Angeklagte Sch. mit seinem Zuruf „Schieß doch" in diese ihm bekannte Befehlslage einfügen, also He. veranlassen wollte, zwar zunächst auf die Beine, im Falle einer Fortsetzung des Fluchtversuches aber auch auf den Oberkörper eines der Flüchtlinge zu schießen. Sollte der neue Tatrichter zu einem Schuldspruch kommen, so wird er unter Berücksichtigung wehrstrafrechtlicher Normen die Teilnahmeform zu erwägen haben. II. [Bewertung der anderen Rügen] Im übrigen deckt die sachlichrechtliche Nachprüfung auf die Revision der Staatsanwaltschaft keine Rechtsfehler auf. 1. Es stellt keinen Rechtsverstoß dar, daß die von anderen Angeklagten abgegebenen Schüsse nicht dem Angeklagten S. im Sinne arbeitsteiliger Mittäterschaft als versuchter bzw. vollendeter Totschlag zugerechnet worden sind (vgl. dazu das Senatsurteil vom 3. November 1992, Abschn. C III 1 b). Der Angeklagte S. wollte nach den Feststellungen die Flüchtlinge nicht tödlich treffen; der Tatrichter mußte deshalb auch nicht annehmen, S. habe damit gerechnet, daß sein auf die Füße der Flüchtenden abgegebenes Einzelfeuer andere Grenzsoldaten zu tödlichen Schüssen veranlassen würde. 2. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat auch insoweit keinen Erfolg, als sie hilfsweise geltend macht, die Angeklagten S. und Sch. hätten, sofern sie keinen Tötungsvor-

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satz hatten, wenigstens wegen vollen-{42} deter und versuchter gefährlicher Körperverletzung verurteilt werden müssen. Der Senat braucht hier nicht zu erörtern, ob die gebotene menschenrechtsfreundliche Auslegung des Grenzgesetzes es gestattete, Schüsse für gerechtfertigt zu halten, die auf Füße oder Beine gerichtet waren und dazu dienten, eine Überschreitung der innerdeutschen Grenze zu verhindern (vgl. dazu das Senatsurteil vom 3. November 1992 zu C II 3 b). Der Tatrichter hat ohne Rechtsverstoß angenommen, die Annahme der Angeklagten, solche Schüsse seien gerechtfertigt, begründe jedenfalls einen unvermeidbaren Verbotsirrtum.

Anmerkungen 1 2 3

Vgl. Anhang S. 969. Mittlerweile veröffentlicht in BGHSt 39, 1. Vgl. auch lfd. Nr. 2-2. Mittlerweile veröffentlicht in BGHSt 39, 146. Dieses Urteil beschäftigt sich mit einem Fall der Steuerhinterziehung durch verdeckte Gewinnausschüttung an den Bereich Kommerzielle Koordinierung (Koko), einer zur Devisenbeschaffung eingerichteten, unter Kontrolle des MfS abgeschirmt arbeitenden Außenhandelsbehörde. Zum Bereich KoKo vgl. auch den Dokumentationsband zu Amtsmissbrauch und Korruption, lfd. Nr. 10.

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Inhaltsverzeichnis Erneutes tatrichterliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 14.3.1994, Αζ. (527) 2 Js 48/90 Ks (3/93) Gründe

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A.

Prozessuale Ausgangslage

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B.

[Der Angeklagte] He I. [Sachverhaltsfeststellungen und Feststellungen zur Person] II. [Beweiswürdigung] III. [Rechtliche Würdigung] IV. [Strafzumessung]

90 90 91 91 93

C.

[Der Angeklagte] Sch 1. [Sachverhaltsfeststellungen, Feststellungen zur Person und rechtliche Würdigung] 2. Hilfsbeweisanträge

95 95 101

Nebenentscheidungen

101

D.

Anmerkungen

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Landgericht Berlin Az.: (527) 2 Js 48/90 Ks (3/93)

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14. März 1994

URTEIL Im Namen des Volkes Strafsache gegen 1.

MikeSch. geboren 1964

2. Ingo He. geboren 1965 wegen Totschlags u.a. {2} Die 27. große Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Berlin hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 10. und 14. März 1994, an der teilgenommen haben: ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® in der Sitzung vom 14. März 1994 für Recht erkannt: 1. Der Angeklagte He. wird wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 2 (zwei) Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Insoweit trägt er die Kosten des Verfahrens sowie seine und die der Nebenklägerin insoweit entstandenen notwendigen Auslagen. 2. Der Angeklagte Sch. wird freigesprochen. Die Landeskasse Berlin trägt die insoweit entstandenen Kosten und die notwendigen Auslagen des Angeklagten. {3} Dem Angeklagten Sch. steht fur die in der Zeit vom 14. Juni 1991 bis zum 19. Juli 1991 erlittene Untersuchungshaft eine Entschädigung zu. Angewendete Strafvorschriften (für den Angeklagten He.): §§ 212, 213, 56 StGB.

Gründe (abgekürzte Fassung gemäß § 267 Abs. 4 StPO für den Angeklagten He.) A. Prozessuale

Ausgangslage

Die 23. große Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Berlin hat in dem als „1. Mauerschützenprozeß" bekannt gewordenen vorliegenden Verfahren gegen ehemalige Angehörige der Grenztruppen der DDR mit Urteil vom 20. Januar 19921 den Ange-

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klagten He. wegen Totschlags des Chris Gueffroy, dem letzten Opfer des Grenzregimes der DDR an der Berliner Mauer, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Wegen des weiteren selbständigen zugelassenen Anklagevorwurfs des versuchten Totschlags zum Nachteil des Christian Gaudian hat die Schwurgerichtskammer den Angeklagten He. aus tatsächlichen Gründen freigesprochen (UA Seite 165 f.). Den Angeklagten Sch. hat die Schwurgerichtskammer freigesprochen vom {4} Vorwurf der Anstiftung zur abgeurteilten Tat des Angeklagten He. Soweit sich das Verfahren ursprünglich weiterhin gegen die Angeklagten K. und Sch. richtete, sind diese inzwischen rechtskräftig freigesprochen worden, wobei der Freispruch des K. nach vorangegangener Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung erst in der Revisionsinstanz erfolgte, während der Freispruch des Sch. vom Revisionsgericht bestätigt wurde. Auf die Revision des Angeklagten He. hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 25. März 19932 das Urteil der 23. Strafkammer vom 20. Januar 1992 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer zurückverwiesen; die weitergehende Revision wurde verworfen. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hat der Bundesgerichtshof mit dem genannten Urteil das Urteil der 23. Strafkammer mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte Sch. freigesprochen worden ist. Damit sind betreffend den Angeklagten He. der Schuldspruch und die ihm zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen des Urteils des Landgerichts Berlin vom 20. Janu{5}ar 1992 bindend geworden, §§ 353, 358 Abs. 1 StPO (vgl. zur Reichweite der Bindungswirkung BGHSt 30, 340 sowie Hürxthal in BGH LM § 353 StPO, 1975 Anm. zu Nr. 2). Bezüglich des Angeklagten Sch. war dagegen über die ihm mit Anklage und Eröffnungsbeschluß vorgeworfene Tat ohne Bindung an die Feststellungen der 23. großen Strafkammer unter Beachtung der rechtlichen Hinweise des Bundesgerichtshofes erneut zu befinden.

B. [Der Angeklagte] He. I.

[Sachverhaltsfeststellungen und Feststellungen zur Person]

1. Die Schwurgerichtskammer hatte danach betreffend den Angeklagten He. von folgendem Sachverhalt auszugehen: ® Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen. {14} 2. Darüber hinaus hat die erneute Hauptverhandlung zu folgenden für die Strafzumessung bedeutsamen Feststellungen betreffend den Angeklagten He. gefuhrt: Der heute 29 Jahre alte, nicht bestrafte Angeklagte He. ist zusammen mit seiner fünf Jahre jüngeren Schwester im Haushalt seiner Eltern in D. in der ehemaligen DDR aufgewachsen. Sein Vater arbeitete als Schlosser, seine Mutter war Kindergärtnerin. Von 1972 bis 1982 besuchte der Angeklagte He. die Polytechnische Oberschule in K., die er in der 10. Klasse mit dem Prädikat „gut" abschloß. Noch in selben Jahr begann er eine Lehre als Elektromonteur, nachdem sein Versuch, eine Lehrstelle als Kfz-Schlosser zu bekommen, gescheitert war. 1984 Schloß er seine Lehre erfolgreich ab und arbeitete anschließend als Elektromonteur im S.-Werk in Α., wohin er 1985 umzog und wo er seit-

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her lebt. Er heiratete im Jahre 1986; aus der Ehe sind zwei in den Jahren 1986 und 1990 geborene Söhne hervorgegangen. Der Angeklagte He. war in der damaligen DDR Mitglied der Jungen Pioniere, der Thälmann Pioniere, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft sowie der Gesellschaft für Sport und Technik, wo er mit mäßigem Erfolg Schießübungen mit Kleinkalibergewehren und Pistolen absolvierte. Einer Partei gehörte er nicht an. Von Mai 1988 bis November 1989 leistete er seinen {15} Grundwehrdienst bei den Grenztruppen der ehemaligen DDR ab. Danach arbeitete er wieder bis September 1990 in dem S.-Werk und ist seither in A. bei einer privaten Firma als Elektroinstallateur beschäftigt Gemeinsam mit seiner Ehefrau, die noch bis zum Juli 1994 eine Anstellung als Kindergärtnerin hat, erzielt er ein Familieneinkommen von ca. 1.700,00 DM netto je Monat. Zu seinen Zukunftsplänen befragt gibt er an, wie bisher weiter arbeiten zu wollen. Bisher sind keine zivilrechtlichen Schadensersatzforderungen an ihn gestellt worden. Der Angeklagte war nie nennenswert krank und hat auch keine folgenschweren Unfälle erlitten. Alkohol trinkt er nur gelegentlich. Seit etwa 1986 treibt er regelmäßig Sport und spielt Volleyball und Fußball. Zu seiner heutigen Einstellung zum Grenzregime der DDR befragt gibt er an, daß er nachgedacht habe und die damalige Praxis nicht richtig finde. Er habe seinerzeit die Sache hingenommen und keine Möglichkeit gesehen, die Verhältnisse zu ändern.

II.

[Beweiswürdigung]

Die Feststellungen zu den persönlichen Lebensumständen des Angeklagten He. beruhen auf seinen glaubhaften Angaben. Er hat sich in der erneuten Hauptverhandlung zum Tatge-{16}schehen - ohne daß es fur die Sachverhaltsfeststellung darauf noch ankam dahin eingelassen, daß er sich zu Unrecht verurteilt fühle. Er habe abweichend von den Feststellungen der 23. Strafkammer nur auf die Füße des Gaudian geschossen und glaube, daß K. den tödlichen Schuß abgegeben habe. Als Sch. ihm „Schieß doch!" zugerufen habe, habe er dies entsprechend früherer Absprachen anläßlich von Diskussionen um den Schußwaffengebrauch als Aufforderung verstanden, auf die Füße zu schießen, nicht aber als Aufforderung verstanden, so zu schießen, daß möglicherweise der Tod des Flüchtlings eintreten könne.

III. [Rechtliche

Würdigung]

1. Rechtlich erweist sich die Tat des Angeklagten He. als bedingt vorsätzlicher Totschlag (§212 Abs. 1 StGB) im minder schweren Fall (§213 Altern. 2 StGB). Auf den festgestellten Sachverhalt war gemäß Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB in der Fassung des Einigungsvertrages (Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1) in Verbindung mit § 2 Abs. 1 und 3 StGB das Recht der Bundesrepublik Deutschland anzuwenden, da die Strafandrohung des § 2 1 3 StGB geringer ist als die des § 113 Abs. 1 Nr. 3 StGB/DDR. {17} 2. Die mit bedingtem Vorsatz erfolgte Tötung des Chris Gueffroy durch den dritten Schuß aus der Waffe des Angeklagten He. war rechtswidrig. Der Angeklagte kann sich nicht auf einen Rechtfertigungsgrund nach § 27 Abs. 2 Satz 1 Grenzgesetz der DDR

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vom 25. März 1982 (GBl. DDR I Seite 197) in Verbindung mit dem Verbrechenstatbestand des § 213 Abs. 3 Nr. 5 StGB/DDR berufen. Wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen die Menschenrechte konnte § 27 Grenzgesetz/DDR in der Auslegung, die diese Vorschrift in der Praxis des Grenzregimes fand, keine rechtfertigende Wirkung entfalten. Diese Praxis war gekennzeichnet vom Akzeptieren tödlicher Schüsse auf Flüchtende, Belobigung, Auszeichnung und Belohnung der Schützen, ohne daß disziplinar- oder strafrechtliche Ermittlungen wegen der Schüsse geführt wurden. Ziel dieser Staatspraxis war, der Verhinderung des ungesetzlichen Grenzübertrittes Vorrang vor dem Schutz des Lebens zu geben und auf die Grenzsoldaten entsprechend einzuwirken. Legt man entgegen der damaligen Staatspraxis § 27 Grenzgesetz/DDR mit den dem Recht der DDR eigentümlichen Auslegungsmethoden unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der in Artikel 30 Abs. 2 Satz 2 Verfassung der DDR sowie §§ 26 Abs. 2 Satz 2, 3 und 27 Abs. 1 Satz 1 Grenzgesetz/DDR Ausdruck gefunden hat, menschenrechtsfreundlich aus, war jedenfalls das Schießen auf „Grenzverletzer" mit unbedingtem oder be-{18}dingtem Tötungsvorsatz unverhältnismäßig und deshalb unzulässig, wenn es sich - wie hier - allenfalls um zwei unbewaffnete und auch sonst nicht für Leib und Leben anderer gefährliche Flüchtlinge handelte. Nach dieser Auslegung entfaltete § 27 Grenzgesetz keine rechtfertigende Wirkung. Einer solchen menschenrechtsfreundlichen Auslegung der DDR-Gesetze steht nicht das Rückwirkungsverbot des Artikel 103 Abs. 2 Grundgesetz entgegen (BGH 5 StR 370/923 Abschnitt C.II.4 - UA S. 35 ff.). 3. Der Angeklagte He. handelte auch schuldhaft. a) Der zu Gunsten eines ehemaligen Angehörigen der Grenztruppen der DDR entsprechend anzuwendende § 5 Abs. 1 Wehrstrafgesetzbuch (WStG), dessen Regelungsgehalt im wesentlichen mit § 258 Abs. 1 StGB/DDR4 übereinstimmt, greift im vorliegenden Fall nicht durch. Den auf Befehl handelnden Soldaten trifft nach dieser Vorschrift eine Schuld nur, wenn er erkennt, daß die befohlene Tat gegen das Strafrecht verstößt, oder wenn dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist. Der Angeklagte He. handelte auf Befehl, als er, der Aufforderung des Postenführers folgend, drei Schüsse abgab und Chris Gueffroy tödlich verletzte. Dabei entsprach die Tötung des Flüchtlings der allgemeinen Befehlslage, wie sie dem Angeklagten seitens der Vorgesetzten vermittelt worden war. Auch wenn der Angeklagte He. in der erneu-{19}ten Hauptverhandlung bestritten hat, den Befehl so verstanden zu haben, geht die Schwurgerichtskammer zu seinen Gunsten - den Ausführungen des Revisionsgerichtes (Seite 32 UA letzter Absatz) folgend - davon aus, daß der Befehl des Postenfuhrers „Schieß doch!" so zu verstehen war und auch vom Angeklagten He. so verstanden worden ist, daß er im Einklang mit der allgemeinen Befehlslage handeln, also zunächst in schonender Weise auf die Füße und, wenn hierdurch der Grenzdurchbruch nicht verhindert werden konnte, mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz weiter schießen sollte. Jedenfalls vermag dieser Befehl den Angeklagten He. nicht zu entschuldigen, da der Strafrechtsverstoß des von dem Angeklagten He. befolgten Befehls im Tatzeitpunkt offensichtlich im Sinne des § 5 Abs. 1 WStG gewesen ist. Für jeden Soldaten war es ohne weiteres einsichtig, daß es ein jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogener Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot war, wenn ein Grenzsoldat mit bedingtem Tötungsvorsatz einen sicher gezielten Schuß auf den Oberkörper eines Flüchtlings abgab. Dies ergibt sich

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speziell für den Angeklagten He. daraus, daß seine Herkunft und Erziehung ihm trotz politischer Indoktrination ausreichende Vorstellungen von Gerechtigkeit und Menschlichkeit sowie davon vermittelt haben, daß das Tötungsverbot zum Kernbereich der Ethik gehört. Der Angeklagte He. {20} sah vor seiner Einberufung zu den Grenztruppen das Erschießen von Menschen an der Grenze als rechtswidrig, ja als Verbrechen gegen die Menschlichkeit an. Angesichts der Diskussionen der Grenzsoldaten über die Zulässigkeit tödlicher Schüsse auf Flüchtlinge, dem verbreiteten Streben der Grenzsoldaten, den Wehrdienst mit „weißen Handschuhen", d.h. ohne auf Menschen geschossen zu haben, zu absolvieren und unter Berücksichtigung der Praxis des Grenzregimes, der „Feuerpausen" bei Staatsbesuchen, der verhängten Nachrichtensperren, Schweigegebote und Vertuschungsbemühungen durch das MfS war offensichtlich, daß der Befehl, auf einen unbewaffneten Flüchtling unter Inkaufnahme seines Todes zu schießen, auf strafbares Handeln abzielte. b) Der Angeklagte He. ist auch nicht wegen eines Verbotsirrtums, § 17 Abs. 2 StGB, entschuldigt. Zwar hielt der Angeklagte - wie bindend durch Urteil des Bundesgerichtshofs (UA Seite 35, 36) festgestellt - sein Handeln trotz Offensichtlichkeit des Strafrechtsverstoßes für nicht rechtswidrig. Der Angeklagte konnte diesen Irrtum aber vermeiden, § 17 Abs. 2 StGB. Angesichts des offensichtlichen Strafrechtsverstoßes, der regelmäßig auch zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums führt, wäre es dem Angeklagten bei gehöriger Anspannung seines Gewissens ohne weiteres {21} möglich gewesen, das Unrecht seines Tuns zu erkennen, zumal zur Tatzeit im Februar 1989 bereits umfangreiche gesellschaftliche Diskussionen in der DDR und Auflösungstendenzen des sowjetischen Imperiums zu beobachten waren.

IV.

[Strafzumessung]

1. Bei der Strafzumessung ist die Schwurgerichtskammer von einem „sonstigen minder schweren Fall" des Totschlags im Sinne des § 213 Alternative 2 StGB ausgegangen, da die Tat in ihrem gesamten Erscheinungsbild so deutlich von üblicherweise vorkommenden Fällen des Totschlags abweicht, daß die Anwendung des Regelstrafrahmens des §212 Abs. 1 StGB unangemessen hart wäre. Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Tat und der Person des Angeklagten bei der Strafrahmenwahl war zu bedenken, daß der Angeklagte He. vor dem Hintergrund des in der damaligen DDR herrschenden unmenschlichen Zwangssystems mit allen Mitteln der Massenpsychologie zu blinder Einseitigkeit und einem beschränkten Weltbild erzogen worden ist, dem er seiner Persönlichkeit und Bildung nach nur wenig entgegenzusetzen hatte. Auch war zu bedenken, daß all diejenigen, die zur Deformierung des Rechtsbewußtseins der Grenzsoldaten beigetragen haben, dafür nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, weil das Gesetz hierfür keinen Straftatbestand {22} kennt. Zudem befand sich der Angeklagte He. in einer außergewöhnlichen, sich für ihn nie wiederholenden Lebenssituation. Zwar würden diese Umstände allein die Anwendung des § 213 StGB nicht rechtfertigen. Hinzu kommt aber, daß der Angeklagte in einem vermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt hat. Diese Gründe zusammengenommen rechtfertigen es, die Tat als minder schweren sonstigen Fall zu werten.

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Eine weitere Milderung des Strafrahmens des § 213 StGB gemäß §§ 17 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB hat die Schwurgerichtskammer nicht vorgenommen, da der Umstand, daß der Angeklagte im vermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt hat, wesentlich zur Annahme eines minder schweren Falles beigetragen hat und gemäß § 50 StGB nur einmal berücksichtigt werden durfte. Innerhalb des danach eröffneten Strafrahmens von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe hat sich die Schwurgerichtskammer bei der Strafzumessung von folgenden Erwägungen leiten lassen: Zu Lasten des Angeklagten He. war strafschärfend zu bedenken, daß der äußere Tathergang - ein gezielter Schuß auf den Oberkörper des an die Mauer gelehnten unbewaffneten Chris Gueffroy aus einer relativ kurzen {23} Entfernung von ca. 39 m geradezu einer Hinrichtung gleichkam. Demgegenüber überwogen jedoch die strafmildernden Gesichtspunkte: Der Angeklagte ist bisher unbestraft. Sein Lebensweg ist auch nach der Tat sozial unauffällig verlaufen. Er handelte lediglich mit bedingtem Vorsatz, auf Befehl und nicht im eigenen Interesse. Den äußeren Tatablauf hat er eingeräumt und damit zur Aufklärung beigetragen. Das Fehlen von Einsicht und Reue ist ihm nicht strafschärfend angerechnet worden. Von einem Angeklagten, der den Tatvorwurf bestreitet, kann keine Reue verlangt werden (vgl. Dreher/Tröndle, StGB, 46. Aufl. 1993, RdNr. 29 und 29a zu § 46 StGB m.w.N.). Die Tat liegt inzwischen längere Zeit zurück. Infolge der Dauer des Strafverfahrens, das in der Öffentlichkeit besondere Beachtung fand, hat der Angeklagte erhebliche Belastungen und auch Untersuchungshaft hinnehmen müssen. Hinzu kommt, daß er in der militärischen Hierarchie ganz unten stand und sein Handlungsspielraum begrenzt war. Er hätte allenfalls gezielt daneben schießen oder den Befehl mit möglichen disziplinarischen Konsequenzen verweigern können. Soweit der BGH mit Urteil vom 25. März 1993 Seite 39 UA 2. Absatz der Schwurgerichtskammer vorgegeben hat, mildernd zu berücksichtigen, daß der Angeklagte „in gewisser Weise auch Opfer des Grenzregimes" gewesen ist und daß höhere Funktionsträger, die {24} über einen größeren Überblick und differenziertere Ausbildung verfugten, bisher nicht zur Verantwortung gezogen worden sind, hat das Gericht diese Gesichtspunkte angemessen zu Gunsten des Angeklagten He. bedacht. Entscheidendes Gewicht kam dem entgegen der Auffassung der Verteidigung jedoch nicht zu. Der Versuch, die Mauerschützen als eigentliche „Opfer" darzustellen, während Gueffroy und Gaudian das Risiko tödlicher Verletzungen hartnäckig zunehmend gesucht hätten, obwohl bereits Schüsse fielen, überzeugt nicht. Dem Angeklagten He. wird nicht Gesetzestreue und Pflichtbewußtsein vorgeworfen, wie die Verteidigung meint, sondern die eigenhändige, rechtswidrige Verursachung des Todes des Chris Gueffroy und damit eine schwerwiegende Rechtsgutverletzung. Angesichts von mindestens 200 Toten als Opfer des Grenzregimes der DDR - neuere Schätzungen deuten sogar auf eine weit höhere Zahl von Opfern - ist die in Gesten erkennbar gewordene Verständnis- und Fassungslosigkeit nachvollziehbar, mit der die Nebenklägerin und Angehörige des Getöteten auf den Versuch reagierten, die „Opfer" in den Reihen der Schützen zu suchen. Weiterhin war zu bedenken, daß die Schwurgerichtskammer inzwischen auch Funktionäre der Führungsebene der DDR wegen der Todesfalle an der Mauer zu empfindlichen Freiheitsstrafen verurteilt hat und weitere Verfahren gegen hohe Funktionsträger des DDR-Regimes anhängig sind. Zudem kann

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die Frage, ob und wie andere Straftäter ver-{25}folgt werden, als Faktor außerhalb der Tat allenfalls mittelbaren Einfluß auf die Schuld des Täters, die Grundlage der Strafzumessung ist (§ 46 Abs. 1 StGB), haben. Inwieweit das Fehlverhalten der Führungskräfte und Funktionsträger und die darauf abzielenden Strafverfolgungsbemühungen vergleichbar sind mit der eigenhändigen Erfolgsverursachung, mag dahinstehen. Bei der Strafzumessung kommt es nicht auf „Rechtsgleichheit", sondern auf „Rechtsrichtigkeit" an (BGH[St] 28, 318, 324). Selbst bei Mittätern mit vermeintlich gleicher oder vermeintlich abgestufter Beteiligung sind Vergleichsmöglichkeiten zum Maß der Schuld gering. Vielmehr ist in jedem Einzelfall unter Abwägung aller Umstände die angemessene Strafe aus der Sache selbst zu finden (BGH 3 StR 178/79 bei Schmidt, MDR 1979, 884, 886). Entscheidende Bedeutung vermochte die Schwurgerichtskammer danach dem Umstand, ob und wie Funktionsträger der DDR verfolgt werden, nicht beizumessen. Unter Abwägung aller fur und gegen den Angeklagten He. sprechenden Umstände, bedenkend, daß spezialpräventive Einwirkung angesichts des Ausnahmecharakters der Tat maßvoll zu erfolgen hat und daß generalpräventive Erwägungen angesichts des Untergangs des Grenzregimes der DDR bedeutungslos sind und somit vorrangiger Strafzweck {26} die Sühne für begangenes Unrecht war, hat die Schwurgerichtskammer eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren als erforderlich, aber auch ausreichend und schuldangemessen verhängt. 2. Gemäß § 56 Abs. 1 und 2 StGB hat die Strafkammer diese Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Angesichts des bisherigen straffreien Lebensweges des Angeklagten und seines unauffälligen Nachtatverhaltens ist zu erwarten, daß er sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzuges keine strafbaren Handlungen mehr begehen wird. Im Fall der hier erkannten Freiheitsstrafe über einem Jahr reicht indes eine günstige Prognose allein nicht aus, um eine Bewährungsaussetzung zu tragen. Hier lagen jedoch besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB bei der Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit vor, die eine Strafaussetzung ermöglichen. Als solche Umstände wertet das Gericht das bedingt vorsätzliche Handeln auf Befehl und den eingeschränkten Handlungsspielraum des Angeklagten, der langjähriger Indoktrination und Deformierung des Rechtsbewußtseins in Schule, Massenorganisation und Politunterricht ausgesetzt war. {27}

C. [Der Angeklagte] Sch. 1. [Sachverhaltsfeststellungen, Feststellungen zur Person und rechtliche Würdigung] Anklage und Eröffnungsbeschluß legen dem Angeklagten Sch., einem ehemaligen Angehörigen der Grenztruppen der DDR, zur Last, in der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 an der innerstädtischen Berliner Mauer im Stadtteil Treptow zwischen Britzer Allee und Straße 16 durch eine Handlung zum Totschlag und zum versuchten Totschlag angestiftet zu haben, indem er als Postenführer des Angeklagten He. den Befehl zum Schießen auf die flüchtenden Chris Gueffroy und Christian Gaudian erteilte, als diese

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versuchten, unter Beschüß durch das Postenpaar K. und Sch. das letzte Hindernis, einen Metallgitterzaun, mittels einer sogenannten „Räuberleiter" zu überwinden. He. habe auf diesen Befehl kniend mit Einzelfeuer aus seiner Maschinenpistole Kalaschnikow Kaliber 7,62 mm gezielt auf die Flüchtenden geschossen. Sch. selbst habe nicht geschossen, sondern nur mit seiner mitgefuhrten Pistole auf die Flüchtenden gezielt. Die Grenzsoldaten hätten in bewußtem und gewollten Zusammenwirken die Schußwaffen eingesetzt und den Tod beider Flüchtlinge zumindest billigend in Kauf genommen. Christian Gaudian habe eine Schußverletzung am rechten Fuß erlitten, während Chris Gueffroy einen Herzdurchschuß erlitten habe, an dem er wenig später verstorben sei. {28} Dieser Vorwurf hat sich zwar dem äußeren Geschehensablauf nach bestätigt. Die Schwurgerichtskammer konnte allerdings trotz erheblicher Verdachtsmomente letzte Zweifel am Tötungsvorsatz des Angeklagten Sch. bei Erteilung des Befehls an seinen Untergebenen He. nicht ausräumen. Sie konnte, wie bereits die 23. große Strafkammer (UA S. 56) nur feststellen, daß der Angeklagte Sch. seine Pistole zog und auf die Flüchtlinge zielte, dabei jedoch nicht schoß. Er rief statt dessen seinem Posten, dem Angeklagten He. zu: „Jetzt müssen wir auch schießen. Schieß doch! Schieß doch!". Die Kammer konnte nicht ausschließen, daß der Angeklagte Sch. bei diesem Befehl davon ausging, daß He. die Flüchtlinge nur fluchtunfáhig, d.h. in die Füße oder Beine schießen, nicht jedoch tödliche Schüsse abgeben würde, so daß der Angeklagte Sch. mangels Vorsatz aus tatsächlichen Gründen freizusprechen war. {28a} Der Angeklagte Sch. hat - teilweise auf Vorhalt - eingeräumt, daß sich der äußere Ablauf des Tatgeschehens so zugetragen hat, wie es im Urteil der 23. großen Strafkammer vom 20. Januar 1992 festgestellt und oben (Abschnitt B.I.l.) in den wesentlichen Zügen wiedergegeben ist. Er habe, als die Flüchtenden am letzten Grenzzaun eine Räuberleiter bildeten und er gesehen habe, daß der obere den Sprung über die Mauer gleich schaffen würde, während neben den Flüchtlingen am Metallgitterzaun aufblitzende Einschüsse der mit Dauerfeuer schießenden Posten Sch. und K. erkennbar gewesen seien, zum Angeklagten He. sinngemäß gesagt: „Jetzt müssen wir auch schießen. Schieß doch! Schieß doch!" Daraufhin habe He. kniend mit aufgestützter Waffe drei Schüsse auf die Flüchtlinge abgegeben und das Feuer eingestellt, als die Räuberleiter zusammenbrach. Ob He. den Chris Gueffroy getroffen habe, könne er nicht sagen, möglicherweise habe das Postenpaar Sch./K. den tödlichen {29} Schuß abgegeben. Bei seinem Befehl habe er nicht gewollt und auch nicht damit gerechnet, daß He. einen tödlichen Schuß auf den Oberkörper eines der Flüchtlinge abgeben würde oder sie unter Inkaufnahme tödlicher Verletzungen beschießen würde. Er habe den Einsatz der Schußwaffe befohlen, damit He. auf die Beine oder Füße der Flüchtenden ziele und sie entsprechend der offiziellen Befehlslage fluchtunfähig schieße. Solche Schüsse auf die Beine habe er als rechtmäßig angesehen, um die Flucht zu verhindern, falls dies mit anderen Mitteln nicht mehr möglich sei. Er habe He. zu raschem Handeln antreiben wollen, da die Flucht des obenstehenden Flüchtlings, der bereits seine Hände auf der Zaunoberkante hatte, jeden Moment zu gelingen drohte. Er habe fest damit gerechnet, daß He. nur auf die Beine schießen würde, da er einige Zeit vor der Tat mit He. darüber diskutiert hätte, wie man sich bei einem versuchten Grenzübertritt verhalten solle. He. sei mit ihm einer Meinung gewesen - wie auch die anderen Grenzsoldaten der unteren militärischen Ränge, mit denen er über diese Sache gesprochen habe - , daß man allenfalls fluchtunfähig schießen und auf

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die Beine zielen werde, nicht aber tödliche Schüsse abgeben werde. Er habe auch die „Vergatterung" vor dem Dienst und die Belehrungen der Vorgesetzten so verstanden, daß der Schußwaffengebrauch letztes und äußerstes Einsatzmittel sei und daß nur fluchtunfähig geschossen werden sollte. {30} Die „Vertuschungsversuche" des MfS habe er als das Bestreben eingeschätzt, dem „Klassenfeind" keine Möglichkeit zur Hetze und Propaganda gegen die DDR zu eröffnen. Wenn einem der Flüchtlinge die Flucht gelungen wäre, hätte er keine disziplinarischen Folgen gefurchtet, wenn man nur beim Munitionszählen festgestellt hätte, daß man nicht untätig geblieben sei. Befragt, warum er nicht selbst mit der mitgeführten Pistole „Makarow" gefeuert habe, hat der Angeklagte Sch. folgende Angaben gemacht: Er habe sich im September 1988 einer Blinddarmoperation unterziehen müssen und sei erst im Januar oder Februar 1989 wieder „grenzdiensttauglich" gewesen, wobei ihm ärztlicherseits das Tragen der schweren Kalaschnikow verboten worden sei. Deshalb habe er die Pistole Makarow erhalten, mit der er nie zuvor geschossen habe und an der er auch nicht ausgebildet worden sei. Die Makarow sei eine Offizierswaffe. Er habe nicht einschätzen können, wie „das Ding reagiert" und wo der Schuß hingehe. Auf die fur Pistolenschüsse relativ große Distanz 39 m könnten stimmen - habe er das Risiko fur zu groß erachtet, einen Flüchtling lebensgefährlich mit der Pistole zu verletzen oder über die Grenzanlagen auf Westgebiet zu schießen, was strengstens untersagt gewesen sei. Er sei zudem ängstlich und nervös gewesen, zumal er sich immer noch krankheitsbedingt schwach gefühlt und einen anstrengenden Dienst von fast 16 Stunden bei nur vier Stunden Schlaf hinter sich gehabt habe. In seiner Erregung und aus {31} Entsetzen über das Geschehen habe er zu Gaudian, nachdem dieser festgenommen worden war, die Worte „Schwein" oder „Sau" gesagt und ihn mit gezogener Pistole bedroht. Dabei sei es ihm darum gegangen, Gaudian von weiteren „Dummheiten" und der Fortsetzung des Fluchtversuches abzuhalten. Er sei erschüttert gewesen über den Vorfall und habe sich nicht mehr unter Kontrolle gehabt, als er diese Äußerungen tat. Diese, den Tötungsvorsatz bestreitende Einlassung war dem Angeklagten zur Überzeugung der Kammer nicht mit der zur Verurteilung erforderlichen Sicherheit, bei der vernünftige Zweifel nicht mehr laut werden, zu widerlegen. Dabei ist die Frage, welche Anforderungen an die Vorsatzform des bedingten Vorsatzes zu stellen sind, nach dem StGB/DDR und dem StGB im wesentlichen gleich geregelt. § 6 Abs. 2 StGB/DDR bestimmt, daß vorsätzlich auch der handelt, wer zwar die Verwirklichung der im gesetzlichen Tatbestand bezeichneten Tat nicht anstrebt, sich jedoch bei seiner Entscheidung zum Handeln bewußt damit abfindet, daß er diese Tat verwirklichen könnte. Im Kommentar zum Strafgesetzbuch der DDR, herausgegeben vom Ministerium der Justiz und der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR 1984 heißt es dazu unter Anmerkung 4 zu § 6 StGB, daß die Besonderheit des bedingten Vorsatzes darin bestehe, daß der Täter bei der Entscheidung {32} zu einem bestimmten - nicht unbedingt deliktischem - Verhalten erkennt, daß er mit seinem geplanten Verhalten auch eine Straftat verwirklichen könnte, die er eigentlich nicht anstrebt. Der Täter sei damit vor eine besondere Entscheidungslage gestellt. Da er die Wahrscheinlichkeit, daß er mit seinem geplanten Verhalten zugleich auch eine Straftat verwirklichen könnte, mit Sicherheit nicht auszuschließen vermag, müsse er sich entscheiden, ob er sein Vorhaben aufgebe, um die deliktischen Folgen zu vermeiden, oder

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ob er es weiter verfolgt, und damit alle jenen Bedingungen setzt, die zur Verwirklichung des als möglich vorausgesehenen Delikts führen. Entscheide er sich unter diesen objektiv und subjektiv reflektierten Bedingungen dennoch dazu, sein eigentliches Ziel zu verfolgen, handle er hinsichtlich der verwirklichten Straftat mit bedingtem Vorsatz. Diese Voraussetzungen sind im wesentlichen deckungsgleich mit den zu § 15 StGB in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Kriterien, nach denen das Vorliegen des bedingten Vorsatzes zu beurteilen ist. Einigkeit besteht insoweit, daß der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintrittes reflektiert haben muß und sich im Augenblick der Tathandlung der möglichen Tatbestandsverwirklichung bewußt gewesen sein muß (BGH MDR/H 81, 630; Schönke/Schröder, StGB 24. Aufl. 1991, RdNr. 73 zu § 15 m.w.N.; Roxin, JuS 64, 53; BGH JZ 81, 35 = NStZ 81, 22). Schon an die-{33}sem „Wissenselement" des bedingten Vorsatzes würde es fehlen, folgte man der Einlassung des Angeklagten Sch., der fest damit gerechnet haben will, daß He. nur auf die Beine schießt und der damit an die Möglichkeit des Erfolgseintrittes überhaupt nicht gedacht haben will. Selbst wenn man ihm darin nicht folgen wollte, setzt der Eventualvorsatz neben dem Bewußtsein der Möglichkeit des Erfolgseintrittes weiterhin nach herrschender Rechtsprechung und überwiegender Meinung in der Literatur (im einzelnen streitig, vgl. Schönke/Schröder a.a.O. RdNr. 74 bis 87a zu § 15 StGB) ein voluntatives Moment voraus, nämlich die billigende Inkaufnahme des Risikos der Tatbestandsverwirklichung (vgl. BGH[St] 36, 1, 9 f.; GA 79, 106,107; NStE § 212 Nr. 18; NStZ 87, 362). Eine solche billigende Inkaufnahme des Erfolges liegt gerade bei besonders gefährlichen Gewalthandlungen - als solche muß der Befehl, auf die Flüchtenden zu schießen, angesehen werden - nahe (vgl. BGH NStZ 81, 22; NStE Nr. 19 zu § 212). Gleichwohl ist auch bei äußerst gefährlichen Handlungen zu bedenken, daß vor dem Tötungsvorsatz eine viel höhere Hemmschwelle steht als vor dem Gefahrdungs- oder Verletzungsvorsatz. Auch bei Voraussehen der Möglichkeit des Todeseintrittes kann es auch so liegen, daß der Täter ernsthaft auf das Nichteintreten des Erfolges vertraut (BGH NStE Nr. 5 zu § 212 StGB; vgl. auch NStE Nr. 2 zu § 212 StGB: im dortigen Fall zweifelte der BGH am bedingten Vorsatz eines Tä-{34}ters, der sein Opfer mit 23 Hammerschlägen auf Kopf und Nacken getötet hatte, „um es zum Schweigen zu bringen" und hob die Verurteilung des Landgerichtes wegen vorsätzlicher Tat auf). Unter Beachtung dieser Kriterien für die Prüfung des bedingten Vorsatzes sprechen zwar gewichtige Indizien gegen die Einlassung des Angeklagten Sch., diese war ihm jedoch, da andere Indizien seine Einlassung stützen, nicht mit der zur Verurteilung erforderlichen Sicherheit zu widerlegen. Insbesondere der äußere Geschehensablauf, die Aufforderung zum Schießen, das Schießen, Treffen und Töten durch den Untergebenen deutet auf einen entsprechenden Vorsatz des Befehlenden, daß dieser will, was da geschieht und daß dieser den tödlichen Ausgang billigend in Kauf nimmt. Diese Schlüssigkeit und Konsequenz des äußeren Geschehensablaufes und die Gefährlichkeit der Handlung gewinnt noch an Überzeugungskraft, wenn man das Handeln auf dem Hintergrund der Befehlslage und der Staatspraxis der DDR, wie sie sich zur Tatzeit darstellte, betrachtet. Dabei geht die Schwurgerichtskammer im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (Urteil vom 25. März 1993, UA Seite 40 unten) davon aus, daß die „wirkliche Befehlslage" dadurch gekennzeichnet war, daß die Verantwortlichen in vielfältiger Weise den

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Gueffroy

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Soldaten die Vorstellung vermittelten, ein ungesetzlicher Grenzübertritt, wie er hier stattfand, müsse mit allen Mit-{35}teln, äußerstenfalls auch mit tödlichen Schüssen, verhindert werden. Die Belobigung der Schützen, die Vertuschungsversuche durch das MfS und die Tatsache, daß disziplinarische oder strafrechtliche Ermittlungen nach Todesschüssen an der Mauer nicht angestellt wurden, machen deutlich, daß der Befehl von einem objektiven Beobachter so verstanden werden mußte, daß He. notfalls tödliche Schüsse abgeben sollte. Allerdings vermochte die Strafkammer nicht die Schlußfolgerung zu ziehen, daß auch der Angeklagte Sch. subjektiv sich tatsächlich mit seinem Befehl in diese Befehlslage einfügen wollte, also He. veranlassen wollte, zwar zunächst auf die Beine, im Falle einer Fortsetzung des Fluchtversuches aber auch auf den Oberkörper eines der Flüchtlinge zu schießen. Es ließ sich nämlich nicht widerlegen, daß zwischen den Angeklagten He. und Sch. eine dahingehende von der Befehlslage abweichende Vereinbarung bestand, nur fluchtunfähig und auf die Beine oder Füße zu schießen. Der Angeklagte He. hat insoweit die Einlassung des Angeklagten Sch. bestätigt und angegeben, daß man sich unterhalten habe und übereingekommen sei, daß man nur auf die Füße zu schießen habe. Er habe den Befehl des Sch., so verstanden, daß er nur auf die Beine schießen solle. Bei der kritischen Überprüfung des Wahrheitsgehaltes dieser übereinstimmenden Angaben der Angeklagten war zu bedenken, daß der Angeklagte He. kein Interesse mehr {36} hatte, den Angeklagten Sch. zu entlasten, nachdem bindend gerichtlich festgestellt war, daß He. den Tod verursacht hat. Vielmehr hätte es He. zur optimalen Verteidigung gereicht, hätte er angegeben, nur auf Befehl des Sch. den Todesschuß abgegeben zu haben. Mit der Entlastung des Angeklagten Sch. hat der Angeklagte He. somit möglicherweise einen für ihn strafzumessungsrelevanten ungünstigen Umstand dargetan. Daß die Schwurgerichtskammer oben zu seinen Gunsten im Zweifel davon ausgeht, daß er auf Befehl gehandelt hat, darf sich hier nicht zu Lasten des Angeklagten Sch. auswirken. Private Beziehungen zwischen den Angeklagten Sch. und He. und eine entsprechende Motivation zu falschen Angaben des He. sind nicht ersichtlich. Die Schwurgerichtskammer konnte daher ein Unterlaufen der Befehlslage durch die Absprachen der Soldaten nicht mit Sicherheit ausschließen, zumal angesichts der kritischen Diskussionen in der Öffentlichkeit der DDR zum Grenzregime zur Tatzeit auch nicht ohne weiteres Unglaubwürdigkeit vorliegt. Auch die Einlassungen der anderen Mauerschützen zu den „weißen Handschuhen" zeigen, daß 1989 auch unter einfachen Soldaten ein „Problembewußtsein" bezüglich der Todesfälle an der Mauer vorhanden war und möglicherweise abweichende Vereinbarungen getroffen wurden. {37} Gleichwohl hat die Kammer erwogen, ob sich der Angeklagte Sch. auf eine solche Absprache und ein solches Unterlaufen der Befehlslage verlassen konnte und durfte. So könnte man einwenden, daß die von der Befehlslage abweichenden Absprachen der Soldaten als bloße Meinungsäußerungen angesehen werden, aus denen sich keine sicheren Rückschlüsse auf das Verhalten des Einzelnen im konkreten Einsatzfall ziehen lassen. Insofern könnte auch bedeutsam sein, daß durch die vorangegangenen Feuerstöße des anderen Postenpaares sich die Situation so darstellte, daß K. und Sch. den Tod der Flüchtlingen billigend in Kauf nahmen, da ihre Feuersalven in Oberkörperhöhe am Metallgitterzaun einschlugen. In einer solchen Situation, wo bereits möglicherweise erkennbar lebensgefährliche Feuerstöße abgegeben werden, könnte dem Befehl „Schieß doch" auch der Sinngehalt zukommen, sich so wie das Postenpaar K./Sch., zu verhalten

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Dokumente - Teil 1

und den Tod billigend in Kauf zu nehmen. Indes konnte gerade fur K. und Sch. nicht festgestellt werden, daß sie tatsächlich den Tod der Flüchtlinge billigten. Zweifel an der möglichen Interpretation des Geschehens, daß Sch. irrtümlich von bedingt vorsätzlichen Schüssen der Grenzposten K. und Sch. ausging, drängen sich daher auf. Auch das Argument der Staatsanwaltschaft, daß es besonders hohes Können des Schützen erfordere, auf die Beine zu zielen und das solches in der konkreten Situation praxisfremd und praktisch unmög-{38}lich sei, greift nicht durch. Die Tatsache, daß Gaudian und Gueffroy Fußdurchschüsse erlitten, kann nämlich - wenngleich auch zufällige Treffer denkbar sind - auch darauf deuten, daß es He. tatsächlich möglich war, so genau zu schießen. Zu Gunsten der Angeklagten wird man diese Möglichkeit jedenfalls nicht ausschließen können. Angesichts des schnellen Handlungsablaufes konnte der Einlassung des Angeklagten Sch. auch nicht zwingend entgegen gehalten werden, daß er trotz der Absprachen über die Möglichkeit reflektiert hat, daß der Angeklagte He. sich von der Absprache lösen und gemäß der Befehlslage handeln würde. Entscheidendes Gewicht bei der Abwägung der Indizien zu der Frage, ob der Angeklagte Sch. die Hemmschwelle zum Tötungsvorsatz überschritten hat, kam nach Auffassung der Strafkammer daneben dem Umstand zu, daß Sch. selbst nicht geschossen hat, obwohl er eine schußbereite Pistole mit sich führte und diese bereits im Anschlag hatte, als er den Befehl erteilte. Hätte er die Flucht mit allen Mitteln auch unter Inkaufnahme des Todes der Flüchtlinge verhindern wollen, so hätte er selbst Schüsse aus der Pistole abfeuern können. Daß er nicht schoß, kann darauf hindeuten, daß dem Angeklagten Sch. entsprechend seiner Einlassung ein Schuß auf die für einen Pistolenschuß recht große Entfernung von 39 m zu risikoreich erschien, um sein Vorhaben, nur fluchtunfähig zu schießen, zu errei-{39}chen. Jedenfalls läßt sich dies nicht widerlegen. Sollte er aber bei seiner Entscheidung, ob er selbst schießt, die Hemmschwelle zur als möglich erkannten Tötung nicht überschritten haben, so läßt sich auch bezweifeln, ob er bei der Befehlserteilung diese Hemmschwelle ohne weiteres überschritten hat. Zu bedenken war schließlich auch, daß der Angeklagte unter dem Druck, handeln zu müssen, um nicht wegen Untätigkeit disziplinarisch belangt zu werden, und im Zustand hoher Erregung gehandelt hat. Die Zweifel erweckenden Indizien mußten sich daher zu Gunsten des Angeklagten mit der Folge auswirken, daß seine Einlassung nicht zu widerlegen war. Hiernach kam mangels festzustellenden Tötungsvorsatzes eine Bestrafung des Angeklagten Sch. wegen Anstiftung zum Totschlag an Gueffroy und tateinheitlich zum Totschlagsversuch betreffend Gaudian nicht in Betracht (vgl. § 22 StGB/DDR). Sein Verhalten erfüllte lediglich den Tatbestand der Anstiftung zur Körperverletzung und versuchten Körperverletzung (§§ 115, 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB/DDR; 223a, 22, 23, 26, 52 StGB). Eine Bestrafung aus dieser Tat kam aber nicht in Betracht, da die Annahme des Angeklagten Sch., solche Schüsse seien gerechtfertigt, jedenfalls einen unvermeidbaren Verbotsirrtum begründete (vgl. BGH Urteil vom 25. März 1993, Seite 41-42 UA). {40} Der Angeklagte Sch. war danach aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Gueffroy 2.

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Hilfsbeweisanträge

® Es folgen Ausführungen zu Hilfsbeweisanträgen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten Sch. sowie zu den Gründen ihrer Ablehnung durch das Gericht. ® {44}

D.

Nebenentscheidungen

1. Die Kostenentscheidung betreffend den Angeklagten Sch. beruht auf §§ 467 Abs. 1, 472 Abs. 2 StPO. Die Entscheidung über die ihm zu gewährende Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft beruht auf § 2 Abs. 1 StrEG. Gründe fur den Ausschluß (§ 5 StrEG) oder die Versagung der Entschädigung (§ 6 StrEG) lagen nicht vor. 2. Dem Angeklagten He. waren abweichend vom Antrag der Staatsanwaltschaft, wonach nur 4/5 der Verfahrenskosten und der Auslagen der Nebenklägerin dem Angeklagten He. auferlegt werden sollten, die vollen Verfahrenskosten und die der Nebenklägerin entstandenen notwendigen Auslagen zu überbürden, soweit er verurteilt worden ist, §§ 465 Abs. 1, 472 Abs. 1, 473 Abs. 1 StPO. Ihm fallen die Kosten des ersten Rechtszuges zur Last, weil er verurteilt worden ist, und die Kosten der Revision, weil sie im Sinne des § 473 Abs. 1 StPO erfolglos war. Ob ein Rechtsmittel erfolglos geblieben ist, bemißt sich nach der diesen Rechtszug abschließenden Entscheidung. Der Angeklagte He. hat dabei sein erklärtes Ziel, freigesprochen zu werden, nicht erreicht. Die Verurteilung zu einer milderen Bewährungsstrafe (zwei Jahre {45} statt drei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung) stellt lediglich einen Teilerfolg dar, der nach § 473 Abs. 4 StPO eine Ermäßigung der Gebühr und die Auferlegung von Auslagen auf die Staatskasse zulassen würde, soweit es unbillig wäre, den Angeklagten damit zu belasten. Unbillig wäre diese Belastung, wenn angenommen werden kann, daß der Angeklagte das Rechtsmittel nicht eingelegt hätte, wenn bereits das erste Urteil wie das jetzt erkannte ausgefallen wäre (vgl. BGH GA 1978, 241; ebenso KG 1 AR 1389/81 - 4 Ws 198/81 unveröffentlicht). Das ist vorliegend auszuschließen. Denn der Angeklagte He. ist nach wie vor der Ansicht, zu Unrecht verurteilt worden zu sein. Mehrfach, auch im letzten Wort und im Plädoyer der Verteidigung hat er vorgebracht, der tödliche Schuß könne nicht aus seiner Waffe stammen, er sei daher eigentlich - wäre der Schuldspruch nicht bindend nach der Entscheidung des Revisionsgerichts - freizusprechen. Es bleibe daher nur die Verhängung der Mindeststrafe. Hätte daher das Urteil der 23. großen Strafkammer auf zwei Jahre Freiheitsstrafe unter Strafaussetzung zur Bewährung gelautet, hätte der Angeklagte gleichwohl Revision eingelegt. Daher ist für eine Überbürdung der Kosten und Auslagen aus Billigkeitsgründen kein Raum.

Anmerkungen 1 2 3 4

Vgl. lfd. Nr. 1-1. Vgl. lfd. Nr. 1-2. Vgl. lfd. Nr. 2-2. Vgl. Anhang S. 969.

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Lfd. Nr. 2 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - F a l l M.-H. Schmidt1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 5.2.1992, Az. (518) 2 Js 63/90 KLs (57/91)

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2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 3.11.1992, Az. 5 StR 370/92

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Lfd. Nr. 2-1

Dokumente - Teil 1

Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 5.2.1992, Αζ. (518) 2 Js 63/90 KLs (57/91) Gründe

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I.

[Feststellungen zur Person]

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II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

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III. [Beweiswürdigung]

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IV. [Rechtliche Würdigung]

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V.

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[Strafzumessung]

Anmerkungen

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Erschießung eines fluchtenden DDR-Bürgers - Fall M.-H. Schmidt Landgericht Berlin Az.: (518) 2 Js 63/90 KLs (57/91)

Lfd. Nr. 2-1 5. Februar 1992

URTEIL Im Namen des Volkes Strafsache gegen 1.

den Fleischer Udo W., geboren 1964,

2.

den Elektromonteur Uwe Ha., geboren 1961,

wegen gemeinschaftlichen Totschlags Die 18. große Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Berlin hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 18., 30. Dezember 1991, 2., 6., 8., 13., 15., 20., 22., 27., 29. Januar und 5. Februar 1992, an der teilgenommen haben: {2} ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® in der Sitzung vom 5. Februar 1992 fur Recht erkannt: Die Angeklagten sind des Totschlags schuldig. Es werden verurteilt, der Angeklagte W. zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, der Angeklagte Ha. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten. Die Vollstreckung der Strafen wird zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagten haben die Kosten des Verfahrens zu tragen. Strafvorschriften: §§ 212, 213, 25 Abs. 2 StGB. {3}

Gründe I.

[Feststellungen zur Person]

1. Die frühkindliche Entwicklung des Angeklagten W. ist weitgehend unbekannt. Er befand sich bis zu seinem 2. Lebensjahr in einem Kinderheim, wurde 1967 als Pflegekind in den Haushalt der Eheleute W. aufgenommen und von ihnen 1970 adoptiert. Zu seinen Adoptiveltern, die altersmäßig seine Großeltern sein könnten, entwickelte er als Einzelkind eine sehr enge Beziehung, die bis heute andauert und die seinen Werdegang im wesentlichen bestimmte. Konflikte gab es - nach seinen Angaben - nicht. Der Adoptivvater, von Beruf Fleischer, war - obgleich parteilos - Bürgermeister der kleinen Gemeinde R., in der auch der Angeklagte noch heute wohnt. Die Adoptivmutter war als Tierpflegerin ebenfalls berufstätig. Der Angeklagte wurde 1970 altersgemäß eingeschult, hatte aber von Beginn an Lernschwierigkeiten und seine Leistungen in den theoretischen Bereichen waren schwach;

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Praktisches bewältigte er dagegen gut. Obgleich er dementsprechend wenig Lust und Interesse an dem theoretischen Lehrstoff hatte, absolvierte er die zehnklassige Polytechnische Oberschule bis zum Jahre 1980, weil er - nach seinen Worten - die Haltung hatte: Ich mache, was gemacht werden muß. {4} In seiner Schulzeit war er zunächst bei den „Jungen Pionieren", dann bei den „Thälmann-Pionieren" und schließlich seit 1977 in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) als Kassierer und in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) organisiert, wie die meisten Jugendlichen in der ehemaligen DDR. Der Angeklagte wollte eigentlich Automechaniker werden; dazu reichte aber die Note seines Abschlußzeugnisses nicht aus. Überdies riet ihm der Vater, dem er öfter bei Hausschlachtungen half, Fleischer zu werden und besorgte ihm eine Lehrstelle. Nach Aufnahme seiner Lehre trat der Angeklagte in den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) ein, wurde Kandidat der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und 1982 deren Mitglied. Sein Ausbilder hatte ihm geraten, der SED beizutreten, falls er seinen „Meister machen" wolle; der Angeklagte war aber auch von der Politik der SED überzeugt. 1982 erhielt er seinen Facharbeiterbrief und wurde von seiner Ausbildungsfirma übernommen. Im Juli 1983 heiratete er eine Klassenkameradin. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor. Der Familie wurde eine Wohnung im elterlichen Haus eingerichtet, die sie noch heute bewohnt. Am 1. November 1983 begann der Angeklagte seine dreijährige Militärzeit. Auf entsprechenden Rat hin hatte er sich für die verlängerte Dienstzeit verpflichtet, weil er in die Volkspolizei eintreten wollte, um so doch noch im Bereich der Fahrzeugwartung und -reparatur tätig sein {5} zu können. Er ging davon aus, die Dienstzeit dort ableisten zu können, wurde jedoch wider Erwarten zu den Grenztruppen versetzt, nahm dies aber hin, zumal er auch den Grenzdienst für erforderlich und gerechtfertigt hielt. Nach Ablauf seiner Militärzeit im November 1986 wurde er dennoch wegen eines geringfügigen körperlichen Mangels bei der Volkspolizei nicht eingestellt, fand aber wieder Anstellung als Fleischer, die er noch heute innehat. Sein monatliches Nettoeinkommen beträgt 1.400,00 DM, das seiner Ehefrau, die bei der Post arbeitet, 700,00 DM. Von 1986 bis 1989 war der Angeklagte Gemeindevertreter in seinem Wohnort und Volkspolizeihelfer. Der Angeklagte W. ist unbestraft. 2. Der Angeklagte Ha. wurde zunächst im wesentlichen von seiner Großmutter betreut, da seine Eltern, der Vater als Fernmeldemonteur, die Mutter als Verkäuferin berufstätig waren. Der Vater war Mitglied der SED, hielt den Angeklagten aber nicht zu „linientreuer" Gesinnung an. Mit sieben Jahren wurde er eingeschult und beendete die 10. Klasse der Polytechnischen Oberschule mit der Note gut. Er war in dieser Zeit Mitglied der „Jungen Pioniere", der „Thälmann-Pioniere" und der FDJ. Mit der Aufnahme seiner Elektromonteurlehre trat er in den FDGB und in die DSF ein. Im Jahre 1980 beendete er die Lehre und arbeitet seitdem - mit Unterbrechung durch seine Militärzeit bei demselben Betrieb für 1.600,00 DM brutto {6} monatlich. Von Mai 1984 bis November 1985 leistete er bei den Grenztruppen, zu denen er ungefragt versetzt wurde, seine Wehrpflicht ab. Die späte Einberufung verdankte er der Tatsache, daß er sich trotz dringlicher Aufforderung geweigert hatte, sich fur drei Jahre zu verpflichten. 1983 heiratete der Angeklagte, 1984 ging aus der Ehe eine Tochter und 1987 ein Sohn hervor.

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall M.-H. Schmidt

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Seine Ehefrau arbeitet als medizinisch-technische Laborassistentin in einem Krankenhaus und verdient monatlich ca. 1.800,00 DM brutto. Der Angeklagte Ha. ist unbestraft.

II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

Am 1. Dezember 1984 gegen 3.15 Uhr wurde in dem Grenzstreifen, der damals Berlin teilte, in Höhe der Häuser Schulzestraße 23/24 im Bezirk Pankow der 20jährige MichaelHorst Schmidt, der von Ost- nach Westberlin flüchten wollte, von den Angeklagten angeschossen; er verstarb an seinen Verletzungen wenige Stunden später, um 6.20 Uhr. An der Stelle des Geschehens war der Grenzstreifen zwischen der ihn nach Osten hin begrenzenden „Hinterlandmauer" (bestehend aus Betonplatten, Höhe 3,25 m) und der westlich gelegenen eigentlichen Grenzmauer (ebenfalls bestehend aus {7} Betonplatten mit einem Betonzylinder als Mauerkrone, Höhe 3,50 m) 29 m breit. Nach der Hinterlandmauer - von ihr aus nach Westen gesehen - folgte in einem Abstand von 3,50 m der „Signalzaun" (Höhe ca. 2,50 m) aus parallel in engen Abständen gespanntem Stacheldraht, dessen Berührung ein Alarmsignal sowie rote und grüne Rundumleuchten auslöste, wobei je nach Farbe der Beobachtungsbereich angezeigt wurde, in dem die Grenzverletzung erfolgte. In den Signalzaun eingefugt stand der knapp 5 m hohe Postenturm, dessen Wachraum rundum verglast war und auf dem die Angeklagten zur Zeit des Geschehens Dienst taten. Circa 1 m von dem Signalzaun entfernt und parallel zu diesem verläuft der asphaltierte ca. 3 m breite „Kolonnenweg" für Fahrzeuge, neben diesem die „Lichttrasse" die durch Peitschenmastlampen in Abständen von ca. 2,75 m gebildet wurde und den Grenzstreifen taghell erleuchtete. Zwischen dem Kolonnenweg und der eigentlichen Grenzmauer lag der ca. 21 m breite „Kontrollstreifen" mit Panzersperrelementen etwa 9 m vor der Grenzmauer. Die Angeklagten, W. als Unteroffizier, Ha. als Soldat, waren zur Zeit des Geschehens Angehörige der von dem Unteroffizier H. geführten Gruppe eines Zuges (Zugführer: der Zeuge Unteroffizier W.) der 2. Grenzkompanie (GK; Chef: der Zeuge Hauptmann Le., Stellvertreter: der Zeuge Norbert S. und für politische Arbeit zuständig: der Zeuge F.) des Grenzregiments (GR) 33 (Chef: der Zeuge Oberst Leo 1 ; dessen Stellvertreter: der Zeuge Major Walter Schulze 2 ), der die Sicherung der innerstädtischen {8} Grenzanlagen von deren nördlichem Endpunkt bis zum Brandenburger Tor oblag. Das Regiment 33 war unterteilt in fünf Kompanien mit je 4 Zügen zu je 3 Gruppen (8 bis maximal 20 Soldaten und Unteroffiziere), aus denen die Postenpaare (ein Postenführer und ein Posten) für jede Einsatzschicht für den Dienst im Grenzstreifen neu und in der personellen Zusammensetzung möglichst wechselnd gebildet wurden. Die Zusammenstellung der Postenpaare erfolgte zunächst durch die Kompanieführung. Deren Liste wurde durch den für die Kompanie zuständigen Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) überprüft, wobei darauf geachtet wurde, daß für jedes Postenpaar mindestens ein als besonders zuverlässig geltender Soldat oder Unteroffizier eingeteilt wurde. Bei dem Postenpaar W./Ha. war das der Angeklagte W., der sich als „gesellschaftlicher Mitarbeiter (GMS)" dem MfS gegenüber verpflichtet hatte, Meinungsbilder aus der Truppe zu geben und Äußerungen von Kameraden zu melden, die auf die Bereitschaft zur Fahnenflucht deuten konnten.

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Der Angeklagte W. war nach halbjähriger Ausbildung in der Unteroffiziersschule in Perleberg im April 1984 zum Grenzregiment (GR) 33 versetzt worden, wo er aufgrund seines Ranges als Postenführer eingesetzt wurde. Der Angeklagte Ha. war nach sechsmonatiger Schulung im Grenzausbildungsregiment im November 1984 in das GR 33 versetzt worden, wo er Ende November 1984 seine Ausbildung als Postenführer abschloß, fur die - nach seinen Worten - {9} nur die besten Soldaten ausgewählt wurden. Beide Angeklagte wurden - der Angeklagte W. mehrmals, der Angeklagte Ha. mindestens einmal - vor Antritt ihres unmittelbaren Grenzdienstes gefragt, ob sie bereit wären, gegen „Grenzbrecher" (Flüchtlinge) die Waffe einzusetzen; beide bejahten dies ohne innere Vorbehalte. Vor ihrer Versetzung zum GR 33 wurden beide Angeklagte sechs Monate lang an Waffen ausgebildet, vor allem an dem automatischen Infanterie-Gewehr „Kalaschnikow" AK 47, mit dem nach entsprechendem Umlegen des Sicherungs- und Funktionshebels sowohl Dauer- als auch Einzelfeuer (Hebelfunktionen in dieser Reihenfolge von oben nach unten) geschossen werden kann. Das Gewehr hat das Kaliber 7,65, das Magazin enthält 30 Patronen. Die maximale theoretische Feuergeschwindigkeit beträgt bei Dauerfeuer 600 Schuß pro Minute, bei Einzelfeuer auf eine feste Scheibe maximal 40 Schuß pro Minute. Das Visier hat die Einstellungsmarken 1 bis 8 (100 m bis 800 m), wobei es immer - auch am 1. Dezember 1984 - auf 3 (= 300 m) gestellt war. Bei der Schießausbildung wurde nicht geübt, eine bestimmte Stelle des Scheibenbildes zu treffen; der Schuß zählte als Treffer, wenn die Scheibe umfiel. In allen Schießarten hatte der Angeklagte W. sehr gute Schießergebnisse und erhielt deshalb schon vor Dezember 1984 die Schützenschnur, während der Angeklagte Ha. zunächst durchschnittliche Ergebnisse erzielte und erst 1985 die Schützenschnur erhielt. Aufgrund ihrer Waffenausbildung wußten beide Ange-{10}klagte, daß gezieltes Einzelfeuer die bei weitem treffsicherste Art des Schießens war, während schon bei kurzen Feuerstößen (3 bis 4 Schuß) mit Dauerfeuer - jeweils erneut ruhige und genaue Zielaufnahme vorausgesetzt - die Waffe nach dem ersten Schuß verzog, wobei mit zunehmender Entfernung der Streubereich der Einschüsse zunahm. Zweck der „kurzen Feuerstöße" ist es, eine größere Fläche zu „bestreuen" um so eher zu gewährleisten, das Ziel - wenn auch nicht die anvisierte Stelle - zu treffen; auch dies war den Angeklagten bekannt. Mit dem Eintritt in das GR 33 erhielten die Angeklagten ihre „persönliche" Kalaschnikow; anders als der Angeklagte W. hatte der Angeklagte Ha. mit „seinem" Gewehr vor dem 1. Dezember 1984 noch nie geschossen. Zur Schulung der Abläufe bei einer Grenzverletzung gehörte auch die praktische Ausbildung an einer dazu errichteten „Übungsgrenze", die der wirklichen Grenze nachgebildet war. Diese Übungen waren aber so eingerichtet, daß der Grenzverletzer immer ohne Waffeneinsatz gestellt werden konnte. Neben diesen Unterweisungen hatten die Angeklagten zweimal monatlich an politischer Schulung teilzunehmen. Dabei wurde ihnen vor dem Hintergrund der weltpolitischen Gegebenheiten die Funktion, Bedeutung und besondere Brisanz der Grenze DDR/BRD als militärischer Sicherheitsbereich, als Nahtstelle von Imperialismus und Sozialismus, NATO und Warschauer Pakt dargestellt und deshalb der Grenzschutz als unabdingbare Aufgabe zur Verhinderung von - eventuell friedensgefährdenden - Provokationen äußerer und innerer feindlicher {11} Kräfte vermittelt. Grenzdienst wurde

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als Gefechtsdienst gesehen. Dabei wurde die Gefahr von Provokationen aus dem „feindlichen Territorium" (Berlin-West) besonders hervorgehoben und mit Beispielen erschossener Grenzsoldaten belegt, für deren Gedenken in den Kasernen Zimmer mit ihren Namen eingerichtet waren. Personen (Grenzverletzer), die aus der DDR (Berlin-Ost) in Richtung Westen flüchteten, wurden den Angeklagten als Feinde des Sozialismus, Spione, Saboteure oder Straftäter geschildert, die - in der DDR enttarnt - keine andere Möglichkeit sahen, sich der Festnahme anders als durch Überwinden der „Sperrelemente" zu entziehen. Derartige Fluchtversuche wurden den Angeklagten, die davon auch ausgingen, generell als Verbrechen dargestellt, unabhängig davon, ob sie allein oder zu mehreren, mit Waffen, gefährlichen Mitteln oder „schwerem Gerät" erfolgten. Die Kammer hat insoweit als wahr unterstellt, daß „Republikflucht" (§213 StGB/DDR) mit unmittelbarem Mauer-/ Grenzkontakt im Jahre 1984 in den meisten Fällen als Verbrechen gewertet wurde und Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren zur Folge hatte. Das Grenzgesetz (GrenzG; Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik) - insbesondere die § § 2 6 und 27 3 - wurde in der Ausbildung eingehender erörtert, während § 213 StGB/DDR 4 möglicherweise ohne Differenzierung nach der Tatschwere besprochen wurde. Eigene Kenntnisse - etwa durch das Studium der maßgeblichen Vorschriften verschafften sich die Angeklagten nicht. Der Angeklagte Ha. wußte sich auch noch zu erinnern, daß ihm {12} vermittelt worden war, Befehle, die gegen die Menschlichkeit verstießen, brauchten nicht befolgt zu werden; mit dieser Problematik hatten sich beide Angeklagte aber nie auseinandergesetzt. Die auch für die Angeklagten maßgebliche, von ihnen so verstandene und akzeptierte Befehlslage ging dahin, auf jeden Fall und letztlich mit allen Mitteln zu verhindern, daß der Flüchtende „feindliches Territorium" (hier: Berlin-West) erreichte. Dementsprechend lautete eine der bei der „Vergatterung" auch gegenüber den Angeklagten verwendeten Formulierungen in ihrem Kernsatz: „Grenzdurchbrüche sind auf keinen Fall zuzulassen. Grenzverletzer sind zu stellen oder zu vernichten." Auf schwangere Frauen und Kinder (unter 14 Jahren) durfte nicht, auf Frauen und Jugendliche sollte nicht geschossen werden; auch durften keine Kugeln westliches Gebiet erreichen. Vor jedem Ausrücken zum Grenzdienst erfolgte die Vergatterung; durch sie wurde den Grenzposten noch einmal der konkrete Einsatz und in allgemeiner Form die gestellte Aufgabe bewußt gemacht. Die in der Schulung behandelte Befehlslage sah für den Fall der Entdeckung eines Flüchtenden im einzelnen folgendes Handlungsschema vor, wobei jeweils zur nächsten Handlungsstufe überzugehen war, wenn die vorherige keinen Erfolg zeigte oder sich von vornherein als nicht erfolgversprechend darstellte: - Anrufen des Flüchtenden: „Halt, Grenzposten. Stehenbleiben oder ich schieße!" {13} - Versuch des Postens, den Flüchtenden zu Fuß zu erreichen - Ein Warnschuß, gegebenenfalls ein gezielter Schuß auf Sachen oder Tiere - Gezieltes Einzelfeuer - falls erforderlich mehrmals - auf die Beine - Weiterschießen, egal wie, notfalls auch erschießen, bis die Flucht verhindert ist. Als Faustregel galt: Besser der Flüchtling ist tot, als daß die Flucht gelingt, wobei allerdings das Wort „töten" in der Befehlsgebung nicht verwendet wurde.

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Im erstgenannten Fall hatte dies keine negativen Konsequenzen; davon gingen auch die Angeklagten angesichts der Befehlslage aus. Vielmehr wurden die Posten, die eine Flucht - gleich auf welche Weise - verhindert hatten, belobigt, ausgezeichnet, erhielten eine Geldprämie und möglicherweise Urlaub. Im zweiten Fall war mit einer Untersuchung zu rechnen, die bei Feststellung von Befehlsverstößen disziplinarische [Maßnahmen] (z.B. Versetzung, Degradierung) zur Folge hatten; so sahen es auch die Angeklagten. Es war allgemein - auch den Angeklagten - bekannt, daß eine gelungene Flucht das Schlimmste war, was der Kompanie passieren konnte, da sie der ihr gestellten Aufgabe nicht gerecht geworden wäre und deshalb auch Nachteile bei ihrer Bewertung im Rahmen des „Sozialistischen Wettbewerbs" hätte hinnehmen müssen. Aus Anlaß besonderer Feiertage (Parteitage, Pfingsttreffen der FDJ u.a.), Staatsbesuchen in der DDR oder von DDR-Politikern im Ausland wurde der Schießbefehl dahin einge-{14}schränkt, daß nur in Notwehr oder bei Anwendung „schwerer Technik" oder Fahnenflucht von der Waffe Gebrauch gemacht werden durfte; gleichzeitig wurde die Postendichte erhöht. Am 30. November 1984 waren die Angeklagten für die Nachtschicht (22.00 bis 6.00 Uhr) zum 1. Dezember 1984 als Motorradstreife eingeteilt. Ihre Aufgabe war es, während des Wechsels zwischen der Besatzung eines Postenturms und der des nächstgelegenen Freilandpostens den Turm zu besetzen, um so keine Sicherheitslücke entstehen zu lassen. Gegen 3.00 Uhr des 1. Dezember 1984 besetzten die Angeklagten im Sicherungsabschitt 2 den Postenturm, der sich etwa 30 m südlich des Hauses Schulzestraße Nr. 29 im Bezirk Pankow befand. Michael Schmidt, der sich in dieser Nacht zur Flucht entschloß, war mit den Verhältnissen in der ehemaligen DDR seit längerer Zeit unzufrieden, wollte aber keinen Ausreiseantrag stellen, um seiner Familie - insbesondere dem Bruder, der studierte - keine Schwierigkeiten zu bereiten. Ausschlaggebend fur seinen Entschluß zur Flucht war wohl letztlich ein Musterungsgespräch, in dem er es strikt abgelehnt hatte, zum Grenzdienst eingesetzt zu werden; der Musterungsoffizier hatte darauf äußerst heftig reagiert. In der Zeit danach verdichteten sich seine Fluchtabsichten immer mehr. Schon im Sommer 1984 sprach er mit seinem Freund, dem Zeugen S., über die Möglichkeit, die Grenzanlagen zu überwinden. Auf dessen Warnung, eine solche Flucht wäre Selbstmord, entgegnete er, das schaffe man {15} schon; man müsse es nur richtig vorbereiten. Michael Schmidt, fleißig und beliebt bei seinen Kollegen, arbeitete als Zimmermann in einer Brigade, die Häuser in der Schulzestraße sanierte, deren Hof durch die Hinterlandmauer begrenzt wurde; er kannte sich deshalb dort gut aus. In der Nacht zum 1. Dezember 1984 hielt er sich zunächst in einem Jugendclub in der Grabbeallee auf, wo er mehr als sonst trank, und verließ den Club in Begleitung einer unbekannt gebliebenen Person. Mit ihr ging er zu einem nahegelegenen Werkzeugraum seiner Brigade, wo beide zwei Leitern holten, die sie zur Hinterlandmauer in Höhe der Häuser Schulzestraße 23-24 trugen. Der unbekannte Begleiter trat aber nach dem Anstellen der Leiter von dem Fluchtvorhaben zurück. Die Angeklagten hatten ihn nicht bemerkt und gingen von der Flucht einer Person aus. Michael Schmidt kletterte gegen 3.10 Uhr knapp 130 m nördlich des Postenturmes der Angeklagten auf die Hinterlandmauer. Dort sah ihn zunächst der Angeklagte W., rief sinngemäß „Ede (übliche Bezeichnung für Grenzverletzer) kommt!", befahl dem Angeklagten Ha. vorschriftsmäßig

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall M.-H. Schmidt

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„absitzen!" und machte über die Postensprecheinrichtung dem Zeugen W. im Zugführerturm Meldung. Ohne daß die Angeklagten sich noch hätten darüber verständigen müssen, handelten sie im folgenden mit dem beiden vorgegebenen Ziel, den Grenzdurchbruch auf jeden Fall zu verhindern. Der Angeklagte Ha. kletterte - gemäß dem vorgeschriebenen Handlungsablauf - den Turm hinunter, währenddessen rief der Angeklagte W. dem Flüchtenden, der inzwischen den {16} Signalzaun überstiegen und dadurch optischen und akustischen Alarm ausgelöst hatte, sinngemäß zu: „Halt, Stehenbleiben!". Als Michael Schmidt nicht reagierte und mit der Leiter weiter auf kürzestem Weg zur Grenzmauer hin lief, schoß der Angeklagte W. kurze Feuerstöße über ihn hinweg, um ihn so zum Stehenbleiben zu veranlassen. Michael Schmidt und der Angeklagte Ha. liefen parallel zueinander auf die Grenzmauer zu, Ha. noch etwa 10 m an ihr entlang in Richtung des Flüchtenden. Als dieser die knapp 4 m lange Leiter an die Grenzmauer anstellte und sich anschickte, sie zu besteigen, war für den Angeklagten Ha. klar, daß er Michael Schmidt nicht mehr erreichen würde und nur noch gezieltes Feuer die Flucht würde verhindern können. Ha. blieb stehen, lehnte sich an die Mauer, zielte auf die Waden des Flüchtenden und schoß im Schulteranschlag aus ca. 110 m Entfernung in mehreren kürzeren oder wenigen längeren Feuerstößen in den nächsten maximal 5 Sekunden mindestens 25 Schuß, während Michael Schmidt die erste Sprosse bestieg und zügig die Leiter hochkletterte. Der Angeklagte W. zielte in dieser Phase ebenfalls auf die Beine des ca. 150 m entfernten Flüchtlings und schoß - die Waffe im Schulteranschlag und auf die Fensterbrüstung aufgestützt - in kurzen Feuerstößen; er verschoß insgesamt mindestens 27 Patronen. Beide Angeklagte hielten Michael Schmidt weder für einen Spion noch für einen Saboteur oder Kriminellen, sondern für einen jungen Mann, der „im Westen sein Glück machen" (so W.) und nur rauswollte und es anders nicht geschafft hat (so Ha.). {17} Sie wollten ihn nicht töten, erkannten aber die Möglichkeit eines tödlichen Treffers. Auch um diesen Preis wollten sie aber gemäß dem Befehl, den sie für bindend hielten, das Gelingen der Flucht verhindern. Um die Ausführung des Befehls auf jeden Fall sicherzustellen, der zur Vereitelung der Flucht auch die bewußte Tötung des Flüchtenden einschloß, schössen sie - das als Vorstufe vorgeschriebene gezielte Einzelfeuer auslassend - in kurzen Feuerstößen Dauerfeuer. Sie wußten, daß dieses zwar die Trefferwahrscheinlichkeit, wenn auch nicht in dem anvisierten Bereich, erhöhte, damit aber auch das Risiko eines tödlichen Schusses. Als Michael Schmidt etwa um 3.15 Uhr bereits eine Hand auf die Krone der Mauer legte, wurde er von einem Schuß des Angeklagten W. und - ohne daß die zeitliche Reihenfolge hätte festgestellt werden können, spätestens jetzt - von einem weiteren des Angeklagten Ha. getroffen, sackte in sich zusammen, worauf die Angeklagten das Feuer einstellten, rutschte die Leiter hinunter, verfing sich dabei mit einem Fuß zwischen deren Sprossen, stürzte mit ihr um und blieb bewegungslos liegen. Der Schuß des Angeklagten Ha. traf das linke Knie, der des Angeklagten W. den Rücken von Michael Schmidt. Die Angeklagten liefen zu dem Getroffenen, bei dessen Anblick dem Angeklagten Ha. schon der Gedanke kam, er habe etwas Falsches getan; dieser Gedanke beschäftigte ihn auch in der Folgezeit und wurde ihm zur Gewißheit. Der Angeklagte Ha., der durch das Geschehen sehr aufgeregt und nervös {18} war, sagte zu dem Angeschossenen: „Was machst Du denn für einen Scheiß?" Als der Angeklagte W. hinzukam, sagte Michael Schmidt: „Jetzt habt Ihr mich doch ge-

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kriegt." Beide Angeklagte gingen davon aus, daß er getroffen war, sahen aber nicht nach den Verletzungen und machten keine Anstalten, sich um ihn zu bemühen oder Erste Hilfe zu leisten. Kurz nach ihnen kamen der Unteroffizier H. und ein Soldat mit einem Kübelwagen vom Zugführerturm her und kaum später die Posten, die den Postenturm der Angeklagten besetzen sollten. Die Angeklagten wurden angewiesen, zunächst die Mauer zu sichern. Danach mußten sie beim Zugfuhrerturm eine Waffenkontrolle durchführen lassen und später in den Regimentsstandort [gehen] und dort ihre Waffen abgeben. Anschließend wurden sie zur Vernehmung zum MfS gebracht. In der Zwischenzeit kamen nach und nach Angehörige der Regimentsführung, der Volkspolizei und des MfS, deren Abteilung IX die Ermittlungen führte, zum Tatort. Der bewegungslose Michael Schmidt wurde an den Händen zu einem nahegelegenen, im Bau befindlichen Turm geschleift und dort - außerhalb des Sichtbereichs von Berlin (West) aus - auf dem Boden abgelegt. Er bat mehrfach vergeblich um Hilfe; auf Veranlassung des Zeugen Lehmann 5 wurde er lediglich zugedeckt. Die - den Angeklagten unbekannte - Befehlslage, nach der das weitere Geschehen ablief, war vorrangig von dem Geheimhaltungsinteresse bei derartigen Vorfällen bestimmt. Michael Schmidt durfte nicht mit der „Schnellen Medizinischen Hilfe" (d.h. einem normalen Krankenwagen), sondern nur mit einem Sanitätskraftwagen der Grenztruppen (Sankra) {19} transportiert werden. Der Sankra mußte von dem sogenannten Regiments-Med-Punkt in Treptow angefordert werden und hatte von dort aus zum „Ereignisort" eine Anfahrt von ca. 45 Minuten, die er ebenfalls aus Geheimhaltungsgründen - im einem Bereich von 500 m ab der Hinterlandmauer, in dem die Fahrstrecke teilweise verlief, ohne Blaulicht zu absolvieren hatte. Da ein Arzt nur bei schweren Verletzungen angefordert wurde, deren Bezeichnung aber nicht Gegenstand der Vorfallsmeldung sein durfte, war der Sankra nur mit Sanitätern besetzt. Der Sankra traf um 4.25 Uhr am Hinterlandtor ein, durch das Michael Schmidt kurz zuvor mit einem Trabant-Kübelwagen gebracht worden war. Er wurde - auch dies befehlsgemäß - nicht zum nächstgelegenen, sondern zu dem wesentlich entfernteren Krankenhaus der Volkspolizei gebracht, wo er kurz vor 5.30 Uhr eingeliefert wurde. Keiner der in diesem Ablauf tätigen und für ihn verantwortlichen Offiziere war bereit, von Befehlen abzugehen und schnellstmögliche Hilfe zu gewährleisten. Ihrem Vorgesetzten, dem Zeugen Dr. Li., damals Regimentsarzt, durften die Sanitäter von ihrer Fahrt keine Meldung machen. Der Zeuge W., Zugführer zur Tatzeit, mußte am nächsten Tag unterschreiben, daß der Nachtdienst ohne besondere Vorkommnisse verlaufen war. Im VP-Krankenhaus wurden sofort die erforderlichen ärztlichen Maßnahmen für eine Notoperation getroffen. Sie konnten aber den Tod des Michael Schmidt nicht verhindern; er starb um 6.20 Uhr an den Folgen des Schusses in den Rücken. Bei unverzüglicher ärztlicher Hilfe hätte sein Leben mit {20} Sicherheit erhalten werden können. Bei dem Rückenschuß drang die Kugel von links nach rechts mit einer Neigung von ca. 16° in den Brustraum ein, führte u.a. zu einer Gewebszerreißung des linken Lungenunterlappens, die eine Blutung in der Brusthöhle zur Folge hatte, und trat an der rechten Rückenseite aus. Der Tod trat durch vor allem innere und geringe äußere Verblutungen infolge der Lungengewebszerreißung ein. Der Knieschuß war für den Tod ohne Bedeutung, weil er ohne Verletzung wesentlicher Blutgefäße die Kniekehle glatt durchschlug. Die Krankenunterlagen wurden - ebenfalls aus Geheimhaltungsgründen - von einem MfS-Mitarbeiter mitgenommen; im Eingangsbuch wurde Michael Schmidt unter „XY"

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geführt. Das Röntgenbuch enthält - dies war offensichtlich übersehen worden - seinen Namen. In dem Totenschein wiederum wird der Tote als „Unbekannt" bezeichnet. Der Vater des Angeklagten, der Zeuge Sch., wurde erst am 4. Dezember 1984 von dem Tod seines Sohnes informiert; bis dahin wurde ihm auf seine Vermißtenmeldung hin vorgespiegelt, sein Sohn werde schon wiederkommen. Als der Angeklagte W. den Zeugen Le. fragte, ob der Flüchtling gestorben sei, erhielt er keine Antwort. Im übrigen hörten die Angeklagten nur dahingehende Gerüchte in der Kompanie; auch dort waren Einzelheiten geheimzuhalten. Die Angeklagten wurden allseits für ihr Handeln gelobt, mit einer Medaille für vorbildlichen Grenzdienst ausgezeichnet und erhielten die damit verbundene Geldprämie von 200,00 Mark, W. darüber hinaus Sonderurlaub. Die Aus-{21} Zeichnung trug der Angeklagte W. nur auf Aufforderung seines Vorgesetzten. Der Angeklagte Ha. trug seine Medaille nicht; er empfand, daß „Blut daran klebte". Beide Angeklagten wurden - wie dies in solchen Fällen üblich war - kurze Zeit nach dem 1. Dezember 1984 in andere Einheiten ohne unmittelbaren Grenzdienst versetzt.

III. [Beweiswürdigung] Die Sachverhaltsfeststellungen beruhen weitestgehend auf dem umfassenden Geständnis der Angeklagten, auch zur subjektiven Tatseite, verbunden mit einigen Angaben aus ihren polizeilichen Vernehmungen, die teils durch Erklärungen der Angeklagten auf Vorhalte hin, teils durch den vernehmenden Beamten, den Zeugen EKHK G. in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind. Die Einlassungen der Angeklagten sind in zahlreichen Punkten von Zeugen bestätigt und um Tatsachen ergänzt worden, die den Angeklagten nicht bekannt waren oder sein konnten. So hat der Zeuge G. Angaben zu den genauen Maßen der Grenzanlagen gemacht, die seitens der Kriminalpolizei vermessen worden sind, ergänzt durch in Augenschein genommene Fotos, die zum Teil noch in der Tatnacht gefertigt worden sind, sowie durch die Aussage des Zeugen Lehmann. Die Feststellungen zur Befehlslage beruhen ebenfalls im wesentlichen auf den glaubhaften Einlassungen der Angeklagten, die insbesondere deutlich gemacht haben, daß der Be-{22} fehl letztlich die Tötung des Flüchtlings verlangte, falls mildere Mittel zur Fluchtverhinderung nicht ausreichten. Dies haben die Zeugen B. (Chef der GK 3) und O. (Hauptmann im Stab des GR 33) bestätigt, während es - bezeichnenderweise die Zeugen in Abrede gestellt haben, die direkte Befehlsgewalt über die Angeklagten hatten; so die Zeugen Leo, Walter Schulze, Le., Norbert S. und W. Soweit allerdings der Angeklagte Ha. angegeben hat, es habe nach seiner Erinnerung keine Anweisung gegeben, nach dem Warnschuß zunächst Einzelfeuer zu schießen, ist dies im Sinne der Sachverhaltsfeststellungen widerlegt worden durch die überzeugende Einlassung des Mitangeklagten W. sowie der insoweit glaubhaften Bekundungen der Zeugen Norbert S., B. und Walter Schulze. Eine solche Anweisung entspricht im übrigen auch der genauen Abstufung der anzuwendenden Mittel, die der Befehl vorsieht. Abgesehen davon weichen die Einlassungen der Angeklagten nur in sehr wenigen Punkten von dem festgestellten Sachverhalt ab.

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So hat der Angeklagte W. angegeben, er habe in der Schießausbildung nur geübt, liegend zu schießen. Ist es einerseits schon für sich genommen unglaubhaft, daß die militärische Schießausbildung sich darauf beschränkt, so ist diese Einlassung auch widerlegt durch die glaubhaften Angaben des Angeklagten Ha. in Verbindung mit der Aussage des Zeugen Leo, damals Chef des Grenzregiments 33. {23} Bei der Schießausbildung wurde, wie beide Angeklagte bestätigt haben, auch das Schießen in kurzen Feuerstößen geübt. Die Kammer erachtet deshalb die Einlassung des Angeklagten Ha. - als widerlegt, er habe von einem Wegziehen der Waffe nichts bemerkt und sei darauf auch nicht aufmerksam gemacht worden. Sie ist im Gegenteil davon überzeugt, daß die Angeklagten das Verhalten der Waffe, insbesondere die Streuung der Schüsse schon bei kurzen Feuerstößen, genau kannten, zumal dies ein allgemeines Phänomen und von der Feinabweichung zu trennen ist, die bei jeder Waffe verschieden sein kann und durch die „Körnung" an jedem Gewehr angezeigt wird. Nach dem überzeugenden Gutachten des Waffensachverständigen EKHK Horn, bestätigt durch die Zeugen Leo, B. und Norbert S., steht für die Kammer fest, daß bei kurzen Feuerstößen - genaues Zielen und jeweils neue Zielaufnahme vorausgesetzt - nur der erste Schuß so zielgenau wie bei Einzelfeuer sein kann, die Waffe bei den weiteren Schüssen hingegen auswandert und die Treffer deshalb mit zunehmender Entfernung des Zieles um so stärker nach oben abweichend auseinanderliegen. Mit kurzen Feuerstößen wird deshalb geschossen, wenn es nicht zu sehr darauf ankommt, eine bestimmte Stelle, sondern das Zielobjekt überhaupt, gleichviel wo, zu treffen. Daraufkam es nach Überzeugung der Kammer den Angeklagten an. Hätten sie mit möglichst hoher Sicherheit die Beine des Flüchtenden treffen wollen, wie es der Befehl als nächste Eskalationsstufe nach dem Warnschuß vorsah, so hätten sie aufgrund ihrer Schießerfahrung Einzelfeuer gewählt. Dabei {24} übersieht die Kammer nicht, daß auch diesem in einer Situation wie der gegebenen das - wenn auch wesentlich geringere - Risiko eines tödlichen Schusses anhaftet. Beide Angeklagte haben aber mindestens mit kurzen Feuerstößen (also Dauerfeuer) geschossen. Der Angeklagte W. hat dies eingeräumt, während der Angeklagte Ha. angegeben hat, er wisse nicht mehr, ob er Einzel- oder Dauerfeuer geschossen habe. Es steht nach dem Geständnis der Angeklagten fest, daß Ha. mindestens 25 Schuß abgegeben hat. Der Angeklagte Ha. hat sich weiter dahin eingelassen, er habe begonnen zu schießen, als sich der Flüchtende gerade angeschickt habe, die erste Sprosse der Leiter zu besteigen oder dies bereits getan habe. Bis zu den Treffern, dem unmittelbar folgenden Abrutschen des Flüchtlings von der Leiter und der Feuereinstellung seitens der Angeklagten war der 1,70 m große (so der Obduktionsbefund) Michael Schmidt die Leiter ca. 1,50 m - d.h. fünf bis sechs Sprossen - hochgeklettert. Dies ergibt sich aus den Bekundungen der Augenzeugen Hans-Werner G., Thomas und René G. sowie der Zeugin Wi., die ausgesagt haben, der Flüchtling habe mindestens eine über den Kopf gestreckte Hand an der Mauerkrone (Höhe 3,50 m) gehabt, als er getroffen worden und abgerutscht sei. Nimmt man hinzu, daß die Zeugen Hans-Werner und René G. weiter glaubhaft bekundet haben, der Flüchtling sei schnell, eilig (so H.-W. G.), zügig und flink (so René G.) die Leiter empor gestiegen, so können zwischen dem Besteigen der ersten Sprosse und dem Erreichen der höchsten Position allenfalls {25} fünf Sekunden vergangen sein, in denen der Angeklagte Ha. 25 Schuß abgefeuert hat. Berücksichtigt man

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schließlich die überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Horn, wonach bei Einzelfeuer die Feuergeschwindigkeit - optimale Bedingungen vorausgesetzt - theoretisch maximal 40 Schuß pro Minute beträgt, fur vier Schuß also bereits sechs Sekunden benötigt würden, wird deutlich, daß der Angeklagte Ha. nicht gezieltes Einzelfeuer geschossen haben kann, sondern mindestens kurze Feuerstöße, jedenfalls Dauerfeuer, abgegeben haben muß. Angesichts dieses Beweisergebnisses bezüglich der Art des Schießens und ihres auch den Angeklagten bekannten - sehr erheblichen Risikos fur das Leben des Flüchtlings erachtet die Kammer die Einlassung des Angeklagten W., er sei davon ausgegangen, die Beine des Flüchtlings, auf die er gezielt habe, auch zu treffen, und diejenige des Angeklagten Ha., er habe damit gerechnet, den Flüchtling nicht tödlich zu treffen, als Schutzbehauptung. Die Angeklagten haben nach Überzeugung der Kammer vielmehr das gezielte Einzelfeuer auf die Beine ausgelassen und das gefährlichere Dauerfeuer (kurze Feuerstöße) gewählt, um so auf jeden Fall, auch unter Inkaufnahme der Tötung des Flüchtenden, die Flucht zu verhindern. Daß der Angeklagte Ha. tatsächlich nur die Kniekehle von Michael Schmidt getroffen hat, davon ist die Kammer überzeugt, ist angesichts der Feuergeschwindigkeit reiner Zufall, zumal hinzukommt, daß Ha. - nur ein mittelmäßiger Schütze, der mit seinem „persönlichen" Gewehr zuvor noch {26} nie geschossen hatte - unter großem Handlungsdruck und erst nach schnellem Lauf gefeuert hat. Dies belegt auch der Umstand, daß der Angeklagte W., ein sehr guter und mit seiner Waffe geübter Schütze, der auf den Turm zwar aufgeregt, im übrigen aber unbeeinträchtigt mit aufgelegtem Gewehr, wenn auch aus etwas weiterer Entfernung ebenfalls auf die Beine des Flüchtenden gezielt hat, ihn aber dennoch in den Rücken getroffen hat. Der Treffer in den Rücken laßt sich dem Angeklagten W., derjenige in die Kniekehle dem Angeklagten Ha. zuordnen. Nach den überzeugenden Ausführungen des Obduzenten, des Sachverständigen Prof. Dr. Schmechta, drang das Projektil in die linke Rükkenhälfte (131 cm oberhalb der Fußsohle) ein und trat 24 cm entfernt aus der rechten Rückenhälfte (124 cm oberhalb der Fußsohle) aus. Der Schußkanal hat eine deutlich von links nach rechts in einem Winkel von ca. 15° bis 16° abfallenden Verlauf. Dieser entspricht der Schußposition des Angeklagten W., der vom Turm aus in einer Höhe von knapp 4,5 m im spitzen Winkel (zum Verlauf der Grenzmauer) von links-hinten auf Michael Schmidt schoß. Nur eine sehr leichte Drehung des Oberkörpers nach links im Zuge der Aufsteigebewegung erklärt den Verlauf des Schußkanals. Derjenige des Treffers im Knie verläuft dagegen von der Einschußstelle an der linken Außenseite der linken Kniekehle horizontal zum Austrittspunkt an deren Innenseite. Diese Verletzung kann der Angeklagte W. nicht verursacht haben, da das Knie des Flüchtenden nie in einer Höhe {27} mit der Schußposition dieses Angeklagten war, wohl aber mit der des von links parallel der Mauer schießenden Angeklagten Ha., und beide das Feuer sofort einstellten, als [sie] die Trefferwirkung bemerkten und Michael Schmidt unmittelbar danach die Leiter hinabrutschte. Die zeitliche Reihenfolge der Treffer, die jedenfalls sehr kurz hintereinander erfolgten, läßt sich indessen nicht sicher feststellen; sie ist aber auch nicht von maßgeblicher Bedeutung.

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Der Kiüekehlendurchschuß, bei dem keine Vene oder Schlagader verletzt wurde, war für den Tod von Michael Schmidt ohne Bedeutung. Ursächlich war nach dem überzeugenden Gutachten des Prof. Schmechta nur der Rückendurchschuß, der vor allem eine Gewebszerreißung des linken Lungenunterlappens hervorrief, die zu starken Blutungen in die Brusthöhle führte. Michael Schmidt starb um 6.20 Uhr an innerer und äußerer Verblutung. Der Verletzte hätte gerettet werden können, wäre er unverzüglich in das nächste Krankenhaus gebracht und behandelt worden. Dies ist aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Schneider und des in der Hauptverhandlung (gemäß § 251 Abs. 2 StPO) verlesenen [Gutachtens] des Sachverständigen Prof. Dr. Häring erwiesen. Danach kommt es bei derartigen Verletzungen vor allem auf rasche Hilfe an mit dem Ziel, die Blutungen zu stillen, das Blut aus der Brusthöhle auszuleiten und es durch eine Bluttransfusion zu ersetzen. Schon die Tatsache, daß Michael Schmidt erst um 6.20 Uhr starb, also ca. drei Stunden und fünf Minuten nach dem {28} Eintritt der Verletzung, macht deutlich, daß bei schneller Einlieferung für die erforderlichen Maßnahmen genügend Zeit geblieben wäre. Die Feststellungen über den Geschehensablauf nachdem die Angeklagten den Tatort verlassen hatten, beruhen auf den Aussagen der Zeugen Lehmann, W., Walter Schulze und S. (Kriminalpolizei der DDR), der in seinem Protokoll des Ablaufes auch die Zeiten genau festgehalten hat. Auf den Bekundungen der Zeugen Lehmann, Walter Schulze, Dr. Li. (Regimentsarzt) und K. (Offizier für technisch-medizinische Sicherstellung) beruhen die Feststellungen zur Befehlslage und Praxis der medizinischen Hilfe für angeschossene Flüchtlinge. Über die Vorgänge im Volkspolizei-Krankenhaus hat der Zeuge Dr. M. glaubhaft ausgesagt. Die Feststellungen über die Zuständigkeit des MfS für die Ermittlungen bei Fällen der Waffenanwendung zur Fluchtverhinderung und die Geheimhaltung aller Vorgänge in diesem Zusammenhang hat die Kammer aufgrund der Aussagen der Zeugen Leo, Walter Schulze, Le., O., S., Wagner (Abteilung DC des MfS, zuständig für derartige Ermittlungen), V. und K. (beide Militärstaatsanwälte) getroffen. Die drei letztgenannten Zeugen sowie die Zeugen Leo, Norbert S. und Le. haben weiterhin glaubhaft ausgesagt, es sei ihnen in Fällen der Verletzung oder Tötung eines Flüchtlings nie ein Verfahren gegen die Schützen {29} bekannt geworden, hätten diese doch - so die Meinung der Zeugen - gesetzesgemäß gehandelt. Die Kammer hat danach die Überzeugung gewonnen, daß es solche Verfahren nicht gegeben hat. Daß im Gegenteil die Schützen immer belobigt und ausgezeichnet worden sind, hat die Kammer aufgrund der Aussagen der Zeugen Leo, Norbert S. und B. festgestellt. Die Zeugen Leo, Norbert S., Walter Schulze und O. (Offizier im GR 33) haben andererseits glaubhaft bekundet, im Falle einer gelungenen Flucht habe es Ärger, eine Untersuchimg gegeben und - bei nachgewiesenem Verschulden - eine disziplinarische Ahndimg (Versetzung, Degradierung), nicht jedoch (so der Zeuge O.) eine ernste Bestrafung. Zur Strafhöhe bei Verurteilung eines „Republikflüchtlings" im Falle von Grenzdurchbruchversuchen hat die Kammer das Urteil des Stadtbezirksgerichts BerlinPankow vom 24. Mai 1989 gegen Gaudian verlesen, der im Februar 1989 mit seinem Freund Gueffroy, der dabei erschossen wurde,6 die Flucht über die Grenzsicherungsan-

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lagen versucht hatte und deshalb wegen ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden ist. {30}

IV. [Rechtliche

Würdigung]

Auf die Angeklagten ist gemäß Artikel 315 Abs. 1 EGStGB in der Fassung der Anlage I, Kap. III, Sachgebiet C, Abschnitt II, Nr. 1 b des Einigungsvertrages i.V. mit § 2 Abs. 3 StGB das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anzuwenden, da die Tat der Angeklagten zur Tatzeit auch nach dem Recht der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (im folgenden DDR) mit Strafe bedroht war, das Recht der Bundesrepublik Deutschland jedoch fur die Angeklagten die günstigste Beurteilung zuläßt. Dies ergibt sich aus dem Vergleich sowohl der Strafrahmen des § 212 StGB/BRD und des § 112 StGB/DDR, als auch des - bei der Strafzumessung angewendeten - § 213 StGB/BRD und des entsprechenden § 113 StGB/DDR unter Berücksichtigung der §§ 14, 62 StGB/DDR (jeweils in der Fassung des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 28. Juni 1979). Nach den getroffenen Feststellungen haben sich die Angeklagten des gemeinschaftlichen Totschlags gemäß den §§ 212, 25 Abs. 2 StGB schuldig gemacht. Indem sie auf Michael Schmidt gezielte Schüsse abgaben, von denen ein Schuß des Angeklagten W. das Opfer in den Rücken traf und dessen Tod durch inneres Verbluten verursachte, haben beide Angeklagten den objektiven Tatbestand des § 212 StGB (§§ 112, 113 StGB/DDR) erfüllt. {31} Für den Angeklagten Ha. gilt dies deshalb, weil beide Angeklagten aufgrund eines einheitlichen Tatentschlusses in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken arbeitsteilig gehandelt haben. Dieses in stillschweigendem Einvernehmen erfolgte bewußte und gewollte Zusammenwirken beruhte auf dem ihnen vorgegebenen und von ihnen gebilligten Befehl, als Postenpaar gemeinschaftlich nach einem vorgegebenen Handlungsplan einen Flüchtenden unter allen Umständen an der Flucht zu hindern, ihn „zu stellen oder zu vernichten". Dieser Befehl war von beiden Angeklagten übereinstimmend dahin verstanden worden, daß ein Flüchtling zwar vorrangig durch möglichst lebensschonende Maßnahmen, nämlich durch gezieltes Einzelfeuer auf die Beine, an der Flucht zu hindern war, daß zur sicheren Erreichung des Zwecks (Verhinderung des Gelingens der Flucht) aber auch die Anwendung erkennbar lebensbedrohender Methoden, als letztes Mittel sogar die vorsätzliche Tötung des Flüchtlings geboten war. Beide Angeklagten gingen nach Auslösung des Grenzalarms durch Michael Schmidt davon aus, daß sich der jeweils andere entsprechend dem Befehl verhalten werde, und schössen jeder in einer das Leben ihres Opfers massiv gefährdenden Weise. Da sich das Handeln des Angeklagten W. fur den Angeklagten Ha. somit nicht als Exzeß darstellt, muß er sich dessen tödlich wirkenden Schuß als Mittäter gemäß § 25 Abs. 2 StGB (§ 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB/DDR) wie eigenes Tun zurechnen lassen. {32} Beide Angeklagten haben auch den subjektiven Tatbestand des § 212 StGB erfüllt, indem sie mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt haben. Dies ergibt sich aus den insoweit übereinstimmenden Einlassungen der Angeklagten, wonach sie die Gefährlichkeit der aus einer Entfernung von etwa 110 bzw. 150 m auf die Beine des in schneller Bewegung befindlichen Michael Schmidt abgegebenen Feuerstöße für das Leben des Flüchtenden erkannt, ihr Tun jedoch gleichwohl fortgesetzt haben, um das Risiko des

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Entkommens des Flüchtlings sicher auszuschließen. Damit, daß sie - wie von ihnen eingeräumt - die Möglichkeit, den Flüchtling durch ihre Schüsse zu töten, der Möglichkeit eines Gelingens der Flucht mit den damit für sie zur erwartenden Unannehmlichkeiten (Vorwürfe von Vorgesetzten, disziplinarische Maßnahmen) bewußt vorzogen, haben sie den Tod des Michael Schmidt billigend in Kauf genommen. Dem steht nicht entgegen, daß sich beide Angeklagten unwiderlegt dahin eingelassen haben, der Tod des Flüchtlings sei ihnen unerwünscht gewesen. Bedingter Vorsatz kann auch dann gegeben sein, wenn dem Täter der Eintritt des Erfolges unangenehm ist, er sich mit diesem Erfolg aber um des erstrebten Zieles willen - hier des Zieles, die Flucht mit Sicherheit zu verhindern - abfindet (vgl. BGHSt 7, 363, 369). Sowohl das Wissen um die möglichen Folgen ihres Tuns als auch die Billigung dieser Folgen lag bei den Angeklagten somit vor. Wie sich aus der Legaldefinition des § 6 Abs. 2 StGB/DDR ergibt, wonach vorsätzlich auch deqenige handelt, der die Verwirklichung der in dem gesetzlichen {33} Tatbestand bezeichneten Tat nicht anstrebt, sich jedoch bei seiner Entscheidung zum Handeln bewußt damit abfindet, daß er diese Tat verwirklichen könnte, lag aufgrund der subjektiven Vorstellungen der Angeklagten auch unter Zugrundelegung von DDRRecht Vorsatz vor. Die Angeklagten haben auch rechtswidrig gehandelt. Die von ihnen auf Michael Schmidt mit bedingtem Tötungsvorsatz abgegebenen Schüsse sind durch § 27 GrenzG i.V.m. § 213 StGB/DDR nicht gerechtfertigt. Zwar handelt es sich bei den genannten Vorschriften um Recht, das von dem erkennenden Gericht im Rahmen eines Rechtfertigungsgrundes zu beachten ist. Das konkrete Handeln der Angeklagten wird jedoch durch § 27 GrenzG nicht gedeckt. Die Geltungskraft von § 213 StGB/DDR im Rahmen eines Rechtfertigungsgrundes ergibt sich daraus, daß die innerstaatliche Wirkung dieser Vorschrift durch ihre Unvereinbarkeit mit völkerrechtlichen Abkommen nicht berührt wird. Auch steht § 213 StGB/DDR nicht in einem solchen Maße im Widerspruch zu fundamentalen Grundsätzen von Recht und Menschlichkeit im Sinne überpositiven Rechts, daß hieraus seine Unwirksamkeit herzuleiten wäre. Der zweifellos vorliegende Verstoß gegen den „ordre public" der Bundesrepublik Deutschland reicht nicht aus, um einem zur Tatzeit nach dem Recht der DDR bestehenden Rechtfertigungsgrund für nichtig zu erklären. {34} Strafandrohungen wegen ungesetzlichen Grenzübertritts stellen eine Einschränkung des Rechts auf Freizügigkeit dar. Dieses Recht existiert in verschiedenen Formen. Die Freizügigkeit im engeren Sinne beinhaltet das Recht, innerhalb eines Staates an jedem beliebigen Ort Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen. Sie ist in der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 11 GG, in der ehemaligen DDR war sie zur Tatzeit in Artikel 32 der Verfassung vom 6.4.1968 i.d.F. vom 7.10.1974 geregelt. Diese Form der Freizügigkeit wird durch § 213 StGB/DDR nicht eingeschränkt. Zwar bezweckte der „ungesetzliche Grenzübertritt" von DDR-Bürgern in aller Regel nicht die Ausreise ins Ausland, sondern in die andere Hälfte des geteilten Deutschland, die Bundesrepublik Deutschland. Spätestens nach Abschluß des Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 21. Dezember 1972 (im folgenden Grundlagenvertrag genannt) ist jedoch davon auszugehen, daß es zeitweise zwei souveräne deutsche Staaten, wenn auch als Teile eines noch nicht reorganisierten um-

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fassenden Staates „Gesamtdeutschland" gab; denn DDR und Bundesrepublik Deutschland bekräftigten in Artikel 3 des Grundlagenvertrages nicht nur die Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenze, [sondern] verpflichteten sich [auch] zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität.7 In Artikel 6 des Grundlagenvertrages heißt es weiter: „Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR gehen von dem Grundsatz aus, daß die Hoheitsgewalt {35} jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt. Sie respektieren die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten". Die von beiden Staaten ihren Bürgern garantierte innerstaatliche Freizügigkeit konnte sich damit nur auf das jeweilige Hoheitsgebiet beschränken (vgl. insoweit auch BVerfGE 43, 203, 211). Daß auch DDR-Bürgern auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland wie Bundesbürgern das Recht der Freizügigkeit zustand, leitete sich denn auch nicht aus der Vorstellung ab, Artikel 11 GG entfalte über das Gebiet der-Bundesrepublik Deutschland hinaus eine unmittelbare rechtliche Wirkung im gesamten Deutschland. Vielmehr ergab sich das Recht auf Freizügigkeit auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland für DDR-Bürger daraus, daß nach dem Rechtsverständnis der Bundesrepublik Deutschland die Bürger der DDR stets als deutsche Staatsangehörige betrachtet wurden, mit der Folge, daß ihnen automatisch alle im Grundgesetz garantierten Rechte zustanden, sobald sie sich in dessen Geltungs- und Schutzbereich begaben (vgl. BVerfGE 36, 1, 30). Von der Regelung des § 213 StGB/DDR war somit nicht die innerstaatliche Freizügigkeit, sondern die Freizügigkeit in der Sonderform der Ausreise- und Auswanderungsfreiheit betroffen. {36} Der Gedanke, daß es jedermann gestattet sein soll, sein Land zu verlassen, hat Eingang in verschiedene internationale Kodifikationen gefunden. Erstmals wurde er in Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 (im folgenden AllgErklMenschenR) aufgenommen, in dem es unter der Überschrift „Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit" heißt: „1. Jeder Mensch hat das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl seines Wohnsitzes. 2. Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren". In Artikel 12 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (im folgenden IPBPR) vom 16. Dezember 1966 ist neben dem Recht auf innerstaatliche Freizügigkeit unter Ziffer 2 geregelt: „Es steht jedem frei, jedes Land, auch sein eigenes, zu verlassen". In der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vom 1.8.1975 (KSZE-Schlußakte) drücken die Teilnehmerstaaten, zu denen auch die DDR gehörte, unter Korb 3 Nr. 1 a-e ihre Absicht aus, zum Zwecke der Entwicklung menschlicher Kontakte zwischen Bürgern verschiedener Staaten Ein- und Ausreisebeschränkungen möglichst abzubauen. {37} Die gesetzliche Regelung der Ausreise in der DDR, insbesondere aber deren praktische Handhabung durch die Paßbehörden, stand mit dem Geist der genannten völkerrechtlichen Abkommen nicht in Einklang: Nach § 13 PVAO (Paß- und Visaanordnung der DDR, Gesetzblatt der DDR 1979, Teil I, S. 151 ff.) i.V.m. § 1 PaßG (Gesetzblatt der

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DDR 1979, Teil I, S. 148) war die Ausreise grundsätzlich von der Erteilung eines Visums abhängig, dessen Ablehnung nach § 17 PVAO keiner Begründung bedurfte. Die Verweigerung der Ausreise war damit in das unüberprüfbare Ermessen der Paßbehörde gestellt, einen Schutz vor Willkür gab es nicht (vgl. zu zulässigen Einschränkungen der Ausreisefreiheit nach dem PaßG der Bundesrepublik Deutschland BVerfGE 6, 32, 42). Es ist allgemeinkundig, daß die Paßbehörden der DDR zumindest noch bis Mitte der 80er Jahre das ihnen eingeräumte Ermessen außerordentlich eng ausübten. Einem arbeitsfähigen Bürger, dessen Rückkehr nicht durch besondere persönliche Umstände gesichert erschien, wurde in der Regel kein Ausreisevisum erteilt. Ausreise und Auswanderung waren daher für solche Bürger nur illegal durch „ungesetzlichen Grenzübertritt" möglich. Vor dem Hintergrund dieser restriktiven Ausreisepraxis verstieß § 213 StGB/DDR, der für ungesetzlichen Grenzübertritt hohe Freiheitsstrafen bis zu acht Jahren vorsah, gegen den völkerrechtlich weitgehend anerkannten Grundgedanken, jedermann eine möglichst weitgehende Freizügigkeit auch in Form von Ausreise und Auswanderung zuzugestehen. {38} Keines der genannten völkerrechtlichen Abkommen vermochte jedoch eine direkte Wirkung auf das Recht der DDR in der Weise auszuüben, daß entgegenstehendes innerstaatliches Recht wegen seiner Unvereinbarkeit mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der DDR nichtig gewesen wäre. Für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die KSZE-Schlußakte ergibt sich dies daraus, daß beide Kodifikationen lediglich Programmsätze enthielten, ohne eine völkerrechtliche Bindungswirkung zu entfalten. Der IPBPR wurde zwar fur die DDR nach Ratifizierung am 2.11.1973 (Gesetzblatt der DDR 1974, Teil II, S. 57) und Hinterlegung der Beitrittsurkunde am 23.3.1976 im Verhältnis zu anderen Vertragsstaaten völkerrechtlich verbindlich; zu einer Transformation der in ihm enthaltenen völkerrechtlichen Vorschriften in innerstaatliches Recht hätte es aber nach der dualistischen Konzeption der Sozialistischen Staaten von der Umsetzung von Völkerrecht in innerstaatliches Recht zusätzlich einer Bestätigung durch die Volkskammer der DDR bedurft (Völkerrecht, Grundriß, Staatsverlag der DDR 1988, S.118). Eine solche in Artikel 51 der Verfassung der DDR vorgeschriebene Bestätigung ist nicht erfolgt. Sie wäre lediglich dann entbehrlich gewesen, wenn Artikel 12 IPBPR zu den „allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts, die dem Frieden und der Zusammenarbeit der Völker dienen" zu zählen wäre, die nach Artikel 8 Abs. 1 der Verfassung der DDR auch ohne ausdrückliche Bestätigung der Volkskammer generell in innerstaatliches Recht transformiert waren. Dies ist jedoch nicht der Fall, da Artikel 12 {39} IPBPR nicht universelles Völkergewohnheitsrecht enthält, sondern allenfalls sog. „soft law" (vgl. zu diesem Begriff Ipsen, Völkerrecht, 3. Auflage, § 19 RdNr. 13; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Auflage, § 545). Die Nichtigkeit von § 213 StGB/DDR im Rahmen eines Rechtfertigungsgrundes ergibt sich auch nicht aus einem Verstoß gegen überpositives Recht, das u.a. aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem IPBPR oder der KSZE-Schlußakte herzuleiten wäre. Wird die Strafbarkeit eines Handelns auf überpositives Recht gestützt, das innerstaatlich positiv geregelte Rechtfertigungsgründe außer Kraft setzt, so bedeutet dies einen Eingriff in die Rechtssicherheit. Ein derart schwerwiegender Eingriff in das Rechts-

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gefüge eines Staates muß auf Extremfalle beschränkt bleiben (vgl. BVerfGE 3, 225, 232; 6, 132, 199). Er ist zulässig, wenn die in Frage stehenden Gesetzesbestimmungen dem „Kernbereich des Rechts" widersprechen. Dieser Kernbereich umfaßt bestimmte als unantastbar angesehene Grundsätze menschlichen Verhaltens, die sich bei allen Kulturvölkern auf dem Boden übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der Zeit herausgebildet haben, und die als rechtlich verbindlich gelten, gleichgültig, ob einzelne Vorschriften nationaler Rechtsordnungen es zu gestatten scheinen, sie zu mißachten (BGHSt 2, 234). {40} Die genannten völkerrechtlichen Konventionen und Abkommen enthalten zweifellos Regelungen, die diesen von allen Kulturvölkern anerkannten Kernbereich des Rechts zuzurechnen sind, wie z.B. das Verbot der willkürlichen Tötung (Art. 6 Nr. 1 IPBPR), des Völkermordes (Art. 6 Nr. 3 IPBPR), der Folter (Art. 5 AllgErklMenschenR, Art. 7 IPBPR) der Sklaverei (Art. 4 AllgErklMenschenR und Art. 8 IPBPR). Darüber hinaus enthalten sie aber auch Postulate für einen Menschenrechtsstandard, dessen optimale Verwirklichung zwar wünschenswert, aber noch keineswegs allgemeine Übung in der Staatengemeinschaft ist. Hierzu gehören beispielsweise das Recht auf soziale Sicherheit, auf Arbeit und gleichen Lohn, auf Erholung und Freizeit, auf soziale und kulturelle Betreuung (Art. 24 bis 26 AllgErklMenschenR). Auch das Recht auf Ausreise- und Auswanderungsfreiheit gehört (noch) nicht zu jenen elementaren Menschenrechten, die als sog. „ius cogens" des Völkerrechts die Vertragsfreiheit der Staaten beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge binden und die Dispositionsfreiheit bei der Regelung innerstaatlichen Rechts begrenzen. Gegen die Annahme, die Freizügigkeit - noch dazu in ihrer Sonderform der Ausreise· und Auswanderungsfreiheit - stelle ein allgemein anerkanntes elementares Menschenrecht dar, spricht schon der in Artikel 12 Abs. 3 IPBPR enthaltene, außerordentlich weit gefaßte Gesetzesvorbehalt für innerstaatliche Rechtsordnungen, der denn auch je nach Gesellschaftssystem zu grundsätzlich unterschiedlichen Auslegungen geführt hat (vgl. hierzu von Mangoldt, „Die kom-{41}munistische Konzeption der Bürgerrechte und die Menschenrechte des Völkerrechts" in BT-Drs. 11/1344 vom 12.11.1987 S. 24). Das Bundesverfassungsgericht hat in dem sog. „Elfes-Urteil" (BVerfGE 6, 32 ff.) die Ausreisefreiheit nicht als Unterfall des in Artikel 11 GG garantierten Grundrechts auf Freizügigkeit mit dem sich aus dieser Vorschrift ergebenden eingeschränkten Gesetzesvorbehalt anerkannt; vielmehr soll die Ausreisefreiheit lediglich als Ausfluß der allgemeinen Handlungsfreiheit des Artikel 2 GG geschützt sein. Dies hat zur Folge, daß sie mittels Paßversagung, u.a. aus Gründen der „Gefahrdung sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland", weitgehend eingeschränkt werden kann. Die Auswanderungsfreiheit in den Grundrechtskatalog aufzunehmen, wurde vom Parlamentarischen Rat sogar ausdrücklich abgelehnt, weil angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Nachkriegszeit - solche haben in der DDR bis zuletzt bestanden eine starke Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung befürchtet wurde (vgl. Rittstieg in AK zum GG, 2. Auflage, Artikel 11 RdNr. 38; Pieroth, JuS 1985, 81, 85). Wäre die Auswanderungsfreiheit ein elementares Menschenrecht, so hätten wirtschaftliche Erwägungen, wie sie im Parlamentarischen Rat angestellt wurden, ihrer Anerkennung als Grundrecht schwerlich entgegenstehen dürfen. Die strafrechtliche Sanktionierung

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illegaler Ausreise und Auswanderung vor dem Hintergrund einer restriktiven Ausreisegesetzgebung der DDR ist insbesondere nicht mit jenen {42} gegen den Kernbereich des Rechts verstoßenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vergleichbar, die vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg nach einem auf Naturrechtsgedanken zurückgehenden Völkerstrafrecht abgeurteilt wurden. Der Charakter dieser unter dem Nationalsozialismus begangenen Taten, die unabhängig von dem zur Tatzeit geltenden positiven innerstaatlichen Recht bestraft wurden, ergibt sich aus der beispielhaften Aufzählung in Artikel II 1 c des Gesetzes Nr. 10 des Kontrollrats der alliierten Kontrollbehörde bzw. aus Artikel 6 des Statutes des Internationalen Gerichtshofs. Genannt sind darin Straftaten wie Mord, Ausrottung, Versklavung, Zwangsverschleppung, Folterung, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen. Der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit ist daher im vorliegenden Fall zu Gunsten der Rechtssicherheit zu lösen; denn auch nach dem weitgehend Naturrechtsgedanken vertretenden Rechtsphilosophen Gustav Radbruch hat das positive Recht auch dann den Vorrang, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat (Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105, 107). Die Einschränkungen der Ausreise- und Auswanderungsfreiheit in der DDR sowie die an den ungesetzlichen Grenzübertritt anknüpfenden Strafbestimmungen waren hart und ungerecht; ein unerträgliches Maß an Ungerechtigkeit, {43} wie es beispielsweise in der Rassengesetzgebung des Nationalsozialismus zum Ausdruck kam, wiesen sie jedoch nicht auf. Die Gesetzgebung der DDR zur Ausreise und Auswanderung einschließlich der strafrechtlichen Sanktionierung des ungesetzlichen Grenzübertritts verstieß allerdings gegen den „ordre public" der Bundesrepublik Deutschland; denn mit rechtsstaatlichen Grundsätzen einer westlichen Demokratie war weder das unkontrollierbare und damit willkürlichen Entscheidungen Vorschub leistende Genehmigungsverfahren noch das mit der Versagung der Ausreise bzw. Auswanderung von der DDR angestrebte, im Erhalt der sozialistischen Machtstruktur liegende Ziel vereinbar (BGHSt 14, 104 f f ) . Ein Verstoß gegen den „ordre public" der Bundesrepublik Deutschland ist jedoch nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit einem Verstoß gegen den Kernbereich des Rechts. In Bezug auf Einschränkungen der Ausreise- und Auswanderungsfreiheit, wie sie die DDR vorgenommen hat, ist dies jedenfalls - wie dargelegt - nicht der Fall. Ein solcher Verstoß fuhrt daher auch nicht zwangsläufig dazu, dem DDR-Recht vor einem Gericht der Bundesrepublik Deutschland die rechtliche Anerkennung zu verweigern. Vielmehr muß insoweit differenziert werden: Geschieht die Versagung der Anerkennung zu Gunsten eines von einer rechtlich fragwürdigen Regelung Betroffenen, so ist dies im Verhältnis zu Bürgern der ehemaligen DDR nicht {44} nur unbedenklich, sondern aufgrund ihres Status „als deutsche Staatsangehörige" auch schon vor dem 3. Oktober 1990 sogar geboten (BVerfGE 36, 1, 30). Dem entspricht es auch, daß das Bundesverfassungsgericht gegenüber Urteilen von Gerichten der DDR den „ordre public" der Bundesrepublik Deutschland mit der Folge hat durchgreifen lassen, daß § 213 StGB/DDR im Rahmen der Anwendung des Geset-

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zes über die innerstaatliche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen (RHG) 8 als nicht verbindlich betrachtet wurde. Demgegenüber findet die Übertragung von Wertmaßstäben der Bundesrepublik Deutschland auf das Recht der DDR zu Lasten der Angeklagten seine Schranke in dem in Artikel 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB verankerten Grundsatz „nulla poena sine lege" und dem Rückwirkungsverbot von Strafvorschriften. Letzteres umfaßt nach h.M. auch, daß sich die Rechtslage zur Tatzeit nicht durch den nachträglichen Wegfall von Rechtfertigungsgründen zu Ungunsten des Täters verschlechtert (vgl. Dreher/Tröndle, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 45. Aufl., § 1 RdNr. I I a m.w.N.). Daß das strafrechtliche Rückwirkungsverbot nicht nur für eine Änderung des innerstaatlichen Wertesystems Geltung haben soll, sondern auch für den Fall der Staatennachfolge infolge des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, ergibt sich aus Artikel 8 Einigungsvertrag i.V.m. § 2 StGB i.V.m. Artikel 315 Abs. 1 EGStGB i.d.F. der zum Einigungsvertrag ergangenen Anlage I, Kapitel III, Sachgebiet C, Abschnitt II, Nr. 1 b; danach tritt mit dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bun-{45}desrepublik Deutschland zwar grundsätzlich das Strafrecht der Bundesrepublik in Kraft, aber mit der Maßgabe, daß auf Taten, die vor diesem Zeitpunkt in der ehemaligen DDR begangen worden sind - von einigen hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen9 - , das Recht der DDR anzuwenden ist. § 213 StGB/DDR könnte daher im Rahmen der strafrechtlichen Beurteilung der den Angeklagten zur Last gelegten Tat nur dann ohne Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot wegen des entgegenstehenden „ordre public" der Bundesrepublik Deutschland unbeachtlich sein, wenn die hier abzuurteilende Tat schon vor dem Beitritt der DDR nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland hätte verfolgt werden dürfen. Hierfür bestand jedoch keine rechtliche Grundlage: Mit dem Abschluß des Grundlagenvertrages war die Auffassung, daß die DDR strafrechtlich als Inland im Sinne von § 3 StGB anzusehen war, nicht mehr vertretbar (BGHSt 30, 1, 3). Dies hatte auch die Aufgabe der beispielsweise dem „Hanke-Urteil" des Landgerichts Stuttgart vom 11. Oktober 1963 (NJW 1964, 63 ff.) zugrundeliegenden Theorie vom sog. interlokalen Strafrecht zur Folge, die besagte, daß Tatortrecht dann nicht anzuwenden sei, wenn es den rechtsstaatlichen Grundsätzen am Aburteilungsort widersprach. Vielmehr waren nach Abschluß des Grundlagenvertrages in der DDR begangene Taten entsprechend den Regeln des internationalen Strafrechts so zu behandeln, als seien es Auslandstaten. {46} Dies besagt freilich nicht, daß die Bundesrepublik Deutschland Bürgern der DDR, die ja trotz des Grundlagenvertrages als deutsche Staatsangehörige galten, den Schutz versagen wollte, den sie Bürgern der Bundesrepublik für bestimmte politische Straftaten im Wege extraterritorialer Geltung des StGB unabhängig vom Tatortrecht nach § 5 Nr. 6 StGB einräumte. Zulässig mag auch noch sein, diesen Schutz auf solche Delikte auszudehnen, in denen sich die in § 5 Nr. 6 StGB enthaltenen Gefahrdungstatbestände verwirklichen (BGHSt 32, 293, 298). Mit Art. 6 Grundlagenvertrag unvereinbar wäre es jedoch, § 7 Abs. 1 StGB dahin auszulegen, daß unter diese Vorschrift sämtliche gegen Bürger der DDR in der DDR begangenen Straftaten zu subsumieren wären; denn dies würde auf einen umfassenden Geltungsanspruch des Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland für das Staatsgebiet der ehemaligen DDR hinauslaufen. Artikel 315 Abs. 4

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EGStGB i.d.F. der Ani. I zum Einigungsvertrag liefe bei einer derartigen Auslegung leer. Ausnahmen von dem Grundsatz, daß § 7 Abs. 1 StGB keine allgemeine Schutzverpflichtung gegenüber Bürgern der DDR vor Taten, die in der DDR gegen sie begangen wurden, beinhaltet, mögen zwar zulässig sein (so BGHSt 32, 293, 298). Aus Gründen der Rechtssicherheit müssen diese Ausnahmen aber zumindest aus dem Gesamtzusammenhang der §§ 3 ff. StGB abzuleiten sein. Für den hier zu entscheidenden Fall ist dies nicht erkennbar. {47} Auch aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag ergibt sich nichts anderes. Zwar wird darin zum Ausdruck gebracht, daß die Praxis an der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, also Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl, mit dem Vertrag, der in Art. 1 die Entwicklung gutnachbarschaftlicher Beziehungen beider Staaten vorsieht, schlechthin unvereinbar sei und die Bundesregierung aufgefordert, alles ihr Mögliche zu tun, um diese unmenschlichen Verhältnisse zu ändern und abzubauen (BVerfGE 36, 1, 35). Insoweit handelt es sich jedoch um eine politische Aussage, verbunden mit der Aufforderung, alle sich unter anderem aus dem Grundlagenvertrag ergebenden diplomatischen Möglichkeiten zu nutzen, um den demokratischem Rechtsverständnis und der Entwicklung gutnachbarschaftlicher Beziehungen kraß entgegenstehenden Zustand an der innerdeutschen Grenze zu ändern. Für den Geltungsbereich des Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland auf Taten, die außerhalb von deren Gebiet begangen wurden, gibt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingegen nichts her. Nach allem ist § 213 StGB/DDR im Rahmen eines Rechtfertigungsgrundes als wirksam anzusehen. Dies gilt auch für § 213 Abs. 3 StGB/DDR, der eine Bestrafung als Verbrechen zuläßt und damit die Anknüpfungsnorm fur § 27 GrenzG darstellt. Eine unterschiedliche Beurteilung der Absätze 1 und 2 einerseits und des Absatzes 3 andererseits in Bezug auf {48} deren Rechtswirksamkeit würde zu einer unerträglichen Rechtsunsicherheit führen, zumal eine Differenzierung nicht nur für die Rechtfertigung eines Schußwaffeneinsatzes an der Grenze Bedeutung hätte, sondern beispielsweise auch für die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern der ehemaligen DDR, die § 213 StGB/DDR teils als Vergehen, teils als Verbrechen angewendet haben. Ausgehend von der Gültigkeit des § 213 StGB/DDR lagen die Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 und 2 GrenzG für die Anwendung der Schußwaffe formal vor, weil sich der Fluchtversuch des Michael Schmidt für die Angeklagten „den Umständen nach" als Verbrechen darstellte. Für die Einstufung des ungesetzlichen Grenzübertritts als Verbrechen mußten nach dem Recht der DDR zwei Voraussetzungen vorliegen, die hier erfüllt sind: Zum einen mußte der Fluchtversuch als besonders schwerer Fall des § 213 Abs. 3 StGB/DDR gewertet werden. Dies ist hier zumindest dann zu bejahen, wenn man der exzessiv weiten Auslegung des § 213 Abs. 3 Nr. 2 StGB/DDR durch das Oberste Gericht der DDR folgt. Dieses Gericht, dem für die Auslegung von Strafrechtsnormen nach Art. 93 Abs. 2 der Verfassung der DDR sowie Art. 7 StGB/DDR Leitungsfunktion zukam, hat wiederholt die Auffassung vertreten, daß unter dem Begriff der gefährlichen Methode „immer die Ausnutzung solcher Bedingungen, Umstände und Gegenstände" falle,

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„die im normalen Gebrauch oder unter typischen Bedingungen und {49} Umständen keine konkrete Gefahr für Leben oder Gesundheit von Menschen bzw. die Sicherheitsvorkehrungen an der Staatsgrenze darstellen, sondern erst durch die spezifische Art der Verfahrensweise eine solche Gefahr verursachen". Die Benutzung von „Steighilfen zur Überwindung von Grenzsicherungsanlagen" hat das Oberste Gericht unter dem Begriff der „gefährlichen Methode" subsumiert (vgl. hierzu die fur den Dienstgebrauch herausgegebenen „Gemeinsamen Standpunkte" des Obersten Gerichts der DDR und des Generalstaatsanwalts der DDR vom 17. Oktober 1980 Bl. 14 und vom 15. Januar 1988 Bl. 13). Der Einsatz der Leiter machte den Fluchtversuch Michael Schmidt danach zum besonders schweren Fall des ungesetzlichen Grenzübertritts. Da der ungesetzliche Grenzübertritt gemäß § 213 StGB/DDR nicht unter die Kapitel 1 und 2 Strafgesetzbuches der DDR fiel, keine Straftat gegen das Leben war und auch als schwerer Fall keine Mindeststrafandrohung von mehr als zwei Jahren enthielt, mußte gemäß § 1 Abs. 3 StGB/DDR als weitere Voraussetzung für die Bewertung der Tat Michael Schmidts als Verbrechen hinzukommen, daß wegen der Tatschwere im konkreten Fall eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren zu erwarten war (vgl. Kommentar zum Strafgesetzbuch der DDR von 1981, 3. Aufl., § 213 Nr. 7). Davon war nach der Praxis der DDR-Gerichte zum damaligen Zeitpunkt in Fällen, in denen der Flüchtling - wie hier - zur Überwindung befestigter Grenzanlagen bereits unmittelbar angesetzt hatte, auszugehen. {50} Der konkrete Einsatz der Schußwaffe durch die Angeklagten mit bedingtem Tötungsvorsatz wird jedoch durch § 27 GrenzG nicht gedeckt. Wie sich aus der Systematik der §§ 26, 27 GrenzG ergibt, sind diese Vorschriften ebenso wie die vergleichbaren Vorschriften des Rechts der Bundesrepublik Deutschland (vgl. §§ 11 ff. UZwG) am Prinzip der Verhältnismäßigkeit orientiert. So ist beispielsweise eine Abstufung der einzusetzenden Mittel bei der Durchsetzung von Maßnahmen der Grenztruppen der DDR vorgesehen, und zwar abhängig von der Schwere der Rechtsgutverletzung und des Widerstandes. In § 27 Abs. 1 GrenzG wird die Anwendung der Schußwaffe als äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen bezeichnet. Daraus ergibt sich, daß der Grenzsoldat der DDR genauso wie der im Grenzdienst tätige Beamte oder Soldat der Bundesrepublik Deutschland auch dann, wenn die Voraussetzungen für den Schußwaffengebrauch grundsätzlich vorliegen, im Einzelfall die auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter der Sicherung der Grenze und der körperlichen Unversehrtheit gegeneinander abzuwägen hat. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in dieser vom Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 3. Oktober 1988 (BGHSt 35, 379) für die §§ 11 ff. UZwG ausdrücklich klargestellten Form auf die §§ 26, 27 GrenzG stellt keine unzulässige, da das Rückwirkungsverbot umgehende, Unterlegung von DDR-Recht mit Gedanken eines auf einer anderen gesellschaftlichen Grundordnung aufbauenden Rechtssystems dar. Vielmehr sind diese Gedanken {51} im Zusammenhang mit Zwangsmaßnahmen im Grenzdienst ersichtlich in beiden Rechtsordnungen unabhängig von dem ihnen zugrundeliegenden politischen System enthalten. Daß Verhältnismäßigkeitserwägungen zumindest noch im Jahre 1984 in die an das Grenzgesetz anknüpfende militärische Befehlsgebung nur sehr begrenzt Eingang gefunden haben, steht dem ebensowenig entgegen wie der Umstand, daß seinerzeit

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an der innerdeutschen Grenze noch eine Vielzahl von Selbstschußanlagen installiert war, die eine Rechtsgüterabwägung im Einzelfall erst gar nicht zuließ. Ein Gesetz, das den Anschein von Rechtsstaatlichkeit - sei es auch nur aus Gründen internationalen Ansehens - erweckt, ist nach rechtsstaatlichen Grundsätzen auszulegen. Da eine solche Auslegung des Grenzgesetzes nach dessen Systematik möglich ist, und da eine entgegenstehende Rechtsprechung durch Gerichte der DDR nicht existiert, besteht keine Veranlassung, an der rechtlichen Wirksamkeit dieses Gesetzes zu zweifeln. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, daß die Hauptanknüpfungsnorm des § 27 GrenzG für den Einsatz der Schußwaffe § 213 StGB/DDR ist. Zwar entspricht diese Vorschrift nicht den Wertvorstellungen der Bundesrepublik Deutschland. Da sie jedoch - wie dargelegt - im Rahmen eines Rechtfertigungsgrundes Geltungskraft besaß, können an § 213 StGB/DDR anknüpfende Rechtsvorschriften nicht schon allein wegen dieser Verknüpfung als nichtig betrachtet werden. Vielmehr muß hingenommen werden, daß nach den Rechtsvorstellungen der DDR der ungesetzliche Grenzübertritt unter Überwindung befestigter Grenzanlagen in aller Regel als Verbrechen {52} angesehen wurde, das durch Einsatz der Schußwaffe verhindert werden durfte. Innerhalb der als Verbrechen nach § 213 StGB/DDR vorstellbaren Fallgestaltungen stellt jedoch die Flucht einer einzelnen unbewaffneten Person, von der ersichtlich keine gegenwärtige Gefahr fur Personen oder Sachen ausgeht, und bei der auch keine Hinweise auf eine über die Flucht als solche hinausgehende Straftat vorliegen, den denkbar mildesten Fall dar. Aus diesem Grund ist bereits zweifelhaft, ob die Angeklagten aus dem Grenzgesetz eine Legitimation dafür herleiten durften, aus einer Entfernung von ca. 110 m (Ha.) bzw. 150 Meter (W.) auf den Flüchtenden zu schießen, da dieses Vorgehen bereits eine erhebliche Gefahr für dessen Leben bedeutete. Selbst wenn man dies jedoch im Hinblick auf das letztlich jeder Schußabgabe auf einen in größerer Entfernung Flüchtenden zwangsläufig anhaftende Risiko (vgl. BGHSt 35, 379, 386) bejaht, so hätten sie zumindest das mildeste Mittel wählen müssen, das geeignet war, die weitere Flucht zu unterbinden. Dieses bestand in einem gezielten Einzelschuß auf die Beine, der bei Verfehlung seines Zieles auch hätte wiederholt werden können. Zwar haben beide Angeklagten nach ihrer unwiderlegten Einlassung auf die Beine des Opfers gezielt, jedoch dabei nicht mit Einzelfeuer, sondern mit Dauerfeuer geschossen. Ein solches Vorgehen bedeutete, wie der Sachverständige Horn überzeugend ausgeführt hat, auch bei einem sehr guten Schützen (der der Angeklagte Ha. nicht einmal war) und bei kurzen Feuerstößen eine deutlich erhöhte Gefahr für das {53} Leben des Opfers, da der zweite und jeder weitere Schuß eines Feuerstoßes wegen des „Auswanderns" der Waffe nur noch ungenau piaziert werden kann. Mit dieser für das Opfer deutlich risikoreicheren Schießweise beabsichtigten die Angeklagten, ihre Chancen, den Flüchtenden überhaupt zu treffen, zu erhöhen, da sie dessen Flucht um jeden Preis, auch um den Preis seines Lebens, verhindern wollten. Ist schon der gegenüber dem Einzelfeuer deutlich gefährlichere Einsatz von Dauerfeuer unabhängig von der subjektiven Einstellung der Schützen nicht mehr durch § 27 GrenzG gedeckt, so ist er es erst recht nicht, wenn er - wie im vorliegenden Fall - mit Tötungsvorsatz erfolgt. Der staatliche Zweck, eine Straftat zu verhindern, vermag, zumindest sofern durch diese Straftat nicht das Leben anderer gefährdet wird, niemals die vorsätzliche Tötung eines Menschen zu rechtfertigen. Dies gilt für eine mit Eventual-

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vorsatz begangene Tat in gleicher Weise wie für eine Tötung mit direktem Vorsatz; denn auch der Eventualvorsatz enthält die bewußte und gewollte Entscheidung, das Leben als höchstes Rechtsgut anderen, in jedem Falle geringerwertigen Interessen zu opfern. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der in § 27 Abs. 5 GrenzG enthaltenen Formulierung, wonach „bei der Anwendung der Schußwaffe ... das Leben von Personen nach Möglichkeit zu schonen" ist. Bei einer Auslegung nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, die insoweit unabhängig sind von einem bestimmten gesellschaftlichen System, kann § 27 Abs. 5 GrenzG {54} nur dahin interpretiert werden, daß bei Anwendung der Schußwaffe die damit zwangsläufig verbundene Lebensgefahr so gering als möglich zu halten ist. Die Vorschrift kann dagegen nicht im Sinne einer Ermächtigung zur vorsätzlichen Tötung einer Person verstanden werden fur den Fall, daß die in § 27 GrenzG umschriebenen staatlichen Zwecke anders nicht zu erreichen wären. Die Angeklagten haben schließlich auch schuldhaft gehandelt. Insbesondere steht ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht entgegen, daß ihrem Handeln ein Befehl zugrunde lag (§ 258 Abs. 1 StGB/DDR10; § 5 Abs. 1 WStG). Dies ergibt sich schon daraus, daß die Angeklagten nicht, wie ihnen dies befohlen war, mit Einzelfeuer auf die Beine des Flüchtenden geschossen haben, sondern nach der Abgabe von Warnschüssen sogleich mit gefährlicherem Dauerfeuer. Damit sind sie in „vorauseilendem Gehorsam" über den Befehl hinausgegangen, der zumindest insoweit an dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientiert war, als er in einer Stufenfolge nach der Abgabe des Warnschusses mit dem noch relativ ungefährlichen Schuß auf die Beine eine Vorgehensweise vorschrieb, die Leben und Gesundheit des Opfers zunächst möglichst wenig gefährdete. Daß der Einsatz dieses Mittels zu dem Zeitpunkt, als Michael Schmidt die Grenzmauer erreicht hatte, nicht mehr ausgereicht hätte, um seinen Fluchtver-{55}such zu verhindern, ist weder ersichtlich, noch haben die Angeklagten eine derartige Erwägung als Motiv für ihr Handeln angegeben. Vielmehr haben sie durch die Wahl von Dauerfeuer die Chancen, den Flüchtling zu treffen und damit seine Flucht zu verhindern, erhöhen wollen und dabei auch den von ihnen als mögliche Folge ihres Handelns vorhergesehenen Tod des Flüchtlings bewußt in Kauf genommen. Daß die Angeklagten dabei geglaubt haben, dieses Vorgehen sei durch den Befehl, den Grenzverletzer in jedem Fall zu stellen, ihn als letztes Mittel sogar zu vernichten (= töten), gedeckt, vermag sie nicht zu entlasten, denn die Ausführung des Befehls, einen Flüchtling notfalls zu erschießen, sofern seine Flucht nicht anders zu verhindern ist, verstieß offensichtlich gegen das Strafgesetz, nämlich das Tötungsverbot der §§112, 113 StGB/DDR. „Offensichtlich" rechtswidrig ist ein Befehl immer dann, wenn der Verstoß gegen Strafgesetze für einen Durchschnittssoldaten auf der Hand liegt. Daß die Rechtswidrigkeit von dem Täter auch tatsächlich erkannt wird, ist nicht erforderlich (Schölz/Lingens, Wehrstrafgesetz, 3. Aufl., § 5 Nr. 12 f.). Die hierzu in dem vom Staatsverlag der DDR herausgegebenen Kommentar zum StGB/DDR, 3. Aufl., § 258 RdNr. 2 f. vertretene Auffassung, wonach das positive Erkennen der Rechtswidrigkeit durch den Täter erforderlich ist, vermag nicht zu überzeugen, da sie dem Wortsinn nicht entspricht. Auch sind die in der zitierten Kommentierung enthaltenen Ausführungen, in denen einerseits auf die positive Kenntnis der Rechtswidrigkeit abgestellt wird, ande-{56}rerseits aber (nur) die subjektive Fähigkeit und Möglichkeit des Täters, allgemein erkennbares Un-

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recht zu erkennen, verlangt wird und schließlich die Erkennbarkeit „für jedermann" mit dem Begriff der Offensichtlichkeit gleichgestellt wird, in sich widersprüchlich. Bei der Erkenntnisfähigkeit eines „Durchschnittssoldaten" ist auf einen Soldaten der ehemaligen DDR abzustellen, der - wie die Angeklagten - im Geiste des Sozialismus mit entsprechenden Feindbildern von der Bundesrepublik Deutschland und von Personen, die unter Überwindung der Sperranlagen die DDR verlassen wollen, aufgewachsen ist. Für einen so geschulten Soldaten mochte es nicht offensichtlich gewesen sein, daß es grundsätzlich moralisch nicht vertretbar war, einen Menschen, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, mit Waffengewalt am Verlassen seines Landes zu hindern. Nach der Überzeugung der Kammer lag es aber auch unter Berücksichtigung der politischen Indoktrination, der die Grenzsoldaten der DDR ausgesetzt waren, fur diese Soldaten auf der Hand, daß ein Befehl, der, ohne auf die konkreten Umstände der Flucht über befestigte Grenzanlagen abzustellen, die Verhinderung dieser Flucht in letzter Konsequenz durch Tötung des Flüchtlings anordnete, rechtswidrig war. Für diese Erkenntnis bedurfte es weder juristischer Kenntnisse noch besonderer intellektueller Fähigkeiten oder politischen Weitblicks. Sie ergibt sich vielmehr für jedermann aus dem Gebot der Menschlichkeit, zu dem unter anderem gehört, daß auch der Straftäter einen Anspruch auf Leben hat. {57} Im vorliegenden Fall war das Mißverhältnis, in dem das zu schützende Rechtsgut, nämlich das wirtschaftliche und politische Interesse der DDR an der Verhinderung einer unkontrollierten Ausreise ihrer Bürger, zu dem höchsten aller Rechtsgüter, dem Leben, stand, für die Angeklagten erkennbar besonders kraß; denn Michael Schmidt gefährdete durch seine unbewaffnete Flucht in keiner Weise die Sicherheit der Grenzposten oder der Grenzanlagen; auch lagen keine Hinweise dafür vor, daß er über den Straftatbestand der Flucht hinaus weitere schwerwiegende Straftaten begangen haben könnte. Angesichts der in der DDR allgemein bekannten restriktiven Ausreisepraxis konnte allein aus dem Umstand, daß Michael Schmidt mit seiner Flucht über eine schwerbewachte Grenze ein hohes Risiko für Leib und Leben einging, nicht der Schluß gezogen werden, daß seiner legalen Ausreise weitere in der DDR begangene Straftaten entgegenstanden. Daß die Angeklagten von einer derartigen Annahme im konkreten Fall auch nicht ausgegangen sind, belegt besonders deutlich die Äußerung des Angeklagten W. in seiner polizeilichen, durch den Zeugen G. in die Hauptverhandlung eingeführten Vernehmung, er habe in dem Flüchtling keinen Verbrecher oder Verräter gesehen, sondern nur einen, „der versuchen wollte, aus der Reihe auszubrechen", der ,,'rüberwollte, um sein Glück zu suchen". Auch der Angeklagte Ha. hat dies in ähnlicher Weise beschrieben, indem er nach Aussage des Zeugen G. auf dessen Frage, welche Meinung er in der Tatsituation über den Flüchtling gehabt {58} habe, geantwortet hat: „Einen Grenzverletzer, der das nicht durfte, der das nicht sollte". Auch hat der Angeklagte Ha. bekundet, er habe trotz entgegenstehender Unterweisungen durch vorgesetzte Offiziere in Grenzverletzern nicht in erster Linie Verräter gesehen, sondern Menschen, die „nur 'raus wollten und es anders nicht geschafft haben". Auch die Tatsache, daß der durchaus dem Bild eines Durchschnittssoldaten der DDR entsprechende Angeklagte Ha. nach seiner eigenen Einlassung unmittelbar nach der Tat erkannt hat, daß sein Vorgehen gegenüber Michael Schmidt unmenschlich war, spricht für die offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Befehls, der eine bewußte und gebilligte Tötung unter Umständen, wie im vorliegenden

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Fall, als letztes Mittel zur Verhinderung einer Flucht anordnete. Daß die Angeklagten die Rechtswidrigkeit des Befehls nicht schon vor der Tat positiv erkannt haben, ist daher kein Indiz dafür, daß diese nicht ohne tieferes Nachdenken erkennbar war; vielmehr ist dies darauf zurückzufuhren, daß die Angeklagten sich aus Bequemlichkeit auch nicht ansatzweise mit der Frage einer Legitimation fur die Auslöschung fremden Lebens befaßt haben, jedes eigene Denken vielmehr, wie der Angeklagte Ha. es selbstkritisch beschrieben hat, bei Eintritt in die Armee abgelegt haben. Eine derartige auf Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit gegenüber elementaren Rechtsgütern anderer beruhende Rechtsblindheit wird auch durch § 258 Abs. 1 StGB/DDR nicht privilegiert. Diese Vorschrift will genau wie § 5 WStG dem Soldaten im Interesse militärischer Schlagkraft lediglich das Risiko subtiler {59} juristischer Überlegungen abnehmen. Schließlich vermag es die Angeklagten auch nicht zu entlasten, daß sie geglaubt haben mögen, dem Befehl, einen Grenzbrecher zwecks Verhinderung seiner Flucht in letzter Konsequenz zu töten, auf Grund ihres Fahneneides auch dann Gehorsam zu schulden, wenn dieser Befehl rechtswidrig war. Ein solcher Irrtum stellt einen von der Ausnahmeregelung des § 5 WStG (§ 258 Abs. 1 StGB/DDR) nicht erfaßten, nach § 17 StGB zu behandelnden Verbotsirrtum dar (vgl. BGHSt 22, 223 ff. zu §47 WStG a.F.11; a.A. Schölz/Lingens a.a.O. RdNr. 10). Er bezieht sich auf einen von der Rechtsordnung nicht anerkannten Rechtfertigungsgrund, da sowohl in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in § 22 Abs. 1 WStG als auch in der Rechtsordnung der DDR in § 258 Abs. 3 StGB/DDR die Regelung enthalten ist, daß ein Befehl, der gegen Strafgesetze verstößt, nicht verbindlich ist. Dieser Irrtum war für die Angeklagten vermeidbar. Auch die intellektuell einfach strukturierten Angeklagten, deren Entwicklung durch eine strenge, von Feindbildern geprägte militärische Schulung beeinflußt war, hätten bei gehöriger Anspannung ihres Gewissens erkennen können, daß militärische Pflichterfüllung nicht jedes Handeln, schon gar nicht die Tötung eines Flüchtlings unter den hier im konkreten Fall vorliegenden Umständen rechtfertigt. Dies ergibt sich, wie bei der Prüfung der offensichtlichen Rechtswidrigkeit eines derartigen Befehls, daraus, daß die Befolgung des Befehls eine eklatante Mißachtung des höchsten aller Rechtsgüter, {60} des Lebens, beinhaltete. Blinder Gehorsam befreit nicht von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für die Ausführung befohlener Verbrechen (BGHSt 2, 251, 257; 22, 223, 226). Das Handeln der Angeklagten ist schließlich auch durch Notstand nicht entschuldigt (§ 35 StGB) oder gar gerechtfertigt (§ 34 StGB). Zwar galt für die Angeklagten der Befehl, einen Flüchtling unter allen Umständen zu stellen, ihn als letztes Mittel zu töten. Bei nachgewiesener Befehlsverweigerung oder unrichtiger Ausführung des Befehls bestand für sie theoretisch - weder den Angeklagten noch den in der Hauptverhandlung gehörten Zeugen ist ein derartiges Strafverfahren bekannt geworden - die Gefahr, wegen Befehlsverweigerung gemäß § 257 StGB/DDR mit Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren belegt zu werden. Diese Gefahr war auch durch § 258 Abs. 3 StGB/DDR nicht ausgeschlossen, da ein rechtsstaatliches Verfahren durch ein Gericht der ehemaligen DDR bei Straftaten im Zusammenhang mit dem Schußwaffeneinsatz bei Grenzverletzungen nicht gewährleistet war. Die Angeklagten hätten die Gefahr eigener strafrechtlicher Verfolgung aber anders als geschehen abwenden können, indem sie zwar Schüsse abgaben, das Leben des Flüchtlings dabei aber nicht gefährdeten. Dies wäre zum einen dadurch möglich gewesen, daß sie ihr Ziel bewußt verfehlten, zum anderen durch gezieltes Ein-

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zelfeuer auf die Beine des Flüchtlings, solange dies relativ gefahrlos war. Der Nachweis befehlswidrigen {61} Verhaltens hätte - wovon auch die Angeklagten ausgingen - unter solchen Umständen nicht gefuhrt werden können. Hinzu kommt, daß auch die subjektiven Voraussetzungen der §§ 34, 35 StGB nicht vorliegen. Nach der Einlassung der Angeklagten haben diese den ihnen erteilten Befehl, den Flüchtling unter allen Umständen zu stellen, nicht aus Angst vor Bestrafung wegen Befehlsverweigerung ausgeführt. Vielmehr hat sich diese Frage für sie zur Tatzeit gar nicht gestellt, weil sie den Befehl aus Gedankenlosigkeit für rechtens hielten und sie ihn deshalb ausführen wollten.

V.

[Strafzumessung]

1. Der Angeklagte W. war zur Tatzeit 20 Jahre und sieben Monate alt, also Heranwachsender; auf ihn ist Jugendrecht anzuwenden (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG). Sein Lebensweg erscheint zwar - vor allem von seiner Schulzeit an - geradlinig und ohne Auffälligkeiten verlaufen zu sein, die auf eine maßgebliche Entwicklungsbeeinträchtigung hindeuten könnten. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß in der ehemaligen DDR wesentlich stärker als in der Bundesrepublik Deutschland auch weniger eigenständige und durchsetzungsfähige Jugendliche und Heranwachsende in einem engen und festen Rahmen in ihrer Entwicklung intensiver geführt worden und Abweichungen davon in geringerem Maße möglich gewesen sind und der {62} Werdegang des Angeklagten wesentlich auch von Entscheidungen seiner Adoptiveltern bestimmt worden ist. Beide Faktoren gelten für seine Schulzeit, seine Berufswahl, seine Entscheidung für eine dreijährige Dienstzeit und für die Mitgliedschaft in verschiedenen Massenorganisationen. Angesichts dessen und der äußerst problematischen frühkindlichen Entwicklung des Angeklagten, seiner Lernschwierigkeiten und geringen intellektuellen Kapazität vermag die Kammer aber keine sichere Aussage über den Reifegrad des Angeklagten W. zur Tatzeit im Jahre 1984 zu machen; sie hat deshalb zu seinen Gunsten Jugendrecht angewendet. Die Schwere der Schuld verlangt die Verhängung von Jugendstrafe ( § 1 7 Abs. 2 2. Alt. JGG); dies bedarf angesichts eines vorsätzlichen Tötungsdeliktes keiner weiteren Erörterung. 2. Die Tat stellt sich hinsichtlich beider Angeklagter als minder schwerer Fall des Totschlags gemäß § 213 StGB dar, der gegenüber dem entsprechenden § 113 StGB/DDR eine geringere Strafandrohung enthält. Bei der erforderlichen Gesamtwürdigung sind zahlreiche strafmildernde Umstände zu berücksichtigen. Beide Angeklagte haben vor und nach der Tat sozial eingeordnet gelebt und gearbeitet, sie sind bisher unbestraft und sie haben ein umfassendes Geständnis abgelegt, das für die Kammer auch ein Zeichen dafür ist, daß sie sich mit {63} ihrer Tat kritisch auseinandergesetzt haben. Beide bedauern aus heutiger Sicht ihr Handeln. Sie haben mit bedingtem Vorsatz gehandelt, dessen Unrechtsgehalt geringer ist als der des direkten Vorsatzes. Wegen vollendeten Totschlags haben sich die Angeklagten vor allem deshalb schuldig gemacht, weil die für die medizinische Versorgung des Verletzten verantwortlichen Vorgesetzten zwar befehlsgemäß, aber gleichwohl in unvertretbarer Weise die Maßnahmen unterlassen haben, die das Leben des Opfers gerettet hätten. Ebenfalls maßgeblich zu Gunsten der Angeklagten ist zu berücksichtigen, daß

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sie die Tat nicht aus eigenem, freiem Entschluß und zum eigenen Vorteil, sondern wenn auch in einem Verbotsirrtum befangen - auf Befehl begangen haben. In diesem Zusammenhang sind die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse strafmildernd zu berücksichtigen, in denen die Angeklagten aufgewachsen sind. Spätestens von Beginn der Schulzeit an ist ihnen ein fester und enger Rahmen vorgegeben worden, innerhalb dessen Meinungsäußerungen und Kritik nur in sehr eingeschränktem Maße möglich gewesen sind. Die offene und öffentliche Kritik an staatlichen Maßnahmen, insbesondere solchen von der Brisanz der hier in Rede stehenden, ist nur mit seltener Zivilcourage und unter Inkaufnahme der Angst vor Bespitzelung, strafrechtlicher Verurteilung und nachteiliger Folgen fur das berufliche Fortkommen möglich gewesen. Die Entwicklung einer kritischen Haltung und die entsprechende Betätigung war für die {64} Angeklagten um so schwerer, als sie in der gesellschaftlichen und militärischen Hierarchie ganz unten gestanden haben. Der Verbotsirrtum war zwar vermeidbar, aber angesichts dieser Umstände von derart maßgeblicher Bedeutung für das Handeln der Angeklagten, daß er in Verbindung mit den übrigen Strafmilderungsgründen - weshalb gemäß § 50 StGB eine gesonderte Milderung gemäß § 5 Abs. 2 Wehrstrafgesetz und § 17 StGB, jeweils in Verbindung mit § 49 StGB, ausscheidet - das Vorliegen eines minder schweren Falles des Totschlages begründet. Bei der konkreten Strafzumessung hat die Kammer - bezüglich des Angeklagten Ha. ausgehend von dem gemäß § 213 StGB verringerten Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe, bei dem Angeklagten W. unter entsprechender Berücksichtigung bei dem jugendrechtlichen Strafrahmen - die genannten Strafzumessungsgründe noch einmal zusammenfassend gewürdigt. Dabei ist zwischen dem zur Tatzeit erwachsenden Angeklagten Ha. und den heranwachsenden Angeklagten W. nicht wesentlich zu unterscheiden, da angesichts seines jetzigen Alters und seiner Lebenssituation erzieherische Gesichtspunkte für die Strafzumessung nicht mehr von entscheidender Bedeutung sind. Lediglich das zur Tatzeit geringere Alter dieses Angeklagten ist zu seinen Gunsten berücksichtigt worden, mag ihn doch seine geringere Reife weniger als den Angeklagten Ha. zu einer eigenständigen Beurteilung und Haltung befähigt haben. {65} Die Strafzumessungsgründe rechtfertigen es auch unter Berücksichtigung des Sühnegedankens, Strafen aus dem unteren Bereich zu wählen. Die Kammer hat gegen den Angeklagten W. eine tat- und schuldangemessene Jugendstrafe von 1 (einem) Jahr und 6 (sechs) Monaten und gegen den Angeklagten Ha. eine Freiheitsstrafe von 1 (einem) Jahr und 9 (neun) Monaten verhängt. Die Vollstreckung der verhängten Strafen ist zur Bewährung ausgesetzt worden (§ 21 Abs. 1 und 2 JGG bezüglich W.; § 56 Abs. 1 und 2 StGB betreffend Ha.). Bei dem Angeklagten W. ist es im Hinblick auf seine Entwicklung nicht geboten, die Strafe zu vollstrecken. Bei dem Angeklagten Ha. rechtfertigen die besonderen, zur Begründung des minder schweren Falles angeführten Gründe die Strafaussetzung. Die Sozialprognose ist für beide Angeklagte durchaus günstig. Die geständigen und einsichtigen Angeklagten sind unbestraft. Sie haben vor und nach der Tat sozial eingeordnet gelebt und stets gear131

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beitet, sie sind verheiratet und haben Kinder. Nicht Eigennutz oder kriminelle Energie waren fur ihre Tat bestimmend, sondern {66} Umstände, auf die sie keinen Einfluß hatten, so die politische und militärische Konfrontation im geteilten Deutschland, die besonderen Bedingungen in der ehemaligen DDR und vor diesem Hintergrund allerdings die unkritische Bereitschaft der Angeklagten, einem rechtswidrigen Befehl zu folgen. Die besondere Situation, in der die Angeklagten schuldig geworden sind, besteht nicht mehr. Straftaten sind von ihnen künftig nicht zu erwarten.

Anmerkungen 1

2

3 4 5

6 7

132

Oberst Günter Leo wurde von der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin am 17.7.1995 Az. 26 Js 3/95 - wegen Totschlags bzw. versuchten Totschlags angeklagt. Das Landgericht Berlin verurteilte Leo am 26.3.1998 - Az. (531) 26 Js 1/95 Ks (9/95) - zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Die Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin erhob am 12.12.1997 unter Az. 27 Js 18/97 Anklage gegen den Regimentskommandeur Walter Schulze und seinen Stellvertreter Reinhard Gentzsch, wegen Totschlages in drei Fällen, darunter die Tötung von Chris Gueffroy. Schulze entzog sich zunächst dem Verfahren durch eine Flucht ins Ausland. Der Mitangeklagte Gentzsch wurde durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 25.11.1998 - Az. (529) 27 Js 18/97 Ks (1/98) - wegen Beihilfe zum Totschlag rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nach seiner Festnahme und Auslieferung wurde Schulze durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 21.8.2000 - Az. 529 - 19/98 - zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Vgl. Anhang S. 970. Vgl. Anhang S. 968f. Oberst Jochen Lehmann wurde von der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin gemeinsam mit den weiteren führenden Grenzoffizieren Karl Feuerstein, Klaus Joachim Heider, Otto Knopf, Burkhard Markschies und Harald Standfuß am 22.1.1996 - Az. 26 Js 5/95 - wegen Beihilfe zum Totschlag bzw. versuchtem Totschlag angeklagt. Durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 7.4.1999 - Az. (536) 26 Js 5/95 Ks (2/99) - wurde Lehmann zu zehn Monaten, Heider zu einem Jahr sowie Knopf und Standfuß jeweils zu einem Jahr und zwei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, deren Vollstreckung bei allen Angeklagten zur Bewährung ausgesetzt wurde. Gegen dieses Urteil legten sowohl mehrere Angeklagte als auch die Nebenklage Revision ein. Daraufhin wies zunächst das Landgericht Berlin am 13.7.1999 - Az. 536 - 2/99 - die Revision von Lehmann als unzulässig zurück. Später verwarf der Bundesgerichtshof die Revisionen weiterer Angeklagter sowie der Nebenklage durch Beschluss vom 18.7.2000 - Az. 5 StR 99/00 - als unbegründet. Damit erlangte das Landgerichtsurteil vom 7.4.1999 Rechtskraft. Das zunächst abgetrennte Verfahren gegen die Angeklagten Markschies und Feuerstein führte zu einem weiteren Urteil des Landgerichts Berlin vom 16.6.1999 Az. (536) 26 Js 2/99 Ks (7/99). Markschies wurde freigesprochen und Feuerstein zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Diese Verurteilung wurde rechtskräftig, nachdem der Bundesgerichtshof am 4.6.2000 - Az. 5 StR 97/00 die dagegen gerichtete Revision von Feuerstein zurückgewiesen hatte. Zum Sachverhalt vgl. das diesbezügliche Verfahren, das unter lfd. Nr. 1 abgedruckt ist. Artikel 3 des Grundlagenvertrages (vgl. BGBl. 1973 II, S. 421) lautete: „Entsprechend der Charta der Vereinten Nationen werden die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und sich der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt enthalten. Sie bekräftigen die Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenze jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität.".

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Gemeint ist wohl das Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen vom 2.5.1953 (BGBl I, S. 161). 9 Gemeint sind damit zwei Konstellationen: Zum einen Fälle, bei denen das Opfer auf dem Gebiet der Bundesrepublik erschossen oder aber auf dem Gebiet der DDR angeschossen wurde, jedoch erst in der Bundesrepublik seinen Verletzungen erlag. Wegen des bundesdeutschen Tatorts gemäß §§ 3, 9 StGB kommt in diesen Fällen nach Artikel 315 Absatz 4 EGStGB allein das Recht der Bundesrepublik zur Anwendung. Zum anderen ist bundesdeutsches Recht gemäß § 7 Absatz 1 StGB auch dann anwendbar, wenn es sich bei den Opfern um Bürger der Bundesrepublik handelte. 10 Vgl. Anhang S. 969. 11 Gemeint ist § 47 des Militärstrafgesetzbuches vom 20.6.1872 i.d.F. des Gesetzes vom 10.10.1940 (RGBl. I,S. 1347).

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Inhaltsverzeichnis Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 3.11.1992, Az. 5 StR 370/92 Gründe

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A.

[Das Urteil der Strafkammer]

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B.

[Erörterung von Verfahrenshindernissen] I. [Act of state doctrine] II. [Immunität]

135 136 136

C.

[Zu I. II. III.

136 137 138 152

den Sachrügen] [Anwendbarkeit bundesdeutschen Rechts auf Straftaten in der DDR] .. [Rechtfertigungsgründe und menschenrechtsfreundliche Auslegung]... [Rechtliche Würdigung, Schuld und Strafzumessung]

Anmerkungen

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Bundesgerichtshof Az.: 5 StR 370/92

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3. November 1992

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen 1. den Fleischer Udo W., geboren 1964 2.

den Elektromonteur Uwe Ha., geboren 1961

wegen Totschlages {2} Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom 23. Oktober 1992 in der Sitzung vom 3. November 1992, an der teilgenommen haben: Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten Θ {3} für Recht erkannt: Die Revisionen der Angeklagten W. und Ha. gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 5. Februar 1992 werden verworfen. Jeder der Angeklagten hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. - von Rechts wegen - {4}

Gründe A. [Das Urteil der Strafkammer] Die Jugendkammer hat die Angeklagten W. (geboren 1964) und Ha. (geboren 1961) wegen Totschlages verurteilt, und zwar den Angeklagten W. zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten und den Angeklagten Ha. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten; sie hat die Vollstreckung beider Strafen zur Bewährung ausgesetzt. ® Es folgt eine Darstellung der Sachverhaltsfeststellungen sowie der rechtlichen Bewertung durch das erstinstanzliche Urteil. ® {9}

B. [Erörterung von Verfahrenshindernissen] Die Revision des Angeklagten W. beanstandet, das Landgericht habe gegen ein „Bestrafungsverbot" verstoßen, das aus der „act of state doctrine" herzuleiten sei; der Angeklagte habe nämlich als Funktionsträger, im Auftrag und im Interesse eines anderen Staates, der DDR, gehandelt und dürfe deswegen nicht zur Verantwortung gezogen

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werden. Damit soll ersichtlich ein Verfahrenshindernis geltend gemacht werden. Es besteht nicht.

I.

[Act of state doctrine]

Die in Staaten des angelsächsischen Rechtskreises in unterschiedlicher Weise formulierte „act of state doctrine" ist keine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG. Sie betrifft vielmehr die Auslegung innerstaatlichen Rechtes, nämlich die Frage, ob und in welchem Maße von der Wirksamkeit der Akte fremder Staaten auszugehen ist (Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 335, 619; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 775; Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, 2. Aufl. 1989, S. 487; Kimminich, Völkerrecht, 4. Aufl. 1990, S. 316). Die kontinentaleuropäische, auch die deutsche, Rechtspraxis greift auf diese Doktrin nicht zurück (Dahm/Delbrück/Wolfrum aaO S. 490 f.). Hier gibt es keine verbindliche Regel, daß die Wirksamkeit ausländischer Hoheitsakte bei der Anwendung innerstaatlichen Rechtes der gerichtlichen Nachprüfung ent-{10}zogen sei (vgl. für den Bereich des Strafrechts insbesondere M. Herdegen, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 47, 1987, S. 221 ff.). Im Einigungsvertrag ist nicht vereinbart worden, daß Akte, die der Staatstätigkeit der DDR zuzuordnen sind, der Nachprüfung durch Gerichte der Bundesrepublik Deutschland entzogen sein sollen. Das Gegenteil trifft zu: In den Artikeln 18 und 19 des Einigungsvertrages ist bestimmt, daß Entscheidungen der Gerichte und der Verwaltung der DDR zwar grundsätzlich wirksam bleiben, jedoch aufgehoben werden können, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren sind (vgl. auch die Anlage I zum Einigungsvertrag, Kapitel III, Sachgebiet A, Abschnitt III Nr. 14 d).

II.

[Immunität]

Möglicherweise meint die Revision mit ihrem Einwand, Gerichte der Bundesrepublik Deutschland dürften mit Rücksicht auf die Immunität fremder Staaten und ihrer Repräsentanten keine Gerichtsbarkeit ausüben; die Revision beruft sich auf eine zu Immunitätsfragen ergangene Entscheidung des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs (NJW 1979, 1101) sowie auf die Entscheidung BGHSt 33, 97, mit der dem Staatsratsvorsitzenden der DDR im Jahre 1984 Immunität zuerkannt worden ist, wie sie einem Staatsoberhaupt zukommt. Die Angeklagten sind schon deswegen nicht als Repräsentanten eines fremden Staates zu behandeln, weil die Deutsche Demokratische Republik nicht mehr besteht.

C. [Zu den Sachrügen] Die sachlichrechtliche Nachprüfung ergibt, daß die Revisionen der Angeklagten im Ergebnis unbegründet sind. {11}

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I.

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[Anwendbarkeit bundesdeutschen Rechts auf Straftaten in der DDR]

Die Angeklagten und das Tatopfer hatten zur Tatzeit ihre Lebensgrundlage in der DDR; dort ist das Opfer von den Schüssen der Angeklagten getroffen worden und gestorben. Das Landgericht hat Artikel 315 Abs. 1 EGStGB (idF des Einigungsvertrages, Ani. I, Kap. III, Sachgebiet C, Abschn. II Nr. 1 b) angewandt und ermittelt, ob das Recht der Bundesrepublik Deutschland oder das Recht der DDR milder im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB sei. Dieser Ausgangspunkt entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGHSt 37, 320; 38, 1, 3; 38, 18; 38, 88; BGHR StGB § 2 Abs. 3 DDR-StGB 5). Etwas anderes würde gelten, wenn die Tat schon vor dem 3. Oktober 1990 nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland zu beurteilen gewesen wäre (Art. 315 Abs. 4 EGStGB idF des Einigungsvertrages). 1. Der Senat hat die Frage geprüft, ob die in BGHSt 32, 293 im Jahre 1984 entwickelten Grundsätze mit dem Ergebnis anzuwenden sind, daß schon vor der Vereinigung Deutschlands Taten der hier in Rede stehenden Art nach dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland zu beurteilen waren (vgl. Laufhütte in LK, 11. Aufl., vor § 80 Rdn. 35). Er hat die Frage verneint. Der 3. Strafsenat hatte in der Entscheidung BGHSt 32, 293 im Anschluß an seine Entscheidung BGHSt 30, 1 ausgeführt, das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland gelte für eine in der damaligen DDR unter Einheimischen durch politische Verdächtigung bewirkte Freiheitsberaubung, und zwar aus folgenden Gründen: Zwar schütze das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland spätestens seit dem Grundlagenvertrag vom {12} 21. Dezember 1972 (BGBl. 1973 II S. 421) nicht mehr alle in der DDR lebenden Deutschen in dem Sinne, daß die gegen sie auf dem Gebiet der DDR begangenen Taten ohne weiteres nach § 7 Abs. 1 StGB, mithin nach dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland zu beurteilen seien. Etwas anderes gelte aber jedenfalls für Taten, in denen die mit politischer Verdächtigung oder Verschleppung verbundene Gefahr rechtsstaatswidriger Verfolgung in eine Verletzung, insbesondere in eine Freiheitsberaubung übergehe; der in § 5 Nr. 6 StGB gewährte umfassende Schutz (BGHSt 30, 1) könne nach dem Zweck dieser Vorschrift nicht auf die Ahndung des Gefährdungstatbestandes beschränkt bleiben (BGHSt 32, 293, 298). Im vorliegenden Fall sind die Regeln des § 5 StGB nicht betroffen; eine Anknüpfung an die Vorschrift des § 5 Nr. 6 StGB ist, anders als in den Fällen BGHSt 30, 1; 32, 293, nicht möglich. Den Schüssen an der Mauer war kein Gefährdungsdelikt vorausgegangen. Michael Schmidt ist zwar, ebenso wie die Opfer der in den §§ 234a, 241a StGB bezeichneten Straftaten, das Opfer eines Freiheitsrechte mißachtenden politischen Systems geworden. Dieser Gesichtspunkt ist für sich allein aber nicht bestimmt genug, um die gegen ihn begangene Tat im Hinblick auf das Rechtsanwendungsrecht (§§ 3 bis 7 StGB) hinreichend deutlich zu beschreiben und von anderen in der DDR begangenen Taten abzugrenzen, für die die Vorschrift des § 7 Abs. 1 StGB nicht galt. Hinzu kommt folgende Überlegung: Der Gesetzgeber hat ersichtlich den Meinungsstand hinsichtlich der Anwendung der §§ 3 bis 7 StGB auf DDR-Fälle, insbesondere die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 30, 1; 32, 293), gekannt, als er mit der Neufassung des Artikels 315 EGStGB durch den Einigungsvertrag in das System des Rechtsanwendungsrechts eingriff. Würde die Rechtsprechung, die sich nur {13} noch 137

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auf Taten bezieht, die vor dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages begangen worden sind, im jetzigen Zeitpunkt wesentlich geändert, so erhielte die Neufassung des Art. 315 EGStGB einen Inhalt, mit dem der Gesetzgeber nicht gerechnet hat. Unter diesen Umständen ist der Anwendungsbereich des Artikels 315 Abs. 4 EGStGB nicht anders zu beurteilen, als es dem gesicherten Stand der bisherigen Rechtsprechung entspricht. 2. Aus den gleichen Gründen folgt der Senat nicht dem weitergehenden, in jüngster Zeit wieder aufgegriffenen Vorschlag, Deutsche, die ihren Lebensmittelpunkt in der DDR hatten, ausnahmslos als Deutsche im Sinne des § 7 Abs. 1 StGB aufzufassen (Küpper/Wilms ZRP 1992, 91; Bath Deutschland-Archiv 1990, 1733; im Ergebnis ähnlich Hruschka JZ 1992, 665; aus der Zeit vor 1989 vgl. Oehler JZ 1984, 948; Woesner ZRP 1976, 248 sowie OLG Düsseldorf NJW 1979, 59; 1983, 1277). Daß dem Einigungsvertrag diese Auslegung nicht zugrunde gelegen hat, ergibt sich schon aus der Beobachtung, daß für die Vorschrift des Artikel 315 Abs. 1 EGStGB nur ein sehr geringer Anwendungsbereich (Taten ohne individuelle Opfer sowie Taten gegen Ausländer) übrig bliebe, wenn alle Taten, die sich gegen DDR-Bürger richteten, unter Artikel 315 Abs. 4 EGStGB fielen; wie die Gesamtheit der in den Artikeln 315 bis 315c EGStGB idF des Einigungsvertrages enthaltenen Regelungen zeigt, ist der Gesetzgeber aber ersichtlich davon ausgegangen, daß der Anwendungsbereich des - allerdings an § 2 Abs. 3 StGB zu messenden - DDR-Rechts breit sein werde. {14}

II. [Rechtfertigungsgründe

und menschenrechtsfreundliche

Auslegung]

Das Recht der ehemaligen DDR wäre im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB (i.V. mit Art. 315 Abs. 1 EGStGB idF des Einigungsvertrages) im Vergleich mit dem Recht der Bundesrepublik Deutschland das mildere Recht, wenn der abgeurteilte tödliche Schußwaffengebrauch nach dem Recht der DDR ( § 2 7 Abs. 2 des Grenzgesetzes i.V. mit §213 Abs. 3 StGB-DDR) gerechtfertigt gewesen wäre und dieser Rechtfertigungsgrund auch heute zugunsten der Angeklagten beachtet werden müßte. Die Nachprüfung ergibt, daß die Angeklagten zwar - nach der zur Tatzeit in der DDR praktizierten Auslegung - den in § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes bezeichneten Anforderungen entsprochen haben, daß sich daraus jedoch kein wirksamer Rechtfertigungsgrund ergibt. 1. Die Grenztruppen der DDR hatten nach § 18 Abs. 2 des Grenzgesetzes vom 25. März 1982 (GBl. DDR I S. 197) die „Unverletzlichkeit" der Grenze zu „gewährleisten"; als Verletzung galt u.a. das widerrechtliche Passieren der Grenze (§ 17 Satz 2 Buchst, b des Grenzgesetzes). Nach § 27 Abs. 2 Satz 1 des Grenzgesetzes war die Anwendung der Schußwaffe „gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt". In § 27 Abs. 5 Satz 1 des Gesetzes hieß es, das Leben von Personen sei bei der Anwendung der Schußwaffe „nach Möglichkeit zu schonen". Als Verbrechen wurden nach § 1 Abs. 3 Satz 2 StGB-DDR u.a. „gesellschaftsgefährliche" Straftaten gegen „Rechte und Interessen der Gesellschaft" verstanden, die eine „schwerwiegende Mißachtung der sozialistischen Gesetzlichkeit darstellen und ... fur die innerhalb des vorgesehenen Strafrahmens im Einzelfall eine Freiheits-{15}strafe von über zwei Jahren ausgesprochen wird". Mit einer solchen Strafe, nämlich mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht

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Jahren, war der ungesetzliche Grenzübertritt in schweren Fällen bedroht (§213 Abs. 3 StGB-DDR idF des Strafrechtsänderungsgesetzes vom 28. Juni 1979, GBl. DDRI S. 139). Ein schwerer Fall lag nach § 213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB-DDR „insbesondere" vor, wenn die Tat mit „gefährlichen Mitteln oder Methoden" durchgeführt wurde. Daß die Praxis der DDR zur Tatzeit die „Republikflucht" mit unmittelbarem Grenzkontakt in den meisten Fällen als Verbrechen wertete und mit Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren ahndete, hat der Tatrichter unterstellt (UA S. 11). Dem entspricht es, daß das Oberste Gericht der DDR und der Generalstaatsanwalt der DDR am 15. Januar 1988 in ihrem „Gemeinsamen Standpunkt zur Anwendung des § 213 StGB" ausgeführt haben, eine gefahrliche Methode im Sinne des § 213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB sei u.a. das Benutzen von „Steighilfen zur Überwindung von Grenzsicherungsanlagen" (OG-Informationen 2/1988 S. 9, 14); bereits am 17. Oktober 1980 war ein „Gemeinsamer Standpunkt" des Obersten Gerichtes und des Generalstaatsanwalts mit entsprechendem Inhalt formuliert worden (OG-Informationen - Sonderdruck 1980 S. 3; vgl. auch UA S. 49). Nach dem vom Ministerium der Justiz und der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR herausgegebenen Kommentar zum Strafgesetzbuch (Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik, 5. Aufl. 1987 - fortan als „DDR-Kommentar" zitiert - , § 213 Anm. 16) fiel das Verhalten des Tatopfers auch unter § 213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 StGB-DDR: Michael Schmidt hatte bis zum Übersteigen der Hinterlandmauer gemeinschaftlich mit einem anderen gehandelt (UA S. 15); des-{16}sen Rücktritt vom Versuch des unerlaubten Grenzübertritts bewirkte nicht, daß für Michael Schmidt die Voraussetzungen des § 213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 StGB-DDR (Begehung der Tat „zusammen mit anderen") wegfielen (DDR-Kommentar aaO). 2. Entgegen der Auffassung der Jugendkammer kommt eine Auslegung dieser Vorschriften in dem Sinne in Betracht, daß das Verhalten der Angeklagten von ihnen gedeckt war. a) Der Wortsinn des § 27 des Grenzgesetzes läßt eine solche Auslegung zu: Der Grenzübertritt, der in Anwendung des § 213 Abs. 3 StGB-DDR als Verbrechen angesehen wurde, sollte, sofern er unmittelbar bevorstand, durch Anwendung der Schußwaffe „verhindert" werden (§ 27 Abs. 2 Satz 1 des Grenzgesetzes). Zwar bezeichnete das Gesetz die Anwendung der Schußwaffe als „äußerste Maßnahme" (§ 27 Abs. 1 Satz 1 des Grenzgesetzes); andere Mittel, den Grenzübertritt zu verhindern, standen den Angeklagten aber nicht zur Verfügung. Nach § 27 Abs. 5 des Grenzgesetzes war das Leben anderer „nach Möglichkeit", also nicht in jedem Falle zu schonen. Hiernach läßt der Wortlaut des Gesetzes die Auslegung zu, daß auch mit (jedenfalls bedingtem) Tötungsvorsatz geschossen werden durfte, wenn das Ziel, Grenzverletzungen zu verhindern, nicht auf andere Weise erreicht werden konnte. Voraussetzung für diese Auslegung des § 27 des Grenzgesetzes ist allerdings, daß das Ziel, Grenzverletzungen zu verhindern, im Konfliktfalle Vorrang vor der Schonung menschlichen Lebens hatte. Wie die Abwägung zwischen dem Leben des Flüchtlings und der „Unverletzlichkeit der Staatsgrenze" auszufallen hatte, war aus dem Gesetz nicht abzulesen. Rechtsprechung von Gerichten der DDR ist zu dieser Frage nicht veröffentlicht worden. Äußerungen im Schrifttum der DDR zum Schußwaffengebrauch an der Grenze beschränken sich {17} auf die Darlegung, daß die Bestimmungen über den Schußwaffengebrauch den westdeutschen Vorschriften entsprächen (Kaul/Graefrath NJ

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1964, 272, 273) und im Einklang mit dem Völkerrecht dem Schutz der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung dienten (Buchholz/Wieland NJ 1977, 22, 26); diese Äußerungen stammen aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des Grenzgesetzes. Unter diesen Umständen sind die vom Tatrichter festgestellte Befehlslage und die - ebenfalls auf vorgegebenen Befehlen beruhenden - Begleitumstände des Tatgeschehens heranzuziehen, um zu ermitteln, wie die Vorschrift des § 27 des Grenzgesetzes zur Tatzeit von den für ihre Anwendung und Auslegung Verantwortlichen verstanden worden ist. aa) Die Befehlslage Schloß „zur Vereitelung der Flucht auch die bewußte Tötung des Flüchtenden" ein (UA S. 17), falls mildere Mittel zur Fluchtverhinderung nicht ausreichten (UA S. 22). Daß der Flüchtende den Westteil von Berlin erreichte, war danach „auf jeden Fall und letztlich mit allen Mitteln zu verhindern" (UA S. 12). In der regelmäßig wiederkehrenden Vergatterung war nach den Feststellungen der „Kernsatz" enthalten: „Grenzdurchbrüche sind auf keinen Fall zuzulassen. Grenzverletzer sind zu stellen oder zu vernichten" (UA S. 12). Bei der Schulung der Grenzsoldaten galt als Faustregel: „Besser der Flüchtling ist tot, als daß die Flucht gelingt" (UA S. 13). Das Interesse, die Flucht zu verhindern, hatte hiernach Vorrang vor dem Leben des Flüchtlings. Eine gelungene Flucht war „das Schlimmste, was der Kompanie passieren konnte, da sie der ihr gestellten Aufgabe nicht gerecht geworden wäre" (UA S. 13). Die Erschießung eines Flüchtlings an der Mauer hatte dagegen „keine negativen Konsequenzen"; sie hat nie zu einem Verfahren gegen den Schützen geführt (UA S. 13, 28 f.). Vielmehr wurde der Posten, der eine Flucht, wie auch immer, verhindert hatte, {18} ausgezeichnet und belohnt (UA S. 13). Der Tatrichter hat keinerlei Anhaltspunkte dafür gefunden, daß Gerichte, Staatsanwaltschaften oder andere staatliche Instanzen der DDR jemals beanstandet hätten, der durch die Befehlslage bezeichnete Schußwaffengebrauch überschreite die in § 27 des Grenzgesetzes gesteckten Grenzen (UA S. 28 f.). bb) Daß der Schutz des Lebens von „Grenzverletzern" hinter andere Ziele, auch das Ziel der Geheimhaltung schwerer Verletzungen, zurücktrat, zeigen auch die folgenden Feststellungen des Tatrichters: Obwohl § 27 Abs. 5 des Grenzgesetzes vorschrieb, das Leben von Personen nach Möglichkeit zu schonen und unter Beachtung der notwendigen Sicherheitsmaßnahmen Erste Hilfe zu gewähren, hat keiner der nach den Schüssen der Angeklagten hinzugekommenen Angehörigen der Grenztruppen und anderer Einheiten Michael Schmidt geholfen, obwohl dieser mehrfach darum bat. Der Verletzte wurde zu einem Turm „geschleift" und dort an einer vom Westen nicht einsehbaren Stelle „abgelegt". Michael Schmidt ist nicht mit dem gewöhnlichen Krankenwagen der „Schnellen medizinischen Hilfe", sondern mit einem Sanitätswagen des Regiments, der zunächst 45 Minuten für die Anfahrt benötigt hatte, abtransportiert worden, und zwar nicht zum nächstgelegenen Krankenhaus, sondern zu dem entfernteren Krankenhaus der Volkspolizei, wo er mehr als zwei Stunden nach den Verletzungen eingeliefert wurde. In dem Sanitätswagen war kein Arzt, weil bei der Anforderung des Wagens nicht mitgeteilt werden durfte, daß jemand schwer verletzt worden war. Bei schneller ärztlicher Hilfeleistung hätte Michael Schmidt gerettet werden können. Die genannten Maßnahmen, die eine erhebliche Verzögerung bewirkten, entsprachen der Befehlslage, die vorrangig nicht an der Lebensrettung, sondern an dem Interesse orientiert war, daß der Vorfall auf beiden {19} Seiten der Grenze unerkannt blieb; möglicherweise galt diese Geheimhaltung als „notwendige

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Sicherheitsmaßnahme" im Sinne des § 27 Abs. 5 Satz 2 des Grenzgesetzes. Dem Vorrang der Geheimhaltung vor der Lebensrettung entsprach es, daß die Sanitäter die Fahrt nicht ihrem Regimentsarzt melden durften, daß der Zugführer unterschreiben mußte, der Nachtdienst sei ohne besondere Vorkommnisse verlaufen, und daß der Name des Opfers im Eingangsbuch des Krankenhauses sowie auf dem Totenschein nicht genannt wurde; auch wurde der Vater des Opfers erst am 4. Dezember 1984 vom Tod seines Sohnes unterrichtet. Ein Hinweis auf die Bedeutung politischer Interessen ergibt sich auch daraus, daß der Befehl, an der Grenze zu schießen, anläßlich von Staatsbesuchen, Parteitagen und FDJTreffen auf Fälle der Notwehr, der Verwendung „schwerer Technik" und der Fahnenflucht beschränkt wurde. Gleichzeitig wurde die Postendichte verstärkt. cc) Die genannten tatsächlichen Umstände ergeben in ihrer Gesamtheit, daß die Verhinderung des Grenzübertritts als überragendes Interesse aufgefaßt wurde, hinter das persönliche Rechtsgüter einschließlich des Lebens zurücktraten. Der Senat gelangt deswegen zu dem Ergebnis, daß nach der zur Tatzeit in der DDR geübten Staatspraxis die Anwendung von Dauerfeuer ohne vorgeschaltetes, auf die Beine gerichtetes Einzelfeuer nicht als rechtswidrig angesehen worden wäre. Denn die Angeklagten haben mit dem Dauerfeuer die Chance, die Flucht zu verhindern, freilich auch das Risiko eines tödlichen Treffers, erhöht und damit dem entsprochen, was ihnen im Einklang mit der herrschenden Auslegung des Grenzgesetzes als das wichtigste Ziel vermittelt wurde, nämlich die Verhinderung von Grenzübertritten. Sie hätten sich nach den genannten Beurteilungsmaßstäben allenfalls dann einer {20} auf § 27 Abs. 5 Satz 1 des Grenzgesetzes gestützten Kritik ausgesetzt, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür gesprochen hätte, daß das Einzelfeuer auf die Beine die Flucht zuverlässig verhindert hätte. Das liegt hier angesichts der zeitlichen Verhältnisse fern: Michael Schmidt befand sich, als die Angeklagten schössen, im zügigen Aufstieg auf der Leiter. Er hat fünf Sekunden bis zum Erreichen einer Höhe benötigt, aus der er an die Mauerkrone greifen konnte. Es muß angenommen werden, daß er zu diesem Zeitpunkt in der Lage war, innerhalb weniger Sekunden die Mauerkrone zu übersteigen und sich dadurch in Sicherheit zu bringen. Bei der Abgabe von Einzelfeuer betrug nach den Feststellungen der Mindestabstand zwischen zwei Schüssen 1,5 Sekunden; angesichts der Kürze der für die Fluchtverhinderung verbliebenen Zeit war hiernach die Chance, dieses Ziel zu erreichen, bei Dauerfeuer (mit einer Frequenz von 10 Schüssen je Sekunde) wesentlich höher. Im übrigen ist auch zu berücksichtigen, daß die Entfernung der Schützen von Michael Schmidt nicht unbeträchtlich war und daß sich die Ereignisse zur Nachtzeit zutrugen. dd) Hiernach entsprach das Verhalten der Angeklagten der rechtfertigenden Vorschrift des § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes, so wie sie in der Staatspraxis angewandt wurde. Diese Staatspraxis ist durch den Vorrang der Fluchtverhinderung vor dem Lebensschutz gekennzeichnet; die zur Rechtskontrolle berufenen Gerichte und Behörden der DDR haben dieser Staatspraxis nicht widersprochen. Sofern man das darin zum Ausdruck gekommene Verständnis des § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes zugrunde legt, waren die mit bedingtem Vorsatz und Dauerfeuer abgegebenen Schüsse der Angeklagten gerechtfertigt. {21} In dieser Betrachtungsweise weicht der Senat vom Vorgehen der Jugendkammer ab. Diese hat das Grenzgesetz wegen des von ihm erweckten „Anscheins von Rechtsstaat-

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lichkeit" nach rechtsstaatlichen Maßstäben, insbesondere im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgelegt (UA S. 51); sie ist der Auffassung, daß staatliche Präventionszwecke niemals die vorsätzliche, auch nicht die bedingt vorsätzliche Tötung eines Menschen, der das Leben anderer nicht gefährdet, rechtfertigten, weil das Leben das höchste Rechtsgut sei (UA S. 53). Nach Ansicht der Jugendkammer rechtfertigt § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes die (unbedingt oder bedingt) vorsätzliche Tötung auch dann nicht, wenn die in § 27 des Grenzgesetzes umschriebenen staatlichen Zwecke anders nicht zu erreichen wären (UA S. 54). Diese Rechtsauffassung der Jugendkammer ist dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet. Sie wäre deshalb ein geeigneter Ausgangspunkt für die Auslegung des § 11 UZwG sowie des § 16 UZwGBw. Hier geht es indessen nicht um die Auslegung dieser Vorschriften, sondern im Hinblick auf § 2 Abs. 3 StGB um die Prüfung, ob als milderes Gesetz ein Rechtfertigungsgrund nach dem zur Tatzeit geltenden fremden Recht in Betracht kommt. b) Von der Frage, ob das Verhalten der Angeklagten nach dem Recht der DDR, wie es in der Staatspraxis angewandt wurde, gerechtfertigt war, ist die andere Frage zu unterscheiden, ob ein so verstandener Rechtfertigungsgrund (§ 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes) wegen Verletzung vorgeordneter, auch von der DDR zu beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Rechtsfindung außer Betracht bleiben muß, und zwar auch dann, wenn die Prüfung des fremden Rechtfertigungsgrundes im Rahmen des § 2 Abs. 3 StGB stattfindet. Der Senat bejaht diese Frage. {22} Der in § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes genannte Rechtfertigungsgrund, wie ihn die damalige Staatspraxis, vermittelt durch die Befehlslage, handhabte, hat, sofern der Grenzübertritt auf andere Weise nicht verhindert werden konnte, das (bedingt oder unbedingt) vorsätzliche Töten von Personen gedeckt, die nichts weiter wollten, als unbewaffnet und ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die Grenze zu überschreiten. Die Durchsetzung des Verbots, die Grenze ohne besondere Erlaubnis zu überschreiten, hatte hiernach Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen. Unter diesen besonderen Umständen ist der Rechtfertigungsgrund, wie er sich in der Staatspraxis darstellte, bei der Rechtsanwendung nicht zu beachten. aa) Allerdings müssen Fälle, in denen ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund als unbeachtlich angesehen wird, auf extreme Ausnahmen beschränkt bleiben. Daß ein Rechtfertigungsgrund gegen den ordre public der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 6 EGBGB) verstoßen hat, ist - entgegen Küpper/Wilms ZRP 1992, 91, 93 - für sich allein kein ausreichender Grund, ihm bei der Aburteilung einer unter dem früheren Recht begangenen Tat die Berücksichtigung zu versagen. Das Landgericht hat mit Recht auf die hohe Bedeutung der Rechtssicherheit hingewiesen. Sie spricht dafür, in den Fällen des § 2 Abs. 3 StGB bei der Ermittlung des milderen Rechtes grundsätzlich die Rechtfertigungsgründe des früheren Rechtes mit zu berücksichtigen. bb) Ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund kann vielmehr nur dann wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtet bleiben, wenn in ihm ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Mensch-{23} lichkeit zum Ausdruck kommt; der Verstoß muß so schwer wiegen, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugun-

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gen verletzt (BGHSt 2, 234, 239). Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit muß so unerträglich sein, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat (Radbruch SJZ 1946, 105, 107). Mit diesen Formulierungen (vgl. auch BVerfGE 3, 225, 232; 6, 132, 198 f.) ist nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft versucht worden, schwerste Rechtsverletzungen zu kennzeichnen. Die Übertragung dieser Gesichtspunkte auf den vorliegenden Fall ist nicht einfach, weil die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden kann. Gleichwohl bleibt die damals gewonnene Einsicht gültig, daß bei der Beurteilung von Taten, die in staatlichem Auftrag begangen worden sind, darauf zu achten ist, ob der Staat die äußerste Grenze überschritten hat, die ihm nach allgemeiner Überzeugung in jedem Lande gesetzt ist. cc) Heute sind konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen: Die internationale Menschenrechtspakte bieten Anhaltspunkte dafür, wann der Staat nach der Überzeugung der weltweiten Rechtsgemeinschaft Menschenrechte verletzt. Hierbei ist der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl. II 1973 S. 1534 - IPbürgR - ) von besonderer Bedeutung. Die DDR ist ihm im Jahre 1974 beigetreten (GBl. DDR II S. 57); sie hat die Ratifizierungsurkunde am 8. November 1974 hinterlegt (GBl. aaO). Der Internationale Pakt (im Sprachgebrauch der DDR „Konvention über zivile und politische Rechte" genannt) ist fur beide deutsche Staaten am 23. März 1976 in Kraft getreten (BGBl. II S. 1068; GBl. DDR II S. 108). Allerdings hat die DDR es unterlassen, den Pakt gemäß Art. 51 der DDR-Verfassung zum An-{24}laß für innerstaatliche Gesetzesänderungen zu nehmen und bei dieser Gelegenheit nach der genannten Verfassungsvorschrift von der Volkskammer „bestätigen" zu lassen. An der völkerrechtlichen Bindung der DDR ändert dieser Sachverhalt nichts. Ein Staat kann sich „nicht durch eine Berufung auf seine innerstaatliche Rechtsordnung der Erfüllung von ihm eingegangener Verpflichtungen entziehen" (Völkerrecht, Lehrbuch, Berlin-Ost 1981, I S. 59); er ist „kraft Völkerrechts verpflichtet, im Bereich seiner innerstaatlichen Gesetzgebung entsprechend diesen Verpflichtungen zu handeln und sie zu erfüllen" (aaO). Ergeben sich bei der Bewertung des Rechts der DDR Widersprüche zwischen den von ihr völkerrechtlich anerkannten Menschenrechten und der tatsächlichen Anwendung der Grenz- und Waffengebrauchsvorschriften, so kann dieser Widerspruch auch bei der Beurteilung der Frage berücksichtigt werden, ob derjenige rechtswidrig handelt, der auf staatlichen Befehl Menschenrechte verletzt, die durch den völkerrechtlichen Vertrag geschützt sind. Deswegen kann die Frage offenbleiben, ob entgegen der in der DDR vertretenen Auffassung (Buchholz/Wieland NJ 1977, 22, 26; vgl. auch Graefrath, Menschenrechte und internationale Kooperation, Berlin-Ost 1988, S. 55 ff. sowie R. Hofmann, Die Ausreisefreiheit nach Völkerrecht und staatlichem Recht, Berlin-West 1988, S. 243 ff.) aus dem besonderen Inhalt des IPbürgR abzuleiten ist, daß schon die Ratifikation den Menschen in den Vertragsstaaten eine Rechtsposition gegenüber ihrem Staat verschafft hat (vgl. Tomuschat, Vereinte Nationen 1976 H. 6, S. 166 ff; Buergenthal in: Henkin [Hrsg.], The International Bill of Rights, 1981, S. 72 ff.). {25} (1) Art. 12 Abs. 2 IPbürgR lautet: „Jedermann steht es frei, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen" (Übersetzung im DDR-Gesetzblatt: „Es steht jedem frei, jedes Land, auch sein eigenes, zu verlassen"). Nach Art. 12 Abs. 3 IPbürgR darf

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dieses Recht nur durch Gesetz und nur zu bestimmten Zwecken, darunter zum Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung, eingeschränkt werden. Das Erfordernis, daß die Einschränkung durch Gesetz erfolgen muß, hat das Paßgesetz der DDR vom 28. Juni 1979 (GBl. DDR I S. 148) erfüllt. Darauf, daß die im Paßgesetz und in den zugehörigen Anordnungen enthaltenen Beschränkungen dem Schutz der öffentlichen Ordnung dienten, hat sich die DDR stets berufen. Doch ergibt sich aus dem verbindlichen englischen Wortlaut des Art. 12 Abs. 3 IPbürgR („The ... rights shall not be subject to any restrictions except...") und der Entstehungsgeschichte sowie der internationalen Auslegung der Vorschrift, daß mit dem Gesichtspunkt der öffentlichen Ordnung (ordre public) nicht etwa ein umfassender Gesetzesvorbehalt gemeint war; vielmehr sollten die Einschränkungen auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben und keinesfalls die Substanz der Freizügigkeit und des Ausreiserechts zerstören (Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte, 1989, Art. 12 Rdn. 23, 32 f.; Jagerskiold in: Henkin [Hrsg.], The International Bill of Rights 1981 S. 166, 172, 179; R. Hofmann, Die Ausreisefreiheit nach Völkerrecht und staatlichem Recht, 1988, S. 123, 251; Polakiewicz EuGRZ 1992, 177, 186; Hannum, The Right to Leave and Return in International Law and Practice, 1987, S. 52 f.; Empfehlungen der internationalen Konferenzen von Uppsala [1972] und Syrakus [1984], mitgeteilt bei Hannum aaO S. 150 f., 22; Reinke, Columbia Journal of Transnational Law 24, 1986, S. 647, 665). Gesichtspunkte des wirtschaftlichen oder sozialen {26} Wohls sollten, wie die Materialien ergeben, kein zulässiges Motiv für die Einschränkung der Freizügigkeit sein (R. Hofmann aaO S. 43; Nowak aaO Rdn. 37, Fn. 86; Bossuyt, Guide to the Travaux Préparatoires of the ICCPR 1987 S. 255). Die DDR ist in den Jahren 1977 und 1984 vom Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen zu den Verhältnissen an der innerdeutschen Grenze gehört worden. Sie hat 1977 erklärt, die Einschränkung der Freizügigkeit entspreche dem IPbürgR (vgl. Bruns Deutschland-Archiv 1978, 848, 851; UNO-Dokument A 33/Suppl. 40 [1978], S. 26 ff., 29). In ihrem Bericht für die Vereinten Nationen von 1984 hat sich die DDR auf die große Zahl erlaubter Ausreisen berufen und betont, die Beschränkungen dienten dem Schutz der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung (vgl. Bruns Deutschland-Archiv 1984 S. 1183, 1185; R. Hofmann aaO S. 117 ff., 251). In der mündlichen Befragung hat damals der Vertreter der DDR behauptet, das Grenzgesetz von 1982 sei mit dem IPbürgR, auch mit dessen Art. 6 (Recht auf Leben), vereinbar; Grenzsoldaten schössen nur im äußersten Notfall, wenn andere Mittel nicht ausreichten, um ein Verbrechen - erwähnt wurde der Fall der Gewalttat (violence) - zu verhindern (R. Hofmann aaO S. 121: vgl. Bruns aaO 1984, 1186). Es ist zwar nicht anzunehmen, daß der Inhalt des Art. 12 zu den „allgemein anerkannten, dem friedlichen Zusammenleben und der Zusammenarbeit der Völker dienenden Regeln des Völkerrechts" im Sinne des Art. 8 der DDR-Verfassung gezählt wurde; Art. 8 dieser Verfassung bezog sich ersichtlich auf einen engeren Ausschnitt aus dem Völkerrecht, der die Zusammenarbeit und Koexistenz verschiedener Staaten betraf (vgl. Sorgenicht u.a., Verfassung der DDR, 1969, Art. 8 Anm. 1; siehe auch Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR, 2. Aufl. 1982, Art. 8 Rdn. 2). Die dem Art. 12 IPbürgR {27} entsprechenden Regeln gehören aber zu den Werten, die das Verhältnis des

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Staates zu seinen Bürgern bestimmen und deswegen bei der Auslegung von Gesetzen berücksichtigt werden müssen. (2) Das in Art. 12 IPbürgR bezeichnete Menschenrecht auf Ausreisefreiheit wurde durch das Grenzregime der D D R verletzt, weil den Bewohnern der D D R das Recht auf freie Ausreise nicht nur in Ausnahmefällen, sondern in aller Regel vorenthalten wurde. Nach den Vorschriften des DDR-Rechts über die Ausgabe von Pässen als Voraussetzung für das legale Überschreiten der deutsch-deutschen Grenze (Paßgesetz und Paßund Visaanordnung v o m 28. Juni 1979 - GBl. D D R I, 148, 151 - , ergänzt durch die Anordnung v o m 15. Februar 1982 - GBl. D D R I, 187 - ) gab es, jedenfalls bis zum 1. Januar 1989 (Inkrafittreten der V O v o m 30. November 1988, GBl. D D R I, 271), für nicht politisch privilegierte Bürger unterhalb des Rentenalters, abgesehen von einzelnen dringenden Familienangelegenheiten, keine Möglichkeit der legalen Ausreise; Entscheidungen über Anträge auf Ausreise bedurften bis zum 1. Januar 1989 nach § 17 der Anordnung v o m 28. Juni 1979 (GBl. D D R I, S. 151) keiner Begründung und konnten bis zu diesem Zeitpunkt (§ 23 der V O v o m 30. November 1988) nicht mit der Beschwerde angefochten werden. Diese Regelung verstieß gegen die Einschränkungskriterien des Art. 12 Abs. 3 IPbürgR, gegen den Grundsatz, daß Einschränkungen die Ausnahme bleiben sollten, und gegen das allenthalben aufgestellte Prinzip, daß die Versagung der Ausreise mit Rechtsbehelfen anfechtbar sein müsse (Hannum aaO S. 148). Der Senat übersieht nicht, daß auch andere Länder die Ausreise ihrer eigenen Bürger beschränken, daß die Aus{28}reisefreiheit bei der Schaffung des Grundgesetzes nicht zu einem selbständigen Grundrecht gemacht worden ist (vgl. Pieroth JuS 1985, 81, 84; Rittstieg A K , 2. A u f l . Art. 11 GG, Rdn. 1 ff., 37) und daß dies damals auch mit der Besorgnis begründet wurde, die arbeitsfähigen Jahrgänge würden in unerwünschtem Maße auswandern (Jahrbuch des Öffentlichen Rechtes der Gegenwart, Neue Folge, Bd. 1, 1951 S. 44). Ihm ist auch bewußt, daß es in den Vereinten Nationen Meinungsunterschiede zwischen Entwicklungsländern, die das Abwandern der Intelligenz verhüten wollen, und den westeuropäischen Mitgliedsstaaten gibt, die auf eine möglichst unbeschränkte Ausreisefreiheit dringen (Hannum aaO S. 31, 52, 55, 109 ff.), und daß zur Tatzeit in den unter sowjetischem Einfluß stehenden Staaten durchweg Ausreisebeschränkungen bestanden (vgl. R. Hofmann aaO. S. 239 f f ; Hannum aaO. S. 96 f f ; G. Brunner in: Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Pakts, Bericht der Unabhängigen Wissenschaftlerkommission, 1988, S. 165 f f ; Kuss EuGRZ 1987, 305). Das Grenzregime der D D R empfing jedoch seine besondere Härte dadurch, daß Deutsche aus der D D R ein besonderes Motiv fur den Wunsch, die Grenze nach WestBerlin und Westdeutschland zu überqueren, hatten: Sie gehörten mit den Menschen auf der anderen Seite der Grenze zu einer Nation und waren mit ihnen durch vielfältige verwandtschaftliche und sonstige persönliche Beziehungen verbunden. ( 3 ) Insbesondere kann die durch die restriktiven Paß- und Ausreisevorschriften begründete Lage unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte nicht ohne Beachtung der tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze gewürdigt werden, die durch „Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl" ( B V e r f G E 36, 1, 35) gekennzeichnet waren und damit gegen Art. 6 IPbürgR verstießen. Nach dieser Vorschrift hat, jeder { 2 9 } Mensch ein angeborenes Recht auf Leben"; „niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt

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werden" (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und 3). Auch wenn die Auslegung des Merkmals „willkürlich" insgesamt bisher nicht sehr ergiebig gewesen ist (vgl. Nowak aaO Art. 6 Rdn. 12 ff; Nowak EuGRZ 1983, 11, 12; Polakiewicz EuGRZ 1992, 177, 182; Ramcharan, Netherlands Internat. Law Review 30, 1983, 297, 316 ff; Boyle in: Ramcharan [Hrsg.], The Right to Life in International Law, 1985, S. 221 ff.), so zeichnet sich doch, auch in der Rechtsprechung anderer Staaten (vgl. insbesondere US Supreme Court 471 US 1 in der Sache Tennessee v. Garner, 1985), die Tendenz ab, den mit der Möglichkeit tödlicher Wirkung verbundenen Schußwaffengebrauch von Staatsorganen unter starker Betonung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Fälle einzugrenzen, in denen eine Gefährdung von Leib und Leben anderer zu befurchten ist (Boyle aaO. S. 241 f; Desch, Österr. Zeitschr. f. öff. Recht u. Völkerrecht 36, 1985, S. 77, 102; Ramcharan aaO [1983] S. 318). In der „Allgemeinen Bemerkung" des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen zum Recht auf Leben aus dem Jahre 1982 (General Comment 6/16 - A/37/40, S. 93 ff. - , abgedruckt bei Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte [1989], S. 879 sowie bei Graefrath, Menschenrechte und internationale Kooperation [1988], S. 263) heißt es, der Schutz des Lebens vor willkürlicher Tötung sei von überragender Bedeutung; das Gesetz müsse die Umstände, unter denen staatliche Organe jemanden seines Lebens berauben dürfen, „strikt kontrollieren und begrenzen" (aaO Abschnitt 3). Die Grenze zur Willkür ist nach der Auffassung des Senats insbesondere überschritten, wenn der Schußwaffengebrauch an der Grenze dem Zweck dient, Dritte vom unerlaubten Grenzübertritt abzuschrecken. Daß die „Befehlslage", die die vorsätzliche Tötung von „Grenzverletzern" einschloß, auch dieses Ziel hatte, liegt auf der Hand. {30} Im vorliegenden Fall ergibt sich bei gleichzeitiger Verletzung der Artikel 6 und 12 IPbürgR eine Menschenrechtsverletzung ferner daraus, daß das Grenzregime in seiner beispiellosen Perfektion und dem durch § 27 des Grenzgesetzes i.V. mit § 213 Abs. 3 StGB-DDR bestimmten, in der Praxis rücksichtslos angewandten Schußwaffengebrauch Menschen betraf, denen aufgrund einer die Ausreise regelmäßig und ohne Begründung versagenden Verwaltungspraxis verwehrt wurde, aus der DDR in den westlichen Teil Deutschlands und insbesondere Berlins zu reisen. (4) Der Senat nimmt, was das Recht auf Leben angeht, die von der Revision des Angeklagten W. gemachten kritischen Hinweise auf die Auslegung des § 11 UZwG sowie der §§ 15, 16 UZwGBw (ebenso Polakiewicz EuGRZ 1992, 177, 185) ernst. Er findet es befremdlich, daß im Schrifttum bei der Auslegung des § 16 UZwGBw ein bedingter Tötungsvorsatz als von der Vorschrift gedeckt bezeichnet worden ist (Jess/Mann, UZwGBw, 2. Aufl. 1981, § 16 Rdn. 4), und pflichtet Frowein (in: Kritik und Vertrauen, Festschrift für Peter Schneider, 1990 S. 112 ff.) darin bei, daß in der Bundesrepublik Deutschland der Schußwaffengebrauch gegen Menschen angesichts seiner unkontrollierbaren Gefährlichkeit (vgl. dazu BGHSt 35, 379, 386) auch im Grenzgebiet (§ 11 UZwG) auf die Verteidigung von Menschen beschränkt werden sollte (aaO S. 117), also auf Fälle, in denen von demjenigen, auf den geschossen wird, eine Gefährdung von Leib oder Leben anderer zu befürchten ist. Der Umstand, daß die derzeitige Auslegung der Schußwaffenvorschriften des geltenden Rechts im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht in jeder Weise befriedigend ist (vgl. auch BGHSt 26, 99), rechtfertigt indes-{31} sen kein Verständnis für den Schußwaffengebrauch durch die Grenztruppen

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der DDR; dieser war durch eine Konstellation gekennzeichnet, die in der Bundesrepublik Deutschland angesichts ihrer offenen Grenzen keine Parallele hat. dd) Die Verletzung der in den Artikeln 6 und 12 des Internationalen Pakts garantierten Menschenrechte in ihrem spezifischen, durch die Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze gekennzeichneten Zusammenhang macht es dem Senat unmöglich, bei der Rechtsanwendung die Vorschriften des § 27 des Grenzgesetzes sowie des § 213 Abs. 3 StGB-DDR in dem Umfang, wie sie in der Staatspraxis der DDR verstanden worden sind, als Rechtfertigungsgrund zugrundezulegen. Die Verhältnisse an der Grenze waren auch unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Nachteile, die fur den betroffenen Staat mit einer starken Abwanderung arbeitsfähiger Menschen verbunden sein können, Ausdruck einer Einstellung, die das Lebensrecht der Menschen niedriger einschätzt als das Interesse, sie am Verlassen des Staates zu hindern. Der im DDRRecht vorgesehene, in § 27 des Grenzgesetzes bezeichnete Rechtfertigungsgrund hat deswegen von Anfang an in der Auslegung, die durch die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze gekennzeichnet war, keine Wirksamkeit gehabt. Er hat bei der Suche nach dem milderen Recht (§ 2 Abs. 3 StGB i.V. mit Art. 315 Abs. 1 EGStGB) außer Betracht zu bleiben, weil bereits die DDR bei Zugrundelegung der von ihr anerkannten Prinzipien den Rechtfertigungsgrund hätte einschränkend auslegen müssen. 3. Der Senat hatte sodann der Frage nachzugehen, ob § 27 des Grenzgesetzes mit Auslegungsmethoden, die dem Recht der DDR eigentümlich waren, so hätte ausgelegt werden können, daß die genannten Menschenrechtsverletzungen vermieden wurden; ein so eingegrenzter Rechtfertigungsgrund wäre mit Rücksicht {32} auf Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten. Die Prüfung ergibt, daß eine solche Auslegung möglich gewesen wäre, daß der so bestimmte Rechtfertigungsgrund jedoch das Verhalten der Angeklagten (Dauerfeuer mit bedingtem Tötungsvorsatz) nicht gedeckt hätte. a) Der Senat legt bei dieser Auslegung nicht die Wertordnung des Grundgesetzes oder der MRK zugrunde; er beschränkt sich darauf, die Vorgaben zu berücksichtigen, die im Recht der DDR für eine menschenrechtsfreundliche Gesetzesauslegung angelegt waren. Ausgangspunkt ist Art. 89 Abs. 2 der Verfassung der DDR; danach durften Rechtsvorschriften der Verfassung nicht widersprechen. Nach Art. 30 der Verfassung waren Persönlichkeit und Freiheit eines jeden Bürgers der DDR unantastbar und Einschränkungen nur dann zulässig, wenn sie im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen oder einer Heilbehandlung gesetzlich begründet waren; Rechte durften „nur insoweit eingeschränkt werden, als dies gesetzlich zulässig und unumgänglich ist" (Art. 30 Abs. 2). Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit war in der Verfassung der DDR nicht ausdrücklich genannt; auch ist dieses Recht in dem Sinne, wie es Gegenstand westlicher Verfassungen ist, in der Literatur der DDR nicht ausdrücklich behandelt worden (vgl. z.B. E. Poppe [Hrsg.] Grundrechte des Bürgers in der sozialistischen Gesellschaft, 1980, S. 163, 265). Schon im Blick auf Art. 6 IPbürgR kann es aber keinem Zweifel unterliegen, daß die Verfassungsvorschrift des Art. 30 Abs. 1 VerfDDR, indem sie die Persönlichkeit fur unantastbar erklärte, den Schutz des Lebens einschloß; demnach ist Art. 30 Abs. 2 VerfDDR zu entnehmen, daß Eingriffe in das Leben gesetzlich begründet sein mußten (vgl. K. Sorgenicht u.a., Verfassung der DDR, 1969 Art. 30 Anm. 1; G. Brunner, Menschenrechte in der DDR, Baden-Baden 1989 S. 111, 113). Mit der Abschaffung der Todesstrafe durch das Vierte Straf-{33 Jrechtsänderungsgesetz

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vom 18. Dezember 1987 (GBl. DDR I S. 301) wollte die DDR ersichtlich dem Menschenrecht auf Leben Rechnung tragen. Die Vorschrift des Art. 30 Abs. 2 Satz 2 der Verfassung der DDR brachte einen Gesichtspunkt zum Ausdruck, der im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland als Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bezeichnet wird. Anders als im nationalsozialistischen Führerstaat gab es in der DDR keine Doktrin, nach der der bloße Wille der Inhaber tatsächlicher Macht Recht zu schaffen vermochte. Gesetze waren verbindlich (vgl. Art. 49 Abs. 1 der Verfassung); sie konnten allein von der Volkskammer erlassen werden (Art. 48 Abs. 2 der Verfassung). Zur „Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit" war die Rechtspflege berufen, die die Freiheit, das friedliche Leben, die Rechte und die Würde der Menschen zu schützen hatte (Art. 90 Abs. 1 der Verfassung). Die Richter sollten nach Art. 96 Abs. 1 der Verfassung in ihrer Rechtsprechung unabhängig sein. Hiernach beanspruchten die Gesetze eine Geltung, die nicht durch Weisungen oder die tatsächliche Staatspraxis bestimmt war. Wer heute den Inhalt der Gesetze der DDR unter Berücksichtigung der DDR-Verfassung und der Bindung der DDR an die internationalen Menschenrechtspakte zu ermitteln sucht, unterschiebt demnach nicht dem Recht der DDR Inhalte, die mit dem eigenen Anspruch dieses Rechtes unvereinbar wären. Der Erste Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR hat am 25. März 1982 in der Volkskammer bei der Einbringung des Grenzgesetzes u.a. ausgeführt, die Regelung über den Schußwaffengebrauch (§ 27) enthalte „nicht mehr und nicht weniger, als auch andere Staaten fur ihre Schutzorgane festgelegt haben"; die Anwendung der Schußwaffe sei „die äußerste Maßnahme" gegen Personen, die „Verbrechen gegen die Rechts-{34} Ordnung der DDR begangen haben oder sich der Verantwortung fur die begangene Rechtsverletzung zu entziehen suchen" (Volkskammer, 8. Wahlper., 4. Tagung, S. 88 f. der Sten. Niederschrift). b) Eine an den Artikeln 6, 12 IPbürgR orientierte Auslegung des § 27 des Grenzgesetzes kann sich auf den genannten, in Art. 30 Abs. 2 Satz 2 der DDR-Verfassung enthaltenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stützen; dieser Grundsatz hat in anderem Zusammenhang auch in § 26 Abs. 2 Satz 2, 3 des Grenzgesetzes sowie in seiner Formulierung, daß die Anwendung der Schußwaffe „die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen" sei (§ 27 Abs. 1 Satz 1 des Grenzgesetzes), Ausdruck gefunden. Es liegt deshalb nahe anzunehmen, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, so wie er in der DDR galt, verletzt wurde, wenn derjenige als Täter eines Verbrechens nach §213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB-DDR verstanden wurde, der die Mauer mit einer Leiter überstieg. Verhält es sich so, dann war der Gebrauch der Schußwaffe nach § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes unzulässig, weil sich die Flucht nicht als ein Verbrechen nach § 213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB-DDR darstellte. Aber selbst wenn die vom Obersten Gericht und vom Generalstaatsanwalt vorgegebene Auslegung, im übrigen auch die Anwendbarkeit des § 213 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 StGB-DDR zugrunde gelegt wird, so gestattete doch der Wortlaut des § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes eine Auslegung, die dem auch im Recht der DDR (eingeschränkt) vorhandenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trug. § 27 Abs. 2 Satz 1 des Grenzgesetzes ist dann so zu verstehen: Der Grenzsoldat durfte zwar in den dort bezeichneten Fällen die Schußwaffe zur Verhinderung der Flucht einsetzen; der Rechtfertigungsgrund fand aber eine Grenze, wenn auf einen nach den Umständen unbewaffneten und auch sonst nicht für Leib oder Leben anderer ge-

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fährlichen Flüchtling mit dem - beding-{3 5} ten oder unbedingten - Vorsatz, ihn zu töten, geschossen wurde. Hiernach war die bedingt vorsätzliche Tötung, wie sie unter den gegebenen Umständen in der Anwendung von Dauerfeuer zum Ausdruck kam, von dem in menschenrechtsfreundlicher Weise ausgelegten § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes nicht gedeckt; das würde auch dann gelten, wenn der Sachverhalt unter § 27 Abs. 2 Satz 2 des Grenzgesetzes (Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens nach §213 Abs. 3 StGB-DDR dringend verdächtig sind) subsumiert würde. In diesen Fällen hat der Schutz des Lebens Vorrang; dies kann auch auf den Rechtsgedanken des § 27 Abs. 5 Satz 1 des Grenzgesetzes - bei menschenrechtsfreundlicher Auslegung - gestützt werden. c) Bei dieser Auslegung ist das Verhalten der Angeklagten nicht von dem Rechtfertigungsgrund des § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes gedeckt gewesen; sie haben danach auch nach dem Recht der DDR einen rechtswidrigen Totschlag begangen. 4. Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit zur Tatzeit gesetzlich bestimmt war (Rückwirkungsverbot). Diese Verfassungsbestimmung verbietet die Bestrafung der Beschwerdeführer nicht. a) Unter den vorstehend (zu 2, 3) dargelegten Umständen gibt es Gründe für die Auffassung, daß Art. 103 Abs. 2 GG die Bestrafung der Angeklagten von vornherein nicht hindert, weil die Tat nach dem richtig ausgelegten Recht der DDR zur Tatzeit strafbar war. Ob die Angeklagten dies erkannt haben, ist eine Frage, die lediglich Entschuldigungsgründe betrifft. {36} b) Der Senat hat jedoch nicht übersehen, daß im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG die Frage aufgeworfen werden kann, welches Verständnis vom Recht der Tatzeit zugrunde zu legen ist. Wird an das Tatzeitrecht ein Beurteilungsmaßstab angelegt, der die Handlung, obwohl sie vom Staat befohlen worden war, als rechtswidrig erscheinen läßt (vorstehend zu 2, 3), so ergibt sich, daß das Rückwirkungsverbot der Bestrafung nicht entgegensteht. Wird dagegen bei der Würdigung der Rechtslage, die zur Tatzeit bestanden hat, hauptsächlich auf die tatsächlichen Machtverhältnisse im Staat abgestellt, so kann die Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG zu einem anderen Ergebnis führen. Das gilt vor allem, wenn dem Angeklagten von einer staatlichen Stelle befohlen worden ist, ein allgemein anerkanntes Recht, zumal das Recht auf Leben, zu verletzen. Hier kann sich die Frage stellen, ob und unter welchen Umständen aus einem solchen Befehl zugunsten des Angeklagten die Annahme hergeleitet werden muß, die Strafbarkeit sei zur Tatzeit nicht gesetzlich bestimmt gewesen. aa) Die Frage, welche Bedeutung Art. 103 Abs. 2 GG für die Beurteilung von Handlungen hat, die unter einem früheren Regime im staatlichen Auftrag vorgenommen worden sind und Menschenrechte wie das Recht auf Leben verletzen, ist noch nicht vollständig geklärt (vgl. Schünemann in Festschrift für Hans-Jürgen Bruns, 1978, S. 223 f f ; Dencker, KritV 73, 1990, S. 299, 304 und Polakiewicz EuGRZ 1992, 177, 188). Die in diesem Zusammenhang genannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 3, 225 ff.; 6, 195 ff.) betreffen nicht das Strafrecht; auch die Frage, ob eine laufende strafrechtliche Verjährungsfrist verlängert werden kann (BVerfGE 25, 269 ff.), ist nicht einschlägig. Das Problem des Rückwirkungsverbots bei Rechtfertigungsgründen ist in der deutschen Rechtsprechung vom Obersten Gerichtshof für die Britische Zone aufgeworfen worden (OGHSt 2, 231 ff.). {37}

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Die in der Rechtsprechung des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg sowie insbesondere in der Entscheidung im sogenannten Juristenprozeß (III. US-Militärgerichtshof, Urteil vom 4.12.1947, S. 29 ff. des offiziellen Textes) unter wesentlichem Einfluß angelsächsischer Rechtsüberzeugungen entwickelten Gesichtspunkte sind von der späteren deutschen Rechtsprechung nicht übernommen worden. Das Verbot der Verurteilung von Taten, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar waren, findet sich auch in Art. 15 des Internationalen Pakts sowie in Art. 7 MRK. Doch ist beiden Vorschriften ein zweiter Absatz angefugt, in dem es heißt, das grundsätzliche Rückwirkungsverbot schließe nicht die Verurteilung von Personen aus, deren Tat zur Zeit ihrer Begehung nach den von der Völkergemeinschaft anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war. Die Bundesrepublik Deutschland hat jedoch gegenüber Art. 7 Abs. 2 MRK den Vorbehalt (Art. 64 MRK) gemacht, daß die Vorschrift nur in den Grenzen des Art. 103 Abs. 2 GG angewandt werden würde (BGBl. II 1954 S. 14). Gegen Art. 15 Abs. 2 des Internationalen Pakts hat die Bundesrepublik Deutschland keinen Vorbehalt erklärt; das ändert nichts daran, daß auch insoweit Art. 103 Abs. 2 GG als Verfassungsrecht vorgeht. Rechtfertigungsgründe sind nicht generell von dem Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG ausgeschlossen (vgl. Rüping, Bonner Kommentar - Zweitbearbeitung Art. 103 Abs. 2 Rdn. 50; Kratzsch GA 1971, 65 ff.; Engels GA 1982, 109, 114 ff.). Das gilt auch fur das in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltene Rückwirkungsverbot. Der Senat folgt nicht dem Vorschlag (vgl. neuestens F. C. Schroeder JZ 1992, 990, 991), das Rückwirkungsverbot generell nur auf die Tatbestandsstufe und nicht auf die Rechtswidrigkeitsstufe zu beziehen. Nicht immer spiegelt das Verhältnis von Tatbestand und Rechtfertigungsgrund einen Sachverhalt wider, bei dem die Rechtsgut-{3 8} Verletzung auch in den gerechtfertigten Fällen ein soziales Unwerturteil erlaubt; die Entscheidung des Gesetzgebers, den Tatbestand einzuschränken oder aber bei uneingeschränktem Tatbestand einen Rechtfertigungsgrund vorzusehen, ist unter Umständen nur technischer Natur. War eine tatbestandsmäßige Handlung zur Tatzeit nicht rechtswidrig, so kann sie demnach grundsätzlich nicht bestraft werden, wenn der Rechtfertigungsgrund nachträglich beseitigt worden ist (Eser in Schönke/Schröder 24. Aufl. § 2 Rdn. 3). Bleibt nämlich ein früher vorgesehener Rechtfertigungsgrund außer Betracht, so wird das frühere Recht zum Nachteil des Angeklagten verändert (vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil 2. Aufl., 1991 S. 121). Insoweit ist mithin auch im Rahmen der Prüfung nach § 2 Abs. 3 StGB grundsätzlich das Rückwirkungsverbot zu beachten. Aus dieser Erwägung ist in der neuesten Diskussion im Hinblick auf Fälle der vorliegenden Art die Folgerung abgeleitet worden, daß ein zur Tatzeit praktizierter Rechtfertigungsgrund, mag er auch übergeordneten Normen widersprechen, nicht zum Nachteil des Angeklagten außer Betracht bleiben darf, weil dann unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG eine Strafbarkeit begründet würde, die zur Tatzeit nicht bestanden hat (Jakobs in J. Isensee , Vergangenheitsbewältigung durch Recht, 1992, S. 36 ff; dort auch Isensee S. 91, 105 ff; Grünwald StV 1991, 31, 33; Rittstieg, Demokratie und Recht 1991,404; Pieroth W D S t R L 51, 1992, S. 92 ff, 102 ff, 144 ff, 168 ff; dort auch Isensee S. 134 ff; Dencker KritV 73, 1990, S. 299, 306; differenzierend Polakiewicz EuGRZ 1992, 177, 188 ff; vgl. auch Dreier, W D S t R L 51, 1992, S. 137). bb) Der Senat folgt dieser Auffassung im Ergebnis nicht. {39}

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(1) Dabei sind allerdings nicht die Vorschriften der DDR über die Bestrafung von Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen (insbesondere Art. 91 Satz 1 der Verfassung der DDR) oder die Bestimmung des § 95 StGBDDR1 heranzuziehen. Die letztgenannte Bestimmung schließt zwar anscheinend ohne Einschränkung die Berufung auf grund- und menschenrechtswidrige Gesetze aus. Wie ihre Stellung im Gesetz zeigt, betrifft die Vorschrift aber nur die in den §§ 85 bis 94 StGB-DDR bezeichneten Verbrechen; eine Nachprüfung von Gesetzen am Maßstab der Grund- und Menschenrechte sollte sie nicht generell begründen. Dem entspricht es, daß § 95 StGB-DDR nach der damaligen offiziellen Auslegung (DDR-Kommentar § 95 Anm. 1) den Inhalt von Art. 8 des Statuts des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg übernehmen sollte. (2) Der Senat ist aus folgendem Grunde der Ansicht, daß Art. 103 Abs. 2 GG hier nicht der Annahme entgegensteht, die Tat sei rechtswidrig: Entscheidend ist, wie dargestellt, ob die Strafbarkeit „gesetzlich bestimmt war", bevor die Tat begangen wurde. Bei der Prüfung, ob es sich so verhalten hat, ist der Richter nicht im Sinne reiner Faktizität an diejenige Interpretation gebunden, die zur Tatzeit in der Staatspraxis Ausdruck gefunden hat. Konnte das Tatzeitrecht bei Beachtung der vom Wortsinn des Gesetzes gegebenen Grenzen im Lichte der Verfassung der DDR so ausgelegt werden, daß den völkerrechtlichen Bindungen der DDR im Hinblick auf Menschenrechte entsprochen wurde, so ist das Tatzeitrecht in dieser menschenrechtsfreundlichen Auslegung als das Recht zu verstehen, das die Strafbarkeit zur Zeit der Tat im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG „gesetzlich bestimmt" hat (im Ergebnis ähnlich Alexy VVDStRL 51, 1992, 132 ff.; Schünemann aaO; Lüderssen ZStW 104 [1992], S. 735, 779 ff; vgl. ferner Starck und Maurer W D S t R L 51, 1992, S. 141 ff, 147 f)· Ein {40} Rechtfertigungsgrund, der das Verhalten der Angeklagten gerechtfertigt hätte, wurde zwar in der Staatspraxis, wie sie sich in der Befehlslage ausdrückte, angenommen; er durfte aber dem richtig interpretierten Gesetz schon damals nicht entnommen werden. Das Rückwirkungsverbot soll den Angeklagten vor Willkür schützen und die Strafgewalt auf den Vollzug der allgemeinen Gesetze beschränken (Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 217); es schützt das Vertrauen, das der Angeklagte zur Tatzeit in den Fortbestand des damals geltenden Rechts gesetzt hat (Rüping, Bonner Kommentar - Zweitbearbeitung - , Art. 103 Abs. 2 GG Rdn. 16 m.w.N.). Diese verfassungsrechtlichen Schutzrichtungen werden hier nicht verfehlt: Die Erwartung, das Recht werde, wie in der Staatspraxis zur Tatzeit, auch in Zukunft so angewandt werden, daß ein menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgrund anerkannt wird, ist nicht schutzwürdig. Es ist keine Willkür, wenn der Angeklagte, was die Rechtswidrigkeit seines Tuns angeht, so beurteilt wird, wie er bei richtiger Auslegung des DDR-Rechts schon zur Tatzeit hätte behandelt werden müssen. Nichts anderes könnte im übrigen im Ergebnis gelten, wenn ein gesetzlicher Rechtfertigungsgrund, der gleich gewichtigen Einwendungen ausgesetzt ist, überhaupt keiner Auslegung zugänglich wäre, die sich an den Menschenrechten orientiert. c) Steht hiernach den Angeklagten kein Rechtfertigungsgrund zur Seite, so haben sie rechtswidrig den Tatbestand des § 212 StGB erfüllt. Deswegen trifft im Ergebnis die Auffassung der Jugendkammer zu, daß das Recht der Bundesrepublik Deutschland anwendbar ist, weil es im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB milder ist als die entsprechenden

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Tatbestände (§§ 112,113) des Strafgesetzbuchs der DDR; dies ergibt sich daraus, daß in § 2 1 3 StGB für minder schwere Fälle ein niedrigerer Strafrahmen vorgesehen ist. {41}

III. [Rechtliche Würdigung, Schuld und Strafzumessung] 1. Auf dieser Grundlage ergibt die sachlichrechtliche Nachprüfung, daß die Jugendkammer das Verhalten der Angeklagten zutreffend als gemeinschaftlichen Totschlag (§§212, 25 Abs. 2 StGB) gewertet hat. a) Die mit der Abgabe von Dauerfeuer verbundene, den Angeklagten bewußte besondere Geiahrdung des Tatopfers ist von der Jugendkammer im Zusammenhang mit der Befehlslage, der die Angeklagten entsprechen wollten, ohne Rechtsverstoß zur Grundlage ihrer Annahme gemacht worden, die Angeklagten hätten mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt. Durch diesen Vorsatz unterscheidet sich die abgeurteilte Tat von dem in der Entscheidung BGHSt 35, 379 behandelten Fall; dort hatte der Beamte nach der vom Revisionsgericht hingenommenen Feststellung des Tatrichters eine tödliche Verletzung des Fliehenden nicht billigend in Kauf genommen (aaO S. 386). b) Auch der Angeklagte Ha. war Täter. Zwar hat er das Tatopfer nur am Knie getroffen, wie er es beabsichtigt hatte. Indessen haben beide Angeklagte übereinstimmend mit Dauerfeuer geschossen, um Michael Schmidt am Übersteigen der Mauer zu hindern, selbst wenn es ihn das Leben kosten sollte. Zwar hat, seitdem der Angeklagte Ha. den Turm verließ, kein Kontakt zwischen den beiden Angeklagten bestanden. Beide handelten jedoch unter dem Einfluß des gleichen Befehls mit gleicher Zielsetzung. Allerdings sind bei nur bedingtem Vorsatz an die Gemeinschaftlichkeit der Tatbegehung (§ 25 Abs. 2 StGB) hohe Anforderungen zu stellen. Ihnen wird das Urteil der Jugendkammer indessen noch gerecht. Beiden Angeklagten war befohlen, selbst unter Inkaufnahme einer Tötung auf den Flüchtling zu schießen, wenn dessen Flucht nicht anders sicher zu verhindern war. Beide gingen, wie der Tat-{42}richter festgestellt hat, davon aus, daß jeweils der andere dem Befehl entsprechen werde. Mit ihrem jeweiligen Verhalten gaben sie dem anderen zu erkennen, daß sie das Ziel verfolgten, das ihnen beiden durch den Befehl vorgegeben war. Es entsprach der Befehlslage, daß jeder der beiden Soldaten durch sein Schießen zur Fluchtverhinderung beitrug. Unter diesen Umständen muß sich der Angeklagte Ha. das Verhalten des Mitangeklagten, das zur tödlichen Verletzung führte, im Sinne arbeitsteiliger Mittäterschaft zurechnen lassen. Die Vorschrift des StGB-DDR über die Mittäterschaft (§ 22 Abs. 2 Nr. 2) begründete keine mildere Beurteilung im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB. Die Angeklagten haben die Tat auch im Sinne des § 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB-DDR gemeinschaftlich ausgeführt, indem beide mit bedingtem Tötungsvorsatz schössen. Für Michael Schmidt wurde ungeachtet der - nicht geklärten - Reihenfolge der Schüsse jedenfalls die Chance, sich den Schüssen des Angeklagten W. durch Übersteigen der Mauer zu entziehen, dadurch vermindert, daß auch der Angeklagte Ha. auf ihn schoß. Insofern hat auch dieser Angeklagte Handlungen vorgenommen, die geeignet waren, den Tod des Opfers herbeizuführen (vgl. DDR-Kommentar § 22 StGB Anm. 5 unter Hinweis auf OG NJ 1973, 87 und 177). c) Beide Beschwerdeführer waren nicht etwa nur Gehilfen derer, auf die die Befehle zurückgingen. Der Senat braucht nicht auf die Frage einzugehen, ob und in welcher

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Weise die Neufassung der Vorschrift des § 25 Abs. 1 StGB durch das 2. StrRG eine Beurteilung ausschließt, wie sie der Bundesgerichtshof in BGHSt 18, 87 zugunsten bloßer Teilnahme vorgenommen hatte (vgl. auch BGH NStZ 1987, 224 f.). Hier haben die Angeklagten nicht nur alle Tatbestandsmerkmale, auch durch wechselseitige Zurechnung arbeitsteiligen Verhaltens, erfüllt. Sie haben auch, anders etwa als diejenigen, die un-{43} mittelbar vor dem Schießen einen Befehl entgegennehmen, einen gewissen Handlungsspielraum gehabt, weil sie beim plötzlichen Erscheinen des Flüchtlings auf sich allein gestellt waren. Schon dieser Umstand kennzeichnet ihr Verhalten als Täterschaft. 2. Die Angeklagten haben den - mangels eines beachtlichen Rechtfertigungsgrundes rechtswidrigen - Totschlag auf Befehl begangen. Die Feststellungen ergeben, daß sie bei ihrer Tat nicht erkannt haben, daß die Ausführung des Befehls gegen Strafgesetze verstieß (vgl. UA S. 55, 58). Dies steht indessen ihrer Schuld nicht entgegen. a) Der Senat hatte in diesem Zusammenhang zunächst zu prüfen, ob bei einem Handeln auf Befehl § 258 Abs. 1 StGB-DDR2 im Hinblick auf § 2 Abs. 3 StGB milder ist als die entsprechende Vorschrift des Bundesrechts (§ 5 Abs. 1 WStG). Das wäre der Fall, sofern der Soldat nach § 258 Abs. 1 StGB-DDR immer schon dann von Verantwortung frei wäre, wenn er nicht positiv erkannt hat, daß die Ausführung des Befehls gegen Strafgesetze verstieß. In diesem Sinne können Ausführungen in dem DDRKommentar verstanden werden (§ 258 StGB Anm. 2, 3 d). Indessen ist diese Kommentierung mit dem Wortsinn des Gesetzes nicht vereinbar. Nach § 258 Abs. 1 StGB-DDR wird der Soldat nicht von seiner Verantwortung befreit, wenn die Ausführung des Befehls offensichtlich gegen die anerkannten Normen des Völkerrechts oder gegen Strafgesetze verstößt. Die Vorschrift kann nur so verstanden werden, daß in diesem Falle auch deqenige, der den Verstoß gegen das Strafrecht nicht erkannt hat, für seine Handlung bestraft werden kann; nur für diese Personengruppe ist der Bezug auf die Offen{44}sichtlichkeit des Strafrechtsverstoßes sinnvoll, während es bei demjenigen, der die Strafrechtswidrigkeit eingesehen hat, nicht darauf ankommen kann, ob diese offensichtlich war oder nicht. Hiernach war im Rahmen des sonst milderen Bundesrechtes § 5 Abs. 1 WStG anzuwenden. Allerdings gilt das Wehrstrafgesetz unmittelbar nur für Soldaten der Bundeswehr (§ 1 Abs. 1 WStG). Da es aber unbillig wäre, das Untergebenenverhältnis der beiden Angeklagten gegenüber ihren Befehlsgebern weder nach dem Recht der DDR noch nach Bundesrecht zu berücksichtigen, ist die Vorschrift des § 5 WStG zugunsten der Angeklagten entsprechend anzuwenden. b) Nach § 5 Abs. 1 WStG trifft den Untergebenen eine Schuld nur, wenn er erkennt, daß es sich um eine rechtswidrige Tat handelt oder dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist. Die erste der genannten Voraussetzungen liegt, wie dargelegt, nicht vor. Ob die Angeklagten nach § 5 Abs. 1 WStG entschuldigt sind, hängt demnach davon ab, ob es nach den ihnen bekannten Umständen offensichtlich war, daß ihnen eine rechtswidrige Tat im Sinne des Strafgesetzbuchs (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) befohlen worden war. Die Jugendkammer nimmt an, es sei für die Angeklagten nach den ihnen bekannten Umständen offensichtlich gewesen, daß sie mit dem ihnen befohlenen Schießen ein

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Tötungsdelikt im Sinne des Strafgesetzbuches begingen. Diese Bewertung hält im Ergebnis der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand. Die Jugendkammer hat nicht übersehen, daß die Angeklagten als Grenzsoldaten der DDR einer besonders intensiven politischen Indoktrination ausgesetzt waren und daß sie zuvor „im Geiste des Sozialismus mit entsprechenden Feindbildern von {45} der Bundesrepublik Deutschland und von Personen, die unter Überwindung der Sperranlagen die DDR verlassen wollen, aufgewachsen" sind. Sie hat auch unter diesen Umständen nicht die hohen Anforderungen verfehlt, die an die Offensichtlichkeit im Sinne des § 5 Abs. 1 WStG zu stellen sind. Der Soldat hat keine Prüfungspflicht (Scherer/Alff, Soldatengesetz, 6. Aufl. 1988 § 11 Rdn. 29). Wo er Zweifel hegt, die er nicht beheben kann, darf er dem Befehl folgen; offensichtlich ist der Strafrechtsverstoß nur dann, wenn er jenseits aller Zweifel liegt (Amtliche Begründung zum Entwurf des Soldatengesetzes, BT-Drucks. 2/1700 S. 21; vgl. auch Schölz/Lingens WStG 3. Aufl. 1988 § 5 Rdn. 12). Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, wenn die Jugendkammer gleichwohl angenommen hat, es sei nach den Umständen offensichtlich gewesen, daß das Schießen hier gegen das Strafrecht verstieß. Die Jugendkammer hebt zutreffend auf das „Gebot der Menschlichkeit" ab, zu dem u.a. gehöre, daß auch der Straftäter ein Recht auf Leben hat. Damit will sie sagen, es sei ohne weiteres ersichtlich gewesen, daß der Staat nicht das Recht habe, einen Menschen, der, ohne andere zu bedrohen, unter Überwindung der Mauer von einem Teil Berlins in einen anderen hinüberwechseln wollte, zur Verhinderung dieses unerlaubten Grenzübertritts töten zu lassen. Den Revisionen ist zuzugeben, daß die Anwendung des Merkmals „offensichtlich" hier sehr schwierig ist. Immerhin ist während der langen Jahre, in denen an der Mauer und an den sonstigen innerdeutschen Grenzen geschossen wurde, nicht bekannt geworden, daß Menschen, die in der DDR in Politik, Truppenführung, Justiz und Wissenschaft Verantwortung trugen, gegen das Töten an der Grenze öffentlich Stellung genommen haben. Verfahren gegen Schützen waren nicht durchgeführt worden. Angesichts des Lebensweges und der Umwelt der Angeklagten erscheint es auch nicht angemessen, ihnen „Be-{46}quemlichkeit", „Rechtsblindheit" und Verzicht auf eigenes Denken zum Vorwurf zu machen (UA S. 58). Schließlich sollte es den Angeklagten Ha. nicht belasten, daß er „nach seiner eigenen Einlassung unmittelbar nach der Tat erkannt hat, daß sein Vorgehen gegenüber Michael Schmidt unmenschlich war" (UA S. 58); dieser Umstand kann auch so gedeutet werden, daß die Konfrontation mit den Folgen der Schüsse das Gewissen des Angeklagten erstmals geweckt hat. Gleichwohl ist der Jugendkammer letztlich darin zuzustimmen, daß die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer unter den gegebenen Umständen ein derart schreckliches und jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogenes Tun war, daß der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot auch fur einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig, also offensichtlich war. Dem entspricht es, daß die große Mehrheit der Bevölkerung in der DDR die Anwendung von Schußwaffen an der Grenze mißbilligte. Daß es sich so verhielt, ist allgemeinkundig. Auch der Umstand, daß die Befehlslage der Geheimhaltung des Vorganges Vorrang vor einer schnellen Lebensrettung des Opfers gab, zeigt, in welchem Maße die Verantwortlichen eine Mißbilligung der Todes-

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schüsse durch die Bevölkerung voraussetzten. Das Tatopfer Michael Schmidt, ein Zimmermann, hatte es strikt abgelehnt, zu den Grenztruppen zu gehen (UA S. 14). 3. Der Tatrichter hat nicht ausgeschlossen, daß die Angeklagten geglaubt haben, sie müßten einen Grenzbrecher zur Verhinderung der Flucht auch dann, dem Befehl entsprechend, töten, wenn der Befehl rechtswidrig war. Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, daß der Tatrichter angenommen hat, dieser Irrtum stelle als Annahme eines nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes einen Verbotsirrtum dar, der im Sinne des § 17 Satz 2 StGB von den Angeklagten vermieden {47} werden konnte. Der Tatrichter hat zur Begründung der letztgenannten Wertung wiederum darauf hingewiesen, daß das Leben das höchste aller Rechtsgüter sei. Dem kann aus Rechtsgründen nicht entgegengetreten werden. Der Tatrichter hätte in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen können, daß den Angeklagten bei ihrer Schulung gesagt worden ist, Befehle, die gegen die Menschlichkeit verstießen, brauchten nicht befolgt zu werden (UA S. 12). Auch im Zusammenhang mit der Frage des Verbotsirrtums würde die Anwendung des DDR-Rechts zu keiner milderen Beurteilung fuhren (§ 2 Abs. 3 StGB). Zwar ist im Schrifttum der DDR ausgeführt worden, der Täter handele (nur dann) vorsätzlich, wenn er sich bewußt sei, gegen die sozialen Grundnormen zu verstoßen (DDR-Kommentar § 6 Anm. 1). Nach Lekschas u.a. schließt der Vorsatz die „Selbsterkenntnis ein, sich entgegen den Grundregeln menschlichen Zusammenlebens zu einem sozial negativen Verhalten entschieden zu haben" (Strafrecht der DDR, Lehrbuch, 1988, S. 237). Doch gab es hierzu keine einheitliche Auffassung (Lekschas u.a. aaO). Aus der veröffentlichten Rechtsprechung der Gerichte der DDR ergibt sich zu dieser Frage nichts. Aus alldem kann der Senat nicht entnehmen, daß die irrige Annahme, ein offensichtlich gegen das Strafrecht verstoßender Befehl müsse befolgt werden, bei der Anwendung des DDR-Rechts Anlaß gegeben hätte, den Vorsatz zu verneinen. 4. Die Strafzumessung hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand. Der Tatrichter hat, wie der Zusammenhang der Urteilsgründe zeigt, nicht übersehen, daß die Angeklagten erst nach dem Bau der Berliner Mauer aufgewachsen sind und nach Herkunft und Lebensweg keine Möglichkeit hatten, der Indoktrination eine kritische Einschätzung entgegenzustellen. Ihre handwerkliche Berufsausbildung hat dazu ersichtlich eben{48} so wie die Schulausbildung nicht beitragen können. Die Angeklagten standen in der militärischen Hierarchie ganz unten. Sie sind in gewisser Weise auch Opfer der mit dieser Grenze verbundenen Verhältnisse. Wie die Verteidigung zutreffend ausgeführt hat, haben Umstände, die die Angeklagten nicht zu vertreten haben, dazu gefuhrt, daß sie vor Funktionsträgern, die über einen größeren Überblick und eine differenziertere Ausbildung verfugten, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sind. Dies alles drängte zu milden Strafen. Dem hat die Jugendkammer Rechnung getragen.

Anmerkungen 1 2

Vgl. Anhang S. 968. Vgl. Anhang S. 969.

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Lfd. Nr. 3 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - F a l l Weylandt1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 17.6.1993, Az. (513) 2 Js 55/91 KLs (15/92) 2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 26.7.1994, Az. 5 StR 167/94

159 179

[3. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24.10.1996, Az. 2 BvR 1851/94; 2 BvR 1852/94; 2 BvR 1853/94; 2 BvR 1875/94] Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde aus dem vorliegenden Verfahren mit mehreren Verfassungsbeschwerden aus dem unter lfd. Nr. 15 dokumentierten Verfahren verbunden. Der Abdruck des Beschlusses erfolgt deshalb dort unter lfd. Nr. 15-3. 4. Urteil des Europäischen Gerichtshofs fur Menschenrechte vom 22.3.2001, Beschwerde Nr. 37201/97

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Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 17.6.1993, Az. (513) 2 Js 55/91 KLs (15/92) Gründe

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I.

[Feststellungen zur Person]

159

II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

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III. [Beweiswürdigung]

167

IV. [Rechtliche Würdigung]

172

V.

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[Strafzumessung]

VI. [Verjährung] Anmerkungen

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176 177

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Landgericht Berlin Az.: (513) 2 Js 55/91 KLs (15/92)

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17. Juni 1993

URTEIL Im Namen des Volkes Strafsache gegen 1. den Maler Dieter Karl-Heinz W., geboren 1952, und 2. den Schlosser Hans-Günter K., geboren 1952, wegen gemeinschaftlichen Totschlags {2} Die 13. große Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Berlin hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 03., 08., 15. und 17. Juni 1993, an der teilgenommen haben: ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® {3} in der Sitzung vom 17. Juni 1993 für Recht erkannt: Die Angeklagten werden wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von je einem Jahr und 10 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Die Angeklagten tragen die Kosten des Verfahrens. Angewendete Vorschriften: §§ 212 I, 213, 25 II StGB, 1, 105 I Nr. 1 JGG

Gründe (abgekürzte Fassung gemäß § 267 IV StPO bezüglich des Angeklagten K.) I.

[Feststellungen zur Person]

1) Der 41 Jahre alte Angeklagte W. wuchs zusammen mit zwei jüngeren Geschwistern im elterlichen Haushalt in N. auf. Der Vater war als Offizier im Wehrkreiskommando tätig, während seine {4} Mutter den Haushalt versorgte. Altersgerecht eingeschult, besuchte er nach der Grundschule die Polytechnische Oberschule bis zur 8. Klasse. Die Schule fiel ihm schwer, er erbrachte in fast allen Fächern nur genügende Leistungen. Wegen seiner schwachen schulischen Leistungen blieb ihm nach dem Schulabgang auch nur die Möglichkeit, einen handwerklichen Beruf zu erlernen. Er entschied sich fur eine Malerlehre, die er nach drei Jahren mit der Gesel159

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lenprüfiing abschloß. Nach Abschluß der Ausbildung arbeitete er noch ein Jahr in diesem Beruf, bevor er im November 1970 zur N V A eingezogen wurde. Sein Vater bedrängte ihn, sich fur mehrere Jahre bei der N V A zu verpflichten, was er jedoch zunächst ablehnte. Da ihm jedoch immer wieder vorgehalten wurde, daß er mit seinem ablehnenden Verhalten auch die weitere Offizierslaufbahn seines Vaters gefährde, gab er schließlich nach und verpflichtete sich mit Rücksicht auf seinen Vater fur drei Jahre bei der Armee. Nach seinem Wehrdienst, den er mit dem Dienstgrad des Obermaats beendete, arbeitete er noch ein Jahr in seinem erlernten Beruf, bevor er nach einer übergangsweisen Beschäftigung als Hausmeister schließlich eine Anstellung als Kraftfahrer in einer Baugenossenschaft fand. In diesem Beruf war er bis Anfang 1990 tätig. Seither verdient er seinen Lebensunterhalt als selbständiger Taxifahrer. In seiner Jugendzeit war der Angeklagte Mitglied in der FDJ. Später war er auch für ca. ein Jahr Kandidat der Partei, ohne daß es jedoch im Anschluß daran zu einer Aufnahme in die Partei kam. Der Angeklagte ist seit 1975 verheiratet. Aus der Ehe sind zwei Töchter hervorgegangen, die jetzt 13 und 17 Jahre alt sind. Seine { 5 } Frau ist ebenfalls berufstätig und verdient als Kassiererin ca. 1200,- D M monatlich. Da der Taxibetrieb wegen des noch abzuzahlenden Kredites für den Wagen kaum Gewinn abwirft, ist die Familie auch auf das Gehalt der Mutter angewiesen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Der Angeklagte ist bisher noch nie strafrechtlich in Erscheinung getreten. 2) Der ebenfalls 41 Jahre alte, nicht vorbestrafte Angeklagte K. ist geschieden. Aus seiner Ehe stammen zwei Söhne, die jetzt 9 und 16 Jahre alt sind. Der Angeklagte ist in B. aufgewachsen. Beide Elternteile waren berufstätig. Der Vater war Angehöriger der Volkspolizei, die Mutter war als Arbeiterin beschäftigt. Beide Elternteile sind mittlerweile verstorben. Der Angeklagte besuchte die Polytechnische Oberschule und verließ diese nach der 10. Klasse mit dem Hauptschulabschluß. Im Anschluß an die Schulzeit absolvierte er eine Lehre als Betriebsschlosser und arbeitete danach auch in diesem Beruf bei der VEB G. in M. Im Mai 1971 wurde er für 18 Monate zum Grundwehrdienst in der N V A eingezogen. Bei seiner Entlassung im Oktober 1972 bekleidete er den Dienstgrad des Obermatrosen. Danach nahm er noch einige Male, zuletzt im Jahre 1987, als Reservist an Truppenübungen teil. Im Anschluß an seine Militärzeit suchte er sich wieder eine Beschäftigung in seinem erlernten Beruf als Betriebsschlosser, in dem er bis heute tätig ist. {6}

11.

ISackverhaltsfeststellungen]

Im Februar 1972 versahen die Angeklagten ihren Wehrdienst als Angehörige des 4. Zuges der Bootskompanie des Grenzregiments 35. Der Angeklagte W. war im April 1971 nach einem 5-monatigen Unteroffizierslehrgang zum Grenzregiment 35 versetzt worden. Der Angeklagte K. diente erst seit Oktober 1971 im Anschluß an seine Grundausbildung bei diesem Regiment. Das Grenzregiment 35 war für die Sicherung der Staatsgrenze der ehemaligen DDR im Bereich zwischen dem Reichstagsufer und der Rudower Chaussee zuständig. Die Bootskompanie dieses Regiments sicherte den Grenzabschnitt zwischen der Elsenbrücke in Treptow und der Schillingbrücke in Friedrichshain, da die Grenze zu West-Berlin in diesem Bereich dem Verlauf der Spree folgte. Die

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Angeklagten waren während ihrer Grundausbildung auch an der Waffe ausgebildet worden. Zu ihrer Ausrüstung gehörte eine vollautomatische Waffe des Typs „MPi Kalaschnikow" vom Kaliber 30 = 7,62 mm. Im Anschluß an die Grundausbildung fanden nur noch in größeren Abständen von ca. einen halben Jahr Schießübungen statt. Beide hatten daher keine große Übung im Umgang mit der Schußwaffe. Die Voraussetzungen für den Gebrauch der Schußwaffe wurden für die Grenztruppen seit dem 01.05.1967 in der „DV-30/10 - Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie" des Verteidigungsministers Hoffmann vom 14.12.1966 geregelt. Darin heißt es unter anderem: 203. Von der Schußwaffe darf nur Gebrauch gemacht werden ... {7} d) auf eigenen Entschluß durch Wachen und Grenzposten sowie andere zeitweilige oder ständige Waffenträger, wenn andere Mittel nicht oder nicht mehr ausreichen, um - Handlungen, die eindeutig auf Verrat der Arbeiter- und Bauern-Macht gerichtet sind, zu unterbinden, - Verbrecher, insbesondere Spione, Saboteure, Agenten und Provokateure, die der vorläufigen Festnahme bewaffneten Widerstand entgegensetzen oder flüchten, unschädlich zu machen, - einen unmittelbar drohenden oder gegenwärtigen Angriff auf Anlagen der bewaffneten Kräfte und andere staatliche, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Einrichtungen, auf sich selbst oder andere Personen erfolgreich zu verhindern bzw. abzuwenden (entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen über Notwehr und Notstand). 204. Die Wachen und Grenzposten der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee an der Staatsgrenze zu Westdeutschland, Westberlin und im Küstenbereich haben in Erweiterung zu Ziffer 203 die Waffe in folgenden Fällen anzuwenden: - zur vorläufigen Festnahme, zur Gefangennahme oder Vernichtung bewaffneter Personen und bewaffneter Banditengruppen, die in das Gebiet der deutschen demokratischen Republik eingedrungen sind bzw. die Staatsgrenze zur Deutschen Demokratischen Republik zu durchbrechen versuchen, wenn sie die Aufforderung zum Ablegen der Waffen nicht befolgen oder sich ihrer vorläufigen Festnahme oder Gefangennahme durch Bedrohung mit der Waffe oder Anwendung derselben zu entziehen versuchen, - zur Abwehr bewaffneter Angriffe bzw. Überfälle auf das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik, auf die Bevölkerung im Grenzgebiet, auf Grenzposten oder Angehörige anderer bewaffneter Kräfte der Deutschen Demokratischen Republik im Grenzgebiet, - zur vorläufigen Festnahme von Personen, die sich den Anordnungen der Grenzposten nicht fügen, indem sie auf den Anruf „Halt - Grenzposten - Hände hoch!" oder nach Abgabe eines Warnschusses nicht stehenbleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu durchbrechen, und keine andere Möglichkeit zur vorläufigen Festnahme besteht,... {8} 205. (1) Ohne Anruf und ohne Abgabe eines Warnschusses darf nur dann von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden, wenn - es zur Abwehr eines plötzlichen tätlichen Angriffs, der mit anderen Mitteln nicht abgewendet werden kann, sowie zur Brechung bewaffneten Widerstandes erforderlich ist, - eine unmittelbare Gefahr für das Leben anderer Personen, das eigene Leben oder für den Bestand der Grenzsicherungsanlagen, von Anlagen der anderen bewaffneten Kräfte sowie staatlicher, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Einrichtungen eintreten würde und die Gefahr mit anderen Mitteln nicht abgewendet werden kann. (2) Unter diesen Bedingungen ist die Schußwaffe möglichst so zu gebrauchen, daß die betreffende Person nur in ihrer Bewegungsfreiheit behindert wird und vorläufig festgenommen werden kann.

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206. (1) Der Gebrauch der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Er ist nur dann zulässig, wenn alle anderen Maßnahmen erfolglos blieben oder dann, wenn es aufgrund der Lage nicht möglich ist, andere Maßnahmen zu treffen. (2) Von der Schußwaffe darf insbesondere nicht oder nicht mehr Gebrauch gemacht werden, wenn a) dadurch das Leben oder die Gesundheit anderer Personen erheblich gefährdet wird (z.B. auf stark belebten Straßen, in vollbesetzten Gaststätten usw.), b) die Umstände, die den Gebrauch der Schußwaffe rechtfertigen, nicht oder nicht mehr vorliegen (z.B. wenn kein unmittelbar drohender Angriff vorliegt oder dieser mit anderen Mitteln abgewehrt werden kann, wenn der Widerstand inzwischen gebrochen ist usw.). 207. Von der Schußwaffe darf nicht Gebrauch gemacht werden - gegenüber Angehörigen ausländischer Armeen und Militärverbindungsmissionen, - gegenüber Angehörigen diplomatischer Vertretungen, - gegenüber Kindern, - zur Signalgebung (außer Leuchtpistole). {9} 208. Die Schußwaffe darf nur in Richtung des Territoriums der Deutschen Demokratischen Republik oder parallel zur Staatsgrenze gegen Grenzverletzer angewendet werden. ..." Dieser den Angeklagten inhaltlich bekannten Dienstvorschrift entsprechend wurden die Soldaten angewiesen und ausgebildet. Sie wurden aber darüber hinaus bei jedem Dienstantritt „vergattert" und dazu angehalten, Grenzdurchbrüche in jedem Fall zu verhindern. Der Befehl, der den Grenzsoldaten vor Dienstantritt erteilt wurde, lautete: „Der Zug sichert die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik im Abschnitt der ... Grenzkompanie mit der Aufgabe, Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, Grenzverletzer vorläufig festzunehmen oder zu vernichten und den Schutz der Staatsgrenze unter allen Bedingungen zu gewährleisten - Vergatterung!" (Nr. 89 der DV-30/10). Die Soldaten wußten, daß bei gelungenen „Grenzdurchbrüchen" eine Untersuchung stattfand, bei der geprüft wurde, ob die Soldaten der Befehlslage entsprechend gehandelt haben. Es war ihnen auch bekannt, daß sie in einem solchen Falle mit einem Ermittlungsverfahren durch den Militärstaatsanwalt rechnen mußten. In den regelmäßig stattfindenden politischen Schulungsveranstaltungen wurde den Grenzsoldaten erklärt, daß es sich bei den „Grenzverletzern" um Verbrecher handele, die es gar nicht verdienten, in der DDR leben zu dürfen. Auch wurde bei diesen Veranstaltungen immer wieder darauf hingewiesen, daß die sogenannten Grenzverletzer häufig gewalttätig seien und Grenzsoldaten schwer verletzt oder sogar getötet hätten. {10} In der Nacht vom 14. zum 15. Februar 1972 waren die Angeklagten als Grenzpostenstreife am Ufer der Spree im Bereich zwischen der Schillingbrücke und der im Krieg zerstörten Brommeybrücke eingesetzt. Der Angeklagte W. war der Postenfuhrer, dem der Angeklagte K. als Posten unterstellt war. Sie waren wie üblich mit Maschinenpistolen der Marke Kalaschnikow sowie je 2 Magazinen à 30 Schuß Munition bewaffnet. Die Staatsgrenze der DDR zu West-Berlin verlief in diesem Grenzabschnitt am jenseitigen Ufer, so daß die Spree in ihrer gesamten Breite (ca. 80 Meter) zum Staatsgebiet der ehemaligen DDR gehörte und erst am jenseitigen Ufer hinter einem ca. 2 Meter breiten Uferstreifen das Gebiet von West-Berlin begann. Zwischen der Schillingbrücke und dem Streifenbereich der Angeklagten befand sich das Betriebsgelände des ehemaligen Filter- und Vergaserwerks, dem zum Ufer hin eine Hundelaufanlage mit Wachhunden vorgelagert war. Der Streifenbereich der Angeklagten begann am Abschluß des Betriebsgeländes und führte etwa 200 Meter in Richtung der zerstörten Brommeybrücke.

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In diesem Bereich führte ein Treidelweg am Ufer entlang, auf dem die Angeklagten patroullierten. Der Weg grenzte auf der einen Seite direkt an die Spree, auf der anderen Seite befand sich eine Freifläche mit Grenzsicherungsanlagen und verstreut aufgestellten Peitschenmastlatemen, durch die auch der Streifenbereich der Angeklagten beleuchtet wurde. Der nächste feste Grenzposten befand sich auf dem Wachturm an der Schillingbrücke. Die Bootskompanie setzte in ihrem Grenzabschnitt außer dem Postenpaar an Land auch noch Kontrollboote ein, deren Anzahl allerdings unterschiedlich war. Auch in dieser Nacht war mindestens ein Patrouillenboot im Einsatz. Dieses Boot hielt sich allerdings nicht im Postenbereich der Angeklagten auf, da eine {11} derartige Postendichte nicht üblich war. Es bestand keine direkte Kontaktmöglichkeit zwischen den eingesetzten Landposten und den Bootsbesatzungen, da die Boote nur über Funk erreichbar waren und die Landposten bestenfalls über einen telefonischen Anschluß an das Meldenetz verfügten. Der Austausch von Informationen mit den Bootsbesatzungen war ihnen daher nur auf dem Umweg über den Zugführer in der Führungsstelle möglich. Daneben gab es nur noch die Möglichkeit, durch Signalgebung mit Leuchtspurmunition Informationen zu übermitteln. Gegen 22.30 Uhr bemerkten die Angeklagten, die sich in der Nähe des Filter- und Vergaserwerks befanden, eine schwimmende Person ca. 30 Meter vom Ufer entfernt in der Spree, die sich in Richtung auf das westliche Ufer entfernte. Bei dieser Person handelte es sich um den 29-jährigen Manfred Weylandt. Dieser hatte am Nachmittag gegen 16.00 Uhr seine Wohnung in Berlin-Adlershof verlassen. Seiner Ehefrau hatte er nur erklärt, daß er nochmal mit dem Fahrrad wegfahren werde. Er hatte ihr gegenüber an diesem Tage keinerlei Andeutungen gemacht, die darauf schließen ließen, daß er beabsichtigte, noch am selben Tage aus der DDR zu flüchten. Er trug sich jedoch schon seit einiger Zeit mit diesem Gedanken, seit er erfahren hatte, daß er im März 1972 eine längere Haftstrafe antreten sollte. In den zurückliegenden Monaten hatte er daher auch mehrmals mit seiner Frau über die Möglichkeiten einer Flucht nach West-Berlin gesprochen und dabei geäußert, daß er zunächst alleine fliehen und sie dann später nachholen wolle. An diesem Tage muß er dann im weiteren Verlauf des Nachmittags und des Abends größere Mengen an Alkohol getrunken haben. Schließlich {12} begab er sich stark alkoholisiert zum Gelände des ehemaligen Filter- und Vergaserwerks, überquerte dasselbe und kletterte von einem Schuppendach aus an einem Heizungsrohr in die angrenzende Hundelaufanlage, von wo aus er dann die Spree erreichte, ohne daß die Wachhunde auf ihn aufmerksam wurden. In der Hundelaufanlage wurde dann später seine schwarze Jacke und ein weißer Schal gefunden, die er dort abgelegt haben muß. Als die Angeklagten ihn bemerkten, befand er sich schräg rechts von ihnen Richtung Schillingbrücke und hatte sich bereits ca. 30 Meter vom Ufer entfernt. Sie riefen ihn zunächst an. Er reagierte jedoch nicht auf ihre Rufe, sondern schwamm weiter. Als er ca. 40 Meter vom Ufer entfernt war, begannen die Angeklagten nahezu gleichzeitig zu schießen, ohne sich vorher über ihre weitere Vorgehensweise ausdrücklich verständigt zu haben. Ihre Maschinenpistolen waren auf Dauerfeuer eingestellt und sie gaben aus der Hüfte schießend insgesamt fünf kurze Feuerstöße mit je 2 Schuß ab, wobei der Angeklagte W. dreimal, der Angeklagte K. zweimal schoß. Es konnte ihnen nicht widerlegt werden, daß die ersten abgegebenen Schüsse lediglich Warnschüsse waren, wie sie auch von den geltenden Schußwaffengebrauchsbestimmungen vorgeschrieben wurden. Nach

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Abgabe der Warnschüsse schössen sie aber sofort in Richtung des Schwimmenden weiter, ohne abzuwarten, wie der Schwimmer auf die Schüsse reagieren würde, und ohne ihm überhaupt genügend Zeit für eine Reaktion zu lassen. Die Angeklagten handelten mit dem gemeinsamen Ziel, den bei der Vergatterung erhaltenen Befehl auszufuhren und den vermuteten „Grenzdurchbruch" zu verhindern. Dieses Ziel konnten sie nur durch den Einsatz der Schußwaffe erreichen, da sie keine Möglichkeit hatten, ein Kontrollboot zu informieren, bevor der Schwimmer, der die Spree schon halb überquert hatte, das jenseitige Ufer erreichte. {13} Bei Abgabe der Schüsse in Richtung des Schwimmers war ihnen bewußt, daß sie den Flüchtling tödlich verletzen konnten. Dies nahmen sie billigend in Kauf und hörten erst dann auf zu schießen, als der Schwimmer nicht mehr zu sehen war. Manfred Weylandt war durch einen der Schüsse im linken Hinterkopfbereich getroffen worden, wobei sich nicht feststellen ließ, von welchem der beiden Angeklagten dieser Schuß abgegeben wurde. Das Projektil durchschlug seinen Kopf und trat an der rechten Kopfseite oberhalb der Schläfe wieder aus. Die schwere Kopfverletzung führte dazu, daß er sofort im Wasser versank und in der Folge ertrank. Erst nachdem die Angeklagten ihn nicht mehr sehen konnten, schoß der Angeklagte W. die Leuchtmunition ab, durch die dann die Besatzung des Kontrollbootes alarmiert wurde. Nach kurzer Zeit erschien das Kontrollboot bei den Angeklagten und übernahm alle weiteren Maßnahmen. Die Angeklagten wurden daraufhin sofort als Posten ausgelöst und am nächsten Morgen zu dem Vorfall befragt, ohne jedoch über das weitere Schicksal des Grenzverletzers informiert zu werden. Schon kurze Zeit nach der Meldung der Angeklagten begann die Suche nach dem Grenzverletzer, auf den sie geschossen hatten. Der Zeuge Knoche, der zu dieser Zeit Kompaniechef der 2. Grenzkompanie war, wurde telefonisch benachrichtigt und ging gegen 0.00 Uhr an Bord eines Kontrollbootes, mit dem er dann im Bereich zwischen Schillingbrücke und Brommeybrücke beide Uferseiten absuchte. Er kontrollierte die an den Ufermauern in regelmäßigen Abständen angebrachten Steigleitern und suchte nach Spuren, die darauf {14} hinwiesen, daß sie kurz zuvor benutzt worden sind. Er konnte jedoch im gesamten Bereich nichts Auffälliges feststellen. Die Suche dauerte ungefähr eine Dreiviertelstunde und war noch vor 1.00 Uhr beendet. Diese Suchmaßnahmen wurden auch von dem Zeugen S. beobachtet, der am westlichen Ufer auf dem Gelände der BeHaLa als Wachmann tätig war. Er war gerade auf einem seiner Rundgänge und befand sich in der Nähe der Brommeybrücke, als er durch die Schüsse aufgeschreckt wurde. Er zählte 5 Schüsse und sah danach die Leuchtraketen aufsteigen. Er ging nun in Richtung Schillingbrücke, da er vermutete, daß die Schüsse von dort abgefeuert worden waren. Das gegenüberliegende Spreeufer war mittlerweile hell erleuchtet, und er beobachtete, daß in der Nähe der Schillingbrücke mehrere Boote im Einsatz waren. Als es nach ungefähr einer halben Stunde am jenseitigen Ufer wieder dunkel wurde, zog er sich zurück und meldete den Vorfall der Polizei. Er konnte jedoch noch während der ganzen Nacht hören, daß Patrouillenboote auf der Spree unterwegs waren. In der Zwischenzeit waren auch der Zeuge Fröhlich, der damals Stellvertreter des Regimentskommandeurs Oberst Philipp war, und der Zeuge H., der zu dieser Zeit als Offizier zur besonderen Verwendung beim Grenzkommando Mitte diente, von dem Vorfall informiert worden. Oberstleutnant Fröhlich traf gegen 1.00 Uhr morgens im Bootshafen

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Rummelsburg ein, ging an Bord des dort stationierten Alarmbootes und begab sich mit diesem zu einer Anlegestelle in der Nähe der Straße der Pariser Commune, wo der Zeuge H. an Bord kam. Sie hatten den Auftrag, die Spree in einem Abschnitt von ca. 200 Metern vom Gelände des Filter- und {15} Vergaserwerks bis zur Schillingbrücke nach der Leiche des Grenzverletzers abzusuchen. Zu diesem Zweck waren auch zwei Pioniertaucher an Bord, die den Bereich in den nächsten Stunden absuchten. Die Suche gestaltete sich schwierig, da die Taucher wegen des kalten Wassers nur abwechselnd und immer nur für wenige Minuten tauchen konnten. Erst gegen 15.00 Uhr nachmittags fanden sie in der Nähe der Schillingbrücke die Leiche von Manfred Weylandt, die jedoch von ihnen nicht identifiziert werden konnte, da bei der Leiche keine Ausweispapiere gefunden wurden. Da die Sucharbeiten vom westlichen Ufer aus beobachtet wurden, transportierten die Taucher die Leiche unter Wasser bis zum Alarmboot, das unter der Schillingbrücke wartete. Erst dort wurde die Leiche aus dem Wasser geborgen, so daß die Bergung von West-Berlin aus nicht gesehen werden konnte. Der Zeuge H. verließ das Boot kurz danach wieder, während Oberstleutnant Fröhlich mit zum Bootshafen Rummelsburg fuhr und die Leiche dort gegen 16.30 [Uhr] an Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit übergab. Diese brachten die Leiche sofort zur Obduktion in das Gerichtsmedizinische Institut der Humboldt-Universität, wo sie gegen 17.00 Uhr eintrafen. Im Eingangsbuch wurde der Tote zunächst als „Unbekannter Mann" eingetragen. Die Obduktion wurde gleich darauf von Prof. Prokop und seiner Mitarbeiterin Frau Dr. Gillner durchgeführt. Das Obduktionsprotokoll enthält genaue Angaben zur Bekleidung und zu den äußeren Körpermerkmalen sowie eine detaillierte Beschreibung der festgestellten Verletzungen und des Zustandes der inneren Organe. Danach hat der zu diesem Zeitpunkt noch nicht identifizierte Tote einen Kopfdurchschuss erlitten. Das Projektil drang auf der linken Hinterkopfseite ca. 9 cm oberhalb der Ohrmuschel ein, durchschlug {16} das Gehirn schräg von hinten oben nach vorn unten und trat auf der rechten Kopfseite im Schläfenbereich wieder aus. Neben den Schußverletzungen wurden keine anderen Verletzungen gefunden. Als Todesursache wurde agonales Ertrinken nach Kopfdurchschuß festgestellt, da die Leiche deutliche Ertrinkensspuren in den Atmungsorganen aufwies. Die Leiche war fast völlig ausgeblutet, und die Totenstarre war bereits vollständig eingetreten. In der bei der Obduktion entnommenen Blutprobe wurde eine Blutalkoholkonzentration von l,9%o festgestellt. Erst am 9. März 1972 wurden dem Gerichtsmedizinischen Institut die Personalien von Manfred Weylandt mitgeteilt, die dann im Eingangsbuch unter der ersten Eintragung nachgetragen wurden. Daher wurde auch erst an diesem Tag der Totenschein ausgestellt, in dem unter der Rubrik „12 Todesursache" das Datum und die Zeit der Obduktion, nämlich „15.2.1972, 17.30 Uhr" vermerkt sind. Diese Angaben wurden dann später als Todeszeitpunkt in der Sterbeurkunde eingetragen, da der zutreffende Todeszeitpunkt dem Totenschein nicht zu entnehmen war. Mit der Übergabe der Leiche an die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit und der Befragung der Angeklagten zum Vorfall war der Vorgang für das Militär im wesentlichen abgeschlossen. Im Untersuchungsbericht des Regimentskommandeurs Oberst Philipp vom 15.02.1972 heißt es unter anderem:

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„Am 14.02.1972 gegen 23.30 Uhr versuchte eine unbekannte männliche Person im Abschnitt Schillingbrücke - Brommeybrücke auf Höhe des VEB Berliner Vergaser- und Filterwerks, Betriebsteil III, im Planquadrat 21936 die Staatsgrenze in Richtung DDR - West-Berlin {17} zu durchbrechen. Der Grenzverletzer wurde durch die eingesetzte Grenzstreife der Bootskompanie - Grenzregiment 35 schwimmend ca. 30 m vom Ufer entfernt festgestellt. Nach erfolgtem Anruf reagierte der Grenzverletzer nicht und versuchte schwimmend das Westberliner Ufer zu erreichen. Daraufhin eröffnete die Grenzstreife auf eine Entfernung von ca. 40 m gezieltes Feuer. Nach Angaben der Grenzstreife versank der Grenzverletzer, vermutlich getroffen, im Wasser. Durch die weitere Beobachtung der Grenzstreife wurden nach Abgabe von zwei kurzen Feuerstößen durch den Posten und drei kurzen Feuerstößen durch den Postenfuhrer (insgesamt 10 Schuß) keine Handlungen auf Westberliner Gebiet festgestellt. Ein Wiederauftauchen des Grenzverletzers wurde nicht beobachtet. ... Die Überprüfung ergab, daß sich der Grenzverletzer vom Gelände des VEB Vergaser- und Filterwerks der Staatsgrenze näherte. Er stieg am Gitterzaun auf einen an die Staatsgrenze angrenzenden Schuppen, der nicht mit Abweisern versehen ist, und begab sich durch Abgleiten an der Dachrinne in die Hundelaufanlage. Der eingesetzte Wachhund reagierte nicht. Nach Überwinden des Geländers der Ufermauer glitt der Grenzverletzer ins Wasser. In der Hundelaufanlage wurde ein Herrensakko ohne Dokumente und ein weißer Schal sichergestellt." Der Bericht enthält im Anschluß an diese Darstellung unter der Überschrift „Eingesetzte Grenzstreife" die Personalien der beiden Angeklagten. Die Tagesmeldung Nr. 045/72 des Kommandos der Grenztruppen enthält unter der Überschrift „I. Lage an der Staatsgrenze zur BRD {18} und Westberlin" unter anderem folgende Meldung: „GR Rummelsburg Bootskompanie Am 14.02.1972, gegen 23.30 Uhr, stellte der im Abschnitt Schillingbrücke eingesetzte Wachposten eine Person fest, die durch die Spree schwimmend versuchte, die Staatsgrenze in Richtung Westberlin zu durchbrechen. Unter Anwendung der Schußwaffe wurde der Grenzdurchbruch verhindert und der Grenzverletzer vermutlich tödlich getroffen. ... Sofort eingeleitete Suchmaßnahmen blieben bisher erfolglos. ..." In Ergänzung zu dieser Meldung enthielt die Tagesmeldung Nr. 046/72 die folgende Ergänzungsmeldung: „Im Ergebnis der geführten Suche wurde am 15.02.1972, 14.45 Uhr durch eigene Kräfte in der Spree, 200 m oberhalb der Schillingbrücke, der Grenzverletzer tot geborgen (Kopfschuß). Person unbekannt, besitzt keine Dokumente. Leiche durch Organe des MfS übernommen." Noch am 15.02.1972 wurden die Angeklagten für ihre Leistungen bei der Verhinderung des Grenzdurchbruchs ausgezeichnet und erhielten das „Leistungsabzeichen der Grenztruppen der DDR" sowie eine Geldprämie in Höhe von 150,- M. Die Witwe von Manfred Weylandt, die Zeugin P., erstattete erst ca. eine Woche nach dem Verschwinden ihres Mannes eine Vermißtenanzeige. Ungefähr vier Wochen später erhielt sie eine polizeiliche Vorladung. Man teilte ihr dann mit, daß die Leiche ihres Mannes in der Nähe der Museumsinsel in Berlin-Mitte aus der Spree geborgen worden sei. Man habe ihren Mann anhand der {19} Fingerabdrücke identifizieren können. Es habe sich um einen Selbstmord gehandelt. Die Zeugin erhielt keine genauen Angaben darüber, wann ihr Mann verstorben war oder wann er gefunden worden ist. Es wurde ihr lediglich noch mitgeteilt, daß sowohl die Einäscherung als auch die Urnenbeisetzung auf dem Friedhof Baumschulenweg bereits stattgefunden hätten und sie die Grabkarte 166

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bei der Friedhofsverwaltung abholen könnte. Außerdem händigte man ihr die Armbanduhr ihres Mannes aus.

III.

[Beweiswürdigung]

Die Angeklagten haben sich in der Hauptverhandlung zur Sache nicht geäußert. Durch die Vernehmung des Kriminalhauptkommissars P., der die Angeklagten im September 1991 polizeilich vernommen hatte und der sich noch sehr gut an diese Vernehmungen zu erinnern vermochte, konnten jedoch ihre damaligen Aussagen in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Der Zeuge P. bekundete, daß der Angeklagte K. sich bei seiner Vernehmung am 10.09.1991 im wesentlichen geständig eingelassen und das Kerngeschehen der Tat wie folgt geschildert hat: Er sei in dieser Nacht zusammen mit dem Postenfuhrer W. als Postenstreife zwischen Schillingbrücke und Brommeybrücke eingesetzt gewesen. Gegen Mitternacht seien sie auf eine Person in der Spree aufmerksam geworden, die sich schwimmend Richtung West-Berlin entfernte. Nach erfolglosem Anruf und der Abgabe von Warnschüssen {20} habe sowohl er selbst als auch sein Postenfuhrer gezielt auf die im Wasser schwimmende Person geschossen. Er habe dabei zwei kurze Feuerstöße abgegeben, während sein Postenfuhrer öfter, mindestens dreimal, geschossen habe. Es habe keine Möglichkeit gegeben, den Grenzverletzer festzunehmen und den Grenzdurchbruch ohne Einsatz der Schußwaffe zu verhindern, da in ihrem Bereich kein Boot stationiert war, das sie schnell genug hätten informieren können. Nach Abgabe der Schüsse habe sein Postenführer mit einer Leuchtpistole Signal gegeben, und daraufhin sei das Patrouillenboot gekommen. Nachdem sie der Bootsbesatzung Meldung gemacht hätten, seien sie abgelöst worden. Später hätte eine Befragung zu dem Vorfall stattgefunden, und sie hätten Auszeichnungen und Geldprämien erhalten. Über das weitere Schicksal des Grenzverletzers habe er nichts erfahren. Der Zeuge P. bekundete weiter, daß der Angeklagte W. sich in seiner Vernehmung am 12.09.1991 im wesentlichen übereinstimmend, wenn auch erheblich ungenauer eingelassen habe. Er habe sich dahingehend geäußert, daß er zusammen mit seinem Posten K. eine schwimmende Person in der Spree entdeckt habe. Daraufhin habe er zunächst mit der Leuchtpistole einen Signalschuß abgegeben, um auf sich aufmerksam zu machen. Dann seien Warnschüsse abgegeben worden, und schließlich habe man aus der Hüfte zielend in Richtung des Schwimmers geschossen. Aufgrund des Signalschusses sei nach einer Weile das Kontrollboot gekommen und sie seien abgelöst worden. Am nächsten Tag seien sie zum Vorfall befragt und später auch ausgezeichnet worden. Nach Aussage des Zeugen P. hat der Angeklagte W. seine Aussage im Laufe der Vernehmung leicht abgeändert. Nachdem er {21} zunächst von einer schwimmenden Person gesprochen hatte, gab er später an, daß er nicht gewußt habe, ob es sich überhaupt um eine Person handelte. Aufgrund dieser Aussagen ist die Kammer zu der Überzeugung gekommen, daß die Angeklagten in der Tatnacht auf eine in der Spree schwimmende Person geschossen haben, wobei der Angeklagte K. zwei kurze Feuerstöße und der Angeklagte W. drei kurze Feuerstöße abgab. Zuvor hatten die Angeklagten versucht, den Schwimmer durch Anruf und Warnschüsse zum Umkehren zu bewegen. Die Kammer folgt in ihren Feststellungen der genauen Schilderung, die der Angeklagte K. bei seiner polizeilichen Verneh-

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mung abgegeben hat. Dabei geht sie davon aus, daß mit dem Wort „gezielt" nur ein Schuß in die Richtung des Schwimmenden gemeint sein konnte, da die Angeklagten nicht über Kimme und Korn, sondern aus der Hüfte geschossen haben. Die Kammer hatte keinen Anlaß, an der Richtigkeit dieser Aussage zu zweifeln, da kein Grund ersichtlich war, der den Angeklagten veranlaßt haben könnte, sich zu Unrecht zu belasten. Seine Aussage stimmt im übrigen auch genau mit den Angaben im Untersuchungsbericht des Regimentskommandeurs vom 15.02.1972 überein. Derartige Berichte des Militärs sind erfahrungsgemäß zumindest bezüglich der Schilderung äußerer Geschehensabläufe durchaus zuverlässig und wahrheitsgemäß. Der Inhalt dieses Bericht bezüglich des Kerngeschehens der Tat kann nur auf den Angaben beruhen, die die Angeklagten selbst bei ihrer Befragung am 15.02.1972 gemacht haben, da keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der Vorfall durch weitere Personen direkt beobachtet wurde. Da es äußerst unwahrscheinlich ist, daß der Inhalt des Berichts erfunden ist und nur zufällig mit den Aussagen der Angeklagten übereinstimmt, ist {22} davon auszugehen, daß die Angeklagten bei ihrer Befragung ihre Vorgehensweise genauso geschildert haben wie der Angeklagte K. bei seiner Vernehmung im September 1991. Die Aussage des Angeklagten W. stimmt in wesentlichen Zügen mit dieser Darstellung überein, enthält allerdings keine Angaben darüber, ob mit Dauerfeuer geschossen wurde und wieviele Schüsse überhaupt abgegeben wurden. Er wird diesbezüglich jedoch durch die Aussage des Angeklagten K. überfuhrt. Seiner Aussage, daß er schon vor der Abgabe der Schüsse mit der Leuchtpistole Signal gegeben hat, ist die Kammer nicht gefolgt. Diese Behauptung widerspricht nicht nur der Darstellung des Angeklagten K., sondern auch den Bekundungen des unbeteiligten Zeugen S., der sich am westlichen Ufer der Spree befand, als die Schüsse fielen. Der Zeuge gab an, daß er zunächst die Schüsse gehört und erst unmittelbar im Anschluß daran die Leuchtraketen gesehen hat. Er bestätigte im übrigen auch die Angaben zur Anzahl der abgegebenen Schüsse, indem er bekundete, fünf Schüsse gehört zu haben. Dabei ging er allerdings davon aus, daß es sich um Einzelschüsse, und nicht um Feuerstöße handelte. Dies ist jedoch nicht verwunderlich, da es einer mit Schußwaffen nicht vertrauten Person kaum möglich ist, einen Einzelschuß von einem sehr kurzen Feuerstoß zu unterscheiden. Soweit der Angeklagte W. bei seiner polizeilichen Vernehmung seine Aussage dahingehend abschwächte, daß es nicht sicher sei, ob es sich überhaupt um einen Menschen oder nur um einen im Wasser treibenden Gegenstand gehandelt habe, ist diese Einlassung als bloße Schutzbehauptung zu werten, die ohnehin schon in sich unschlüssig ist. Wäre er tatsächlich davon ausgegangen, daß es sich lediglich um einen treibenden Gegenstand handelte, so hätte er keine Veranlassung {23} gehabt zu schießen. Die auch von ihm geschilderte Vorgehensweise mit Anruf und Warnschuß ist nur dann plausibel, wenn er davon überzeugt war, einen Menschen vor sich zu haben. Die Einlassung der Angeklagten, daß sie vor den gezielten Schüssen Warnschüsse abgegeben haben, war ihnen nicht zu widerlegen. Dies widerspricht zwar der Aussage des Zeugen S., der bekundete, daß die Schüsse unmittelbar aufeinanderfolgten, es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, daß die ersten Schüsse nicht in Richtung des Grenzverletzers abgegeben wurden. Die Kammer ist daher zu ihren Gunsten davon ausgegangen, daß sie zumindest formal die von den Schußwaffengebrauchsbestimmungen vorgeschriebene Vorgehensweise eingehalten haben.

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Auch ist zu ihren Gunsten anzunehmen, daß sie keine andere Möglichkeit hatten, den von ihnen vermuteten Grenzdurchbruch zu verhindern, da sie nicht in der Lage waren, rechtzeitig ein Patrouillenboot herbeizurufen. Insoweit werden die Aussagen der Angeklagten durch die Bekundungen der Zeugen Knoche, P. und L. bestätigt, die zum Zeitpunkt der Tat alle als Offiziere im Grenzregiment 35 dienten und daher über genaue Kenntnisse bezüglich der Organisation und Ausrüstung verfügen. Diese Zeugen haben übereinstimmend ausgesagt, daß im Bereich der Landposten keine Boote stationiert waren, und die Bootsbesatzungen nur über den Zugführer in der Führungsstelle informiert werden konnten, was einige Minuten in Anspruch genommen hätte. Es sei zwar möglich gewesen, die Boote durch Signalgebung mit Leuchtmunition zu informieren, aber auch in diesem Fall wären bis zum Eintreffen eines Bootes mehrere Minuten vergangen, da die Boote nur mit geringer Geschwindigkeit fahren konnten. {24} Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme steht fest, daß es sich bei der Person, auf die die Angeklagten in der Nacht vom 14.02.1972 geschossen haben, um dieselbe Person handelt, die am Nachmittag des 15.02.1972 aus der Spree geborgen, anschließend obduziert und später als Manfred Weylandt identifiziert wurde. Die Identität des Toten, die bei seiner Bergung nicht bekannt war und dem Gerichtsmedizinischen Institut erst erheblich später mitgeteilt wurde, ist durch die Zeugenaussagen seiner Angehörigen in der Hauptverhandlung eindeutig bestätigt worden. Die Witwe von Manfred Weylandt, die Zeugin P., sowie seine Schwestern, die Zeuginnen H. und Z., haben ihren Ehemann bzw. Bruder genau beschrieben. Diese Beschreibung stimmt sowohl im Hinblick auf die Kleidung als auch bezüglich seines Aussehens (Größe, Figur, Augen- und Haarfarbe) mit den Angaben im Obduktionsprotokoll überein. Die Zeuginnen konnten aber darüber hinaus auch einige besondere Körpermerkmale beschreiben, wie Narben am Unterarm und ein auffälliges Muttermal am linken Oberarm, die im Obduktionsbericht ebenfalls erwähnt sind. Die übrigen Feststellungen, die bezüglich der Leiche von Manfred Weylandt getroffen wurden, lassen in ihrer Gesamtheit nur den Schluß zu, daß er es sich bei ihm um die Person handelt, auf die die Angeklagten geschossen haben. Seine Leiche wurde in unmittelbarer Nähe des Streifenbereichs der Angeklagten gefunden, in dem der Grenzvorfall stattgefunden hat, und zwar am Nachmittag des folgenden Tages. Der Fundort der Leiche, der schon in der Tagesmeldung des Kommandos der Grenztruppen Nr. 046/72 beschrieben worden ist, wurde von den bei der Bergung anwesenden Zeugen Fröhlich und H. bestätigt. Auch der in der Tagesmeldung mit 14.45 Uhr angegebene Zeitpunkt der Bergung wird von {25} dem Zeugen H. bestätigt. Soweit der Zeuge Fröhlich bezüglich dieses Zeitpunktes angab, daß sie in den frühen Morgenstunden stattgefunden habe, muß es sich um eine unzutreffende Erinnerung handeln, was in Anbetracht der Tatsache, daß seither 20 Jahre vergangen sind, nicht verwunderlich ist. Die diesbezüglichen Angaben des Zeugen H. sind glaubhaft und überzeugend, da er noch genau wußte, daß er kurz vor Dienstschluß um 17.00 Uhr wieder im Stab Karlshorst eingetroffen ist und daher das Boot nach der Bergung gegen 16.00 Uhr verlassen haben mußte. Aufgrund dieser Zeitangabe ist auch in Übereinstimmung mit der Tagesmeldung davon auszugehen, daß das Boot gegen 16.00 Uhr im Bootshafen Rummelsburg eintraf, wo die Leiche dann, wie von dem Zeugen Fröhlich wiederum bestätigt wurde, an die

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Mitarbeiter des MfS übergeben worden ist. Die Zeugin Gillner bekundete, daß die Leiche von Manfred Weylandt gegen 17.30 Uhr im Gerichtsmedizinischen Institut eingetroffen sei. Dieser Zeitpunkt sei daher im Totenschein als Zeitpunkt der Todesfeststellung eingetragen worden. Aufgrund der vorstehend geschilderten ineinandergreifenden Zeugenaussagen ergibt sich eine geschlossene zeitliche Abfolge von der Bergung der Leiche an der Schillingbrücke bis zu ihrer Obduktion, so daß keine Zweifel daran bestehen, daß die Leiche von Manfred Weylandt an der Schillingbrücke gefunden wurde. Soweit der Zeuge Fröhlich bekundete, daß er bei der Bergung an der Leiche keine Schußverletzungen gesehen habe und sich daher nicht vorstellen könne, daß es sich um dieselbe Leiche handelt, die im Obduktionsbericht beschrieben wurde, kann diese Aussage die Feststellungen nicht erschüttern. Der Zeuge hat die Leiche nur ins Boot gezogen, ohne sie näher zu untersuchen. Da die Verletzungen sich im behaarten Bereich des Kopfes befanden, ist anzunehmen, daß {26} sie von den nassen Haaren völlig verdeckt waren. Aufgrund der starken Ausblutung der Leiche konnten auch keine größeren Blutmengen mehr aus den Schußwunden austreten. In Anbetracht der Tatsache, daß die Leiche mehrere Stunden im Wasser lag, ist davon auszugehen, daß auch das vorher ausgetretene Blut völlig vom Wasser abgewaschen worden ist, so daß die Verletzungen ohne nähere Untersuchung nicht erkennbar waren. Dies wird auch durch den Sachverständigen Dr. Prokop bestätigt, der davon ausging, daß die bei der Obduktion festgestellten geringen Mengen an Blut und Hirnbrei erst aufgrund des Bewegens der Leiche während des Transports ausgetreten seien. Die Verletzungen, die an dem Toten festgestellt wurden, lassen sich dem festgestellten Tatablauf exakt zuordnen. Die Angeklagten befanden sich bei Abgabe der Schüsse schräg rechts von dem in Richtung westliches Spreeufer schwimmenden Manfred Weylandt. Bei dieser Position mußte das Projektil den Schwimmer mit hoher Wahrscheinlichkeit am linken Hinterkopf treffen und im Falle eines Durchschusses an der rechten vorderen Kopfseite wieder austreten. Wie der Sachverständige Dr. Prokop in seinem in der Hauptverhandlung erstatteten Gutachten ausführte, wurden an der Leiche derartige Verletzungen festgestellt. Er bekundete, daß Manfred Weylandt einen Kopfdurchschuß erlitten habe, wobei das Projektil an der linken Kopfseite ca. 9 cm oberhalb des Ohrmuschelansatzes eingetreten und an der rechten Seite ungefähr 1,5 cm vor dem Ohrmuschelansatz wieder ausgetreten sei. Darüber hinaus korrespondieren auch die Angaben des Sachverständigen zum Todeszeitpunkt mit den Feststellungen zum Tatgeschehen. Er führte aus, daß aufgrund der bereits völlig eingetretenen Totenstarre, die bei niedrigen Temperaturen nur verzögert eintritt, sowie aufgrund äußerer Merkmale wie der {27} Waschhaut an den Fingerbeeren davon auszugehen sei, daß der Todeseintritt zum Zeitpunkt der Obduktion bereits ca. 15 Stunden zurücklag. Aufgrund der Obduktionsbefunde kann auch völlig ausgeschlossen werden, daß Manfred Weylandt zum Zeitpunkt der Schüsse schon ertrunken war, und die Angeklagten nur auf eine im Wasser treibende Leiche geschossen haben. Wäre er bereits vorher ertrunken,, so hätten die Schußverletzungen nicht mehr zu einer fast vollständigen Ausblutung geführt. Nach dem Obduktionsergebnis muß Manfred Weylandt die Schußverletzungen unmittelbar vor dem Ertrinken erlitten haben, was bedeutet, daß er im Wasser angeschossen wurde. Die danach noch verbleibende theoretische Möglich-

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keit, daß er zu einem anderen Zeitpunkt und an einer anderen Stelle der Spree erschossen wurde, kann ebenfalls ausgeschlossen werden. Dagegen spricht nicht nur die Angabe des Sachverständigen zum Todeszeitpunkt, sondern auch die Tatsache, daß an seiner Leiche keine Schleifspuren an Knien und Händen festgestellt werden konnten, wie sie auftreten, wenn eine Leiche nach dem Absacken im Wasser von der Strömung abgetrieben wird. Das Fehlen derartiger Verletzungen weist darauf hin, daß Manfred Weylandt in der Nähe der Stelle ertrunken ist, an der später seine Leiche gefunden wurde. Im übrigen enthalten auch die Tagesmeldungen Nr. 36 bis 53 über die Vorkommnisse an der Grenze zu West-Berlin im Zeitraum vom 4.02.1972 bis zum 21.02.1972 außer dem Grenzvorfall vom 14.02.1972 an der Schillingbrücke keine weiteren Meldungen, die von einem Schußwaffeneinsatz berichten. Aufgrund des dargestellten Ergebnisses der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, daß Manfred Weylandt am 14.02.1972 gegen {28} 23.30 Uhr durch die von den Angeklagten abgegebenen Schüsse verletzt wurde und infolge der erlittenen Verletzungen unmittelbar danach ertrank. Die Angeklagten haben bei der Abgabe der Schüsse, die den Tod von Manfred Weylandt verursachten, mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt. Sie haben aus der Hüfte zielend mehrere Feuerstöße in Richtung des nur ca. 40 m entfernten Schwimmers abgegeben. Bei dieser Vorgehensweise war die Gefahr, den Schwimmer zu treffen, sehr groß. Die Kammer hat bei dieser Beurteilung nicht verkannt, daß durch die Lichtverhältnisse am Tatort, die mangelnde Schießübung der Angeklagten sowie die Tatsache, daß auf ein sich im Wasser bewegendes Ziel geschossen wurde, die Trefferwahrscheinlichkeit herabgesetzt wurde. Auch konnte nicht außer Acht bleiben, daß die Trefferquote bei Schüssen aus der Hüfte im Vergleich zum Schulteranschlag sinkt und die Treffsicherheit bei Dauerfeuereinstellung durch die Streuwirkung beeinträchtigt wird. Der Schußwaffensachverständige Kutschker führte jedoch aus, daß die Streuwirkung bei kurzen Feuerstößen, bei denen nur 2-3 Schüsse abgefeuert werden, nicht allzu groß ist. Zudem sei eine Entfernung von 40 m beim Einsatz einer Waffe wie der hier verwendeten Maschinenpistole Kalaschnikow eine äußerst kurze Entfernung, bei der kaum eine ballistische Kurve auftrete. Auf diese Entfernung müsse nach seiner Erfahrung auch ein nur durchschnittlicher Schütze einen Gegenstand von der Größe eines Fußballs sicher treffen, wenn er über Kimme und Korn zielt. Unter Würdigung aller Tatumstände ist die Kammer zu der Überzeugung gekommen, daß die Trefferwahrscheinlichkeit beträchtlich war und {29} [die] Möglichkeit eines Treffers daher auch von den Angeklagten als naheliegend erkannt worden ist. Gerade aufgrund der besonderen Situation des Schwimmers ist eine hohe Trefferwahrscheinlichkeit aber auch gleichbedeutend mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, den Schwimmer zu töten. Zum einen scheidet nämlich die Möglichkeit, den Flüchtenden gezielt bewegungsunfähig zu schießen, von vorneherein aus, da bei einem Schwimmer in der vorliegenden Situation praktisch nur auf den Kopf gezielt werden konnte. Zum anderen bedeutet solch ein Treffer bei einem Schwimmer aber auch, daß dieser, selbst wenn der Schuß noch nicht tödlich ist, in die Gefahr gebracht wird, zu ertrinken, da er sich aufgrund der Verletzungen nicht mehr über Wasser halten kann. Auch die Möglichkeit, daß der Grenzverletzer aufgrund der erlittenen Schußverletzungen ertrinken könnte, war für die Angeklagten als naheliegend vorhersehbar. Obwohl ihnen bewußt war, daß sie den

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Schwimmer in Todesgefahr brachten, schössen sie in der beschriebenen Weise auf ihn und nahmen dabei seinen Tod mindestens billigend in Kauf. Die Angeklagten haben sich selbst zu keinem Zeitpunkt darauf berufen, absichtlich danebengeschossen zu haben oder auch nur davon ausgegangen zu sein, daß sie den Schwimmer schon nicht treffen würden. Sie haben bei ihrer polizeilichen Vernehmung, wie der Zeuge P. bekundete, vielmehr beide erklärt, daß sie sich an die Befehlslage gebunden fühlten und davon ausgegangen sind, daß sie den Grenzdurchbruch auch unter Einsatz der Schußwaffe verhindern mußten. Angesichts dieser von ihnen akzeptierten Befehlslage haben sie es zwar nicht darauf angelegt, den Grenzverletzer zu töten, haben seinen Tod jedoch als letztes Mittel zur Verhinderung des Grenzdurchbruchs in Kauf genommen. {30}

IV. [Rechtliche

Würdigung]

Auf die Angeklagten als ehemalige DDR-Bürger war für die in der ehemaligen DDR begangene Tat zunächst ausschließlich das Strafrecht der DDR anwendbar (Art. 315 I EGStGB i.V.m. § 2 I StGB). Aufgrund des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 ist jedoch nunmehr das bundesdeutsche Strafrecht anzuwenden, da dieses im Hinblick auf den Strafrahmen des § 213 StGB das mildere Recht ist (Art. 315 1 EGStGB i.V.m. § 2 III StGB). Die Tat ist nach beiden Rechtssystemen als gemeinschaftliche vorsätzliche Tötung zu werten. Die Angeklagten handelten in Mittäterschaft, da sie bei der fast gleichzeitigen Abgabe der Schüsse auf Manfred Weylandt zusammenwirkten und dabei das durch die Befehlslage bestimmte gemeinsame Ziel verfolgten, den Grenzdurchbruch zu verhindern, wobei sie auch den Tod des Flüchtlings billigend in Kauf nahmen. Einer besonderen Absprache zwischen ihnen bedurfte es nicht, da ihr Handeln durch die gemeinsame Befehlslage, an die sie sich gebunden fühlten, vorbestimmt war. Daher müssen sie sich die Tatbeiträge des jeweils anderen gegenseitig zurechnen lassen, so daß es nicht darauf ankommt, aus welcher Waffe der tödliche Schuß abgegeben wurde. Auch nach der in der Strafrechtslehre der DDR herrschenden objektiven Teilnahmelehre wäre die Vorgehensweise der Angeklagten als mittäterschaftliche Begehungsweise zu werten. Nach dieser objektiven Teilnahmelehre war Mittäterschaft bei einem Tötungsverbrechen dann anzunehmen, wenn jeder der Beteiligten vorsätzlich Handlungen begangen hat, die geeignet sind, den Tod des Opfers herbeizuführen. Da die Angeklagten hier beide gemeinsam auf {31} Manfred Weylandt geschossen haben und somit beide einen objektiven Tatbeitrag geleistet haben, liegt auch bei Zugrundelegung der Strafrechtslehre der DDR eine gemeinschaftliche Tötung vor. Es finden sich im Strafrechtssystem der DDR auch keine Erlaubnissätze, durch die die Tat der Angeklagten gerechtfertigt wäre mit der Folge, daß dann wiederum das Strafrecht der DDR als milderes Recht Anwendung finden würde. Die Vorschrift des § 17 II des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei vom 11. Juni 1968, das gemäß § 20 III auch für die Angehörigen der Nationalen Volksarmee galt, normiert zwar eine Reihe von Tatbeständen, bei deren Vorliegen der Einsatz der Schußwaffe bei Einhaltung der Schußwaffengebrauchsbestimmungen gerechtfertigt ist, vorliegend ist jedoch keiner dieser Tatbestände erfüllt.

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Nach § 17 II a dieses Gesetzes ist der Einsatz der Schußwaffe nur zur Verhinderung bestimmter Verbrechenstatbestände zulässig, die hier nicht vorliegen. Der ungesetzliche Grenzübertritt ist zwar in § 213 StGB der DDR unter Strafe gestellt, ein Verbrechen liegt jedoch nur in den in Abs. 2 normierten besonders schweren Fällen vor, da nur in diesen Fällen der Strafrahmen eine Freiheitsstrafe von über zwei Jahren zuläßt (§ 1 III S. 2 StGB der DDR). Da Manfred Weylandt bei seinem Fluchtversuch alleine war und keine Waffen oder Werkzeuge mit sich führte, sondern lediglich versuchte, schwimmend das andere Ufer der Spree zu erreichen, liegt kein schwerer Fall des ungesetzlichen Grenzübertritts und damit kein Verbrechen vor. Der Einsatz der Schußwaffe zur Verhinderung der Flucht einer Person, die eines Vergehens dringend verdächtig ist, ist nach § 17 II b jedoch nur unter der zusätzlichen Voraussetzung gerechtfertigt, daß {32} von Schußwaffen oder Sprengmitteln Gebrauch gemacht oder die Flucht mittels Gewalt oder tätlichen Angriffs oder gemeinschaftlich begangen wird. Diese Voraussetzungen lagen bei dem Fluchtversuch Manfred Weylandts nicht vor, so daß eine Rechtfertigung auch nach dieser Vorschrift nicht in Betracht kommt. Da die Tat somit auch nach dem Recht der DDR nicht gerechtfertigt war, verbleibt es bei der Anwendung des Rechts der Bundesrepublik Deutschland, da die Vorschriften der §§212, 213 StGB im Hinblick auf den minder schweren Fall einen niedrigeren Strafrahmen vorsehen als die nach DDR-Recht einschlägigen Vorschriften der §§ 112, 113 StGB/DDR. Die Angeklagten haben auch schuldhaft gehandelt. Schuldausschließungsgründe liegen nicht vor. Die Angeklagten können sich nicht auf den Entschuldigungsgrund des Handels auf Befehl berufen. Im Rahmen der Anwendung des Strafrechts der Bundesrepublik war bei der Beurteilung dieser Frage die Vorschrift des § 5 I WStG zugrundezulegen, die zwar unmittelbar nur für Soldaten der Bundeswehr gilt, aber zugunsten der Angehörigen der Grenztruppen der DDR entsprechend anzuwenden ist. Im übrigen würde aber auch die Anwendung des § 258 StGB/DDR1 im Ergebnis zu keiner anderen Beurteilung führen, da der Regelungsgehalt dieser Vorschrift mit dem des § 5 I WStG übereinstimmt. Nach § 5 I WStG trifft den Untergebenen eine Schuld nur dann, wenn er erkennt, daß es sich um eine rechtswidrige Tat handelt oder dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist. Die Angeklagten haben auf Befehl gehandelt. Für die Grenzsoldaten war die Befehlslage in erster Linie durch die bei der Vergatterung {33} erhaltenen Befehle und erst in zweiter Linie durch den Inhalt der Schußwaffengebrauchsbestimmungen bestimmt. Danach mußten sie davon ausgehen, daß sie einen Grenzdurchbruch unter allen Umständen verhindern mußten, was letztlich auch das „Vernichten" des Grenzverletzers einschloß. Die Angeklagten haben entsprechend der so gekennzeichneten faktischen Befehlslage gehandelt, indem sie auf Manfred Weylandt schössen, da sie keine andere Möglichkeit hatten, den Grenzdurchbruch zu verhindern. Sie haben sich darüber hinaus auch zumindest formal an die in den Schußwaffengebrauchsbestimmungen vorgeschriebene Vorgehensweise gehalten, indem sie erst nach Anruf und Warnschuß gezielte Schüsse abgaben. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Angeklagten positiv erkannt haben, daß der Befehl gegen die Strafgesetze verstieß.

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Dies entlastet sie jedoch nicht, da es nach den ihnen bekannten Umständen offensichtlich war, daß die befohlene Tat gegen die Strafgesetze verstieß. An die Feststellung der Offensichtlichkeit sind hohe Anforderungen zu stellen, und es kann bei der Beurteilung dieser Frage nicht außer Acht gelassen werden, daß die Angeklagten einer intensiven politischen Indoktrination ausgesetzt waren. Auch waren sie während ihres Wehrdienstes in ein militärisches System eingegliedert, in dem Disziplin und unbedingter Gehorsam selbstverständlich waren. Schließlich verfolgte die ständige Wiederholung der Befehle bei jeder Vergatterung in Verbindung mit der Beeinflussung bei den sogenannten politischen Schulungen das Ziel, die Soldaten davon zu überzeugen, daß die Verhinderung eines Grenzdurchbruchs eine überragend wichtige Aufgabe sei, die unter allen Umständen erfüllt werden muß. {34} Auch bei entsprechender Würdigung dieser Gesichtspunkte ist jedoch davon auszugehen, daß die Handlungsweise der Angeklagten einen auch für sie offensichtlichen Verstoß gegen das Gebot der Menschlichkeit darstellt. Das Schießen auf einen unbewaffneten Menschen, von dem keinerlei Gefahr oder Bedrohung ausgeht und der sich darüber hinaus wie im Falle von Manfred Weylandt auch noch in einer ausgesprochen wehrlosen Lage befindet, kann unter keinem Gesichtspunkt gerechtfertigt sein. Es war fur die Angeklagten deutlich zu erkennen, daß Manfred Weylandt nichts weiter wollte als das gegenüberliegende Ufer der Spree zu erreichen, und daß er durch sein Verhalten niemanden gefährdete oder schädigte. Ein Befehl, der zum Inhalt hat, einen Menschen zu „vernichten", nur weil dieser den Staat, in dem er geboren ist, verlassen will, ist unmenschlich. Daran kann auch die Tatsache, daß der sogenannte ungesetzliche Grenzübertritt in der DDR unter Strafe gestellt war, nichts ändern, denn auch die Verfolgung von Straftaten hat sich an Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten auszurichten. Das auch in der DDR vorrangige Menschenrecht auf Leben, das durch das grundsätzliche Tötungsverbot (§§ 112, 113 StGB/DDR) konkretisiert war, schützt auch den Straftäter. Es war daher für die Angeklagten, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, daß von dem Grenzverletzer keine Gefahr ausging, offensichtlich, daß das nachrangige Verbot des „ungesetzlichen Grenzübertritts" hinter diesem elementaren Tötungsverbot zurücktreten mußte. Die Angeklagten haben bei ihrer polizeilichen Aussage angegeben, daß sie sich zwar an die Befehlslage gebunden fühlten, aber stets gehofft hätten, daß sie nie in eine Situation kommen würden, in der sie einen solchen Befehl ausführen müßten. Daraus läßt sich entnehmen, daß sie der Ausführung {35} eines solchen Befehls innerlich ablehnend gegenüberstanden, weil er ihrem Gerechtigkeitsempfinden nicht entsprach. Die Angeklagten befanden sich bei Abgabe der Schüsse auch nicht in einem entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB). Sie haben sich selbst nie ausdrücklich darauf berufen, daß sie nur aus Angst vor einer eigenen Bestrafung geschossen haben. Da den Soldaten aber allgemein bekannt war, daß sie im Falle eines nicht verhinderten Grenzdurchbruchs mit einer Untersuchung ihrer Handlungsweise und unter Umständen auch mit einem Ermittlungsverfahren durch den Militärstaatsanwalt rechnen mußten, ist zu Gunsten der Angeklagten davon auszugehen, daß auch sie davon Kenntnis hatten und den Befehl befolgten, weil sie befürchteten, ansonsten selbst zur Verantwortung gezogen zu werden. Darauf weist auch ihre Einlassung hin, daß sie sich an den Befehl gebunden fühlten und davon ausgingen, ihn in Ernstfall unter allen Umständen ausführen zu müssen.

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Die Voraussetzungen des Notstands sind aber gleichwohl nicht gegeben, weil sie die Zwangslage, in der sie sich befanden, durch mildere Mittel abwenden konnten. So hätten sie in sicherer Entfernung von dem von ihnen entdeckten Grenzverletzer ins Wasser schießen können, ohne befurchten zu müssen, daß man ihnen später ein befehlswidriges Handeln würde nachweisen können. Ein solches Verhalten wäre gerade durch die Situation, in der sich der Grenzverletzer befand, begünstigt worden, da es im Wasser später nicht mehr festzustellen gewesen wäre, wohin gezielt worden ist. Da es im übrigen ohnehin schwerer ist, eine schwimmende Person zu treffen, von der man nur den Kopf sehen kann, hätte man ihnen kaum einen Vorwurf daraus machen können, daß sie nicht getroffen haben. {36} Soweit die Angeklagten geglaubt haben, ihr Handeln sei aufgrund der Befehlslage, die sie verpflichtete, den Grenzdurchbruch unter allen Umständen zu verhindern, rechtmäßig gewesen, befanden sie sich in einem vermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 StGB). Die Frage der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums kann nicht anders beurteilt werden als die Frage der Offensichtlichkeit des Strafrechtsverstoßes. Da es, wie oben ausgeführt, für die Angeklagten offensichtlich war, daß die Tötung eines ersichtlich ungefährlichen Grenzverletzers unter keinen Umständen gerechtfertigt ist und gegen das elementare Tötungsverbot verstößt, war auch der Verbotsirrtum fur sie vermeidbar.

V.

[Strafzumessung]

Die Angeklagten waren zur Tatzeit beide 19 Jahre und 11 Monate alt und damit Heranwachsende im Sinne von § 1 II JGG. Die Kammer hat zu ihren Gunsten das Jugendstrafrecht angewendet, da nicht auszuschließen ist, daß sie zum Zeitpunkt der Tat in ihrer geistigen und sittlichen Reife noch einem Jugendlichen gleichstanden (§ 105 I Nr. 1 JGG). Zwar verliefen ihre Lebenswege bis zur Tat unauffällig und die Kammer konnte bei keinem von ihnen Feststellungen treffen, die auf besondere Erziehungsschwierigkeiten oder Reifebehinderungen hindeuteten. Es kann jedoch nicht sicher ausgeschlossen werden, daß ihre Reifung zum eigenverantwortlich handelnden Erwachsenen sich durch ihre Erziehung unter den politisch-gesellschaftlichen Bedingungen der ehemaligen DDR verzögert hat. Die Indoktrination und Bevormundung, durch die der Lebensweg eines jungen Menschen von Seiten des Staates gelenkt und bestimmt wurde, dürfte nicht ohne {37} Folgen geblieben sein, und die Erlangung der Selbständigkeit, d.h. auch der Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, behindert haben. In besonderem Maße gilt dies für den Angeklagten W., dessen Vater sich wegen seiner Stellung als Berufsoffizier besonders angepaßt verhielt und außerdem sehr bestimmend war. Der Angeklagte hatte daher auch im Elternhaus wenig Möglichkeit, seine Eigenständigkeit zu entwikkeln und mußte sich vielmehr an den Vorstellungen des Vaters orientieren, der ihn ja auch dazu bewegte, sich als Zeitsoldat für drei Jahre bei der NVA zu verpflichten. Die Angeklagten haben mit bedingtem Tötungsvorsatz ein Verbrechen gegen das Leben begangen. Die Schwere dieser Schuld erfordert die Verhängung einer Jugendstrafe (§1711 JGG). Die Kammer ist von einem sonstigen minder schweren Fall im Sinne des § 213 StGB ausgegangen. Diese Beurteilung beruht maßgeblich darauf, daß die Angeklagten die Tat nicht aufgrund eines freien Entschlusses und nicht aufgrund persönlicher Motive be-

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gangen haben. Das politische und gesellschaftliche System der DDR, das von staatlicher Lenkung und Steuerung auf allen Gebieten gekennzeichnet war, hat die Entwicklung eines jungen Menschen zu einer selbständigen und kritischen Persönlichkeit zumindest erheblich erschwert. Durch ihre Einberufung zum Wehrdienst und die anschließende Versetzung zu den Grenztruppen sind die Angeklagten in eine Situation gebracht worden, mit deren vernünftiger Bewältigung sie aufgrund ihres Alters und ihrer Erziehung überfordert waren. In dieser Situation haben sie als Befehlsempfänger in einem vermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt, als sie die Schüsse auf Manfred Weylandt abgaben. In gewisser Weise {38} waren sie daher nicht nur Täter, sondern selbst auch Opfer des politischen Systems. Angesichts dieser besonderen Umstände erscheint ihre Tat als minder schwer. Im Rahmen der Strafzumessung war jedoch zu Lasten der Angeklagten zu beachten, daß sie allzu diensteifrig und ohne Überlegung gehandelt haben, als sie direkt nach den Warnschüssen die Schüsse auf Manfred Weylandt abgaben. Sie hätten erkennen müssen, daß sie ihre eigene Zwangslage auch durch mildere Mittel bewältigen konnten, ohne den Grenzverletzer zu töten. Erheblich straferleichternd mußte sich hingegen auswirken, daß beide stets ein ordentliches Leben gefuhrt haben und weder vor noch nach der hier zu beurteilenden Tat strafrechtlich in Erscheinung getreten sind. In diesem Zusammenhang war auch zu berücksichtigen, daß die Tat ohne Verschulden der Angeklagten erst nach Ablauf von 21 Jahren geahndet werden konnte. Außerdem war zu ihren Gunsten zu beachten, daß sie als letzte Glieder in einer Befehlskette gehandelt haben und nicht außer acht gelassen werden darf, daß sowohl ihre Vorgesetzten als auch die politisch Verantwortlichen, die diese Befehle zu vertreten haben, noch nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Aufgrund der zusammenfassenden Würdigung aller genannten Umstände hält die Kammer die Verhängung von Jugendstrafen von je einem Jahr und zehn Monaten für schuldangemessen und erforderlich. Die Vollstreckung dieser Strafen kann zur Bewährung ausgesetzt werden ( § 2 1 I, II JGG). Beide Angeklagte gehen einer geregelten {39} Erwerbstätigkeit nach und sind sozial und familiär eingegliedert, so daß ihnen eine günstige Sozialprognose gestellt werden muß. In Anbetracht ihrer, abgesehen von der 21 Jahre zurückliegenden und von besonderen Umständen geprägten Tat, beanstandungsfreien Lebensführung ist nicht zu erwarten, daß sie erneut Straftaten begehen werden. Eine Vollstreckung der Strafe ist daher nicht geboten.

VI. [Verjährung] Die im Jahre 1972 begangene Tat ist noch nicht verjährt, weil die Veqährung der Strafverfolgung bis zum Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ruhte. Auf die Tat war zunächst ausschließlich das Recht der ehemaligen DDR anzuwenden. Die Verjährungsfrist für Totschlag (§113 StGB/DDR) betrug danach gem. § 82 I Nr. 4 StGB/DDR 15 Jahre. Diese mit der Beendigung der Tat beginnende Veqährungsfrist ist noch nicht abgelaufen, da die Strafverfolgung während des Bestehens der DDR ruhte.

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Die Kammer folgt bei dieser Beurteilung der Argumentation des Kammergerichts, das im Beschluß vom 17.12.1992 - 4 Ws 160/92 2 - fur einen vergleichbaren Fall das Ruhen der Verjährung festgestellt hat. Das Kammergericht legt seiner Entscheidung die Vorschrift des § 83 Nr. 2 StGB/DDR zugrunde, nach der die Verjährung ruht, solange ein Strafverfahren „aus einem anderen gesetzlichen Grunde nicht eingeleitet oder fortgesetzt werden kann". Die unmittelbare Anwendung dieser Vorschrift scheitere zwar daran, daß es in der DDR keine formellen Gesetze gab, die die strafrechtliche Verfolgung der {40} Todesschüsse an der Mauer untersagten. Dennoch seien jedoch die Grenzsoldaten, die auf Flüchtlinge geschossen haben, niemals zur Verantwortung gezogen worden. Aufgrund der vergleichbaren Situation seien die von der Rechtsprechung der Bundesrepublik entwickelten Grundsätze zum Ruhen der Verfolgungsveijährung bei nationalsozialistischen Unrechtstaten auf die Unrechtstaten des SED-Regimes und in diesem Rahmen auch auf den Schußwaffeneinsatz gegen sogenannte Grenzverletzer übertragbar. Zur Begründung dieser Auffassung fuhrt das Kammergericht unter anderem aus: „Auch die politische Situation in der DDR war mit der während des Dritten Reiches herrschenden vergleichbar, denn auch die DDR war ein totalitärer Staat. ® Das Kammergericht fuhrt dieses Argument näher aus. Für den vollständigen Text dieses Zitats vgl. lfd. Nr. 13-2, S. 456-457. ® Dementsprechend war in der regelmäßig wiederkehrenden .Vergatterung' der Grenzsoldaten vor ihrem jeweiligen Dienstantritt der Kernsatz enthalten, daß Grenzdurchbrüche auf keinen Fall zuzulassen seien; .Grenzverletzer sind zu stellen oder zu vernichten'; ... ... Alle diese erwähnten Umstände ergeben in ihrer Gesamtheit, daß die Verhinderung des Grenzübertritts als ein überragendes politisches Interesse aufgefaßt wurde, hinter das persönliche Rechtsgüter einschließlich des Lebens und ihr strafrechtlicher Schutz völlig zurücktraten, so daß es zumindest hinsichtlich der Behandlung von Grenzverletzern und der Verfolgung des ihnen gegenüber begangenen Unrechts durchaus möglich erscheint, die politische Situation in der DDR mit der des Dritten Reiches zu vergleichen." Dieser Argumentation des Kammergerichts folgend geht die Kammer bei dem ihr vorliegenden Fall davon aus, daß die Verfolgung der Tat noch nicht veijährt ist, weil der Ablauf der Verjährungsfrist nach § 83 Nr. 2 StGB/DDR bis zum Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3.10.1990 ruhte. Auf dieser Beurteilung der Veijährungsproblematik beruht im übrigen auch das inzwischen in Kraft getretene „Gesetz zur Veijährung von {42} SED-Unrechtstaten", in dem die Verjährungshemmung bei solchen Taten deklaratorisch festgestellt wird.

Anmerkungen 1 2

Vgl. Anhang S. 969. Vgl. lfd. Nr. 13-2.

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Inhaltsverzeichnis Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 26.7.1994, Az. 5 StR 167/94 Gründe

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I.

[Das Urteil der Strafkammer]

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II.

[Zur Verjährung]

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III. [Zu den Sachrügen] Anmerkungen

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Bundesgerichtshof Az.: 5 StR 167/94

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26. Juli 1994

URTEIL1 Im Namen des Volkes in der Strafsache gegen Karl-Heinz W., geboren 1952 wegen Totschlages {2} Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Sitzungen vom 19. und 26. Juli 1994, an denen teilgenommen haben: ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® {3} am 26. Juli 1994 für Recht erkannt: Die Revision des Angeklagten W. gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 17. Juni 1993 wird verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. - Von Rechts wegen -

Gründe Die Jugendkammer hat den im Jahre 1952 geborenen Beschwerdeführer - ebenso wie den Mitangeklagten K., der kein Rechtsmittel eingelegt hat - wegen Totschlages zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt und die Vollstreckung dieser Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision des Angeklagten W. ist unbegründet.

I.

[Das Urteil der Straßcammer]

1. Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen. ® 2. Der Beschwerdeführer hat sich, ebenso wie K., in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht nicht zur Sache geäußert. Das Landgericht hat den Kriminalbeamten gehört, der den Beschwerdeführer und K. im September 1991 vernommen hatte. Nach der Aussage des Kriminalbeamten hat K. seinerzeit erklärt, er und sein Postenführer hätten „gezielt" auf den Schwimmer geschossen, während der Beschwerdeführer gesagt hat, man habe „aus der Hüfte zielend in Richtung des Schwimmers ge-{6}schössen" (UA S. 20). Später hat der Beschwerdeführer bei der Polizei erklärt, er habe „nicht gewußt, ob es sich überhaupt um eine Person handelte". Das Landgericht stützt sich bei der Beweiswürdigung auf die Aussage des Kriminalbeamten, ferner auf den als „zuverlässig und wahrheitsgemäß" erachteten Bericht des Regimentskommandeurs vom 15. Februar 1972, in dem es hieß, die Grenzstreife habe „auf eine Entfernung von ca. 40 m gezieltes 179

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Feuer" eröffnet. Dieser Bericht könne, so meint das Landgericht, nur auf den Angaben beruhen, die die Angeklagten am 15. Februar 1972 bei ihrer Befragung durch Vorgesetzte gemacht haben (UA S. 21). 3. Das Landgericht ist bei einem Vergleich der in Betracht kommenden strafrechtlichen Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu dem Ergebnis gelangt, daß das Recht der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf den Strafrahmen des § 213 StGB milder und deswegen gemäß Art. 315 Abs. 1 EGStGB, § 2 Abs. 3 StGB anzuwenden sei.

II. [Zur Verjährung] Die Strafverfolgung ist aus den im Senatsurteil vom 19. April 1994 (5 StR 204/93, MDR 1994, 704, zum Abdruck in BGHSt bestimmt 2 ) genannten Gründen nicht veqährt (vgl. auch BGH NStZ 1994, 330 3 sowie das Veijährungsgesetz vom 26. März 1993, BGBl. I S. 392) {7}

III. [Zu den Sachrügen] Die Verfahrensrügen des Angeklagten W. sind, soweit sie zulässig erhoben worden sind, aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 11. Mai 1994 bezeichneten Gründen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Die Verurteilung des Beschwerdeführers hält im Ergebnis auch der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand. 1. Die Annahme des Tatrichters, daß der Tod des Flüchtlings dem Angeklagten als ein mit bedingtem Vorsatz gemeinschaftlich begangener Totschlag zuzurechnen sei, ist frei von Rechtsfehlern. a) Der Beschwerdeführer hat, mit der auf Dauerfeuer gestellten Maschinenpistole schießend, nach den Warnschüssen in Richtung einer in 40 m Entfernung schwimmenden Person Feuerstöße von jeweils zwei Schuß abgegeben; die Lichtverhältnisse und die geringe Schußpraxis des Angeklagten, vor allem aber der Umstand, daß aus der Hüfte geschossen wurde, setzten allerdings die Trefferwahrscheinlichkeit herab (UA S. 28). Nach den Urteilsausführungen haben sich die Angeklagten zu keinem Zeitpunkt darauf berufen, sie hätten absichtlich daneben geschossen oder erwartet, daß sie den Schwimmer nicht treffen würden (UA S. 29); vielmehr haben die Angeklagten bei ihrer polizeilichen Vernehmung im Jahre 1991 erklärt, sie hätten sich an die Befehlslage gebunden gefühlt und gemeint, sie müßten den Grenzdurchbruch auch unter Einsatz der Schußwaffe verhindern (UA S. 29). Wenn der Tatrichter hiernach aus den äußeren Umständen und dem Aussageverhalten des Beschwerdeführers den Schluß gezogen hat, der Tod des Schwimmers sei zwar nicht beabsichtigt, {8} aber billigend in Kauf genommen worden, so ist das aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Soweit sich die Urteilsgründe auf den Bericht des früheren Regimentskommandeurs berufen, lassen sie entgegen dem Revisionsvorbringen nicht besorgen, daß der Tatrichter die allgemeine Zuverlässigkeit von Berichten militärischer Dienststellen der DDR überschätzt habe. Die Erwägung des Tatrichters, der Bericht des Regimentskommandeurs, in dem von gezieltem Feuer die Rede ist, könne nur auf Angaben der Angeklagten beruhen, verstößt nicht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze. Allerdings mußte der Tatrichter in Betracht ziehen,

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daß die Soldaten angesichts der Befehlslage kaum eine andere Wahl gehabt haben, als ihren Vorgesetzten zu erklären, sie hätten „gezielt" geschossen; deswegen kann aus Angaben dieser Art nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, daß tatsächlich „gezielt" geschossen worden ist. Daß der Tatrichter dies übersehen hat, ist indessen nicht anzunehmen. Ersichtlich hat der Umstand, daß die Angeklagten in dem jetzigen Verfahren nicht behauptet haben, sie hätten absichtlich daneben geschossen, bei der Bewertung der im Jahre 1972 gemachten Angaben der Angeklagten eine maßgebende Rolle gespielt. Das ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. b) Zwar steht nicht fest, ob das Geschoß, das den Schwimmer getroffen hat, aus der Maschinenpistole des Beschwerdeführers oder der Waffe des Mitangeklagten abgefeuert worden ist. Das hinderte den Tatrichter aber nicht, beide Soldaten als Mittäter (§ 25 Abs. 2 StGB) des bedingt vorsätzlichen Totschlages anzusehen. Es kommt nicht darauf an, ob die beiden Soldaten vor den Schüssen miteinander gesprochen haben und wie sie sich gegenseitig einschätzten. Vielmehr genügt fiir die Annah-{9}me der Mittäterschaft, daß die Soldaten, wie der Tatrichter festgestellt hat, beide in der Vorstellung handelten, sie müßten den Grenzdurchbruch auch unter Einsatz der Schußwaffe verhindern, und daß keiner von ihnen bewußt daneben geschossen hat. Aus der Übereinstimmung der inneren Tatseite und aus der Gleichartigkeit der Handlungen beider Soldaten durfte der Tatrichter folgern, daß sich die Tatbeiträge arbeitsteilig ergänzen sollten. Damit waren die Voraussetzungen der Mittäterschaft gegeben; der Soldat, dessen Geschosse nicht getroffen haben, muß sich die Wirkung der von dem anderen Soldaten abgegebenen Schüsse zurechnen lassen. Nicht anders wäre die Frage der Mittäterschaft nach dem Recht der DDR (§ 22 Abs. 2 StGB-DDR) zu beurteilen gewesen. Dadurch, daß der Schwimmer von zwei Schützen beschossen wurde, erhöhte sich seine Gefährdung. Insoweit hat auch der Schütze, dessen Geschosse nicht trafen, einen Beitrag zur Tötung des Schwimmers geleistet und insofern im Sinne des § 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB-DDR an der Ausführung der vorsätzlichen Straftat mitgewirkt (vgl. BGHSt 39, 1, 31 4 ). 2. Im Ergebnis hält auch die Annahme des Tatrichters, dem tatbestandsmäßigen Handeln des Angeklagten habe kein Rechtfertigungsgrund zur Seite gestanden, der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand. a) Der Senat folgt allerdings nicht der Auffassung des Tatrichters, daß zur Tatzeit (1972) „im Strafrechtssystem der DDR" keine Ansatzpunkte fiir die Prüfung eines Rechtfertigungsgrundes vorhanden gewesen seien (UA S. 31 f.). {10} Der Tatrichter geht davon aus, daß das Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei vom 11. Juni 1968 (GBl. DDR I S. 232, fortan als „Volkspolizeigesetz" zitiert) für den Schußwaffengebrauch der Grenztruppen galt; er beruft sich auf § 20 Abs. 3 dieses Gesetzes, wonach die „Angehörigen der Nationalen Volksarmee" berechtigt waren, „in Erfüllung militärischer Wach-, Ordnungs- und Sicherungsaufgaben entsprechend den vom Minister für Nationale Verteidigung getroffenen Festlegungen die in diesem Gesetz geregelten Befugnisse wahrzunehmen". Der Senat läßt offen, ob das Gesetz auch den Schußwaffengebrauch durch Grenztruppen an der Grenze regeln sollte oder ob in der DDR Anordnungen des Ministers für Nationale Verteidigung - wie etwa die Vorschrift „DV-30/10, Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie" (1967; zu einer älteren Fassung vgl. BGHSt 39, 353, 366 f 5 ) und die später erlassene Anordnung DV 018/0/008 (1974) - bis zum Inkrafittreten des Grenz-

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gesetzes vom 25. März 1982 (GBl. DDR I S. 197) als alleinige Grundlage des Schußwaffengebrauchs durch Grenztruppen verstanden worden sind. Die inzwischen allgemeinkundigen tatsächlichen Verhältnisse, die an der innerdeutschen Grenze herrschten, der Inhalt der Vergatterung und der Umstand, daß gezieltes Dauerfeuer auf unbewaffnete Flüchtlinge nicht zu Ermittlungen der DDR-Behörden gegen die Schützen, sondern zu ihrer Belobigung und Belohnung geführt hat, ergeben jedenfalls, daß die staatlichen Stellen der DDR den Schußwaffengebrauch, so wie er im vorliegenden Fall stattgefunden hat, als zulässig kennzeichnen wollten. Auch der Wortlaut der in Betracht kommenden Vorschriften ließ das Verhalten des Angeklagten nicht als Überschreitung eines Rechtfertigungsgrundes erscheinen: Nach dem Volkspolizeigesetz (§ 17 Abs. 2 Buchst, a) durfte, ebenso wie {11} nach dem späteren Grenzgesetz (§ 27 Abs. 2), geschossen werden, um die unmittelbare Ausführung oder die Fortsetzung einer Tat zu verhindern, die sich nach den Umständen als ein Verbrechen gegen die staatliche Ordnung darstellte. Als ein Verbrechen, das sich gegen die staatliche Ordnung (§§ 212 ff. StGB-DDR) richtete, kam mit Rücksicht auf die Strafdrohung (§ 1 Abs. 3 Satz 2 StGB-DDR) der schwere Fall des unerlaubten Grenzübertritts in Betracht (§213 Abs. 2 StGB-DDR in der vor dem 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 28. Juni 1979 - GBl. DDR I S. 139 geltenden Fassung); schwere Fälle des unerlaubten Grenzübertritts konnten auch außerhalb der in § 213 Abs. 2 StGB-DDR a.F. genannten Beispielsfälle gefunden werden (Strafrecht der DDR, Kommentar, 5. Aufl. 1987, § 213 Anm. 7). Von den erwähnten Anordnungen des Verteidigungsministers stimmt die DV 018/0/008 (Abschn. 210 II a) mit der genannten Bestimmung des Volkspolizeigesetzes überein; der Wortlaut der „DV30/10" deckte den Schußwaffengebrauch in einem Fall wie dem vorliegenden gleichfalls ab (Nr. 203d - 2. Alternative; Nr. 204 - 3. Alternative; vgl. UA S. 7) Der Senat geht hiernach davon aus, daß die in Betracht kommenden Vorschriften in der Staatspraxis der DDR zur Tatzeit in dem Sinne ausgelegt worden sind, daß das Handeln des Angeklagten gerechtfertigt sein sollte. b) Der Senat hat indessen in seinen Entscheidungen BGHSt 39, 1, 15 ff 5 ; 39, 168, 183 ff 7 ausgeführt: Ein der Staatspraxis entsprechender Rechtfertigungsgrund, der die (bedingt oder unbedingt) vorsätzliche Tötung von Personen deckte, die nichts weiter wollten, als unbewaffnet und ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten, {12} muß bei der Rechtsanwendung unbeachtet bleiben. Denn ein solcher Rechtfertigungsgrund, der der Durchsetzung des Verbots, die Grenze unerlaubt zu überschreiten, Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen gibt, ist wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam (vgl. auch das Senatsurteil vom heutigen Tage - 5 StR 98/948 - , Abschn. Β I 1 a). Der Verstoß wiegt hier so schwer, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt; in einem solchen Fall muß das positive Recht der Gerechtigkeit weichen. Daran hält der Senat fest. Er hat in seiner Entscheidung BGHSt 39, 1 auf die Schwierigkeit hingewiesen, die mit der Übertragung der „Radbruchschen Formel", die bei der strafrechtlichen Beurteilung nationalsozialistischer Verbrechen entwickelt worden ist, auf Fälle der vorliegenden Art verbunden ist (BGHSt 39, 1, 16). Er hat in diesem Zusammenhang bemerkt, daß heute konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen seien, weil die internationalen Menschenrechtspakte,

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vor allem der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl. 1973, II S. 1534; GBl. DDR 1974 II S. 57 - IPbürgR - ) , Anhaltspunkte dafür böten, wann der Staat nach der Überzeugung der weltweiten Rechtsgemeinschaft Menschenrechte verletzt. Hierbei hat der Senat Art. 6 IPbürgR genannt, wonach niemand seines angeborenen Rechts auf Leben willkürlich beraubt werden darf (BGHSt 39, 1, 20 ff.), ferner Art. 12 Abs. 2 IPbürgR, wonach es jedem freisteht, jedes Land, auch sein eigenes, zu verlassen; das Recht auf Ausreise darf nach Art. 12 Abs. 3 IPbürgR nur durch Gesetz und nur zu bestimmten Zwecken, u.a. zum Schutz der öffentlichen Ordnung, eingeschränkt werden (vgl. BGHSt 39, 1, 17 ff.). {13} aa) Die DDR hat die Ratifizierungsurkunde für den IPbürgR erst nach der hier in Rede stehenden Tatzeit, nämlich am 8. November 1973 hinterlegt (GBl. DDR 1974 II S. 57); der Pakt ist, auch mit Wirkung für die beiden deutschen Staaten, am 23. März 1976 in Kraft getreten (BGBl. II S. 1068; GBl. DDR II S. 108). Die DDR war demnach im Februar 1972, als der Angeklagte seine Schüsse abgab, noch nicht an den IPbürgR gebunden, während die Entscheidungen BGHSt 39, 1; 39, 168 Vorgänge betrafen, die sich 1984 und 1989, also nach dem Inkrafttreten des IPbürgR, ereignet hatten. Aus diesem Unterschied ergibt sich aber nicht, daß die Rechtsauffassung des Senats zur Unwirksamkeit grob ungerechter und menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgründe unanwendbar wäre. bb) Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der seit 1966 zur Unterzeichnung auflag (Art. 48), hat seine Grundlage in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948; deutsche Übersetzung u.a. bei Sartorius II Nr. 19). Nach Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat jeder Mensch das Recht auf Leben; in Art. 13 Nr. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen ...". Nach Art. 29 Nr. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist der Mensch „in Ausübung seiner Rechte und Freiheiten nur den Beschränkungen unterworfen, die das Gesetz ausschließlich zu dem Zweck vorsieht, um die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten anderer zu gewährleisten {14} und den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und der allgemeinen Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen". Hiernach stimmen die Gewährleistungstatbestände der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte im Hinblick auf das Recht auf Leben und freie Ausreise überein; weniger präzise als im IPbürgR formuliert sind allerdings die Schranken der Menschenrechte (Art. 29 Nr. 2 der Allgemeinen Erklärung). (1) Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte dient dazu, die Bezugnahme der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 (BGBl. 1973 II S. 431; 1974 II S. 770) auf die Menschenrechte zu konkretisieren (Buergenthal/Doehring/Kokott/Maier, Grundzüge des Völkerrechts, 1988, S. 111). Hinweise auf die Menschenrechte finden sich in Art. 1 Nr. 3, Art. 13 Abs. 1 Buchst, b, Art. 55, 62, 68 der Charta. Nach Art. 56 der Charta sind alle Mitgliedstaaten verpflichtet, in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen die in Art. 55 der Charta genannten Ziele, zu denen die Verwirklichung der Menschenrechte (Art. 55 Buchst, c) gehört, anzustreben. In der Beschlußpraxis der Ge183

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neralversammlung der Vereinten Nationen und ihrer Untergliederungen ist demgemäß seit Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wiederholt und in vielfältiger Form auf diese Erklärung hingewiesen worden. (2) Allerdings ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 kein Vertragsrecht. In diesem Sinne hieß es 1973 in der Denkschrift der Bundesregierung zum Internationalen Pakt über bürgerliche und {15} politische Rechte (BTDrucks. 7/660 S. 27), daß die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zwar grundsätzlich bedeutend, jedoch nicht formell rechtsverbindlich sei (vgl. auch BVerfGE 41, 88, 106). Ob die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als bloß programmatische Grundsatzerklärung aufgefaßt werden darf (BVerwGE 3, 171, 175; 5, 153, 160; K. Ipsen, Völkerrecht 3. Aufl. 1990 § 7 Rdn. 11), mag dahinstehen. Jedenfalls ist ihr von vornherein der Zweck beigemessen worden, die Praxis der Vereinten Nationen sowie die Rechtsentwicklung in den Mitgliedsstaaten und darüber hinaus in allen Staaten der Welt zu beeinflussen, und zwar in dem Sinne, daß sie überall als Maßstab für die Anerkennung und Durchsetzung der Menschenrechte verstanden werden soll (vgl. Partsch in Simma, Charta der Vereinten Nationen, Kommentar, 1991 Art. 55 Rdn. 23 ff; Verdross/ Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 822 f; Henkin in: Henkin [Hrsg.], The International Bill of Rights, New York 1981, S. 1, 8 f; T. Meron, Human Rights and Humanitarian Norms as Customary Law, Oxford 1989, S. 82 ff. m.w.N.). Zur Zeit der hier abgeurteilten Tat lag bereits die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs aus dem Jahre 1970 in der Sache Barcelona Traction Light and Power vor, in der die „basic rights of the human person" als Rechtsgüter bezeichnet wurden, die mit Wirkung gegen jedermann, auch gegen jeden Staat, zu schützen seien (ICJ Reports 1970, 3, 32 f.); der Internatiortale Gerichtshof hat in einer späteren Entscheidung aus dem Jahre 1980 (Teheraner Botschaftsfall) ausdrücklich auf die Rechte und Freiheiten Bezug genommen, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt sind (ICJ Reports, 1980, 3, 42; vgl. hierzu auch Frowein in: Völkerrecht als Rechtsordnung, Fest-{16}schrifì für Hermann Mosler, 1983, S. 241 ff; Dinstein, Archiv des Völkerrechts 30, 1992, S. 16 ff. und Hobe/Tietje, Archiv des Völkerrechts 32, 1994, S. 130, 139). In der Literatur mehren sich die Stimmen, die der Erklärung eine Bindungswirkung für alle Mitgliedsstaaten oder überhaupt für alle Staaten beimessen (Verdross/Simma aaO S. 822 f; Meron aaO S. 81 ff. m.w.Nachw.; Lillich in: T. Meron [Hrsg.], Human Rights in International Law, Oxford 1984, S. 115 f.). Fundamentale Menschenrechte im Sinne der UN-Charta werden zum Teil als ius cogens im Sinne des Art. 53 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (BGBl. 1985 II S. 927) verstanden (Frowein EPIL, Lieferung 7 [1984] S. 327, 329; Hobe/Tietje aaO; vgl. auch Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992, S. 284 ff; abweichend Klenner, Marxismus und Menschenrechte, 1982, S. 191, 193); andere Autoren sprechen von Völkergewohnheitsrecht (Pechota in: Henkin [Hrsg.] aaO, S. 32, 38, 408; T. Meron, Human Rights and Humanitarian Norms as Customary Law, Oxford 1989, S. 79 f f , 246 ff. m.w.Nachw.). Der Senat braucht diesen Zuordnungen nicht nachzugehen. Auch wenn die Bindungswirkung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im allgemeinen wie auch im Hinblick auf die einzelnen Menschenrechte nicht voll geklärt ist, so kommt doch der Allgemeinen Erklärung der Menschen-

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rechte jedenfalls insofern ein hohes Maß an rechtlicher Bedeutung zu, als sie den Willen der Völkerrechtsgemeinschaft, Menschenrechte zu verwirklichen, und den ungefähren Inhalt dieser Menschenrechte zum Ausdruck bringt. In diesem Sinne hat auch das Bundesverfassungsgericht auf die Allgemeine Erklärung Bezug genommen {17} (BVerfGE 31, 58, 68). Angesichts der Exaktheit, mit der die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte das fundamentale Recht auf Leben und das Recht auf freie Ausreise definiert hat, kann die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, nicht anders als der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, als eine Konkretisierung dessen aufgefaßt werden, was als die allen Völkern gemeinsame, auf Wert und Würde des Menschen bezogene Rechtsüberzeugung verstanden wird (BGHSt 39, 1, 15 f.). (3) Daß die DDR erst im Jahre 1973, also nach der hier abgeurteilten Tat, Mitglied der Vereinten Nationen geworden ist, lag, ebenso wie im Falle der Bundesrepublik Deutschland, an den besonderen Problemen, die mit der Teilung Deutschlands verbunden waren. Die DDR hat stets erklärt, sie identifiziere sich mit den Zielsetzungen der Vereinten Nationen (vgl. z.B. die im Gesetzblatt der DDR abgedruckte ausfuhrliche Erklärung des Staatsrats vom 29. April 1970, GBl. DDR I S. 63). Der Staatsrat der DDR hat am 28. Februar 1966 einen Antrag auf Aufnahme der DDR in die Vereinten Nationen gestellt (Dokumente zur Außenpolitik der DDR 1966 - Bd. XIV/1 - S. 639) und am 20. September 1968 die Bereitschaft der DDR erklärt, den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen beizutreten, deren Verwirklichung durch die Rechtsordnung der DDR in umfassender Weise garantiert werde (Dokumente zur Außenpolitik der DDR, 1969 - Bd. XVI/1 - S. 459). In der Literatur der DDR ist frühzeitig ausgeführt worden, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stehe mit der sozialistischen Grundrechtslehre weitgehend in Einklang (Poppe, Menschenrechte - eine Klassenfrage, 1971, S. 127; Poppe NJ 1968, 161 ff; vgl. auch Graefrath, Die Vereinten Nationen und die Menschenrechte, 1956, S. 67, {18} 71, 73, 83 f.). Nachdem die DDR den Vereinten Nationen beigetreten war, ist behauptet worden, daß die Menschenrechtspraxis in der DDR mit der Menschenrechtspraxis der Vereinten Nationen übereinstimme (vgl. Graefrath NJ 1973, 683, 688; 1978, 329). Der Senat übersieht nicht, daß mit solchen Äußerungen aus der DDR stets der Zusatz verbunden war, zwischen dem westlichen Verständnis der Menschenrechte und der Menschenrechtstheorie und -praxis der sozialistischen Staaten beständen erhebliche Unterschiede, die sich insbesondere aus der Betonung der sozialen Grundrechte durch das sozialistische Rechtsverständnis ergäben (Graefrath aaO; vgl. auch Klenner in: Dimensionen des Rechts, Gedächtnisschrift fur Rene Marcie, 1974, S. 793 ff.). Auch äußerten die unter dem Einfluß der Sowjetunion stehenden Staaten die Besorgnis, die Betonung der Menschenrechte könne entgegen Art. 2 Abs. 7 der Charta der Vereinten Nationen zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten fuhren (zusammenfassend Graefrath, Menschenrechte und internationale Kooperation, 1988, S. 15 ff., 29 ff., 46 ff.). Gleichwohl entnimmt der Senat den Äußerungen aus der DDR zur Frage der Menschenrechte die Aussage, der Mensch habe Lebens- und Freiheitsrechte, die der Staat zu achten habe und über die er nicht schrankenlos verfügen dürfe (vgl. auch Art. 30 der DDR-Verfassung). Dem entspricht es, daß nach Art. 91 der DDR-Verfassung die „allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts über die Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen" unmittelbar geltendes Recht sein sollten (vgl. auch das von der

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Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR herausgegebene Lehrbuch „Völkerrecht", 2. Aufl., 1981, Bd. 1, S. 244 ff.). {19} cc) Der Senat wendet nach allem die in den Entscheidungen BGHSt 39, 1, 15 ff.; 168, 183 f. dargelegten Grundsätze über die Unbeachtlichkeit von Rechtfertigungsgründen auch auf die Beurteilung der vorliegenden Tat an, die begangen worden ist, bevor sich die DDR zur Einhaltung des IPbürgR verpflichtet hatte. c) Der Senat hat in seinen Urteilen BGHSt 39, 1, 23 ff. und 39, 168, 184 f. ferner ausgeführt, daß die nach dem Recht der DDR zur Verfugung stehenden Auslegungsmethoden es ermöglicht hätten, den Rechtfertigungsgrund so auszulegen, daß Menschenrechtsverletzungen vermieden wurden. Der Senat hat insbesondere darauf hingewiesen, daß im Recht der DDR (z.B. in Art. 30 Abs. 2 Satz 2 der DDR-Verfassung) Ansatzpunkte für eine Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes enthalten sind; der Rechtfertigungsgrund hätte in der Weise einschränkend ausgelegt werden können, daß der Tod eines Menschen nicht durch das staatliche Interesse aufgewogen werde, das unerlaubte Überschreiten der innerdeutschen Grenze zu verhindern. Daran hält der Senat auch in der vorliegenden Sache fest; Ausprägungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, wie sie der Senat früher in § 26 Abs. 2 und § 27 Abs. 1 des Grenzgesetzes von 1982 gefunden hatte (BGHSt 39, 1, 23 ff.), waren zur Zeit der hier in Rede stehenden Tat in § 16 Abs. 2 und § 17 Abs. 1, 4 des Volkspolizeigesetzes enthalten. In seiner Forderung, bei der Beurteilung des Grenzsoldaten nicht die der damaligen Staatspraxis entsprechende, sondern eine an den Menschenrechten orientierte Auslegung des Rechtfertigungsgrundes zugrunde zu legen, hat der Senat keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG gesehen (BGHSt 39, 1, 26 ff; 39, 168, 185). Er hat hinzugefugt, daß im übrigen im Ergebnis nichts anderes gelten könnte, wenn ein ge-{20}setzlicher Rechtfertigungsgrund, der gleich gewichtigen Einwendungen ausgesetzt ist, überhaupt keiner Auslegung zugänglich wäre, die sich an den Menschenrechten orientiert (BGHSt 39, 1, 30). Der Senat hält an seiner Auffassung fest, und zwar auch unter Berücksichtigung der auf Art. 103 Abs. 2 GG bezogenen kritischen Stellungnahmen im Schrifttum, die seit seiner Entscheidung BGHSt 39, 168 veröffentlicht worden sind (u.a. Jakobs GA 1994, 1 ; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig/Herzog, Kommentar zum Grundgesetz, Lieferung 30 [1992], Art. 103 Abs. II, Rdn. 255; vgl. auch Alexy, Mauerschützen: Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, 1993). d) Im Ergebnis hat der Tatrichter hiernach zutreffend angenommen, daß das Verhalten der Angeklagten nicht gerechtfertigt war, weil der vom DDR-Recht zur Verfügung gestellte Rechtfertigungsgrund einschränkend, nämlich menschenrechtsfreundlich, ausgelegt werden mußte und deswegen die Tötung des unbewaffneten Flüchtlings, der lediglich von einem Teil Berlins in den anderen schwimmen wollte, rechtswidrig war.9 3. Die sachlichrechtliche Nachprüfung ergibt auch keinen Rechtsfehler insoweit, als der Tatrichter schuldhaftes Handeln der Angeklagten angenommen hat. Der Tatrichter hat ohne Rechtsverstoß ausgeführt, der Befehl, Grenzverletzer, soweit notwendig, zu „vernichten", habe im Sinne des § 5 WStG und des § 258 Abs. 1 StGB-DDR gegen das Strafrecht verstoßen. Er hat nicht angenommen, daß der Beschwerdeführer diesen Verstoß erkannt hat; er ist jedoch der Auffassung, daß im vorliegenden Fall der Strafrechtsverstoß im Sinne des § 5 Abs. 1 WStG und des § 258 Abs. 1 StGB-DDR offensichtlich gewesen ist. Das ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Hierzu verweist der {21}

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Senat aufseine Ausführungen in BGHSt 39, 1, 32 ff; 39, 168, 189 f. Der Umstand, daß zur Tatzeit der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte noch nicht in Kraft getreten war, gab dem Tatrichter keinen Anlaß, die Frage der Offensichtlichkeit anders zu bewerten. Ersichtlich waren weder der Beitritt der DDR zum IPbürgR noch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Gegenstand der Unterrichtung von Grenzsoldaten der DDR. Entscheidend ist, daß „die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer unter den gegebenen Umständen ein derart schreckliches und jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogenes Tun war, daß der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig, also offensichtlich war" (BGHSt 39, 1, 34; 39, 168, 190). Die Urteilsausführungen zur Schuld des Angeklagten halten auch insoweit der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand, als der Tatrichter das Vorliegen eines entschuldigenden Notstandes sowie eines unvermeidbaren Verbotsirrtums verneint hat (UA S. 35, 36). Die Ausführungen zum Verbotsirrtum und seiner Vermeidbarkeit stehen im Einklang mit den Gesichtspunkten, die der Senat in seiner Entscheidung BGHSt 39, 168, 188, 190 ff. dargelegt hat. {22} 4. Schließlich weist auch die Strafbemessung keinen Rechtsfehler auf. Die Bemessung der Freiheitsstrafe und ihre Aussetzung steht im Einklang mit den Erwägungen des Senats in gleichgelagerten Fällen (vgl. BGHSt 39, 1, 35 f; 39, 168, 193; Senatsurteil vom 19. April 1994 - 5 StR 204/93 - , zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt10).

Anmerkungen 1

2 3 4 5 6 7 8 9

10

Gegen das Urteil des Bundesgerichtshof legte W. Verfassungsbeschwerde ein. Diese wurde vom Bundesverfassungsgericht jedoch mit Beschluss vom 24.10.1996 - Az. 2 BvR 1852/94 - zurückgewiesen. Sie ist unter lfd. Nr. 15-3 abgedruckt. Mittlerweile veröffentlicht in BGHSt 40, 113. Vgl. lfd. Nr. 7-4. Mittlerweile veröffentlicht in BGHSt 40,48. Vgl. lfd. Nr. 11-2. Vgl. lfd. Nr. 2-2. Vgl. lfd. Nr. 10-2. Vgl. lfd. Nr. 2-2. Vgl. lfd. Nr. 1-2. Vgl. lfd. Nr. 15-2. In seinem Urteil vom 20.3.1995 - Az. 5 StR 111/94 - hat der BGH seine Ausführungen zur Rechtswidrigkeit bei vor der Geltung des Grenzgesetzes und des IPbpR begangenen Taten konkretisiert (vgl. lfd. Nr. 4-2). Vgl. Anm. 2.

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Inhaltsverzeichnis Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 22.3.2001, Beschwerde Nr. 37201/97 Verfahren

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Sachverhalt

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I.

Die Umstände des Falles

189

II.

Einschlägiges innerstaatliches und internationales Recht

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III. Der bundesrepublikanische Vorbehalt zu Art. 7 II EMRK Rechtliche Würdigung I.

II.

189 190

Behauptete Verletzung von Art. 7 I EMRK A. Vortrag der Beteiligten 1. Der Beschwerdeführer 2. Die Regierung B. Beurteilung durch den Gerichtshof 1. Allgemeine Grundsätze 2. Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall a) Innerstaatliches Recht i) Die Rechtsgrundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers ii) Rechtfertigungsgründe nach dem Recht der DDR iii) Rechtfertigungsgründe nach der Staatspraxis der DDR iv) Vorhersehbarkeit der Verurteilungen b) Völkerrecht i) Anwendbare Vorschriften ii) Völkerrechtlicher Schutz des Rechts auf Leben iii) Völkerrechtlicher Schutz der Freizügigkeit iv) Die Verantwortlichkeit der DDR und die persönliche Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers c) Die Frage der Verjährung d) Ergebnis

201 201 202

Behauptete Verletzung von Art. 1 EMRK

203

Zustimmendes Votum des Richters Loucaides

190 190 190 190 191 191 192 192 192 193 195 196 199 199 199 200

204

Zustimmendes Votum des Richters Sir Nicolas Bratza, dem sich Richterin Vajic angeschlossen hat

205

Teilweise abweichendes Votum des Richters Cabrai Barreto

207

Teilweise abweichendes Votum des Richters Pellonpää, dem sich der Richter Zupancic angeschlossen hat

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Anmerkungen

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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde Nr. 37201/97

22. März 2001

URTEIL1 In der Sache K.-H. W. gegen Deutschland, hat die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der folgende Richterinnen und Richter angehörten: Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® in nichtöffentlicher Sitzung am 8. November 2000 und am 14. Februar 2001, am letztgenannten Tag fur Recht erkannt:

Verfahren Nr. 1-9: Es folgen Ausführungen zum Verfahrensgang und zu den Verfahrensbeteiligten. ®

Sachverhalt I.

Die Umstände des Falles

Nr. 10-20: Es folgen Ausführungen zum allgemeinen Tathintergrund sowie zu den Verfahren vor den deutschen Gerichten, vgl. hierzu lfd. Nr. 3-1 bis 3-3. ®

II. Einschlägiges innerstaatliches und internationales Recht ® Nr. 21-39: Es folgen Ausführungen zum anzuwendenden Recht, u.a. dem Einigungsvertrag, dem DDR-Recht zur Tatzeit, dem Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte sowie zum bundesrepublikanischen Recht. ®

III. Der bundesrepublikanische

Vorbehalt zu Art. 7 II EMRK

40. Die Ratifizierungsurkunde der EMRK, die von der deutschen Regierung am 13.11.1952 hinterlegt wurde, enthielt einen Vorbehalt und eine Erklärung mit folgendem Wortlaut: „Gemäß Art. 64 der Konvention [Art. 57 seit Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11] erklärt die Bundesrepublik Deutschland den Vorbehalt, dass sie die Bestimmung des Art. 7 Abs. 2 der Konvention nur in den Grenzen des Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deuschland anwenden wird. Die letztgenannte Vorschrift lautet wie folgt: ,Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.' Der Geltungsbereich der Konvention erstreckt sich auch auf Berlin (West)."

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Rechtliche Würdigung I.

Behauptete Verletzung von Art.

71EMRK

41. Der Beschwerdeführer meint, die ihm zur Last gelegte Tat sei zur Tatzeit nach dem Recht der ehemaligen DDR oder dem Völkerrecht keine Straftat gewesen und daher habe seine Verurteilung durch die deutschen Gerichte gegen Art. 7 I EMRK verstoßen, der wie folgt lautet: „Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden."

A.

Vortrag der Beteiligten

1. Der Beschwerdeführer 42. Der Beschwerdeführer trägt vor, seine Verurteilung nach der Wiedervereinigung Deutschlands sei nicht vorhersehbar gewesen und er sei im Übrigen nie in der DDR strafrechtlich verfolgt worden. Selbst die deutschen Gerichte hätten anerkannt, dass er seinerzeit deshalb nicht verfolgt worden sei, weil die Tat, die ihm vorgeworfen worden ist, nach dem Strafrecht der DDR angesichts des Wortlauts von § 17 II VolkspolizeiG keine Straftat gewesen sei. Er habe zur Tatzeit entsprechend der gegebenen Befehlslage gehandelt, als er nach Anruf als „letztes Mittel zur Verhinderung eines Grenzdurchbruchs" auf den Flüchtling geschossen habe. Im Übrigen hätten ganz allgemein die Grenzsoldaten nicht wissen können, ob es sich bei den Flüchtlingen um Straftäter oder um Personen handelte, die nur die DDR hätten verlassen wollen. Die Auslegung a posteriori des Strafgesetzes der DDR durch die Gerichte des wiedervereinigten Deutschlands stütze sich auf keinerlei Rechtsprechung der Gerichte der DDR und sei für ihn zur Tatzeit unmöglich vorherzusehen gewesen. Stattgefunden habe daher nicht eine schrittweise Entwicklung bei der Auslegung des Rechts der DDR, vielmehr sei der von ihm geltend gemachte Rechtfertigungsgrund rundum abgelehnt worden und zwar mit der Begründung, er widerspräche dem Grundgesetz der Bundesrepublik (Radbruch'sche Formel des gesetzlichen Unrechts). Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die Tat, um die es gehe, sei auch nach Völkerrecht keine Straftat. Außerdem sei in der Mehrheit der Staaten der Zugang zur Grenze verboten oder streng reglementiert und der Gebrauch der Schusswaffe durch Grenzwächter erlaubt, wenn von ihnen gestellte Personen auf Anruf nicht reagieren. 2. Die Regierung 43. Die Regierung meint, der Beschwerdeführer hätte wie jeder andere Bürger der DDR ohne Weiteres erkennen können, dass sich das Grenzregime der DDR mit seiner beispiellosen technischen Perfektion und seinem rücksichtslosen Gebrauch der Schusswaffe gegen Menschen richtete, denen auf Grund einer die Ausreise regelmäßig und ohne Begründung versagenden Verwaltungspraxis verwehrt worden sei, aus der DDR in den westlichen Teil Deutschlands und insbesondere Berlins zu reisen. Daher wäre es ihm auch möglich gewesen zu erkennen, dass die Tötung von unbewaffneten Flüchtlingen,

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die keine Bedrohung für irgendjemanden dargestellt hätten, nach den gesetzlichen Vorschriften trotz der gegenteiligen Staatspraxis der DDR strafrechtlich verfolgt werden konnten. Insbesondere sei es für jedermann vorhersehbar gewesen, dass im Falle einer Änderung der politischen Verhältnisse in der DDR solche Taten als strafbar angesehen werden könnten. Dies gelte besonders fur Deutschland als geteilten Staat, angesichts der familiären und anderen Bindungen über die Grenze hinweg. Die deutschen Gerichte hätten eine legitime Auslegung des Rechts der DDR vorgenommen. Bei richtiger Anwendung ihrer eigenen einschlägigen Rechtsvorschriften, unter Berücksichtigung der nach Ratifikation des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen der DDR-Staatsorgane und der allgemeinen menschenrechtlichen Grundsätze, darunter insbesondere der Schutz des Rechts auf Leben, hätten die DDR-Gerichte ihre Rechtsvorschriften ebenso auslegen müssen. Dabei komme es nicht darauf an, ob der Internationale Pakt in die DDR-Gesetzgebung umgesetzt worden ist oder nicht. B. Beurteilung durch den Gerichtshof 1. Allgemeine Grundsätze 44. Zunächst wiederholt der Gerichtshof die Grundsätze seiner Rechtsprechung zur Auslegung und Anwendung innerstaatlichen Rechts. Nach Art. 19 EMRK hat der Gerichtshof die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Vertragsstaaten mit der Konvention übernommen haben. Indessen ist es nicht seine Aufgabe, sich mit Tatsachen- oder Rechtsfehlern zu befassen, die ein staatliches Gericht angeblich begangen hat, es sei denn, ein solcher Fehler könnte von der EMRK geschützte Rechte und Freiheiten verletzen (s. unter vielen anderen Entscheidungen EGMR, 1988, Serie A, Bd. 140, S. 29 Nr. 45 - Schenk/Schweiz). Außerdem ist es vorrangig Aufgabe der staatlichen Behörden, insbesondere der Gerichte, innerstaatliches Recht auszulegen und anzuwenden (s. mutatis mutandis EGMR, Slg. 1998-11, S. 541 Nr. 59 - Kopp/Schweiz). 45. Weiterhin wiederholt der Gerichtshof die Grundsätze seiner Rechtsprechung zu Art. 7 EMRK, wie sie insbesondere in seinen Urteilen S.W./Vereinigtes Königreich und C.R./Vereinigtes Königreich (EGMR, 1995, Serie A, Bd. 335, S. 41-42 Nr. 34-36 bzw. S. 68-69 Nr. 32-34) Ausdruck gefunden haben: „Die in Art. 7 EMRK verankerte Garantie, die wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist, nimmt einen herausragenden Platz im Schutzsystem der EMRK ein, wie es die Tatsache unterstreicht, dass Art. 15 EMRK davon im Falle eines Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstandes keine Abweichung zulässt. Wie Ziel und Zweck der Bestimmung ergeben, ist diese Garantie so auszulegen und anzuwenden, dass sie wirksamen Schutz gegen willkürliche Strafverfolgung, Verurteilung und Bestrafung gewährleistet. Daher beschränkt sich Art. 7 EMRK, wie der Gerichtshof in seinem Urteil Kokkinakis/Griechenland vom 25.5.1993 (EGMR, 1993, Bd. 260, S. 22 Nr. 52) festgestellt hat, nicht darauf, die rückwirkende Anwendung des Strafgesetzes zu Ungunsten eines Angeklagten zu verbieten: Er beinhaltet auch ganz allgemein den Grundsatz, dass nur das Gesetz einen Straftatbestand bestimmen und eine Strafe androhen darf (nullum crimen, nulla poena sine lege), sowie den Grundsatz, dass das Strafgesetz nicht zu Lasten eines Angeklagten extensiv ausgelegt werden darf, etwa durch analoge Anwendung. Daraus folgt, dass ein Straftatbestand eindeutig vom Gesetz festgelegt sein muss. In seinem vorgenannten Urteil hat der Gerichtshof hinzugefugt, die-

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sem Erfordernis sei Genüge getan, wenn der Einzelne dem Wortlaut der jeweiligen Vorschrift und, soweit erforderlich, mit Hilfe der Auslegung durch die Gerichte, zu entnehmen vermag, für welche Handlungen und Unterlassungen er strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Der Gerichtshof hat damit klargestellt, dass der Begriff ,Recht' (.droit'/,law') in Art. 7 EMRK dem Begriff,Gesetz' (,loi'/,law') entspricht, der sich in anderen Artikeln der EMRK findet, ein Begriff, der sowohl geschriebenes als auch ungeschriebenes Recht umfasst und qualitative Anforderungen einschließt, insbesondere an die Zugänglichkeit und die Vorhersehbarkeit (s. EGMR, 1995, Serie A, Bd. 316, S. 71-72 Nr. 37 - Tolstoy Miloslavsky/Vereinigtes Königreich). Wie eindeutig auch immer eine gesetzliche Vorschrift in einem Rechtssystem gefasst sein mag, das Strafrecht eingeschlossen, es bleibt doch unvermeidlich Raum für richterliche Auslegung. Immer wird es notwendig sein, Zweifelsfragen zu klären und die Vorschrift an sich verändernde Umstände anzupassen. Außerdem gehört es festverankert zur Rechtstradition ... der ... Konventionsstaaten, dass die Rechtsprechung als Rechtsquelle zwangsläufig zur Fortentwicklung des Strafrechts beiträgt. Art. 7 EMRK kann nicht dahin verstanden werden, dass er die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch richterliche Auslegung von Fall zu Fall ausschlösse, vorausgesetzt, die Entwicklung ist im Ergebnis mit dem Wesen des Straftatbestandes vereinbar und ausreichend vorhersehbar."

2. Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall 46. Im Lichte dieser Grundsätze zum Umfang seiner Prüfung betont der Gerichtshof, dass es nicht seine Aufgabe ist, über die persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers zu entscheiden - die Beurteilung dieser Frage ist vorrangig Sache der staatlichen Gerichte. Der Gerichtshof hat vielmehr unter dem Gesichtspunkt von Art. 7 I EMRK zu prüfen, ob die Handlungen des Beschwerdeführers zur Tatzeit Straftaten waren, die nach dem Recht der ehemaligen DDR oder nach Völkerrecht ausreichend zugänglich und vorhersehbar bestimmt waren. 47. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof auf die Besonderheit dieses Falles hin, der im Zusammenhang der Nachfolge von zwei Staaten mit unterschiedlichen Rechtssystemen zu sehen ist und in dem nach der Wiedervereinigung die deutschen Gerichte den Beschwerdeführer wegen eines Verbrechen verurteilten, das er als DDR-Grenzsoldat begangen hatte.

a) Innerstaatliches Recht i)

Die Rechtsgrundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers

48. Das LG Berlin verurteilte den Beschwerdeführer zunächst nach dem zur Tatzeit in der DDR geltenden Strafrecht (§113 StGB-DDR) wegen Totschlags (...). Das LG warf ihm vor, in der Nacht vom 14. zum 15.2.1972 zusammen mit einem anderen Grenzsoldaten fünf Feuerstöße abgegeben und dadurch den Tod eines Flüchtlings verursacht zu haben, der schwimmend Ost-Berlin zu verlassen versucht hatte. Das LG verwarf die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, die er auf Recht und Praxis der DDR gestützt hatte sowie auf den Umstand, dass er auf Befehl gehandelt habe. Dann wandte das LG das Strafrecht der Bundesrepublik als das mildere Gesetz an und bestrafte den Beschwerdeführer wegen Totschlags mit 1 Jahr

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und 10 Monaten Jugendstrafe, wobei es die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aussetzte2 (...). Der BGH 3 bestätigte die Verurteilung; das BVerfG 4 sah sie als verfassungsgemäß an (...) 49. Die deutschen Gerichte wandten also den im Einigungsvertrag vom 31.8.1990 und im Einigungsvertragsgesetz vom 23.9.1990 niedergelegten Grundsatz an, dass für Straftaten, die Bürger der DDR innerhalb des Staatsgebiets der DDR begangen haben, das Recht der DDR zur Anwendung kommt und das Recht der Bundesrepublik nur angewendet wird, wenn es milder als das der DDR ist (lex mitius -...). 50. Die Rechtsgrundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers war daher das zur Tatzeit geltende Strafrecht der DDR, und die Strafen entsprachen grundsätzlich denen, die in den einschlägigen Rechtsvorschriften der DDR hier vorgesehen waren; die gegen den Beschwerdeführer letztlich verhängten Strafen lagen sogar darunter, weil der Grundsatz der Anwendung des milderen Gesetzes - hier das Gesetz der Bundesrepublik - zum Tragen gekommen war. ii) Rechtfertigungsgründe nach dem Recht der DDR 51. Der Beschwerdeführer macht jedoch geltend, er habe wegen der Rechtfertigungsgründe aus § 17 II VolkspolizeiG i.V. mit § 213 StGB-DDR (...) in Übereinstimmung mit dem Recht der DDR gehandelt und sei deswegen auch niemals in der DDR strafrechtlich verfolgt worden. 52. Da der Begriff „Recht" in Art. 7 I EMRK sowohl geschriebenes als auch ungeschriebenes Recht umfasst, hat der Gerichtshof zunächst die Vorschriften des geschriebenen Rechts der DDR zu prüfen, bevor er sich der Frage zuwendet, ob die Auslegung jener Vorschriften durch die deutschen Gerichte mit Art. 7 I EMRK in Einklang steht. Dabei hat er unter dem Blickwinkel von Art. 7 I EMRK auch die Staatspraxis der DDR zu untersuchen, welche die damalige Gesetzeslage überlagert hatte. 53. Da es zu der fraglichen Tat im Jahre 1972 gekommen ist, gehören zu dem zur Tatzeit anwendbaren geschriebenen Recht insbesondere das StGB-DDR von 1968, das VolkspolizeiG von 1968 sowie die Verfassung der DDR von 1968. 54. Es ist richtig, dass § 17 II VolkspolizeiG den Gebrauch der Schusswaffe rechtfertigte, „um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt" oder „zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtigt sind". § 1 III i.V. mit § 213 III StGB-DDR 5 , der die schweren Fälle des ungesetzlichen Grenzübertritts aufzählte, ergab, dass ein solcher Grenzübertritt insbesondere dann ein Verbrechen darstellte, wenn er „durch Beschädigung der Grenzsicherungsanlagen" oder durch „Mitführen von Waffen" durchgeführt wurde, „durch Missbrauch oder Fälschung von Ausweispapieren erfolgte" oder „wenn die Tat von einer Gruppe begangen (wurde)". 55. § 17 VolkspolizeiG zählte somit abschließend die Voraussetzungen auf, unter denen der Gebrauch der Schusswaffe erlaubt war, und sah außerdem in seinem Abs. 4 vor: „Bei der Anwendung von Schusswaffen ist das Leben von Personen nach Möglichkeit zu schonen. Verletzten ist ... Erste Hilfe zu erweisen". Außerdem stellte § 119 StGB-DDR die Verletzung der Pflicht zur Hilfeleistung unter Strafe (...).

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56. Diese Vorschriften, die also ausdrücklich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Grundsatz, dass Menschenleben zu schützen ist, beinhalteten, sind auch im Lichte der in der Verfassung der DDR selbst verankerten Grundsätze zu sehen. Art. 89 III DDR-Verfassung besagte: „Rechtsvorschriften dürfen der Verfassung nicht widersprechen." In Art. 19 II hieß es: „Achtung und Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit sind Gebot fur alle staatlichen Organe, alle gesellschaftlichen Kräfte und jeden einzelnen Bürger". Schließlich legte Art. 30 I und II fest: „Die Persönlichkeit und Freiheit jedes Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik sind unantastbar" und „Rechte ... (der) Bürger (dürfen) nur insoweit eingeschränkt werden, als dies gesetzlich zulässig und unumgänglich ist" (...). 57. Außerdem sah das 1. Kapitel des Besonderen Teils des StGB-DDR vor: „Die unnachsichtige Bestrafung von Verbrechen gegen ... den Frieden, die Menschlichkeit, die Menschenrechte ... ist unabdingbare Voraussetzung für eine stabile Friedensordnung in der Welt und für die Wiederherstellung des Glaubens an grundlegende Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Person und für die Wahrung der Rechte jedes einzelnen" (...).

58. Im vorliegenden Fall haben die deutschen Gerichte den Beschwerdeführer verurteilt, weil er mehrere Feuerstöße auf einen Flüchtling abgegeben hatte, der versuchte, die Grenze zwischen den zwei deutschen Staaten schwimmend zu überwinden. Der Flüchtling war unbewaffnet, stellte für niemanden eine Bedrohung dar und wollte lediglich die DDR verlassen, da damals eine legale Ausreise für den normalen Bürger, abgesehen von Rentnern und einigen Privilegierten, so gut wie unmöglich war (s. die Vorschriften der DDR über die Ausgabe von Pässen und Visa - ...). Sein Versuch, über die Grenze zu gelangen, wenngleich nach dem Recht der DDR verboten, konnte daher nicht als Verbrechen eingestuft werden, da dieser versuchte Grenzübertritt nicht zur Kategorie der schweren Fälle in § 213 III StGB-DDR6 gehörte. 59. Im Lichte der obigen Grundsätze, wie sie sich in der Verfassung und in den anderen gesetzlichen Regelungen der DDR finden, ist der Gerichtshof daher der Meinung, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers durch die deutschen Gerichte, die jene Vorschriften ausgelegt und auf die fraglichen Fälle angewendet haben, auf den ersten Blick weder willkürlich war noch gegen Art. 7 I EMRK verstoßen hat. 60. Es ist richtig, dass die deutschen Gerichte unterschiedliche Erwägungen zur Auslegung der Rechtfertigungsgründe angestellt haben, die vom Beschwerdeführer insbesondere auf der Grundlage von § 17 II VolkspolizeiG geltend gemacht worden waren. So hat das LG Berlin entschieden, diese Rechtfertigungsgründe kämen im vorliegenden Fall nicht zum Tragen, weil der versuchte Grenzübertritt von Herrn Weylandt nicht als Verbrechen i.S. von §§ 1 III, 213 III StGB-DDR angesehen werden könne (...). Der BGH hat gemeint, die Rechtfertigungsgründe im Recht der DDR hätten einschränkend und menschenrechtsfreundlich ausgelegt werden müssen und deswegen sei die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings, der lediglich von einem Teil Berlins in den anderen habe schwimmen wollen, rechtswidrig (...). Das BVerfG hat schließlich festgestellt: „in dieser ganz besonderen Situation untersagt das Gebot materieller Gerechtigkeit, das auch die Achtung der völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte aufnimmt, die Anwendung eines solchen Rechtfertigungsgrundes. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 II GG muss dann

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zurücktreten. Anderenfalls würde die Strafrechtspflege der Bundesrepublik zu ihren rechtsstaatlichen Prämissen in Widerspruch geraten" (...).

61. Da jedoch Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts vorrangig Sache der staatlichen Gerichte ist, hat sich der Gerichtshof zu diesen unterschiedlichen Erwägungen, welche die rechtlichen Schwierigkeiten dieses Falles deutlich machen, nicht zu äußern. Für den Gerichtshof genügt es, sich davon zu überzeugen, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte im Ergebnis mit der Konvention und insbesondere mit Art. 7 I EMRK vereinbar sind.

iii) Rechtfertigungsgründe nach der Staatspraxis der DDR 62. Da der Begriff „Recht" in Art. 7 I EMRK auch das ungeschriebene Recht einschließt, hat der Gerichtshof, bevor er weiter auf die Begründetheit der Beschwerde eingeht, die Staatspraxis der DDR zu untersuchen, welche das geschriebene Recht damals überlagerte. 63. In diesem Zusammenhang ist daraufhinzuweisen, dass der Beschwerdeführer zur Tatzeit in der DDR nicht wegen der Straftat verfolgt worden ist. Der Grund dafür liegt in dem Widerspruch zwischen den in der Verfassung und in der Gesetzgebung der DDR niedergelegten Grundsätzen, die weitgehend denen eines Rechtsstaates entsprachen, einerseits, und der repressiven Handhabung des Grenzregimes der DDR und den zur Sicherung der Grenze erlassenen Befehlen andererseits. 64. Um dem endlosen Flüchtlingsstrom Einhalt zu gebieten, baute die DDR am 13.8.1961 die Berliner Mauer und verstärkte alle Sicherungseinrichtungen entlang der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten durch Verlegung von Minen und den Einbau von Selbstschussanlagen. Zusätzlich zu diesen Maßnahmen wurde den Angehörigen der Grenztruppen befohlen, „Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, Grenzverletzer vorläufig festzunehmen oder zu vernichten und den Schutz der Staatsgrenze unter allen Bedingungen zu gewährleisten". Im Fall einer geglückten Flucht über die Grenze hatten die diensttuenden Grenzsoldaten mit strafrechtlichen Ermittlungen durch die Militärstaatsanwaltschaft zu rechnen; bei Verhinderung einer Flucht konnten sie eine Belobigung erwarten (...). 65. Wie die deutschen Gerichte festgestellt haben, wurden die erwähnten Maßnahmen und Befehle unbestritten von den in Art. 73 DDR-Verfassung genannten Regierungsorganen der DDR beschlossen (...), nämlich dem Staatsrat und dem Nationalen Verteidigungsrat. 66. In seinem Urteil Streletz, Keßler und Krenz/Deutschland vom 22.3.2001 7 hat der Gerichtshof entschieden, dass obwohl es das Ziel der von den Beschwerdeführer durchgesetzten Staatspraxis war, die Grenze zwischen den zwei deutschen Staaten „unter allen Bedingungen" zu schützen, um die Existenz der DDR zu sichern, die durch die Massenflucht ihrer eigenen Bevölkerung bedroht war, die hier geltend gemachte Staatsraison ihre Grenzen in der Verfassung und in der Gesetzgebung der DDR selbst finden muss; sie hat vor allem das unerlässliche Gebot zu beachten, Menschenleben zu schützen, wie sie die Verfassung der DDR, das VolkspolizeiG und das GrenzG festlegten, wobei zu berücksichtigen ist, dass das Recht auf Leben zur Tatzeit bereits international den obersten Rang in der Wertehierarchie der Menschenrechte einnahm (s.u. Nr. 96). 195

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67. Der Gerichtshof ist der Meinung, dass die Verwendung von Minen und Selbstschussanlagen angesichts ihrer automatischen und blinden Wirkung sowie die kategorische Art der Befehle an die Grenztruppen, „Grenzverletzer ... zu vernichten und den Schutz der Staatsgrenze unter allen Bedingungen zu gewährleisten", offensichtlich die in Art. 19 und 30 DDR-Verfassung verankerten Grundrechte verletzt haben, die im Wesentlichen durch das StGB der DDR (§213) sowie durch die nachfolgenden Gesetze über die Grenze der DDR (§ 17 II VolkspolizeiG von 1968 und § 27 II GrenzG von 1982) bekräftigt wurden. Diese Staatspraxis verstieß auch gegen die Verpflichtung, die Menschenrechte zu wahren und die anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen der DDR einzuhalten, die am 8.11.1974 den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert hatte, in dem das Recht auf Leben und auf Freizügigkeit ausdrücklich anerkannt werden (...); dabei ist zu berücksichtigen, dass es für normale Bürger so gut wie unmöglich war, die DDR legal zu verlassen. Wenngleich Minen und Selbstschussanlagen ab ungefähr 1984 nicht mehr eingesetzt wurden, blieben die Befehle an die Grenztruppen bis zum Fall der Berliner Mauer im November 1989 unverändert. iv) Vorhersehbarkeit der Verurteilungen 68. Der Beschwerdeführer wendet jedoch ein, er sei als Grenzsoldat das letzte Glied in einer militärischen Befehlskette gewesen und habe stets den Befehlen gehorcht, die man ihm erteilt habe. Seine Verurteilung durch die deutschen Gerichte sei also nicht vorhersehbar gewesen und für ihn sei es völlig unmöglich gewesen vorherzusehen, dass er sich eines Tages wegen veränderter Umstände vor einem Strafgericht zu verantworten haben würde. 69. Dieses Argument verdient bedacht zu werden. 70. In seinem Urteil Streletz, Keßler und Krenz/Deutschland (ebd., Nr. 78) hat der Gerichtshof die eindeutige Verantwortlichkeit der früheren Repräsentanten der DDR für die bewusste Einrichtung und Aufrechterhaltung einer Staatspraxis betont, von der sie wussten oder wissen mussten, dass sie offensichtlich die Grundsätze der Gesetzgebung ihres eigenen Landes sowie die völkerrechtlich geschützten Menschenrechte verletzte. Diese Begründung lässt sich hier jedoch nicht einfach übernehmen. 71. Tatsächlich war der Beschwerdeführer als junger Soldat - damals 20 Jahre alt im Dienst an der Grenze zwischen den zwei deutschen Staaten der Indoktrinierung der jungen Rekruten der Volksarmee ausgesetzt gewesen, hatte den Befehlen seiner Vorgesetzten zu gehorchen, die ihn angewiesen hatten, die Grenze „unter allen Bedingungen" zu schützen, und riskierte die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen durch die Militärstaatsanwaltschaft bei geglücktem Grenzübertritt eines Flüchtlings (...). 72. Daher stellt sich im vorliegenden Fall die Frage, inwieweit der Beschwerdeführer als einfacher Soldat wusste oder wissen musste, dass das Schießen auf Personen, die lediglich die Grenze überschreiten wollten, nach dem Recht der DDR eine Straftat war. 73. Dazu erinnert der Gerichtshof zunächst daran, dass die geschriebenen Texte jedermann zugänglich waren: Es handelte sich um die Verfassung und das StGB der DDR und nicht um obskure Verordnungen. Das Wort „niemand kann sich auf Unkenntnis des Gesetzes berufen", gilt auch für den Beschwerdeführer. 196

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74. Außerdem hatte sich der Beschwerdeführer freiwillig auf drei Jahre bei der Volksarmee verpflichtet. Jeder Bürger der DDR aber kannte die restriktive Politik des Staates im Bereich der Freizügigkeit, die Art des Grenzregimes, den Wunsch der Mehrheit der Bevölkerung auszureisen sowie den Umstand, dass einige Bürger, „Republikflüchtlinge" genannt, mit allen Mitteln versuchten, ans Ziel zu kommen. Der Beschwerdeführer wusste also oder musste wissen, dass die Verpflichtung zum Wehrdienst auf drei Jahre ein Treuebekenntnis gegenüber dem bestehenden Regime beinhaltete und die Möglichkeit einschloss, an die Grenze abkommandiert zu werden, wo er in die Lage kommen könnte, auf unbewaffnete Flüchtlinge schießen zu müssen. 75. Außerdem kann sich nach Auffassung des Gerichtshofs auch ein einfacher Soldat nicht voll und blindlings auf Befehle berufen, die offensichtlich nicht nur die ureigenen Rechtsgrundsätze der DDR, sondern auch die völkerrechtlich geschützten Menschenrechte verletzten, insbesondere das Recht auf Leben, das den obersten Rang in der Wertehierarchie der Menschenrechte einnimmt. 76. Auch wenn sich der Beschwerdeführer angesichts der zur Tatzeit in der DDR bestehenden politischen Verhältnisse vor Ort in einer besonders schwierigen Lage befunden hat, konnten Befehle der genannten Art das Schießen auf unbewaffnete Personen, die lediglich das Land zu verlassen suchten, nicht rechtfertigen. 77. So sah schon § 95 StGB-DDR in seiner Fassung von 1968 vor: „Auf Gesetz, Befehl oder Anweisung kann sich nicht berufen, wer in Missachtung der Grund- und Menschenrechte ... handelt; er ist strafrechtlich verantwortlich" (...). 78. Ebenso bestimmte § 258 StGB-DDR: „Eine Militärperson ist für eine Handlung, die sie in Ausführung des Befehls eines Vorgesetzten begeht, strafrechtlich nicht verantwortlich, es sei denn, die Ausführung des Befehls verstößt offensichtlich gegen die anerkannten Normen des Völkerrechts oder gegen Strafgesetze" (...).

79. Im Übrigen gehörte zu den Grundsätzen, welche die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1946 in ihrer Entschließung 95 (I) unter der Bezeichnung „Nürnberger Prinzipien" festgeschrieben hatte, der Folgende: „Ein Befehl befreit nicht ... von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, kann aber zur Verhängung einer milderen Strafe führen, wenn das Gericht der Ansicht ist, dass die Gerechtigkeit es verlangt". 80. Der Gerichtshof stellt fest, dass die deutschen Gerichte die Strafmilderungsgründe zu Gunsten des Beschwerdeführer genau geprüft haben, bevor sie entschieden, dass „die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer unter den gegebenen Umständen ein derart schreckliches und jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogenes Tun war, dass der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne Weiteres einsichtig, also offensichtlich war" (...).

81. Außerdem haben die Gerichte die Unterschiede hinsichtlich der Verantwortlichkeit zwischen den früheren Repräsentanten der DDR und dem Beschwerdeführer bei der Strafzumessung angemessen berücksichtigt, indem sie die ersteren zu Gefängnisstrafen verurteilt haben (Urteil im Fall Streletz, Keßler und Krenz, Nr. 53), den Beschwerdeführer aber zu einer Gefängnisstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde (...). 82. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer in der DDR nicht strafrechtlich verfolgt worden war, sondern von den deutschen Gerichten auf der Grundlage der zur Tat-

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zeit in der DDR anwendbaren Rechtsvorschriften erst nach der Wiedervereinigung verfolgt und bestraft worden ist, bedeutet außerdem keineswegs, dass seine Tat nicht eine Straftat nach dem Recht der DDR gewesen sei. 83. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass sich das Problem, das Deutschland nach der Wiedervereinigung wegen seines Verhaltens gegenüber Personen, die unter einem früheren Regime Verbrechen begangen haben, zu lösen hatte, auch in zahlreichen anderen Staaten in der Übergangsphase hin zu einer Demokratie gestellt hat. 84. Der Gerichtshof hält es fur legitim, dass ein Rechtsstaat strafrechtliche Ermittlungen gegen Personen führt, die unter einem früheren Regime Straftaten begangen haben. Ebenso kann man den Gerichten eines solchen Staates, die an die Stelle der früheren Gerichte getreten sind, nicht vorwerfen, dass sie die zur Tatzeit geltenden Rechtsvorschriften im Lichte der Grundsätze angewendet und ausgelegt haben, die in einem Rechtsstaat gelten. 85. Der Gerichtshof wiederholt, dass unter dem Blickwinkel von Art. 7 I EMRK in jedem Rechtssystem unvermeidbar Raum für richterliche Auslegung bleibt, wie eindeutig auch immer eine strafrechtliche Vorschrift gefasst sein mag. Es wird immer notwendig sein, Zweifelsfragen zu klären und die Vorschrift an geänderte Umstände anzupassen (s. EGMR, 1995, Serie A, Bd. 335, S. 41-42 Nr. 34-36 - S.W./Vereinigtes Königreich; EGMR, 1995, Serie A, Bd. 335, S. 68-69 Nr. 32-34 - C.R./Vereinigtes Königreich; s.o. Nr. 50). Das gilt sicherlich grundsätzlich für die schrittweise Fortentwicklung der Rechtsprechung in ein- und demselben Staat, der den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Regierungsform verpflichtet ist, den Eckpfeilern der Konvention, wie es ihre Präambel bezeugt (s.u. Nr. 86), doch bleibt dies voll und ganz gültig, wenn es, wie hier, zu einer Staatennachfolge gekommen ist. 86. Die gegenteilige Auffassung würde allen Grundsätzen zuwiderlaufen, auf denen das von der Konvention errichtete Schutzsystem aufgebaut ist. Die Verfasser der Konvention haben sich auf diese Grundsätze in der Präambel zur EMRK bezogen, indem sie dort „ihre(n) tiefen Glauben ... an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zu Grunde liegenden Menschenrechte gesichert werden", und erklärten, dass sie „vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit besitzen". 87. Außerdem ist daraufhinzuweisen, dass das 1990 demokratisch gewählte Parlament der DDR ausdrücklich den deutschen Gesetzgeber aufgefordert hatte, die strafrechtliche Verfolgung des SED-Unrechts sicherzustellen (...). Daher gibt es gute Gründe anzunehmen, dass, selbst wenn es zur Wiedervereinigung Deutschlands nicht gekommen wäre, ein demokratisches Regime, das die SED-Herrschaft in der DDR abgelöst hätte, die Gesetze der DDR angewendet und die Beschwerdeführer strafrechtlich verfolgt haben würde, wie es die deutschen Gerichte nach der Wiedervereinigung getan haben. 88. Angesichts der herausragenden Stellung des Rechts auf Leben in allen internationalen Texten über den Schutz der Menschenrechte (s.u. Nrn. 94, 95 und 96), ein198

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schließlich der EMRK, die das Recht auf Leben in Art. 2 schützt, ist der Gerichtshof außerdem der Auffassung, dass die strikte Auslegung der Gesetze der DDR durch die deutschen Gerichte im vorliegenden Fall mit Art. 7 I EMRK vereinbar war. 89. Der Gerichtshof hält in diesem Zusammenhang fest, dass Art. 2 1 1 EMRK die Staaten verpflichtet, geeignete Schritte zu unternehmen, um das Leben der Menschen unter ihrer Hoheitsgewalt zu schützen. Dies bedeutet vorrangig die Verpflichtung, das Leben durch wirksame StrafVorschriften zu schützen, die den Einzelnen abschrecken, Straftaten gegen das Leben anderer zu begehen, und dabei Vorkehrungen zu ihrer Durchsetzung vorzusehen, um Gesetzesverstößen vorzubeugen, sie zu verhindern und zu bestrafen (s. u.a. EGMR, Slg. 1998-VIII, S. 3159 Nr. 115 - Osman/Vereinigtes Königreich; EGMR, Beschwerden Nr. 22947/93 und 22948/93, Urt. v. 10.10.2000, Nr. 77 Akkoç/Tûrkei, unveröff.). 90. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass eine Staatspraxis wie die der DDR zum Grenzregime, die offenkundig Menschenrechte verletzt und vor allem das Recht auf Leben, das höchste Rechtsgut in der internationalen Wertehierarchie der Menschenrechte, nicht durch Art. 7 I EMRK gedeckt sein kann. Diese Praxis, welche die Gesetzgebung, auf die sie sich hätte stützen sollen, ihrer Substanz entleert hat und alle staatlichen Organe der DDR verpflichtete, die Gerichte eingeschlossen, kann nicht als „Recht" i.S. von Art. 7 EMRK angesehen werden. 91. Unter Berücksichtigung all dessen entscheidet der Gerichtshof, dass die Tat des Beschwerdeführer zur Tatzeit eine Straftat darstellte, die nach dem Recht der DDR ausreichend zugänglich und vorhersehbar bestimmt war. b)

Völkerrecht

i)

Anwendbare Vorschriften

92. Der Gerichtshof hält es fur geboten, den vorliegenden Fall auch vom Standpunkt der Grundsätze des Völkerrechts zu prüfen, insbesondere derjenigen, die sich auf den internationalen Schutz der Menschenrechte beziehen, und dies zumal deshalb, weil die deutschen Gerichte in ihren Entscheidungsgründen solche Grundsätze herangezogen haben (...). 93. Daher ist zu fragen, ob die Handlung des Beschwerdeführers zur Tatzeit eine Straftat war, die nach Völkerrecht, insbesondere nach völkerrechtlichen Vorschriften über den Schutz der Menschenrechte, ausreichend zugänglich und vorhersehbar bestimmt war.

ii) Völkerrechtlicher Schutz des Rechts auf Leben 94. Der Gerichtshof hält zunächst fest, dass im Verlauf der Entwicklung dieses Schutzes die einschlägigen Konventionen und anderen Texte stets den Vorrang des Rechts auf Leben betont haben. 95. So bekräftigt schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 in ihrem Art. 3: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben". Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966, den die DDR am 8.11.1974 ratifiziert hatte, bestätigt dieses Recht in Art. 6, in dem es heißt: „Jeder Mensch hat ein ange-

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borenes Recht auf Leben" und „Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden" (...). Das Recht auf Leben findet sich auch in Art. 2 IEMRK, der wie folgt lautet: „Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, fur das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist."

96. Die Übereinstimmung zwischen den genannten Texten ist bezeichnend: Sie bezeugt, dass das Recht auf Leben ein unveräußerliches Wesensmerkmal des Menschen ist und den obersten Rang in der Wertehierarchie der Menschenrechte einnimmt. 97. Der Beschwerdeführer macht jedoch geltend, sein Handeln sei durch die Ausnahmen in Art. 2 II EMRK gerechtfertigt gewesen, der wie folgt lautet: „Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen; b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern; c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen."

98. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass angesichts der oben bereits angeführten Argumente der Tod der Flüchtlinge in keiner Weise das Ergebnis von Gewaltanwendung gewesen ist, die „unbedingt erforderlich" war. Die in der DDR durchgesetzte Staatspraxis hat niemanden gegen rechtswidrige Gewalt geschützt, wurde nicht verfolgt, um eine Festnahme vorzunehmen, die als „rechtmäßig" entsprechend dem Recht der DDR bezeichnet werden könnte, und hatte nichts zu tun mit der Niederschlagung eines Aufruhrs oder Aufstands, da einziges Ziel der Flüchtlinge war, das Land zu verlassen. 99. Daraus folgt, dass das Verhalten des Beschwerdeführers in keiner Weise nach Art. 2 II EMRK gerechtfertigt war.

iii) Völkerrechtlicher Schutz der Freizügigkeit 100. Wie das Protokoll Nr. 4 zur EMRK in seinem Art. 2 II, so bestimmt Art. 12 II Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte: „Jeder Person steht es frei, jedes Land, einschließlich des eigenen, zu verlassen". Einschränkungen dieses Rechts sind nur zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, wenn sie notwendig sind zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder der Rechte und Freiheiten anderer und wenn sie mit den übrigen im Pakt anerkannten Rechten vereinbar sind (...). 101. Noch in Zusammenhang mit dem Recht auf Freizügigkeit erinnert der Gerichtshof daran, dass Ungarn, als es seine Grenze zu Österreich am 11.9.1989 öffnete, ein bilaterales Abkommen mit der DDR gekündigt hat, wobei es sich ausdrücklich auf Art. 6 und 12 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte und auf Art. 62 (Grundlegender Wandel der Umstände) Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge stützte (...).

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iv) Die Verantwortlichkeit der DDR und die persönliche Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers 102. Mit der Verlegung von Minen und dem Einbau von Selbstschussanlagen an der Grenze sowie mit dem Befehl an die Grenztruppen, „Grenzverletzer zu vernichten" und „die Grenze unter allen Bedingungen zu schützen", hatte die DDR ein Grenzregime geschaffen, das eindeutig das unerlässliche Gebot missachtete, Menschenleben zu schützen, wie es in der Verfassung und Gesetzgebung der DDR verankert war, sowie das durch die oben genannten völkerrechtlichen Texte geschützte Recht auf Leben. Ebenso verstieß dieses Grenzregime gegen das in Art. 12 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte genannte Recht auf Freizügigkeit. 103. Bestünde die DDR noch, wäre sie unter dem Gesichtspunkt des Völkerrechts für die fraglichen Taten verantwortlich. Es bleibt nachzuweisen, dass neben der Verantwortlichkeit des Staates der Beschwerdeführer nach damaliger Rechtslage persönlich strafrechtlich verantwortlich war. Selbst angenommen, eine solche Verantwortlichkeit ließe sich nicht den oben genannten völkerrechtlichen Texten über den Schutz der Menschenrechte entnehmen, könnte sie aus ihnen abgeleitet werden, wenn man sie in Verbindung mit § 95 StGB-DDR betrachtet, der ausdrücklich bestimmt, und zwar bereits seit 1968, dass diejenigen, die völkerrechtliche Pflichten der DDR oder Grund- und Menschenrechte verletzen, dafür strafrechtlich verantwortlich sind. 104. Auch wenn der Beschwerdeführer nicht direkt verantwortlich für jene Staatspraxis war und es zu der fraglichen Tat im Jahre 1972 gekommen ist, also vor Ratifizierung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte durch die DDR, musste er als einfacher Bürger wissen, das das Schießen auf unbewaffnete Personen, die lediglich ihr Land zu verlassen suchten, gegen die Grund- und Menschenrechte verstieß, denn er konnte über die Gesetzeslage in seinem eigenen Land nicht in Unkenntnis sein. 105. Im Lichte all dessen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Tat des Beschwerdeführers zur Tatzeit auch eine Straftat war, die nach den Vorschriften des Völkerrechts über den Schutz der Menschenrechte ausreichend zugänglich und vorhersehbar bestimmt war. 106. Außerdem ließe sich das Verhalten des Beschwerdeführers auch nach Art. 7 I EMRK unter dem Gesichtspunkt anderer Regeln des Völkerrechts prüfen, insbesondere der Vorschriften über Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Ergebnis, zu dem der Gerichtshof oben gekommen ist (Nr. 105), macht eine solche Prüfung jedoch entbehrlich.

c) Die Frage der Verjährung 107. Der Gerichtshof erinnert zunächst daran, dass er zuständig ist, den Sachverhalt, über den sich ein Beschwerdeführer beschwert, im Hinblick auf alle Erfordernisse der EMRK zu prüfen. Dabei ist er insbesondere frei, den Sachverhalt, den er nach dem ihm vorliegenden Beweismaterial als nachgewiesen ansieht, rechtlich anders zu werten als der Beschwerdeführer oder ihn, falls erforderlich, unter einem anderen Blickwinkel zu sehen. Darüber hinaus ist nicht nur die ursprüngliche Beschwerdeschrift zu berücksichtigen, vielmehr sind auch die weiteren Schriftsätze zu beachten, welche die Beschwer-

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deschrifì ergänzen sollen, indem sie Lücken oder anfängliche Unklarheiten beseitigen (s. insb. EGMR, 1982, Serie A, Bd. 56, S. 15 Nr. 44 - Foti u.a./Italien). 108. Der Gerichtshof betont, dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall anders als im Fall Foti die Frage der Verjährung weder in seiner ursprünglichen Beschwerdeschrift noch in seinen ergänzenden schriftlichen oder mündlichen Stellungnahmen aufgeworfen hat. 109. Doch selbst wenn er dies getan hätte, hätte der Gerichtshof diese Frage im vorliegenden Fall aus nachstehenden Gründen nicht zu prüfen. 110. Es ist richtig, dass nach § 82 I Nr. 4 StGB-DDR von 1968 die Verjährungsfrist für die Verfolgung einer Straftat 15 Jahre betrug, wenn, wie dies bei Totschlag der Fall ist, eine Freiheitsstrafe bis zu 10 Jahren angedroht war (...). § 84 StGB-DDR aber sah vor: „Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit und die Menschenrechte ... unterliegen nicht den Bestimmungen dieses Gesetzes über die Verjährung" (...). Diese Vorschrift, die für bestimmte Verbrechen, darunter Verstöße gegen die Menschenrechte, Verjährbarkeit ausschloss, war im vorliegenden Fall zur Tatzeit bereits in Kraft. Ebenso gehörte damals das Recht auf Leben schon zu den Menschenrechten, für deren Verletzung § 84 StGB-DDR Ausschluss der Verjährbarkeit vorsah, wenngleich dieses Recht von der DDR erst 1974 durch völkerrechtlichen Vertrag abgesichert wurde. Im vorliegenden Fall aber hat der Gerichtshof auf Verletzung der Menschenrechte durch den Beschwerdeführer erkannt (s.o. Nr. 105). Daher wäre, hätte sich der Beschwerdeführer auf Verjährung berufen, diesem Einwand nicht stattzugeben gewesen. 111. Außerdem hat die Bundesrepublik Deutschland am 26.3.1993 ein Gesetz verabschiedet, dessen § 1 das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten vorsieht. Dieses Ruhen bewirkt, dass die Veqährungsfrist nicht mit dem Tag zu laufen beginnt, an dem das Verbrechen begangen wurde, sondern am 3.10.1990, dem Tag, an dem die DDR aufhörte zu bestehen. Ein vergleichbares Gesetz hat es in Polen gegeben für die „kommunistischen Verbrechen", insbesondere die, die Menschenrechtsverletzungen zwischen 1939 und 1989 betrafen. Da sich der Ausschluss der Verjährbarkeit für die dem Beschwerdeführer vorgeworfene Tat schon aus dem Recht der DDR ableiten lässt (s.o. Nr. 110), braucht der Gerichtshof die Reichweite des VerjährungsG der Bundesrepublik vom 26.3.1993 nicht zu prüfen. 112. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass, selbst wenn sich der Beschwerdeführer auf Verjährung berufen hätte, dieses Argument wegen der Vorschrift in § 84 StGB-DDR nicht hätte durchgreifen können, welche Reichweite auch immer das VerjährungsG der Bundesrepublik vom 26.3.1993 hat.

d)

Ergebnis

113. Folglich hat die Verurteilung des Beschwerdeführers durch die deutschen Gerichte nach der Wiedervereinigung nicht gegen Art. 7 I EMRK verstoßen. 114. Angesichts dieser Entscheidung braucht der Gerichtshof nicht zu prüfen, ob die Verurteilung des Beschwerdeführers nach Art. 7 II EMRK gerechtfertigt war.

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II. Behauptete Verletzung von Art. 1 EMRK 115. Der Beschwerdeführer trägt vor, das Urteil des BVerfG habe Art. 1 EMRK verkannt, der wie folgt lautet: „Die Hohen Vertragsparteien sichern allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten Rechte und Freiheiten zu." 116. Seiner Meinung nach hat das Urteil des BVerfG zweierlei Recht geschaffen, indem es mit seinem Bezug auf die „Radbruch'sche Formel" (...) den früheren Bürgern der ehemaligen DDR, jetzt Bürger der Bundesrepublik Deutschland, die Möglichkeit nehme, sich auf den in Art. 7 I EMRK verankerten Grundsatz des Verbots der Rückwirkung von Strafgesetzen zu berufen. 117. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er zuständig ist, den Sachverhalt, über den sich ein Beschwerdeführer beschwert, im Hinblick auf alle Erfordernisse der EMRK zu prüfen. Dabei ist er insbesondere frei, den Sachverhalt, den er nach dem ihm vorliegenden Beweismaterial als nachgewiesen ansieht, rechtlich anders zu werten als der Beschwerdeführer oder ihn, falls erforderlich, unter einem anderen Blickwinkel zu sehen (s. u.a. EGMR, 1982, Serie A, Bd. 56, S. 15 Nr. 44 - Foti u.a./Italien; EGMR, Slg. 2000, Nr. 63 - Rehbock/Slowenien). 118. Im vorliegenden Fall kann die Beschwerde der Beschwerdeführer nicht auf Art. 1 EMRK gestützt werden: Art. 1 EMRK ist eine Rahmenvorschrift, die für sich allein nicht verletzt werden kann (s. EGMR, 1978, Serie A, Bd. 25, S. 90 Nr. 238 - Irland/Vereinigtes Königreich). Die Beschwerde kann jedoch unter Art. 14 i.V. mit Art. 7 EMRK fallen, da sich der Beschwerdeführer in der Sache über Diskriminierung beschwert, die er als früherer Bürger der DDR angeblich erfahren hat. Art. 14 EMRK lautet wie folgt: „Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Reche und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten." 119. Der Gerichtshof ist jedoch der Auffassung, dass die vom BVerfG aufgestellten Grundsätze allgemeine Bedeutung haben und deshalb auch für Personen gelten, die nicht früher Staatsbürger der DDR waren. 120. Folglich liegt keine dem Art. 14 i.V. mit Art. 7 EMRK zuwiderlaufende Diskriminierung vor. Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig, dass 1. keine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK vorliegt; 2. keine mit Art. 14 iVm Art. 7 EMRK unvereinbare Diskrimierung vorliegt.

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Zustimmendes Votum des Richters Loucaides Ich stimme mit den Schlussfolgerungen des Urteils überein, verweise aber zugleich auf mein Sondervotum im Fall Streletz, Keßler und Krenz/Deutschland8, in dem ich festgestellt habe, dass das Verhalten, fur das die Beschwerdeführer verurteilt wurden, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Völkergewohnheitsrecht darstellt. Ich bin überzeugt, dass dies auch im vorliegenden Fall zutrifft. Es gibt zwei grundlegende tatsächliche Unterschiede zwischen dem vorliegenden und dem oben genannten Fall: (a) Anders als die Beschwerdeführer im oben genannten Fall war der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall nicht an der Organisation des DDR-Grenzregimes beteiligt. Seine Rolle beschränkte sich auf die Wahrnehmung seiner Pflichten als Grenzsoldat, wobei er einen jungen Mann tötete, der versucht hatte, schwimmend aus Ost-Berlin zu fliehen. (b) Die fragliche Tötung fand im Februar 1972 statt. Ich denke nicht, dass diese Unterschiede zwischen beiden Fällen eine andere Herangehensweise erfordern als diejenige, die ich im Fall Streletz, Keßler und Krenz/Deutschland gewählt habe. Wie ich in meinem Sondervotum zum oben genannten Fall erläutert habe, liegt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Fällen vorsätzlicher Tötung vor, die gegen die Zivilbevölkerung als Teil eines systematischen und organisierten Vorgehens zur Unterstützung einer bestimmten Politik begangen werden. Dies kann meiner Meinung nach nicht so ausgelegt werden, dass die Person, die für dieses Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden soll, eine Vielzahl von vorsätzlichen Tötungen gegen eine größere Anzahl von Personen aus der Zivilbevölkerung begangen oder dass sie selbst das systematische oder organisierte Verhalten initiiert oder direkt zu verantworten haben muss, das zur Begehung der Morde führte. Ich bin überzeugt, die vernünftige Auslegung des Begriffs des Verbrechens gegen die Menschlichkeit nach Völkergewohnheitsrecht ist, dass das Verbrechen durch jede einzelne Tötungshandlung an irgendeinem Mitglied der Zivilbevölkerung begangen werden kann, solange diese Tat Teil eines organisierten Verhaltensmusters ist, das auf die wahllose Tötung von Mitgliedern der Zivilbevölkerung zur Unterstützung einer bestimmten Politik gerichtet ist. Tatsächlich kann vernünftigerweise nur dort von der Begehung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit ausgegangen werden, wo es zu einer Reihe von einzelnen Tötungen durch Personen gekommen ist, die die betreffende unmenschliche Politik auf systematischer Grundlage ausführen. Deshalb sollte jede Person, die wissentlich ein Mitglied der Zivilbevölkerung als Teil eines allgemeines Plans tötet, für dieses Verbrechen verantwortlich gemacht werden. Eine gegenteilige Auslegung würde zu dem widersinnigen Ergebnis führen, dass nur die Organisatoren von Massenmord für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich wären, nicht aber die Individuen, die durch eine einzelne vorsätzliche Tötung wissentlich den entsprechenden Plan ausführen. Meine Auslegung wird durch einen vergleichbaren Ansatz im aktuellen Tadic-Fall9 des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien unterstützt, in dem das Gericht folgendes entschieden hat: 204

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„Selbstverständlich begründet auch die einzelne Tat eines Täters im Rahmen eines großangelegten systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit und ein einzelner Täter muss nicht mehrere Straftaten begehen, um haftbar gemacht zu werden. ... Selbst eine isolierte Tat kann ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, wenn sie das Produkt eines auf Terror oder Verfolgung gründenden politischen Systems ist."

Weitere Unterstützung für denselben Ansatz kann der folgenden Stellungnahme des Internationalen Strafgerichtshofs in der Vukovar-Hospital-Entscheidung, die im TadicFall von der Berufungskammer zitiert wurde10, entnommen werden: „... solange es eine Verbindung mit einem großangelegten oder systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung gibt, kann eine einzelne Tat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeordnet werden. So kann ein Einzelner, der ein Verbrechen gegen ein einzelnes oder eine begrenzte Anzahl von Opfern begeht, eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden werden, wenn seine Taten Teil des oben genannten spezifischen Zusammenhangs waren."

Ich bin deshalb überzeugt, dass der Beschwerdeführer, indem er sich als Grenzsoldat an der Ausführung des entsprechenden mörderischen Plans gegen Zivilisten beteiligte, die aus der DDR zu fliehen versuchten, und indem er vorsätzlich einen Flüchtling tötete, in diesem Fall fur die Begehung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit verantwortlich wurde. Auf der anderen Seite kann die Tatsache, dass die entsprechende Handlung des Beschwerdeführers 1972 stattfand, d.h. etwa ein Jahr vor der Annahme der UN-Resolution 3074 (XXVIII), die - wie ich in meinem oben genannten Sondervotum feststellte - die Position unanfechtbar machte, dass die Nürnberger Prinzipien Völkergewohnheitsrecht waren, vernünftigerweise nicht dazu fuhren, dass das in Rede stehende Verhalten nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden kann. Dies ist deshalb so, weil die Anerkennung eines solchen Verbrechens im Völkergewohnheitsrecht selbst zu einem so frühen Zeitpunkt wie 1972 nicht ernsthaft in Frage gestellt werden kann angesichts der Tatsache, dass die genannte Entschließung Teil einer ganzen Reihe von Resolutionen zum selben Themenkomplex in den Jahren 1969 bis 1972 war, und dass mit guten Gründen anzunehmen ist, dass sie auf eine Ansicht zurückging und deren Ausdruck war, die zumindest in den Jahren unmittelbar vor ihrer Verabschiedung vorherrschend war. Im Lichte des oben Gesagten bin ich der Ansicht, dass die Tat, für die der Beschwerdeführer dieses Falles verurteilt wurde, auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach den Grundsätzen des Völkergewohnheitsrechts darstellte.

Zustimmendes Votum des Richters Sir Nicolas Bratza, dem sich Richterin Vajic angeschlossen hat Ich habe mit einigem Zögern mit der Mehrheit des Gerichtshofs für die Feststellung gestimmt, dass die Rechte des Beschwerdeführers nach Art. 7 EMRK im vorliegenden Fall nicht verletzt wurden. Ich sehe beträchtliche Überzeugungskraft in der Ansicht von Richter Pellonpää11, dass es für einen Grenzsoldaten in der Lage des Beschwerdeführers, der wie dieser in-

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nerhalb des Rechtssystems und der Kultur handelte, die in der DDR vorherrschend war, und dem eingeschärft worden war, wie wichtig der Schutz der Grenze um jeden Preis war, vernünftigerweise nicht vorhersehbar war, dass Schüsse auf eine flüchtende Person nach einem Warnruf und der Abgabe von Warnschüssen die Begehung einer Straftat darstellen könnten. Ich stelle fest, dass das BVerfG selbst diese Bedenken zu teilen scheint. Nachdem es bemerkt hatte, dass die DDR-Führung den Rechtfertigungsgrund (defence) 12 mit staatlicher Autorität ausgeweitet hatte, der das Verhalten der Grenzsoldaten decken sollte, fuhr das BVerfG wie folgt fort: „Dann ist es nicht selbstverständlich, dass sich dem durchschnittlichen Soldaten die richtige Grenze strafbaren Verhaltens zweifelsfrei erschließt, und es wäre unter dem Schuldgrundsatz unhaltbar, die Offensichtlichkeit des Strafrechtsverstoßes fur den Soldaten allein mit dem objektiven - Vorliegen eines schweren Menschenrechtsverstoßes zu begründen; dann muss nämlich näher dargelegt werden, warum der einzelne Soldat angesichts seiner Erziehung, der Indoktrination und der sonstigen Umstände in der Lage war, den Strafrechtsverstoß zweifelsfrei zu erkennen."

Das Verfassungsgericht bemerkte, dass die Strafgerichte die Tatsachen unter dem oben genannten Gesichtspunkt nicht detailliert erörtert hatten. Das Gericht fährt aber in einer wichtigen Passage wie folgt fort: „Sie haben jedoch dargelegt, die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer sei unter den festgestellten Umständen ein derart schreckliches und jeder möglichen Rechtfertigung entzogenes Tun gewesen, dass der Verstoß gegen Verhältnismäßigkeit und elementares Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig und damit offensichtlich war. Auch ihre sonstigen Darlegungen ergeben mit noch hinreichender Deutlichkeit aufgrund des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe und der Bezugnahme auf die Ausführungen in den vorangegangenen, die gleiche Fallkonstellation betreffenden Entscheidungen vom 3. November 1992 ... und vom 25. März 1993 ..., daß dem Schuldprinzip genügt ist."

Mir scheint, dass sich der Gerichtshof in seiner Herangehensweise an die Fragen des Art. 7 EMRK von ähnlichen Überlegungen leiten lassen sollte, insbesondere bei der Frage, ob es für den Beschwerdeführer vernünftigerweise vorhersehbar war, dass seine Handlungen einen Verstoß gegen das Strafrecht darstellten. Ich erkenne ohne weiteres an, dass sich ein Soldat wie der Beschwerdeführer, der die Indoktrination junger NVARekruten durchlaufen hatte und der im Falle eines gelungenen Grenzübertritts eines Flüchtlings Gefahr lief, von der Militärgerichtsbarkeit verfolgt zu werden, in einer besonders schwierigen Lage befand. Auch erkenne ich an, dass die Situation in der DDR dergestalt war, dass der Beschwerdeführer zum damaligen Zeitpunkt nur schwer vorhersehen konnte, dass seine Handlungen zu seiner Strafverfolgung wegen vorsätzlichen Totschlags führen würden. Aber diese Frage unterscheidet sich deutlich von der Frage, vor die sich der Gerichtshof gestellt sah, nämlich ob der Beschwerdeführer vernünftigerweise vorhersehen konnte, dass seine Handlungen eine solche Straftat darstellten. Während diese Frage für verschiedene Meinungen offen sein kann, vermag ich keinen Grund zu erkennen, von der dargelegten Meinung der nationalen Gerichte abzuweichen, dass das Schießen auf eine wehrlose Person, die versuchte, von Ost-Berlin wegzuschwimmen und die keinerlei Gefahr für Leib oder Leben darstellte, so eindeutig gegen

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das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstieß, dass es vorhersehbar war, dass es das rechtliche Tötungsverbot verletzte. Teilweise abweichendes Votum des Richters Cabrai Barreto Zu meinem ehrlichen Bedauern und aus den nachfolgenden Gründen kann ich der Mehrheit in diesem Fall nicht zustimmen. 1. Der Übergang von einem „Nicht-Rechtsstaat" zu einem Rechtsstaat wirft immer die heikle Frage nach den Verbrechen auf, die unter dem früheren Regime begangen und nicht bestraft wurden. Europas jüngste Geschichte bietet Beispiele für drei verschiedene Haltungen zu dieser Frage, nämlich: (a) völliges Vergeben, eine Art Amnestie, um nationale Versöhnung zu ermöglichen; (b) Bestrafung von Straftaten, die von einer bestimmten Personengruppe begangen wurden; (c) Bestrafung von bestimmten Straftaten. Außerdem ist, wie der Gerichtshof in seinem Urteil festgestellt (Nr. 84) hat, die Verfolgung von Personen, die solche Verbrechen begangen haben, als solches legitim. Dies kann nicht bestritten werden - vorausgesetzt, auf das Verfahren selbst und die Bestrafung der Täter werden die Grundsätze angewandt, die in der EMRK verankert sind. Weil eine solche Strafverfolgung die Bestrafung für Taten mit sich bringt, die unter einem früheren Regime begangen wurden, werden das Legalitätsprinzip und das Rückwirkungsverbot notwendigerweise ausgedehnt. Deshalb machen manche Staaten Vorbehalte geltend bei der Ratifizierung der EMRK (s. Portugals Vorbehalt in Bezug auf Art. 7 EMRK), entweder, weil sie nicht ganz sicher sind, ob die Verfolgung solcher Verbrechen nach ihrem Strafgesetz mit der Konvention vereinbar wäre oder weil sie sich gegen zukünftige Entwicklungen der Rechtsprechung zu schützen versuchen. 2. Es ist gesicherte Rechtsprechung, dass nach Art. 7 EMRK eine Straftat klar gesetzlich bestimmt sein muss und dass das Gesetz deshalb eindeutig, in seinen Folgen vorhersehbar und zugänglich sein muss. Dem Erfordernis eines eindeutig bestimmten Gesetzes ist Genüge getan, wenn es auf der Grundlage der betreffenden rechtlichen Bestimmung möglich ist zu sagen, welche Handlungen oder Unterlassungen strafrechtliche Verantwortung nach sich ziehen, selbst wenn es hierzu der Auslegung der betreffenden Bestimmung durch die Gerichte bedarf. Die Vorhersehbarkeit hängt in beachtlichem Maße vom Inhalt des betreffenden Dokuments ab, vom Bereich, den es abdecken soll und von der Anzahl und dem Status derer, an die es sich wendet (s. EGMR, 1990, Serie A, Nr. 173, S. 26 Nr. 68 - Grapperà Radio AG u.a./Schweiz). Ein Gesetz kann dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit immer noch genügen, selbst wenn eine betroffene Person angemessene Rechtsberatung in Anspruch nehmen muss, und zwar in einem Umfang, der den Umständen nach vernünftig ist, um die Folgen einzuschätzen, die eine bestimmte Handlung nach sich ziehen könnte (s. EGMR, Slg. 1996-V, S. 1626 Nr. 35 - Cantoni/Frankreich).

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Zugänglichkeit setzt voraus, dass Informationen zu einer rechtlichen Regelung, die die fraglichen Handlungen strafbar macht, für die betroffene Person erhältlich sein müssen. 3. Es ist schwierig für mich, der Schlussfolgerung der Mehrheit zuzustimmen, dass all diese Erfordernisse im vorliegenden Fall erfüllt waren. Ich kann akzeptieren, dass die einschlägigen Gesetze zugänglich waren, insofern als interessierte Parteien sie erhalten und sich über ihren Inhalt informieren konnten. Jedoch habe ich Zweifel über ihre Eindeutigkeit und Vorhersehbarkeit. Anerkanntermaßen war das Töten eines Menschen nach dem DDR-Strafgesetzbuch strafbar. Aber das DDR-Rechtssystem verlangte von Grenzsoldaten auch, das Feuer auf Personen zu eröffnen, die die Grenze zu überqueren versuchten, nachdem bestimmte Regeln betreffend Warnschüssen eingehalten worden waren. In Anbetracht des Konflikts zwischen dem Tötungsverbot und der Gehorsamspflicht gegenüber den zuständigen Autoritäten, die den Befehl erteilt hatten, zur Verhinderung von Fluchtversuchen zu schießen, zögere ich nicht mit der Schlussfolgerung, dass im Kontext der Tatzeit das Schießen auf eine die Grenze überschreitende Person nach Einhaltung der Warnbestimmungen im Bewußtsein des Beschwerdeführers keinen vorsätzlichen Totschlag im Sinne des Strafgesetzbuches seines Landes darstellen konnte. Es darf nicht vergessen werden, dass zum damaligen Zeitpunkt keine einschlägige Rechtsprechung existierte, an der sich der Beschwerdeführer hätte orientieren können, und wenn er einen Rechtsanwalt konsultiert hätte, fällt es nicht schwier zu erraten, wie dessen Antwort gelautet hätte. Angesichts der Gesetze, die zum Zeitpunkt der Taten, für die sich der Beschwerdeführer vor Gericht verantworten mußte, in Kraft waren und angesichts der Art, in der diese Gesetze ausgelegt wurden, kann zum heutigen Zeitpunkt nicht gesagt werden, der Beschwerdeführer hätte zum Zeitpunkt der Straftaten erkennen müssen, dass er durch das Schießen auf einen Flüchtenden vorsätzlichen Totschlag begehen würde. Im Gegenteil konnte er vorhersehen, dass sein Verhalten, falls er nach den Warnschüssen nicht auf die Person schießen würde, die zu fliehen versuchte, zu einer dienstrechtlichen Untersuchung führen würde und er dafür hätte getadelt werden können. Meiner Meinung nach bedeutet die Ansicht, dass der Beschwerdeführer, der zum damaligen Zeitpunkt ein junger 20jähriger Soldat war, hätte vorhersehen müssen, dass sein Verhalten unter den Umständen des vorliegenden Falles als vorsätzlicher Totschlag gelten könnte, die Grenzen zu überschreiten, die die Auslegung von Art. 7 EMRK gemäß gesicherter Rechtsprechung bestimmen; die vom Gesetz geforderte Vorhersehbarkeit muss am Maßstab einer normalen Person zur selben Zeit und am selben Ort wie der Beschwerdeführer ermittelt werden. Trotz des Verlusts eines Menschenlebens, der immer zu betrauern ist, kann ich nicht erkennen, wie man bei einer streng rechtlichen Betrachtungsweise zu der Schlussfolgerung gelangen kann, dass das DDR-Rechtssystem, so wie es zur Tatzeit existierte und ausgelegt wurde, vom Beschwerdeführer verlangte, die Rechtfertigung seiner Handlung zu vergessen und nur der Norm zu folgen, dass die Tötung eines Menschen einen vorsätzlichen Totschlag darstellte.

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Ich kann ohne weiteres anerkennen, dass der Beschwerdeführer in der festen Überzeugung von der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens handelte und er nicht einen Moment daran dachte, dass das, was er getan hatte, einen vorsätzlichen Totschlag im Sinne des DDR-Strafgesetzbuch in der Fassung von 1968 darstellen könnte. Ich glaube darüber hinaus, dass zum damaligen Zeitpunkt in der DDR jede normale Person in derselben Situation in derselben Weise gehandelt hätte. Ich kann deshalb nur feststellen, dass die Erfordernisse der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit nicht erfüllt waren und dass deshalb die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Totschlags durch deutsche Gerichte eine Verletzung von Art. 7 I EMRK darstellt. 3. Bezüglich der Frage, ob die Tat des Beschwerdeführers unter Art. 7 I betrachtet werden kann, schließe ich mich dem abweichenden Votum von Herrn Pellonpää 13 an. Ich muss noch einmal betonen, dass es darauf ankommt, ob die Tat „zum Zeitpunkt ihrer Begehung" als strafbar gelten konnte. Trotz der Entwicklung dieses Konzepts, die bereits seit der Anerkennung der Nürnberger Prinzipien stattfindet, bin ich der Ansicht, dass die individuelle Handlung des Beschwerdeführers 1972 noch nicht als „nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar" angesehen werden konnte (...). 5. Außerdem bin ich der Ansicht, dass die Mehrheit in Bezug auf die Frage der Verjährung zu einer anderen Schlussfolgerung hätte gelangen müssen (Nrn. 108-111 des Urteils). 5.1 Nach § 84 Abs. 1 Nr. 4 des DDR-Strafgesetzbuchs in der Fassung von 1968 betrug die Verjährungsfrist für vorsätzlichen Totschlag 15 Jahre. Da die Straftat, für die sich der Beschwerdeführer vor Gericht verantworten musste, im Februar 1972 begangen wurde, verjährte die Tat 1987. Es ist richtig, dass § 84 des Gesetzes wie folgt lautete: „Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit oder gegen die Menschenrechte und Kriegsverbrechen unterliegen nicht den Bestimmungen über die Veijährung."

Dies führte die Mehrheit - sobald feststand, dass die Straftat, für die der Beschwerdeführer vor Gericht stand, ein Verbrechen gegen die Menschenrechte darstellte - zu dem Schluss, dass das DDR-Strafgesetzbuch keine Beschränkung der Verfolgbarkeit zuließ. Obwohl die schrittweise Entwicklung des Konzepts der „Verbrechen gegen die Menschenrechte" seit 1972 sogar in einem Land wie der DDR nicht geleugnet werden kann, halte ich es in diesem Zusammenhang für undenkbar, dass eine plausible Auslegung dieses Konzepts, wie es zur Tatzeit bestand, die Tat des Beschwerdeführers umfassen könnte. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass die Auslegung des Konzepts ausreichend entwickelt gewesen war, um - wohlgemerkt mit Hilfe juristischer Auslegung - daraus zu schließen, dass die Handlung des Beschwerdeführers spätestens im Februar 1987, als die Verjährungsfrist ablief, ein „Verbrechen gegen die Menschenrechte" darstellte. Nach der zu diesem Zeitpunkt herrschenden Ideologie in der DDR und der Weltsicht sowie der Perspektive auf das Leben, die dort vorherrschend war, galt die Handlung des Beschwerdeführers, obwohl sie - wie ich wiederholen muss - bedauerlich war, nicht als Verbrechen, sondern als lobenswerte Tat.

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Außerdem ist es bei der Auslegung der Bestimmungen des Strafgesetzbuches von 1968 nicht angemessen, die damals vorherrschenden durch heute gängige Vorstellungen zu ersetzen. Die einzigen zu berücksichtigenden Faktoren sind die objektive Definition dessen, was in diesem historischen Kontext illegal war, und die subjektive Einschätzung des Beschwerdeführers von der Situation, in der er handelte. 5.2 Die Mehrheit erwähnte auch das bundesdeutsche Gesetz vom 26.3.1993 über das Ruhen der Verjährung bei „SED-Unrechtstaten", wonach die Verjährungsfristen nicht vom Zeitpunkt der Begehung der Straftat zu laufen begannen, sondern am 3.10.1990, dem Tag, an dem die DDR aufhörte zu bestehen. Es gab in der akademischen Literatur immer schon Uneinigkeit über die Rechtsnatur der Verjährung, es scheint aber angemessener zu sein, zu akzeptieren, dass das Wesen der Verjährung im Hinblick auf die Strafverfolgung eine Mischung, nämlich gleichzeitig verfahrensrechtlich und materiell, ist. Das bedeutet, dass das Rückwirkungsverbot die Verjährung umfasst, sobald die ursprünglich festgelegte Frist abgelaufen ist. Der Gerichtshof hatte bisher keine Gelegenheit, diese Frage zu entscheiden. Dennoch hat der Gerichtshof im Urteil Coëme u.a./Belgien vom 22.6.2000 (noch unveröffentlicht) entschieden: „146. Verjährung kann als das geschriebene Recht eines Straftäters verstanden werden, nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne nicht verfolgt oder vor Gericht gestellt zu werden. Verjährungsfristen, die ein allgemeiner Bestandteil der nationalen Rechtssysteme der Unterzeichnerstaaten sind, dienen verschiedenen Zwecken, so u.a. Rechtssicherheit herzustellen und Eingriffe in die Rechte der Verteidigung zu verhindern, die sich ergeben könnten, falls Gerichte gezwungen sein sollten, auf einer Beweisgrundlage zu urteilen, die aufgrund Zeitablaufs unvollständig geworden ist (s. EGMR, Slg. 1996-1V, S. 1502 Nr. 51 - Stubbings u.a./Großbritannien). 149. ... Die Frage, ob Art. 7 verletzt wäre, wenn eine rechtliche Bestimmung die Möglichkeit wiederherstellen würde, Straftäter für Taten zu bestrafen, die aufgrund von Veqährung nicht länger strafbar sind, ist für den vorliegenden Fall nicht entscheidend und ihre Untersuchung ist daher nicht Aufgabe des Gerichtshofs. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Herrn Hermanus' Behauptung, dass der Kassationsgerichtshof in den Verhandlungen gegen ihn entschieden habe, dass die Zeit aufgrund einer Maßnahme erneut zu laufen begonnen habe, die nicht diese Wirkung gehabt habe zu dem Zeitpunkt, zu dem sie getroffen wurde. 150. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer, denen nicht verborgen geblieben sein kann, dass das ihnen vorgeworfene Verhalten sie der Verfolgung aussetzen könnte, für Straftaten verurteilt worden sind, deren Verfolgung nie der Verjährung unterworfen war. Die fraglichen Handlungen stellten zum Zeitpunkt ihrer Begehung Straftaten dar und die auferlegten Strafen waren nicht schwerwiegender als die zum Tatzeitpunkt anwendbaren Strafen. Auch erlitten die Beschwerdeführer durch das Gesetz vom 24.12.1993 keinen größeren Nachteil als sie ihn zum Zeitpunkt der Begehung der Straftaten erlitten hätten (s. mutatis mutandis, das oben zitierte Welch Urteil [EGMR, 1995, Serie A Nr. 307-A], S. 14 Nr. 34)." Zwischen den Zeilen dieses Urteils gelesen scheint Art. 7 EMRK verletzt zu sein, wenn ein Gesetz die Veqährungsfrist verlängert, nachdem sie abgelaufen war. Jeder andere Grundsatz würde dem Prinzip der Rechtssicherheit zuwiderlaufen. Das Gesetz vom 26.3.1993 muss deshalb mit der folgenden Einschränkung ausgelegt werden: Das Ruhen des Zeitablaufs sollte auf noch laufende Verjährungsfristen be-

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schränkt werden und keine Anwendung finden, wenn die Verjährungsfrist bereits abgelaufen war, bevor das Gesetz in Kraft trat. 6. Zusammenfassend bin ich der Ansicht, dass Art. 7 EMRK im vorliegenden Fall durch die Verurteilung des Beschwerdeführers für seine Taten im Februar 1972 verletzt wurde. Schließlich bin ich weiterhin davon überzeugt, dass der Beschwerdeführer, der damals ein junger Mann ohne Reife und Unabhängigkeit war und der entsprechend der herrschenden Ideologie indoktriniert war, eher das Opfer eines Regimes und eines Systems war, das der Gerichtshof mit meiner vollen Unterstützung gerade heute im Streletz, Keßler und Krenz-Urteil missbilligt hat. Teilweise abweichendes Votum des Richters Pellonpää, dem sich der Richter Zupancic angeschlossen hat Ich habe im vorliegenden Fall gegen die Schlussfolgerung der Mehrheit gestimmt, dass keine Verletzung vorliegt, aber für diese Schlussfolgerung gestimmt im Fall Streletz, Keßler und Krenz/Deutschland14, der ebenfalls heute entschieden worden ist. Es ist schon eine seltsame Konsequenz der Komplexität jüngerer deutscher Geschichte, dass genau dieselben Gründe, die im Falle der drei politischen Führer dafür sprechen, keine Verletzung festzustellen, teilweise die gegenteilige Schlussfolgerung im Fall K.-H. W. unterstützen. Während die Beschwerdeführer Streletz, Keßler und Krenz zu denjenigen gehören, die für das frühere unmenschliche DDR-Grenzregime verantwortlich sind und die deshalb nicht mit „sauberen Händen" ihr Tun oder Unterlassen unter Hinweis auf dieses System rechtfertigen können, erscheint der Beschwerdeführer W. zu einem gewissen Grad ein Opfer eben dieses Systems gewesen zu sein. Das Grenzregime, das dem Beschwerdeführer unter Androhung von Sanktionen „auferlegt" worden war (s. Nr. 90 des Urteils), stellte ein wesentliches Merkmal des rechtlichen Rahmens und sozialen Kontextes dar, an dem er sein Verhalten zum Zeitpunkt seiner Tat ausrichten musste. Nach der Wiedervereinigung jedoch wurde ihm mitgeteilt, dass er, um einer Verurteilung zu entgehen, sich 1972 aus diesem Kontext hätte lösen und sich von denjenigen Elementen der DDR-Rechtsordnung hätte leiten lassen sollen, die Ähnlichkeit mit rechtsstaatlichen Systemen aufwiesen. Bevor ich fortfahre, lassen Sie mich klarstellen, dass ich in keiner Weise die Schwere der Tat, die der Beschwerdeführer 1972 begangen hat, unterschätze. Eine hilflose Person zu töten ist ein verabscheuungswürdiger Akt, und hätte der Beschwerdeführer sich geweigert, sie zu begehen, würde er alle Bewunderung verdienen. Die Tatsache, dass er dieser Anforderung nicht genügte, ist jedoch bei der Bewertung seiner Verurteilung unter dem Gesichtspunkt des Art. 7 EMRK nicht entscheidend. Um mit Art. 7 vereinbar zu sein, muss eine strafrechtliche Verurteilung eine Rechtsgrundlage im anwendbaren Recht haben, die darüber hinaus ausreichend zugänglich und vorhersehbar sein muss. Die deutschen Gerichte haben den Beschwerdeführer auf Grundlage des DDR-Strafrechts verurteilt; das bundesdeutsche Recht wurde nur angewandt sofern es milder war. Die Frage ist deshalb, ob das Verhalten des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Schüsse nach DDR-Recht mit der von Art. 7 vorausgesetzten Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit eine Straftat darstellte. Wenn die Antwort darauf 211

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nein lautet, stellt sich die weitere Frage, ob die Tat eine Straftat nach internationalem Recht darstellte (Art. 7 I) oder „nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar" (Art. 7 II) war. Ich bin bereit anzuerkennen, dass es eine ausreichende Grundlage im DDR-Recht gab, und dass „die Verurteilung des Beschwerdeführers durch die deutschen Gerichte, die jene Vorschriften [z.B. §17 Abs. 2 des Volkspolizeigesetzes und andere Bestimmungen] ausgelegt und auf die fraglichen Fälle angewendet haben, auf den ersten Blick weder willkürlich war noch gegen Art. 7 I EMRK verstoßen hat" (s. Nr. 59 des Urteils). Auch stimme ich zu, dass die Tatsache, dass die deutschen Gerichte unterschiedliche Ansätze zur Auslegung der vom Beschwerdeführer geltend gemachten Straffreistellungsgründe gewählt haben, nicht schon als solche die betreffenden Gesetze ihrer Vorhersehbarkeit beraubt oder in anderer Weise Art. 7 verletzt (s. Nr. 60). Dennoch weisen solche Unterschiede darauf hin, dass die Auslegung der Rechtfertigungsgründe des § 17 II VolkspolizeiG in keiner Weise einfach war. Die Schwierigkeiten wurden durch den Umstand vergrößert, dass der Beschwerdeführer selbstverständlich von keiner gefestigten Rechtsprechung profitieren konnte, die den Inhalt der Bestimmung erhellt hätte. Zudem bestand die rechtliche Rahmenordnung, in der der Beschwerdeführer lebte, nicht nur aus der parlamentarischen Gesetzgebung. Wenn die Garantie des Art. 7 „wirklich und effektiv" an Stelle von „theoretisch und illusorisch" (s. z.B. EGMR, 1979, Serie A Nr. 32, Nr. 24 - Airey/Irland) sein soll, dürfen Bestimmungen wie der oben genannte § 17 II nicht isoliert vom Kontext der DDR-Rechtsordnung als Ganzes betrachtet werden. Nach Art. 73 der DDR-Verfassung legte der Staatsrat die Grundsätze betreffend der nationalen Verteidigung und Sicherheit fest und organisierte die Verteidigung mit Unterstützung des Nationalen Verteidigungsrats (...). Wie das Urteil feststellt, wurden die Befehle, auf Grund derer der Beschwerdeführer u.a. handelte, „unbestritten von den in Art. 73 DDR-Verfassung genannten Regierungsorganen der DDR beschlossen" (s. Nr. 65). Mit anderen Worten scheint der Beschwerdeführer in Übereinstimmung mit den Befehlen gehandelt zu haben, die von den prima facie „verfassungsgemäß zuständigen" Organen erlassen wurden. Ich halte es für unzumutbar zu verlangen, dass der Beschwerdeführer in der Lage gewesen sein soll, einen Konflikt zwischen diesen Befehlen und anderen Bestimmungen (wie etwa § 17 II VolkspolizeiG) zu entscheiden, indem er Methoden anwenden sollte, wie sie in einem Rechtsstaat verwendet werden. Dass solche Methoden in der DDR nicht allgemein angewendet wurden, zeigt sich z.B. in Art. 89 III der Verfassung von 1968, nach der der Staatsrat (und nicht etwa das Verfassungsgericht) zu entscheiden hatte, wenn Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften aufkamen, die der Ministerrat oder andere staatliche Organe erlassen hatte. Es wäre die Mühe wert (ginge aber über meine derzeitige Rolle hinaus) zu versuchen, die „zutreffende" Auslegung des einschlägigen DDR-Rechts zu finden. Die obigen Anmerkungen wurden gemacht um zu zeigen, dass meiner Ansicht nach der Beschwerdeführer, als er und sein Mitangeklagter nach Warnrufen zunächst Warnschüsse und dann den tödlichen Schuss15 abgegeben hatten, vernünftigerweise nicht vorhersehen konnte, dass er wegen vorsätzlichen Totschlags verurteilt werden könnte. Das angewen-

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dete DDR-Recht erfüllte deshalb nicht die Voraussetzung der Vorhersehbarkeit des Art. 7 EMRK. Es stellt sich daher die Frage, ob seine Handlung nach internationalem Recht im Sinne von entweder Art. 7 I oder II strafbar war. Bevor ich mich dieser Frage zuwende möchte ich betonen, dass der hiesige Beschwerdeführer, anders als die Beschwerdeführer im Fall Streletz, Keßler und Krenz, nicht für den „Widerspruch zwischen den in der Verfassung und in der Gesetzgebung der DDR niedergelegten Grundsätzen ... und der repressiven Handhabung" (s. Nr. 63 des Urteils) verantwortlich gemacht werden kann. Ich bin auch nicht restlos davon überzeugt, dass die demokratisch gewählte Volksvertretung der DDR, die im Sommer 1990 den Gesetzgeber des vereinigten Deutschland aufforderte, „die strafrechtliche Verfolgung des SED-Unrechts sicherzustellen" (s. Nr. 87), dabei Personen in der Stellung des Beschwerdeführers vor Augen hatte. Die Tatsache, dass sich der Beschwerdeführer freiwillig für drei Jahre zum Armeedienst meldete, ist kein Zeichen einer besonderen Loyalität zum inhumanen Grenzregime. Wie den Urteilen des erstinstanzlichen Gerichts und des BGH zu entnehmen ist, scheint er das widerstrebend und auf Drängen seines Vaters, eines Berufssoldaten, getan zu haben. Sein freiwilliger Dienst spricht daher eher für fehlende Unabhängigkeit und Reife als für eine besondere Verbundenheit zum System. Wie dem auch sei, seine Entscheidung für einen dreijährigen Militärdienst erhöhte meiner Ansicht nach nicht die nach Art. 7 erforderliche Vorhersehbarkeit in rechtlich bedeutsamer Weise. Es bleibt die Frage, ob die Tat des Beschwerdeführers dennoch „nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar" im Sinne des Art. 7 II war oder aus anderen Gründen ein Verbrechen nach internationalem Recht (Art. 7 I) darstellte. Ich erkenne an, dass es Argumente für die These gibt, wonach eine Politik der Schließung einer Staatsgrenze sogar in den 70er Jahren ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß der Nürnberger Prinzipien, wie sie sich über die Jahre entwickelt haben, darstellte.16 Eine solche Politik könnte als eine großangelegte und systematische Verletzung von Menschenrechten im Sinne der Nürnberger Prinzipien angesehen werden. Daher wäre es möglich gewesen, die Verurteilung der für diese Politik Verantwortlichen ebenfalls mit Bezug auf Art. 7 II zu rechtfertigen. Ob eine individuelle Handlung, wie sie hier in Rede steht, Verantwortlichkeit für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach sich ziehen kann, ist jedoch eine andere Frage. Unabhängig davon, wie die Antwort auf diese Frage heutzutage ausfallen mag, kann ich keine Belege für die These finden, dass die vom Beschwerdeführer 1972 begangene Tat zu diesem Zeitpunkt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß den Nürnberger Prinzipien darstellte. Weil dem so ist, schließe ich daraus auch, dass die Entschließung 95 (I) der UNVollversammlung (s. Nr. 79 des Urteils), die auf von diesen Prinzipien umfasste Handlungen anwendbar ist, für den vorliegenden Fall keine direkte Bedeutung besitzt. Ich bin ebenso wenig davon überzeugt, dass die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers nach internationalem Recht auf andere Quellen, wie etwa vergleichende Überlegungen, gestützt werden könnte. Obwohl das DDR-Grenzregime in mancherlei Hinsicht einzigartig war, wird der Einsatz tödlicher Gewalt - in unterschiedlichem Ausmaß - auch in demokratischen Gesellschaften toleriert. So hat der deutsche BGH in einer Entscheidung im Jahr 1988 (BGHSt 35, 379) einen Zollbe-

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amten freigesprochen, der in lebensgefährdender Weise auf eine Person auf einem Motorrad geschossen hatte, die sich an der deutsch-dänischen Grenze den Grenzkontrollen zu entziehen versuchte. Die Begründung lautete, er sei objektiv zu dem Verdacht berechtigt gewesen, die flüchtenden Personen seien schwere Drogenstraftäter oder hätten sonst vergleichbare Fluchtgründe. Auch wenn man keine Parallele zwischen diesem Fall und dem Fall des Beschwerdeführers ziehen sollte, ist die BGH-Entscheidung von 1988 ein Hinweis darauf, dass dem Recht auf Leben keine so überragende Bedeutung zukam, als dass die Schlussfolgerung gerechtfertigt wäre, die Handlung des hiesigen Beschwerdeführers 1972 sei „nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar" gewesen. Ich kann auch keine überzeugenden Argumente für die Schlussfolgerung erkennen (s. Nr. 105), dass das Recht auf Leben, wie es in den allgemeinen Menschenrechtsdokumenten garantiert ist, 1972 eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für Handlungen von der Art, wie sie der Beschwerdeführer beging, begründete. Ich komme deshalb zu dem Schluss, dass eine Verletzung von Art. 7 vorliegt. Ich bin jedoch nicht der Ansicht, dass diese Verletzung noch durch eine im Widerspruch zu Art. 14 stehende Diskriminierung verstärkt wird. Angesichts der gegen den Beschwerdeführer verhängten milden Strafe und der weiteren Umstände bin ich zudem ohne Zweifel der Meinung, dass die Feststellung dieser Verletzung als solche eine hinreichend gerechte Genugtuung für sämtliche immateriellen Schäden ist, die der Beschwerdeführer erlitten haben mag.

Anmerkungen 1

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Der Text der Abschnitte Nr. 41 -112 wurde aus der NJW 2001, 3042ff. übernommen. Für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck danken wir den Übersetzern Dr. Jens Meyer-Ladewig und Professor Dr. Herbert Petzold sowie der Redaktion der NJW. Die restlichen Abschnitte sowie die Sondervoten wurden von Petra Schäfter mit Unterstützung von Stephan Meseke ins Deutsche übertragen. Der englische Originaltext der Entscheidung kann im Internet unter http://www.echr.coe.int/ Eng/Judgments.htm (Stand vom 1.7.2002) abgerufen werden. Vgl. lfd. Nr. 3-1. Vgl. lfd. Nr. 3-2. Vgl. lfd. Nr. 15-3. Der Europäische Gerichtshof bezieht sich hier irrtümlich auf § 213 DDR-StGB in der durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz v. 28.6.1979 (DDR-GB1. I, S. 139) modifizierten Fassung. Da die zu beurteilende Tat jedoch im Jahr 1972 begangen wurde, galt § 213 noch in der Fassung des Strafgesetzbuchs der Deutschen Demokratischen Republik v. 12.1.1968 (DDR-GB1.1, S. 1). Die „schweren Fälle" waren dort in Absatz 2, nicht in Absatz 3 geregelt (vgl. Anhang S. 969f.). Vgl. Anm. 5. Vgl. lfd. Nr. 16-4. Vgl. lfd. Nr. 16-4, S. 929. An dieser Stelle findet sich im Original die folgende Anmerkung 1: „IT-94-1, Nr. 623". Vgl. ICTY, Prosecutor v. Tadic, Urteil vom 7.5.1997, Case IT-94-1-T. Jedoch findet sich das Zitat nicht im genannten Abschnitt Nr. 623, sondern in Nr. 649. An dieser Stelle findet sich im Original die folgende Anmerkung 2: „Nr. 248, Fussnote 311". Vgl. ICTY, Prosecutor v. Mrksic and Others (Vukovar Hospital Case), Review of the Indictment Pursuant to Rule 61 of the Rules of Procedure and Evidence vom 3.4.1996, Case IT-95-13-R61, Nr. 30.

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Vgl. S. 21 Iff. Der englische Begriff „defence" umfasst jegliches Vorbringen zugunsten des Angeklagten, ist also weiter als die deutschen Begriffe „Rechtfertigungsgrund" bzw. „Entschuldigungsgrund". Im Folgenden wird defence deshalb mit „Straffreistellungsgrund" übersetzt, es sei denn, dem Kontext ist eindeutig zu entnehmen, dass es sich nach deutschem Rechtsverständnis um einen Rechtfertigungsbzw. Entschuldigungsgrund handelt. 13 Vgl. S. 21 Iff. 14 Vgl. lfd. Nr. 16-4. 15 An dieser Stelle findet sich im Original die folgende Anmerkung 1: „Nach den Feststellungen des Landgerichts konnte nicht geklärt werden, welcher der beiden Angeklagten den tödlichen Schuss abgegeben hatte. Zudem geht aus den staatlichen Urteilen hervor, dass die Gewehre des Beschwerdeführers und seines Mitangeklagten zum Zeitpunkt der Schussabgabe auf Dauerfeuer eingestellt waren und dass sie ingesamt fünf Mal den Abzug betätigten, wobei sie jedes Mal eine Salve von zwei Schüsse herbeiführten. Wie im Urteil erwähnt (Nr. 17 und 18), akzeptierten das Landgericht und der Bundesgerichtshof die Behauptung des Beschwerdeführers und seines Mitangeklagten, dass die ersten Schüsse Warnschüsse gewesen seien." Vgl. hierzu lfd. Nr. 3-1 und 3-2. 16 An dieser Stelle findet sich im Original die folgende Anmerkung 2: „In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Sondervotum von Richter Loucaides im Fall Streletz, Keßler und Krenz/Deutschland hinweisen". Vgl. hierzu lfd. Nr. 16-4, S. 929ff.

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Lfd. Nr. 4 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Hannemann 1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 29.9.1993, Αζ. (529) 2 Js 153/90 Ks (24/92)

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2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 20.3.1995, Az. 5 StR 111/94

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Dokumente - Teil 1

Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 29.9.1993, Az. (529) 2 Js 153/90 Ks (24/92) Gründe

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I.

[Feststellungen zur Person]

219

II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

220

III. [Beweiswürdigung]

222

IV. [Rechtswidrigkeit und Schuld]

224

V.

[Verjährung]

225

VI. [Strafzumessung]

227

Anmerkungen

218

227

Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Hannemann Landgericht Berlin Az.: (529) 2 Js 153/90 Ks (24/92)

Lfd. Nr. 4-1 29. September 1993

URTEIL Im Namen des Volkes Strafsache gegen den Friedhofsgärtner Reinhardt S. geboren 194lin Β., wegen Totschlags Die 29. große Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Berlin hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 22., 27. und 29. September 1993, an der teilgenommen haben: {2} ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® in der Sitzung vom 29. September 1993 fur Recht erkannt: Der Angeklagte wird wegen gemeinschaftlichen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Angewendete Vorschriften: §§ 212 Abs. 1, 213, 25 Abs. 2 StGB.

Gründe I.

[Feststellungen zur Person]

Der heute 52jährige Angeklagte wurde während es 2. Weltkrieges in Oberschlesien geboren. Seinen Vater hat er nicht {3} gekannt, er fiel im Krieg. Im Zuge der Vertreibung siedelte seine Mutter mit ihm nach O. in der ehemaligen DDR über. Sie lebten in ärmlichen Verhältnissen. Die Mutter war gesundheitlich nicht in der Lage, den Lebensunterhalt zu verdienen. Dieser wurde durch eine Tante des Angeklagten bestritten. Er selbst mußte häufig zu Hause helfen und Erledigungen durchführen, worunter seine schulischen Leistungen stark litten. Der Schulbesuch war nur unregelmäßig, auch deshalb, weil er infolge von Unterernährung oft krank war. Er endete mit seiner Entlassung aus der 7. Klasse. Außer den Jungen Pionieren gehörte der Angeklagte keiner vom Gedankengut der SED beeinflußten Organisation an. Seinen Berufswunsch, Verkehrspolizist zu werden, vermochte er zunächst auf Druck der Mutter nicht zu verwirklichen. Stattdessen absolvierte er erfolgreich eine dreijährige Landwirtschaftslehre. 1959 ließ er sich von Offizieren der kasernierten Bereitschaftspolizei für drei Jahre anwerben, um damit - wie er glaubte - eine der Voraussetzungen für den späteren zivilen Polizeidienst zu schaffen. Die Ausbildung erfolgte in Berlin-Rahnsdorf. Der Angeklagte leistete ein Gelöbnis des Inhalts, den Arbeiter- und Bauernstaat zu schützen, sich stets für die so219

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Dokumente - Teil 1

zialistischen Bruderländer einzusetzen und den ihm erteilten Befehlen zu gehorchen. Im Januar 1960 erfolgte die Eingliederung seiner Einheit in die Berliner Bereitschaftspolizei mit Stationie-{4}rung in Köpenick. Der Angeklagte wurde an der noch offenen Grenze nach West-Berlin eingesetzt, d.h. er führte Paßkontrollen und Kontrollen hinsichtlich der Verschiebung von Gütern aller Art durch. Nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 wurde seine Einheit nunmehr zur Bewachung der Demarkationslinie befohlen. Als Mitglied der 1. Grenzbrigade B, III. Grenzabteilung, unterstellt dem Innenministerium der ehemaligen DDR, tat er Dienst im Bezirk Berlin-Mitte im Rang eines Gefreiten. Die Bewaffnung bestand aus einer Kalaschnikow-Maschinenpistole, mit der einmal im Monat Schießübungen durchgeführt wurden. Der Angeklagte war ein mittelmäßiger Schütze mit der Note 3 bis 4. Im Rahmen der gleichfalls einmal im Monat erfolgenden politischen Schulung und täglich bei Dienstbeginn wurde der sog. „Kampfauftrag" erläutert: Die Grenze, die angeblich zum Schutz der DDR vor Ausbeutung durch den Kapitalismus errichtet worden sei, vor „Angriffen der Feinde im Westen" zu schützen und Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen. Grenzverletzer waren als Verbrecher und Vaterlandsverräter festzunehmen und - wenn sie auf Anruf und Warnschuß nicht reagierten - zu „vernichten", d.h. eine Flucht war in jedem Fall zu verhindern, der Flüchtling notfalls durch gezielte Schüsse, die aber nicht Westberliner Gebiet treffen durften, zu töten. Diese Dienstvorschrift war für den Angeklagten nicht unproblematisch. Infolge seines bisherigen Lebenslaufes - insbesondere aufgrund seiner Erfahrungen an der offenen Grenze bis August {5} 1961 - war er nicht in dem Maß indoktriniert wie andere und wie vor allem in den späteren Jahren nach dem Mauerbau. Er dachte darüber nach und meinte, daß es eigentlich andere Mittel und Möglichkeiten als Mauer und Schießbefehl zum Schutz der DDR geben müßte und daß die Ausreisebestimmungen lockerer gehandhabt werden könnten. Diese Gedanken empfand er als politisch so gefahrlich, daß er sie niemand mit teilte. Für die Flüchtlinge, die verletzt oder getötet werden sollten, empfand er Mitleid. Andererseits hielt er sich als Soldat aber auch nicht für befugt, die ihm erteilten Befehle weiter und genauer zu hinterfragen, sondern war der Auffassung, Befehle müßten befolgt werden, darauf habe er schließlich einen „Eid" geleistet. Er hoffte aber immer, während seines Dienstes würden sich keine Grenzzwischenfalle ereignen. Dieser Zwiespalt führte dazu, daß der Angeklagte im Dezember 1961 einen Entlassungsantrag stellte, diesen jedoch im Januar 1962 wieder zurückzog, als ihm mitgeteilt wurde, in diesem Fall müsse er mit seiner Einziehung als Wehrpflichtiger rechnen.

II.

[Sachverhaltsfestellungen]

Am 5. Juni 1962 begann für den Angeklagten um 14.00 Uhr der Dienst als Posten 7 zwischen der Marschallbrücke und dem Reichstag am südlichen Spreeeufer. Es handelte sich um {6} einen Doppelposten mit den Angeklagten als Grenzposten und dem inzwischen verstorbenen Wolfgang D. als Postenführer. Die Mauer verlief in diesem Bereich an der östlichen Bauflucht des Reichstagsgebäudes entlang in Richtung Norden bis zur Spree. Ab hier bildete dann im nordwestlich weiter verlaufenden Spreebogen das südwestliche, hier sanft abfallende Reichstagsufer der Spree selbst die Grenze, wobei der gesamte Wasserlauf des Flusses zum Ostteil Berlins gehörte, die Wasserlinie des Ufers also die Grenze nach West-Berlin darstellte, wo es aufgrund der örtlichen Gegebenheiten keine Grenzbefestigung gab. Dafür waren das gegenüberliegende, nordöstliche

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Hannemann

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Spreeufer und - von der am Reichstag auf die Spree treffenden Grenzmauer an - auch das südwestliche Ufer in Richtung Osten bis zur 215 m entfernten Marschallbrücke mit Grenzanlagen befestigt. Dieses südwestliche Uferteil bis zur Brücke bestand aus einer 4,90 m steil zur Wasseroberfläche abfallenden Kaimauer mit parallel dazu verlaufender Straße, dem Reichstagsufer. Die Straße war zur abfallenden Kaimauer hin seit jeher durch ein schmiedeeisernes Geländer gesichert. Zusätzlich dazu war als Grenzbefestigung ein straffer Stacheldrahtzaun mit hölzernen Pfosten oben direkt an der Kaimauer entlang angebracht worden. Insgesamt führten - von der Marschallbrücke aus gesehen auf dieser Seite drei Treppen zur Spree hinunter: die erste nach 21,7 m, die zweite nach 64,3 m versehen mit einem Schwimmponton zum Anlegen von Booten des Zolls oder der {7} Wasserschutzpolizei. Die dritte und dem Westteil Berlins nächste Treppe war teilweise zerstört und mit Stacheldraht gesichert. Die anderen beiden Treppen waren für die Grenzposten begehbar. Die Entfernung zwischen der zweiten Treppe und der am Reichstag auf die Spree treffenden Grenze betrug 147 m. Der Uferbereich in Grenznähe war auch für die beiden Posten nicht bis ganz zur Mauer am Reichstag zugänglich, sondern zwischen der dritten Treppe und der Mauer durch einen internen Stacheldrahtzaun in der Verlängerung der in Richtung Spreeufer an der östlichen Baufluchtlinie des Reichstags entlang verlaufenden Ebertstraße gesperrt. Zu Beginn der Mittagsschicht hatte der Postenführer D. den Angeklagten noch im einzelnen eingewiesen, wie beide in ihrem Grenzabschnitt zu patrouillieren hätten, daß er bei Festnahmen sichern wolle und der Angeklagte durchsuchen solle und bei einem Fluchtversuch nach Anruf sowie Warnschuß gezielt zu schießen sei. Zunächst verlief der Postendienst ohne Zwischenfälle. Gegen 17.00 Uhr war der mit Sand und Kies in offenen Luken beladene, ca. 40 m lange Lastkahn des Zeugen H. im Bereich östlich der Marschallbrücke gerade von einem DDR-Zollboot abgefertigt, zur Weiterfahrt Richtung West-Berlin freigegeben worden und begann, die Brücke zu passieren. In diesem Augenblick sprang der mit Mantel, Anzug, Krawatte und Schuhen bekleidete 17jährige Lehrling Axel Hannemann aus Cottbus von der östlichen Brückenseite auf den Last-{8}kahn, um mit ihm das Land Richtung Westen zu verlassen. Er kam in einer der offenen Ladeluken auf. Der Schiffsfuhrer H. im Ruderhaus am Heck des Lastkahns stoppte sofort die Maschine und lief vor zu dem Flüchtling, da er aus Angst vor Repressalien auf keinen Fall mit ihm weiterfahren wollte. Axel Hannemann war jedoch fest zur Flucht entschlossen und sprang, als er feststellen mußte, daß der Zeuge H. bei seiner Weigerung, ihn mitzunehmen, blieb und nicht umzustimmen war, vollbekleidet ins Wasser. Es gelang dem Zeugen H. jedoch, den Flüchtling am Mantel zurück auf den Kahn zu ziehen, wo er auf ihn einredete und von seinem Vorhaben abzubringen suchte, ihn dabei auch festhielt. Nach einem kurzen Gerangel konnte sich Axel Hannemann jedoch unter Zurücklassung seines Mantels losreißen und sprang erneut von der linken Schiffsseite des in der Spreemitte in Fahrtrichtung West-Berlin treibenden Lastkahns. Er begann, vom Kahn wegzuschwimmen, schräg versetzt dazu in Richtung Westberliner Reichstag, dabei aber auch immer näher an die südwestliche Kaimauer heran. Der Angeklagte und sein Postenführer hatten den Geschehensablauf nicht von Anfang an verfolgen können, weil sie sich weiter hinten Richtung Reichstag jenseits der parallel zum Kai verlaufenden Straße aufhielten. Sie wurden jedoch durch Rufe aus Richtung Spree „Posten, Posten" aufmerksam und eilten zum Rand der Kaimauer im Bereich der mittleren Treppe, die sie gerade in dem Augenblick erreichten, als Axel Hannemann sich von dem Schiffsführer H. losreißen {9} konnte und ins Wasser sprang. Beide beobachteten zunächst das Verhalten des 221

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Dokumente - Teil 1

Schwimmers. Als sie feststellten, daß der Flüchtling auf die Grenze zuschwamm, entschloß sich der Postenfuhrer D. nunmehr befehlsgemäß die Schußwaffe einzusetzen und instruierte den Angeklagten nochmals, nach erfolglosem Anrufen und Abgabe eines Warnschusses durch ihn, den Postenfuhrer, auf Axel Hannemann zu schießen, um die Flucht auf jeden Fall zu verhindern, ihn notfalls zu erschießen. Anschließend kletterte er die mittlere Treppe hinab auf den Schwimmponton, um von dort aus auf den Flüchtling einzuwirken. Der Angeklagte verfolgte die Aktionen des Schwimmers von der Kaimauer aus. Er vernahm mehrere Anrufe durch den Postenfuhrer, auf die Axel Hannemann nicht reagierte und sodann einen Schuß, den Warnschuß, auf den der Flüchtling ebenfalls keine Reaktion zeigte. Nach einer sehr kurzen Pause von fünf bis zehn Sekunden erfolgte dann um ca. 17.23 Uhr der erste Zielschuß durch Wolfgang D. Jetzt legte auch der Angeklagte die Kalaschnikow an und zielte über Kimme und Korn auf den Schwimmer, der in diesem Augenblick ca. 5 m von der Kaimauer und etwa 25 m von ihm entfernt war und noch 120 bis 130 m zum Erreichen Westberliner Gebiets zu schwimmen hatte. Dabei hielt er die Waffe leicht rechts neben den Kopf des Opfers dergestalt, daß die rechte Kopfpartie gerade noch links im Visier war und schoß zweimal. Beide Schüsse trafen das Opfer nicht. Der Angeklagte wollte dabei dem ihm er{10}teilten Befehl, die Flucht auch um den Preis des Todes des Flüchtlings zu verhindern, zwar nicht in letzter Konsequenz Folge leisten und Axel Hannemann direkt töten. Dennoch fühlte er sich an die Befehlslage gebunden und nahm billigend in Kauf, daß der Schwimmer auch durch einen seiner Schüsse getötet werden könnte. Während der Angeklagte schoß, gab auch sein Postenfuhrer unten am Wasser einen weiteren Zielschuß ab. Nach seinem zweiten Schuß blickte der Angeklagte über das Visier hinaus und sah, daß Axel Hannemann sich umgedreht und ihnen das Gesicht zugewandt hatte. In diesem Moment schoß der Postenfuhrer Wolfgang D. insgesamt zum dritten Mal gezielt und traf den Kopf Axel Hannemanns in Höhe der Stirn über dem rechten Augenbrauenwulst nahe der Nasenwurzel. Dieser Schädeldurchschuß mit Schädel- und Hirnzertrümmerung war sofort tödlich. Der Getroffene riß reflexartig noch beide Arme hoch und versank dann im Wasser. Sein Leichnam konnte erst gegen 19.50 Uhr geborgen werden. Die beiden Schützen wurden vom Dienst abgelöst und durch Überprüfung ihrer Magazine die Zahl der jeweils abgegebenen Schüsse ermittelt. In seinem Bericht vom 5. Juni 1962 an das Ministerium des Innern bezeichnete der damalige Stabschef der III. Grenzabteilung, der Zeuge D., die Handlungen der beiden Grenzposten als „taktisch richtig und zweckmäßig". Drei Tage später wurde der Angeklagte mit der Medaille für vorbildlichen Grenzdienst ausgezeichnet und im Oktober 1962 im {11} Range eines Unteroffiziers entlassen. Er heiratete und wurde Vater zweier Kinder. Zunächst arbeitete er im Betriebsschutz und anschließend bis 1976 als ® es folgt die genaue Berufsbezeichnung Sodann war er erneut als zivile Betriebswache im Tagebau [in] H. als unbewaffneter Kontrollposten an der dort aus Betriebsgründen verschobenen Grenze tätig. Seit Ende 1988 ist er als Verantwortlicher auf dem Gemeindefriedhof seines Wohnortes beschäftigt. Der Angeklagte ist nicht vorbestraft. III.

[Beweiswürdigung]

Die getroffenen Feststellungen beruhen weitgehend auf den Einlassungen des Angeklagten sowie auf den glaubhaften Bekundungen der Zeugen Eheleute H., D. und V. Zu

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der tödlichen Verletzung hat sich der damalige Obduzent B. überzeugend gutachterlich geäußert. Abweichend von den Sachverhaltsfeststellungen hat der Angeklagte lediglich angegeben, er habe bei der von ihm geschilderten Visierstellung zum Kopf des Opfers auf jeden Fall einen halben bis einen Meter neben den Kopf des Schwimmers geschossen und ihn daher - wie von ihm beabsichtigt - auch weder verletzen noch gar töten können. {12} Dies ist zur Überzeugung der Kammer als Schutzbehauptung widerlegt. Dem Angeklagten war bei der von ihm gewählten Anvisierung klar, daß er den Kopf des schwimmenden Axel Hannemann treffen konnte. Dies ergibt sich zum einen daraus, daß er nicht so weit neben den Kopf geschossen hat, wie angegeben. Dazu hat der Waffensachverständige K. ausgeführt - und dem folgt die Kammer nach Überprüfung auch durch Inaugenscheinnahme einer Kalaschnikow MP - , daß bei einer Entfernung von ca. 25 m bei Anvisierung über Kimme und Korn der Seitenabstand zu einem gerade noch am linken Rand des Visiers sichtbaren Ziels lediglich 30, höchstens 40 cm beträgt. Zum anderen ist zu berücksichtigen, - auch dies hat der Sachverständige überzeugend dargelegt - , daß die Waffe aufgrund ihres Eigengewichts nur sehr schwer ruhig zu halten war, bei jedem Schuß durch den Angeklagten als Rechtshänder leicht nach rechts seitlich auswich, so daß er das Ziel auch beim zweiten Schuß erneut anvisieren mußte, und sowohl die Aufregung des Schützen als auch die Bewegungen des Opfers die Zielgenauigkeit auf diese kurze Entfernung von ca. 25 m stark beeinflußten. Der Angeklagte überließ es daher dem Zufall, ob er den Kopf des Schwimmers treffen würde oder nicht. Er nahm dabei dessen Tod billigend in Kauf. Das Schießen auf einen Menschen mit einer scharfen Waffe stellt bereits {13} für sich gesehen eine Handlungsweise dar, die nach ihrer außerordentlichen Gefährlichkeit den Schluß auf den Tötungsvorsatz nahelegt. Das gilt insbesondere dann, wenn, wie hier, nur der Kopf sichtbar und im Visier ist, also ein anderer Körperteil, wie etwa die Beine, gar nicht anvisiert werden kann. Um sicher zu sein, daß er den Flüchtling wirklich nicht treffen konnte, hätte der Angeklagte ganz anders schießen müssen. Diesbezüglich hat der Sachverständige K. überzeugend ausgeführt, im Polizeidienst sei insoweit ein seitlich neben dem Ziel bestehender Winkel mindestens von 30 Grad vorgegeben. Die Schüsse des Angeklagten waren also erheblich zu nahe am Kopf des Schwimmenden gezielt. Der Angeklagte wollte außerdem den ihm erteilten Befehl, eine Flucht notfalls durch Tötung zu unterbinden, Folge leisten, - wie er selbst bekundet hat - , wenn auch nicht in letzter Konsequenz, indem er direkt auf das Opfer schoß. Immerhin hat er aber zweimal geschossen und so gezielt, daß er den Kopf des Flüchtlings noch im Visier hatte. Er fand sich innerlich damit ab, durch sein der Befehlslage entsprechendes Schießen unter den beschriebenen Umständen den Tod des Flüchtlings herbeizuführen. Er handelte auch gemeinschaftlich mit seinem Postenführer D. und muß sich dessen Verhalten, nämlich dessen letzten tödlichen Schuß auf Axel Hannemann im Sinne arbeitsteiliger Mittäterschaft zurechnen lassen. Beiden Grenzposten {14} war befohlen, selbst unter Inkaufnahme einer Tötung auf den Flüchtling zu schießen, wenn dessen Flucht nicht anders sicher zu verhindern war. Aus den unmittelbaren Anweisungen seines Postenführers zu Dienstbeginn und kurz vor der Aktion gegen den Schwimmer, sowie aufgrund der Tatsache, daß D. die vorgeschriebene Reihenfolge Anruf-WarnschußZielschuß einhielt, war dem Angeklagten klar, daß D. dem Befehl entsprechen wollte. Auch der Angeklagte schoß befehlsgemäß, wenn auch nicht in letzter Konsequenz, nämlich nur mit bedingtem Tötungsvorsatz.

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Beide wirkten in der Form zusammen, daß sich der Angeklagte dem von ihm erkannten Vorhaben D. anschloß. Seine eigene Handlung war zur Tötung des Flüchtlings geeignet und entsprach der Vorgabe, daß nämlich beide Posten ihren Beitrag zur Fluchtverhinderung zu leisten hatten, indem auch sein Schießen die Chancen Axel Hannemanns verminderte, die Flucht erfolgreich zu gestalten (vgl. BGH vom 3. November 1992, 5 StR 370/92 Seite 41 ff 1 ).

IV. [Rechtswidrigkeit und Schuld] 1. Der Angeklagte Sch. war daher wegen gemeinschaftlichen Totschlags gemäß §§212 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB zu bestrafen. 2. Er handelte rechtswidrig. Ein gesetzlicher Rechtfertigungsgrund für sein konkretes Handeln kam nicht in Be-{15}tracht. Das Gesetz über die Staatsgrenze der DDR (Grenzgesetz) mit dem § 27 Abs. 2 über die Rechtfertigung der Anwendung der Schußwaffe vom 25. März 1982 trat erst am l . M a i 1982 in Kraft. Die Dienstvorschrift für den Dienst der Grenzposten DV III/2 vom 12. September 1958 sowie der Befehl des Ministers des Innern Nr. 39/60 i.d.F. vom 28. Juni 1960, 26. August 1961 bzw. 19. März 1962 stellen keine gesetzlichen Regelungen dar, sondern lediglich interne Anweisungen eines Fachministeriums als Dienstbehörde. Die darin getroffene Regelung (Durchführungsanweisung Nr. 2 zum Befehl des Minister des Innern Nr. 39/60 vom 19. März 1962 fur die 1. und 2. Grenzbrigade (B) 2 ), die Schußwaffe anzuwenden 2 c) „zur Festnahme von Personen, die sich den Anordnungen der Grenzposten nicht rügen, indem sie auf Anruf ,Halt - stehenbleiben - Grenzposten' oder nach Abgabe eines Warnschusses nicht stehenbleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der DDR zu verletzen und keine andere Möglichkeit zur Festnahme besteht;"

verstieß ihrerseits gegen die damals gültige Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 (Gesetzblatt der DDR Jahrgang 1949, Seite 6 ff). Danach war jeder Bürger berechtigt, auszuwandern und dieses Recht konnte nur durch Gesetz der Republik beschränkt werden (Artikel 10 {16} Abs. 3). Zwar existierte zur Tatzeit ein solches Einschränkungsgesetz in Form des Paßgesetzes der DDR vom 15. September 1954 i.d.F. vom 11. Dezember 1957 (Gesetzblatt I, Seite 650 ff). § 8 Abs. I 3 sah jedoch für den Fall des Verlassens der DDR ohne die erforderliche Genehmigung lediglich eine Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren vor und gestattete es daher den Grenzposten nicht, auf Flüchtlinge mit Tötungsvorsatz zu schießen. Allenfalls deren Festnahme als Straftäter gemäß § 127 StPO wäre gerechtfertigt gewesen. Schußwaffengebrauch in der konkreten Situation wie hier findet gleichfalls keine Rechtfertigung in den Vorschriften des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang, §§11, 12 UZwG, die einen Einsatz nur mit dem Ziel der Fluchtunfähigkeit erlauben. Die durch kein formelles Gesetz sanktionierte Befehlslage, die zur Tatzeit bestand, verstieß offensichtlich in grober Weise gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Der Verstoß war so schwerwiegend, daß er die allen Völkern gemeinsame, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzte. Das Verbot der willkürlichen Tötung eines Menschen gehört zum Kernbereich der elementaren Menschenrechte, der als überpositives Recht nicht zur Disposition der Völker steht. Die Grenze zur Willkür ist überschritten, {17} wenn ein Staat den Schußwaffengebrauch an seiner Grenze so regelt, daß er dem Zweck dient, Dritte vom unerlaubten

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Grenzübertritt abzuschrecken und diesen notfalls um den Preis eines Menschenlebens zu verhindern (vgl. BGH vom 3. Dezember 1992 5 StR 370/92, Seite 22, 23, 29). 3. Der Angeklagte war auch nicht wegen Handelns auf Befehl gemäß § 5 Abs. 1 Wehrstrafgesetz entschuldigt. Zwar mag er nicht positiv erkannt haben, daß er einem rechtswidrigen Befehl folgte. Nach den ihm bekannten Umständen war es aber fur ihn offensichtlich, daß das gemeinsame Schießen auf Axel Hannemann mit Tötungsvorsatz eine rechtswidrige Tat darstellte. Beide Posten schössen viel zu früh und schon ganz kurze Zeit - fünf bis zehn Sekunden - nach nur einem einzigen Warnschuß. Wie sie wußten, handelte es sich um einen vollständig bekleideten Flüchtling, der bis zum Erreichen der Grenze noch ca. 120 bis 130 m zurückzulegen hatte. Von ihrem Standort aus hatten sie freies Schußfeld, der Schwimmer konnte sich nicht verstecken. Weitere Warnschüsse oder gar das Legen von Sperrfeuer vor den Schwimmer wären möglich gewesen. Der Angeklagte hätte auch bis zum Grenzzaun am Reichstag vorlaufen, den Schwimmer dabei überholen und dort durch erneutes Anrufen und Warnschüsse noch versuchen können, den Flüchtling aufzuhalten und zum Zurückschwimmen zu zwingen. Dies hätte {18} durchaus noch der Befehlslage entsprochen, wie der Zeuge D. glaubhaft bekundet hat, die unter anderem für den Fall, daß der Grenzverletzer sich von den Grenzposten entfernte vorsah, diesen zu überholen, einzukreisen und festzunehmen oder dies vor Zielschüssen wenigstens nochmals zu versuchen. Es war weiter bekannt, daß in diesem Spreeabschnitt in unregelmäßigen Abständen Boote der Wasserschutzpolizei und des Zolls patrouillierten. Die beiden Grenzposten hätten angesichts der Entfernung des Opfers zur Grenze noch abwarten können, ob nicht mit weiteren Warnschüssen ein solches Boot alarmiert werden konnte, das dann am Tatort erschien und dem Schwimmer den Fluchtweg abschneiden konnte. Unter den geschilderten Umständen kam die sofortige Tötung des offensichtlich hilflosen Flüchtlings einer Einrichtung 4 gleich. Es war auch für den Durchschnittssoldaten wie Sch. ohne weiteres ersichtlich, daß der Staat nicht das Recht hatte, einen Menschen nur deshalb töten zu lassen, weil dieser unbewaffnet von einem Teil Berlins in den anderen hinüberwechseln wollte. Insbesondere hatte der Angeklagte nach eigenen Bekunden durchaus Zweifel an der Berechtigung von Mauer und Schießbefehl. Sein Rechtsbewußtsein war nicht dermaßen indoktriniert, daß er nicht eine ausreichende Vorstellung von Menschlichkeit und Gerechtigkeit gehabt hätte. Er empfand Mitleid mit Flüchtlingen, die ihr {19} Leben aufs Spiel setzten und war sich des ausschließlich politischen Hintergrundes des Schießbefehls durchaus bewußt, die von ihm ein Erschießen ohne Abwägen der Verhältnismäßigkeit in bezug auf das Recht auf Leben verlangte. 4. Soweit der Angeklagte geglaubt hat, er müsse zur Verhinderung der Flucht auch dann, dem Befehl entsprechend, zumindest mit bedingtem Tötungsvorsatz schießen, wenn der Befehl rechtswidrig war, handelte er in einem gemäß § 17 Abs. 2 StGB vermeidbaren Verbotsirrtum, nämlich in der Annahme eines nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes, wobei der Verstoß des Schießbefehls gegen das elementare Tötungsverbot - wie bereits ausgeführt - für ihn offensichtlich gewesen ist.

V.

[Verjährung]

Die Verfolgung der Straftat ist nicht verjährt, die Veijährung ruhte bis zum 2. Oktober 1990 und ist dann gem. Art. 315a EGStGB unterbrochen worden.

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Artikel 1 des Gesetzes über das Ruhen der Veijährung von SED-Unrechtstaten vom 26. März 1993 sieht diesbezüglich vor, daß bei der Berechnung der Verjährungsfrist für die Verfolgung von Taten, die wahrend der Herrschaft des SED-Unrechtsregimes begangen wurden, aber entsprechend dem {20} ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen der Staats- und Parteiführung der ehemaligen deutschen Demokratischen Republik aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht geahndet worden sind, die Zeit vom 11. Oktober 1949 bis 2. Oktober 1990 außer Ansatz bleibt. Die Kammer ist nicht davon überzeugt, daß diese Regelung wegen unzulässiger Rückwirkung gegen die Verfassung verstoßt. Denn die Vorschrift des Artikel 1 Veqährungsgesetz wiederholt und bestätigt nur die Rechtslage, die in der ehemaligen DDR ohnehin bestanden hat. Im damals gültigen StGB der DDR, nämlich in § 69 Abs. 1 des Gesetzes zur Ergänzung des Strafgesetzbuches vom 11. Dezember 1957 (Gesetzblatt Seite 643 ff), war das Ruhen der Verjährung vorgesehen während der Zeit, in welcher aufgrund gesetzlicher Vorschrift die Strafverfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann. Eine gesetzliche Vorschrift im engeren Sinne gab es zwar erst ab dem 1. Mai 1982 mit Inkrafttreten des Gesetzes über die Staatsgrenze der DDR vom 25. März 1982, das die Anwendung der Schußwaffe bei Fluchtversuchen bis hin zur Tötung des Flüchtlings als gerechtfertigt erklärte und damit regelte, daß die Todesschützen an der innerdeutschen Grenze wegen rechtmäßiger Tötung strafrechtlich nicht verfolgt wurden. Dennoch entsprach es bereits zur hiesigen Tatzeit dem Willen der Partei und Staatsfuhrung der ehemaligen DDR, {21} auch wenn er nicht in förmliche Gesetze gegossen war, die Verantwortlichen für Todesfälle an der innerdeutschen Grenze nicht strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Dieser Wille ergibt sich aus der Tatsache, daß generell gegen „Mauerschützen" keine Verfahren betrieben, sondern sie im Gegenteil belobigt und ausgezeichnet wurden, wie auch im vorliegenden Fall. Wie aus der Befehlslage ersichtlich, wurde die Tötung eines Menschen dem Grenzschutz als nachrangig eingestuft. Jeder Grenzzwischenfall wurde nur nach militärtaktischen Gesichtspunkten untersucht, das Verhalten der Beteiligten im Hinblick auf die Einhaltung der Vorschriften bewertet und das vorgesetzte Ministerium i.d.R. noch am Vorfallstag ausführlich unterrichtet. Es ist kein Fall bekannt, in dem Justizbehörden eingeschaltet oder sonst gegen solche Schützen strafrechtlich ermittelt wurde. Eine solche strafrechtliche Verfolgung von „Mauerschützen" hätte im Gegenteil den Schießbefehl geradezu konterkariert. Aus den ministerialen Anweisungen, die von der damaligen Staats- und Parteiführung abgesegnet waren, wird deutlich, daß die Verhinderung des Grenzübertritts als überragendes politisches Interesse aufgefaßt wurde, hinter das persönliche Rechtsgüter einschließlich des Lebens und ihr strafrechtlicher Schutz völlig zurücktraten. Diese Bewertung war in dem autoritären Staat, in dem die Partei immer recht hatte und in dem nach der marxistisch-leninistischen Staatslehre die Justiz nur ein Zweig der Verwaltung im Rahmen einer zentralistischen, einheitlichen {22} Staatsmacht mit der Aufgabe war, die Errungenschaften des Sozialismus und die Macht der über dem Gesetz stehenden Einheitspartei zu bewahren und zu festigen, für die StrafVerfolgungsorgane rechtsverbindlich und wurde einem Gesetz gleich erachtet, so daß der Strafverfolgung von „Mauerschützen" keine tatsächlichen Hindernisse entgegenstanden, sondern der gesetzesgleich verstandene Wille der Staats- und Parteiführung (vgl. im einzelnen dazu Kammergericht Berlin, Beschluß vom 17. Dezember 1992, 4 Ws 160/925; Enquete-Kommission des Bundestags in DRiZ 1993, S. 405 ff.).

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Hannemann

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VI. [Strafzumessung] Bei der Strafzumessung ist die Kammer von einem minder schweren Fall des Totschlags gemäß § 213 StGB ausgegangen. Der Angeklagte war zur Tatzeit noch sehr jung, knapp über 21 Jahre alt. In dieser Lebensphase sind die persönlichen Standpunkte zu elementaren Grundfragen in der Regel noch nicht so deutlich ausgeprägt wie in späteren Jahren. Die Anforderungen an die Zivilcourage eines jungen Soldaten, Befehlen nicht zu gehorchen, dürfen nicht zu hoch gespannt werden. Der Angeklagte war das letzte Glied in der Befehlskette und tat am Tattag Dienst mit einem Postenführer, der fest entschlossen war, sich an den Tötungsbefehl zu halten. {23} Immerhin war er einem besonderen Gewaltverhältnis unterworfen, das von Befehl und Gehorsam geprägt war. Auch er ist im Grunde ein Opfer des Grenzregimes. Die Tat liegt mehr als 31 Jahre zurück. Vor allem aber wäre Axel Hannemann auch gestorben, wenn der Angeklagte nicht mitgeschossen hätte, weil der Postenfuhrer ohnehin entschlossen war, den Flüchtling zu töten. Soweit ersichtlich hat der Angeklagte sowohl vor als auch nach dem Vorfall ein straffreies, geordnetes Leben geführt. Zu seinen Lasten mußte sich allerdings auswirken, daß ein absolut hilfloser junger Mensch geradezu abgeschossen wurde, dessen Fluchtversuch offensichtlich spontan und wenig durchdacht war. Unter Abwägung dieser Gesamtumstände und Beachtung des Grundsatzes der Gleichbehandlung - bisher sind in Verfahren gegen „Mauerschützen" fast ausschließlich Strafen unter zwei Jahren verhängt worden - hielt die Kammer im vorliegenden Fall eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren für schuldangemessen, aber auch erforderlich, um den hohen Unrechtsgehalt überhaupt ausreichend zu sühnen. Die Vollstreckung der Strafe konnte gemäß § 56 Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden. Seit der Tat sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen. Der Angeklagte ist ansonsten nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Er hat {24} sich uneingeschränkt dem Verfahren gestellt und durch sein weitgehendes Geständnis Einsicht in das begangene Unrecht dokumentiert. Es ist davon auszugehen, daß er sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen wird.

Anmerkungen 1 2 3 4 5

Mittlerweile veröffentlicht in BGHSt 39, 1. Vgl. auch lfd. Nr. 2-2. Vgl. Anhang S. 982f. Vgl. Anhang S. 968f. Im Original. Gemeint ist wohl „Hinrichtung". Vgl. lfd. Nr. 13-2.

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Dokumente - Teil 1

Lfd. Nr. 4-2

Inhaltsverzeichnis Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 20.3.1995, Az. 5 StR 111/94 Gründe

229

A.

[Das Urteil der Strafkammer]

229

B.

[Zur Verjährung]

229

C.

[Zu den Verfahrensrügen]

230

D.

[Zu I. II. III. IV.

230 230 231 237 238

den Sachrügen] [Mittäterschaft] [Rechtswidrigkeit] [Schuld] [Strafzumessung]

Anmerkungen

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Hannemann

Bundesgerichtshof Az.: 5 StR 111/94

Lfd. Nr. 4-2

20. März 1995

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen Reinhardt S. geboren 1941 in B. wegen Totschlags {2} Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Sitzungen vom 7. und 20. März 1995, an denen teilgenommen haben: ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® {3} am 20. März 1995 für Recht erkannt: Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 29. September 1993 wird verworfen. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. - Von Rechts wegen -

Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Die Revision des Angeklagten ist nicht begründet. A. [Das Urteil der Straßiammer] ® Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Feststellungen zum Sachverhalt sowie zur Rechtswidrigkeit und zur Schuld. ®

B. [Zur Verjährung] Die Strafverfolgung ist nicht verjährt. In der DDR hat die Verfolgungsverjährung nach den Grundsätzen des Senatsurteils vom 12. April 1994 (BGHSt 40, 113, 116 ff; vgl. auch BGHSt 40, 48) während der SED-Herrschaft wegen eines quasigesetzlichen Verfolgungshindernisses geruht; denn nach der Staatspraxis der DDR, die mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar war, sind Schüsse an den innerdeutschen Grenzen, mit denen Grenzverletzungen verhindert werden sollten, generell nicht geahndet worden. Dem entspricht die deklaratorische Bestimmung des Art. 1 des Gesetzes über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechts-

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taten vom 26. März 1993 (BGBl. I S. 392). Daß es sich bei dem Angeklagten nicht, wie in den in BGHSt 40, 48 ff., 113 ff. entschiedenen Fällen, um einen Soldaten der in die NVA eingegliederten Grenztruppen gehandelt hat, steht der Anwendung der genannten Grundsätze nicht entgegen. Die Grenzbrigaden, die zunächst dem Innenministerium der DDR unterstellt waren und, soweit sie an der Grenze zu Berlin (West) eingesetzt wa{10}ren, erst mit Wirkung vom 23. August 1962 in die NVA überfuhrt worden sind (Lapp, Frontdienst im Frieden - Die Grenztruppen der DDR, 1987, S. 25, 28), versahen dieselben Aufgaben wie die Grenztruppen der NVA; die Staatspraxis unterschied sich im Hinblick auf den Schußwaffengebrauch nicht von den in BGHSt 40, 113 ff. gekennzeichneten Verhältnissen. C. [Zu den Verfahrensrügen] Die Verfahrensrügen des Angeklagten sind unbegründet. Insbesondere ist ein Verstoß gegen § 261 StPO nicht dargetan. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß das Landgericht den Inhalt der Einlassung und der vom Verteidiger in der Hauptverhandlung verlesenen Erklärung des Angeklagten vernachlässigt oder unrichtig ausgelegt hat. D. [Zu den Sachrügen] Das Urteil hält auch der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand. I.

[Mittäterschaft]

Das Landgericht hat zutreffend einen gemeinschaftlichen vollendeten Totschlag, begangen mit dem bedingten Vorsatz der Tötung, angenommen. {11} Daß nur der Schuß des Postenführers den Flüchtling getroffen hat, steht dieser Annahme nicht entgegen; es handelt sich bei den Schüssen des Angeklagten insbesondere nicht etwa nur um einen Versuch des Totschlages. Der Senat verweist auf seine Ausführungen in BGHSt 39, 1, 30 ff.1 Im vorliegenden Fall haben sowohl der Angeklagte als auch sein Postenführer auf den schwimmenden Flüchtling geschossen. Der Angeklagte wollte, wenn auch innerlich widerstrebend, dem Befehl entsprechen, auf Flüchtlinge zu schießen, die auf Anruf und Warnschuß nicht reagieren. Er faßte die Befehlslage dahin auf, daß eine Flucht „auch um den Preis des Todes des Flüchtlings" verhindert werden müsse. In diesem Sinne hatte der Postenführer ihn nochmals instruiert, als der Fluchtversuch des Schwimmers erkennbar wurde. Der Angeklagte hat dem Postenführer nicht etwa widersprochen; vielmehr fühlte er sich „an die Befehlslage gebunden". Daß der Angeklagte den Tod des Flüchtlings in seinen bedingten Vorsatz aufgenommen hat, hat der Tatrichter ohne Rechtsfehler aufgrund der vom Angeklagten geschilderten Visierstellung und aufgrund der vom Angeklagten empfundenen Bindung an den Befehl angenommen. Dem widerspricht nicht, daß in den Feststellungen auch gesagt wird, der Angeklagte habe dem Befehl „nicht in letzter Konsequenz" folgen wollen. Damit ist nur gemeint, daß der Angeklagte bei der Befehlsbefolgung nicht bis zur direkt vorsätzlichen oder absichtlichen Tötung gehen wollte. Ersichtlich hatte der Postenfuhrer einen direkten Tötungsvorsatz. Eine gemeinschaftliche Tatbegehung ist auch in der Form möglich,

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daß der eine Mittäter mit direktem, der andere dagegen nur mit be-{12}dingtem Tötungsvorsatz handelt. Allerdings sind beim bedingtem Vorsatz an die Gemeinschaftlichkeit der Tatbegehung (§ 25 Abs. 2 StGB) hohe Anforderungen zu stellen (BGHSt 39, 1,31). Diesen Anforderungen genügt jedoch das angefochtene Urteil. Der Schußwaffengebrauch durch die beiden Posten stellte sich als arbeitsteiliges Vorgehen dar, bei dem der Tatbeitrag des Angeklagten denjenigen des Postenfiihrers ergänzte. Der Postenführer konnte sich, wie der Angeklagte wußte, darauf verlassen, daß sein Schießen durch das befehlsgemäße Verhalten des Angeklagten in der Wirkung verstärkt werden würde. Schon deswegen muß sich der Angeklagte den tödlichen Schuß des Postenfiihrers zurechnen lassen. Überdies hat das Schießen aus zwei Schußwaffen die Fluchtbewegung des Schwimmers, wie sich von selbst versteht, objektiv erschwert. Die Schüsse des Angeklagten waren unter diesen Umständen, wie bei der Auslegung des § 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB-DDR vorausgesetzt wurde, geeignet, den Tod des Opfers herbeizufuhren: Daß der Postenführer, wie es in den Strafzumessungsgründen heißt, den Flüchtling auch ohne Mitwirkung des Angeklagten erschossen hätte, steht dem nicht im Wege. II.

[Rechtswidrigkeit]

Die Annahme des Tatrichters, daß der Angeklagte rechtswidrig gehandelt hat, hält im Ergebnis der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand. {13} 1. Allerdings kann dem Tatrichter nicht gefolgt werden, soweit er annimmt, die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse ergebe sich schon daraus, daß es in der DDR zur Tatzeit - vor dem Inkrafttreten des Grenzgesetzes von 1982 - keine gesetzliche Grundlage für den tödlich wirkenden Schußwaffengebrauch gegeben habe und daß der vom Angeklagten befolgte Befehl gegen die Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 (GB1.-DDR S. 4), insbesondere gegen die dort unter Gesetzesvorbehalt verbriefte Ausreisefreiheit (Art. 10 Abs. 3), verstoßen habe. Eine solche Betrachtungsweise ist an dem rechtsstaatlichen Modell orientiert, nach dem in Grundrechte - maßgeblich wäre in erster Linie das in Art. 3 der Verfassung der DDR (1949) implizierte Recht auf Leben nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur in den von der Verfassung aufgezählten Fällen eingegriffen werden darf. Wie der Senat in seinem Urteil vom 26. Juli 1994 - 5 StR 167/94 - (NJW 1994, 2708, 2709; zum Abdruck in BGHSt 40, 241 bestimmt 2 ) angedeutet hat, sind in der DDR möglicherweise die vom Tatrichter erwähnten Befehle des Innenministers als eine ausreichende formelle Rechtsgrundlage für den Schußwaffengebrauch angesehen worden. Dabei mag die Vorstellung eine Rolle gespielt haben, daß die von der Verfassung vorausgesetzte Existenz von Polizei und Grenzsicherungsaufgaben die Befugnis der dafür zuständigen Staatsorgane einschloß, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach Maßgabe innerdienstlicher Vorschriften Schußwaffen einzusetzen. Dafür spricht, daß schon während der Geltung der in ihrem Wortlaut vielfach an rechtsstaatliche Verfassungstexte angelehnten Verfassung von 1949 das {14} Prinzip der Gewaltenteilung in den Hintergrund getreten und der Gesetzesbegriff allmählich aufgelöst worden ist (zum damaligen Streitstand siehe einerseits - noch im Sinne rechtsstaatlicher Tradition - Such in: Festschrift für Erwin Jacobi, 1957, S. 22 ff. sowie Bönninger ebenda S. 333 ff., andererseits die massive Kritik an solchen Positionen in dem Protokollheft

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„Staats- und Rechtswissenschaftliche Konferenz in Babelsberg", 1958; aus der Zeit nach der Einführung der Verfassung von 1968/1974 vgl. ferner Riemann, Staat und Recht 1976, 1291; Joseph, Staat und Recht 1973, 1875; Bley/Dähn, Staat und Recht 1973, 1730 ff. und, im Rückblick, Friedrich Wolff in: Lampe [Hrsg.], Die Verfolgung von Regierungs-Kriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, 1993, S. 67, 71). Der Senat geht hiernach nicht davon aus, daß zur Tatzeit Ansatzpunkte für die Prüfung eines - auch durch Befehle begründeten - Rechtfertigungsgrundes fehlten. 2. Die am 19. März 1962 erlassene Durchführungsanweisung Nr. 2 des Innenministers der DDR zum Befehl Nr. 39/60 verpflichtete die Posten der Grenzbrigaden, an der Berliner Grenze die Schußwaffe „zur Festnahme von Personen" zu gebrauchen, die auch nach einem Warnschuß „offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der DDR zu verletzen", sofern „keine andere Möglichkeit zur Festnahme besteht". Die mit bedingtem Tötungsvorsatz abgegebenen Schüsse des Angeklagten auf den schwimmenden Flüchtling entsprachen der Zielsetzung dieses Befehls. Die Erläuterung des Befehls durch den täglich wiederholten und ersichtlich dem Willen des {15} Befehlsgebers entsprechenden (vgl. BGHSt 39, 168, 186 ff.3) „Kampfauftrag" besagte, daß eine Flucht in jedem Falle, notfalls durch tödliche Schüsse, zu verhindern war (UA S. 4). Im Hinblick auf das Ziel, Grenzübertritte zu verhindern, galt bei dieser Interpretation die Tötung (und anschließende Bergung) des Flüchtlings als eine Art der im Befehl des Ministers bezeichneten „Festnahme". Der Angeklagte hat demnach nicht die Grenzen des so zu verstehenden Befehls überschritten. 3. Hiernach käme der Befehl, obwohl er keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage im Recht der DDR hatte, als Rechtfertigungsgrund in Frage, wenn sein Inhalt, so wie er dem Angeklagten vermittelt worden ist, hingenommen werden könnte. Das ist indessen nicht der Fall. a) Der Senat hat in seinen Entscheidungen BGHSt 39, 1 ff. und BGHSt 39, 168 ff. (vgl. auch das Senatsurteil vom 26. Juli 1994 - 5 StR 98/94 = NJW 1994, 2703, zum Abdruck in BGHSt 40, 218 vorgesehen) ausgeführt: aa) Ein Rechtfertigungsgrund, der einer Durchsetzung des Verbots, die DDR zu verlassen, Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen gab, indem er die vorsätzliche Tötung unbewaffneter Flüchtlinge gestattete, ist wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam. Der Verstoß wiegt hier so schwer, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüber{16}zeugungen verletzt; in einem solchen Fall muß das positive Recht der Gerechtigkeit weichen (sogenannte „Radbruch'sehe Formel"). Diese Grundsätze werden durch Dokumente des internationalen Menschenrechtsschutzes konkretisiert. Dazu gehört für die Zeit nach dem 23. März 1976 (Zeitpunkt des Inkrafttretens) der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl. II 1973, 1534; GB1.-DDR II 1974, 57). Für die Zeit davor ist, wie der Senat in seinem Urteil vom 26. Juli 1994 (NJW 1994, 2708, 2709, zum Abdruck in BGHSt 40, 241 vorgesehen) näher dargelegt hat, auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 zu verweisen, die, ohne Vertragsrecht zu sein, die Bezugnahme der Charta der Vereinten Nationen auf die Menschenrechte konkretisiert.

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bb) Würde ein gesetzlicher Rechtfertigungsgrund unter Mißachtung dieser Grundsätze ausdrücklich die (bedingt oder unbedingt) vorsätzliche Tötung von Menschen gestatten, die nichts weiter wollen, als unbewaffnet und ohne Gefahrdung anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten, so müßte er bei der Rechtsanwendung unbeachtet bleiben. Der Bestrafung stände dann Art. 103 Abs. 2 GG nicht entgegen. Denn der Rechtfertigungsgrund hätte wegen der Offensichtlichkeit des in ihm verkörperten Unrechts niemals Wirksamkeit erlangt. {17} cc) Entsprechendes gilt für eine Staatspraxis, die eine nach den vorhandenen Rechtsvorschriften mögliche, die allgemein geltenden und anerkannten Menschenrechte respektierende Gesetzesauslegung außer acht läßt. Weil eine solche Staatspraxis in gleicher Weise offensichtliches schweres Unrecht darstellt, kann ihr kein Rechtfertigungsgrund entnommen werden. Der Senat hat in den genannten Urteilen ausgeführt, daß die im Recht der DDR zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden es ermöglicht haben, Rechtfertigungsgründe für den Schußwaffengebrauch so auszulegen, daß Menschenrechtsverletzungen vermieden wurden. Das gilt im Ergebnis auch für den vorliegenden Fall, der sich vor dem Inkrafttreten des Grenzgesetzes der DDR (1982) unter der Geltung der DDR-Verfassung von 1949 ereignet hat. Der Text der Verfassung von 1949 band alle Maßnahmen der Staatsgewalt an die Grundsätze der Verfassung (Art. 4 Abs. 1), betonte den Schutz der persönlichen Freiheit (Art. 8), gewährte in den Grenzen eines Gesetzesvorbehalts die Auswanderungsfreiheit (Art. 10 Abs. 3) und besagte, daß alle Verfassungsbestimmungen unmittelbar geltendes Recht seien (Art. 144 Abs. 1). Zur Tatzeit konnten mangels einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung Befehle über den Schußwaffengebrauch ohne weiteres an solchen Grundsätzen und am Lebensrecht der Bürger orientiert werden. b) Der Senat hält an den Grundsätzen seiner Rechtsprechung fest. Das führt dazu, daß der Schußwaffengebrauch, wie ihn der Angeklagte mit bedingtem Vorsatz vorgenommen hat, nicht gerechtfertigt war; {18} denn eine Rechtfertigung des Schußwaffengebrauches kann nicht anerkannt werden, wenn sie auf der Erwägung beruht, daß die Verhinderung der Flucht von einem Teil Deutschlands in den anderen Vorrang vor der Erhaltung des Lebens des Flüchtlings hat. c) Die Rechtsprechung des Senates im Hinblick auf die „Radbruch'sche Formel", zum internationalen Menschenrechtsschutz und zu der Möglichkeit einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung des DDR-Rechts hat auch nach den Senatsentscheidungen vom 26. Juli 1994 (NJW 1994, 2703 ff., 2708 ff., zum Abdruck in BGHSt 40, 218; 40, 241 vorgesehen) zu kritischen Äußerungen im Schrifttum geführt (Amelung NStZ 1995, 29; Dannecker Jura 1994, 585; Laskowski JA 1994, 151; Luchterhand in: Karsten Schmidt [Hrsg.], Vielfalt des Rechts - Einheit der Rechtsordnung? Hamburger Ringvorlesung 1994 S. 165, 179 ff.; Pawlik GA 1994, 472 und Rechtstheorie 25, 1994, 101; Schlink NJ 1994, 433; vgl. ferner die Schrifttumshinweise in BGHSt 39, 168, 181, BGH NJW 1994, 2708, 2711 sowie Dreier ZG 1993, 300; Dreier in: Festschrift für Arthur Kaufmann, 1993, S. 57; Frommel in: Festschrift für Arthur Kaufmann, 1993, S. 81; Herrmann NStZ 1993, 487; Jakobs GA 1994, 1; Arthur Kaufmann NJW 1995, 81; Lampe ZStW 106, 1994, 683, 709; Ott NJ 1993, 337; Pawlik in: Rechtsphilosophische Hefte II, 1993, S. 95; Rittstieg Demokratie und Recht 1993, 18; Roggemann, Systemwechsel und Strafrecht, 1993; Spendel Recht und Politik 1993, 61; Wullweber Kritische

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Justiz 1993, 49). Die Auseinandersetzung im Schrifttum gibt dem Senat Anlaß, seine Rechtsprechung wie folgt ergänzend zu erläutern: {19} aa) Zur Anwendung der „Radbruch'sehen Formel" (dazu jetzt insbesondere Arthur Kaufmann aaO sowie Alexy, Mauerschützen: Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit 1993; Lecheler, Unrecht in Gesetzesform?, 1994; vgl. auch die erwähnten Aufsätze von Dreier und Frommel sowie - kritisch - Pawlik GA 1994, 472) hat der Senat in BGHSt 39, 1, 15 ff. hervorgehoben, daß die Schüsse an der Berliner Mauer und an anderen Stellen der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden können, auf den Radbruch seine Ausführungen bezogen hat. Daraus folgt jedoch nicht, daß eine Unverbindlichkeit extrem ungerechter Gesetze ausschließlich in Fällen des Völkermordes, der Friedens-, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen im Sinne des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof vom 8. August 1945 sowie des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 (Amtsbl. des Kontrollrats S. 50) in Betracht kommt. Der Anwendungsbereich der „Radbruch'schen Formel" ist auch nicht notwendig auf diejenigen Verbrechen (Völkermord, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen, schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen von 1949) beschränkt, die nach der Resolution 827 (1993) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen dem Internationalen Strafgerichtshof im Hinblick auf Menschenrechtsverbrechen im früheren Jugoslawien zugewiesen worden sind (vgl. den Gesetzesentwurf der Bundesregierung Bundesrats-Drucks. 991/94 mit dem {20} Text der Resolution 827 sowie Oellers-Frahm ZaöRV 54, 1994, 416 ff.; Bassiouni, Crimes against Humanity in International Criminal Law, 1992, S. 288 ff.). Allerdings müssen Fälle, in denen ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund wegen seiner Ungerechtigkeit als unbeachtlich angesehen wird, wegen des hohen Wertes der Rechtssicherheit auf extreme Ausnahmen beschränkt bleiben (BGHSt 39, 1, 15); daran hält der Senat trotz der Einwände bei Dreher/Tröndle StGB, 47. Aufl. 1995, vor § 3 Rdn. 52 a fest. Einen extremen Ausnahmefall, der im Sinne der in Radbruchs Konzept enthaltenen „Unerträglichkeitsformel" (Arthur Kaufmann NJW 1995, 81, 82) zur Unverbindlichkeit eines Rechtfertigungsgrundes führt, hat der Senat bei den tödlichen Schüssen an der innerdeutschen Grenze aus einer Gesamtwertung des Grenzregimes hergeleitet. Diese Bewertung bezieht sich sowohl auf die Hintanstellung des Lebensrechtes der Flüchtlinge als auch auf die besonderen Motive, die Menschen für die Überquerung der innerdeutschen Grenze hatten; in die Bewertung sind auch die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze eingegangen, die durch „Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl" gekennzeichnet waren (BGHSt 39, 1, 20 unter Hinweis auf BVerfGE 36, 1, 35). Angesichts dieser besonderen Züge kann das Grenzregime der DDR nicht mit den üblichen Formen bewaffneter Grenzsicherung gleichgesetzt werden, zumal da diese typischerweise gegen Eindringlinge gerichtet sind. Der Senat hat {21} nicht übersehen, daß die DDR die Flucht ihrer Bürger unter anderem deswegen unterband, weil sie von einem Anschwellen des Flüchtlingsstroms eine politische und wirtschaftliche Destabilisierung der DDR und ihrer östlichen Nachbarn befürchtete. Er hat auch nicht unerwähnt gelassen (BGHSt 39, 1, 19), daß verschiedene Länder, zumal in der dritten Welt, aus Gründen der Entwicklung die Auswanderung gut ausgebildeter Bürger zu unterbinden suchen. Mit der „beispiellosen Perfektion" des Grenzregimes und dem in der Praxis

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rücksichtslos angewandten Schußwaffengebrauch bei prinzipieller Versagung der Ausreisebefiignis (BGHSt 39, 1, 21) ist die DDR indessen über solche Beschränkungen weit hinausgegangen. Es mag sein, daß einzelne Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktsystems ein ähnlich perfekt organisiertes Grenzregime eingerichtet hatten. Das hindert die Beurteilung des DDR-Grenzregimes, wie sie der Senat vorgenommen hat, nicht; überdies trennten die anderen Grenzen nicht in gleichem Maße Menschen, die auf vielfältige Weise, zumal durch Familienbeziehungen, miteinander verbunden waren. Der Senat ist unter den gegebenen Umständen zu der Bewertung gekommen, daß die Verneinung von Menschenrechten durch den Schießbefehl in der Staatspraxis der DDR - gleichviel ob er auf bloßen Anordnungen der Exekutive beruhte oder auf das Grenzgesetz 1982 zurückgeführt wurde - ein so schweres Unrecht darstellte, daß etwaige Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts unbeachtlich bleiben. Der Senat nimmt zur Kenntnis, daß der unbestreitbare Unterschied in der Schwere nationalsoziali-{22}stischer Gewaltverbrechen einerseits und der Tötungen an der innerdeutschen Grenze andererseits von verschiedenen Autoren zum Anlaß genommen worden ist, die Anwendbarkeit der „Radbruch'schen Formel" auf die hier in Rede stehenden Sachverhalte zu verneinen. Gleichwohl bleibt der Senat bei seiner Rechtsprechung. Der Senat hat mit seiner Bewertung der Schüsse an der innerdeutschen Grenze materiell-rechtliche Grundlagen des Urteils des Internationalen Militärgerichtshofs vom 30. September/ 1. Oktober 1946, auf denen er aufbaut, fur einen speziellen Fall weiterentwickelt (vgl. Internat. Militärgerichtshof Nürnberg, Verhandlungsniederschriften, amtlicher Text in deutscher Sprache Bd. XXII S. 466, 524 ff., 533 ff., 565 f.; s. auch das Nürnberger Juristenurteil vom 3./4. Dezember 1947, deutscher Text, hrsg. von Zentral-Justizamt fur die Britische Zone, S. 34). Die nach 1946 eingetretene Betonung und Festschreibung von Menschenrechten, insbesondere in den beiden erwähnten Dokumenten der Vereinten Nationen, läßt es zu, das Tötungsverbot noch stärker zu betonen, also die Anforderungen an wirksame Rechtfertigungsgründe weiter heraufzusetzen. bb) Der Senat hält auch nach Überprüfung kritischer Stellungnahmen im Schrifttum daran fest, daß bei der Bewertung des Grenzregimes auf Grundsätze des internationalen Menschenrechtsschutzes zurückgegriffen werden darf, ohne daß es darauf ankäme, ob die DDR den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 in innerstaatliches Recht transformiert hat (BGHSt 39, 1, 16 f f ) . Die DDR hatte sich durch {23} die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zur Respektierung der in dem Pakt bezeichneten Menschenrechte verpflichtet (BGHSt 39, 1,16) und schon vorher stets verlautbart, sie betrachte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 als Richtschnur fur die Gestaltung der Verhältnisse im eigenen Land (vgl. BGH NJW 1994, 2708, 2709 f. - zum Abdruck in BGHSt 40, 241 vorgesehen -). Die Frage, ob der einzelne Grenzposten diesen Einfluß internationaler Menschenrechtsdokumente gekannt hat oder erkennen konnte, betrifft nicht die Rechtswidrigkeit seines Tuns, sondern die Schuld (vgl. dazu BGHSt 39, 1, 32 ff.). cc) Kritiker haben das Verhältnis der vom Senat angewandten Grundsätze der „Radbruch'schen Formel" zu den Prinzipien der menschenrechtsfreundlichen Auslegung nach Grundsätzen des DDR-Rechts als unklar bezeichnet. Dazu ist zu bemerken: Der Senat hat auf die Möglichkeit einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung mit Mitteln des Rechtes der DDR Bezug genommen, weil er das geschriebene Recht der DDR nicht

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außer Betracht lassen durfte und weil die Möglichkeit der menschenrechtsfreundlichen Auslegung dieses Rechts auch im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten ist (BGHSt 39, 168; 40, 30, 42; vgl. auch nachstehend zu dd). Der Schutz der Menschenrechte war - anders als im nationalsozialistischen Regime offizielle Programmatik des Staates. Dies gilt auch für die DDR-Verfassung von 1949, deren Text im übrigen von dem rechtsstaatlichen Modell der Weimarer Reichsverfassung weniger weit entfernt war als die Verfas-{24}sungstexte von 1968 und 1974. Der Senat hat nicht übersehen, daß tatsächlich weder die verschiedenen Verfassungen der DDR noch die sonstigen Gesetze in dem vom Senat bezeichneten Sinne menschenrechtsfreundlich ausgelegt worden sind. Mit dem Hinweis auf eine menschenrechtsfreundliche Auslegungsmöglichkeit hat der Senat nicht etwa ein Rechtssystem konstruiert, das mit dem Recht der DDR schlechthin nichts zu tun hatte. Der Senat nimmt insbesondere die eingehenden Hinweise von Luchterhand (aaO) auf die tatsächlichen Verhältnisse im Rechtswesen der DDR ernst. Das hindert ihn aber nicht an der Analyse, daß in dem geschriebenen Recht der DDR Möglichkeiten zu einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung angelegt waren. Daß sie überwiegend nicht wahrgenommen worden sind, eine menschenrechtsfreundliche Auslegung den Rechtsanwender vielmehr in größte Schwierigkeiten gebracht hätte, ändert daran nichts. Der Senat verweist im übrigen darauf, daß DDR-Wissenschaftler immerhin in den letzten Jahren der DDR Ansichten vertreten haben, die auf rechtsstaatliche Ansätze in Gesetzen der DDR einschließlich der Verfassung Bezug nahmen (vgl. u.a. U.-J. Heuer, Marxismus und Demokratie 1989, S. 460, 470 f. und Lekschas, Probleme künftiger Strafpolitik in der DDR, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR - Gesellschaftswissenschaften - , 1989, S. 6 f., 11 ff.). Desgleichen ist auf die Einfuhrung von Elementen gerichtlicher Nachprüfung von Verwaltungsakten sowie auf die Abschaffung der Todesstrafe in den letzten Jahren der DDR hinzuweisen. {25} dd) Der Senat hat die besonderen Probleme, die durch das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG entstehen, gesehen (BGHSt 39, 1, 26 ff.). Verschiedene Äußerungen im Schrifttum, wonach die Rechtsprechung des Senats nicht mit dem Rückwirkungsverbot vereinbar sein soll (vgl. u.a. Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog, GG Art. 103 Abs. 2 Rdn. 255; Pieroth in: Jarass/Pieroth, GG, 3. Aufl. Art. 103 Rdn. 54; Jakobs GA 1994, 1 ff.), haben den Senat zu einer nochmaligen Prüfung seines Standpunktes veranlaßt; er hält daran fest, daß Art. 103 Abs. 2 GG seiner Rechtsprechung nicht entgegensteht. Nach Auffassung des Senats sind die Grenzposten nicht in ihrem Vertrauen auf die Fortgeltung gesetzlicher Regelungen enttäuscht worden; denn das geschriebene Recht der DDR konnte auch menschenrechtsfreundlich interpretiert werden. Art. 103 Abs. 2 GG schützt nicht das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Staats- und Auslegungspraxis. Soweit Gesetze oder Staatspraxis offensichtlich und in unerträglicher Weise gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstießen, können die dafür verantwortlichen Machthaber und diejenigen, die auf deren Anordnung handelten, nicht dem Strafanspruch, den die Strafrechtspflege als Reaktion auf das verübte Unrecht mit rechtsstaatlichen Mitteln durchsetzt, unter Berufung auf das Rückwirkungsverbot entgegenhalten, sie hätten sich an bestehende Normen gehalten. Sie konnten nicht darauf vertrauen, daß eine künftige rechtsstaatliche Ordnung die menschenrechtswidrige Praxis

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auch in Zukunft hinnehmen und nicht sanktio-{26}nieren werde. Ein solches Vertrauen kann nicht als schutzwürdig im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG gelten. In einem derartigen Fall dürfen sie sich nicht auf den Satz berufen, daß heute nicht Unrecht sein kann, was früher „Recht" war. Das entspricht dem formalen Charakter des Art. 103 Abs. 2 GG: Die Vorschrift soll es dem Bürger ermöglichen, sich auf das geschriebene Gesetzesrecht einzurichten (vgl. insbesondere Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 213 ff., 220 ff.; siehe auch Roxin Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 2. Aufl. 1994 S. 114). Das würde sich erst recht zeigen, wenn ein Gesetz so pervertiert war, daß eine menschenrechtsfreundliche Auslegung überhaupt nicht in Betracht kam (BGHSt 39, 1, 30; BGH NJW 1994, 2708, 2710, zum Abdruck in BGHSt 40, 241 vorgesehen). In Fällen dieser Art könnte Art. 103 Abs. 2 GG nicht die Bestrafung hindern. Das folgt aus der Erwägung, daß eine Freistellung von Strafbarkeit, die derart gegen die Menschenrechte verstößt, von vornherein unwirksam ist, also überhaupt nicht Recht geworden ist. Auch wäre es unverständlich, wenn der Schutz des Rückwirkungsverbots unter derart extremen Verhältnissen eingreifen würde, während bei noch bestehender Möglichkeit menschenrechtsfreundlicher Gesetzesinterpretation die Schutzvorschrift des Art. 103 Abs. 2 GG nicht anwendbar wäre. ee) Es ist geltend gemacht worden, eine Bestrafung sei auch unter der Voraussetzung unmöglich, daß der Rechtfertigungsgrund wegen grober Ungerechtigkeit und Menschenrechtswidrigkeit fur unwirksam {27} gehalten werde; es ergebe sich dann ein „normatives Vakuum", denn die Verneinung der Rechtfertigungswirkung könne die Strafbarkeit nicht „wieder herstellen" (Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, S. 121 sowie GA 1994, 1,11 f.). Dem kann der Senat nicht folgen. Die DDR gehörte zu denjenigen Staaten, in denen es sich von selbst versteht, daß die vorsätzliche Tötung eines Menschen umfassend strafbar ist, es sei denn, ein Rechtfertigungsgrund griffe ein. Zur Tatzeit galten in der DDR und in der Bundesrepublik gleichermaßen die §§ 211, 212 StGB; das 1968 in Kraft getretene neue Strafgesetzbuch der DDR enthält ebenso wie die genannten Vorschriften ein generelles strafrechtliches Verbot der vorsätzlichen Tötung (§§ 112, 113). Die grundsätzliche Strafbarkeit vorsätzlicher Tötungen gehört zum elementaren Bestand aller zivilisierten Rechtskulturen. Daraus folgt, daß bei Nichtigkeit des Rechtfertigungsgrundes der Tatbestand des Totschlages anwendbar bleibt und daß die Tat, sofern keine anderen Rechtfertigungsgründe vorliegen, als rechtswidrig aufzufassen ist. Auch aus Art. 103 Abs. 2 GG ist kein anderes Ergebnis herzuleiten. III. [Schuld] Seine Annahme, daß der Angeklagte schuldhaft gehandelt habe, hat der Tatrichter im Einklang mit den vom Senat bezeichneten Grundsätzen (BGHSt 39, 1, 32 ff.) begründet. Ein Rechtsfehler ist nicht erkennbar. Die Anwendbarkeit der genannten Grund{28} sätze ist nicht dadurch in Frage gestellt, daß die jetzt abgeurteilte Tat 22 Jahre vor jener Tat begangen worden ist, auf die sich die Erwägungen in BGHSt 39, 1 beziehen.

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IV.

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[Strafzumessung]

Auch der Strafausspruch hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand. Der Senat übersieht nicht, daß die verhängte Freiheitsstrafe in einer Spannung zu Strafen gleicher oder geringerer Höhe steht, die mit der Billigung des Senats (vgl. z.B. BGHSt 39, 1, 35 f.) gegen Grenzsoldaten verhängt worden sind, obwohl dort einige Besonderheiten des vorliegenden Falles (sehr weit zurückliegende Tatzeit, Verzicht auf „letzte Konsequenz" beim Zielen, kein Treffer aus der eigenen Waffe) nicht gegeben waren. Bei der Aburteilung von Grenzposten der DDR stößt indessen die Anwendung sonst geltender Strafzumessungsgesichtspunkte auf Grenzen. Die Strafzumessung wird nicht durchweg der Schwere der Totschlagstaten und {29} ihren Folgen differenzierend gerecht werden können. Der Tatrichter hat im Einklang mit BGHSt 39, 1, 35 f. nicht übersehen, daß Befehlsempfänger wie der Angeklagte der Wirkung staatlicher Indoktrination kaum entgehen konnten und in gewisser Weise selbst Opfer der Verhältnisse an der Grenze gewesen sind.

Anmerkungen 1 2 3

238

Vgl. lfd. Nr. 2-2. Mittlerweile ebd. veröffentlicht. Vgl. auch lfd. Nr. 3-2. Vgl. lfd. Nr. 1-2.

Lfd. Nr. 5 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Fechter Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 5.3.1997, Az. (521) 27/2 Js 83/90 Kls (28/96)

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Lfd. Nr. 5

Dokumente - Teil 1

Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 5.3.1997, Az. (521) 27/2 Js 83/90 Kls (28/96) Gründe

241

I.

[Feststellungen zur Person]

241

II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

243

III. [Beweiswürdigung]

244

IV. [Rechtliche Würdigung]

245

V.

247

[Strafzumessung]

Anmerkungen

240

248

Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Fechter

Landgericht Berlin Az.: (521) 27/2 Js 83/90 Kls (28/96)

Lfd. Nr. 5

5. März 1997

URTEIL Im Namen des Volkes Strafsache gegen 1. den Rentner Walter Rolf F., geboren 1935, 2. den Former Erich Richard S., geboren 1941, wegen Totschlags u.a. Die 21. große Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Berlin hat auf Grund der Hauptverhandlung vom 3. und 5. März 1997, an der teilgenommen haben Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. in der Sitzung vom 5. März 1997 für Recht erkannt: Die Angeklagten sind des Totschlags in Tateinheit mit versuchtem Totschlag schuldig. Es werden verurteilt der Angeklagte F. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten, der Angeklagte S. zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und acht Monaten. Die Vollstreckung der Strafen wird zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagten haben die Kosten des Verfahrens und die der Nebenklägerin1 erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen. Angewendete Vorschritten: §§ 212, 43, 47, 73 StGB 1871 i.d.F. des Strafrechtsergänzungsgesetzes 1957 i.V.m. §§ 112, 21, 22 Abs. 2 Nr. 2, 63, 81 StGB/DDR 1968 und §§ 212, 213, 2, 22, 25 Abs. 2, 52, 56 StGB, Art. 315, 315a EGStGB beim Angeklagten S. zusätzlich §§ 1, 105 ff. JGG {3}

Gründe (Fassung gemäß § 267 Abs. 4 StPO) I.

[Feststellungen zur Person]

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind die Tötung von Peter Fechter und die versuchte Tötung von Helmut Kulbeik, die am 17. August 1962 von Ost-Berlin nach 241

Lfd. Nr. 5

Dokumente - Teil 1

West-Berlin fliehen wollten. Die Angeklagten haben als Angehörige der Grenzbrigaden auf die beiden Flüchtlinge geschossen. Der Vater des Angeklagten F. ist im Krieg gefallen. Der Angeklagte, der einen Bruder hat, besuchte bis 1949 die achtjährige Volksschule und lernte anschließend das Bäkkerhandwerk im Betrieb seines Großvaters. 1954 ließ er sich bei der kasernierten Volkspolizei zunächst fur die Dauer von drei Jahren anwerben, wo er in der Feldbäckerei beschäftigt wurde. Während der Dienstzeit absolvierte er eine Ausbildung zum Koch. Da der Angeklagte seit 1956 verheiratet und aus der Ehe ein Sohn hervorgegangen war, wollte er jetzt bei seiner Familie wohnen, so daß er im März 1960 seinen Dienst quittierte. Er bemühte sich sodann, eine Stelle als Arbeiter bei den chemischen Werken in B. zu erhalten. Dies gelang ihm nicht. Bei dem Bewerbungsgespräch wurde ihm deutlich gemacht, daß man ihn nur im Bereich des Werkschutzes anstellen würde. Obwohl der Angeklagte hierzu wenig Neigung verspürte, verpflichtete er sich erneut für drei Jahre bei der Polizei, da er befürchtete, sonst arbeitslos zu sein. Im Rahmen des Parteiaufgebotes - der Angeklagte war damals Kandidat der SED - wurde er Anfang Mai 1962 für sechs Monate zum Grenzdienst nach Berlin abkommandiert. Dies geschah gegen seinen Willen, da er nicht von seiner Fami-{4} lie getrennt werden wollte. Wenige Wochen nach dem Tatgeschehen kehrte der Angeklagte im Oktober 1962 wieder zurück auf seine Dienststelle nach B. Er äußerte dann mehrfach den Wunsch, entpflichtet zu werden, wurde zunächst zur Diensthundestaffel versetzt und durfte 1963 bei der Polizei ausscheiden. Danach fand er eine Stelle als Anlagenfahrer bei den B.-Werken, wo er sich im Laufe der Zeit bis zum Meistervertreter hocharbeiten konnte. Aus gesundheitlichen Gründen ließ er sich später ins Plastewerk versetzen, wo er im Transport beschäftigt war. 1989 wurde er wie nahezu alle seine Kollegen entlassen. Nach fünf Jahren des Vorruhestandes wurde er verrentet. Das Strafregister des Angeklagten weist keine Eintragungen auf. Die Familie des Angeklagten S. stammt aus Schlesien und kam 1946 völlig mittellos nach Thüringen, wo sie sich eine neue Existenz aufbauen mußte. Nach dem Tode des Vaters im Jahre 1947 sorgte die Mutter für den Angeklagten und seine fünf Geschwister, die unter einfachen Verhältnissen aufwuchsen. Der Angeklagte durchlief die achtjährige Grundschule und absolvierte erfolgreich eine Lehre als Keramikformer. Nachdem er kurze Zeit in einer Fabrik gearbeitet hatte, meldete er sich 1960 freiwillig zur Bereitschaftspolizei. Nach dem Bau der Mauer wurde er 1961 nach Berlin versetzt und im Grenzdienst eingesetzt - wie der Angeklagte vermutet, weil er ledig war. Als im Frühjahr 1963 sein Wehrdienst beendet war, begann er wieder in seiner Thüringer Heimat in einer Porzellanfabrik zu arbeiten. 1966 heiratete er und löste sich damit aus dem Elternhaus. Seine Frau brachte drei Kinder in die Ehe ein, zu denen der Angeklagte stets ein gutes Verhältnis hatte. Im Jahre der Eheschließung wechselte der Angeklagte seinen Arbeitsplatz. Bis 1989 war er in einem Schieferbruch beschäftigt. Als es dort im Zuge der wirtschaftlichen Veränderungen zu einem Arbeitsplatzabbau kam, wechselte er als Anlagenbediener in einer Mischfutteranlage nach K., wo er auch jetzt noch tätig ist. Der jetzt 55 Jahre alte Angeklagte hat guten Kontakt zu seinen Geschwistern, die in seiner Nähe wohnen. In seiner Freizeit treibt er Sport (Fußballtorwart, Kegeln). Mit dem Gesetz ist er mit Ausnahme des Geschehens, das den Gegenstand dieses Verfahrens bildet, nie in Konflikt gekommen. {5}

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Fechter

II.

Lfd. Nr. 5

[Sachverhaltsfeststellungen]

Am 17. August 1962 waren beide Angeklagte gemeinsam als Posten 4 im Grenzdienst an der Berliner Mauer eingesetzt. Die Angeklagten wurden vor Dienstbeginn täglich von ihren Offizieren vergattert, d h. sie wurden in Befehlsform angewiesen, wie sie sich während des Wachdienstes zu verhalten hatten. Für die Angeklagten stellte sich die damalige Befehlslage so wie für alle anderen Grenzsoldaten dar: Sie sollten keinen an die Mauer „ranlassen". Fluchtversuche waren zu verhindern. Dabei war von der Waffe Gebrauch zu machen und in letzter Konsequenz gezielt und auch mit tödlicher Wirkung zu schießen, wenn ein Flüchtling nicht anders aufzuhalten war. Der Standort der Angeklagten befand sich in Berlin-Mitte an der Kreuzung Zimmerstraße/Markgrafenstraße nahe des Grenzüberganges in der Friedrichstraße, dem sogenannten „Checkpoint Charly". Die Mauer verlief hier entlang der Zimmerstraße. Sie war etwa zwei Meter hoch, wobei sich auf der Mauerkrone noch Stacheldraht befand. Etwa zehn Meter vor der Mauer befand sich an der Bürgersteigkante eine aus Stacheldraht gebildete Vorsperre. Die beiden Angeklagten standen außerhalb des von Mauer und Stacheldrahtverhau gebildeten Zehn-Meter-Sperrstreifens, wobei der Angeklagte F. als Postenfuhrer auf den etwa einen Meter hohen Resten einer Litfaßsäule stand und das Hinterland beobachtete, während der Angeklagte S. in Richtung Mauer blickte. Etwa 150 m entfernt kreuzte die Charlottenstraße die Zimmerstraße. Dort war das Postenpaar 3 mit dem inzwischen verstorbenen Feldwebel Sch. als Postenführer und seinem Posten B. eingesetzt. Alle vier Grenzsoldaten waren mit der Maschinenpistole vom Typ Kalaschnikow ausgerüstet. Mit dieser Waffe war bei Dauerfeuer nach dem ersten Schuß ein gezieltes Schießen nicht mehr möglich, da sie schräg nach oben auswanderte und „streute". Den Angeklagten war bewußt, daß Grenzsoldaten auch an der Kreuzung Zimmerstra-{6}ße/Charlottenstraße die Mauer bewachten. Zwischen beiden Kreuzungen stand eine größere Ruine, deren Fenster teilweise zugemauert, teilweise aber nur provisorisch durch Holzverschläge versperrt waren. Gegen 14.10 Uhr versuchten zwei junge Männer, Helmut Kulbeik und Peter Fechter, von dieser Ruine aus kommend die Mauer zu überwinden. Beide waren damals 17 Jahre alt. Sie arbeiteten gemeinsam als Betonarbeiter auf der Baustelle des Staatsratsgebäudes am Marx-Engels-Platz im Zentrum Berlins und waren miteinander befreundet. Sie hatten sich schon vor längerer Zeit darüber verständigt, daß sie mit den Verhältnissen in der DDR nicht zufrieden waren und versuchen wollten, in den Westteil der Stadt zu fliehen. Bei Peter Fechter kam hinzu, daß einige Monate zuvor sein Antrag, eine im Westen lebende Schwester besuchen zu dürfen, abgelehnt worden war. Während der Mittagspause näherten sie sich den Grenzanlagen und gelangten bis zur Schützenstraße, der Parallelstraße zur Zimmerstraße. Die zwischen der Schützenstraße und der Zimmerstraße gelegene Ruine war hier zum Teil noch von einer Tischlerwerkstatt benutzt. Helmut Kulbeik und Peter Fechter betraten diese Werkstatt. Da sie Arbeitskleidung trugen, erweckten sie kein Aufsehen. Sie hatten zunächst vor, sich bis Betriebsschluß in einem Haufen von Sägespänen versteckt zu halten. Da es ihnen dort aber zu warm wurde und sie außerdem befürchteten, entdeckt zu werden, entschlossen sie sich gegen 14.10 Uhr zur Flucht. Um besser laufen zu können, zogen sie ihre Schuhe aus und zwängten sich dann in Höhe des Grundstücks Zimmerstraße 72 - Peter Fechter zuerst - durch ein kleines Fen-

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Lfd. Nr. 5

Dokumente - Teil 1

ster. Die Kreuzung Zimmerstraße/Markgrafenstraße mit dem Postenpaar 4 befand sich links von ihnen, die Kreuzung Zimmerstraße/Charlottenstraße mit dem Postenpaar 3 auf ihrer rechten Seite. Als sie den Bürgersteig überquert und den an der Bürgersteigkante befindlichen Stacheldrahtzaun überwunden hatten, wurden sie von dem Angeklagten S. bemerkt. Dieser machte den Angeklagten F. auf den Fluchtversuch aufmerksam und gab mehrere kurze Feuerstöße, insgesamt sieben Schuß, in Richtung der Flüchtenden ab. Auch der Angeklagte F. gab daraufhin {7} mehrere Feuerstöße, insgesamt siebzehn Schuß, in Richtung von Helmut Kulbeik und Peter Fechter ab. Beide Angeklagte wollten die Flucht unterbinden. Es war nicht ihre Absicht, dabei die Flüchtenden zu erschießen. Sie nahmen es aber billigend in Kauf, daß diese durch die Kugeln tödlich getroffen werden könnten. Durch die Schüsse der Angeklagten wurde auch das Postenpaar 3 aufmerksam. Während der Posten B. nur einmal in die Luft schoß, nahm der Postenfiihrer Sch. in einem Graben Stellung und eröffnete mit zehn Schüssen gezieltes Feuer auf die beiden jungen Männer. Auch er schoß Dauerfeuer mit - zumindest - bedingtem Tötungsvorsatz. Als die ersten Schüsse fielen, war Peter Fechter in der Mitte der Zimmerstraße kurz stehengeblieben und von Helmut Kulbeik überholt worden, dem es gelang, unverletzt die Mauer zu überwinden. Peter Fechter war anschließend die wenigen Schritte bis zur Mauer weiter gelaufen und hatte versucht, hinter einer Querverstrebung der Grenzanlage in Deckung zu gehen. Dadurch befand er sich jetzt für den Postenführer Sch. vom Posten 3 in einem toten Winkel. Wenige Momente später brach Peter Fechter tödlich getroffen zusammen. Obwohl er anfangs laut um Hilfe rief, wurde er von östlicher Seite zunächst nicht geborgen. Erst 50 Minuten später betraten Angehörige der Grenzbrigaden den Zehn-Meter-Sperrstreifen, hoben den bereits seit längerer Zeit ohnmächtigen Peter Fechter auf und veranlaßten seinen Transport ins Krankenhaus. Er erreichte dieses in moribundem Zustand und verstarb wenige Minuten später. Von den insgesamt 35 Schüssen, die abgefeuert wurden, hatte Peter Fechter nur ein einziges Projektil getroffen: Dieses war am rechten Oberschenkel eingedrungen, hatte von dort in leicht aufsteigender Richtung das Becken durchquert und war auf der linken Hüftseite ausgetreten. Im Körperinneren hatte das Geschoß die Beckenarterie, die nach der Pulsader nächstgrößere Arterie, den linken Harnleiter, die Beckenvene, drei Dünndarmschlingen und den Dickdarm durchschlagen. Diese inneren Verletzungen {8} waren so gravierend, daß Peter Fechter auch bei sofortiger ärztlicher Hilfe und umgehender Notoperation verblutet wäre und nicht mehr hätte gerettet werden können. Die beiden Angeklagten, die kurze Zeit nach den Schüssen abgelöst wurden, wurden noch am Tattage mit einer Geldprämie ausgezeichnet. Der Angeklagte S. wurde zudem zum Stabsgefreiten befördert.

III.

[Beweiswürdigung]

Die Kammer hat sich in der Hauptverhandlung damit auseinandergesetzt, von wem der letztendlich tödliche Schuß auf Peter Fechter abgegeben wurde. Von zentraler Bedeutung waren in diesem Zusammenhang die sachverständigen Angaben von Herrn Prof. Dr. Prokop, der das Opfer 1962 obduziert hatte. Bei dem Sachverständigen handelt es sich um den international hoch angesehenen und äußerst erfahrenen langjährigen Leiter

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers - Fall Fechter

Lfd. Nr. 5

der forensischen Medizin in der Berliner Charité. Nach seinen überzeugenden und wissenschaftlich begründeten Angaben, die sich auf das vor kurzem aufgefundene Obduktionsprotokoll stützten, war von folgenden Prämissen auszugehen: 1. Der Wundkanal verlief in leicht aufsteigender Weise. 2. Die inneren Verletzungen waren tödlich. Peter Fechter wäre auch bei sofortiger, optimaler ärztlicher Versorgung nicht mehr zu retten gewesen. 3. Es kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden, daß die Verletzung durch einen Querschläger verursacht wurde. 4. Es ist anzunehmen, daß Peter Fechter sofort nach dem Treffer zusammenbrach. Mit letzter Sicherheit kann aber nicht ausgeschlossen werden, daß er doch noch in der Lage war, einige Schritte zurückzulegen. Es ist angesichts der äußerst schweren inneren Verletzungen sehr wahrscheinlich, daß Peter Fechter nach dem Schuß nicht mehr weiterlaufen konnte und sofort tödlich ge{9}troffen zusammenbrach. Sofern sich das Geschehen so abgespielt hat, würde der Postenfuhrer Sch. als Todesschütze nicht in Betracht kommen, da Peter Fechter für den Posten 3 wegen der quer zur Mauer herausragenden Verstrebung nicht mehr sichtbar war, sobald er die Mauer erreicht hatte. Den Flüchtling muß dann das Projektil getroffen haben, als er vor den Schüssen in dem Winkel aus Mauer und Querverstrebung Dekkung nahm und sich dabei so umgedreht hatte, daß er mit dem Rücken zur Mauer stand. Als Schütze würde dann insbesondere der Angeklagte S., der anders als der Angeklagte F. auf ebener Erde stand, in Betracht kommen. Der schräge Schußkanal ließe sich damit erklären, daß der Schütze bei der Schußabgabe eine hockende Stellung eingenommen hatte. Für diese Version spricht auch, daß 1962 die den Vorfall untersuchenden Stellen in der DDR davon ausgingen, daß der tödliche Schuß aus der Richtung der Angeklagten kam. Auf der anderen Seite konnte der Sachverständige aber auch nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, daß Peter Fechter doch noch in der Lage war, einige Meter weiter zu laufen, bevor er direkt an der Mauer zusammenbrach. Angesichts des aufsteigenden Schußkanals und des Umstandes, daß die Verletzung nicht durch einen Querschläger hervorgerufen sein konnte, ist es auch denkbar, daß der Schuß vom Postenfuhrer Sch. kam, der von der Charlottenstraße aus einem Graben auf Peter Fechter gefeuert hatte. Da sich nicht mit endgültiger Sicherheit klären ließ, wer den tödlichen Schuß abgegeben hatte, war nach dem Zweifelsgrundsatz zugunsten der Angeklagten davon auszugehen, daß der Postenfuhrer 3, also der verstorbene Sch., der Todesschütze war.

IV. [Rechtliche

Würdigung]

Aufgrund des festgestellten Sachverhaltes haben sich die Angeklagten wegen Totschlags in Tateinheit mit versuchtem Totschlag gemäß §§212, 22, 23 StGB strafbar {10} gemacht, indem sie Peter Fechter töteten, ohne Mörder zu sein, und mit Tötungsvorsatz auf Helmut Kulbeik schössen. Das bundesdeutsche Strafrecht ist unter Berücksichtigung des Günstigkeitsprinzips gemäß Art. 315 Abs. 1 EGStGB i.V.m. § 2 StGB anzuwenden, da die Voraussetzungen des § 213 StGB vorliegen und die Strafdrohung der §§212, 213 StGB mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren

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Dokumente - Teil 1

gegenüber den §§ 112, 113 StGB/DDR mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren milder ist (vgl. BGHSt 40,48, 512). Die Angeklagten handelten mit bedingtem Vorsatz, da sie mit Dauerfeuer auf die Flüchtenden geschossen haben. Ihr Handeln stand im Einklang mit der seinerzeit geltenden Befehlslage, da nach der Durchfuhrungsanweisung Nr. 2 des Innenministers der DDR zum Befehl Nr. 39/60 die Posten der Grenzbrigaden verpflichtet waren, die Schußwaffe „zur Festnahme von Personen" einzusetzen, die auch nach einem Warnschuß „offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der DDR zu verletzen", sofern „keine andere Möglichkeit zur Festnahme bestand". Die von den Angeklagten abgegebenen Schüsse entsprachen der Zielsetzung dieses Befehls, der bei den täglich wiederholten Vergatterungen den Soldaten in dem Sinne erläutert wurde, daß eine Flucht auf jeden Fall, notfalls auch durch tödliche Schüsse, zu verhindern sei (vgl. BGH Urteil vom 24. April 1996 - 5 StR 322/95, Urteilsabschrift S. 133). Die Angeklagten haben zwar bekundet, daß sie niemanden hätten töten wollen. Dies bedeutet aber nur, daß sie bei der Befolgung des Befehls nicht bis zur direkt absichtlichen Tötung gehen wollten und steht der Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes nicht entgegen, da sie mit ihrer Kalaschnikow Dauerfeuer in Richtung der beiden Flüchtlinge geschossen haben, ihnen die Gefährlichkeit ihres Tuns bewußt war und sie entsprechend der Befehlslage notfalls auch den Tod der beiden Fliehenden billigend in Kauf nahmen. Daß in der Hauptverhandlung nicht geklärt werden konnte, aus welcher Waffe das tödliche Projektil stammte, steht der Annahme eines vollendeten Totschlags nicht entgegen: Denn die Angeklagten handelten gemeinschaftlich sowohl untereinander als auch mit dem Postenfuhrer 3. Der Schußwaffengebrauch durch die beiden Angeklag{ll}ten und den inzwischen verstorbenen Postenführer Sch. stellt sich als ein arbeitsteiliges Vorgehen dar, bei dem der Tatbeitrag jedes Angeklagten denjenigen des Mitangeklagten und des dritten Posten ergänzte. Jeder Angeklagte stellte sich vor, er müßte den Grenzdurchbruch auch unter Einsatz der Schußwaffe verhindern. Keiner von ihnen hat bewußt daneben geschossen. Jeder Posten konnte sich, wie die Angeklagten wußten, darauf verlassen, daß ihr Schießen durch das befehlsgemäße Verhalten der anderen Posten in der Wirkung verstärkt würde. Die Tat der Angeklagten war rechtswidrig, obwohl der Schußwaffengebrauch nach den seinerzeit in der DDR geltenden Vorschriften in der Ausprägung der tatsächlichen Befehlslage gerechtfertigt war, weil er zur präventiven Verhinderung eines Grenzübertritts erforderlich war. Die Annahme unwirksamer Rechtfertigung nach Tatortrecht muß zwar auf Fälle extremen, offensichtlichen Unrechts beschränkt bleiben. Ein Rechtfertigungsgrund fur die vorsätzliche Tötung von Personen, die nichts weiter wollten, als unbewaffnet und ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten, ist jedoch wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte als unwirksam anzusehen (BGHSt 39, 1, 15 ff. 4 ; 39, 168, 183 ff. 5 ; 41, 1016; entsprechend ΒVerfG StV 1997, 147). Soweit die Angeklagten glaubten, ihr Handeln sei auf Grund der Befehlslage gerechtfertigt, handelten sie in einem vermeidbaren Verbotsirrtum gemäß § 17 Satz 1 StGB (vgl. entsprechend BGHSt 39, 1, 3, 35; 39, 168, 169, 190). Der Irrtum war deshalb vermeidbar, weil die Angeklagten aufgrund ihres Unrechtsbewußtseins bei der

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offensichtlichen Rechtswidrigkeit der Tötung unbewaffneter Flüchtlinge und dem klar erkennbaren Eingriff in den Kernbereich des Rechts zu der Überzeugung hätten kommen müssen, daß eine gegen das elementare Tötungsverbot verstoßende Anweisung nicht Unrecht in Recht wandeln kann. {12} In Fällen der vorliegenden Art ist weder Veqährung eingetreten, noch ist die Verfolgbarkeit durch in der DDR erlassene Amnestien ausgeschlossen (vgl. zuletzt BGHSt 41,247, 248 8 ).

V.

[Strafzumessung]

Bei der Strafzumessung war beim Angeklagten F. vom Strafrahmen des § 213 StGB (Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren) auszugehen. Diese Beurteilung beruhte maßgeblich darauf, daß er die Tat nicht aus freiem Entschluß beging, sondern aufgrund einer - wenn auch rechtswidrigen - Befehlslage handelte. Vor dem Hintergrund des in der DDR herrschenden politischen und gesellschaftlichen Systems, das insbesondere in der damaligen Phase des „Kalten Krieges" von staatlicher Lenkung und Steuerung auf allen Gebieten gekennzeichnet war, war die Entwicklung des Angeklagten zu einer selbständigen und kritischen Persönlichkeit erheblich erschwert. Durch die Einberufung zum Wehrdienst in den Grenztruppen, die ständigen Vergatterungen und die Gerüchte von einschneidenden Konsequenzen bei Nichtverhinderung einer Flucht geriet er in eine Situation, deren vernünftige Bewältigung ihm nicht gelang. Hinzu kommt, daß er sich in einem - wenn auch vermeidbaren - Verbotsirrtum befand. Zu Gunsten des Angeklagten war weiterhin zu berücksichtigen, daß er geständig war und die Tat bereut, daß er seit der lange zurückliegenden Tat nicht mehr straffällig wurde und er sich damals im unteren Rang der Hierarchie der Grenzbrigade befand. Auch handelte er nur mit bedingtem Vorsatz. Auch wenn zu Lasten des Angeklagten zu berücksichtigen war, daß er tateinheitlich einen vollendeten und einen versuchten Totschlag begangen hat, konnte angesichts der gewichtigen Milderungsgründe auf eine Strafe im unteren Bereich des Strafrahmens erkannt werden, die das Gericht auf eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten festgesetzt hat. {13} Daß Peter Fechter nahezu fünfzig Minuten unversorgt am Fuß der Mauer verblutete, war nicht strafschärfend zu berücksichtigen. Die Hauptverhandlung hat nicht vollständig geklärt, wer fur das furchtbare Leiden Peter Fechters verantwortlich war. Es scheint aber zumindest soviel festzustehen, daß es sich hierbei nicht um eine beabsichtigte und gezielte Aktion der östlichen Seite gehandelt hatte. Vieles deutet darauf hin, daß Desorganisation und Konfusion seitens der verantwortlichen Offiziere hierfür ursächlich waren und die Grenztruppen auf einen derartigen Fall nicht eingerichtet waren. Erst sechs Tage später und ganz offensichtlich aufgrund dieses Vorfalles erging nämlich am 23. August 1962 ein Befehl des Kommandeurs der 1. Grenzbrigade, wonach u.a. entlang der Grenze an der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Orten Rettungsfahrzeuge in ständiger Alarmbereitschaft zu stationieren waren. Für das plan- und tatenlose Verhalten auf östlicher Seite am 17. August 1962 waren jedenfalls nicht die Angeklagten verantwortlich, denen das Betreten des Zehn-Meter-Streifens, in dem Peter Fechter blutend lag, verboten war, und die ohnehin kurze Zeit nach der Schußabgabe abgelöst und ins Hinterland geschafft wurden.

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Lfd. Nr. 5

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Der Angeklagte S. war zur Tatzeit noch Heranwachsender. Es war 35 Jahre nach der Tat nicht möglich, aus dem Lebensweg des Angeklagten eindeutige Schlüsse zu ziehen, ob er damals in seiner Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichzusetzen war. Da es Hinweise auf mögliche Reifeverzögerungen gibt (der frühe Tod des Vaters; der Angeklagte wohnte seinerzeit noch im mütterlichen Haushalt) hat die Kammer zu Gunsten des Angeklagten Jugendstrafrecht angewendet. Angesichts der Schwere der Schuld kam nur die Verhängung einer Jugendstrafe in Betracht (§17 JGG). Diese wurde auf ein Jahr und acht Monate bemessen, wobei das Gericht im wesentlichen dieselben Strafzumessungsgesichtspunkte wie beim Angeklagten F. berücksichtigt hat. Die Vollstreckung der Strafen konnte bei beiden Angeklagten zur Bewährung ausgesetzt werden. Sie wurden zum ersten Mal zu einer Haftstrafe verurteilt. Es ist davon auszugehen, daß sie sich die Verurteilung als Warnung dienen lassen und künftig auch {14} ohne die Einwirkung des Strafvollzuges keine Straftaten begehen werden (§ 56 StGB bzw. § 21 JGG). Beide Angeklagte erschienen der Kammer als gefestigte, im Leben stehende Menschen, die sozial eingebunden sind. Ihre Tat wurzelt in der außergewöhnlichen Konfliktlage, in die sie aufgrund der seinerzeit in der DDR bestehenden politischen Verhältnisse geraten waren. Die Gefahr einer Wiederholung besteht ersichtlich nicht.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8

248

Als Nebenklägerin trat die Mutter des Getöteten Peter Fechter, Ruth F., auf. Der Schlussvortrag ihres Anwalts in diesem Verfahren ist abgedruckt in NJ 1997, S. 407ff. Vgl. lfd. Nr. 11-2. Vgl. lfd. Nr. 13-4. Vgl. lfd. Nr. 2-2. Vgl. lfd. Nr. 1-2. Vgl. lfd. Nr. 4-2. Vgl. lfd. Nr. 15-3. Das genannte Urteil beschäftigt sich mit Rechtsbeugung durch DDR-Richter und -Staatsanwälte. Es ist zum Abdruck im Dokumentationsband zur Rechtsbeugung vorgesehen.

Lfd. Nr. 6 Erschießung eines Fahnenflüchtigen - Fall Kollender 1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 12.9.1995, Αζ. (528) 2 Js 79/91 (8/92) 2.

251

Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 17.12.1996, Az. 5 StR 137/96 . . . . 277

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Dokumente - Teil 1

Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 12.9.1995, Az. (528) 2 Js 79/91 (8/92) Gründe

251

I.

[Feststellungen zur Person]

251

II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

254

III. [Strafbarkeit der Angeklagten L. und H.]

263

IV. [Strafbarkeit der Angeklagten R. und S.]

268

V.

274

[Strafzumessung]

Anmerkungen

250

275

Erschießung eines Fahnenflüchtigen - Fall Kollender

Landgericht Berlin Az.: (528) 2 Js 79/91 (8/92)

Lfd. Nr. 6-1

12. September 1995

URTEIL1 Im Namen des Volkes Strafsache gegen 1.

Rolf Walter Heinz S., geboren 1944,

2.

RudolfL., geboren 1942,

3.

Ernst R., geboren 1940,

4.

Jürgen Werner H., geboren 1942,

wegen Totschlags Die 28. große Strafkammer des Landgerichts Berlin - Schwurgericht - hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 25. und 29. August sowie 8. und 12. September 1995, an der teilgenommen haben: Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. in der Sitzung vom 12. September 1995 für Recht erkannt: Der Angeklagte S. wird wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Er hat insoweit die Kosten des Verfahrens und seine notwendigen Auslagen zu tragen. Die Angeklagten R., L. und H. werden freigesprochen. Die Kosten des Verfahrens insoweit und die notwendigen Auslagen dieser Angeklagten trägt die Landeskasse Berlin. Angewendete StrafVorschriften: §§ 212, 213, 22, 23 StGB

Gründe I.

[Feststellungen zur Person]

1. Der Angeklagte S. wurde 1944 in D. als Ältester von zwei Geschwistern geboren. Sein Vater war als Former tätig, seine Mutter half auf einem Bauernhof aus. Nach einem Jahr zog die Familie nach M. um, da der Vater des Angeklagten hier eine bessere Arbeitsstelle gefunden hatte. Der Angeklagte wurde mit sechs Jahren eingeschult und 251

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schloß die {3} Schulzeit im Jahre 1958 mit der achten Klasse ab. Während dieser Zeit war er zunächst bei den „Jungen Pionieren" und danach in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) organisiert. Der Angeklagte begann im Alter von 14 Jahren eine dreijährige Lehre als Schweißer in einer Schiffswerft und beendete diese mit der Gesellenprüfung. Bis auf die Unterbrechung durch den Militärdienst hat der Angeklagte immer in diesem Beruf gearbeitet, in dem er zur Zeit ein monatliches Nettoeinkommen von 1.400,- DM erzielt. Nach Aufnahme der Lehre trat er in den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) ein, wurde jedoch nie Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Am 18. März 1967 heiratete der Angeklagte. Aus der Ende 1970 geschiedenen und ein halbes Jahr später erneut geschlossenen Ehe sind zwei Töchter im Alter von zur Zeit 28 und 24 Jahren hervorgegangen. Die Ehefrau des Angeklagten war zunächst als Verkäuferin tätig und arbeitet jetzt als Haushälterin in einer Arztfamilie. Die ältere Tochter der Eheleute ist verheiratet und hat ein Kind im Alter von eineinhalb Jahren. Seit dem Verlust ihrer Arbeitsstelle lebt sie wieder im Haushalt ihrer Eltern. Die jüngere Tochter des Angeklagten arbeitet als Sekretärin in einem Unternehmen der Pharmaindustrie. Im Mai 1965 begann der Angeklagte seine 15monatige Militärzeit. Er wurde als Wehrpflichtiger gezwungen, zu den Grenztruppen zu gehen. Er erschrak darüber zwar, nahm es aber hin, da er den Grenzdienst im Grunde fur erforderlich hielt. Der Angeklagte S. ist nicht vorbestraft. 2. Der Angeklagte L. wurde 1942 als Jüngster von drei Geschwistern geboren. Sein Vater war Transportarbeiter im Jenaer Glaswerk und seine Mutter führte den Haushalt der Familie. Der Angeklagte wurde altersgemäß im Jahre 1949 eingeschult und mit dem Abschluß der 10. Klasse aus der Schule entlassen. Seine schulischen Leistungen waren durchschnittlich. Ab dem 1. September 1959 begann der Angeklagte eine Lehre als Dreher bei den C.-Werken in J., die er mit dem Prädikat „gut" abschloß. Der Angeklagte war Mitglied der FDJ und zu Beginn seiner Lehre dem FDGB beigetreten. Bis zu seiner {4} Einberufung zur NVA im Mai 1963 arbeitete er als Facharbeiter in den C.Werken. Um beruflich weiterzukommen, erklärte sich der Angeklagte freiwillig bereit, seinen Wehrdienst drei Jahre zu versehen. Erst bei seiner Ankunft in Potsdam erfuhr er, daß man ihn für ein Grenzregiment vorgesehen hatte. Obwohl ihn ein ungutes Gefühl überkam, wehrte er sich nicht, da auch er von der Notwendigkeit des Grenzdienstes überzeugt war. Nach seiner Entlassung aus der NVA arbeitete der Angeklagte zunächst zwei Jahre lang wieder im C.-Werk als Dreher. Im Anschluß daran qualifizierte er sich als Industriemeister und absolvierte ein Fernstudium zum Lehrmeister. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurden die Lehrstellen in den C.-Werken von 1.700 auf 70 bis 100 reduziert, so daß Lehrpersonal - u.a. auch der Angeklagte - entlassen werden mußte. Der Angeklagte machte daraufhin einen Kurzlehrgang für computerbetriebene Drehermaschinen und war anschließend eineinhalb Jahre als Ausbilder in einem Bildungswerk tätig. Auch diese Stelle verlor er jedoch und war bis Juli 1994 erneut arbeitslos. Am 1. Juli 1994 pachtete er eine Bahnhofsgaststätte in O., die er seither selbständig betreibt. Aufgrund notwendiger Bypassoperationen mußte er allerdings längere Aufenthalte im Krankenhaus und anschließende Arbeitsunfähigkeit in Kauf nehmen. Während dieser Zeiten lag der Betrieb der Gaststätte still, die Kosten liefen jedoch weiter, so daß der Angeklagte derzeit hoch verschuldet ist und kaum eine Chance für ihn besteht, aus dieser Situation wieder herauszukommen.

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Der Angeklagte ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Seine Eltern sind bereits in den Jahren 1967 und 1977 verstorben, seine Geschwister in den Jahren 1984 und 1987. Der Angeklagte L. ist nicht vorbestraft. 3. Der Angeklagte R. wurde 1940 in M. geboren. Im Alter von fünf Jahren zog er mit der Familie in die Nähe von Prag, wo sie auf einem Bauernhof lebten und arbeiteten. In dieser Zeit wurden drei der insgesamt elf Geschwister des Angeklagten geboren. Im August/September 1946 floh die Familie über B. nach Thüringen. Der Vater fand eine Arbeits-{5}stelle im Bergbau der Kali-Werke, die Mutter des Angeklagten führte den Familienhaushalt. Altersgemäß wurde der Angeklagte mit sieben Jahren in eine dörfliche Grundschule in U. eingeschult, die er bis zur achten Klasse besuchte. Wegen des Widerstandes seines Vaters trat der Angeklagte nicht den „Thälmann-Pionieren" bei, aber mit 15 Jahren in die FDJ ein. Nach seinem Schulabschluß machte der Schulleiter dem Vater des Angeklagten den Vorschlag, er solle seinen Sohn Lehrer werden lassen, es bestehe für diesen die Möglichkeit, schon jetzt am Institut für Lehrerbildung unterzukommen. Die Eltern des Angeklagten waren sehr stolz auf ihren Sohn und unterstützten diesen Vorschlag, da sie dem Angeklagten ein Weiterkommen sichern wollten. Der Angeklagte ging daher in den Jahren 1955 bis 1959 nach E. in das dortige Institut für Lehrerbildung, in dem eine spezielle Ausbildung für dörflichen Mehrstufenunterricht erfolgte. Die Schulung erfolgte auf streng atheistischer Grundlage, so daß sich der im Elternhaus katholisch erzogene Angeklagte immer mehr von seiner religiösen Einstellung distanzierte. Ein Jahr vor dem Abschluß und vor Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurde er bereits gefragt, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden. Der Angeklagte erklärte sich zwar bereit, wurde jedoch nicht eingezogen, da Lehrermangel herrschte und er daher in seinem erlernten Beruf arbeiten sollte. Trotz ideologischer Bedenken der Angeklagte war inzwischen dem FDGB beigetreten - ließ er sich überreden, in das katholische Gebiet um H. zu gehen, wo er in einer Dorfschule die ersten vier Klassen als Lehrer übernahm. Im Jahre 1959 hatte der Angeklagte seine Ehefrau, die ihn als Krankenschwester nach einem Motorradunfall betreute, kennengelernt. Im Jahre 1961 heiratete der Angeklagte, und seine Ehefrau ging mit ihm nach F., wo er bis 1964 weiter an der Dorfschule unterrichtete. Im April 1963 wurde die erste Tochter der Eheleute geboren, im April 1971 die zweite. Im November 1964 wurde der Angeklagte zum Wehrdienst in ein Grenzregiment nach Potsdam einberufen, da er als Lehrer hierfür geeignet und zuverlässig erschien. Obwohl dem Angeklagten die Möglichkeit der Weigerung bekannt war, machte er hiervon keinen Gebrauch. Er hielt die Sicherung der Grenze für notwendig, um Sabotageakte und die Abwanderung vor allem der intellektuellen Schicht zu verhindern. {6} Nach seiner Entlassung aus der NVA ging der Angeklagte zurück an die F.Dorfschule. Im Jahre 1967 wurden im Zuge der Zentralisierung die Dorfschulen aufgelöst und der Angeklagte in die nächstgrößere Stadt - H. - versetzt. Im Jahre 1968 wurde der Angeklagte Kandidat der SED und trat ein Jahr später in diese Partei ein. Von 1975 an war der Angeklagte als stellvertretender Direktor der Schule im Bereich Freizeitgestaltung und Schulgarten eingesetzt und als Mitglied der Parteileitung an der Schule tätig. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands trat er aus der SED aus und wurde von

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seinen Ämtern abberufen. Er arbeitet seither als Fachberater ... und gibt Unterricht ... ® nähere Angaben zur Berufstätigkeit des Angeklagten wurden unkenntlich gemacht Der Angeklagte erzielt ein monatliches Nettoeinkommen von 1.400,- DM. Der Angeklagte R. ist nicht vorbestraft. 4. Der Angeklagte H. wurde 1942 als Zwilling geboren. Sein Vater starb im gleichen Jahr als Soldat im Krieg. Die Mutter des Angeklagten mußte die Kinder daher alleine ernähren und erziehen. Sie war als Sachbearbeiterin beim Rat der Stadt Plauen und des Kreises tätig. Nach Ende des 2. Weltkrieges heiratete sie ein zweites Mal. Der Angeklagte und sein Zwillingsbruder wuchsen gemeinsam mit der 1948 geborenen Stiefschwester im Haushalt der Eltern auf. Das Verhältnis des Angeklagten zu seinem Stiefvater war angespannt. Mit sechs Jahren wurde der Angeklagte in D. eingeschult und nach acht Jahren Grundschule mit Abschluß der siebten Klasse entlassen. Danach begann er im Jahre 1956 eine dreijährige Lehre zum Zimmermann, die er 1959 abschloß. Während der Schulzeit war der Angeklagte bei den „Thälmann-Pionieren" organisiert, und in der Lehrzeit trat er in den FDGB ein. Von 1959 an arbeitete der Angeklagte vier Jahre lang an verschiedenen Orten in Montagetätigkeit als Zimmermann. Im Jahre 1964 wurde der Angeklagte zur NVA in ein Grenzregiment nach Potsdam eingezogen. Da er bereits vorher den LKW-Führerschein gemacht hatte, wurde er als Kraftfahrer eingesetzt. In diesem Beruf arbeitete der Angeklagte auch nach seiner Entlassung aus der NVA bei verschiedenen „volkseigenen Be-{7}trieben" (VEB) in L. weiter. Im Jahre 1991 wurde er arbeitslos, verrichtete ein Jahr lang im Rahmen eines ABM-Programms Arbeiten im Gartenbau und ist seit Anfang 1995 bei einer Möbelfirma als Maschinenarbeiter tätig. Im Jahre 1960 ist der Angeklagte zum ersten Mal eine Ehe eingegangen, die jedoch nur ein Jahr hielt und dann geschieden wurde. Im Jahre 1971 heiratete der Angeklagte ein zweites Mal. Aus dieser Ehe ist im September 1972 eine Tochter hervorgegangen. Der Angeklagte H. ist nicht vorbestraft.

II.

[SachverhaltsfeststellungenJ

Am 25. April 1966 gegen 3.45 Uhr wurde auf dem Grenzstreifen, der damals Berlin teilte, am Teltowkanal in Johannisthal gegenüber den Eternitwerken in Berlin-Rudow der 21jährige Michael Rollender angeschossen, der vom Ostteil in den Westteil der Stadt flüchten wollte; Michael Rollender verstarb kurz darauf an den Folgen seiner Verletzungen. Der fragliche Grenzstreifen lag zwischen Wredebrücke und Straße C 2 . Im östlichen Hinterland befanden sich der Flughafen Johannisthal, der von einer Pappelreihe begrenzt wurde, und seitlich davon die alten Hentschel-Werke. Vor der Baumreihe führte der Akeleiweg entlang. In dem Grenzstreifen befanden sich ein zur Tatzeit nicht besetzter Betonturm sowie an der Wredebrücke ein Postenturm, auf dem sich in der Tatnacht zwei Grenzsoldaten aufhielten. Zwischen dem Akeleiweg und den ersten Zäunen lag ein sogenanntes Annäherungsfeld, das mit Alarmgeräten und Stolperdrähten gesichert war. Bei dem ersten Zaun handelte es sich um einen Signalzaun, der ca. 1,50 m hoch und in Felder aufgeteilt war. Jedes Feld war wiederum durch Alarmgeräte gesi-

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chert, die zum Postenturm führten und dort auf einer Sichttafel mit bestimmten Signalleuchten gekennzeichnet waren. Zwischen dem Signalzaun und der aus einem ca. 2 m hohen Zaun bestehenden Vorsperre lag ein ca. 15-20 m breiter Feldstreifen. Auf diesem Streifen war eine Hundelauftrasse eingerichtet. Unmittelbar hinter der Vorsperre führte ein auch für Kraftfahrzeuge nutzbarer {8} Feldweg - Kolonnenweg - entlang. In einer Entfernung von ca. 10-15 m von der Vorsperre war ein sog. Kfz-Sperrgraben angelegt, der in erster Linie die Funktion hatte, das Überfahren des Grenzstreifens durch Fahrzeuge zu verhindern. Auf den Laufgraben folgte in Richtung Grenzverlauf ein geharkter Feldstreifen, der sogenannte Kontrollstreifen. Der eigentliche Grenzverlauf an der Böschung des Teltowkanals war durch an ca. 2 m hohen Betonpfeilern befestigte dreifache Stacheldrahtzäune gesichert. Die Uferböschung gehörte in diesem Abschnitt bereits zum Westteil Berlins. Auf dem Kontrollstreifen befanden sich im Abstand von jeweils 10 Metern Peitschenmasten mit sog. HQL-Lampen, Quecksilberdampflampen, die den Streifen ausleuchteten. Die Angeklagten waren zur Zeit des Geschehens Angehörige der 4. Brigade der NVA-Grenztruppen. Am 25. April 1966 gehörten sie der von dem Angeklagten R. als Gefreitem geführten Gruppe des 3. Zuges der 1. Grenzkompanie des Grenzregiments 42 an. Der Zeuge M. war als Oberfeldwebel Führer des Zuges, der Zeuge Fröhlich als Major diensthabender Stellvertreter des Regimentschefs und ein Oberst Frömming, Kommandeur der Grenzbrigade. Das Regiment 42 war unterteilt in vier Kompanien mit je drei Zügen zu je drei Gruppen (10 Soldaten und Unteroffiziere), aus denen die Postenpaare (ein Postenführer und ein Posten) für jede Einsatzschicht zum Dienst im Grenzstreifen gebildet wurden. Der Angeklagte R. war am 4. November 1964 in das Grenzausbildungsregiment Potsdam einberufen worden. Nach fünfwöchiger Ausbildung wurde er bereits in das 42. Grenzregiment versetzt, da dringend Nachschub erforderlich war und der Angeklagte als Lehrer aus politischen Gründen geeignet erschien, die an sich vorgesehene halbjährige Grundausbildung früher zu beenden. Zunächst war auch der Angeklagte R. als Posten tätig, wurde jedoch schneller als seine Kollegen zum Postenführer bestimmt. Etwa vier Monate vor dem Geschehen wurde er als Gruppenführer eingesetzt. Eigentlich sollten für diese Funktion nur Unteroffiziere herangezogen werden, während der Angeklagte R. den Dienstgrad eines Gefreiten innehatte. Da jedoch zwei Unteroffiziere des Zuges strafversetzt worden waren, mußte der Angeklagte, der als zuverlässig galt, diese Position einnehmen. Er war in der {9} Tatnacht als sog. Kommandeur des Gruppenabschnitts für die Koordinierung, Überprüfung und Einweisung der Postenpaare zuständig. Der Angeklagte R. stand am 25. April 1966 vier Tage vor seiner Entlassung aus der NVA. Der Angeklagte S. hatte zur Zeit des Geschehens noch ca. Vi Jahr Dienst vor sich. Er war nach einer sechswöchigen Grundausbildung zum Grenzregiment 42 versetzt worden und wurde als Kraftfahrer einer Sondereinheit zugeteilt. Seine Aufgabe war es auch in der Tatnacht - , mit einem Motorrad den Zug- oder Gruppenführer zu fahren, wenn diese einzelne Posten einzuweisen hatten. Der Angeklagte L. wurde nach seiner halbjährigen Grundausbildung in Potsdam in das Grenzregiment 42 versetzt. Als gefragt wurde, wer Interesse habe, mit Hunden zu arbeiten, hatte er sich als ausgesprochener Tierliebhaber freiwillig gemeldet. Er kam

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daher zur Hundestaffel und war als Diensthundeführer tätig. In dieser Funktion versah er ein- bis zweimal wöchentlich mit einem „Schutzhund" den Grenzdienst. Er war nicht zum Schichtdienst eingeteilt und hatte nur nachts seinen Dienst zu verrichten. Neben den Grenzdiensten war er für die Fütterung und Pflege der Trassenhunde zuständig. Am 25. April 1966 hatte der Angeklagte L., der ebenfalls kurz vor der Entlassung stand, die Hunde bereits an seinen Nachfolger übergeben. Er war für die letzten Tage zum normalen Grenzdienst und in der Tatnacht erstmalig als Postenführer eingeteilt worden. Der Angeklagte H. war nach der Grundausbildung ebenfalls in das Grenzregiment 42 versetzt worden. Da er einen LKW-Führerschein hatte, wurde er sofort in die Einheit für Kraftfahrer eingeteilt. Auch der Angeklagte H. stand kurz vor seiner Entlassung, hatte seinen LKW bereits zurückgegeben und wurde in der Nacht zum 25. April 1966 erstmalig zum Grenzdienst eingeteilt. Er bildete mit dem Angeklagten L. als Postenführer ein Postenpaar und hatte die Funktion des Postens übernommen. Während des Grundwehrdienstes waren alle Angeklagten an der Waffe ausgebildet worden, vor allem an der automatischen Maschinenpistole, Typ Κ - Kalaschnikow - , {10} bei dem es sich eigentlich um ein Sturmgewehr handelt. Mit diesem Gewehr kann nach entsprechendem Umlegen des Sicherungs- und Funktionshebels sowohl Dauer- als auch Einzelfeuer (Hebelfunktionen in dieser Reihenfolge von oben nach unten) geschossen werden. Das Magazin enthält 30 Patronen des Kalibers 7,62 mm. Die maximale theoretische Feuergeschwindigkeit beträgt bei Dauerfeuer 600 Schuß pro Minute, bei Einzelfeuer auf eine feststehende Scheibe 40 Schuß pro Minute. Das Visier verfügt über eine Standvisierung, die von den Einstellungsmarken 1 bis 8 (100 m bis 800 m) reicht, in der Regel - wie auch in der Tatnacht - jedoch auf Ν = Normal = 300 m Entfernung eingestellt war. Bei Einzelfeuer ist die Treffsicherheit grundsätzlich sehr hoch, während sie bei Dauerfeuer aufgrund des Auswanderns der Waffe (bei Rechtshändern nach rechts oben, bei Linkshändern nach links oben) je nach der Position des Schützen (Stehen/Liegen/Laufen) stark schwankt. Der Abzugswiderstand beträgt mehr als 1 kg. In der Grundausbildung war zunächst hauptsächlich Exerzieren und Waffenkunde gelernt worden. Danach war für jede Kompanie pro Monat ein Tag Ausbildung an der Waffe vorgesehen. Darüber hinaus gab es für die Grenzregimenter konkrete Grenzpostenübungen. Dabei wurden - dem Ernstfall nachgestellt - an einer dazu errichteten „Übungsgrenze" Schießübungen mit dem Gewehr Kalaschnikow sowohl tagsüber als auch nachts an feststehenden und laufenden Scheiben vorgenommen. Schließlich wurden im Einzelfall MOT-Schützenausbildungen durchgeführt, d.h. Übungen mit schweren Maschinengewehren und Panzerfahrzeugen sowie leichten Maschinengewehren. Der Angeklagte R. hatte bis zum Tattag neben der - verkürzten - Ausbildungszeit zweimal an einer Grenzpostenübung mit einer Kalaschnikow und zweimal an einer MOT-Schützenübung teilgenommen. Seine Schießergebnisse waren in allen Fällen nur durchschnittlich, er hat hierfür keine Auszeichnung erhalten. Der Angeklagte S. hatte bis zum Tattag noch nicht an einer Grenzpostenübung teilgenommen. Seine sonstigen Schießergebnisse waren nicht so gut, daß er hierfür eine Auszeichnung bekommen hätte. Der Angeklagte L. hatte bereits zweimal {11} während seiner Dienstzeit an einer Grenzpostenübung teilgenommen und einmal an einer allgemeinen Schießübung. Er war ein guter Schütze und hatte für seine Schießergebnisse bereits nach einem halben Jahr Wehrdienst die Schützenschnur erhalten. Der Angeklagte H. hatte einmal gemein-

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sam mit dem Angeklagten L. an einer Grenzpostenübung teilgenommen. Zu seinen Schießergebnissen konnten keine Feststellungen getroffen werden. Aufgrund ihrer Waffenausbildung wußten alle Angeklagten um die Schießeigenschaften der Kalaschnikow, insbesondere daß diese schon bei kurzen Feuerstößen (3-4 Schuß) mit Dauerfeuer - jeweils erneut ruhige und genaue Zielaufnahme vorausgesetzt - nach dem ersten Schuß verzieht, wobei mit zunehmender Entfernung der Streubereich der Einschüsse zunahm. Zweck der „kurzen Feuerstöße" ist es, eine größere Fläche zu „bestreuen", um so eher zu gewährleisten, das Ziel - wenn auch nicht die anvisierte Stelle - zu treffen; auch dies war den Angeklagten zumindest theoretisch bekannt. Zur Schulung der Grenztruppen gehörte neben der praktischen Ausbildung politischer Unterricht von monatlich acht Stunden. Zusätzlich erfolgte täglich vor Dienstantritt neben der sog. Vergatterung eine politische Einweisung von ca. 15 Minuten. Dabei wurden den Angeklagten vor dem Hintergrund der weltpolitischen Gegebenheiten die Funktion, Bedeutung und besondere Brisanz der deutsch-deutschen Grenze als Nahtstelle zwischen Warschauer Pakt und NATO und damit zweier entgegengesetzter Weltsysteme verdeutlicht. Der Dienst an der Grenze wurde als Auftrag der Arbeiterklasse deklariert. Beim Ablegen des Fahneneides wurde den Angeklagten von Kriegsveteranen die Waffe mit dem Auftrag übergeben, das Vaterland und die Arbeiterklasse gegen jeden Feind von innen und außen zu schützen. Das Freund-/Feindbild wurde gleichgesetzt mit Ost/West. Personen, die aus der DDR oder Berlin-Ost in Richtung Westen flüchteten (Grenzverletzer), wurden den Angeklagten als Klassenfeinde und Straftäter geschildert. Fluchtversuche wurden generell als Verbrechen dargestellt, unabhängig von der Art der Ausführung. Als besonders gravierendes Verbrechen gegen die Arbeiterklasse wurde u.a. auch die Flucht von Soldaten angegeben. Die Rechtslage wurde jedoch {12} nicht detailliert erörtert. Eigene Kenntnisse - etwa durch das Studium der maßgeblichen Vorschriften - verschafften sich die Angeklagten nicht. Circa ein Jahr vor dem Tatgeschehen war ein Grenzsoldat (Siegfried W.) von einem Flüchtenden erschossen worden. Dieser Vorfall wurde ausgenutzt, um die Soldaten psychisch zu beeinflussen. So wurden bei jedem größeren Regimentsappell die Ehefrau des verstorbenen Soldaten und dessen Kind allen angetretenen Soldaten mit der Mahnung vorgestellt, die bestehenden Dienstvorschriften exakt einzuhalten, um nicht selbst umzukommen. Den Angeklagten wurde beigebracht, daß Befehlen in jedem Fall zu folgen ist, es sei denn, es handelte sich um Befehle, die gegen die Menschlichkeit verstießen. Beim täglichen Dienstantritt wurden neben der politischen Einweisung laufende Fahndungen nach Straftätern sowie flüchtigen und ggf. bewaffneten NVA- oder Soldaten der sowjetischen Armee bekanntgegeben. Es wurde den diensthabenden Soldaten verdeutlicht, daß bei einem versuchten Grenzdurchbruch nie klar sei, um wen es sich bei dem Flüchtenden handelt und ob er bewaffnet oder unbewaffnet ist. Die auch fur die Angeklagten maßgebliche, von ihnen so verstandene und akzeptierte Befehlslage ging dahin, auf jeden Fall und letztlich mit allen Mitteln zu verhindern, daß der Flüchtende sein Ziel erreichte. Dementsprechend lautete eine bei der „Vergatterung" auch gegenüber den Angeklagten verwendete Formulierung in ihrem Kernsatz: „Grenzdurchbrüche sind auf keinen Fall zuzulassen. Grenzverletzer sind zu stellen oder zu vernichten." Auf schwangere Frauen und Kinder durfte nicht, auf Frauen und Jugendliche

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sollte nicht geschossen werden; auch durften keine Kugeln westliches Gebiet erreichen. Vor jedem Ausrücken zum Grenzdienst erfolgte die Vergatterung; durch sie wurde den Grenzposten noch einmal der konkrete Einsatz und in allgemeiner Form die gestellte Aufgabe bewußt gemacht. Die in der Schulung behandelte Befehlslage sah für den Fall der Entdeckung eines Flüchtenden im einzelnen folgendes Handlungsschema vor, wobei jeweils zur nächsten Handlungsstufe überzugehen war, wenn die vorherige keinen Erfolg zeigte oder sich von vornherein als nicht erfolgversprechend darstellte: {13} - Anrufen des Flüchtenden mit den Worten „Halt, Grenzposten. Stehenbleiben oder ich schieße!"; der Anruf konnte entfallen, wenn sich der Flüchtende bereits auf dem Kontrollstreifen befand; - Versuch des Postens, den Flüchtenden zu Fuß zu erreichen; - Warnschuß; - Gezieltes Einzelfeuer - falls erforderlich mehrmals - auf die Beine; - Schießen von Sperrfeuer parallel zur Grenze zwischen Grenze und Flüchtenden; - Weiterschießen, egal wie oft, notfalls auch Erschießen, bis die Flucht verhindert ist. Die Angeklagten hatten sich mit der Problematik des Schießbefehls an der Grenze nur ansatzweise in dem Sinne auseinandergesetzt, daß jeder von ihnen hoffte, nie von der Waffe Gebrauch machen zu müssen. An der Massantebrücke waren zeitweilig von westlicher Seite aus Plakate mit der Aufforderung fur NVA-Soldaten aufgehängt worden, auf flüchtende DDR-Bürger nicht zu schießen. Diese Plakate gaben immer wieder Anlaß zu Diskussionen unter den Soldaten, auch wenn sich keiner offen dafür aussprach, im konkreten Ernstfall absichtlich danebenzuschießen. Bei einer Tötung des Flüchtenden hatte dies keine negativen Konsequenzen für den Grenzsoldaten; davon gingen auch die Angeklagten angesichts der Befehlslage sicher aus. Vielmehr wurden die Posten, die eine Flucht - gleich auf welche Weise - verhindert hatten, belobigt, ausgezeichnet, erhielten eine Geldprämie und möglicherweise Urlaub. Im Fall einer gelungenen Flucht war mit einer Untersuchung insbesondere durch das MfS zu rechnen, die bei Feststellung von Befehlsverstößen disziplinarische (z.B. Versetzung/Degradierung) oder bei absichtlicher Befehlsverweigerung auch ein Strafverfahren und ggf. Strafhaft, die auf die Dienstzeit nicht angerechnet wurde, zur Folge hatten. Das war den Angeklagten durch entsprechende Fälle bekanntgeworden. Es war allgemein - auch den Angeklagten - bekannt, daß eine verhinderte Flucht der Kompanie Ansehen brachte, während eine gelungene Flucht bedeutete, daß die Kompanie der ihr von der Arbeiterklasse gestellten Aufgabe nicht gerecht geworden wäre. {14} Michael Kollender war seit dem 2. November 1965 Angehöriger der ehemaligen NVA gewesen. Seit dem 21. April 1966 gehörte er in Vorbereitung der Parade zum 1. Mai zum Vorkommando der Paradeeinheit des 16. Flak-Raketen-Regiments (FRR), die im Wachregiment des MfS stationiert war. In der Nacht vom 24. zum 25. April 1966 war er Posten an den Hallen der alten Hentschelwerke, in denen die Kampftechnik des 16. FRR abgestellt war. Gegen 3.00 Uhr verließ er seine Position, um sich über den alten Flugplatz Johannisthal zur Grenze zu begeben und in den Westteil Berlins zu flüchten. Er trug seine Uniform und führte eine mit 14 Schuß Munition geladene, entsicherte und auf Dauerfeuer gestellte Maschinenpistole Kalaschnikow bei sich. Weder gegenüber seinen Eltern noch gegenüber seinem sechs Jahre jüngeren Bruder, dem Zeugen

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Thomas K., hatte er konkrete Fluchtpläne zum Ausdruck gebracht, auch wenn er als „Querkopf' galt und eher kritisch gegenüber dem Regime der ehemaligen DDR eingestellt war. Die Angeklagten L. und H. versahen in dieser Nacht als Postenpaar den Grenzsicherungsdienst zwischen dem Postenturm an der Wredebrücke und der Straße C. Für diese Position war keinerlei Unterstand vorgesehen, und sie wurde nur nachts besetzt, um eine größere Kontrolldichte zu schaffen. Beide Angeklagten waren mit einer Maschinenpistole Kalaschnikow und zwei Magazinen mit je 30 Patronen bewaffnet. Der Angeklagte S. hatte in dieser Nacht als Kraftfahrer die Aufgabe, den als Gruppenführer eingesetzten Angeklagten R. mit einem Motorrad zu den einzelnen Postenpaaren des Gruppenabschnitts zu fahren. Auch diese beiden Angeklagten waren mit einer MP Kalaschnikow und zwei Magazinen mit je 30 Patronen bewaffnet. Der Angeklagte R. führte zusätzlich eine Leuchtpistole mit sich. Zu Beginn der Nachtschicht, die von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr dauerte, bezogen die Posten laut Befehlslage ihre Postenbereiche bzw. lösten die Spätschicht ab. Der Angeklagte R. hatte die Aufgabe, die Grenzposten einzuweisen und das „operative Zusammenwirken" (OZW) bei einem Grenzzwischenfall abzusprechen, insbesondere die Frage, welche Leuchtkugeln in dieser Nacht mit welcher Bedeutung abgeschossen werden sollten. Nachdem er alle Grenzposten eingewiesen hatte, fuhr der Angeklagte R. mit dem Angeklagten S. ins Hinterland. Etwa gegen 2.00 Uhr hielten sie sich für ca. eine Stunde im Hinterland etwa an der Stelle {15} auf, wo sich Michael Kollender der Grenze angenähert haben muß. Zu diesem Zeitpunkt bemerkten die Angeklagten jedoch nichts Auffälliges. Sie fuhren mit ihrem Motorrad weiter und nahmen Kontakt zu den einzelnen Grenzposten auf. Gegen 3.30 Uhr fuhren sie zu den Angeklagten L. und H. Alle vier Angeklagten standen eine ganze Zeit im Dunkeln zwischen dem Graben und dem Kolonnenweg, wobei die Angeklagten R. und S. in Richtung Wredebrücke blickten und die Angeklagten L. und H. in Richtung Straße C 3 , um so die Kontrolle über den Grenzabschnitt zu behalten. Entgegen der Vorschriften entspann sich eine längere Unterhaltung. Die Angeklagten waren wegen des für drei von ihnen bevorstehenden Dienstendes in „EK" (Entlassungskandidaten)-Stimmung. Es war nur noch circa eine Stunde Dienst zu versehen, und alle freuten sich gesprächsweise darüber, daß es während ihrer Einsätze nie zu einem Fluchtversuch und damit zwangsläufig verbundenem Schußwaffengebrauch gekommen war. Während dieser Unterhaltung wurde gegen 3.45 Uhr plötzlich von dem Postenturm an der Wredebrücke das Leuchtsignal „5 Stern weiß" geschossen, das fur diese Nacht die Bedeutung erhalten hatte, daß der Signalzaun im Bereich des Zwischenpostens ausgelöst worden war. Noch bevor das Signal verloschen war, erkannte der Angeklagte R. etwa 100 bis 200 m entfernt in seiner Blickrichtung eine Person, die, wie er glaubte erkennen zu können, eine NVA-Sommeruniform (sog. Drillichanzug) trug und auf den Kfz-Sperrgraben zulief. Er rief aufgeregt „da läuft einer", nahm sofort die MP von der Schulter, lud durch, stellte den Sicherungshebel auf Dauerfeuer und gab einen längeren Feuerstoß schräg in die Luft als Warnschuß ab. Der Flüchtende, Michael Kollender, lief jedoch weiter, übersprang den Graben und tauchte dabei immer mehr ins Licht. In diesem Moment bemerkte der Angeklagte R. in der rechten Hand Kollenders eine Waffe.

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Die Angeklagten S., L. und H. hatten die Situation nicht sofort erfaßt. Der Angeklagte L. glaubte zunächst noch, R. wolle sich mit den Worten „da läuft einer" im Rahmen der gerade geführten Unterhaltung einen Scherz erlauben. Nachdem sich die Verwirrung etwas gelegt hatte, sahen auch die Angeklagten S., L. und H. den Flüchtenden, ohne allerdings seine Uniform {16} und Bewaffnung zu erkennen. Sie hielten ihn für einen „normalen Flüchtling", ohne sich Gedanken über die Fluchtmotivation zu machen. Die drei Angeklagten rissen ihre Maschinenpistolen von der Schulter, entsicherten sie und stellten den Sicherungshebel auf Dauerfeuer. Alle vier Angeklagten rannten parallel zur Grenze vor dem Kfz-Sperrgraben in Richtung des flüchtenden Kollender, wobei die Angeklagten S. und R. zunächst vor den Angeklagten L. und H. herliefen. Die Angeklagten verständigten sich nicht weiter, sondern dachten an das von der Befehlslage vorgegebene Ziel, den Grenzdurchbruch auf jeden Fall verhindern zu sollen. Der Angeklagte R. schoß in Richtung der Beine des Flüchtenden gezielte kurze Feuerstöße (Dauerfeuer), stolperte und gab dabei versehentlich noch einen langen Feuerstoß ab. Da er das erste Magazin bereits leergeschossen hatte, wechselte er im Laufen das leere gegen das volle Magazin aus und rannte weiter. Währenddessen schoß der Angeklagte S. zunächst einen kurzen Feuerstoß in die Luft und einen zweiten vor den Flüchtenden parallel zur Grenze. Sowohl dem Angeklagten R. als auch dem Angeklagten S. war die Gefährlichkeit ihres Tuns bewußt. Sie wollten Michael Kollender zwar nicht töten, erkannten aber die Möglichkeit eines tödlichen Treffers. Auch um diesen Preis wollten sie gemäß dem Befehl, den sie für bindend hielten, das Gelingen der Flucht verhindern. Sie wußten, daß sie bei kurzen Feuerstößen Dauerfeuer zwar die Trefferwahrscheinlichkeit erhöhten, damit aber auch das Risiko eines tödlichen Schusses. Dem Angeklagten R., der als einziger die Waffe des Flüchtenden erkannte hatte, ging der ihnen immer wieder vorgehaltene Fall des von einem Flüchtling erschossenen Soldaten durch den Kopf. Seine Tochter war im gleichen Alter wie das Kind des Getöteten. Er fühlte sich in Erinnerung daran durch die Waffe des Flüchtenden abstrakt bedroht, ohne daß dieser allerdings Anstalten machte, zu schießen und dachte nur, „entweder er oder ich". Der Angeklagte L. gab aus Angst vor einer eventuellen Bestrafung und wegen der Tatsache, daß er als guter Schütze bekannt war, so daß es besonders auffallen würde, wenn er nicht geschossen hätte, zwei kurze Feuerstöße von insgesamt 10-12 Schüssen schräg nach oben und in die mutmaßliche Richtung des Flüchtenden {17} ab. Der Angeklagte H. schoß ebenfalls aus Angst und Verwirrung lediglich schräg nach vorne und in die Luft. Sowohl L. als auch H. konnten den Flüchtenden die meiste Zeit über nicht richtig sehen und hätten nicht zielgerichtet schießen können, zumal die beiden weiteren Angeklagten zunächst vor ihnen rannten und sie daher Gefahr liefen, die Kollegen zu treffen. Beide Angeklagten wollten den Flüchtenden weder töten noch ihn überhaupt treffen. Sie hofften vielmehr darauf, daß er entweder von sich aus aufgeben oder aber durch die beiden anderen lebend gestellt werden würde. Als sich alle Angeklagten bis auf ca. 70 m dem Flüchtenden genähert hatten, sahen sie, wie dieser bereits auf dem Kontrollstreifen angekommen schnell vorwärts robbte. Zu diesem Zeitpunkt war er möglicherweise bereits im Bein von einem oder zwei Schüssen getroffen worden. Die Angeklagten liefen weiter parallel zum Graben in die Richtung des Flüchtlings. Der Angeklagte S. gab einen dritten Feuerstoß parallel zur

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Grenze ab. Kollender befand sich jetzt noch circa fünf bis sechs Meter von dem eigentlichen Grenzverlauf entfernt. Der Angeklagte S. erkannte, daß er durch sein sog. Sperrfeuer die Wahrscheinlichkeit eines Treffers erhöhte, da er zwar vor den Flüchtenden zielte, wegen des geringen Abstandes zwischen dem Grenzverlauf und dem Flüchtenden und der Tatsache, daß er Dauerfeuer schoß, aber keine Kontrolle über die genaue Schußrichtung hatte. Danach rief der Angeklagte S. dem Flüchtenden zu „Mensch bleib doch liegen". Der Angeklagte L. hatte den Angeklagten S. inzwischen beim Laufen überholt, und dieser sah sich daher nicht mehr in der Lage, weiterzuschießen, ohne die beiden vor ihm laufenden Kollegen zu gefährden. Er stellte das Feuer ein. Auch die Angeklagten L. und H. schössen nicht weiter. Kollender bewegte sich weiterhin robbend vorwärts in Richtung Grenze. Der Angeklagte R., der die ganze Zeit über vor seinen Kollegen herlief, schoß solange weiter Dauerfeuer nunmehr in langen Feuerstößen ebenfalls als sogenanntes Sperrfeuer zwischen den Flüchtenden und dem Grenzverlauf, um ihn am Weiterrobben zu hindern - , bis auch das zweite Magazin leergeschossen war. Vermutlich von einem der Schüsse des Angeklagten R. entweder direkt oder durch Abprallen von den Betonpfeilern des {18} Grenzzaunes im Kopf getroffen, blieb Michael Kollender ca. zwei bis drei Meter vor dem dreifachen Stacheldrahtzaun liegen. Der Angeklagte R. zog seine Leuchtpistole, lud sie mit dem für „Feuer einstellen" vereinbarten Signal „5 Stern grün" und schoß dieses zunächst vor lauter Aufregung nicht senkrecht genug nach oben, so daß er noch einmal nachladen und ein zweites entsprechendes Signal abschießen mußte. Danach begab er sich zu dem verletzten Michael Kollender. Dieser atmete noch, war aber bewußtlos. Der Angeklagte nahm die Kalaschnikow des Opfers und stellte bei der Kontrolle fest, daß diese durchgeladen und der Sicherungshebel auf Dauerfeuer eingestellt war. Er sicherte die Waffe und warf sie rückwärts in Richtung Graben. Dann zog er das Opfer an den Beinen rückwärts gehend zum Graben. Dort half ihm einer der übrigen Angeklagten, den Verletzten in den Graben zu legen. Der Angeklagte R. erkannte die Kopfverletzung des Opfers, nahm ein Verbandspäckchen, leistete Erste Hilfe und legte das Opfer in die stabile Seitenlage. Danach meldete er dem Führungspunkt mittels Grenzmeldenetz den verhinderten Grenzdurchbruch. Auf der westlichen Seite des Teltowkanals war inzwischen große Unruhe entstanden. Am Eternit-Werk lagen einige Lastkähne, um ihre Ladung zu löschen oder neue aufzunehmen. Die Zeugen Brigitte G. und Detlef U. hielten sich auf dem Motorschiff „Einigkeit" auf und waren beide durch die ersten Schüsse aufgeschreckt worden. Während Herr U. zum Pförtner der Eternit-Werke lief, um die Polizei zu alarmieren, versuchte Frau G., die Ereignisse zu beobachten. Der Zeuge Li., der damals Schiffsführer des Motorschiffs „Peter" war, hatte die Schüsse ebenfalls bemerkt und war in das Führerhaus gekrochen. Die Brüder Ernst und Norbert Ha. befanden sich auf dem Motorschiff „Potsdam" und gingen aus Angst vor möglichen Treffern in der Kajüte ihres Schiffes in Deckung. Die Zeugen bemerkten lediglich eine flüchtende Person, die sie jedoch nicht näher identifizieren konnten. Auch der Zeuge W., der zur Zeit des Geschehens seinen Dienst als Zollbeamter an der Grenze versah, hatte bereits die erste Leuchtkugel und die darauffolgenden Schüsse sowie einen flüchtenden Menschen gesehen, ohne allerdings dessen Verfolger genau erkennen und beobachten zu können. Der Zeuge He. {19} versah in der Nacht seinen Dienst auf der Wache eines nahegelegenen Polizeiabschnitts. Er

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vernahm die Schüsse, konnte deren Richtung jedoch nicht einordnen und wartete auf den Einsatzbefehl. Nach dessen Eintreffen begab er sich ebenfalls zum Ereignisort. Alle Zeugen beobachteten das Geschehen auf der östlichen Seite der Grenze erst genauer, nachdem das Feuer insgesamt eingestellt worden war. Etwa eine halbe Stunde nach der Bergung des Opfers erreichten ein Sanitätskraftwagen und ein Wagen der sog. Alarmgruppe den Grenzstreifen. Michael Rollender wurde in eine Plane eingewickelt, unter dem Sanitätswagen durchgezogen und auf der der westlichen abgewandten Seite in den Wagen eingeladen, um zu verhindern, daß westliche Beobachter genaue Feststellungen treffen konnten. Er wurde in das Volkspolizeikrankenhaus eingeliefert, verstarb jedoch entweder noch an der Grenze oder kurz darauf an seinen schweren Verletzungen. Auch durch eine sofortige ärztliche Hilfe hätte sein Tod nicht mehr verhindert werden können. Noch am frühen Morgen des 25. April 1966 wurde der Leichnam Michael Kollenders in der pathologisch-anatomischen Abteilung des Krankenhauses der Volkspolizei durch den Chefarzt Dr. Ma. und die damalige Assistenzärztin Frau Dr. Schillät obduziert. Dabei wurde festgestellt, daß Michael Kollender Schußverletzungen an der Hinterfläche der rechten Kniekehle sowie am rechten Fußknöchel und eine Durchschußverletzung der rechten Kopfhälfte erlitten hatte, die zu schweren Zerstörungen des Gehirns und zum unmittelbaren Todeseintritt geführt hat. Angesichts der vorhandenen Blutaspiration in die Lunge muß Kollender noch einige Atemzüge lang nach dem Einschuß weitergelebt haben, ohne sich allerdings noch bewegen zu können. Die pathologische Abteilung verfügte nicht über die Möglichkeit, feingewebliche Untersuchungen durchzuführen, so daß die Frage des Einschußortes nur anhand einfachen Augenscheins erörtert wurde. Da zudem beide Schußwunden im Kopf die gleiche Größe aufwiesen, konnte nicht eindeutig geklärt werden, ob die Kugel von vorne oder von hinten in den Kopf eingedrungen war. Die Angeklagten wurden sofort von ihrem Dienst abgelöst, R. und S. fuhren mit dem Motorrad in die Grenzkompanie zurück, L. und H. wurden {20} mit einem Fahrzeug gefahren. Nach einer kurzen Pause wurden alle vier Angeklagten zum Regimentskommandeur gerufen. Es wurde ihnen bestätigt, daß sie ihren „Kampfauftrag" hervorragend erfüllt hätten, die Stimmung auf Seiten der Offiziere war ausgesprochen ausgelassen. Die Angeklagten mußten über die Ereignisse berichten, ohne daß sie allerdings förmlich vernommen wurden. Von namentlich nicht bekannten vorgesetzten Offizieren wurde ein Bericht über den „verhinderten Grenzdurchbruch" gefertigt, in den u.a. aufgenommen wurde, alle vier Grenzsoldaten hätten sofort auf Befehl des Kommandeurs des Gruppenabschnitts gezieltes Feuer geführt. Durch die beiden Grenzposten sei weiter gezieltes Feuer geführt worden, als sich der Flüchtende auf dem Kontrollstreifen befunden habe. Im weiteren Verlauf der Annäherung hätten der Kommandeur des Gruppenabschnitts und der Postenführer aus einer Entfernung von 30 m nochmals kurze Feuerstöße abgegeben. Insgesamt seien 109 Schuß abgegeben worden. Der Berichtsunterzeichner, Oberst Frömming, teilte zudem mit, daß er gedenke, die beteiligten Soldaten wegen ihrer „vorbildlichen Erfüllung des Kampfauftrages" zu prämieren und zu belobigen. Ein weiterer Bericht wurde am gleichen Tag von Generalmajor Poppe an das „Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED und den Sekretär des Nationalen

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Verteidigungsrates der DDR Genossen Erich Honecker" gefertigt. Dieser hat folgenden Wortlaut: „Ich melde: Am 25.04.1966 gegen 03.45 Uhr versuchte der Kanonier Michael Kollender, Dienststelle FRR 16, Bernau, bewaffnet mit einer MPi KS und 14 Patronen im Magazin, die Staatsgrenze nach Westberlin zu durchbrechen. Durch die eingesetzten Grenzposten wurde zur Verhinderung des Grenzdurchbruchs die Schußwaffe (90 Schuß) in Anwendung gebracht. Der Grenzverletzer wurde mit einer schweren Kopfverletzung geborgen und in das VP-Krankenhaus eingeliefert. Die Bergung des Grenzverletzers erfolgte nach ca. 15 Minuten. Der Abtransport des Grenzverletzers mit dem Sankra des Grenzregiments 42 wurde durch den eingesetzten Duepo4 von der Krananlage des Etemitwerkes beobachtet. Schlußfolgerungen : 1. Die eingesetzten Grenzposten handelten entsprechend der Lage und den bestehenden Befehlen und Dienstvorschriften richtig und konsequent. 2. Die an der Festnahme und Bergung des Grenzverletzers beteiligten Grenzposten werden von mir ausgezeichnet bzw. belobigt. 3. Eine Auswertung des vorbildlichen Verhaltens der Grenzposten, besonders bezüglich des Zusammenwirkens und der richtigen Nutzung des in diesem Abschnitt vorhandenen Signalzauns, erfolgt in den mir unterstellten Verbänden und Truppenteilen." {21}

Alle Angeklagten wurden für ihr Verhalten tatsächlich ausgezeichnet, der Angeklagte R. bekam eine Medaille für vorbildlichen Grenzdienst und wurde noch am letzten Tag seines Dienstes zum Unteroffizier der Reserve befördert, die übrigen Angeklagten erhielten jeweils eine goldene Uhr. Der Angeklagte L. wunderte sich hierüber besonders, da er bis zuletzt davon ausgegangen war, wegen seiner geringen Schußabgabe bestraft zu werden. Die Angeklagten hatten nach dieser Nacht keinerlei Kontakt mehr miteinander. Allein der Angeklagte L. hat über die Ereignisse mit seiner damaligen Lebensgefährtin gesprochen. Alle übrigen Angeklagten haben den Vorfall im Familien- und Freundeskreis erst nach der Wiedervereinigung oder im Zusammenhang mit ihren polizeilichen Vernehmungen angesprochen. Vom Tod Michael Kollenders haben die Angeklagten lediglich durch Zufall und zum Teil erst anläßlich des Bekanntwerdens des Falles in der Presse erfahren.

III [Strqfbarkeit der Angeklagten L. und H.J 1. Die Feststellungen zu den Lebensläufen der Angeklagten beruhen auf ihren glaubhaften Angaben. Die Feststellungen zu dem Aufbau des Grenzsicherungssystems am Ort des Geschehens, den Werdegängen der Angeklagten während ihrer Zeit als Angehörige der NVA, insbesondere auch der Waffenausbildung und politischen Schulung, sowie der allgemeinen Situation in der Tatnacht beruhen weitestgehend auf den umfassenden Geständnissen der Angeklagten R., S., und L., verbunden mit einigen Angaben aus ihren polizeilichen Vernehmungen, die durch Erklärungen der Angeklagten auf Vorhalte hin in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind. Der Angeklagte H. hat in der Hauptverhandlung von seinem Recht, die Aussage zu verweigern, Gebrauch gemacht. Seine Angaben in der polizeilichen Vernehmung sind durch den damaligen Vernehmungsbeamten KOK Wa. in der Hauptverhandlung umfassend wiedergegeben worden. {22}

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Die Einlassungen der Angeklagten sind in einigen Punkten von Zeugen bestätigt und um Tatsachen ergänzt worden, die den Angeklagten nicht bekannt waren oder sein konnten. So hat insbesondere der Zeuge W. Angaben zum Aufbau der Grenzanlagen aus westlicher Sicht anhand der in Augenschein genommenen Fotos und Skizzen gemacht. Die Angaben der Angeklagten zu den Lichtverhältnissen sind von allen Zeugen übereinstimmend bestätigt worden. Der Zeuge Fröhlich hat weiter Ausführungen zum Aufbau des Grenzregiments, der unterschiedlichen Funktionen und der Reaktionen von seiten der Offiziere auf Grenzdurchbrüche allgemein und den hier in Rede stehenden gemacht. Er hat weiter glaubhaft Art und Weise des Berichtswesens innerhalb der Einheit beschrieben. Die Feststellungen zur Befehlslage beruhen ebenfalls im wesentlichen auf den glaubhaften Einlassungen der Angeklagten R., S. und L., die insbesondere deutlich gemacht haben, daß der Befehl letztlich die Tötung des Flüchtlings verlangte, falls mildere Mittel zur Fluchtverhinderung nicht ausreichten. Dies hat der Zeuge Fröhlich ebenfalls bestätigt. Abgesehen davon weichen die Einlassungen der Angeklagten nur in sehr wenigen Punkten von dem festgestellten Sachverhalt ab. So haben die Angeklagten S. und L. angegeben, die genauen Schießeigenschaften der Kalaschnikow nicht gekannt zu haben. Bei dem Angeklagten L. spricht gegen diese Einlassung bereits die von ihm selbst eingeräumte Tatsache, daß er ein guter Schütze war. Bei der Schießausbildung wurde zudem, wie der Angeklagte R. glaubhaft ausgeführt hat, auch das Schießen in kurzen Feuerstößen geübt. Auch wenn die Angeklagten S., L. und H. nur über sehr wenig Erfahrung im Schußwaffengebrauch verfugten, ist die Kammer davon überzeugt, daß die Angeklagten das Verhalten der Waffe, insbesondere die Streuung der Schüsse schon bei kurzen Feuerstößen, genau kannten. Denn es handelt sich insoweit um ein allgemeines Phänomen, das bereits bei erstmaligen Schießübungen erkennbar wird und von der Feinabweichung zu trennen ist, die bei jeder Waffe verschieden sein kann. Nach dem überzeugenden Gutachten des Waffensachverständigen Kutschker, bestätigt durch den Angeklagten R., steht für {23} die Kammer fest, daß bei kurzen Feuerstößen - genaues Zielen und jeweils neue Zielaufnahme vorausgesetzt - nur der erste Schuß so zielgenau wie bei Einzelfeuer sein kann, die Waffe bei weiteren Schüssen hingegen auswandert, und die Treffer deshalb mit zunehmender Entfernung des Zieles um so stärker nach oben abweichend auseinanderliegen. Mit kurzen Feuerstößen wird deshalb geschossen, wenn es nicht zu sehr darauf ankommt, eine bestimmte Stelle, sondern das Zielobjekt überhaupt zu treffen. Die Feststellungen über den Geschehensablauf, nachdem Rollender liegengeblieben war, beruhen im wesentlichen auf den glaubhaften Angaben des Angeklagten R., ergänzt durch die Angaben der Zeugen Fröhlich, W., G. und U. 2. Die Feststellungen zum Kerngeschehen in objektiver wie subjektiver Hinsicht beruhen ebenfalls im wesentlichen auf den überzeugenden Geständnissen der Angeklagten R., S. und L. bzw. der durch KOK Wa. eingeführten geständigen Einlassung des Angeklagten H. a) Der Angeklagte R. hat ausgeführt, er habe gezielte Schüsse auf Michael Kollender abgegeben bzw. solange Sperrfeuer geschossen, bis dieser regungslos liegenblieb. Es waren nach den Feststellungen der Kammer vermutlich seine Schüsse, die das Opfer

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getroffen haben, da er zum einen gezielt auf die Beine und auch dann weitergeschossen hat, als die übrigen drei Angeklagten das Feuer bereits eingestellt hatten und Kollender sich noch bewegte. Es ist allerdings auch nicht ausschließbar, daß die das Opfer am Bein treffenden Schüsse auch vom Angeklagten S. stammen können. Nach den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Frau Dr. Schillat muß Kollender, nachdem er am Kopf getroffen wurde, noch kurze Zeit gelebt haben, da in der Lunge aspiriertes Blut festgestellt wurde. Wegen der schwerwiegenden Zerstörung des Gehirns hielt Frau Dr. Schillat es jedoch für ausgeschlossen, daß Kollender nach dem Treffer noch handlungsfähig war, d.h. sich weiterbewegen konnte. Die Kammer ist daher davon ausgegangen, daß zu dem Zeitpunkt, als die An-{24}geklagten S., L. und H. nicht mehr weitergeschossen haben, Kollender noch nicht am Kopf getroffen war. Der Angeklagte S. hat sich dahingehend eingelassen, insgesamt drei Feuerstöße Dauerfeuer abgegeben zu haben. In seiner polizeilichen Vernehmung hatte er - wie er auf Vorhalt bestätigte - angegeben, „einfach draufgehalten" zu haben, ohne die Schußrichtung kontrollieren zu können. In der Hauptverhandlung hat er hingegen ausgesagt, stets so geschossen zu haben, daß der Flüchtende nicht getroffen werden konnte, auch wenn er die Lebensgefährlichkeit des Sperrfeuers erkannt habe und einen Treffer nicht ausschließen könne. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer jedoch fest, daß der Angeklagte S. ebenso wie der Angeklagte R. bei seiner Schußabgabe den Tod Michael Kollenders zumindest billigend in Kauf genommen hat. Beide haben - wie von ihnen eingeräumt - die Möglichkeit, den Flüchtling durch ihre Schüsse tödlich zu treffen, der Möglichkeit eines Gelingens der Flucht mit den damit für sie zu erwartenden Unannehmlichkeiten bewußt vorzogen. Dies ergibt sich aus ihren übereinstimmenden Einlassungen, wonach sie die Gefährlichkeit der aus einer Entfernung von 100 bis 200 m auf die Beine des laufenden Kollender und aus einer Entfernung von 70 m abgegebenen Feuerstöße zwischen den robbenden Kollender und der Grenze für das Leben des Flüchtenden erkannten, ihr Tun jedoch gleichwohl fortgesetzt haben, um das Risiko des Entkommens des Flüchtlings sicher auszuschließen. Die Angeklagten haben bewußt Dauerfeuer in zunächst langen, dann kurzen und R. schließlich wieder langen Feuerstößen geschossen. Hätten sie mit möglichst hoher Sicherheit die Beine des Flüchtenden treffen wollen, wie es der Befehl als zweite Stufe nach den Warnschüssen vorsah, so hätten sie aufgrund ihrer Schießerfahrung Einzelfeuer gewählt. Es steht nach den Geständnissen dieser Angeklagten fest, daß R. 60 Schuß und S. 10-12 Schuß abgegeben hat. Bis zu dem letztendlich tödlichen Treffer und dem darauffolgenden Liegenbleiben Kollenders war dieser schon bis auf zwei bis drei Meter an den ersten der dreifachen Stacheldrahtzäune herangerobbt. Dies ergibt sich zum einen aus der glaubhaften Einlas{25} sung des Angeklagten R. und zum anderen aus den übereinstimmenden Bekundungen der Zeugen W., L., G. und U., die ausgesagt haben, der Flüchtling sei kurz vor dem ersten Zaun liegengeblieben und von dort aus in den Graben zurückgezogen worden. Bestätigt wird dies weiter durch die Angaben der auf der Westseite das Geschehen beobachtenden Zeugen, daß nach der Bergung des Opfers ein Soldat eine Mütze - entweder von Kollender oder R. - , die direkt am ersten Zaun lag, entfernt hat. Hinzu kommt, daß - nach den Angaben aller Angeklagten - der Flüchtende sehr schnell vorwärts robbte.

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Das Schießen von Sperrfeuer stellt sich daher in jedem Fall als lebensgefährlich dar. Angesichts dieses Beweisergebnisses bezüglich der Art des Schießens und des - auch den Angeklagten bekannten - sehr erheblichen Risikos für das Leben des Flüchtlings erachtet die Kammer die Einlassung des Angeklagten S., er sei davon ausgegangen, lediglich ins Leere zwischen den Flüchtling und den Grenzverlauf zu schießen und nicht zu treffen, als Schutzbehauptung. Hierfür spricht auch die Schilderung in seiner polizeilichen Vernehmung, nach der er, wie er auf Vorhalt einräumte, ausgeführt hatte, beim Schießen einfach „drauf gehalten" zu haben, ohne in irgendeiner Weise die Zielrichtung und mögliche Treffer kontrollieren zu können. Die Angeklagten S. und R., letzterer hat dies unumwunden zugegeben, haben das gefährliche Dauerfeuer in kurzen Feuerstößen gerade gewählt, um so auf jeden Fall, auch unter Inkaufnahme der Tötung des Flüchtenden, die Flucht zu verhindern. b) Bei den Angeklagten L. und H. konnte hingegen nicht festgestellt werden, daß sie zum einen überhaupt gezielt in die Richtung des Flüchtenden geschossen und zum anderen möglicherweise getroffen haben. Zugunsten der Angeklagten muß davon ausgegangen werden, daß sie bewußt daneben bzw. so geschossen haben, daß der Flüchtende nicht getroffen werden konnte. Für den Angeklagten L. als vergleichsweise gutem Schützen konnte seine Einlassung nicht widerlegt werden, daß er lediglich geschossen hat, um nach außen hin am Schießen Anteil zu haben und den Eindruck der Pflichterfüllung zu erwecken und trotz kurzer Feuerstöße Dauerfeuer über den Flüchtling hinweg darauf vertraut hat, diesen nicht tödlich zu treffen. Im Gegenteil erschien der Kammer die {26} plastische Schilderung seiner bis zum Schluß bestehenden Angst vor Bestrafung und seiner Überraschung, auch noch ausgezeichnet zu werden, nachvollziehbar und glaubhaft. Über die Schießerfahrung des Angeklagten H. ist durch die Einlassung des Angeklagten L. lediglich bekanntgeworden, daß beide einmal gemeinsam an einer Grenzpostenübung teilgenommen haben. Welche Ergebnisse der Angeklagte H. erzielte, konnte hingegen nicht festgestellt werden. In seiner polizeilichen Vernehmung hatte er zum Kerngeschehen, wie vom Zeugen Wa. ausgeführt, bekundet, zunächst gar nicht, und dann lediglich in Panik und vor lauter Aufregung in die Luft geschossen zu haben, ohne den Flüchtenden zu sehen. KOK Wa. hat zu der Vernehmung des Angeklagten H. angegeben, dieser sei völlig aufgeregt und nicht in der Lage gewesen, zusammenhängende Sätze zu bilden. Er habe den Eindruck gewonnen, der Angeklagte sei entweder aufgrund Unvermögens oder Unwilligkeit nicht bereit gewesen, das tatsächlich Erlebte mitzuteilen. Er - KOK Wa. - habe die Vernehmung abgebrochen, um den Angeklagten nicht weiter zu quälen, als dieser angefangen habe, eine völlig andere als bisher festgestellte Darstellung abzugeben - so u.a., daß 10 bis 12 Grenzsoldaten bei dem Vorfall vor Ort gewesen seien und geschossen hätten - . Danach bestehen erhebliche Zweifel an der Einlassung des Angeklagten H. So hält die Kammer es beispielsweise eindeutig für eine Schutzbehauptung, daß er den Flüchtenden nicht gesehen haben will. Denn nach Angaben aller übrigen Angeklagten wie auch der das Geschehen auf westlicher Seite beobachtenden Zeugen war der Kontrollstreifen ausgeleuchtet, so daß die rennende Person von allen Seiten gesehen werden konnte. Gleichwohl konnte dem Angeklagten H. nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht nachgewiesen werden, daß er unter billigender Inkaufnahme des Todes des Flüchtenden gezielt auf diesen geschossen hat.

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Die Angeklagten R., S. und L. konnten zum Schießverhalten des Angeklagten H. keine konkreten Angaben machen, alle jedoch nicht ausschließen, daß er absichtlich in die Luft geschossen hat. Gleiches gilt fur die An-{27}geklagten S. und R. in bezug auf das Schießverhalten des Angeklagten L. Zugunsten aller Angeklagten muß davon ausgegangen werden, daß die Angaben zur Anzahl der Schüsse im Bericht von Generalmajor Poppe zutreffend sind und nicht im Bericht von Oberst Fömming. Danach sind insgesamt 90 Schüsse abgegeben worden. Da der Angeklagte R. nach eigenen Angaben zwei Magazine verbraucht und damit 60 Schuß abgegeben hat, der Angeklagte S. 10-12 Schuß und der Angeklagte L. ebenfalls jedenfalls 10 Schuß, so verbleiben fur den Angeklagten H. noch - zugunsten - 8 Schuß. „Nur" höchstens drei Schüsse haben das Opfer getroffen. Die Tatsache, daß die Angeklagten L. und H. erwiesenermaßen jeweils nur sehr wenige Schüsse abgegeben haben, ist daher ein wichtiges Indiz für die Richtigkeit ihrer Angaben. In dem in der Hauptverhandlung verlesenen Bericht von Generalmajor Poppe und in dem Bericht von Oberst Frömming, dessen Inhalt durch die Erklärungen sowohl der Angeklagten R. und S. als auch des Zeugen Fröhlich auf Vorhalte hin eingeführt worden ist, wird zwar ausgeführt, alle vier Grenzsoldaten hätten gezieltes Feuer abgegeben. Die Zuverlässigkeit dieser Berichte unterliegt jedoch erheblichen Zweifeln. Zwar können sie inhaltlich lediglich auf den Angaben der Angeklagten beruhen, da nur sie am Tatort anwesend waren. Allerdings hatten sie angesichts der Befehlslage kaum eine andere Wahl, als ihren Vorgesetzten gegenüber zu erklären, sie hätten „gezielt" geschossen, da sie ansonsten erhebliche Repressalien zu befürchten hatten. Schon aus diesem Grund kann aus Angaben dieser Art nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, daß tatsächlich „gezielt" geschossen worden ist. Des weiteren hatten die Berichte ausschließlich die Funktion, die vorgesetzten Dienststellen über den versuchten Grenzdurchbruch zu informieren. Konkrete Details wurden nicht aufgenommen, ohnehin eine förmliche Vernehmung der Schützen nicht durchgeführt. Da der Grenzdurchbruch verhindert worden war, kam es einzig und allein noch darauf an, die Angeklagten als „vorbildliche Soldaten" und die Kompanie in einem möglichst guten Licht darzustellen und eventuelle Fehlverhaltensweisen beteiligter Soldaten zu verschleiern. Dem entspricht zum einen die Einlassung des Angeklagten L, man habe ihm erklärt, es würden für ihn (im Bericht von Oberst Frömming) {28} mehr Schußabgaben aufgenommen, als tatsächlich erfolgt, was durch die unterschiedlichen Angaben zur Zahl der insgesamt abgegebenen Schüsse in den beiden genannten Berichten belegt wird. Zum anderen ist die Einschätzung der Kammer in vollem Umfang von dem Zeugen Fröhlich bestätigt worden. Die Berichte können daher nicht im Sinne der Anklage zu einer Überfuhrung der Angeklagten L. und H. herangezogen werden. Den Angeklagten L. und H. kann damit nicht nachgewiesen werden, daß sie bei der Abgabe ihrer Schüsse die Tötung des flüchtenden Michael Kollender zum einen verursacht und zum anderen billigend in Kauf genommen haben. Die Schüsse der Mitangeklagten R. und S. können ihnen auch nicht zugerechnet werden. Denn hierfür wäre das arbeitsteilige und von einem gemeinsamen Willen getragene Vorgehen erforderlich gewesen, das gerade nicht festgestellt werden konnte. Das offensichtlich dem Befehl zuwider gehende Handeln der Angeklagten L. und H. erfüllt bereits objektiv nicht die Voraussetzungen einer Mittäterschaft, und sie handelten auch nicht mit dem notwendi-

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gen, zumindest bedingten Tötungswillen. Sie hofften vielmehr darauf, der Flüchtende werde seine Flucht freiwillig aufgeben oder aber von den anderen Angeklagten lebend aufgehalten werden. Es konnte weiterhin nicht festgestellt werden, daß die Angeklagten R. und S. sich durch die Schußabgabe der Angeklagten H. und L. in ihrem Tatentschluß bestärkt fühlten oder diese einen dahingehenden Willen hatten und tatsächlich eine Erhöhung der Gefährdung des Flüchtenden durch ihre Schüsse gegeben war. Eine evtl. Bestrafung wegen Beihilfe scheidet daher ebenfalls aus. Die Angeklagten L. und H. waren aus tatsächlichen Gründen freizusprechen. {29}

IV. [Strafbarkeit der Angeklagten R. und S.J Nach den getroffenen Feststellungen haben die Angeklagten R. und S. einen gemeinschaftlichen Totschlag gemäß den §§ 212, 25 Abs. 2 StGB (§§ 112, 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB/DDR bzw. § 212 StEG 5 ) begangen. 1. Die Tat ist nicht verjährt, denn die Verjährung ruhte während des Bestehens der DDR zumindest bis Anfang 1990 (vgl. BGH U. v. 18.01.19946, ßGHSt 40, 48 ff.; KG Beschluß v. 17.12.1992 7 , NStZ 1993, 240). Die Strafkammer schließt sich der Auffassung an, daß der einer Verfolgung der Taten entgegenstehende politische Wille der SED-Führungsspitze einem „gesetzlichen" Verfolgungshindernis im Sinne des § 83 Nr. 2 StGB/DDR gleichzusetzen ist. Dafür spricht u.a., daß dieser politische Wille den Angeklagten einen Status verschaffte, der dem der gesetzlichen Immunität gleichkam. Die faktisch rechtsetzende Funktion politischer Entscheidungen der SED-Führung kam indirekt auch in der Verfassung der DDR zum Ausdruck. So heißt es z.B. in Artikel 1 der Verfassung der DDR (von 1968 i.d.F. von 1974): „Sie (erg. die DDR) ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklassen und ihrer marxistisch-leninistischen Partei." Daß diese Analogie keineswegs willkürlich ist, sondern an in der DDR herrschende Anschauungen anknüpfen kann, wird auch deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß nach der in der DDR bis zuletzt vorherrschenden marxistisch-leninistischen Rechtstheorie Recht in einer sozialistischen Gesellschaft prinzipiell nichts anderes sein konnte als der von der kommunistischen Partei (der SED) über den Staat zum Ausdruck gebrachte Wille der (angeblich) herrschenden Arbeiterklasse (vgl. hierzu allgemein z.B. das Lehrbuch „marx.-lenin. Staats- und Rechtstheorie", Berlin - DDR - 1975, S. 87 ff.). Die Verfolgung der Tat ist auch nicht durch in der DDR erlassene Amnestien ausgeschlossen (vgl. BGH NJW 1994, 267, 268 8 ). 2. Auf die Angeklagten ist gem. Art. 315 Abs. 1 EGStGB i.d.F. der Anlage I Kap III, Sachgebiet C, Abschnitt II, Nr. 1 des Einigungsvertrages i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anzuwenden, da die Tat der An-{30}geklagten zur Tatzeit auch nach dem Recht der ehemaligen DDR mit Strafe bedroht war, das Recht der Bundesrepublik Deutschland jedoch für die Angeklagten die günstigste Beurteilung zuläßt. Dies ergibt sich aus einem Vergleich sowohl der Strafrahmen der §§ 212, 213 StGB und der §§ 112, 113 i.V.m. §§ 44, 62 StGB/DDR (i.d.F. des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 28. Juni 1979) sowie der zur Tatzeit in der DDR geltenden Vorschriften der §§ 212, 213 StEG 9 (vom 11. Dezember 1957).

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3. Indem die Angeklagten R. und S. auf Michael Kollender gezielt bzw. Sperrfeuer zwischen diesen und den Grenzverlauf geschossen haben, von denen ein Schuß vermutlich des Angeklagten R. das Opfer in den Kopf traf und dessen Tod verursachte, haben beide Angeklagten den objektiven Tatbestand des § 212 StGB (§§ 112, 113 StGB/DDR) erfüllt. Für den Angeklagten S. gilt dies deshalb, weil beide Angeklagten aufgrund eines einheitlichen Tatentschlusses in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken arbeitsteilig gehandelt haben. Dieses in stillschweigendem Einvernehmen erfolgte bewußte und gewollte Zusammenwirken beruhte auf dem ihnen vorgegebenen und von ihnen gebilligten Befehl, gemeinschaftlich nach einem vorgegebenen Handlungsplan einen Flüchtenden unter allen Umständen an der Flucht zu hindern, ihn „zu stellen oder zu vernichten". Dieser Befehl war von beiden Angeklagten übereinstimmend dahingehend verstanden worden, daß ein Flüchtling zwar vorrangig durch möglichst lebensschonende Maßnahmen, nämlich gezieltes Einzelfeuer auf die Beine, an der Flucht zu hindern war, daß zur sicheren Erreichung des Zwecks - Verhinderung des Gelingens der Flucht aber auch die Anwendung erkennbar lebensbedrohender Methoden, als letztes Mittel sogar die vorsätzliche Tötung des Flüchtlings geboten war. Beide Angeklagten gingen nach Abgabe des Leuchtsignals als Zeichen für Grenzalarm davon aus, daß sich der jeweils andere entsprechend dem Befehl verhalten werde und schössen jeder in einer das Leben des Flüchtenden massiv gefährdenden Weise. Da sich das Handeln des Angeklagten R. für den Angeklagten S. somit nicht als Exzeß darstellt, muß er sich dessen tödlich wirkenden Schuß als Mittäter gemäß § 25 Abs. 2 StGB (§ 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB/DDR) wie eigenes Tun zurechnen lassen. {31} Beide Angeklagten haben auch den subjektiven Tatbestand des § 212 StGB erfüllt, indem sie mit bedingtem Tötungsvorsatz Sperrfeuer geschossen haben. Dem steht nicht entgegen, daß sich beide Angeklagten unwiderlegbar dahingehend eingelassen haben, der Tod des Flüchtlings sei ihnen unerwünscht gewesen. Bedingter Vorsatz kann auch dann gegeben sein, wenn dem Täter der Eintritt des Erfolges unangenehm ist, er sich mit diesem Erfolg aber um des erstrebten Zieles willen - hier des Zieles, die Flucht mit Sicherheit zu verhindern - abfindet (vgl. BGHSt 7, 363, 369). Sowohl das Wissen um die möglichen Folgen ihres Tuns als auch die Billigung dieser Folgen lag bei den Angeklagten somit vor. Wie sich aus § 6 Abs. 2 StGB/DDR ergibt, wonach vorsätzlich auch derjenige handelt, der die Verwirklichung der in dem gesetzlichen Tatbestand bezeichneten Tat nicht anstrebt, sich jedoch bei seiner Entscheidung zum Handeln bewußt damit abfindet, daß er diese Tat verwirklichen könnte, lag aufgrund der subjektiven Vorstellungen der Angeklagten auch unter Zugrundelegung von DDR-Recht Vorsatz vor. 4. Der Schußwaffengebrauch der DDR-Grenzsoldaten war zur Tatzeit nicht durch ein Gesetz, sondern lediglich durch die am 1. Mai 1964 in Kraft getretene „Vorschrift über die Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie" des Ministers für Nationale Verteidigung in der DDR vom 8. Februar 1964 (DV-30/10) 10 geregelt. Gemäß Nr. 114 d) der DV-30/10 war der Schußwaffengebrauch auf eigenen Entschluß durch Grenzposten gerechtfertigt, wenn andere Mittel nicht oder nicht mehr ausreichten, um -

(zweiter Spiegelstrich) „Verbrecher, insbesondere Spione, Saboteure, Agenten und Provokateure, die der vorläufigen Festnahme bewaffneten Widerstand entgegensetzen oder flüchten, unschädlich zu machen".

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Gemäß Nr. 115 war der Schußwaffengebrauch fur Grenzposten und Grenztruppen der NVA an der Staatsgrenze in Erweiterung der Bestimmungen zu Ziffer 114 auch gerechtfertigt, -

(erster Spiegelstrich) „zur vorläufigen Festnahme, Gefangennahme oder zur Vernichtung bewaffneter Personen,... die die Staatsgrenze nach der Deutschen Demokratischen Republik zu durchbrechen versuchen, wenn sie die Aufforde-{32}rung zum Ablegen der Waffen nicht befolgen oder sich ihrer vorläufigen Festnahme oder Gefangennahme durch Bedrohen mit der Waffe oder Anwendung derselben zu entziehen versuchen"; - (dritter Spiegelstrich) „zur vorläufigen Festnahme von Personen, die sich den Anordnungen der Grenzposten nicht fugen, indem sie auf Anruf ,Halt - Grenzposten - Hände hoch!' oder nach Abgabe eines Warnschusses nicht stehenbleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der DDR zu durchbrechen und keine andere Möglichkeit zur vorläufigen Festnahme besteht". Nr. 117 der DV enthält eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Weise, daß der Gebrauch der Schußwaffe die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen darstellt und nur dann zulässig ist, wenn alle anderen Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder es nicht mehr möglich ist, andere Maßnahmen zu treffen. a) Objektiv gesehen handelte es sich bei Michael Kollender sowohl um einen „Republikflüchtling" als auch um einen bewaffneten Fahnenflüchtigen der NVA. Für ihn galt daher zum einen Nr. 115 3. Spiegelstrich und zum anderen Nr. 114 d) 2. Spiegelstrich der DV-30/10. Denn nach dem Zweiten Gesetz zur Ergänzung des Strafgesetzbuches Militärstrafgesetz - vom 24. Januar 1962 war gem. § 4 - Fahnenflucht - Abs. 2 auf „Zuchthaus nicht unter zwei Jahren zu erkennen, wenn a) die Fahnenflucht mit dem Ziel begangen wird, das Gebiet der DDR zu verlassen, ...". Die Tat des Kollender stellte folglich ein Verbrechen dar. Der Schußwaffengebrauch gegen Kollender war daher nach diesen Vorschriften grundsätzlich zulässig. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit hatten die Angeklagten unter Abwägung aller konkreten Umstände des Einzelfalles zu prüfen, ob die Schüsse auf den Flüchtenden erforderlich waren. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, daß das Opfer ein Verbrechen begangen hatte. Zudem stellte es durch die Bewaffnung mit einer geladenen und entsicherten Kalaschnikow eine Gefährdung fur die Angeklagten dar, denn es kann zugunsten der Angeklagten nicht ausgeschlossen werden, daß Kollender bei für ihn günstiger Situation auch geschossen hätte. Hierfür {33} spricht insbesondere, daß er die Waffe, die zudem nicht besonders leicht war - 4-5 kg - nicht einfach zurückgelassen, sondern sie während des gesamten Fluchtvorhabens bei sich gefuhrt hat. Von einer Gebrauchsabsicht muß daher ausgegangen werden. Die Angeklagten hätten theoretisch die Möglichkeit gehabt, nicht parallel zum Graben zu laufen, sondern diesen zu überspringen und schräg auf den Flüchtenden zuzulaufen. Hierdurch hätten sie ihn ggf. schneller erreichen und auf andere Weise als durch Sperrfeuer etc. von der Flucht abhalten können. Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, daß die Angeklagten sich durch ein Laufen auf dem Kontrollstreifen selbst in die Gefahr begeben hätten, von Schüssen der Postentürme getroffen zu werden. Dies hat der Angeklagte R. glaubhaft verdeutlicht. Erst wenn das Signal zum Feuerein-

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stellen gegeben wurde, konnte der Kontrollstreifen gefahrlos betreten werden. Den Angeklagten war damit nicht zumutbar, diese Art der Verfolgung zu ergreifen. Zu berücksichtigen ist weiter, daß die Angeklagten nicht mit direktem Tötungsvorsatz gehandelt und auch nicht zielgerichtet auf die Person des Flüchtenden geschossen haben. Vielmehr haben sie nach den Schüssen auf die Beine, die keine tödliche Wirkung entfaltet haben, Sperrfeuer zwischen den Flüchtenden und den Grenzverlauf geschossen. Sie haben daher im Rahmen der Verhältnismäßigkeit das einzige ihnen noch mögliche Mittel zur Verhinderung der Flucht - bis auf direkte und tödliche Schüsse angewendet. Bei dieser Fallkonstellation muß davon ausgegangen werden, daß die Tat nach den Vorschriften der DV-30/10 objektiv gerechtfertigt war. b) Der Bundesgerichtshof hat in zahlreichen Entscheidungen (vgl. zuletzt Urteil vom 20. März 1995 - 5 StR 111/94" - S. 18 m.w.N.) unter Anwendung der „Radbruchschen Formel" Grundsätze zur Unbeachtlichkeit solcher Normen entwickelt, die der Staatspraxis der ehemaligen DDR entsprechend die vorsätzliche Tötung von Personen deckte, die nichts weiter wollten, als unbewaffnet und ohne Gefahrdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten. {34} Die Kammer schließt sich dieser Rechtsauffassung an. Auch die nach dem Recht der DDR zur Verfugung stehenden Auslegungsmethoden hätten es ermöglicht, den in der DV-30/10 enthaltenen Rechtfertigungsgrund so auszulegen, daß Menschenrechtsverletzungen vermieden wurden. Er hätte einschränkend dahingehend ausgelegt werden können, daß der Tod eines Menschen nicht durch das staatliche Interesse aufgewogen werde, das unerlaubte Überschreiten der innerdeutschen Grenze zu verhindern. Auch die DV-30/10 enthielt in ihrer Nr. 117 eine Regelung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Daß bei dieser Wertung nicht die der damaligen Staatspraxis entsprechende, sondern eine an den Menschenrechten orientierte Auslegung des Rechtfertigungsgrundes vorgenommen wird, stellt nach Auffassung der Kammer (der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs folgend - vgl. BGH a.a.O., S. 25 ff.) keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG dar. Der von Seiten der Verteidigung hilfsweise für den Fall der Verurteilung beantragten Aussetzung des Verfahrens zum Zwecke der Vorlage an das Bundesverfassungsgericht bedurfte es daher nicht. Das Handeln der Angeklagten könnte danach hier dann nicht als gerechtfertigt anerkannt werden, wenn es sich bei Kollender allein um einen unbewaffneten „Republikflüchtling" gehandelt hätte. Tatsächlich war er jedoch nicht unbewaffnet, und er hat nicht lediglich den Versuch einer Republikflucht begangen, sondern den schweren Fall der Fahnenflucht. Für diesen Fall können die genannten Grundsätze nicht herangezogen werden, und ein dahingehender Rechtfertigungsgrund kann nicht zuungunsten der Angeklagten als unbeachtlich angesehen werden. Fälle, in denen ein zur Tatzeit geltender Rechtfertigungsgrund wegen seiner Ungerechtigkeit als unbeachtlich angesehen wird, müssen wegen des hohen Wertes der Rechtssicherheit auf extreme Ausnahmen beschränkt bleiben (vgl. BGH Urteil vom 3.11.199212, BGHSt 39, 1, 15). Ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund kann vielmehr nur dann wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtet bleiben, wenn in ihm ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Ausdruck kommt; der Verstoß muß so schwer wiegen, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen ver-{35}letzt. Der Widerspruch

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des positiven Rechts zur Gerechtigkeit muß so unerträglich sein, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat (vgl. BGH a.a.O.). Die Bewertung des in der DV-30/10 enthaltenen Rechtfertigungsgrundes bei tödlichen Schüssen an der innerdeutschen Grenze als unverbindlich beruht auf einer Gesamtwertung des Grenzregimes. Sie bezieht sich sowohl auf die Hintanstellung des Lebensrechtes der Flüchtlinge als auch auf die besonderen Motive, die Menschen für die Überquerung der innerdeutschen Grenze hatten. Angesichts der besonderen Ausformung des Grenzregimes der DDR kann es nicht mit den üblichen Formen bewaffneter Grenzsicherung gleichgesetzt werden. Hintergrund dessen war, daß die DDR durch ein Anschwellen des Flüchtlingsstroms eine politische und wirtschaftliche Destabilisierung befürchtete. Diese Gründe müssen im vorliegenden Fall jedoch außer Betracht bleiben. Denn Michael Rollender hat Fahnenflucht begangen, die unter den hier vorliegenden Umständen auch unter Zugrundelegung rechtsstaatlicher Grundsätze strafrechtlich verfolgbares Unrecht darstellte. Schutzgut der in jedem Staat strafbewehrten Fahnenflucht ist die Wehrfähigkeit der jeweiligen Armee. Sie ist die schwerste Verletzung der Pflichten eines Soldaten, treu zu dienen. Durch die Strafvorschriften soll die Dienstpräsenz und damit die Einsatzbereitschaft des Heeres geschützt werden. Michael Rollender hat zusätzlich das ihm in seiner dienstlichen Funktion übergebene Maschinengewehr nebst Munition mitgenommen und sich auf diese Weise - zudem widerrechtlich - in gefährlicher Weise bewaffnet. Er hat damit einen rechtmäßigen Verfolgungsanspruch der zuständigen DDR-Organe ausgelöst. Als er sich der Grenze näherte, trug Kollender sichtbar seine Uniform und die Maschinenpistole. Er hat auch nach Abgabe der Warnschüsse sein Fluchtvorhaben nicht aufgegeben und ist weitergerannt bzw. -gerobbt. Es bestand der begründete Verdacht, daß er die Waffe auch gegen die Angeklagten einsetzen werde. Bei dieser Sachlage stellt der Schußwaffengebrauch der Angeklagten kein „unerträgliches Unrecht" dar, zumal sie ausschließlich versucht haben, ihn durch Sperrfeuer am Weiterrobben zu hindern und dabei „lediglich" mit bedingtem Tötungsvorsatz handelten. Etwas anderes würde möglicherweise gel-{36}ten, wenn sie der letzten Eskalationsstufe der Befehlslage entsprechend mit direktem Tötungsvorsatz gezielt auf den Flüchtenden geschossen hätten. Dieses Ergebnis wird auch bei einem Vergleich mit bundesdeutschem Recht bestätigt. Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 b) UZwGBw dürfen bei der unmittelbar bevorstehenden Ausführung eines Vergehens gegen die Bundeswehr, das unter Anwendung oder Mitführung von Schußwaffen begangen werden soll oder ausgeführt wird, Schußwaffen gegen einzelne Personen gebraucht werden, wenn dies den Umständen nach erforderlich ist. Ein Vergehen gegen die Bundeswehr stellt auch die in § 16 WStG unter Strafe gestellte Fahnenflucht dar. Nach § 15 Abs. 1 Nr. 3 UZwGBw ist der Schußwaffengebrauch auch zulässig, um eine Person anzuhalten, die sich der vorläufigen Festnahme durch Flucht zu entziehen sucht, wenn sie bei einer Straftat im Sinne der Nr. 1 auf frischer Tat betroffen oder verfolgt wird. Diese Voraussetzungen lagen im hiesigen Fall vor. Der in § 16 UZwGBw geregelte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beinhaltet, daß Schußwaffen nur gebraucht werden dürfen, wenn mildere Mittel offensichtlich keinen Erfolg versprechen. Zweck des Einsatzes darf nur sein, angriffs- oder fluchtunfáhig zu machen. Nach der Kommentierung von Dr. Stauf (in Das Deutsche Bundesrecht I Ρ 39, S. 17) erlaubt der durch § 16 Absatz 2 Satz 1 UZwGBw begrenzte Zweck des Schuß-

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waffengebrauchs keinen direkten, sondern allenfalls bedingten Tötungsvorsatz des Soldaten. Auch wenn diese Auffassung bezweifelt werden kann (vgl. BGH U. v. 18.01.1994, BGHSt 40, 48 ff.), wird sie jedenfalls offiziell vertreten und muß daher auch im Rahmen der hier vorzunehmenden Gesamtwertung berücksichtigt werden. In dem so gefundenen Rahmen müssen die Regelungen der DV-30/10 daher auch im vorliegenden Fall als die Angeklagten objektiv rechtfertigende Vorschriften anerkannt werden. c) Der Angeklagte R., der als einziger der Angeklagten die Situation entsprechend der objektiven Sachlage erfaßt hatte, handelte daher nicht rechtswidrig. Der Umstand, daß seine Absicht in der gegebenen Situation dadurch „überlagert" wurde, daß Kollender unmittelbar im Begriff stand, die Staatsgrenze der DDR zu {37} überschreiten, beseitigt das Festnahmerecht des Angeklagten nicht. Der Angeklagte R. war demzufolge aus rechtlichen Gründen freizusprechen. d) Eine andere Beurteilung ergibt sich hingegen für den Angeklagten S. Dieser hatte weder die Uniform noch die Bewaffnung des Flüchtenden bei seiner Schußabgabe erkannt. Er ging vielmehr davon aus, daß es sich um einen „normalen Republikflüchtling" handelte, bzw. hat sich insoweit gar keine Gedanken gemacht. Seine Fehlvorstellung über die objektiv gegebene und beachtliche Rechtfertigungslage stellt sich, der Lehre der eingeschränkten Schuldtheorie folgend, als umgekehrter Tatbestandsirrtum dar, der in entsprechender Anwendung des § 16 StGB zur Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs fuhrt. Zwar war fur den Angeklagten objektiv eine sein Verhalten rechtfertigende Situation gegeben, so daß er keinen Erfolgsunwert bewirkt hat. Da sein Wille auf Grund seiner Unkenntnis der rechtfertigenden Situation auf die Verwirklichung eines Unrechtserfolges gerichtet war, hat er lediglich einen Handlungsunwert verwirklicht. Aus der Existenz der besonderen Normen über die Versuchsstrafbarkeit folgt zwingend, daß ein Handlungsunwert fur sich allein niemals die Bestrafung wegen eines vollendeten Delikts, sondern allein wegen (untauglichen) Versuchs zu begründen vermag. Der Angeklagte S. handelte in der Vorstellung, einen „normalen Flüchtling" vor sich zu haben und dementsprechend ebenfalls gemäß den Vorschriften der DV-30/10 gerechtfertigt zu sein. Insoweit müssen jedoch die eingangs (unter IV 4. b)) aufgeführten Grundsätze herangezogen werden, nach denen es sich insoweit um einen unbeachtlichen Rechtfertigungsgrund handelt. 5. Der Angeklagte S. ist auch nicht wegen Handelns auf Befehl entschuldigt und straffrei. Die Rechtswidrigkeit der befohlenen Tat, Menschen, die innerhalb derselben Stadt lediglich von einem Teil zum anderen wollten, notfalls durch tödliche Schüsse daran zu hindern, ist offensichtlich. Die tödlichen Schüsse wurden nicht nur im politischen Westen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ange-{38}prangert, sondern fanden auch in der Bevölkerung der ehemaligen DDR weithin keine Billigung. So bekamen bezeichnenderweise auch die Angeklagten L. und S. einen Schreck, als sie feststellten, daß sie in ein Grenzregiment einberufen wurden. Die anläßlich erfolgreich verhinderter Fluchtversuche als Belobigung gedachten Abzeichen und Medaillen wurden von den betroffenen Grenzsoldaten wie auch im vorliegenden Fall nicht öffentlich getragen, die Vorfälle soweit wie möglich vertuscht. Fast jeder Grenzsoldat, dahin hat sich auch der Angeklagte S. eingelassen, hoffte, in seiner Schicht möge „nichts passieren". Aus alledem geht hervor, daß allgemein in der Bevölkerung ein deutliches Empfinden dafür vorhanden war, daß die bestehende „Rechtslage" so nicht richtig ist. Diese Er-

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kenntnis war angesichts ihrer Offensichtlichkeit auch beim Angeklagten S. ohne das Erfordernis weiteren Nachdenkens oder der Einholung weiterer Erkundigungen vorhanden. Sofern der Angeklagte glaubte, auch einem offensichtlich rechtswidrigen Befehl Folge leisten zu müssen, handelte er in vermeidbarem Verbotsirrtum. Trotz der sicherlich vorliegenden politischen Indoktrination hätte der Angeklagte bei der erforderlichen Anspannung seines Gewissens und Einsatz all seiner Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen zu der Überzeugung gelangen können, daß ein derart gegen die Menschlichkeit verstoßender offensichtlich rechtswidriger Befehl ihn nicht bindet. Der Angeklagte S. ist daher eines versuchten Totschlags schuldig.

V.

[Strafzumessung]

Bei der Strafzumessung war zunächst vom Strafrahmen des § 213 StGB - Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren - auszugehen, da es sich bei der Tat um einen minderschweren Fall handelt, der die Anwendung selbst des gemäß § 49 Abs. 1 StGB i.V.m. § 5 Abs. 2 WStG gemilderten Normalstrafrahmens als unangemessen hart erscheinen läßt. Der Angeklagte war zur Tatzeit noch sehr jung, gerade 22 Jahre alt. In dieser Lebensphase sind die persönlichen Standpunkte zu ele-{39}mentaren Grundfragen in der Regel noch nicht so deutlich ausgeprägt wie in späteren Jahren. Die Anforderungen an die Zivilcourage eines jungen Soldaten, Befehlen nicht zu gehorchen, dürfen nicht zu hoch angesetzt werden. Der Angeklagte war das letzte Glied in der Befehlskette und hatte in der Tatnacht seinen Dienst mit einem Gruppenführer zu versehen, der fest entschlossen war, sich an die Befehlslage um jeden Preis zu halten. Der Angeklagte war einem besonderen Gewaltverhältnis unterworfen, das von Befehl und Gehorsam geprägt war. Auch er ist im Grunde genommen selbst Opfer des Grenzregimes geworden. Die Tat liegt zudem 29 Jahre zurück und der Angeklagte handelte im - vermeidbaren - Verbotsirrtum. Den Strafrahmen des § 213 StGB hat die Kammer zudem gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB nochmals verkürzt, da die Tat sich als untauglicher Versuch darstellt, der Angeklagte lediglich aufgrund seiner Fehlvorstellung über die objektive Rechtfertigungslage überhaupt zu bestrafen war. Es war danach von einem Strafrahmen von einem Monat bis zu drei Jahren und neun Monaten Freiheitsstrafe auszugehen. Innerhalb dieses Strafrahmens sprach zugunsten des Angeklagten neben seiner stets straflosen und geordneten Lebensführung seine von der Kammer als aufrichtig empfundene Reue und sein weitgehend ehrliches und rückhaltloses Bemühen um die Aufklärung seiner Straftat. Der Angeklagte hat, aufgewachsen in einer Gesellschaft, die die Bevölkerung politisch einseitig indoktrinierte und eigenes Nachdenken und Auflehnung weitgehend unterdrückte, als befehlstreuer Soldat im, wenn auch vermeidbaren, Verbotsirrtum gehandelt. Dies war, da eine weitere Strafrahmenverschiebung nicht in Betracht kam (§ 50 StGB), strafmildernd zu berücksichtigen. In der konkreten Situation war er aufgeregt und fürchtete sich vor negativen Konsequenzen, die ein erfolgreicher Fluchtversuch für ihn selbst hätte haben können. Für den Angeklagten sprach auch, daß er nicht mit direktem, sondern nur bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hat und der eigentliche Tötungserfolg wohl nicht von ihm selbst herbeigeführt worden ist. Nach nunmehr 29 Jah-

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ren besteht z u d e m kaum n o c h ein Sühnebedürfiiis, worauf auch der Bruder des Getöteten, der Z e u g e T h o m a s K., eindrucksvoll h i n g e w i e s e n hat. { 4 0 } Insgesamt g e s e h e n war daher eine Freiheitsstrafe i m unteren Bereich des Strafrahm e n s ausreichend. D i e K a m m e r hat diese dementsprechend auf neun M o n a t e Freiheitsstrafe festgesetzt. D i e Vollstreckung der Freiheitsstrafe konnte zur B e w ä h r u n g ausgesetzt werden, da zu erwarten ist, daß der Angeklagte S. künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollz u g e s keine Straftaten mehr b e g e h e n wird, § 56 Abs. 1 StGB. W i e bereits ausgeführt, hat der Angeklagte die Tat als Soldat auf B e f e h l begangen. D i e Tat war i m wesentlichen das Ergebnis historischer Umstände, die sich so nicht wiederholen werden, und der Angeklagte hat in der seit damals verstrichenen langen Zeit b e w i e s e n , daß es sich u m ein einmaliges Versagen gehandelt hat.

Anmerkungen 1

In der Fassung des Berichtigungsbeschlusses des Landgerichts Berlin vom 14.12.1995. Dem Urteil ging ein Beschluss des Landgerichts Berlin vom 24.6.1992 - Az. (528) 2 Js 79/91 (8/92) - voraus, in dem die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen H. abgelehnt wurde. Im wesentlichen wurde damit argumentiert, dass sich der Vorsatz des Angeschuldigten nicht nachweisen lasse und dass nicht ersichtlich sei, dass er mit den anderen Angeschuldigten arbeitsteilig zusammengewirkt oder deren Handeln gefördert habe. Das Kammergericht Berlin hat diesen Beschluss am 17.8.1992 - Az. 5 Ws 243/92 - aufgehoben und die Anklage hinsichtlich H. unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zugelassen. 2 Im Original. 3 Im Original. 4 „Duepo" steht als Abkürzung für „Duensingpolizist". Dies war im Grenzsoldaten-Jargon eine Bezeichnung für Westberliner Polizisten, nach dem damaligen Westberliner Polizeipräsidenten Erich Duensing. 5 Gemeint ist wohl § 212 RStGB in der Fassung des Strafrechtsergänzungsgesetzes (StEG) v. 11.12.1957 (DDR-GB1.1, S. 643). 6 Vgl. lfd. Nr. 11-2. 7 Vgl. lfd. Nr. 13-3. 8 Vgl. lfd. Nr. 10-2. 9 Gemeint sind wohl §§ 212, 213 StGB/DDR in der Fassung des Strafrechtsergänzungsgesetzes (StEG) v. 11.12.1957 (DDR-GB1.1, S. 643). 10 Vgl. Anhang S. 988f. 11 Vgl. lfd. Nr. 4-2. 12 Vgl. lfd. Nr. 2-2.

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Inhaltsverzeichnis Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 17.12.1996, Az. 5 StR 137/96 Gründe

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I.

[Das Urteil der Strafkammer]

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II.

[Zu den Sachrügen]

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Anmerkungen

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Erschießung eines Fahnenflüchtigen - Fall Rollender Bundesgerichtshof Az.: 5 StR 137/96

Lfd. Nr. 6-2 17. Dezember 1996

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen 1. Rolf Walter Heinz S., geboren 1944, 2.

Ernst R., geboren 1940,

wegen Totschlags {2} Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 17. Dezember 1996, an der teilgenommen haben: ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. {3} für Recht erkannt: 1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten S. wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 12. September 1995 aufgehoben, soweit der Angeklagte S. verurteilt worden ist. Der Angeklagte S. wird freigesprochen. Seine notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last. 2. Die Revision der Staatsanwaltschaft, den Freispruch des Angeklagten R. betreffend, wird verworfen. Die dem Angeklagten R. im Revisionsverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last. - Von Rechts wegen - {4}

Gründe Das Revisionsverfahren betrifft ein Urteil des Landgerichts Berlin wegen tödlicher Schüsse an der innerdeutschen Grenze auf einen fluchtwilligen bewaffneten Soldaten der DDR.

I.

[Das Urteil der Strafkammer]

1. Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen. ® 2. Während das Landgericht bei den Mitangeklagten L. und H. die Abgabe von Schüssen mit bedingtem Tötungsvorsatz als nicht nachweisbar erachtet hat, ist es bei den Angeklagten R. und S. zur Annahme bedingten TötungsVorsatzes gelangt. R. hat das Landgericht gleichwohl aus Rechtsgründen freigesprochen, da auch die bedingt vor-

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sätzliche Abgabe tödlicher Schüsse zur Verhinderung der Flucht eines bewaffneten Fahnenflüchtigen nach - insoweit nicht wegen eklatanter Menschenrechtswidrigkeit nichtigem - DDR-Recht gerechtfertigt gewesen sei. Diesbezüglich liege beim Angeklagten S., der sich die tödlichen Schüsse des Angeklagten R. als Mittäter zurechnen lassen müsse, ein „umgekehrter Tatbestandsirrtum" vor, da er den für die Rechtfertigung ausschlaggebenden Umstand, daß der Flüchtling ein bewaffneter Soldat gewesen sei, nicht wahrgenommen habe. Soweit er mit bedingtem Tötungsvorsatz auf einen unbewaffneten Flüchtling habe schießen wollen, sei die Rechtfertigung nach DDR-Recht wegen groben Menschenrechtsverstoßes nichtig und das Verhalten wegen offensichtlicher Rechtswidrigkeit des so weit gehenden Schießbefehls auch nicht als Handeln {9} auf Befehl entschuldigt gewesen. Das Landgericht hat S. wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.

II. [Zu den Sachrügen] Mit ihrer vom Generalbundesanwalt vertretenen, auf die Sachrüge gestützten Revision erstrebt die Staatsanwaltschaft die Aufhebung des Freispruchs des Angeklagten R., den sie als weder gerechtfertigt noch entschuldigt ansieht, da sie eine Rechtfertigung bedingt vorsätzlicher Tötung auch eines Flüchtlings, der sich mit seiner Flucht als bewaffneter Soldat zugleich nach DDR-Recht wegen besonders schwerer Fahnenflucht strafbar gemacht hat, als offensichtlich menschenrechtswidrig und nichtig erachtet. Ferner erstrebt die Staatsanwaltschaft mit der vom Generalbundesanwalt ebenfalls vertretenen, auf die Sachrüge gestützten Revision zum Nachteil des Angeklagten S. dessen Verurteilung wegen vollendeten Totschlags. Dieser Angeklagte erstrebt seinerseits mit der Revision, die er auf die Sachrüge stützt, die Aufhebung seiner Verurteilung. 1. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet, soweit sie der Freisprechung des Angeklagten R. gilt. Es kann dahinstehen, ob das Verhalten dieses Angeklagten aufgrund gültigen DDR-Rechts gerechtfertigt war. Er war jedenfalls entschuldigt. Dabei nimmt der Senat ungeachtet der Begleitumstände des Falles die Beweiswürdigung des {10} Tatrichters, der Angeklagte R. habe nur „ Sperrfeuer" mit bedingtem Tötungsvorsatz schießen wollen, hin. Nach den Feststellungen ist letztlich nicht auszuschließen, daß der Angeklagte R. - unter Berücksichtigung der Kürze der ihm verbliebenen Überlegungszeit - geglaubt hat, der Fluchtversuch sei in der konkreten Situation ohne Gefährdung seiner selbst und der anderen Grenzsoldaten nicht anders als durch den konkreten Schußwaffeneinsatz sicher zu verhindern. Das Landgericht verweist auf die Rechtfertigung von Schußwaffengebrauch mit bedingtem Tötungsvorsatz durch die „Vorschrift über die Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie" vom 8. Februar 1964 (DV-30/10 1 ; vgl. BGHSt 39, 353, 366 f.*; 40, 241, 242 f.3) - Nr. 114d, 115 Es meint, der Rechtfertigungsgrund sei in Fällen von Flüchtlingen, die zugleich bewaffnete Fahnenflüchtige waren und mit ihrem Verhalten den Verbrechenstatbestand des § 4 Abs. 2 lit. a des Militärstrafgesetzes der DDR vom 24. Januar 1962 (GBl. DDR S. 25; später § 254 Abs. 2 StGB-DDR) erfüllten, hinzunehmen. Der Bundesgerichtshof hat diese Frage noch nicht entschieden (vgl. dazu BGHSt 40, 48, 51 4 ). Nach seiner bisherigen Rechtsprechung ist allerdings ein

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Rechtfertigungsgrund für die vorsätzliche Tötung von Personen, die nichts weiter wollten, als unbewaffhet und ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten, wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völ-{ll}kerrechtlich geschützte Menschenrechte als unwirksam anzusehen (BGHSt 41, 1015 m.w.N.; entsprechend BVerfG, Beschluß vom 24. Oktober 1996 - 2 BvR 1851/94 u.a.6). Mit Rücksicht auf die Bedeutung der den Bürgern der DDR insbesondere auch für Ausreisen in den anderen Teil Deutschlands weitgehend verwehrten Ausreisefreiheit wäre eine im Ergebnis gleiche Beurteilung der Rechtswidrigkeit eines Schußwaffeneinsatzes mit Tötungsvorsatz auch gegen fahnenflüchtige Soldaten der DDR an der innerdeutschen Grenze nicht ganz fernliegend. Gleiches gilt - namentlich im Blick auf das Ausmaß des Grenzsoldaten befohlenen Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze (vgl. dazu nur BGHSt 39, 1, 207 und BVerfG aaO unter Hinweis auf BVerfGE 36, 1, 35) - für entsprechende Fälle, in denen der Flüchtling seinerseits bewaffnet war, jedenfalls bevor er von sich aus konkrete Anstalten zum Einsatz der mitgeführten Waffe gemacht hatte. Angesichts der vom Landgericht zutreffend angestellten Erwägung, daß die Annahme unwirksamer Rechtfertigung nach Tatortrecht auf Fälle extremen, offensichtlichen Unrechts beschränkt bleiben muß, ist die Beurteilung der Rechtswidrigkeit in Fällen wie dem hier vorliegenden dennoch problematisch: Hier sind einerseits das Recht auf Leben und die Ausreisefreiheit des Flüchtlings zu bedenken. Andererseits konnte das Ausmaß des von diesem aus Sicht der Grenzsoldaten ausgehenden Rechtsbruchs als deutlich gewichtiger angesehen werden. Eine bestehende Gefahrdung der Grenzsoldaten, schon bevor der Flüchtling konkret zum Einsatz seiner Waffe an{12}setzte, ist mitzubedenken. Der Senat braucht die Frage hier nicht zu entscheiden. Ihre Beantwortung folgt nicht zwanglos aus der bisherigen Rechtsprechung. Das Verhalten des Angeklagten, der als Grenzsoldat mit bedingtem Tötungsvorsatz auf einen bewaffneten Fahnenflüchtigen geschossen hat, um dessen Flucht zu verhindern, ist jedenfalls entschuldigt, weil eine Rechtswidrigkeit des hierauf gerichteten Schießbefehls - entsprechend § 5 Abs. 1 WStG - für den Angeklagten nach den ihm bekannten Umständen nicht offensichtlich war (vgl. BGHR WStG § 5 Abs. 1 Schuld 3). Schon beim Schußwaffeneinsatz mit bedingtem Tötungsvorsatz gegen unbewaffnete zivile Flüchtlinge hat der Senat deutlich gemacht, daß die Annahme der Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit des so weit gehenden Schießbefehls für den indoktrinierten einfachen DDR-Grenzsoldaten problematisch ist (vgl. BGHSt 39, 1, 32 ff.; 39, 168, 185 ff. 8 ; BGH NStZ 1993, 488; siehe insbesondere BVerfG, Beschluß vom 24. Oktober 1 9 9 6 - 2 BvR 1852/949 - zu BGHSt 40, 241, 250 f.; vgl. auch Horstkotte in: Ebke/Vagts Hrsg. - , Demokratie, Marktwirtschaft und Recht, 1995, S. 213, 228 f.). Richtet sich der Schießbefehl auf Schußwaffeneinsatz mit bedingtem Tötungsvorsatz gegen einen flüchtenden bewaffneten Deserteur, kommen gewichtige für die Möglichkeit einer Rechtmäßigkeit des Befehls in diesem Spezialfall sprechende Besonderheiten dazu, welche unter tatsächlichen Begleitumständen, wie sie hier festgestellt sind, die Annahme, die Rechtswidrigkeit sei offensichtlich, nicht mehr zulassen. {13} Der Freispruch des Angeklagten R. aus Rechtsgründen ist mithin jedenfalls deshalb nicht zu beanstanden, weil sein Verhalten mindestens entschuldigt war.

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2. Die Annahme, der Angeklagte S. habe mit bedingtem Tötungsvorsatz auf den Flüchtling geschossen, beruht auf einer Beweiswürdigung, die sachlichrechtlicher Prüfung nicht standhält. Da auszuschließen ist, daß ein neuer Tatrichter tragfáhige Feststellungen für einen bedingten Tötungsvorsatz dieses Angeklagten treffen könnte, und eine Strafbarkeit des Angeklagten S. aus sonstigen Gründen nicht gegeben ist, muß dieser - entsprechend der Beurteilung des Landgerichts zur mangelnden Strafbarkeit der beiden rechtskräftig freigesprochenen Mitangeklagten - freigesprochen werden. Zugleich bleibt die Revision der Staatsanwaltschaft mit ihrer - nachrangigen - Zielrichtung zum Nachteil des Angeklagten erfolglos. Der Flüchtling ist von einem Schuß des Angeklagten R. getötet worden, von dem allein sechzig der insgesamt abgegebenen neunzig Schüsse stammten. In der Phase des Geschehens, als R. das zweite Magazin mit dreißig Schuß verfeuerte, hatten die übrigen Angeklagten bereits zu schießen aufgehört. Bei der Beweiswürdigung zum Vorsatz muß zu Gunsten des Angeklagten S. - nicht anders als bei den beiden rechtskräftig freigesprochenen Mitangeklagten (UA S. 27) - ins Gewicht fallen, daß er im Verhältnis zur Gesamtzahl der Schüsse {14} nur wenig selbst geschossen hat. Ohne daß der Senat die Schnelligkeit des gesamten Geschehensablaufs verkennt, ist zu beachten, daß der Flüchtling in der Phase, als S. noch (mit)geschossen hatte, weder tödlich getroffen noch nachweislich schwer verletzt wurde. Der hierin liegende Erfolgsmangel ist nach der Rechtsprechung des Senats in Fällen der vorliegenden Art stets ein gewichtiges Indiz gegen die Annahme eines Tötungsvorsatzes (vgl. BGHSt 41, 149; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 44; vgl. auch BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 45). Zwar steht die Gefährlichkeit des abgegebenen Dauerfeuers außer Frage, weil hierbei die Zielgenauigkeit wegen der Neigung der Waffe zum „Auswandern" gering war. Gleichwohl ist nicht ausreichend belegt, daß der Abstand zwischen Flüchtling und Grenze in der Phase, in welcher der Angeklagte S. geschossen hat, so kurz gewesen wäre, daß als Dauerfeuer abgeschossenes „Sperrfeuer" objektiv notwendig mit hoher Lebensgefahr für den Flüchtling verbunden gewesen wäre, mithin schon hieraus auf die Voraussetzungen des bedingten Tötungsvorsatzes zu schließen war. War die Lebensgefahr - wie der mangelnde Taterfolg in dieser Phase letztlich erweist - nicht so hoch, reicht das vom Tatrichter neben der Gefährlichkeit des Dauerfeuers maßgeblich herangezogene Aussageverhalten des Angeklagten S. zu seinen subjektiven Vorstellungen beim Schießen (UA S. 24/25) zum Beleg bedingten Tötungsvorsatzes nicht aus. Dies gilt um so mehr, als eine eher zurückhaltende Bewertung von Aussagedetails in Fällen dieser Art angezeigt erscheint (vgl. BGHR StGB §212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 44 {15} sowie 46 - insoweit nicht in BGHSt 41, 149 abgedruckt -), zumal da sie durch besonders langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und verantwortlicher Vernehmung gekennzeichnet sind. Der Senat sieht nach alledem auch im vorliegenden Fall Anlaß zu besonders intensiver und kritischer Prüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung zum bedingten Tötungsvorsatz. Er vermag sie auch hier nicht als hinreichend tragfähig anzuerkennen. Hier liegt auf der Hand, daß auch ein neuer Tatrichter keine tragfähigen Feststellungen zum Vorliegen eines bedingten Tötungsvorsatzes zum Nachteil des Angeklagten S. wird treffen können. Fehlt es am Tötungsvorsatz des Angeklagten S. bei Abgabe seiner Schüsse, sind ihm - nicht anders als den rechtskräftig freigesprochenen Mitangeklagten, die ebenfalls ohne

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Erschießung eines Fahnenflüchtigen - Fall Kollender

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Tötungsvorsatz ungefähr gleich oft wie S., nämlich viel seltener als R., geschossen haben - die tödlichen Schüsse R.'s nicht im Sinne der Mittäterschaft (bei deren Vorliegen naheliegend übrigens nicht versuchter, sondern vollendeter Totschlag anzunehmen gewesen wäre; vgl. nur Dreher/Tröndle, StGB 47. Aufl. § 16 Rdn. 28) zuzurechnen (vgl. BGHSt 39, 1, 30 f.; BGH NJW 1994, 2708, insoweit in BGHSt 40, 241 nicht abgedruckt; BGH NJW 1995, 2728, 2829, insoweit in BGHSt 41, 101 nicht abgedruckt; BGH NJW 1996, 2042, 2043, zum Abdruck in BGHSt 42, 65 vorgesehen 10 ); er ist auch nicht wegen Teilnahme an mit bedingtem Tötungsvorsatz erfolgtem Schießen R.'s strafbar (vgl. auch BGHSt 39, 168, 194; 41, 149). Schießen mit bloßem Verletzungsvorsatz begründet in Fällen der vorlie-{16}genden Art, auch wenn es unbewaffneten Flüchtlingen galt, keinen strafrechtlichen Schuldvorwurf (BGHSt 39, 168, 194 f.; 41, 10, 15; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 44, 45; BGHR WStG § 5 Abs. 1 Schuld l 11 ; BGH NStZ 1993,488).

Anmerkungen 1 Vgl. Anhang S. 988f. 2 Vgl. lfd. Nr. 10-2. 3 Vgl. lfd. Nr. 3-2. 4 Vgl. lfd. Nr. 11-2. 5 Vgl. lfd. Nr. 4-2. 6 Vgl. lfd. Nr. 15-3. 7 Vgl. lfd. Nr. 2-2. 8 Vgl. lfd. Nr. 1-2. 9 Vgl. lfd. Nr. 15-3. 10 Mittlerweile ebd. veröffentlicht. 11 Vgl. lfd. Nr. 9-2.

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Lfd. Nr. 7 Erschießung eines Bundesbürgers nach unrechtmäßigem Grenzübertritt in die DDR - F a l l Müller1. Nichteröffnungsbeschluss des Landgerichts Berlin vom 30.3.1992, Az. (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91)

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2. Beschluss (Aufhebung und Zurückverweisung) des Kammergerichts Berlin vom 9.6.1992, Az. 4 Ws 86/92; (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91)

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3. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 28.10.1992, Az. (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91)

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4.

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Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 19.4.1994, Az. 5 StR 204/93

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Dokumente - Teil 1

Inhaltsverzeichnis Nichteröffnungsbeschluss des Landgerichts Berlin vom 30.3.1992, Az. (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91) Gründe

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Anmerkungen

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Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Müller

Landgericht Berlin Az.: (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91)

Lfd. Nr. 7-1

30. März 1992

BESCHLUSS In der Strafsache gegen den Werkzeugmacher/Ingenieur für Maschinenbau Walter Klaus K., geboren 1950, wegen Totschlags wird die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Die Kosten des Verfahrens und die dem Angeschuldigten erwachsenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.

Gründe Die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht legt dem Angeschuldigten zur Last, als Postenführer der DDR-Grenztruppen {2} in der Nacht zum 17. Juni 1970 gegen 1.50 Uhr den kaufmännischen Angestellten Heinz Müller im Bereich der Grenzsperranlagen an der Berliner Mauer mit bedingtem Tötungsvorsatz erschossen zu haben, ohne Mörder zu sein (§212 Abs. 1 StGB). Der Getötete hatte seinen Hauptwohnsitz in Essen, lebte und arbeitete seit 1963 in München, Hamburg, Göttingen und Berlin, wo er im Bezirk Kreuzberg, Hasenheide eine Wohnung hatte. Er hatte von West-Berlin aus die Mauer überwunden. Die Eröffnung des Hauptverfahrens war gemäß § 204 Abs. 1 StPO abzulehnen, da das dem Angeschuldigten zur Last gelegte Verbrechen verjährt ist. Totschlag ist mit Freiheitsstrafe von fünf bis 15 Jahren bedroht. Gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB verjährt eine solche Tat in 20 Jahren. Sie war also bereits am 17. Juni 1990 verjährt (vgl. hierzu auch § 67 Abs. 1 Nr. 2 StGB i.d.F.d. 9. StÄG vom 4. August 1969). Die erste Handlung, die die Verjährung hätte unterbrechen können, nämlich die Vernehmung des Angeschuldigten (§ 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB) fand erst am 14. August 1991 statt. Auf den vorliegenden Fall war von Anfang an das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anzuwenden. Nach Artikel 8 des Einigungsvertrages (BGBl. 1990 II 889 i.d.F. des Gesetzes vom 23. September 1990 zum Vertrag vom 31.08.1990) trat mit dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 auf dem Gebiet der ehemaligen {3} DDR Bundesrecht in Kraft. Zugleich ist das StGB der DDR, von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen, außer Kraft getreten. Demzufolge fand nach Artikel 315 Abs. 1 bis 3 EGStGB i.d.F. des Einigungsvertrages auf die vor dem Beitritt in der DDR begangenen Taten gemäß § 2 Abs. 1 StGB das Strafgesetz der DDR Anwendung. Nach Artikel 315 Abs. 4 EGStGB galt dies nur dann nicht, soweit das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland schon vor dem Beitritt gegolten hatte. Dies ist hier aufgrund des § 7 Abs. 1 StGB der Fall. Danach gilt

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das deutsche Strafrecht für Taten, die im Ausland gegen Deutsche begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist. Es kann hier keinem Zweifel unterliegen, daß der Angeschuldigte am 17. Juni 1970 einen Deutschen getötet hat, denn Heinz Müller hatte seinen ersten Wohnsitz in Essen, besaß einen Reisepaß der Bundesrepublik Deutschland und wohnte und arbeitete zuletzt in West-Berlin. Damit hatte er seine Lebensgrundlage ausschließlich im Geltungsbereich des Grundgesetzes und des Strafgesetzbuches. Er ist auf dem Gebiet der DDR, und somit nach der damaligen geltenden Rechtsauffassung im Ausland erschossen worden. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht (NJW 1973, 1539 f.) in seiner Entscheidung vom 31. Juli 1973 über die Verfassungsmäßigkeit des Grundlagenvertrages ausgeführt, daß die DDR {4} zu Deutschland gehört und im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland nicht als Ausland angesehen werden kann. Dieser Ausspruch ist allerdings verfassungsrechtlich zu begreifen und enthält keine Beschränkung für die Auslegung des strafrechtlichen Begriffes „Ausland". Daher geht die Entscheidung auch an keiner Stelle auf strafrechtliche Zusammenhänge ein. Das Strafrecht hatte sich vielmehr an den tatsächlichen Gegebenheiten zu orientieren. Hierzu ist festzustellen, daß die staatliche Selbständigkeit und Souveränität der DDR anerkannt war, sich in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR „zwei geschlossene Rechtswelten" gegenüberstanden und zwischen den Rechtsordnungen grundlegende Unterschiede bestanden, die tiefgreifender waren als zu manchen anderen Staaten des westlichen Auslandes. Insbesondere ist das Strafrecht der DDR seit dem Inkrafttreten des „Sozialistischen Strafgesetzbuches" am 12. Januar 1968 praktisch eigene Wege gegangen. Der strafrechtliche Begriff des Auslandes schließt somit vor dem 3. Oktober 1990 die DDR mit ein (vgl. hierzu Tröndle, LK, 10. Aufl., 1985, Anm. 95 ff. zu § 3 StGB m.w.N.). Demzufolge hat auch der Bundesgerichtshof die DDR nicht als Inland im Sinne des § 3 StGB bezeichnet (BGHSt 30, 1). Mit dem Abschluß des Grundlagenvertrages vom 21. Dezember 1972 wurde dieser schon lange vorher bestehende Zustand anerkannt, so daß die Grundsätze des internationalen Strafrechts nicht erst von diesem Datum ab angewendet werden können (vgl. dazu Tröndle a.a.O. Anm. 96 m.w.N.; Schulz, JR 1968, 44 ff; {5} Schönke/Schröder, StGB, 14. Aufl. 1969 m.w.N.). Mit diesem strafrechtlichen Sprachgebrauch waren für die Vergangenheit keinerlei staatsrechtliche Aussagen verbunden. Die weitere Voraussetzung für die Anwendung des § 7 Abs. 1 StGB, daß am Tatort eine identische Strafnorm besteht, liegt ebenfalls vor. Es handelt sich hierbei um die Bestimmung der §§ 112 Abs. 1, 113 Abs. 1 Nr. 3 StGB/DDR. Die Tat {6} war auch rechtswidrig, denn der Angeschuldigte kann sich weder auf die §§ 17, 20 Abs. 3 des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei vom 11. Juli 1968 noch auf den Befehl des Ministers für Nationale Verteidigung vom 14. Dezember 19661 berufen, wonach letztlich Grenzverletzer zu vernichten waren. Denn diese Erlaubnis des Tatortrechts stehen im krassen Gegensatz zu allgemein anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätzen und können einer Bestrafung wegen schwerster Rechtsgutsverletzungen nach deutschem Recht nicht hindern (vgl. KG NJW 1991, 2653 2 m.w.N.). Ein Ruhen der Veijährung gemäß § 78b Abs. 1 Satz 1 StGB kommt hier nicht in Betracht, da keine rechtlichen Hindernisse bestanden, die einer Verfolgung der begangenen Straftat entgegengestanden hätten. Hierunter fällt insbesondere nicht die Tatsache,

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Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Müller

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daß in der DDR Verbrechen mit politischem Hintergrund nicht angeklagt wurden. Die bloße fehlende tatsächliche Zugriffsmöglichkeit auf den Täter ist nach bundesdeutschem Recht kein Ruhensgrund. Die Situation ist hier nicht anders als bei einem „normalen" Straftäter, der sich in einem Land aufhält, wo der Zugriff der bundesdeutschen Behörden nicht möglich ist (vgl. Lemke/Hettinger, NStZ 1992, 21 ff.). Auch ist bedeutungslos, daß die Strafverfolgung schon deshalb nicht eingeleitet werden konnte, weil die Straftat der Staatsanwaltschaft noch nicht bekannt war (BGHSt 18, 368). Demzufolge hat auch das OLG Frankfurt im Falle einer {7} Straftat der politischen Verdächtigung, für die gemäß § 5 Nr. 6 StGB das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland galt (BGHSt 32, 293 ff.), den Eintritt der Verjährung angenommen (StrV 1991,421). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Artikel 315a EGStGB. Danach bleiben Straftaten, die nach dem Recht der ehemaligen DDR am 3. Oktober 1990 noch nicht verjährt waren, auch dann verfolgbar, wenn nach den §§ 78 ff. StGB Verjährung bereits eingetreten wäre. Zweck dieser Vorschrift ist es zu verhindern, daß durchsetzbare Strafansprüche der DDR mit dem Beitritt ohne weiteres verjähren. Diese Regelung kann allerdings auf den hier vorliegenden umgekehrten Fall nicht angewendet werden, so daß ein Rückgriff auf die Verjährungsfristen des StGB/DDR, wonach das Verbrechen des § 112 StGB/DDR erst in 25 Jahren verjährt (§ 82 Abs. 1 Nr. 5 StGB/DDR), nicht möglich ist. Anderenfalls hätte die Bundesrepublik Deutschland die nach ihrem Recht bereits verjährten Strafansprüche wieder durchsetzbar gemacht. Wegen der darin liegenden echten Rückwirkung wäre eine solche Regelung verfassungswidrig (BVerfGE 25, 269 f.). Daran scheitert auch der Vorschlag von Samson (NJ 1991, 236), nach der Vereinigung und in Bezug auf die in der DDR begangenen Taten rückwirkend die DDR zum Inland zu erklären oder das interlokale Strafrecht anzuwenden, wonach es auf das Tatortrecht ankommt. Im übrigen ist die Anwendung des § 7 Abs. 1 StGB auf den {8} vorliegenden Fall eigentlich auch naheliegend, denn das Anliegen eines jeden Staates muß es sein, seine eigenen Bürger zu schützen. Gerade dies tut die erwähnte Bestimmung, denn sie enthält eine Ausprägung des passiven Personalitätsprinzips und bezweckt damit den Schutz deutscher Staatsbürger durch das Recht der Bundesrepublik Deutschland.

Anmerkungen 1

2

Gemeint ist wohl die Dienstvorschrift DV-30/10 „Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie" vom 14.12.1966, die vom Ministerium für Nationale Verteidigung erlassen wurde (vgl. Anhang S. 990f.). Az. 4 Ws 288/90. Der genannte Beschluss des Kammergerichts verwarf eine weitere Beschwerde Erich Honeckers gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 30.11.1990 - Az. 351 Gs 4764/90 (StV 1991, 584f.). Seine erste Beschwerde hatte zu einer Änderung der Haftbefehls gefuhrt, war im Übrigen aber erfolglos geblieben, vgl. Beschluss des Landgerichts Berlin vom 14.12.1990 (StV 1991,585).

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Inhaltsverzeichnis Beschluss (Aufhebung und Zurückverweisung) des Kammergerichts Berlin vom 9.6.1992, Az. 4 Ws 86/92; (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91) Gründe

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Anmerkungen

292

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Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Müller

Kammergericht Berlin Az.: 4 Ws 86/92; (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91)

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9. Juni 1992

BESCHLUSS In der Strafsache gegen den Werkzeugmacher/Ingenieur für Maschinenbau Walter Klaus K. geboren 1950 in O. wegen Totschlags hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 9. Juni 1992 beschlossen: Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht wird der Beschluß des Landgerichts Berlin vom 30. März 19921 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens an das Landgericht Berlin zurückverwiesen. {2} Der weitergehende Antrag der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht wird abgelehnt.

Gründe Die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht hat den Angeschuldigten am 28. November 1991 vor dem Landgericht Berlin - Jugendkammer - angeklagt, am 17. Juni 1970 als Postenführer der Grenztruppen der DDR an der Sektorengrenze zwischen Ost- und West-Berlin den kaufmännischen Angestellten Heinz Müller, einen Bürger der Bundesrepublik Deutschland, der in erheblich angetrunkenem Zustand von West nach Ost über die Grenzmauer geklettert war, durch zwei Feuerstöße aus seiner Maschinenpistole (Kalaschnikow) aus einer Entfernung von 250 bis 300 Metern tödlich verletzt und dabei den Tod des Opfers billigend in Kauf genommen zu haben (vorsätzliche Tötung nach § 112 StGB/DDR in Verbindung mit § 212 StGB, Art. 315 EGStGB). Mit dem angefochtenen Beschluß hat das Landgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen des Verfahrenshindernisses des Eintritts der Strafverfolgungsveqährung abgelehnt. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht, die beantragt, den angefochtenen Beschluß aufzuheben, das Hauptverfahren zu eröffnen und die Anklage zur Hauptverhandlung zuzulassen. Das Rechtsmittel hat im wesentlichen Erfolg. Die Verfolgung des angeklagten Verbrechens ist nicht verjährt. {3} Das Landgericht ist der Auffassung, die Verfolgung des Totschlags sei mit Ablauf der 20-jährigen Verjährungsfrist nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB am 17. Juni 1990 bereits verjährt gewesen; die Veijährungsfrist hätte daher durch die Vernehmung des Angeschuldigten am 14. August 1991 nicht mehr nach § 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB unterbrochen werden können.

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Diesem Ergebnis kann der Senat schon deshalb nicht zustimmen, weil es auf der unzutreffenden Prämisse beruht, auf den vorliegenden Sachverhalt sei von Anfang an nach den Regelungen des internationalen Strafrechts (§§ 4 bis 7 StGB) das Strafrecht der BRD anzuwenden gewesen, weil die am Tatort ebenfalls mit Strafe bedrohte Tat im Ausland gegen einen Deutschen begangen worden sei (§ 7 Abs. 1 StGB). Tatsächlich waren nach einhelliger Rechtsprechung im Verhältnis von BRD und DDR jedenfalls bis zum Abschluß des Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der BRD und der DDR vom 21. Dezember 1972 nicht die Regelungen des internationalen Strafrechts über die Anwendbarkeit des Strafrechts der BRD auf Taten mit Auslandsbezug (§§4 bis 7 StGB), sondern die Regeln des „innerdeutschen (interlokalen) Strafrechts" anzuwenden (statt vieler vergleiche BGHSt 30, 1, 2). Danach war - vorbehaltlich einer Überprüfung an dem Grundsatz des „ordre public" - das Strafrecht des Tatorts anzuwenden. Da der Tatort im vorliegenden Fall ausschließlich auf dem Gebiet von OstBerlin lag, war die Tat des Angeschuldigten nach der damals einhelligen Rechtsprechung allein nach dem Strafrecht der DDR zu beurteilen. Der Senat sieht keinen Anlaß, insoweit - jedenfalls für die Zeit bis zum Abschluß des Grundlagenvertrages vom 21. Dezember 19722 - von der einhelligen Rechtsprechung abzuweichen und sich einer {4} der schon damals in der Literatur vertretenen abweichenden Auffassungen anzuschließen. Erst einige Jahre nach dem Abschluß des Grundlagenvertrages haben einzelne Gerichte auf vergleichbare Sachverhalte die Regeln des internationalen Strafrechts entsprechend angewendet (vgl. die Nachweise bei Tröndle in LK, StGB 10. Aufl., Rdn. 96, 101, 102 vor § 3). Schließlich hat auch der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 26. November 1980 (BGHSt 30, 1 ff., 4) sich dieser Auffassung angeschlossen und den Begriff Inland in § 3 StGB, den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechend, funktionsgerecht dahin ausgelegt, daß er ihn an das Funktionieren der Staatsgewalt anknüpfte. Danach fiel das Gebiet der DDR, für das die BRD jedenfalls seit dem Grundlagenvertrag keine Staatsgewalt mehr beanspruchte, nicht mehr unter diesen Inlandsbegriff und konnte fortan „wie" Ausland behandelt werden. Aus alledem folgt für den vorliegenden Fall, daß hier von einem nach bundesrepublikanischem Strafrecht zu beurteilenden Strafverfolgungsanspruch - der nach § 78 StGB hätte verjähren können - allenfalls nach dem 21. Dezember 1972 gesprochen werden kann. Die Verjährung des Verfolgungsanspruches gegen den Angeschuldigten wäre daher am 14. August 1991 wirksam unterbrochen worden. Selbst wenn man mit dem Landgericht und der ihm insoweit folgenden Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht von einer Verjährung des Strafverfolgungsanspruchs der BRD ausgehen wollte, so ist jedenfalls der nach DDR-Recht begründete und einer 25jährigen Verjährung (§ 82 Abs. 1 Nr. 5 StGB/DDR) unterliegende Strafverfolgungsanspruch nach Art. 315a EGStGB noch nicht verjährt. Das Landgericht hat verkannt, daß sich nach Sinn und Zweck des Einigungsvertrages Art. 315 Abs. 4 EGStGB - wonach Taten, für {5} die schon vor dem Beitritt das Strafrecht der BRD gegolten hat, allein nach diesem Recht, zu beurteilen sind - allein auf das materielle Strafrecht bezieht. Bei der Verfolgungsverjährung handelt es sich jedoch um ein prozessuales Institut, allenfalls um ein aus prozessualem und materiellen Recht gemischtes Institut (vgl. die Nachweise bei Dreher/Tröndle, StGB 45. Aufl., Rdn. 4 vor § 78). Für die Verjährung der Strafverfolgung hat der Gesetzgeber des Einigungsvertrages in Art. 315a EGStGB

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Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Müller

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unter der Überschrift. „Verfolgungs- und Vollstreckungsveijährung für in der Deutschen Demokratischen Republik verfolgte und abgeurteilte Taten" eine Sonderregelung geschaffen. Hierzu hat die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht in ihrer Beschwerdeschrift vom 13. April 1992 ausgeführt: „Gemäß Art. 315a EGStGB in der Fassung des Einigungvertrages (BGBl. 1990 II 889 i.d.F. des Gesetzes vom 23. September 1990 zum Vertrag vom 31. August 1990) bleibt die Tat verfolgbar, soweit - wie hier - die Verfolgungsveijährung bis zum Wirksamwerden des Beitritts noch nicht eingetreten war. Entgegen der Meinung des Landgerichts Berlin schließt Art. 315 Abs. 4 EGStGB einen Rückgriff auf den neben dem BRD-Strafanspruch bestehenden Anspruch aus dem DDR-Strafrecht nicht aus. Art. 315 Abs. 4 bestimmt zwar, daß § 2 StGB mit weiteren Modifikationen dann keine Anwendung findet, wenn für die Tat das Strafrecht der BRD schon vor dem Wirksamwerden des Beitritts gegolten hat. Art. 315 regelt jedoch, wie auch die Überschrift .Geltung des Strafrechts für in der Deutschen Demokratischen Republik begangene Straftaten' zeigt, lediglich die materiell-rechtliche Seite. Sinn und Zweck dieser Bestimmung ist es zu verhindern, daß {6} über Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB, § 2 Abs. 1, 3 StGB ein vor dem Beitritt entstandener Strafanspruch der BRD entfällt, weil es im DDR-Strafrecht - etwa in §§ 234a, 241a StGB keine entsprechende Strafbestimmung gegeben hat; vermieden werden sollte demnach eine ungerechtfertigte Bevorzugung von Straftätern durch die Wiedervereinigung. Diese Bestimmung besagt jedoch nichts über das Schicksal eines in der BRD veqährten und wegen der unterschiedlichen Veijährungsfristen - in der DDR zum Zeitpunkt des Beitritts noch verfolgbaren Strafanspruchs. Die Vertragsparteien des Einigungsvertrages sind sich offensichtlich des prozessualen Charakters des Verjährungsrechts (BVerfGE 25, 286 f., BGH 2, 300) bewußt gewesen; deshalb haben sie diese Materie in einer gesonderten Vorschrift geregelt (so auch König, NStZ 91, 566). Somit gingen die Autoren des Einigungsvertrages sehr wohl davon aus, daß eine Tat unterschiedlichen Veijährungsfristen - wie auch hier - unterliegen kann, je nachdem, ob es sich um einen Strafanspruch nach BRD- oder nach DDR-Recht handelt. Hierdurch wurde der Tatsache Rechnung getragen, daß die DDR durch den Beitritt ihre Strafverfolgungsansprüche ,eingebracht' hat, die auch zu bearbeiten nun Sache der Bundesrepublik Deutschland ist. Kein Strafanspruch der ehemaligen DDR sollte durch den Einigungsvertrag untergehen; vielmehr sollte die BRD die weitere Verfolgung übernehmen, da ansonsten durch den Einigungsvertrag eine durch nichts zu rechtfertigende Privilegierung von Straftätern eintreten würde. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, daß wegen der Gewaltakte an der innerdeutschen Grenze und der Berliner {7} Mauer bereits nach der Wende von den Behörden der ehem. DDR Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden, die nach dem 3. Oktober 1990 von den Ermittlungsbehörden der BRD fortgeführt werden. Diese übergegangenen Strafansprüche müssen unabhängig von einem etwa konkurrierenden veijährten Strafanspruch - noch realisiert werden. Dies folgt auch aus der von Samson (NJW 91, 335, 337/NJ 91, 236) vertretenen ,Inlandslösung', der das Kammergericht im Beschluß vom 6. März 1991 (4 Ws 288/90) 3 ersichtlich gefolgt ist. Samson fuhrt aus, daß die BRD durch den Beitritt der 5 neuen Bundesländer die Rechtspositionen der DDR im Wege der Rechtsnachfolge generell erworben hat; zu diesen Rechtspositionen gehören auch die bereits entstandenen Strafansprüche der DDR; auch diese sind - im Wege der Rechtsnachfolge - auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen; die zuvor entstandenen Strafansprüche sind hierdurch innerstaatliche Ansprüche der neuen Bundesrepublik geworden. Die von dem Landgericht Berlin in dem angefochtenen Beschluß weiterhin geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken greifen gleichfalls nicht durch; auch hier gilt, daß die Bundesrepublik Deutschland - unabhängig von dem verjährten Strafanspruch nach BRD-Recht - den noch bestehenden Strafanspruch der ehem. DDR übernommen hat; am 2. Oktober 1990 lief im vor-

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liegenden Fall noch die 25jährige Verjährungsfrist des StGB/DDR; der Angeschuldigte steht somit nicht schlechter als es sonst bei Straftaten mit DDR-Bezug der Fall ist, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts begangen wurden. Zwar wurde durch Art. 315a in den Ablauf der Verjährung eingegriffen, es liegt hier jedoch lediglich eine sogenannte {8} - unechte - Rückwirkung vor, die verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Ergänzend sei noch daraufhingewiesen, daß diese Auffassung auch von einem von den Ländern Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen eingebrachten .Entwurf eines Gesetzes zur Verjährung von SED-Unrechtstaten (VeijährungsG)' vertreten wird, der zur Zeit im Bundesrat beraten wird. In dem Art. 2 dieses Entwurfes ist vorgesehen, daß zur Rechtsklarheit in Art. 315a ein dahingehender ausdrücklicher Passus eingefugt werden soll, wonach die in Satz 1 aufgestellte Regel auch dann gelten soll, .soweit für die Tat vor dem Wirksamwerden des Beitritts auch das Strafrecht der BRD gegolten hat'." 4 Der Senat macht sich diese Darlegungen der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht zu eigen. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens hat der Senat nicht selbst entschieden, weil deren Ablehnung wegen eines Verfahrenshindernisses eine reine Prozeßentscheidung darstellt, so daß eine sachliche Entscheidung des Landgerichts bisher völlig fehlt. Es ist allgemein anerkannt, daß in derartigen Fällen die Sache an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverwiesen werden kann (vgl. OLG Frankfurt NStZ 1983, 426 f.; Kleinknecht/Meyer, § 309 StPO Rdn. 9). Eine Kostenentscheidung ist entbehrlich. Die Kosten des erfolgreich zuungunsten des Angeschuldigten eingelegten Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft gehören zu den Verfahrenskosten, über die das Gericht beim Abschluß des Verfahrens zu entscheiden hat (Kleinknecht/Meyer, StPO 40. Aufl., § 473 Rdn. 15); von etwaigen {9} notwendigen Auslagen wird der Angeschuldigte insoweit nicht entlastet (BGHSt 19, 226, 229).

Anmerkungen 1 2 3

4

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Vgl. lfd. Nr. 7-1. Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR v. 21.12.1972 (BGBl. 1973 II, S. 421). Vgl. NJW 1991, 2653ff. und StV 1991, 586ff. Der genannte Beschluss des Kammergerichts verwarf eine weitere Beschwerde Erich Honeckers gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 30.11.1990 - Az. 351 Gs 4764/90 (StV 1991, 584f.). Seine erste Beschwerde hatte zu einer Änderung der Haftbefehls gefuhrt, war im Übrigen aber erfolglos geblieben, vgl. Beschluss des Landgerichts Berlin vom 14.12.1990 (StV 1991, 585). Der genannte Gesetzesantrag wurde von den Ländern Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt eingebracht (vgl. BR-Drs. 141/92 vom 28.02.1992). Durch das Gesetz über das Ruhen der Veijährung bei SED-Unrechtstaten vom 26.3.1993 (BGBl I, S. 392) wurde inzwischen in Art. 315a Abs. 1 EGStGB ein Satz 2 mit enstprechendem Wortlaut eingefugt. Absatz 1 lautet jetzt: „Soweit die Veijährung der Verfolgung oder der Vollstreckung nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik bis zum Wirksamwerden des Beitritts nicht eingetreten war, bleibt es dabei. Dies gilt auch, soweit für die Tat vor dem Wirksamwerden des Beitritts auch das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland gegolten hat".

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Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 28.10.1992, Αζ. (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91) Gründe

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I.

[Feststellungen zur Person]

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II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

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III. [Beweiswürdigung]

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IV. [Rechtliche Würdigung]

303

V.

305

[Strafzumessung]

VI. [Verjährung] Anmerkungen

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Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Müller Landgericht Berlin Az.: (513) 2 Js 97/90 KLs (92/91)

Lfd. Nr. 7-3 28. Oktober 1992

URTEIL Im Namen des Volkes Strafsache gegen den Werkzeugmacher/Ingenieur für Maschinenbau Klaus Walter K., geboren 1950 wegen Totschlags. Die 13. große Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Berlin hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 13., 15., 26. und 28. Oktober 1992, an der teilgenommen haben: {2} ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. für Recht erkannt: Der Angeklagte wird wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Angewendete Vorschriften: §§ 212 Abs. 1, 213 StGB, 1, 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG.

Gründe I.

[Feststellungen zur Person]

Der 42jährige Angeklagte wuchs mit einer älteren Schwester in geordneten Verhältnissen im Elternhaus in O. südlich B. nahe der tschechischen Grenze auf. Sein im Januar {3} 1992 verstorbener Vater war Steinschleifer, seine Mutter ist Hausfrau. Von 1956 bis 1966 besuchte Klaus K. die zehnklassige Polytechnische Oberschule in O. Er war ein guter Schüler, besonders in naturwissenschaftlichen Fächern und Sport. Die Abschlußprüfung bestand er mit einem Notendurchschnitt von 1,5. Anschließend absolvierte er im VEB-Schaltelektronikwerk O. eine 2 !4 jährige Lehre als Werkzeugmacher. Er ordnete sich unter und erwies sich als technisch begabt, gewissenhaft und zielstrebig. Der Angeklagte war Mitglied der FDJ, des FDGB, der GST und des Deutschen Tumund Sportbundes DTSB. Politisch war er nicht weiter aktiv tätig, unterlag jedoch den einseitigen staatlichen und gesellschaftlichen Indoktrinationen der DDR. West-Verwandte hatte die Familie nicht. West-Fernsehen konnte zu Hause nicht empfangen werden. Bei der Facharbeiterprüfung im Januar/Februar 1969 wurde dem Angeklagten wegen guter Leistungen die theoretische Prüfung erlassen. Bis zu seiner Einberufung zur NVA arbeitete er als Werkzeugmacher in seiner bisherigen Firma. Von Mai 1969 bis November

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1970 war er als Wehrpflichtiger bei den Grenztruppen. Dabei kam es zu der Tat, die Gegenstand dieses Verfahrens ist. Nach dem Wehrdienst durchlief Klaus K. an der Ingenieurschule für Maschinenbau in B. ein dreijähriges Fachstudium, das er als Ingenieur abschloß. Er wohnte wei-{4}terhin bei seinen Eltern und verselbständigte sich erst, als er nach dem Studienabschluß 1973 als Ingenieur im Schaltelektronikwerk O. eigenes Geld verdiente und 1974 seine spätere Ehefrau kennenlernte. Aus der 1975 geschlossenen Ehe ging 1978 eine Tochter und 1983 ein Sohn hervor. Seine Ehefrau war nach dem Studium der Landtechnik ebenfalls in seinem Betrieb berufstätig. Der Angeklagte wurde 1977 für drei Monate als Reservist zum Grenzdienst an der damaligen WestGrenze zur alten Bundesrepublik einberufen und eingesetzt, obgleich er jetzt den Schußwaffengebrauch ablehnte. Auch ein Angebot, bei Mitarbeit beim Staatssicherheitsdienst Reserveoffizier zu werden, wies er zurück. Neben seiner Berufstätigkeit war er in der Betriebsfeuerwehr und als Übungsleiter beim DTSB tätig. Eine Mitgliedschaft in der SED und den Betriebskampfgruppen lehnte er ab. Er kam daher nicht in leitende Positionen. 1986 bis 1988 baute er sich ein Eigenheim. Ab 1992 hatte der Angeklagte im Schaltelektronikwerk O. nur noch Kurzarbeit. Wegen radikaler Betriebsverkleinerung ist ihm zum 01.11.1992 gekündigt worden. Seit September diesen Jahres befindet er sich bereits in einer Weiterbildung im Bauwesen, die vom Arbeitsamt finanziert wird. Er ist bisher nicht bestraft. {5}

II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

1. Im ersten Halbjahr seines Wehrdienstes ab Mai 1969 wurde der Angeklagte in der schweren Kompanie des in Berlin-Rummelsburg stationierten Grenzregiments 35 als Kanonier hauptsächlich an einem rückstoßfreien Geschütz und Granatwerfern und weniger gründlich am Sturmgewehr AK 47 ausgebildet. Mit dieser, üblicherweise als „MPi Kalaschnikow" bezeichneten, vollautomatischen Waffe vom Kaliber 30 = 7,62 mm kann aus einem Kurvenmagazin mit 30 Schuß Einzelfeuer oder Dauerfeuer abgegeben werden. Es ist keine Präzisions-, sondern eine Militärwaffe mit hoher Durchschlagskraft der Geschosse. Mit ihr lassen sich - wie der Schußwaffensachverständige PHK Kutschker im einzelnen erläutert hat - bei Einzelfeuer und dem ersten Schuß eines Dauerfeuerstoßes auch auf Entfernungen von etwa 200 m noch relativ genaue Treffer erzielen, während die Trefferergebnisse ab [dem] 2. Schuß des ersten Feuerstoßes und bei weiterem Dauerfeuer auch auf kürzere Entfernungen schlecht sind, da die Waffe infolge des Rückstoßes bei der Schußabgabe in der Regel nach rechts oben auswandert. Diese Streuung der Kalaschnikow kannte auch der Angeklagte, der während der halbjährigen Grundausbildung drei- oder viermal und später noch zwei- oder dreimal an {6} Übungsschießen mit der MPi teilnahm. Dabei wurde aus verschiedenen Positionen mit Einzelfeuer und Dauerfeuer, zum Teil auch nachts mit Leuchtspurmunition auf manngroße Klapp- und laufende Scheiben in 50 bis 200 m Entfernung geschossen. Der Angeklagte, der wie üblich eine persönliche Kalaschnikow erhalten hatte, war kein besonders guter Schütze, erhielt aber für seine gesamten Schießleistungen die Schützenschnur. Er trug sie nach dem Hinweis eines Kameradeil, man könne beim Ausgang damit auf Ablehnung stoßen, nicht mehr, bis ihm ihr Tragen befohlen wurde. Nach einer kurzen Verwendung als Stabszeichner am Ende der halbjährigen Ausbildung kam er ab

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etwa November 1969 zur 1. Grenzkompanie des Grenzregiments 35. Er versah Grenzdienst und wurde dazu militärisch und politisch weiter geschult. Ob er beim Grenzdienst die Schußwaffe gebrauchen würde, wurde er nicht gefragt. Der Fahneneid, den er geleistet hatte, lautete: „Ich schwöre: Der Deutschen Demokratischen Republik, meinem Vaterland, allzeit treu zu dienen und sie auf Befehl der Arbeiter-und-Bauern-Regierung gegen jeden Feind zu schützen. Ich schwöre: An der Seite der Sowjetarmee und der Armeen der mit uns verbündeten sozialistischen Länder als Soldat der Nationalen Volksarmee jederzeit bereit zu sein, den {7} Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen und mein Leben zur Erringung des Sieges einzusetzen. Ich schwöre: Ein ehrlicher, tapferer, disziplinierter und wachsamer Soldat zu sein, den militärischen Vorgesetzten unbedingten Gehorsam zu leisten, die Befehle mit aller Entschlossenheit zu erfüllen und die militärischen und staatlichen Geheimnisse immer streng zu wahren. Ich schwöre: Die militärischen Kenntnisse gewissenhaft zu erwerben, die militärischen Vorschriften zu erfüllen und immer und überall die Ehre unserer Republik und ihrer Nationalen Volksarmee zu wahren. Sollte ich jemals diesen meinen feierlichen Fahneneid verletzen, so möge mich die harte Strafe der Gesetze unserer Republik und die Verachtung des werktätigen Volkes treffen." Entsprechend dem Eid wurden die Soldaten regelmäßig unterwiesen, die Grenze der DDR unter Einsatz ihres Lebens zu schützen und Grenzverletzungen unbedingt zu verhindern. Dabei wurde kein Unterschied zwischen Grenzdurchbrüchen von Ost nach West und von West nach Ost gemacht. Unter anderem durch Bekanntgabe und Auswertung von Artikeln der Armeezeitung wurde behauptet, daß von mit imperialistischen Geheimdiensten zusammenarbeitenden Redakteuren der Springer-Presse Provokateure die Grenze von West- nach Ost-Berlin durchbrächen, auch Saboteure und Spione würden auf diesem Wege in die DDR eingeschleust. Letzteres hielt der Angeklagte fur unwahrscheinlich, er glaubte aber „im Prinzip", daß der Klas-{8}senfeind aus dem Westen käme, vor dem die DDR zu schützen sei. Einmal erlebte er, wie amerikanische Soldaten von West-Berlin aus mit einem Luftdruckgewehr Zielübungen auf sie als Grenzsoldaten machten. Unter welchen Voraussetzungen in der Grenzkompanie von der Schußwaffe Gebrauch zu machen war, regelte ab 01.05.1967 die „DV-30/10 - Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie" des Verteidigungsministers Hoffmann vom 14.12.1966. 1 Darin heißt es unter anderem: „203. Von der Schußwaffe darf nur Gebrauch gemacht werden ... d) auf eigenen Entschluß durch Wachen und Grenzposten sowie andere zeitweilige oder ständige Waffenträger, wenn andere Mittel nicht oder nicht mehr ausreichen, um - Handlungen, die eindeutig auf Verrat der Arbeiter-und-Bauern-Macht gerichtet sind, zu unterbinden, - Verbrecher, insbesondere Spione, Saboteure, Agenten und Provokateure, die der vorläufigen Festnahme bewaffneten Widerstand entgegensetzen oder flüchten, unschädlich zu machen, - einen unmittelbar drohenden oder gegenwärtigen Angriff auf Anlagen der bewaffneten Kräfte und andere staatliche, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Einrichtungen, auf

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sich selbst oder andere Personen erfolgreich zu verhindern bzw. abzuwenden (entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen über Notwehr und Notstand). 204. Die Wachen und Grenzposten der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee an der Staatsgrenze zu Westdeutschland, Westberlin und im Küstenbereich haben in Erweiterung der Bestimmungen zu Ziffer 203 die Waffe in folgenden Fällen anzuwenden: {9} - zur vorläufigen Festnahme, zur Gefangennahme oder Vernichtung bewaffneter Personen und bewaffneter Banditengruppen, die in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik eingedrungen sind bzw. die Staatsgrenze zur Deutschen Demokratischen Republik zu durchbrechen versuchen, wenn sie die Aufforderung zum Ablegen der Waffen nicht befolgen oder sich ihrer vorläufigen Festnahme oder Gefangennahme durch Bedrohung mit der Waffe oder Anwendung derselben zu entziehen versuchen, - zur Abwehr bewaffneter Angriffe bzw. Überfälle auf das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik, auf die Bevölkerung im Grenzgebiet, auf Grenzposten oder Angehörige anderer bewaffneter Kräfte der Deutschen Demokratischen Republik im Grenzgebiet, - zur vorläufigen Festnahme von Personen, die sich den Anordnungen der Grenzposten nicht fugen, indem sie auf den Anruf ,Halt - Grenzposten - Hände hoch! ' oder nach Abgabe eines Warnschusses nicht stehenbleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu durchbrechen, und keine andere Möglichkeit zur vorläufigen Festnahme besteht,... 205. (1) Ohne Anruf und ohne Abgabe eines Warnschusses darf nur dann von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden, wenn - es zur Abwehr eines plötzlichen tätlichen Angriffs, der mit anderen Mitteln nicht abgewendet werden kann, sowie zur Brechung bewaffneten Widerstandes erforderlich ist, - eine unmittelbare Gefahr für das Leben anderer Personen, das eigene Leben oder für den Bestand der Grenzsicherungsanlagen, von Anlagen der anderen bewaffneten Kräfte sowie staatlicher, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Einrichtungen eintreten würde und die Gefahr mit anderen Mitteln nicht abgewendet werden kann. (2) Unter diesen Bedingungen ist die Schußwaffe möglichst so zu gebrauchen, daß die betreffende Person nur in ihrer Bewegungsfreiheit behindert wird und vorläufig festgenommen werden kann. 206. (1) Der Gebrauch der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Er ist nur dann zulässig, wenn alle anderen Maßnahmen erfolglos blieben oder dann, wenn es auf Grund der Lage nicht möglich ist, andere Maßnahmen zu treffen. (2) Von der Schußwaffe darf insbesondere nicht oder nicht mehr Gebrauch gemacht werden, wenn {10} a) dadurch das Leben oder die Gesundheit anderer Personen erheblich gefährdet wird (z.B. auf stark belebten Straßen, in vollbesetzten Gaststätten usw.), b) die Umstände, die den Gebrauch der Schußwaffe rechtfertigen, nicht oder nicht mehr vorliegen (z.B. wenn kein unmittelbar drohender Angriff vorliegt oder dieser mit anderen Mitteln abgewehrt werden kann, wenn der Widerstand inzwischen gebrochen ist usw.). 207. Von der Schußwaffe darf nicht Gebrauch gemacht werden - gegenüber Angehörigen ausländischer Armeen und Militärverbindungsmissionen, - gegenüber Angehörigen diplomatischer Vertretungen, - gegenüber Kindern, - zur Signalgebung (außer Leuchtpistole). 208. Die Schußwaffe darf nur in Richtung des Territoriums der Deutschen Demokratischen Republik oder parallel zur Staatsgrenze gegen Grenzverletzer angewendet werden. ..." Dieser, dem Angeklagten inhaltlich bekannten Dienstvorschrift entsprechend wurden die Soldaten angewiesen und ausgebildet, Grenzbrecher grundsätzlich zunächst durch

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einen Anruf zu Stehenbleiben aufzufordern, danach erforderlichenfalls einen Warnschuß abzugeben, der Personen keinesfalls gefährden durfte, und erst dann, falls notwendig, Grenzverletzer bewegungsunfähig zu schießen. Bei bestimmten Anlässen, z.B. einigen Feiertagen und Staatsbesuchen, durfte grundsätzlich nicht geschossen werden. Andererseits wurde immer wieder dazu angehalten, Grenzdurchbrüche in jedem Falle zu verhindern. In dem Befehl, der den Grenzsoldaten vor jedem Grenzdienst dazu erteilt wurde, heißt es: {11} „Der Zug ... sichert die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik im Abschnitt der ... Grenzkompanie mit der Aufgabe, Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, Grenzverletzer vorläufig festzunehmen oder zu vernichten und den Schutz der Staatsgrenze unter allen Bedingungen zu gewährleisten - Vergatterung!" (Nr. 89 der DV-30/10). Es war bekannt, daß bei durch Schußwaffengebrauch verhinderten Grenzverletzungen die daran beteiligten Soldaten nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern belobigt oder ausgezeichnet wurden. Man wußte auch, daß bei gelungenen Grenzdurchbrüchen Versetzung, disziplinarische oder militärstrafgerichtliche Ahndung drohten. Wie seine Kameraden hatte der Angeklagte Angst vor dem „Militärgefängnis Schwedt". Er war, wie er selbst meint, ein „korrekter Soldat", für den strikter Gehorsam selbstverständlich war. Er galt als diensteifrig, pflichtbewußt und unbedingt befehlstreu. Besonders lagen ihm sportliche Wettkämpfe. Er wurde Regimentsmeister im Langlaufund „bester Sportler" der Armeesportvereinigung Vorwärts-ASV. Wie er angibt, wurde er mit einmonatiger Verspätung am 01.06.1970 zum Gefreiten befördert. {12} 2. Am 18. Juni 1970 hatte der Angeklagte ab 21.30 Uhr achtstündigen Grenzdienst. Beim Appell dazu wurde er als Postenführer auf dem Wachturm Schillingbrücke in Friedrichshain eingeteilt. Zur Heranbildung als Postenfuhrer waren „klassenbewußte, disziplinierte und gut ausgebildete Angehörige der Grenzkompanie auszuwählen, die über praktische Erfahrungen im Grenzdienst verfugen." (Nr. 24 (2) der DV-30/10). Sein Posten war der Soldat M. Die Vergatterung erfolgte formelmäßig wie aufgeführt. Nach dem Eintreffen am Turm Schillingbrücke wurden der Angeklagte und der Zeuge M. in ihren zu sichernden Grenzabschnitt eingewiesen. Sie führten ein mit scharfer Munition geladenes Magazin, wobei jede dritte Patrone ein Leuchtspurgeschoß war, in ihre Kalaschnikows ein, sicherten ihre Waffen und bestiegen den ca. 4-6 m hohen rechteckigen Wachturm durch eine Innenleiter. Sie hatten die dort die Grenze bildende Spree unterhalb der Brücke und den südwärts der Brücke verlaufenden parallelen, durch einen Grünstreifen getrennten Straßenzug Fritz-Heckert-Straße/Bethaniendamm zu überwachen. Dieser Straßenzug wurde in etwa 200 m von der Köpenicker Straße gekreuzt. Die Mauer nach West-Berlin verlief dort entlang der östlichen Seite des Bethaniendamms etwa in Nord-Süd-Richtung. Im ca. 50 m breiten Kreuzungsbereich kam - aus Richtung West-Berlin gesehen - hinter der {13} Mauer der Bethaniendamm, dahinter ein geharkter Kontrollstreifen, ein flacher Signalzaun, bei dessen Berührung Licht aufleuchtete, Panzersperren, auf der sich anschließenden Fritz-Heckert-Straße der Kolonnenweg sowie ein ca. 1,5 m hoher sogenannter Hinterlandzaun. Die installierte Beleuchtung strahlte vor allem den Kontrollstreifen und die hell gestrichene Mauer an. Hinter den Panzersperren befand sich noch ein sogenannter Splitterbunker. Auf der Köpenicker Straße war unmittelbar hinter der Mauer auf West-Berliner Gebiet ein Podest installiert. Auf ihm hielt sich bereits am Nachmittag des 18.06. der am

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16. Mai 1943 in Rostock geborene kaufmännische Angestellte Heinz Udo Gerhard Müller auf. Er lebte seit Jahren in Westdeutschland. Zuletzt arbeitete und wohnte er in West-Berlin. Die damals 16jährige Zeugin P., jetzt verehelichte Α., beobachtete von ihrer an der Kreuzung gelegenen elterlichen Wohnung im dritten Stock der Fritz-HeckertStraße in Ost-Berlin aus, wie der mit einem modernen, weit geöffneten Hemd bekleidete junge Mann auf dem Aussichtspodest saß, gestikulierte, herumrief und sich aus einer Flasche offenbar betrank. {14} Der Angeklagte und sein Posten M. bemerkten gegen 0.30 Uhr des 19.06. von ihrem Turm aus ein oder zwei Personen auf dem Podest. Die warme, ruhige Nacht war leicht diesig. Von der Spree stieg etwas Dunst auf. Der Zeuge M. nickte ein. Der Angeklagte beobachtete wechselweise die Spree und den Straßenzug Fritz-Heckert-Straße/Bethaniendamm, wobei er sich durch das Blicken gegen die Laternen und die davon hell erleuchtete Mauer etwas geblendet fühlte. Gegen 1.50 Uhr bemerkte er etwa in Höhe des Podestes in ca. 200 m Entfernung eine unbewaffnete Person, die offensichtlich gerade die Mauer von West-Berlin aus überwunden hatte und schräg von ihr weg nach rechts zu den weiteren Grenzanlagen lief. Der darüber erschrockene und aufgeregte Angeklagte stieß seinen Posten an und rief ihm zu: „Da läuft einer!". Er öffnete ein etwa in Brusthöhe befindliches Turmfenster, lud seine Waffe durch Zurückziehen des Schlosses durch und entsicherte sie. Freihändig oder aufgelegt gab er einen kurzen Feuerstoß und, weil die Person weiterlief, gleich darauf einen zweiten kurzen Feuerstoß jeweils etwa in Richtung des Grenzverletzers ab. Dabei verschoß er mindestens eine Leuchtspurpatrone. Der Angeklagte wollte unwiderlegbar in den Raum zwischen der Mauer und der sich von {15} ihr entfernenden Person schießen, wobei die ca. 200 m hinter dem Grenzverletzer in einem Bogen nach rechts weiter verlaufende Mauer als Kugelfang dienen sollte. Klaus K. fühlte sich bei der plötzlichen Entdeckung des Grenzbrechers zum sofortigen Schußwaffengebrauch verpflichtet und dachte während des kurzen Tatgeschehens nicht weiter darüber nach. Angesichts der Entfernung zum Grenzverletzer, die er unzutreffend auf 250 bis 300 m schätzte, hielt er einen Anruf für zwecklos und einen gezielten Schuß in die Beine nicht für möglich. Er glaubte, vor Abgabe der ersten Schüsse die Waffe auf Einzelfeuer gestellt zu haben, bemerkte aber nach der ersten Schußabgabe, daß er Dauerfeuer geschossen hatte. Dennoch schoß er gleich darauf noch einmal mit Dauerfeuer in die angegebene Richtung. Er wollte den Grenzbrecher nicht töten, sondern warnen und zum Stehenbleiben veranlassen, um ihn festzunehmen. Seinen endgültigen Grenzdurchbruch wollte er unbedingt verhindern. Ihm war aber klar, daß die ungefähr in seine Richtung abgegebenen Schüsse auch tödliche Verletzungen hervorrufen konnten. In seiner Aufregung und der Meinung, so schießen zu müssen, nahm er das billigend hin. {16} Der erheblich angetrunkene Heinz Müller war in Höhe des Podestes von der Mauer heruntergesprungen, -gefallen oder -gestoßen worden und von ihr in Richtung der beschriebenen weiteren Grenzanlagen weggelaufen. Ein Schuß des Angeklagten, wahrscheinlich einer des zweiten Feuerstoßes, traf ihn an der rechten Hüfte. Er brach ca. 5 bis 8 m hinter der Mauer am Kontrollstreifen zusammen. Der Angeklagte und der Zeuge M., der mit einer Leuchtpistole ein Signal „Grenzdurchbruch" abschoß, liefen in seine Nähe. Etwa gleichzeitig kam aus der entgegengesetzten Richtung die durch die Schüsse des Angeklagten alarmierte Kradstreife mit dem damaligen „stellvertretenden Kom-

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mandeur des Zugabschnitts" Unteroffizier L. und seinem Fahrer Soldat H. hinzu. Alle vier umringten den Verletzten bzw. sicherten mit ihren Waffen im Anschlag die Umgebung. Heinz Müller blutete an der Hüfte, schrie und stöhnte laut vor Schmerzen und nannte die Soldaten „Schweinehunde". Er sagte möglicherweise auch, er sei von Betrunkenen über die Mauer gestoßen worden. Die von den Schüssen in ihrer Wohnung Fritz-Heckert-Straße wachgewordenen Eheleute P. und ihre Kinder, die Zeugin A. und ihr Bruder, der Zeuge Klaus-Dieter P., sahen aus dem Fenster. Ihre Mutter, die Zeugin Ursula P., erlitt einen Nervenzu{17}sammenbruch und rief hinunter: „Ihr Mörder, helft ihm doch!". Sie wurden durch die Soldaten vom Fenster verwiesen. Spätestens auf Befehl eines hinzugekommenen Offiziers, dem der Angeklagte den Vorfall meldete, wurde der Verletzte zu dem Splitterbunker gezogen und nach ca. einer Stunde mit einem Armeefahrzeug zum Volkspolizeikrankenhaus in der Scharnhorststraße gebracht. Zur Grenzsicherung traf noch eine Alarmtruppe ein. Der Zeuge M. und der Angeklagte wurden vorzeitig vom Grenzdienst abgelöst. Er erfuhr vom Waffenwart, daß er sechs Patronen verschossen hatte. Heinz Müller wurde im VP-Krankenhaus operiert, verstarb jedoch dort an den Folgen eines erlittenen Bauchdurchschusses am 19. Juni 1970 gegen 4.50 Uhr. Bei der Obduktion der Leiche am 22. Juni 1970 im gerichtsmedizinischen Institut der Humboldt-Universität stellten die medizinischen Sachverständigen Professoren Prokop und Strauch einen Einschuß an der rechten Hüfte 96 cm oberhalb der Fußsohle und einen Ausschuß an der linken Hüfte 95 cm oberhalb der Fußsohle fest. Der Bauchdurchschuß hatte unter anderem die Harnblase verletzt und die äußere Beckenblutader rechts durchtrennt. Dadurch waren Harn und erhebliche Mengen Blut in die Bauch- und Beckenhöhle gelangt, in der sich bei der Obduktion noch 2,3 1 Blut {18} befanden. Der Tod war durch eine massive Blutung nach innen eingetreten. Er wäre selbst bei sofortiger medizinischer Hilfe nicht zu vermeiden gewesen, da die Beckenblutader kaum hätte wieder geschlossen werden können und der ausgetretene Harn die Bauch- und Beckenhöhle zu vergiften begann. Im Blut des Opfers fanden sich noch l,6%o (nach der ADH-Methode) bzw. l,8%o (nach der Widmark-Methode) Alkohol. Die Blutalkoholkonzentration war zur Todeszeit höher, da Heinz Müller Blut verloren und bei der Operation Blutinfusionen erhalten hatte. 3. Als Leiter einer unmittelbar nach dem Vorfall eingesetzten militärischen Untersuchungskommission unterschrieb der ehemalige Kommandeur des Grenzregiments 35 Oberstleutnant Gürnth2 am 19.06.1970 einen vertraulichen Bericht. Darin heißt es unter anderem: „Gegen 1.50 Uhr versuchte eine männliche Person im Alter von 27 Jahren die Staatsgrenze im Abschnitt Köpenickerstraße (21 93 / 6) aus Westberlin in der Bewegungsrichtung Hauptstadt der DDR, Berlin zu durchbrechen. Durch den eingesetzten Grenzposten Schillingbrücke wurde der Grenzverletzer beim Übersteigen der Grenzmauer erkannt. {19} Der Grenzposten entschloß sich, den Grenzverletzer durch aktives Handeln an der weiteren Bewegung in Richtung Hauptstadt der DDR, Berlin zu hindern. Zur Warnung des Grenzverletzers gab der Postenfuhrer einen Warnfeuerstoß (3 Schuß) mit der MPi ab. Der Grenzverletzer befand sich zu diesem Zeitpunkt unmittelbar vor dem Kontrollstreifen. Da der Grenzverletzer die Bewegung nicht einstellte, eröffnete er gezieltes Feuer (einen Feuerstoß 3 Schuß), wobei der Grenzverletzer am Becken verletzt wurde. Der Grenzverletzer stellte daraufhin die Bewegung ein ...

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Durch die konsequente Anwendung der Schußwaffe konnte der Grenzverletzer festgenommen werden. Die an der Festnahme beteiligten Armeeangehörigen handelten zweckmäßig. Der Postenfuhrer zeichnete sich durch besondere Konsequenz aus ..." Entsprechend dem Vorschlag des Regimentskommandeurs wurde der Angeklagte, der in dem Bericht als Inhaber von drei Belobigungen aufgeführt wurde, mit dem Leistungsabzeichen der Grenztruppen ausgezeichnet. Die Zeugen M., L. und H. erhielten als Sachprämien Uhren und/oder Sonderausgang oder -urlaub. Sie erfuhren nichts {20} vom Tode des Grenzverletzers. Auf Frage des Angeklagten nach seinem Schicksal sagte ihm der Kompaniechef nur, er sei ein betrunkener Türke gewesen, alles sei in Ordnung, der Angeklagte solle sich keine Gedanken machen. Klaus K. verdrängte das Tatgeschehen und zeigte sich überrascht und betroffen, als er bei seiner Beschuldigtenvernehmung am 14. August 1991 durch den Zeugen KHK P. erstmals vom Tod Heinz Müllers Kenntnis erlangte. Er wollte dazu zunächst nicht aussagen, da er sich noch an seinen Fahneneid gebunden fühlte, militärische und staatliche Geheimnisse zu wahren.

III.

[Beweiswürdigung]

Die Feststellungen zum Lebenslauf, zur Vorgeschichte der Tat und zu ihr selbst beruhen vor allem auf den umfassenden, geständigen Angaben des Angeklagten. Sie werden durch die Bekundungen der angeführten Zeugen, die Gutachten der genannten Sachverständigen und die übrigen im Hauptverhandlungsprotokoll aufgeführten Beweismittel bestätigt und ergänzt. {21} Soweit sich der Angeklagte, der nicht bestreitet, Heinz Müller tödlich getroffen zu haben, zu erinnern meint, daß außer ihm noch jemand geschossen habe, sind dafür in der gesamten Beweisaufnahme keinerlei konkrete Anhaltspunkte bekannt geworden. Vielmehr stimmen seine Angaben zur Schußabgabe zwischen Mauer und dem nach rechts von ihr weglaufenden Grenzverletzer mit dem Obduktionsergebnis überein, wonach der tödliche Schuß Heinz Müller von der rechten zur linken Körperseite durchschlug. Daß ihn aller Wahrscheinlichkeit nach ein Schuß des zweiten Feuerstoßes traf, folgert die Kammer aus den überzeugenden Ausführungen Prof. Prokops, wonach allenfalls ein ganz kurzes Weiterlaufen des Getroffenen nach dem Bauchdurchschuß nicht gänzlich auszuschließen, aber angesichts der Wucht des treffenden Geschosses und des dabei erlittenen Schocks wenig wahrscheinlich ist. Dem Angeklagten kann nicht sicher widerlegt werden, daß er zuerst einen Einzelschuß abgeben wollte, aber in seiner Nervosität und Aufregung versehentlich Dauerstatt Einzelfeuer eingestellt hat. Den zweiten Feuerstoß hat er aber zur Überzeugung der Kammer bewußt als solchen abgegeben. Er behauptet selbst nicht, nicht bemerkt zu haben, daß er bei der ersten Schußabgabe Dauerfeuer statt des gewollten Einzelfeuers schoß. Er war an der Waffe ausgebildet und kannte {22} den hörbaren Unterschied zwischen einem Einzelschuß und einem kurzen Feuerstoß. Dennoch stellte er die Waffe nach der ersten Schußabgabe nicht um, sondern schoß - wie er meint - nach einer bis wenigen Sekunden weiter, damit also spätestens jetzt bewußt mit Dauerfeuer. Der Angeklagte hat dabei, aber auch bereits bei Abgabe des ersten Schusses mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt. Keiner seiner sechs Schüsse war - wie er meint ein Warnschuß, der - wie er wußte - Personen nicht gefährden durfte. Er hat statt des-

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sen, wie er selbst angibt, ohne weiteres Nachdenken von Anfang an zwischen Mauer und Grenzverletzer und damit grob in dessen Richtung geschossen, trotz seiner zutreffenden Annahme, einen Zielschuß in dessen Beine nicht piazieren zu können. Er hat daher als nicht besonders guter MPi-Schütze bei den unzulänglichen Lichtverhältnissen, der Entfernung von ca. 200 m und - das gilt fur den zweiten Feuerstoß - der ihm bekannten Streuung seiner Maschinenpistole die naheliegende Möglichkeit eines Treffers in den Körper des sich bewegenden Grenzverletzers erkannt. Damit war ihm auch klar, daß er lebenswichtige Organe treffen, den Grenzbrecher also tödlich verletzen könnte. Angesichts dieser Umstände hat er nicht auf ein Nichteintreffen möglicher tödlicher Folgen vertraut, sondern diese in seiner Aufregung und der Auffassung, so wie geschehen schießen zu {23} müssen, billigend in Kauf genommen. Er hat den von Anfang an als möglich vorausgesehenen tödlichen Erfolg zwar nicht angestrebt und gewollt, sich aber damit in Erfüllung seiner angenommenen soldatischen Pflicht bewußt abgefunden. Den zitierten militärischen Bericht des Zeugen Gürnth, wonach der Angeklagte den zweiten Feuerstoß von drei Schuß sogar gezielt auf den Grenzverletzer abgegeben haben soll, hat die Kammer zu seinen Gunsten fur die Feststellungen zur Schußabgabe nicht herangezogen, da Zustandekommen und Richtigkeit dieser Berichtsangabe nicht geklärt werden konnten.

IV. [Rechtliche

Würdigung]

1. Auf den Angeklagten als ehemaligen DDR-Bürger war für die in der ehemaligen DDR begangene Tat zunächst das StGB/DDR vom 12. Januar 1968 anwendbar, Artikel 315 Abs. 1 EGStGB, § 2 Abs. 1 StGB. Danach kam eine Ahndung wegen vorsätzlicher Tötung gem. §§112 Abs. 1,113 Abs. 1 Nr. 3 StGB/DDR in Betracht. Gem. § 7 Abs. 1 StGB galt hier jedoch schon vor dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 bundesdeutsches Strafrecht: Die Tat ist gegen den (West-)Deutschen Heinz {24} Müller begangen worden. Seit Abschluß des Grundlagenvertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR am 21. Dezember 1972 wurde die DDR nicht mehr als Inland angesehen (BGHSt 30, 1, 3), sondern wie Ausland behandelt. Die Tat war am Tatort mit Strafe bedroht (siehe oben). Im übrigen wäre gem. § 2 Abs. 3 StGB das bundesdeutsche Strafrecht mit den §§ 212 Abs. 1, 213 StGB auch als das mildere Recht gegenüber den §§ 112 Abs. 1,113 Abs. 1,40 Abs. 1 StGB/DDR anzuwenden. 2. Danach hat sich der Angeklagte des Totschlags schuldig gemacht, § 212 Abs. 1 StGB (§112 Abs. 1 StGB/DDR). Er hat wie festgestellt Heinz Müller mit bedingtem Tötungsvorsatz (auch im Sinne des § 6 Abs. 2 StGB/DDR) erschossen, ohne Mörder zu sein. 3. Rechtfertigungsgründe liegen nicht vor. Es kann dahinstehen, ob die zitierten Schußwaffengebrauchsbestimmungen der DV-30/10 in Verbindung mit § 213 StGB/ DDR, der den „ungesetzlichen Grenzübertritt" unter Strafe stellte, als rechtswirksame Erlaubnissätze anzusehen sind und die Tat des Angeklagten rechtfertigen könnten. Denn er hat diese Schußwaffengebrauchsvorschriften nicht eingehalten, ist nicht nach ihrem an-{25} geführten abgestuften Handlungsschema vorgegangen, sondern hat sofort mit bedingtem Tötungsvorsatz grob in Richtung des Grenzbrechers geschossen.

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Er hat damit im Sinne der über die angeführten Bestimmungen hinausgehenden tatsächlichen Befehlslage gehandelt, Grenzdurchbrüche in keinem Falle zuzulassen, Grenzverletzer eher zu vernichten. Diese Befehlslage kann jedoch weder nach dem Recht der Bundesrepublik noch nach dem der ehemaligen DDR als Rechtfertigungsgrund anerkannt werden. Sie stellt einen groben Verstoß gegen Gerechtigkeit und Menschlichkeit dar und widerspricht in eklatanter Weise dem auch in der DDR vorrangigen Menschenrecht auf Leben und dem auch dort geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. das abgestufte Handlungsschema in den angeführten Schußwaffengebrauchsbestimmungen), läßt sie doch das auch in der DDR bestehende Verbot, Menschen vorsätzlich zu töten (§§ 112, 113 StGB/DDR - Strafdrohung 1970 bis zur Todesstrafe), hinter dem nachrangigen Verbot des „ungesetzlichen Grenzübertritts" (§213 StGB/DDR - Strafdrohung 1970 bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe) zurücktreten. Die Tat des Angeklagten ist auch nicht durch Notwehr 3 gerechtfertigt (§ 34 StGB, §§ 18-20 StGB/DDR). Zwar hat er sich an die faktische Befehlslage gebunden gefühlt {26} und aus Angst vor einer eigenen Bestrafung mit bedingtem Tötungsvorsatz geschossen. Seine Zwangslage und Gefährdung hätte er aber anders als geschehen durch mildere Mittel abwenden können. Er hätte als guter Sportler versuchen können, den unbewaffneten Grenzbrecher, der außer der Mauer noch die gesamten beschriebenen Grenzsicherungsanlagen vor sich hatte, durch Nacheilen zu erreichen und unter vorgehaltener Waffe festzunehmen. Er hätte dazu auch schräg nach oben in die Luft, was er selbst einräumt, oder in sicherer Entfernung vor dem Grenzverletzer schräg nach unten in den Boden schießen können. In der konkreten Tatsituation - sein Posten schlief, andere Grenzsoldaten befanden sich erkennbar nicht in der Nähe - hätte er sogar ohne Nachweis befehlswidrigen Verhaltens untätig bleiben oder wenigstens zunächst das weitere Verhalten des Grenzverletzers abwarten können. 4. Der Angeklagte war schuldfähig. Er war über das plötzliche Auftauchen des Grenzverletzers erschrocken und hat darauf nervös und aufgeregt reagiert. Das hat seine vorhandene Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aber nicht ernstlich beeinträchtigt (§ 21 StGB, §§ 14-16 StGB/DDR). Er war für solche Fälle, wenn auch möglicherweise unzureichend, ausgebildet. Für ein unkontrolliertes Han-{27} dein im Affekt hat die Beweisaufnahme keinerlei Anhaltspunkte ergeben. 5. Schuldausschließungsgründe sind nicht gegeben. Sein Handeln auf Befehl (§ 5 Abs. 1 WStG, § 258 Abs. 1 StGB/DDR)4 entschuldigt den Angeklagten nicht. Die angeführten Schußwaffengebrauchsbestimmungen enthielten keinen konkreten Tötungsbefehl. Soweit der Angeklagte einen solchen aus der tatsächlichen Befehlslage einschließlich der Vergatterung hergeleitet hat, entlastet ihn das nicht. Denn es ist offensichtlich, daß die Ausführung eines direkten Tötungsbefehls gegen das Strafgesetz, nämlich das Tötungsverbot der §§ 112, 113 StGB/DDR, verstößt und damit rechtswidrig ist. Zwar war der Angeklagte einseitig politisch beeinflußt. Aber auch für ihn als intelligenten, sozial geordnet lebenden jungen Mann war es ohne weiteres ersichtlich, daß sein Staat DDR gerechterweise nicht verlangen konnte, einen unbewaffneten Menschen zu töten, der ohne Bedrohung anderer die Grenzanlagen von West nach Ost zu überwinden suchte, zumal er es für unwahrscheinlich hielt, daß der Grenzverletzer ein feindlicher Provokateur oder Agent war. Zumindest aus der geschilderten Begebenheit mit seiner Schützenschnur wußte er, daß große Teile der DDR-Bevölkerung den Grenzsoldaten

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Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Müller

Lfd. Nr. 7-3

und ihrer Tätigkeit {28} gegenüber kritisch und ablehnend eingestellt waren. Ihm war bekannt, daß der sogenannte Schießbefehl bei bestimmten Anlässen ausgesetzt wurde. Soweit er dennoch geglaubt hat, sein Handeln sei aufgrund seines Fahneneides und seiner Verpflichtung als Grenzsoldat, die DDR und ihre Grenze unter allen Umständen zu schützen, rechtmäßig, befand er sich in einem vermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 StGB). Angesichts der oben geschilderten Umstände hätte Klaus K. bei gehöriger Anspannung seines Gewissens erkennen können und müssen, daß soldatische Pflichterfüllung nicht jedes Handeln und vorliegend erst recht nicht die Tötung des Grenzverletzers rechtfertigt, vielmehr das höchste aller Rechtsgüter, das Leben eines Menschen, aufs gröbste mißachtet. Der Angeklagte befand sich auch in keinem entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB). Insoweit gilt das unter IV.3. zu § 34 StGB Gesagte entsprechend. {29} V.

[Strafzumessung]

1. Der Angeklagte war zur Tatzeit 20 Jahre und knapp 5 Monate alt. Auf ihn hat die Kammer zu seinen Gunsten das Jugendstrafrecht angewendet, da nicht sicher auszuschließen ist, daß er trotz seines Alters in seiner geistigen und sittlichen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleich stand, § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG. Zwar verlief sein Lebensweg bis zur Tat äußerlich unauffällig. Er lebte aber, wie er anschaulich und glaubhaft geschildert hat, noch völlig untergeordnet und unselbständig, nämlich eingebunden im Elternhaus, gefuhrt und abhängig von den Ausbildern und Vorgesetzten während der Lehre und des anschließenden Wehrdienstes, den er als unkritischer und buchstabentreu gehorsamer Soldat absolvierte. Eine altersgemäße Reifung zur Tatzeit erscheint daher zweifelhaft. Der dazu gestellte Hilfsbeweisantrag der Verteidigung - Anlage I zum Hauptverhandlungsprotokoll vom 28.10.1992 - ist damit gegenstandslos. Der Angeklagte hat mit bedingtem Tötungsvorsatz ein Verbrechen gegen das Leben begangen. Die Schwere dieser Schuld erfordert die Verhängung von Jugendstrafe, § 17 Abs. 2 JGG. {30} 2. Dabei ist die Kammer von einem sonstigen minder schweren Fall gemäß § 213 StGB ausgegangen. Der Angeklagte ist in einem politischen und gesellschaftlichen System aufgewachsen, in dem die Entwicklung zu einer selbständigen, kritischen Persönlichkeit zumindest erheblich erschwert war. Einseitig indoktriniert hat er nicht aus eigenem freien Entschluß, sondern als befehlstreuer Soldat in einem vermeidbaren Verbotsirrtum und nicht aus rücksichtslosem Vernichtungswillen, sondern mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt. Er war aufgeregt, nervös, unüberlegt und übereifrig. Offensichtlich war er für einen Vorfall wie das Tatgeschehen nicht genügend ausgebildet und mit seiner maß- und sinnvollen Bewältigung überfordert. Insoweit war er nicht nur Täter, sondern in gewisser Weise auch selbst Opfer des politischen Systems der DDR. Angesichts dieser besonderen Umstände (auch im Sinne von § 113 Abs. 1 Nr. 3 StGB/ DDR) erscheint seine Tat als minder schwer. 3. Innerhalb des Strafrahmens von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Jugendstrafe (§§ 18 Abs. 1, 105 Abs. 3 JGG) - vgl. hierzu BGHSt 8, 78 - wirkt ferner das ordentliche, vor und nach der Tat straffreie Leben des Angeklagten zu seinen Gunsten. Die Tat, die er einräumt und aufrichtig {31} bedauert, belastet ihn jetzt sehr. Vorzuwerfen

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ist ihm aber, daß er damals diensteifrig und ohne weiteres Nachdenken wie festgestellt gehandelt hat, obgleich er die Situation durch mildere Mittel ohne Tötung Heinz Müllers und ohne eigene Gefährdung hätte bewältigen können. Die zusammenfassende Würdigung von Tat und Täter fuhrt zur Verhängung einer Jugendstrafe von zwei Jahren, wobei auch berücksichtigt wurde, daß die Tat ohne sein Verschulden erst nach 22 Jahren geahndet werden konnte. Die Strafvollstreckung kann zur Bewährung ausgesetzt werden, § 21 Abs. 1, Abs. 2 JGG. Die Sozialprognose für den arbeitsamen, nicht vorbestraften Familienvater ist günstig. Im Hinblick auf seine - außer der Tat vor 22 Jahren - beanstandungsfreie Entwicklung ist eine Vollstreckung der Strafe nicht geboten.

VI.

[Verjährung]

Die Frist für die Verfolgung der Tat vom 19. Juni 1970 war gemäß §§ 212 Abs. 1, 78 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4 StGB (auch gemäß § § 1 1 3 Abs. 1, 82 Abs. 1 Nr. 4 StGB/DDR) abgelaufen, bevor die Veijährung durch die erste Vernehmung des Angeklagten am 14. August 1991 nach § 78c Abs. 1 Nr. 1 StGB unterbrochen werden konnte. Die Kammer hatte deswegen mit Beschluß vom 30. März 1992 die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. {32} Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft dagegen hat das Kammergericht unter dem 9. Juni 1992 den angefochtenen Beschluß aufgehoben 5 und dazu u.a. ausgeführt: „Die Verfolgung des angeklagten Verbrechens ist nicht veqährt ..." D e m Ergebnis des Landgerichts „kann der Senat schon deshalb nicht zustimmen, weil es auf der unzutreffenden Prämisse beruht, auf den vorliegenden Sachverhalt sei von Anfang an nach den Regelungen des internationalen Strafrechts ( § § 4 bis 7 StGB) das Strafrecht der BRD anzuwenden gewesen, weil die am Tatort ebenfalls mit Strafe bedrohte Tat im Ausland gegen einen Deutschen begangen worden sei (§ 7 Abs. 1 StGB). Tatsächlich waren nach einhelliger Rechtsprechung im Verhältnis von BRD und DDR jedenfalls bis zum Abschluß des Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der BRD und der DDR vom 21. Dezember 1982 nicht die Regelungen des internationalen Strafrechts über die Anwendbarkeit des Strafrechts der BRD auf Taten mit Auslandsbezug ( § § 4 bis 7 StGB), sondern die Regeln des .innerdeutschen (interlokalen) Strafrechts' anzuwenden (statt vieler vergleiche BGHSt 30, 1, 2). Danach war - vorbehaltlich einer Überprüfung an dem Grundsatz des ,ordre public' - das Strafrecht des Tatorts anzuwenden. Da der Tatort im vorliegenden Fall ausschließlich auf dem Gebiet von Ost-Berlin lag, war die Tat des Angeschuldigten {33} nach der damals einhelligen Rechtsprechung allein nach dem Strafrecht der DDR zu beurteilen. Der Senat sieht keinen Anlaß, insoweit - jedenfalls fur die Zeit bis zum Abschluß des Grundlagenvertrages vom 21. Dezember 1972 - von der einhelligen Rechtsprechung abzuweichen und sich einer der schon damals in der Literatur vertretenen abweichenden Auffassungen anzuschließen. Erst einige Jahre nach dem Abschluß des Grundlagenvertrages haben einzelne Gerichte auf vergleichbare Sachverhalte die Regeln des internationalen Strafrechts entsprechend angewendet (vgl. die Nachweise bei Tröndle in LK, StGB 10. Aufl., Rdn. 96, 101, 102 vor § 3). Schließlich hat auch der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 26. November 1980 (BGHSt 30, 1 ff, 4) sich dieser Auffassung angeschlossen und den Begriff Inland in § 3 StGB, den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechend, funktionsgerecht dahin ausgelegt, daß er ihn an das Funktionieren der Staatsgewalt anknüpfte. Danach fiel das Gebiet der DDR, für das die BRD

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Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Müller

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jedenfalls seit dem Grundlagenvertrag keine Staatsgewalt mehr beanspruchte, nicht mehr unter diesen Inlandsbegriff und konnte fortan „wie" Ausland behandelt werden. {34} Aus alledem folgt für den vorliegenden Fall, daß hier von einem nach bundesrepublikanischem Strafrecht zu behandelnden Strafverfolgungsanspruch - der nach § 78 StGB hätte verjähren können - allenfalls nach dem 21. Dezember 1972 gesprochen werden kann. Die Verjährung des Verfolgungsanspruches gegen den Angeschuldigten wäre daher am 14. August 1991 wirksam unterbrochen worden ...". Das Kammergericht geht ersichtlich davon aus, daß zunächst eine Verjährungsfrist nach dem StGB/DDR lief, diese aber vor ihrem Ablauf mit Abschluß des Grundlagenvertrages durch die 20jährige Verjährungsfrist aus § § 2 1 2 Abs. 1, 78 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4 StGB ersetzt wurde. Eine solche nachträgliche Verlängerung einer Verjährungsfrist erscheint nicht verfassungswidrig (vgl. BVerfGE 25, 269 ff.). Die Kammer vermag daher der Argumentation des Kammergerichts durchgreifende Bedenken nicht entgegenzusetzen.

Anmerkungen 1 2

3 4 5

Vgl. Anhang S. 990f. Erwin Gümth wurde vom Landgericht Berlin durch Urteil vom 9.9.1999 - Az. (531) 27 Js 82/97 Ks - (4/98) - wegen Totschlags in vier Fällen rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der hier verhandelte Vorgang war nicht Gegenstand des Verfahrens gegen Gürnth. Die genannten Paragraphen regeln den (rechtfertigenden) Notstand, nicht die Notwehr. Vgl. Anhang S. 969. Vgl. lfd. Nr. 7-2.

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Inhaltsverzeichnis Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 19.4.1994, Az. 5 StR 204/93 Gründe

309

I.

[Das Urteil der Strafkammer]

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II.

[Verjährung]

309

III. [Zu den Sachrügen] Anmerkungen

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313 313

Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Müller

Bundesgerichtshof Αζ.: 5 StR 204/93

Lfd. Nr. 7-4

19. April 1994

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen Klaus K., geboren 1950, wegen Totschlags {2} Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 19. April 1994, an der teilgenommen haben: Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® {3} für Recht erkannt: Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 28. Oktober 1992 wird verworfen. Der Staatskasse fallen die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zur Last. - Von Rechts wegen -

Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat keinen Erfolg.

I.

[Das Urteil der Straßcammer]

Die Verurteilung des Angeklagten beruht auf folgenden Feststellungen: {4} Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen. ® {5} II. [Verjährung] Der Senat hat auch auf die zuungunsten des Angeklagten eingelegte, auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft zu prüfen, ob ein Verfahrenshindernis vorliegt. Die Prüfung ergibt, daß dies nicht der Fall ist. 1. Da die Tat gegen einen Deutschen mit Wohnsitz in Berlin-West begangen wurde, hat für sie entsprechend § 7 Abs. 1 StGB das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland bereits vor der Einigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 gegolten. Zu diesem 309

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Zeitpunkt war die zwanzigjährige Verjährungsfrist für Totschlag (§ 78 Abs. 3 Nr. 2, § 2 1 2 Abs. 1 StGB) abgelaufen. A m Beginn der Verfolgungsveijährung mit Tatbeendigung (§ 78a StGB) vermag es entgegen der Auffassung des Kammergerichts (NStZ 1992, 5421), der das Landgericht folgt, nichts zu ändern, daß die Rechtsprechung die Regeln des { 6 } internationalen Strafrechts auf in der D D R begangene Straftaten erst vom Abschluß des Grundlagenvertrages vom 21. Dezember 1972 an entsprechend angewandt hat (vgl. BGHSt 30, 1 ff.). Gleichwohl ist Verfolgungsverjährung nicht eingetreten, weil die Tat nach dem (Tatort-)Recht der D D R im Zeitpunkt des Beitritts zur Bundesrepublik nicht verjährt war. a) Das ist nach Art. 315a Satz 1 EGStGB maßgeblich. Jene Spezialvorschrift verdrängt für die Frage der Verfolgungsverjährung nicht nur die Regelung, wonach auf DDR-Alttaten grundsätzlich das mildere Recht anzuwenden ist (BGHSt 39, 353 = NJW 1994, 2672). Sie enthält zur Veijährungsfrage eine spezielle Regelung auch für Fälle wie den vorliegenden, in denen das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland schon vor der Einigung Deutschlands gegolten hat und in denen dieses materielle Strafrecht im übrigen gemäß Art. 315 Abs. 4 EGStGB allein anwendbar bleibt. W i e der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs im Urteil vom 18. Januar 1994 - 1 StR 740/93 - (zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen 3 ) im einzelnen dargelegt hat, ergibt sich diese Auslegung aus den bei Abschluß des Einigungsvertrages verfolgten Zielen und steht mit Gesetzeswortlaut und -systematik in Einklang. Mit der durch Art. 2 des Gesetzes über das Ruhen der Veijährung bei SED-Unrechtstaten (VeijährungsG) vom 26. März 1993 (BGBl. I 392) eingefügten Regelung des Art. 315a Satz 2 EGStGB hat der Gesetzgeber diese schon zuvor bestehende Rechtslage nur ausdrücklich bestätigt. { 7 } b) Verfolgungsveijährung nach dem Recht der D D R ist auch dann nicht eingetreten, wenn die Tat des Angeklagten entsprechend der Beurteilung des Landgerichts ( U A S. 30) nicht nach § 112 StGB-DDR als Mord mit einer Verjährungsfrist von 25 Jahren (§ 82 Abs. 1 Nr. 5 StGB-DDR), sondern als Totschlag nach § 113 Abs. 1 Nr. 3 StGBD D R zu werten ist und die Verjährungsfrist infolgedessen nur 15 Jahre betrug (§ 82 Abs. 1 Nr. 4 StGB-DDR). Denn die Verjährung hat in der D D R geruht. Auch hierin ist dem Urteil des 1. Strafsenats zu folgen. Dabei hält der erkennende Senat die entsprechende Norm des Art. 1 VeijährungsG - wohl im Einklang mit dem 1. Strafsenat ebenfalls für eine deklaratorische Festschreibung der ohnehin bestehenden Rechtslage. Nach dem Willen der Staats- und Parteiführung der D D R wurde, wie allgemeinkundig ist und auch durch den vorliegenden Fall deutlich wird, ein Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze durch Angehörige der Grenztruppen, mit dem eine „Grenzverletzung" verhindert werden sollte, generell nicht geahndet. Diese mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbare Staatspraxis der D D R (dazu BGHSt 39, 1, 8 ff. 4 ) hatte die Wirkung eines gesetzlichen Verfolgungshindernisses in diesem Bereich. aa) Allerdings kann der Senat dabei nicht ohne weiteres diejenigen Grundsätze anwenden, die für die im nationalsozialistischen Unrechtsregime aufgrund eines als Gesetz geachteten „Führerwillens" unverfolgt gebliebe-{8}nen Straftaten entwickelt worden sind (vgl. BGHSt 18, 367; 23, 137, 139; B G H N J W 1962, 2308; Urteile vom 28. Februar 1952 - 5 StR 28/52 - und vom 9. Juli 1954 - 5 StR 218/54 - ; vgl. auch BVerfGE 1,418,423).

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Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Müller

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Der Senat hat in seinem Urteil vom 3. November 1992 (BGHSt 39, 1 ff.) ausgesprochen, daß bei der mit Rücksicht auf Art. 103 Abs. 2 GG zu prüfenden Frage, ob die Strafbarkeit vorsätzlicher Tötungshandlungen von Grenzsoldaten der DDR an der Berliner Mauer „gesetzlich bestimmt" war, der Richter nicht im Sinne reiner Faktizität an diejenige Interpretation des Rechts gebunden ist, die zur Tatzeit in der Staatspraxis Ausdruck gefunden hat. Konnte das Tatzeitrecht bei Beachtung der vom Wortsinn des Gesetzes gegebenen Grenzen im Lichte der Verfassung der DDR so ausgelegt werden, daß den völkerrechtlichen Bindungen der DDR im Hinblick auf Menschenrechte entsprochen wurde, so ist das Tatzeitrecht in dieser „menschenrechtsfreundlichen" Auslegung als das Recht zu verstehen, das die Strafbarkeit zur Zeit der Tat im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG „gesetzlich bestimmt" hat. Ein Rechtfertigungsgrund wurde fur die hier in Rede stehenden Tötungshandlungen zwar in der Staatspraxis, wie sie sich in der Befehlslage ausdrückte, angenommen; er durfte aber dem richtig interpretierten Gesetz schon damals nicht entnommen werden. Anders als im nationalsozialistischen Führerstaat gab es in der DDR keine Doktrin, nach der der bloße Wille der Inhaber tatsächlicher Macht „Recht" zu schaffen vermochte (BGHSt 39, 1, 23 ff.). Diesen Gesichtspunkt hat der Senat in seinem Urteil vom 13. Dezember 1993 zur Rechtsbeugung durch DDRRichter noch einmal bekräftigt (NJW 1994, 529, 530).5 {9} Da der Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze bei zutreffender Auslegung des DDR-Rechts durch dieses Recht nicht gerechtfertigt war, mußten nach dem strikten Legalitätsprinzip (§ 2 Abs. 1 StPO-DDR) rechtswidrige Schüsse an der Mauer verfolgt werden. Daß dies nicht geschah, beruht nicht auf einem „gesetzlichen Grunde" (§ 83 Nr. 2 StGB-DDR; entsprechend § 78b Abs. 1 Satz 1 StGB), sondern auf einer das geltende Recht mißachtenden Staatspraxis. bb) Dieser auf den politischen Willen der Staatsfuhrung zurückgehenden Praxis kommt indes ungeachtet ihres fehlenden Gesetzescharakters nicht lediglich die Bedeutung eines für die Verjährung irrelevanten bloßen tatsächlichen Verfolgungshindernisses zu. Da Tötungshandlungen durch Angehörige der Grenztruppen zur Verhinderung von „Grenzverletzungen" generell und ohne Rücksicht auf den Einzelfall - mithin nach den ein Gesetz im materiellen Sinne ausmachenden Kriterien - ungeahndet bleiben sollten, lag vielmehr ein quasigesetzliches Verfolgungshindernis vor. Sinn und Zweck der Ruhensnorm, die auch im Gebot der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit wurzeln, gebieten, das quasigesetzliche Verfolgungshindernis wie ein gesetzliches zu behandeln, mithin die Ruhensnorm anzuwenden (vgl. BGH, Urteil vom 14. Dezember 1954 - 5 StR 353/54 - ) . Hierfür kommt es auf Ausmaß und Gewicht der Straftaten, die, rechtsstaatlichen Grundsätzen zuwiderlaufend, unverfolgt geblieben sind, nicht maßgeblich an. Die von der Staats- und Parteiführung der DDR gebilligten Rechtsbrüche können zwar mit {10} dem unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verübten Unrecht nicht gleichgesetzt werden; dies widerstreitet gleichwohl hier nicht der Annahme eines Ruhens der Veijährung. cc) Die daraus folgende, auf einer Gleichbehandlung von Staatspraxis und Gesetzeslage beruhende entsprechende Anwendung der Veijährungsvorschrift des § 83 Nr. 2 StGB-DDR auf Fälle vorsätzlicher Tötungshandlungen an der innerdeutschen Grenze steht nicht im Widerspruch zu der hinsichtlich der materiellen Rechtslage zwischen bloßer Staatspraxis und Gesetz differenzierenden Rechtsprechung des Senats (vgl. die Einwände von Pieroth/Kingreen NJ 1993, 385, 389). 311

Lfd. Nr. 7-4

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Dies folgt aus der Wesensverschiedenheit von materiellem Recht und Veijährungsregelung. So gilt das in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltene Gebot der Gesetzesbestimmtheit für den Straftatbestand und fur die Strafandrohung. Es besagt dagegen nichts über die Dauer des Zeitraums, während dessen eine in verfassungsmäßiger Weise für strafbar erklärte Tat verfolgt und durch die Verhängung der angedrohten Strafe geahndet werden darf; es verhält sich nur über das „von wann an", nicht über das „wielange" der Strafverfolgung (vgl. BVerfGE 25, 269, 285 f.). Der Senat braucht an dieser Stelle nicht zu entscheiden, ob die Verjährungsvorschriften allein dem Verfahrensrecht angehören oder ob die Veijährung als gemischtes Rechtsinstitut aufzufassen ist, das prozeßrechtliche und materiellrechtliche Züge trägt (vgl. zum Streit über die Rechtsnatur: Tröndle in LK StGB 10. Aufl. § 2 Rdn. 10 ff. mN; Gribbohm in LK 11. Aufl. § 2 Rdn. 8 und § 1 Rdn. 90). Jedenfalls handelt es sich bei ihr nicht um einen allein dem sachlichen Recht zu{lljzuordnenden Unrechts- oder Strafaufhebungsgrund. Deshalb ist, wenn dies durch Sinn und Zweck der jeweiligen Regelung gefordert ist, im Bereich des Veijährungsrechts ohne Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG eine entsprechende Anwendung auch zuungunsten des Angeklagten möglich, anders als bei der Anwendung von Straftatbeständen und Rechtfertigungsgründen (vgl. zudem zur Unbeachtlichkeit menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgründe für Art 103 Abs. 2 GG: BGHSt 39, 1, 30). dd) Der Senat weist darauf hin, daß die Voraussetzung für das Ruhen der Veijährung, die Nichtverfolgung aufgrund rechtsstaatswidriger Staatspraxis, sicher feststehen muß (vgl. BGHSt 23, 137). Dies steht hier indes nicht in Frage. c) Bei der gegebenen Fallkonstellation bedürfen folgende Fragen keiner Entscheidung: aa) Ob die durch das Anliegen des § 83 Nr. 2 StGB-DDR hier gebotene entsprechende Anwendung dieser Vorschrift und damit Art. 1 VerjährungsG den gesamten Bereich der auf den politischen Willen der Staatsführung zurückgehenden und durch die Staatspraxis gedeckten Kriminalität in der DDR erfaßt; ob es mithin Fälle, namentlich aus dem Bereich minderer Kriminalität und weit zurückliegender Straftaten, gibt, in denen im Interesse des von den Veijährungsvorschriften ebenfalls bedachten Rechtsfriedens kein Ruhen der Veijährung mehr anzunehmen ist. {12} bb) Ob, gegebenenfalls inwieweit bei der gegebenen historischen Ausgangslage, bei der die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in einem Unrechtsregime lebender Täter auf das System überdauernde Nichtverfolgung wegen systemtragender Rechtsbrüche in Frage steht, sogar der Gesetzgeber ohne Verankerung eines Ruhens der Veijährung im geltenden Recht ausnahmsweise befugt gewesen wäre, eine entsprechende Regelung konstitutiv mit der Folge zu treffen, daß sie auch bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits veqährte Taten erfassen konnte (vgl. hierzu Geiger JR 1992, 397, 404). cc) Ob einer Veijährung nach DDR-Recht hier etwa auch § 84 StGB-DDR entgegenstand, der u. a. Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen die Menschenrechte von der Veijährung ausgenommen hat (vgl. König NStZ 1991, 566, 571; dagegen Geiger aaO S. 399 f.; vgl. auch BGHSt 39, 1, 29). dd) Ob von den hier ausschlaggebenden, in das Veijährungsgesetz aufgenommenen Regelungen auch Täter erfaßt werden, die sich auf dem Gebiet der DDR strafbar gemacht haben, jedoch ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland hatten oder vor Inkrafttreten des Einigungsvertrages dorthin übergesiedelt sind.

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Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Müller

Lfd. Nr. 7-4

2. Die Verfolgung der Tat ist nicht durch in der DDR erlassene Amnestien ausgeschlossen (BGHSt 39, 353 = NJW 1994, 267, 268 f.). {13} III. [Zu den Sachrügen] Die sachlichrechtliche Überprüfung des Strafausspruchs hat Rechtsfehler zum Vorteil oder Nachteil (§ 303 StPO) - des Angeklagten nicht aufgedeckt. 1. Nach rechtsfehlerfreier Anwendung des Jugendstrafrechts gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG hat das Landgericht zutreffend zur Bewertung des Tatunrechts die Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des § 213 StGB (2. Alternative) geprüft (BGHR JGG § 18 Abs. 1 Satz 3 minder schwerer Fall 2). Die Sonderbestimmung des Art. 315a EGStGB, wonach für die Frage der Verjährung auf DDR-Recht abzustellen ist, hat nicht etwa zur Folge, daß die danach nicht veqährte Tat allein unter Anwendung des DDRStGB zu bestrafen wäre (vgl. nur BGH, Urteil vom 18. Januar 1 9 9 4 - 1 StR 740/93 - ). 2. Die Zubilligung eines - vermeidbaren - Verbotsirrtums (§ 17 Satz 2 StGB) mit Rücksicht auf die dem Angeklagten erteilte „Vergatterung" (vgl. entsprechend BGHSt 39, 1, 3, 35; 39, 168, 169, 1906) ist rechtsfehlerfrei. Sie steht nicht etwa im Widerspruch zu der vom Landgericht im Rahmen der Erörterung etwaiger Rechtfertigung und bei der Strafzumessung angestellten Erwägung, der Angeklagte hätte zur Erreichung seiner Ziele mildere Mittel einsetzen können, da diese jedenfalls im Sinne der menschenrechtswidrigen Ziele der „Vergatterung" - unbedingte Verhinderung von Grenzverletzungen, sogar um den Preis der Vernichtung von Menschenleben (BGHSt 39, 1, 13 f.; 39, 168, 182 f.; 39, 199, 201) - möglicherweise weniger wirksam gewesen wären. {14} 3. Die vom Landgericht für die Annahme der Voraussetzungen des § 213 StGB (2. Alternative) und für die Strafzumessung als bestimmend herangezogenen Erwägungen sind rechtsfehler- und widerspruchsfrei. Insbesondere steht die Feststellung der den Angeklagten bei der Tatbegehung leitenden - strikt an der Befehlslage ausgerichteten Überlegungen nicht im Widerspruch zur Annahme, er sei erregt, unüberlegt - d.h. ohne jeden Ansatz kritischen Nachdenkens - und übereifrig vorgegangen. Die Verhängung einer Bewährungsstrafe gegen den erst 22 Jahre nach der Tat zur Verantwortung gezogenen Angeklagten, den das Landgericht mit Recht als Täter ansieht, der zugleich „in gewisser Weise auch selbst Opfer des politischen Systems der DDR" war, steht - ungeachtet der wegen der Art der „Grenzverletzung" gegebenen Fallbesonderheit - im Einklang mit der Bewertung hinsichtlich der Täterpersönlichkeiten im wesentlichen gleichgelagerter Fälle durch den Senat (BGHSt 39, 1, 5 f.; 39, 168, 193).

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

Vgl. lfd. Nr. 7-2. Vgl. lfd. Nr. 10-2. Mittlerweile veröffentlicht in BGHSt 40,48. Vgl. lfd. Nr. 11-2. Vgl. lfd. Nr. 2-2. Das Urteil ist zum Abdruck im Dokumentationsband zur Rechtsbeugung vorgesehen. Vgl. lfd. Nr. 1-2.

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Lfd. Nr. 8 Erschießung eines Bundesbürgers nach unrechtmäßigem Grenzübertritt in die DDR - Fall Lichtenstein -

Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Stendal vom 10.9.1997, Az. 503 Kls 16/95; 33 Js 20365/95

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Lfd. Nr. 8

Dokumente - Teil 1

Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Stendal vom 10.9.1997, Az. 503 Kls 16/95; 33 Js 20365/95 Gründe

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I.

Anklagevorwurf

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II.

Feststellungen A. Zur Person 1. [Der Angeklagte S.] 2. [Der Angeklagte Sch.] B. Tatvorgeschehen I. Historisch-militärische Situation am 12. Oktober 1961 II. [Zur Situation an der Grenze] III. Zur Person des Kurt Lichtenstein C. Tatgeschehen I. [Ablauf der Tat] II. [Ergebnisse der Obduktion] D. Würdigung I. [Subjektive Tatseite] II. [Rechtfertigungsgrund] III. [Schuld]

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Anmerkungen

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Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Lichtenstein

Landgericht Stendal Αζ.: 503 Kls 16/95; 33 Js 20365/95

Lfd. Nr. 8

10. September 1997

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen 1. den Frührentner Peter Willi S. geboren 1942 Deutscher, verheiratet; 2. den Arbeiter Werner Sch. geboren 1943 Deutscher, verheiratet; wegen Totschlags hat die 3. Strafkammer des Landgerichts Stendal als Jugendkammer in der Hauptverhandlung vom 10. September 1997, an der teilgenommen haben: ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® für Recht erkannt: Die Angeklagten S. und Sch. werden auf Kosten der Staatskasse, die auch ihre notwendigen Auslagen trägt, freigesprochen.

Gründe I.

Anklagevorwurf

Den Angeklagten wird in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Magdeburg vom 22. Juni 1995 vorgeworfen, gemeinschaftlich handelnd einen Menschen getötet zu haben, ohne Mörder zu sein. Sie sollen in den Mittagsstunden des 12. Oktober 1961 in der Gemarkung Jahrstedt, Kreis Oebisfelde, als Heranwachsende den Journalisten Kurt Lichtenstein, der sich auf einer Reportagereise entlang der innerdeutschen Grenze befand und sich zum Überqueren der Demarkationslinie entschloß, um mit Landarbeitern ein Interview zu fuhren, in ihrer damaligen Eigenschaft als Grenzpolizisten an der Interzonengrenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR gezielt beschossen haben. Dabei soll Kurt Lichtenstein von zwei der auf ihn abgegebenen Schüsse getroffen worden sein. Er soll einen Brustkorbdurchschuß und einen Unterschenkeldurchschuß erlitten {3} haben und noch am selben Tag seinen Verletzungen erlegen sein. Der Schußwaffeneinsatz der Angeklagten Sch. und S. soll im bewußten und gewollten wechselseitigen Zusammenwirken erfolgt sein, wobei die Angeklagten, unterstellt, sie wollten den Kurt Lichtenstein nur fluchtunfähig schießen, zumindest billigend dessen Tod in Kauf genommen haben sollen.

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Lfd. Nr. 8

II.

Dokumente - Teil 1

Feststellungen

A. Zur Person 1. [Der Angeklagte S.] Der Angeklagte S. wurde 1942 geboren. Von 1948 bis 1956 besuchte er die Volksschule. Anschließend begann er eine zweijährige Ausbildung als Betriebs- und Verkehrshelfer im Bahnhof N. und war bis 1960 als Rangierer tätig. Am 2. Mai 1960 trat der Angeklagte seinen Dienst bei der Deutschen Grenzpolizei der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik an. Er war zu diesem Dienst geworben worden, wobei er dem Drängen der Werber erst nach einiger Zeit nachgekommen ist. Ein Beweggrund, sich letztendlich doch zu diesem Dienst zu melden, ist fur ihn gewesen, sich aus den beengten Verhältnissen, in denen seine Familie in der Nachkriegszeit lebte, zu lösen. Der Nationalen Volksarmee - in welche die Grenzpolizei übergegangen war - gehörte er bis zum Jahre 1963 an. Während seines Wehrdienstes ließ er sich zum Hundeführer ausbilden. Nach den Vorgängen, die Gegenstand dieses Verfahrens waren, wurde er belobigt und zum Stabsgefreiten befördert. Während seiner Armeezeit verpflichtete sich der Angeklagte am 12. September 1962 als informeller Mitarbeiter fur den Staatssicherheitsdienst. {4} Der Angeklagte, dessen Vater nach seiner Entlassung aus sowjetischer Gefangenschaft der KPD/SED beitrat und Bürgermeister einer kleinen Gemeinde wurde und später dem Rat des Kreises der Stadt N. angehörte, war bereits als Jugendlicher „fest von der guten Sache des Sozialismus" überzeugt. Für ihn ist die DDR der einzige rechtmäßige deutsche Staat gewesen. In dieser Haltung fühlte er sich auch durch die politischen Schulungen, an denen er während seiner Armeezeit teilnahm, bestätigt. An diesem Ausbildungsteil nahm der Angeklagte stets mit großem Interesse teil. Nach Abschluß der Armeezeit 1963 wurde der Angeklagte S. in einem Holzverarbeitungswerk in B. zunächst als Heizer, später als Kesselwärter und Schichtleiter tätig. Für eine kurze Zeit arbeitete er 1992 als Hausmann fur ein Hotel in B.; anschließend wurde er als Wachmann bei verschiedenen Firmen in N. tätig. Seit dem 1. Januar 1994 ist der Angeklagte wegen einer Zuckerkrankheit erwerbsunfähig. Der Angeklagte ist verheiratet und hat einen Sohn, welcher 33 Jahre alt ist, sowie eine Enkeltochter im Alter von acht Jahren. Der Angeklagte ist nicht bestraft. 2.

[Der Angeklagte Sch.]

Der Angeklagte Sch. wurde 1943 geboren. Er besuchte acht Jahre lang die Volksschule und begann anschließend eine Lehre bei einem Spanplattenwerk. Auch der Angeklagte Sch., der sich bislang fur politische und historische Zusammenhänge nicht interessiert hatte, wurde zum Armeedienst geworben. Nachdem die Werber ihn öfter aufgesucht hatten, gab er ihrem Drängen nach. Bei Dienstantritt ist ihm nicht bekannt gewesen, daß er für den Grenzdienst vorgesehen worden war. Als der Angeklagte seinen Dienst an der Grenze antrat, ist ihm nicht bewußt gewesen, {5} daß es sich hierbei um die Demarkationslinie zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR gehandelt hat.

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Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Lichtenstein

Lfd. Nr. 8

Nach dem hier zu beurteilenden Vorfall im Oktober 1961 wurde der Angeklagte ebenfalls belobigt und ausgezeichnet. Er wurde zu einer anderen Einheit versetzt, wo der Angeklagte Sch. bis zur Beendigung seiner Wehrdienstzeit im Jahre 1963 verblieb. An politischen Schulungen während dieser Zeit nahm der Angeklagte teil, ohne daß diese auf ihn einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hätten. Anschließend kehrte er an seinen alten Arbeitsplatz zurück. In dem Faserplattenwerk wurde er als Maschinenarbeiter, später als Berufskraftfahrer eingesetzt. Seit 1967 ist er als Kranfahrer bei einer Schiffsreparaturenwerft beschäftigt. Der Angeklagte ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist nicht bestraft.

B. I.

Tatvorgeschehen Historisch-militärische Situation am 12. Oktober 1961

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 und der DDR am 7. Oktober 1949 verschlechterten sich die Ost-West-Beziehungen rapide. Nach der Gründung von NATO und Warschauer Pakt standen sich Anfang der 60er Jahre auf dem Boden des ehemaligen Deutschen Reiches zwei hochgerüstete Militärblöcke gegenüber. Nachdem die Sowjetunion im Bereich der atomaren Rüstung mit den USA gleichgezogen hatte, nutzte die UdSSR das neue „Gleichgewicht des Schreckens", um beim „Ringen um Deutschland" entscheidende Vorteile zu erreichen. Politischer Druck wurde dabei vornehmlich auf die „Viermächtestadt" Berlin ausgeübt. Zwischen den westlichen Alliierten bestand Einigkeit, Berlin und seine Zugangswege zu verteidigen. Umgekehrt lastete durch {6} Abwanderung ein enormer Druck auf der DDR. Der Flüchtlingsstrom erreichte im Frühjahr 1961 ein solches Ausmaß, daß die Substanz des ostdeutschen Teilstaates bedroht war, da vor allem junge Menschen unter 25 Jahren - häufig über Berlin (West) - in den Westen flüchteten. Am 13. August 1961 errichtete die DDR, von den Staaten des Warschauer Paktes hierzu ermächtigt, „rings um das ganze Gebiet West-Berlin einschließlich seiner Grenze mit dem demokratischen Berlin eine verläßliche Bewachung und wirksame Kontrolle." Nach der Abriegelung West-Berlins begann auf der Grundlage des Befehls 35/61 des Ministeriums des Inneren die Aktion „Festigung", die sich auf die Sicherung der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland konzentrierte. Hierbei wurden Familien, die von der Staatsfuhrung als „unsichere Elemente" angesehen wurden, aus den Gebieten in Grenznähe in das Landesinnere umgesiedelt. Die Bedingungen für den Aufenthalt im Grenzgebiet wurden ebenfalls wesentlich verschärft. Im Herbst 1961 wurde die „Deutsche Grenzpolizei" durch das Ministerium fur Nationale Verteidigung übernommen und zur Grenztruppe umgewandelt. Diese sogenannte Grenzpolizei war bereits im November 1946 auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) in der sowjetischen Besatzungszone aufgestellt worden. Ihre Aufgabe bestand in den unmittelbaren Nachkriegsjahren vor allem darin, die Demarkationslinie der SBZ zu den drei Westzonen zu überwachen. Sie unterstand zunächst sowjetischen Kommandeuren. Mit Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 übernahm deren Ministerium des Innern offiziell die Verantwortung für die Grenzpolizei. Die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland nahm

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die DDR zum Anlaß, den „Schutz der Demarkationslinie" zu verstärken. Im Vorfeld der geplanten Absperrungsmaßnahmen wurde im Mai 1952 die Grenzpolizei organisatorisch aus dem Innenministerium herausgelöst und dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt. Am 27. Mai 1952 erließ das MfS in Durchführung einer Regierungsverordnung 1 die „Polizeiverordnung {7} über die Einführung einer besonderen Ordnung an der Demarkationslinie2". Diese lautete: „§ 1 Die entlang der Demarkationslinie zwischen der DDR und Westdeutschland festgelegte Sperrzone umfaßt einen 10 m breiten Kontrollstreifen unmittelbar an der Demarkationslinie, anschließend einen etwa 500 m breiten Schutzstreifen unmittelbar an der Demarkationslinie und dann eine etwa 5 km breite Sperrzone. (...) § 4 Das Überschreiten des 10 m Kontrollstreifens ist für alle Personen verboten. Personen, die versuchen, den Kontrollstreifen in Richtung DDR oder Westdeutschland zu überschreiten, werden von den Grenzkontrollstreifen festgenommen. Bei Nichtbefolgung der Anordnung der Grenzstreife wird von der Waffe Gebrauch gemacht."

Dem Grenzsicherungsorgan wurden zunehmend militärdoktrinäre Aufgaben übertragen; die Truppenstärke wurde erhöht und die Bewaffnung erneuert. Mit der Errichtung von Grenzabsperrungen zur westdeutschen Grenze war unmittelbar nach dem Mauerbau in Berlin noch nicht begonnen worden, die Überwachung der innerdeutschen Grenze wurde jedoch verstärkt und mit ihrem pioniermäßigen Ausbau begonnen. Bereits bei der Errichtung der Grenzpolizei unter sowjetischem Befehl hatte die SED auf Anweisung der Sowjets dafür Sorge zu tragen, daß nur zuverlässige Genossen in die Grenzpolizei delegiert wurden. Da sie sich aus Freiwilligen zusammensetzte, war sie in der Anfangsphase jedoch erheblichen Rekrutierungsproblemen ausgesetzt. Um sich der Zuverlässigkeit der Grenzpolizisten zu versichern, wurde die Ausbildung verbessert und die politisch-ideologische Ausrichtung intensiviert, wobei die Teilnahme an Politschulungen Pflicht war. {8}

II. [Zur Situation an der Grenze] Die Angeklagten S. und Sch. gehörten im Herbst 1961 dem 23. Grenzregiment Gardelegen, 5. Kompanie an. Der Angeklagte S. war Posten und Hundeführer, der Angeklagte Sch. nahm die Aufgaben eines Postens wahr. Beide hatten nach ihrem Eintritt in die Grenzpolizei eine vierteljährliche Grundausbildung erhalten, die auch eine Schießausbildung beinhaltete. Beide Angeklagte waren an einem Maschinengewehr und Karabiner ausgebildet worden. Nach ihrer Kommandierung an die Grenze fanden Schießübungen nur noch sporadisch statt. Keiner der Angeklagten erreichte die sog. „Schützenschnur" für besonders gute Leistungen bei den Schießübungen. Während des Grenzdienstes wurden beide Angeklagte auch zu Übungen herangezogen, die die Festnahme von Flüchtlingen zum Gegenstand hatte. Diese Schulungen wurden dergestalt durchgeführt, daß ein Grenzzwischenfall nachgestellt wurde. Diese Übungen endeten jeweils damit, daß der „Grenzverletzer" auf Anruf - spätestens nach Abgabe eines Warnschusses - durch die Grenzsoldaten seine Flucht aufgab und sich von diesen festnehmen ließ.

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Erschießung eines Bundesbürgers nach Grenzübertritt - Fall Lichtenstein

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Die Grenzsoldaten waren während ihres Dienstes stets bewaffnet. Der Postenfiihrer war im Jahr 1961 mit einer Maschinenpistole vom Modell MP 41 ausgerüstet, die mit zwei Trommeln à 40 Schuß ausgestattet war. Die Waffe konnte auf Dauer- oder Einzelfeuer gestellt werden. Die maximale Schußweite betrug 200 m; die vo 500 m/s. Das Maschinengewehr war mit russischen Rundpatronen 7,62 χ 25 zu laden. Die Waffe hatte einen rechtsgezogenen Lauf. Dies hatte zur Folge, daß bei Dauerfeuer die Waffe nach rechts oben zog. Der Posten war mit einem Karabiner ausgerüstet, der nur auf Einzelfeuer gestellt werden konnte, wobei die maximale Schußweite 600 m betrug. Es handelte sich dabei um eine russische Waffe vom Typ Κ 44, die mit fünf Schuß geladen werden konnte. Die vo betrug 820 m/s. Bei der Munition wurden Spitzpatronen 7,62 χ 54 R verwendet. {9} Die Befehle für den Waffeneinsatz hatten während des Grenzdienstes der Angeklagten mehrere Änderungen erfahren. Nachdem von der Waffe zunächst nur bei persönlicher Bedrohung in eingeschränktem Maße Gebrauch gemacht werden durfte, änderte sich die Dienstvorschrift zum 10. Oktober 1961. Die Dienstvorschrift 10/4 fur den Dienst der Grenzposten3, herausgegeben vom Ministerium für Nationale Verteidigung, sah für den Schußwaffengebrauch nunmehr vor: „Voraussetzungen für den Schußwaffengebrauch Nr. 45 Von der Schußwaffe darf Gebrauch gemacht werden c) auf eigenen Entschluß (z.B. ständige und zeitweilige Pistolenträger, Wachtposten und Streifenposten), wenn andere Mittel nicht ausreichen, um die Flucht eines vorläufig Festzunehmenden oder Festgenommenen zu verhindern oder um einen unmittelbar drohenden bzw. gegenwärtigen Angriff auf sich oder andere Personen sowie auf Einrichtungen oder bewaffnete Kräfte und andere zu beachtenden bzw. zu sichernden Anlagen erfolgversprechend abzuwehren. .Anwendung der Schußwaffe Nr. 48 Gegenüber flüchtigen Personen, die vorläufig festgenommen oder festzunehmen sind, darf erst dann von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden, nachdem einmal laut und verständlich gerufen wurde: ,Halt - stehenbleiben, oder ich schieße!' Bleibt der Flüchtige darauf nicht stehen, ist ein Wamschuß in die Luft, ohne Personen zu gefährden, abzugeben. Wird die Flucht daraufhin fortgesetzt, sind gezielte Schüsse so abzugeben, daß möglichst nur die Bewegungsfreiheit des {10} Flüchtigen behindert wird."

Daneben galt hinsichtlich des Schußwaffengebrauchs der Befehl Nr. 76/61 des Ministeriums für Nationale Verteidigung vom 6. Oktober 1961.4 Danach durfte die Schußwaffe unter anderem in folgenden Fällen angewandt werden: „... Zur Festnahme von Personen, die sich den Anordnungen der Grenzposten nicht fugen, indem sie auf Anruf ,Halt - stehenbleiben - Grenzposten!' oder nach Abgabe eines Warnschusses nicht stehenbleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu verletzen und keine andere Möglichkeit zur Festnahme besteht; ...

Als Anlage zu dem Befehl galt u.a. folgende Schußwaffengebrauchsbestimmung:

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„l.Die Wachen, Posten und Streifen der Nationalen Volksarmee können in Ausübung ihres Dienstes von der Waffe Gebrauch machen: [b] wenn Verbrecher, insbesondere Spione, Saboteure, Agenten, Provokateure der Festnahme bewaffneten Widerstand entgegensetzen oder flüchten. 2. Die Waffe darf insoweit gebraucht werden, wie es für die zu erreichenden Zwecke erforderlich ist. 3. Die Angehörigen der Nationalen Volksarmee sind jederzeit zum Waffengebrauch berechtigt, wenn sie in Ausübung ihres Dienstes zum Schutze der Deutschen Demokratischen Republik eingesetzt sind." Diese - verschärften - Schußwaffengebrauchsbestimmungen waren {11} den Angeklagten nicht schriftlich ausgehändigt, sondern mündlich weitergegeben worden. Die Grenzpolizisten hatten femer die strikte Anweisung, bei der Abgabe von Schüssen darauf zu achten, daß keine Kugel westdeutsches Gebiet erreicht.

III. Zur Person des Kurt Lichtenstein Kurt Lichtenstein wurde 1912 geboren. Seine Eltern waren jüdischer Herkunft. Nach dem Besuch der Volksschule erhielt der Jugendliche eine Freistelle auf einer weiterfuhrenden Schule, die er jedoch aus Geldmangel nicht zu Ende besuchen konnte. Nachdem er sich zunächst der zionistischen Jugendbewegung angeschlossen hatte, orientierte er sich später zur Gewerkschaftsjugend. Im November 1931 trat er der KPD bei. Im Frühjahr 1933 begab sich Kurt Lichtenstein in die Illegalität und reiste in die Sowjetunion, wo er mehrere Lehrgänge besuchte. Im November 1934 kehrte er fur kurze Zeit in das Deutsche Reich zurück und emigrierte dann auf Beschluß des Zentralkomitees nach Frankreich, wo er fur mehrere kommunistische Organisationen tätig wurde. Anschließend nahm er am spanischen Bürgerkrieg teil und wurde später interniert. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde Kurt Lichtenstein in mehreren Lagern innerhalb Frankreichs gefangengehalten. Im Jahr 1941 gelang ihm die Flucht. Anschließend Schloß er sich auf Weisung der KPD mehreren Widerstandsgruppen innerhalb Frankreichs an. Auf Anweisung der Partei begab er sich im April 1944 zur illegalen Arbeit nach Deutschland. Beim Einmarsch der Amerikaner wurde Kurt Lichtenstein verhaftet und anschließend der französischen Armee übergeben, die ihn verdächtigte, ein Faschist zu sein und ihn {12} inhaftierte. Auf Intervention des französischen Zentralkomitees wurde er entlassen und begab sich auf Weisung der Genossen in das Ruhrgebiet. Dort half er in führender Position beim Neuaufbau der Gewerkschaften und der KPD. Kurt Lichtenstein betätigte sich in der Folgezeit als Journalist und betreute als Chefredakteur mehrere Zeitungen, die der KPD nahestanden. Von 1947 bis 1950 war er Abgeordneter im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Im August 1950 wurde Kurt Lichtenstein durch den Parteivorstand der KPD gemaßregelt und sein Ausschluß aus der kommunistischen Partei beschlossen wegen gemeinsamer „parteifeindlicher Tätigkeit" mit dem bereits im Mai 1950 ausgeschlossenen ehemaligen zweiten Vorsitzenden, dem Bundestagsabgeordneten Kurt Müller, Hannover.

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Nach seinem Parteiausschluß verrichtete Kurt Lichtenstein verschiedene Arbeiten, um seine Familie zu erhalten, wobei er sich stets bemühte, wieder im Journalismus Fuß zu fassen. 1957 begann er als freier Mitarbeiter bei der „Westfälischen Rundschau" und erhielt 1958 einen Redakteursvertrag. C.

Tatgeschehen

I.

[Ablauf der Tat]

Am 12. Oktober 1961 waren die Angeklagten S. und Sch. zur besonderen Bewachung der auf einem Feld zwischen den Ortschaften Zicherie und Kaiserwinkel in der Gemarkung Jahrstedt arbeitenden Arbeiter eingesetzt, die einen Kartoffelschlag abernteten. Die Erntemaschine war mit mehreren Frauen besetzt. Neben der Maschine fuhr ein Traktor, der von dem Zeugen S. gelenkt wurde. Das abzuerntende Kartoffelfeld befand sich in einer Länge von 500 m direkt an der Grenze zum Bundesland Niedersachsen. Auf westlicher Seite verlief ein befestigter Sommerweg, an den sich ein ca. 1 m bis 1.50 m breiter Graben anschloß, in dessen Mitte {13} die Grenze verlief. Der Grenzverlauf war durch Grenzpfähle gekennzeichnet. Daran Schloß sich auf östlicher Seite der sog. Κ 10, der geeggte Kontrollstreifen an. Zwischen dem Feld und dem Κ 10 verlief ein schmaler Fußweg. Der Kartoffelacker wurde in nördlicher Richtung durch einen Wald begrenzt und in südlicher Richtung durch eine Weide. Die Ackerfurchen verliefen in Ost/West-Richtung und wurden auch in dieser Richtung abgeerntet. Die Angeklagten hatten ihren Dienst in den Morgenstunden angetreten. Bevor sie von ihrer in Jahrstedt gelegenen Kompanie ausrückten, wurde eine sogenannte Vergatterung vorgenommen. Diese wurde von dem Offizier vom Dienst durchgeführt. Der Angeklagte S. meldete: „Postenpaar bestehend aus Soldat Sch. und Gefreitem S. melden sich zum Kampfauftrag zum Schutze der Deutschen Demokratischen Republik." Es folgte das Kommando „Rühren" und die Frage, ob sich die Angeklagten in der Lage fühlten, den Dienst durchzuführen. Nachdem die Angeklagten dies bejaht hatten, traten sie an einen Kartentisch heran und wurden von dem diensthabenden Offizier eingewiesen. Ihnen wurde ein bestimmter Grenzabschnitt zugewiesen. Desweiteren wurden sie über ihre Aufgaben in Kenntnis gesetzt. An diesem Tag wurden sie darüber informiert, daß sie die Arbeiter der LPG Jahrstedt bei der Arbeit zu überwachen hätten. Sie wurden weiterhin darüber informiert, daß am Vortag in diesem Abschnitt eine Flucht gelungen sei. Die Angeklagten wurden deshalb zur besonderen Wachsamkeit ermahnt. Tatsächlich war es dem Zeugen B. am Vortag gelungen, beim Wenden der Vollerntemaschine - als diese unmittelbar am Kontrollstreifen angelangt war - abzuspringen und in den Westen zu flüchten. Der Flüchtende bemerkte, daß auch ein Grenzposten auf ihn zugelaufen kam. Er vertraute jedoch darauf, daß er westliches Gebiet erreichen werde, bevor er gestellt werden konnte. Über den Einsatz von Schußwaffen hatte sich der Zeuge B. keine Gedanken gemacht, zumal zum Zeitpunkt seiner {14} Flucht ein Bus des Bundesgrenzschutzes in unmittelbarer Nähe angehalten hatte. Nachdem den Angeklagten dieser Vorfall erklärt worden war, wurde die Parole genannt, die Zeichengebung durch Leuchtpistole bei Nacht sowie der An- und Ab-

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marschweg sowie die Ablösung beim Hin- und Rückgang beschrieben. Anschließend wurden die Angeklagten gefragt, ob sie alles verstanden hätten. Nachdem sie dies bejaht hatten, erklärte der diensthabende Offizier: „Wenn Sie den Kampfauftrag verstanden haben, werden Sie jetzt vergattert." Es folgte dann der Befehl „Postenpaar stillgestanden! Vergatterung! - Postenfuhrer, übernehmen Sie ihren Posten und treten Sie den Dienst zum Schutz der Grenze der Deutschen Demokratischen Republik an." Auf den Befehl „Posten kehrt zum Schutze der Grenze der Deutschen Demokratischen Republik" „Ohne Tritt Marsch!" verließen die Angeklagten die Wachstube und begaben sich in die ihnen zugewiesen Postenstellung. Dieser befand sich in einer getarnten Stellung in dem den Kartoffelacker begrenzenden Waldstück ca. 10 m von der Grenze in unmittelbarer Höhe des 10 m Kontrollstreifens. Die Dienstvorschrift III/2 des Ministeriums des Innern, Kommando der deutschen Grenzpolizei, vom 12. September 1958 sah unter dem Stichwort „Die Grenzstreife" u.a. die Aufgabe eines sogenannten getarnten Postens vor. Dieser sollte dazu dienen, die Stellung gedeckt beziehen und verlassen zu können sowie ein gutes Sicht- und Schußfeld zu haben. Der Posten sollte sich in der wahrscheinlichen Richtung der Bewegung des Grenzverletzers befinden. Der getarnte Posten hatte vor allem die Aufgabe, eine Umgehung des Grenzpostens unmöglich zu machen und für eine überraschende Festnahme von Grenzverletzern zu sorgen. Der Angeklagte S. hatte als Hundefuhrer den ihm zugewiesenen Hund bei sich, den er einige Meter von sich entfernt an einem Baum anleinte. Hunde sollten von den Grenzposten auch zur Festnahme von Grenzverletzern eingesetzt {15} werden. Sie waren besonders auf solche Situationen abgerichtet. Diesen Hund hatte der Angeklagte jedoch erst wenige Wochen in seiner Obhut, so daß er noch Schwierigkeiten hatte, ihn zu kontrollieren. In den Vormittagsstunden fand eine Postenkontrolle durch den damaligen Kompaniechef Leutnant V.5 statt, der sich in Begleitung des Kompaniefeldwebels befand. Anläßlich dieser Kontrolle wurden die Angeklagten von ihrem Kompaniechef mündlich auf die neuen Schußwaffengebrauchsbestimmungen hingewiesen und nochmals eindringlich mit den Worten „Denkt dran, keiner kommt über die Grenze!" zur besonderen Wachsamkeit ermahnt. Zur gleichen Zeit traf der Journalist Kurt Lichtenstein an der Straßensperre zwischen den durch die Grenze geteilten Dörfern Zicherie im Westen und Böckwitz im Osten ein. Lichtenstein befand sich im Auftrag seiner Zeitung auf einer Fahrt entlang der innerdeutschen Grenze, die bei Lübeck im Norden begonnen hatte und bei Hof im Süden enden sollte. Kurt Lichtenstein wollte eine Reportage über die aktuelle Lage an der Grenze schreiben und sich dabei vor allem auch den Menschen widmen, die von der Trennung betroffen waren. An der Sperre in Zicherie traf er auf den Zollassistenten Werner H., der dort Posten stand. Lichtenstein stellte sich ihm als Redakteur der „Westfälischen Rundschau" vor. H. erläuterte die Situation in diesem Grenzabschnitt und nannte Lichtenstein Namen möglicher Interviewpartner. Abschließend fragte ihn der Journalist: „Ich habe gehört, daß nach Kaiserwinkel eine Straße führt, die parallel zur Zonengrenze verläuft, kann man diese Straße risikolos befahren oder passiert da manchmal was?" H. erwiderte, daß die Straße gefahrlos befahren werden kann, so lange man sich auf der Straße halte. Die

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Grenze sei erkennbar. Sie verlaufe an der Stelle zwischen dem umgepflügten 10-MeterStreifen und der Straße in der {16} Grabenmitte. Ein Hinweis, daß sich dort bewaffnete Grenzsoldaten in einer getarnten Stellung befinden könnten, erfolgte nicht. Kurt Lichtenstein bestieg sein Fahrzeug, einen roten Ford-Taunus, den er gerade zuvor angeschafft hatte, und fuhr in Richtung Zicherie mit dem Ziel Kaiserwinkel davon. Gegen 12 Uhr traf er in Höhe des Kartoffelackers ein und bemerkte die Arbeiter, die mit ihrer Erntemaschine ca. 50-60 m vom Kontrollstreifen entfernt, in östlicher Richtung fuhren. Kurt Lichtenstein parkte sein Fahrzeug am Straßenrand, ergriff seinen Fotoapparat und stieg aus. Er überquerte ohne zu zögern den Chausseegraben und lief in direkter Richtung auf die Arbeiter zu. Dabei wurde er von den Angeklagten beobachtet, die sich ca. 200 m entfernt in der Deckung des Waldes befanden. Der Angeklagte S. wandte sich nunmehr an seinen Posten, den Angeklagten Sch. und sagte: „Denke daran, was der ,Alte' vorhin gesagt hat." Der Angeklagte knüpfte damit an die Äußerung seines Kompaniechefs V. anläßlich der Postenkontrolle an. Er hatte diesen Hinweis so verstanden, daß er und sein Posten verpflichtet seien, unter allen Umständen Grenzverletzungen zu verhindern, notfalls, wenn Anweisungen nicht befolgt werden, auch durch Einsatz der mitgefuhrten Schußwaffen. Mit diesem nachdrücklichen Hinweis wollte der Angeklagte seinen Posten auf die besondere Befehlslage hinweisen. Dies vor allem deshalb, weil sich die Angeklagten nur entfernt kannten und der Angeklagte S. nicht wußte, wie sich der Angeklagte Sch. verhalten würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er den Entschluß gefaßt, den Grenzverletzer, als den er Kurt Lichtenstein ansah, festzunehmen. Um Raum zu gewinnen, begab sich der Angeklagte S. noch in der Deckung in Richtung Grenze, weil er Kurt Lichtenstein den Weg abschneiden wollte. Der Angeklagte Sch. verblieb auf seinem Posten in liegender Haltung. Den Karabiner, den er bei sich trug, hielt er im Anschlag. {17} Es konnte nicht mit Sicherheit geklärt werden, wie weit Kurt Lichtenstein auf das Gebiet der DDR vorgedrungen war. Im Minimum hatte er sich ca. 10 m vom Κ 10 entfernt, im Maximum 50 m. Jedenfalls machten ihn die Arbeiterinnen, als sie seiner ansichtig wurden, durch Zurufe auf die Grenzsoldaten aufmerksam. Kurt Lichtenstein hatte die Angeklagten beim Überqueren der Grenze in ihrer getarnten Stellung nicht bemerkt. Auf die Anrufe der Arbeiterinnen drehte sich Kurt Lichtenstein um und bemerkte den Angeklagten S., der aus dem Wald hervorgetreten war. Kurt Lichtenstein rannte daraufhin zurück in Richtung seines geparkten Fahrzeugs. Der Angeklagte rief Lichtenstein an: „Halt! Stehenbleiben! Grenzpolizei!" und rannte ebenfalls los, und zwar auf dem Pfad zwischen Κ 10 und Kartoffelacker. Seine Maschinenpistole hatte er auf Dauerfeuer eingestellt. Diese nahm er während des Laufens ab und hielt sie in Hüfthöhe. Aus dem Laufen heraus gab er zwei Warnfeuerstöße in die Luft ab. Auch der Angeklagte Sch. gab einen Warnschuß ab. Da Kurt Lichtenstein nicht stehenblieb und der Angeklagte S. erkannte, daß er aufgrund der zu großen Entfernung zwischen sich und dem Flüchtenden keine Möglichkeit hatte, diesen abzufangen, blieb er stehen und nahm die Waffe in Schulteranschlag und zielte über Kimme und Korn unmittelbar vor den flüchtenden Kurt Lichtenstein auf den Boden. Ihm war dabei bewußt, daß es ihm untersagt war, Schüsse so abzugeben, daß sie auf westdeutschem Gebiet einschlagen konnten. Bei dem ersten Feuerstoß wirbelte auch Staub und Dreck auf. Bei der Abgabe der übrigen Feuerstöße gelang es dem Angeklagten nicht, die Waffe parallel zur Grenze zu

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halten. Mehrere Schüsse schlugen auf westdeutschem Gebiet ein. Dies wurde von der Familie Sch. beobachtet, die zu diesem Zeitpunkt die Straße von Zicherie nach Kaiserwinkel mit ihrem Fahrzeug passieren wollte, sich aber durch die auf der Straße niedergehenden Kugeln daran gehindert sah. Die Feuerstöße hatte der Angeklagte S. in kurzem zeitlichen Abstand abgegeben. Er hoffte, den Flüchtling dadurch nachhaltig beeindrucken zu können, weil er diesen unbedingt davon abhalten wollte, weiter in Richtung Grenze zu laufen. {18} Zeitgleich gab auch der Angeklagte Sch. mehrere Schüsse aus seinem Karabiner ab. Nicht widerlegt werden konnte, daß er absichtlich in die Luft geschossen hat. Bei der Abgabe der Schüsse wollte der Angeklagte Sch. den Flüchtling nicht treffen. Er erwartete jedoch, daß dieser stehenbleiben würde. Kurt Lichtenstein wurde von jeweils einem Schuß im Bein und im Brustkorb getroffen. Der Angeklagte S. beobachtete, wie Kurt Lichtenstein kleiner wurde, noch zwei oder drei unsichere Schritte machte und dann in den Graben rutschte. Ein weiterer Schuß durchschlug die Heckscheibe des am Straßenrand abgestellten Kraftfahrzeugs von Lichtenstein. Der Angeklagte S. begab sich daraufhin zu der Stelle, wo Kurt Lichtenstein zusammengebrochen war. Zunächst hielt er seine Waffe schußbereit in der Hüfte, als er jedoch erkannte, daß Kurt Lichtenstein verletzt war, schulterte er seine Maschinenpistole und begab sich zu dem Verletzten, der mit den Füßen in der Grabensohle leicht schräg auf dem Rücken lag. Er griff ihn unter die Achseln, zog Kurt Lichtenstein einige Meter vom Kontrollstreifen weg und legte ihn an einem Weidezaun nieder. Dabei wurde er von Marie-Luise Sch. und deren Mutter Elisabeth M. von westlicher Seite beobachtet. Diese hatten, nachdem die Schüsse unmittelbar vor ihnen auf der Straße aufsprangen, das Fahrzeug verlassen, während Georg Sch. in Richtung Kaiserwinkel davon fuhr, um Hilfe zu holen. Marie-Luise Sch. blieb unmittelbar an dem Chausseegraben stehen, während ihre Mutter mit den beiden ebenfalls mitreisenden Kindern etwas abseits stand. Nach der Rückkehr von Georg Sch. forderte das Ehepaar den Angeklagten S. auf, ihnen den verletzten Lichtenstein herauszugeben, um ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Der Angeklagte S. ging hierauf jedoch nicht ein, sondern leistete dem verletzten Kurt Lichtenstein mit Hilfe der Arbeiter Le. und S. erste Hilfe. {19} Anschließend verständigte der Angeklagte S. seine Einheit. Bis zum Eintreffen seiner Vorgesetzten verblieb der Angeklagte S. bei dem verwundeten Kurt Lichtenstein und hielt auf dessen Bitten seine Hände. Eine Unterhaltung fand nicht statt, weil Kurt Lichtenstein aufgrund seiner Verletzungen kaum in der Lage war zu sprechen. Etwa eine Stunde nach dem Vorfall gegen 13 Uhr trafen mehrere Offiziere am Tatort ein. Die Angeklagten wurden abgelöst und zu ihrer Einheit zurückgebracht. Es wurde dann veranlaßt, daß Kurt Lichtenstein zu dem nahegelegenen Wäldchen verbracht wurde, bis nach einer weiteren Stunde ein Sanitätsfahrzeug eintraf, das den Verletzten in ein Krankenhaus nach Klötze brachte. Das Eintreffen des Krankenwagens hatte sich verzögert, weil das einzige Sanitätsfahrzeug des Bataillons anderweitig unterwegs und nicht mit Funk ausgestattet war. Kurt Lichtenstein verstarb gegen 17 Uhr an seiner schweren Bauchverletzung, die zu einem inneren Verbluten des Körpers geführt hatte. Die Angeklagten Sch. und S. wurden wegen „vorbildlicher Erfüllung des Fahneneides und des gegebenen Kampfbefehles" ausgezeichnet. Der Angeklagte S. wurde zum

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Gefreiten befördert. Von dem Tod des Kurt Lichtenstein erfuhren sie erst einige Tage nach dem Vorfall. Beide Angeklagte wurden von ihrer Einheit versetzt. Der Angeklagte S. wurde dazu angehalten, von diesem Grenzzwischenfall auch vor anderen Einheiten zu berichten. Es erschien in der Zeitschrift „Armee Rundschau" ein lobender Bericht über das Verhalten des Angeklagten S. mit dem Titel „Gut gemacht Peter!" Obwohl der Angeklagte S. auf Weisung seiner Vorgesetzten zu dem Grenzzwischenfall vom 12. Oktober 1961 Vorträge vor anderen Einheiten hielt, wurden beide Angeklagte strikt angewiesen, gegenüber Zivilpersonen Schweigen über den Vorfall zu wahren. Eine disziplinar- oder strafrechtliche Untersuchung, ob der {20} Schußwaffengebrauch rechtmäßig gewesen war, fand nicht statt. Vielmehr wurden die Angeklagten noch am gleichen Tag von einer Dienststelle, die sich als Volkspolizei Klötze bezeichnete, als Zeugen zum Grenzzwischenfall vernommen. Waffen, Patronenhülsen und die Bekleidung des Opfers standen fur das hiesige Verfahren nicht zur Verfugung. Ihr Verbleib ist ungeklärt.

II. [Ergebnisse der Obduktion] Bei der Obduktion der Leiche Kurt Lichtensteins am 14. Oktober 1961 im Gerichtsmedizinischen Institut der Universität Magdeburg wurden im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen, die sich auch in der hiesigen Beweisaufnahme bestätigt haben: „Der Tod ist durch Verbluten nach innen bei Durchschuß von Brust und Bauchhöhle bei schwerster Leberzertrümmerung eingetreten. Die Befunde sind: Einschußöffnung an der rechten Brustkorbseite, Ausschußöffhung an der linken Brustkorbseite, der Schußkanal verläuft durch die rechte Brusthöhle, die Spitze des rechten Lungenmittellappens, durch das Zwerchfell, den rechten und linken Leberlappen, erneut durch das Zwerchfell, die linke Brusthöhle und durch die 8. Rippe. Bluterguß von 800 ccm in die rechte Brusthöhle, von 500 ccm in die linke Brusthöhle und von etwa 200 ccm in die Bauchhöhle. Erhebliche Prellung des rechten Lungenmittellappens mit stärkerer Blutdurchsetzung der Spitze, Prellung des Herzens mit besonderer Beteiligung der rechten Kammer und der Herzspitze im Sinne von flächenhaften Blutungen ins Fett- und Muskelgewebe, schwerster Zertrümmerung des linken Leberlappens und teilweise des rechten Leberlappens mit Eröffnung größerer Gefäße, weites Schußloch im linken Zwerchfell, Verschleppung von Trümmerstücken der Leber in die linke Brusthöhle und Verlagerung von Teilen des Netzes in das Schußloch der linken Brustkorbseite. {21} Lungenblähung, geringes Lungenödem, Blutatmung, Blutarmut der inneren Organe. Durchschuß des linken Unterschenkels mit Schußbruch des Schienenbeines. Der Einschuß liegt innen bzw. an der rechten Seite des linken Unterschenkels, der Ausschuß liegt außen bzw. an der linken Seite des linken Unterschenkels. Wadenbein unversehrt. Blutdurchsetzte Weichteile. Gewaltsame Einwirkung in Form eines Brustkorbdurchschusses und Unterschenkeldurchschusses liegt vor. Der Einschuß, u.a. charakterisiert durch einen entsprechenden deutlichen Schürfsaum, liegt 114 cm oberhalb Fersenhöhe und 18 cm rechts der von der Mittellinie in der vorderen Achselhöhlenlinie. Der Ausschuß, in dem sich ein Stück verlagertes Netzgewebe findet, liegt 109 cm oberhalb Fersenhöhe und 11 cm links von der Mittellinie in der Brustwarzenlinie, und zwar 12 cm unterhalb der linken Brustwarze. Die Schußrichtung verläuft bezogen auf den Körper von rechts nach links, von oben nach unten und von hinten nach vorn.

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Die Einschußöffnung hat einen Durchmesser von 6 mm. Danach zu urteilen, unter Einbeziehung der Elastizität der Haut, dürfte das Kaliber der verwendeten Waffe 7-8 mm betragen haben. Der Brustkorbdurchschuß mit Beteiligung der Bauchhöhle stellt die tödliche Verletzung dar. Diese Verletzung dürfte insbesondere durch die schwere Herzerschüttung (commotio und contusio cordis) und den Schock der ausgedehnten Leberzertrümmerung kaum eine geordnete Handlungsfähigkeit zugelassen haben. In der Regel kann bei solchen Verletzungen ein unmittelbares Zusammensacken des Körpers erwartet werden. Der Unterschenkeldurchschuß erfolgte ebenfalls von rechts nach links, d.h. aus etwa der gleichen Richtung wie der Brustkorbdurchschuß. Diese Verletzung, obwohl es zu einem Trümmerbruch des Schienenbeins gekommen ist, erlaubte bei dem noch intakten Wadenbein die Ausführung einiger unkontrollierter {22} schwankender Schritte."

D.

Würdigung

Vom Anklagevorwurf waren die Angeklagten aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen freizusprechen. Das ihnen zur Last gelegte vorsätzliche Tötungsdelikt konnte nicht nachgewiesen werden. Jedenfalls war den Angeklagten ein Tötungsvorsatz hinsichtlich einer vollendeten oder versuchten Tötung nicht zu beweisen. Die ihnen zur Last gelegte Tat hat sich zwar wie oben dargestellt zugetragen. Dies steht fest aufgrund der geständigen Einlassung der Angeklagten sowie der in der Beweisaufnahme gehörten Zeugen und Sachverständigen. Die Angeklagten handelten ohne Tötungsvorsatz. Im übrigen handelten sie auch nicht schuldhaft.

I.

[Subjektive Tatseite]

Die Feststellungen tragen nicht die Annahme, daß der Angeklagte S. oder Sch. jeweils bei der Abgabe der Schüsse aus ihrer Waffe mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt haben. Daß der Angeklagte S. nach Abgabe des ersten Feuerstoßes aus der Hüfte, jedenfalls aber bei der Abgabe eines weiteren Feuerstoßes über Kimme und Korn die Möglichkeit erkannt hat, daß sein Dauerfeuer den flüchtenden Kurt Lichtenstein töten könnte und daß er sich mit diesem Erfolg abgefunden hat, ist nicht mit der für eine Verurteilung notwendigen Sicherheit belegt. Zwar steht nicht fest, ob das Geschoß, das den flüchtenden Kurt Lichtenstein getroffen und die tödlichen Verletzungen verursacht hat, aus der Maschinenpistole des Angeklagten S. oder der Waffe des Mitangeklagten Sch. stammte. {23} Nach der die Kammer überzeugenden Beurteilung durch die Sachverständige Dr. L. ist folgender genauerer Hergang mit den gerichtsmedizinischen Feststellungen vereinbar und sogar insgesamt wahrscheinlich: Kurt Lichtenstein wurde zunächst im Unterschenkel getroffen, wobei ein Treffer durch den Karabiner (Sch.) nach dem Verletzungsbild wahrscheinlicher ist als ein Treffer durch die Maschinenpistole. Durch die Zerstörung der Tragkraft des Schienenbeins sackte Kurt Lichtenstein zusammen und konnte dann in dem dicht über dem Boden befindlichen Rumpf durch einen entsprechend tief gezielten Schuß getroffen werden. Gerade die Schilderung des gerichtsmedizinisch nicht vorge-

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bildeten S. über das von ihm beobachtete Kleinerwerden läßt seine Schilderung plausibel erscheinen und fugt sich nahtlos in die gerichtsmedizinischen Feststellungen. Unterstellt man danach im bewußten Gegensatz zum Grundsatz „in dubio pro reo", daß der Angeklagte S. die letztlich tödlichen Schüsse auf Kurt Lichtenstein abgegeben hat, so ließe sich gleichwohl allein aus der Erwägung, daß sich das Maß der Lebensgefahr für das Opfer durch die dem Angeklagten S. bekannte Streuwirkung der Waffe erhöht, nicht den Schluß auf einen bedingten Tötungsvorsatz ziehen. Aus der Gefährlichkeit des Dauerfeuers kann nur auf das Wissenselement, nicht aber auf das Wollenselement geschlossen werden (vgl. BGHSt 39, S. 168 (178)). Nach den Feststellungen ist zugunsten des Angeklagten S., der kein besonders guter Schütze war, davon auszugehen, daß er gerade zu dem Zweck „nach unten in den Dreck" gezielt hat, um die Tötung des Flüchtenden zu vermeiden. Einer Annahme, er habe mit dieser Art des Zielens das „Hochziehen" der Waffe nach rechts oben ausgleichen wollen, mithin den Flüchtenden treffen wollen, widersprechen die sonstigen Feststellungen. Die Zeugen Sch. haben bekundet, daß sie das Aufspritzen von Erde beobachtet haben und vor ihrem Fahrzeug die Gewehrkugeln „wie Knallfrösche gehopst" seien. Das am Wegesrand abgestellte {24} Fahrzeug des Kurt Lichtenstein wurde ebenfalls von einer Kugel getroffen, so daß die hintere Frontscheibe6 zersplitterte. Dem Angeklagten S. war es so viele Jahre nach diesem Ereignis augenscheinlich unangenehm, daß es auch Einschläge im Westen gegeben hat, obwohl dies ausdrücklich verboten gewesen ist. Daß die Geschosse im Westen niedergegangen sind und dabei auch das Fahrzeug des Kurt Lichtenstein getroffen haben, spricht auch fur die Einlassung des Angeklagten, er habe bewußt vor dem Flüchtenden in den Dreck geschossen. Der Flüchtende war zu dem Zeitpunkt, als sich der Angeklagte S. entschloß, gezieltes Dauerfeuer zu eröffnen, dem Kontrollstreifen bereits sehr nahe gekommen, so daß als Konsequenz aus der Eigenschaft der Waffe, nach rechts oben auszuwandern, Geschosse auch im Westen niedergehen mußten. Auch der Umstand, daß die Scheiben des PKW zertrümmert worden sind, spricht für die Darstellung des Angeklagten S., daß er vor Kurt Lichtenstein gezielt hat Hätte der Angeklagte auf den Kopf- und Oberkörper des Flüchtlings gezielt, hätten die Kugeln bei einer entsprechenden Geschoßbahn eher über das Fahrzeug fliegen müssen, sie wären bei einer nach oben auswandernden Waffe kaum in der ca. einen Meter über dem Boden befindlichen Scheibe eingeschlagen. Der Angeklagte Sch. hat sich dahingehend eingelassen, daß er bewußt in die Luft geschossen habe. Diese Einlassung war dem Angeklagten nicht zu widerlegen. Diese Aussage wird auch nicht durch den Bericht des Vorgesetzten V. vom 12. Oktober 1961 sowie der Zeugenaussage des Angeklagten Sch. vor der „Volkspolizei Klötze" widerlegt, wo er bekundet hat, gezielt geschossen zu haben. Aus diesen Angaben kann nicht ohne weiteres geschlossen werden, daß tatsächlich „gezielt" geschossen worden ist, denn es ist nicht auszuschließen, daß er die Darstellung zur Vermeidung von Nachteilen angab. Im übrigen darf die allgemeine Zuverlässigkeit von Berichten militärischer Dienststellen der DDR nicht überschätzt werden (BGH NJW 1994, S. 2708 ff.). {25} Der Sachverständige K. hat im Ergebnis seiner Exploration fur das Gericht schlüssig und nachvollziehbar ausgeführt, daß der Angeklagte Sch. sich als jemand darstellt, der nur relativ begrenzt im Rahmen seiner kognitiven Fähigkeiten denken und handeln

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kann. Es sei weiterhin zu beachten, daß dies der erste Grenzzwischenfall dieser Art gewesen sei. Insofern bestand für den Angeklagten kein Vorbild im Sinne eines Handlungsmusters, welches er hätte adaptieren und nachahmen können. Die Übungen eines Grenzzwischenfalles endeten jeweils damit, daß der „Grenzverletzer" entweder nach dem Anruf oder spätestens nach dem Warnschuß stehengeblieben ist. Um sein eigenes, internales Handlungsmuster in Sekundenschnelle verändern zu können, hätte es bei dem Angeklagten einer enormen Transferleistung bedurft. Hierfür gibt es jedoch keine konkreten Hinweise, die als Indiz für eine solche Fähigkeit gewertet werden können. Ganz im Gegenteil scheint die gesamte Lebensbiographie den Eindruck zu verstärken, daß die oben beschriebenen Transferleistungen nicht hätten erbracht werden können. Dieses Verhalten stehe auch nicht im Widerspruch zu den kurz zuvor ergangenen Schußwaffengebrauchsbestimmungen. Diese sind nur mündlich an die unteren Dienstgrade weitergegeben worden. Bei dieser mündlichen Weitergabe sind diese nur allgemein erläutert worden. Das bedeutet, daß kein neuer Handlungsrahmen bzw. kein neues Handlungsmuster vorgegeben worden ist, an welchem sich der Angeklagte Sch. hätte orientieren können. Aufgrund der getroffenen Feststellungen, wonach es am bedingten Tötungsvorsatz fehlt, unabhängig davon, welches Geschoß den flüchtenden Kurt Lichtenstein tödlich getroffen hat, kommt auch eine Verurteilung der beiden Soldaten im Sinne einer Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) nicht in Betracht. Man kann noch folgende Kontrollüberlegung in einem Gedankenexperiment anstellen: Wäre - was Annahmen zuungunsten der Angeklagten beinhalten würde, aber gerade mit dem von der {26} Sachverständigen Dr. L. als wahrscheinlich beurteilten Sachverhalt vereinbar wäre - von beiden Angeklagten auf den Körper von Lichtenstein gezielt worden, und zwar in der jeweiligen niedrigen Höhe über dem Erdboden, in der die Schüsse wahrscheinlich getroffen haben (d.h. bei dem Leberschuß eben gerade deutlich weniger als 114 cm über dem Erdboden, nämlich durch Treffen des bereits wegen des Unterschenkelschusses zusammengesackten Lichtenstein), so hätte auch gerade dann kein Tötungs-, sondern lediglich ein Körperverletzungsvorsatz vorgelegen; denn wer auf die Beine schießt, will gerade nicht töten, sondern fluchtunfähig machen.

II. [Rechtfertigungsgrund] Es kann für den vorliegend zu beurteilenden Fall dahingestellt bleiben, ob für den tödlichen Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze wirksame Rechtfertigungsgründe vorlagen. In Betracht käme allenfalls die Rechtfertigung eines Körperverletzungsdelikts oder einer fahrlässigen Tötung im Rahmen der Grenzsicherung zumindest für den Fall einer objektiv erkennbaren Gefahrenlage, wenn es sich - wie im vorliegenden Fall - um einen Grenzübertritt in Richtung DDR handelte (vgl. zu dieser Problematik: LG Magdeburg, DtZ 1995, S. 380 (381)).

III. [Schuld] Schließlich würde eine Verurteilung der Angeklagten auch am Erfordernis schuldhaft vorwerfbaren Verhaltens scheitern. Das Bundesverfassungsgericht hat - andere Ge-

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richte ... 7 gemäß § 31 BVerfGG bindend - in seinem Beschluß vom 24. Oktober 1996 (2 BvR 1851/94; 1853/94; 1875/94; 1852/94 8 ) [auf] S. 60 ff. ausgeführt, „... daß bei Tätern, die von einer anderen, nicht mehr bestehenden Rechts- und Gesellschaftsordnung geprägt sind und bei Ausführung der ihnen vorgeworfenen Taten auf verschiedenen Ebenen in ein System von Befehl und Gehorsam eingebunden waren, die Feststellung strafrechtlicher Schuld mit besonderer Sorgfalt zu {27} treffen ist." Das Bundesverfassungsgericht weist daraufhin, es sei nicht selbstverständlich, „daß sich dem durchschnittlichen Soldaten die richtige Grenze strafbaren Verhaltens zweifelsfrei erschließt, und es wäre unter dem Schuldgrundsatz unhaltbar, die Offensichtlichkeit des Strafrechtsverstoßes fur den Soldaten allein mit dem - objektiven - Vorliegen eines schweren Menschenrechtsverstoßes zu begründen; dann muß nämlich näher dargelegt werden, warum der einzelne Soldat angesichts seiner Erziehung, der Indoktrination und der sonstigen Umstände in der Lage war, den Strafrechtsverstoß zweifelsfrei zu erkennen." Im vorliegenden Fall wurde diese Problematik bereits im Ermittlungsverfahren von dem Amts- und Landgericht Lüneburg erörtert. Das Amtsgericht hat in seinem Beschluß vom 18. Juni 1963 (Az. 2 a Js 338/62) ausgeführt: „... besteht kein hinreichender Verdacht für die Annahme, daß die Beschuldigten entgegen den ihnen erteilten Weisungen und Befehlen von der Schußwaffe Gebrauch gemacht haben könnten. Daß diese Befehle für die Beschuldigten erkennbar schlechthin rechtswidrig seien, kann nicht unterstellt werden. Befehle an Bewachungseinheiten, von der Schußwaffe, außer im Falle des Angriffs, auch dann Gebrauch zu machen, wenn eine Aufforderung zum Stehenbleiben nicht beachtet wird, sind keineswegs ungewöhnlich." Das Landgericht hat in seiner Entscheidung vom 6. April 1964 (I Qs 164/63) ausgeführt: „Gleichwohl fehlt es an dem dringenden Verdacht einer strafbaren Handlung der beiden Beschuldigten. Die Strafbarkeit setzt ja nicht nur die objektive Rechtswidrigkeit der begangenen Tat voraus, sondern sie verlangt auch, daß die Täter schuldhaft gehandelt haben. Zum Schuldvorwurf gehört aber, daß die Täter das Unrechte ihres Tuns erkennen oder doch bei gehöriger Anspannung ihrer geistigen oder sittlichen Kräfte zu erkennen in der Lage waren (BGHSt 2, {28} 194). Ob diese Voraussetzungen bei S. und Sch. vorliegen, ist zweifelhaft. Über die Einstellung Sch.'s zum SBZ-Regime ist nichts bekannt. S. ist nach den übereinstimmenden Aussagen geflüchteter Kameraden stets durch seinen Diensteifer aufgefallen. Bei ihm handelt es sich offenbar um einen entschiedenen Anhänger des Regimes. Hinzu kommt, daß beide Beschuldigte junge Menschen sind, die ein anderes Herrschaftssystem mit Bewußtsein nicht erlebt haben, und daß Schießbefehle an Grenztruppen auch in Rechtsstaaten durchaus üblich sind. Es kann daher nicht ohne weiteres gesagt werden, daß S. und Sch. von der Rechtswidrigkeit des Schießbefehls wußten oder davon hätten wissen müssen, und damit ist ein dringender Tatverdacht im Sinne von § 112 StPO nicht gegeben." Erlassen hat schließlich die Haftbefehle das Oberlandesgericht Celle in seinem Beschluß vom 29. Juli 1964 (Az. 3 Ws 369/64) mit der Begründung, ... 9 daß auf der Grundlage der bisherigen Ermittlungen davon ausgegangen werden müsse, daß die Beschuldigten die Unrechtmäßigkeit ihres Tuns erkannt haben. Ob und in welchen Grenzen Verbotsirrtum oder Befehlsnotstand etwa doch in Frage komme, könne erst auf

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Grund etwa dahin abzielender Einlassungen der Beschuldigten geprüft werden (Bd II a, S. 228). Wenn schon Volljuristen in Gerichten der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar nach der Tat zu unterschiedlichen Beurteilungen der Rechtswidrigkeit bzw. Erkennbarkeit einer Rechtswidrigkeit gekommen sind, so kann von der Möglichkeit einer unzweifelhaften Erkenntnis über einen Strafrechtsverstoß durch die Angeklagten keine Rede sein. Diese waren weder juristisch vorgebildet, noch mit einer rechtsstaatlichen Rechtsund Werteordnung oder gar dem internationalen Recht vertraut. Vielmehr handelte es sich bei S. um einen durch Elternhaus und gesellschaftliches Umfeld indoktrinierten Angehörigen eines totalitären Staates, der keine akademische Ausbildung genossen hatte; und bei Sch. um einen allenfalls {29} norm[al]begabten und politisch desinteressierten Menschen. Danach steht außer Zweifel, daß beide Angeklagte ihr Handeln nicht als einen zweifelsfreien Strafrechtsverstoß erkennen konnten, selbst wenn man einen solchen aus heutiger Sicht unterstellen wollte.

Anmerkungen 1

2 3 4 5

6 7 8 9

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Es handelte sich um die „Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands" v. 26.5.1952 (DDR-GB1., S. 405). Sie ist abgedruckt bei Volker Koop: „Den Gegner vernichten." Die Grenzsicherung der DDR, Bonn 1996, S. 431. Die Polizeiverordnung ist auszugsweise abgedruckt bei Koop, aaO, S. 431. Vgl. Anhang S. 985f. Vgl. Anhang S. 983ff. Der Kompaniechef war ursprünglich im vorliegenden Verfahren mit angeklagt. Das Verfahren gegen ihn wurde jedoch abgetrennt und durch Beschluss des LG Stendal vom 19.5.1998 - Az. 503 Kls 654 Js 28228/97 - 12/97 gem. § 206a StPO wegen Verhandlungsunfáhigkeit eingestellt. Gemeint ist wohl die Heckscheibe. Auslassungszeichen im Original. Vgl. lfd. Nr. 15-3. Auslassungszeichen im Original.

Lfd. Nr. 9 Erschießung eines Ausländers nach vorschriftswidrigem Grenzübertritt an einer Grenzübergangsstelle - Fall Corghi 1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Gera vom 13.5.1994, Az. 400 Js 13276/92 - 2 Ks

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2.

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Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 15.2.1995, Az. 2 StR 513/94

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Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Gera vom 13.5.1994, Az. 400 Js 13276/92 - 2 Ks Gründe

335

I.

[Zusammenfassung des Anklagevorwurfs]

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II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

336

III. [Beweiswürdigung und rechtliche Würdigung] Anmerkungen

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Erschießung eines Ausländers nach Grenzübertritt - Fall Corghi

Landgericht Gera Az.: 400 Js 13276/92 - 2 Ks

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13. Mai 1994

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen Uwe Gotthard S. geb. 1956 verheiratet, Deutscher wegen Totschlags hat die 2. Strafkammer des Landgerichts Gera in den Sitzungen vom 2.05., 3.05., 4.05., 5.05. und 13.05.1994, an denen teilgenommen haben: Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. {2} fur Recht erkannt: [Der Angeklagte wird freigesprochen.] 1

Gründe I.

[Zusammenfassung des Anklagevorwurfs]

Mit der Anklage der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Gera vom 17.11.1992 wird dem Angeklagten vorgeworfen, am 5. August 1976 an dem früheren Grenzübergang Hirschberg/Saale als Heranwachsender einen Menschen getötet zu haben, ohne Mörder zu sein, gem. den §§ 112 Abs. 1 StGB/DDR, 212 Abs. 1, Abs. 2 und 3 StGB, Art. 315 EGStGB in der Fassung von Anlage I, Kapitel III, Sachgebiet C, Abschnitt II, Ziff. 1 b des Einigungsvertrages. Dem Angeklagten wird folgendes zur Last gelegt: Am 05.08.1976 gegen 03.30 Uhr ging der italienische Staatsangehörige Benito Corghi, nachdem er kurz zuvor mit dem von ihm geführten Kühllastzug die damalige DDRGrenzübergangsstelle Hirschberg passiert hatte, von der gegenüberliegenden BRDKontrollstelle Rudolphstein zu Fuß über die Autobahn zur Grenzübergangsstelle Hirschberg zurück, um noch Transportpapiere abzuholen, die er dort sollte liegengelassen haben. Von der ehemaligen DDR war diese Grenzübergangsstelle ausschließlich für den Kfz-Verkehr, nicht aber auch fur Fußgänger zugelassen. Die im Bereich der Grenzübergangsstelle eingesetzten Angehörigen der Sicherungskompanie der DDR-Grenztruppen waren angewiesen, Personen, die die Grenze unbefugt zu Fuß in Richtung Grenzübergangsstelle überschritten, festzunehmen, und zwar, wenn anders die Festnahme nicht möglich sei, äußerstenfalls durch gezieltes Schießen auf die Person des sogenannten „Grenzverletzers". {3}

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Der Angeklagte S., der damals in 600 Meter Entfernung von der Grenzlinie an der Autobahn bei der sogenannten Kfz-Rollsperre als Postenflihrer des dortigen Sicherungspostens 1 Dienst tat, erhielt vom sogenannten Kontrollpunkt in der Grenzübergangsstelle den Befehl, die zu Fuß nahende Person festzunehmen. Nachdem er Corghi, der sich inzwischen auf der - durch Peitschenleuchten ausgeleuchteten - Einreise-Fahrbahn näherte, bis auf 10-15 Meter an den Sicherungsposten hatte herankommen lassen, trat er gegen 03.46 Uhr, das leichte Maschinengewehr „Kalaschnikow" im Hüftanschlag, überraschend aus dem Dunkeln auf Corghi zu und forderte ihn sofort auf, stehenzubleiben und die Hände hochzunehmen. Als Corghi die mehrfache dahingehende Aufforderung nicht befolgte - auch nicht nach einem als Warnschuß gedachten kurzem Feuerstoß aus der Waffe - , sondern entlang dem Mittelstreifen in Richtung BRD zurückzulaufen versuchte, gab der Angeschuldigte, der an seinem Standort verblieben war, aus dem Stand, die Waffe jetzt im Schulteranschlag und mit Einzelfeuer, zunächst kurz nacheinander zwei Einzelschüsse in Richtung auf Corghis Beine ab, die jedoch kurz hinter diesem am Fahrbahnrand auftrafen; als Corghi trotzdem immer noch weiterlief, zielte der Angeschuldigte beim 3. Mal aus einer Entfernung von inzwischen 80 bis 90 Metern von hinten unmittelbar auf Corghis Rumpf. Mit diesem 3. Schuß wollte er entsprechend dem ihm erteilten Befehl auf jeden Fall verhindern, daß Corghi sich der angeordneten Festnahme durch Flucht entzog; dabei sah er es zumindest als möglich voraus, daß Corghi durch den Schuß nicht nur fluchtunfahig gemacht, sondern ungünstigenfalls sogar tödlich getroffen würde; trotzdem nahm er dies mindestens billigend mit in Kauf. {4}

II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

Die Hauptverhandlung hat zu folgenden Feststellungen gefuhrt: 1. Der zur Vorfallszeit 20 Jahre und 2 Monate alt gewesene Angeklagte arbeitete nach seiner Ausbildung zum Elektrosignalmechaniker noch bis April 1975 in dem erlernten Beruf. Im Mai 1975 wurde er im Alter von 19 Jahren zu den Grenzgruppen der Nationalen Volksarmee als Wehrpflichtiger eingezogen. Zu dem Dienst bei den Grenztruppen hatte er sich nicht freiwillig gemeldet, er wurde dorthin abkommandiert. Nach der halbjährigen Grundausbildung in Johanngeorgenstadt wurde er zur Grenzübergangsstelle in Hirschberg versetzt und dort als MG-Schütze eingesetzt. Er diente ab dem 31.10.1975 in dem 10. Grenzregiment des Grenzkommandos Mitte. Auf DDR-Seite befand sich der Grenzübergang Hirschberg, auf der Seite der Bundesrepublik Deutschland der Grenzübergang Rudolphstein. Dieser Grenzübergang wurde 1976 eröffnet und ausschließlich für den Kraftfahrzeugverkehr freigegeben. Auf der von der DDR-Seite gesehenen Einreisespur der Bundesautobahn A 9 befand sich etwa 600 Meter vor der Grenze, die auf der Saalebahnbrücke verlief, der Sicherungsposten 1 und die vom Grenzübergang Hirschberg aus fernbedienbare Kraftfahrzeug-Rollsperre. Für den Sicherungsposten 1 gab es ein zweistöckiges kleines Gebäude, das im oberen Teil verglast war. Auf der Ausreisespur befand sich oberhalb einer Böschung, etwa 150 Meter vom Sicherungsposten 1 Richtung Grenze entfernt, der Kontrollturm BT 6. Auf dem Gelände der Grenzübergangsstation Hirschberg stand der sogenannte Führungsturm, ein mehrstöckiges Gebäude. {5} Von diesem war die Grenzlinie und auch der Sicherungsposten 1 nicht einsehbar.

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Von der Grenzübergangsstelle Hirschberg bis zum Sicherungsposten 1 verläuft die Autobahn geradlinig, danach macht sie leicht ansteigend einen Bogen nach rechts. Vom Sicherungsposten 1 ist der Grenzverlauf und die Übergangsstelle Rudolphstein nicht einsehbar, jedoch vom Beobachtungsturm BT 6. Im Hinterland befand sich eine Kaserne, in der die sogenannte Alarmtruppe stationiert war. Diese Alarmtruppe wurde vom Führungsturm aus bei einer Grenzverletzung alarmiert. Sie sollte in etwa 7 Minuten an der Grenze sein. Auf dem Mittelstreifen der Autobahn, durch keine Leitplanken getrennt, standen von der Übergangsstelle Hirschberg bis zur Grenzlinie im Abstand von ca. 20 Meter Peitschenlampen mit nach links und rechts leuchtenden Lampen. Diese brannten - wie jede Nacht - auch zur Vorfallszeit. Der Dienst an dieser Stelle lief üblicherweise wie folgt ab: Der Postenturm und der Sicherungsposten waren jeweils mit zwei Soldaten besetzt, wobei einer von ihnen Postenfuhrer und der andere Posten war. Der Führungsturm war in der Regel mit zwei Offizieren besetzt, wobei einer von ihnen der diensthabende Offizier war. Die Postenpaare waren nicht immer dieselben, auch wurde stets neu bestimmt, wer Postenfuhrer bzw. Posten war. Jedesmal vor Dienstantritt wurden die Soldaten vom Zugführer vergattert und erhielten ihre Waffen. Diese Vergatterung bestand außer in der Einteilung, wer Postenführer bzw. Posten ist und wer auf dem Turm oder am Sicherungsposten Dienst hatte, vor allem darin, die Grenze zu sichern. Ihnen wurde klargemacht, daß jeder, der nicht ordnungsgemäß den Grenzübergang passiert, ein Grenzverletzer sei und festzunehmen ist. Ihnen wurde ferner erklärt, daß die Grenzverletzer, die aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland flüchten wollen, Kriminelle und Verräter {6} seien, denn es gäbe sonst keinen Grund, die DDR zu verlassen. Umgekehrt wurde den Soldaten eingeredet, wer aus der Bundesrepublik Deutschland in die DDR unerlaubt eindringe, sei Agent, Provokateur und Saboteur. Auch harmlos erscheinende Personen würden von der Bundesrepublik Deutschland geschickt, um die Aufmerksamkeit der Grenzsoldaten abzulenken, damit dann andere - Agenten und Saboteure - die Möglichkeit hätten, wenige Meter abseits die Grenze der DDR unbemerkt zu überwinden. Den Soldaten wurde immer wieder erklärt, die Bundesrepublik Deutschland beabsichtige, die DDR militärisch zu überfallen, was jede Minute geschehen könne. Diese Indoktrination der Soldaten wurde nicht nur bei den Vergatterungen wiederholt, sondern auch in dem regelmäßig stattfindenden politischen Unterricht. Damit die Grenzsoldaten diese Behauptung nicht überprüfen konnten, wurden ausschließlich solche Wehrpflichtige zum Grenzdienst abkommandiert, die keine Verwandten in der Bundesrepublik Deutschland hatten. Die Soldaten wurden aufgefordert, die Grenze so zu sichern, daß jeder Fluchtversuch zum Scheitern bestimmt ist. Bei einem Fluchtversuch sollte der Flüchtende zuerst mit dem Anruf: „Halt, stehen bleiben, Grenztruppen, Hände hoch!" zum Stehenbleiben aufgefordert werden. Sodann war ein Warnschuß abzugeben, anschließend sollte gezielt auf die Beine geschossen werden. Dies war auch in schriftlichen Befehlen niedergelegt. Im politischen Unterricht und auch bei der Vergatterung wurde den Soldaten immer wieder gesagt, daß eine Flucht auf „alle Fälle" zu verhindern sei. Der Grenzverletzer solle „vernichtet" werden, wenn dies die einzige Möglichkeit zur Verhinderung der Flucht sei. Obwohl von den Vorgesetzten in der Regel der Befehl, Flüchtlinge „zu erschießen", ausdrücklich nicht erteilt wurde, war klar, was mit „vernichten" gemeint war, nämlich der Todesschuß.

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Wurde eine Grenzverletzung nicht verhindert, wurde der Soldat wegen Dienstvergehen oder wegen Befehlsverweigerung zur Rechenschaft gezogen. {7} Die Schußwaffe durfte nur in bestimmten Schußsektoren benutzt werden. Damit sollte vermieden werden, daß Geschosse auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland gelangen. Am Grenzübergang Hirschberg waren die Soldaten mit der Maschinenpistole „Kalaschnikow" oder dem leichten Maschinengewehr „Kalaschnikow" ausgerüstet. Die Soldaten erhielten immer dieselben Waffen, mit denen sie auch übten. Nach Dienstschluß wurden die Waffen einem Waffenoffizier in der Waffenkammer übergeben. Nach Abschluß der Grundausbildung fanden zweimal im Jahr Schießübungen statt. Bei den Grenztruppen in Hirschberg wurde auf Schießplätzen auf feste und bewegliche Ziele geschossen. An den Übungen nahmen immer Gruppen teil. Geschossen wurde mit Einzel- und Dauerfeuer aus verschiedenen Entfernungen, wobei es darauf ankam, das Ziel zu treffen. Dieses klappte nach einem Treffer nach hinten weg. Ob und wo der einzelne Soldat das Ziel getroffen hatte, wurde nicht ermittelt. Das Schießen auf bestimmte Körperteile, z.B. die Beine, wurde nicht geübt. Erzielte die Gruppe ein gutes Ergebnis wurde die Gruppe - nicht der einzelne Soldat - gelobt. Bei guten Leistungen der Gruppe konnte der Soldat die Schützenschnur verliehen bekommen. Der Angeklagte erhielt erst nach dem Vorfall die Schützenschnur. Es ist nicht auszuschließen, daß er diese nicht wegen guter Leistungen beim Übungsschießen, sondern wegen der Tötung des Corghi erhalten hat. Die Tatwaffe stand dem Gericht als Beweismittel nicht zur Verfugung. Ob die Waffe noch existiert, ist unbekannt. Bei der Waffe, die der Angeklagte benutzte, handelte es sich um ein leichtes Maschinengewehr „Kalaschnikow" mit der üblichen Bezeichnung LMG-K im Kaliber 7,62 χ 39. Die Waffe wiegt ca. 5 kg, sie besitzt eine Visiereinrichtung zum Zielen. Für den {8} Grenzdienst war eine bestimmte Visiereinstellung nicht vorgeschrieben. Die Visiereinstellung war die Grundeinstellung, d.h. die Stellung 3. Mit dieser Einstellung wurden alle Entfernungen bis 300 m geschossen. Diese Einstellung hatte der Soldat nach Erhalt der Waffe im Beisein des Zugführers zu überprüfen. Ob die Visiereinstellung 3 an der Waffe des Angeklagten eingestellt war, wußte dieser nicht mehr. Auch ist nicht bekannt, ob ein Nachtvisier sich an diesem Tag an der Waffe des Angeklagten befand. Das „LMG Kalaschnikow" hat einen Sicherungshebel, mit dem zunächst von der Stellung „Sicherung" auf „Dauerfeuer" und dann weiter auf „Einzelfeuer" umgestellt werden konnte. Bei der Einstellung „Dauerfeuer" konnte ein kurzer Feuerstoß von 2-5 Schüssen abgegeben werden. Man konnte jedoch auch, solange man den Abzug durchgedrückt hielt, ununterbrochen schießen. Das leichte Maschinengewehr „Kalaschnikow" ist bei Einzelfeuer und beim ersten Schuß bei Dauerfeuer bei intakter Waffe und eingeschossenem Visier sehr zielsicher. Bei „Dauerfeuer" verreißt die Waffe nach dem ersten Schuß nach rechts oben. Dieses Verreißen wird umso stärker, je länger der Feuerstoß dauert. Ob das Visier an der Waffe des Angeklagten in Ordnung war oder z.B. durch einen eventuell vorhergegangenen Sturz auf den Boden leicht beschädigt war, ist nicht bekannt, da die Soldaten, so auch der Angeklagte mangels Übungsschießen auf eine Ziel-

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scheibe die Treffergenauigkeit ihrer Waffe nicht überprüfen konnten. Bei einer Einstellung von 100 Metern, einer Visiereinstellung 3 (= 300 Meter) verfehlt ein guter Schütze bei genau eingeschossener Waffe den Haltepunkt um höchstens 30 cm. Bewegt ein Schütze den Lauf der Waffe um 7 mm vom Haltepunkt „Oberschenkel" nach oben, so liegt der Trefferpunkt bei einer Entfernung von 80 Metern ca. 70 cm oberhalb des Haltepunktes, also im Schulterbereich. {9} 2. Am 5.08.1976 versahen der Angeklagte, der zur damaligen Zeit Gefreiter war, und der Zeuge Soldat B. Frühdienst am Sicherungsposten 1. Der Angeklagte war Postenfuhrer, der Zeuge B. Posten. Auf dem Kontrollturm BT 6 befand sich der Zeuge Unteroffizier Bo. als Postenfuhrer und ein weiterer nicht ermittelter Soldat als Posten. Im Führungsturm hielt sich als diensthabender Offizier der Zeuge Oberstleutnant M. und der Zeuge Unteroffizier A. als Zugführer auf. A. hatte deshalb im Führungsturm Dienst, weil der eigentliche Zugführer, ein Offizier, frei hatte. Gegen 3.30 Uhr begann es zu dämmern - 1976 gab es noch keine Sommerzeit - , von der Saale zog über die Brücke Dunst bzw. Nebel auf. Es regnete leicht. Gegen 3.00 Uhr war Corghi mit einem Kühlwagen-LKW aus der DDR kommend in den Grenzposten Rudolphstein eingefahren. Ein nachkommender LKW-Fahrer teilte dem Corghi und den westdeutschen Zöllnern mit, daß Corghi zurückkommen solle, um vergessene Papiere zu holen. Auch dem im Führungsturm befindlichen Zeugen M. war von Grenzbehörden der DDR mitgeteilt worden, daß ein italienischer LKW-Fahrer Papiere vergessen habe und daß dieser zurückkommen solle. Corghi entschloß sich, zu Fuß auf der Einreisespur auf der Autobahn zur Grenzübergangsstelle Hirschberg zurückzugehen. Der Zeuge Bo. konnte vom Kontrollturm BT 6 aus sehen, daß sich eine Person der Grenzlinie auf der Saaletalbrücke näherte. Dies teilte er telefonisch dem Zeugen A. und dieser wiederum mündlich dem Zeugen M. mit. Diese fernmündliche und auch die folgenden femmündlichen Meldungen wurden von dem Angeklagten und dem Zeugen B. im Sicherungsposten 1 mitgehört. Der Zeuge M. befahl mündlich dem Zeugen Α., {10} daß die sich nähernde Person zu beobachten sei und, sobald sie die Grenze überschreiten würde, erneut Mitteilung zu machen sei. Diesen Befehl gab der Zeuge A. an den Zeugen Bo. weiter. Als Corghi die Grenzlinie überschritten hatte, teilte der Zeuge Bo. dies dem Zeugen A. mit. Dieser wiederum übermittelte den Tatbestand dem Zeugen M. Obwohl M. in diesem Moment dachte, daß die die Grenzlinie überschreitende Person wohl der italienische Kraftfahrzeugfahrer sei, erteilte er dem Zeugen A. den Befehl, den Corghi als Grenzverletzer mit allen Mitteln festnehmen zu lassen. Der Zeuge A. teilte diesen Befehl dem Sicherungsposten 1, dem Angeklagten und dem Zeugen B. mit. Der Zeuge Bo. hatte inzwischen vom Beobachtungsturm aus erkannt, daß es sich um eine männliche Person handelte, die in der einen Hand eine Zigarette und in der anderen eine Aktentasche hielt. Der Angeklagte hatte dem Zeugen B. den Befehl erteilt, im oberen Teil des Sicherungsgebäudes Posten zu beziehen und sich zunächst verdeckt zu halten, er hatte die Aufgabe, ihn, den Angeklagten, abzudecken. Der Angeklagte selbst blieb hinter dem Sicherungspostengebäude im Dunkeln versteckt stehen. Dies entsprach der allgemeinen Befehlslage. Kurz danach erkannte auch der Zeuge B., daß es sich um eine männliche Person mit Zigarette und Aktentasche handelte. Den Soldaten war der Befehl erteilt, eine

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festzunehmende Person nicht näher als Handgranatenwurfweite an sich herankommen zu lassen. Als Corghi sich ca. 10-15 Meter dem Sicherungsposten genäherte hatte, trat der Angeklagte aus dem Dunkel des Hauses hervor und rief Corghi mit den Worten: „Halt, stehen bleiben, Grenzposten, Hände hoch!" an. Der Angeklagte erkannte, daß Corghi in der einen Hand eine Zigarette hielt und in der anderen Hand etwas anderes. Er erkannte nicht, daß es sich um eine Aktentasche handelte. { 1 1 } Aufgrund dieses Anrufes blieb Corghi stehen, warf die Zigarette weg und begann, auf den Angeklagten einzureden. Dies verstand der Angeklagte nicht, vermutlich weil Corghi in italienischer Sprache redete. Der Angeklagte forderte den Corghi erneut auf, die Hände hoch zu heben. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Angeklagte die „Kalaschnikow" entsichert, durchgeladen und hielt sie mit der rechten Hand im Hüftanschlag. Mit der linken Hand hob er die Hand, um somit dem Corghi zu zeigen, daß dieser die Hände heben sollte. Daraufhin drehte sich Corghi um und begann normalen Schrittes zurück in Richtung Bundesrepublik Deutschland zu laufen. Der Angeklagte rief erneut: „Stehen bleiben, Grenzposten, Hände hoch!" und schoß gleichzeitig im Winkel von 9 0 [Grad] auf eine gegenüberliegende Felswand bzw. Böschung. Er gab einen kurzen Feuerstoß von mindestens 2 Schuß ab. Zu diesem Zeitpunkt war das leichte Maschinengewehr „Kalaschnikow" auf Dauerfeuer eingestellt. Corghi begann nunmehr schnelleren Schrittes zu gehen. Der Angeklagte rief erneut: „Halt, stehen bleiben!", stellte den Sicherungshebel auf „Einzelfeuer" um und setzte die Waffe an. Ohne einen bestimmten Punkt auf dem Asphalt anzuvisieren, schoß er hinter dem Corghi auf den Boden. Er sah das Geschoß hinter Corghi auf den Boden aufspritzen. Der Angeklagte nahm die Waffe ab und rief nun: „Mensch bleib doch stehen, halt a n ! " Corghi begann nun zu rennen. Corghi lief schräg, aber geradlinig zum Mittelstreifen, wohl um die leichte Biegung der Autobahn abzukürzen. Die Ausreisespur der Autobahn wird an dieser Stelle von einer Böschung begrenzt. Der Angeklagte setzte die Waffe erneut an und schoß einen weiteren Warnschuß ungezielt hinter den Angeklagten auf den Asphalt. Als auch daraufhin sich Corghi nicht umdrehte, sondern auf weiteres Rufen immer schneller lief, setzte der Angeklagte die Waffe erneut an und zielte auf die Oberschenkel des Corghi. Er gab einen Schuß ab. In diesem Moment { 1 2 } drehte sich Corghi über seine rechte Schulter nach hinten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Corghi etwa 8 0 - 1 0 0 Meter vom Angeklagten entfernt. Das Geschoß drang im Rücken rechts 147 cm von der Fußsohle und 11 cm rechts von der Wirbelsäule in den Rücken ein. Der Schußkanal verlief nach links seitwärts, nur wenig ansteigend durch die Rippenmuskulatur, zerstörte die Wirbelsäulenbögen des 7. Halswirbels und des 1. Brustwirbels, öffnete den Wirbelkanal und zertrümmerte die wirbelsäulennahen Anteile der 1. und 2. Rippe links, zerriß das Rippenfell, setzte sich auf der Spitze des linken Lungenoberlappens fort und endete auf der Schulterhöhe links 148 cm oberhalb der Fußsohle und 16 cm links neben der Mittellinie. V o m Geschoß getroffen, stürzte Corghi, die Hände hochreißend, die Tasche wegwerfend nach vorne auf die Asphaltautobahn in der Nähe des Mittelstreifens. Durch den Sturz zog sich Corghi eine stark blutende Platzwunde oberhalb der Nasenwurzel auf der Stirn zu. Die Wunde im Rücken blutete zunächst nach innen, bevor Blut nach außen in

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die Kleidung eindrang. Da durch den Schuß auch Rückenmark verletzt wurde, war dieser tödlich. Der Tod des Corghi trat wenige Minuten nach dem Schuß ein. Obwohl dem Angeklagten nach der Befehlslage verboten war, seinen Posten zu verlassen, lief er sofort zu dem Gestürzten hin. Da er im Rücken keinerlei Verletzungen sah, drehte er ihn um. Der Angeklagte bemerkte nun die stark blutende Wunde auf der Stirn und dachte zunächst, er habe ihn in den Kopf getroffen. Er fühlte den Kopf ab, fand aber keinen Einschuß. Er verband die Platzwunde mit dem zu seiner Ausrüstung gehörenden Verbandsmaterial. Er lief zurück zum Zeugen B. und rief ganz aufgeregt, es solle sofort die dringende medizinische Hilfe alarmiert werden. Dies tat auch der Zeuge B. Ob der Angeklagte nochmals zu Corghi hinlief und sich um ihn kümmerte, konnte mit {13} Sicherheit in der Hauptverhandlung nicht festgestellt werden. Kurze Zeit nach dem Schuß erschien die Alarmtruppe unter Führung des Alarmgruppenfuhrers, des Zeugen Sch. Dieser war unmittelbar nach dem Grenzüberschreiten Corghis alarmiert worden. Obwohl der Angeklagte den Alarmgruppenfuhrer anschrie, sich um den Verletzten zu kümmern, zog die Alarmtruppe, bestehend aus dem Zeugen Sch., einem Fahrer und noch 2-4 weiteren Soldaten, Corghi von der Fahrbahn weg auf ein etwas höher liegendes Gelände neben der Autobahn. Dabei wurden dem Corghi Schürfwunden an den Händen zugefugt. Erst dann wurde von dem LKW eine Bahre geholt, Corghi daraufgelegt, in den LKW verbracht und zur Kaserne gefahren. Der sachverständige Zeuge Dr. Oehlemann versah in dieser Nacht im 20 km entfernten Krankenhaus Schleiz seinen Dienst. Er wurde über die dringende medizinische Hilfe und als Notfallarzt angefordert. Gegen 4.30 Uhr kam der sachverständige Zeuge Dr. Oehlemann zur Kaserne. Er fand Corghi auf der Ladefläche eines Militärlastkraftwagens vor. Corghi lag auf dem Rücken auf Decken. Ob sich unter den Decken noch eine Trage befand, konnte der sachverständige Zeuge nicht feststellen. Der Lastkraftwagen stand auf dem Hof vor einer Garage. Die Ladefläche des LKW war nicht beleuchtet. Mittels einer Taschenlampe durfte der sachverständige Zeuge Dr. Oehlemann Corghi nur oberflächlich untersuchen. Er stellte sofort fest, daß er einen Toten vor sich liegen hatte. Dies stellte er an den lichtunempfindlichen weiten runden Pupillen fest. Er spürte keine Atmung mehr und mittels Stethoskop, man hatte ihm lediglich erlaubt, das Hemd des Corghi zu öffnen, stellte er auch keinen Herzschlag mehr fest. Auf dem von ihm ausgestellten Totenschein schrieb er als Todesart: „Ungeklärt" und als Todesursache: „Tod durch Herzmuskelinfarkt?". An äußeren Verletzungen stellte er lediglich eine frische Platzwunde über der Nase auf der Stirn fest, da der vom Angeklagten angelegte Verband verrutscht war. Anschließend wurde der LKW mit Corghi in eine schuppenähnliche Baracke verbracht. {14} Am selben Abend wurde Corghi in der Universitätsklinik Jena durch den Sachverständigen Prof. Dr. Kinzl, damals noch Assistenzarzt, und die inzwischen emeritierte Professorin Frau Dr. Christiane Kerde obduziert. Dabei wurden die beschriebenen Verletzungen und die Todesursache festgestellt. Der Angeklagte, der nach dem Schuß völlig aufgelöst war und zitterte, wurde auf Veranlassung des Kompaniechefs Major Sc. sofort vom Dienst am Sicherungsposten abgelöst. Als er im Laufe des Tages erfuhr, daß Corghi verstorben sei, betonte er ge-

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genüber den Zeugen B. und damaligen Vernehmungspersonen immer wieder, er habe nur auf die Beine gezielt. Kurze Zeit danach wurden der Angeklagte und der Zeuge B. zunächst zum Grenzkommando Plauen und alsbald danach zum Sicherungszug Gutenfurst versetzt, wo der Angeklagte bis zum Ende seiner Dienstzeit verblieb. Noch in Plauen erhielten sie - wie üblich - die Medaille für Vorbildlichen Grenzdienst und eine Geldprämie von 250,- DM. Der Angeklagte leidet bis heute unter dem Tod von Corghi. Eine Zeit lang war er deshalb alkoholabhängig. Seine Aussage in der Hauptverhandlung mußte mehrfach unterbrochen werden, weil er unter Tränen nicht weiterreden konnte. Der Angeklagte wurde am 5.09.1991 festgenommen und befand sich vom 6.09.1991 in Untersuchungshaft. Diese Feststellungen beruhen auf den Angaben des Angeklagten, den Bekundungen der eidlich vernommenen Zeugen B., Bo., Α., M., G. und Sch., dem sachverständigen Zeugen Dr. med. Oehlemann, der als Zeuge vereidigt wurde, dem Gutachten und Angaben des {15} Prof. Dr. med. Kinzl, der sowohl als Sachverständiger als auch als Zeuge vereidigt wurde, dem Gutachten des unvereidigt gebliebenen Sachverständigen für Waffen WOR Nennstiel. Die vom Sachverständigen WOR Nennstiel mitgebrachte Waffe LM[G] „Kalaschnikow" sowie die Munition wurde in Augenschein genommen. Lichtbilder und Skizzen wurden, wie aus dem Sitzungsprotokoll ersichtlich, in Augenschein genommen. Die polizeiliche Vernehmungsniederschrift des verstorbenen Zeugen Sc. wurde verlesen.

III. [Beweiswürdigung und rechtliche Würdigung] Der Angeklagte, die Zeugen B. und Bo. haben den Sachverhalt, so wie er festgestellt wurde, bestätigt. Erst als der Zeuge A. auf eindringlichen Vorhalt einräumte, von dem Zeugen M. den Befehl erhalten zu haben, den Grenzverletzer mit allen Mitteln festnehmen zu lassen, gab auch der Zeuge M. zu, diesen Befehl erteilt zu haben. Der Zeuge A. räumte ein, diesen Befehl auch dem Sicherungsposten 1, d.h. dem Angeklagten, weitergegeben zu haben. Der Zeuge M. räumte schließlich auch ein, gewußt zu haben, daß ein italienischer LKW-Fahrer von der bundesrepublikanischen Grenzstation wieder zurückkommen werde, um Papiere zu holen. Er räumte ferner ein, daß er, als ihm mitgeteilt wurde, eine Person nähere sich der Grenze, es fur möglich gehalten habe, daß dies der italienische LKW-Fahrer sei. Der Schußwaffensachverständige WOR Nennstiel hat die Funktion und Eigenschaft des Leichtmaschinengewehrs „Kalaschnikow" erklärt. Die von ihm als Demonstrationsobjekt verwendete Waffe {16} wurde in richterlichen Augenschein genommen. Der Sachverständige hat ausgeführt, daß die Waffe - sofern sie im technisch einwandfreiem Zustand ist - bei Einzelfeuer sehr treffsicher ist und ein geübter Schütze den Haltepunkt um höchstens 30 cm verfehlen könne. Dies gelte jedoch nur beim Schießen auf dem Schießstand, optimalen Sicht- und Wetterverhältnissen und bei einem streßfreien Schützen. Wenn ein Schütze bei einer Entfernung von 80 Metern den Lauf der Waffe um 7,3 mm nach oben verreißt, fuhrt das zu einer Abweichung von ca. 75 cm vom Haltepunkt.

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Der Angeklagte läßt sich ein, er habe Corghi nicht töten wollen, er habe nur auf die Oberschenkel gezielt. Dem Angeklagten war nicht nachzuweisen, daß er auf den Rükken des Corghi gezielt hat. Zwar weist der Typ der Waffe leichtes Maschinengewehr „Kalaschnikow" bei Einzelfeuer eine sehr hohe Treffsicherheit auf. Ob dies auch bei der vom Angeklagten benutzten Waffe zutraf, konnte das Gericht nicht überprüfen, da die Waffe dem Sachverständigen nicht zur Verfügung stand. Wie der Sachverständige ausführte, kann eine unsachgemäße Behandlung der Waffe, z.B. ein Sturz der Waffe zu Boden, zu einer geringen Verschiebung der Visiereinrichtung und damit zu einer Veränderung der Zielgenauigkeit fuhren. Ein solcher Defekt an der Waffe wäre für den Angeklagten auch nicht erkennbar gewesen, da mit dieser Waffe kein Zielschießen bei den Schießübungen geübt wurde. Auch bei den beiden Schüssen hinter Corghi auf den Asphalt der Autobahn wäre ein solcher Defekt an der Waffe für den Angeklagten nicht erkennbar gewesen, da er keinen festen Punkt auf dem Asphalt anvisiert hatte, sondern den Lauf der Waffe lediglich mit einem nicht mehr feststellbaren Abstand hinter Corghi gehalten hatte. Ein fehlerhaftes Visier kann deshalb schon den Trefferpunkt an der Schulter des Corghi verursacht haben. {17} Desweiteren sind die von der Testperson „Guter Schütze" mit der Waffe aus der Sammlung des Bundeskriminalamtes erzielten Ergebnisse nicht auf den Angeklagten zu übertragen. Zum einen steht nicht fest, daß der Angeklagte ein guter Schütze war, da er die Schützenschnur erst nach dem Vorfall erhalten hatte. Ferner hatten die Testpersonen genügend Zeit, sich auf das Testschießen einzustellen. Das Testschießen fand unter optimalen äußeren Bedingungen statt. Die Testpersonen standen unter keinem Streß. Auch hat der Sachverständige Nennstiel eingeräumt, daß mit nur einer Testperson mit der Qualifikation „guter Schütze" ein repräsentatives Ergebnis nicht erreicht werden kann. Dazu sind 20-25 Personen erforderlich. So viele „gute Schützen" standen für das Testschießen nicht zur Verfügung. Die Soldaten an der Grenze hofften dagegen immer, daß der sogenannte Ernstfall nicht eintreten werde. Bis zum Vorfallstag war auch während der Dienstzeit des Angeklagten kein Gebrauch von der Schußwaffe gemacht worden. Als nunmehr der Ernstfall für den Angeklagten eintrat, war dies für ihn eine völlig neue Situation. Zwar hatten schon Personen zu Fuß über die Autobahn die Grenze passiert. Diese wurden festgehalten und nach Feststellung ihrer Personalien und der Gründe, warum sie die Grenze überschritten hatten, wieder in die Bundesrepublik Deutschland zurückgeschickt. Jedoch geschah auch dies nicht während der bisherigen Dienstzeit des Angeklagten. Als Corghi sich nun auf die Aufforderung stehen zu bleiben umdrehte und sich anschickte zurückzugehen, auf Warnschüsse und vielfaches Anrufen nicht reagierte, sondern immer schneller {18} weglief, geriet der Angeklagte in eine Streßsituation, auf die er nicht vorbereitet war, zumal Corghi drohte, aus seinem Schußsektor zu laufen. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, daß der Angeklagte beim Zielen auf die Oberschenkel vor Aufregung den Lauf der Waffe um etwa 7 mm nach oben verriß und Corghi ungewollt an der Schulter traf. Auch waren die Sichtverhältnisse nicht besonders

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gut. Zwar war die Autobahn durch die Peitschenlampen gut beleuchtet. Es herrschte jedoch regnerisches, diesiges Wetter. Corghi lief dazu schräg über die Autobahn auf den Mittelstreifen zu. Vor ihm befand sich ein Hang, d.h. für den Angeklagten stellte sich der Hintergrund dunkel dar. Das Verhalten des Angeklagten nach dem Schuß spricht dagegen, daß er Corghi töten wollte. Zum einen lief er sofort entgegen dem Befehl, den Sicherungsposten auf keinen Fall zu verlassen, zu dem gestürzten Corghi hin, um diesem zu helfen. Er war danach so aufgeregt und zitterte, daß er vom Sicherungsposten abgelöst werden mußte. Als er vom Tod Corghis erfuhr, erklärte er sofort mehreren Personen, er habe nur auf die Beine gezielt. Der Angeklagte leidet bis heute unter der Tatsache, einen Menschen getötet zu haben. Ein solches Verhalten zeigt kein Mensch, der mit Vorsatz einen anderen Menschen getötet hat. Zwar weiß jeder, der mit einer Schußwaffe auf die Oberschenkel eines Menschen schießt, daß dieser Schuß dessen Tod zur Folge haben kann, wenn z.B. eine Hauptschlagader so zerfetzt wird, daß sie nicht mehr reparierbar ist. Jedoch muß zum bedingten Vorsatz eines Täters dieser den vorstellbaren Erfolg auch billigend in Kauf genommen haben. Dieses Wollenselement ist ein innerer Vorgang, der nur durch äußere Umstände nachgewiesen werden kann. Nach den oben aufgeführten äußeren Umständen konnte die Kammer dem Angeklagten seine Einlassung, er habe den Tod Corghis nicht gewollt, nicht widerlegen. Die Einlassung des Angeklagten ist vielmehr glaubhaft. {19} Der Angeklagte war aus tatsächlichen Gründen mangels Beweises vom Vorwurf des Totschlags freizusprechen. Nach den getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte jedoch den Tatbestand einer Körperverletzung mit Todesfolge gem. § 226 StGB, § 117 StGB/DDR verwirklicht. Nach dem Gesetz über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten vom 26.03.1993 ist die Körperverletzung nicht verjährt. Diese Tat wurde während des Bestehens der DDR als typische DDR-Unrechtstat nicht verfolgt. Die Eingriffsbefugnisse der Grenztruppen gegenüber sogenannten Grenzverletzern waren zur Tatzeit allgemein normiert. In Abschnitt VI der Anordnung Nr. 1 über die Ordnung von Grenzgebieten und Territorialgewässern der Deutschen Demokratischen Republik vom 15.06.1972 in der Fassung der Anordnung Nr. 2 vom 24.07.1974 war in § 56 Abs. 2 die Anwendung von Hilfsmitteln zur Verhinderung von Fluchtversuchen geregelt. Die Anwendung der Schußwaffe durch Angehörige der Grenztruppen war nur nach den entsprechenden militärischen Bestimmungen des Ministers für Nationale Verteidigung zulässig. Die zugehörige einschlägige militärische Dienstvorschrift war die DV-018/0/008 Einsatz der Grenztruppen zur Sicherung der Staatsgrenze - Grenzkompanie - in Kraft seit dem 1.12.1974 mit ihrem Abschnitt X - Gebrauch der Schußwaffe - . Den Schußwaffengebrauch, speziell bei Festnahme, regelte die Nr. 210 Abs. 1 und Abs. 2 Buchstabe f. Nr. 210 Abs. 1 lautete: „Der Gebrauch der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Schußwaffen dürfen nur angewendet werden, wenn die körperliche Einwirkung ohne oder mit Hilfsmitteln erfolglos blieb oder offensichtlich keinen Erfolg verspricht." Absatz 2 lautete: 344

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„Von der Schußwaffe darf nur auf Befehl des {20} Vorgesetzten oder auf eigenen Entschluß der zum Grenzdienst eingesetzten Kräfte Gebrauch gemacht werden", und zwar unter Ziffer f: „zur Festnahme von Personen, die dem Aufruf oder der Aufforderung des Grenzpostens nicht Folge leisten und offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu durchbrechen und alle anderen Mittel und Möglichkeiten zur Festnahme oder Verhinderung der Flucht erschöpft sind".2 Der getötete Corghi versuchte aber nicht die Staatsgrenze der DDR zu durchbrechen, sondern überschritt die für den (PKW-)Grenzverkehr offene Grenze, um vergessene Papiere abzuholen. Der Befehl des Zeugen M., den Fußgänger Corghi als Grenzverletzer mit allen Mitteln festzunehmen, verstieß daher gegen die oben genannten Vorschriften. Bei mit Tötungsvorsatz erfolgtem Schießen auf Flüchtlinge, die von einem Staat in einen anderen Staat flüchten wollten, ist der Strafrechtsverstoß, d.h. der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot - auch bei einem indoktrinierten Soldaten - ohne weiteres einsichtig. Diese Voraussetzungen waren hier bei einem Schießen auf Beine, dem kein Tötungsvorsatz zugrunde lag, nicht gegeben. Zwar handelte es sich bei Corghi nicht um einen Menschen, der von der DDR in die Bundesrepublik Deutschland flüchten wollte, sondern um einen Menschen, der von der Bundesrepublik Deutschland in die Deutsche Demokratische Republik wollte und dann wieder zurück. Das war auch dem Angeklagten erkennbar. Im Interesse der militärischen Disziplin und wegen des Drucks, den ein militärischer Befehl auf Untergebene ausübt, sind an die Annahme der Offensichtlichkeit im Sinne des § 5 Abs. 1 Wehrstrafgesetzbuch hohe Anforderungen zu stellen. Der Soldat hat keine Prüfungspflicht. Hegt er Zweifel, die er nicht beheben kann, so darf er dem Befehl Folge leisten. {21} Dem Angeklagten war im politischen Unterricht und den Vergatterungen immer wieder eingeredet worden, daß auch derjenige, der als harmlos erscheinende Person die Grenze in Richtung DDR verletzt, ein gefährlicher bewaffneter Agent, Saboteur oder Provokateur sein kann. Dies mußte sich dem Angeklagten umsomehr aufdrängen, als Corghi, allen Warnungen und Warnschüssen zum Trotz, immer schneller lief und somit versuchte, sich der Festnahme zu entziehen. Entscheidend ist, daß der Verstoß gegen das Strafrecht für den Angeklagten nicht derart auf der Hand lag, daß er für einen durchschnittlichen Soldaten mit dem Informationsstand des Angeklagten ohne weiteres Nachdenken einsichtig war. Der Angeklagte hat daher gem. § 5 Abs. 1 WStG, § 258 Abs. 1 StGB-DDR ohne Schuld gehandelt. Der Angeklagte war deshalb insoweit aus rechtlichen Gründen von dem Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge freizusprechen.

Anmerkungen 1 2

Der Tenor fehlt im Original. Das Zitat entspricht nicht ganz dem Originalwortlaut, vgl. den Abdruck im Anhang auf S. 994ff.

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Inhaltsverzeichnis Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 15.2.1995, Az. 2 StR 513/94 Gründe

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I.

[Das Urteil der Strafkammer]

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II.

[Zu den Sachrügen]

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Anmerkungen

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Bundesgerichtshof Az.: 2 StR 513/94

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15. Februar 1995

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen Uwe Gotthard S. geboren 1956 wegen Totschlags {2} Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 15. Februar 1995, an der teilgenommen haben: Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® für Recht erkannt: {3} Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Gera vom 13. Mai 1994 wird verworfen. Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten im Revisionsverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer Revision gegen den Freispruch des Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags. Das auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Rechtsmittel, das der Generalbundesanwalt nicht vertritt, hat keinen Erfolg.

I.

[Das Urteil der Strafkammer]

1. ® Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen. ® 2. Das Landgericht hat ein vorsätzliches Tötungsdelikt verneint, da der Angeklagte nach den festgestellten Umständen den Tod des Corghi weder gewollt noch in Kauf genommen habe. Es hat aber ein Verbrechen der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226 StGB; § 117 StGB/DDR) angenommen. Der Befehl des Offiziers auf dem Kontrollturm habe gegen die Vorschriften über den Einsatz der Dienstwaffe verstoßen, da der später Getötete kein Grenzverletzer gewesen {7} sei. Für den Angeklagten sei aber nicht erkennbar gewesen, daß er diesem Befehl nicht hätte Folge leisten dürfen. Er habe daher schuldlos gemäß § 5 Abs. 1 WStG, § 258 Abs. 1 StGB/DDR1 gehandelt. 3. Die beschwerdeführende Staatsanwaltschaft erstrebt eine Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge und meint, der Schußwaffengebrauch sei völlig unverhältnismäßig gewesen. Der Angeklagte hätte die offensichtliche Rechtswidrigkeit

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des ihm erteilten Befehls erkennen und andere Mittel zur Bewältigung der Situation in Erwägung ziehen müssen.

II. [Zu den Sachrügen] Das Urteil hält den Angriffen der Revision stand. Die Verneinung eines vorsätzlichen Tötungsdelikts beruht auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung. Danach wollte der Angeklagte nur auf die Beine schießen, die Zielabweichung ist mit den Eigenheiten der benutzten Waffe, den Sichtverhältnissen und der seelischen Belastung des Angeklagten zu erklären. Zutreffend wertet das Landgericht das Verhalten des Angeklagten objektiv und subjektiv als Körperverletzung mit Todesfolge. Ebenfalls ohne Rechtsverstoß bejaht es die Voraussetzungen eines Schuldausschließungsgrundes gemäß § 5 Abs. 1 WStG, der inhaltlich § 258 Abs. 1 StGB/DDR entspricht (BGHSt 39, 168, 1852). {8} Danach trifft einen auf Befehl Handelnden eine Schuld nur, wenn er erkennt, daß es sich um eine rechtswidrige Tat handelt oder dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist. Der Strafrechtsverstoß ist nur offensichtlich, wenn er jenseits aller Zweifel auf der Hand liegt; eine Prüfungspflicht obliegt dem Soldaten nicht (BGHSt 39, [1], 33 3 ; 39, 168, 185, 189; BGH NStZ 1993, 488; 1994, 330, 331 4 ; BGH, Urt. v. 26. Juli 1 9 9 4 - 5 StR 167/94 zum Abdruck in BGHSt 40, 241 f. vorgesehen 5 ). Die Beweiswürdigung belegt, daß der Angeklagte die Rechtswidrigkeit des ihm erteilten Befehls, den (angeblichen) Grenzverletzer festzunehmen, nicht erkannt hat. Der Angeklagte war, wie es auch seiner dienstlichen Rangordnung entsprach, in die zwischen dem auf dem Führungsturm befindlichen diensthabenden Offizier und den Grenzbehörden der DDR geführten Gesprächen über den italienischen LKW-Fahrer nicht eingebunden. Er wußte nicht, daß eine Person zu Fuß die Grenze überschreiten würde, die zur Rückkehr aufgefordert worden und deshalb nicht als Grenzverletzer zu betrachten war. Bekannt waren ihm nur die Gespräche zwischen dem Führungsturm und dem Kontrollturm (UA S. 9/10). Daraus konnte er nur entnehmen, daß eine Grenzverletzung vom Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus bevorstand. Als er dann den Befehl erhielt, die sich nähernde Person festzunehmen, bestand fur ihn somit kein Anlaß, abweichend von der ihm bekannten und immer wieder mitgeteilten Befehlslage vorzugehen. Die von der Revision in diesem Zusammenhang gegen das Urteil erhobenen Einwendungen sind nicht begründet. Der Senat vermag keine Lücken oder Mängel in der Beweiswürdigung des Landgerichts zu erkennen. {9} Es war für den Angeklagten auch nicht offensichtlich, daß der Befehl des diensthabenden Offiziers zur Festnahme rechtswidrig war. Die Feststellungen tragen damit die Annahme des Schuldausschließungsgrundes gemäß § 5 Abs. 1 WStG. Die Anwendung unmittelbaren Zwanges im Grenzbereich einschließlich des Gebrauchs von Schußwaffen ist grundsätzlich rechtlich nicht zu beanstanden, wenn dies auf der Grundlage von Regelungen, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar sind, erfolgt, um die Flucht möglicher Rechtsbrecher zu verhindern (vgl. BGHSt 35, 379 f. mit Anm. Dölling JR 1990, 170; vgl. aber auch BGHSt 39, [1], 21, 22). Der Einsatz der Schußwaffe gegen eine Person, die - wie in diesem Zusammenhang zu un-

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Erschießung eines Ausländers nach Grenzübertritt - Fall Corghi

Lfd. Nr. 9-2

terstellen ist - unerlaubt die Grenze überschritten hat und sich der Festnahme durch die Flucht zu entziehen sucht, ist nicht offensichtlich rechtsstaatswidrig. Dem Schuldausschließungsgrund des § 5 Abs. 1 WStG steht hier auch nicht entgegen, daß diese Regelung grundsätzlich nicht anwendbar ist, wenn mit Tötungsvorsatz auf einen Flüchtenden geschossen wird (vgl. BGHSt 39, 1, 33, 34; 39, 168, 189). Denn ein solches Geschehen ist nicht mit einem {10} Vorfall wie dem vorliegenden vergleichbar, bei dem ein Grenzposten ohne Tötungsvorsatz versucht hat, mittels seiner Schußwaffe die Festnahme durchzusetzen (BGH NStZ 1993, 488,489).

Anmerkungen 1 2 3 4 5

Vgl. Anhang S. 969. Vgl. lfd. Nr. 1-2. Vgl. lfd. Nr. 2-2. Vgl. lfd. Nr. 11-2. Mittlerweile ebd. veröffentlicht. Vgl. lfd. Nr. 3-2.

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Lfd. Nr. 10 Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers nach Gefangennahme - Fall Kittel -

1. Erstinstanzliches Urteil des Bezirksgerichts Potsdam vom 9.12.1992, Az. 3 Ks 67/92

353

2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 20.10.1993, Az. 5 StR 473/93 . . . . 379

Lfd. Nr. 10-1

Dokumente - Teil 1

Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Bezirksgerichts Potsdam vom 9.12.1992, Az. 3 Ks 67/92 Gründe

353

I.

[Feststellungen zur Person]

353

II.

[Sachverhaltsfeststellungen] 1. Zur militärischen Laufbahn des Angeklagten H 2. Zur militärischen Laufbahn des Angeklagten W 3. Zum Politunterricht und zur Befehlslage 4. Zur Vorgeschichte der Flucht 5. Zum Aufbau der Grenzanlagen 6. Zum Beginn des Nachtdienstes der Angeklagten in der Nacht vom 17. zum 18.10.1965 7. Zum unmittelbaren Tatgeschehen

355 355 356 357 359 360 361 361

III. [Beweiswürdigung]

368

IV. [Schuldfähigkeit der Angeklagten]

373

V.

[Rechtliche Würdigung]

374

VI. [Anzuwendendes Recht]

376

VII. [Strafzumessung]

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Anmerkungen

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers nach Gefangennahme - Fall Kittel

Bezirksgericht Potsdam Az.: 3 Ks 67/92

Lfd. Nr. 10-1

9. Dezember 1992

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen 1. Rolf-Dieter H., geboren 1944 in D., verheiratet, Deutscher, in dieser Sache am 10.04.1992 vorläufig festgenommen und seitdem in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit, zur Zeit in der Justizvollzugsanstalt Potsdam, 2.

LutzW., geboren 1944 in M., verheiratet, Deutscher, in dieser Sache vom 07.04.1992 bis zum 24.06.1992 in Untersuchungshaft gewesen in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit,

wegen Mordes und versuchten Mordes hat der 3. Strafsenat - Jugendsenat - des Bezirksgerichts Potsdam aufgrund der Hauptverhandlung vom 06.11., 11.11., 13.11., 19.11., 20.11., 24.11., 25.11., 27.11., 04.12. und 09.12.1992, an der teilgenommen haben: ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. am 9. Dezember 1992 fur Recht erkannt: Die Angeklagten werden wie folgt verurteilt: H. wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren, W. wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Die Angeklagten tragen die Kosten des Verfahrens und ihre notwendigen Auslagen. (angewendete Vorschriften: H. § 212 StGB; W. §§ 212, 22, 25 Abs. 2 StGB).

Gründe (abgekürzt bezüglich des Angeklagten W. gemäß § 267 Abs. 4 StPO) I.

[Feststellungen zur Person]

1. Der 48jährige Angeklagte Rolf-Dieter H. wurde 1944 in D. geboren. Sein Vater, der 353 in D. selbständiger Maler und Inhaber eines Malerbetriebes war, verstarb 1945 in fran-

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Dokumente - Teil 1

zösischer Kriegsgefangenschaft, und seine Mutter, eine Krankenschwester, heiratete etwa 1950 ein zweites { 3 } Mal. Der Angeklagte H. wuchs gemeinsam mit zwei jüngeren Halbbrüdern im Haushalt der Mutter und des Stiefvaters auf. Von 1950 bis 1958 besuchte er die Volksschule in D. Nach seinem Schulabschluß begann H. eine Malerlehre, die er 1961 mit Erfolg beendete. In seinem erlernten Beruf arbeitete er, bis er Anfang November 1963 zur Nationalen Volksarmee eingezogen wurde. Da der Angeklagte H. schon seit einigen Jahren den Wunsch hegte, Kriminalpolizist zu werden, hatte er sich entsprechend dem Rat eines ihm bekannten Angehörigen der Volkspolizei - für drei Jahre zum Dienst in der NVA verpflichtet. Zu diesem Zeitpunkt war der Angeklagte H. - wie die Mehrzahl der Gleichaltrigen in der DDR - Mitglied der Freien Deutschen Jugend und der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Der zur Anpassung bereite, mit gut durchschnittlicher Intelligenz begabte H. identifizierte sich mit den politischen Gegebenheiten in der DDR. Persönliche Verbindungen nach Westdeutschland hatte er nicht. Während seiner Armeezeit wurde H. Kandidat und ein Jahr später Mitglied der SED. Nach Beendigung seines Wehrdienstes im Herbst 1966 war der Angeklagte H. erneut ein Jahr lang als Maler tätig und nahm 1967 das Angebot an, als hauptamtlicher Mitarbeiter in die Dienste des Ministeriums für Staatssicherheit zu treten. Es sah in dieser Tätigkeit eine Ähnlichkeit mit dem von ihm erstrebten Beruf als Kriminalpolizist. Zunächst war H. als Verbindungsmann des MfS zur Kriminalpolizei in F. eingesetzt, später befaßte er sich in C. mit Fragen des Reiseverkehrs. Er hatte zuletzt den Rang eines Oberleutnants erreicht. 1976 wurde er wegen einer sexuellen Affäre als Mitarbeiter des MfS entlassen und gleichzeitig aus der SED ausgeschlossen. Die näheren Umstände seiner Entlassung wollte der Angeklagte H. dem Senat nicht mitteilen. H. kehrte in seinen erlernten Beruf zurück und war von 1976 bis 1977 als Maler beim Textilkombinat C. und von 1978 bis zum August 1990 als Brigadier einer Malerbrigade beim Tiefbaukombinat C. tätig. Im August 1990 machte er sich als Maler in der Ortschaft G. selbständig. Nach anfänglichen Schwierigkeiten begann sein Malerbetrieb 1991 zu florieren, und er konnte zuletzt über ein Nettoeinkommen von DM 2.000 im Monat verfugen. Der Angeklagte H. plante, seinen Betrieb zu vergrößern. Seit April 1992, als er festgenommen wurde, ruht sein Betrieb. {4} H. heiratete 1966 zum ersten Mal. Aus dieser Ehe gingen zwei mittlerweile erwachsene Kinder hervor. Die Ehe wurde 1973 geschieden. 1975 heiratete der Angeklagte H. ein zweites Mal, die Ehe wurde 1980 geschieden. Aus dieser Ehe hat der Angeklagte H. eine 14jährige Tochter. H. unterhält weder zu seinen geschiedenen Ehefrauen noch zu seinen Kindern Kontakte. Seit 1989 lebt er mit seiner dritten Ehefrau, wie er angibt, in glücklicher und harmonischer Ehe. Gemeinsam mit ihr bewohnt er ein Haus in G., einem großen Dorf. Mit den Kindern seiner Frau aus einer früheren Ehe bestehen enge familiäre Beziehungen. Der Angeklagte H. ist nicht vorbestraft. 2. Der 48jährige Angeklagte Lutz W. wurde 1944 in M. geboren und wuchs dort als einziges Kind seiner Eltern auf. Sein Vater war Maurer, seine Mutter Hausfrau. Beide Eltern sind bereits verstorben. Seine Kindheit beschreibt W. als harmonisch und glücklich. Von 1951 bis 1959 besuchte er die Volksschule in M. und absolvierte 1962 eine Lehre als Betriebsschlosser der V E B Energieversorgung M. Bis 1972 war der Ange-

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers nach Gefangennahme - Fall Kittel

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klagte W. in diesem Betrieb in seinem erlernten Beruf tätig, mit einer Unterbrechung von Mai 1965 bis Oktober 1966, als er seinen Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee ableistete. Zum damaligen Zeitpunkt hatte sich W. an die Lebensbedingungen in der DDR gewöhnt und mit ihnen abgefunden. Er war - wie die meisten Gleichaltrigen in der DDR - Mitglied der Freien Deutschen Jugend. Von 1970 bis 1972 besuchte W. die Volkshochschule und holte 1972 den Abschluß der 10. Klasse nach. 1972 wechselte er seinen Beruf und trat in die Dienste der Deutschen Volkspolizei. Im gleichen Jahr wurde der Angeklagte W. Kandidat und ein Jahr später Mitglied der SED. Im November 1989 trat er aus der SED aus. W. war bis 1982 als Kriminalpolizist in A. und M. tätig; sein letzter Rang war der eines Unterleutnants. 1978, im Alter von 34 Jahren, erlitt er seinen ersten Herzinfarkt, 1980 seinen zweiten. Wegen seines angegriffenen Gesundheitszustandes wurde W. 1982 invalidisiert. Von 1982 bis zum Sommer 1989 arbeitete er als Zivilbediensteter der {5} Volkspolizei in M., bis August 1991 war er als Bühnenpförtner bei den Städtischen Bühnen in M. beschäftigt. Der erwerbsunfähige Angeklagte W. hat seitdem nicht mehr in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden. W. ist seit 1963 verheiratet und hat drei erwachsene Kinder, mit denen ihn enge familiäre Beziehungen verbinden. Seit Herbst 1992 wohnt er gemeinsam mit seiner Ehefrau, die dort Arbeit gefunden hat, in H. Wegen seiner Herzerkrankung steht er in ständiger ärztlicher Behandlung und muß regelmäßig Medikamente einnehmen. Er beschäftigt sich mit seinem Schrebergarten, liest gerne und hört klassische Musik. Der Angeklagte W. ist nicht vorbestraft. Die Feststellungen zur Person der Angeklagten H. und W. beruhen auf ihren eigenen Einlassungen, dem Gutachten der Sachverständigen Dr. Jähnig, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Leiterin der Abteilung für forensische Psychiatrie an der medizinischen Fakultät (Charité) der Humboldt-Universität zu Berlin, den in der Hauptverhandlung verlesenen, mit beiden Angeklagten erörterten und von ihnen als richtig anerkannten Auszügen aus dem Zentralregister sowie dem persönlichen Eindruck, den das Gericht von den Angeklagten während der Hauptverhandlung gewonnen hat.

II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

In der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1965 versahen die Angeklagten H. und W. als Angehörige der NVA Grenzdienst in Kleinmachnow an der Grenze der DDR zu Westberlin. Beide gehörten der 3. Grenzkompanie des 46. Grenzregiments der Grenztruppen an. 1. Zur militärischen Laußahn des Angeklagten H. Im Oktober 1965 war der Angeklagte H. bereits seit fast zwei Jahren Soldat. Vor Beginn seiner Armeezeit hatte er sich vorgestellt, er werde beim Wachregiment in Berlin eingesetzt und könne öffentliche Gebäude bewachen. Er wurde jedoch zur Berliner Stadtkommandantur einberufen und erfuhr, daß er in Potsdam-Sago (einem Kasernenkomplex zwischen den Ortschaften Saarmund und Golm) beim 50. {6} Grenzausbildungsregiment auf den Dienst bei den Grenztruppen vorbereitet werden sollte. Das Mini-

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sterium für Staatssicherheit hatte vor seiner Einberufung ohne sein Wissen Erkundigungen über ihn eingezogen und ihn als geeignet für den Grenzdienst eingestuft. Die militärische Grundausbildung H.'s dauerte fünf bis sechs Wochen. Nach vier Wochen legte er den Fahneneid ab. Während der Grundausbildung nahm er an einer Schießübung mit der Maschinenpistole Kalaschnikow teil. Dabei mußte er mit Einzelfeuer auf bewegliche Scheiben schießen, die den Umrissen eines menschlichen Körpers glichen. War eine Scheibe getroffen, so fiel sie zu Boden. Nach Beendigung seiner Grundausbildung absolvierte H. von Mitte Dezember 1963 bis April 1964 mit Erfolg eine Ausbildung als Unteroffizier im Komplex Sago. Während der Unteroffiziersausbildung fanden einmal in der Woche nächtliche Alarmübungen und insgesamt je einmal am Tag und einmal in der Nacht Schießübungen auf Scheiben statt. Bei jeder Schießübung gab H. aus einer Entfernung von 150 bis 200 m etwa 12 Schüsse aus einer Kalaschnikow auf bewegliche Scheiben ab und erwies sich als durchschnittlicher Schütze. Zu Beginn seiner Unteroffiziersausbildung war H. im Dezember 1963 inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit geworden. In seiner Schweigeverpflichtung, die er im gleichen Monat unterschrieb, versprach er, mit dem MfS beim Erkennen und Bekämpfen der sogenannten politisch-ideologischen Diversion zusammenzuarbeiten. Damit war gemeint, daß er Berichte über Äußerungen einzelner Soldaten der Grenztruppen zu ihrem Dienst und zu ihrer Einstellung zum Schußwaffengebrauch an der Grenze an das MfS liefern solle. In den folgenden Monaten verfaßte H. Berichte, in denen er dem MfS unter anderem Gespräche unter den Soldaten über diese Themenbereiche mitteilte. Von Mai 1964 bis Ende August 1965 war der Angeklagte H. als Gruppenführer bei einer Grenzkompanie in Teltow eingesetzt, ab September 1965 bei der 3. Grenzkompanie des 46. Grenzregiments in Kleinmachnow. Während seines Grenzdienstes fand nach jedem halben Jahr ein Überprüfungsschießen statt, bei dem H. aus einer Kalaschnikow mindestens zehn Schüsse abgab. Er gehörte bei jeder der beiden Kompanien zu einem Zug von 26 bis 30 Soldaten, der von einem Zugführer befehligt wurde und {7} bei dem drei Gruppenführer dienten. Wie jeder Angehörige der Grenztruppen mußte er an der Grenze Schichtdienst leisten. Als Gruppenführer war er während seines Dienstes der Hauptverantwortliche für die Sicherung eines bestimmten Grenzabschnitts. Er hatte die Postenpaare, die aus einem Postenführer und einem Posten bestanden, einzuweisen und zur Überwachung gelegentlich Patrouillen durchzuführen. Wenn H. Dienst hatte, wurde ihm stets ein Posten zugeteilt, der ihn bei seinen Patrouillengängen begleitete oder ihn, wenn er motorisiert war, auf dem Rücksitz eines Kraftrades beförderte.

2.

Zur militärischen Laufbahn des Angeklagten W.

Der Angeklagte W., der Mitte Oktober 1965 seit mehr als fünf Monaten Soldat bei der NVA war, gehörte von Anfang an dem 46. Grenzregiment an. Ohne sein Wissen hatte das MfS vor seiner Einberufung Erkundigungen über ihn eingezogen und ihn für den Grenzdienst als geeignet eingeschätzt. W.'s Grundausbildung in Potsdam-Sago dauerte drei Wochen. Während der Grundausbildung, nachdem er den Fahneneid geschworen hatte, gab er im Rahmen einer Schießübung drei Schüsse mit Einzelfeuer liegend aus einer Maschinenpistole Kalaschnikow ab. Außerdem fand in einem Wald bei Klein-

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machnow eine Übung statt, in deren Verlauf er als Posten einen von einem anderen Grenzsoldaten gemimten Grenzverletzer anrufen mußte: „Halt, stehenbleiben, Grenzposten." Dann mußte er den Grenzverletzer dazu veranlassen, sich hinzulegen und durchsuchen zu lassen. Nach Abschluß seiner Grundausbildung im Mai oder Juni 1965 wurde der Angeklagte W. in eine Grenzkompanie am Schleusenweg in Kleinmachnow versetzt. Diese Kompanie sollte als Kompanie mit schwerer Artillerie aufgebaut und W. als Kanonier ausgebildet werden. Da es jedoch im unmittelbaren Grenzdienst an Soldaten mangelte, wurde W. als Grenzposten im Schichtdienst eingesetzt. Ende August 1965 fand ein sogenanntes EK-Schießen statt, bei dem W. gemeinsam mit einem Entlassungskandidaten bei einem fingierten Postengang aus einer Entfernung von ca. 150 m auf bewegliche Scheiben, die einer menschlichen Gestalt ähnelten, schießen mußte. Dabei gab er aus einem Leichten Maschinengewehr Kalaschnikow ca. 15 Schüsse mit Dauerfeuer ab. Die Scheiben fielen um, wenn sie getroffen waren. Ende August 1965 wurde der Angeklagte W. in die 3. Grenzkompanie nach Kleinmachnow versetzt und am 07.10.1965 zum Gefreiten befördert. Er wurde im unmittelbaren {8} Grenzdienst als Postenfuhrer im Schichtdienst eingesetzt.

3.

Zum Politunterricht und zur Befehlslage

Während der Grundausbildung der beiden Angeklagten, im Laufe der UnteroffiziersAusbildung des Angeklagten H. und während des gesamten Grenzdienstes beider Angeklagter wurde den beiden Angeklagten Politunterricht erteilt. In der Unteroffiziersausbildung des Angeklagten H. nahm der Politunterricht breiten Raum ein; er wurde zeitweise an vier Tagen in der Woche jeweils vier Stunden lang erhalten. Während des Grenzdienstes der Angeklagten H. und W. fand der Politunterricht einmal im Monat statt. Im Politunterricht wurde den Soldaten aus der Sicht der damals in der DDR herrschenden Ideologie die gegenwärtige Lage der DDR im „Kalten Krieg" und die Situation an der Grenze nahegebracht. Die internationale Lage wurde als gespannt dargestellt, Westdeutschland und Westberlin galten als Feind. Menschen, die die DDR verlassen und über die Grenze nach Westdeutschland und Westberlin fliehen wollten, wurden den Grenzsoldaten als politische Gegner, Spione, Saboteure und Kriminelle dargestellt. Den Soldaten wurde erklärt, daß entsprechend dem Paßgesetz der DDR jeder Fluchtversuch eine Straftat sei. Jeder erfolgreiche Grenzdurchbruch schade der DDR. Im Rahmen des Politunterrichts wurde den Angeklagten W. und H. wiederholt die Rechts- und Befehlslage beim Schußwaffengebrauch im Grenzdienst erläutert. Grundlage fur den Einsatz von Schußwaffen gegen sogenannte Grenzverletzer war die Dienstvorschrift (DV) 30/10.' Unter der Überschrift IX, „Der Gebrauch der Schußwaffe", lautete die Vorschrift unter anderem wie folgt: „114. Von der Schußwaffe darf nur Gebrauch gemacht werden: ... auf eigenen Entschluß durch Wachen und Grenzposten sowie andere zeitweilige oder ständige Waffenträger, wenn andere Mittel nicht oder nicht mehr ausreichen, um ... Verbrecher, insbesondere Spione, Saboteure, Agenten und Provokateure, die der vorläufigen Festnahme gewaltsam Widerstand entgegensetzen oder flüchten, unschädlich zu machen ... 115. Die Wachen und Grenzposten der Nationalen Volksarmee an der Staatsgrenze zu Westdeutschland und Westberlin haben in Erweiterung der Bestimmungen zu Ziffer 114 die Waffe in folgenden Fällen anzuwenden: ... zur vorläufigen Festnahme von Personen, die sich den An-

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Ordnungen der Grenzposten nicht fugen, indem sie auf Anruf ,Halt, {9} Grenzposten - Hände hoch!' oder nach Abgabe eines Warnschusses nicht stehenbleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu durchbrechen, und keine andere Möglichkeit zur vorläufigen Festnahme besteht... 117. (2) Von der Schußwaffe darf insbesondere nicht mehr Gebrauch gemacht werden, wenn ... b) die Umstände, die den Gebrauch der Schußwaffe rechtfertigen, nicht oder nicht mehr vorliegen ..."

Die Dienstvorschrift lag den Angeklagten nicht schriftlich vor, sondern wurde während ihrer Ausbildung und während ihres Dienstes mehrfach mit begleitenden Kommentaren des Ausbilders vorgelesen. Gemäß der DV 30/10 wurden die Angeklagten jeweils vor Dienstbeginn vom Zugführer „vergattert". Nachdem der Zugführer die diensthabenden Soldaten empfangen und inspiziert hatte, informierte er sie aus seiner Sicht über ein herausragendes politisches Tagesereignis und verlas die „Vergatterungsformel". Sie lautete: „Der Zug (es folgten technische Angaben) sichert die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik im Abschnitt der 3. Grenzkompanie mit der Aufgabe, Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen und Grenzverletzer vorläufig festzunehmen oder unschädlich zu machen - Vergatterung!" (Abschnitt IV Nr. 26 der DV 30/10).

Bei der Instruktion der Grenzsoldaten fur ihre Aufgabe beschränkten sich die militärischen Vorgesetzen der Angeklagten W. und H. auf das Verlesen der Vergatterungsformel und der genannten Abschnitte aus der DV 30/10, die sie von Zeit zu Zeit mit Kommentaren versahen. Mit den Soldaten wurde nicht erörtert, wie im Einzelfall ein Grenzdurchbruch zu verhindern war und welche Befugnisse sie dabei hatten. Konkrete, auf den Einzelfall bezogene Handlungsanleitungen erhielten die Grenzsoldaten nicht. Beide Angeklagte faßten die damalige Befehlslage so auf, daß ihre wichtigste Aufgabe die war, Grenzdurchbrüche zu verhindern. Sie waren nicht der Auffassung, daß es ihnen befohlen war, Flüchtlinge ohne weiteres zu erschießen. Wenn sie auch davon ausgingen, daß es ihnen geboten war, eine Flucht auf jeden Fall zu verhindern, auch um den Preis des Lebens des Flüchtlings, interpretierten sie doch ihre Dienstvorschriften nicht in der Weise, daß sie ohne zwingende Notwendigkeit auf Flüchtlinge {10} schießen sollten und durften. Wenn auch der Angeklagte H. nicht aus freien Stücken zu den Grenztruppen gekommen war, sah er seinen Auftrag als Grenzsoldat doch als seine Aufgabe an, die er zu erledigen hatte. Der wenig kritische Angeklagte H. glaubte zum damaligen Zeitpunkt - wie man ihn im Politunterricht gelehrt hatte - , daß kein rechtschaffener Mensch es nötig habe, aus der DDR zu fliehen und daß es sich bei Flüchtlingen ausschließlich um Kriminelle, Spione und Feinde der DDR handele. Er akzeptierte die Befehlslage so, wie er sie auffaßte. Der Angeklagte W. verfolgte den Politunterricht ohne besonderes Engagement und nahm die Inhalte mit eingeschränktem Interesse auf. Seine Einstellung zu den vermittelten Inhalten war indifferent. Er war nicht restlos davon überzeugt, daß es sich bei allen Grenzverletzern um Kriminelle handele, denn er wußte von Bekannten aus seiner Heimatstadt, denen die Flucht gelungen war. W. hatte sich mit seiner Situation als Soldat der Grenztruppen abgefunden, wenn er sie auch nicht begrüßte. Die Befehlslage nahm er als gegeben hin und hoffte, er werde nicht in die Lage kommen, während seines Dienstes einem Flüchtling zu begegnen. Er machte sich keine Gedanken darüber, wie er sich in einer solchen Situation verhalten solle.

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4. Zur Vorgeschichte der Flucht Am Abend des 17. Oktober 1965 begegneten sich in der Gaststätte „Libelle" in TeltowSeehof zwei junge Männer, die sich vom Sehen kannten und die sich bereits seit einiger Zeit mit dem Gedanken trugen, nach Westberlin zu flüchten. Es handelte sich um den damals 23jährigen Walter Kittel und den zum damaligen Zeitpunkt 21jährigen Zeugen Eberhard Krause. Kittel war noch vor dem Mauerbau 1961 als Jugendlicher einmal aus dem Elternhaus in K. weggelaufen und nach Westberlin geflohen. Sein Vater hatte ihn damals aus einem Auffanglager nach Hause zurückgeholt. Möglicherweise war Kittel auch nach der Errichtung der Mauer noch einmal unbemerkt in Westberlin gewesen und wieder zurückgekehrt. Im Oktober 1965 wohnte er in Kleinmachnow bei einer Familie zur Untermiete; sein Zimmer befand sich in der Straße ® es folgt der Straßennamen ® unweit der Grenze zu Westberlin-Zehlendorf. Krause, der bei seinen Eltern in Güterfelde bei Potsdam wohnte, wo er auch aufgewachsen war, arbeitete zum damaligen Zeitpunkt als Bonbonkocher beim Betrieb B. in Teltow. Er war ein lebenshungriger junger Mann, der mit seinem Alltag in der DDR {11} nicht zufrieden war und sich von einem Leben in Westdeutschland und Westberlin mehr Freiheit und Abwechslung versprach. Vor dem Bau der Mauer war Krause einige Male in Westberlin gewesen. Zwei seiner acht Geschwister waren nach Westdeutschland verzogen und lebten in Köln. Der Zeuge Krause hatte am Nachmittag des 17. Oktober 1965 als Torwart an einem Handballturnier in Babelsberg teilgenommen und war vorzeitig gezwungen gewesen aufzuhören, da er sich den Daumen verrenkt hatte. Nachdem er als Zuschauer einige Spiele verfolgt hatte, wollte er sich am Abend noch amüsieren und fuhr deshalb von Babelsberg allein mit dem Bus nach Stahnsdorf. Im Restaurant, das er besuchen wollte, gefiel es ihm jedoch nicht, und er fuhr mit dem Bus zum Lokal „Schwarzer Adler" in Teltow, wo ihm die Atmosphäre ebenfalls nicht zusagte. Mit dem Bus begab er sich zuletzt in die Gaststätte „Libelle" in Teltow-Seehof, wo er einige Stunden verbrachte, am Tresen einige Gläser Bier trank und mit der Kellnerin flirtete. Im Lokal hielt sich Walter Kittel bereits gemeinsam mit anderen jungen Leuten auf und konsumierte möglicherweise Bier. Kittel und Krause kannten sich flüchtig durch einen gemeinsamen Sportsfreund. Beide wußten voneinander, daß sie sich für eine Flucht nach Westberlin interessierten. Im Laufe des Abends schlug Kittel Krause vor, gemeinsam mit ihm nach Westberlin zu fliehen und teilte ihm mit, er habe bereits einen Plan. Der Zeuge Krause war dem Vorschlag Kittels nicht abgeneigt. Beide stiegen in den gleichen Bus, der gegen 1.00 Uhr in Richtung Kleinmachnow fuhr. Mit ihnen fuhren zwei Kellnerinnen des Lokals „Libelle" und - in Kittels Begleitung - ein unbekannt gebliebener junger Mann, der Krause fremd war. Krause wollte vor Kittel aussteigen, um die Kellnerinnen zu begleiten, aber Kittel überredete ihn, mit ihm und dem unbekannten Begleiter an einer Haltestelle in der Nähe seiner Unterkunft in Kleinmachnow den Bus zu verlassen und sein Zimmer aufzusuchen. Dort erläuterte Kittel den beiden Gästen anhand von Skizzen seinen Fluchtplan, den er noch in dieser Nacht verwirklichen wollte: Danach sollten die drei jungen Männer sich in die Straße An der Stammbahn in Kleinmachnow, die in unmittelbarer Nähe der Grenzanlagen gelegen war, begeben, dort den Garten eines bestimmten Grundstücks durchqueren, den Gartenzaun, der als Grenzzaun diente, überklettern und die Grenzanlagen überwinden. Der Stacheldrahtzaun, der das letzte Hindernis vor Westberlin bildete, sollte mit Hilfe von Werkzeug {12} durchschnitten wer-

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den. Krause vertraute Kittels Führung und fühlte sich mit ihm zusammen sicher. Zwischen 2.00 Uhr und 2.30 Uhr verließen Krause, Kittel und der fremde junge Mann das Haus, in dem Kittel wohnte. Krause, der im Laufe des Abends drei oder vier Gläser Bier zu jeweils 0,25 1 getrunken hatte, fühlte sich nüchtern. An Kittel bemerkte Krause keine Anzeichen alkoholischer Beeinflussung. Die drei jungen Männer schlugen den Weg in Richtung der Straße An der Stammbahn ein. Die der Grenze unmittelbar vorgelagerte Straße An der Stammbahn war als Grenzgebiet mit einem hohen Zaun vom Dorf Kleinmachnow abgegrenzt. Der Zaun wies verschiedene Lücken auf, durch die die Anwohner in ihre Häuser gelangen konnten und war von militärischen Vorposten bewacht. Den jungen Männern gelang es, die beiden Vorposten zu passieren. Noch vor dem Zaun trennte sich jedoch der fremde junge Mann, den Angst überkommen hatte, von Krause und Kittel und kehrte um. Der ortskundige Kittel führte Krause durch den Zaun zum Grundstück An der Stammbahn 53, das den Zeugen Karl-Heinz und Gertrud W. gehörte, und dessen Gartentüre, wie er wußte, ständig offenstand. Die beiden Flüchtlinge liefen unbemerkt durch den Garten am Haus vorbei und überstiegen am Ende des Grundstücks einen etwa 1,50 m hohen hölzernen Staketenzaun, das letzte Hindernis vor den Grenzanlagen.

5.

Zum Aufbau der Grenzanlagen

Im Jahr 1965 waren die Grenzanlagen zwischen Kleinmachnow und dem Westberliner Stadtteil Zehlendorf bereits ausgebaut. Sie verliefen nördlich von Kleinmachnow zwischen dem Ende der Grundstücke An der Stammbahn und der Kleingartenkolonie Schlachtensee-Süd in Westberlin. Mit der Grundstücksgrenze der Straße An der Stammbahn begannen die Grenzanlagen. Hinter den Grundstücksgrenzen befand sich ein Stück Grasnarbe, vor dem ein Weg verlief. Dieser Weg war für den Patrouillengang der Grenzposten bestimmt und war ca. 1,50 bis 2,00 m breit, damit die jeweiligen Postenpaare nebeneinander gehen konnten. An den Postenweg Schloß sich nach einer Grasnarbe ein Kraftfahrzeug-Sperrgraben an. Der flache, muldenartige Graben war 2 bis 3 m breit und zwischen 50 cm und 1 m tief. An seinen Rändern war der Graben abgeflacht. Vom Postenweg war der Sperrgraben höchstens 15 m entfernt. Ein Stück Brachland, über das in etwa 40 bis 50 cm Höhe eine Hundelaufleine gespannt war, trennte den Graben vom Kontrollstreifen, einer im Jahr 1965 zwar noch nicht {13} betonierten, aber ständig geeggten etwa 10 bis 12 m breiten Straße, auf der die Militärfahrzeuge der NVA fahren konnten. Unmittelbar hinter dem Kontrollstreifen verlief die eigentliche Grenze, die sogenannte Pioniertechnische Anlage, die aus einem fünffachen Stahldrahtzaun bestand. Der Kontrollstreifen und das davor liegende Brachland waren hell beleuchtet durch Peitschenlampen, die in etwa 30 bis 40 m Abstand voneinander vor dem Stacheldrahtzaun standen, und die gesamte Grenzanlage erleuchteten. Postenweg und KfzGraben waren schwach beleuchtet. Die Beleuchtung war in diesem Bereich der Grenzanlagen jedoch ausreichend, um menschliche Personen in ihren Umrissen erkennen zu können. Von der Grundstücksgrenze der Häuser An der Stammbahn bis zum Stacheldrahtzaun betrug die Breite der Grenzanlage ungefähr 40 m. Jeweils im Abstand von etwa 500 m waren mitten in den Grenzanlagen Beobachtungstürme aufgebaut, von denen aus die Grenzposten Ausblick auf das umliegende Terrain hatten.

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Zum Beginn des Nachtdienstes der Angeklagten in der Nacht vom 17. zum 18.10.1965

Die beiden Angeklagten W. und H. begannen ihren Nachtdienst am Abend des 17.10.1965 um 22.00 Uhr. Der Angeklagte H. hatte bereits in der Nacht zuvor Nachtdienst versehen und am 17.10.1965 von 10.00 bis 15.00 Uhr an einer Schulung teilgenommen. Anschließend hatte er bis 19.30 Uhr geschlafen. Vor Dienstantritt waren die Angeklagten H. und W. gemeinsam mit den anderen Soldaten, die in dieser Nacht Dienst taten, entsprechend der durch die DV 30/10 vorgeschriebenen Vergatterungsformel vergattert worden. Dann waren die Postenpaare eingeteilt worden. Um zwischen den jeweils als Postenpaare eingesetzten Grenzsoldaten keine näheren Bekanntschaften entstehen zu lassen, wurden die Postenpaare in jeder Schicht neu zusammengesetzt. Der Angeklagte W. erfuhr, daß ihm fur den Dienst der ihm bis dahin nicht bekannte Soldat B. als Posten zugeteilt war. Der gemeinsam mit W. und H. angeklagte B. ist durch Urteil des Bezirksgerichts (3. Strafsenat) Potsdam unter dem Az: 3 Ks 67/92 am 27.11.1992 rechtskräftig freigesprochen worden. 2 Mit B. zusammen sollte der Angeklagte W. einen Grenzabschnitt zwischen zwei Beobachtungstürmen An der Stammbahn in Kleinmachnow bewachen, einen Abschnitt, an den das Grundstück An der Stammbahn 53 der Zeugen W. angrenzte. Dem {14} Angeklagten H. war für diese Nacht der Zeuge P. als motorisierter Posten zugeteilt. Dienstfahrzeug war ein Motorrad, das P. steuerte. Die Angeklagten W. und H. erhielten zum Dienstbeginn ihre Waffen. An jeden von ihnen wurde eine Maschinenpistole Kalaschnikow mit jeweils zwei Magazinen mit je 30 Schuß Munition ausgegeben. W. und H. erhielten das gleiche Gewehr wie stets bei den vorausgegangen Diensteinsätzen, an W. wurde außerdem eine Signalpistole, aus der er Leuchtkugeln verschiedener Farbe abschießen konnte, ausgehändigt. Der Angeklagte H. und der Zeuge P. fuhren mit dem Motorrad an den ihnen zugewiesenen Platz. Der Grenzabschnitt, für den der Angeklagte H. als Gruppenführer verantwortlich war, umfaßte auch den Abschnitt, in dem der Angeklagte W. als Postenführer und B. als Posten ihren Dienst taten. Die Aufgabe des Angeklagten H. bestand in dieser Nacht zunächst darin, alle Postenpaare seines Abschnitts aufzusuchen und in ihren Dienst einzuweisen. Danach sollte er sich in der Nahtstelle zum benachbarten Abschnitt aufhalten und von Zeit zu Zeit mit dem Zeugen P. auf dem Motorrad die Postenpaare aufsuchen und damit den gesamten Abschnitt unter ständiger Kontrolle halten. H. waren die ihm unterstellten W., B. und P. persönlich vorher nicht bekannt. Der Angeklagte W. kannte zwar den Angeklagten H., jedoch nur in dienstlicher Hinsicht als seinen Vorgesetzten. Der Angeklagte W. patrouillierte mit seinem Posten B. zwischen den beiden Beobachtungstürmen auf und ab.

7.

Zum unmittelbaren

Tatgeschehen

Gegen 2.45 Uhr am 18.10.1965 betraten die Flüchtlinge Krause und Kittel die Grenzanlagen. Es gelang ihnen, über den Postenweg und die daran anschließende Grasnarbe zu eilen und den Kfz-Graben zu überwinden, ohne vom Angeklagten W. und vom ehemaligen Mitangeklagten B. auf ihrem Patrouillengang gesehen zu werden. Um die niedrige Hundelaufleine zu passieren, legten sich Kittel und Krause auf den Bauch und robbten unter der Leine durch. Kriechend erreichten sie den Schatten, den eine der vor 361

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dem Grenzzaun stehenden Peitschenlampen warf. Da sie sich über den weiteren Verlauf der Flucht nicht einig werden konnten und möglicherweise auch durch einen an der Hundelaufleine näher kommenden Hund erschreckt wurden, blieben sie vorläufig im Lampenschatten liegen. {15} Plötzlich hörten die Flüchtlinge, wie sich von rechts aus östlicher Richtung (Richtung Benschallee) der Angeklagte W. und der ehemals Mitangeklagte B. näherten. Krause und Kittel vernahmen, wie die beiden Grenzsoldaten sich unterhielten. Sie plauderten und erwähnten dabei auch die Gaststätte „Uhle" in Kleinmachnow, ein Tanzlokal, das dem Zeugen Krause bekannt war. Der Angeklagte W., der links von B. auf dem Postenweg patrouillierte, nahm wahr, daß der Schatten einer Peitschenlampe ungewöhnlich breit war und schöpfte Verdacht. Er schaltete seine Taschenlampe ein und wies seinen Posten B. an, den Schatten durch sein Fernglas zu beobachten. Da er nicht erkennen konnte, was sich im Schatten verbarg, befahl er B., seine Waffe durchzuladen und schoß mit seiner Signalpistole einen Signalstern in die Luft. Welche Farbe dieser Signalstern hatte, blieb in der Hauptverhandlung ungeklärt. Sein Abschießen bedeutete: „Eilt zu Hilfe!" Im Schein des Signalsterns erblickten W. und B. die beiden Flüchtlinge, die nach wie vor regungslos im Schatten des Peitschenmastes lagen. Der Angeklagte W. und auf seinen Befehl auch B., die in einem Abstand von wenigen Metern voneinander in unveränderter Position auf dem Postenweg standen, riefen Krause und Kittel an und forderten sie auf, zurückzukommen. Gleichzeitig gaben der Angeklagte W. und B. Sperrfeuer mit mehreren Einzelschüssen aus ihren Kalaschnikow-Maschinenpistolen schräg hinter die beiden Flüchtlinge in Richtung Grenzzaun ab, um ihnen den Weg dorthin abzuschneiden. Auf den Anruf und die Schüsse hin standen Krause und Kittel auf und erhoben ihre Hände. Da sie sich entdeckt sahen, gaben sie ihre Flucht auf und gehorchten der Aufforderung des Angeklagten W. und B.'s, zurückzukehren. Dabei überstiegen sie die Hundelaufleine, durchquerten den Graben und stellten sich mit erhobenen Händen schräg gegenüber von beiden Grenzposten vor den Graben. Ob ein Hund anwesend war, konnte nicht mehr geklärt werden. Der Zeuge Krause befand sich, vom Postenpaar aus gesehen, links von Kittel, während der Angeklagte W. links neben B. auf dem Postenweg stand. Die Flüchtlinge waren etwas versetzt vom Postenpaar stehengeblieben, so daß der Angeklagte W. von Krause aus gesehen mehrere Meter schräg rechts vor ihm stand und B. in der gleichen Position gegenüber von Kittel. Nunmehr begann eine verbale Auseinandersetzung zwischen dem Postenpaar und den Flüchtlingen, in deren Verlauf der Angeklagte W. einen Schuß aus seiner {16} Maschinenpistole abgab, der den linken Fuß des Zeugen Krause streifte. Bezüglich dieses Schusses sind die Ermittlungen bereits vor Erhebung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 154a StPO eingestellt worden. Auf Befehl des Angeklagten W. begaben sich der Zeuge Krause und der später getötete Kittel in den Kfz-Sperrgraben zurück, wo sie wahrscheinlich hockend oder kauernd Deckung suchten. Welche genaue Position sie im Graben einnahmen, konnte in der Hauptverhandlung nicht geklärt werden. Der Angeklagte W. und der früher Mitangeklagte B. waren zu diesem Zeitpunkt von ihnen höchstens 20 m entfernt. Zur Mahnung gaben der Angeklagte W. und der ehemals Mitangeklagte B. aus der Hüfte mehrere Salven aus ihren Maschinenpistolen mit Dauerfeuer in den Graben ab. Der Angeklagte W. hat nicht näher erläutert, welches Ziel er mit dieser Mahnung verfolgte. Zu seinen Gunsten ist der Senat

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davon ausgegangen, daß er schoß, um gegenüber den Flüchtlingen klarzustellen, daß eine weitere Flucht aussichtslos sei und daß er ihre Festnahme damit sichern wollte. Der Angeklagte W. handelte dabei mit bedingtem Tötungsvorsatz, den Tod der Flüchtlinge nahm er billigend in Kauf. Mit einer Bestrafung für sein Handeln rechnete er nicht, obwohl er sich über das Verbotene seines Tuns im Klaren war. Eine Kugel, die entweder der Angeklagte W. oder der frühere Mitangeklagte B. abgefeuert hatte, verletzte den Zeugen Krause im Bereich der rechten Hüfte. Die Kugel durchschlug die rechte Seite des Unterleibs des Zeugen Krause und zertrümmerte seinen rechten Femurkopf (das ist der Kopf des rechten Oberschenkelknochens). Die rechte Gelenkpfanne erfuhr eine zentrale Fraktur. Ob die Kugel in den Bauch des Zeugen ein- und am Rücken wieder austrat oder ob sie von hinten eindrang und vorne wieder austrat, konnte in der Hauptverhandlung nicht mehr geklärt werden. Entsprechend dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Maxeiner, Professor für Rechtsmedizin an der Freien Universität Berlin, ist es eher wahrscheinlich, daß die Kugel in den Rückenbereich des Zeugen eintrat und an seinem Bauch wieder austrat. Der Zeuge Kittel erlitt außerdem einen Durchschuß des linken Oberarms. Der Zeuge P., der sich gegen 2.45 Uhr gemeinsam mit den Angeklagten H. ausruhte, nahm den Signalstern wahr, den der Angeklagte W. abgeschossen hatte und machte den Angeklagten H. darauf aufmerksam. H. und P. befanden sich zu diesem Zeitpunkt etwa {17} 500 m vom Ereignisort entfernt in westlicher Richtung (Richtung Potsdam). Auf Befehl des Angeklagten H. brachte der Zeuge P. das Motorrad in Gang und transportierte H. auf den Postenweg zu der Stelle, wo der Angeklagte W. sowie B. die beiden Flüchtlinge, die sich im Graben aufhielten, mit ihren Maschinenpistolen in Anschlag in Schach hielten. In seiner Aufregung fuhr der Zeuge P. mit seinem Kraftrad einige Meter an den beiden Posten W. und B. vorbei. Der Angeklagte H. sprang vom Motorrad ab und lief in Richtung B.'s und des Angeklagten W. auf dem Postenweg zurück. Er blieb rechts neben B. stehen, der Zeuge P. nahm rechts neben dem Angeklagten H. Aufstellung. Der Angeklagte H. wurde vom Angeklagten W. kurz informiert, daß zwei Flüchtlinge gestellt worden seien, auf Befehl zurückgekommen seien und sich jetzt im Graben befänden. Der Angeklagte H. übernahm nunmehr das Kommando. Er befahl den Flüchtlingen, deren Gestalten er im Graben erkennen konnte: „Rauskommen!" Seine Entfernung zu Krause und Kittel betrug höchstens 20-25 m. Der angeschossene Zeuge Krause rief: „Ich kann nicht, ich bin verletzt!", während Kittel sich aus dem Graben erhob, um den Grenzposten entgegenzugehen. In diesem Augenblick gab der Angeklagte H. aus der Hüfte mindestens drei Feuerstöße aus seiner Kalaschnikow auf ihn ab. Der Angeklagte H., der seine Waffe auf Dauerfeuer gestellt hatte, feuerte mindestens 15 Schüsse ab. Er schoß so lange, bis Kittel umfiel und bis er glaubte, sein Magazin sei leer. Kittel wurde von mehreren Schüssen in Brust und Bauch tödlich getroffen. Der Zeuge Krause, der nach seiner Schußverletzung bewußtlos geworden war, kurz darauf das Bewußtsein wiedererlangt hatte und in der Folge in kurzen Abständen wieder ohnmächtig wurde, nahm wahr, wie ihm Kittels Körper in den Graben entgegenrutschte. Kittel verstarb an mehrfachen Organverletzungen, die er infolge der Brust- und Bauchdurchschüsse erlitten hatte. Entweder vor oder nach seinen tödlichen Schüssen schrie H. sinngemäß: „Ich habe mir geschworen, hier kommt keiner mehr lebend raus." Der Angeklagte H. wollte Kittel töten, weil er davon ausging, jeder Flüchtling sei ein Verbrecher und politischer

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Gegner, dessen Leben nicht geschont werden müsse. Gleichwohl war ihm klar, daß der Schußwaffeneinsatz nur das äußerste Mittel war, um eine Flucht zu verhindern. Er wußte aber auch, daß er für die Tat nicht bestraft würde. {18} Der Zeuge H., der zum damaligen Zeitpunkt als Westberliner Zollsekretär im Grenzdienst eingesetzt war, und der mittlerweile verstorbene Westberliner Polizeimeister J. befanden sich zum Zeitpunkt der Vorfälle 300 bis 400 m vom Tatgeschehen entfernt jenseits der Grenzanlagen auf Westberliner Territorium. Von ihrem Standpunkt an der Benschallee in Westberlin-Zehlendorf aus beobachteten sie den Signalstern, den der Angeklagte W. abgeschossen hatte. Der Zeuge H. hörte kurz darauf die einzelnen Schüsse, die der Angeklagte W. und sein Posten B. abgaben, um den Flüchtlingen den Weg zum Grenzzaun zu versperren. H. und J. erstiegen daraufhin einen Hochstand und ein Podest in unmittelbarer Nähe des Grenzzaunes. J. hörte kurz darauf mehrere Rufe und Feuerstöße, der Zeuge H. vernahm mehrere Feuerstöße - die Feuerstöße des Angeklagten W. und die B.'s - , einen Aufschrei und kurz darauf abermals Feuerstöße - die Feuerstöße, für die der Angeklagte H. verantwortlich war. Auch die Zeugen W., die zum Tatzeitpunkt im Haus An der Stammbahn 53 in Kleinmachnow wohnten und durch die Schüsse erwacht waren, nahmen mehrere Feuerstöße wahr. Unmittelbar nach Abgabe der Schüsse feuerte der Angeklagte H. aus seiner Signalpistole ein Signal ab, das die Alarmgruppe herbeiholen sollte. Bei der Alarmgruppe handelte es sich um Angehörige der Grenztruppen, deren Aufgabe unter anderem darin bestand, verletzte oder getötete Flüchtlinge ins Krankenhaus zu verbringen, den Geschehensort abzusuchen und zu sichern und Spuren zu verwischen. Als nächstes veranlaßte der Angeklagte H., daß der getötete Kittel und der verletzte Zeuge Krause aus dem Bereich der Grenzanlagen ins Hinterland verbracht wurden. Da er befürchtete, die Schüsse seien in Westberlin gehört worden und das Tatgeschehen werde von Westberlin aus beobachtet, befahl er den unverzüglichen Abtransport Krauses und Kittels zunächst in den Garten des Anwesens der Zeugen W. An der Stammbahn 53. Die Angeklagten, der Zeuge P. sowie B. hoben den getöteten Kittel und den verletzen Zeugen Krause aus dem Graben. Um Zugang zum Garten der Zeugen W. zu erhalten, trat der Angeklagte W. den hölzernen Staketenzaun, der das Grundstück gegen die Grenzanlagen abgrenzte, ein. Der Angeklagte H. und der Zeuge P. trugen den getöteten Kittel, während der Angeklagte W. und B. den verletzten Zeugen {19} Krause in den Garten verbrachten. Die Soldaten legten die beiden Opfer im Garten ab. Einer der Soldaten äußerte sinngemäß, indem er den Getöteten mit dem Fuß anstieß: „Dieses Schwein ist tot, aber der Hund lebt noch (damit war der Zeuge Krause gemeint)". Welcher der beteiligten Grenzsoldaten diese Äußerung getan hat, ließ sich in der Hauptverhandlung nicht mehr klären. Als die Alarmgruppe mit einem Lastkraftwagen eintraf, wurden der Getötete und der Verletzte auf die Ladefläche gehoben und weggefahren. Der Angeklagte W. und sein Posten B. wurden nach dem Eintreffen der Alarmgruppe gegen 4.00 Uhr auf ihre Bitte hin vorzeitig vom Dienst abgelöst. Sie wurden in ihre Kaserne zurückgebracht und mußten in der Waffenkammer ihre Waffen und die verbliebene Munition abgeben. Nach einer kurzen Ruhepause wurden beide am Morgen des 18.10.1965 aufgefordert, einen Bericht über die nächtlichen Ereignisse zu schreiben. Der Angeklagte W. wurde zum Stab gerufen, in dessen Vorzimmer er handschriftlich einen Bericht verfaßte. Im Bericht vermerkte er, daß ihm und seinem Posten B. gegen

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2.40 Uhr bei einem Lichtmast eine verstärkte Schattenbildung aufgefallen sei und er bei näherer Beobachtung im Schatten zwei Personen ausgemacht habe. Er habe dann seinem Posten befohlen, durchzuladen und die beiden Personen aufgefordert, aufzustehen. Als diese dem Befehl nicht Folge leisteten, habe er ein Hilfssignal abgeschossen und gleichzeitig gemeinsam mit B. Feuer kurz vor die Grenzverletzer gefuhrt, um sie zum Aufstehen zu bewegen. Zögernd hätten die Grenzbrecher der Aufforderung gehorcht und hätten sich zurück in den Kfz-Graben begeben. Dann sei auch schon der Gruppenfuhrer gekommen und habe ihnen befohlen, den Graben zu verlassen. Als die beiden Personen der Aufforderung nicht nachgekommen seien, sei nochmals auf sie geschossen worden. Auch B. wurde allein in einen Raum gerufen, in dem er handschriftlich die Ereignisse in der Nacht wie der Angeklagte W. schilderte. Als die beiden Grenzbrecher im Graben lagen, hätten sie auf Befehle nicht hören wollen. So sei der Gruppenführer hinzugekommen, und das Feuer sei weitergeführt worden. {20} Der Angeklagte H. und der Zeuge P. beendeten ihren Dienst zur üblichen Zeit am frühen Morgen und gaben ihre Waffen in der Waffenkammer ab. Der Zeuge P. verfaßte befehlsgemäß unmittelbar nach Dienstschluß selbständig einen handschriftlichen Bericht, in dem er schilderte, daß er mit dem Angeklagten H. zur Stelle gefahren sei, an der sie einen Signalstern gesehen hätten. Als sie ankamen, seien zwei Personen in den Graben gesprungen. Als die Personen auf die Aufforderung des Gruppenführers, den Graben zu verlassen, nicht reagiert hätten, sei das Feuer eröffnet worden. Der Angeklagte H. erstattete zunächst dem Zugführer nach seinem Dienstschluß am Morgen des 18.10.1965 mündlich Bericht und berichtete anschließend schriftlich vom Vorfall. Er schilderte, daß er auf das Signal hin zur Durchbruchsstelle gefahren sei. Dort angekommen habe er gesehen, wie zwei Personen in den Kfz-Sperrgraben gesprungen seien. Als die beiden Personen auf seine Weisung, aus dem Graben herauszukommen, nicht reagiert hätten, habe er das Feuer eröffnet. Am gleichen Tag erstattete der Angeklagte H. seinem Führungsoffizier vom Ministerium für Staatssicherheit mündlich Bericht. Am Nachmittag des 18.10.1965 wurden die Angeklagten H. und W., der Zeuge P. sowie B. nach Potsdam zum Zeugen F., dem damaligen Brigadekommandeur, befohlen, der ihnen für ihren Einsatz dankte und sie auszeichnete. Der Angeklagte H. wurde zum Feldwebel befördert, der Angeklagte W., B. und der Zeuge P. erhielten jeweils eine Uhr. Der Angeklagte H. wurde Anfang November 1965 zu einer Grenzkompanie nach Stahnsdorf versetzt, wo er in verantwortlicher Position bis zum Mai 1966 den Bau des Autobahnabschnitts bis zum Grenzkontrollpunkt Dreilinden absicherte. Bis zur Beendigung seines Wehrdienstes im Herbst 1966 war er in diesem Grenzbereich für die Überwachung des Verkehrs auf der Autobahn verantwortlich. Der Angeklagte W. ersuchte um seine Versetzung und wurde bis zum Ende seiner Wehrdienstzeit im Oktober 1966 nicht mehr im aktiven Grenzdienst eingesetzt. B., der sich für drei Jahre als {21} Soldat verpflichtet hatte, wurde auf sein Ersuchen nach Ableistung von anderthalb Jahren Wehrdienst aus der NVA entlassen. Der Zeuge P., dem es nicht gelang, sich versetzen zu lassen, leistete seinen Wehrdienst in dieser Grenzbrigade zu Ende. Der getötete Walter Kittel wurde am 18.10.1965 ins Institut für gerichtliche Medizin in der Humboldt-Universität zu Berlin verbracht und von der Zeugin Dr. G. obduziert.

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Als Todesursache stellte die Zeugin Brust- und Bauchdurchschüsse mit mehrfachen Organverletzungen fest und ließ diese Feststellungen ins Sektionsbuch eintragen. Der Leichnam wurde am 21.10.1965 abgeholt und eingeäschert. Die Zeugin Dr. G. veranlaßte, daß sowohl das Eintreffen des Leichnams als auch sein Abtransport ins Leicheneingangs- und -ausgangsbuch eingetragen wurden. Dem Vater des Verstorbenen wurde einige Tage später von der Volkspolizei mitgeteilt, sein Sohn sei bei einem Grenzdurchbruch ums Leben gekommen. Asche und Sterbeurkunde wurden ihm zugeschickt. Der verletzte Zeuge Krause war zunächst ins Krankenhaus in Kleinmachnow transportiert und von dort aus nach notdürftiger Wundversorgung ins Krankenhaus der Volkspolizei in die Scharnhorststraße nach Berlin verlegt worden. Dort wurde er am frühen Morgen des 18.10.1965 vom diensthabenden Arzt, dem Zeugen Dr. F., aufgenommen. Der Zeuge Dr. F. stellte einen Unterbauchdurchschuß, einen Oberarmdurchschuß links und einen Streifschuß an der linken Ferse fest. Die Röntgenuntersuchungen ergaben eine Trümmerfraktur des rechten Femurkopfes mit medialer Schenkelhalsfraktur, eine zentrale Fraktur der rechten Pfanne sowie eine radiale Schußfurche im supracondylären Humerusschaftbereich links. Am gleichen Tag operierten den Zeugen Krause die Zeugen Dr. M. und Dr. P. Im Oktober und November 1965, als er noch im Krankenhaus der Volkspolizei in Berlin lag, wurde der Zeuge Krause vom Zeugen P., damals Oberleutnant beim Ministerium fur Staatssicherheit der DDR, und vom Zeugen G., damals Oberfeldwebel des MfS, aufgesucht. Der Zeuge G. konnte den Zeugen Krause nur in stark verkürzter Form {22} vernehmen, da Krause an heftigen Schmerzen litt. Der Zeuge P. vernahm ihn zur Person und zur Sache. Dem Zeugen P. schilderte der Zeuge die Begebenheit vom 18.10.1965 so, daß die Grenzsoldaten gegen ihn und Kittel Schußwaffen eingesetzt hätten, weil Kittel und er ihren Aufforderungen nicht Folge geleistet hätten. Der Zeuge Krause teilte weder dem Zeugen F. noch dem Zeugen G. den Sachverhalt so mit, wie er sich tatsächlich zugetragen hatte, denn er fürchtete, eine wahrheitsgemäße Schilderung würde seine Strafe zusätzlich erhöhen. Im Dezember 1965 wurde der Zeuge Krause vom Bezirksgericht Potsdam wegen Vergehens gegen das Paßgesetz zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt. Wegen eines weiteren Delikts erhielt er zusätzlich 6 Monate Freiheitsstrafe. Auch hier teilte der Zeuge Krause aus Furcht vor härterer Bestrafung den Tathergang anders mit, als er tatsächlich gewesen war. Daß Walter Kittel seinen Verletzungen erlegen war, erfuhr der Zeuge Krause erst bei der Gerichtsverhandlung. Der Zeuge Krause wurde in der folgenden Zeit in verschiedenen Krankenhäusern mehrfach operiert. Nach insgesamt etwa neun Monaten Krankenhausaufenthalt wurde er in die Haftanstalt Berlin-Rummelsburg verlegt. In der Haftanstalt lernte er die Zeugen S. und O. kennen, die dort ebenfalls eine Strafe verbüßten. Den Zeugen S. und O. schilderte der Zeuge Krause im Kern folgenden Sachverhalt: Er sei zusammen mit Walter Kittel bei der Flucht gestellt worden, beide hätten zurückkommen müssen. Von einem der Grenzposten sei er mit einem Hackenschuß verletzt worden. Auf Befehl habe er sich mit Kittel in einen Kfz-Graben begeben. Auf die Aufforderung, aus dem Graben zu kommen, hätten beide sich erhoben. Auf beide sei dann geschossen worden. Er, Krause, habe Schüsse in die Hüfte erhalten, Kittel sei durch die Brust getroffen worden und umgefallen.

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Der Zeuge Krause wurde 1967 gesundheitlich erheblich beeinträchtigt aus der Haftanstalt entlassen. Sein linkes Bein war durch die Zertrümmerung des Femurkopfes um fünf cm kürzer geworden, er hinkte stark und mußte am Stock gehen. Er hatte jeden Tag Schmerzen, konnte nicht lange gehen und nicht {23} reisen. In seiner Freizeitgestaltung war er, der gerne getanzt und Sport getrieben hatte, stark eingeschränkt. Da sich seine Wirbelsäule durch die ungleiche Länge seiner Beine im Laufe der Zeit verzog, mußte er später einen orthopädischen Schuh tragen. In den folgenden Jahren wurde der Zeuge Krause mehrfach nachoperiert, u.a. wurden ihm Knochensplitter aus der Blase entfernt. Seine Arbeit als Bonbonkocher konnte er nicht mehr verrichten; er mußte körperlich weniger anstrengende Tätigkeiten ausführen. Zuletzt war der Zeuge Krause als Heizer in einem Altersheim beschäftigt, verlor aber seinen Arbeitsplatz 1990 oder 1991 aus technischen Gründen. Seitdem hat der Zeuge Krause wegen seiner Gehbehinderung keine Arbeit mehr finden können. In den Jahren nach seiner Verletzung hat er zeitweise stark dem Alkohol zugesprochen. Wegen der Schüsse vom 18.10.1965 in Kleinmachnow hat der Bundesgerichtshof mit Beschluß vom 28.06.1967 die Untersuchung und Entscheidung der Sache gemäß § 13a StPO dem Landgericht in Braunschweig übertragen. Die Staatsanwaltschaft hat am 31.07.1967 ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt eingeleitet. Im Rahmen dieser Ermittlungen wurde am 17.08.1967 der mittlerweile verstorbene damalige Polizeimeister J. vom Amtsgericht Tiergarten als Zeuge richterlich vernommen. Im Sommer 1990 berichtete der Zeuge Krause dem Fernsehsender RIAS-TV von den Ereignissen im Oktober 1965. Der Sender RIAS-TV drehte einen Fernsehfilm, in dem u.a. der Zeuge Krause die Geschichte seiner Flucht und Festnahme schildert. Der Videofilm, der den Titel „Wenn die Stummen schreien" trägt, setzt sich mit den Schüssen an der Mauer auseinander und übermittelt Berichte Betroffener: von ehemaligen Angehörigen der DDR-Grenztruppen, die Schüsse auf Flüchtende abgegeben haben, von Flüchtlingen, die durch Schüsse verletzt worden sind und von Angehörigen der Todesopfer. U.a. wird auch der Zeuge Krause gezeigt, der am Ort des Tatgeschehens hinter dem Grundstück An der Stammbahn Nr. 53 in Kleinmachnow schildert, wie er gemeinsam mit dem getöteten Kittel im Lampenschatten lag, entdeckt und zurückbefohlen wurde, wie Kittel und er, ihre Flucht aufgebend, sich in den Kfz-Graben begeben hätten, wie er dann durch einen Schuß verletzt und wie Kittel, der befehlsgemäß den Graben habe verlassen {24} wollen, beim Herausklettern mit mehreren Gewehrsalven erschossen worden sei, wie er, der Zeuge Krause, verhaftet, ins Krankenhaus verbracht und schließlich verurteilt worden sei und wie er noch heute an seiner Schußverletzung leide. Am 12.07.1990 erstattete der Zeuge Krause Anzeige bei der Militärstaatsanwaltschaft der DDR in Berlin. Der Angeklagte H. wurde am 10.04.1992 vom Zeugen W., einem Polizeibeamten aus Berlin, verhaftet und zunächst in die Untersuchungshaftanstalt Berlin-Moabit verbracht. Seit dem 4.11.1992 befindet er sich in Untersuchungshaft in der Untersuchungshaftanstalt Potsdam. Der Angeklagte W. wurde am 7.04.1992 vom Zeugen W. in Haft genommen und befand sich seitdem bis zum 24.06.1992 in Untersuchungshaft in der Untersuchungshaftanstalt Moabit. Durch Beschluß des Kreisgerichts Potsdam-Stadt vom 24.06.1992 wurde er von der Haft verschont.

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Die tatsächlichen Feststellungen beruhen auf den Teilgeständnissen der Angeklagten, den Einlassungen des früheren Mitangeklagten B., den Aussagen der Zeuginnen und Zeugen K., L., F., Klaus P., Ilona P., D., P., Dr. Z., Dr. F., Dr. M., Dr. P., V., Gertrud W., Karl-Heinz W., Dr. G., S., G., W., H. und O., den Gutachten der Sachverständigen Kutschker, Prof. Maxeiner und Dr. Jähnig, dem am Gelände hinter dem Grundstück An der Stammbahn 53 in 0-1532 Kleinmachnow durchgeführten Augenschein, der in der Hauptverhandlung gemäß Sitzungsprotokoll in Augenschein genommenen Maschinenpistole „Kalaschnikow", der in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Videokassette, dem Anhören der beschlagnahmten Kassette, und auf den gemäß Sitzungsprotokoll in der Hauptverhandlung verlesenen Urkunden.

III.

[Beweiswürdigung]

Der Angeklagte H. hat sich zur Sache eingelassen und ein Teilgeständnis abgelegt. Er hat die Schüsse auf Kittel zugegeben. Allerdings hat er behauptet, einer der Flüchtlinge habe sich seitlich wegbewegt. Zumindest habe er den Eindruck gehabt, einer der Flüchtlinge {25} bewege sich seitlich weg. Diesen Flüchtling habe er angerufen, dann einen Warnschuß abgegeben und schließlich, als dieser nicht stehen blieb, das Feuer auf ihn aus der Hüfte eröffnet. Er habe lediglich auf die Beine des Flüchtlings gezielt und ihn nicht töten wollen. Da seine Waffe, die ihm vertraut gewesen sei, beim Schießen nach rechts oben weggezogen habe, könne es sein, daß sich der Lauf während der Abgabe der Schüsse versehentlich nach rechts oben bewegt habe und die Schüsse deshalb Kittel in Bauch und Brust - statt wie beabsichtigt in die Beine - getroffen hätten. Keinesfalls habe er sinngemäß geäußert, er habe sich geschworen, hier komme keiner mehr lebend raus. Zudem sei der Bericht, den er am 18.10.1965 schriftlich niedergelegt habe, in seinem Inhalt wahrscheinlich später an die Berichte W.'s und B.'s angepaßt worden. Diese Einlassung des Angeklagten H. ist, soweit sie von den tatsächlichen Feststellungen dieses Urteils abweicht, zur sicheren Überzeugung des Senats im Sinne der getroffenen Feststellungen durch die Beweisaufnahme widerlegt worden. Die nächtlichen Vorfälle in den Grenzanlagen von Kleinmachnow am 18.10.1965 haben sich so abgespielt, wie es in den tatsächlichen Feststellungen des Senats niedergelegt ist. Die Feststellungen beruhen im einzelnen auf folgenden Beweismitteln: Die Einzelheiten zur militärischen Laufbahn des Angeklagten H. (II. 1. dieses Urteils) beruhen auf seinen glaubhaften Angaben. Die Feststellungen zum Politunterricht sowie zur Rechts- und Befehlslage (II.3. dieses Urteils) ergeben sich aus den glaubhaften Einlassungen der Angeklagten H. und W. sowie der glaubhaften Aussage des Zeugen F. Die Vorgeschichte der Flucht (II.4. dieses Urteils) ergibt sich aus der glaubhaften Aussage des Zeugen Krause, die im wesentlichen mit seinen Angaben gegenüber den Zeugen P. und G. im Oktober und November 1965 übereinstimmt. Die Aussage des Zeugen Krause deckt sich auch im wesentlichen mit seinen Angaben gegenüber dem Zeugen W., der ihn am 12.12.1991 vernommen hat. Der Aufbau der Grenzanlagen (II.5. dieses {26} Urteils) geht aus den glaubhaften Angaben der Angeklagten H. und W., des früher Mitangeklagten B., den Aussagen des Zeugen Krause und dem vom Senat im Gelände hinter dem Grundstück An der Stammbahn 53 in Kleinmachnow durchgefuhr-

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ten Augenschein hervor. Beim Augenschein hat der Vorsitzende die Gesamtbreite der Grenzanlagen, wie sie von den Angeklagten, von B. und vom Zeugen Krause beschrieben worden war, vermessen. Die Gesamtbreite der Grenzanlagen betrug 38,50 m. Wie sich der Dienstbeginn der Angeklagten am Abend des 17.10.1965 vollzog (II.6. dieses Urteils), ist dem Gericht glaubhaft von den beiden Angeklagten, vom früheren Mitangeklagten B. und vom Zeugen P. geschildert worden. Zum unmittelbaren Tatgeschehen (II.7. dieses Urteils): Daß der Angeklagte H. auf Walter Kittel aus einer Entfernung von höchstens 2025 m mehrere Salven aus seiner Kalaschnikow abgefeuert hat, beruht auf seinem eigenen glaubhaften Geständnis. Daß der Angeklagte H. seine Schußwaffe jedoch nicht gegen einen Flüchtenden einsetzte, sondern daß Kittel seine Flucht bereits aufgegeben hatte, als der Angeklagte H., ohne einen Warnschuß abzugeben, auf ihn schoß, ergibt sich zunächst aus der Aussage des Zeugen Krause. Der Zeuge Krause hat glaubhaft bekundet, er und Kittel hätten ihre Flucht aufgegeben, als sie vom Angeklagten W. und vom früheren Mitangeklagten B. entdeckt worden seien. Sie seien daraufhin auf Befehl des Angeklagten W. in den Kfz-Sperrgraben zurückgekehrt. Auf den erneuten Befehl „Rauskommen!" habe sich Kittel erhoben, um dem Befehl nachzukommen. In diesem Augenblick sei auf Kittel geschossen worden, und Kittels Körper sei ihm in den Graben entgegengerutscht. Keinesfalls habe Kittel den Versuch gemacht zu flüchten, als auf ihn geschossen worden sei. Der Zeuge Krause hat trotz seiner erlittenen Verletzungen das Tatgeschehen - wenn auch eingeschränkt - wahrgenommen. Seine Aussage ist glaubhaft. Er hat sich vorsichtig und zurückhaltend geäußert. Haß und Voreingenommenheit gegen den Angeklagten H. waren nicht zu erkennen. Diese Feststellung des Senats zum Aussageverhalten des Zeugen Krause wird gestützt durch die {27} glaubhaften Angaben des Zeugen W., der den Zeugen Krause vernommen hat. Der Zeuge W. hat bekundet, der Zeuge Krause habe ihm gegenüber ruhige und sachliche Angaben gemacht. Er habe den Zeugen Krause auf die schwerwiegende Bedeutung seiner Aussage hingewiesen, und nach seinem Eindruck sei sich der Zeuge Krause der Bedeutung seiner Aussage bewußt gewesen. Der Senat hatte auch keine Anhaltspunkte fur die Feststellung, daß der vom Zeugen Krause selbst eingeräumte zeitweilige Alkoholabusus seine Erinnerungsfähigkeit beeinträchtigt hat. Der Zeuge Krause hat dem Senat die Vorgeschichte seiner Flucht (II.4. dieses Urteils) im wesentlichen so geschildert, wie er es vor 27 Jahren den Zeugen P. und G. gegenüber angegeben hat. Die Zeugen P. und G. haben die damalige Schilderung des Zeugen Krause glaubhaft bestätigt. Das eigentliche Tatgeschehen hat der Zeuge Krause im Kern mit nur geringfügigen Abweichungen gegenüber seiner Aussage in der Hauptverhandlung in der damaligen Strafhaft in Berlin-Rummelsburg den Zeugen S. und O. mitgeteilt, wie diese glaubhaft angegeben haben. Daß der Zeuge Krause den Zeugen P. und G., die ihn im Oktober und November 1965 im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR als Beschuldigten vernahmen, und später auf Anraten seines Verteidigers dem Bezirksgericht Potsdam, das ihn verurteilte, nicht die wahre Geschichte seiner Festnahme mitgeteilt hat, ist angesichts seiner Angst vor einer höheren Strafe nachvollziehbar. Wie der Zeuge P. glaubhaft bekundet hat, hat der Zeuge Krause ihm gegenüber lediglich angegeben, die Grenzsoldaten hätten ihre Schußwaffen gegen ihn und Kittel eingesetzt, als sie den

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Befehlen nicht hätten Folge leisten wollen. Der Zeuge Krause hat dem Zeugen W. bei seiner polizeilichen Vernehmung vom 12.12.1991 den eigentlichen Tathergang im wesentlichen so geschildert, wie er sich in der Hauptverhandlung geäußert hat. Das hat der Zeuge W. glaubhaft bekundet. Auch die Tatsache, daß der Zeuge Krause erst nach der Veränderung der Verhältnisse in der DDR auf Anraten von Journalisten des RIAS-TV im Sommer 1990 Anzeige bei der Militärstaatsanwaltschaft der DDR erstattet hat, spricht nicht gegen seine Glaubwürdigkeit. Die Glaubwürdigkeit des Zeugen Krause wird auch nicht in Zweifel gezogen durch den Inhalt des vom Senat in Augenschein genommenen Video-Films, in dem sich der Zeuge Krause im Kern übereinstimmend mit seiner Aussage in der Hauptverhand-{28} lung äußert. Die Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen Krause wird auch nicht erschüttert durch den Umstand, daß der Zeuge Krause nur zwei Grenzsoldaten als Schützen wahrgenommen hat und nicht gemerkt hat, daß im Angeklagten H. ein dritter Grenzsoldat hinzukam und auf Kittel schoß. Der Angeklagte H. hat nämlich die Schüsse auf Kittel selbst zugegeben. Die Aussage des Zeugen Krause, daß ihm der von Schüssen getroffene Kittel in den Kfz-Graben entgegenrutschte, wird im übrigen gestützt durch die übereinstimmenden Einlassungen der Angeklagten H. und W., sie hätten nach Abgabe der Schüsse beide Flüchtlinge aus dem Graben geholt und abtransportiert. Entsprechendes haben B. und der Zeuge P. bekundet. Die glaubhafte Aussage des Zeugen Krause zu den Schüssen des Angeklagten H. auf Walter Kittel wird gestützt durch die Einlassungen des Angeklagten W. Der Angeklagte W. hat geschildert, daß der Angeklagte H. sofort, als er angekommen sei, ohne Warnschuß begonnen habe zu schießen. Er, W., habe dem Angeklagten H. eine kurze Meldung erstattet, und gleich darauf sei H.'s Ballerei losgegangen. H. habe - entweder vor oder nach den Schüssen - sinngemäß geschrien: „Ich habe mir geschworen, hier kommt keiner mehr lebend raus!" Daß der Angeklagte W. dem Angeklagten H. eine kurze Meldung gemacht hat, ist angesichts dessen, daß beide Angeklagte in militärische Befehlsstrukturen eingebunden waren, nachvollziehbar. Im übrigen gab es für den Angeklagten W. keinen Grund, dem Angeklagten H. als seinen Vorgesetzten gegenüber eine Meldung zu unterlassen, da der Angeklagte W. gemeinsam mit B. den Zeugen Krause und den später getöteten Kittel mit Maschinenpistolen in Schach hielt und damit die Situation für den Angeklagten W. zunächst geklärt war. Ebenso glaubhaft ist die Einlassung des Angeklagten W., der Angeklagte H. habe ohne Abgabe eines Warnschusses sogleich mehrere Salven in Richtung des Walter Kittel abgegeben und habe vor oder nach Abgabe der Schüsse geschrien, er habe sich geschworen, hier komme keiner mehr lebend raus. Wie der Angeklagte W. glaubhaft geäußert hat, hat sich ihm diese Äußerung des Angeklagten H. so eingeprägt, daß es ihm auch nach 27 {29} Jahren noch in Erinnerung ist. Beim Angeklagten W. waren keine Ressentiments gegenüber dem Angeklagten H. zu erkennen. Er hatte den Angeklagten H. vor dem Vorfall vom 18.10.1965 nur als Vorgesetzten flüchtig gekannt, und es war, wie beide Angeklagte übereinstimmend geäußert haben, vor dem Vorfall zwischen ihnen nicht zu Begegnungen gekommen, die geeignet gewesen wären, beim Angeklagten W. Antipathien gegen den Angeklagten H. zu wecken. Nach dem Tatgeschehen haben sich beide Angeklagten für die folgenden 27 Jahre völlig aus den Augen verloren, so daß der Angeklagte W. zur Voreingenommenheit gegenüber dem Angeklagten H. keinen Grund hatte. Außerdem wäre es aus der Sicht des Angeklagten W. sinnlos gewesen,

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den Angeklagten H. zu Unrecht zu belasten, da es ihm keinerlei Nutzen eingebracht hätte. Daß der Angeklagte H. lediglich auf Kittels Füße und Beine gezielt hat und ihn nicht erschießen wollte, hat sich als Schutzbehauptung erwiesen. Diese Schutzbehauptung ist zunächst widerlegt durch die eigene Einlassung des Angeklagten H., er habe nur den Oberkörper Walter Kittels, auf den er geschossen hat, im Graben gesehen. Die Vermutung des Angeklagten H. in diesem Zusammenhang, seine Maschinenpistole habe möglicherweise versehentlich während des Schießens die Schußrichtung nach rechts oben hin geändert, ist durch das überzeugende Gutachten des Sachverständigen Kutschker, eines Schußwaffensachverständigen der Berliner Polizei, widerlegt worden. Der Sachverständige Kutschker, der ein Gutachten über die Treffsicherheit der Maschinenpistole „Kalaschnikow", wie sie der Angeklagte H. verwendet hat, erstellt hat, hat bekundet, daß eine solche Waffe während der Abgabe von Schüssen nur dann ihren Lauf ohne die Absicht des Schützen nach oben bewegen kann, wenn der Schütze durch ein Visier zielt. Bei Schüssen aus der Hüfte, wie sie der Angeklagte H. abgegeben hat, komme ein entsprechendes unbeabsichtigtes Verziehen des Laufes nicht in Frage. Wenn Kittel im übrigen geflohen wäre, als der Angeklagte H. ihn erschoß, wäre er nicht in unmittelbarer Nähe des Zeugen Krause, dem er in den Graben entgegenrutschte, sondern entfernt von ihm von den Schüssen getroffen worden und zusammengebrochen. Schließlich spricht die {30} Lebenserfahrung gegen eine Fluchtbewegung Kittels, der sich in höchstens 20-25 m Entfernung mehreren mit Maschinenpistolen bewaffneten Soldaten gegenübersah, die ihre Waffen auf ihn angelegt hatten und von denen bereits Schüsse auf ihn und den Zeugen Krause abgegeben worden waren. Angesichts der ohne Warnschuß auf Kittel abgegebenen Salven aus seiner Maschinenpistole und der Äußerung des Angeklagten H. bei der Tat, er habe sich geschworen, hier komme keiner mehr lebend raus, konnte der Senat ausschließen, daß der Angeklagte H. irrtümlich eine Fluchtbewegung Kittels angenommen hat. Gegen die Einlassung des Angeklagten H. zum unmittelbaren Tatgeschehen spricht zusätzlich der handschriftliche Bericht H.'s gegenüber seinen militärischen Vorgesetzten, den er am Tag nach der Tat verfaßt hat. Bei der Behauptung des Angeklagten H., sein Bericht sei den Berichten des Angeklagten W. und des früher Mitangeklagten B. angepaßt worden, handelt es sich um eine Schutzbehauptung, denn es bestand keine Notwendigkeit, seinen Bericht anzupassen. Zudem stimmt sein handschriftlicher Bericht wörtlich mit der maschinenschriftlichen Abschrift vom selben Tag überein. Der früher Mitangeklagte B. hat nach seinen Angaben von den Schüssen auf Kittel und von Kittels Verhalten zuvor nichts gesehen. Die Aussage des Zeugen P. konnte zu den Einzelheiten der Schüsse auf Kittel nicht verwertet werden. Der Zeuge P. war während seiner gesamten Vernehmung sehr nervös und aufgeregt und zitterte heftig. Seine Erinnerung war bruchstückhaft und unklar. Seiner Aussage war lediglich zu entnehmen, daß er heute daran zweifelt, ob die Schüsse auf den getöteten Walter Kittel notwendig waren. Die Feststellungen zum Wegbringen des getöteten Kittel und des verletzten Zeugen Krause aus dem Graben und zu ihrem Ablegen im Garten der Zeugen W. beruhen auf den Einlassungen der Angeklagten W. und H., des früheren Mitangeklagten B. und den Bekundungen der Zeugen P. {31} und Krause. Die Zeugen P. und Krause haben glaub-

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haft bekundet, im Garten der Zeugin W. sei noch vor dem Eintreffen der Alarmgruppe eine Äußerung gefallen wie „Das Schwein ist tot, aber dieser Hund lebt noch." (damit war der Zeuge Krause gemeint). Keiner der beiden Zeugen konnte jedoch diese Bemerkung einem der Angeklagten konkret zuordnen. Daß Walter Kittel den Schußverletzungen erlegen ist, ergibt sich aus den Aussagen des Angeklagten H., des Zeugen P. und der Zeugin Dr. G. Der Angeklagte H. und der Zeuge P. haben glaubhaft berichtet, den Toten aus dem Graben geholt und im Garten der Zeugin W. abgelegt zu haben. Die Angeklagten W. und B. sowie der Zeuge Krause waren sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewußt, daß Walter Kittel tot war. Die Zeugin Dr. G. hat glaubhaft bekundet, sie habe als damals diensthabende Ärztin des Instituts für gerichtliche Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin den Leichnam Kittels am 18.10.1965 entgegengenommen und obduziert. Als Todesursache habe sie Brustund Bauchdurchschüsse mit mehrfachen Organverletzungen festgestellt. Am 21.10.1965 sei die Leiche zum Krematorium verbracht worden. Einlieferung und Abtransport des Leichnams habe sie im Leichenein- und -ausgangsbuch eintragen und das Sektionsergebnis im Sektionsbuch verzeichnen lassen. Daß dem Vater des Verstorbenen Asche und Sterbeurkunde seines Sohnes zugesandt wurden, hat die Zeugin L., die Schwester des Verstorbenen, glaubhaft mitgeteilt. Daß die Angeklagten H. und W. sowie B. und der Zeuge P. unmittelbar nach den Vorfällen handschriftliche Berichte verfaßt haben, ergibt sich aus den glaubhaften Einlassungen der Angeklagten H. und W. sowie den Angaben B.'s und des Zeugen P. Der Angeklagte W. sowie B. und der Zeuge P. haben den Inhalt ihrer Berichte so bestätigt, wie es der Senat festgestellt hat (II.7. dieses Urteils). Daß die Angeklagten H. und W., der frühere Mitangeklagte B. sowie der Zeuge P. vom Zeugen F. ausgezeichnet wurden, daß der Angeklagte H. zum Feldwebel befördert wurde und der Angeklagte W., B. und der Zeuge P. jeweils eine Uhr erhielten, haben sowohl die Angeklagten als auch B. und die {32} Zeugen P. und F. bestätigt. Der weitere Verlauf der militärischen Dienstzeit der Angeklagten H. und W., B.'s und des Zeugen P. ergibt sich aus den jeweiligen glaubhaften Schilderungen der Angeklagten, B.'s und des Zeugen P. Daß der Zeuge Krause im Krankenhaus von den Zeugen P. und G. vernommen worden ist, haben die Zeugen P. und G. dem Senat mitgeteilt. Der Zeuge Krause hat bestätigt, daß er im Krankenhaus von Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit vernommen worden ist, an deren Namen er sich allerdings nicht erinnern konnte. Die beiden Zeugen P. und G. sowie der Zeuge Krause haben den festgestellten Inhalt der Vernehmungen glaubhaft bekundet. Die Schußverletzungen des Zeugen Krause haben die Zeugen Dr. F., der den Zeugen Krause am frühen Morgen des 18.10.1965 im damaligen Krankenhaus der Volkspolizei in Berlin aufnahm, und die Zeugen Dr. M. und Dr. P., die den Zeugen Krause am gleichen Tag operierten, glaubhaft bekundet. Der Zeuge Krause schließlich hat seine bis heute andauernde Behinderung und die ihm daraus entstehenden Nachteile glaubhaft geschildert.

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IV. [Schuldföhigkeit der Angeklagten] Der Angeklagte H. war, als er den gestellten Flüchtling Walter Kittel erschoß, in seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht im Sinne der §§20, 21 StGB beeinträchtigt. Zugunsten des Angeklagten H. ist der Senat davon ausgegangen, daß er, wie er erklärt hat, in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1965 ermüdet und bei Abgabe der Schüsse aufgeregt war. Zur sicheren Überzeugung des Gerichts war die Ermüdung und Aufregung des Angeklagten H. jedoch nicht pathologischer Natur im Sinne der §§ 20, 21 StGB. Der Senat stützt sich dabei insbesondere auf das überzeugende Gutachten der Sachverständigen Dr. Jähnig. Die Sachverständige hat an der Verhandlung teilgenommen; sie hat den Angeklagten H. am 21.11.1992 in der Justizvollzugsanstalt Potsdam aufgesucht und ihn eingehend psychiatrisch exploriert. Aus der Exploration der Persönlichkeit, der {33} psychischen Befindlichkeit und des derzeitigen Geisteszustandes des Angeklagten H. haben sich für die Sachverständige keine Anhaltspunkte fur das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB zum Tatzeitpunkt ergeben. Die Sachverständige hat beim Angeklagten keine Hinweise auf Persönlichkeitsstörungen oder psychopathologische Störungen gefunden. Sie hat festgestellt, daß die Persönlichkeit des Angeklagten aus psychiatrischer Sicht im Normbereich liegt. Der Angeklagte ist mit gut durchschnittlicher Intelligenz ausgestattet, seine Denkabläufe sind wendig und umstellungsfähig. Er ist emotional schwingungsfähig, generelle Aggressionsbereitschaft hat die Sachverständige beim Angeklagten nicht feststellen können. Der Angeklagte H., ein mittelgroßer, beherrscht wirkender 48jähriger Mann, war in der Lage, der lOtägigen Hauptverhandlung mit konzentrierter Aufmerksamkeit zu folgen. Beeinträchtigungen der Bewußtseinslage, Orientierung, Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit und Konzentration waren nicht festzustellen. Er vermochte sich zu seinem Lebenslauf, seiner militärischen Laufbahn und zu seiner Straftat zusammenhängend und klar zu äußern. Er konnte sich an die nunmehr 27 Jahre zurückliegende Tat erinnern, wenn ihm auch naturgemäß einige Details entfallen waren. Auch aus dem festgestellten Verhalten des Angeklagten H. vor der Tat, bei Tatbegehung und danach waren keine Anhaltspunkte für einen im Sinne der §§ 20, 21 StGB pathologischen Befund zu erkennen. Das hat auch die Sachverständige Dr. Jähnig bestätigt. Der Angeklagte H. hat selbst angegeben, am Nachmittag des 17.10.1965 zusammenhängend mindestens vier Stunden geschlafen zu haben. Eine möglicherweise pathologische Übermüdung konnte die Sachverständige deshalb ausschließen. Daß der Angeklagte H. möglicherweise nachts ermüdet war und aus diesem Grunde den Signalstern nicht sah, sondern erst vom Zeugen P. darauf aufmerksam gemacht wurde, steht dem nicht entgegen. Auch für einen pathologischen Erregungszustand des Angeklagten H. bei seiner Tat im Sinne der §§ 20, 21 StGB haben sich keine Anknüpfungspunkte gefunden. Das Verhalten des Angeklagten H. hat sich in der Nacht vom 18.10.1965 insgesamt als situationsadäquat und sinngerecht erwiesen. Als Vorgesetzter hat er die {34} Lage beherrscht: Er hat den Zeugen P. angewiesen, mit ihm mit dem Motorrad zu den Posten zu fahren. Vom Angeklagten W. hat er sich Meldung erstatten lassen. Nach den Schüssen hat er dafür Sorge getragen, daß die beiden Opfer abtransportiert und aus dem Blickfeld möglicher Beobachter aus Westberlin weggebracht wurden. Seinen Dienst hat er zur üblichen Zeit beendet und sich nicht, wie der Angeklagte W. und dessen damali-

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ger Posten B., vorzeitig ablösen lassen. Im Laufe des folgenden Tages hat er einen handschriftlichen Bericht über den Vorfall verfaßt.

V. [Rechtliche

Würdigung]

1. Der Angeklagte H. hat Walter Kittel vorsätzlich getötet, ohne Mörder zu sein, als er ihn mit mehreren Salven aus seiner Maschinenpistole Kalaschnikow erschoß. Damit hat er sich gemäß § 212 StGB wegen Totschlags schuldig gemacht. Er wußte, daß Kittel durch die Schüsse, die er aus einer Entfernung von höchstens 20-25 m auf seinen Oberkörper abfeuerte, sterben könne und wollte diesen Erfolg, da er der Auffassung war, daß das Leben Kittels als eines Grenzbrechers nicht geschont werden müsse. Der Angeklagte H. hat Walter Kittel rechtswidrig erschossen. Dabei hatte der Senat nicht darüber zu entscheiden, ob die DV 30/10, die den Schußwaffengebrauch von Grenzsoldaten regelte, generell dazu geeignet war, Schüsse auf Flüchtlinge zu rechtfertigen. Denn die vom Angeklagten H. mit Tötungsvorsatz auf den gestellten Flüchtling Kittel abgegebenen Schüsse konnten durch die DV 30/10 in Verbindung mit dem Paßgesetz der DDR nicht gerechtfertigt sein, da beim Einsatz der Schußwaffe die Voraussetzungen der DV 30/10 nicht gegeben waren. Die DV 30/10 ließ unter bestimmten Umständen Schüsse, auch tödliche Schüsse auf flüchtende Grenzverletzer zu. Im einzelnen war der Einsatz der Schußwaffe nur erlaubt, wenn er das letzte Mittel war, um das Gelingen einer Flucht zu verhindern. Die DV 30/10 gestattete es, auf Flüchtlinge zu schießen, deren Festnahme mit anderen Mitteln nicht möglich war. Von der Schußwaffe durfte nicht mehr Gebrauch gemacht werden, wenn die Flucht beendet und die Flüchtlinge gestellt waren. Auf Flüchtlinge, die {35} ihre Flucht bereits abgebrochen hatten, wie Walter Kittel, ließ die DV 30/10 Schüsse nicht zu. Sie konnte deshalb die Schüsse des Angeklagten H. auf Kittel nicht rechtfertigen. Der Angeklagte H. hat schuldhaft gehandelt. Insbesondere war er sich darüber im Klaren, daß es ihm verboten war, auf Kittel, der seine Flucht abgebrochen und sich ergeben hatte, zu schießen, wenn er auch wußte, daß er für sein Verhalten nicht bestraft würde. Der Angeklagte H. hat auch nicht die tatsächliche Situation falsch eingeschätzt und irrtümlich Umstände angenommen, die seine Schüsse hätten rechtfertigen können. Insbesondere hat er nicht irrtümlich angenommen, Walter Kittel habe flüchten wollen. Der Angeklagte H. ist jedoch nicht an Kittel gemäß § 211 StGB zum Mörder geworden. Insbesondere hat er nicht aus sonst niedrigen Beweggründen gehandelt. Das ergab eine Gesamtwürdigung der Persönlichkeit und der Beweggründe des Angeklagten H. Der Angeklagte H. war zur Tatzeit 21 Jahre alt. Er hat bis dahin sozial eingeordnet gelebt, einen Beruf erlernt und war unbestraft. Von seiner Persönlichkeit her anpassungsbereit und wenig kritisch, war er zur Tatzeit fest in militärische Strukturen und die damals bei den Grenztruppen herrschende Ideologie eingebunden. Er war der Auffassung, Menschen, die aus der DDR fliehen wollten, seien Kriminelle und Feinde der DDR. Diese Einstellung bewirkte, daß er in dem bereits gestellten Flüchtling Kittel einen Verbrecher und politischen Gegner sah, der Schonung nicht verdiente. Der Angeklagte H. hat Kittel getötet, als dieser sich bereits ergeben hatte und wehrlos war. Er kannte die damals geltende Befehlslage und wußte, daß die Schußwaffe allenfalls gegen fliehende Grenzverletzer eingesetzt werden durfte, die anders nicht an der Flucht zu

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hindern waren. Über diese Befehlslage hat er sich vorsätzlich hinweggesetzt. Der Angeklagte H. wußte, daß er Kittel nicht töten durfte und war sich gleichzeitig dessen bewußt, daß er für die tödlichen Schüsse nicht bestraft würde. Der Angeklagte H. ist nach der Tat nicht nur unbestraft geblieben, sondern sogar von seinem {36} Vorgesetzten, dem Zeugen F., ausgezeichnet und befördert worden. Allerdings konnte der Senat nicht feststellen, daß der Angeklagte H. Kittel erschossen hat, weil er sich Anerkennung erwerben oder seinen persönlichen oder beruflichen Ehrgeiz befriedigen wollte. Es haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß sich der Angeklagte H. von der Tötung Kittels persönliche Vorteile welcher Art auch immer versprach. Er hat zwar den bereits gestellten, wehrlosen Grenzbrecher erschossen. Er hat dies jedoch in seiner Funktion und in seinem Selbstverständnis als Grenzsoldat der DDR getan, wenn er auch seine Befugnisse überschritten hat. Der Angeklagte H. hat die Situation, in der er Kittel tötete, nicht selbst geschaffen, sondern ist in Ausübung seines Dienstes mit Kittel als gestellten Flüchtling zusammengetroffen. In dieser Situation hat er Kittel vorsätzlich getötet, ohne daß dabei niedrige Beweggründe im Sinne des § 211 StGB zu erkennen waren. Angesichts dieser mit direktem Vorsatz ausgeführten Erschießung aus einer Entfernung von 20-25 m mit mehreren Salven aus der Maschinenpistole scheidet allerdings auch ein minder schwerer Fall des Totschlags im Sinne des § 213 StGB aus. 2. Der Angeklagte W. hat versucht, einen Menschen zu töten und hat sich gemäß §§212, 22, StGB strafbar gemacht, als er mit seiner Maschinenpistole Kalaschnikow aus einer Entfernung von höchstens 20-25 m aus der Hüfte mehrere Salven in den KfzGraben abgab, in dem sich die beiden gestellten Flüchtlinge Krause und Kittel aufhielten. Er hat dabei mit bedingtem Vorsatz gehandelt und den Tod Kittels und des Zeugen Krause billigend in Kauf genommen. Auch der früher Mitangeklagte B. hat in Richtung Krauses und Kittels in den Graben geschossen. Der Angeklagte W. und der früher Mitangeklagte B. haben dabei im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB als Mittäter gehandelt. In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, welcher der beiden Schützen den Schuß abgegeben hat, der den Zeugen Krause verletzte. {37} Der Angeklagte W. hat aus den gleichen Gründen wie der Angeklagte H. rechtswidrig und schuldhaft gehandelt. Beim Angeklagten W. haben sich keine Anhaltspunkte für das Vorliegen von Mordmerkmalen entsprechend § 211 StGB ergeben. Ebensowenig konnte der Senat Anknüpfungspunkte für das Vorliegen eines minder schweren Falles des versuchten Totschlags im Sinne der §§ 212, 213, 22, 23 StGB finden. 3. Verfolgungsveijährung ist nicht eingetreten. Zum Tatzeitpunkt betrug die Frist der Verfolgungsverjährung gemäß § 67 Abs. 1 Satz 2 StGB der DDR in der damals gültigen Fassung vom 11.12.1957 bei Totschlag 15 Jahre. Durch das am 1.07.1968 neu in Kraft getretene StGB der DDR wurde bei vorsätzlicher Tötung - die dieses Gesetz in § 112 als Mord bezeichnete - in zulässiger Weise die Verfolgungsveijährung auf 25 Jahre verlängert (§ 82 Abs. 1 Nr. 5). Bei keinem der beiden Angeklagten lagen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 113 StGB der DDR vom 1.07.1968 vor, der eine kürzere Verjährungsfrist nach sich gezogen hätte. Die Veqährung begann am 18.10.1965, am Tag, als die Tat beendet war (§ 82 Abs. 3 StGB der DDR vom 1.07.1968). Am Tag der deutschen Wiedervereinigung, dem 3.10.1990, wurde die Verfolgungsveijährung

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noch vor ihrem Ablauf gemäß Artikel 315a EGStGB in der Fassung der Anlage I, Kapitel III, Sachgebiet C, Abschnitt II, 1. c des Einigungsvertrags unterbrochen mit dem Ergebnis, daß eine Strafverfolgung nach wie vor möglich ist.

VI. [Anzuwendendes Recht] Zur Ahndung der Straftaten standen folgende Strafrahmen zur Verfügung: 1. Gemäß § 212 StGB war gegen den Angeklagten H. eine Freiheitsstrafe von fünf bis 15 Jahren auszusprechen. 2. Gegen den Angeklagten W. war gemäß §§ 212, 22, 49 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB eine Freiheitsstrafe zu verhängen, die zwei Jahre nicht {38} unterschreiten und elf Jahre und drei Monate nicht übersteigen durfte. 3. Der Senat ist hierbei gemäß Art. 315 Abs. 1 EGStGB in der Fassung der Anlage I, Kapitel III, Sachgebiet C, Abschnitt II, Nr. l b des Einigungsvertrages in Verbindung mit § 2 Abs. 3 StGB vom aktuellen StGB der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen, da die o. g. Strafrahmen für die Angeklagten am günstigsten sind. Das StGB der DDR in der Fassung vom 11.12.1957, das zur Tatzeit galt und dessen § 212 in der Tatbestandsbeschreibung mit dem aktuellen § 212 StGB identisch ist, sah bei Totschlag eine Zuchthausstrafe vor. Auch bei versuchtem Totschlag war gemäß § 44 Abs. 2 StGB der DDR in der Fassung vom 11.12.1957 eine Zuchthausstrafe zu verhängen. Das StGB der DDR vom 1.07.1968 bedrohte die vorsätzliche Tötung - hier als Mord bezeichnet gemäß § 112 mit einer Mindestfreiheitsstrafe von 10 Jahren. Da im übrigen auch die Voraussetzungen des § 113 StGB der DDR vom 1.07.1968 nicht vorlagen, stellte das aktuelle StGB der Bundesrepublik Deutschland für beide Angeklagte den günstigeren Strafrahmen zur Verfügung.

VII. [Strafzumessung] 1. Bei der gegen den Angeklagten H. zu verhängenden Strafe hat sich der Senat unter Berücksichtigung aller in § 46 StGB aufgeführten Strafzumessungserwägungen im wesentlichen von folgenden Überlegungen leiten lassen: Für den Angeklagten H. spricht, daß er die tödlichen Schüsse auf Kittel eingestanden und aus seiner Sicht dazu beigetragen hat, den Tathergang aufzuklären. Er hat erkennen lassen, daß er seine Tat bereut. Zu seinen Gunsten hat der Senat berücksichtigt, daß ihm seine militärische Ausbildung bei der NVA und hier insbesondere der ideologisch gegen sogenannte Grenzbrecher anstachelnde Politunterricht den Tatentschluß erleichtert haben wird. Mildernd hat der Senat zu Gunsten des Angeklagten H. den Umstand gewertet, daß die Tat bereits 27 Jahre zurückliegt. Für den Angeklagten H. spricht weiterhin, daß er unbestraft ist und sowohl vor als auch nach der Tat {39} sozial eingeordnet gelebt hat. Die besondere Haftempfindlichkeit des 48jährigen Angeklagten H., der den Strafvollzug noch nicht kennengelernt hat, hat sich zusätzlich strafmildernd ausgewirkt. Zu Ungunsten des Angeklagten H. fällt die Schwere seiner Tat ins Gewicht. Er hat ohne Not einen wehrlosen Menschen, einen Flüchtling, der sich bereits ergeben hatte, mit mehreren Salven aus seiner Maschinenpistole erschossen. Deshalb hat der Senat die

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Mindeststrafe geringfügig überschritten und gegen den Angeklagten H. eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren verhängt. Diese Strafe ist der Schuld des Angeklagten H. angemessen und erforderlich, aber auch ausreichend, um das Unrecht der Tat zu sühnen. 2. Beim Angeklagten W. hat der Senat eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren als tat- und schuldangemessene Strafe ausgesprochen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Anmerkungen 1 2

Vgl. Anhang S. 988f. Der Freispruch erfolgte aus tatsächlichen Gründen. Eine psychiatrische Sachverständige war in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis gelangt, dass bei diesem Angeklagten wegen einer zur Tatzeit gegebenen Debilität das Vorliegen der Voraussetzungen des § 20 StGB nicht ausgeschlossen werden könne.

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Inhaltsverzeichnis Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 20.10.1993, Az. 5 StR 473/93 Gründe

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I.

[Das Urteil der Strafkammer]

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II.

[Zur Veijährung]

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III. [Zu den Sachrügen der Angeklagten]

384

IV. [Zu den Sachrügen der Staatsanwaltschaft]

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V.

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[Strafzumessung]

Anmerkungen

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Bundesgerichtshof Az.: 5 StR 473/93

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20. Oktober 1993

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen Rolf-Dieter H. aus G., geboren 1944 in D., wegen Mordes {2} Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 19. Oktober 1993 in der Sitzung vom 20. Oktober 1993, woran teilgenommen haben: Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® {3} für Recht erkannt 1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Bezirksgerichts Potsdam vom 9. Dezember 1992 dahin abgeändert, daß der Angeklagte H. wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt wird. 2. Die Revision des Angeklagten H. gegen das genannte Urteil wird verworfen. 3. Der Angeklagte H. hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. - Von Rechts wegen -

Gründe Der Jugendsenat des Bezirksgerichts hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. 1 Hiergegen richten sich die zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft, die mit sachlichrechtlichen Beanstandungen eine Verurteilung wegen Mordes erstrebt, und die Revision des Angeklagten mit Verfahrensrügen und der Sachrüge. Während das Rechtsmittel des Angeklagten ohne Erfolg bleibt, fuhrt die Revision der Staatsanwaltschaft zur Änderung von Schuldspruch und Strafausspruch. {4} I.

[Das Urteil der Strafkammer]

® Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen.

II. [Zur Verjährung] Ein Verfahrenshindernis besteht nicht. 1. Verfolgungsverjährung ist nicht eingetreten. Dies gilt unabhängig vom Verjährungsgesetz vom 26. März 1993 (BGBl I S. 392). {6}

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a) Zur Tatzeit am 18. Oktober 1965 betrug die Verjährungsfrist nach der in der DDR geltenden Fassung des Strafgesetzbuchs für das vom Bezirksgericht angenommene Verbrechen des Totschlags ebenso wie fur das Verbrechen des Mordes zwanzig Jahre (§ 67 Abs. 1, § 212, § 211 Abs. 1 StGB i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung strafrechtlicher und verfahrensrechtlicher Bestimmungen vom 17. April 1963, GBl I S. 65). Diese Frist wurde für das Verbrechen der vorsätzlichen Tötung eines Menschen, das nach dem neuen Recht als Mord bezeichnet wurde, mit Wirkung vom 1. Juli 1968 auf fünfundzwanzig Jahre verlängert (§ 82 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 Satz 2, § 112 Abs. 1 StGB-DDR vom 12. Januar 1968 i.V.m. § 1 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 5 Abs. 1 EGStGBDDR vom selben Tag, GBl I S. 22, 97). Es kann dahinstehen, ob diese Verlängerung der Verjährungsfrist etwa an den Maßstäben des Grundgesetzes zu messen ist. Die genannte Regelung beschränkte ihre Wirkung auf Fälle noch laufender Verjährungsfrist, nahm die Fälle bereits eingetretener Verjährung ausdrücklich aus (§ 5 Abs. 2 EGStGB-DDR) und entsprach daher - jedenfalls für Verbrechen, die mit hohen Strafen bedroht sind - den Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung des Gesetzes über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen vom 13. April 1965 (BGBl I S. 315) aufgestellt hat (BVerfGE 25, 269). {7} b) Die fünfundzwanzigjährige Verjährungsfrist, die am 17. Oktober 1990 geendet hätte, wurde mit der Einigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 unterbrochen (Art. 315a Satz 2, 1. Halbsatz EGStGB i.d.F. des Einigungsvertrages Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1 Buchst, c, jetzt Art. 315a Satz 3, 1. Halbsatz EGStGB i.d.F. des Verjährungsgesetzes). aa) Der gesetzlichen Überschrift zu Artikel 315a EGStGB („Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung für in der Deutschen Demokratischen Republik verfolgte und abgeurteilte Taten") kommt keine die Anwendbarkeit der Vorschrift einschränkende Bedeutung zu, etwa derart, daß die Vorschrift nur auf diejenigen Fälle anwendbar wäre, wegen derer in der DDR mit der Strafverfolgung begonnen worden war (so aber Küpper/Wilms ZRP 1992, 91, 96; vgl. auch Schneiders MDR 1990, 1049, 1051 und Breymann NStZ 1991, 463). Die einschränkende Formulierung in der Überschrift findet im Wortlaut der Vorschrift keinen Niederschlag. Vielmehr enthält die Vorschrift selbst eine eindeutige und in sich geschlossene Gesamtregelung. Diese würde in unverständlicher, schwer praktikabler und verfassungsrechtlich zweifelhafter Weise durchbrochen, wenn sie nur bei bereits in der DDR aufgenommener Strafverfolgung Geltung hätte. Ein wesentliches Teilziel des Gesetzgebers, nämlich insbesondere die Verfolgung der in der DDR aus politischen Gründen nicht verfolgten Straftaten nunmehr zu ermöglichen, würde in Frage gestellt. Danach kann die genannte Fassung der Gesetzesüberschrift nur als ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers verstanden werden (ähnlich König NStZ 1991, 566, 567 Fußnote 18; Riedel DtZ 1992, 162, 164). {8} bb) Allerdings würde für die Tat des Angeklagten, wenn sie - wie das Bezirksgericht annimmt - als Totschlag nach § 212 StGB zu bewerten wäre und auf sie - theoretisch auch die Verjährungsvorschriften des Strafgesetzbuchs anzuwenden wären, eine gegenüber der fünfundzwanzigjährigen Verjährungsfrist des DDR-Rechts tätergünstigere Verjährungsfrist von zwanzig Jahren gelten (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB). Bei Mord nach § 211 StGB kehrt das Verhältnis sich angesichts der Unverjährbarkeit nach § 78 Abs. 2

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StGB um. Der Senat folgt jedoch nicht einer im Schrifttum vertretenen Ansicht, daß Art. 315a EGStGB entgegen dem Wortlaut nur auf diejenigen Fälle anzuwenden sei, in denen das Strafrecht der DDR längere Verjährungsfristen vorsah als das Strafgesetzbuch (so Schneiders a.a.O.). Denn Art. 315a EGStGB soll generell ausschließen, daß Strafansprüche der DDR nach dem Beitritt ohne weiteres verjähren. Hierbei haben solche Straftaten besondere Bedeutung, die in der DDR aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden (zum Ganzen König NStZ 1991, 566 f.). cc) Die Regelung des Art. 315a Satz 3, 1. Halbsatz EGStGB verstößt nicht gegen Verfassungsrecht. Da sie lediglich die Unterbrechung noch laufender Verjährungsfristen vorsieht, verletzt sie weder das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG noch sonst das Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerfGE 25, 269, 284, 289; vgl. auch BVerfGE 1, 418, 423 zum vergleichbaren Fall der Änderung der Vorschriften über die Hemmung der StrafVerfolgungsveijährung mit Wirkung für bereits begangene Taten; vgl. ferner Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig/Herzog, GG, Stand Dezember 1992, Art. 103 Abs. 2 Rdn. 245, 254 m.w.N.). {9} Soweit schließlich die Revision des Angeklagten meint, es sei „die Anwendung der jeweils günstigsten Veijährungsregel" geboten, widrigenfalls liege ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vor, ist zu bemerken: Unabhängig von der Rechtsnatur der Verjährungsvorschriften kann § 2 Abs. 3 StGB (i.V.m. Art. 315 EGStGB i.d.F. des Einigungsvertrages Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1 Buchst, b) jedenfalls insoweit nicht eingreifen, als Art. 315a EGStGB in der genannten Fassung des Einigungsvertrages für die VerfolgungsVerjährung eine spezielle und damit vorgehende Regelung enthält (Geiger JR 1992, 397 f.; Krehl DtZ 1992, 13, 14). Art. 315a Satz 3, 1. Halbsatz EGStGB verstößt auch nicht gegen den Gleichheitssatz. Denn Anknüpfungspunkt der Regelung, daß die bis dahin nicht eingetretene Verfolgungsverjährung als am 3. Oktober 1990 unterbrochen gilt, ist „ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender Grund" (vgl. BVerfGE 1, 14, 52). Dieser liegt zum einen darin, daß in der Zeit kurz vor und nach der Einigung Deutschlands die Rechtspflege im Gebiet der ehemaligen DDR teilweise stillstand, zum anderen in der Tatsache, daß insbesondere Straftaten der vorliegenden Art in der DDR überhaupt nicht verfolgt wurden. Zudem werden die Wirkungen des Art. 315a Satz 3, 1. Halbsatz EGStGB durch den 2. Halbsatz der Vorschrift erheblich gemildert (zu alledem König a.a.O.). Im übrigen entfällt das an die zwanzigjährige Verjährungsfrist für Totschlag (§ 78 Abs. 3 Nr. 2, § 212 Abs. 1 StGB) anknüpfende Gleichheitsargument beim Vorliegen eines Mordes nach § 211 StGB angesichts der Unveijährbarkeit eines solchen Verbrechens nach § 78 Abs. 2 StGB. {10} 2. Die Verfolgung der Tat ist nicht durch in der DDR erlassene Amnestien ausgeschlossen. a) Bohnert vertritt die Ansicht, daß wegen in der DDR erfolgter Amnestien die Verfolgung dort begangener Taten weitgehend unzulässig sei, was insbesondere „die Mehrzahl der Mauerschützen und den größten Teil der Delinquenz von Staatsfunktionären" betreffe (DtZ 1993, 167 f f , 173). Eine derart weitreichende Wirkung der Amnestien nimmt der Senat nicht an.

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Dokumente - Teil 1

b) Nach der Tat des Angeklagten ergingen in der DDR acht Regelungen, durch die die DDR ihren Strafverfolgungsanspruch in dem jeweils bestimmten Rahmen aufgegeben oder modifiziert hat. Dies geschah in zwei Fällen durch Gesetz (Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsbürgerschaft vom 16. Oktober 1972, GBl I S. 265; Gesetz zum teilweisen Straferlaß vom 28. September 1990, GBl I S. 1987), einmal durch eine Verordnung (Verordnung zu Fragen der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Juni 1982, GBl I S. 418) und in den übrigen fünf Fällen durch einen „Beschluß des Staatsrates über eine Amnestie" (Beschluß vom 6. Oktober 1972, veröffentlicht offenbar nur in Neues Deutschland vom 7. Oktober 1972; Beschluß vom 24. September 1979, GBl I S. 281; Beschluß vom 17. Juli 1987, GBl I S. 191; Beschluß vom 27. Oktober 1989, GBl I S. 237; Beschluß vom 6. Dezember 1989, GBl I S. 266), beruhend auf Artikel 74 Abs. 2 der Verfassung der DDR, wonach der Staatsrat „das Amnestie- und Begnadigungsrecht" ausübte. In der Sache haben diese Regelungen unterschiedlichen Rechtscharakter. {11} Zutreffend weist Bohnert (a.a.O. S. 167) darauf hin, daß der Rechtskomplex der Wirkungen der in der DDR erfolgten Amnestierungen im weitesten Sinne im Einigungsvertrag ohne spezielle Regelung geblieben ist, vielmehr der Auslegung durch Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen wurde. Danach werden sachlichrechtliche, vollstreckungsrechtliche und verfahrensrechtliche Fragen jeweils nach den dafür geltenden Regelungen des Einigungsvertrages zu behandeln sein. Indes kann hier dahingestellt bleiben, welche Übergangsregeln danach im einzelnen gelten; denn die Tat des Angeklagten wird von keiner der genannten acht Regelungen sachlich erfaßt. aa) Ob sich dies schon daraus ergibt, daß Schüsse der Grenzsoldaten an den innerdeutschen Grenzen von vornherein außerhalb des Wirkungsbereichs der genannten Regelungen standen, bedarf keiner Entscheidung. Für eine solche Entscheidung kann folgendes sprechen: Die Amnestien der DDR, ob im Neuen Deutschland oder im Gesetzblatt der DDR verkündet, hatten jeweils besonders zweckhaften Charakter und waren keine Generalamnestien, sondern erfaßten jeweils nur bestimmte Bereiche des nach den Vorschriften der DDR strafbaren Verhaltens. Es liegt nicht nahe, daß Taten der vorliegenden Art nach dem Willen des Amnestiegebers umfaßt wurden. Dem Senat ist aus der bisherigen Befassung mit Tötungs- und Körperverletzungsdelikten von Grenzsoldaten der DDR bekannt, daß der Schußwaffengebrauch durch Grenzsoldaten der DDR von den Strafverfolgungsorganen der DDR keinesfalls verfolgt wurde, nicht einmal bei offensichtlichem Überschreiten der formalen Legitimation zum Schießen. Vielmehr wurden die an einem Schußwaffenge-{12}brauch beteiligten Grenzsoldaten stets in irgendeiner Form belobigt oder ausgezeichnet (vgl. BGHSt 39, 1, 11 ff.2). Der vorliegende Fall fügt dem ein weiteres Beispiel hinzu. Wurden also Schüsse der DDR-Grenzsoldaten auf Flüchtlinge seitens der Strafverfolgungsbehörden der DDR durchgehend nicht als zu verfolgendes Unrecht behandelt, so bestand auch für den zur Amnestierung befugten Staatsrat der DDR kein Grund, derartige Taten einer Amnestieregelung zu unterwerfen. Was außerhalb jeder Verfolgung stand, bedurfte keiner Amnestie. bb) Schon nach dem Wortlaut der Amnestien war die Tat des Angeklagten von ihnen nicht erfaßt.

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Erschießung eines flüchtenden DDR-Bürgers nach Gefangennahme - Fall Kittel

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Die Beschlüsse vom 6. Oktober 1972 und vom 24. September 1979 sowie das Gesetz vom 28. September 1990 betrafen ohne Ausnahme nur rechtskräftig Verurteilte. Das Gesetz vom 16. Oktober 1972, die Verordnung vom 21. Juni 1982 und der Beschluß vom 27. Oktober 1989 betrafen nur das „ungenehmigte Verlassen" der DDR bzw. den „ungesetzlichen Grenzübertritt". Der Beschluß des Staatsrates vom 17. Juli 1987 erstreckt sich nach seiner Nr. 1 nur auf rechtskräftig Verurteilte. Nach der dortigen Nr. 3 ist die Entlassung der Amnestierten „aus dem Strafvollzug und der Untersuchungshaft" bis zum 12. Dezember 1987 abzuschließen. Nr. 4 des Beschlusses lautet: „Der Vorsitzende des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik verkündet die Amnestie und trifft die erforderlichen Festlegungen." In den daraufhin ergangenen „Festlegungen" des Vorsitzenden des Staatsrates vom 17. Juli 1987 (GBl I S. 192) findet sich unter Nr. 3 folgende Regelung: „Ermittlungsverfahren gegen Personen und nicht {13} rechtskräftig abgeschlossene Strafverfahren, die vor dem 7. Oktober 1987 eingeleitet wurden, sind einzustellen, sofern keine dem Anliegen der Amnestie entgegenstehenden Ausschließungsgründe vorliegen und im Zeitraum bis zum Abschluß der Amnestie die allseitige Aufklärung der Straftat gewährleistet ist."

Damit dürfte der Staatsratsvorsitzende, wie Bohnert (a.a.O. S. 172) näher ausführt, den auf rechtskräftig Verurteilte beschränkten Wirkungsbereich der vom Staatsrat beschlossenen Amnestie auf Ermittlungsverfahren und nicht rechtskräftig abgeschlossene Strafverfahren „erweitert" haben. Ob dies von der Ermächtigung unter Nr. 4 des Beschlusses des Staatsrates gedeckt ist, wofür allein die Erwähnung auch der Untersuchungshaft unter Nr. 3 des Beschlusses sprechen kann, mag hinstehen; denn die Nr. 3 der „Festlegungen" enthält am Ende die bedeutsame Einschränkung, daß „im Zeitraum bis zum Abschluß der Amnestie die allseitige Aufklärung der Straftat gewährleistet" sein muß. Der damit gemeinte Zeitraum war ersichtlich der in Nr. 3 des Beschlusses genannte, nämlich die Zeit bis zum 12. Dezember 1987. Was mit der Gewährleistung der allseitigen Aufklärung der Straftat gemeint war, erhellt aus Äußerungen des Generalstaatsanwalts der DDR Wendland (NJ 1987, 396, 397 und 1988, 63, 64), nämlich ein „offenes, rückhaltloses Geständnis des Täters". Die Amnestie erfaßte also (insoweit anders als der Beschluß vom 27. Oktober 1989, der sich auch auf „Straftaten" bezieht, die „erst später bekannt werden") allenfalls solche nach dem Recht der DDR strafbaren Handlungen, deretwegen es bis zum 12. Dezember 1987 zu einem Ermittlungsverfahren kam. {14} Der Beschluß vom 6. Dezember 1989 betrifft zwar außer rechtskräftig Verurteilten auch Personen, gegen die ein „Verdacht" besteht, die aber vor dem 6. Dezember 1989 noch nicht rechtskräftig verurteilt wurden. Sie „sind nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung zu amnestieren" (Nr. 3 des Beschlusses). Auch dies spricht fur die Auslegung, daß nur Fälle erfaßt wurden, wegen derer im Zeitpunkt der Amnestie bereits ein Strafverfahren stattfand. Schließlich sind im Beschluß vom 6. Oktober 1972 Mord und „Gewaltverbrechen", im Beschluß vom 24. September 1979 „besonders schwere Verbrechen, wie Mord" und „andere Gewaltverbrechen", im Beschluß vom 6. Dezember 1989 „vorsätzliche Tötungsdelikte" und im Beschluß vom 17. Juli 1987 sowie im Gesetz vom 28. September 1990 die Fälle des Mordes vom Wirkungsbereich der jeweiligen Amnestie ausgenommen.

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III. [Zu den Sachrügen der Angeklagten] Die Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg. 1. Ob die Besetzungsrügen in zulässiger Weise erhoben sind, kann dahinstehen; denn sie sind jedenfalls unbegründet. {15} a) Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, das erkennende Gericht sei deshalb nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 338 Nr. 1 StPO), weil diesem nur zwei statt drei Berufsrichter (sowie zwei Schöffen) angehört haben. Die Besetzung des Gerichts entspricht jedoch der gesetzlichen Regelung, gegen deren Verfassungsmäßigkeit der Senat keine Bedenken hat. aa) Der Jugendsenat des Bezirksgerichts Potsdam hatte in der Hauptverhandlung als erkennendes Gericht im ersten Rechtszug durch zwei Richter und zwei Schöffen zu entscheiden (Einigungsvertrag Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 mit Maßgabe Buchst, j Abs. 1 Nr. 1 Buchst, a). bb) Im Ausgangspunkt zutreffend ist der vergleichende Hinweis der Revision auf die mit drei Richtern und zwei Schöffen besetzte Jugendkammer (§ 33 Abs. 3 Satz 1 JGG a.F.; § 33b Abs. 1 und 2 JGG i.d.F. des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993, BGBl IS. 50). Indes verletzt die unterschiedliche Besetzung der genannten Spruchkörper nicht das Gebot des gesetzlichen Richters in Verbindung mit dem Gleichheitssatz. Bei der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands fand der Gesetzgeber im Gebiet der DDR Richter, die im Dienst verbleiben würden, oder Personen, die für eine Tätigkeit als Richter in Betracht kamen, nur in knapper Zahl vor. Die Gewinnung von Richtern aus den alten Bundesländern war nur in begrenztem Umfang möglich. Die Ausbildung des Nachwuchses bedarf einiger Zeit. Deshalb hat der Gesetzgeber für eine Übergangszeit Sonderrege-{16}lungen als unvermeidlich erachtet (Erläuterungen zu den Anlagen zum Einigungsvertrag, BTDrucks. 11/7817 S. 7 ff.). Er hat daher die in der DDR bestehende Gerichtsstruktur für eine Übergangszeit weitgehend beibehalten und dabei insbesondere als notwendig in Kauf genommen, daß die Besetzung der Strafsenate der Bezirksgerichte „aus Gründen des Richtermangels gegenüber der großen Strafkammer reduziert" ist (a.a.O. S. 12). Die damit verbundene und von der Revision hervorgehobene gewisse Verschiebung der Gewichte zwischen den Berufsrichtern einerseits und den Schöffen andererseits wird durch das in weitem Umfang geltende Erfordernis der Zweidrittelmehrheit bei Abstimmungen (§ 263 StPO) relativiert. Die Gesamtregelung ist danach durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Für die im Zuge der Einigung Deutschlands zu treffenden Regelungen insbesondere der Gerichtsverfassung muß dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zugebilligt werden (vgl. BVerfG DtZ 1990, 276; NJW 1991, 1597; BVerfG 1. Kammer des Ersten Senats DtZ 1991, 408; BVerfG 2. Kammer des Zweiten Senats Beschluß vom 10. Mai 1992 - 2 BvR 528/92 - ; BGH NStZ 1992, 502 und BGH Beschluß vom 25. Februar 1992 - 5 StR 41/92 -). Nach diesem Maßstab ist die Einschätzung des Gesetzgebers, eine einheitliche Gerichtsverfassung für Deutschland lasse sich nur oder zumindest am besten unter Inkaufnahme zeitlich begrenzt geltenden partiell differierenden Bundesrechts des genannten Inhalts herstellen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

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b) Auch mit den Schöffen S. und G. war der Jugendsenat - entgegen der Ansicht der Revision - nicht vorschriftswidrig besetzt. {17} ® Es folgen eingehende Ausführungen zur Zulässigkeit abweichender Bestimmungen für die neuen Bundesländer und zur Unbeachtlichkeit der vom Wahlausschuß begangenen Fehler. ® {21} 2. Die Überprüfung des Urteils auf die allgemein erhobene Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt. Der Erörterung bedarf nur folgendes. a) Zu Recht hat das Bezirksgericht (UA S. 34 f.) angenommen, daß die Tat des Angeklagten rechtswidrig war. Zur Tatzeit war der Schußwaffengebrauch der DDR-Grenzsoldaten nicht durch ein Gesetz, sondern lediglich durch die am 1. Mai 1964 in Kraft getretene „Vorschrift über die Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie" des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR vom 8. Februar 1964 (DV-30/10) 3 geregelt. Dieses Regelungswerk war noch weniger als das Grenzgesetz der DDR vom 25. März 1982 (GBl I S. 197; vgl. dazu BGHSt 39, 1, 9 ff.; 39, 1684; zum Gesamtzusammenhang BGHSt 39, 199 und BGH NStZ 1993, 488) geeignet, vorsätzliches tödliches Schießen auf Flüchtlinge an den innerdeutschen Grenzen zu rechtfertigen. Abgesehen davon war die Tat des Angeklagten von den „Handlungserlaubnissen" der DV-30/10 nicht gedeckt, verstieß sie vielmehr sogar gegen das Schießverbot des Regelungswerkes. Dort war in Abschnitt IX „der Gebrauch der Schußwaffe" geregelt. Unter Nr. 114 bis 116 war in umfangreichen Einzelregelungen vorgesehen, in welchen Fällen von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden durfte. Soweit es den vorliegenden Zusammenhang betrifft, war darin der Schußwaffengebrauch nur in den Fällen gestattet, in denen er zur präventiven Verhinderung eines Grenzübertritts erforderlich war. Nr. 117 der DV-30/10 lautete: „(l)Der Gebrauch der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Er ist nur dann zulässig, wenn alle anderen Maßnahmen {22} erfolglos blieben oder dann, wenn es auf Grund der Lage nicht möglich ist, andere Maßnahmen zu treffen. (2) Von der Schußwaffe darf insbesondere nicht oder nicht mehr Gebrauch gemacht werden, wenn ... b) die Umstände, die den Gebrauch der Schußwaffe rechtfertigen, nicht oder nicht mehr vorliegen (z.B. wenn kein unmittelbar drohender Angriff vorliegt oder dieser mit anderen Mitteln abgewehrt werden kann, wenn der Widerstand inzwischen gebrochen ist usw.)."

Der Fluchtversuch war endgültig gescheitert. Die Flüchtlinge hatten sich ergeben, befanden sich im Graben und wurden durch die auf sie gerichteten Maschinenpistolen der Grenzsoldaten in Schach gehalten. Ein Fluchtversuch, der aus der Sicht des Angeklagten etwa hätte verhindert werden müssen, lag „nicht mehr" (vgl. Nr. 117 Abs. 2 Buchst, b DV-30/10) vor. Auf die insbesondere in dem Senatsurteil BGHSt 39, 1 erörterten Rechtfertigungs- und Rückwirkungsprobleme kommt es deshalb hier nicht an. b) Rechtsfehlerfrei hat das Bezirksgericht (UA S. 24 f f , 35) ausgeschlossen, daß der Angeklagte irrtümlich Umstände angenommen hat, die seine Schüsse gerechtfertigt hätten, oder die Verbotenheit seines Tuns verkannt hat.

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IV. [Zu den Sachrügen der Staatsanwaltschaft] Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. {23} 1. Zu Recht beanstandet die Staatsanwaltschaft, daß das Bezirksgericht den Angeklagten nicht wegen Mordes verurteilt hat. Der Angeklagte hat sein Opfer heimtückisch (im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB, des § 211 Abs. 2 StGB in der zur Tatzeit in der DDR geltenden Fassung und des § 112 Abs. 2 Nr. 3 StGB-DDR von 1968, Nachweise oben II. 1. a) getötet. Nach ständiger Rechtsprechung handelt heimtückisch, wer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewußt zur Tötung ausnutzt. Der in diesem Mordmerkmal zum Ausdruck kommende höhere Unrechtsgehalt des Täterverhaltens liegt darin, daß der Mörder sein Opfer in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren (BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 2 m.w.N.). Arglos ist, wer sich keiner Feindseligkeit des Täters versieht (BGHSt 27, 322, 324). Allerdings hat das Bezirksgericht zu den vom Opfer gehegten Vorstellungen keine ausdrücklichen Feststellungen getroffen. Indes ergibt sich aus dem Verhalten Kittels ohne weiteres, daß er keinen Angriff des Angeklagten erwartete. Nur so ist zu erklären, daß Kittel sich aus der Deckung, die ihm der Graben bot, erhob, um den Grenzposten entgegenzugehen. Diese Arglosigkeit wird nicht durch das generelle Mißtrauen ausgeschlossen, das Kittel „rollenbedingt" als Flüchtling gegen den Angeklagten als Angehörigen der Grenztruppen der DDR gehegt haben mag. Denn es kommt insoweit nicht auf ein allgemein begründetes Mißtrauen, sondern allein darauf an, ob das Opfer im Tatzeitpunkt mit Feindseligkeiten des Täters rechnet. Deshalb ist {24} insbesondere anerkannt, daß auch Zivil- oder Kriegsgefangene - trotz ihres naheliegenden allgemeinen Mißtrauens arglos gegenüber ihren Bewachern sein können (BGHSt 2, 251, 254; 6, 120; Jähnke in LK 10. Aufl. §211 Rdn. 44 m.w.N.; vgl. auch Geilen, Gedächtnisschrift für Horst Schröder, 1978, S. 235,250). Auch das vorangegangene Geschehen steht der Arglosigkeit Kittels dem Angeklagten gegenüber nicht entgegen. Allerdings hatten die Grenzposten W. und B. Sperrfeuer schräg hinter die beiden Flüchtlinge abgegeben, um ihnen den Weg zum Grenzzaun abzuschneiden. Nachdem die beiden Flüchtlinge in den Graben gelangt waren, hatten W. und B. „zur Mahnung" mehrere Dauerfeuersalven in den Graben abgegeben und dabei Krause schwer verletzt. Diese Vorgänge waren jedoch in der Weise abgeschlossen, daß W. und B. mit ihren Maschinenpistolen die beiden im Graben befindlichen Flüchtlinge in Schach hielten. Zudem war einige Zeit vergangen, bis der Angeklagte zum Tatort gekommen war und informiert wurde. Wenn der Angeklagte nunmehr den Flüchtlingen befahl, aus dem Graben zu kommen, so hatten sie keinen Anlaß zu der Annahme, der Angeklagte werde tätlich gegen sie vorgehen, gar auf sie schießen. Hierdurch unterscheidet der vorliegende Sachverhalt sich von denjenigen Fällen, in denen eine offene feindselige Auseinandersetzung andauert und daher Arglosigkeit des Opfers ausgeschlossen ist (so z.B. BGHSt 19, 321, 322; 27, 322, 324; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 17). Vielmehr entspricht das vorliegende Geschehen insofern eher dem Fall der beendeten offenen feindseligen Auseinandersetzung (dazu BGHSt 28, 210, 211). Nach der Beruhigung der Lage, dem weiteren Zeitablauf und dem Hinzukommen des

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Angeklagten, das nach der Gesamtsi-{25}tuation auch von Kittel nur als das Erscheinen eines vorgesetzten Grenzsoldaten verstanden werden konnte, hatte Kittel allen Anlaß zu der Annahme, er werde nunmehr nach der elementaren Regel behandelt werden, die praktisch allen nationalen Polizeirechts-, Grenzrechts- und Strafverfahrensordnungen sowie selbst dem Kriegsvölkerrecht gemein ist, nämlich als Unbewaffheter, der sich ergeben hat, in Gefangenschaft geführt zu werden, ohne daß ihm körperliches Leid geschehen würde. Infolge dieser Arglosigkeit war Kittel wehrlos; denn er gab die sein Leben schützende Deckung des Grabens auf. Hierdurch unterscheidet sich das vorliegende Geschehen von denjenigen Fällen, in denen lediglich die - nicht auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit eines Gefangenen ausgenutzt wird (vgl. dazu BGH, Urteil vom 20. September 1 9 6 6 - 5 StR 321/66 - und Dreher/Tröndle, StGB, 46. Aufl. § 211 Rdn. 6a). Dieser Situation war sich der Angeklagte, der von W. kurz über die vorangegangenen Geschehnisse informiert worden war, daraufhin das Kommando übernahm (UA S. 17) und die Lage beherrschte (UA S. 33 f.), trotz Ermüdung und Aufgeregtheit (UA S. 32) bewußt (vgl. auch UA S. 35, 36, 39). Diese ihm bekannte auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit seines Opfers hat der Angeklagte ausgenutzt. Bei einer derart wie hier offen zutage liegenden, dem Täter bewußten Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers versteht es sich von selbst, daß der Täter diese Situation ausnutzt, wenn er das Opfer tötet (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 1). {26} 2. Der Senat ändert nach § 354 Abs. 1 StPO den Schuldspruch dahin, daß der Angeklagte des Mordes schuldig ist. § 265 Abs. 1 StPO steht dieser Schuldspruchänderung nicht entgegen. Bereits durch die Anklage wurde dem Angeklagten ein Mord nach § 112 StGB-DDR, § 211 StGB vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft hat in ihrem Schlußantrag Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes beantragt. Allerdings wurde in der Anklageschrift ein bestimmtes Mordmerkmal, insbesondere die Heimtücke, nicht besonders benannt. Gleichwohl kann der Senat (ähnlich wie im Senatsurteil vom 7. September 1993 - 5 StR 455/93 S. 10) ausschließen, daß der Angeklagte sich in tatsächlicher Hinsicht anders als geschehen gegen den Vorwurf heimtückischen Mordes hätte verteidigen können. Denn nach dem angefochtenen Urteil (UA S. 24 ff.) hat der Angeklagte in der tatgerichtlichen Hauptverhandlung die Schüsse auf Kittel zugegeben, jedoch diejenigen Umstände bestritten, die den heimtückischen Charakter seiner Tat begründen. Den letztgenannten Teil der Einlassung des Angeklagten hat das Bezirksgericht aufgrund der Beweisaufnahme für widerlegt erachtet.

V.

[Strafzumessung]

Die Strafe muß danach neu bemessen werden. Dabei ist nach dem angefochtenen Urteil davon auszugehen, daß ein Fall verminderter Schuld nicht vorliegt. {27} 1. Zwischen Tatbegehung und Aburteilung bestanden nacheinander vier verschiedene Strafdrohungen. Von diesen ist das mildeste Gesetz anzuwenden (§ 2 Abs. 3 StGB i.V.m. Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB i.d.F. des Einigungsvertrages Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1 Buchst, b). Hierbei ist auch ein „Zwischengesetz", also ein Gesetz, das zur Tatzeit noch nicht galt und bei der Entscheidung nicht mehr

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gilt, einzubeziehen (Gribbohm in LK, 11. Aufl., § 2 Rdn. 21 m.w.N.). Neben den ab der Tatzeit geltenden Vorschriften der DDR, die Zuchthaus oder gar Todesstrafe vorsahen (§211 StGB in der im Jahre 1965 in der DDR geltenden Fassung; § 112 StGB-DDR von 1968; Nachweise oben II. 1. a) und § 211 StGB mit der zwingenden Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe ist die mildeste Strafdrohung fiir Mord diejenige, die nach §112 StGB-DDR seit dem 4. Strafrechtsänderungsgesetz der DDR vom 18. Dezember 1987 (GBl I S. 301) bis zur Einigung Deutschlands galt, nämlich Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder „lebenslängliche" Freiheitsstrafe. Dem letztgenannten Rahmen ist die zu verhängende Strafe zu entnehmen. 2. Der Senat setzt diese Strafe in Übereinstimmung mit dem Antrag des Generalbundesanwalts - und mit dem Revisionsantrag der Staatsanwaltschaft - nach § 354 Abs. 1 StPO auf die gesetzlich niedrigste Strafe von zehn Jahren Freiheitsstrafe fest. {28} An diesem Ergebnis würde sich wegen der Besonderheiten des Falles auch dann nichts ändern, wenn neben Heimtücke das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe vorläge.

Anmerkungen 1 2 3 4

388

Vgl. lfd. Nr. 10-1. Vgl. lfd. Nr. 2-2. Vgl. Anhang S. 988f. Vgl. lfd. Nr. 1-2.

Lfd. Nr. 11 Schüsse über die Grenze - Fall Preußner 1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 1.7.1993, Az. 1 Ks 11 Js 4457/92

391

2. Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 18.1.1994, Az. 1 StR 740/93

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3. Erneutes tatrichterliches Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 20.6.1994, Az. 2 Ks 11 Js 4457/92

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Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 1.7.1993, Az. 1 Ks 11 Js 4457/92 Gründe

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I.

[Feststellungen zur Person]

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II.

[Sachverhaltsfeststellungen] 1. [Stellung des Angeklagten und Befehlslage]

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2.

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[Ablauf der Tat]

III. [Beweiswürdigung]

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IV. [Rechtliche Würdigung]

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V.

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[Strafzumessung]

Anmerkungen

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Landgericht Schweinftirt Az.: 1 Ks 11 Js 4457/92

1. Juli 1993

URTEIL Im Namen des Volkes Die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Schweinftirt als Schwurgericht erkennt in dem Strafverfahren gegen Huck, Paul, geb. 1933 in K., verh., gel. Bau- und Möbelschreiner, zul. Berufssoldat, jetzt Rentner, deutscher Staatsangehöriger wegen Mordes auf Grund der Hauptverhandlung vom 15.6., 17.6., 22.6., 24.6. und 1.7.1993, an der teilgenommen haben: ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® {2} fur Recht: 1. Der Angeklagte Paul Huck, geb. 1933 ist schuldig des Totschlags. 2. Er wird hierwegen zur Freiheitsstrafe von 5 (fünf) Jahren 6 (sechs) Monaten verurteilt. 3. Der Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens und die hieraus erwachsenden Auslagen zu tragen. Angewendete Straf vorschriften: § 212 StGB

Gründe I.

[Feststellungen zur Person]

Der Angeklagte wurde 1933 im thüringischen K. geboren. Er wuchs dort als drittes von vier Geschwistern ohne Auffälligkeiten im elterlichen Haushalt auf. Von 1940 bis 1948 besuchte er die Volksschule. Seine Eltern ließen sich im selben Jahr scheiden, der Angeklagte verbrachte seine weitere Jugend bei der {3} Mutter. Er erlernte den Beruf eines Bau- und Möbeltischlers, die Gesellenprüfung legte er im Jahre 1951 ab. Anschließend war er für zwei Jahre bei zwei Firmen in Sachsen bzw. Thüringen als Zimmermann unter Tage im Uranabbau tätig. Später arbeitete er als Tischler in einer Möbelfabrik. Im Mai 1954 trat er als Wehrpflichtiger bei der Grenzpolizei der damaligen DDR ein. Nachdem dort Mangel an Freiwilligen herrschte, verpflichtete sich der Angeklagte auf ein entsprechendes Angebot seiner Vorgesetzten zunächst fur 3 Jahre, später wurde er Berufssoldat. Nach Ableistung seines Grundwehrdienstes besuchte er im Jahre 1955 die Unteroffiziersschule und war danach zunächst als Gruppenführer in der Grenzkompanie

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in Frankenheim (Rhön), später in einer Ausbildungskompanie in Meiningen tätig. Seinen weiteren Dienst leistete er dann im Erzgebirge ab. Der Angeklagte heiratete im Jahre 1957 seine jetzige Ehefrau. Dieser Verbindung entstammt sein heute 31-jähriger Sohn. Der Angeklagte trat 1957 in die SED ein, welcher er bis zu deren Auflösung angehörte. Nachdem er 1959 zum Feldwebel befördert worden war, besuchte er 1960 die Offiziersschule und wurde am 01.07.1960 zum Unterleutnant ernannt. In der Folgezeit war er an verschiedenen Dienstorten tätig, bevor er 1963 wieder zu einer Grenzkompanie kam. Im Rahmen der Regelbeförderung wurde er 1962 zum Leutnant, 1964 zum Oberleutnant und 1966 zum Hauptmann ernannt. 1965 kam er als stellvertretender Kompaniechef zur 11. Pionierkompanie der 11. Grenzbrigade nach Helmershausen im Kreis Meinigen. Dort verblieb er bis 1971 und wechselte auf eigenen Wunsch als Major zu einem Regiment nach Meiningen in den Inneren Dienst. 1984 schied er aus dem aktiven Wehrdienst aus und wurde diensthabender Offizier der Grenzübergangsstelle Eußenhausen. Am 31.08.1990 schied er aus der Nationalen Volksarmee aus und lebt seither als Rentner in M. ® Es folgen Angaben zur Einkommenssituation des Angeklagten. ® {4} Der Angeklagte ist nicht vorbestraft. II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

1. [Stellung des Angeklagten und Befehlslage] Der Angeklagte war im Jahre 1969 stellvertretender Kompaniechef der 11. Pionierkompanie der 11. Grenzbrigade. Die Kompanie unterstand als Sondereinheit direkt der Grenzbrigade. Sie besaß vier Züge mit insgesamt 100 Mann, deren Aufgabe bestand darin, zwischen dem Dreiländereck Thüringen, Hessen, Bayern und Sonneberg die Grenzsicherungsanlagen zu überprüfen und ggf. zu erneuern. Die Mannschaftsdienstgrade bestanden aus Wehrpflichtigen. Während der Grenzarbeiten patrouillierten Sicherungsposten der von der Pionierkompanie unabhängigen 4. Grenzkompanie der 9. Grenzbrigade zur Grenzsicherung und um eventuelle Fluchtversuche von Pionieren zu verhindern. Deren Mannschaftsdienstgrade bestanden ebenfalls aus Wehrpflichtigen. Der Angeklagte war in dieser Zeit nicht nur stellvertretender Kompaniechef, sondern auch Stellvertreter für die politische Aufklärung. In dieser Funktion hatte er die ihm unterstellten Soldaten theoretisch in den staatstragenden Ideen der DDR zu schulen. Der Angeklagte war kein überzeugter Kommunist, er verhielt sich jedoch nach eigenem Verständnis als Offizier stets loyal gegenüber dem Staat. Er war ein guter Schütze, auch wenn die Schießausbildung an der Maschinenpistole bzw. der Pistole in den letzten Jahren nur sporadisch erfolgt war. Mit Wirkung vom 01.05.1967 war fur den Angeklagten als Führungskraft innerhalb der Armee die Dienstanweisung DV-30/10 „Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie"1 maßgeblich. Gemäß {5} Ziffer 203d des 11. Abschnitts war der Gebrauch der Schußwaffe u.a. für ständige Waffenträger bei Fehlen anderweitiger Mittel zulässig, um Handlungen gegen die Arbeiter- und Bauernmacht zu unterbinden, Verbrecher, Agenten usw. bei Widerstand oder Flucht unschädlich zu machen sowie zur Verhinderung von Angriffen auf staatliche usw. Einrichtungen. Gemäß Ziffer 204 durften Wach- und Grenzposten der Grenztruppe die Waffe auch zu vorläufigen

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Festnahmen von Personen, welche die Staatsgrenze zu durchbrechen versuchen, trotz Anrufs bzw. Abgabe eines Warnschusses nicht stehenbleiben, gebrauchen, wenn keine andere Möglichkeit zur vorläufigen Festnahme besteht. Ziffer 206 Abs. 1 lautete: „Der Gebrauch der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Er ist nur dann zulässig, wenn alle anderen Maßnahmen erfolglos bleiben, oder dann, wenn es aufgrund der Lage nicht möglich war, andere Maßnahmen zu treffen".

Abs. 2 lautete: „Von der Schußwaffe darf insbesondere nicht oder nicht mehr Gebrauch gemacht werden, wenn a) ... b) die Umstände, die den Gebrauch der Schußwaffe rechtfertigen, nicht oder nicht mehr vorliegen (z.B. wenn kein unmittelbarer drohender Angriff vorliegt oder dieser mit anderen Mitteln abgewendet werden kann, wenn der Widerstand inzwischen gebrochen ist usw.)."

Ziffer 208 lautete: „Die Schußwaffe darf nur in Richtung des Territoriums der Deutschen Demokratischen Republik oder parallel zur Staatsgrenze gegen Grenzverletzer angewendet werden."

Daneben bestand die allgemeine mündliche Anweisung von vorgesetzter Stelle, daß Grenzdurchbrüche und Fahnenflucht auf jeden Fall {6} zu verhindern seien, wenn auch willkürliches Handeln verboten war. Entgegen Ziffer 208 der DV-30/10 bestand danach auch ein Ermessensspielraum, ob notfalls auf feindwärtiges Gebiet zu schießen sei. Vor jeder Arbeitsperiode wiesen die Vorgesetzten die Pioniere der Kompanie darauf hin, daß bei Überschreiten des Trassierbandes, welches von den Sicherungsposten vor Beginn der jeweiligen Tätigkeit ca. 10 m vor der Demarkationslinie ausgelegt wurde, sofort geschossen werde.

2.

[Ablauf der Tat]

Am 06.08.1969 war die 11. Pionierkompanie an der Staatsgrenze zwischen den Gemeinden Mendhausen, Kreis Meiningen, und Rothhausen, ehemals Landkreis Bad Königshofen, tätig. Ihre Aufgabe bestand darin, den feindwärtigen Stacheldrahtzaun durch einen neuen Sicherungszaun zu ersetzen. Mittags wurde der Angeklagte in den dortigen Abschnitt befohlen, da sich der Kompaniechef zu anderweitigen Dienstgeschäften wegbegeben hatte. Der Angeklagte war nunmehr der ranghöchste Offizier vor Ort. Die Pioniere hatten vor Beginn der Arbeiten ihre Gewehre abgelegt. Die Offiziere, so auch der Angeklagte, führten ihre Dienstpistole, Marke Makarow, 9 mm, in der umgehängten Pistolentasche mit sich. Die Demarkationslinie im dortigen Bereich, welche dadurch gut erkennbar war, weil auf westdeutschem Gebiet der Boden bewirtschaftet wurde, wogegen auf DDR-Gebiet Wildwuchs vorherrschte, verlief im dortigen Bereich bis zum Grenzstein Nr. 19 von nordwestlicher in südöstlicher Richtung. Nach dem Grenzstein knickte sie wiederum in südöstlicher Richtung ab. Ca. 10 m der vor Demarkationslinie war ein Trassierband, welches von den Pionieren nicht überschritten werden durfte, weitere 20 m davor wurde der äußerste Zaun erneuert. Gegen {7} 13.40 Uhr stand der Angeklagte am Grenzzaun etwa auf Höhe der zweiten zuvor beschriebenen Abknickung, und zwar mit dem Rücken zur Demarkationslinie. Zu diesem Zeitpunkt war etwa im Bereich des Grenzsteins Nr. 19 der 19-jährige Pionier Uwe Preußner zusammen mit

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dem Pionier Er. damit beschäftigt, den alten Stacheldrahtzaun feindwärts vor dem Trassierband abzulegen. Der Pionier Preußner entschloß sich zur Flucht. Er warf sein Arbeitsgerät weg und rannte über das Trassierband hinweg, Richtung Bundesrepublik. Dies bemerkten die beiden Sicherungsposten der 4. Grenzkompanie H. und F., welche zu diesem Zeitpunkt an der Demarkationslinie auf Höhe der zweiten Abknickung standen. Sie riefen den Pionier Preußner an und feuerten aus ihren Maschinengewehren Kalaschnikov, 7,62 mm, jeder zwei bis drei Feuerstöße à 2 bis 3 Schuß in Richtung des Flüchtenden. Dabei hielt der Sicherungsposten F. und der Posten H. über Preußner. Wegen der Feuerstöße warf sich der flüchtende Pionier nach Überschreitung der Demarkationslinie auf Westgebiet in das ca. 10-25 cm hohe Gras einer angrenzenden Wiese. Er versuchte im nachhinein nicht mehr genau feststellbar, robbend in ein westlich angrenzendes Weizenfeld oder zu dem am südlichen Ende der Wiese stehenden Landwirtsehepaar M. zu gelangen, welchem er zurief, sie sollten doch herkommen, dann dürften „die" nicht mehr schießen. Der Angeklagte, welcher durch das Rufen und die Schüsse aufmerksam geworden war und den Fluchtversuch bemerkt hatte, rannte in Richtung des Trassierbandes und anschließend an diesem entlang in Richtung Grenzstein, wobei er dem flüchtenden Pionier zurief, dieser solle zurückkommen. Ferner holte er seine Pistole aus der Tasche und gab zwei Warnschüsse in die Luft ab. Ca. 10 m südlich des Grenzsteins lief er bis zur Demarkationslinie vor und gab einen weiteren Warnschuß in {8} die Luft ab. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden Sicherungsposten das Feuer eingestellt, ohne den Flüchtenden zu treffen; der Posten H. mußte darüber hinaus eine Ladehemmung an seinem Maschinengewehr beseitigen. Der Pionier Preußner, welcher zwar bei Abgabe von Schüssen kurz in seiner Robbewegung innehielt, machte keine Anstalten, auf DDR-Gebiet zurückzukehren. Der Angeklagte erkannte dies. Er wollte auf jeden Fall die Flucht des Pioniers verhindern, da er wußte, daß bei einem Gelingen der Flucht eines Soldaten seiner Kompanie ihm von vorgesetzter Seite empfindliche Repressalien drohten und überdies seine Karriere in der Armee beendet sein würde. Er legte eigenhändig mit ausgestrecktem Arm über Kimme und Korn auf den ca. 22-24 m vor ihm bäuchlings in Schrägstellung nach links liegenden Pionier an. Er zielte auf die Füße des Soldaten, war sich jedoch bewußt, daß er mit der Pistole auf diese Entfernung und nachdem er ca. 100 m im schnellen Tempo gelaufen war, auch andere Körperteile treffen und den Soldaten tödlich verletzen könnte. Dies nahm er in Kauf. Er schoß und traf den bisher nicht verwundeten Pionier Preußner, welcher in diesem Moment seinen Kopf erhoben und aus der Sicht des Angeklagten nach links gewendet hatte, an der linken Schläfe ca. 4 m über dem Ohr. Das Projektil trat in einem Winkel von maximal 45 Grad nach links am Hinterhaupt des Kopfes wieder aus. Der Pionier Preußner stieß einen Schrei aus, sackte zusammen und blieb bewußtlos bäuchlings liegen. Der bei der Schußabgabe ca. 5 m südlich des Angeklagten auf der Höhe der Demarkationslinie stehende Oberleutnant der 11. Pionierkompanie Ec. lief, nachdem er und der Angeklagte den Sicherungsposten zugerufen hatten, daß sie nicht mehr schießen sollten, zu dem verletzten Pionier Preußner hin. Der Angeklagte begab sich ebenfalls zu dessen Liegeort. Beide schleiften {9} den Pionier zurück auf DDR-Gebiet. Ein bereitstehender Sankra verbrachte den Verletzten in das Kreiskrankenhaus Hildburghausen, wo dieser gegen 15.15 Uhr desselben Tages nach einer Notoperation an den Folgen der Schußverletzung verstarb.

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III. [Beweiswürdigung] Der unter I. und II. festgestellte Sachverhalt beruht auf den Angaben des Angeklagten in der Hauptverhandlung, soweit ihnen gefolgt wurde, desweiteren auf den Aussagen der Zeugen S. und B., welche vereidigt wurden sowie aufgrund der Aussagen der unvereidigt gebliebenen Zeugen Ec., Kn., H., F., E., En., M., Er., und Eb., soweit ihnen Glauben geschenkt wurde. Dies gilt ebenso fur die gem. § 251 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, Abs. 4 StPO verlesenen Aussagen des verstorbenen Zeugen Ludwig M. vor der Bayrischen Grenzpolizei Irmelshausen vom 06. bzw. 07.08.1969 und für dessen richterliche Vernehmung vom 10.10.1969. Die Überzeugungsbildung des Gerichts erfolgte weiterhin aufgrund der Gutachten der unvereidigt gebliebenen Sachverständigen Prof. Dr. Schwerd, Gantschigg und Dr. Disse, welcher ebenfalls als Zeuge gehört wurde. In der Hauptverhandlung wurden weiterhin, wie in den Sitzungsprotokollen festgestellt, mehrere Skizzen, Lichtbilder und Lichtbildtafeln in Augenschein genommen. Die Feststellungen über das strafrechtliche Vorleben des Angeklagten beruhen auf dem Verlesen aus dem Bundeszentralregister. {10} Der Angeklagte hat seinen bisherigen Werdegang glaubhaft geschildert. Sein Verhältnis zum herrschenden Regime erklärte er in dieser Weise, daß er, ohne überzeugter Kommunist zu sein, als Offizier loyal dem Staat gegenüber stand, was er bei einem anderen herrschenden System ebenso getan hätte. Dies bestätigte auch sein Eindruck, den er in der Hauptverhandlung hinterließ. Der Angeklagte hat sich weiterhin dahingehend eingelassen, daß es zwar die ihn bindende Dienstanweisung DV-30/10 gegeben habe. Daneben habe aber die klare Befehlslage bestanden, Fluchtversuche mit allen Mitteln zu verhindern. Die Richtigkeit dieser Einlassung ergibt sich zum einen aus allgemein bekannten Tatsachen. Im konkreten Fall hat dies der Zeuge H. bestätigt. Desweiteren wurde, wie sich aus der beigezogenen Akte AB. 372/69 des Ministeriums für Staatssicherheit ergibt, von den DDR-Behörden zwar der äußere Verlauf des Vorfalles und die persönlichen Hintergründe des Fluchtversuchs versucht zu ermitteln, nicht jedoch der Umstand, wer den tödlichen Schuß auf den Pionier abgegeben hat. Auch wurden sowohl der Angeklagte, als auch der damalige Oberleutnant E. und die beiden Sicherungsposten H. und F., wie diese bestätigten, anschließend wegen des Vorfalls vom damaligen Armeegeneral Hoffmann ausgezeichnet. Nach der weiteren Einlassung des Angeklagten sei er von seinem damaligen Standort (am Zaun stehend auf Höhe der zweiten Abknickung) durch Schüsse und Rufe auf den Fluchtversuch aufmerksam geworden. Er sei sofort in Richtung Trassierband und dann weiter in Richtung des flüchtenden Soldaten gerannt und habe dabei zwei Warnschüsse abgegeben und gerufen, der Soldat solle zurückkommen. Da der Pionier keine Anstalten zur Rückkehr machte, habe er das Trassierband unter Inkaufnahme eines Beschusses durch die Sicherungsposten überschritten und sei bis an die Demarkationslinie vorgelaufen. Dabei habe er einen weiteren {11} Warnschuß in die Luft abgegeben. Auch diese Wiedergabe des (äußeren) Geschehens deckt sich mit den Aussagen der Zeugen, welche hierüber Beobachtungen getätigt haben. Nach der weiteren Einlassung des Angeklagten wollte er die Flucht des Soldaten, welchen er als zu seiner Kompanie angehörig erkannte, verhindern, auch als er sah, daß dieser bereits westdeutsches Gebiet erreicht hatte. Er sei sich bewußt gewesen, daß bei einem Gelingen der Flucht er selbst vor Gericht gestellt worden wäre wegen unterlasse-

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ner Dienstleistung bzw. daß dies das Ende seiner Karriere bedeutet hätte. Ihm sei aus eigenem Wissen ein Fall einer gelungenen Flucht bekannt geworden, in welchen der diensthabende Offizier einen Verweis erhalten habe. Auch diese Einlassung wird von anderen Zeugenaussagen gestützt, so etwa durch die Aussage des damaligen Oberleutnant E., welcher sich in dieselbe Richtung äußerte. Der Zeuge H. gab an, gegen ihn seien nach dem Vorfall Ermittlungen gelaufen, da man ihm nicht geglaubt habe, daß er wegen einer Ladehemmung nicht weiter hätte schießen können. Erst als man auf Nachsuchen hin die die Ladehemmung verursachende eingeknickte Patronenhülse gefunden habe, seien die Ermittlungen gegen ihn eingestellt worden. Lediglich der Zeuge En., damals Leutnant, bekundete, bei einer gelungenen Flucht wäre keinem der Beteiligten etwas passiert. Diese Aussage kann das Gericht aufgrund der überzeugenden gegenteiligen Bekundungen des Angeklagten und der vorgenannten Zeugen keinen Glauben schenken. Aber auch dieser Zeuge, welcher vor Gericht den Eindruck hinterließ, daß er die Grenzbefestigungen lieber heute als morgen wieder aufbauen würde, sagte aus, daß er bei Ansichtigwerden des Fluchtversuchs sofort zu seinem Zug geeilt sei, um hier evtl. weitere Fluchtversuche zu verhindern. {12} Nach der weiteren Einlassung des Angeklagten habe der gesamte Vorgang von Beginn der Flucht bis zur Verletzung des Soldaten Preußner allenfalls 1-1 Vi Minuten gedauert. Während er vorgelaufen sei, hätten die linksbefindlichen Sicherungsposten (H. und F.) gefeuert. An der Demarkationslinie habe er mit ausgestrecktem Arm einhändig über Kimme und Korn auf die Füße des deutlich sichtbar im Gras liegenden Soldaten gezielt und einmal geschossen. Der Pionier habe auf der Wiese im westdeutschen Gebiet bäuchlings in einer Entfernung von ca. 25 m gelegen. Der Körper des Soldaten habe sich in ca. 25 m Entfernung fast axial zu ihm nur mit einer ganz leichten Linksdrehung vor ihm befunden. Er habe den Hinterkopf und die linke Gesichtshälfte des Soldaten gesehen. Die Einlassung des Angeklagten hinsichtlich der Körperlage des Getöteten Preußner unmittelbar vor Abgabe des Schusses beruht auf seinen Angaben beim Ortstermin, als ein Beamter des Bundesgrenzschutzes die Lage des getöteten nach der Angabe des Angeklagten darstellte. Der Angeklagte führte weiter aus, daß der Pionier Preußner weder den Kopf gehoben noch sich nach ihm umgedreht habe. In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit seinem eigenen Schuß sei von links ein Feuerstoß erfolgt. Sowohl er als auch der sich in ca. 5 m Entfernung links befindliche Oberleutnant E. hätten sofort gerufen „Feuer einstellen". Anschließend sei E. zu dem Verletzten hingelaufen, er habe sich angeschlossen. Beide hätten den Soldaten dann auf DDRGebiet zurückverbracht. Der verletzte Soldat sei anschließend in einem bereitstehenden Sankra ins Krankenhaus gefahren worden. Danach habe er es irgendwie für möglich gehalten, daß der Todesschuß von ihm gestammt habe, allerdings hätte er nie den Obduktionsbericht zu Gesicht bekommen. Mittlerweile glaube er jedoch nicht, daß er der Todesschütze gewesen sei. Damals habe er noch keine Brille getragen, er sei ein so guter Schütze gewesen, daß er auch das Ziel hätte treffen können, was er anvi-{13}siert habe. Dem Angeklagten wurde sein Bericht vom 07.08.1969 für den Militärstaatsanwalt vorgehalten, wonach er darin u. a. niederschrieb: „Der Sicherungsposten schoß nochmals einen Feuerstoß. Als ich ca. in gleicher Höhe mit FF. unmittelbar an der Grenzlinie stand (Entfernung ca. 25 m) und Preußner weiterkroch, gab ich

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einen gezielten Schuß aus dem Halt ab. Ich vermutete, daß Preußner getroffen ist und rief den rechts von mir befindlichen Oberleutnant E. zu dem Verletzten hinzulaufen und ihn zu holen". Der Angeklagte erklärte hierzu, daß er beim Abtransport des Soldaten an ihm keine Verletzung bemerkt und deshalb vermutet habe, daß er ihn ins Bein getroffen hätte. Dem Angeklagten wurde weiter seine Erklärung vor dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Schweinfurt am 22.07.1992 anläßlich der Haftbefehlseröffnung vorgehalten, als er sich u.a. dahingehend einließ: „Wie ich bereits in meinem Bericht am 07.08.1969 darstellte, gab ich nunmehr einen gezielten Schuß auf Preußner aus dem Halt ab. Ich vermutete, daß Preußner durch meinen Schuß getroffen wurde. Ich wurde wegen dieses Vorfalls mit der Verdienstmedaille ausgezeichnet und erhielt eine Prämie von 400,-- DM. Ich hätte in der Folgezeit ohne diesen Vorfall ruhiger leben können, denn ich litt unter dem Tod Preußners. Ich habe damals gedacht, ich tue das Beste für den Staat, aber es war das Dümmste in meinem Leben, so ist meine Einstellung heute zu dem Vorfall". Der Angeklagte erklärte hierzu, daß er anläßlich seiner Vorführung auf Formulierungen nicht so geachtet habe. Er habe den Pionier weder töten noch lebensgefährlich verletzen wollen, insbesondere wenn er gehört hätte, daß das Feuer eingestellt sei. {14} Das Gericht ist aufgrund der Beweisaufnahme davon überzeugt, daß der Angeklagte derjenige war, welcher den Pionier Preußner erschoß und daß dies zumindest mit bedingtem Tötungsvorsatz geschah. Allerdings ergibt sich sachverständigenseits nicht, wie anfangs angenommen wurde, daß der Soldat durch eine Pistolenkugel getötet wurde. Der sachverständige Zeuge Dr. Disse, Oberarzt im gerichtsmedizinischen Institut in Jena, welcher den Leichnam des Getöteten am 07.08.1969 im Kreiskrankenhaus Hildburghausen obduzierte, bekundete, daß er zwar keine Erinnerung mehr an die Obduktion habe. Er konnte seine Feststellungen jedoch aufgrund seines damaligen Obduktionsberichts treffen. Danach lag lediglich eine zum Tode fuhrende Schußverletzung vor. Der Tod sei gegen 16.15 Uhr nach Beendigung der Notoperation eingetreten. Es habe sich um einen Kopfdurchschuß gehandelt, wobei sich zwei Schußwunden vom Ein- bzw. Austritt der Kugel an der linken Schläfe ca. 4 cm oberhalb des Ohres, welche jedoch operativ verändert worden war, so daß insoweit nicht mehr feststellbar wäre, welches die Eintritts- bzw. Austrittsverletzung gewesen ist und eine kleine trichterförmige Verletzung in der Mitte des Hinterhauptes gefunden. Der Sachverständige Gantschigg, wissenschaftlicher Angestellter im Bayrischen Landeskriminalamt, kommt, aufbauend auf dem zuletzt genannten Gutachten, zu dem Ergebnis, daß am Hinterkopf der Ausschuß gewesen sein muß, da derartige spröde Plattenmaterialien mit kegelförmiger Erweiterung in Schußrichtung ausbrächen. Grundsätzlich spreche Größe und Form der Ausschußverletzung für ein von einer MakarowPistole abgefeuertes Geschoß. Die Mündungsgeschwindigkeit (Vo) betrüge ca. 350 m/s. Eine Änderung zur Endgeschwindigkeit ergäbe sich bei derart kurzen Entfernungen wie im konkreten Fall nicht. Großkalibrige Langwaffen wie die von den Sicherungsposten verwendete Kalaschnikow erreichten dagegen eine Vo von ca. {15} 750 m/s. Dies hätte jedoch beim Ausschuß eine viel größere Schädeldachabsprengung zur Folge haben müssen. Allerdings hat der Zeuge H. bekundet, sein Gewehr habe nach der Abgabe von einigen Feuerstößen eine Ladehemmung gehabt. Hieraus folgert der Sachverständige, es sei durchaus möglich, daß derartigen Ladehemmungen ein oder zwei Schüsse mit ver-

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mindertem Gasdruck vorangegangen seien, bzw. daß das Geschoß, deren Hülse die Ladehemmung verursachte, mit vermindertem Gasdruck nach außen trete. In diesem Falle könnten derartige „schlappe" Schüsse evtl. ähnliche Mündungsgeschwindigkeiten von Pistolenschüssen erreichen. Ein Rückschluß von der Austrittsverletzung auf die verwendete Waffe sei dann nicht mehr mit hinreichender Sicherheit möglich. Das Schwurgericht ist jedoch insbesondere aufgrund der nachfolgend beschriebenen Zeugenaussagen und des sehr instruktiven Augenscheins an der damaligen Grenze von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt. Mit Hilfe der nach dem Vorfall von westbzw. ostdeutschen Stellen gefertigten Lichtbildern, welche von den Zeugen bei ihrer Einvernahme erläutert wurden, konnte der damalige Geschehensablauf mit dem Angeklagten und den Zeugen in etwa nachgestellt werden, wobei ebenfalls mithalf, daß ein (freundwärtiger) Sperrzaun sowie der Grenzstein Nr. 19 noch vorhanden waren. Die Zeugen H. und F. waren damals Sicherungsposten der 4. Grenzkompanie. Der Zeuge H. war bei seinen Einvernahme vor Gericht sichtlich um die wahrheitsgemäße Aufarbeitung des damaligen Vorfalles bemüht. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, daß er selbst als evtl. Todesschütze in Betracht kam, war seine Aussage glaubwürdig. Sie war nicht tendenziös zu seinen Gunsten, Punkte, welche aufgrund des Zeitablaufs durch Erinnerungslücken gekennzeichnet waren, ließ er offen. Der Zeuge bekundete, {16} daß die Sicherungstruppe kommandogemäß unabhängig von der Pionierkompanie war. Zum damaligen Zeitpunkt habe er mit seinem Kameraden F. auf Höhe der zweiten Abknickung gestanden. Auf Vorhalt des Angeklagten beim Ortstermin räumte er ein, daß beide an der Demarkationslinie gestanden haben können. Dies erscheint auch einleuchtend, da die Sicherungsposten somit völlig freie Sicht nach zwei Seiten hatten. Der Zeuge sagte weiter aus, er habe mit dem Rücken zum Grenzstein Nr. 19, der Zeuge F. mit dem Gesicht hierzu gestanden. Als er Schüsse aus dem Gewehr seines Kameraden F. gehört habe, habe er sich herumgedreht und sah jemanden in der Nähe des Grenzsteines auf die Demarkationslinie zulaufen. Er habe sofort erkannt, daß es sich um einen Fluchtversuch handele. Er habe einen Feuerstoß von zwei-drei Schüssen über den Flüchtenden abgefeuert und gerufen: „Mach keinen Mist, komm zurück". Der Flüchtende habe sich daraufhin hingeworfen und sei weitergerobbt; auch F. habe kurze Feuerstöße abgegeben. Er selbst habe weitere ein bis zwei kurze Feuerstöße über den Flüchtling abgegeben. Er habe bewußt über den Körper des Flüchtlings gehalten, er sei damals völlig fertig gewesen. Der Zeuge stand bei seiner Einvernahme vor Gericht und auch beim Ortstermin noch sichtlich unter dem Eindruck des damaligen Geschehnisses. Dann habe er eine Ladehemmung gehabt und die steckengebliebene Patronenhülse per Hand aus dem Lauf herausrepetiert. Insgesamt habe er unter zehn Schuß geschossen, was hinterher von seinen Vorgesetzten festgestellt worden sei. Er glaube nicht, daß er nach der Ladehemmung weitergeschossen habe, sicher sei er sich jedoch nicht. Das Gericht ist jedoch davon überzeugt, daß nach der Ladehemmung von ihm kein Schuß mehr erfolgt ist. Dies folgt zum einen aus der Anzahl der von ihm angegebenen Feuerstöße und der insgesamt abgegebenen Schüsse, aus der Kürze des gesamten Vorgangs (1-1 Vi Minuten) und dem Umstand, daß anschließend gegen den Zeugen ermittelt wurde, weil {17} er nicht weitergeschossen hatte. Der Zeuge bekundete weiter, daß plötzlich der Angeklagte vorgelaufen sei, während der Flüchtende parallel zum linksbefindlichen Weizenfeld sich von der Demarkationslinie entfernend auf der Wiese weitergerobbt sei.

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Der Zeuge war sich absolut sicher, daß er selbst und auch sein Kamerad F. zu dem Zeitpunkt, als der Angeklagte zur Demarkationslinie gelaufen war, nicht mehr geschossen hat. Der Zeuge H. bekundete, er sei fix und fertig und somit sehr froh darüber gewesen, daß sich nunmehr ein Offizier der Angelegenheit angenommen habe. Wie sich bei der Tatortbesichtigung ergab, hätte bei einem Weiterschießen der Sicherungsposten zudem die Gefahr bestanden, den Angeklagten sowie den Oberleutnant E. zu treffen. Der Zeuge H., welcher sich zuletzt vom Angeklagten bzw. dem Pionier Preußner in einer Entfernung von ca. 90-100 m befand, sagte aus, daß der Angeklagte lediglich einen gezielten Schuß auf den Pionier abgab und dabei von ihm mindestens 20 m entfernt war, dies berührt jedoch die Glaubwürdigkeit des Zeugen insgesamt nicht. Dies erfolgt schon daraus, daß er das Geschehen doch aus einiger Entfernung beobachtete und aufgrund der eigenen vorherigen Tätigkeit sehr aufgeregt war. Nach der Meinung des Zeugen habe sich der Angeklagte links seitwärts von dem Soldaten befunden. Er konnte sich weder daran erinnern, daß der später Getötete dem westdeutschen Landwirtsehepaar etwas zurief, noch daß er sichtbar getroffen wurde und dabei geschrien habe. Die gegen ihn laufenden Ermittlungen seien später eingestellt worden, als man die von ihm per Hand herausrepetierte beschädigte Patrone gefunden habe. Die Aussage des Zeugen F. war teilweise detailgetreu, teilweise jedoch auch offensichtlich wegen des Zeitablaufs mit Widersprüchen behaftet. Er gab an, er habe mit Blickrichtung auf den Grenzstein Nr. 19 beobach-{18}tet, wie ein Pionier sein Werkzeug wegwarf und Richtung Bundesrepublik lief. Er habe drei Feuerstöße mit ca. 10 Schuß abgegeben, wobei er aus der Hüfte geschossen und vor den Soldaten gehalten habe. Einschläge seiner Gewehrkugel habe er selbst nicht gesehen. Der Soldat habe sich ins Gras geworfen, wobei er nicht wisse, ob er sich bereits auf dem Gebiet der Bundesrepublik befunden habe. Der Angeklagte habe die Waffe gezogen und sei losgerannt. Er selbst sei auch ein Stück mitgelaufen, sei dann jedoch wieder zu seinem Posten zurückgekehrt. Als der Soldat im Gras gelegen habe, hätten beide Sicherungsposten das Feuer eingestellt, da der Soldat nicht mehr zu sehen gewesen sei. Der Angeklagte sei schräg in Richtung des Soldaten gelaufen. Ob er die Demarkationslinie überschritten habe, wisse er nicht. Er habe auf westdeutschem Gebiet zwei Bauern gesehen, könne jedoch nicht angeben, was diese machten. Den Soldaten selbst habe er nicht rufen gehört. Von einer Ladehemmung im Gewehr des Kameraden H. sei ihm nichts in Erinnerung. Auch wenn es sicher nicht stimmt, daß die Sicherungsposten deswegen das Feuer einstellten, weil der flüchtende Soldat im Gras nicht mehr zu sehen war, dies widerspricht allen Aussagen der übrigen Zeugen, soweit sie den Vorfall beobachteten, und auch unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Zeuge selbst als evtl. Todesschütze in Betracht kam, ist das Gericht davon überzeugt, daß auch der Zeuge F. spätestens zu dem Zeitpunkt, als der Angeklagte zur Demarkationslinie vorgelaufen war, das Feuer eingestellt hat. Dies folgt aus der zuvor abgehandelten Aussage des Zeugen H. mit den dazu behandelnden Aussagen insbesondere der Zeugen K. und E. Gegen beide Zeugen H. und F. spricht auch nicht etwa die Tatsache, daß sie nach dem Vorfall von dem damaligen Armeegeneral Hoffmann mit einer Medaille ausgezeichnet wurden. Wie bereits oben ausgeführt, interessierte die damaligen Machthaber der DDR le-{19}diglich, daß eine Flucht erfolgreich verhindert wurde und nicht, wer letztendlich der Todesschütze war. Darüber hin-

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aus wurde auch der Oberleutnant E. ausgezeichnet, welcher unter keinen damals bekannten Umständen der Todesschütze gewesen sein konnte. Aufgrund der Aussage des Zeugen B., welcher als Angehöriger der Grenzpolizeistation Irmelshausen nach dem Vorfall an den Tatort kam, steht die ungefähre Endlage des Pionier Preußner auf dem Wiesengelände fest. Der Zeuge hatte damals einen Bildbericht gefertigt und die Endlage des Soldaten, welche er anhand einer Blutlache identifizierte, mit einem Skistock gekennzeichnet. Daraus ergibt sich, daß der Soldat bei Abgabe der Schüsse durch den Angeklagten ca. 22-24 m von diesem entfernt lag, was auch ungefähr mit der Einlassung des Angeklagten (25 m) übereinstimmt. Weiterhin lag der Soldat Preußner nach den damaligen Messungen des Zeugen 12 m, den kürzesten Weg gerechnet, von der Demarkationslinie entfernt. Der Zeuge Ec. von der KPI Schweinfurt erläuterte vor Gericht anhand einer Lichtbildtafel die Tatortkonstruktion, welche er mit der Zeugin M. einige Wochen vor der Hauptverhandlung durchgeführt hatte. Der Zeuge En., damals Leutnant und Zugführer der 11. Pionierkompanie, gab an, daß Preußner beauftragt war, Stacheldraht vor dem Trassierband abzulegen. Er sei gerade in Richtung der zweiten Abknickung gelaufen, als er Rufe „Stehenbleiben" gehört und sich umgedreht habe. Er habe den Pionier Preußner Richtung Grenze laufen gesehen. Es habe sich eindeutig um einen Fluchtversuch gehandelt. Er könne nicht mehr sagen, ob sich dieser nach dem Einsetzen von Schüssen hingeworfen habe. Jedenfalls sei er auf das Gebiet der Bundesrepublik gelangt. Es seien von Sicherungsposten Schüsse abgegeben worden, wieviele, wisse er nicht. Er habe sich daraufhin sofort zu seinem Zug in {20} Richtung der zweiten Abknickung begeben, um weitere Fluchtversuche zu verhindern. Er habe erst wieder nach Beendigung der Schüsse zurückgeblickt und mitbekommen, daß der Angeklagte und der damalige Oberleutnant E. zu den Soldaten hingelaufen seien. Der Zeuge Er. war damals zusammen mit dem Pionier Preußner damit beschäftigt, den Stacheldrahtzaun feindwärts zu ziehen. Der Zeuge gab an, daß das Trassierband ca. 10 m vor der Demarkationslinie gelegen habe. Er habe gehört, wie Preußner weggerannt sei und gleichzeitig Schüsse gefallen seien. Es hätten außer den linksseitig von ihm stehenden Sicherungsposten (H. und F.) keine weiteren Sicherungsposten geschossen. Er habe den Angeklagten gesehen, als dieser die Pistole in Anschlag brachte, schießen gesehen habe er ihn jedoch nicht. Es seien etliche Schüsse und Rufe „Halt, stehenbleiben" gefallen. Kurz vor dem Kornfeld sei Preußner gekrochen und gerobbt. Er könne nicht mehr genau sagen, wie dieser seinen Kopf gehalten habe. Er selbst habe ca. 50 m bis 70 m von Preußner entfernt gestanden. Er habe diesen weder rufen noch schreien hören, er habe keine Einschläge gesehen, er meine, daß Einzelschüsse gefallen seien. Seiner Erinnerung nach seien Schüsse lediglich in dem Zeitraum gefallen, als Preußner gerannt sei. Von den beiden Sicherungsposten, welche beide geschossen hätten, habe einer gekniet und einer gestanden. Die Zeugin M., eine Landwirtsfrau aus (dem damals westdeutschen) Rothausen schilderte, daß ihr mittlerweile verstorbener Ehemann und sie nach der Durchführung von Feldarbeiten auf dem Nachhauseweg gewesen seien. Ihr Mann habe sich die Grenzarbeiten anschauen wollen. Sie hätten am südlichen Rand der Wiese ca. 20-25 m von der Demarkationslinie entfernt gestanden, als sie beobachteten, wie ein Soldat auf sie zugerannt und plötzlich von allen Sei-{21} ten geschossen worden sei. Der Soldat habe sich dann hingeworfen und zu ihnen gerufen: „Kommt her zu mir, dann dürfen die nicht

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mehr schießen". Sie habe keine Kugeleinschläge in der Nähe des Soldaten gesehen. Das Gras der Wiese sei ein bis zwei Wochen vorher abgemäht und daher nicht sehr hoch gewesen. Ihrer Erinnerung nach sei der Soldat nicht in Richtung des links an der Wiese angrenzenden Weizenfeldes, sondern in ihre Richtung gerobbt. Er habe zu ihnen geschaut. Der mittlerweile verstorbene Zeuge Ludwig M., dessen Aussage gem. §§ 251 Abs. 1 Nr. 1, 4 Abs. 2 StPO verlesen wurden, sagte bei seinen Vernehmungen vor der Grenzpolizeistation Irmelshausen am 06. bzw. 07.08.1969, bestätigt durch seine richterliche Einvernahme vom 10.10.1969 vor dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Königshofen i. Gr., aus, er habe sich damals die Grenzarbeiten der NVA-Soldaten ansehen wollen. Er sei ca. 40 m vor der Zonengrenze stehengeblieben, als plötzlich ein Soldat über die Zonengrenze lief und von ihm ca. 40 m entfernt gewesen sei. Nach dem Ruf „Halt stehenbleiben" habe sich der Flüchtende auf den Boden geworfen und danach hätten mehrere NVA-Soldaten auf ihn geschossen und zwar ca. 20 Einzelschüsse. Der Soldat habe etwa 12 m vor der Zonengrenze entfernt gelegen und dreimal zu ihm gerufen „Kommt her, dann dürfen die nicht mehr schießen". Zu diesem Zeitpunkt sei der Mann noch ca. 30 m vor ihm entfernt gelegen. Nach den Schüssen sei der Mann still gewesen und ein NVA-Angehöriger zu ihm hingelaufen. Dieser habe mit beiden Armen zu anderen NVA-Angehörigen gewunken, damit diese das Feuer einstellen sollten. Er hätte noch einen anderen NVA-Angehörigen zu Hilfe gerufen und beide hätten dann den Verletzten über die Zonengrenze geschleppt. Er habe gesehen, daß der Verletzte auf der linken Seite vom Hals {22} geblutet habe. Mit einem Sankra sei der Verletzte abtransportiert worden. Die Schüsse auf den Flüchtenden seien alle auf dem Gebiet der Bundesrepublik eingeschlagen. Der Zeuge Eb. war damals Angehöriger des Bundesgrenzschutzes. Er sei ca. 200 m von dem Grenzstein Nr. 19 entfernt postiert gewesen und habe beobachtet, wie der Soldat gelaufen sei. Ein weiterer Soldat sei [in] Richtung Grenze gelaufen, habe innegehalten, mit einer Pistole angelegt und mehrere Schüsse abgegeben. Plötzlich sei der flüchtende Soldat im Laufen blitzartig nach vome hingestürzt, er wisse jedoch nicht warum. Damals habe er gemeint, daß der Soldat im Laufen von einer Kugel getroffen worden sei. Letzteres widerspricht der gesamten sonstigen Beweisaufnahme, insbesondere den Aussagen der übrigen Zeugen, soweit sie das Geschehen mitbekommen haben und die bekundeten, daß der Soldat Preußner erst im liegenden bzw. robbenden Zustand getroffen worden sei. Möglicherweise hat der Zeuge, welcher das Geschehen nur aus relativ großer Entfernung mitbekam, das Sich-Hinwerfen von Preußner für eine Reaktion auf einen Treffer gehalten. Schließlich wurde, was die Obduktion ergab, das Opfer nur von einer Kugel getroffen. Der Zeuge K., damaliger Angehöriger der 11. Pionierkompanie, bekundete, daß er am 06.08.1969 nach dem Mittagessen bei einem Loch- oder Säulensetztrupp beschäftigt war. Er habe Schüsse gehört und gesehen, daß ein Soldat weggelaufen sei. Soweit er sich erinnere, er habe hauptsächlich zu dem Soldaten geschaut, habe ein Sicherungsposten Sperrfeuer geschossen. Der flüchtende Soldat habe sich auf Bundesgebiet hingeworfen, der oder die Sicherungsposten hätten vor ihn hingeschossen. Einschläge im Boden habe er jedoch nicht gesehen. Der Soldat habe in Richtung auf ein Landwirtsehepaar gerufen „Kommt her, dann dürfen die nicht mehr schießen". Der Angeklagte sei {23} bis zur Demarkationslinie vorgelaufen und habe dabei Warnschüsse gesetzt. An-

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schließend habe er gezielt auf den Soldaten geschossen, dieser sei erkennbar zusammengesackt und habe einen undefinierbaren Schrei losgelassen. Er, der Zeuge sei damals ca. 80-100 m von diesem Soldaten entfernt zwischen dem Angeklagten und den Sicherungsposten auf Höhe des feindwärtigen Zaunes gestanden. Der Soldat habe sich ca. 10 m auf Bundesgebiet befunden, wobei er nicht mehr sagen könne, ob dieser im Augenblick der Schußabgabe durch den Angeklagten gerobbt oder gelegen sei. Der Soldat habe zum Angeklagten hin leicht schräg nach links versetzt gelegen. Er selbst habe die linke Körperseite des Soldaten gesehen. Seiner Meinung nach habe der Angeklagte die Demarkationslinie vor der Schußabgabe nicht überschritten. Er könne jetzt nicht mehr sagen, ob im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Schuß des Angeklagten weitere Schüsse gefallen seien. Anschließend hätten sich der Angeklagte und der Oberleutnant E. zu dem Soldaten hinbegeben. Die Demarkationslinie sei deutlich erkennbar gewesen, da der Boden auf westlicher Seite bearbeitet gewesen sei, auf östlicher Seite habe Wildwuchs geherrscht. Nach dem Vorfall seien die Soldaten, mit denen er gesprochen habe, davon ausgegangen, daß der Angeklagte der Todesschütze gewesen sei. Das Gericht mißt der Aussage des Zeugen volle Glaubwürdigkeit bei. Dieser hatte eine sehr gute Erinnerung an den Vorfall, welcher ihn noch Jahre später beschäftigte. Insbesondere war der Zeuge sichtlich bemüht, den Angeklagten nicht unrechtmäßig zu belasten, bei Erinnerungslücken schränkte der Zeuge seine Aussage entsprechend ein. Zwar hat kein anderer Zeuge den vom Zeugen K. bekundeten Schrei des Pioniers Preußner bei dem gesetzten Treffer bestätigt. Der Zeuge hat jedoch als einziger der damaligen NVA-Angehörigen mitbekommen, daß und was Preußner zu den Eheleuten M. herübergerufen hat. Die Tatsache, daß der Zeuge im Januar 1990 den Angeklagten {24} bei der Staatsanwaltschaft Suhl wegen des Vorfalles anzeigte und sich kurz darauf mit der Zeugin M. wegen dieses Vorfalles in Verbindung setzte, wobei nach Aussage der Zeugin M. keine Einzelheiten des Vorfalls besprochen worden waren, spricht nicht gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen, allenfalls dafür, daß sich der damalige Vorfall sehr ins Gedächtnis des Zeugen einprägte und ihn über Jahre beschäftigte. Dafür, daß der Zeuge den Angeklagten nicht zu Unrecht belasten wollte, spricht auch, daß er ihn als umgänglichen Menschen schilderte, welcher zwar seiner Meinung nach über eine sozialistische Einstellung verfugte, sich jedoch nicht wild gebärdet habe. Der Zeuge E., damaliger Oberleutnant in der 11. Kompanie, war sichtlich bemüht, dem Angeklagten durch seine Aussage nicht zu sehr zu schaden. So hielt er sich etwa formulierungsgemäß sehr zurück (z.B. „dann hat sich ein Schuß von Hauptmann Huck gelöst")· Der Zeuge gab an, daß dem Angeklagten an diesem Nachmittag das militärische Kommando, nicht jedoch für die Sicherungstruppe, oblag. Er habe den Soldaten laufen sehen. Die Sicherungsposten hätten daraufhin Warnschüsse abgegeben, er selber habe „Stehenbleiben" gerufen. Die ersten Schüsse seien gefallen, als der Soldat sich noch auf DDR-Gebiet befunden habe. Er selbst habe Einschläge im Boden nicht gesehen. Der Soldat habe sich dann ca. 15-20 m nach der Demarkationslinie in Deckung geworfen, er selbst und auch andere hätten weiter den Pionier angerufen. Dann sei der Angeklagte gekommen und habe sich vor der Demarkationslinie ca. 5-6 m rechts neben ihn gestellt. Dann habe sich ein Schuß vom Angeklagten gelöst, er wisse nicht genau, ob in diesem Moment auch die Sicherungsposten geschossen hätten, er glaube dies jedoch. Im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Schuß des Angeklagten ha-

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be sich der Oberkörper des Pioniers etwas angehoben, wobei er nicht wisse, ob dies eine Reaktion auf einen Schußtreffer dar-{25}gestellt habe. Der Soldat, welcher vorher gerobbt sei, habe dies im Moment der Schußabgabe durch den Angeklagten nicht mehr getan. Er sei ca. 10-20 m von ihm und dem Angeklagten entfernt leicht schräg nach links versetzt gelegen. Der Soldat, welcher im Moment der Schußabgabe durch den Angeklagten den Kopf nach unten am Boden gerichtet gehabt habe, hätte in diesem Augenblick nicht zu ihnen zurückgeschaut. Nach der Schußabgabe sei er selbst nach Anrufen der Sicherungsposten (wegen des Risikos, die Demarkationslinie zu überschreiten) zu dem Verletzten gelaufen, welcher bäuchlings am Boden gelegen sei. Der Angeklagte sei dazu gekommen, gemeinsam habe man den Soldaten wieder auf DDR-Gebiet geschafft. Der Zeuge E. schildert den Angeklagten, welchen er damals bereits mehrere Jahre gekannt hatte, als ausgeglichen. Er habe sich auch für die Belange der Soldaten eingesetzt. Das Gericht ist, wie bereits oben ausgeführt, davon überzeugt, daß zur Zeit der Schußabgabe durch den Angeklagten die Sicherungsposten H. und F. nicht mehr geschossen haben. Andere Schützen kommen nach den übereinstimmenden Aussagen der Zeugen (mit Ausnahme der Zeugin M., welche durch den Schußwechsel völlig erschrocken war und meinte, von allen Seiten sei geschossen worden) nicht in Betracht. Soweit der Zeuge K. eine gleichzeitige Schußabgabe durch die Sicherungsposten offenließ bzw. der Zeuge E. dies vermutete, so erschüttert dies die Überzeugungsbildung des Gerichts nicht. Die Aussage des Zeugen H. war überzeugend, die hierzu oben angestellten Erwägungen (etwaige Gefahrdung des Angeklagten und des Zeugen E.) erscheinen dem Gericht logisch. Darüber hinaus war sich der Zeuge E. der gleichzeitigen Schußabgabe durch die Zeugen H. und F. zumindest nicht sicher. Hinzu kommt die eindeutige Aussage des Zeugen K., daß Preußner unmittelbar nach dem Schuß des Angeklagten aufgeschrien habe und zusammengesackt sei. {26} Auch der Zeuge E., welcher den Angeklagten sichtlich schonen wollte, gab in der von ihm bei seinem Aussageverhalten gezeigten sehr dezenten Formulierungsweise an, daß sich der Oberkörper des Soldaten im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Schußabgabe des Angeklagten leicht angehoben habe. Das Gericht hat hiernach keinen vernünftigen Zweifel daran, daß der Angeklagte der Todesschütze war. Offensichtlich wußte und weiß der Angeklagte selbst, daß er den tödlichen Schuß gesetzt hat. Auf Vorhalt seines eigenen Berichts vom 07.08.1969, insbesondere warum er den von ihm jetzt behaupteten Schuß auf die Füße des Soldaten dort nicht erwähnt hat, erklärte der Angeklagte, daß er beim Soldaten Preußner keine Verletzungen bemerkt, jedoch einen Schuß ins Bein vermutet habe. Dem muß entgegengehalten werden, daß die Zeugin M., welche von dem Verletzten mindestens 30 m entfernt war, deutliche Blutspuren am Hals gesehen hat, ebenso der Zeuge B., welcher später eine Blutlache feststellte. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Schwerd sei wegen der starken Durchblutung der Kopfhaut sofort an beiden Wunden ein größerer Blutverlust eingetreten. Auch die Angaben des Angeklagten vor dem Ermittlungsrichter sprechen dafür, daß der Angeklagte seine Täterschaft kennt. Schließlich wurden durch die Beweisaufnahme, insbesondere den durchgeführten Augenschein und die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Schwerd etwaige Zweifel wegen des Verlaufs des Schußkanals ausgeräumt. Der Sachverständige Prof. Schwerd bezog sich auf die Ausführungen des sach-

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verständigen Zeugen Dr. Disse und dessen Obduktionsbericht. Danach verlief der Schußkanal vom Einschuß an der rechten Schläfe ca. 4 cm über dem Ohr schräg nach links in einem Winkel von maximal 45 Grad zum Ausschuß etwa in Mitte des Hinterhauptes. Nach den Feststellungen des Sachverständigen muß der Kopf des Opfers erhoben und je nach der Stellung des Schützen nach hinten gewendet gewesen sein. Allerdings mußte der Kopf nicht {27} ganz nach oben gerichtet gewesen sein. Der damalige Oberleutnant E. hat als einziger Zeuge Ausführungen zur Kopfhaltung des Pioniers Preußner im Zeitpunkt der Schußabgabe gemacht. Danach sei der Kopf zwar leicht angehoben, dieser jedoch nach unten gerichtet gewesen. Außerdem habe Preußner nicht zu ihnen hergeschaut. Diesem Aussageteil kann nicht geglaubt werden. Denn wenn der Kopf des Pioniers Preußner tatsächlich nach unten gerichtet gewesen wäre, hätte nach den Ausführungen des Sachverständigen sowohl der Schußkanal als auch die Ein- und Ausschußwunde anders verlaufen müssen, selbst bei einem kniend schießenden Schützen. Nach den Aussagen aller Zeugen, soweit sie dies beobachtet hatten, lag der Pionier Preußner bei Schußabgabe durch den Angeklagten im schrägen Winkel zu diesem nach links versetzt. Dies hat sogar der Angeklagte beim Augenschein angegeben, als die Liegeposition mit einem BGS-Soldaten nachgestellt wurde, entgegen seinen früheren Angaben, daß der Körper des Soldaten aus seiner Blickrichtung eine Achse mit dessen Füßen gebildet habe. Nach der Aussage der Zeugin M. robbte der Preußner sogar im rechten Winkel zum Angeklagten auf sie und ihren Ehemann zu. Daß hier keine einheitliche Version aller Zeugen zustande kam, ist aufgrund des Zeitablaufs, der nur kurzen Dauer des Tathergangs und der damals gegebenen Ausnahmesituation verständlich. Beide Versionen von der Fluchtrichtung erscheinen auch logisch und nachvollziehbar, zum einen, daß Preußner in das schutzgewährende Weizenfeld flüchten wollte. Durchaus möglich erscheint jedoch auch (worauf seine Zurufe zu dem Ehepaar M. hindeuten), daß er zu dem westdeutschen Landwirtsehepaar quasi als lebendes Schutzschild flüchten wollte. Auf jeden Fall befand sich Preußner bei Schußabgabe im schrägen Winkel nach links zum Angeklagten. Außerdem erscheint logisch und nachvollziehbar, daß Preußner im Augenblick der Schußabgabe den Kopf erhoben hat. Zum einen mußte er sich über die Richtung orientieren {28} (die Angaben der Zeugen hinsichtlich der Grashöhe schwankten zwischen 10 und 30 cm), außerdem wurde er mehrfach von NVA-Angehörigen, insbesondere auch vom Angeklagten angerufen. Der Sachverständige Prof. Dr. Schwerd bekundete weiter, daß ein Kopfschuß wie im konkreten Fall ein sofortiges Zusammenzucken des Getroffenen nach sich zieht, ohne die Möglichkeit, sich weiter zu bewegen. Er hielt es auch für durchaus möglich, daß das Opfer nach dem Treffer schreien kann. Das aufgezeigte, als möglich erachtete Verhalten des Opfers paßt so in das Gesamtbild des Geschehens, welches sich das Gericht gebildet hat, daß Zweifel an dem unter II. festgestellten Sachverhalt nicht aufkamen. Nach Überzeugung des Gerichts hat der Angeklagte das Opfer zumindest mit bedingtem Vorsatz getötet. Zwar hat der Angeklagte angegeben, er habe lediglich auf die Füße des Soldaten gezielt, um ihn fluchtunfähig zu schießen, nicht jedoch, um etwa zu töten oder lebensgefährlich zu verletzen. Er war jedoch bei Schußabgabe von seinem Opfer (zu seinen Gunsten gerechnet) mindestens 22 m entfernt. Aus dieser Entfernung war der Körper des Soldaten für den Angeklagten, wovon sich das Gericht bei seiner Tatrekonstruktion vor Ort ein Bild machen konnte, unabhängig davon, in welchem

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Winkel er vor ihm lag, perspektivisch stark verkleinert. Der Angeklagte war vor Schußabgabe mindestens 80 m gerannt. Bei kurzer Dauer des Vorfalls und der drohenden Gefahr der Flucht des Soldaten hatte der Angeklagte nicht genügend Zeit, zur Ruhe zu kommen, als er mit ausgestrecktem Arm einhändig über Kimme und Korn zielte. Dies alles wußte der Angeklagte als nach eigener Einlassung erfahrener Schütze. Er wußte auch, daß er in den letzten Jahren zuvor nur relativ selten mit der Pistole auf der Schießbahn geübt hatte und daß ein Pistolenschuß grundsätzlich weniger zielsicher ist als etwa ein Gewehrschuß. Sein Einwand, er hätte als erfahrener {29} Schütze genau dorthin treffen können, wohin er gewollt hätte, trifft schon deshalb nicht zu, da er nach seiner eigenen Einlassung gerade sein Ziel nicht getroffen hatte. Der Angeklagte war damals ein 35-jähriger Offizier der Nationalen Volksarmee, welcher als Hauptmann und stellvertretender Kompaniechef laufbahnmäßig in der Regelbeförderung stand. Er wußte, daß eine gelungene Flucht eines Soldaten seiner Kompanie als ranghöchster Offizier vor Ort wahrscheinlich das Ende seiner Karriere bedeutet und Disziplinarmaßnahmen nach sich gezogen hätte. Nach seiner eigenen Einlassung wollte er die Flucht des Pioniers auf jeden Fall verhindern. Die Prüfung dieses und der vorgenannten Umstände läßt nach Überzeugung des Gerichts keinen anderen Schluß zu, als daß der Angeklagte bei Schußabgabe den Tod seines Opfers zumindest billigend in Kauf nahm.

IV. [Rechtliche

Würdigung]

Als Tatorte sind im vorliegenden Fall sowohl die damalige Bundesrepublik Deutschland und auch die damalige DDR gegeben. Aufgrund der Beweisaufnahme ist nicht davon auszugehen, daß der Angeklagte bei Schußabgabe die Demarkationslinie überschritten hat, d.h. die Schußabgabe erfolgte auf DDR-Gebiet. Da auch der Erfolg (Versterben des Soldaten) in der damaligen DDR eintrat, ist hier ein Tatort gegeben. Der Tatort befand sich jedoch auch in der damaligen Bundesrepublik Deutschland. Das Opfer lag bei Schußabgabe bereits auf westdeutschem Gebiet. Der vom Angeklagten abgegebene und später zum Tode fuhrende Schuß traf ebenfalls hier. Somit wurde in der BRD zumindest ein Teilerfolg (wenn auch nicht im Sinne eines mehraktigen {30} Delikts) verwirklicht, so daß auch hier ein Tatort gegeben ist (vgl. Leipziger Kommentar, 10. Aufl., RdNr. 10, 12 zu § 9; Schönke/Schröder, 24. Aufl., RdNr. 12 zu § 9; Dreher/Tröndle 46. Aufl., RdNr. 3 zu § 9). Die Strafbarkeitsprüfung richtet sich somit nach beiden damaligen Rechtsordnungen, ohne daß sich die Problematik des Interlokalen bzw. Internationalen Strafrechts stellt. Nach bundesdeutschem Strafrecht liegt hier ein Verbrechen des Totschlags gem. § 212 StGB in der Fassung vom 04.08.1953 vor. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme kann nicht von einem Mord gem. § 211 StGB ausgegangen werden. Dem Angeklagten kann nicht nachgewiesen werden, daß er aus niedrigen Beweggründen i.S.d. §211 Abs. 2 StGB handelte. Auch wenn es ihm sicher darauf ankam, die Flucht des Soldaten Preußner zu verhindern, so sind seine zuvor beschriebenen Motive nicht als völlig auf niedrigster Stufe stehend zu bezeichnen. Aufgrund der in der Hauptverhandlung zu Tage getretenen Persönlichkeit des Angeklagten stellt sich der Todesschuß auch nicht etwa als eine Art „Exekution" dar, um ein Exempel zu statuieren. Schließlich hat der Angeklagte auch vor dem gezielten Schuß durch Anrufung des flüchtenden Soldaten

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und die Abgabe von Warnschüssen versucht, diesen zur Rückkehr zu bewegen. Der besonders schwere Fall eines Totschlags (§212 Abs. 2 StGB) ist vorliegend ebenfalls zu verneinen. Insbesondere wurde die Tat vom Angeklagten nicht vorher geplant, noch hat er sie etwa besonders brutal oder in abstoßender Weise ausgeführt. Hinsichtlich des Verbrechens des Totschlags gem. § 212 Abs. 1 StGB ist jedoch gem. § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB Verfolgungsveijährung eingetreten. Die Veqährungsfrist begann mit dem 06.08.1969 zu laufen (§ 78a StGB). Sie endete mit Ablauf des 05.08.1989, unterbrechende Handlungen wurden in diesem Zeitraum nicht vorgenommen. Auch ein Ru-{31}hen des Verfahrens gem. § 78b Abs. 1 Satz 1 StGB, da sich der Angeklagte in der damaligen DDR aufhielt und von deren Regime gedeckt wurde, kommt nicht in Betracht, weil dieser Fall nicht anders zu sehen ist als der, bei dem sich der Täter irgendwo im Ausland verbirgt (allgemeine Meinung, vgl. etwa OLG Frankfurt Strafverteidiger 91, 421 mit Anmerkung von Lemke/Hettinger; dieselben in NStZ 92, 21 ff., 22). Nach dem Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik (künftig: DDRStGB) in der Fassung vom 12.01.1968 hat sich der Angeklagte eines Verbrechens des Mordes gem. § 112 Abs. 1 DDR-StGB schuldig gemacht. Danach war Mord ,jede vorsätzlich Herbeiführung des Todes eines andern Menschen ..., soweit nicht die besonderen Voraussetzungen des § 113 vorliegen" (vgl. Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Aufl., Anm. 2 zu § 112). Ein Totschlag gem. § 113 Abs. 1 Nr. 3 DDR-StGB (hier einzig denkbare Alternative; § 113 DDR-StGB war im Gegensatz zu § 213 StGB als eigener Tatbestand ausgestaltet) ist vorliegend nicht gegeben. „Besondere Tatumstände", an deren Erfüllung hohe Anforderungen zu stellen sind (vgl. den vorgenannten amtlichen Kommentar Anm. 10 zu § 113), liegen nicht vor. Nach der amtlichen Kommentierung (a.a.O.) wäre dies regelmäßig bei einer Tat aufgrund einer psychischen Zwangslage nach Zuspitzung einer längeren Konfliktsituation zu sehen. Diese psychische Zwangslage müßte dem Täter grundsätzlich den Überblick über die aktuelle Lebenslage wesentlich erschweren (vgl. Anm. wie vor2). Abgesehen davon, daß derartige Spontanentscheidungen wie im vorliegenden Fall grundsätzlich nicht von § 113 Abs. 1 Nr. 3 DDR-StGB abgedeckt sind, greift die genannte Vorschrift auch deshalb nicht ein, weil der Angeklagte, was bei Strafzumessung noch näher zu erläutern sein wird, durchaus die Möglich-{32 }keit gehabt hätte, die Flucht des Pioniers ohne Blutvergießen zu verhindern. Eine Zwangslage im Sinne der Vorschrift scheidet daher aus. Veijährung war nach DDR-Strafrecht nicht eingetreten (§ 82 I Nr. 5 DDR-StGB). Die Streitfrage, ob bei der grundsätzlichen Anwendbarkeit von BRD- und DDRStrafrecht die Strafbarkeit nach dem letztgenannten Recht auch dann möglich ist, wenn die Tat nach BRD-Strafrecht verjährt wäre (vgl. etwa Riedel, DtZ 92, 162 f f ; Lemke/Hettinger NStZ 92, 21 ff.; OLG Braunschweig NStZ 92, 183 f f ) , ist nunmehr durch Art. 2 des Veijährungsgesetzes vom 26.3.1993 und die darin bestimmte Einfügung eines neuen Satz 2 zu Art. 315a EGStGB bejahend gelöst. Art. 2 des Verjährungsgesetzes hat im Gegensatz zu Art. 1 auch nicht lediglich deklaratorischen Charakter. Gem. Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB i.V.m. § 2 Abs. 1 und Abs. 3 StGB ist zu prüfen, welches als milderes Gesetz anzusehen und daher auf den Angeklagten anzuwenden ist. Die Prüfung ergibt, daß § 212 StGB das mildere Gesetz darstellt. Allerdings wä-

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re das DDR-Strafrecht dann als milder anzusehen, wenn es nicht zu einer Bestrafung des Angeklagten fuhren würde. Dem ist jedoch nicht so. Insbesondere stand dem Angeklagten zur Tatzeit kein Rechtfertigungsgrund zur Seite. Das Grenzgesetz trat erst 1982 in Kraft. Zur Tatzeit galt die Grenzverordnung, welche auf die allgemeinen Dienstvorschriften und damit im konkreten Fall auf die DV-30/10 verwies. Der Angeklagte hat ein Verbrechen des Pionier Preußner nach DDR-Strafrecht, nämlich Fahnenflucht in einem schweren Fall (§ 254 Abs. 2 Nr. 1 DDR-StGB), verhindert. Gemäß Ziffer 206 Abs. 1 der DV-30/10 stellte jedoch auch hier der Gebrauch der Schußwaffe die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber {33} Personen dar. Insbesondere war es nur dann zulässig, „wenn alle anderen Maßnahmen erfolglos blieben oder dann, wenn es aufgrund der Lage nicht möglich ist, andere Maßnahmen zu treffen". Der Angeklagte hätte jedoch nach damaliger Sachlage auch für ihn erkennbar die Flucht des Soldaten mit milderen Mitteln auch unter Beachtung von Ziffer 208 DV-30/10 verhindern können. Er war bei Schußabgabe (zu seinen Gunsten unterstellt) höchstens 25 m von Preußner entfernt, welcher sich nur robbend fortbewegte und zeitweise liegen blieb. Es hätte keiner großen Anstrengung bedurft, zu dem Soldaten hinzulaufen und ihn mit erhobener Waffe zur Rückkehr zu zwingen. Zwar hätte er damit die Grenze eines anderen Staates verletzt, dies tat er später jedoch auch (Schußabgabe und Rückholung des Verletzten). Uniformierte, insbesondere BGS-Beamte waren nicht sichtbar (der nächste Posten war 200 m entfernt). Auch die Sicherungsposten der NVA stellten, für den Angeklagten erkennbar, kein Hindernis dar. Zwar waren diese seinem Kommando nicht unterstellt und hatten befehlsgemäß auf jeden zu schießen, welcher das ausgelegte Trassierband überschritt. Dieses hatte der Angeklagte zum Zeitpunkt der Schußabgabe jedoch bereits getan. Im übrigen war es für jedermann erkennbar (Abgabe von Warnschüssen, Aufforderung zur Rückkehr), daß der Angeklagte den Fluchtversuch des Soldaten verhindern wollte. In dieser Situation wäre es ein leichtes gewesen (was im übrigen er und der damalige Oberleutnant E. auch später taten), zumindest durch Handzeichen (damit es der Flüchtling nicht merken sollte) die Sicherungsposten zur Einstellung bzw. Nicht-Wiederaufnahme des Feuers zu verlassen und ggf. sie zur Hilfestellung heranzuwinken. Schließlich war der Angeklagte zum damaligen Zeitpunkt der ranghöchste Offizier vor Ort und stellte somit eine Autorität dar. Aus demselben Grund kann § 18 Abs. 1 DDR-StGB (Notstand) die Handlung des Angeklagten nicht rechtfertigen (vgl. amtlicher Kommentar Anm. 2). Da sich der {34} Angeklagte durch seine Tat nach DDRRecht bei dessen richtiger Auslegung strafbar gemacht hat, greift zu seinen Gunsten auch kein sonstiger Rechtfertigungsgrund ein. Zwar wurden derartige Delikte entgegen den Straf- oder sonstigen Dienstvorschriften vom damaligen Regime nicht geahndet, der Angeklagte wurde sogar belobigt. Dies hindert jedoch nicht, die Vorschriften nach ihrem Wortlaut und menschenfreundlich auszulegen (vgl. BGH NJW 93, 141 f f , 146 f.3) zuletzt BGH NJW 93, 1932 ff., 1934 ff. 4 ). Zwar war zur Tatzeit im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Entscheidungen der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 von der DDR noch nicht ratifiziert worden. Außerdem handelte es sich bei dem Flüchtling im Unterschied zu den anderen Fällen um einen Angehörigen der NVA, der sich nicht nur eines ungesetzlichen Grenzübertritts (§ 213,1 DDR-StGB), sondern auch einer Fahnenflucht (§ 254 II Nr. 1 DDR StGB) schuldig machte. Demnach handelte es sich auch hier um einen offensichtlichen, unerträglichen

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Verstoß gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen Menschenrechte (vgl. BGH NJW 93, 1935), wenn die damalige Staatspräsenz 5 der DDR es billigte, auf unbewaffnete Menschen, von denen auch sonst keine Gefahr ausging, mit (bedingtem) Tötungsvorsatz zu schießen. Dieser Verstoß zeigt sich schon darin, daß das ehemalige Regime gegen die eigenen von ihm erlassenen Vorschriften handelte. Im konkreten Fall verstieß der Angeklagte gegen Ziffer 206, I, II b; 208 der DV-30/10. Auch durfte der Angeklagte nicht darauf vertrauen, daß die damalige gesetzwidrige Auslegung immer Bestand haben würde (vgl. BGH a.a.O., S. 148). Schließlich lagen damalig aus den genannten Gründen auch die Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 DDR-StGB (widerstreitende Pflichten) vor, Anhaltspunkte für eine Schuldminderung (§ 14 DDR-StGB) sind nicht ersichtlich. {35} Der Angeklagte handelte auch schuldhaft. Als Entschuldigungsgründe standen ihm weder § 258 DDR-StGB 6 noch § 5 I WStG (vgl. BGH NJW 93, 1936 f.) zur Seite. Er war trotz der damals schon seit 20 Jahren herrschenden Verhältnisse und seiner Stellung innerhalb der Armee kein überzeugter Kommunist. Sein berufliches Handeln war von Überlegungen geprägt, er stellte [sich] auch nicht als regimetreuer „Scharfmacher" dar. Der Angeklagte hatte, wie oben ausgeführt, für ihn erkennbar die Möglichkeit, den Fluchtversuch ohne Blutvergießen zu beenden. Zwar war seine anders getroffene Entscheidung auch durch die damaligen Befehlslage gedeckt, was die nachfolgenden Ereignisse (Belobigung) zeigen. Es stellte jedoch offensichtlich keinen vernünftigen Rechtfertigungsgrund dar, sich bei dieser Sachlage fur die in Kauf genommene Tötung eines Menschen zu entscheiden. Falls sich der Angeklagte bei Tatbegehung in einem Verbotsirrtum befand, so war dieser Irrtum auf jeden Fall vermeidbar (§ 17, 2 StGB). In dieser konkreten Situation, konnte, wie oben ausgeführt, die Entscheidung erkennbar nur dahingehend getroffen werden, den Fluchtversuch, auch wenn dies eine Fahnenflucht darstellte, unblutig zu beenden. Der weitere Vergleich zwischen § 112 Abs. 1 DDR-StGB und § 212 StGB ergibt, daß letztgenannte Vorschrift das mildere Gesetz darstellt. Zum einen ist die Strafdrohung bei Totschlag geringer. Darüber hinaus besteht hier grundsätzlich die Möglichkeit, über § 213 StGB zu einem niederen Strafrahmen zu gelangen, während § 113 DDRStGB einen eigenen Tatbestand darstellt (vgl. BGH a.a.O., S. 148). {36}

V.

[Strafzumessung]

Bei der Strafzumessung war zunächst der Strafrahmen zu bestimmen. Die Prüfung ergibt, daß hier insbesondere kein minder schwerer Fall des Totschlags i.S.d. § 213 StGB vorliegt. Der Angeklagte befand sich damals zwar in einer ungewöhnlichen, nicht jedoch in eine Ausnahmesituation. Er war stellvertretender Kompaniechef und als erfahrener Offizier geschult, auch in kurzer Zeit abgewogene Entscheidungen zu treffen. Überdies war er auch schon jahrelang bei den Grenztruppen und darüber hinaus bei einer Pionierkompanie eingesetzt, welche unmittelbar an der Staatsgrenze arbeitete und bei der latent die Gefahr von Republikflucht (die einfachen Soldaten waren meist Wehrpflichtige) vorlag. Auch die Tatsache, daß das Vorgehen des Angeklagten von staatlicher Seite gedeckt und von ihm verlangt wurde, Fluchtversuche mit allen Mitteln

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Schüsse über die Grenze - Fall Preußner

Lfd. Nr. 11-1

zu verhindern, läßt seine Tat nicht in einem so milden Lichte erscheinen, daß von einem minder schweren Fall ausgegangen werden müßte. Bei dem Angeklagten handelt es sich nicht etwa um einen von dieser Situation überforderten Wehrpflichtigen, sondern um einen erfahrenen Offizier, welcher aufgrund seines Dienstortes mit derartigen Schwierigkeiten rechnen mußte. Der Angeklagte hat den gezielten Schuß mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz gewählt, obwohl für ihn erkennbar, wie oben beschrieben, ein anderer Weg zur Verhinderung des Fluchtversuchs offen stand. Von der Milderungsmöglichkeit des § 17 [S. ]2 i.V.m. § 49 I StGB wurde nicht Gebrauch gemacht, weil die Vermeidbarkeit des Irrtums so evident war (vgl. die obigen Ausführungen), daß ein eventueller Verbotsirrtum nicht weniger schwer wiege als die Verbotskenntnis (vgl. Dreher/Trönd- {37} le, StGB, 46. Aufl., RdNr. 12 zu § 17). Der Strafrahmen beträgt somit 5 Jahre bis 15 Jahre (§ 212 Abs. 1; 38 Abs. 2 StGB). Innerhalb dieses Rahmens ließ sich das Gericht unter Beachtung der in § 46 Abs. 1 und Abs. 2 StGB aufgestellten Grundsätze insbesondere von folgenden Strafzumessungserwägungen leiten: Zugunsten des Angeklagten spricht, daß er nicht vorbestraft ist und außer der Tat ein rechtschaffenes Leben in sozial geordneten Verhältnissen gefuhrt hat und führt. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß er seinem Staat loyal gegenüberstand. Darüber hinaus befand man sich in den sechziger Jahren auf dem Höhepunkt des kalten Krieges. Die Tat entsprang keiner überlegten Planung, sie wurde vielmehr spontan gefaßt. Der Angeklagte hat vor dem tödlichen Schuß zumindest mehrmals versucht, den flüchtenden Pionier durch Warnschüsse und Warnrufe zur Rückkehr zu bewegen. Er befand sich damals in einer Art Konfliktsituation, wobei ihm dies als erfahrener Offizier und der erkennbaren Alternativlösung (wie oben ausgeführt) nicht allzusehr entlastet. Der Angeklagte wollte ein in der DDR strafwürdiges Verbrechen, nämlich eine Fahnenflucht verbunden mit Republikflucht verhindern. Zugunsten des Angeklagten ist aber insbesondere zu berücksichtigen, daß die Tatbegehung bereits 24 Jahre zurückliegt. Nach dieser langen Zeit ist der staatliche Strafanspruch und auch der Genugtuungsanspruch der Hinterbliebenen nicht mehr in demselben Maße ausgeprägt wie kurz nach der Tat. {38} Zu Lasten des Angeklagten wurde gewertet, daß er als erfahrener Offizier der Grenztruppen in dieser Situation nicht das mildere Mittel, nämlich den flüchtenden Soldaten mit vorgehaltener Waffe zur Rückkehr zu zwingen, gewählt hat. Nach Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände hielt das Gericht eine Freiheitsstrafe am unteren Strafrahmen, nämlich eine solche von fünf Jahren und sechs Monaten, fur schuldangemessen und ausreichend.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

Vgl. Anhang S. 990f. Im Original. Vgl. lfd. Nr. 2-2. Vgl. lfd. Nr. 1-2. Im Original. Gemeint ist wohl die Staatsführung. Vgl. Anhang S. 969.

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Dokumente - Teil 1

Inhaltsverzeichnis Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 18.1.1994, Az. 1 StR 740/93 Gründe

411

I.

[Das Urteil der Strafkammer]

411

II.

[Zu den Sachrügen]

412

III. [Zur Veqährung]

414

IV. [Strafzumessung]

417

Anmerkungen

410

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Schüsse über die Grenze - Fall Preußner

Bundesgerichtshof Az.: 1 StR 740/93

Lfd. Nr. 11-2

18. Januar 1994

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen Paul Huck, geboren 1933 in K., wegen Totschlags {2} Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 11. Januar 1994 in der Sitzung vom 18. Januar 1994, an denen teilgenommen haben: Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® für Recht erkannt: {3} Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 1. Juli 1993 im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Die weitergehende Revision wird verworfen. Von Rechts wegen

Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zur Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat zum Schuldspruch keinen Erfolg, sie fuhrt aber zur Aufhebung des Strafausspruches.

I.

[Das Urteil der Strafkammer]

® Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen. ® Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags nach § 212 StGB i.V.m. §112 StGB-DDR verurteilt. Er habe entgegen seinen Dienstvorschriften gehandelt, denn er hätte mit milderen Mitteln die Flucht verhindern können. Statt zu schießen, hätte er zu dem im Gras liegenden Flüchtling hinlaufen und ihn mit Waffendrohung 10 m auf das Gebiet der DDR zurückholen können, so wie er es nach dem Schuß ebenfalls unter Verletzung der Grenze - auch getan habe. Auch hätte er nicht über die Grenze schießen dürfen.

411

Lfd. Nr. 11-2

Dokumente - Teil 1

II. [Zu den Sachrügen] Die Verurteilung wegen Totschlags nach § 212 StGB ist aus Rechtsgründen im Ergebnis nicht zu beanstanden. Nach dem festgestellten Sachverhalt war ein Tatort sowohl in der Bundesrepublik (Verletzung des Opfers) als auch in der DDR (Standort des Schützen) gegeben. Der Angeklagte hat deshalb {6} sowohl den Tatbestand des Totschlags nach § 212 StGB (§§ 3, 9 Abs. 1 StGB), als auch den einer vorsätzlichen Tötung nach dem StGB der DDR (§ 112 oder § 113) erfüllt. Als das in seiner Strafandrohung mildere Gesetz - im Hinblick auf die Möglichkeit des § 213 StGB - kommt nach § 2 Abs. 3 StGB i.V.m. Art. 315 Abs. 1 EGStGB (in der Fassung des Einigungsvertrages, Anlage I Kap. III Sachgebiet C II Nr. 1 b, BGBl 1990 II 955) die Vorschrift des § 212 StGB zur Anwendung. 1. Die Tötung des Pioniers Preußner auf dem Gebiet der Bundesrepublik war nach der Rechtslage der DDR nicht gerechtfertigt. Auf die in BGHSt 39, 1 erörterten Rechtfertigungs- und Rückwirkungsprobleme bei Tötung eines Flüchtlings auf dem Gebiet der DDR kommt es hier nicht an; desgleichen auch nicht darauf, ob die Ausführungen im genannten Urteil (S. 15, 16) zur Rechtswidrigkeit der Schüsse auf einen Republikflüchtling im Hinblick auf vorgeordnete allgemeine Rechtsprinzipien auch dann gelten, wenn der Täter vor der Grenze auf eine Person schießt, die im Begriff ist, ein „Verbrechen der besonders schweren Fahnenflucht" im Sinne von § 254 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR zu begehen. a) Für den Angeklagten war zur Tatzeit die Dienstanweisung DV 30/10 - „Organisation und Führung der Grenzsicherung und der Grenzkompanie" vom 14. Dezember 19661 maßgebend. Danach durfte von der Schußwaffe „nur Gebrauch gemacht werden", u.a. ... Ziff. 203 d: „wenn andere Mittel nicht ausreichen, um Verbrecher ..., die flüchten, unschädlich zu machen." {7}

Speziell für Grenzposten galt, daß sie die Waffe anzuwenden hatten, Ziff. 204: „... zur vorläufigen Festnahme von Personen, die sich den Anordnungen der Grenzposten nicht fügen, indem sie auf den Anruf ,Halt - Grenzposten - Hände hoch' oder nach Abgabe eines Warnschusses nicht stehen bleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu durchbrechen, und keine andere Möglichkeit zur vorläufigen Festnahme besteht..."

Nach Ziff. 206 Abs. 1 war „der Gebrauch der Schußwaffe ... die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Er ist nur dann zulässig, wenn alle anderen Maßnahmen erfolglos blieben oder dann, wenn es aufgrund der Lage nicht möglich ist, andere Maßnahmen zu treffen." Ziff. 208: „Die Schußwaffe darf nur in Richtung des Territoriums der DDR oder parallel zur Staatsgrenze gegen Grenzverletzer angewendet werden".

Nach diesen dem Angeklagten bekannten Vorschriften war klar - durch Fettdruck „darf nur" besonders hervorgehoben - , daß es nicht erlaubt war, auf Personen zu schießen, die bereits „die Staatsgrenze" zur Bundesrepublik Deutschland (§12 Grenzordnung vom 19. März 1964, GBl DDR II 257, 258) überschritten hatten. b) Neben der offiziellen Dienstordnung gab es allerdings mündliche Unterweisungen, durch die bestehende Vorschriften verstärkt und ungenaue oder unvollständige

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Schüsse über die Grenze - Fall Preußner

Lfd. Nr. 11-2

Vorschriften in einer Weise ergänzt wurden, daß - wie von den Vorgesetzten gewollt die Soldaten „die Gesamtheit der Äußerungen als verpflichtend und damit als Befehl aufgefaßt haben". Zusammen mit den Dienstvorschriften ergab dies die {8} allgemeine Befehls- oder Erlaubnislage (vgl. BGH NStZ 1993 , 486, 487 2 ). Danach waren Grenzdurchbrüche und Fahnenflucht auf jeden Fall zu verhindern; im Sinne entschlossenen, auch tödlichen Handelns wurden die Soldaten bestärkt, das Überschreiten der Grenze auf jeden Fall zu unterbinden (vgl. hierzu auch BGHSt 39, 1, 10, 13; BGH, Urt. vom 20. Oktober 1 9 9 3 - 5 StR 473/93 S. 21 f., zum Abdruck in BGHSt vorgesehen 3 ). c) Das Landgericht geht davon aus, auf Grund dieser allgemeinen Anweisungen habe entgegen DV 30/10 Ziffer 208 „danach auch ein Ermessensspielraum bestanden, ob notfalls auf fremdwärtiges Gebiet zu schießen sei". Bei einer solchen Erlaubnis handelte es sich allerdings nicht um einen .Befehl' - weder im Sinne der allgemeinen Definition (vgl. Schölz/Lingens, Wehrstrafgesetzbuch 3. Aufl. § 2 Rdn. 10) noch im Sinne der §§ 257, 258 StGB-DDR (vgl. Kommentar zum StGB der DDR, 5. Aufl., § 257 Anm. 2). Immerhin aber war damit die DV 30/10 Ziffer 208 in Zweifel gezogen worden, die allgemeine Befehlslage nicht mehr eindeutig. Gleichwohl ist dadurch das Handeln des Angeklagten - wovon auch das Landgericht ausgeht - nicht gerechtfertigt. Es gab keine eindeutige Anordnung, notfalls auf .fremdes Staatsgebiet' zu schießen; alle Vorschriften befaßten sich mit der Frage, was zu tun sei, bevor der Flüchtling die Grenze erreichte. Daß das Verhalten des Angeklagten trotz der möglicherweise bewußt undeutlichen Erläuterungen nicht erlaubt war, ergibt sich aus der Gesamtheit der Anweisungs- und Gesetzeslage der DDR. Selbst ein militärischer Befehl {9} entband einen Soldaten nicht von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, wenn der Befehl (u.a.) „offensichtlich gegen die anerkannten Normen des Völkerrechts verstieß" (§ 258 StGB-DDR 4 ). Ein solch offensichtlicher Verstoß lag hier vor: Die Rechtsordnung eines Staates beschränkt sich grundsätzlich auf das Gebiet innerhalb seiner Grenzen. Die Ausübung des eigenen Rechts darf das des Nachbarn nicht beeinträchtigen. Gewaltsame wie nicht gewaltsame Maßnahmen, die von einem Staatsgebiet auf das andere hinüberwirken und eine Verletzung fremder Gebietshoheit darstellen, hat ein Staat zu unterlassen und zu unterbinden (Berber, Lehrbuch des Völkerrechts I 2. Aufl. § 43). Diese selbstverständlichen Grundsätze galten jedenfalls aus der Sicht der DDR auch im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland (vertraglich normiert wurden sie im Grundvertrag vom 21. Dezember 1972, BGBl 1973 II 423: „..., daß die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt"). Bietet bereits ein Befehl keine Rechtfertigung, so gilt das in höherem Maße fur eine allgemein gehaltene Anordnung wie hier, die letztlich die Entscheidung dem Soldaten überließ. Der Rechtsgedanke aus § 258 StGB-DDR wurde in der nach ihrem Wortlaut eindeutigen Vorschrift der DV 30/10 Ziffer 208 zusätzlich konkretisiert: Es durfte nur auf DDR-Gebiet geschossen werden. d) Das Landgericht hat - der Einlassung des Angeklagten folgend - zu seinen Gunsten unterstellt, er habe die allgemeine Anordnung, Republik- und Fahnenflucht mit allen Mit-{10}teln zu unterbinden, gegenüber den anderen Regeln als vorrangig angesehen. Es hat deshalb zu seinen Gunsten einen Verbotsirrtum angenommen, diesen aber für vermeidbar gehalten. Das Landgericht hat zur Begründung der Rechtswidrigkeit

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Lfd. Nr. 11-2

Dokumente - Teil 1

(auch und in erster Linie) einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemäß DV 30/10 Ziffer 204 herangezogen; der Angeklagte hätte unter Verletzung der Grenze den Flüchtling mit Gewalt auf DDR-Gebiet zurückholen können. Der Senat teilt diese Auffassung nicht. Ein solches Vorgehen wäre zwar eine mildere Maßnahme gewesen als der tatsächlich abgegebene Schuß, doch verstieß das eine wie das andere gegen völkerrechtliche Grundsätze und war gleichermaßen verboten. Der Senat schließt aus, daß die Akzentverschiebung bei Begründung der Rechtswidrigkeit die Annahme des Landgerichts beeinflußt hätte, der Verbotsirrtum sei im Hinblick auf die Stellung des Angeklagten und seine Kenntnis der Vorschriften als vermeidbar anzusehen. 2. Die Tat des Angeklagten war auch nach dem zur Tatzeit geltenden Recht der Bundesrepublik Deutschland rechtswidrig. Denn auch nach Bundesrecht gilt als allgemeine Regel des Völkerrechts mit Verbindlichkeit für den einzelnen (Art. 25 GG), daß man einen Menschen auf fremdem Hoheitsgebiet nicht durch einen Schuß über die Grenze töten darf, nur um dessen endgültiges Entweichen zu verhindern. Damit kommt es für die Beurteilung nicht darauf an, daß Schußwaffengebrauch gegen einen Fahnenflüchtigen auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik nicht zulässig ist; vgl. hierzu §§ 15, 4, 5 UZwGBw (Jess/Mann, UZwGBw 2. Aufl. § 15 Rdn. 7 ff.). {11} 3. Im Verhältnis zu den Vorschriften des StGB-DDR über die vorsätzliche Tötung ist § 212 StGB materiell-rechtlich gesehen das mildere Gesetz, denn in § 213 StGB ist für den minder schweren Fall des Totschlags ein niedrigerer Strafrahmen vorgesehen als in den §§ 112, 113 StGB-DDR (BGHSt 39, 1, 30). Sollte hier jedoch die Anwendung des § 213 StGB verneint werden, so konnte auch die gegenüber § 212 StGB mildere Vorschrift des § 113 StGB-DDR in der hier allein in Betracht zu ziehenden Alternative des §113 Abs. 1 Nr. 3 StGB-DDR keine Anwendung finden. Denn deren Voraussetzung, daß „besondere Tatumstände vorliegen, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit mindern", ist jedenfalls im vorliegenden Fall enger als § 213 StGB, der eine Gesamtwürdigung aller Umstände - also einschließlich eines etwaigen Milderungsgrundes nach §113 Abs. 1 Nr. 3 StGB-DDR - verlangt.

III. [Zur Verjährung] Ein Verfahrenshindernis besteht nicht. Die Tat des Angeklagten ist nicht verjährt. 1. a) Soweit das zur Tatzeit geltende Recht der Bundesrepublik unmittelbar anzuwenden ist (§§ 3, 9 StGB), war der damals vom Angeklagten erfüllte Tatbestand des §212 StGB gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB nach 20 Jahren am 6. August 1989 verjährt. Unterbrechungshandlungen im Sinne des § 78c StGB sind in der Bundesrepublik nicht erfolgt. Ein Ruhen des Laufs der Verjährung in der Bundesrepublik kommt insoweit {12} nicht in Betracht (OLG Frankfurt StV 1991, 421; Dreher/Tröndle, StGB 46. Aufl. vor § 3 Rdn. 39 ff.; Tröndle, Pötz-Festschrift 1993 S. 241 f.; König NStZ 1992, 185, 186; Lemke/Hettinger NStZ 1992, 21, 23). b) Der Senat läßt offen, ob die vom Angeklagten begangene vorsätzliche Tötung nach DDR-Recht als Mord (§112 StGB-DDR) oder als Totschlag (§113 StGB-DDR) zu bewerten ist. Strafverfolgungsverjährung wäre in keinem der beiden Fälle eingetreten: Für Mord betrug die Verjährung zur Tatzeit - und anschließend unverändert - ohnehin 25 Jahre (§ 82 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 112 StGB-DDR vom 12. Januar 1968).

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Schüsse über die Grenze - Fall Preußner

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Als Totschlag mit der Strafdrohung bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe wäre die Tat zwar in 15 Jahren verjährt (§ 82 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 113 StGB-DDR). Insoweit hat aber der Lauf der Verjährungsfrist entsprechend § 83 Nr. 2 StGB-DDR bis zur Aufnahme der Ermittlungen im Januar 1990 geruht. Tatsächlich wurde die Tat des Angeklagten zuvor in der DDR nicht verfolgt, und zwar aus Gründen, die der Gesetzgeber der Bundesrepublik in Artikel 1 Veijährungsgesetz vom 26. März 1993 (BGBl I 392) als Voraussetzung für die Anwendung der Ruhensvorschriften aufgeführt hat. Es handelt sich um eine der Taten, die nach „dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen der Staats- und Parteiführung der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht geahndet worden sind" (vgl. hierzu auch BVerfGE 1, 418, 423 ff.; BGHSt 18, 367; 23, 137, 139 und BTDrucks. 12/3080 S. 5). {13}

2. Unabhängig von der Tatortfrage und der unmittelbaren Anwendung des Rechts der Bundesrepublik richtet sich die Beurteilung der Verjährung bei DDR-Alttaten nicht ohne weiteres nach dem für den Angeklagten günstigeren Gesetz. Wäre der Fall allein nach Art. 315 Abs. 1 EG StGB zu entscheiden, der die Anwendung des mildesten Gesetzes auch für DDR-Alttaten vorschreibt, könnte der Angeklagte - weil die Tat in der Bundesrepublik verjährt war - nicht mehr bestraft werden. Das durch den Einigungsvertrag geschaffene Regelwerk der Art. 315 und 315a EGStGB muß aber im Zusammenhang gesehen werden. Für die Beurteilung der Strafverfolgungsveijährung greift hier Art. 315a Satz 1 EGStGB (idF des Einigungsvertrages, Anlage I Kap III Sachgebiet C Abschn. II Nr. 1 c, BGBl 1990 II 955) ein: Soweit die Strafverfolgungsveij ährung nach dem Recht der DDR bis zum Wirksamwerden des Beitritts - also bis zum 3. Oktober 1990 - nicht eingetreten war (wie hier), „bleibt es dabei". Der Senat legt diese Vorschrift in den Grenzen ihres Wortlauts dahin aus, daß bei der Prüfung, welches Recht das mildere sei (Art. 315 Abs. 1 EGStGB i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB), die Verjährungsfrage auszuklammern ist. Denn es hätte der besonderen Verjährungsregelung des Art. 315a Satz 1 EGStGB nicht bedurft, wenn man nach dem Beitritt der DDR ohne weiteres nach allgemeinen Grundsätzen jeweils das mildere Gesetz hätte anwenden wollen (bzgl. des Sonderfalles nach Art. 315 Abs. 4 EGStGB siehe unten 3.). Art. 315a Satz 1 EGStGB soll ermöglichen, unabhängig von allgemeinen Bestimmungen, insbesondere Taten zu verfolgen, die trotz Strafbarkeit nach DDR-Recht nach der Staatspraxis der DDR nicht verfolgt wurden. Deswegen hat der Gesetzgeber eine spezielle - und damit gegenüber Art. 315 {14} Abs. 1 EGStGB vorrangige - Sonderregelung für Verjährungskonkurrenzen geschaffen (BGH, Urt. vom 20. Oktober 1993 aaO S. 9; so auch Geiger JR 1992, 397 f.; Krehl DtZ 1992, 13, 14). 3. Der Auffassung des Senats, daß Art. 315a Satz 1 EGStGB die weitere Verfolgbarkeit der Tat ermöglicht, steht nicht entgegen, daß die Tat nicht nur in der DDR, sondern wegen des Schusses über die Grenze auch in der Bundesrepublik begangen wurde. Der Senat ist der Auffassung, daß nach der durch den Einigungsvertrag geschaffenen Rechtslage bei DDR-Alttaten, die nach dem StGB und nach dem StGB-DDR strafbar waren, der noch unveijährte DDR-Strafanspruch auch dann verfolgt werden kann, wenn der originäre Strafverfolgungsanspruch der Bundesrepublik nach den Vorschriften des StGB bereits vor dem Beitritt der DDR verjährt war (so auch KG NStZ 1992, 542, 5435; 415

Lfd. Nr. 11-2

Dokumente - Teil 1

Dreher/Tröndle, StGB 46. Aufl. vor § 3 Rdn. 55, 56; König NStZ 1991, 566, 569 und 1992, 185, 186; WasmuthNStZ 1991, 161, 164; Liebig NStZ 1991, 372, 374; Geiger JR 1992, 397, 398; Tröndle, Pötz-Festschrift 1993 S. 211 ff.; AA Grünwald StV 1992, 331; Küpper JuS 1992, 723, 725; Lemke/Hettinger NStZ 1992, 21, 24; vgl. auch Riedel DtZ 1992, 162, 167 und Breymann NStZ 1991, 463). Dem steht der Wortlaut des Art. 315 Abs. 4 EGStGB nur scheinbar entgegen, wonach das StGB für Straftaten maßgebend bleibt, auf die es - wie hier - von Anfang an anwendbar war. Auch hier ist die Gesamtregelung zu beachten: {15} Art 315 Abs. 1 EGStGB enthält die allgemeine Regel, welche i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB die Anwendung des milderen Gesetzes vorschreibt. Art. 315 Abs. 4 und Art. 315a Satz 1 EGStGB erweitern demgegenüber die Strafbarkeit und Verfolgbarkeit, indem sie jeweils in bestimmter Hinsicht die Anwendung des Meistbegünstigungsprinzips einschränken. Art. 315 Abs. 4 EGStGB soll nach seinem Normzweck verhindern, daß eine vor dem Beitritt in der Bundesrepublik entstandene Strafbarkeit über Art. 315 Abs. 1 EGStGB entfällt, wenn die Tat nach dem Recht der DDR nicht strafbar war (so auch König NStZ 1992, 185, 186; LippoldNJW 1992, 18, 19 m.w.Nachw.). Nach dem Sinn und Zweck des Art. 315a Satz 1 EGStGB sollen unverjährte DDRAlttaten weiterhin verfolgt werden, unabhängig davon, ob sie nach dem Recht der Bundesrepublik bereits veijährt waren. Die in Art. 315 Abs. 4 EGStGB zum Ausdruck kommende Priorität des StGB regelt das materielle Strafrecht. Vorrang hat danach der originäre Strafanspruch der Bundesrepublik, „soweit er noch existent ist" (vgl. Tröndle aaO S. 245). Das Recht der Verjährung - primär prozessuales Recht (BVerfGE 25, 286 f.) - ist nicht in dieser Vorschrift, sondern davon getrennt geregelt worden in Art. 315a EGStGB (KG aaO). Für die Anwendbarkeit des Art. 315a Satz 1 EGStGB spricht nicht nur sein Wortlaut und seine von der materiell-rechtlichen Regelung in Art. 315 EGStGB getrennte Stellung, sondern auch, daß es keinesfalls der Wille des Gesetzgebers {16} des Einigungsvertrages war, ausgerechnet die nach DDR-Recht noch nicht veqährte, aus politischen Gründen nicht verfolgte „Staatskriminalität" mit dem Beitritt veqähren zu lassen. Gemeinsam ist den Vorschriften, daß eine Besserstellung solcher Täter durch den Beitritt nicht erreicht, sondern vermieden werden sollte (BGH aaO S. 7; König NStZ 1991, 566 und 1992, 186; Tröndle aaO S. 245; Riedel aaO S. 164; Sauter DtZ 1992, 171). Folgte man der entgegenstehenden Auffassung, hätten die im Jahre 1990 vor dem Beitritt bereits von den DDR-Behörden eingeleiteten Ermittlungsverfahren nach dem 3. Oktober 1990 eingestellt werden müssen, obwohl die Taten nach dem Recht der DDR nach verfolgbar waren. Daß die Partner des Einigungsvertrages - auf Seiten der DDR die demokratisch gewählte Regierung - ausgerechnet diese Fälle für erledigt erklären wollten, ist auszuschließen. Das kommt eindeutig zum Ausdruck auch im (nachträglichen) Gesetzgebungsverfahren zum Verjährungsgesetz vom 26. März 1993, BGBl I 392 (vgl. Gesetzesantrag des Bundesrates vom 22.7.1992 - BTDrucks. 12/3080 S. 6; Ausschußempfehlung des Bundesrates vom 15.5.1992 - BRDrucks. 141/92 S. 7 bis 10; Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages vom 18.1.1993 - BTDrucks. 12/4140 S. 6). Durch die Einfügung von Satz 2 n.F. in Art. 315a EGStGB sollte nach den Begründungen die

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Schüsse über die Grenze - Fall Preußner

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Rechtslage im oben dargelegten Sinne „klargestellt" werden. Geändert wurde die bestehende Rechtslage fur den vorliegenden Fall dadurch nicht, sondern die hier vertretene Auffassung wird durch klarstellende Willensbekundung des Gesetzgebers untermauert. {17} Somit gilt, daß die bis zum Beitritt bestehende und nicht verjährte Verfolgbarkeit von Alttaten in der DDR nicht beseitigt, sondern so wie sie bestand auf die Bundesrepublik übergegangen ist (vgl. auch Samson NJW 1991, 335 ff.: Die Bundesrepublik hat mit dem Beitritt die Rechtspositionen der DDR übernommen; Tröndle aaO S. 245; vgl. auch BGHSt 38, 1, 2). Damit wird nicht ein „erloschener Strafanspruch revitalisiert". Mit dem Einigungsvertrag hat die Bundesrepublik vielmehr Pflichten übernommen aus Rechten, welche die DDR-Regierung eingebracht hat. Dazu gehört die Strafverfolgungskompetenz für solche Alttaten in der DDR, die dort nicht verjährt waren. Ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot ist daher auch nicht erkennbar. Der Angeklagte kann nicht einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand daraus herleiten, daß der (originäre) Strafanspruch der Bundesrepublik nach dem StGB verjährt war (vgl. König NStZ 1991, 566, 569 m.w. Nachw.), da die Tat in seinem Rechtskreis noch verfolgt werden konnte. Ein Vertrauensschutz in den Fortbestand des DDR-Regimes, das solche Taten nicht verfolgte, bestand ebenfalls nicht.

IV.

[Strafzumessung]

Der Strafausspruch hat keinen Bestand. Das Landgericht hätte den außerordentlich langen Zeitablauf von 24 Jahren seit der Tat bereits bei der Frage erörtern müssen, ob ein „sonst minder schwerer Fall" im Sinne des § 213 StGB vorlag. Die Einbeziehung dieses Umstandes hätte möglicherweise zu-{18}sammen mit der ganz besonderen Situation, in welcher der Angeklagte im Rahmen seines Dienstverhältnisses stand, die Annahme eines minder schweren Falles begründen können. Auch im übrigen kann der Strafausspruch durch die gegenüber der Senatsentscheidung in Teilen abweichende Rechtsauffassung des Landgerichts beeinflußt sein: Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann dem Angeklagten nicht angelastet werden, daß er den Flüchtling nicht mit gezogener Waffe über die Grenze zurückgeholt hat.

Anmerkungen 1 2 3 4 5

Vgl. Anhang S. 990f. Vgl. lfd. Nr. 1-2. Mittlerweile veröffentlicht in BGHSt 39, 353. Vgl. lfd. Nr. 10-2. Vgl. Allhang S. 969. Vgl. lfd. Nr. 7-2.

417

Lfd. Nr. 11-3

Dokumente - Teil 1

Inhaltsverzeichnis Erneutes tatrichterliches Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 20.6.1994, Az. 2 Ks 11 Js 4457/92 Gründe

419

I.

[Verfahrensgeschichte]

419

II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

420

III. [Rechtliche Würdigung]

420

IV. [Ergänzende Feststellungen] 1. [Persönliche Lebensumstände] 2. [Befehlslage] 3. [Untersuchungshaft]

420 420 421 421

V.

422

[Beweiswürdigung]

VI. [Strafzumessung]

418

422

Schüsse über die Grenze - Fall Preußner

Landgericht Schweinfurt Az.: 2 Ks 11 Js 4457/92

Lfd. Nr. 11-3

20. Juni 1994 Im Namen des Volkes

URTEIL Die 2. Große Strafkammer des Landgerichts Schweinfurt als Schwurgericht erkennt in dem Strafverfahren gegen Huck, Paul, geboren 1933 in K., verh., gel. Bau- und Möbelschreiner, zul. Berufssoldat, jetzt Rentner, deutscher Staatsangehöriger wegen Totschlags auf Grund der Hauptverhandlung vom 20. Juni 1994, an der teilgenommen haben: Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® {2} für Recht: 1. Der Angeklagte Paul Huck, geb. 1933, ist aufgrund des Urteils des Landgerichts Schweinfurt vom 01.07.1993 - Az.: 1 Ks 11 Js 4457/92 - in Verbindung mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18.01.1994 - Az.: 1 StR 740/93 - schuldig eines Totschlags. 2. Er wird hierwegen zur Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 4 Monaten verurteilt. 3. Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten des Revisionsverfahrens sowie die ihm hierin erwachsenen notwendigen Auslagen. Angewendete Strafvorschriften: §§212,213 StGB. {3}

Gründe I.

[Verfahrensgeschichte]

Mit Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 01.07.1993 wurde der 61 Jahre alte Angeklagte wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hob der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 18.01.1994 das vorgenannte Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 01.07.1993 im Strafausspruch mit den Feststellungen auf, verwies die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,

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an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurück und verwarf die weitergehende Revision des Angeklagten. II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

Nach Feststellungen des Urteils des Landgerichts Schweinfurt vom 01.07.1993 steht folgender Sachverhalt rechtskräftig fest: ® Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen.

III. [Rechtliche Würdigung] Der Angeklagte, der einen Menschen getötet hat, ohne Mörder zu sein, ist, wie rechtskräftig festgestellt, schuldig eines Verbrechens des Totschlags. {9} IV. [Ergänzende Feststellungen] Seitens der Schwurgerichtskammer wurden folgende ergänzende, für die Frage der Strafzumessung bedeutende Feststellungen getroffen: 1. [Persönliche Lebensumstände] Der Angeklagte wurde 1933 im thüringischen K. geboren. Er wuchs dort als drittes von vier Geschwistern ohne Auffälligkeiten im elterlichen Haushalt auf. Von 1940 bis 1948 besuchte er die Volksschule. Seine Eltern ließen sich im selben Jahr scheiden. Der Angeklagte verbrachte seine weitere Jugend bei der Mutter. Er erlernte den Beruf eines Bau- und Möbeltischlers, die Gesellenprüfung legte er im Jahre 1951 ab. Anschließend war er fur zwei Jahre bei zwei Firmen in Sachsen bzw. Thüringen als Zimmermann unter Tage im Uranabbau tätig. Später arbeitete er als Tischler in einer Möbelfabrik. Im Mai 1954 trat er als Wehrpflichtiger bei der Grenzpolizei der damaligen DDR ein. Nachdem dort Mangel an Freiwilligen herrschte, verpflichtete sich der Angeklagte auf ein entsprechendes mehrfach wiederholtes und mit „sanftem" Druck geäußertes Angebot seiner Vorgesetzten, das er glaubte, nicht ablehnen zu dürfen, zunächst für 3 Jahre, später wurde er Berufssoldat. Nach Ableistung seines Grundwehrdienstes besuchte er im Jahre 1955 die Unteroffiziersschule und war danach zunächst als Gruppenführer in der Grenzkompanie in Frankenheim (Rhön), später in einer Ausbildungskompanie in Meiningen tätig. Seinen weiteren Dienst leistete er dann im Erzgebirge ab. Der Angeklagte heiratete im Jahre 1957 seine jetzige Ehe-{10}frau. Dieser Verbindung entstammt sein heute 31-jähriger Sohn. Der Angeklagte trat 1957 in die SED ein, welcher er bis zu deren Auflösung angehörte. Nachdem er 1959 zum Feldwebel befördert worden war, besuchte er 1960 die Offiziersschule und wurde am 01.07.1960 zum Unterleutnant benannt. In der Folgezeit war er an verschiedenen Dienstorten tätig, bevor er 1963 wieder zu eine Grenzkompanie kam. Im Rahmen der Regelbeförderung wurde er 1962 zum Leutnant, 1964 zum Oberleutnant und 1966 zum Hauptmann ernannt. 1965 kam er als stellvertretender Kompaniechef zur 11. Pionierkompanie der 11. Grenzbrigade nach Helmershausen im Kreis Meiningen. Dort verblieb er bis 1971 und wechselte auf 420

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eigenen Wunsch als Major zu einem Regiment nach Meiningen in den Inneren Dienst. 1984 schied er aus dem aktiven Wehrdienst aus und wurde diensthabender Offizier der Grenzübergangsstelle Eußenhausen. Am 31.08.1990 schied er aus der Nationalen Volksarmee aus und lebt seither als Rentner in M. ® Es folgen Angaben zur Einkommens- und Wohnsituation des Angeklagten bzw. seiner Ehefrau. Der Angeklagte ist in strafrechtlicher Hinsicht nicht vorbestraft. {11}

2.

[Befehlslage]

Neben der den Angeklagten als Führungskraft innerhalb der Armee bindenden Dienstanweisung DV-30/10 „Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie", die u.a. den Gebrauch der Schußwaffe als die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen (Ziffer 206 Abs. 1) und - im Falle dieses Gebrauchs - die Handhabung nur in Richtung des Territoriums der Deutschen Demokratischen Republik oder parallel zur Staatsgrenze (Ziffer 208) vorschrieben, bestanden schriftliche - Befehle von höchster Ebene, die stufenweise nach unten weitergegeben wurden und für Dienstgrade, wie den des Angeklagten, von den jeweiligen Leitern der Grenzbrigaden stammten, die die Anweisung, Fluchtversuche mit allen Mitteln zu unterbinden, beinhalteten. Diese Anordnungen wurden als Verschlußsachen behandelt und waren fur die Führungskräfte nur gegen Unterschrift einsehbar. Die Anweisung, Fluchtversuche um jeden Preis zu verhindern, wurde auf Führungsebene - jedenfalls mündlich - dahingehend interpretiert, bei Fahnenflucht, die als besonders verwerflich eingeordnet war, die Schußwaffe einzusetzen, um des Flüchtenden habhaft zu werden. Die nachdrückliche Dienstanweisung, Fluchtversuche mit allen Mitteln zu verhindern, bestand vor allen Dingen deswegen, weil in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang vor dem Tatzeitpunkt sich Fälle von Fahnenflucht Wehrpflichtiger, die Hand in Hand mit einer - versuchten - Republikflucht gingen, gemehrt hatten, was u.a. auch dazu führte, daß beim Angeklagten bzw. bei jedem Führungsoffizier der Grenztruppen, wie der Angeklagte sich einließ, von Haus aus eine gewisse „Unsicherheit" für eine derartige Situation bestanden hat. {12} Die Versetzung des Angeklagten im Jahre 1971 als Major in den Innendienst eines Regiments mit Standort Meiningen, auf die der Angeklagte seit 1970 selbst hinwirkte, stand mit den Vorfällen des 06.08.1966 in keinem Zusammenhang, sondern war vielmehr darauf zurückzuführen, daß der Dienst an der unmittelbaren Grenze durch seinen Tätigkeitsbereich, der weitgehend auf Minenräumung und neuen Sperrenaufbau beschränkt war, für sich allein nervenaufreibend war. Im übrigen hat der Angeklagte in letzter Konsequenz erst durch die Einleitung des Strafverfahrens nach der „Wende" erkennen müssen, daß der für das Tatopfer tödliche Schuß aus seiner Waffe und damit von ihm abgegeben worden ist.

3.

[Untersuchungshaft]

Der Angeklagte wurde am 22.07.1992 aufgrund des Haftbefehls des Landgerichts Schweinfurt vom 01.07.1992 festgenommen. Seiner Entlassung am 01.07.1993 aufgrund des Außervollzugsetzungsbeschlusses des Landgerichts Schweinfurt vom 421

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01.07.1993 folgte am 03.08.1993 - auf die Beschwerdeentscheidung des OLG Bamberg vom 27.07.1993 hin - seine erneute Inhaftierung. Am 04.11.1993 wurde der Angeklagte, nachdem das Landgericht Schweinfurt mit Beschluß vom 04.11.1993 den Haftbefehl vom 01.07.1992 erneut außer Vollzug gesetzt hatte, auf freien Fuß gesetzt. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Schweinfurt gegen den vorgenannten Beschluß des Landgerichts Schweinfurt vom 04.11.1993 wurde seitens des Oberlandesgerichts Bamberg mit Beschluß vom 18.11.1993 verworfen. Seit seiner Entlassung lebt der Angeklagte zusammen mit seiner Frau in seiner Mietwohnung. {13}

V.

[Beweiswürdigung]

Die zusätzlich getroffenen Feststellungen beruhen auf den Angaben des Angeklagten, der auszugsweise verlesenen Dienstanweisung DV 30/10 „Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie", der verlesenen Auskunft aus dem Bundeszentralregister sowie - hinsichtlich des Haftverlaufs des Angeklagten - aus dem Gang des Verfahrens. Die Richtigkeit der Angaben des Angeklagten zu der widersprüchlichen Befehlslage im Falle eines Fluchtversuchs ergibt sich - neben den allgemein bekannten Tatsachen im Konkreten schon daraus, daß der Angeklagte, obwohl er objektiv gegen die ihn bindende Dienstanweisung DV-30/10 verstoßen hat, aufgrund des Vorfalls mit der nationalen Verdienstmedaille der DDR in Gold, einer zumindest mittleren Auszeichnung, wie es der Angeklagte ausgedrückt hat, für sein „Verhalten" belobigt und zusätzlich finanziell mit Zahlung eines Betrages in Höhe von 400,-- Mark „belohnt" wurde. Diese „Unstimmigkeiten", einerseits ein Verstoß gegen Dienstvorschriften, andererseits eine Auszeichnung für den Verstoß gegen dieselben, lassen sich nur dann miteinander in Einklang bringen, wenn tatsächlich neben der Dienstanweisung, die in erster Linie wohl das Vorgehen der ehemaligen DDR gegenüber anderen Staaten ins rechte Licht setzen sollte, dieser widersprechende interne Anordnungen bestanden haben. Die Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten, daß erst im Zuge des jetzigen Strafverfahrens ihm bekannt wurde, daß er als Diensthabender nicht nur die Verantwortung für den Tod des Pioniers Preußner trägt, sondern die tödliche Kugel aus seiner Waffe stammt, bestätigt die Zielrichtung {14} der Vorgehensweise der DDR-Behörden zum Tatzeitpunkt, die bei ihren Nachforschungen den äußeren Verlauf des Vorfalles und die persönlichen Hintergründe des Fluchtversuchs des Tatopfers zu ermitteln suchten, nicht jedoch den Umstand, wer - persönlich - für den Tod des Pioniers Preußner verantwortlich war.

VI. [Strafzumessung] Bei der Strafzumessung ist das Schwurgericht zunächst davon ausgegangen, daß ein minder schwerer Fall des Totschlags i.S.d. § 213 StGB vorliegt. Entscheidend für das Vorliegen eines minder schweren Falles ist, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in einem Maße abweicht, daß die Annahme des Ausnahme-

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rahmens geboten erscheint. Für die Prüfung dieser Frage ist deshalb eine Gesamtbetrachtung erforderlich, bei der alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig ob sie der Tat innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder ihr nachfolgen (BGHSt 26, 97 ff., ständige Rechtsprechung). In Betracht zu ziehen waren in diesem Zusammenhang - vertypte Milderungsgründe sind nicht ersichtlich - vor allen Dingen folgende Umstände: Zum einen darf nicht übersehen werden, daß zum heutigen Zeitpunkt die Tat annähernd 25 Jahre zurückliegt, wobei nach dieser langen Zeit weder der staatliche Strafanspruch noch der Genugtuungsanspruch der Hinterbliebenen in demselben Maße ausgeprägt ist, wie kurz nach der Tat. {15} Auch wenn sicherlich die Hoffnung der Mutter des getöteten Pioniers Preußner nach der Wende hinsichtlich der Sühne des Todes ihres Sohnes neu aufgeflackert sein mag, hat der zeitliche Abstand von Tat- und Ahndungszeitpunkt insbesondere auch beim Angeklagten Auswirkungen und Spuren dahingehend hinterlassen, daß eine Einwirkung auf denselben heute in erheblich geringerem Umfange notwendig ist, als dies bei einem viel kürzeren Zeitabstand der Fall wäre, zumal die Wirkungen einer Strafe Hand in Hand mit dem Zusammenhang von Ahndung und Tat einhergehen. Keinesfalls übersehen werden darf, daß die Befehls- und Erlaubnislage aus der Sicht einer Person wie der des Angeklagten durch von offizieller Seite verursachte Widersprüchlichkeiten geprägt war. Während einerseits der Schußwaffengebrauch als das äußerste Mittel bezeichnet wurde und die Handhabung einer Waffe nur in Richtung DDR-Gebiet bzw. parallel zum Grenzverlauf nach den Dienstanweisungen zulässig war, bestand nach den Anordnungen der Einheitskommandeure, die auf höchste Stellen zurückzuführen waren und als Verschlußsache behandelt wurden, nachdrückliche Anweisung, Fahnenflucht mit allen Mitteln zu verhindern. Es darf auch nicht gänzlich außer acht gelassen bleiben, daß sich der Angeklagte zum Tatzeitpunkt insoweit in einer gewissen Zwangslage befunden hat, als ihm bekannt war, daß ein erfolgreicher Fluchtversuch - nachdem ein solcher als das Schlimmste eingeordnet wurde, was einer Grenzkompanie passieren konnte - mit persönlichen Konsequenzen und Repressalien fur ihn verbunden sein wird. Zu Lasten des Angeklagten muß in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, daß er die „Doppelmoral" der seitens der DDR-Behörden geschaffenen Befehls- und Erlaubnislage erkannt und daraus den Schluß gezogen hat, daß mit der ethnischen Bewertung hierbei etwas nicht stimmen kann. Nur so kann die Einlassung des Angeklagten, daß er Kenntnis von einer steigernden Häufigkeit von Fluchtversuchen und {16} damit verbundenen Repressalien gegenüber Kollegen, die einen derartigen nicht verhindern konnten, hatte und deswegen bei allen Führungsoffizieren der Grenztruppen - und damit auch bei ihm - von Haus aus eine gewisse Unsicherheit für das Verhalten in einer solchen Situation vorhanden gewesen sei, verstanden werden. Unsicher kann nämlich nur sein, wer von der Richtigkeit der einem angedienten und erwarteten Verhaltensweise aus bestimmten Gründen nicht überzeugt ist. Mit dieser Überlegung war er sich vor dem eigentlichen Tatzeitpunkt aber auch darüber im klaren, daß er jederzeit in eine derartige Situation geraten kann, so daß ihm das eigentliche Tatgeschehen jedenfalls nicht aus „heiterem Himmel" begegnet ist.

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Nach der Überzeugung des Schwurgerichts fallt das im vorliegenden Fall gegebene Gesamtbild aus den sonstigen Erscheinungsformen des Totschlags so wesentlich heraus, daß der Strafrahmen des § 212 StGB, der 5 Jahre bis 15 Jahre (§§ 212 Abs. 1, 38 Abs. 2 StGB) beträgt, nicht schuldangemessen ist und die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint. Damit ist der Strafrahmen dem § 213 StGB zu entnehmen, der einen solchen von 6 Monaten bis zu 5 Jahren beinhaltet. Innerhalb dieses Strafrahmens hat das Schwurgericht die in § 46 Abs. 2 StGB genannten und die bereits bei der Erörterung zum minder schweren Fall dargestellten sowie die übrigen für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände gegeneinander abgewogen. Zugunsten des Angeklagten spricht, daß er nicht vorbestraft ist und - abgesehen von der Tat - vor und nach derselben ein rechtschaffenes Leben in sozial geordneten Verhältnissen gefuhrt hat und noch fuhrt. Der Angeklagte ist im Hinblick auf sein Alter erheblich strafempfind-{17}lieh, wobei dieser Umstand durch die Untersuchungshaft von mehr als 14 Monaten, in denen der Angeklagte - auf zwei Etappen - aus seiner gewohnten Umgebung gerissen war und in die er sich nach seiner Entlassung jeweils wieder eingewöhnen mußte, noch verstärkt wird. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß er seinem Staat loyal gegenüberstand, wobei man sich in den 60er Jahren auf dem Höhepunkt des „Kalten Krieges" befand. Die Tat entsprang keiner überlegten Planung, sie entwickelte sich vielmehr aus der Situation heraus, wobei der Angeklagte „lediglich" mit bedingtem Tötungsvorsatz tätig wurde. Es darf auch nicht übersehen werden, daß der Angeklagte immerhin vor dem tödlichen Schuß zumindest mehrmals versucht hat, den flüchtenden Pionier durch Warnschüsse und Warnrufe zur Rückkehr zu bewegen. Dem Angeklagten ist auch abzunehmen, daß er heute die Vorfälle von damals zutiefst bedauert. Letztendlich dürfen der Zeitablauf, die von Widersprüchlichkeiten geprägte Befehls- und Erlaubnislage sowie die gewisse Zwangslage aufgrund der drohenden persönlichen Konsequenzen nicht übersehen werden, zumal der Angeklagte im Falle einer erfolgreichen Flucht des Getöteten in Anbetracht einer Vielzahl von Beobachtern sich unwiderleglich des Vorwurfs ausgesetzt hätte, daß er als Führungsoffizier versagt hat, nachdem der Sicherungsoffizier die Möglichkeit geschaffen hatte, das erfolgreiche Entweichen des Pioniers Preußner zu verhindern. Zu Lasten des Angeklagten wurde gewertet, daß es sich bei ihm um einen erfahrenen Offizier der Grenztruppen gehandelt hat, der aufgrund seines Kenntnisstandes die Möglichkeit einer derartigen Situation im voraus für nicht unwahrscheinlich gehalten hat, so daß er sich ganz allgemein Gedanken über eine entsprechende Verhaltensweise seinerseits machen konnte bzw. sogar mußte. Weiterhin mußte zu seinen Ungunsten berücksichtigt werden, daß in der konkreten Situation von ihm zwar eine rasche, aber {18} nicht sofortige Entscheidung verlangt war, zumal er, bevor es zur Abgabe des tödlichen Schusses kam, erst eine Distanz von ca. 100 m im Laufschritt zurücklegen mußte, was mit gewissem Zeitaufwand verbunden war. Letztendlich darf nicht gänzlich zu Lasten des Angeklagten unterschlagen werden, daß er seine Dienstwaffe von DDR-Gebiet auf und in Richtung Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gebrauchte. Nach Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände sowie unter Berücksichtigung der Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des

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Schüsse über die Grenze - Fall Preußner

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Angeklagten in der Gesellschaft zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 StGB), hält das Gericht eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 4 Monaten für schuldangemessen, ausreichend und erforderlich.

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Teil 2: Strafverfahren gegen militärische Vorgesetzte

Lfd. Nr. 12 Erteilung genereller Befehle, insbesondere Vergatterung 1. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 7.6.1995, Az. (529) 27/2 Js 193/90 Ks 22/94

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2.

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Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 20.3.1996, Az. 5 StR 623/95

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Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 7.6.1995, Αζ. (529) 27/2 Js 193/90 Ks 22/94 Gründe

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I.

[Zusammenfassung der Anklage]

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II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

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III. [Strafbarkeit des Angeklagten U.]

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IV. [Strafbarkeit des Angeklagten W.]

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Anmerkungen

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Erteilung genereller Befehle, insbesondere Vergatterung

Landgericht Berlin Az.: (529) 27/2 Js 193/90 Ks (22/94)

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7. Juni 1995

URTEIL Im Namen des Volkes Strafsache gegen 1. den Tiefbauarbeiter Erhard Richard U., geboren 1951 2.

den Verkaufsberater Heinz Herbert W., geboren 1956

wegen versuchten Totschlags u.a. Die 29. große Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Berlin hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 29. und 31. Mai sowie 7. Juni 1995, an der teilgenommen haben: {2} ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® in der Sitzung vom 7. Juni 1995 für Recht erkannt: Die Angeklagten werden auf Kosten der Landeskasse Berlin, die auch ihre notwendigen Auslagen zu tragen hat, freigesprochen. {3}

Gründe I.

[Zusammenfassung der Anklage]

Dem Angeklagten U. ist durch die zugelassene Anklage der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin vom 13. Oktober 1994 zur Last gelegt worden, einen versuchten Totschlag (§§212, 22, 23 StGB i.V.m. §§ 112, 113 StGB-DDR) begangen zu haben. Er habe am 22. April 1978 gegen 01.40 Uhr als Grenzsoldat der damaligen DDR am Eisenbahngrenzübergang zwischen Staaken (DDR) und Berlin-Spandau zwei Schuß Dauerfeuer auf den nach Berlin (West) flüchtenden Andreas Jaeger abgegeben und dabei dessen - nicht eingetretenen - Tod billigend in Kauf genommen. Dem Angeklagten W. ist vorgeworfen worden, eine Anstiftung zum versuchten Totschlag (§§212, 22, 23, 26 StGB i.V.m. §§ 112, 113, 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR) verübt zu haben, indem er dem Mitangeklagten U. bei der zum Dienstantritt vorgenommenen Vergatterung den Befehl erteilt habe, „Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen und Grenzverletzer festzunehmen oder zu vernichten". Die Angeklagten waren - teils aus tatsächlichen, teils aus rechtlichen Gründen - freizusprechen. {4}

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II.

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[Sachverhaltsfeststellungen]

Die Hauptverhandlung hat zu folgenden Feststellungen geführt: 1. Der Angeklagte U. leistete von Herbst 1976 bis Ende April 1978 seinen Wehrdienst bei den Grenztruppen der Nationalen Volksarmee der ehemaligen DDR ab. Nach der sechsmonatigen Grundausbildung diente er als Grenzposten. Im Rahmen der Grundausbildung und der regelmäßigen, intensiven politischen Schulungen wurde ihm die Befehlslage für die Grenzsoldaten erläutert: Eine Flucht aus der DDR war unbedingt - erforderlichenfalls unter Einsatz der Schußwaffe, auch mittels gezielter Schüsse - zu verhindern. Dabei sollte auch der Tod des Flüchtlings in Kauf genommen werden. Grundsätzlich sollten der Abgabe gezielter Schüsse auf den Flüchtling zunächst ein Warnruf und - falls er nicht beachtet wurde - ein Warnschuß vorausgehen. Falls ein Warnruf bzw. Warnschuß - z.B. aus zeitlichen Gründen - nicht möglich war, hatte der Angeklagte U. nach der ihm immer wieder vermittelten Befehlslage sofort gezielt zu schießen. Schriftlich wurden ihm Regelungen des Schußwaffengebrauchs nicht zur Kenntnis gegeben. Es wurde lediglich ausgeführt, die Befehlslage stehe mit den Vorschriften in Einklang. {5} Der Angeklagte U. nahm während der sechsmonatigen Grundausbildung fünf- bis sechsmal und im Verlaufe des anschließenden Grenzdienstes zweimal an Schießübungen teil, die mit der Maschinenpistole Kalaschnikow auf feste Ziele absolviert wurden. Seine Ausbilder stuften ihn als guten Schützen ein. Seinen Dienst als Grenzsoldat versah der Angeklagte U. bei der in Falkensee stationierten 8. Sicherungskompanie. Die Soldaten der 8. Sicherungskompanie hatten die Grenze zu Berlin (West) im Bereich der Eisenbahngrenzübergangsstelle Staaken-Bahnhof und der Grenzübergangsstelle Staaken-Fernstraße 5 zu sichern. Für den Schußwaffengebrauch an der Grenzübergangsstelle Staaken-Bahnhof hatte der Leiter der Grenzübergangsstelle - soweit sicher feststellbar - zu jener Zeit nur folgende Beschränkungen erlassen: Es durfte nicht über durchfahrende Personenzüge hinweg und bei Durchfahrt von Güterzügen nicht über die Lokomotive geschossen werden. Den Sicherungsdienst versah acht Stunden lang jeweils ein aus drei Gruppen gebildeter Wachzug. Jede Gruppe bestand aus vier Postenpaaren (acht Soldaten) und dem Gruppenführer. Die Zusammensetzung und der konkrete Einsatzort der Postenpaare wechselten ständig. Ihre Festlegung erfolgte durch den Kompaniechef Major Frömmrich und wurde bis zum Dienst-{6}antritt geheimgehalten. Der Dienst der Wachzüge wurde von dem jeweiligen Offizier vom Dienst vorbereitet. Der Offizier vom Dienst hatte dem Zug insbesondere die vom Kompaniechef bestimmte Zusammensetzung der Postenpaare und ihren Einsatzort zu befehlen und die Vergatterung vorzunehmen. Nach der ministeriellen Anweisung DV 30/101 hatte die bei jedem Dienstbeginn vorzunehmende Vergatterung des Zuges folgenden Wortlaut: „Der Zug, eingesetzt für die Zeit von ... bis ..., sichert die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik im Abschnitt der ... Grenzkompanie mit der Aufgabe, Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, Grenzverletzer vorläufig festzunehmen oder zu vernichten und den Schutz der Staatsgrenze unter allen Bedingungen zu gewährleisten - Vergatterung!"

Die Offiziere vom Dienst hielten sich inhaltlich strikt an die Vergatterungsformel und wandelten diese allenfalls unwesentlich ab. In den Jahren 1976 bis 1978 gab es keine Befehle vorgesetzter Dienststellen, durch die der Schießbefehl - wie es in späteren Jah432

Erteilung genereller Befehle, insbesondere Vergatterung

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ren z.B. anläßlich von Staatsbesuchen der Fall war - ausgesetzt oder abgemildert wurde. Änderungen der Vergatterung erfolgten vielmehr nur in der Richtung, daß im Anschluß an die Vergatterungsformel aus Anlaß besonderer Vorkommnisse - z.B. der Desertion {7} sowjetischer Soldaten - zu erhöhter Wachsamkeit ermahnt wurde. Häufig führte der Angeklagte W. die Vergatterung des Zuges durch, dem der Angeklagte U. als Grenzposten angehörte. Der Angeklagte W. war Unterleutnant in der 8. Sicherungskompanie und wurde wechselnd mit einigen anderen Offizieren regelmäßig als Offizier vom Dienst eingesetzt. Bei der Vergatterung sprach er immer die gleiche Formel, wobei er den in der DV 30/10 vorgeschriebenen Text lediglich an zwei Stellen änderte: Anstelle von „Deutschen Demokratischen Republik" sagte er „DDR". Das Wort „vorläufig" im Zusammenhang mit der Festnahme ließ er aus. 2. Am 21. April 1978 trat der Angeklagte U. gegen 22.00 Uhr mit den anderen Soldaten des Zuges seinen Dienst in der Kaserne in Falkensee an. Der Angeklagte W. war seit dem 21. April 1978, 17.00 Uhr, 24 Stunden lang als Offizier vom Dienst tätig. Er ließ den Zug antreten und eröffnete ihm die Zusammensetzung und den Einsatzort der Postenpaare. Danach hatte der Angeklagte U. zusammen mit dem Gefreiten S. den Dienst auf dem Wachturm 5 an der Grenzübergangsstelle Staaken-Bahnhof zu verrichten, wobei der Angeklagte U. zum Führer des Postenpaares bestimmt war. {8} Auch nahm der Angeklagte W. die Vergatterung des Zuges vor. Hierbei hielt er sich - mit den zwei von ihm stets vorgenommenen unwesentlichen Kürzungen - wie immer strikt an den vorgeschriebenen Text. Es war ihm bewußt, daß er mit der Vergatterung als letztes Mittel die Tötung eines Grenzverletzers befahl. Rechtliche Bedenken hatte er nicht. Er hielt die Befehlslage für bindend. Der Angeklagte U. und der Zeuge S. bezogen ihre Posten auf Turm 5. Von allen Wachtürmen im Bereich der Grenzübergangsstelle Staaken-Bahnhof lag dieser der Grenze nach Berlin (West) am nächsten. Die Eisenbahnlinie verlief dort zweigleisig in West-Ost-Richtung und unterquerte den in Nord-Süd-Richtung kreuzenden Straßenzug Nennhauser Damm/Finkenkruger Weg, der die Grenze bildete. Der Grenzübergang war wie folgt gesichert: Nördlich und südlich der Bahnlinie war jeweils eine etwa 3,10 m hohe Sperrmauer errichtet. Die Mauern verliefen im wesentlichen parallel zur Bahnlinie, jedoch war der am weitesten östlich gelegene Teil der nördlichen Mauer zur Bahnlinie in einem Winkel von etwa 45° abgeschrägt, so daß die Mauer dort, und zwar in Höhe der o.a. Straßenbrücke, dicht an den Bahngleisen endete. Etwa drei Meter südlich der südlichen Mauer und etwa 60 Meter westlich der Grenze befand sich der Wachturm 5. An der Stelle, an der sich der Wachturm befand, lagen die nördliche und die südliche Mauer etwa 27 m auseinander. Das südliche Gleis war dort etwa 21 m von der nördlichen Mauer entfernt. Der Bereich zwischen den Sperrmauern war durch Lampen hell erleuchtet und durchgehend mit Schottersteinen bedeckt. {9} Die Höhe des Wachturms betrug an der Unterkante der Turmkanzel etwa 5 m. Der Angeklagte U. hatte als Postenführer den nördlich des Turms gelegenen Bereich, der Zeuge S. das südlich gelegene Landesinnere zu beobachten. Am 22. April 1978 gegen 01.40 Uhr näherte sich auf dem südlichen Gleis von Westen ein Güterzug von etwa 300 m Länge. Der Güterzug bestand aus gemischten Waggons, u.a. Kohlewaggons und Kesselwagen. Entsprechend den Dienstvorschriften ver-

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folgte der Angeklagte U. die Zugdurchfahrt stehend, die Maschinenpistole Kalaschnikow am Riemen über die Schulter gehängt. Der 1,72 m große Zeuge Jaeger, der sich entschlossen hatte, die DDR zu verlassen, hatte sich hinter der nördlichen Mauer versteckt gehalten. Er beabsichtigte, bei Annäherung eines Zuges die Mauer zu überklettern, in den Schußschatten des Zuges hineinzulaufen und im Schutz des Zuges nach Berlin (West) zu rennen. Als der Zeuge Jaeger den Zug ankommen hörte, kletterte er mittels einer Leiter ungefähr direkt gegenüber dem Wachturm 5 auf die nördliche Mauer. Dabei löste er einen Signaldraht aus, woraufhin im Turm 5 ein Lichtsignal auf-{10}leuchtete. Der Angeklagte U. und der Zeuge S. bemerkten das Lichtsignal sofort. S. rief: „Da läuft einer." Als der Angeklagte U. den Zeugen Jaeger erblickte, war dieser nach Überwindung der Mauer bereits einige Meter gelaufen. Die Lokomotive des Güterzuges hatte die (gedachte) Linie zwischen dem Turm und dem Flüchtenden schon passiert. Sofort öffnete der Angeklagte U. das Fenster und nahm die Maschinenpistole von der Schulter. Er entsicherte die Waffe, indem er den Hebel auf die erste Stellung „Dauerfeuer" verschob und lud sie durch. Dann legte der Angeklagte U., der Linkshänder ist, die Maschinenpistole zwischen linker Schulter und Kopf an. Der Zeuge Jaeger lief mit hoher Geschwindigkeit schräg auf den Zug zu, wobei er möglicherweise bereits sehr stark in ostwärtige Richtung trieb, also einem recht langen Weg in den Schußschatten des Zuges folgte. Der Angeklagte U. erkannte, daß der Zeuge alsbald den Schußschatten des Zuges erreichen und dann unaufhaltsam fliehen würde. Er wollte dies verhindern. Die Befehlslage hielt er für rechtmäßig und bindend. Ein Warnruf war zwecklos, da die Zuggeräusche sehr stark waren. Der Angeklagte U. gab einen kurzen Feuerstoß ab. Es {11} lösten sich zwei Schuß. Ein Projektil durchschoß die linke Hand des Zeugen Jaeger vom Daumenballen zum Handrücken. Es konnte nicht festgestellt werden, ob der Schuß direkt in die Hand traf oder zuvor abgelenkt worden war und in welcher Stellung die Hand - im Verhältnis zum Körper - getroffen wurde. Die beiden abgefeuerten Projektile schlugen dann etwa 60 m vom Turm entfernt in einer Höhe von etwa 50 bis 70 cm in dem schräg auf die Bahnlinie zu verlaufenden Mauerabschnitt ein. Der Abstand zwischen den beiden Einschlagstellen betrug etwa 10 bis 20 cm. Bei Schußabgabe war der Zeuge Jaeger höchstens 36 m ostwärts gelangt sowie mindestens 24 m und höchstens 42 m vom Turm entfernt. Unbeschadet der Handverletzung lief der Zeuge Jaeger weiter und erreichte Berlin (West). Die Handverletzung wurde in einem Krankenhaus und anschließend ambulant konservativ behandelt und ist im wesentlichen ausgeheilt. Nachdem der Güterzug die Grenze passiert hatte, wies der Angeklagt U. den Zeugen S. an, hinabzusteigen und nachzusehen, was da los und ob der Flüchtling noch anzutreffen sei. Der nach dem Vorfall gebildeten Untersuchungskommission der Grenztruppen erklärte der Angeklagte U., er habe „gezielt" geschossen. Irgendwelche Äußerungen, durch die er sich seiner Schüsse gerühmt hatte, sind nicht bekannt geworden.

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ΙΠ. [Strafbarkeit des Angeklagten U.] 1. Der Angeklagte U. hat sich dahin eingelassen, er habe der Befehlslage, die er für rechtmäßig und bindend gehalten habe, nicht {12} in aller Konsequenz entsprechen wollen. So habe er zwar verhindern wollen, daß der Flüchtling den Schutz des Zuges erreichte. Hierzu habe er jedoch nicht das ihm mögliche einzig sichere Mittel - gezielte Schüsse auf den Körper - gewählt. Vielmehr habe er mit seinen Schüssen den Flüchtenden keinesfalls treffen wollen. Deshalb habe er etwa einen Meter vor seine Füße in Laufrichtung gezielt, um ihn durch diese Warnschüsse zum Stehenbleiben zu veranlassen. Er habe sorgfältig über Kimme und Korn gezielt. Vor der Schußabgabe habe er die Maschinenpistole der Bewegung des Flüchtenden vorausgeführt und sich so der Einhaltung des Abstands von etwa 1 m versichert. Danach habe er bewußt nicht weiter geschossen, obwohl der Flüchtling noch etwa 2 bis 3 Sekunden zu sehen gewesen sei. Seinen Mitposten S. habe er nachsehen lassen, ob sich der Flüchtling noch im Grenzbereich befinde, weil er nicht ganz sicher gewesen sei, ihn nicht getroffen zu haben. Dabei habe er jedoch einen direkten Treffer ausgeschlossen und lediglich einen Querschläger für möglich gehalten, weil er beide Schüsse vor dem Flüchtling habe auf dem Schotter aufspritzen sehen. 2. Die Hauptverhandlung hat nicht mit der erforderlichen Gewißheit zu der Feststellung geführt, der Angeklagte U. habe den Tod des Zeugen Jaeger als sicher vorausgesehen oder zumindest als möglich erkannt und billigend in Kauf genommen. {13} a) Die Einlassung des Angeklagten, nicht unmittelbar auf den Körper des Flüchtenden gezielt zu haben, ist nicht zu widerlegen. Zwar hat der Angeklagte U. nach dem Vorfall gegenüber der Untersuchungskommission der Grenztruppen behauptet, er habe „gezielt" geschossen. Hieraus kann jedoch nicht sicher auf seine wirklichen Absichten geschlossen werden. Hätte der Angeklagte eingeräumt, der Befehlslage nicht vollends gefolgt zu sein, hätte er nach der den Grenzsoldaten in der Schulung vermittelten Rechtslage mit Bestrafung und Verbringung in das unter Grenzsoldaten berüchtigte Militärgefängnis Schwedt rechnen müssen. Objektive Belege für gezielte Schüsse auf den Körper fehlen. Die beiden Einschußlöcher in der Mauer wären als Indiz für gezielte Schüsse zu bewerten, wenn sich der Zeuge Jaeger bei Abgabe der Schüsse in der direkten Schußlinie zwischen dem Turm und den Einschußlöchern befunden hätte. Es kann davon ausgegangen werden, daß die Schüsse aus einer Höhe von mindestens 6 m abgegeben wurden. Denn zur Höhe des Turms bis zum Boden der Kanzel ist mindestens 1 m hinzuzurechnen, da {14} der Angeklagte U. die Maschinenpistole stehend über der Schulter liegen hatte. Die aus einer Höhe von mindestens 6 m abgegebenen Schüsse sind in der etwa 60 m entfernten Mauer äußerstenfalls 50 cm tief eingeschlagen. Nach den Angaben aller unmittelbar Beteiligten - des Angeklagten U. sowie der Zeugen Jaeger und S. - kann ausgeschlossen werden, daß der Zeuge Jaeger bei der Schußabgabe weiter als 42 m vom Turm entfernt war. Wenn sich die Geschosse auf 60 m um 5,50 m gesenkt haben, waren sie nach 42 m um 3,85 m gesunken. Selbst bei Annahme für den Angeklagten U. eher ungünstiger Voraussetzungen (niedrige Höhe der Schußabgabe, niedrige Einschlaghöhe, weite Entfernung des Flüchtenden vom Turm) flogen die Geschosse demnach in einer Höhe von 2,15 m über den 1,72 m großen Zeugen Jaeger hinweg.

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Da die Hand des Zeugen Jaeger durchschossen wurde, spricht die vorgenommene Berechnung dafür, daß die Projektile vor dem Einschlag in die Mauer auf dem Schotter aufgeschlagen und dadurch abgelenkt worden sind. Mangels sicherer Feststellungen über die Flugbahn sind die Einschußlöcher als Beleg für gezielte Schüsse auf den Körper hiernach jedenfalls unergiebig. Zwar hatte der Zeuge Jaeger den Eindruck, ein Projektil sei nahe seinem Kopf „vorbeigepfiffen", jedoch konnte er {15} weitere Angaben dazu nicht machen, so daß Höhe und Entfernung des - vorbeifliegenden offenbar zweiten - Projektils ebenso wie dessen Schußbahn überhaupt nach wie vor offen bleibt. Die Tatsache, daß er ein Aufspritzen der Schüsse am Boden nicht bemerkte, widerlegt die Einlassung des Angeklagten nicht, denn der Zeuge gab auch an, in seiner Aufregung und Panik darauf ebenso wenig geachtet zu haben wie auf die Position seiner Hand im Augenblick des Treffers. Er konnte auch weder seine eigene Position im Augenblick des Treffers überhaupt, noch angeben, wieviel Zeit bis dahin verstrichen war und wie lange er nach dem Treffer noch im Schußfeld des Turms weiterlief, bis er den Zug erreicht hatte. Die Einlassung des Angeklagten wird auch durch den Zeugen S. nicht widerlegt, der sich hinsichtlich des Geschehensablaufes ebenfalls unsicher war und lediglich schätzt, daß er den Flüchtling „etwa 5 Sekunden" gesehen habe und er „unmittelbar" nach den Schüssen verschwunden gewesen sei. Solche bloßen Schätzungen können auch deshalb nicht Grundlage von Feststellungen werden, weil der Zeuge weder in der Lage war, die Position des Flüchtlings im Augenblick der Schußabgabe noch die Zielrichtung der Schüsse auch nur annähernd wiederzugeben und der Zeuge K. - nach Befragung der Grenzposten - in seinem Tatortbericht für {16} das MfS vom 23. April 1978, den er in der Hauptverhandlung inhaltlich bestätigte, die Laufstrecke des Verletzten mit ca. 3035 m im Sichtbereich der Posten und einer objektiven Handlungszeit von immerhin ca. 8 Sekunden angegeben hat. Daß der Angeklagte U. nicht blindlings, sondern erst nach Zielen geschossen hat, hat der Zeuge S. bestätigt. b) Der weiteren Beweiswürdigung ist daher zugrundezulegen, daß der Angeklagte U. etwa 1 m vor die Füße des Zeu-{17}gen Jaeger gezielt hat. Es ist dem Angeklagten U. nicht nachzuweisen, daß er dabei den Tod des Flüchtlings billigend in Kauf genommen habe. Vielmehr kann nicht ausgeschlossen werden, daß er ernsthaft darauf vertraut hat, den Zeugen Jaeger nicht zu treffen. Zwar ist die hohe Gefährlichkeit eines Schusses ein wesentliches Indiz dafür, daß der Schütze den Tod des Betreffenden in Kauf nimmt. Eine hohe Gefährlichkeit ist hier bei einem geringen Abstand von nur 1 m durchaus gegeben. Der anzunehmende Gefährlichkeitsgrad erhöht sich allerdings nicht dadurch, daß dem Zeugen Jaeger die Hand durchschossen wurde. Denn es ist unklar, wo die Hand sich befunden hat. Zugunsten des Angeklagten U. ist davon auszugehen, daß der Zeuge Jaeger den Arm gerade gestreckt nach vorne hielt, so daß die Hand recht weit vom Oberkörper entfernt war. Die Gefährlichkeit der Schußabgabe allein reicht nach allem zur Bejahung des Eventualvorsatzes nicht aus. Dafür, daß der Angeklagte U. ernsthaft auf ein Ausbleiben eines Todes vertraute, spricht, daß er - wie als unwiderlegt zu seinen Gunsten anzunehmen ist - Gelegenheit hatte, die Schußabgabe sorgfältig vorzubereiten. Es ist nicht genau feststellbar gewesen, welche Wegstrecke der Zeuge Jaeger seit der Überwindung der Mauer bereits zurück-

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{18}gelegt hatte. Zugunsten des Angeklagten U. ist die längste in Betracht kommende Wegstrecke, nämlich bis zum Erreichen der gedachten Linie zwischen dem Turm und den Einschlaglöchern in der Mauer, anzunehmen, die etwa 35 m beträgt. In diesem Fall hatte der Angeklagte U. ausreichend Zeit, ruhig und sorgfältig sein Ziel - 1 m vor die Füße zu schießen - durch Vorausfuhren der Waffe entsprechend der Laufbewegung des Zeugen Jaeger anzuvisieren. Hinzu kommt, daß der Angeklagte U. ein recht guter Schütze war. Die Kammer geht davon aus, daß es einem sicheren Schützen durchaus möglich ist, mit einer Maschinenpistole Kalaschnikow über Kimme und Kom auf eine Entfernung von 42 m zielgenau zu treffen. Die Maschinenpistole Kalaschnikow ermöglicht - wie gerichtsbekannt ist bei dieser Entfernung eine präzise Schußabgabe. Die Schußgenauigkeit wurde dadurch, daß der Angeklagte U. mit Dauerfeuer schoß, jedenfalls nicht wesentlich beeinträchtigt. Zwar läßt sich die Maschinenpistole Kalaschnikow bei längerem Dauerfeuer nicht vollkommen ruhig halten, vielmehr beginnt sie zu „tanzen". Es handelte sich hier jedoch nur um einen ganz kurzen Feuerstoß. Der Angeklagte tippte den Abzug lediglich kurz an und {19} löste nur zwei Schuß aus. Angesichts der hohen Feuergeschwindigkeit der Maschinenpistole Kalaschnikow - von theoretisch 600 Schuß pro Minute und praktisch 100 Schuß pro Minute unter Berücksichtigung des notwendigen Magazinwechsels nach jeweils 30 Schuß - ist nicht davon auszugehen, daß die Maschinenpistole zwischen dem ersten und zweiten unmittelbar hintereinander abgefeuerten Projektil um eine wesentliche Strecke nach oben oder seitlich links wegriß. Dabei hat die Kammer berücksichtigt, daß der Angeklagte U. recht stämmig und kräftig erscheint. Für eine gute Beherrschung des kurzen Dauerfeuers spricht nicht ausschließbar auch der Umstand, daß die beiden Projektile in der Mauer mit höchstens 20 cm Abstand recht nahe beieinander lagen. Nach allem ist die Einlassung des Angeklagten, auf das Ausbleiben eines Treffers ernstlich vertraut zu haben, nicht zu widerlegen. Auch mit dem Verhalten des Angeklagten U. nach der Schußabgabe, den Zeugen S. nach dem Flüchtling suchen zu lassen, läßt sich eine billigende Inkaufnahme der Todesfolge nicht belegen. Zum einen setzt das ernsthafte Vertrauen auf das Ausbleiben des Erfolgs nicht vollkommene subjektive Sicherheit voraus. Der Täter muß nicht auch unwahrschein{20}liehe Geschehensabläufe völlig ausschließen. Da der Angeklagte U. sich unwiderlegbar dahin eingelassen hat, im Nachhinein lediglich Sorge um einen Querschläger, allgemeiner ausgedrückt um einen Abpraller, gehabt zu haben, rechnete er nur mit einem solchen unglücklichen und unwahrscheinlichen Geschehensablauf. Zum anderen ist folgendes zu bedenken: Selbst wenn der Angeklagte U. einen Treffer billigend in Kauf genommen hätte, wäre damit noch nicht festgestellt, daß er auch dessen tödliche Folge gebilligt hätte. Dem anvisierten Ziel waren Füße und Beine des Fluchtenden am nächsten, bei deren Verletzung mit tödlichen Folgen nicht zu rechnen ist. Mangels Vorsatzes scheidet eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags aus. 3. Auch eine Strafbarkeit wegen anderer Delikte - nämlich wegen vorsätzlicher Körperverletzung (§ 115 StGB-DDR als mildere Vorschrift gegenüber §§ 223, 223a StGB),

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fahrlässiger Körperverletzung (§118 StGB-DDR i.V.m. § 230 StGB) oder versuchter Nötigung (§ 129 StGB-DDR i.V.m. §§ 240, 22, 23 StGB) - scheidet aus. {21} Bezüglich dieser Delikte war der Angeklagte U. wegen Handels auf Befehl zumindest entsprechend § 5 Abs. 1 Wehrstrafgesetzfbuch] (WStG) entschuldigt. a) Soweit nachweisbar, ist der Angeklagte U. bei seinen Schüssen der Befehlslage gefolgt. Die Übereinstimmung mit der Befehlslage steht nur insoweit in Zweifel, als daß der Angeklagte U. über einen fahrenden Güterzug hinweggeschossen hat, als zwar die Lokomotive die Schußlinie schon eindeutig passiert hatte, möglicherweise aber Kesselwagen hätten getroffen werden können. In der Beweisaufnahme war nicht zu klären, ob bereits 1978 die Dienstanweisung galt, bei der Gefahr, Kesselwagen zu treffen, nicht zu schießen. Schriftliche Befehle haben die Ermittlungen nicht zutage geführt. Die Aussagen der Zeugen haben kein eindeutiges Ergebnis gebracht. Zwar haben der Zeuge K , der den Vorfall seitens der Militärabwehr der ehemaligen DDR untersucht hat, und der damalige Kompaniechef Frömmrich ausgesagt, es sei verboten gewesen, bei Gefahrguttransporten zu schießen. Der Zeuge Ka. hingegen, der als diensthabender Offizier im Bahnhofsgebäude Staaken seinen Dienst versah, hat bekundet, es sei erst Anfang der 80er Jahre verboten worden, bei Durchfahrt von Kesselwagen zu schießen. {22} Da sich die Befehlslage insoweit nicht eindeutig klären ließ, ist der Angeklagte U. nach dem Zweifelssatz so zu behandeln, als sei sein Handeln durch die Befehlslage gedeckt. b) Es kann dahinstehen, ob die Befehlslage geeignet war, eine Körperverletzung oder versuchte Nötigung zum Nachteil eines Flüchtlings wirksam zu rechtfertigen. Jedenfalls handelte der Angeklagte U. entsprechend § 5 Abs. 1 WStG ohne Schuld, weil er einem militärischen Befehl gehorchte und die befohlene Körperverletzung oder versuchte Nötigung nach den dem Angeklagten bekannten Umständen nicht offensichtlich gegen das Strafrecht verstieß (vgl. BGH NStZ 1993, 488 ff. zur vorsätzlichen Körperverletzung und BGH NStZ 1995, 286 ff. 2 zur Körperverletzung mit Todesfolge).

IV. [Strafbarkeit des Angeklagten W.J 1. Der Angeklagte W. hat eingeräumt, ihm sei klar gewesen, durch die Vergatterung den Grenzposten als letztes Mittel die Tötung eines Grenzverletzers befohlen zu haben. Die Befehlslage habe er als rechtmäßig erachtet. Zu weiteren gedanklichen Vorstellungen bei der Vergatterung hat er sich nicht eingelassen. {23} 2. Einer Verurteilung des Angeklagten W. wegen Anstiftung oder Beihilfe zum versuchten Totschlag steht bereits das Fehlen einer Haupttat entgegen. Außerdem wäre nach dem Zweifelssatz zugunsten des Angeklagten W. zugrundezulegen, daß es dem Mitangeklagten U. verboten war, bei Durchfahrt von Kesselwagen zu schießen, so daß es sich bei der Tat des Mitangeklagten U. um einen dem Angeklagten W. nicht zurechenbaren Exzeß des Haupttäters handeln würde. 3. Hinsichtlich einer Anstiftung oder Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung bzw. versuchten Nötigung greift auch zugunsten des Angeklagten W. der persönliche Schuldausschließungsgrund entsprechend § 5 Abs. 1 WStG ein.

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4. Auch eine Strafbarkeit des Angeklagten W. wegen versuchter Anstiftung zum Totschlag (§§ 212, 30 Abs. 1 StGB i.V.m. §§ 112, 113, 227 Abs. 1 StGB-DDR) durch die zu Dienstbeginn vorgenommene Vergatterung scheidet aus. Dem Angeklagten ist kein Anstiftervorsatz, sondern lediglich ein Gehilfenvorsatz nachzuweisen. Die Grenzsoldaten waren im Rahmen ihrer Grundausbildung und eingehenden Indoktrination während der regelmäßigen Schulungen immer wieder darauf eingeschworen worden, auf {24} Flüchtlinge erforderlichenfalls gezielt zu schießen. Zumindest in den Jahren 1976 bis 1978 wurden keine Ausnahmen vom Schießbefehl - z.B. aus Anlaß von Staatsbesuchen in der DDR - angeordnet. Die Grenzsoldaten traten deshalb den Dienst nicht mit der Haltung an, erst einmal abzuwarten, ob ihnen im Rahmen der Vergatterung wieder der Schießbefehl uneingeschränkt erteilt würde. Vielmehr erschienen sie in der sicheren Erwartung zum Dienst, routinemäßig vergattert zu werden. Dem entsprachen auch Sinn und Zweck einer routinemäßigen Vergatterung. Mit ihr wurde den Grenzsoldaten nicht erstmalig die Befehlslage vermittelt. Sie diente lediglich dazu, ihnen bereits Bekanntes unmittelbar vor Dienstbeginn noch einmal in kurzer Form einzuschärfen. Entsprechend dieser Sachlage kann der Angeklagte W. bei der Vergatterung durchaus davon ausgegangen sein, daß pflichtgetreue Grenzsoldaten bereits zu Dienstantritt vor der Vergatterung entschlossen waren, erforderlichenfalls mit Tötungsvorsatz gezielt auf Grenzverletzer zu schießen. Für eine Annahme des Angeklagten W., ein zur Vergatterung angetretener Grenzsoldat sei nur unter der zuvor bewußt getroffenen Bedingung zur Tötung entschlossen gewesen, daß er wieder entsprechend vergattert werde, fehlt angesichts des Routinecharakters der Vergatterung jeglicher Anhalt. {25} Aus Rechtsgründen ist es unerheblich, ob der Angeklagte W. sich - was nicht festgestellt worden ist - vorgestellt hat, mit Tötungsvorsatz erschienene Grenzsoldaten würden ihren Vorsatz beim Unterlassen der Vergatterung wieder aufgeben. Anstiftung und Beihilfe unterscheiden sich nicht durch die Ursächlichkeit der Teilnahmehandlung für die Haupttat, sondern es kommt maßgeblich darauf an, ob der Haupttäter bereits zur Tat entschlossen war oder nicht. Sofern der Angeklagte W. mit Grenzsoldaten rechnete, die sich - wie der Mitangeklagte U. - insgeheim vorbehalten hatten, entgegen der Befehlslage nicht gezielt auf Flüchtlinge zu schießen, war dem Angeklagten W. klar gewesen, daß er diese Soldaten durch die Vergatterung nicht zu einer Änderung ihrer Haltung und damit zu gezieltem Schießen veranlassen würde. Unter allen erörterten Aspekten ist dem Angeklagten W. somit ein Anstiftervorsatz nicht nachweisbar.

Anmerkungen 1 2

Vgl. auch Allhang S. 988f. bzw. S. 990f. Vgl. lfd. Nr. 9-2.

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Inhaltsverzeichnis Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 20.3.1996, Αζ. 5 StR 623/95 Gründe

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I.

[Das Urteil der Strafkammer]

441

II.

[Zu den Sachrügen]

441

Anmerkungen

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443

Erteilung genereller Befehle, insbesondere Vergatterung

Bundesgerichtshof Az.: 5 StR 623/95

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20. März 1996

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen 1.

U.

2.

W.

wegen versuchten Totschlags u.a. {2} Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 20. März 1996, an der teilgenommen haben: Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. {3} für Recht erkannt: 1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 7. Juni 1995 werden verworfen. 2. Die Staatskasse trägt die Kosten der Revisionen sowie die durch die Rechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen der Angeklagten. - Von Rechts wegen -

Gründe Das Schwurgericht hat den Angeklagten U. vom Vorwurf des versuchten Totschlags und den Angeklagten W. vom Vorwurf der Anstiftung zum versuchten Totschlag freigesprochen. Hiergegen richten sich die vom Generalbundesanwalt vertretenen Revisionen der Staatsanwaltschaft mit sachlichrechtlichen Beanstandungen. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg. I.

[Das Urteil der Strafkammer]

® Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen. ®

II. [Zu den Sachrügen] Das freisprechende Urteil hält sachlichrechtlicher Prüfung stand. 1. Das Schwurgericht hat den Angeklagten U. ohne Rechtsfehler freigesprochen. {4} a) Zu einer Verurteilung wegen versuchten Totschlags ist das Landgericht deshalb nicht gelangt, weil es einen Tötungsvorsatz dieses Angeklagten nicht hat feststellen können, nämlich dessen Einlassung nicht zu widerlegen vermocht hat, er habe mit sei-

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Dokumente - Teil 2

nen Schüssen den Flüchtling keinesfalls treffen wollen und deshalb etwa einen Meter vor dessen Füße in Laufrichtung gezielt, um ihn durch diese Warnschüsse zum Stehenbleiben zu veranlassen. Die dem zugrundeliegende umfassende Beweiswürdigung ist nicht zu beanstanden. aa) Das Landgericht hat die Möglichkeit, daß die Projektile über Kopfhöhe des Zeugen Jaeger geflogen und dann direkt in die Mauer eingeschlagen sind, gesehen und ausfuhrlich erörtert (UA S. 13 f.). Dabei hat es im Ergebnis nicht ausschließen können, daß die Projektile vor dem Einschlag in die Mauer auf dem Schotter aufgeschlagen sind. Es hat sowohl die Handverletzung des Zeugen Jaeger als auch dessen „Eindruck" berücksichtigt, ein Projektil sei nahe an seinem Kopf „vorbeigepfiffen". Anhand der Einschußlöcher hat es in Betracht kommende Schußlinien berechnet. Es hat jedoch letztlich angesichts möglicher Querschläger die Feststellungen über die Flugbahn als unsicher erachtet. Allerdings sind angesichts des geringen Abstands der Einschußlöcher zueinander unmittelbare Treffer in das Mauerwerk wahrscheinlicher als auf dem Schotter abgeprallte Schüsse. Physikalische Gesetzmäßigkeiten hat der Tatrichter indes nicht verkannt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Einschußlöcher auch nach einem Abprall der Projektile auf dem Schotter nahe beieinander lie-{5}gen. Die vom Generalbundesanwalt gehegte Besorgnis, das Landgericht könne bei seinen weiteren Erwägungen eine mögliche Variante des objektiven Geschehens übersehen haben, teilt der Senat danach nicht. bb) Auch den Erfahrungssatz, daß jede Form des Schießens in Richtung auf einen Menschen mit einer scharfen Waffe wegen der außergewöhnlich großen Lebensgefährlichkeit den Schluß auf einen Tötungsvorsatz nahelegt (vgl. BGH DtZ 1993, 255 - insoweit in NStZ 1993, 488 nicht abgedruckt; BGH, Urteil vom 4. März 1996 - 5 StR 494/95 - zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen1), hat der Tatrichter nicht übersehen. Er hat bei seinen Erwägungen hierzu die hohe Gefährlichkeit der Schüsse, den Handdurchschuß, die Schützenqualitäten des Angeklagten, die sorgfältige Vorbereitung der Schußabgabe, die Schußdistanz, die Einstellung der Maschinenpistole auf Dauerfeuer und die Abgabe von lediglich zwei Schüssen durch kurzes „Tippen" des Abzuges in Rechnung gestellt (UA S. 17 bis 19). cc) Der von der Beschwerdeführerin besorgte Widerspruch besteht nicht: Daß der Angeklagte U. die Befehlslage für rechtmäßig und bindend hielt, schließt nicht aus, daß er dieser Befehlslage nicht in letzter Konsequenz nachkommen wollte. b) Eine Strafbarkeit des Angeklagten U. wegen anderer Delikte, namentlich wegen vorsätzlicher Körperverletzung (§§ 223, 223a StGB/§ 115 StGB-DDR), fahrlässiger Körperverletzung (§ 230 StGB/§ 118 StGB-DDR) oder versuchter Nö-{6}tigung (§§ 240, 22 StGB/§§ 129, 21 StGB-DDR) hat das Landgericht im Hinblick auf § 5 Abs. 1 WStG verneint. Es hat ausgeführt, daß eine solche Tat „nach den dem Angeklagten bekannten Umständen nicht offensichtlich gegen das Strafrecht verstieß" (UA S. 20 bis 22). Auch dies ist rechtsfehlerfrei (vgl. BGHSt 39, 168, 1942; BGH NStZ 1993,488 und 1995, 2863; BGH, Urteil vom 4. März 1 9 9 6 - 5 StR 494/95 - a.E.). 2. Auch den Angeklagten W. hat das Schwurgericht ohne sachlichrechtlichen Fehler freigesprochen. a) Allerdings hat das Landgericht versuchten Totschlag, begangen in mittelbarer Täterschaft, nicht geprüft. Dies begründet hier jedoch keinen Rechtsfehler, weil der Ange442

Erteilung genereller Befehle, irisbesondere Vergatterung

Lfd. Nr. 12-2

klagte weder an der Gestaltung von Organisationsstrukturen beteiligt war noch solche ausgenutzt hat (vgl. dazu BGHSt 40, 2184) noch in einer konkreten Situation unmittelbar einen Befehl zum Schießen erteilt hat (vgl. dazu BGH, Urteil vom 4. März 1996 - 5 StR 494/95 - ) . b) Eine Strafbarkeit des Angeklagten W. wegen Anstiftung oder Beihilfe zum versuchten Totschlag scheidet mangels einer Haupttat aus.5 {7} c) Eine versuchte Anstiftung zum Totschlag nach § 30 Abs. 1, § 212 StGB/§ 227 Abs. 1, § 225 Abs. 1 Nr. 3, §§ 112, 113 StGB-DDR hat das Landgericht deshalb nicht angenommen, weil es einen entsprechenden Anstiftervorsatz des Angeklagten W. nicht hat feststellen können. Dies liegt hier noch im Rahmen zulässiger Beweiswürdigung. d) Angesichts dessen, daß ein Vorsatz des Angeklagten W., mit der Vergatterung in den Soldaten einen Entschluß zum tödlichen Schießen zu wecken, nicht hat festgestellt werden können, scheidet hier auch eine Strafbarkeit nach anderen Vorschriften aus, die im angefochtenen Urteil nicht genannt sind: Dies gilt für das - der versuchten Anstiftung zu einem Verbrechen nach § 30 Abs. 1 StGB sehr ähnliche - Delikt des erfolglosen Verleitens zu einer rechtswidrigen Tat nach § 34 Abs. 1 WStG i.V. mit § 212 StGB/ § 258 Abs. 2 StGB-DDR 6 i.V. mit §§ 112, 113 StGB-DDR.

Anmerkungen 1 2 3 4 5

Mittlerweile veröffentlicht in BGHSt 42, 65. Vgl. lfd. Nr. 1-2. Vgl. lfd. Nr. 9-2. Vgl. lfd. Nr. 15-2. Sofern in anderen Verfahren jedoch eine rechtswidrige Haupttat vorlag und dem Vorgesetzten nachgewiesen werden konnte, dass er Vergatterungen vorgenommen hatte, wurde er wegen Beihilfe zu den von den Grenzsoldaten begangenen Delikten bestraft. Vgl. BGH, Urteil vom 30.8.2001 - Az. 5 StR 259/01; Landgericht Berlin, Urteil vom 10.6.1994 - Az. (507) 2 Js 596/92 KLs (98/93) = NJ 1994, 588f.; Landgericht Berlin, Urteil vom 16.11.1993 - Az. (529) 2 Js 161/90 Ks (19/93) - , UA S. 36f.

6

Vgl. Anhang S. 969.

443

Lfd. Nr. 13 Erteilung von Befehlen im konkreten Fall - Fall Kühn 1. Nichteröffnungsbeschluss des Landgerichts Berlin vom 10.7.1992, Az. (507) 2 Js 67/90 (68/91)

447

2. Beschluss (Aufhebung und Zurückverweisung) des Kammergerichts Berlin vom 17.12.1992, Az. 4 Ws 160/92; (507) 2 Js 67/90 (68/91)

453

3. Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 24.2.1995, Az. (507) 2 Js 67/90 KLs (68/91)

463

4.

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Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 24.4.1996, Az. 5 StR 322/95

Lfd. Nr. 13-1

Dokumente - Teil 2

Inhaltsverzeichnis Nichteröffnungsbeschluss des Landgerichts Berlin vom 10.7.1992, Az. (507) 2 Js 67/90 (68/91) Gründe

447

1.

[Anwendbares Recht]

448

2.

[Verjährungsvorschriften]

448

3.

[Verjährung] a) [Kein Ruhen der Verjährung nach dem Recht der Bundesrepublik] b) [Kein Ruhen der Verjährung nach dem Recht der DDR]

449 449 449

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Erteilung von Befehlen im konkreten Fall - Fall Kühn

Landgericht Berlin Αζ.: (507) 2 Js 67/90 (68/91)

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10. Juli 1992

BESCHLUSS In der Strafsache gegen 1. Bernd J., geboren 1945 2. Herbert C., geboren 1938 3. Peter Böhme, geboren 1940 wegen Totschlags wird die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Die Kosten des Verfahrens und die den Angeschuldigten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse. {2} Gründe Dem Angeschuldigten J. wird durch die Anklage der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht vom 21. November 1991 zur Last gelegt, sich als Heranwachsender am 26. November 1965 des Totschlags schuldig gemacht zu haben. Er war seinerzeit Soldat in der „Nationalen Volksarmee" der früheren DDR und als Grenzposten an der innerstädtischen Demarkationslinie in Berlin-Treptow eingesetzt. An dem genannten Tage soll er mit mehreren Schüssen aus einer Maschinenpistole dem 62 Jahre alten Erich Kühn, der offenbar nach Berlin (West) flüchten wollte, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR so schwere Bauchverletzungen zugefügt haben, daß dieser am 3. Dezember 1965 im „VP Krankenhaus" Berlin verstarb. Den Angeschuldigten C. und Böhme wird zur Last gelegt, den Angeschuldigten J. zu der Tat angestiftet zu haben. Der Angeschuldigte C. war als Postenführer des Angeschuldigten J. unmittelbar am Tatort eingesetzt, während der Angeschuldigte Böhme als vorgesetzter Zugführer im Hinterlandstützpunkt agierte. Nach Feststellung der drohenden „Grenzverletzung" soll der Angeschuldigte C. von dem Angeschuldigten Böhme fernmündlich Verhaltensweisung erbeten haben. Der Angeschuldigte Böhme soll daraufhin befohlen {3} haben, entsprechend dem „Befehl zur Grenzsicherung", der als letzte Konsequenz den Einsatz der Schußwaffe vorsah, zu handeln. Diesen Befehl soll der Angeschuldigte C. sodann an den Angeschuldigten J. weitergegeben haben, worauf dieser die Tat begangen haben soll. Die Eröffnung des Hauptverfahrens war gemäß § 204 StPO abzulehnen, weil hinsichtlich der angeklagten Taten, selbst wenn sie im Sinne der Anklage zu werten sind, Verfolgungsverjährung eingetreten ist. 447

Lfd. Nr. 13-1

Dokumente - Teil 2

1. [Anwendbares Recht] Es kann letztlich dahingestellt bleiben, ob die Straf- und Veijährungsvorschriften des StGB oder die des StGB/DDR zur Beurteilung herangezogen werden. In dem einen Fall wären die angeklagten Taten nach §212 StGB (eventuell in Verbindung mit §213 StGB) sowie § 26 StGB strafbar. In dem anderen Fall träte Strafbarkeit nach den Vorschriften der §§113 Abs. 1 Nr. 3, 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB/DDR ein, die zwar erst nach Tatbegehung in Kraft getreten sind, nach § 81 Abs. 3 StGB/DDR gleichwohl Anwendung finden. Eine Anwendung der Vorschrift des § 112 StGB/DDR (Mord) ist jeden{4} falls ausgeschlossen, da sie gegenüber dem vor Inkrafttreten des StGB/DDR geltenden § 212 StGB a.F. nicht als milderes Gesetz anzusehen ist, und deshalb nach § 81 StGB/DDR (entsprechend auch § 2 Abs. 3 StGB) ausscheidet. 2.

[Verjährungsvorschriften]

Bei Anwendung des StGB bemißt sich die Veijährung nach § 78 (§ 67 a.F.) StGB. Die Verjährungsfrist beträgt gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB 20 Jahre und wäre, bezogen auf den vorliegenden Fall, im Jahre 1985 abgelaufen, da Unterbrechungshandlungen nicht festzustellen waren. Bei Anwendung des StGB/DDR bemißt sich die Verjährung nach § 82 StGB/DDR. Ein Ausschluß der Verjährung nach § 84 StGB/DDR, der sich schon ausweislich seiner Überschrift allein auf die - hier nicht einschlägigen - §§ 85 bis 95 StGB/DDR bezieht, scheidet aus. Die Verjährungsfrist beträgt gemäß § 82 Abs. 1 Nr. 4 StGB/DDR 15 Jahre und wäre vorliegend im Jahre 1980 abgelaufen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das StGB/DDR eine dem § 78 Abs. 4 StGB entsprechende Vorschrift nicht enthält, so daß jeweils die den Strafrahmen begründende Norm direkt zugrundezulegen ist. {5} Die 30jährige Verjährungsfrist nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 StGB und die 25jährige Verjährungsfrist nach § 82 Abs. 1 Nr. 5 StGB/DDR kommen nicht in Betracht. Die Anklage geht zutreffend davon aus, daß die Voraussetzungen eines Mordes nicht vorliegen. Dies gilt nicht nur bei Zugrundelegung von § 211 StGB, sondern muß auch für § 112 StGB/DDR gelten. Im übrigen meint die Kammer, daß in Fällen der vorliegenden Art, wo auf der unteren Kommandoebene eines militärischen Verbandes auf Befehl oder vermeintlichen Befehl gehandelt wird, regelmäßig „besondere Tatumstände" im Sinne von § 113 Abs. 1 Nr. 3 StGB/DDR vorliegen, selbst wenn der Befehl rechtswidrig sein sollte. Der ursprüngliche Verdacht, die Tat sei begangen worden, als Erich Kühn die Fluchtabsicht schon aufgegeben hatte und dabei war, sich in Richtung Hinterland abzusetzen, als er getroffen wurde, hat sich bei den Ermittlungen nicht bestätigt. Aus alledem folgt, daß die Tat nach dem Recht der ehemaligen DDR nur gemäß § 113 Abs. 1 Nr. 3 StGB/DDR i.V.m. § 81 Abs. 3 StGB/DDR mit der gegenüber § 212 StGB a.F. reduzierten Strafdrohung als milderes Gesetz verfolgbar wäre und daß demzufolge die entsprechende Verjährungsvorschrift des § 82 Abs. 1 Nr. 4 StGB/DDR in Betracht kommt, was durch § 5 EinfG StGB/DDR ausdrücklich klargestellt wird. {6} Aus allgemeinen rechtsstaatlichen Gründen muß es bei der einmal eingetretenen Verjährung bleiben, auch wenn diese auf dem StGB/DDR beruht, was sich auch daraus ergibt, daß sich der Gesetzgeber in Art. 315a EGStGB einer Regelung dieses Falles, die seiner Disposition nicht unterlag, bewußt enthalten hat. 448

Erteilung von Befehlen im konkreten Fall - Fall Kühn

3.

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[Verjährung]

Der Ablauf der Verjährungsfrist ist auch nicht durch ihr zeitweises Ruhen verhindert worden. Sowohl nach § 78b Abs. 1 (§ 69 a.F.) StGB als auch nach § 83 Nr. 2 StGB/DDR hätte das Ruhen zur Voraussetzung, daß durch ein entgegenstehendes Gesetz die Strafverfolgung nicht durchgeführt werden konnte, daß also durch einen legislativen Akt die Strafverfolgung verhindert wird. Derartige gesetzliche Gründe lagen jedenfalls bis zum Ablauf der Verjährungsfrist nicht vor. a) [Kein Ruhen der Verjährung nach dem Recht der Bundesrepublik] Soweit die Tat nach den Vorschriften des StGB und der StPO von den Justizorganen in dem bis zum 3. Oktober 1990 beschränkten Geltungsbereich des Grundgesetzes verfolgbar war, stand der Strafverfolgung kein gesetzliches Hindernis entgegen. Sie wurde vielmehr allein durch tatsächliche Umstände verhindert, insbesondere durch die Unkenntnis von {7} der Tat überhaupt und dadurch, daß Verdächtige und wesentliche Beweismittel nicht auf dem genannten Gebiet zur Verfügung standen. Diese auf den politischen Gegebenheiten beruhenden Umstände können hier ein Ruhen der Verjährung genauso wenig bewirkt haben wie in anderen Fällen, in denen Verdächtige und Beweismittel wegen mangelnder tatsächlicher Zugriffsmöglichkeiten nicht verfügbar waren.

b) [Kein Ruhen der Verjährung nach dem Recht der DDR] Auf dem Gebiet und für die Strafverfolgungs- und Rechtsprechungsorgane der ehemaligen DDR waren diese Zugriffsmöglichkeiten gegeben. Im vorliegenden Fall sind in Ansätzen von der Staatsanwaltschaft auch Ermittlungen geführt worden, z.B. durch die gerichtsärztliche Obduktion zur Feststellung der Todesursache. Aus aktenmäßig nicht erkennbaren Gründen sind diese Ermittlungen nicht weitergeführt worden und versandet. Immerhin kann man aus diesen Ermittlungsansätzen schließen, daß anfangs von den Verfolgungsbehörden der früheren DDR vom Verdacht einer verfolgbaren Straftat ausgegangen worden ist. Dementsprechend werden derartige Taten aus heutiger Sicht auch bei Zugrundelegung des Strafrechts der DDR allgemein für strafbar gehalten. Andererseits sind die Taten in der Rechts-{8}Wirklichkeit der ehemaligen DDR letztlich nicht verfolgt worden. Zu fragen ist, ob hierin ein „gesetzlicher Grund" im Sinne von § 83 Nr. 2 StGB/DDR gesehen werden kann, der die für das Ruhen der Verjährung charakteristische Rechtslage schafft, wonach die Voraussetzungen für eine Strafverfolgung vorliegen und eine entsprechende Tätigkeit der Verfolgungsorgane einsetzen müßte, dies jedoch durch ein entgegenstehendes Gesetz, nicht aber durch lediglich tatsächliche Umstände, verhindert wird. Eine förmliche Gesetzesvorschrift, die die Strafverfolgung ausschloß, gab es in der ehemaligen DDR nicht. Auch die den Schußwaffeneinsatz regelnden (früheren) Schußwaffengebrauchsbestimmungen und die §§ 26 f. Grenzgesetz/DDR vom 25. März 1982 könnten lediglich die Anwendung unmittelbaren Zwanges im Einzelfall als gerechtfertigt erscheinen lassen. Nach allem, was heute über die rechtlichen Gegebenheiten in der früheren DDR bekannt ist, kam die Strafverfolgung einfach deshalb nicht in Betracht, weil solche Taten nicht als strafwürdiges Unrecht galten, sie vielmehr im Gegenteil ge449

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Dokumente - Teil 2

botene Handlungen darstellten, die von staatlicher Seite sogar belobigt wurden. So erging an die Grenzsoldaten die Aufforderung, gegenüber sogenannten Grenz-{9}verletzern von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch zu machen (Erich Honecker in der Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates vom 3. Mai 1974") und „Grenzverletzer" zu vernichten (Vergatterungsformel bis 1987 „Handbuch für Grenzsoldaten"). Die geltenden Vorschriften des DDR-Strafrechts, nach denen die Taten eigentlich strafbar waren, traten dabei in der Rechtspraxis mehr und mehr und schließlich völlig in den Hintergrund. Aufs Ganze gesehen haben sich die Strafverfolgungsorgane dieser politischideologisch begründeten Sichtweise nur allzu willig unterworfen. Teilweise mündete sie in den Rechtsirrtum ein, daß es sich entgegen der Vorschrift des § 113 StGB/DDR überhaupt nicht um eine Straftat handelte oder daß sie generell gerechtfertigt war. Eine Erwägung dahingehend, daß die Voraussetzungen für eine Strafverfolgung an sich gegeben seien und nur durch den entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers verhindert würden, mußte demzufolge entfallen, so daß die fur das Ruhen der Verjährung charakteristische Rechtssituation nicht gegeben war. In diesem Sinne ist ein auf Seiten der Verfolgungsorgane obwaltender Rechtsirrtum auch dann kein „gesetzliches" Verfolgungshindernis gewesen, wenn er gleichsam kollektiv aufgetreten ist. Haben die StrafVerfolgungsbehörden jedoch aus politisch-ideo-{10}logischen Gründen von der Verfolgung abgesehen, obwohl sie sich der Strafbarkeit der Taten bewußt gewesen sind, so läge eine ebenso kollektive Rechtsbeugung (§ 244 StGB/DDR) vor, die keinesfalls als „gesetzlicher Grund" anzusehen wäre, weil sie ihrerseits etwas ganz und gar Ungesetzliches war. Wie dem auch sei: Die Nichtverfolgung beruhte in jedem Fall auf der mit der Rechtslage nicht übereinstimmenden Rechtswirklichkeit in der ehemaligen DDR. Ihre Gründe sind deshalb dem Bereich des Tatsächlichen, nicht dem des Gesetzlichen zuzuordnen. Bei alledem ist jedoch weiterhin zu bedenken, daß der kollektive Rechtsirrtum oder die kollektive Rechtsbeugung mit ihren identischen Folgen wahrscheinlich staatlich gewollt waren, so daß dieser staatliche Wille unter den besonderen Bedingungen des Rechtssystems der DDR als „gesetzlicher Grund" im Sinne von § 83 Nr. 2 StGB/DDR erwogen werden muß. Wenn in diesem Sinne jedoch der „staatliche Wille" dem Gesetz gleichzuachten wäre, könnte sich daraus ergeben, daß der Tat durch quasi gesetzesgleichen Akt die Strafbarkeit überhaupt genommen sein könnte, so daß sich die Frage der Strafver-{ll}folgung und ihrer Verjährung nicht stellen würde. Wenn andererseits der genannte staatliche Wille wegen seiner offenkundigen Rechtsstaatswidrigkeit unbeachtlich sein sollte, konnte er wiederum nicht als „gesetzlicher Grund" herangezogen werden. Es läge im Gegenteil ein ungesetzlicher Grund für die Nichtverfolgung vor, der ein Ruhen der Verjährung nicht bewirken kann. Es bleibt also auch unter diesem Gesichtspunkt dabei, daß die Nichtverfolgung der in Rede stehenden Taten auf der gesetzeswidrigen Rechtspraxis der ehemaligen DDR beruht, also auf tatsächlichen, nicht aber gesetzlichen Gründen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Veijährungsfrage für Delikte während der NS-Zeit kann nicht entsprechend herangezogen werden. Danach wurde für die Dauer der NS-Herrschaft ein Ruhen der Veqährung angenommen, weil der gesetzesgleich zu erachtende „Führerwille" der Strafverfolgung entgegenstand. Das mag folgerichtig ge-

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wesen sein, denn der „Wille des Führers" hatte in der NS-Zeit nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtsdogmatisch Gesetzeskraft, selbst wenn er sich nicht in einem förmlichen Gesetz ausdrückte (vgl. Huber, „Verfassung", Hamburg {12} 1937, § 9 m.w.N.). Ein dem „Führerwillen" vergleichbares gesetzgebendes Organ gab es jedoch in der DDR nicht. Mag das „Zentralkomitee der SED" auch erheblichen oder entscheidenden Einfluß auf die Gesetzgebung gehabt haben, es war kein Gesetzgebungsorgan. Gleiches gilt, soweit die SED ihre Parteitagsbeschlüsse als „verbindliche Grundlage fur die Tätigkeit aller Gerichte sowie Richtschnur ihres Handelns und Maßstab für die Qualität ihrer Arbeit" verstanden wissen wollte. Derartige Verlautbarungen von Parteiseite können deshalb ein Ruhen der Veqährung nicht bewirkt haben. Entscheidend aber ist folgendes: Im Gegensatz zur Zeit des NS-Regimes und seines Endes durch bedingungslose Kapitulation handelt es sich bei der Wiedervereinigung von 1990 um die Zusammenfuhrung zweier verschiedener Rechtsgebiete durch zwischenstaatlichen Vertrag, durch den die Überleitung im einzelnen geregelt ist. Obgleich die frühere DDR nicht als Rechtsstaat anzusehen war, ist durch den Einigungsvertrag die Fortgeltung des DDR-Rechts teilweise und zeitweise vereinbart worden. Das gilt im Bereich des Strafrechts insbesondere für Taten, die vor der Wiedervereinigung begangen worden sind und wo vielfach das StGB/DDR als das mil-{13}dere Gesetz anzuwenden ist (Art. 315 Abs. 1 EGStGB i.V.m. § 2 StGB). Folgerichtig sind dann auch die entsprechenden Veqährungsvorschriften des StGB/DDR zugrundezulegen. Die Auslegung dieser Vorschriften hat sich zwar an rechtsstaatlichen Grundsätzen zu orientieren, kann aber die tatsächlichen und rechtstechnischen Verhältnisse in der ehemaligen DDR nicht unberücksichtigt lassen. Dieser Rechtshintergrund ist also auch maßgeblich fur die Beantwortung der Frage, ob die Strafverfolgung aus einem „gesetzlichen Grund" nicht durchgeführt werden konnte. Daß ein solcher auch im weitesten Sinne nach dem Rechtssystem der DDR nicht vorlag, ist dargelegt. Daran konnte auch ein Veijährungsgesetz, wie es gegenwärtig beraten wird, nichts ändern, weil ihm lediglich eine klarstellende Wirkung zukommen kann, nicht aber konstitutive Wirkung in dem Sinne, daß eine bereits eingetretene Verjährung nachträglich wegfällt. Man mag dies aus verschiedenen Gründen bedauern. Gleichwohl handelt es sich um einen Ausfluß der vertraglich vereinbarten teilweisen Fortgeltung von DDR-Recht. Im übrigen wird in vielen Fällen {14} der Veqährung Anlaß für ein Bedauern sein. Dennoch ist die Veqährung eine auch rechtsstaatliche anerkannte Schranke, hinter der die Strafverfolgung aus Gründen des Rechtsfriedens endet.

Anmerkungen 1

Zur genannten Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates und den Honecker-Äußerungen vgl. lfd. Nr. 15-1, S. 53Iff., 536. Ein Auszug aus dem Protokoll der Sitzung ist außerdem abgedruckt bei Werner Filmer/Heribert Schwan: Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, München 1991, S. 389ff.

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Inhaltsverzeichnis Beschluss (Aufhebung und Zurückverweisung) des Kammergerichts Berlin vom 17.12.1992, Az. 4 Ws 160/92; (507) 2 Js 67/90 (68/91) Gründe

453

1.

[Anzuwendendes Recht]

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2.

[Verjährung]

455

3.

[Das Vorbringen der Verteidigung]

459

Anmerkungen

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Erteilung von Befehlen im konkreten Fall - Fall Kühn

Kammergericht Berlin Az.: 4 Ws 160/92; (507) 2 Js 67/90 (68/91)

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17. Dezember 1992

BESCHLUSS In der Strafsache gegen 1. den Maurer Bernd Robert Rudolf J. geboren 1945 2. den Agrotechniker Herbert Werner C. geboren 1938 3.

den Maschinenschlosser Peter Fritz Böhme geboren 1940

wegen Totschlags {2} hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 17. Dezember 1992 beschlossen: Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht wird der Beschluß des Landgerichts Berlin vom 10. Juli 19921 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens an das Landgericht Berlin zurückverwiesen. Gründe Die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht legt dem Angeschuldigten J. als Heranwachsendem mit der Anklageschrift vom 21. November 1991 zur Last, am 26. November 1965 als Posten der Grenztruppen der DDR in dem Grenzsicherungsbereich in BerlinTreptow den damals 62 Jahre alten DDR-Bürger Erich Kühn, der nach West-Berlin flüchten wollte, durch sechs Schüsse (ein bis zwei Feuerstöße) seiner Maschinenpistole (Kalaschnikow) aus einer Entfernung von etwa 15 Metern tödlich verletzt und dabei den Tod des Opfers billigend in Kauf genommen zu haben; die Angeschuldigten C. als Postenfuhrer und Böhme als Zugführer der Grenztruppen sollen den Angeschuldigten J. zu dieser Tat vorsätzlich bestimmt haben (vorsätzliche Tötung bzw. vorsätzliche Anstiftung zur Tötung nach §§ 112, 22 StGB/DDR in Verbindung mit §§212, 26 StGB; Art. 315 EGStGB, §§ 1, 105 JGG). Mit dem angefochtenen Beschluß hat das Landgericht die Eröffnung {3} des Hauptverfahrens wegen des Verfahrenshindernisses des Eintritts der Verjährung abgelehnt. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht. Das Rechtsmittel hat Erfolg, da die Verfolgung des angeklagten Verbrechens nicht verjährt ist.

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Dokumente - Teil 2

Das Landgericht begründet seine gegenteilige Auffassung damit, daß nach bundesdeutschem Recht die Verjährung fur die Verfolgung der Taten nach §§ 212, 78 Abs. 3 Nr. 2 (§ 67 a.F.) StGB im Jahre 1985, nach dem der ehemaligen DDR gemäß §§ 113 Abs. 1 Nr. 3, 22 Abs. 2 Nr. 1, 82 Abs. 1 Nr. 4 StGB/DDR im Jahre 1980 eingetreten sei. Der Ablauf der Verjährungsfrist sei auch nicht durch ein zeitweises Ruhen verhindert worden, da sowohl § 78b Abs. 1 (§ 69 a.F.) StGB als auch § 83 Nr. 2 StGB/DDR dafür einen der Strafverfolgung entgegenstehenden gesetzlichen Grund voraussetzten, derartige gesetzliche Vorschriften jedoch bis zum Eintritt der Verjährung nicht vorgelegen hätten. Allein tatsächliche, auf politischen Gegebenheiten beruhende Umstände hätten die Verfolgung der schon 1965 strafbewehrten Taten der Angeschuldigten verhindert. Die Ermittlungsansätze der Staatsanwaltschaft (gerichtliche Obduktion zur Feststellung der Todesursache des Opfers) seien aus aktenmäßig nicht erkennbaren Gründen versandet. Die Nichtverfolgung der Taten beruhe nicht auf einem Gesetz, sondern auf einer gesetzwidrigen Rechtspraxis der DDR. Diesem Ergebnis kann der Senat nicht zustimmen. {4}

1.

[Anzuwendendes Recht]

Das Landgericht hat allerdings, soweit es sich zur materiellen Rechtslage äußert, zutreffend angenommen, daß die angeklagte Tat von Anfang an nur dem Verfolgungsanspruch und dem Recht der damaligen DDR unterlag. Denn sowohl die Angeschuldigten als auch das Tatopfer hatten zur Tatzeit ihre Lebensgrundlage in der DDR. Dort ist das Opfer von den Schüssen des Angeschuldigten J. auch getroffen worden und verstorben. Eine Tat der hier in Rede stehenden Art war schon vor der Vereinigung Deutschlands nicht nach dem Strafrecht der Bundesrepublik zu beurteilen. Bis zum Abschluß des Grundlagenvertrages vom 21. Dezember 1972 (BGBl. 1973 II S. 421) galten nach einhelliger Rechtsprechung im Verhältnis von DDR und Bundesrepublik Deutschland die Regeln des „innerdeutschen" (interlokalen) Strafrechts, wonach das Strafrecht des Tatortes - hier also das der DDR - anzuwenden war (vgl. dazu BGHSt 30, 1, 2; zuletzt BGH Urteil vom 3. November 1992 - 5 StR 370/92 2 ; Senat in NStZ 1992, 5423). Danach hat die Rechtsprechung Grundsätze entwickelt, die zu einer entsprechenden Anwendung des internationalen Strafrechts führten, weil seit dem Grundlagenvertrag das Strafrecht der Bundesrepublik nicht mehr alle in der DDR lebenden Deutschen in dem Sinne schützt, daß die gegen sie auf dem Gebiet der DDR begangenen Taten ohne weiteres nach § 7 Abs. 1 StGB, also nach dem Strafrecht der Bundesrepublik, zu beurteilen waren (vgl. BGH und Senat, je aaO; Dreher/Tröndle, StGB 45. Aufl., § 7 Rdn. 3). Die DDR war fortan „wie" Ausland zu behandeln, jedoch ist im vorliegenden Fall eine Anknüpfung an die Regeln des § 5 (insbesondere Nr. 6) StGB nicht möglich, weil den Schüssen an der Mauer kein konkretes Gefährdungsdelikt vorausgegangen war (vgl. dazu besonders BGH, Urteil vom 3. November 1992 aaO). Der Ver-{5}folgungsanspruch für die angeklagte Tat ist mithin nicht nach dem Strafrecht der Bundesrepublik zu beurteilen.

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Erteilung von Befehlen im konkreten Fall - Fall Kühn

2.

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[Verjährung]

In der DDR galt zur Tatzeit das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 in der Fassung des Strafrechtsergänzungsgesetzes vom 11. Dezember 1957 (GBl. I S. 643). Die Verjährungsfrist für Totschlag betrug danach 20 Jahre (vgl. § 67 Abs. 1 in Verbindung mit § 212 StGB a.F.). Sie wurde durch das Inkrafttreten des StGB/DDR vom 12. Januar 1968 (GBl. S. 27) am 1. Juli 1968 auf 15 Jahre verkürzt, weil über § 81 Abs. 3 StGB/ DDR die im Vergleich zu § 212 StGB a.F. mildere Vorschrift des § 113 Abs. 1 Nr. 3 StGB/DDR anzuwenden war. Diese mit der Beendigung der Tat (§ 82 Abs. 3 Satz 1 StGB/DDR), also spätestens am 3. Dezember 1965 beginnende Frist ist noch nicht abgelaufen, weil die Verjährung der Strafverfolgung nach Ansicht des Senats während des Bestehens der DDR ruhte. a) Nach § 83 Nr. 2 StGB/DDR lief die Veqährungsfrist nicht ab, solange ein Strafverfahren „aus einem anderen gesetzlichen Grunde nicht eingeleitet oder fortgesetzt werden" konnte. Die unmittelbare Anwendung dieser Vorschrift auf den vorliegenden Fall scheitert allerdings an der Tatsache, daß es formell erlassene Gesetze, die die strafrechtliche Verfolgung der Todesschüsse an der Mauer untersagten, in der DDR nicht gab. Dennoch sind Grenzsoldaten, die auf Flüchtlinge geschossen hatten, niemals zur Verantwortung gezogen worden. In einer ähnlichen Situation nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, während der aus politischen, rassistischen oder religionsfeindlichen Gründen begangene Verbrechen ebenfalls nicht bestraft wurden, haben einzelne Länder sogenannte Ahndungsgesetze er-{6}lassen, in denen festgelegt wurde, daß der Ablauf der Veijährungsfrist während des Dritten Reiches gehemmt war. Auf der Grundlage dieser Gesetze hat die Rechtsprechung allgemeine Grundsätze entwickelt, nach denen die Voraussetzungen für ein Ruhen der Veijährung als erfüllt anzusehen waren, wenn im Einzelfall feststand, daß die begangenen Verbrechen nur deshalb nicht verfolgt wurden, weil der „als Gesetz eingeschätzte Führerwille" der Strafverfolgung objektiv entgegenstand (vgl. BGHSt 23, 137, 139; BGH NJW 1962, 2308, 2309), wenn also die Straftaten „unter völliger Mißachtung rechtsstaatlicher Grundsätze nicht verfolgt wurden, weil sie von den damaligen Machthabern veranlaßt oder gefordert, teils gern geduldet wurden" (vgl. BVerfGE 1, 418, 426). Die Berücksichtigung dieser Grundsätze ist nach Meinung des Landgerichts im vorliegenden Fall deshalb nicht möglich, weil es ein dem „Führerwillen" vergleichbares gesetzgebendes Organ in der DDR nicht gab. Diese Ansicht scheint durch eine grundsätzliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs bestätigt worden zu sein (vgl. BGH, Urteil vom 3. November 1992 aaO). Danach bestand anders als im nationalsozialistischen Führerstaat in der DDR keine „Doktrin, nach der der bloße Wille der Inhaber tatsächlicher Macht Recht zu schaffen vermochte". Gesetze seien verbindlich gewesen und konnten allein von der Volkskammer erlassen werden (vgl. Art. 48 Abs. 2,49 Abs. 1 der Verfassung der DDR). Diese Einwände hindern aber nach Meinung des Senats nicht die Übertragung der auf der Grundlage der Ahndungsgesetze entwickelten Rechtsprechung. Denn es geht nicht darum, ob in der früheren DDR neben der Volkskammer auch noch andere Organe Recht setzen konnten, sondern um die Frage, ob mit Billigung der Staatsfüh-{7}rung begangenes offensichtliches Unrecht auch verfolgt wurde. Die Ausführungen des Bundesgerichtshofs betreffen daher die Auslegung des § 27 des Grenzgesetzes der DDR4 und erörtern das Problem, ob die Anwendung der Schußwaffe als „die äußerste Maß-

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Dokumente - Teil 2

nähme der Gewaltanwendung gegenüber Personen" (§ 27 Abs. 1 Satz 1 des Grenzgesetzes) noch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ist. Der Bundesgerichtshof kommt zu dem Ergebnis, daß in einem Fall wie dem vorliegenden, wo sich die fluchtwillige Person allein oder unbewaffnet der Grenze näherte, die vorsätzliche Tötung nicht gerechtfertigt war. Damit ist gleichzeitig die Erwägung der Strafkammer widerlegt, die für das Ruhen der Verjährung charakteristische Rechtssituation sei nicht gegeben gewesen, weil nach Auffassung der Staatsfiihrung der Schußwaffengebrauch gegenüber fluchtwilligen Personen keine Straftat darstellte. Ähnlich verhält es sich schließlich mit dem Hinweis der Strafkammer, daß es förmliche Gesetze, die die Strafverfolgung von Tötungen an der Mauer verhindern sollten, nicht gegeben habe. Sie konnten gar nicht existieren, weil sie das Eingeständnis der Staatsführung vorausgesetzt hätten, selbst rechtsstaatswidrig zu handeln (vgl. Lemke/ Hettinger NStZ 1992, 22), und den Schleier des Rechtsscheins, hinter dem sich der totalitäre Staat der DDR zu verbergen suchte, vor aller Welt zerrissen hätten. Folgerichtig fehlt in der amtlichen Kommentierung zu § 83 Nr. 2 StGB/DDR jede Erläuterung, was unter dem Begriff „gesetzlicher Grund" zu verstehen ist (vgl. Kommentar zum StGB/ DDR, 5. Aufl. 1987, § 83 Anmerkung b). {8} b) Nach Meinung des Senats läßt sich die auf der Grundlage der früheren Ahndungsgesetze entwickelte Rechtsprechung zum Ruhen der Verfolgungsverjährung auf den vorliegenden Fall übertragen. Dabei ist zunächst festzustellen, daß die entsprechenden gesetzlichen Regelungen weitgehend inhaltsgleich sind. Die bereits mehrfach aufgezeigten Erwägungen beruhen auf einer Auslegung des § 69 Abs. 1 StGB a.F., der zur Tatzeit auch noch in der DDR galt. Durch das Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches der DDR im Jahre 1968 hat sich an der Rechtslage hinsichtlich der hier in Betracht kommenden Alternative der Ruhensvoraussetzungen nichts geändert. Der neue § 83 StGB/DDR ist insoweit sprachlich nur unbedeutend verändert worden, inhaltlich aber gleich geblieben. Auch die politische Situation in der DDR war mit der während des Dritten Reiches herrschenden vergleichbar. Denn auch die DDR war ein totalitärer Staat. Unter dem Deckmantel des Anspruchs, die allein für richtig gehaltene sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung durchzusetzen, weil nur auf diese Weise die nach Meinung der Partei anerkennenswerten Interessen der Werktätigen zu schützen waren (vgl. etwa die Präambel zum StGB/DDR vom 12. Januar 1968), baute die Parteiführung eine Staatsmacht auf, die notfalls auch Maßnahmen ergriff, welche außerhalb rechtsstaatlicher Grundsätze eines demokratischen Rechtsstaats lagen, um Verstößen einzelner Bürger gegen die Interessen des Staates zu begegnen. Für den Schußwaffengebrauch an der Mauer zur Verhinderung von Fluchtunternehmen ist dies inzwischen höchstrichterlich festgestellt worden (vgl. BGH, Urteil vom 3. November 1992 aaO; auch schon Beschluß des Senats vom 6. März 1991 - 4 Ws 288/905). Dabei verkennt der Senat nicht, daß das an Flucht-{9}willigen begangene Unrecht mit der Ermordung von Millionen jüdischer Mitmenschen während der nationalsozialistischen Herrschaft und der Verfolgung und Tötung von Personen aus rassistischen oder religionsfeindlichen Gründen nicht vergleichbar ist, weil die während des Dritten Reiches verübten Verbrechen unvorstellbare Ausmaße angenommen hatten. Zu berücksichtigen ist aber, daß vor allem den Grenztruppen, zu denen auch die Angeschuldigten zur Tatzeit gehörten, stets ver-

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mittelt wurde, daß Grenzverletzer als minderwertige und kriminelle Personen zu betrachten seien. Deshalb lautete der allgemeine Befehl, daß auf jeden Fall, und letztlich mit allen Mitteln, notfalls auch durch den Gebrauch der Schußwaffe, zu verhindern sei, daß der Fluchtwillige den Westteil von Berlin erreichte. Dementsprechend war in der regelmäßig wiederkehrenden „Vergatterung" der Grenzsoldaten vor ihrem jeweiligen Dienstantritt der Kernsatz enthalten, daß Grenzdurchbrüche auf keinen Fall zuzulassen seien; „Grenzverletzer sind zu stellen oder zu vernichten" (vgl. Befehl des Ministers des Inneren der DDR Nr. 39/60 vom 28. Juni I960 6 und die Durchfuhrungsanweisung Nr. 2 vom 19. März 19627; auch BGH, Urteil vom 3. November 1992 aaO, S. 17). Die hier verwendeten Ausdrücke sind sprachlich überraschend weit dem während des Dritten Reiches benutzten Vokabular angenähert. Alle diese erwähnten Umstände ergeben in ihrer Gesamtheit, daß die Verhinderung des Grenzübertritts als ein überragendes politisches Interesse aufgefaßt wurde, hinter das persönliche Rechtsgüter einschließlich des Lebens und ihr strafrechtlicher Schutz völlig zurücktraten, so daß es zumindest hinsichtlich der Behandlung von Grenzverletzern und der Verfolgung des ihnen gegenüber begangenen Unrechts durchaus möglich erscheint, die politische Situation in der DDR mit der des Dritten Reiches zu vergleichen. {10} Die Staats- und Parteiführung bestimmte auch, welche Maßnahmen zur Durchsetzung dieser politischen Interessen einzuleiten waren. Zur „Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit" war zwar die Rechtspflege berufen, doch war in letzter Instanz das SED-Politbüro Herr des politischen Strafverfahrens (vgl. Henrich, Politische Einflußnahme auf die Justiz im totalitären Staat, DRiZ 1992, 85, 88). Politische Einflußnahmen auf die Strafjustiz sind schon 1950 im Zusammenhang mit den Waldheimer Prozessen vorgekommen (vgl. Henrich aaO, S. 89; Wassermann NJW 1992, 878; KG NJW 1954, 1901). Für sie wurden nicht etwa durch ein Gesetz, sondern durch die SEDLandesleitung spezielle Strafkammern geschaffen und mit ausgesuchten Richtern besetzt, die die Anweisung hatten und auch befolgten, ohne Rücksicht auf vorhandene Beweismittel Freiheitsstrafen nicht unter zehn Jahren zu verhängen (vgl. Henrich aaO). Hinzuweisen ist ferner auf die Informationen des Obersten Gerichts der ehemaligen DDR (Nr. 4/86), wo ausgeführt wird, daß die Beschlüsse des XI. Parteitages der SED „verbindliche Grundlage" für die Tätigkeit der Gerichte und „Richtschnur" ihres Handelns sind (ausführlich zitiert bei Sauter, Verjährung von SED-Unrecht, DtZ 1992, 169, 170; dort wird auch von Fällen berichtet, in denen die Gerichte auf Anweisung der Parteiführung das Strafmaß gegen Grenzverletzer danach ausrichteten, welche Erlöse bei einem späteren „Freikauf' zu erzielen waren). Aus diesen Umständen läßt sich ableiten, daß die Staats- und Parteiführung der DDR durch entsprechende Anweisungen in Form von Parteitagsbeschlüssen oder auch im Einzelfall bestimmte, wie anhängige Strafverfahren in einer den Staatszielen dienlichen Weise und unabhängig von ansonsten bestehenden Gesetzen zu entscheiden waren. Daraus ist der Schluß zu ziehen, daß der Wille der Staats- und Parteifüh-{ll}rung, auch wenn er nicht in förmliche Gesetze gegossen war, für die Strafverfolgungsorgane der ehemaligen DDR rechtsverbindlich war und so einem Gesetz gleich erachtet wurde. Dies bedeutet, daß im vorliegenden Fall der Strafverfolgung keine tatsächlichen Hindernisse entgegenstanden, sondern der gesetzesgleich erachtete Wille der Staats- und Parteiführung, so daß § 83 Nr. 2 StGB/DDR anzuwenden ist.

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Dieses Ergebnis, das im übrigen der im Schrifttum einhellig vertretenden Auffassung entspricht (vgl. Riedel DtZ 1992, 162, 168; Sauter DtZ 1992, 169, 170; König NStZ 1992, 185, 187; 1991, 566; Krehl DtZ, 1992, 13, 15; Lemke/Hettinger NStZ 1992, 21, 92; vgl. auch offizielle Mitteilung des Justizministers Kinkel, DRiZ, 1991, 464), steht im Einklang mit den Grundgedanken des Verjährungsinstituts. Ihm liegt nicht allein der Gesichtspunkt der Beweisvergänglichkeit zugrunde, sondern auch der Gedanke, daß im Laufe der Zeit ein ursprünglich bestehendes Strafbedürfnis immer mehr schwindet (vgl. BGHSt 29, 370, 372; BGH NJW 1985, 1719, 1720). Davon kann jedoch gerade gegenüber dem an der Grenze geschehenen Unrecht nicht gesprochen werden. Vielmehr zeigt die große Zahl der nach der Vereinigung Deutschlands eingegangenen Strafanträge gegen frühere Amtsinhaber und die Flut der Anträge auf Rehabilitierung, daß erlittenes Unrecht während des Bestehens der DDR trotz des teilweise langen Zeitablaufes keineswegs vergessen ist. Nur zur Ergänzung sei darauf hingewiesen, daß diese Auffassung des Senats auch von einem vom Bundesrat eingebrachten und von der Bundesregierung befürworteten „Entwurf eines Gesetzes zur Verjährung von SED-Unrechtstaten (Verjährungsgesetz)" 8 vertreten wird, das demnächst beraten werden soll. In Art. 1 § 1 soll die {12} Berechnung der Verjährungsfrist für die Verfolgung von Taten, die während der Herrschaft des SED-Unrechtsregimes begangen wurden, aber entsprechend dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen der Staats- und Parteiführung der SED aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht geahndet worden sind, in der Zeit vom 11. Oktober 1949 bis zum 17. März 1990 außer Ansatz bleiben. In dieser Zeit soll die Verjährung geruht haben. In § 2 Nr. 1 des Entwurfs werden als Taten im Sinne von § 1 insbesondere Vergehen und Verbrechen in Betracht kommen, die mit der Verfolgung im Zusammenhang stehen.9 Mit der Anwendung von § 83 Nr. 22 StGB/DDR auf den vorliegenden Fall weicht der Senat nicht von den Entscheidungen der Oberlandesgerichte Frankfurt und Braunschweig ab (vgl. OLG Braunschweig, NStZ 1992, 183; OLG Frankfurt NStZ 1991, 585).10 Sie haben es abgelehnt, die durch die Rechtsprechung zum Ruhen der Verjährung wegen eines gesetzesgleichen Verfolgungshindernisses in totalitären Staaten entwickelten Grundsätze bei der Beurteilung von in der DDR verübten Straftaten entsprechend heranzuziehen. Beide Entscheidungen beruhen aber auf der Annahme, daß die angezeigten Straftaten schon von der Bundesrepublik aus verfolgbar waren. Dieser Fall ist hier jedoch gerade nicht gegeben, wie unter 1) ausführlich dargestellt worden ist. Die in der entsprechend zu berücksichtigenden Rechtsprechung aufgestellte weitere Voraussetzung fur die Annahme einer Verjährungshemmung, daß nämlich feststeht, daß die hier in Rede stehende Straftat aufgrund von Eingriffen der Gewalthaber mit Bestimmtheit nicht geahndet worden wäre, ist im vorliegenden {13} Fall entgegen der Ansicht des Landgerichts gegeben. Die Auffassung der Strafkammer, die eingeleiteten Ermittlungen seien aus nicht erkennbaren Gründen „versandet", ist aus tatsächlichen Gründen unzutreffend. Denn die Ermittlungen wurden nicht gegen die jetzt angeschuldigten Täter, sondern nur gegen das schwer verletzte Opfer geführt, dem ein Verstoß gegen § 5 PaßVO vorgeworfen wurde. Dieses Verfahren ist eingestellt worden, weil das Opfer am 3. Dezember 1985 verstorben war. In dem noch erstellten Obduktionsbericht ist von „unbekannten Tätern" die Rede, die den Fluchtwilligen angeschossen hätten. Die Namen

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und auch die Tat der Angeschuldigten war jedoch bekannt. Denn sie werden in einer vertraulichen Verschlußsache vom 26. November 1965 ( W S - T a g e b u c h Nr. 1 0 5 0 / 6 5 ) ausdrücklich erwähnt; Anlaß ist jedoch nicht etwa die Strafbarkeit ihres Vorgehens, sondern vielmehr die Tatsache, daß sie fur ihr ausgezeichnetes, taktisch kluges Handeln gelobt und für eine Auszeichnung vorgeschlagen werden. Allerdings kann auch in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, daß ein Befehl oder eine konkrete Anweisung eines Machthabers der D D R , die Einleitung einer Strafverfolgung zu unterlassen, nicht festgestellt werden konnte. Daran allein kann j e doch die Annahme einer Verjährungshemmung nicht scheitern. Ebenso wie förmliche Gesetze zur Verhinderung der Strafverfolgung aus den bereits dargelegten Gründen nicht existieren konnten, war auch der Erlaß eines Einzelbefehls nicht notwendig. Denn die Tatsache, daß der Schußwaffengebrauch an der Mauer strafrechtlich ungeahndet blieb, war nur die Kehrseite und logische Konsequenz des allgemeinen Schießbefehls. Wer wegen der erfolgreichen Verhinderung eines Fluchtunternehmens belobigt und ausgezeichnet wurde, konnte nicht gleichzeitig wegen derselben { 1 4 } Tat mit einem Strafverfahren überzogen werden. Im übrigen ist auch hier wie in sonstigen Fällen nach dem Grundsatz vorgegangen worden, daß im Vordergrund nicht die Lebenserhaltung des Opfers, sondern das Interesse stand, den Vorfall auf beiden Seiten der Grenze möglichst unentdeckt zu lassen. Dazu gehört als Sicherungsmaßnahme, daß das Opfer nur in das Krankenhaus der Volkspolizei eingeliefert werden durfte und daß nach seinem Tod den Angehörigen bedeutet wurde, sie hätten über den Fall Stillschweigen zu bewahren, weil sie sonst mit Unannehmlichkeiten rechnen müßten. Aufgrund dieser Überlegungen kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß die hier angeklagte Tat nur nach dem Strafrecht der früheren D D R zu beurteilen und ihre Verfolgung noch nicht verjährt ist, weil der Ablauf der Veijährungsfrist nach § 83 Nr. 2 S t G B / D D R bis in das Jahr 1990 ruhte. c) Dieser nach dem Recht der D D R noch nicht verjährte Verfolgungsanspruch besteht weiter. Denn gemäß Art. 315a E G S t G B in der Fassung des Einigungsvertrages ( B G B l . 1990 II 889 in der Fassung des Gesetzes vom 23. September 1990 zum Vertrag vom 31. August 1990) bleibt die Tat verfolgbar, wenn wie im vorliegenden Fall die Verfolgungsverjährung bis zum Wirksamwerden des Beitritts noch nicht eingetreten war. Sinn dieser Vorschrift ist es, daß kein noch bestehender Strafanspruch der ehemaligen D D R durch die Vereinigung untergehen sollte. Vielmehr hat die frühere D D R durch ihren Beitritt ihre Strafverfolgungsansprüche „eingebracht", die auch zu bearbeiten nun Sache der Bundesrepublik Deutschland ist. Im Wege der Rechtsnachfolge sind die noch bestehenden Strafansprüche der D D R auf die Bundesrepublik { 1 5 } übergegangen und nunmehr innerstaatliche Ansprüche der neuen Bundesrepublik (vgl. ausführlich Senat in NStZ 1992, 542 1 1 )·

3.

[Das Vorbringen

der

Verteidigung]

Das Vorbringen der Verteidigung der Angeschuldigten führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Senat hat bereits dargelegt, daß polizeiliche Ermittlungen nur gegen das Opfer, nicht auch gegen die Angeschuldigten eingeleitet worden sind; daß die Nichtverfolgung auf einer rechtlich anderen Bewertung der Schüsse an der Mauer beruhte, ist unerheb-

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lieh, weil diese Einordnung der Straftat nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 3. November 1992 nicht zu berücksichtigen ist. Deshalb wird ferner nicht versucht, „rückwirkend der Rechtsordnung der BRD in der DDR Geltung zu verschaffen". Denn der Senat geht ausdrücklich davon aus, daß der hier angeklagte Vorfall nur nach dem Strafrecht der früheren DDR zu beurteilen ist. Schließlich kommt es nicht darauf an, daß für das Strafrecht als Quelle nur die Gesetze der Volkskammer in Betracht kamen. Diese Rechtslage hat der Senat nicht verkannt; er hat auch nicht übersehen, daß es ein förmliches Gesetz über die Nichtverfolgung von Straftaten an der Mauer nicht gibt. Diese Tatsache hindert jedoch, wie ausfuhrlich dargelegt worden ist, nicht die Heranziehung der Rechtsprechung, die nach der Kapitulation des Dritten Reiches hinsichtlich der während der nationalsozialistischen Herrschaft verübten Straftaten entwickelt worden ist. Ob der hier als rechtsverbindlich angesehene Wille der Partei- und Staatsführung dazu führen muß, den Angeschuldigten einen unvermeidbaren Verbotsirrtum zuzubilligen, bedarf noch keiner Entscheidung. Denn der Senat befindet nicht über die Eröffnung des Hauptverfahrens, weil deren Ablehnung wegen eines Verfahrenshindernisses eine reine Prozeßentscheidung darstellt, so daß eine sachliche Entscheidung des Landgerichts völlig fehlt. In derartigen Fällen kann die Sache an das {16} Gericht des ersten Rechtszuges zurückverwiesen werden (vgl. OLG Frankfurt NStZ 1983, 426; Senat in NStZ 1992, 542; Kleinknecht/Meyer, StPO, 40. Aufl., § 309 Rdn. 9).

Anmerkungen 1 2 3 4 5

6 7 8

9

10

460

Vgl. lfd. Nr. 13-1 Vgl. lfd. Nr. 2-2. Vgl. lfd. Nr. 7-2. Vgl. Anhang S. 907f. Vgl. NJW 1991, 2653ff. und StV 1991, 586ff. Der genannte Beschluss des Kammergerichts verwarf eine weitere Beschwerde Erich Honeckers gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 30.11.1990 - Az. 351 Gs 4764/90 (StV 1991, 584f.). Seine erste Beschwerde hatte zu einer Änderung der Haftbefehls geführt, war im Übrigen aber erfolglos geblieben, vgl. Beschluss des Landgerichts Berlin vom 14.12.1990 (StV 1991, 585). Vgl. Anhang S. 980f. Vgl. Anhang S. 982f. Der Gesetzesantrag wurde von den Bundesländern Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt eingebracht (vgl. BR-Drucksache 141/92 vom 28.2.1992). Am 26.3.1993 wurde das Gesetz über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten erlassen (BGBl. I, S. 392), das am 4.4.1993 in Kraft trat. In der schließlich verabschiedeten Fassung des Gesetzes über das Ruhen der Verjährung bei SEDUnrechtstaten vom 26.3.1993 (BGBl. I, S. 392) wurde das Ruhen der Verjährung fur die Zeit zwischen dem 11. Oktober 1989 und dem 2. Oktober 1990 angenommen. Der beschriebene § 2 des Entwurfs fand keinen Eingang in das Gesetz. Die zitierte Entscheidung des OLG Braunschweig betraf die Frage der Verjährung von Straftaten früherer DDR-Richter und -Staatsanwälte in Ausübung ihres Amtes. Das Gericht stellte fest, dass die Verjährung für diese Straftaten während der SED-Herrschaft nicht geruht hat, wenn die Taten von der Bundesrepublik aus verfolgbar waren (vgl. Beschluss vom 22.11.1991 - Az. Ws 13/91 = NStZ 1992, 183). Die Entscheidung des OLG Frankfurt hatte ein Verfahren wegen politischer Verdächtigung vor dem Beitritt der DDR zum Gegenstand. Das Gericht erklärte, aus dem Umstand, dass Strafverfolgungs-

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11

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behörden in der Bundesrepublik in Fällen politischer Verfolgung in der DDR häufig keine Ermittlungsverfahren einleiteten, weil Ermittlungshandlungen auf dem Gebiet der DDR nicht möglich waren, nicht gefolgert werden dürfe, dass die Verfolgungsverjährung in dieser Zeit geruht habe. Eine entsprechende Anwendung des § 76b StGB auf derartige Fälle sei aus rechtsstaatlichen Gründen nicht möglich (vgl. Beschluss vom 10.7.1991 - Az. 2 Ws 88/91= NStZ 1991, 585). Vgl. lfd. Nr. 7-2.

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Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Berlin vom 24.2.1995, Az. (507) 2 Js 67/90 KLs (68/91) Gründe

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I.

[Feststellungen zur Person]

463

II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

464

III. [Beweiswürdigung]

466

IV. [Rechtliche Würdigung]

467

V.

470

[Strafzumessung]

Anmerkungen

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Erteilung von Befehlen im konkreten Fall - Fall Kühn

Landgericht Berlin Az.: (507) 2 Js 67/90 KLs (68/91)

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24. Februar 1995

URTEIL Im Namen des Volkes Strafsache gegen 1. Bernd Robert Rudolf J., geboren 1945, 2.

Herbert Werner C., geboren 1938,

3.

Peter Fritz Böhme, geboren 1940,

wegen Totschlags. Die 7. große Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Berlin hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 14., 17., 21. und 24. Februar 1995, an der teilgenommen haben: {2}

® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. in der Sitzung vom 24. Februar 1995 für Recht erkannt: Der Angeklagte J. ist des Totschlags schuldig. Die Angeklagten C. und Böhme sind der Anstiftung zum Totschlag schuldig. Es werden verurteilt: die Angeklagten C. und Böhme zu einer Freiheitsstrafe von jeweils einem Jahr, der Angeklagte J. zu einer Jugendstrafe von einem Jahr. Die Vollstreckung der Strafen wird zur Bewährung ausgesetzt. {3} Die Angeklagten tragen die Kosten des Verfahrens und ihre notwendigen Auslagen. Angewendete Vorschriften: §§ 212, 213, 26 StGB.

Gründe I. [Feststellungen zur Person] 1. Der 50 Jahre alte Angeklagte J. wuchs mit drei Geschwistern bei seinem Vater auf. Nach seiner 1951 erfolgten Einschulung besuchte er die Schule bis zur 8. Klasse, die er abschloß. Nach einer sich anschließenden dreijährigen Ausbildung zum Maurer arbeitete er zunächst als solcher, wurde 1964 jedoch in die Nationale Volksarmee der DDR als Wehrpflichtiger eingezogen. Nach Beendigung seines 18monatigen Wehrdienstes arbeitete er wieder in seinem Beruf. 1970 heiratete der Angeklagte. 1978 wurde sein Sohn 463

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geboren, der noch bei ihm wohnt. Der Angeklagte, der Mitglied verschiedener Jugendorganisationen der DDR war, ist bisher nicht bestraft. Er arbeitet gegenwärtig in seinem erlernten Beruf und und bezieht ein monatliches Nettoeinkommen von ungefähr I.800,00 DM. 2. Der 56jährige Angeklagte C. wuchs bei seinem als Melker tätigen Vater auf dem Lande auf. Er hat noch fünf {4} Geschwister. Nachdem er die Grundschule ohne Abschluß besucht hatte, erlernte er den Beruf des Schmieds, war anschließend aber als Traktorist in der Landwirtschaft tätig. 1961 heiratete der Angeklagte. Aus der Ehe sind zwei Kinder im Alter von heute 29 und 33 Jahren hervorgegangen. Die Tochter des Angeklagten ist behindert und erhält Sozialhilfe. Der Angeklagte, der in der DDR keiner Organisation angehörte, ist unbestraft und arbeitet als Landwirt bei einem monatlichen Einkommen von ungefähr 1.200,00 DM. 3. Der Angeklagte Böhme ist 54 Jahre alt. Mit fünf Geschwistern wuchs er bei seinen als Schlosser und Hausfrau tätigen Eltern in geordneten Verhältnissen auf. Er besuchte die Schule bis zur 8. Klasse und absolvierte aufgrund seines Entschlusses, Berufssoldat zu werden, die 10. Klasse auf der Offiziersschule der Grenztruppen der DDR, bei denen er seit dem 11. August 1959 Dienst tat. Der Angeklagte hat den Beruf des Maschinenschlossers erlernt. Aus seiner 1966 geschlossenen Ehe hat er zwei Kinder im Alter von heute 27 und 31 Jahren. Der Angeklagte, der nach seinen Angaben mit ganzem Herzen Soldat war, erwarb bei den Grenztruppen den Majorsrang, war anschließend Korvettenkapitän und beendete seinen Militärdienst als Oberstleutnant. Aus Überzeugung, wie er sagt, trat er in der DDR der FDJ und der SED bei. Der bislang nicht bestrafte Angeklagte befindet sich angeblich im Ruhestand mit ® es folgen Angaben zur Einkommenssituation des Angeklagten. {5}

II.

[Sachverhaltsfeststellungen]

Am 26. November 1965 taten die Angeklagten J. und C. als zum 37. Grenzregiment gehörende Grenzstreife der Grenztruppen der DDR auf dem Bahndamm oberhalb der Kiefholzstraße in Berlin-Treptow ihren Dienst. Die mit Stacheldrahtzaun befestigte Sektorengrenze verlief dort in nord-südlicher Richtung auf der westlichen Seite des über der Kiefholzstraße befindlichen Bahnübergangs. Das Postenhäuschen der Angeklagten J. und C. befand sich am süd-östlichen Punkt des Bahnübergangs, unterhalb dessen in Richtung Hinterland ein Trampelpfad zwischen der unteren Bahndammböschung und dem Maschendrahtzaun einer Kleingartenkolonie verlief. Der im Rahmen seines 18monatigen Grundwehrdienstes im Herbst 1964 zu den Grenztruppen eingezogene Angeklagte J. bekleidete die Funktion des Postens und war als mittelmäßiger Schütze mit einer Maschinenpistole des Typs Kalaschnikow AK 47 mit einstellbarem Visier und 30 Patronen umfassendem Magazin ausgerüstet. Diese Waffe war technisch ausgereift, neigte aber insbesondere bei Dauerfeuer durch einen gewissen Rechtsdrall zu einer nicht unerheblichen Streuung, was bei den Grenzstreifen bekannt war, so auch dem Angeklagten J. {6} Der als Postenführer eingesetzte, mit einem Leichtmaschinengewehr mit Trommelmagazin ausgerüstete Angeklagte C. war ungefähr zur gleichen Zeit als Wehrpflichtiger eingezogen worden und ein eher schlechter Schütze. Beide waren bis dahin im Rahmen 464

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einer vier- bis sechswöchigen Grundausbildung mit der Maschinenpistole Kalaschnikow vertraut gemacht und in die Schußwaffengebrauchsbestimmungen eingewiesen worden und hatten später - während ihres Dienstes an der Grenze - mehrfach an Schießübungen teilgenommen. Eine darüber hinausgehende - etwa psychologische - Ausbildung der Angeklagten fand nicht statt. An dem genannten Tage waren die Angeklagten J. und C. vor ihrem um 14.00 Uhr beginnenden Dienst, der bis 22.00 Uhr dauern sollte, von ihrem Zugführer, dem Angeklagten Böhme, oder dem Gruppenführer vergattert worden. Inhalt der Vergatterung, die vor jedem Dienst erneut stattfand, war der Befehl zur Sicherung der Grenze der DDR. Den Angeklagten war befohlen, die an sie gestellten Aufgaben zu erfüllen und unter allen Umständen „Grenzdurchbrüche" zu verhindern, indem zunächst der Anruf eines „Grenzverletzers", erforderlichenfalls ein Warnschuß und - falls dies den „Grenzdurchbruch" noch nicht beendet hatte - letztlich eine gezielte Schußabgabe auf die Person oder die Personen zu erfolgen hatte. Weiter wurde ihnen befohlen, nicht nach Berlin (West), sondern höchstens parallel zum Grenzverlauf und nicht auf Kinder zu {7} schießen. Gelegentlich wurden die Angeklagten J. und C. noch vor ihrer Vergatterung einige Minuten ideologisch im Sinne einer Feindbilderzeugung belehrt. Beide Angeklagte hatten gehofft, mit einem versuchten „Grenzdurchbruch" nicht konfrontiert zu werden. Gegen 19.30 Uhr des 26. November 1965 - es herrschte trockenes Wetter und die Lichtverhältnisse auf und am Bahndamm waren trotz Peitschenmastenbeleuchtung und einem Suchscheinwerfer mit ungefähr 100 Metern Leuchtweite schummrig - sah der Angeklagte C. plötzlich in wenigen hundert Metern Entfernung einen mannsgroßen Schatten, der sich ihnen auf dem Trampelpfad unterhalb des Bahndamms springend in Richtung Sektorengrenze näherte. Dabei handelte es sich, wie die Angeklagten später erfuhren, um den 62jährigen Erich Kühn, der nach Berlin (West) flüchten wollte. Der Angeklagte C. teilte seine Wahrnehmung dem Angeklagten J. mit, und beide verfolgten von ihrem Standort am Postenhäuschen aus die sich weiter auf sie zubewegende Figur mit den Augen. Als beide einige Sekunden später außerdem ein Rascheln im Unterholz der Bahndammböschung hörten, trat der Angeklagte C. an das in dem Postenhäuschen befindliche Feldtelefon, erstattete dem Angeklagten Böhme in der Führungsstelle telefonisch Meldung und erbat Weisung, weil er selbst Skrupel hatte, dem Angeklagten J., der ebenso Hemmungen hatte, seine Waffe einzusetzen, einen Befehl zum Schießen zu geben. Denn beide Angeklagte befürchteten angesichts der Schwierigkeit, genau zu zielen, möglicher-{8}weise einen Menschen zu töten, zumal sie wußten, daß sie ihn nur durch Schüsse aufhalten konnten, da ein Hinunterlaufen zwecks Festnahme aufgrund des hierzu erforderlichen Umweges über eine den steilen Bahndamm hinunterführende Treppe nicht erfolgversprechend sein würde. Der Angeklagte Böhme, der die Örtlichkeiten ebenso kannte und im August 1958 als Berufssoldat zu den Grenztruppen der DDR gekommen war und im Range eines Unterleutnants in der 2. Grenzkompanie des ungefähr 1.000 Soldaten umfassenden 37. Grenzregiments Dienst tat, reagierte angesichts des Anrufs des Angeklagten C. äußerst ungehalten, befahl dem Angeklagten C. zu handeln, worunter beide ein Handeln im Sinne des oben genannten Grenzsicherungsbefehls verstanden, und ließ über den Stab vorsorglich einen Sanitätskraftwagen anfordern. Der Angeklagte C. befahl infolge des ihm

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selbst gerade erteilten Befehls sogleich seinerseits dem Angeklagten J., seine Maschinenpistole einzusetzen, der diese entsicherte, einen Warnschuß abgab und unmittelbar anschließend aufgrund des ihm von dem Angeklagten C. erteilten Befehls entweder mit schnellem Einzelfeuer oder zwei kurzen Feuerstößen insgesamt mindestens fünf gezielte Schüsse auf die maximal 30 bis 40 m entfernte Stelle im Unterholz der Bahndammböschung abgab, wo sie zuletzt das Rascheln vernommen und den Schatten gesehen hatten. Der Angeklagte C. meldete danach über Feldtelefon den Schußwaffeneinsatz. Dabei ging es weder dem Angeklagten Böhme bei seiner telefo-{9}nischen Befehlserteilung an den Angeklagten C., noch diesem bei seinem anschließenden Befehl an den Angeklagten J., noch letzterem beim Feuern darum, einen Menschen ums Leben zu bringen, auch wenn jeder von ihnen wußte, daß der Tod eines Flüchtlings die durchaus naheliegende Konsequenz sein konnte. Hiermit hatten sich jedoch alle drei Angeklagte im Interesse der Befehlsbefolgung in billigender Weise abgefunden und es letztlich dem Zufall überlassen, ob der Einsatz der Maschinenpistole zum Tod eines Menschen führte oder nicht. Nach Abgabe der Schüsse hörten die Angeklagten J. und C. ein lautes Stöhnen aus dem Unterholz. Der Angeklagte C. gab mit einer Leuchtpistole ein Signal an die Hinterlandstreife, die in Gestalt der Zeugen S. und K. kurz darauf erschien und den heftig blutenden, um Hilfe bittenden Kühn barg und zu dem inzwischen eingetroffenen Sanitätskraftwagen trug. Erich Kühn war von mindestens einer Kugel aus der Maschinenpistole des Angeklagten J. lebensgefährlich in den Bauch getroffen worden und entwikkelte rasch eine zum Tode fuhrende Bauchfellentzündung, da die Kugel seinen Dünndarm durchtrennt und ausgetretener Darminhalt den Bauchraum bakteriell infiziert hatte. Er verstarb trotz kunstgerechter ärztlicher Bemühungen am 3. Dezember 1965 an den Folgen seiner Schußverletzung in einem Krankenhaus der Volkspolizei der DDR. {10} Der Angeklagte Böhme belobigte wenige Tage später den Angeklagten J., der ebenso wie der Angeklagte C. ausgezeichnet wurde. Die Angeklagten J. und C. erhielten jeweils eine Medaille und einen zusätzlichen Urlaubstag.

III.

[Beweiswürdigung]

Alle drei Angeklagten haben anhand von Lichtbildern und einer Skizze vom Tatort, wie er sich heute darstellt, das objektive Tatgeschehen hinsichtlich ihrer jeweiligen Beteiligung so wie festgestellt eingeräumt. Die in Einklang miteinander stehenden Einlassungen der Angeklagten J. und C. zu dem Geschehen auf dem Bahndamm wurden hinsichtlich der Bergung des Kühn durch den Zeugen S. als damaligen Hinterlandposten bestätigt, der seine Bekundungen anhand einer 1991 gefertigten Tatortskizze machte. Der Aussage des ebenfalls zur Hinterlandstreife gehörenden Zeugen K., der die Angeklagten J. und C. über die Feststellungen hinaus erheblich belastet hat, hat die Kammer keinen Beweiswert beigemessen, da dieser Zeuge sich in seinem - zweifelsfreien - Bemühen um Erinnerung mehrfach irrte, und [es] letztlich durchaus möglich erschien, daß er bei seiner Aussage einen ganz anderen Vorfall vor Augen hatte. Der Angeklagte J. hat darüber hinaus zugegeben, bei Abgabe der Schüsse einen Flücht- {11} ling im Unterholz vermutet zu haben.

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Die Angeklagten C. und Böhme haben dagegen in der Hauptverhandlung pauschal und abstrakt daraufhingewiesen, es habe „damals doch auch ein Tier sein können". Auf weiteres Beiragen hat keiner der beiden Angeklagten konkrete Angaben zu seinem damaligen Vorstellungsbild gemacht, insbesondere hat keiner der beiden Angeklagten behauptet, bei Befehlserteilung an ein Tier tatsächlich geglaubt zu haben. Aber selbst wenn in diesen Aussagen der Angeklagten C. und Böhme ein Bestreiten des Erkennens der naheliegenden Möglichkeit der Tötung eines Menschen zu sehen sein sollte, wäre dieses widerlegt. So hat der Angeklagte C. ausweislich der glaubhaften Bekundungen des Kriminalbeamten P. über dessen polizeiliche Vernehmung als Beschuldigter in der von ihm bemerkten Figur ausdrücklich einen Menschen vermutet, was im übrigen durch seinen - nach eigener Einlassung auf Skrupeln beruhenden - Anruf bei dem Angeklagten Böhme bestätigt wird, fur dessen Durchführung bei gleichzeitiger Annahme, ein Tier passiere die Sektorengrenze, kein vernünftiger Grund ersichtlich ist. Hinzu kommt, daß nach der glaubhaften Aussage des Zeugen Gürnth 1 , der zur Tatzeit als Regimentskommandeur fungierte, vergleichsweise große Tiere wie etwa Rot- oder Schwarzwild in jenem Bereich nicht vorkamen; nur solche Tiere hätten aber dem von dem Angeklagten C. beschriebenen Schatten größenmäßig überhaupt entsprechen können. Daß auch der Angeklagte Böhme bei Erteilung seines Be-{12}fehls an den Angeklagten C. nicht von einem Tier ausging, ergibt sich schon daraus, daß es in diesem Falle eines Befehls zum Handeln nach dem Grenzsicherungsbefehl ebensowenig bedurft hätte wie der vorsorglichen Anforderung eines Sanitätskraftwagens. Die Feststellungen zu dem unter den Grenzposten bekannten Schießverhalten der Maschinenpistole Kalaschnikow AK 47 beruhen auf der Aussage des bisher bereits mit 12 bis 13 ähnlich gelagerten Ermittlungsverfahren beauftragt gewesenen und deshalb sachkundigen Zeugen Pr., die der Zeuge S. als ehemaliger Grenzsoldat inhaltlich bestätigt hat. Hinsichtlich der Verletzung des Kühn und ihrer Folgen hat die Kammer sich auf die überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. Bundschuh gestützt, der den Kühn obduziert hatte. Der Sachverständige hat keinen Zweifel daran gelassen, daß der Tod des Kühn auf der Schußverletzung, keinesfalls aber auf einem ärztlichen Kunstfehler beruhte. Die beiden medizinischen Sachverständigen und sachverständigen Zeugen Dr. Porsche und Dr. Schillat konnten dagegen zur weiteren Aufklärung nicht beitragen. Weitere Aufklärungsmöglichkeit bestand nicht. Der die Ermittlungen leitende Kriminalbeamte Pr. hat noch kurz vor der Hauptverhandlung das Militärarchiv in Potsdam und die Daten der früheren Zentralen Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter ergebnislos abgefragt und glaubhaft bekundet, er wäre im Fall zwischenzeitlich bekanntgewordener neuer Erkenntnisse von der Zentralen Ermittlungsstelle fur Regierungs- und Vereinigungskriminalität benachrichtigt worden; dies sei {13} aber nicht der Fall gewesen.

IV. [Rechtliche

Würdigung]

Nach den getroffenen Feststellungen haben sich die drei Angeklagten wie erkannt strafbar gemacht.

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Auf die Angeklagten war gemäß Artikel 315 Abs. 1 EGStGB i.d.F. der Anlage I, Kapitel III, Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1 b) des Einigungsvertrages i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anzuwenden, da die Tat der Angeklagten zur Tatzeit zwar auch nach dem Recht der ehemaligen DDR aufgrund der §§ 212, 213 RStGB 1871 i.d.F. des StEG 1957 mit Strafe bedroht war, im Hinblick auf den Strafrahmen des § 213 StGB das Recht der Bundesrepublik Deutschland für die Angeklagten jedoch die günstigste Beurteilung zuläßt. Es besteht kein Strafverfolgungshindernis, insbesondere ist die Tat nicht verjährt. Denn nach dem Willen der Staats- und Parteiführung der DDR wurde, was allgemeinkundig ist und auch in diesem Fall bestätigt wird, ein Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze durch Angehörige der Grenztruppen, mit dem ein Fluchtversuch verhindert werden sollte, generell nicht geahndet. Diese Staatspraxis ist mit wesentlichen Grund-{14}sätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar und hatte die Wirkung eines gesetzlichen Verfolgungshindernisses (vgl. BGH MDR 1994, 704 ff., 705 m.w.N.). Der Angeklagte J. hat den Flüchtling Erich Kühn getötet, ohne Mörder zu sein (§212 Abs. 1 StGB). Er handelte vorsätzlich, da er bei Vornahme der tatbestandlichen Verhaltensweise (Abgabe der Schüsse) die naheliegende Möglichkeit des Erfolgseintritts (Tötung eines Menschen) erkannt und sich damit in billigender Weise abgefunden hatte, wobei sich diese Billigung, die der Angeklagte selbst nicht in Abrede stellt, auch daraus ergibt, daß er es trotz der besonderen Gefährlichkeit des Feuerns mit einer Maschinenpistole auf einen Menschen dem Zufall überlassen hatte, ob die abgegebenen Schüsse tödliche Wirkung haben oder nicht (vgl. BGH NStZ 1984, 19). Der Angeklagte J. handelte auch rechtswidrig. Die zur Tatzeit geltenden, u.a. den Schußwaffengebrauch regelnden Dienstvorschriften (DV-30/10 „Vorschrift über die Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie" Ausgabe 1964; DV-30/11 „Vorschrift über die Organisation und Führung der Grenzsicherung im Grenzregiment und Grenzbataillon", in Kraft getreten am 1. Dezember 1964; DV-30/9 „Vorschrift für den Grenzpostendienst", in Kraft getreten am 1. August 1963; verschiedene Befehle und Anweisungen des Innenministers der DDR) rechtfertigten sein Handeln nicht. Selbst wenn diese Schußwaffengebrauchsbestimmungen in der damaligen Staatspraxis {15} der DDR dergestalt ausgelegt worden sein sollten, daß das Handeln des Angeklagten gerechtfertigt sei, so wäre dies unbeachtlich, denn zur Tatzeit stellte jedenfalls die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 eine Konkretisierung dessen dar, was als die allen Völkern gemeinsame, auf Wert und Würde des Menschen bezogene Rechtsüberzeugung verstanden wird. Ein der Staatspraxis entsprechender Rechtfertigungsgrund, der die vorsätzliche Tötung eines Menschen deckte, der nichts weiter wollte, als unbewaffnet und ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten, ist deshalb wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam (vgl. BGH - 5 StR 167/94-vom 26. Juli 1994, S. 11 f., 17, 192). Zu dieser rechtswidrigen Tat gemäß § 212 Abs. 1 StGB hat der Angeklagte C. den Angeklagten J. im Sinne von § 26 StGB bestimmt, indem er in diesem den Entschluß zur Abgabe gezielter Schüsse hervorrief. Diese Anstiftung erfolgte vorsätzlich, da der

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Erteilung von Befehlen im konkreten Fall - Fall Kühn

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Angeklagte C. bei Vornahme der tatbestandlichen Verhaltensweise (Erteilung des Befehls an den Angeklagten J.) die naheliegende Möglichkeit der Tötung eine Flüchtlings erkannt, sich damit aber billigend abgefunden hatte, zumal auch er um die möglicherweise tödliche Folge eines Einsatzes der Maschinenpistole Kalaschnikow wußte und es dem Zufall überlassen hatte, ob der Schußwaffen-{16}einsatz den Tod eines Menschen verursacht. Auch der Angeklagte C. handelte rechtswidrig, insbesondere war die Befehlserteilung nicht durch die tatzeitlichen Schußwaffengebrauchsbestimmungen der DDR gerechtfertigt, wobei das bereits Ausgeführte gilt. Der Angeklagte Böhme hat seinerseits den Angeklagten C. zu der soeben beschriebenen Anstiftung zum Totschlag bestimmt, indem er ihm in Kenntnis der Örtlichkeiten und des konkreten Fluchtversuchs den Befehl zum Handeln entsprechend dem Grenzsicherungsbefehl gab, worunter letztlich auch der Schußwaffeneinsatz fiel. Hierdurch wurde in dem Angeklagten C. der Entschluß, dem Angeklagten J. den Schußwaffeneinsatz zu befehlen, hervorgerufen, § 26 StGB. Der Angeklagte Böhme handelte aus den bereits genannten Gründen ebenfalls rechtswidrig. Alle drei Angeklagten handelten auch schuldhaft. Eine § 5 Abs. 1 WStG von 1957 entsprechende Vorschrift existierte in der DDR zur Tatzeit nicht; der inhaltlich vergleichbare § 258 StGB/DDR3 trat erst 1968 in Kraft. Aber auch nach § 5 Abs. 1 WStG, der zugunsten der Angeklagten entsprechende Anwendung findet, sind diese nicht entschuldigt. Zwar vermochte die Kammer nicht festzustellen, daß die Angeklagten klar erkannt hatten, einen rechtswidrigen Befehl zu befolgen. Es wäre fur sie jedoch bei einigem Nachdenken ohne weiteres einsichtig gewesen, daß sie eine rechtswidrige Tat begehen, wenn {17} sie auf einen Menschen mit bedingtem Tötungsvorsatz schießen, der die DDR verlassen wollte. Denn die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings war unter den gegebenen Umständen ein derart schreckliches und jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogenes Tun, daß der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres offensichtlich war (vgl. BGHSt 39, l 4 ; 34, 168, 1905). Anhaltspunkte, daß die Angeklagten trotz ihres zur Tatzeit vergleichsweise geringen Lebensalters in solcher Weise indoktriniert waren, daß ihnen auch bei einigem Nachdenken die Rechtswidrigkeit einer solchen Handlung nicht klar vor Augen hätte stehen können, ergaben sich nicht. Soweit die Angeklagten glaubten, trotz erkannter oder fahrlässig nicht erkannter Rechtswidrigkeit des Grenzsicherungsbefehls diesen ausführen zu müssen, und deshalb irrtümlich von einer Rechtfertigung ausgingen, handelten sie in einem Verbotsirrtum gemäß § 17 Satz 1 StGB, der allerdings vermeidbar war. Denn bei der offensichtlichen Rechtswidrigkeit dieses Befehls und dem klaren Eingriff in den Kernbereich des Rechts hätten sie bei einigem Nachdenken zu der Überzeugung kommen müssen, daß ein solcher gegen das elementare Tötungsverbot verstoßender Befehl nicht deshalb Unrecht in Recht hatte wandeln können, nur weil er von den Regierenden eines Staates erlassen worden war. Auch ein die Angeklagten entschuldigender Notstand gemäß § 35 StGB bestand nicht. {18}

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V.

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[Strafzumessung]

Auf den zur Tatzeit 20 Jahre und neun Monate alten Angeklagten J. war zu seinen Gunsten gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG das Jugendstrafrecht anzuwenden, da Feststellungen hinsichtlich seines Reifegrades zur Tatzeit nicht mehr getroffen werden konnten. Gegen ihn war gemäß § 17 Abs. 2 JGG Jugendstrafe zu verhängen, da er durch Begehung eines schwerwiegenden Verbrechens der Gewaltkriminalität schwere Schuld auf sich geladen hat. Anhaltspunkte für das Vorliegen schädlicher Neigungen ergaben sich dagegen nicht. Bei der Bemessung der Jugendstrafe war zugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen, daß die Tat fast 30 Jahre zurückliegt und an sich ein minder schwerer Fall des Totschlags im Sinne von § 213 StGB vorliegt, da der Angeklagte aufgrund einer - wenn auch offensichtlich rechtswidrigen - Befehlslage innerhalb einer Hierarchie handelte, an deren unterem Ende er selbst stand. Hinzu kam, daß er mit lediglich bedingtem Vorsatz gehandelt hat. Auch hatte er Hemmungen, seine Maschinenpistole lediglich aufgrund des Grenzsicherungsbefehls gegen einen Menschen einzusetzen, bevor ihm der konkrete Befehl von dem Angeklagten C. erteilt wurde. Die Kammer hat weiterhin zu seinen Gunsten gewertet, daß er bisher nicht bestraft ist, ein ordent-{19}liches Leben führt, die Tat ihm wesensfremd ist und er sie nicht nur bereut, sondern ausweislich seines Erscheinungsbildes in der Hauptverhandlung als schwere seelische Belastung empfindet. Schließlich sprach auch sein umfassendes Geständnis für ihn. Unter Würdigung der Umstände hat die Kammer auf eine einjährige Jugendstrafe als angemessen und erforderlich erkannt. Deren Vollstreckung konnte gemäß § 21 Abs. 1 JGG zur Bewährung ausgesetzt werden, da in Anbetracht der Einmaligkeit der Tatsituation erwartet werden kann, daß sich der bisher nicht bestrafte Angeklagte künftig straffrei und rechtschaffen verhält, ohne daß es des Vollzugs der Strafe bedarf. 2. Bei der Strafzumessung für den Angeklagten C. ist die Kammer von dem Ausnahmestrafrahmen des § 213 StGB ausgegangen, da ein minder schwerer Fall der Anstiftung zum Totschlag vorlag. Dabei war maßgeblich, daß der Angeklagte die Tathandlung aufgrund einer - wenn auch offensichtlich rechtswidrigen - Befehlslage innerhalb einer Hierarchie begangen hat, an deren unterem Ende er selbst stand. Ebenfalls wurde dabei berücksichtigt, daß die Tat fast 30 Jahre zurückliegt, der Angeklagte damals ein noch sehr junger Erwachsener war und vor Empfang des konkreten Befehls durch den Angeklagten Böhme Skrupel hatte, entsprechend dem Grenzsicherungsbefehl zu handeln. Auch war für die Anwendung des {20} Ausnahmestrafrahmens von Bedeutung, daß es sich bei der Tat um ein Ausnahmegeschehen, das sich nicht wiederholen wird, handelte. Bei der Bemessung der Strafhöhe sprach neben den bereits genannten mildernden Umständen und seiner bisherigen Unbestraftheit weiterhin für den Angeklagten, daß er lediglich mit bedingtem Vorsatz handelte, jedenfalls den äußeren Geschehensablauf eingeräumt hat, ersichtlich unter dem Wissen um die Tat leidet und diese bereut. Hinzu kam, daß die Tat ihm wesensfremd ist und er ein ordentliches Leben führt. Bei zusammenfassender Würdigung erschien eine einjährige Freiheitsstrafe schuldangemessen. Die Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe konnte zur Bewährung ausgesetzt werden. Der Angeklagte ist bisher nicht bestraft, und die Tat stellt sich als Ausnahmegeschehen

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dar, so daß zu erwarten ist, daß er auch ohne Strafvollstreckung künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel fuhren wird, § 56 Abs. 1 StGB. Auch die Verteidigung der Rechtsordnung gebot keine andere Entscheidung, § 56 Abs. 3 StGB. 3. Bei dem Angeklagten Böhme hat die Kammer der Strafzumessung den Strafrahmen des § 213 StGB zugrundegelegt. Für die Annahme eines minder schweren Falles der Anstiftung zum Totschlag sprach, daß die Tat fast 30 Jahre zurückliegt und der Angeklagte zur Tatzeit ein vergleichsweise junger Erwachsener war, sich die Tat selbst als ein einmaliges Ausnahmegeschehen darstellt und der Angeklagte lediglich mit {21} bedingtem Vorsatz gehandelt hat. Auch war maßgeblich, daß der Angeklagte zwar als Zugführer im Range eines Unterleutnants Befehlsgeber war, jedoch seinerseits in eine Befehlsstruktur eingebunden war, auf deren maßgebliche Inhalte er nicht mehr Einfluß hatte als ein einfacher Grenzsoldat (vgl. BGH, Beschluß vom 7. Februar 1995 - 5 StR 650/94 - , Seite 9). Bei der Bemessung der Strafhöhe wirkten sich neben den bereits genannten Umständen außerdem seine bisherige Unbestraftheit sowie sein Geständnis jedenfalls hinsichtlich des äußeren Tatgeschehens zugunsten des Angeklagten aus. Schließlich bereut auch er - auf seine Art - die Tat, die ihm im übrigen auch wesensfremd ist. Außerdem fuhrt der Angeklagte ein ordentliches Leben. Bei Würdigung aller Umstände erschien eine einjährige Freiheitsstrafe schuldangemessen. Deren Vollstreckung konnte zur Bewährung ausgesetzt werden, da die Einmaligkeit der Tatsituation und die Unbestraftheit des Angeklagten erwarten ließen, daß er auch ohne Strafvollstreckung künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel fuhren wird, § 56 Abs. 1 StGB. Auch die Verteidigung der Rechtsordnung gebot die Strafvollstreckung nicht, § 56 Abs. 3 StGB. {22}

Anmerkungen 1

2 3 4 5

Gürnth wurde vom Landgericht Berlin durch Urteil vom 9.9.1999 - Az. (531) 27 Js 82/97 - Ks (4/98) - wegen Totschlags in vier Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Vgl. lfd. Nr. 3-2. Vgl. Anhang S. 969. Vgl. lfd. Nr. 2-2. Vgl. lfd. Nr. 1-2.

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Lfd. Nr. 13-4

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Inhaltsverzeichnis Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs vom 24.4.1996, Αζ. 5 StR 322/95 Gründe

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I.

[Das Urteil der Strafkammer]

473

II.

[Zu den Sachrügen]

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Anmerkungen

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Bundesgerichtshof Az.: 5 StR 322/95

Lfd. Nr. 13-4

24. April 1996

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen 1. Herbert Werner C., geboren 1938, 2.

Peter Fritz Böhme, geboren 1940,

wegen Anstiftung zum Totschlag {2} Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Sitzungen vom 18. und 24. April 1996, an denen teilgenommen haben: ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® {3} in der Sitzung vom 24. April 1996 für Recht erkannt: Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 24. Februar 1995 werden verworfen. Die Angeklagten haben die Kosten ihrer Revisionen zu tragen. - Von Rechts wegen Gründe Das Landgericht hat die Beschwerdeführer C. und Böhme wegen Anstiftung zum Totschlag jeweils zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Der Angeklagte J., der keine Revision eingelegt hat, ist wegen Totschlages zu einer Jugendstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Das Landgericht hat die Vollstreckung sämtlicher Strafen zur Bewährung ausgesetzt. Die Revisionen der Beschwerdeführer bleiben ohne Erfolg. {4}

I.

[Das Urteil der Strafkammer]

® Es folgt eine Darstellung der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen. ®

II. [Zu den Sachrügen] Die Revisionen sind nicht begründet. 1. Ein Verfahrenshindernis besteht nicht. a) Ein solches Hindernis kann nicht aus den Bestimmungen des Einigungsvertrages hergeleitet werden (BGHSt 39, 1, 5 f.1; 39, 168, 174 ff. 2 ). {9} 473

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b) Die Strafverfolgung ist bei Taten dieser Art, weil die Verjährung in der DDR geruht hat, nicht veqährt. Das hat der Bundesgerichtshof wiederholt dargelegt (vgl. u.a. BGHSt 40, 48, 55 ff. 3 ; 113, 115 ff. 4 ; BGH NJW 1995, 2728 f.; 2732 f.*; BGH Urteil vom 4. März 1 9 9 6 - 5 StR 494/95 - , zum Abdruck in BGHSt vorgesehen 6 ). c) Der Senat hat bereits eingehend dargelegt, daß die in der DDR erlassenen Amnestien nicht der Strafverfolgung entgegenstehen, soweit die Strafverfolgungsbehörden der DDR bis zum Abschluß der jeweiligen Amnestie kein Ermittlungsverfahren eingeleitet haben (BGHSt 39, 353, 358 ff. 7 ; vgl. auch BGH NJW 1995, 3324 - zum Abdruck in BGHSt 41, 247 bestimmt - 8 ). Es liegt nahe, daß es sich ebenso verhält, wenn gemäß § 96 StPO-DDR von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abgesehen worden ist; doch kommt es hierauf nicht an, weil nichts dafür ersichtlich ist, daß auch nur eine Prüfung von Anzeigen oder Mitteilungen im Sinne des § 96 StPO-DDR stattgefunden hat. d) Die Revisionsbegründungen geben dem Senat keinen Anlaß, von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Frage der Verfahrenshindernisse abzuweichen; das gilt auch fur neuere Ausführungen zur Amnestiefrage in der Literatur (Bohnert JR 1994, 259; Miehe in Festschrift fur Wolfgang Gitter, 1995, S. 647, 648 f.). {10} Mit den nachrichtendienstlichen Straftaten, auf die sich der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Mai 1995 (BVerfGE 92, 277) bezieht, können Verbrechen gegen das Leben nicht gleichgesetzt werden; deswegen kann das dort entwickelte Verfahrenshindernis - entgegen der Ansicht der Revision des Angeklagten C. - nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden. 2. Das Urteil hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand, a) Das festgestellte Verhalten der Beschwerdeführer ist zutreffend als - im Hinblick auf den Todeserfolg bedingt vorsätzliche - Anstiftung zum Totschlag aufgefaßt worden; dabei macht es keinen Unterschied, ob die Merkmale des zur Tatzeit geltenden § 48 RStGB, des § 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR oder des § 26 StGB zugrundegelegt werden. aa) Sowohl J. als auch C. hatten zunächst Skrupel, die Schußwaffe einzusetzen. Demnach ist C. erst durch die telefonische Äußerung des B. veranlaßt worden, dem J. das Schießen zu befehlen; und J. ist erst durch diesen Befehl des C. zum Gebrauch der Schußwaffe bewegt worden. Das Verhalten beider Beschwerdeführer stellte sich hiernach als ein Bestimmen im Sinne der genannten Vorschriften dar; es handelte sich nicht nur um die Bekräftigung einer ohnehin bestehenden Tatbereitschaft. Der Senat braucht nicht der von der Revision des Angeklagten C. aufgeworfenen Frage nachzugehen, ob als Anstifter zu bestrafen ist, wer nach Art eines Boten lediglich den Befehl weitergibt. Hier hat der Po-{ll}stenführer C. dem ihm unterstellten J. den Befehl zum Schießen erteilt, nachdem B. dem C. befohlen hatte, im Sinne der allgemeinen Befehlslage zu handeln. Dies war ein selbständiges, wenn auch befehlsgebundenes Verhalten des C.; weder die Feststellungen über den Wortlaut des von B. erteilten Befehls noch die sonstigen Umstände lassen die Annahme zu, daß C. einen Befehl des B. ohne eigenen Handlungsspielraum unverändert weitergeben sollte. bb) Daß J. bei Abgabe der Schüsse mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hat, ist den Feststellungen ebenso zu entnehmen wie der Umstand, daß C. den Tod des Flüchtlings als Folge des befohlenen Schußwaffengebrauchs in seinen bedingten Vorsatz aufgenommen hat. Unter den gegebenen Umständen (Lichtverhältnisse, mangelnde Sichtbarkeit des Flüchtlings, Abwesenheit des Zugführers, Vorbehalte sowohl des C. als

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auch des J. gegen den Schußwaffengebrauch) wäre es ersichtlich nicht besonders riskant gewesen, wenn sich C. und J. dahin verständigt hätten, daß zwar geschossen, der Flüchtling aber geschont werden sollte. Das ist nicht geschehen. Vielmehr hat J. ohne Vorsichtsmaßnahmen „gezielt" gerade auf die Stelle geschossen, an der der Flüchtling zuletzt bemerkt worden war; dieses Verhalten war vom Befehl des C. gedeckt. Unter diesen Umständen ist die Annahme des Landgerichts hinreichend belegt, daß C. den Tod des Flüchtlings in seinen bedingten Vorsatz aufgenommen hat. Die Feststellungen dazu, daß es sich ebenso bei B. verhalten hat, sind unter Berücksichtigung der festgestellten Begleitumstände ausreichend: B. kannte die örtlichen Verhältnisse. C. hatte ihn über den „konkreten Fluchtversuch" {12} unterrichtet; der Befehl, C. solle „handeln", wird vom Tatrichter ohne Rechtsverstoß dahin ausgelegt, daß im Sinne der allgemeinen Befehlslage die Überwindung der Sektorengrenze unter allen Umständen, „letztlich" auch mit gezielten Schüssen auf eine Person (UA S. 6, 16), unterbunden werden sollte. Daß B. bei seinem Befehl mit Schüssen auf einen Menschen rechnete, hat der Tatrichter auch einleuchtend damit belegt, daß B. sogleich vorsorglich einen Sanitätskraftwagen angefordert hat. Daß B. sich nicht am Ort des Geschehens befunden hat, steht der Annahme seines bedingten Tötungsvorsatzes nicht entgegen. Gerade weil B. keinen Einfluß auf die Durchführung seines Befehls vor Ort hatte, durfte das Landgericht ohne Rechtsverstoß annehmen, daß sich B. auch mit tödlichen Folgen seiner Befehlserteilung billigend abgefunden hat, indem er der vollständigen Befolgung des allgemeinen Grenzsicherungsbefehls Vorrang vor allen anderen Erwägungen gab. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß B. darauf vertraut hat, C. und J. würden davor zurückschrecken, der Befehlslage in ihrer ganzen, bei der Vergatterung eingeschärften Tragweite zu entsprechen. b) Die von J. abgegebenen Schüsse, von denen einer den Tod des Flüchtlings verursacht hat, und die darauf bezogenen Anstiftungshandlungen der Beschwerdeführer waren durch keinen Rechtfertigungsgrund gedeckt. Der Senat verweist im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit von Schüssen an der innerdeutschen Grenze auf seine Entscheidungen BGHSt 39, 1, 8 ff.; 168, 181 ff.; BGHSt 40, 241 ff. 9 ; NJW 1995, 2728 - zum Abdruck in BGHSt 41, {13} 101 vorgesehen 10 - ; NJW 1995, 2732; Urteil vom 4. März 1996 - 5 StR 494/95 - , zum Abdruck in BGHSt vorgesehen1 '). Der Senat hält auch unter Berücksichtigung der Revisionsschriften sowie neuester Äußerungen in der Literatur (vgl. z.B. Amelung GA 1996, 51; Degenhart in Sachs, GG, 1996, Art. 103 Rdn. 76; H. J. Hirsch, Rechtsstaatliches Strafrecht und staatlich gesteuertes Unrecht, 1996; Miehe in Festschrift für Wolfgang Gitter 1995, S. 647; Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatlich verstärkter Kriminalität, 1996; H.-L. Schreiber ZStrW 107 [1995], 157) an seiner Rechtsauffassung fest. Im Hinblick auf Ausführungen des Tatrichters und der Revisionsführer bemerkt der Senat ergänzend: aa) Die Rechtswidrigkeit ergibt sich entgegen der Auffassung des Tatrichters nicht ohne weiteres daraus, daß zur Tatzeit keine gesetzliche Grundlage für den Schußwaffengebrauch an der Grenze bestanden hat. Vielmehr war mit Rücksicht auf die verfassungsrechtlichen Verhältnisse in der DDR, die durch das Fehlen einer rechtsstaatlichen Gewaltentrennung gekennzeichnet war, zu erwägen, daß die vom Tatrichter genannten zentralen Dienstvorschriften des Ministeriums für Nationale Verteidigung bis zum Erlaß

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des Grenzgesetzes einer gesetzlichen Grundlage für den Schußwaffengebrauch gleichgeachtet wurden. Dabei ist fur die Beurteilung der an der Grenze eingesetzten Soldaten nicht allein auf die Wortfassung der Dienstvorschriften, sondern auf ihre Umsetzung in Befehle auf der unteren Ebene abzustellen. Es mag zutreffen, daß {14} sich in den zentralen Dienstvorschriften des Ministeriums für Nationale Verteidigung der Ausdruck „vernichten" nur auf die Bekämpfung bewaffneter Grenzdurchbrüche bezogen hat (vgl. z.B. Befehl Nr. 76/61 vom 6.10.1961; Nr. 115 der DV-30/10 i.d.F. von 1964; Nr. 204 der DV-30/10 i.d.F. von 1966) und daß hierbei der Schußwaffengebrauch als Mittel zur Ermöglichung der Festnahme gekennzeichnet wurde (DV 30/10 aaO). Der Tatrichter hat indessen zutreffend auf das tatsächliche, durch die Vergatterung und die Instruktionsstunden vermittelte Verständnis der Befehlslage abgestellt. Danach waren Grenzdurchbrüche mit allen Mitteln zu verhindern; konnte der Grenzübertritt nur noch durch gezieltes Schießen auf den Flüchtling unterbunden werden, so waren auch Schüsse mit Tötungsvorsatz befehlsgemäß. Dieser Sachverhalt ist vom Tatrichter ohne Rechtsverstoß festgestellt worden; er ist inzwischen auch gerichtsbekannt. bb) Die Berufung auf allgemeine Rechtsgrundsätze, wie sie auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 Ausdruck gefunden haben, kann im Interesse der Rechtssicherheit nur in extremen Ausnahmefällen einen im Tatzeitrecht vorgesehenen Rechtfertigungsgrund als unbeachtlich erweisen und damit die Geltung des strafrechtlichen Tötungsverbotes bekräftigen (zu den Folgen der Nichtigkeit eines Rechtfertigungsgrundes vgl. BGH NJW 1995, 2728, 2732). Diese Beschränkung, die schon von Radbruch gefordert worden ist (SJZ 1946, 105, 107), ist neuerdings von Miehe (aaO S. 660) betont worden; er bezweifelt, daß die tödlichen Schüsse an der innerdeutschen Grenze als solche extreme {15} Ausnahme angesehen werden können. Der Senat hält indessen daran fest, daß angesichts der besonderen Verhältnisse an dieser Grenze die vorsätzliche Tötung unbewaffneter Flüchtlinge das genannte Kriterium erfüllt. Die besondere Gewichtung der Menschenrechte seit dem Zweiten Weltkrieg, die eine Antwort auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen war, läßt es zu, das Tötungsverbot heute noch stärker zu betonen, als es in den rechtlichen Grundlagen der Nürnberger Prozesse zum Ausdruck gekommen ist (BGH NJW 1995, 2728, 2731 = Abschn. D. II 3c, aa) der zum Abdruck in BGHSt 41, 101 vorgesehenen Entscheidung12). cc) Der Hinweis der Revision des Angeklagten Böhme, daß die innerdeutsche Grenze einschließlich der Sektorengrenze in Berlin keine Verwaltungsgrenze, sondern die Trennlinie hochgerüsteter Militärkoalitionen gewesen sei, hat keine Bedeutung für die Frage, ob mit Tötungsvorsatz abgegebene Schüsse auf unbewaffnete Personen, die die DDR verlassen wollten, strafrechtlich gerechtfertigt sind. Gerade die von der Revision genannte weltpolitische Konstellation gab den beiden deutschen Staaten Anlaß, tödliche Zwischenfälle an der Grenze nach Kräften zu vermeiden. Es mag naheliegen, daß das allgemeine Grenzregime der DDR mit den anderen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktsystems abgestimmt gewesen ist (vgl. auch BGH NJW 1995, 2728, 2730). Für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit ist das indes ohne Bedeutung. Im übrigen hat {16} der Senat keine Anhaltspunkte dafür, daß die Sowjetunion im Besonderen auf diejenige Befehlslage hingewirkt hat, die die vorsätzliche Tötung unbewaffneter Flüchtlinge zum Gegenstand hatte.

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c) Auch die Auffassung des Tatrichters, daß die Beschwerdeführer schuldhaft gehandelt haben, hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand. Ihr Verhalten war nicht deswegen entschuldigt, weil sie einem Befehl folgen wollten. Das Landgericht hat im Ergebnis zutreffend darauf abgestellt, daß die Rechtswidrigkeit der befohlenen Tat nach den Umständen, die den Angeklagten bekannt waren, im Sinne des § 5 Abs. 1 WStG offensichtlich gewesen ist. aa) Allerdings hat § 5 Abs. 1 WStG fur Soldaten der DDR nicht gegolten; die Vorschrift des § 258 Abs. 1 StGB-DDR 13 war zur Tatzeit noch nicht erlassen. Die Ansicht des Tatrichters, § 5 Abs. 1 WStG sei gleichwohl zugunsten der Beschwerdeführer entsprechend anzuwenden, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der in § 5 Abs. 1 WStG bezeichnete Maßstab wäre freilich unanwendbar, wenn das zur Tatzeit in der DDR geltende Recht Befehlen im weiteren Umfang eine entschuldigende Wirkung beigemessen hätte, als es in § 5 Abs. 1 WStG vorgesehen ist. So würde es sich verhalten, wenn ein Befehl nach dem zur Tatzeit geltenden Recht den Befehlsempfänger ohne Einschränkung oder jedenfalls in allen Fällen entschuldigt hätte, in denen er nicht erkannt hat, daß das befohlene Verhalten gegen Strafgesetze verstieß; denn das Landgericht war {17} nicht davon überzeugt, daß die Angeklagten die Rechtswidrigkeit des Befehls klar erkannt haben: Indessen hat es einen so weit gefaßten Entschuldigungsgrund in der DDR nicht gegeben. (1) Zur Tatzeit bestand in der DDR keine gesetzliche Regelung, aus der zu folgern war, unter welchen Voraussetzungen eine auf Befehl begangene rechtswidrige Handlung entschuldigt ist. Das Militärstrafgesetzbuch vom 20. Juni 1872 i.d.F. des Gesetzes vom 10. Oktober 1940 (RGBl. I S. 1347), dessen § 47 die Strafbarkeit des gehorchenden und den Befehl nicht überschreitenden Soldaten auf Fälle beschränkte, in denen ihm bekannt war, daß der Befehl eine Handlung betraf, die ein Verbrechen oder ein Vergehen bezweckte, ist durch Artikel III des Kontrollratsgesetzes Nr. 34 vom 20. August 1946 (Amtsbl. des Kontrollrats S. 172) für ganz Deutschland aufgehoben worden. Das Militärstrafgesetz der DDR vom 24. Januar 1962 (GB1.-DDR I S. 25) berührte nicht die Frage, in welchem Umfang ein Befehl den Untergebenen entschuldigt. Aus § 9 Abs. 4 und § 10 Abs. 3 dieses Gesetzes ergibt sich nur, daß Verweigerung und Nichtausführung eines Befehls als solche straflos bleiben, wenn die Ausführung des Befehls gegen Strafgesetze verstoßen würde. Dasselbe gilt für die vorangegangene Regelung in § 35 des Strafrechtsergänzungsgesetzes vom 11. Dezember 1957 (GB1.-DDR I S. 643). Diese Regelungen betrafen (in Vorwegnahme des späteren § 258 Abs. 3 StGB-DDR) nur die Bestrafung militärischen Ungehorsams, dagegen nicht die strafrechtliche Bewertung der auf Befehl begangenen Handlung. {18} (2) Ein Hinweis auf die hier maßgebliche Problematik findet sich in dem 1957 vom Deutschen Institut für Rechtswissenschaft herausgegebenen Lehrbuch des Strafrechts der DDR, Allgemeiner Teil. Dort heißt es (S. 521): Der Befehlsempfänger sei zu bestrafen, wenn er gewußt habe, daß er mit der Ausführung des Befehls ein Verbrechen verwirklichte. Wenn er eine solche Kenntnis nicht hatte und auch nicht haben mußte, sei sein Handeln gerechtfertigt, möglicherweise nur entschuldigt, „sofern dadurch nicht die anerkannten elementaren Rechtsgrundsätze der Arbeiter- und Bauernmacht, insbesondere die Grundsätze der Verfassung und die Menschenrechte verletzt werden". Ob der

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Untergebene „den verbrecherischen Charakter" der befohlenen Handlung erkennen „mußte oder konnte", sei nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen. Dieser Stellungnahme kann entnommen werden, daß der Befehl das Verhalten des Untergebenen keineswegs generell entschuldigen oder gar rechtfertigen sollte; auch sollte die Bestrafung des Untergebenen wegen der ihm befohlenen Tat nicht in jedem Falle von seiner positiven Kenntnis abhängig sein, daß die Tat gegen das Strafrecht verstieß. Zu Handlungen, mit denen die Menschenrechte verletzt werden, zählt die vorsätzliche, nicht gerechtfertigte Tötung eines Flüchtlings. (3) Der Senat übersieht nicht, daß dem Lehrbuch keine normative Bedeutung zukam. Die zitierte Stelle spiegelt aber ersichtlich eine Entwicklung wieder, die sich in der Nachkriegszeit in beiden {19} Teilen Deutschlands vollzogen hat, nämlich die Abkehr von dem Gedanken, daß der Befehl den Untergebenen von jeder Verantwortung befreit. Dieser Gedanke hatte sich nicht einmal in § 47 des Militärstrafgesetzbuches von 1872 voll durchgesetzt (zur wechselvollen Entstehungsgeschichte der Vorschrift s. Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885 S. 106, 114 f., 119 f.), weswegen der § 47 von Schwinge (MStGB, 6. Aufl. 1944, § 47 Anm. I) als liberale „Verwässerung" der Gehorsamspflicht aus dem „Geist des Liberalismus" getadelt worden ist. Immerhin stellte § 47 des Militärstrafgesetzbuchs von 1872 den Täter, der den strafbaren Zweck des Befehls nicht positiv kannte, von Verantwortung frei (zur Auslegung vgl. BGH LM MilStGB § 47 Nr. 3). Demgegenüber ist durch Artikel II Abs. 4 Buchstabe b des Kontrollratsgesetzes 10 vom 20. Dezember 1945 (Amtsbl. des Kontrollrats S. 50) bestimmt worden, daß der Befehl überhaupt nicht von der Verantwortung für die in diesem Gesetz bezeichneten Straftaten befreie, vielmehr nur strafmildernd berücksichtigt werden könne. Ersichtlich haben die Erfahrungen mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und ihrer Ahndung durch alliierte und deutsche Gerichte in beiden deutschen Staaten schon vor der hier in Rede stehenden Tatzeit zu einer strafrechtlichen Neuorientierung beigetragen, die schließlich in den im wesentlichen übereinstimmenden Vorschriften des § 5 Abs. 1 WStG und des § 258 Abs. 1 StGB-DDR ihren Ausdruck gefunden hat. Diese Neuorientierung besteht in einer Ausdehnung der Verantwortung des Untergebenen. Ein Beleg für die entgegengesetzte {20} These des Verteidigers des Angeklagten Böhme, vor dem Erlaß des StGB-DDR (1968) habe der militärische Befehl ausnahmslos jeden Befehlsempfänger von strafrechtlicher Verantwortung freigestellt, ist nicht ersichtlich. Daß der Fahneneid der DDR-Soldaten den „unbedingten" Gehorsam zum Gegenstand hatte (Erlaß vom 24. Januar 1962 [GB1.-DDR I S. 6, 12] und § 19 des Wehrdienstgesetzes vom 25. März 1982 [GB1.-DDR I S. 221]), und daß § 22 Abs. 3 des Wehrdienstgesetzes vom 25. März 1982 (GBl.-DDR I S. 221) die „widerspruchslose" Durchführung der Befehle vorschrieb (ohne den Zusatz „widerspruchslose" noch die entsprechende Regelung in § 4 der Dienstlaufbahnordnung vom 24. Januar 1962, GB1.DDR I S. 6), ändert daran nichts, weil es sich hier um disziplinarische und nicht um strafrechtliche Regelungen gehandelt hat. Nach allem stellt es keine unzulässige Rückwirkung strengerer Rechtsgrundsätze dar, wenn das Landgericht die Wirkung des Befehls nach denselben Gesichtspunkten beurteilt hat, wie sie in § 5 Abs. 1 WStG und § 258 Abs. 1 StGB-DDR zum Ausdruck gekommen sind. cc) Allerdings ist nicht unbedenklich, daß der Tatrichter im Zusammenhang mit § 5 Abs. 1 WStG an zwei Stellen (UA S. 16, 17) bemerkt hat, die Angeklagten hätten „bei

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Erteilung von Befehlen im konkreten Fall - Fall Kühn

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einigem Nachdenken" zu der Erkenntnis gelangen können, daß die befohlene Handlung rechtswidrig war. „Offensichtlich" im Sinne des § 5 Abs. 1 WStG ist die Rechtswidrigkeit der Tat nur, wenn sie jenseits aller Zweifel liegt; der Soldat hat keine Prüfungspflicht (BGHSt 39, 1, 33 m.w.N.; 39, 168, 189). Die Rechtswidrigkeit muß {21} ohne weiteres Nachdenken einsichtig sein (Schölz/Lingens WStG 3. Aufl., § 5 Rdn. 13). Indessen schließt der Senat trotz der mißverständlichen Fassung der Urteilsgründe aus, daß dieser Maßstab bei der Entscheidung des Tatrichters verkannt worden ist (vgl. UA S. 16, 17: „ohne weiteres einsichtig"; „ohne weiteres offensichtlich"). d) Die Urteilsausführungen zum Verbotsirrtum begegnen keinen rechtlichen Bedenken. Sie stehen im Einklang mit der Senatsrechtsprechung (BGHSt 39, 168, 190 ff.; vgl. auch die zum Abdruck in BGHSt vorgesehene Senatsentscheidung NJW 1995, 3324, 333214). Wie der Senat ausgeführt hat, gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Gerichte der DDR angenommen haben, irrige Vorstellungen über die Rechtswidrigkeit einer Tötungshandlung ständen der Annahme einer vorsätzlichen Tötung entgegen (BGHSt 39, 168, 191). Unter diesen Umständen war die Regelung des § 17 StGB das mildere Recht. Die {22} Auffassung des Tatrichters, die Angeklagten hätten ihren - nicht ausschließbaren - Irrtum über die Rechtswidrigkeit des befohlenen Tuns vermeiden können, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8

9 10 11 12 13 14

Vgl. lfd. Nr. 2-2. Vgl. lfd. Nr. 1-2 Vgl. lfd. Nr. 11-2. Vgl. lfd. Nr. 7-4. Vgl. lfd. Nr. 4-2. Mittlerweile veröffentlicht in BGHSt 42, 65. Vgl. lfd. Nr. 10-2. Mittlerweile ebd. veröffentlicht. Das genannte Urteil erging im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Rechtsbeugung gegen Richter und Staatsanwälte der DDR. Es ist zum Abdruck im Dokumentationsband zur Rechtsbeugung vorgesehen. Vgl. lfd. Nr. 3-2. Mittlerweile ebd. veröffentlicht. Mittlerweile veröffentlicht in BGHSt 42, 65. Mittlerweile ebd. veröffentlicht. Vgl. auch lfd. Nr. 4-2. Vgl. Anhang S. 969. Mittlerweile veröffentlicht in BGHSt 41, 247.

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Lfd. Nr. 14 Erteilung von Befehlen zur Minenverlegung Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Stendal vom 24. Mai 2000, Az. 502 Ks - 654 Js 41887/98 - 9/98

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Dokumente - Teil 2

Inhaltsverzeichnis Erstinstanzliches Urteil des Landgerichts Stendal vom 24. Mai 2000, Az. 502 Ks - 654 Js 41887/98 - 9/98 Gründe

483

A.

[Zusammenfassung der Anklage]

483

B.

[Gerichtliche Feststellungen] I. Zur Person II. [Zum Tatgeschehen und desssen Hintergrund] 1. Vorgeschichte a. [Historischer Kontext] b. [Einsatz von Minen an der Grenze] 2. Zum Tatgeschehen a. [Zu den Handlungen des Angeklagten] 3. Zu den Vorfallen im einzelnen a. [Vorfall am 10. Juli 1982] b. [Vorfall am 7. Februar 1982] c. [Vorfall am 4. September 1983] 4. [Zum Vorsatz des Angeklagten]

484 484 485 485 485 486 488 488 489 489 490 490 490

C.

[Beweiswürdigung] I. [Zur Person] II. [Zum Tatgeschehen und dessen Hintergrund]

492 492 492

D.

[Rechtliche Würdigung]

494

Anmerkungen

482

495

Erteilung von Befehlen zur Minenverlegurig

Landgericht Stendal Az.: 502 Ks - 654 Js 41887/98 - 9/98

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24. Mai 2000

URTEIL Im Namen des Volkes In der Strafsache gegen Anton Eckhard H., geb. 1952 verheiratet, Deutscher wegen Beihilfe zum Totschlag u.a. hat die 2. große Strafkammer des Landgerichts Stendal - Schwurgericht - in der Sitzung vom 24. Mai 2000, an der teilgenommen haben: ® Es folgt die Nennung der Verfahrensbeteiligten. ® {2} für Recht erkannt: Der Angeklagte wird freigesprochen. Die Landeskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe A. [Zusammenfassung der Anklage] Die Staatsanwaltschaft Magdeburg hat dem Angeklagten mit der Anklageschrift vom 18. November 1998 zur Last gelegt, er habe durch drei selbständige Handlungen durch andere handelnd und gemeinschaftlich mit weiteren Angehörigen der Grenztruppen in zwei Fällen Menschen getötet, ohne Mörder zu sein und in einem weiteren Fall eine solche Tat versucht. Er soll zwischen August 1978 und September 1979 an der ehemaligen Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik (im folgenden DDR) und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) im Bereich des Grenzkommandos Nord der Grenztruppen der DDR das Anlegen von Minensperren geleitet haben. Er habe als Zugführer der in Gardelegen seit 1976/77 stationierten Pionierkompanie 25 aufgrund der Befehle vorgesetzter Dienststellen Anlagen 501 mit Splitterminen SM 70 durch die ihm unterstellten Pioniersoldaten errichten lassen und dabei bewußt in Kauf genommen, dass fluchtwillige DDR-Bürger zur Verhinderung sog. „Grenzdurchbrüche" getötet werden könnten. In den Jahren 1982 und 1983 seien in den unter seiner Leitung errichteten Anlagen mit den Nummern 10/23/78 (später 6/23/78), 7/25/78 und 8/6/79 (später 19/6/79) am 10. August 1982 ein unbekannter Mann im Alter von etwa 20 Jahren und am 04. September 1983 Harry Weltzin 1 bei ihren jeweiligen Fluchtversuchen getötet worden; am 07. Februar 1982 sei Günter Niedworok bei einem Fluchtversuch an der rechten Hand schwer verletzt von Angehörigen der Grenztruppen geborgen worden. {3}

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Dokumente - Teil 2

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Mit Beschluss vom 30. März 2000 hatte die Kammer die Anklage mit der Maßgabe zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet, dass der Angeklagte bezüglich der Straftat zum Nachteil Niedworok einer schweren Körperverletzung gem. §§ 224 StGB (i.d. am 03. Oktober 1990 gültigen Fassung), 116 StGB-DDR hinreichend verdächtig sei. In der Hauptverhandlung hat die Kammer gemäß § 265 StPO darauf hingewiesen, dass in den Fällen der Anklage vom 18. November 1998 jeweils auch eine Strafbarkeit wegen Beihilfe gemäß § 27 StGB bzw. §§22 Abs. 2 Nr. 3 StGB-DDR in Betracht kommen könnte, weil der Angeklagte nicht über das Ob und Wie des konkreten Einsatzes, insbesondere der Aktivierung der Minensperren zu entscheiden hatte, also über keinerlei Tatherrschaft verfugte. Die Kammer konnte nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit feststellen, dass der Angeklagte den Tod oder die Verletzung der Geschädigten vorsätzlich herbeifuhren bzw. dazu beitragen wollte.

B. [Gerichtliche I.

Feststellungen]

Zur Person

Der inzwischen 48 Jahre alte, nicht vorbestrafte Angeklagte wuchs bei seinen Eltern, einem Revierförster und einer Forstarbeiterin, in B. und ab 1953 in P. auf. In P. besuchte der Angeklagte von 1958 bis 1968 die Polytechnische Oberschule (POS) und absolvierte anschließend erfolgreich vom Ol. September 1968 bis zum 23. Februar 1971 eine Lehre zum Werkzeugmacher im VEB P.-Werke S. Danach arbeitete er für etwa zwei Monate als Glasereiarbeiter im Stahl- und Walzwerk S. Im Jahr 1971 verzog die Familie wieder nach B., der Angeklagte wurde am 03. Mai 1971 zur NVA eingezogen und verpflichtete sich dort als Berufssoldat{4}/Pionierunteroffizier. In den Grenztruppen der DDR versah er seinen Dienst bis zum 02. Oktober 1990 in verschiedenen Funktionen, zuletzt im Dienstgrad eines Stabsoberfähnrichs. Dabei war für den Entschluss, Berufssoldat zu werden, seine innere Einstellung zum Staatssystem der DDR maßgebend. Seinerzeit empfand er den Sozialismus als eine gerechte Sache, für die es sich einzusetzen lohne. Aus dieser Haltung heraus entschloss er sich, selbst einen Beitrag zur Verteidigung der Grenzen der DDR zu leisten. Vom 03. Mai bis Oktober 1971 besuchte der Angeklagte die Unteroffxziersschule VI in Glöwen. Danach wurde er von Oktober 1971 bis zum 31. März 1976 zur Pionierkompanie 23 in Peckfitz versetzt, wo er als Gruppen- bzw. Zugführer eingesetzt war. Von April 1976 bis April 1981 war der Angeklagte - im Range eines Stabsfeldwebels zunächst stellvertretender Zugführer und später Zugführer der in Gardelegen stationierten Pionierkompanie 25. Diese dem Grenzkommando Nord direkt unterstellte Kompanie hatte die Aufgabe, an der innerdeutschen Grenze im Bereich des Grenzkommandos Nord Anlagen 501 mit Splitterminen SM-70 zu errichten. Von Mai 1981 bis 1989 war der Angeklagte Werkstattleiter im Grenzkommando Nord in Stendal. Danach war der Angeklagte zunächst bis zum 30. September 1991 beim Zentralen Auflösungsstab der ehemaligen Grenztruppen der DDR als Zivilist mit dem Abbau der Grenzsperranlagen befasst. Vom 01. Oktober 1991 bis zum 31. Mai 1996 war er bei es folgen Angaben zu den Arbeitgebern ® insbesondere in diesem Bereich - Minenabbau/Minennachsuche 484

Erteilung von Befehlen zur Minenverlegung

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- tätig. Vom Ol. September 1996 bis zum 28. Februar 1998 war der Angeklagte arbeitslos, seit dem Ol. März 1998 ist er als selbständiger Handelsvertreter für Weine/ Sekt/Reisen tätig und verdient monatlich ca. 2.000,00 DM netto. Der Angeklagte ist verheiratet und hat zwei Kinder im Alter von 23 und 24 Jahren. Seine Ehefrau ist Krankenschwester und im polizeimedizinischen Dienst als Angestellte tätig. {5}

11. [Zum Tatgeschehen und desssen 1.

Vorgeschichte

a.

[Historischer Kontext]

Hintergrund]

Seit der Gründung der DDR im Jahr 1949 bis Mitte des Jahres 1963 flohen etwa 2,5 Millionen DDR-Bürger in die Bundesrepublik Deutschland nach Berlin (West), was in der DDR in einigen Bereichen zu Schwierigkeiten bei der Versorgung der Bevölkerung führte. Große Teile der Bevölkerung waren, wie insbesondere in den Unruhen im Juni 1953 zum Ausdruck kam, mit den Lebensbedingungen in der DDR unzufrieden. Eine große Rolle spielten dabei die gegenüber der Bundesrepublik Deutschland deutlich schlechteren wirtschaftlichen Verhältnisse. Vor diesem Hintergrund und angesichts einer Zuspitzung der weltpolitischen Lage die Gefahr eines Krieges zwischen den damaligen politischen und militärischen Machtblöcken nahm erheblich zu - fanden im Sommer 1961 zwischen dem damaligen ersten Sekretär des ZK der SED, Walter Ulbricht, und Vertretern der UdSSR Gespräche statt, bei denen man überein kam, dass die Grenze zwischen der DDR und der BRD, insbesondere auch die Grenze zu Berlin (West), so zu sichern sei, dass weitere Fluchtbewegungen ausgeschlossen werden. Dieses Vorhaben wurde durch eine Erklärung der Staats- und Parteiführungen der Vertragsstaaten des Warschauer Paktes Anfang August 1961 gebilligt und als „Vorschlag" an die DDR zur „Errichtung eines besonderen Grenzregimes" weitergeleitet. Nach den Vorgaben der Staats- und Parteiführung fasste der Ministerrat der DDR am 12. August 1961 einen im Gesetzblatt der DDR veröffentlichten 2 und am 13. August 1961 in Kraft getretenen Beschluss, in dem die Grundlagen für die besondere Grenzsicherung der DDR zur BRD bzw. zu Berlin (West) festgelegt wurden. Dabei wurde auch bestimmt, dass Bürger der DDR diese Grenzen nur noch mit besonderer Genehmigung passieren dürfen. In {6} Ausführung dieses Beschlusses wurde hier in der Folge das Grenzregime der DDR nach sowjetischem Muster installiert. Die Gestaltung des Grenzregimes erfolgte unter dem bestimmenden Einfluss der Sowjetunion und der anderen Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages, die über die Lage an den Grenzen und über die sich dort ereignenden besonderen Vorkommnisse von den Staatsorganen der DDR informiert wurden. Der pioniermäßige und technische Ausbau der Grenze erfolgte ab dem Jahr 1961 in dem hier interessierenden Bereich der 5. Grenzbrigade bzw. des Grenzkommandos Nord durch den kontinuierlichen Ausbau eines tiefgestaffelten Systems der Grenzsicherung, zu dem auch eine 5 Kilometer breite Sperrzone, u.a. gesichert durch Grenzsignalzäune, Minensperren (zunächst Erdminen, ab 1970/71 sog. „Selbstschussanlagen" vom Typ SM-70) und Soldaten der Grenztruppen gehörte.

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Bis zum Jahr 1961 erfolgte die Grenzsicherung in der DDR durch die dem Ministerium des Inneren unterstellte Grenzpolizei. Die Struktur der Grenzpolizei wurde ebenfalls geändert. Auf Befehl des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates Walter Ulbricht vom 12. September 1961 wurden die Einheiten der Grenzpolizei dem 1956 gegründeten Ministerium für Nationale Verteidigung unterstellt.3 Gleichzeitig wurde als zentrales Führungsorgan das dem Ministerium fur Nationale Verteidigung unterstellte Kommando der Grenztruppen mit dem Chef der Grenztruppen an der Spitze gebildet, dem an der innerdeutschen Grenze sechs Grenzbrigaden mit jeweils drei Grenztruppen4 aufgrund des Befehls Nr. 138/70 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 27. Oktober 1970 umformiert. Anstelle der Grenzbrigaden wurden nun drei Grenzkommandos (Nord - Sitz Stendal - , Mitte - Sitz Berlin - und Süd - Sitz Erfurt - ) eingerichtet, die sich wiederum in Bataillone und Züge untergliederten. Das Grenzkommando Nord hatte die innerdeutsche Grenze von der Ostsee bis zum Südharz zu sichern. {7} Zur Regelung einer einheitlichen Dienstdurchführung, Stabsarbeit, Ausbildung und militärischen Disziplin und Ordnung in den Grenztruppen der DDR wurden vom Minister für Nationale Verteidigung bzw. von dessen Stellvertreter Dienstvorschriften erlassen, die für den Angeklagten und die Angehörigen seines Verbandes verbindlichen Charakter hatten. In diesen Dienstvorschriften wurde letztlich niedergelegt, dass Grenzdurchbrüche - egal von welcher Seite - nicht zuzulassen sind. Ergänzend wurden konkretisierende Anweisungen zunächst für jeweils zwei Ausbildungsjahre später auch jährlich durch Befehle Nr. 101/... des Ministeriums für Nationale Verteidigung erlassen, die auf den nachgeordneten Ebenen des Chefs der Grenztruppen, der Grenzkommandos und der Grenzregimenter umgesetzt wurden. Gegenstand dieser Befehle war die nähere Ausgestaltung des Grenzregimes, wobei ebenfalls hervorgehoben wurde, dass Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen sind. In letzten Konsequenz bedeutete dieses, dass sogenannte Grenzverletzer, wenn sie nicht auf andere Weise gefangen genommen werden konnten, auch durch Schusswaffengebrauch oder durch Einsatz von Minen getötet werden konnten und sollten.

b.

[Einsatz von Minen an der Grenze]

Die Installation der Splitterminen SM-70 ab dem Jahr 1970/1971 erfolgte zunächst durch zusammengesetzte Pioniereinheiten der einzelnen Regimenter. Zur effektiveren Gestaltung dieser Arbeiten in den Bereichen der Grenzkommandos Nord und Süd - im Bereich des Grenzkommandos Mitte in Berlin waren keine Minensperren installiert worden - wurde ab dem Ausbildungsjahr 1976/1977 eine dem jeweiligen Grenzkommando direkt unterstellte (Spezial-)Pionierkompanie mit einer Stärke von ca. 30 Offizieren/Unteroffizieren und 60 Soldaten eingerichtet (Grenzkommando Nord: Pionierkompanie 25; Grenzkommando Süd: Pionierkompanie 27). Diese Pionierkompanien wurden zur Installation der Splitterminen SM-70 der Sperranlagen 501/701 herangezogen. Zu diesem Zweck verfügten sie über einen {8} speziellen „Technischen Zug". Während die Verlegung der Splitterminen SM-70 durch die dem Grenzkommando direkt unterstellte Pionierkompanie erfolgte, wurde die Wartung der installierten Minenanlagen auf der Ebene der Grenzregimenter/Grenzbataillone übernommen. Die Erfüllung der Pionieraufgaben im Bereich des Grenzregiments oblag einem Oberoffizier für den

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Erteilung von Befehlen zur Minenverlegung

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Pionierdienst, dem noch ein Offizier für pioniertechnischen Ausbau unterstellt war. Die Pioniereinheiten des Regiments, insbesondere auch der Grenzbataillone, hatten - soweit es die Sperranlagen 501 betrifft - Instandhaltungs- und Wartungsarbeiten auszuführen. Für die dem Grenzkommando unterstellten (Spezial-)Pionierkompanien war die Arbeit mit der Installation der Minenanlagen erledigt. Die Minen SM-70 waren Teil des Anlagesystems 501 bzw. 701, das über elektronische Einrichtungen mit Strom versorgt wurde und dessen Funktion durch abschnittsweises Ausschalten unterbrochen werden konnte. Dazu heißt es beispielsweise in der DV 018/0/008 „Einsatz der Grenztruppen zur Sicherung der Staatsgrenze - Grenzkompanie" - Ausgabejahr 19745, Abschnitt II, Ziffer 51 : „(1) Die Sperranlagen 501 (nachfolgend Sperranlage) ermöglicht die Signalisation und Dokumentation des Raumes und der Zeit eines versuchten Grenzdurchbruches sowie die Verhinderung eines Grenzdurchbruches im Zusammenhang mit aktiven Handlungen der zum Grenzdienst eingesetzten Einheiten und Grenzposten. (5) Die Schlüssel für den Hauptschalter der Sperranlagen und die Zonenschalter 1 und 2 sind am Standort der Zentrale unter Verschluß in einem Behältnis aufzubewahren. Die Entnahme der Schlüssel und das Ausschalten einzelner Zonen oder gesamten Sperranlage hat nur von den am Anzeigegerät eingesetzten Kräften auf Befehl des Kompaniechefs zu erfolgen: {9} a) bei Störungen der Sperranlage; b) beim Betreten oder bei Arbeiten innerhalb des Gefahrenbereiches; c) bei der Bergung von Personen; d) zur Beseitigung von Tierkadavem; e) bei Instandsetzungs- und Wartungsarbeiten; f) bei extrem schlechtem Wetter und Gewitter it

Die Splitterminen SM-70 waren unverkleidet im Abstand von jeweils circa sechs Metern in drei Reihen vertikal an der östlichen Seite („freundwärts") des letzten Grenzzaunes angebracht. Sie bestanden aus einem kegelförmigen Blechmantel, der durch einen doppelwandigen Trichter verschlossen war und einem Presskörper, der die TNTFüllung und circa 80 kubische Metallsplitter aufnahm. Innerhalb des elektrischen Systems waren die Minen mit Spanndrähten untereinander verbunden. Eine zur Streuung der Splitter über mehrere Meter führende Detonation war durch Druck, Stoß oder Zug an einem der Zünddrähte oder dem Minenkörper direkt auslösbar. Die Splitter konnten aufgrund der hohen Energie, mit der sie sich bei einer Detonation ausbreiteten, bei Menschen schwere - auch tödliche - Verletzungen hervorrufen, wie auch dem Angeklagten bekannt war. Für den Fall einer minenbedingten Verletzung bzw. Tötung eines Menschen war dessen Bergung durch speziell dafür gebildete Alarm- und Bergetrupps im einzelnen geregelt, wobei der entsprechende Anlagenabschnitt zur Sicherung der Bergungskräfte ausgeschaltet werden sollte (z.B.: Abschnitt II, Nr. 56 ff. der DV 018/0/008 „Einsatz der Grenztruppen zur Sicherung der Staatsgrenze - Grenzkompanie" - Ausgabejahr 1974). Zugleich war in den Dienstvorschriften auch das Leisten von „Erster Hilfe unter Ausnutzung von Deckungen oder der vom Gegner nicht einsehbaren Räume" vorgesehen. Das Leisten von Erster Hilfe, das in zahlreichen Vorschriften Eingang fand (z.B.: § 27 Abs. 5 Grenzgesetz/DDR; Ziff. 13 DV 15/11 „Minensperren und {10} Grenztruppen" vom 01.02.1967; Abschnitt II, Nr. 37 f der DV 018/0/008 „Einsatz

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Dokumente - Teil 2

der Grenztruppen zur Sicherung der Staatsgrenze - Grenzkompanie" - Ausgabejahr 1974), war nicht nur für den Fall der minenbedingten Verletzungen, sondern auch im Fälle des Schusswaffeneinsatzes vorgesehen. In dieser Weise wurde in den hier in Rede stehenden Fällen auch verfahren. Den Befehl, welche Abschnitte mit Minen vom Typ SM-70 zu versehen seien, erteilte der Kommandeur des Grenzkommandos Nord. Da das Anlegen der Minen technisch schwierig und gefährlich war, setzte man vorwiegend Grenztruppenangehörige mit einer technischen Berufsausbildung ein. Beim Verminen der Grenze wurden einige Soldaten der Grenztruppen durch ausgelöste Minen verletzt oder getötet, dies war aber während der Tätigkeit des Angeklagten in der Pionierkompanie nicht der Fall.

2.

Zum Tatgeschehen

a.

[Zu den Handlungen des Angeklagten]6

Aufgrund der - in Umsetzung der Jahresbefehle Nrn. 101/77 bzw. 101/78 des Ministers für Nationale Verteidigung, Nrn. 80/77 bzw. 80/78 des Chefs der Grenztruppen und Nrn. 40/77 bzw. 40/78 des Kommandeurs des Grenzkommandos Nord erfolgten - Anordnungen Nr. 30/77 (nicht überliefert) bzw. Nr. 30/78 vom 27. November 1978 des Kommandeurs des Grenzkommandos Nord, in denen jeweils vorgeschrieben wurde, welche Grenzabschnitte zu verminen seien, wurde der Angeklagte in den hier in Rede stehenden Jahren tätig. Er wurde dabei den Kommandeuren der Grenzregimenter, in deren Bereich die Ausbauarbeiten anfielen, mit dem von ihm geführten technischen Zug der Pionierkompanie 25 umunterstellt, d.h. die Festlegung über Ort und Umfang der materiellen Sicherstellung, Unterbringung und Versorgung des Zuges oblag dem jeweiligen Regiment, die Disziplinargewalt und Auftragsüberwachung aber {11} weiterhin dem Chef der Pionierkompanie und damit letztlich dem Grenzkommando Nord direkt. Der Angeklagte als Zugführer des technischen Zuges hatte die Minensperren entsprechend der genannten Anordnung nach Weisung seines Kompaniechefs errichten zu lassen. Dabei oblag ihm die Planung des jeweiligen Vorhabens und deren Umsetzung. Er hatte dabei den Einsatz der ihm unterstellten Unteroffiziere und Soldaten und der benötigten Technik zu organisieren, zu leiten und zu überwachen. Aber auch die Betreuung des Zuges vor und nach der Arbeit und die Erfüllung allgemeiner militärischer Aufgaben der Organisation des Innendienstes des Zuges vor Ort fiel in seinen Aufgabenbereich. Die vorstehend genannten Aufgaben erfüllte der Angeklagte auch im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Minenanlagen 10/23/78, 7/25/78 und 8/6/79. Das Anlegen der Minensperren erfolgte dabei entsprechend den insoweit maßgeblichen Dienstvorschriften, Befehle und Anordnungen (vgl. nur DV 018/0/011 (Minensperren der Grenztruppen) - Ausgabejahr 1978 - des Chefs der Grenztruppen) und war in Minenfeldformularen zu dokumentieren. Den Formularen konnte entnommen werden, wer an der Errichtung der Minensperre beteiligt war. Von der jeweiligen Pionierkompanie wurde jedoch nur der Zugführer, hier der Angeklagte, aufgeführt. Im übrigen waren die Kommandeure der Grenzregimenter und die Kommandeure oder Stabschefs der Grenzkompanien sowie der Oberoffizier Pionierdienst als Beteiligte benannt. Das

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Erteilung von Befehlen zur Minenverlegung

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Formular enthielt femer die Angabe, aufgrund welchen Befehls die Anlage angelegt wurde sowie vorgedruckt unter Ziffer 3. auf der ersten Seite die Worte: „Die Minen wurden geschärft und verlegt." Daran anschließend ist für die hier entsprechenden Formulare maschinenschriftlich jeweils der Name des Angeklagten {12} eingetragen. Dabei bezieht sich die Angabe der Person des Angeklagten nur auf das Verlegen, ein Schärfen der SM-70-Minenanlage war nicht mehr erforderlich, weil sie stets dann „scharf' war, wenn die Stromzufuhr eingeschaltet wurde. Für das An- und Abschalten der Minenanlage war der Angeklagte jedoch nicht zuständig; dieses oblag dem jeweiligen Kommandeur des Grenzregiments, der insoweit auf Befehl des Kommandeurs des Grenzkommandos Nord handelte. Das Formular verwendete den Begriff „geschärft" nur, weil es ursprünglich für die in den 60er Jahren verlegten Erdminen konzipiert war, die nicht elektrisch betrieben wurden, sondern während der Installation geschärft wurden und grundsätzlich so lange in diesem Zustand blieben, bis sie ausgelöst wurden. Den veränderten technischen Bedingungen der SM-70-Anlagen wurde das Formular nicht angepasst. Ferner beurteilte der Angeklagte in einem „Abnahme-Prüf-Protokoll" zur Übernahme der Anlage den technischen Zustand der Anlage. Dieses Formular haben jeweils der Angeklagte als Zugführer und der jeweilige Oberoffizier Pionierdienst unterschrieben. 3. Zu den Vorfällen im einzelnen7 a.

[Vorfall am 10. Juli 1982]

Vom 07. bis zum 12. August 1978 leitete der Angeklagte das Anlegen der SM-70Anlage Nr. 10/23/78 im Sicherungsabschnitt Nr. 3 des 23. Grenzregiments westlich des Ortes Breitenrode und nordwestlich des Ortes Grafhorst, Kreis Klötze. Dabei wurden 650 SM-70-Minen ordnungsgemäß installiert und die Arbeiten in dem Formular des Minenfeldes nebst Kartenausschnitt und Abnahmeprüfprotokoll vom 11. August 1978 bzw. 14. September 1978 dokumentiert. Im Nachhinein wurde dieser Abschnitt in 6/23/78 umbenannt. {13} Am 10. Juli 1982 versuchte ein etwa 20jähriger Mann, dessen Identität nicht geklärt werden konnte, diese Sperranlage von Ost nach West zu überwinden. Er näherte sich am frühen Morgen des 10. Juli 1982 mit einem Fahrrad der Grenze, ließ dieses ca. 500 m westlich von Breitenrode ausserhalb des Schutzstreifens zurück, ging zu Fuß weiter und überstieg zunächst den Grenzsignalzaun. Bei dem anschließenden Versuch, den Grenzzaun I zu überwinden, detonierten 8 Splitterminen SM-70, wodurch der Mann schwere Verletzungen im Bereich des Rumpfs und der beiden unteren Gliedmaßen erlitt und kurz darauf während des Abtransports an den Verletzungsfolgen starb. Der Vertragsarzt stellte um 05.11 Uhr den Tod durch Verbluten fest. Der Geschädigte trug keine Ausweispapiere bei sich. Anhand der von ihm getragenen Kleidungsstücke vermuteten die seinerzeit zuständigen Ermittlungsbehörden, es habe sich bei ihm um einen polnischen Staatsbürger gehandelt. Die Identität des Mannes konnte nicht geklärt werden.

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b.

Dokumente - Teil 2

[Vorfall am 7. Februar 1982]

Vom 02. bis zum 05. Oktober 1978 leitete der Angeklagte das Anlegen der Sicherungsanlage SM-70 Nr. 7/25/78. Die Durchführung der Arbeiten und ihre Abnahme als ordnungsgemäß wurde in dem betreffenden Minenfeldformular nebst Karte und Abnahmeprüfprotokoll vom 07. Oktober 1978 und dem Übergabeprotokoll vom selben Tag dokumentiert. In der Nacht zum 07. Februar 1982 erlitt der 1947 in D. geborene Günter Niedworok Verletzungen bei dem Versuch, diese Anlage im Bereich der Grenzsäule 819 südlich des Ortes Ohrsleben im Kreis Oschersleben in Richtung Jerxheim zu überwinden. Er wußte, auf welche Weise an dem Grenzzaun die Splitterminen SM-70 installiert waren, hoffte aber, er könne in der Dunkelheit den Grenzzaun im Bereich eines Pfostens überklettern, ohne die Auslösedrähte der Splitterminen zu berühren; dies gelang ihm jedoch nicht. Er löste eine Mine aus; {14} durch die Detonation erlitt er insbesondere Splitterverletzungen an beiden Händen sowie am linken Unterarm; kurz darauf wurde er von Angehörigen der DDR-Grenztruppen festgenommen. In einer nachfolgenden Operation im Zentrum für Chirurgie des Klinikums Magdeburg mussten Günter Niedworok der kleine Finger und der Ringfinger der rechten Hand amputiert werden.

c.

[Vorfall am 4. September 1983]

Schließlich leitete der Angeklagte im September 1979 das Anlegen der SM-70-Anlage 8/6/79 in zwei Zonen mit je 324 Minen im Sicherungsabschnitt Nr. 8 des 6. Grenzregiments westlich der Ortschaften Kneese und Bemstorf/Kreis Hagenow. Die Anlage wurde später in 19/6/79 umbenannt. Die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeiten und die Übergabe der Anlage wurde in dem Minenfeldformular nebst Karte und Abnahmeprüfprotokoll vom 20. September 1979 und dem Übergabeprotokoll vom 21. September 1979 bestätigt. Im Bereich dieser Anlage kam es zu folgendem Vorfall: Am 04. September 1983 versuchte der 1955 geborene Harry Weltzin, in die BRD zu fliehen. Etwa 130 m westlich des Südausgangs von Kneese gelang es ihm, den noch im Bau befindlichen und daher noch nicht funktionierenden Grenzsignalzaun zu überwinden. Dann näherte er sich dem Grenzzaun I mit der SM-70-Anlage. 140 m südlich der Grenzsäule 146 begann er, den Zaun mit einem mitgeführten Campingspaten zu untergraben. Als er ein Loch von etwa 70 cm Tiefe, 75 cm Länge und 40 cm Breite gegraben hatte, löste er gegen 04.36 Uhr zwei Splitterminen aus dem unteren Bereich des Grenzzauns aus. Durch zahlreiche Metallsplitter erlitt er insbesondere Hirnverletzungen sowie eine Verletzung der Lunge und der Leber. An den Folgen dieser schweren Verletzungen verstarb er kurze Zeit später; in der Führungsstelle der Kompanie, wohin man ihn {15} transportiert hatte, konnte nur noch sein Tod festgestellt werden.

4.

[Zum Vorsatz des Angeklagten]8

Der Angeklagte hat bei der von ihm überwachten Installation der vorstehend genannten Anlagen nicht in Kauf genommen, dass durch deren spätere Aktivierung die unter 2. genannten Personen verletzt bzw. getötet wurden. Die Vorfälle - die er selbst bedauert -

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Erteilung von Befehlen zur Mirienverlegung

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sind ihm erst im Zusammenhang mit dem vorliegenden Strafverfahren bekannt geworden. Aufgrund seiner bereits unter B.I. genannten Überzeugung, die durch die Indoktrination während seiner Unteroffiziersausbildung und seines späteren Diensts bei verschiedenen Truppenteilen verfestigt wurde, war der Angeklagte damals überzeugt, dass es der DDR „wie jedem anderen Land" offenstehe, ihre Grenzen militärisch zu sichern, und zwar auch durch pioniertechnische Anlagen unter Einsatz von Landminen. Internationale Kritik am Grenzsicherungssystem der DDR war ihm damals nicht bekannt geworden. In den Medien der DDR wurde solche nicht angesprochen; als linientreuer Soldat hielt er sich an das Verbot, „Westfernsehen" zu schauen oder Rundfunksender des „Westens" zu hören. Er hatte auch keinen Kontakt zu Bürgern der BRD, insbesondere hatte er dort keine Verwandten. Über die Grenzsicherungsanlagen an sich und deren Erforderlichkeit wurde im Freundes- und Bekanntenkreis des Angeklagten, der sich im Wesentlichen auch aus Angehörigen der Grenztruppen zusammensetzte, nicht diskutiert. Kritische Äußerungen zum Grenzsystem der DDR erfolgten hier nicht, es wurde auch nicht über Fluchtversuche von DDR-Bürgern gesprochen. Der Angeklagte hielt sich hier in einem geschlossenen Umfeld auf, in dem die Überzeugung von der Notwendigkeit der innerdeutschen Grenze und ihrer Absicherung damals nicht in Zweifel gezogen wurde. {16} Der Angeklagte wusste, dass es auch in der DDR Personen gab, die mit den dortigen Verhältnissen - anders als er selbst - unzufrieden waren und in die BRD übersiedeln wollten. Ihm war bekannt, dass Ausreisewilllige einen entsprechenden Antrag stellen konnten. Einzelheiten hierzu, insbesondere die restriktive Praxis bei der Behandlung dieser Anträge, kannte er nicht. Er ging davon aus, dass Personen, die auf andere Weise - d.h. über die militärisch gesicherte Grenze - die DDR verlassen wollten, besondere Gründe dafür haben müßten; insbesondere zog er hier in Betracht, dass es sich um Straftäter oder Spione handeln könnte, für die eine „normale" Ausreise aussichtslos schien. Dass „Normalbürger" eine Flucht auf diesem Weg angesichts der Gefahren, die mit einem solchen Unterfangen angesichts der Grenzsicherung verbunden waren, versuchen könnten, erschien ihm undenkbar. Der Angeklagte war davon überzeugt, die Anlagen 501/701, die mit Splitterminen SM-70 ausgestattet waren, würden alle fluchtwilligen Personen, die trotz der strengen und engmaschigen Kontrollen im Grenzgebiet bis zu dieser Stelle vordringen würden, von einer weiteren Flucht abhalten. Er wußte um die Wirkungsweise und die möglichen Folgen einer Minenauslösung. Diese Kenntnisse waren für ihn schon deshalb nötig, um bei der Installation der Minen Unfälle verhindern zu können. Aufgrund seiner Kenntnis der Absicherung des Grenzvorfeldes, der Gefährlichkeit der Minen, aber auch ihrer Kennzeichnung (Schilder „Achtung Minen! Betreten verboten! Lebensgefahr!") war es fur den Angeklagten nicht vorstellbar, dass jemand in Kenntnis dieser Sachlage versuchen könnte, dieses Hindernis zu überwinden. Aus seiner Sicht dienten die Minen - als letztes Mittel - der Abschreckung von potentiellen „Grenzverletzern" und dem taktischen Zweck, solche, die sich bis dahin vorwagen sollten, aufzuhalten, in die gewünschte Richtung zu drängen und somit ihre Festnahme durch Grenzsoldaten zu ermöglichen. {17}

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C. I.

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[Beweiswürdigung] [Zur Person]

Die unter B.I. getroffenen Feststellungen beruhen auf der glaubhaften Einlassung des Angeklagten und dem in der Hauptverhandlung verlesenen Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 11. April 2000. II. [Zum Tatgeschehen und dessen Hintergrund] Die unter B.II, getroffenen Feststellungen beruhen hinsichtlich des Grenzregimes im allgemeinen und bezogen auf die Installation und Wartung bzw. Instandhaltung der Anlagen 501/701 (mit Splitterminen SM-70) sowie die diesbezügliche Tätigkeit des Angeklagten zunächst auf seiner insoweit glaubhaften Einlassung, die auch durch im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführte Urkunden, insbesondere Dienstvorschriften Befehle und Anordnungen aus dem Bereich der Grenztruppen der DDR, sowie in der Hauptverhandlung in Augenschein genommene Skizzen bestätigt und ergänzt wurde. Im übrigen sind die näheren Umstände des Grenzregimes und der Ausreisepraxis der Kammer aus mehreren anderen Strafverfahren gegen Angehörige der Grenztruppen der DDR bekannt und im übrigen auch allgemeinkundig. Die Feststellungen zu den Arbeiten des Angeklagten bei der Errichtung der hier maßgeblichen Minenanlagen beruhen zunächst auf seiner insoweit glaubhaften Einlassung und den insoweit ausweislich des Sitzungsprotokolls verlesenen Urkunden, insbesondere den Minenfeldformularen nebst Karten und Abnahmeprüfprotokollen sowie Übergabeprotokollen, deren Richtigkeit der Angeklagte bestätigt hat. Bezüglich der einzelnen Vorfälle beruhen die getroffenen Feststellungen auf den insoweit im Selbstleseverfahren in die {18} Hauptverhandlung eingeführten Urkunden, an deren inhaltlicher Richtigkeit die Kammer keinen Zweifel hat und die auch der Angeklagte nicht in Abrede genommen hat. Bezüglich des Einzelfalls Niedworok sind die näheren Umstände, wie sie sich aus den eingeführten Dokumenten ergeben, der Kammer auch aus einem - auch insoweit zum Teil rechtskräftigen - Urteil der Kammer in einem anderen Verfahren gegen Angehörige der Grenztruppen (LG Stendal, Urteil vom 07. März 2000 (Geschäfts-Nr. 502 Ks 33 Js 27976/95 - 16/95)9), in dem auch der Geschädigte als Zeuge vernommen wurde, bekannt. Bezüglich der inneren Tatseite beruhen die Feststellungen auf der auch insoweit glaubhaften Einlassung des Angeklagten H., der diese so, wie unter B.II.4.10 dargestellt hat. Diese Einlassung des Angeklagten ist ihm nicht zur Überzeugung der Kammer zu widerlegen. Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung im Einzelnen Angaben zu seinem Lebensweg und insbesondere auch zu seinem Dienst in den Grenztruppen der DDR gemacht. Dabei entstand für die Kammer hier zu keinem Zeitpunkt der Eindruck, dass er hierbei versucht hat, seine Tätigkeit zu verschleiern oder in einem für ihn günstigeren Licht erscheinen zu lassen. Er hat dabei auch die besondere Aufgabenstellung der dem Grenzkommando Nord direkt unterstellten Pionierkompanie 25 so geschildert, wie sie

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sich auch aus den einschlägigen Befehlen bzw. Anordnungen aus dem Bereich der Grenztruppen, insbesondere auch der Anordnung Nr. 27/76 des Chefs der Grenztruppen vom 16. Oktober 1976 und dem Referat des Chefs Pionierwesen über die Aufgaben der Abteilung Pionierwesen im Ausbildungsjahr 1976/77 vom Ol. November 1976, ergibt bzw. der Kammer auch aus anderen Strafverfahren bekannt ist. Danach war diese Pionierkompanie für die Installation von Anlagen mit Splitterminen SM-70 zuständig, während deren Wartung und Instandhaltung - die angesichts des Umstandes, dass die Anlagen zuvor abgeschaltet werden konnten, relativ ungefährlich war - von Pioniereinheiten der Grenzregimenter bzw. der diesen {19} nachgeordneten Grenzbataillone oblag. Vor dem Hintergrund dieser Aufgabenstellung ist es auch ohne weiteres plausibel, wenn der Angeklagte angibt, er habe von den hier in Rede stehenden Grenzzwischenfällen, die sich im übrigen jeweils mehr als drei Jahre nach der Installation der jeweiligen Anlagen ereigneten, erst im Zusammenhang mit dem vorliegenden Strafverfahren Kenntnis erlangt. Denn anders als in von der Kammer verhandelten Strafverfahren gegen Stabsoffiziere im Grenzkommando- bzw. Grenzregimentsebene ist auch nicht ersichtlich, warum der Angeklagte hiervon hätte informiert werden sollen. Im übrigen war er im Grenzbereich des gesamten Grenzkommandos Nord mit der Installation der genannten Anlagen befaßt und wechselte dabei ständig seinen Arbeitsort, so daß er auch vor Ort nicht von Grenzzwischenfallen erfahren mußte. Hierbei war auch zu berücksichtigen, dass auch bei einer Umunterstellung eine richtige Eingliederung in ein Grenzregiment nicht erfolgte, so dass auch nicht ersichtlich ist, warum ein Angehöriger des Grenzregiments Außenstehenden wie dem Angeklagten „vertrauliche" Informationen - und als solche müssen diejenigen über Grenzzwischenfälle, die in der DDR und insbesondere auch in deren Grenztruppen geheim gehalten wurden, gelten - hätte geben sollen. Im übrigen entspricht die Schilderung des Angeklagten dazu, was er in seinem Bekannten· und Kollegenkreis besprochen hat, dem, was der Kammer aus anderen Strafverfahren und auch als allgemeinkundig über das Verhalten von DDR-Bürgern im Umgang mit sensiblen Themen wie dem des sog. unerlaubten Grenzübertritts zur BRD bekannt ist. Die Bewohner der DDR wussten zwar regelmäßig, dass dort Minen installiert waren, die möglicherweise lebensgefährlich sein konnten; jedoch war die Wirkungsweise der Minen im einzelnen unbekannt. Die meisten scheuten sich jedoch, im Bekanntenkreis darüber zu diskutieren, weil sie nicht wussten, wer nun gerade im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit solche Äußerungen meldete. Die fehlende Diskussion führte dazu, dass kaum jemand eine Flucht oder das Ansinnen dazu über die als gefährlich bekannte Grenze {20} nach vollziehen konnte. Das Ausmaß der Repressalien durch die sog. „Stasi" und andere staatliche Organe der DDR, die einzelne zur Flucht bewog, wurde erst ab November 1989 der breiten Öffentlichkeit bekannt. Vorher erfuhr kaum jemand, ob gerade seine Zweifel am Staatssystem DDR - sofern er welche hatte - auch von anderen getragen wurden. Zwar waren auch schon in den 70er Jahren die meisten Bewohner über bestimmte Umstände (wie z.B. die Tätigkeit der sog. „Stasi", die Knappheit von Gütern, eingeschränkte Berufswahl), die das Leben in der DDR mit sich brachte, unzufrieden. Aber nach Abwägung erkannten sie auch viele Vorteile, die das Leben in der DDR bot, denn jeder hatte eine sichere Arbeitsstelle und kaum jemand hatte finanzielle Sorgen. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hatte sich mit den Umständen so arrangiert und war insbesondere noch in den 70er Jahren, also auch im

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hier in Rede stehenden Tatzeitraum, mit den Lebensumständen nicht so unzufrieden, dass sie eine Flucht versuchen wollten. Das Ausmaß der Unzufriedenheit verstärkte sich erst in den 80er Jahren, vor allem weil Konsumgüter immer knapper wurden. Kritik am Staat gab es nur vereinzelt, die aber nicht öffentlich, sondern eher in Kirchengemeinden ausgetragen wurde. Die meisten Bewohner der DDR, wie auch der Angeklagte, hatten zu solchen Kreisen keinen Kontakt, denn die wenigsten waren Mitglied der Kirche. Wenn der Angeklagte demnach von konkreten Grenzzwischenfällen keine Kenntnis haben mußte und im übrigen auch um die weitgehende, effektive Grenzsicherung auch in deren Vorfeld („freundwärts") wußte, erscheint es zunächst plausibel, dass er darauf vertraute, dass potentielle „Grenzverletzer" regelmäßig noch vor dem Grenzzaun I - der mit Splitterminen vom Typ SM-70 versehen wurde - gefaßt würden. Außerdem konnte er sich durch den Umstand, dass ihm keine Grenzzwischenfalle bekannt wurden, in seiner Auffassung bestätigt fühlen, dass die mit Warntafeln versehenen Minensperranlagen auch - wie vorgesehen - „Grenzverletzer" von einem Grenzübertritt abhalten und sie in die gewünschte Richtung ablenken. Dies gilt umso mehr, als er sich der Gefährlichkeit dieser Minensperren aus seiner {21} Berufspraxis heraus bewußt war und er - wie er selbst glaubhaft versicherte - angesichts des mit ihrer Überwindung verbundenen Risikos schon aus diesem Grund nie versucht hätte, diese zu passieren. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass insbesondere die Existenz einer funktionstüchtigen Minensperranlage, die für den Einsatz bestimmt war, und der Umstand, dass bei einem „Flüchtling", der es bis zu diesem Hindernis geschafft und damit sich jedenfalls eines versuchten Grenzübertritts gem. § 2 1 3 Abs. 1, Abs. 4 StGB-DDR strafbar gemacht hat, auch damit gerechnet werden konnte, dass er den Grenzübertritt versucht, auch dem Angeklagten hier zu anderen Überlegungen hätten Anlaß bieten können. Dass er diese Überlegungen - damals - nicht angestellt hat, war ihm in der Hauptverhandlung nicht zu widerlegen.

D. [Rechtliche

Würdigung]

Da weitere Beweismittel, von denen entgegenstehende Erkenntnisse über die innere Tatseite, insbesondere die Motivation des Angeklagten, zu erwarten wären, nicht ersichtlich sind, war der Angeklagte nach den getroffenen Feststellungen aus tatsächlichen Gründen freizusprechen. Objektiv stellen sich die Taten des Angeklagten zwar nach dem vorzunehmenden Mildevergleich (Art. 315 Abs. 1 EGStGB, § 2 Abs. 3 StGB; vgl. dazu nur grundlegend BGHSt 39, 1, 6 " ; Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl., § 2 StGB RdNr. 10 m.w.N.) als Beihilfe zum Totschlag (Fälle zum Nachteil des unbekannten Mannes und zum Nachteil von Harry Weltzin, §§ 212, 22, 23 StGB) in zwei Fällen (§ 53 StGB) und in einem weiteren Fall Beihilfe zur schweren Körperverletzung in der Alternative dauernder Entstellung in erheblicher Weise (Fall Günter Niedworok, §§ 224 Abs. 1, [i.d. vom 03. Oktober 1990 gültigen Fassung], 27 StGB) dar, wobei als Täter nicht die die Anlagen installierenden Unteroffiziere und Soldaten der Pionierkompanie 25 anzusehen {22} sind, sondern deijenige, der die Anlagen aktiviert, d.h. „eingeschaltet" hat. Da der Angeklagte keinerlei Einflußmöglichkeit auf den Betrieb der von ihm installierten Minenanlagen und er auch kein Interesse am Eintritt der hier in Rede stehenden

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Erteilung von Befehlen zur Minenverlegurig

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Taterfolge hatte (vgl. dazu auch BGHR StGB § 25 Abs. 2 Tatinteresse 2, 5; Mittäter 10, 26; BGHSt 39, 381 ff.; zum Streitstand: LK-Roxin, StGB, 11. Auflage, § 25 Rdnm. 125 ff. m.w.N.), kam hier eine Verurteilung wegen Mittäterschaft nicht in Betracht; der Angeklagte hätte allenfalls wegen Beihilfe zum Totschlag in zwei Fällen sowie wegen Beihilfe zur schweren Körperverletzung strafbar sein können. Dabei war zu berücksichtigen, dass der Angeklagte hier rechtlich nicht anders behandelt werden konnte, als etwa der fur die Waffenkammer zuständige Unteroffizier einer Grenzkompanie, der Grenzposten vor ihrem Dienstantritt Waffen nebst Munition aushändigt. Er hat hier auch lediglich „Waffen" zur Verfügung gestellt; ob und wie von ihnen Gebrauch gemacht wurde, hatte er nicht zu entscheiden. Die Kammer sieht jedoch den subjektiven Tatbestand der Beihilfe zu den genannten Delikten nicht als erwiesen an. Zur Verwirklichung des subjektiven Tatbestandes des Totschlags bzw. der schweren Körperverletzung hätte der Angeklagte in den hier in Rede stehenden Fällen zumindest bedingt vorsätzlich handeln müssen. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und ihn billigt oder sich um des erstrebten Ziels willen mit ihm abfindet (vgl. nur BGH NStZ-RR 2000, 165, 166 m.w.N.). Dabei liegt es bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit insbesondere eines tödlichen Ausgangs rechnet; die Billigung eines solchen Todeserfolgs bedarf jedoch angesichts der hohen Hemmschwelle gegenüber einer Tötung der sorgfältigen Prüfung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (BGH a.a.O., 166 m.w.N.). Angesichts der unter B.II.4.12 getroffenen Feststellungen kann hier nicht davon ausgegangen {23} werden, dass der Angeklagte mit der schweren Verletzung bzw. Tötung der hier in Rede stehenden Geschädigten gerechnet hat, hat rechnen müssen und mit dieser einverstanden war.

Anmerkungen 1

2 3

Am 6.4.1998 klagte die Staatsanwaltschaft Schwerin unter dem Az. 191 Js 37510/97 die ehemaligen Obersten Roland Neubauer und Bernd Schoenebeck wegen Totschlags bzw. Beihilfe zum Totschlag zum Nachteil u.a. von Harry Weltzin an. Schoenebeck hatte zu dem von Neubauer erlassenen Grenzsicherungsbefehl Zuarbeit geleistet, in dessen Umsetzung Harry Weltzin durch Minen getötet worden war. Das Landgericht Schwerin sprach die Angeklagten in erster Instanz durch Urteil vom 28.8.2000 - Az. 32 Ks (9/98), 191 Js 37510/97 - frei, weil sie sich in einem nicht vermeidbaren Irrtum bezüglich der Rechtswidrigkeit ihres Tuns (§ 17 S. 1 StGB) befunden hätten. Dieses Urteil wurde auf Revision der Staatsanwaltschaft Schwerin vom Bundesgerichtshof durch Urteil vom 26.4.2001 - Az. 4 StR 30/01 - teilweise aufgehoben. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs ist der Einsatz von Splitterminen aufgrund ihrer unkontrollierbaren und verheerenden Wirkung zur bloßen Durchsetzung des Verbots, die innerdeutsche Grenze ohne besondere Erlaubnis zu überschreiten, eklatant menschenrechtswidrig und offensichtlich rechtswidrig. Wegen der Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit scheidet ein Schuldausschluss damit in der Regel aus (BGH a.a.O., UA S. 9). Der Bundesgerichtshof hat die Sache diesbezüglich an das Landgericht Rostock zurückverwiesen, dessen Entscheidung zum Zeitpunkt der Drucklegung des Manuskripts noch ausstand. GB1-DDR 1961 11,332. Vgl. die Schaubilder im Anhang auf S. 964ff.

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Lfd. Nr. 14 4 5 6 7 8 9

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Gemeint sind hier wohl Grenzregimenter. Vgl. auch Anhang S. 994ff. Auf die Gliederungsebene a folgt auch im Orginal kein nächster Gliederungspunkt. Im Original ist diese Gliederungsebene fälschlicherweise mit 2 numeriert. Im Original ist diese Gliederungsebene fälschlicherweise mit 3 numeriert. In dem genannten Urteil wurden u.a. zwei Stellvertreter des Kommandeurs des Grenzkommandos Nord, Werner Heinig und Siegfried Schumacher, vom Vorwurf der Beihilfe zum Totschlag bzw. zur schweren Körperverletzung freigesprochen. Der BGH bestätigte den Freispruch in seinem Urteil v. 8.3.2001 - Az. 4 StR 453/00, NJW 2001, 2409 - , da die bloße Mitwirkung an der Erstellung von Befehlen zur Grenzsicherung fiir sich allein noch keine strafbare Beihilfe zur Tötung oder Verletzung von Personen durch die dort verlegten Minen darstelle. Die Angabe B.II.3 im Original musste aufgrund eines vorangegangenen Gliederungsfehlers korrigiert werden. Vgl. lfd. Nr. 2-2. Vgl. Anm. 10.