Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe 9783110507928, 9783828253636

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Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe
 9783110507928, 9783828253636

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Abkürzungen
I. Ordnungspolitische Grundlagen der Integration
1. Integrationsmerkmale und Integrationsmethoden: Die ordnungspolitische Konzeption der EG im Wandel
2. Eine Verfassungskonzeption für die Europäische Union
3. Die EG im Spannungsverhältnis zwischen Konsens und Effizienz
4. Die EG im GATT-System
5. Monetäre Integration: Vom EWS zur Währungsunion
6. ‘Fiscal Federalism’ in Europa: Voraussetzung für eine erfolgreiche Wirtschafts- und Währungsunion?
7. Finanz- und geldpolitische Implikationen der Vollendung des europäischen Binnenmarktes und der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion
II. Ordnungspolitische Teilbereiche der Integration
1. Der Arbeitsmarkt im europäischen Integrationsprozeß
2. Finanzmärkte im europäischen Integrationsprozeß
3. Der Bodenmarkt zwischen Freizügigkeit und lokaler Identitätsbewahrung: Einige möglicherweise gar nicht so ketzerische Überlegungen
4. Zur Wettbewerbskonzeption im europäischen Wettbewerbsrecht
5. Unternehmensverfassung und europäische Integration
6. EG-Binnenmarkt und öffentliche Unternehmen
7. Integration regulierter Märkte: Das Beispiel eines einheitlichen EG-Arzneimittelmarktes
8. Sozialpolitik und Sozialversicherung in der europäischen Integration
9. Familienpolitik und Europäische Integration
III. Zusammenhänge von Integration und Transformation
1. Von der Transformation zur Integration: Eine ordnungs-, handels- und währungspolitische Aufgabenstellung
2. Zum Spannungsverhältnis von Migration, Transformation und Integration
3. Osterweiterung der EG: Anpassungserfordernisse, Konvergenzprobleme und ordnungspolitischer Reformbedarf in Europa
Personenregister
Sachregister
Autoren und Seminarteilnehmer

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H. Gröner und A. Schüller (Hrsg.) Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe

Schriften zum Vergleich von Wirtschaftsordnungen

Herausgegeben von Prof. Dr. G. Gutmann, Köln Dr. H. Hamel, Marburg Prof. Dr. K. Pleyer, Köln Prof. Dr. A. Schüller, Marburg Unter Mitwirkung von Prof. Dr. D. Cassel, Duisburg Prof. Dr. H. G. Krüsselberg, Marburg Prof. Dr. H. J. Thieme, Düsseldorf Prof. Dr. U. Wagner, Pforzheim Redaktion: Dr. Hannelore Hamel Band 43: Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe

Gustav Fischer Verlag • Stuttgart • Jena • New York • 1993

Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe

Herausgegeben von

Helmut Gröner und Alfred Schüller Mit Beiträgen von Norbert Berthold, Wilfried Boroch, Dieter Cassel, Karl von Delhaes, Ulrich Fehl, Egon Görgens, Helmut Gröner, Stefanie Hamacher, Wolfgang Kerber, Werner Klein, Angelos Kotios, Karlheinz Kratz, Hans Günter Krüsselberg, Helmut Leipold, Josef Molsberger, Werahard Möschel, Peter Oberender, Eva-Maria Reißmann, Carsten Schreiter, Alfred Schüller, Gerhard Schwarz, Martin Seidel, Heinz-Dieter Smeets, Rebecca Strätling, H. Jörg Thieme, Ralf L.Weber, Paul J. J. Weifens, Dirk Wentzel

SEMPER

§

Gustav Fischer Verlag • Stuttgart • Jena • New York • 1993

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Helmut Gröner Universität Bayreuth Lehrstuhl für VWL I (Wirtschaftspolitik) Postfach 101251 95448 Bayreuth Prof. Dr. Alfred Schüller Philipps-Universität Marburg Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme Barfüßertor 2 35032 Marburg Anschrift der Redaktion der »Schriften zum Vergleich von Wirtschaftsordungen«: Dr. Hannelore Hamel Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme Barfüßertor 2 35032 Marburg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe/ hrsg. von Helmut Gröner und Alfred Schüller. Mit Beitr. von Norbert Berthold... - Stuttgart; Jena; New York: G. Fischer, 1993 (Schriften zum Vergleich von Wirtschaftsordnungen; Bd. 43) ISBN 3-437-50363-4 NE: Gröner, Helmut [Hrsg.); Berthold, Norbert; GT

© Gustav Fischer Verlag • Stuttgart • Jena • New York • 1993 Wollgrasweg 49 • D-70599 Stuttgart (Hohenheim) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: S & W Druckerei und Verlag GmbH, Marburg Printed in Germany ISBN 3-437-50363-4 ISSN 0582-0243

•v-

Vorwort "Das Thema der Wirtschaftsordnung des Gemeinsamen Marktes ist ein altes Thema, aber es gewinnt in dem Maße an Aktualität, in dem der Gemeinsame Markt eine Realität wird." Alfred Müller-Armack, 1964. Die Europäische Gemeinschaft steht im fünfunddreißigsten Jahr ihres Bestehens vor tiefgreifenden ordnungspolitischen Herausforderungen. Es sind erstens Entscheidungen über die ordnungspolitischen Grundlagen der Integration zu treffen, insbesondere über die Integrationsmethode, die Staats-, Wirtschafts-, Währungs- und Finanzverfassung sowie die Beziehungen zwischen EG und GATT. Hierbei geht es vor allem um die Frage, wie das Verhältnis von nationaler und supranationaler Ordnungspolitik künftig im Interesse einer möglichst widerspruchsfreien integrationspolitischen Gesamtkonzeption zu gestalten ist. Eine zweite Herausforderung betrifft wichtige ordnungspolitische Teilbereiche: die europäischen Arbeits-, Finanz- und Bodenmärkte, die Wettbewerbsund Handelspolitik, die Verfassung privater, öffentlicher und staatlich regulierter Unternehmen, die Systeme der sozialen Sicherung und die Familienpolitik. Schließlich stellt sich drittens für die EG die Frage, wie die westeuropäische Integrationspolitik für die Schaffung eines gesamteuropäischen Wirtschaftsraumes dienstbar gemacht und wie hierdurch der Übergang der osteuropäischen Länder zur Marktwirtschaft beschleunigt werden kann. Wenn von der EG erwartet wird, daß sie den Systemwandel im Osten im Wege der Nachbarschaftshilfe in allen Teilbereichen der Ordnungspolitik unterstützen und das Hineinwachsen dieser Länder in die Weltwirtschaft erleichtern soll, so kann diese komplizierte Aufgabe nicht bewältigt werden ohne die Bindung der Einzelmaßnahmen an eine ordnungspolitische Gesamtvorstellung, etwa für die Gestaltung des Verhältnisses von Integrationstiefe und Integrationsbreite. Um diesen Herausforderungen gerecht werden zu können, ist es notwendig, die Bedingungen der europäischen Integration zu klären und die Diskussion über das Thema 'Wirtschaftsordnung des Gemeinsamen Marktes' neu zu beleben. Dies war das Anliegen des 26. Internationalen Forschungsseminars Radein zum Vergleich von Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen, das vom 14. bis 25. Februar 1993 im Südtiroler Bergdorf Radein stattgefunden hat. In diesem Seminar wurden die drei genannten thematischen Schwerpunkte mit dem Ziel aufgenommen, Erkenntnisse für eine ordnungstheoretisch gestützte europäische Integrationspolitik im allgemeinen und für eine Verknüpfung von Transformations- und Integrationspolitik im besonderen zu gewinnen.

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Mitgewirkt haben namhafte Experten verschiedener Fachrichtungen, vor allem Ökonomen und Juristen. Der vorliegende Band ist das Ergebnis der in Radein diskutierten Referate. Die Autoren sind überzeugt, daß für die europäische Integrationspolitik jene Prinzipien besondere Beachtung verdienen, die Walter Euchen für eine 'Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs' entwickelt hat. Demzufolge ist das Hauptproblem einer 'Europäischen Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs' darin zu sehen, das Verhältnis von marktmäßiger und politikgesteuerter Integration so zu bestimmen, daß die aus der Privatinitiative stammenden spontanen wirtschaftlichen Antriebskräfte, Eigen- und Konkurrenzkontrollen möglichst weitgehend mobilisiert und die daraus entstehenden Sozialbeziehungen vor Fehlentwicklungen bewahrt werden können. Die Herausgeber möchten allen, die an der Veröffentlichung mitgewirkt haben, sehr herzlich danken. Hier ist zunächst Frau Dr. Hannelore Hornel zu erwähnen, die mit wertvollem Rat und beharrlicher Unterstützung die Durchführung des Seminars und die Herausgabe dieses Buches erleichtert hat. Herrn Dipl.-Volkswirt Ralf L. Weber sind wir für die unermüdliche Mithilfe bei der Durchsicht der Beiträge, bei der Erarbeitung der Druckvorlage und für die redaktionelle Gesamtbetreuung des Bandes zu ganz besonderem Dank verpflichtet. Schließlich haben wir der EG-Kommission und der Landeszentralbank im Freistaat Bayern, vor allem aber der Hanns Martin Schleyer-Stiftung, Köln, für die finanzielle Förderung des Seminars und der Publikation aufrichtig zu danken. Bayreuth und Marburg, im Juli 1993 Helmut GrOner und Alfred Schaller

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Inhalt I. Ordnungspolitische Grundlagen der Integration 1. Integrationsmerkmale und Integrationsmethoden: Die ordnungspolitische Konzeption der EG im Wandel Helmut Gröner 2. Eine Verfassungskonzeption für die Europäische Union Wernhard Möschel 3. Die EG im Spannungsverhältnis zwischen Konsens und Effizienz Helmut Leipold

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4. Die EG im GATT-System Angelos Kotios und Josef Molsberger

73

5. Monetäre Integration: Vom EWS zur Währungsunion Heinz-Dieter Smeets

97

6. 'Fiscal Federalism' in Europa: Voraussetzung für eine erfolgreiche Wirtschafts- und Währungsunion? Norbert Berthold

147

7. Finanz- und geldpolitische Implikationen der Vollendung des europäischen Binnenmarktes und der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion Stefanie Hamacher und Werner Klein

173

II. Ordnungspolitische Teilbereiche der Integration 1. Der Arbeitsmarkt im europäischen Integrationsprozeß Egon Görgens 2. Finanzmärkte im europäischen Integrationsprozeß H. Jörg Thieme und Karlheinz Kratz 3. Der Bodenmarkt zwischen Freizügigkeit und lokaler Identitätsbewahrung: Einige möglicherweise gar nicht so ketzerische Überlegungen Gerhard Schwarz

197 237

261

Vili 4. Zur Wettbewerbskonzeption im europäischen Wettbewerbsrecht Wolfgang Kerber

279

5. Unternehmensverfassung und europäische Integration Ulrich Fehl, Karl von Delhaes und Carsten Schreiter

319

6. EG-Binnenmarkt und öffentliche Unternehmen Martin Seidel

343

7. Integration regulierter Märkte: Das Beispiel eines einheitlichen EG-Arzneimittelmarktes Wilfrid Boroch und Dieter Cassel

359

8. Sozialpolitik und Sozialversicherung in der europäischen Integration Peter Oberender und Eva-Maria Reißmann

379

9. Familienpolitik und Europäische Integration Hans Günter Krüsselberg und Rebecca Strätling

397

III. Zusammenhänge von Integration und Transformation 1. Von der Transformation zur Integration: Eine ordnungs-, handels- und währungspolitische Aufgabenstellung Alfred Schäller und Ralf L. Weber

445

2. Zum Spannungsverhältnis von Migration, Transformation und Integration Dirk Wentzel

493

3. Osterweiterung der EG: Anpassungserfordernisse, Konvergenzprobleme und ordnungspolitischer Reformbedarf in Europa Paul J.J. Weifens

517

Personenregister

551

Sachregister

561

Autoren und Seminarteilnehmer

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Abkürzungen

Aktiengesellschaft Bundesgesetzblatt Bruttoinlandsprodukt Bank für internationalen Zahlungsausgleich Bundesministerium für Wirtschaft Bruttosozialprodukt Central European Free Trade Area Centre for Economic Policy Research Confédération des Organisations Familiales de la Communauté Européenne COMECON- Council for Mutual Economic Assistance (RGW) EAG Europäische Atomgemeinschaft EAGV Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft EBRD European Bank for Reconstruction and Development European Community EC ECU European Currency Unit EEA Einheitliche Europäische Akte EFTA European Free Trade Assoziation Europäische Gemeinschaft EG EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKSV Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGV Vertrag über die Europäische Union EGVO Verordnung der Europäischen Gemeinschaft EIB Europäische Investitionsbank EMU European Monetary Union EP Europäisches Parlament ESZB Europäisches System der Zentralbanken EuGH Europäischer Gerichtshof EURATOM- Europäische Atomgemeinschaft (auch EAG) EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWGV Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EWI Europäisches Währungsinstitut EWIV Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung EWS Europäisches Währungssystem Europäische Währungsunion EWU EZB Europäische Zentralbank Europäische Zahlungsunion EZU -

AG BGBl BIP BIZ BMWi BSP CEFTA CEPR COFACE

-

X

FIW FKVO F&E GATT GG GIE GmbH GUS GVO GWB IMF IWF KSZE LSE NATO NBER OZU RGW Rs. RSFSR SE Slg. TGV UN USA UWG WEU WSA WWU

-

Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb Fusionskon trollverordnung Forschung und Entwicklung General Agreement on Tariffs and Trade Grundgesetz Groupement d'Intérêt Economique Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Gruppenfreistellungsverordnung Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen International Monetary Funds Internationaler Währungsfonds Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa London School of Economics North Atlantic Treaty Organization National Bureau of Economic Research Osteuropäische Zahlungsunion Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe Rechtssache Russische Sozialistische Föderative Sowjet Republik Societas Europaea Sammlung (der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs) Train à Grande Vitesse United Nations United States of America Gesetz gegen unlauteren Wettbeweib Westeuropäische Union Wirtschafts- und Sozialausschuß Wirtschafts- und Währungsunion

•1•

I. ORDNUNGSPOLITISCHE GRUNDLAGEN DER INTEGRATION

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Integrationsmerkmale und Integrationsmethoden: Die ordnungspolitische Konzeption der EG im Wandel Helmut Gröner, Bayreuth

I. Der Beginn: Die sektorale Integration in der Montanunion

4

II. Die Vertiefung: Funktionale und institutionelle Integration

5

III. Integrationsfördemde Formelemente der EG-Wirtschaftsordnung: Die vier Grundfreiheiten

6

IV. Integrationshemmende Formelemente der EG-Wirtschaftsordnung: Der Rückfall in die sektorale Integration 1. Grundsätzliche Anmerkungen 2. Die Außenhandelspolitik der EG 3. Die Technologie- und Industriepolitik der EG

8 8 11 12

V. Fazit

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Heimut Gröner

I.

Der Beginn: Die sektorale Integration in der Montanunion Der europäische Integrationsprozeß begann, angetrieben von der deutsch-französischen Aussöhnung, mit der Gründung der Montanunion in den Jahren 19S0/S1 (vgl. Loth, 1991, S. 69-90, Willgerodt, 1991, S. 49-53). Damit beschritt man den Weg einer sektoralen Integration im Bereich der Wirtschaft, der nach einhelliger Meinung als Startschuß zur weiteren friedlichen Zusammenarbeit in Europa gedacht war - bis hin zur politischen Union. Die Montanunion sollte gemeinsame wirtschaftliche Verhältnisse - manche sagen auch einen Binnenmarkt - für die Kohle- und Stahlindustrie schaffen. Doch ist dies eher irreführend, denn der EGKS-Vertrag genügt nicht den hierfür maßgeblichen Forderungen (Willgerodt, 1991, S. 51-53). Zwar errichtete die Montanunion mit Hilfe eines weitgesteckten Diskriminierungsverbots ein Regelwerk, das Zölle und mengenmäßige Beschränkungen ebenso untersagt wie staatliche Subventionen und Mißbrauchspraktiken der Anbieter. Auch enthält der EGKS-Vertrag ein grundsätzliches Kartellverbot und eine eigentlich recht strenge Fusionskontrolle, vor allem wohl um eine Rekonzentration der entflochtenen deutschen Montanwirtschaft zu verhindern oder zumindest spürbar zu erschweren. Aber diesen vorrangig auf Wettbewerb ausgerichteten Regelungen stehen Vorschriften gegenüber, die der Montanunion eine in die Gegenrichtung zielende ordnungspolitische Grundstruktur gegeben haben. Diese ordnungspolitische Mischlage geht zweifellos darauf zurück, daß die Wirtschaftspolitik in den sechs Gründerländern von unterschiedlichen ordnungspolitischen Konzeptionen geprägt war. Das schlug sich schon darin nieder, daß man den Organen der Montanunion Aufgaben vorgegeben hat (Art. 3 EGKSV), die sich eindeutig an spezifischen Marktergebniskriterien ausrichten. Damit hatten die Vertragspartner klar und unausweichlich vorgezeichnet, daß sich die neu geschaffene supranationale Hohe Behörde keineswegs auf die marktwirtschaftliche Funktion, den Wettbewerb zu sichern, beschränken solle, sondern vielmehr unter bestimmten Bedingungen gezielt lenkend einzugreifen habe. Als Instrumente sind hierzu hauptsächlich die Festsetzung von Höchst- oder Mindestpreisen, eine direkte Mengensteuerung bei Nachfragerückgängen und Mangellagen sowie eine Investitionslenkung vorgesehen. Wenn auch diese unmittelbaren Steuerungsmittel nicht dauerhaft durchgreifend eingesetzt wurden, so hat es doch bisher in der Montanindustrie kaum einen verzerrungsfreien Wettbewerb gegeben. Vielmehr ging und geht es gerade umgekehrt darum, diese Wirtschaftszweige vor Konkurrenz zu schützen. Große ordnungspolitische Gefahren liegen bei dieser Struktur des Montan-Vertrages darin, daß Vertreter dieser Branchen, und zwar Arbeitgeber und Gewerkschaftler vereint sowie Politiker, die sich ihnen verpflichtet fühlen, gemeinsam lautstark nach interventionistischen Schutzmaßnahmen rufen. Dies wiederum macht die Problematik einer sektoralen Integration deutlich: Je

Integrationsmerkmale und Integrationsmethoden

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stärker eine solche sektorale Integration unmittelbar marktlenkend angelegt und gehandhabt wird, desto stärker werden Anpassungslasten verlagert und anderen Wirtschaftszweigen aufgebürdet (so schon: Meyer, 19S3). Häufig entspringt daraus dann das Verlangen, diesen Sektoren gleichfalls Anpassungserleichterungen zu gewähren und einen mehr oder weniger hohen Schutzzaun zu errichten. Mithin erwies sich der Einstieg in die europäische Integration, wie er mit der Montanunion vorgenommen wurde, als ordnungspolitischer Fehlgriff. Damit ist diese Form der Integration nicht wie bei diesem Begriff ansonsten grundsätzlich üblich positiv, sondern negativ zu verstehen. n.

Die Vertiefung: Funktionale und institutionelle Integration Trotz dieser ordnungspolitischen Fehlkonstruktion neigten diejenigen in der deutschen Regierung, die die Integration in erster Linie als ein politisches Ziel ansahen, dazu, die EWG nach dem Vorbild der Montanunion zu schaffen (siehe hierzu aber Müller-Armack, 1971, S. 110-120; Küsters, 1982, S. 79-88). Das Bundeswirtschaftsministerium konnte dies zwar verhindern. Aber das hieß noch nicht, daS damit bereits ein unverwechselbar marktwirtschaftliches Grundkonzept für die geplante Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gesichert war. Dafür liefen die ordnungspolitischen Vorstellungen der sechs Verhandlungspartner nach wie vor viel zu weit auseinander. Indessen stimmte man wohl grundsätzlich zumindest darin überein, daß der innergemeinschaftliche Abbau von Handelshemmnissen und die damit einhergehende Schaffung größerer Märkte den internationalen Austausch steigern müßte und auf diesem Wege den wirtschaftlichen Wohlstand mehren würde (Müller-Armack, 1966, S. 402). Außerdem wollten sich die zukünftigen Mitgliedsstaaten vor unerwünschten Einflüssen ausländischer wirtschaftspolitischer Eingriffe bis hin zu durchschlagenden Alleingängen anderer Länder schützen (Müller-Armack, 1966, S. 404-405; Biskup, 1982, S. 109-112). Dies konnte freilich nur gelingen, wenn man den wirtschaftspolitischen Spielraum der EG-Länder nach innen begrenzen und engen Bindungen unterwerfen würde. Da nun eine allgemeine zentralverwaltungswirtschaftliche Steuerung des Wirtschaftsprozesses einvernehmlich ausschied, mußte man sich an den Funktionsbedingungen marktwirtschaftlicher Koordination orientieren, folglich also an wettbewerblichen Marktprozessen. Deshalb gilt - in den Worten Müller-Armacks (1966, S. 405) -: "Die Ordnung des Gemeinsamen Marktes ist so als ein streng wettbewerblicher Markt im Innern definiert. Es ist ein Markt mit binnenmarktähnlichen Verhältnissen. Ein sehr strikter Antünterventionismus bestimmt den Vertrag." Diese Grundkonzeption wurde allerdings nicht völlig durchgehalten. Denn der EWGV sieht zwei sektorale Ausnahmebereiche vor: die Landwirtschaft und den Verkehr. Diese Sonderstellung ergibt nur einen Sinn, wenn die fraglichen Wirtschaftszweige mehr oder weniger stark wettbe-

Helmut GrOner

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werblichen Marktprozessen entzogen werden sollen. Beim Verkehr geschieht dies weniger ausgeprägt, aber für die Landwirtschaft wurde ein allumfassendes Interventionssystem geschaffen, dessen Eingriffsspirale sich noch immer weiter dreht. Bei diesem ordnungspolitischen Sündenfall bewahrheiten sich - wie schon bei der Montanunion - in einem erschreckenden Ausmaß alle wirtschaftspolitischen Nachteile, die einer sektoralen Integration anhaften. Zugleich wurden Überlegungen angestellt, ob man sich mit einem rein funktional festgezurrten Abbau von Handelsschranken begnügen sollte oder ob man nicht Institutionen schaffen müßte, um die innergemeinschaftliche Handelsliberalisierung entscheidend weiter voranzubringen. "Diese Diskussion ist dann zugunsten eines Sowohl-alsauch entschieden worden, eines faktischen Überwiegens eben dieser institutionellen Lösung, die die EWG bedeutet" (Müller-Armack, 1966, S. 403). Die Entscheidung für eine institutionelle Lösung wurde außerdem aus politischen Gründen gefördert. Die Verhandlungen waren nämlich auch von der Absicht getragen, mit der Wirtschaftsgemeinschaft einen Umweg zur politischen Union einzuschlagen, die sich damals nicht verwirklichen ließ (siehe im einzelnen: Küsters, 1982, S. 38-132; von der Groeben, 1982; beide mit ausführlichen Nachweisen). III. Integrationsfördernde Formelemente der EG-Wirtschaftsordnung: Die vier Grundfreiheiten Bei der EWG handelt es sich also um einen wirtschaftlichen Zusammenschluß von Ländern, der institutionell abgesichert ist und der über einen freien innergemeinschaftlichen Handel hinaus zu einer umfassenden Wirtschaftsgemeinschaft auswachsen und eine Koordination der Wirtschaftspolitik ermöglichen soll. Eine solche Integrationsform verlangt einen leistungsfähigen Ordnungsrahmen, der das Funktionieren des gemeinschaftlichen Wirtschaftsprozesses gewährleistet. Dazu hat der EWGV eine eigenständige Rechtsordnung geschaffen, die nicht bloß in die Rechtsordnungen der Mitgliedsländer eingegangen ist, sondern die - ursprünglich vielleicht sogar eher unbewußt und gleichsam als List der Idee (Müller-Armack, 1966, S. 405) - auch die Grundlage für eine übergreifende Wirtschaftsordnung legte (siehe vor allem: Mestmäcker, 1987; Basedow, 1992). Als verbindliche Ordnungsprinzipien für die Errichtung und für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes legt der EWGV fest: -

die Freiheit der Waren- und Dienstleistungsverkehrs, die Niederlassungsfreiheit, die Freizügigkeit der Arbeitsnehmer sowie einen freien Kapitalverkehr.

Integrationsmerkmale und Integrationsmethoden

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Die grenzüberschreitende Marktöffnung, die die Durchsetzung und das Einhalten dieser Ordnungsprinzipien bewirkt, soll sich nun - so schreibt es der Vertrag ausdrücklich vor - in wettbewerblichen Marktprozessen vollziehen. Der EWGV richtet sich also eindeutig auf eine Wettbewerbsordnung der Gemeinschaft beziehungsweise - wie es im Vertrag heißt - auf ein System unverfälschten Wettbewerbs. Dabei kommt es entscheidend darauf an, daß sich die Ordnungsprinzipien offener Märkte und unverfälschten Wettbewerbs wechselseitig ergänzen. Freie innergemeinschaftliche Tauschbeziehungen ohne Wettbewerbsverfälschungen werden vor allem durch das Verbot von Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Güterverkehrs und durch die Wettbewerbsregeln sichergestellt. Diese Vorschriften richten sich mithin zum einen an die Mitgliedsstaaten und deren wirtschaftspolitisches Verhalten sowie zum anderen unmittelbar an die Marktteilnehmer. Damit wunden erstmals ordnungspolitische Nachteile überwunden, die den internationalen Wirtschaftsbeziehungen auch unter den ebenfalls auf eine Liberalisierung des internationalen Handels zielenden GATT-Regeln immer noch anhaften, wie etwa das schier grenzenlose Wuchern von nichttarifären Handelshemmnissen. In weiser Voraussicht erkannte der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi (1973, S. 191) diese Gefahr für den Auf- und Ausbau eines europäischen Binnenmarktes bereits 1953, als er festhielt: "Wenn Zollpolitik und Verkehrspolitik keine Handhabe mehr bieten, die nationalen Grenzrai für die Güterströme aufrechtzuerhalten, sind Bestrebungen zu befürchten, dasselbe Ziel durch Verwaltungspraktiken zu erreichen." Außerdem muß man sehen, daß es im internationalen Handel an einer hinreichend schlagkräftigen Wettbewerbspolitik mangelt. Die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes oder - wie man heute sagt - des Binnenmarktes als Wettbewerbsordnung stellte und stellt wegen der großen nationalen Anpassungserfordernisse eine wirtschaftspolitische Aufgabe voller Schwierigkeiten und Hemmnisse dar. Zwar setzt die Verwirklichung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsordnung den Vorrang des gemeinschaftlichen Ordnungsrahmais vor den nationalen Regeln voraus. Dennoch geriet der Integrationsprozeß nicht selten ins Stocken. Als Antriebsfeder erwies sich in dieser Situation häufig der EuGH, der - gestützt auf die Vorgaben des EWGV - einen Integrationsansatz vorgezeichnet hat. Will man diesen Integrationsansatz richtig einschätzen, muß man sich zunächst darüber klar werden, welche Maßnahmen die Integration von Gütermärkten erfordert. Hierzu kann man zwischen negativer und positiver Integration unterscheiden (siehe statt vieler: Pelkmans, 1987). Die negative Integration umschließt dabei alle Maßnahmen, die die einzelnen Mitgliedsländer unterlassen müssen, um einen Binnenmarkt zu schaffen, während die positive Integration sich auf alle jene wirtschaftspolitischen Maßnah-

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Helmut Gröner

men richtet, die im Zuge der Integration zu ergreifen sind. Dabei muß man bedenken, daß hauptsächlich das Ausmaß der positiven Integration nicht zuletzt von der ordnungspolitischen Konzeption abhängt, die für das Zusammenwachsen der Märkte gelten soll. Bei verbreiteten gemeinschaftlichen Interventionen ist das Ausmaß der notwendigen positiven Integration, wie die Erfahrungen mit der Montanunion und mit der EG-Agrarmarktordnung belegen, zweifellos höher, als wenn das Zusammenwachsen der Märkte strengen marktwirtschaftlichen Grundsätzen folgen soll. Unter marktwirtschaftlichen Vorzeichen gilt nämlich der Grundsatz, daß Marktprozesse - und zwar insbesondere wettbewerbliche Marktprozesse - wesentlich effizienter sind als politische Koordinationsverfahren, um möglichst leistungsfähige institutionelle Regelungen herauszufinden (Giersch, 1987, S. 15-16; Siebert und Koop, 1990). Insofern wurde für die Schaffung des Binnenmarktes der richtige Weg eingeschlagen, wenn nichttarifare Transaktionshemmnisse durch die Anwendung des Ursprungs- und Sitzlandprinzips überwunden werden sollen. Gewiß erfordert das Binnenmarktkonzept ein Mindestmaß an Angleichung der Ordnungsregeln, um Wettbewerbsverfälschungen zu vermeiden. Auch kann dies helfen, übermäßige Informations- oder Organisationskosten einzusparen. Allerdings mündet es in eine wirtschaftspolitische Fehlentwicklung ein, wenn das Kriterium 'unverfälschten Wettbewerbs' in das Erfordernis 'gleicher Wettbewerbsbedingungen' umgemünzt wird. Würde dies zur Aufgabe der Gemeinschaft erhoben, so würde dies bedeuten, überkommene Marktverhältnisse mehr oder weniger stark vor der Zugluft neuer Wettbewerbsanstöße zu schützen und darüber hinaus den Standortwettbewerb der Mitgliedsländer allmählich auszutrocknen (vgl. auch Vollmer, 1993, S. 26). Da die Einheitliche Europäische Akte (EEA) die Kompetenz der Gemeinschaft erheblich verstärkt hat, die zur Verwirklichung des Binnenmarktes notwendigen Maßnahmen vorzunehmen, wachsen das Interesse und der Druck auf Brüssel, im Schatten der Rechtsangleichung den Wettbewerbsdruck zu mildern. Deshalb sollte sich die Gemeinschaft, wie der Kronberger Kreis (Dönges und andere, 1992, S. 30-43) im einzelnen begründet, auf die Harmonisierung solcher, als wesentlich anzusehenden Hemmnisse beschränken, die Ausländer spürbar diskriminieren und die diese nicht leicht überwinden können. IV. Integrationshemmende Formelemente der EG-Wirtschaftsordnung: Der Rückfall in die sektorale Integration 1. Grundsätzliche Anmerkungen Insgesamt kann man festhalten, daß der EWGV - ohne dies ausdrücklich so auszuweisen - auf einer marktwirtschaftlichen Ordnung beruht, jedenfalls was den Kembereich des Allokations- und Lenkungsmechanismus angeht. Die Ordnungstheorie zeigt

Integrationsmerkmaie und Integrationsmethoden

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jedoch, daß es daneben andere wichtige Ordnungsformen gibt, die die Struktur einer Wirtschaftsordnung ausmachen und prägen. Als nächstwichtiges Ordnungselement gilt für Marktwirtschaften vor allem die Eigentumsordnung. Für sie wurde im EWGV formal eine Neutralitätsposition mit Kompetenzvorbdialt zugunsten der Mitgliedsländer festgeschrieben, um den unterschiedlichen Einschätzungen gegenüber privatwirtschaftlicher und öffentlicher Unternehmenstätigkeit Rechnung zu tragen (siehe hierzu: Zuleeg, 1978, S. 89-93; Basedow, 1992, S. 34-38; beide mit weiteren Nachweisen). Sprengstoff könnte sich daraus für die Gemeinschaft ergeben, wenn es einmal in einem Mitgliedsstaat zu einer breiten Sozialisierungswelle kommen sollte. Im übrigen ist die Tragweite des Neutralitätsgebots begrenzt, weil sehr viele Maßnahmen der Gemeinschaft die Eigentumspositionen berühren, sie inhaltlich festlegen oder gar beschränken. Außerdem unterliegen auch öffentliche Unternehmen, sofern sie nicht Sonderbedingungen erfüllen, den Binnenmarktregeln. Es muß allerdings festgehalten werden, daß eine klare Bindung der ansonsten marktwirtschaftlichen Grundlagen an das Privateigentum fehlt. Ähnliches trifft auch für das gleichfalls hochrangige Systemelement der Währungsordnung zu, doch soll dieses Problem hier ausgeklammert bleiben. Für die übrigen Ordnungsformen - nämlich für die öffentliche Finanzwirtschaft, die Unternehmensverfassung, die Außenwirtschaft und das Sozialwesen - gibt es Regelungen, die im einzelnen auch unter ordnungspolitischen Vorzeichen zu prüfen sind. Alles in allem muß freilich mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß die EG-Regelungen bei aller marktwirtschaftlichen Grundausrichtung zum Teil schwerwiegende ordnungspolitische Mängel aufweisen. Nun erschöpfen sich die Aufgaben der Gemeinschaft nicht in der Durchsetzung und der Sicherung der den Binnenmarkt konstitutierenden Freiheiten und Wettbewerbsregeln. Vielmehr soll sie darüber hinaus durch "die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität und eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung" (Art. 2) erreichen. Demnach wird, um diese Ziele zu verwirklichen, der Binnenmarkt alleine offensichtlich nicht als ausreichend angesehen. Zudem niüsse auch eine gesamtwirtschaftliche Stabilität angestrebt werden. Obwohl dies bisher nach dem EWGV eine Aufgabe der einzelstaatlichen Wirtschaftspolitik blieb, trat die Kommission in den sechziger und siebziger Jahren mit Programmen zur mittelfristigen Wirtschaftspolitik hervor (siehe hierzu: Dürr, 1978; 1980, mit weiteren Nachweisen). Sie lösten eine anhaltende Kontroverse aus, die sich jedoch im nachhinein als wenig ergiebig erwies. Ein Einfluß auf die Stabilitätspolitik blieb ihnen weitestgehend versagt. Hier ist nur zu erwähnen, daß

Heimut Gröner

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in diesen EG-Programmen auch ordnungspolitisch bedenkliche Vorschläge vorgebracht werden, nämlich eine Investitionsmeldepflicht für kapitalintensive Industriezweige sowie die Erfassung und Veröffentlichung der Preise wichtiger Güter. Von der Wettbewerbstheorie her ist allerdings bekannt, daB derartige Informationssysteme die Marktaktivitäten bremsen und sich damit auch stabilitätspolitisch nachteilig auswirken. Ordnungspolitisch nicht besser steht es mit strukturpolitischen Vorschlägen zur Lenkung von Investitionen in sogenannte 'Zukunftsindustrien'. Um ordnungspolitisch viel bedeutsamere Vorgänge handelt es sich bei den anderen Bereichen, in denen die Gemeinschaft selbständig Wirtschaftspolitik betreibt. Allerdings wird sie hierzu nicht durch Art. 2 EWGV ermächtigt, der sie, was nicht zuletzt der EuGH immer wieder hervorgehoben hat, auf die Vollendung des Binnenmarktes und auf die Koordinierung der einzelstaatlichen Wirtschaftspolitik festschreibt (vgl. Steindotff, 1992, S. 19). Darüber hinausreichende Maßnahmen können zusätzlich nur aufgrund besonderer wirtschaftspolitischer Kompetenz getroffen werden. Dazu bestehen nur in geringem Umfang vorgebene Regeln, sieht man einmal von der Ermächtigung ab, daß die Gemeinschaft bei unvorhergesehenen Fällen, die ihr Tätigwerden erforderlich machen, Vorschriften erlassen kann. Über ausdrücklich vorgesehene Zuständigkeiten verfugt die Gemeinschaft in den schon genannten Ausnahmebereichen Landwirtschaft und Verkehr sowie in der Außenhandelspolitik, in der Regionalpolitik beim Einsatz bestimmter Fondsmittel und in der Sozialpolitik. Jenseits der zunächst fest umrissenen Grenzen weitete sich der Bereich, in dem die Gemeinschaft Wirtschaftspolitik betreibt, aber noch auf einem anderen Weg aus (vgl. Steindotff, 1992, S. 23-26): Wie gesehen bedeutet die Verwirklichung des Binnenmarktes den Abbau der Hindernisse und Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Wirtschaftsverkehrs. Dieses Vorgehen trifft auf voller Breite eine große Zahl einzelstaatlicher Regulierungen. Insoweit wirkt der Gemeinsame Markt wie eine wirkungsvolle Antriebskraft zur Deregulierung.1 Das jedoch weckt Widerstand, weil alle oder zumindest einige Mitgliedsländer befürchten - ob gerechtfertigt oder nicht, sei hier einmal dahingestellt -, daß von ihnen als bedeutend angesehene Aufgaben nicht mehr wahrgenommen würden. Schon aus Gründen der politischen Akzeptanz führt dieser Umstand dazu, daß sich die Gemeinschaft, je entschlossener sie transaktionshemmende nationale Regelungen und Vorgänge überprüft, desto schwerer tut, ausschließlich eine 'negative', allein an Binnenmarktkriterien orientierte Politik zu betreiben. Umso mehr wächst auch der Druck, eigenständige 'positive' Regelungen vorzunehmen. Überall dort, wo eine Harmonisierung wirklich erforderlich ist oder aus irgendwelchen, häufig

Siehe: Dönges, 1990; Basedow, 1991; Dönges und andere, 1992, S. 35.

Integranonsmerkmale und Integrationsmethoden

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regulierungsfreundlichen Gründen für unbedingt notwendig gehalten wird, werden dann oft einzelstaatliche Regulierungen, wie vielfache Erfahrungen belegen, durch EG-Vorschriften ersetzt. Gewiß fallen diese EG-Regulierungen keineswegs immer, aber doch häufig wettbewerbsfreundlicher aus als die vorherigen nationalen Bedingungen, so daß noch ein Deregulierungseffekt verbleibt. Gleichwohl müssen diese Verhältnisse die Gemeinschaft dazu verleiten, eigenen Eingriffs- und Lenkungsabsichten nachzugehen. Schließlich geht die Gemeinschaft mittlerweile über die reaktive Angleichung hinaus (vgl. Steindorff, 1992, S. 2S-26). Heute sind es teilweise bloß noch bestimmte Interessen und Ziele, die die Gemeinschaft tatsächlich zu Regelungen veranlassen, so etwa im Verbraucherschutz, der noch vor gar nicht allzu langer Zeit unzweideutig nicht zu den Gemeinschaftsaufgaben zählte. Ähnliches läßt sich für die Infrastruktur feststellen. Sicherlich besagt dies noch nicht, daß diese Regelungen ordnungspolitisch unverträglich, also wettbewerbsinkonform ausfallen. Nichtsdestoweniger steigt die Gefahr ordnungspolitischer Fehlentwicklungen, wenn der wirtschaftspolitische Spielraum sich auf diese Art ausweitet. Solange ein solches Vorgehen der Kommission geduldet wird und sich die Mitgliedsländer in dieser Frage mehr oder weniger über den Ministerrat sogar als Antreiber verstehen, lauert hier ein ständiges Gefährdungspotential für wettbewerbswidrige Interventionen. Zwar sind Möglichkeiten und Grenzen sowie die Angemessenheit derartiger EG-Regulierungen nicht unumstritten und noch nicht abschließend geklärt. 2 Es ist jedoch zu beobachten, daß die Europäisierung der Regulierung fortschreitet. Ordnungspolitische Spannungsverhältnisse zum Kernbereich 'Wettbewerbsordnung' des europäischen Integrationsansatzes ergaben sich indessen nicht nur aus der Anwendung der Binnenmarktvorschriften, sondern entsprangen schon recht früh auch anderen wirtschaftspolitischen Tätigkeitsfeldern der EG. Beispielhaft soll dies kurz an der Außenhandelspolitik und an der Forschungs- und Technologiepolitik - beziehungsweise der Industriepolitik - verdeutlicht werden. 2.

Die Außenhandelspolitik der EG Allgemein kann man sagen, daß die EG sich mit ihrer gemeinschaftlichen Handels-

politik ganz und gar nicht freihändlerisch verhält, obwohl sie hier als eine regionale Freihandelszone und Zollunion, die von den GATT-Bestimmungen ausgenommen ist, eigentlich eine besondere Verantwortung trägt (siehe Dicke, 1990; Streit und Voigt, 1991, mit weiteren Nachweisen). In diesem Zusammenhang interessiert vor allem, wel2

Nicht selten wird hervorgehoben, daß sich die EG nicht allein auf der Grundlage einer Wettbewerbsordnung verwirklichen lasse, sondern vielmehr eines Mindestmaßes an Regulierung bedürfe. Vgl. etwa Rahmsdorf, 1982; Verhören van Themaat, 1987, 1992; Joerges, 1991, und die dort gegebenen Nachweise.

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che strukturpolitische Stoßrichtung die Handelspolitik der EG besitzt. In der einen Spielart geht es wie in der Landwirtschaft, der Textil-, Bekleidungs- und Schuhindustrie sowie in der Montanindustrie um strukturkonservierende Schutzmaßnahmen, die der Beschäftigungs- und Einkommenssicherung dienen sollen. Begleitet werden sie zudem häufig mit großzügigen Freistellungen von den Wettbewerbsregeln und vom Beihilfeverbot. Wer nun geglaubt hat, die hiermit verbundenen und wohlbekannten enormen volkswirtschaftlichen Kosten ließen sich durch die Ansiedlung der Handelspolitik auf EG-Ebene vermindern, weil dort ein größerer Widerstand gegen derartige Ausgliederungen aus der Wettbewerbsordnung zu erwarten wäre, sieht sich enttäuscht. Mit entscheidend dafür mag sein, daß bei der Kommission früh schon ein Interesse an strukturpolitischer Einflußnahme bestand. In dieselbe Richtung zielen die von der Kommission großzügig gewährten Ermächtigungen für die handelspolitischen Alleingänge einzelner Mitgliedsstaaten, eine Vielzahl sogenannter 'Grauzonenmaßnahmen' und die ungewöhnlich scharfen, markttheoretisch unhaltbaren Antidumping-Regeln der EG, einschließlich der 'Schraubenzieher-Verordnung' (Local-Content-Regelung), die befürchtete Umgehungen der Antidumping-Zölle verhindern sollen.3 Gerade auf diesem Feld ist die EG alles andere als ein ordnungspolitisches Vorbild. Deshalb ist es zweifellos richtig, wenn die Bundesregierung sich nicht nur gegen einen verstärkten Protektionismus der EG wehrt, sondern es auch ablehnt, der Kommission, wie sie fordert {Hort und Stüwe, 1993), größere handelspolitische Kompetenzen einzuräumen. 3.

Die Technologie- und Industriepolitik der EG Die sektorale Wirtschaftspolitik der EG begnügt sich allerdings nicht damit, struk-

turerhaltend zu wirken (siehe vor allem: Klodt, Stehn und andere, 1992). Im Gegenteil geht es ihr vor allem darum, mit Hilfe der Forschungs- und Technologiepolitik sogenannte 'Zukunftsindustrien' zu fördern. Die Forschungs- und Technologiepolitik zählt fraglos zu den sich am stärksten ausbreitenden Bereichen der Gemeinschaftspolitiken, obwohl sie ursprünglich gar nicht in diese Kategorie gehörte. Sie begann anfangs der siebziger Jahre und besitzt mittlerweile einen festen Platz im Rahmen der EG-Strukturpolitik. Die hierzu erforderlichen Entscheidungen fielen im Ministerrat. Damit ging eine beträchtliche Zunahme der hierfür eingesetzten Fördermittel einher. Die Kritik an einer Technologiepolitik zur Industrieförderung ist weit verbreitet und bekannt (siehe statt vieler: Starbatty und Vetterlein, 1990). Hier ist zu betonen, daß diese Art der Strukturpolitik die ordnungspolitische Grundkonzeption der EG in erheblichem Maße von einer Wettbewerbsordnung hin zu einem Mehr an gezielten Einzeleingriffen in das 3

Zur Grundlage der EG-Handelspolitik und zu handelspolitischen Einzelregulierungen siehe: Mttller-Huschke, 1991, mit ausfuhrlichen Nachweisen.

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Marktgeschehen verschiebt. Überall, wo eine solche Forschungs- und Technologiepolitik zur Industrieförderung betrieben wird, glaubt man, die gestellten Aufgaben durch eine Zusammenarbeit von Staat, Unternehmen, Verbänden und anderen gesellschaftlichen Gruppen besser bewältigen zu können. Schon heute läßt sich der Versuch der Kommission beobachten, fehlende eigene Handlungsmöglichkeiten dadurch zu ersetzen, daß sie Unternehmen in eine beaufsichtigte Mitarbeit einbindet (Mestmäcker, 1992). Ein solches konzertiertes Zusammenwirken steht allerdings in einem unüberwindbaren Widerspruch zu den Grundsätzen der Wettbewerbsordnung. In diesen Entwicklungen zeichnen sich insgesamt eine beachtliche ordnungspolitische Wende sowie eine spürbare Aufweichung des Systems unverfälschten Wettbewerbs ab (vgl. auch Hamm, 1993). Die EEA und der Vertrag von Maastricht nehmen diese Entwicklung auf und ändern dazu den Umfang der wirtschaftspolitischen Aufgaben der EG. So wird im EGV, wie die vertragliche Grundlage der Gemeinschaft fortan heißen soll, im Art. 2 jetzt allgemein festgeschrieben, daß die Aufgabe der Gemeinschaft sich demnächst nicht in der Errichtung des Gemeinsamen Marktes erschöpfen dürfe. Hinzukommen sollten demnach auch die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie "die Durchführung der in den Artikeln 3 und 3a genannten Politiken oder Maßnahmen". Auf diesem Wege sollen zukünftig die wirtschaftspolitischen Ziele der Gemeinschaft verfolgt werden. Damit wird der Aufgabenbereich der Gemeinschaft gegenüber seiner bisherigen strengen Abgrenzung erheblich ausgeweitet (Steindorff\ 1992, S. 19-21). So soll nunmehr ausdrücklich auch möglich sein, Einzelmaßnahmen vorzunehmen, ohne deren Einsatz an bestimmte ordnungspolitische Vorgaben zu binden. Diese Vertragsänderung, der vermutlich viel mehr Gewicht zukommt als den meisten neuen Einzelbestimmungen, stellt grundsätzlich einen gewichtigen ordnungspolitischen Umbruch dar, weil er den Spielraum wirtschaftspolitischer Maßnahmen von der Wettbewerbsordnung abkoppelt. Dieser Ermessensausdehnung steht nun gegenüber, daß der neue Art. 3 EGV vorsieht, daß die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft eine Wirtschaftspolitik verfolgen, die "dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist". Wie sich der hier angelegte Widerspruch auflösen soll, wird die Praxis zeigen müssen. Da der Begriff der 'Marktwirtschaft' politisch ungeheuer dehnbar interpretiert wird und sich häufig einfach in Lippenbekenntnissen erschöpft, muß man angesichts der jüngeren wirtschaftspolitischen Erfahrungen befürchten, daß diese Bindung wahrscheinlich keine nennenswerte ordnungspolitische Bremswirkung haben wird. Eine solche Umorientierung für die Wirtschaftspolitik der EG schlägt sich in umfangreichen neuen Zuständigkeiten für die Zeit nach Maastricht nieder, so für das Bildungs- und Gesundheitswesen, die Infrastruktur (Stichwort: Transeuropäische Netze),

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den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt ('Konvergenz' und 'Kohäsion'), die Bereiche Energie, Verbraucherschutz und Fremdenverkehr sowie vor allem für die Industrie. Alle diese Bereiche werfen ordnungspolitische Probleme auf. Gleichwohl steht die Industriepolitik, die ganz eng mit der schon seit der EEA zur Gemeinschaftsaufgabe beförderten Forschungs- und Technologiepolitik verflochten ist, im Mittelpunkt des Interesses.4 Denn immerhin arbeitet die Kommission bereits seit Mitte der sechziger Jahre darauf hin, der Gemeinschaft Kompetenzen im Bereich der Industriepolitik zu übertragen (vgl. Dicke und andere, 1987, S. 145-147), und zwar nicht zuletzt deshalb, um die seit längerem betriebene indirekte Industriepolitik endlich 'absegnen' zu lassen. Wenn mit Maastricht jetzt der Durchbruch gelingt, dann sollen die Gemeinschaft und die Mitgliedsländer - was häufig übersehen wird - die Anpassungsfähigkeit im Strukturwandel verbessern und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stärken. Gleichzeitig liefert dies die Grundlage, die übrigen Politikbereiche und so insbesondere die Forschungs- und Technologiepolitik noch stärker als bisher industriepolitisch auszurichten. Wie die Industriepolitik künftig konkret aussehen wird, hängt entscheidend davon ab, welche Vorlagen der Kommission der Ministerrat billigen wird. Hierzu verlangt der EGV Einstimmigkeit. Das mag eine gewisse Bremse gegen ordnungspolitisch bedenkliche Vorschläge darstellen, ist aber mitnichten ein dauerhaft durchschlagkräftiges Hemmnis. Denn ein einzelnes Land kann es kaum politisch durchhalten, ständig sein Veto einzulegen, und häufig werden für die Entscheidungsfindung ohnehin Kompromißbündel geschnürt. Der industriepolitische Ansatz der Gemeinschaft läßt sich bereits jetzt wenigstens in seinen Umrissen ausmachen. Das letzte industriepolitische Konzept (EG-Kommission, 1991, 1992; EG-Rat, 1993), das die Kommission 1991 vorgelegt hat - das sogenannte Bangemaim-Papiei - liest sich in seinen Grundzügen erstaunlich wettbewerbsfreundlich. Die Förderung des Wettbewerbs, die Öffnung der Märkte sowie die Schaffung investitions- und innovationsfördernder allgemeiner Rahmenbedingungen stehen eindeutig obenan. Eine sektorale Strukturerhaltung wird als verfehlt angesehen. Freilich sieht dies alles völlig anders aus, wenn es sich um Wirtschaftszweige mit sogenannten Hochtechnologien handelt. Solche angeblichen 'Zukunftsindustrien' sollen nämlich durch gezielte Unterstützung gefordert werden. Dazu sollen "Aktionsprogramme" für einzelne Industriezweige entwickelt werden, um die neuen Kompetenzen umfassend zu nutzen (siehe Klodt, Stehn und andere, 1992, S. 155-158). Nach dem, was sich hier bislang

Aus der mittlerweile umfangreichen Literatur siehe etwa: Bietschacher und Klodt, 1991; Berthold, 1993, S. 114-127; Möschel, 1992; Sachverständigenrat, 1992, S. 245-247; Starbatty und Vetterlein, 1992; Schmidt, 1992; Vetterlein, 1992; Feldmann, 1993, sowie die dort gegebenen Nachweise.

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abzeichnet, steht die EG-Industriepolitik Ober weite Strecken hinweg im Gegensatz zu der Wettbewerbsordnung als dem konstitutiven Grundprinzip der Gemeinschaft. Das läßt sich nicht nur an der Technologiepolitik zeigen, sondern ebenso sehr daran, daß die Gemeinschaft - demnächst sogar gestützt auf Art. 130 EGV - den bereits früher begonnenen Weg zu einer 'strategischen' Wettbewerbspolitik beschreitet (EG-Kommission, 1993). Wie sie immer wieder betont, geht es ihr darum, die Zusammenarbeit und vor allem grenzüberschreitende Kooperationen zwischen Unternehmen zu fördern. Beispielhaft belegen dies die Gruppenfreistellung für eine sogenannte vorwettbewerbliche Zusammenarbeit bei Forschung und Entwicklung sowie das Strukturkrisenkartell der Hersteller synthetischer Fasem, an dessen Zustandekommen die Kommission aus strukturpolitischen Gründen selbst mitgewirkt hat. Diese untemehmenspolitische Komponente wird noch erheblich verstärkt durch die 'Unternehmenspolitik in der Gemeinschaft' , die mit Hilfe einer Europäischen Aktiengesellschaft gleichfalls die industrielle Zusammenarbeit voranbringen soll - diesmal in Richtung einer grenzüberschreitenden Konzentration. Das Ganze steht unter dem Vorzeichen der Schaffung einer europäischen Unternehmensstruktur. Außerdem kann man nicht ausschließen, daß die Einführung industriepolitischer Zuständigkeiten auf die Handhabung der Fusionskontrolle zurückwirkt, indem sie bei den jeweiligen Abwägungen wettbewerbspolitische Gesichtspunkte zurückdrängt (vgl. Mestmäcker, 1988). V.

Fazit Die genannten Bestrebungen lassen sich nur schwer mit den Wettbewerbsvorschriften der EG vereinbaren, die nach wie vor die eigentliche Grundlage der Marktintegration darstellen. Höhlt man sie aus, so verläßt man die ordnungspolitische Grundkonzeption des EWGV. Die erkennbaren industriepolitischen Ansätze weisen eine sektorale Orientierung auf und verfolgen nicht den Zweck, einzelstaatliche Interventionen und Subventionen abzuschaffen, sondern sie aufeinander abzustimmen und möglichst weitgehend zu vergemeinschaften. Sie fördern den Integrationsprozeß nicht, sondern erschweren ihn. Das weitere Zusammenwachsen der Märkte wird gebremst, mitunter sogar verhindert, weil der größte Teil der Sektorenpolitik zu einer Segmentierung der Märkte führt. Damit bahnt sich ein Rückfall in die sektorale Integration an mit allen Nachteilen, wie sie Montanunion und Landwirtschaft deutlich machen. Kurzum: Gelingt es nicht, dem immer weiter fortschreitenden Zurückdrängen der Grundfreiheiten sowie der Prinzipien der Wettbewerbsordnung Einhalt zu gebieten, so droht die EG in eine immer größere ordnungspolitische Schieflage zu geraten.

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Eine Verfassungskonz/eption für die Europäische Union Wernhard Möschel, Tübingen

I. Zu den Zwecken europäischer Integration 1. Das Friedensargument 2. Das Binnenmarkt-Argument 3. Das imperiale Argument 4. Das Deutschen-Argument II. Zu den Beurteilungskriterien

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III. Die institutionellen Optionen 1. Bundesstaatliche Struktur 2. Europa der Regionen 3. Zum Maastricht-Modell a. Neue Kompetenzen b. Subsidiarität c. Defizite bei der Politischen Union d. Zum Demokratie-Defizit von Maastricht

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IV. Europäische Minimalgemeinschaft

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Wernhard Möschel

Einem 'on dit' zufolge soll der liebe Gott nach der Lektüre der Maastrichter Vereinbarungen gesagt haben: "Ja, wenn i dös vorher g'wußt hätt', dann hätt' i dös net erschaffen. " Daran mag überraschen: Der liebe Gott spricht gelegentlich bayerisch. Nicht überraschen kann: Der Vertrag von Maastricht wurde auch über seinen Kopf hinweg geschlossen. Für die Europäische Gemeinschaft zeichnen sich Weichenstellungen ab. Am 1. Januar 1993 ist das Binnenmarktprogramm in Kraft getreten. Spätestens zum Jahre 1999 soll die Währungsunion verwirklicht sein. Eine nachhaltige Erweiterung der Gemeinschaft, eine auf mittlere Sicht und eine auf längere, ist in der Diskussion; bis zu 23 Aufnahmeinteressenten werden gezählt. Schließlich enthalten die Maastrichter Vereinbarungen ein Vertragswerk über eine Europäische Union. Diese zielt, wenn auch in sehr vager Form, auf eine verstärkte politische Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Sie soll "eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas" darstellen (Artikel A Abs. 2 Unionsvertrag). Vorbereitet durch eine britische Diskussion noch vor Maastricht, veranlaßt durch das dänische Nein vom 2. Juni 1992 und aufgeschreckt durch den Meinungsstreit rund um das französische Referendum vom 20. September 1992, stellt sich eine breitere Öffentlichkeit in den 12 Mitgliedstaaten jetzt zum ersten Mal die Frage, auf welches Ziel die europäische Integrationspolitik letztlich zusteuern soll. Dies ist wohl die wichtigste Weichenstellung: Soll der europäische Zug nach dem Muster der vergangenen 40 Jahre Spur halten oder ist eine Neuorientierung geboten? Ich werde in einem ersten Teil die möglichen Zwecke dieser Integrationspolitik in Erinnerung rufen, auch die dazugehörigen Relativierungen. In einem kurzen zweiten Abschnitt benenne ich die Kriterien, von denen eine Zuordnung von Zwecken und institutionellen Vorkehrungen abhängig gemacht werden kann. Der Schwerpunkt meiner Überlegungen liegt im dritten Teil. Ich erörtere dort die verschiedenen institutionellen Optionen, die zur Verfügung stehen. Mein Ergebnis wird sein: Weder die Römischen Verträge in ihrer ursprünglichen Fassung von 19S7 noch gar die Maastrichter Vereinbarungen vom Februar 1992 sollten als Modell dienen. Beide gehen in wichtigen Bezügen schon zu weit, in anderen nicht weit genug. Anzustreben wäre eine sich ordnungspolitisch definierende europäische Minimalgemeinschaft, verbunden mit einer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit auf jenen Feldern, welche einzelstaatlich nicht mehr zureichend wahrgenommen werden können.

Eine Verfassungskonzeptionfiirdie Europäische Union

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I.

Zu den Zwecken europäischer Integration Die mit einer europäischen Integration verfolgten Zwecke lassen sich in vier Aspekten zusammenfassen (vgl. hierzu schon: Möschel, 1992a, S. 878 ff.) 1.

Das Friedensargument Mit Friedensargument mag man die Überlegung bezeichnen, eine Integration von Nationalstaaten schließe das Risiko kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen ihnen endgültig aus. Das Argument wirkt heute im Hinblick auf den Umkreis der EG-Mitgliedstaaten und der EFTA-Staaten möglicherweise bemüht. Es kann bei einer Erweiterung der EG in Richtung Ost- und Südosteuropa stärker greifbar werden. Es finden sich dort beinahe durchgängig Minderheitenprobleme und entsprechende Irredenta-Potentiale. So leben z.B. relativ mehr Ungarn in den Nachbarstaaten außerhalb Ungarns als dies für Deutsche in der früheren DDR in ihrem Verhältnis zur alten Bundesrepublik zutraf. Integration ist als Instrument der Friedensverb&rgung gewiß hilfreich. Sie erfordert indes nicht jene Intensität, wie sie in den Maastrichter Vereinbarungen teils verwirklicht, teils angelegt ist. Alternative oder ergänzende Sicherheitsstrukturen nach Art der WEU oder der KSZE sind dabei ebenso in Rechnung zu stellen wie die NATO und die dadurch gewährleistete militärische Präsenz der USA in Europa. Letzteres dürfte auch unter dem Aspekt des Binnenfriedens der überragende Stabilisierungsfaktor sein. 2.

Das Binnenmarkt-Argument Im Vordergrund der öffentlichen Diskussion steht eine Überlegung ökonomischer Effizienz. Man kann vom Binnenmarkt-Argument sprechen. Es ist unstreitig, daß die Errichtung eines Binnenmarktes in dem Sinne, daß Hindemisse für die freie Bewegung von Gütern und Produktionsfaktoren beseitigt werden, handelsschaffende und in diesem Ausmaß wohlfahrtssteigernde Wirkungen hat. Ebenso unstreitig sind die handelsumlenkenden Wirkungen, namentlich zu Lasten der Außenstehenden. Das GATT nimmt solche (pekuniären) externen Effekte hin. Es handelt sich dabei nicht um ein NullsummenSpiel. Die durch solche Integration beförderte Wachstumsdynamik hat vielfach positive Wirkungen auch nach außen. In der Summe entspricht die tatsächliche Entwicklung der EG diesem Bild. Bei aller Kritik an Regelungshypertrophien aus Brüssel sollte nicht vergessen werden, daß es ohne den Druck des EG-Rechts auf zahlreichen Märkten nicht zu jenen Öffnungen gekommen wäre, die wir heute vorfinden (besonders instruktiv: Bericht der Deregulierungskommission, 1991). Dies gilt namentlich für die Versicherungswirtschaft, das Femmeldewesen, den Luftverkehr und den Straßengüterverkehr. Für die Stromversorgungsmärkte und für den Schienenverkehr zeichnet sich eine ähnliche Perspektive ab. Flankierend zu nennen sind femer ein Aufbrechen des öffent-

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liehen Beschaffungswesens, die Begrenzung nationaler Subventionspolitik aufgrund der Beihilferegelungen in Art. 92 ff. EWG-Vertrag und nicht zuletzt auch das Europäische Wettbewerbsrecht, darin eingeschlossen eine EG-weite Fusionskontrolle. Auf die Sollseite der Bilanz sind - jedenfalls in einer isoliert ökonomischen Perspektive - die gemeinsame Agrarpolitik zu nehmen und, im Umfang von sehr viel geringerem Gewicht, protektionistische Maßnahmen in einzelnen Industriezweigen wie z.B. bei Automobilen oder in der Mikroelektronik. Die mit Maastricht vereinbarte Währungsunion läßt sich mit dem genannten Binnenmarkt-Argument nicht zureichend begründen. Gewiß, bei einer einheitlichen Währung erspart man Kosten des Geldwechsels und der Wechselkursabsicherung für Handel und Kapitalverkehr. Die Planungsgrundlagen für Investoren vereinfachen sich (zu solchen Vorteilen im einzelnen: Bundesministerium für Wirtschaft, 1992). In Relation zu solchen Einsparungen erscheint das Risiko, daß diese Währungsunion zu einem Mißerfolg führen könnte, freilich als viel zu groß. Ein Binnenmarkt-Argument hat auch nur begrenzte Verbindung zu politischen Rechtfertigungen einer Währungsunion. Deren Bandbreite ist weit. Am einen Ende steht die Vorstellung, mit einer einheitlichen Währung die europäische Integration unumkehrbar zu machen. Dies ist die Position der gegenwärtigen deutschen Bundesregierung. Am anderen Ende steht ein Motiv, auf solche Weise deutschen Einfluß niederzuhalten. In den Worten des Pariser Figaro: "Deutschland muß zahlen, hieß es in den zwanziger Jahren. Heute zahlt Deutschland: Maastricht, das ist dasselbe wie der Versailler Friedensvertrag - ohne Krieg" (Giesbert, 1992, S. 1, erste Spalte). In einer Perspektive ökonomischer Effizienz kann es bei einer Währungsunion vielmehr nur darum gehen, gutes Geld zu schaffen, das heißt stabiles Geld. Der Kern der geplanten Währungsunion liegt darin, daß den beteiligten Nationalstaaten die Herrschaft über die Geldversorgung genommen, diese soweit wie möglich verobjektiviert werden soll. Ich kann hier nicht auf den Prognosestreit eingehen, ob die vorgesehenen institutionellen Vorkehrungen für ein so ehrgeiziges Ziel ausreichen. Ich will nur auf einen Mangel an Glaubwürdigkeit hinweisen. Zu den Eintrittskriterien der Währungsunion gehört u.a. eine Schuldenquote von nicht mehr als 60 vH (gesamte Staatsschuld in Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu Marktpreisen). Für Italien liegt sie im Jahre 1992 bei 108 vH, für Belgien bei 133,4 vH. Es scheint ausgeschlossen, daß beiden Ländern in den nächsten Jahren eine durchgreifende Reduzierung dieser Schuldenquote gelingt. Auch die in Italien erwogenen Privatisierungen von Staatsunternehmen reichen dafür nicht hin. Geht man von der recht robusten Annahme aus, beide Länder, zu den Gründungsstaaten der EWG gehörend, könnten politisch gar nicht von einer sofortigen Teilnahme an der Währungsunion ausgeschlossen werden, dann haben die Vertragsparteien

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von Maastricht Regeln geschaffen, von denen sie schon im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses wußten, daß sie nicht einzuhalten sind. Es geht dabei nicht um die sachliche Bedeutung dieses Schuldenkriteriums; sie ist eher bescheiden (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 1992, Tz. 423 ff.). Deutlich wird vielmehr: Auf der Basis der gemachten Annahme wollten die Vertragsparteien die Öffentlichkeit mit allem Vorbedacht täuschen. Eine vertrauensbildende Maßnahme in Richtung stabiler Währung ist dies nicht. 3.

Das imperiale Argument In den letzten Jahren hat ein weiteres Argument Konturen erlangt: Europa müsse seine Kräfte bündeln, um die globalen Herausforderungen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert bestehen zu können. Es würde auf diese Weise eine Stellung erlangen, wie sie gegenwärtig allein die USA innehaben. Von Europa als einer "Weltmacht im Werden" (Werner Weidertfeid) ist die Rede. Man kann ein solches Ziel das imperiale Argument nennen. Es hat vornehmlich eine sicherheits- und eine außenhandelspolitische Komponente. Erstrebte Einflußnahme auf die Lösung globaler Umweltprobleme tritt hinzu (vgl. z.B. Kohl, 1992a, S. 698). Solche Zielvorstellung bleibt im Zwielicht. Manches spricht zwar dafür, daß die nächsten 40 Jahre, sicherheitspolitisch gesehen, unruhiger sein werden als die soeben vergangenen. Ein geeintes, machtvolles Europa hätte insoweit einen Sinn. Doch hat dies eine Kehrseite: Macht zieht Verantwortung nach sich. Mit einer Nischen-Mentalität wäre die damit verbundene Rolle nicht auszufüllen. Außenhandelspolitisch könnte ein europäischer Gigant die sich ohnehin abzeichnende Triadisierung zwischen den USA, Japan und der EG weiter befördern. Dieses enge Oligopol könnte zu Lasten der Außenseiter gehen und die Philosophie des GATT mit seinen Prinzipien der Nichtdiskriminierung und der Meistbegünstigung untergraben. Eine solche Entwicklung ist nicht zwangsläufig. Europa ist auch als Garant einer Freihandelsorientierung vorstellbar. Die Versuchung zu bilateralem Ausgleich der Handelssalden zwischen den großen Drei und zu wechselseitig toleriertem Protektionismus nach außen wäre aber groß. Delors' Diktum: "Wir schaffen keinen gemeinsamen Markt, um diesen dann hungrigen Ausländem zu überlassen" (zitiert nach Dichtl, 1989, S. 157), beleuchtet das Risiko. 4.

Das Deutschen-Argument Schließlich besteht ein Zusammenhang zwischen der europäischen Integration und dem, was man die deutsche Frage zu nennen beliebt. Nennen wir den Gesichtspunkt das Deutschen-Argument. Es weist vier Facetten auf.

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- Die erste besteht darin, über eine europäische Integration Deutschland einzubinden, es in "eine Art Käfig" zu nehmen, wie dies der Politologe Alfred Grosser nennt1. Die Hast, mit welcher die Maastricht-Verträge - parallel zur sich vollziehenden Wiedervereinigung Deutschlands - ausgearbeitet wurden, findet darin eine Ursache. Hinzu tritt ein Interesse, die Ressourcen Deutschlands sozusagen unter Preis nutzen zu können. Dies ist eine Konstante, welche vom EGKS-Vertrag des Jahres 1951 - Kohle und Stahl waren damals knappe Güter - bis hin zur ausgeprägten Nettozahler-Rolle Deutschlands innerhalb der EG reicht2. - Eine zweite Facette ist ein in Deutschland manchmal anzufindendes mangelndes Vertrauen in die eigene Politikfähigkeit, ein Horror vor dem, was man "deutschen Sonderweg" nennt. Von daher ist ein Schritt sozusagen in eine freiwillig übernommene Teilunmündigkeit nicht fem. - Ganz dominant ist in Deutschland wohl eine dritte Facette, die Furcht vor der Gefahr einer Einkreisung, einer Isolierung des Landes und einer Allianzbildung gegen seine Interessen, wenn diese außerhalb des europäischen Rahmens artikuliert werden. Darin wurzelt eine gelegentlich an Entsagung reichende Kompromißbereitschaft der deutschen Europapolitik. Auch die Unbedingtheit, mit der die drei privaten Großbanken in der Bundesrepublik öffentlich für die europäische Währungsunion eintreten, findet darin ihre wesentliche Erklärung. - Eine vierte Facette begründet aus der Deutschen-Frage gerade umgekehrt einen Vorbehalt gegenüber einer stärkeren Integration. In einem so verfaßten Europa müsse sich die wirtschaftliche Kraft Deutschlands unausweichlich durchsetzen. Das Argument ist namentlich in der englischen Diskussion verbreitet. Frau Thatcher schlußfolgerte in ihrer Den Haag-Rede vom IS. Mai 1992: "What follows from this is that German power will be best accommodated in a looser Europe in which individual nation-states retain their freedom of action. If Germany or any other power then pursues a policy to which other countries object, it will automatically invite a coalition against itself" (Thatcher, 1992, S. 5). Helmut Kohl hat dazu wenig später in einem Vortrag in Zürich gemeint - ich sage es abgekürzt mit meinen Worten dies

1

2

Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 132 vom 19. August 1992, S. 2 ("Stimmen der Anderen. Eine Art Käfig für Deutschland?"). Im Anlage-Kommentar einer Schweizer Bank vom 15. Dezember 1992 heißt es lapidar: "Politisch gesehen kann ein Vereinigtes Europa beim heutigen weltpolitischen Stand der Dinge nur eine Berechtigung haben: das territorial erstarkte Deutschland einzubinden." Deutschland zahlt gegenwärtig im Jahr netto rund 20 Mrd. DM an die EG, mehr als dreimal so viel wie Großbritannien und mehr als sechsmal so viel wie Frankreich.

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sei ein Standpunkt von vorgestern 3 . Man mag das so sehen. Ein real wirkender Faktor bleibt solcher Standpunkt gleichwohl. In Frankreich ist diese vierte Facette ebenfalls anzutreffen. So warnte z.B. der frühere Verteidigungsminister Chevènement als Maastricht-Gegner vor einem "amerikanisch-deutschen Heiligen Reich" 4 . Für die politische Klasse Frankreichs, welche die Außenpolitik bestimmt, scheint mir dies freilich nicht typisch zu sein. Letztere, gestützt auf diplomatische Erfahrungen aus Jahrhunderten, traut sich in meiner Bewertung eher mühelos zu, den leicht naiven Gulliver "d'outre Rhin" festzubinden.

II.

Zu den Beurteilungskriterien Die genannten Zwecke sind nicht vollständig harmonisierbar. Wichtiger: Sie öffnen

sich zwiespältiger Bewertung. An welchen Maßstäben soll man sich orientieren, wenn man ihre Umsetzung in institutionelle Formen überdenkt? Als Bezugspunkt drängt sich eine Art Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf. Vorgeschlagene Instrumente sollten zur Zielerreichung geeignet sein. Die mit ihnen verbundenen Nachteile, also der jeweils zu zahlende Preis, sind bilanzierend in Rechnung zu stellen. Geeignetheit bedeutet namentlich Realismus im Urteil. Träumereien und Sentimentalitäten sind fehl am Platz. Realitätssinn schließt mit ein, daß die europäische Integration nicht bei einem Punkt Null beginnt. Die gewachsenen Strukturen lassen sich nicht ignorieren. So wird es außerordentlich schwierig, vielleicht unmöglich sein, die europäische Integration in einzelnen Bezügen hinter den Stand von 19S7 zurückzuführen. Auch der Maastricht-Vertrag ist in der Welt, sein Inkrafttreten allerdings noch nicht sicher. Ohne Zustimmung von Dänemark und von Großbritannien geht es nicht. Maastricht bietet freilich eine doppelte Änderungschance: Der Vertrag über die Europäische Union harrt ohnehin der Konkretisierung, und für 1996 ist eine Konferenz der Vertreter aller Mitgliedstaaten einzuberufen, auf der einzelne Vertragsbestimmungen noch einmal zu prüfen sind. Dies gilt zwar nur für jene Bestimmungen, für welche explizit eine Revision vorgesehen ist. Doch ist zumindest ein äußerer Anlaß vorhanden, weitergehende Änderungen zu verabreden. Zum Realismus gehört ferner ein Verständnis vom prozeßhaften, vom dynamischen Charakter der europäischen Integration. Es geht eher um Perspektiven, um Chancen und Risiken. Reißbrettlösungen, welche einen Endzustand beschreiben, machen von daher nur begrenzt Sinn. Gefordert ist schließlich 3

4

A.a.O. (Fn. 6), S. 698 1. Sp. (".. ein Rückgriff auf überholte Konzepte"); ähnlich Kohl, 1992b, S. 1141, 1142 1. Sp. ("Ich fühle mich in eine unselige Vergangenheit zurückversetzt, wenn heute hier und da Stimmung gemacht wird mit dem Argument, Deutschland sei so groß und mächtig geworden, daß es durch Koalitionen "eingedämmt" werden müsse"). Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 210 vom 9. September 1992, S. 6 ("Scharfe Töne Chevfcnements").

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eine Einsicht: Hierbei zu treffende Entscheidungen fallen meist unter Bedingungen hoher Ungewißheit. Von daher ist intellektuelle Bescheidenheit angezeigt, nicht die Selbstgewißheit und schneidende Schärfe von Glaubenskriegern, die sich mit dem lieben Gott im Bunde wissen. Intellektuelle Einfälle statt Ausfalle sind gefragt, Offenheit des Bewußtseins anstelle jeder Verbiesterung. III. Die institutionellen Optionen Wenn ich im folgenden auf die wichtigsten institutionellen Optionen eingehe, so liegt dem kein Vorverständnis im Sinne einer präzisen Begrifflichkeit mit daraus abzuleitenden Schlußfolgerungen zugrunde. Es werden vielmehr Strukturmerkmale akzentuiert, die ineinander übergehen können. Zu solcher Vorgehensweise paßt das Bild von der constitutio emergens (vgl. Grabitz, 1992, S. 129). 1.

Bundesstaatliche Struktur Die genannten Integrationszwecke lassen sich, mit Ausnahme jener Facette, für welche ich Frau Thatcher zitiert habe (vgl. Thatcher, 1992, S. S), am nachhaltigsten innerhalb eines europäischen Bundesstaates verwirklichen. Gemeint ist eine Struktur mit einer nach innen wie nach außen handlungsfähigen Regierung, mit einem Parlament als dem zentralen Gesetzgebungsorgan und mit substantiellen Kompetenzen auf der Gemeinschaftsebene. Dies liegt auf der Linie einer europäischen Integrationsentwicklung, die sich in der Vergangenheit von Etappe zu Etappe intensiviert hat. Doch schließt das nicht endgültig die Möglichkeit eines Stopps oder einer Umorientierung für den europäischen Zug aus. Im Unionsvertrag von Maastricht mag man Ansätze für bundesstaatliche Strukturen erkennen. Es gibt u.a. eine gemeinsame Unionsbürgerschaft, von Prinzipien der Kohärenz und der Solidarität ist ebenso die Rede wie von der Identität und Unabhängigkeit Europas. Dazu kann "auf längere Sicht" und "zu gegebener Zeit" auch eine gemeinsame Verteidigung gehören (Artikel B Unionsvertrag). Ob dies mehr als ein verbales Palliativ gegenüber jenen Mitgliedstaaten darstellt, welche ursprünglich ein Junktim zwischen Währungsunion und Politischer Union gefordert hatten, muß sich noch erweisen. In der Sache selbst sehe ich eher Anlaß zu Skepsis. Die namentlich von der Deutschen Bundesbank vertretene These, schon die verabredete Währungsunion erfordere auf Dauer das Dach einer Politischen Union, die über Maastricht hinausgehe5, überzeugt mich nicht. Sie ist zu sehr von eigenen Erfahrungen geprägt. Die Bundesbank wird bekanntlich in ihrer Politik von einer stabilitätsorientierten öffentlichen Meinung gestützt und zugleich abgeschirmt. Eine öffentliche Mei5

Exemplarisch Schlesinger, 1991, S. 1 ff.; ders., 1992, S. 1 ff.; ebenso Issing, 1992, S. 3 ff.; Tietmeyer, 1992, S. 5, 9; Jochimsen, 1992, S. 5, 6 ff.; siehe auch Theurl, 1992.

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nung quer durch Europa, so das Argument, gäbe es nicht, schon gar nicht mit solcher Orientierung. Weiter wird zutreffend gesagt, eine künftige Europäische Zentralbank müsse ihre Resistenzfahigkeit bei der Geldversorgung gegenüber den Einkommensansprüchen der Lohnpolitik und den Zins- und Kreditansprüchen der Haushaltspolitik erst noch unter Beweis stellen. Doch scheint mir sicher zu sein, daß eine Politische Union von deutlich bundesstaatlicher Struktur solche Aufgabe eher erschwert. Anders formuliert: Bleibt Hoheitsmacht stärker zersplittert auf die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, wächst die Chance für eine Objektivierung der Geldversorgung durch eine unabhängige Zentralbank. Im übrigen erscheint das Ziel eines europäischen Bundesstaates wenig realistisch. Die wohl einzige politische Kraft, die solches Ziel (noch?) anstrebt, scheint die deutsche Bundesregierung zu sein. Helmut Kohl spricht denn auch gerne von den "Vereinigten Staaten von Europa" 6 . Diese politische Kraft ist innerhalb Europas zu schwach. Solche Bewertung drängt sich namentlich auf, wenn man die Perspektive einer nachhaltigen Erweiterung der EG mit ins Bild nimmt 7 . Ich halte das genannte Ziel auch nicht für wirklich erstrebenswert. Die Vorstellung eines multikulturellen 'melting pot of people' wird nahezu durchgängig verworfen. Selbst der Unionsvertrag von Maastricht sieht sich veranlaßt, in seinem Artikel F Abs. 1 die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten zu betonen. Die praktischen Erfahrungen in der westlichen Welt mit vielsprachigen, in unterschiedlichen Identitäten wurzelnden Bundesstaaten mahnen zu Vorsicht: In Kanada scheint der Streit zwischen dem größeren englischsprechenden und dem kleineren französischsprachigen Landesteil fast ausweglos. Ähnliches gilt für Belgien mit emotional offenbar tiefsitzenden Vorbehalten zwischen Flamen einerseits und Wallonen andererseits. Das Gegenbeispiel Schweiz scheint mir als Ausnahmesachverhalt die genannte Skepsis eher zu bestätigen als zu entkräften. Schwer vorstellbar ist weiter, wie innerhalb eines sprachlich wie identitätsmäßig zersplitterten europäischen Bundesstaates ein Gesetz noch Ausdruck einer 'volonté générale' sein kann. Wie soll eine in zahlreichen Mitgliedstaaten fraktionierte öffentliche Meinung die Richtigkeitsgewähr einer Entscheidung erhöhen, sie der "Wahrheit" soweit wie möglich annähern, wie dies John Stuart Mill vor mehr als ISO Jahren klassisch formuliert hat (Mill, 1969; auch Wtldenmann, 1992, S. 81 ff.)? Zu fragen ist schließlich, ob ein Bundesstaat mit starken zentralen Funktionen ohne ein Gemeinschaftsbewußtsein funktionieren kann, welches man traditionell Patriotismus 6 7

Z.B. 1992b, S. 697 unter Bezugnahme auf die berühmte Züricher Rede Winston Churchill's vom 19. September 1946. Maastricht aus eben diesem Grunde als Sackgasse bewertend: Schmieding, 1992.

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nennt. Man darf sich hier keinen Illusionen hingeben. Die Interessengegensätze zwischen den Mitgliedstaaten sind unverändert beträchtlich. Die deutsche Wiedervereinigung z.B. wurde, mit Ausnahme der spanischen, von keiner Regierung aus den EGMitgliedstaaten unterstützt. Frankreich bekämpfte sie aktiv so lange, als noch eine Erfolgschance für solche Politik gesehen wurde. Selbst in existentiellen Fragen eines Mitgliedstaates kann demnach von einem Grundkonsens innerhalb der EG nicht die Rede sein. Ob ein blutleeres Konstrukt wie jener Verfassungspatriotismus, welcher einst innerhalb der alten Bundesrepublik angedient wurde, auf europäischer Ebene ein zureichendes Substitut sein kann, ist nach den Erfahrungen in meinem Lande eher zu verneinen. All dies sei ohne jeden Anflug von Kritik gesagt. Mir geht es nur um ein Plädoyer für nüchternen Realitätssinn. Charles de Gaulle benutzte für solche Sicht häufig die Wendung: "Les choses étant telles quelles sont..." 2.

Europa der Regionen Eine Variante des bundesstaatlichen Konzepts ist die Idee eines Europa der Regionen. Die Vorstellung ist, daß zwischen Brüssel einerseits und den Regionen andererseits die Nationalstaaten nachhaltig Kompetenzen abzugeben hätten. Es verbindet sich damit die Erwartung größerer Bürgernähe. Auch Ungleichheiten in den Lebensbedingungen ließen sich in einer Vielzahl kleinerer Regionen eher ertragen als innerhalb größerer Einheiten. Ökonomen denken an einen effizienteren Zuschnitt von Wirtschaftsräumen. Wer die Befürchtung hegt, etwa das wiedervereinte Deutschland sei zu groß geworden, um nur einer unter vielen Spielern Europas zu sein, mag solchem Konzept zusätzlichen Reiz abgewinnen. Der Vertrag von Maastricht hat dieser Idee bescheidenen ersten Tribut gezollt. Auf der Ebene der Gemeinschaft wird ein beratender Ausschuß der Regionen eingerichtet werden. Er soll aus 189 Vertretern der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften bestehen (Art. 198 a EG-Vertrag). Doch auch hier ist vor Träumereien zu warnen. Außerhalb der drei deutschsprachigen Länder Europas haben föderale Strukturen keine verwurzelte Tradition. Die Vorstellung, quer durch Europa Regionen als Bausteine einführen zu können, welche einen Bundesstaat konstituieren sollen, erscheint unter diesen Umständen überaus kühn. Ein Bedenken in der Sache kommt hinzu: Regionen dürften innerhalb eines europäischen Bundesstaates auf Dauer keine Chance haben, sich gegenüber den auf Zentralisierung drängenden Kräften zu behaupten. Die faktische Aushöhlung der Länderkompetenzen in der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu den Kompetenzen des Bundes beleuchtet den Gedanken.

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Davon unberührt bleibt die Möglichkeit verstärkter grenzüberschreitender Kooperation zwischen kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften. Solche Praxis gibt es schon jetzt, wenngleich von sichtbaren Erfolgen wenig bekannt geworden ist. In ähnlicher Weise mag es zur Herausbildung grenzübergreifender Wirtschaftsregionen kommen, innerhalb deren der wechselseitige Einfluß von Entscheidungen besonders spürbar ist. So ist gut vorstellbar, daß z.B. Tarifverträge im Handwerk des Saarlandes in Zukunft das Lohnniveau in den benachbarten Tarifregionen Frankreichs werden berücksichtigen müssen. Ein Abschied vom Ordnungsmodell Nationalstaat erscheint demgegenüber verfrüht.

3.

Zum Maastricht-Modell

Eine Europäische Union im Sinne von Maastricht ist eine weitere Option. Gemessen an den eingangs genannten Integrationszwecken wirkt sie partiell kontraproduktiv: Das Binnenmarkt-Argument mit seiner liberalen Ordnungsidee des Wettbewerbs wird überlagert, mindestens ergänzt von Vorstellungen diskretionärer politischer Wirtschaftssteuerung. Das imperiale Argument wird im außenhandelspolitischen Bereich eher in Richtung selektiven Protektionismus fehlgeleitet, auf sicherheits- und außenpolitischem Feld auf unverbindliche Absichtserklärungen reduziert. Änderungen bei den europäischen Institutionen, namentlich beim Parlament, folgen keinem deutlichen Konzept. Was bleibt, ist die Währungsunion in ihrem Zwielicht von Chance zur Objektivierung gemeinschaftsweiter Geldversorgung einerseits und von Risiko zu instabilem Geld, d.h. zu Lug und Trug auf Kosten der Bürger, andererseits.

a.

Neue Kompetenzen

Maastricht hat die Kompetenzen zugunsten der EG nachhaltig erweitert (umfassender Überblick bei Grabitz, 1992, S. 129). Einige wurden neu begründet (Industriepolitik, transeuropäische Netze, Gesundheitsschutz, berufliche Bildung und Entfaltung des Kulturlebens, Verbraucherschutz, Maßnahmen in den Bereichen Energie, Katastrophenschutz und Fremdenverkehr). Andere, schon in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 angelegt, wurden weiter ausgedehnt (Forschung und Entwicklung, Umweltschutz, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt). Der Bereich politisierender Einflußnahme nimmt zu. Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie in der Gemeinschaft hat jetzt gleichen Rang wie die Aufrechterhaltung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs (vgl. MOschel, 1992b, S. 415 ff.) Gemeinschaftsmaßnahmen bei Forschung und Entwicklung umfassen die Möglichkeit zu mehijährigen Rahmenprogrammen für wissenschaftliche und technologische Ziele. Die EG kann zu diesem Zweck gar Gemeinschaftsunternehmen gründen. Etwas dramatisierend formuliert: Die

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Wirtschaftsverfassung der EG, welche bislang im wesentlichen normativ-funktional durch ihren Bezug auf die vier Grundfreiheiten gekennzeichnet war, verschiebt sich in Richtung diskretionärer Entscheidung, die sich - wie soll es anders sein? - weitgehend an Maßstäben politischen 'bargainings' orientiert (eingehend Mestmäcker, 1992). Man kann die genannten Veränderungen, die ihre Kautelen haben, auch verharmlosend interpretieren. Das ist die Linie der deutschen Bundesregierung. Ein solcher Standpunkt stützt sich freilich auf die wenig plausible Annahme, die genannten Änderungen seien im wesentlichen überflüssig gewesen. Erste Äußerungen aus Brüssel unterstreichen die hier formulierte Skepsis: Als Kandidaten europaweiter Industriepolitik werden krisengeschüttelte oder gefährdete Industriezweige wie Textil, Elektronik, Rüstung und Automobil genannt. Der europäische Sozialfonds, der nach der Neufassung des Art. 123 EG-Vertrag jetzt auch einer "Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse und an Veränderungen der Produktionssysteme" dienen kann, soll als Finanzierungsinstrument herangezogen werden. In einer Mitteilung vom Mai dieses Jahres an das Parlament schlägt die Kommission bezüglich der Automobilindustrie vor, ein System von Anreizen für Investitionen, Unternehmenszusammenschlüsse, Forschung und Entwicklung sowie für die Umstrukturierung des Gütersortiments zu schaffen, zur Entwicklung von Schlüsseltechnologien Projekte mit Priorität festzulegen und die Anpassung der Arbeitnehmer an den Strukturwandel mittels beruflicher Umschulungsmaßnahmen zu fördern (vgl. Sachverständigenrat, 1992, Tz. 445). In Richtung Außenhandel laufen solche Maßnahmen auf eine Mischung aus Subvention und Protektion hinaus. b.

Subsidiarität Der genannten Befürchtung scheint das Subsidiaritätsprinzip zu widerstreiten, wie es in Art. 3 b Abs. 2 EG-Vertrag aufgenommen ist (vgl. etwa Steindotff, 1992, S. 69 ff.): Danach wird die Gemeinschaft außerhalb einer ausschließlichen Zuständigkeit nur dann tätig, "sofern und soweit die Ziele der in Betracht genommenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können". Ich halte das Prinzip in dieser Ausprägung aus drei Gründen für wenig tauglich: - Es relativiert sich schon juristisch dadurch, daß es auf der Ebene des Unionsvertrages (Artikel A) wie des EG-Vertrages (Art. 2) mit gegenläufigen Prinzipien konkurriert, nämlich dem der Kohärenz und dem der Solidarität innerhalb der Gemeinschaft. - Mit der materiell begrenzenden Wirkung des Subsidiaritätsprinzips kann es nicht weit her sein. Angesichts der Größenunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten,

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auch angesichts der unterschiedlichen finanziellen Leistungsfähigkeit und immer wieder auftauchender Interessenkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten läßt sich eine Priorität für eine zentrale Regelung allzu leicht begründen. - Eine von Gerichten vollziehbare Kontrolle anhand dieses Prinzips ist kaum vorstellbar, wenn man den Charakter des Politischen innerhalb solcher Entscheidungen bedenkt: Wie soll es ein Gericht bewerten, wenn mit Hilfe einer Gemeinschaftsmaßnahme der Widerstand der spanischen Regierung gegen Erweiterungsverhandlungen der EG abgekauft werden soll, wenn Griechenland bewogen werden soll, auf das Zugeständnis der anderen Mitgliedstaaten zu verzichten, keine ehemalige jugoslawische Republik unter dem Namen Mazedonien anzuerkennen, wenn einer französischen Obstruktion beim europäisch-amerikanischen Agrarkompromiß innerhalb der Uruguay-Runde z.B. dadurch entgegengewirkt werden soll, daß ein europäisches Eisenbahnnetz auf der Basis des französischen TGV errichtet wird? Was übrigbleibt, sind Verfahrenslösungen. Interinstitutionelle Vereinbarungen zwischen Kommission, Ministerrat und Parlament, u.U. auch Ausschuß der Regionen werden diskutiert. Auf der Basis solcher Vereinbarungen sollen Notwendigkeit und Intensität eines gemeinschaftlichen Vorgehens festgestellt werden 8 . In dieser Arena wird das Recht in die Rolle des eher vernachlässigten Mitspielers gedrängt. c.

Defizite bei der Politischen Union Von der ursprünglich parallel zur Währungsunion angestrebten Politischen Union ist

im Unionsvertrag eine Zusammenarbeit auf den Feldern der Außen- und Sicherheitspolitik übriggeblieben. Dies fügt sich jenen Integrationszwecken ein, die ich als Friedensargument, imperiales Argument und Deutschen-Argument zusammengefaßt habe. Der Unionsvertrag sieht weiter eine Zusammenarbeit in den Bereichen Innen- und Rechtspolitik vor. Im einzelnen gehören dazu die Asylpolitik, die Kontrolle der Außengrenzen, die Einwanderungspolitik, die Bekämpfung der Drogenabhängigkeit und internationalen Kriminalität sowie eine Zusammenarbeit von Zoll, Justiz und Polizei. Geplant ist der Aufbau eines Europäischen Polizeiamtes (Europol) zum Zwecke der Speicherung und des Austauschs von Informationen. Dies steht im Einklang mit dem sog. Binnenmarkt-Argument. Es schließt den freien Verkehr von EG-Bürgem innerhalb der Gemeinschaft ein. Der Abbau von Kontrollen an den Binnengrenzen läßt die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nur als folgerichtig erscheinen.

Auf dieser Linie auch Europäischer Rat Edinburgh 11.-12. Dezember 1992, Schlußfolgerungen des Vorsitzes, Teil A Anlage 1 III. (Verfahren und Praxis). Unter I. Grundprinzipien, 4., Spiegelstrich 5, heißt es: "Das Subsidiaritätsprinzip kann nicht als unmittelbar wirksam betrachtet werden."

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Aus dieser Sicht wird man in der weitgehenden Unbestimmtheit der einschlägigen Rechtsgrundlagen, die zum Teil den Charakter bloßer Programmsätze oder Absichtserklärungen haben, ein Defizit erkennen mögen. Auch tatsächliche Vorbehalte dürfen nicht übersehen werden: Wer im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, gestützt auf alte Traditionen, auf den Status einer Atommacht und auf einen Sitz im UN-Sicherheitsrat, einem nationalen Weg den Vorrang gibt, wird das Potential des Unionsvertrages nicht ausschöpfen wollen. Auch das in Edinburgh akzeptierte dänische Nein richtet sich neben der abgelehnten Währungsunion und Unionsbürgerschaft gerade gegen das Konzept einer gemeinsamen Verteidigungspolitik9. Hier stößt das Maastricht-Modell auf Grenzen. d.

Zum Demokratie-Defizit von Maastricht Maastricht hat auch eine Reihe von Veränderungen im institutionellen Gefüge der EG gebracht, namentlich die Stellung des Europäischen Parlaments etwas gestärkt (Verfahren der Mitentscheidung innerhalb der Gesetzgebung, Zustimmungsvotum gegenüber dem unverändert von den Mitgliedstaaten benannten Kommissionskollegium u.a.; vgl. eingehend: Grabitz, 1992, S. 111 ff.). In der Öffentlichkeit überwiegt indessen unverändert eine Klage über ein Demokratie-Defizit der Gemeinschaft: "Wer in der EG etwas zu sagen hat, ist nicht vom Volk gewählt, und wer vom Volk gewählt ist, hat nichts zu sagen" (Peter Conradi). Schlüssig erscheint solche Kritik, wenn man die europäische Integration in einer Perspektive der Staatswerdung sieht. Dies trifft für all jene zu, welche die EG auf einen Bundesstaat hin fortentwickeln wollen. Mag ein solcher vielfältiger Ausgestaltung fähig sein, so wäre doch das auf Wahlen gründende Parlament die maßgebliche Legitimationsquelle. Wer der Finalität eines Bundesstaates nicht zu folgen bereit ist, wird von dieser Kritik nicht unmittelbar berührt. Denn die Übertragung eines staatsgerichteten Legitimationsprinzips auf einen Integrationsverband eigener Qualität wie der EG ist nicht selbstevident, sondern bedarf der spezifischen Begründung (übereinstimmend: Ipsen, 1991, S. 55 ff.; 1992, S. 171 ff.). Dabei fällt ins Gewicht, daß ein Demokratieprinzip schon auf staatlicher Ebene vielfältiger Differenzierung und Ergänzung zugänglich ist. Ich erinnere nur an - Repräsentationsformen, welche vom Referendum bis hin zu einer Parteienherrschaft unterschiedlicher Ausprägung reichen, - an das Prinzip der Gewaltenteilung, nicht nur vertikal innerhalb der Staatsfunktionen, sondern auch horizontal im Verhältnis von Staatskompetenz einerseits und Gesellschaftszuständigkeit andererseits, 9

Europäischer Rat Edinburgh 11.-12. Dezember 1992 (Fn. 8), Teil B Anlage 1.

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- an das Rechtsstaatsprinzip mit seinem Ideal der abstrakt-generellen Regelung, - an föderal differenzierte Mitwirkungserfordernisse bei Gesetzgebung wie Verwaltung, - an einen Minderheitenschutz, wie er namentlich durch Grundrechtspositionen von Verfassungsqualität gewährleistet wird, - an Elemente der Gouvemokratie wie originäre Zuständigkeiten einer Regierung z.B. beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge, - an Elemente der Expertokratie; sie finden sich bei unabhängigen Notenbanken, bei Rechnungshöfen, bei im Einzelfall nicht weisungsunterworfenen Behörden wie etwa den ' Agencies' angelsächsischer Tradition. Das Mischungsverhältnis zwischen solchen Strukturmerkmalen variiert stark. Umso näher liegt es, daß die EG einem eigenen Muster folgt. Dieses Gebilde 'sui generis' verfügt nicht über eine Allzuständigkeit; es gilt ein Prinzip der limitierten Einzelermächtigung (Art. 3 b Abs. 1 EG-Vertrag), d.h. ein Prinzip spezifischer Aufgabenzuweisung. Der politische Wille wird nicht inhaltlich beliebig in der Arena des Parlaments und der darin vertretenen gesellschaftlichen Kräfte gefunden. Strukturbestimmend ist vielmehr der Versuch einer institutionellen Balance zwischen Gemeinschaftsinteresse einerseits und Interessen der Mitgliedstaaten andererseits. Als Sachwalter des ersteren ist namentlich die Kommission konzipiert mit ihrem legislativen Vorschlagsmonopol und in ihrer Funktion als Hüterin des Gemeinschaftsrechts. Sie nimmt letztere über Vertragsverletzungsklagen gegen die Mitgliedstaaten vor dem Europäischen Gerichtshof intensiv wahr (Art. 169 EG-Vertrag). Hinzu tritt das Bemühen um eine institutionelle Balance zwischen den großen Mitgliedstaaten und den kleineren. Dies gilt nicht nur auf der Ebene des Ministerrates. Der Gedanke schlägt sich auch in der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments nieder mit einer proportional höheren Repräsentanz der kleineren Mitgliedstaaten. All dies belegt, wie weit die EG auch nach Maastricht von einem staatsähnlichen Gemeinwesen entfernt bleibt. Ich würde auf das geltendgemachte Demokratiedefizit in der EG auf andere Weise antworten wollen: - Je geringer die Regelungskompetenz der EG ist, desto mehr schwächt sich diese Kritik schon vom Sachverhalt her ab. Dies gilt quantitativ im Verhältnis der EG zu den Mitgliedstaaten, aber auch - besonders wichtig - im Verhältnis zum Zuständigkeitsbereich der Gesellschaft. Es gilt ferner qualitativ: Je mehr eine EG-Kompetenz auf die Ausfüllung eines Verfassungsrahmens ausgerichtet ist, desto geringer wird der Bedarf an diskretionärer Politik und zugeordneter demokratischer Legitimation. Die Klage über eine Gefährdung der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Gemeinschaft durch zunehmende Politisierung aufgrund des Maastrichter Vertrages bestätigt

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sich auch aus dieser Perspektive. - Auf der Basis eines nichtstaatlichen Verständnisses der EG bietet sich eine Verstärkung der demokratischen Legitimationskette eher bei den Mitgliedstaaten an. Als eine Möglichkeit sei auf die Mitwirkungsrechte in Europaangelegenheiten verwiesen, welche in Deutschland aus Anlaß des Maastrichter Vertrages Bundesrat und Bundestag erzwungen haben (Neufassung des Art. 23 Grundgesetz mit dazugehörigen Begleitgesetzen). Dies wird die Beweglichkeit der Regierung bei Verhandlungen im Europäischen Ministerrat einengen. Stärkere demokratische Anbindung ist nicht kostenlos zu haben. Sie hat ihren Preis. - Unberührt bleibt das Anliegen, die Transparenz der legislativen wie exekutiven Entscheidungsprozesse auf Gemeinschaftsebene zu verbessern. Man mag erwägen, zu diesem Zweck die Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments auszudehnen. Doch wäre dies eher ein Element der "checks and balances" als einer demokratischen Legitimierung von Hoheitsausübung. IV. Europäische Minimalgemeinschaft Überwiegt zu Maastricht die Distanzierung, so ist doch eine Rückkehr zum System rivalisierender Nationalstaaten nach dem Muster des 19. Jahrhunderts keine ernstzunehmende Option. Ebenso wenig ist es das Konzept einer Freihandelszone im technischen Sinne. Die eingangs genannten Integrationszwecke würden im ersten Fall zur Gänze, im zweiten Fall in hohem Maße verfehlt. Hinter die Idee des Binnenmarkts mit gemeinsamer Außenhandelspolitik und hinter ein Verständnis der EG als einer auf die vier Grundfreiheiten ausgerichteten Verfassungsgemeinschaft mit dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts beim Konflikt mit staatlichem Recht will niemand zurück. Auch diejenigen, die für ein "loseres Europa" eintreten, wollen das nicht. Dieser Kernbereich der Europäischen Gemeinschaft wird auch bei ihrer Erweiterung schwerlich in Frage gestellt sein, weniger wegen der in Maastricht juristisch festgezurrten "vollen Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes" (Artikel B Unionsvertrag), sondern wegen einer insoweit bestehenden weitgehenden Interessenidentität. Ich halte ein solches Konzept - nennen wir es europäische Minimalgemeinschaft oder Ordnungsgemeinschaft - freilich auch für hinreichend, um die mit der europäischen Integration verfolgten Zwecke zu erreichen. Ganz im Vordergrund steht, die Freiheit der Bewegung von Personen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital zu sichern. Als Annex treten die Antibeihilferegeln und die Wettbewerbsvorschriften hinzu (übereinstimmend in der Kompetenzfrage: Bernholz, 1990). Im übrigen mag man auf einen Wettbewerb der Systeme setzen, freilich nicht blauäugig. Wo dieser Systemwettbewerb versagt, z.B. wenn bei völliger Beweglichkeit der Steuerbemessungsbasen Steuern zu Gebühren

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für in Anspruch genommene öffentliche Leistungen degenerieren, wird eine gemeinschaftsweite Regulierung erforderlich. Die Festlegung von Mindeststandards bzw. von Mindestsätzen ist in der Regel ausreichend (eingehend hierzu Dönges et al., 1992). Grenzüberschreitende Umweltprobleme und die in Maastricht nur recht unverbindlich aufgenommenen Felder Justiz und Inneres treten hinzu. Denn bei Wahrnehmung auf der niedrigeren mitgliedstaatlichen Ebene träten hier grenzüberschreitende externe Effekte in Form von Mitbegünstigung oder Mitschädigung auf, und/oder die öffentliche Aufgabe läßt sich auf Gemeinschaftsebene wesentlich kostengünstiger erledigen. Eine Währungsunion wird von solchem Konzept der Minimalgemeinschaft nicht gefordert. Sie trägt ihre eigene Wertigkeit freilich in sich, soweit sie in der Lage ist, für stabiles Geld zu sorgen. Ebenso wenig macht eine solche Ordnungsgemeinschaft Umverteilungen, Transfers auf Gemeinschaftsebene nötig. Sie könnte sich insoweit auf die Selbstverantwortung der Mitgliedstaaten gründen. Doch wäre dies ein Extrem und nicht nur wegen der anderen Entwicklung, welche die EG seit 1958 genommen hat, unrealistisch. Man mag sich mit der Einsicht trösten, daß für alle Formen menschlichen Zusammenwirkens ein Gemisch von Selbstverantwortung und Solidarität typisch ist (vgl. Sievert, 1992; enger: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, 1990, S. 1469 ff.). Öffnet man diese Tür, müßte die Kontrolle über die Finanzmittel der Gemeinschaft bei den Mitgliedstaaten bleiben (Finanzierung über Beiträge der Mitgliedstaaten, nicht über eigene Steuern der Gemeinschaft). Liegen die wesentlichen Aufgaben der Gemeinschaft im "Ordnen" im Gegensatz zum "Anordnen", dann kann es beim überkommenen institutionellen Gefüge der Gemeinschaft bleiben. Auch eine Erweiterung der EG müßte dann nicht die Effizienz der Entscheidungsfindung beeinträchtigen. Außen- und Sicherheitspolitik bliebe Gegenstand intergouvernementaler Zusammenarbeit. Wie realistisch es ist, die EG einerseits nachhaltig reduzieren zu wollen, sie andererseits - im Bereich der Politischen Union - intensivieren zu wollen, steht dahin. Weiterwursteln ist vielfach einfacher als zurückwursteln. Beides gleichzeitig anzustreben, mag besonders verwegen erscheinen. Doch könnte das hier umrissene Konzept einer europäischen Minimalgemeinschaft als Orientierungshilfe dienen.

Wernhard Möschel

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Eine Verfassungskonzeption für die Europäische Union

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Die EG im SpannungsverhäUnis zwischen Konsens und Effizienz Helmut Leipold, Marburg

I. Zur Rolle der EG-Entscheidungsregeln II. Die Aufbauphase und der Einfluß des Gemeinschaftsgeistes 1. Organe und Entscheidungsregeln nach den Gründungsverträgen 2. Einige Gründe für die Anfangserfolge

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III. Die Stagnationsphase und die Herrschaft einstimmiger Ratsbeschlüsse 1. Der Luxemburger Kompromiß und die Folgen 2. Eine 'Public Choice'-Analyse der EG-Entscheidungsprozesse 3. Verlauf und Ergebnisse der Gemeinschaftsmethode

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IV. Die Erneuerungsphase und der Beitrag der Mehrheitsregel 1. Die Reformen der Einheitlichen Europäischen Akte 2. Reformergänzungen durch den Vertrag über die Europäische Union 3. Analyse der qualifizierten Mehrheitsregel und einiger Folgen 4. Empirische Daten zu den Ergebnissen der institionellen Reformen

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V. Reformoptionen und Restriktionen 1. Das Demokratie- und Legitimitätsdefizit der EG 2. Schlußfolgerungen aus immanenten Reformrestriktionen

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Abbildungen: Übersicht 1: Das Konsultationsverfahren (Anhörungsverfahren)

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Übersicht 2: Das Verfahren der Zusammenarbeit (Kooperationsverfahren nach 149 EWGV)

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Übersicht 3: Das Verfahren nach 189b EGV (Mitentscheidungsverfahren)

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I.

Zur Rolle der EG-Entscheidungsregeln Die Europäische Gemeinschaft (EG) gilt als eine "Staatenverbindung von besonderer Art und Qualität", die sich nach Everling (1977, S. 614) in kein herkömmliches Schema einordnen läßt. Die markante Besonderheit ist darin zu sehen, daß sich die souveränen Mitgliedstaaten nicht nur eine funktional begrenzte Wirtschafts- und Staatengemeinschaft, sondern zugleich auch ein supranationales Regime mit eigenständigen Kompetenzen geschaffen haben, das den souveränen Vertragsparteien und deren Bürgern Restriktionen auferlegen kann. In dieser zwischen- und suprastaatlichen Doppelstruktur ist zwangsläufig ein Spannungsverhältnis zwischen National- und Gemeinschaftsinteresse angelegt, dessen Ausmaß maßgeblich von der Verfassung der EG bestimmt wird. Die EG-Verfassung konstituiert sich aus den drei Gründungsverträgen und den zahlreichen, mehr als 15 Änderungs- und Ergänzungsverträgen (vgl. Bieber, 1991). Sie regelt die Ziele (zuerst Zollunion und Binnenmarkt, dann Wirtschafts- und Währungsunion und schließlich politische Union), die Kompetenzen der Gemeinschaftsorgane und die Entscheidungsregeln für die Gemeinschaftspolitik. Im Verständnis der ökonomischen Theorie der Verfassung bilden die Entscheidungsregeln für die gemeinschaftliche Beschlußfassung das Kernstück jeder Verfassung {Buchanan und Tullock 1962). Die Alternativen bewegen sich zwischen den Eckpunkten der Alleinentscheidungs- und der Einstimmigkeitsregel. Als Kriterium zur Auswahl und Bewertung konkreter Entscheidungsregeln schlagen Buchanan und Tullock das Konzept der Interdependenzkosten vor. Diese setzen sich aus der Summe der Entscheidungskosten (Informations- und Einigungskosten) und den externen Kosten (Frustrationskosten) zusammen. In diesem Beitrag soll dieses Kriterium aufgegriffen und für die Bewertung der innerhalb der EG geltenden Entscheidungsregeln und -verfahren benutzt werden. Die Entscheidungskosten dienen dabei als Indikator für die Bewertung der Effizienz der Gemeinschaftspolitik. Die Kategorie der Effizienz wird in verschiedener Bedeutung gebraucht. Nach dem wohl dominierenden Verständnis liegt wirtschaftliche Effizienz vor, wenn ein angestrebtes Ziel mit minimalem Ressourceneinsatz (Kosten) erreicht werden kann, Ressourcen also nicht verschwendet werden. Mit Blick auf die EG wird demnach diesem Kriterium in dem Maße genügt, in dem die Ziele der Gemeinschaft, also bisher z.B. die Vollendung der Zollunion und des Binnenmarktes, mit den vertraglich festgelegten Regelungen und Organen möglichst effizient, also mit minimalem Aufwand erreicht werden (vgl. Berg, 1990, S. 10; Borrmann, 1991, S. 138; Biehl, 1991, S. 359 f.). Die Höhe der Entscheidungskosten kann dabei als ein informativer, wenngleich unvollkommener Indikator für die Effizienz interpretiert werden. Unvollkommen deshalb, weil sich erstens die Kosten der EG, beispielsweise in Gestalt der politischen Einigungskosten, nicht exakt und allein in Geldeinheiten oder Ressourcen-

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kosten erfassen lassen und weil zweitens niemand gesichertes Wissen über die effizienteren oder gar optimalen Alternativen im Vergleich zu den vorhandenen Institutionen und Entscheidungsregeln hat. Die EG verkörpert gemäß ihrer Grundanlage einen Kompromiß zwischen dem institutionellen und funktionellen Integrationsverfahren. Beide Verfahren, ob kombiniert oder getrennt verfolgt, verlangen nationale Souveränitätsverzichte und demgemäß ein Mindestmaß an nationalem Konsens über die Gemeinschaftspolitik. Es ist offensichtlich, daß dieser Konsens und damit der Souveränitätsverzicht unmittelbar mit dem Nutzen und den Kosten alternativer Entscheidungsregeln zusammenhängen. Insofern können die aus verschiedenen Entscheidungsregeln resultierenden nationalen externen Kosten als ein Indikator für den unerläßlichen Konsens über die Gemeinschaftspolitik interpretiert werden: Niedrige externe Kosten fördern, hohe externe Kosten gefährden den Konsens. Das in diesem Beitrag thematisierte Spannungsverhältnis zwischen Konsens und Effizienz ist daher der Versuch, das jeder zwischen- und supranationalen Gemeinschaftspolitik inhärente Spannungsverhältnis zwischen National- und Gemeinschaftsinteresse aufzuklären, wobei die Entscheidungsregeln als maßgebliche Variable für das Ausmaß dieses Spannungsverhältnisses vermutet werden. Die bisherige Entwicklung der EG liefert aufschlußreiche Belege dafür, daß sich das Spannungsverhältnis in dem Konflikt zwischen der Einstimmigkeits- und der Mehrheitsregel zentriert. Demgemäß soll die institutionelle Entwicklung der EG in drei Phasen eingeteilt werden: erstens in die mit den Gründungsverträgen vorgegebene und vom Gemeinschaftsgeist geprägte Aufbauphase von 1957-1965 (II.), zweitens in die mit dem Luxemburger Kompromiß von 1966 verbundene und von einstimmigen Ratsbeschlüssen beherrschte Stagnationsphase (III.) und drittens in die mit der Einheitlichen Europäischen Akte im Jahre 1987 eingeleitete und von mehrheitlichen Ratsbeschlüssen inspirierte Emeuerungsphase (IV.), die mit dem 1992 in Maastricht unterzeichneten Vertrag über die Europäische Union ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat (vgl. ähnlich Allen, 1992). Die Analyse der phasentypischen Entscheidungsregeln und deren Konsequenzen liefert die Grundlage für die abschließende Bewertung einiger Reformoptionen und Restriktionen (V.). II. 1.

Die Aufbauphase und der Einfluß des Gemeinschaftsgeistes Organe und Entscheidungsregeln nach den Gründungsverträgen

Am Anfang der EG, die sich aus drei rechtlich selbständigen Gemeinschaften zusammensetzt, steht bekanntlich die 1951 gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Ihr folgten die 1957 gegründete Europäische Wirtschaftsge-

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meinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM). Diese drei Gemeinschaften führten ein rechtlich unabhängiges, praktisch jedoch verbundenes Leben. Dabei war die EWG die dominierende Gemeinschaft, weshalb der Gründungsvertrag von Rom den Verfassungskern repräsentiert. Mit dem Fusionsvertrag von 1967 wurden die wichtigsten Organe der drei Gemeinschaften zusammengefugt. Seitdem sind die Kommission, der Rat, das Europäische Parlament und der Europäische Gerichtshof die Hauptorgane der EG. Hier sollen nur die Aufgaben von Kommission und Rat und das intentierte Zusammenwirken zwischen diesen beiden Zentralorganen in der gebotenen Kürze skizziert werden. Die Kommission soll gemäß den Regeln der Gründungsverträge das Gemeinschaftsinteresse vertreten. In ihrer Rolle als 'Motor der Gemeinschaft' und 'Hüterin der Verträge' hat sie im wesentlichen Initiativ-, Kontroll- und Exekutivaufgaben zu erfüllen. Zu den Initiativbefugnissen gehört die Ausarbeitung von Vorschlägen für die Ratsbeschlüsse. Abgesehen von wenigen Ausnahmen kann der Rat ohne einen Vorschlag der Kommission keine Rechtsakte beschließen. In ihrer Kontrollfunktion hat die Kommission die Einhaltung der Vertragsregelungen (primäres Recht) und der von den Gemeinschaftsorganen geschaffenen Rechtsregelungen (sekundäres Recht) seitens der Mitgliedstaaten zu kontrollieren. Die Exekutivaufgaben umfassen vielfältige Kompetenzen, beispielsweise die Verwaltung der EG-Haushalts- sowie der verschiedenen Fondsmittel, die Durchführung von Verordnungen oder Richtlinien und nicht zuletzt der verschiedenen sektoralen Politikaufgaben (vgl. Remus, 1969; Dietz und Glatthaar, 1991). Der Rat ist das zentrale Entscheidungs- und Rechtssetzungsorgan der Gemeinschaft. Gegenstand der Rechtssetzung sind hauptsächlich Verordnungen und Richtlinien. Die Verordnung ist ein allgemein verbindlicher Rechtsakt, der in allen Mitgliedstaaten unmittelbar gilt und anzuwenden ist. Demgegenüber ist die Richtlinie ein Gemeinschaftsgesetz, das die Mitgliedstaaten zur Verwirklichung eines Ziels verpflichtet, diesen die Art und Weise der Umsetzung in nationales Recht jedoch überläßt. Der Rat tagt in sektoral gegliederten Formen, in denen jedes Land durch ein Regierungsmitglied, in der Regel den Fachminister, vertreten ist. Über diesen Ministerräten steht der Europäische Rat als Versammlung der Staats- und Regierungschefs, der die grundsätzliche Entwicklung der EG vorgibt. Als Unterbau des Rates fungieren der Ausschuß der Ständigen Vertreter (Coreper), der die Ratssitzungen vorbereitet, sowie bis zu 200 permanent tagende, meist national zusammengesetzte Arbeitsgruppen und Ausschüsse. In den Gründungsverträgen waren die Entscheidungsregeln im Rat nicht generell, sondern fallweise geregelt. Gemäß Art. 148 EWGV sollten Beschlüsse des Rates mit der Mehrheit seiner Mitglieder getroffen werden, sofern in dem Vertrag nichts anderes bestimmt ist. Damit wurden bereits die Ausnahmen von der einfachen Stimmenmehr-

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heit angedeutet. Die Mehrzahl der vertraglichen Einzelfalle verlangte die qualifizierte Mehrheit, wobei die Bedingungen dafür ebenfalls in Art. 148 EWGV (bzw. Art. 28 EGKSV und Art. 118 EAGV) präzisiert waren. Der EWG-Vertrag sah jedoch für die ersten beiden Stufen der Übergangszeit (bis 1965) die Einstimmigkeitsregel im Rat vor. Nach Art. 100 EWGV waren die Richtlinien des Rates für die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten mit unmittelbarer Auswirkung auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes einstimmig zu beschließen. Die Modifikation dieses Artikels durch Art. 100a EEA zugunsten der qualifizierten Mehrheitsregel markiert eine einschneidende Reform, worauf noch einzugehen sein wird. Nach Art. 149 EWGV war Einstimmigkeit der Ratsbeschlüsse auch bei Abänderung der Kommissionsvorschläge gefordert, womit der Einfluß der Kommission im Zusammenspiel mit dem Rat gestärkt werden sollte. 2.

Einige Gründe für die Anfangserfolge Tatsächlich dominierten in der Anfangszeit der EG einstimmige Beschlüsse des Rates selbst dort, wo die Mehrheitsregel ausgereicht hätte. Der ausgeprägte Konsens hat die Effizienz der Gemeinschaftspolitik nicht beeinträchtigt. Die Anfangsjahre der EWG waren durch Dynamik und Erfolge der Integrationsprozesse geprägt. Die Zollunion wurde vor dem vorgesehenen Termin vollendet, wodurch der Warenverkehr der Mitgliedsländer begünstigt wurde, der schneller als der Welthandel wuchs. Auch die im EWG-Vertrag anvisierte gemeinsame Agrarpolitik wurde unter der Initiative der Kommission zügig im Rat durchgesetzt. Der vertraglich zugestandene Rückgriff auf die zahlreichen Ausnahmeklauseln und Schutzbestimmungen des EGW-Vertrags seitens einzelner Länder blieb die Ausnahme. Indirekt kommt der anfängliche Integrationserfolg der EWG in dem bereits 1961 geäußerten Beitrittsgesuch Großbritanniens zum Ausdruck, dessen Beitritt jedoch vorerst am Veto de Gaulies scheiterte. Zweifellos ist die für die Aufbauphase belegbare Dynamik der Gemeinschaftspolitik trotz oder wegen der ausgeprägten Konsensbereitschaft maßgeblich vom anfänglich vorhandenen 'Community spirit' innerhalb der sechs Gründerländer beflügelt worden. Dieser Geist motivierte die beteiligten Regierungen, den Versuchungen zu unkooperativen Verhaltensweisen weitgehend zu widerstehen. Zwischen- oder suprastaatliche Kooperation verkörpert die Fortsetzung des klassischen Ordnungsproblems mit anderen Mitteln und auf anderen Ebenen bei analogen Interessenstrukturen. Die Kooperation (z.B. die gegenseitige Respektierung der Regeln des Freihandels) eröffnet für die Partner gegenüber der Nichtkooperation (z. B. Protektion) einen höheren wirtschaftlichen Wohlstand. Verflixterweise winken jedoch demjenigen, der sich isoliert unkooperativ

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verhält, indem er nationale Schutz- oder Ausnahmeregelungen beansprucht, die größten Vorteile, vorausgesetzt die anderen Partner verhalten sich kooperativ. Diese Versuchung beeinträchtigt die Kooperation und führt unter bestimmten Annahmen regelmäßig zum wechselseitig schlechtesten Ergebnis (vgl. Leipold, 1989). Aus den zahlreichen Arbeiten über das Gefangenendilemma sind die Bedingungen für das Zustandekommen kooperativer Lösungen bekannt. Ein Ausweg besteht in der Einrichtung einer unparteiischen Instanz, welche die Kooperation notfalls zwangsweise herstellt. Wie Frey (1984, S. 128) zutreffend bemerkt, wird mit der Annahme einer per Zwang durchgesetzten Kooperation das spezifische Ordnungsproblem der internationalen Zusammenarbeit wegdefiniert. Internationale Kooperation beruht in aller Regel auf Freiwilligkeit. Die Chancen für die freiwillige Kooperation zwischen Egoisten sind bei permanenten (iterierten) Beziehungen am ehesten innerhalb kleiner Gruppen mit intensiven Kontakten, also mit geringer sozialer Anonymität, gegeben. Hinzu kommt, daß sich der kooperative Geist innerhalb einer Kerngruppe verfestigen muß. In der Aufbauphase der EWG herrschten annäherungsweise diese günstigen Bedingungen für eine kooperative Gemeinschaftspolitik. Frankreich und vor allen Dingen Deutschland praktizierten eine hohe Konsensbereitschaft, der Italien und die Beneluxländer folgten. Dem deutsch-französischen Konsens lag dabei die einvernehmliche Annahme zugrunde, daß sowohl die mit ihrer jüngsten Vergangenheit belastete Bundesrepublik von der Gemeinschaft insgesamt als auch die starke westdeutsche Industrie von der Zollunion im besonderen profitierten. Im Gegenzug sah man es als gerechte Entschädigung an, daß die Bundesrepublik als Nettozahler die interventionistische gemeinsame Agrar- und Strukturpolitik großzügig zu unterstützen habe, von der wiederum die französische Landwirtschaft und Industrie profitieren sollten. Analoge paretianische Kompensationskalküle galten im Verhältnis zu und zwischen den Beneluxländem und Italien. Unter den Bedingungen eines ausgeprägten Gemeinschaftsbewußtseins innerhalb des kleinen Mitgliederkreises sollte daher der anfängliche Integrationserfolg nicht verwundem. Die relativ kleine Zahl der Gründerländer und die weitgehende Homogenität der Interessen repräsentieren zugleich maßgebliche Faktoren der Interdependenzkosten: Sie waren dafür verantwortlich, daß die Entscheidungskosten der Gemeinschaftspolitik in der Aufbauphase trotz Einstimmigkeitsregel gering ausfielen. Wie die spieltheoretische Analyse zeigt, bleibt jedoch die freiwillige Kooperation unter eigen- bzw. nationalinteressierten Akteuren labil, nicht zuletzt weil vereinzelte unkooperative Alleingänge meist mit einer 'Wie Du mir, so ich Dir-Strategie' beantwortet werden (vgl. Axelrod, 1987; Keohane, 1986).

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III. Die Stagnationsphase und die Herrschaft einstimmiger Ratsbeschlüsse 1. Der Luxemburger Kompromiß und die Folgen Die anfängliche Konsens- und Kompromißbereitschaft innerhalb der EWG erlahmte Mitte der 60er Jahre. Die nach dem EWG-Vertrag für die dritte Stufe vorgesehene erweiterte Anwendung qualifizierter Mehrheitsbeschlüsse im Rat scheiterte am Widerstand Frankreichs, das seine Vertreter aus den Sitzungen des Rates zurückzog ('Politik des leeren Stuhls') und dieses Organ 9 Monate lang zur Entscheidungsunfähigkeit verdammte. Auslöser dafür war die Befürchtung, in der gemeinsamen Agrarpolitik überstimmt zu werden. Die französische Regierung berief sich auf die Formel von der Wahrung 'vitaler nationaler Interessen' und war zur weiteren Mitarbeit erst nach der Zusicherung bereit, daß der Rat keinen Beschluß fassen könne, der wesentliche Interessen auch nur eines Mitgliedstaates beeinträchtige. Durch diesen 'Luxemburger Kompromiß' vom Januar 1966 wurde die weitere Entwicklung der Gemeinschaftspolitik nachhaltig beeinflußt. Praktisch hatte er zur Folge, daß sich im Rat das Einstimmigkeitsprinzip bis Mitte der 80er Jahre einbürgerte. Mißliebige Gemeinschaftsentscheidungen konnten jederzeit durch ein Veto verhindert werden. Mehrheitsbeschlüsse gab es gelegentlich noch bei der Verabschiedung des gemeinsamen Haushalts. Unter der stillschweigenden Praxis einstimmiger Entscheidungen im Rat wurde es üblich, entweder einvernehmlichen Konsens festzustellen oder anstehende nichtkompromißfähige Entscheidungen zu verschieben. Die maßgeblich in der Einstimmigkeitsregel begründete Stagnation der Gemeinschaftspolitik ist in der Literatur ausführlich behandelt und dokumentiert worden, so daß hier eine knappe Zusammenfassung genügen soll1. Das Augenmerk richtet sich in diesen Arbeiten auf die sich nach dem Luxemburger Kompromiß eingebürgerte Praxis der 'Gemeinschaftsmethode' in der Zusammenarbeit zwischen Kommission und Rat, die entgegen den Intentionen des EWG-Vertrages eine Eigendynamik entwickelte. Wie oben dargestellt, sollte die mit der Vorschlagskompetenz ausgestattete Kommission als Initiator des Gemeinschaftsinteresses, der mit der Entscheidungsfunktion ausgestattete Rat als Integrator von Gemeinschafts- und Nationalinteressen agieren. Die der Kommission zugedachte Autorität beruhte, wie Hallstein (1963, S. 19) einmal treffend festgestellt hat, "...letztlich auf der Richtigkeit dessen, was sie vorschlägt". Folgerichtig sah er in der rationalen Zusammenarbeit zwischen Kommission und Rat das 'zentrale Element' in der Verfassung der Gemeinschaft. Die faktische Erfordernis einstimmiger Ratsbeschlüsse mußte jedoch nahezu zwangsläufig dazu fuhren, daß die Konsensfähigkeit zum einzig 'richtigen Kriterium' der Zu1

Vgl. Berg, 1972 und 1990; Coombes, 1970; Faber und Breyer, 1980; Lindberg, 1965; Remus, 1969; Sasse, 197S; Spinelli, 1966; Scharpf, 1985.

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sammenarbeit zwischen Kommission und Rat und damit der Gemeinschaftspolitik avancierte oder besser: degenerierte. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen können mit Anleihen bei der 'Public Choice'-Theorie erklärt werden. 2.

Eine 'Public Chotee'-Analyse der EG-Entscheidungsprozesse Aus der Perspektive der 'Public Choice'-Theorie läßt sich die Gemeinschaftspolitik als ein erweiterter politischer Marktprozeß zwischen den im Rat vertretenen nationalen Regierungen, der Kommission, den Interessenverbänden und den Wahlbürgern modellieren (vgl. Vaubel, 1986 und 1992; Josling und Meyer, 1991). Realistischerweise ist anzunehmen, daß die nationalen Politiker am Erwerb und der Sicherung von Macht interessiert sind, die es ihnen erlaubt, persönliche oder politische Ziele durchzusetzen. Im Rahmen der geltenden Verfassungsbedingungen sind Machterwerb und -Sicherung von nationalen Erfolgen abhängig. Die Macht der Ratsmitglieder basiert also auf nationalen Wahlergebnissen, damit auch auf der Unterstützung durch nationale Interessengruppen und öffentliche Medien. Europäische Probleme spielen für den nationalen Erfolg oder Mißerfolg nur eine zweitrangige stimmenwirksame Rolle. Die Ratsmitglieder unterliegen auch seitens des Europäischen Parlaments und anderer EG-Organe keinen emstzunehmenden Sanktionen. Dennoch ist die Gemeinschaftspolitik nicht belanglos. Unabhängig von nicht zu leugnenden europäischen Idealen werden nationale Politiker danach trachten, mit Hilfe der Gemeinschaftspolitik möglichst viele Wählerstimmen zu gewinnen. Das schließt die Option ein, die Gemeinschaftspolitik zu benutzen, um einflußreiche nationale Interessengruppen zu bedienen und die Belastungen für die Steuerzahler und Konsumenten zu kaschieren, um so Stimmenverluste bei der Masse der Wähler zu vermeiden. Dabei kommt den Politikern zugute, daß Wähler zur rationalen Ignoranz neigen. Sie beachten am ehesten spektakuläre politische Vorgänge wie etwa Wirtschaftsgipfel mit verständlich und allgemein gehaltenen Botschaften, die zudem einen allseits akzeptierten Eigenwert verkörpern. Damit verbundene Konzessionen an spezielle Interessengruppen können entweder verdeckt oder aber als unpopuläre Konzessionen für die Gemeinschaftspolitik verkauft werden, wobei die unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindenden Ratssitzungen oder der Verweis auf die Brüsseler Eurokratie als Sündenbock die Zurechnung der Verantwortlichkeit seitens der Wähler und der Medien erschweren. Festzuhalten bleibt, daß die Gemeinschaftspolitik für die Politiker auch Anreize und Gelegenheiten eröffnet, nationalen Interessen und hierbei spezifischen, für die Masse der Wähler jedoch unpopulären Gruppeninteressen Priorität gegenüber dem Gemeinschaftsinteresse einzuräumen. Von daher stellt sich die Frage, ob die Kompetenzen der Kommission ausreichen, um die originären nationalen Politikerinteressen zugunsten des Gemeinschaftsinteresses korrigieren zu können.

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Die Kommission repräsentiert einen seit der Gründung der EG ständig gewachsenen Verwaltungsapparat. Gemäß der Ökonomischen Theorie der Bürokratie ist realistischerweise anzunehmen, daß die EG-Bürokraten persönliche Ziele, konkretisiert in Macht, Einfluß und hohen Einkommen, präferieren (vgl. Roppel, 1979). Damit verbindet sich das Interesse an möglichst umfangreichen Budgets und Kompetenzen. Im Rahmen der Verträge hängt die Zuweisung dieser Mittel von der Akzeptanz und Unterstützung seitens der nationalen Regierungen ab. Der Erfolg der Kommission und des ihr unterstellten Verwaltungsapparates ist daher untrennbar mit dem Erfolg der vom Rat entschiedenen Gemeinschaftspolitik verknüpft. Die Abhängigkeit der Kommission vom Rat wird deutlich, wenn man sich die möglichen Schicksale von Kommissionsvorschlägen vor dem Hintergrund des Erfordernisses einstimmiger Ratsbeschlüsse vor Augen hält: - Entspricht der Kommissionsvorschlag nicht den primär national vorbestimmten Präferenzen der Ratsmitglieder, so können diese den Vorschlag (einstimmig) verändern, sich also gegen die Kommission entscheiden. Geschieht dies häufiger, wird die Autorität der Kommission als 'Motor der Gemeinschaft' beeinträchtigt. - Eine vergleichbare Einbuße an Autorität ist zu befürchten, wenn die Kommission auf ihren im Gemeinschaftsinteresse als richtig erkannten Vorschlägen insistieren würde. Hier würde die Autorität als 'ehrlicher Makler' zwischen legitimen nationalen Interessen leiden. - Die verbleibende potentielle Strategie, Vorschläge nur als vorläufige und jederzeit änderbare Diskussionsgrundlage einzubringen, würde die Autorität als 'Hüterin der Verträge' untergraben. Angesichts dieses Szenarios ist folgerichtig, daß die Kommission bei der Ausarbeitung ihrer Vorschläge die spätere Konsensfähigkeit zum 'richtigen', weil erfolgsträchtigen Kriterium erkürt und unter den Bedingungen einstimmiger Ratsbeschlüsse tatsächlich auch befolgt hat. Schließlich kann die Kommission die für die Ratsmiglieder geltenden politischen Erfolgsbedingungen nicht ignorieren. Sie muß das Interesse der nationalen Politiker einkalkulieren, die Gemeinschaftspolitik stimmenwirksam und dabei auch zugunsten spezifischer, jedoch unpopulärer Privilegien für einflußreiche Interessengruppen einzusetzen. Diese Bereitschaft fällt den EG-Bürokraten deshalb leicht, weil sie nahtlos mit den systembedingten bürokratischen Eigeninteressen einhergeht. Der Entscheidungsprozeß der EG bietet den organisierten Interessengruppen vielfältige Möglichkeiten der Einflußnahme. Die Gründungsdynamik und Präsens der Verbände auf europäischer Ebene bestätigen diese Annahme. Der Aufbau der europäischen Verbände vollzog sich parallel zum Aufbau der EG-Organe. Bereits 1964 existierten ca. SO vH der heute offiziell vertretenen Fachverbände, deren Zahl sich auf mehr als

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500 Vertretungen beläuft. Schätzungen gehen von ca. 4000 Interessenvertretungen allein in Brüssel aus, wenn zu den Fachverbänden die Verbindungsbüros der Großunternehmen, der Anwaltskanzleien und der professionellen Lobbybüros gerechnet werden, hinter denen eine spezialisierte Servicebranche für Lobbydienste steht (vgl. Dietz und Glatthaar, 1991, S. 164 ff.; Schwaiger und Kirchner, 1981; Philip, 1983). Die europäischen Verbände repräsentieren meist Dachverbände der nationalen Organisationen. Sie sind Koordinationsinstanzen, die von nationalen Verbänden gesteuert und kontrolliert werden. Die nationale Dominanz kommt interessanterweise in der Geltung der Einstimmigkeitsregel innerhalb der meisten Dachverbände zum Ausdruck. Wie nicht anders zu erwarten ist, dominieren die Produzenteninteressen und hierbei die Verbände der Industrie, des Handels und der freien Berufe. Die Zahl der Konsumentenverbände beläuft sich auf 7 Vertretungen (vgl. Vaubel, 1992, S. 40). Ihr Einfluß gilt als gering, weil sie weder über grofie finanzielle und organisatorische Kapazitäten verfugen noch stimmenwirksame Wählergruppen mobilisieren können. Die ProduzentenVerbände sind hauptsächlich darauf aus, durch Einflußnahme auf die Gemeinschaftspolitik Privilegien wie Subventionen, Sonderregelungen, Mindestpreise, Protektionen, kurz gefaßt also Wettbewerbsbeschränkungen mit korrespondierenden Monopolrenten zu erzielen. Der Einfluß kann über formale und informale Kanäle erfolgen. Die institutionellen Möglichkeiten für die formale Einflußnahme bilden der Wirtschafts- und Sozialausschuß, dessen Mitglieder auf Vorschlag der nationalen Regierungen und Verbände vom Rat ernannt werden, sowie die große Zahl von Arbeitsgruppen und sonstigen Ausschüssen, in denen die EG-Organe mit Verbandsvertretern zusammenarbeiten. Allein an der Ausarbeitung der Kommissionsvorschläge sind regelmäßig über 1000 ständige oder fallweise gebildete Ausschüsse, bestehend aus europäischen und nationalen Beamten, Verbandsvertretern und Sachverständigen, beteiligt. Die Kommission sucht so den Kontakt zu Verbänden, die ihrerseits Kontakte zu Kommission und Rat zur Wahrung und Durchsetzung der Gruppeninteressen nutzen. Es ist daher zu vermuten, daß die Anstöße zu Kommissionsvorschlägen auch maßgeblich von Vertretern organisierter Interessenverbände ausgehen. Die EG-Beamten können die Spezifika der zu regelnden Bereiche in den 12 Ländern nicht kennen. Sie sind also auf Informationen und Sachverstand der Branchenvertreter angewiesen. Sie kennen jedoch die Eigenarten des politischen Geschäfts, und sie wissen, daß das Schicksal ihrer Vorschläge sich letztlich im Rat entscheidet, in dem nationale Interessen aufeinandertreffen. Damit sind in groben Zügen die Interessen der Hauptakteure skizziert, die im Rahmen der gesetzlich vorgegebenen Verfahren und insbesondere gemäß dem Erfordernis einstimmiger Ratsbeschlüsse den Verlauf und die Ergebnisse der Gemeinschaftspolitik bestimmt haben.

Die EG im Spannungsverhdltnis zwischen Konsens und Effizienz

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3.

Verlauf und Ergebnisse der Gemeinschaftsmethode Nach dem bis Mitte der 80er Jahre vorherrschenden Konsultationsverfahren (vgl. Übersicht 1) wurde der Entscheidungsprozefi mit der Ausarbeitung des Kommissionsvorschlags eingeleitet, der dann dem Rat und dem Europäischen Parlament zugeleitet wurde (vgl. Sasse, 1975; Ludbw, 1991, S. 102). Faktisch gelangte er zuerst in den Ausschuß der Ständigen Vertreter (Coreper), der im Auftrag des Rats die erste Konsensbefindung vornahm. Dieser Ausschuß, der ursprünglich als Zusammentreffen diplomatischer Regierungsvertreter konzipiert war, hat sich zu einem Treffpunkt nationaler und politisch sensibler Spitzenbeamten entwickelt. Sie wie auch die Minister waren (und sind) daher attraktive Ansprechpartner vor allem für nationale Verbände. Wie oben dargelegt, bestehen für die Minister und deren Vertreter Anreize, die Forderungen nationaler Interessenverbände zu berücksichtigen. Dabei kann Einigkeit unterstellt werden, die jeweiligen nationalen Belange der Verbände gegenseitig großzügig zu tolerieren. Der Ausschuß der Ständigen Vertreter leitete den Kommissionsvorschlag dann dem Europäischen Parlament und meistens auch dem Wirtschafts- und Sozialausschuß mit der Aufforderung zur Stellungnahme zu. Der Einfluß beider Gremien für den weiteren Fortgang der Vorschläge war beim Konsultationsverfahren eher gering. Insofern waren die Parlamentsmitglieder auch keine interessanten Gesprächspartner für die Interessenvertreter. Diese Vermutung trifft auch für die Rolle des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu, der sich aufgrund seiner umfassenden Zusammensetzung nicht als Organ für die Durchsetzung spezifischer Gruppeninteressen anbietet. Die vergleichsweise wirksamere Einflußnahme boten die der Kommission und dem Rat zugeordneten Ausschüsse und Arbeitsgruppen, die unmittelbare Kontakte zu den einflußreichen Personen eröffneten. Die Stellungnahme des Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses landeten dann wieder bei der Kommission, mit der (unverbindlichen) Möglichkeit, den ursprünglichen Vorschlag zu ergänzen. Danach ging der Vorschlag wieder an den Rat und damit an den Ausschuß der Ständigen Vertreter. Der Konsens innerhalb dieses Zirkels der Diplomaten und Beamten war die Grundlage für den formalen und einstimmigen Ratsbeschluß. Konnten sich die Ständigen Vertreter nicht einigen, oblag es dem Rat, Einstimmigkeit zu erreichen oder aber die Entscheidung zu verschieben.

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U b e r s i c h t 1:

Das Konsultationsverfahren (Anhòrungsverfahren)

Die EG im Spanrumgsverhältnis zwischen Konsens und Effizienz

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Unter den Bedingungen der Einstimmigkeitsregel war ein Konsens nur dann wahrscheinlich, wenn die Gemeinschaftslösung nicht das Nutzenniveau eines Mitglieds verschlechterte oder die Verschlechterung durch Kompensationszahlungen oder Kompromisse (auch in anderen Gemeinschaftsbereichen) kompensiert werden konnte. Da die Macht zwischen den Ratsmitgliedern völlig gleich verteilt war, konnte jedes Land erwartete externe Kosten durch die Veto-Option abwenden oder aber auf Kompensation bestehen. Angesichts dieser Gelegenheiten war es folgerichtig, daß sich die Paketlösung ('Package deal') als bevorzugte Gemeinschaftslösung einbürgerte. Danach war es üblich, Lösungsvorschläge, die verschiedene oder nur lose verbundene Bereiche betrafen, zu einem Paket zu verschnüren, das die Interessen aller Beteiligten notfalls über Entschädigungen oder Zusagen für spätere Konzessionen hinreichend bediente und dem daher jedes Mitglied zustimmen konnte. Wie die Praxis der 'Marathon-Sitzungen' insbesondere in der gemeinsamen Agrarpolitik zeigte, war die Suche nach ausgewogenen Kompromissen dennoch schwierig. Eine Einigung war nur dann in Aussicht, wenn die Kommission bereits bei der Ausarbeitung der Vorschläge als leitendes Kriterium die spätere Konsensfähigkeit berücksichtigt hatte. Dennoch wurden Lösungsvorschläge ad hoc nachgebessert oder einzelne Teile herausgebrochen, während die Problemfälle verschoben wurden. Diese Praxis mußte die Autorität der Kommission beeinträchtigen und den Einfluß nationaler Interessen im Rat und im Ausschuß der Ständigen Vertreter stärken. Die Langwierigkeit der Einigungsprozesse begünstigte auch den Einfluß der organisierten Interessengruppen (zum Einfluß der Verbände in ausgewählten Politikbereichen vgl. Braun, 1971; Hrbek und Probst, 1990). Dem einzigen und fragwürdigen Vorteil, daß überhaupt Einigungen erzielt werden konnten, standen offensichtliche Mängel der Paketlösung entgegen. Es ist hier nicht der Platz, Fehlentwicklungen in einzelnen Politikbereichen zu konkretisieren2. Unbestritten ist, daß der europäische Integrationsprozeß in den 70er Jahren zunehmend stagnierte. Solange institutionelle Reformen unterblieben, mußten Fortschritte in Richtung Binnenmarkt ausbleiben. Jeder Versuch, einen Beschluß, der einmal Bestandteil eines Paketes war, zu reformieren, beschwor die Gefahr der Neuverhandlung auch bewährter Entscheidungen. Zudem wohnte den impliziten Zusagen eine fatale Eigendynamik inne, weil deren Bedienung ständig neue Paketlösungen mit wiederum offenen, neu zustandezubringenden Kompromissen auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners provozierte.

Zur Agrarpolitik vgl. Berg, 1972, S. 74 ff., ferner zu anderen Bereichen die Beiträge in:

Wallace, Wallace und Webb, 1977)

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Insgesamt erwies sich die im Gefolge des Luxemburger Kompromisses eingebürgerte Gemeinschafts- oder Konsensmethode als ein teures und ineffizientes Entscheidungsverfahren. Die Kehrtwendung leitete die im Februar 1986 unterzeichnete und ab Juni 1987 geltende Einheitliche Europäische Akte (EEA) ein. Die Gründe für die damit verbundene Institutionenreform hat Delors (1987, S. 9) in seiner Begründungsrede auf den Punkt gebracht: "Europa trifft seine Entscheidungen schlecht und zu spät, bei der Durchführung der Entscheidungen zeichnet es sich nur selten durch hohe Effizienz aus. So kommt es zu lähmender und allzu interventionistischer Bürokratisierung." Den Ausweg aus der verhängnisvollen Verstrickung und Lähmung der Gemeinschaftsorgane erhoffte er sich von der umfassenden Anwendung der qualifizierten Mehrheit bei den Ratsbeschlüssen und von der 'vollen' Mitverantwortung des Europäischen Parlaments in der Gesetzgebung im Rahmen des Verfahrens der Zusammenarbeit, womit die beiden zentralen Reformelemente der EEA genannt sind. IV. Die Eraeuerungsphase und der Beitrag der Mehrheitsregel 1. Die Reformen der EinhettUcben Europäischen Akte Die mit der EEA eingeleiteten institutionellen Reformen sind darauf gerichtet, die im 'Luxemburger Kompromiß' begründete Ineffizienz der Gemeinschaftspolitik zu überwinden und die ursprünglich vereinbarte und formal nie aufgehobene Mehrheitsregel für Ratsbeschlüsse endlich zu verwirklichen. Freilich ist die EEA ebenfalls das Resultat eines politischen Kompromisses. Das Bekenntnis zur Mehrheitsregel kommt in Art. 100a EEA zum Ausdruck. Danach erläßt der Rat auf Vorschlag der Kommission in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und nach Anhörung des Wirtschafte- und Sozialausschusses die Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsvorschriften für die Schaffung und das Funktionieren des Binnenmarktes mit qualifizierter Mehrheit. Dem Schritt nach vorne folgen jedoch zugleich Schritte zurück. Nach Abs. 2 gilt die Mehrheitsregel nicht für die Angleichung der Steuern, für Bestimmungen über die Freizügigkeit und die Rechte der Arbeitnehmer. Nach Abs. 4 kann schließlich ein Mitgliedstaat einzelstaatliche Bestimmungen im Sinne des Art. 36 EWGV (öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie Schutz des nationalen Kulturgutes) und in bezug auf die Arbeitsumwelt und den Umweltschutz anwenden und damit die mit qualifizierter Mehrheit des Rates erlassenen Harmonisierungsmaßnahmen suspendieren. Diese Klauseln eröffnen gewichtige und zudem beliebig auslegbare Restriktionen für die Geltung der Mehrheitsregel. Die positive Seite dieser Restriktion sollte jedoch nicht übersehen werden. Die fragwürdige Angleichung der Steuern, des Sozialrechts und kultureller Spezifika wird durch die Einstimmigkeitsregel sicherlich begrenzt.

Die EG im Spannungsverhältnis zwischen Konsens und Effizienz

Übersicht 2:

Das Verfahren der Zusammenarbeit (Kooperationsverfahren nach 149 EWGV)

Vorschlag der Kommission

i

I

Ministerrat

(Ausschuß der Ständigen Vertreter)

Arbeitseruppen Ausschüsse Sachverständige Nationale Organe Verbinde

i

Europäisches Parlament (EP)

Wirtschafts- und SozialausschuD Kommission

(Möglichkeit zu Veränderungen und Zusatzantraeen)

(1. Lesung mit Stellungnahme)

1

E

Ministerrat

(Gemeinsamer Standpunkt)

I

Europa Parlament

1

Annahme oder keine Äußerung

(2. Lesung)

Ì Ì

Änderung mit absoluter Mehrheit

1

Ablehnung mit absoluter Mehrheit

Kommission

(Übernahme (Keine Überder Änderung nahme der Änderung des EP) des EP)

Ministerrat ^fiziertt^MehiSeit)

7

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+

Minis (errat

(Beschluß mit (Beschluß mit qualifizierter EinstimmigMehAeh) keit)

Verordnung bzw. Richtlinie

Ministerrat (Beschluß mit Einstimmigkeit)

J

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Die zweite wichtige Neuerung ist das in der Neufassung des Art. 149 EWGV festgelegte Verfahren der Zusammenarbeit zwischen Rat und Europäischem Parlament, das sowohl die qualifizierte Mehrheit der Ratsbeschlüsse als auch die Mitwirkung des Parlaments an solchen Beschlüssen sichern soll. Neuartig sind dabei gegenüber dem dargestellten Konsultationsverfahren die zusätzlichen Verfahrensschritte bei den Ratsbeschlüssen zum Binnenmarkt, die nunmehr zwei Lesungen der Vorschläge im Parlament und Rat verlangen (vgl. Übersicht 2). Wie bisher leitet die Kommission mit ihrem Vorschlag das Verfahren ein, woraufhin das Parlament in erster Lesung Stellung nimmt und diese dem Rat zuleitet. Der Rat prüft den Vorschlag und die Stellungnahme in erster Lesung und erarbeitet mit qualifizierter Mehrheit einen 'Gemeinsamen Standpunkt', der wiederum dem Parlament zugeleitet wird. Dem Parlament bleiben drei Monate Zeit, über den 'Gemeinsamen Standpunkt' zu befinden. Es kann ihn erstens akzeptieren, zweitens ändern oder drittens ablehnen, wobei die zweite und dritte Option die absolute Parlamentsmehrheit verlangen. Im ersten Fall der Akzeptanz seitens des Parlaments kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden. Im zweiten Fall von Änderungsvorschlägen kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, vorausgesetzt die Kommission hat die Änderungen innerhalb eines Monats ebenfalls akzeptiert. Ist dies nicht gegeben, muB der Rat einstimmig entscheiden. Im dritten Fall der Ablehnung des Ratsstandpunktes durch das Parlament kann der Rat ebenfalls nur einstimmig beschließen. Dieses auf den ersten Blick komplizierte Verfahren der Zusammenarbeit soll den Einfluß des Parlaments stärken und die Initiativkompetenz der Kommission sichern. Dem Rat bleibt dabei die letzte Entscheidungsbefugnis, in der Regel gemäß der qualifizierten Mehrheit. Eine Entscheidung gegen das Parlament wird jedoch dadurch erschwert, daß sie nur einstimmig legitim ist. Das Parlament erhält die Rolle eines beachtenswerten Mitspielers, nicht jedoch eines selbstverantwortlichen legislativen Organs. 2.

Reformergänzungen durch den Vertrag über die Europäische Union Der Vollständigkeit halber soll der Überblick über die Entscheidungsverfahren mit dem 1992 in Maastricht im Vertrag über die Europäische Union (EGV) beschlossenen Veränderungen abgerundet werden. Der offiziell als 'Verfahren nach Art. 189b EGV' bezeichnete Modus der Mitentscheidung des Europäischen Parlaments ergänzt und kompliziert das dargestellte Verfahren der Zusammenarbeit (vgl. Übersicht 3).

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Die EG im Spanmmgsverhältnis zwischen Konsens und Effizienz

Übersicht 3:

Das Verfahren nach 189b EGV (Mitentscheidungsverfahren)

Vorschlag der Kommission

I

Ministerrat

(Ausschuß der Stfadigen Vertreter)

Wirtschafts- und SozialausschuO

I

Kommission

Europäisches Parlament (EP) (1. Lesung mit Stellungnahme)

Ministerrat

(Gemeinsamer Standpunkt)

I

Europäisches Parlament (2. Lesung)

f i

1

Annahme oder keine Auflerung

ng mit absoluter Mehrheit

I

Ministerrat

(Beschluß mit qualifizierter Mehrheit)

1

Ankündigung der Ablehnung mit absoluter Mehrheit

I i

Vermittlungsausschuß

Abänderungsvorschläge durch Europ. Parlament

Ablehnung durch EP: Rechtsakt ist gescheitert

Ministerrat (keine Billigung der Abänderung)

Ministeirat Billigung der Änderung) (Bei Zustimmung] (Bei Ablehnung der Kommission I der Kommission Beschluß mit qualilBeschlufi mit Einfgierter Mehrheit) stimmigkeit)

Vermittlun psausschuß (kein gemein- (Billigung des gesamer Entwurf) meinsamen Entwurfs)

m

Europäisches Parlament (Ablehnung mit absoluter Mehrheit Rechtsakt gescheitert)

Billigum Rechtsakt erlassen

Ministerrat.

(Bestätigung des Gemeinsamen Standpunktes der 1. Lesung mit qualifizierter Mehmeit)

(Billigung durch , (Billigung durch Rat mit qualifi- ' EP mit absoluter zierter Mehrheit) | Mehrheit) (Gemeinsame Billigung binnen 6 Wochen) Quelle: Wessels 1992b, S. 11.

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Als wesentliche Änderung ist die Einschaltung eines Vermittlungsausschusses zwischen Rat und Europäischem Parlament zu nennen (vgl. Wessels, 1992b). Der Ausschuß, der sich je zur Hälfte aus Ratsmitgliedem und Vertretern des Parlaments zusammensetzt, wird bei Meinungsverschiedenheiten nach der ersten und zweiten Lesung der Kommissionsvorschläge tätig, um einen gemeinsamen Entwurf zu formulieren. Kommt im Ausschuß keine Einigung zustande, kann das Parlament im Falle eines etwaigen Ratsbeschlusses den Rechtsakt mit absoluter Mehrheit, d. h. 260 von 518 Stimmen, ablehnen. Damit wird dem Parlament erstmals ein Vetorecht in der Rechtssetzung konzediert. Einigt sich dagegen der Ausschuß auf einen gemeinsamen Entwurf, kann der Rat den Rechtsakt beschließen. Dazu bedarf es im Rat der qualifizierten Mehrheit, vorausgesetzt die Kommission hat den Entwurf ebenfalls gebilligt. Lehnt die Kommission ab, so hat der Rat einstimmig zu beschließen. Dieses Erfordernis entspricht dem des Verfahrens der Zusammenarbeit, das weiterhin gemäß den vertraglichen Bestimmungen gilt. Diese neuen Regelungen bezwecken eine Aufwertung der legislativen Mitverantwortung des Parlaments. Das Demokratiedefizit innerhalb der EG wird damit freilich nur marginal vermindert. Wirtschaftspolitisch bedeutende Bereiche, z. B. die Agrarund Verkehrspolitik, bleiben exklusive Bereiche der Gemeinschaftspolitik, in denen der Rat weiterhin gegen die Parlamentsmehrheit beschließen kann. Die Unklarheiten bei der konkreten Anwendung des neuen Verfahrens, das frühestens im Laufe des Jahres 1993 die bestehenden Prozeduren ergänzen soll, werden durch die Maastrichter Beschlüsse eher verstärkt. Gemäß Art. 169b Abs. 8 EGV soll der Anwendungsbereich des Verfahrens spätestens bis 1996 erweitert werden. Die Unbestimmtheit dieser Evolutivklausel wird durch das in sich widersprüchliche Vorhaben komplettiert, die Kompetenzen der Gemeinschaft gemäß Art. 2 und 3 EGV zu erweitern und gleichzeitig gemäß Art. 3b durch das Subsidiaritätsprinzip zu begrenzen. Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Gemeinschaft in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht und daher besser auf Gemeinschaftsebene erfüllt werden können. Diese Klausel ist außerordentlich vage und offen für politisches Streithandeln. Die Kommission beansprucht nach ihrem Eigenverständnis die ausschließliche Zuständigkeit für die Vollendung des Binnenmarktes, für die gemeinsame Handels-, Agrar- und Fischereipolitik und die wesentlichen Maßnahmen der Verkehrspolitik. Dieses Verständnis muß jedoch zwangsläufig mit dem Subsidiaritätsprinzip kollidieren, wonach die EG nur dann tätig werden sollte, wenn die Gemeinschaftsziele auf nationaler Ebene nicht ausreichend und daher besser auf Gemeinschaftsebene realisiert werden können. Die damit vorprogrammierten

Die EG im Spannungsverhältnis zwischen Konsens und Effizienz

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Kompetenzkonflikte sollen im Wege einer intensivierten Zusammenarbeit zwischen Kommission, Rat, Europäischem Parlament, nationalen Parlamenten und mit Hilfe eines neu einzurichtenden 'Beratenden Ausschusses der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften', dessen Mitglieder vom Rat einstimmig zu benennen sind, einvernehmlich geregelt werden. Der gedachte Entscheidungsverlauf folgt dabei dem Grundmuster, nach dem die Kommission die Vorschläge ausarbeitet und den beteiligten Organen zu präsentieren hat, allerdings mit der Zusatzbegründung, dafi eine Gemeinschaftsbefugnis gegeben sei. Der Rat, das Europäische Parlament, wahrscheinlich auch die nationalen Parlamente und der neue Beratende Ausschuß müßten dann überprüfen, ob der Kommissionsvorschlag den Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips genügt oder widerspricht. Wahrscheinliche Änderungsentwürfe provozieren wiederum gegenläufige Begründungen der Kommission, dafi ihre Vorschläge prinzipienkonform seien etc. Das diesen Regeln inhärente Konfliktpotential kann und soll hier nicht untersucht werden. Unsere Analyse konzentriert sich vielmehr auf die Konsequenzen der mit der EEA zugestandenen Möglichkeit, Ratsbeschlüsse mit qualifizierter Mehrheit zu treffen. 3.

Analyse der qualifizierten Mehrheitsregel und einiger Folgen Zunächst werden durch die mögliche Anwendung der qualifizierten Mehrheitsregel für Ratsbeschlüsse die bereits dargestellten originären Interessen der beteiligten Regierungen, Bürokraten und Verbandsvertreter nicht verändert. Insofern bleibt das immanente Konfliktpotential zwischen Gruppen-, National- und Gemeinschaftsinteressen innerhalb der EG bestehen. Auch die verschiedenen Abstimmungsprozeduren sind nicht grundlegend verändert worden. Die stärkere Einbindung des Parlaments durch die eingeräumte zweite Lesung der Vorschläge und der 'Gemeinsamen Standpunkte' hat die Abstimmungsprozedur lediglich um zusätzliche Schritte erweitert. Verändert haben sich jedoch die Bedingungen für die Durchsetzung der Interessen im Rat. Von der Mehrheitsregel ist sowohl eine Stärkung des Gemeinschaftsinteresses, damit indirekt der Kommission, als auch eine Beschleunigung der Einigungs- und Entscheidungsprozesse zu erwarten. Übersetzt in die Kosteneffekte ist eine Senkung der Entscheidungskosten, allerdings eine Erhöhung der externen Kosten zu erwarten. Der Ubergang zur qualifizierten Mehrheitsregel verändert gravierend die relative Machtposition der Ratsmitglieder und damit der beteiligten Länder. Ein Maß dafür ist die 'a priori-Abstimmungsstärke', d. h. die Chance eines Landes, Einfluß auf das Zustandekommen eines Beschlusses auszuüben. Bei Einstimmigkeit ist dieser Einfluß für jedes Land, unabhängig von seiner Größe und seiner Stimmenzahl, gleich. Bezogen auf den Rat, verfügen die 12 Mitgliedstaaten über insgesamt 76 Stimmen, die je nach

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Größe aufgeteilt sind. Luxemburg als kleinstes Land mit 2 Stimmen kann bei Einstimmigkeit mit der gleichen Chance wie Deutschland als großes Land mit 10 Stimmen einen Beschluß verhindern. Bei Mehrheitsbeschlüssen sinkt der Stimmenanteil Luxemburgs auf 1/38, der Deutschlands auf knapp 1/8. Das zeigt, daß bei der Mehrheitsregel jedes Land an Abstimmungsstärke einbüßt, wobei die kleinen Länder am stärksten betroffen sind (vgl. Engel und Borrmann, 1991, S. 76 ff.; Borrmann, 1990; Faber und Breyer, 1980). Für den Großteil der Ratsbeschlüsse ist qualifizierte Mehrheit vorgesehen. Dafür sind insgesamt 54 der 76 Stimmen erforderlich. Eine Ablehnung der Vorschläge verlangt 23 Gegenstimmen. Eines der 4 großen Länder (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien mit jeweils 10 Stimmen) benötigt dafür weitere 13 Stimmen, also z. B. die Koalition mit einem großen und einem kleinen Land, während ein kleines Land mehr Länder für eine Sperrminorität aktivieren muß. Die für alle Länder geltende Machteinbuße bei qualifizierter Mehrheit erschwert die Blockade von Ratsbeschlüssen. Dadurch vermindert sich die Notwendigkeit zur Austarierung allseits konsensfähiger Paketlösungen. Diese sind zwar nicht verschwunden, ihre Schnürung wird jedoch schwieriger und deshalb seltener. Während beim Einstimmigkeitsprinzip der Widerstand eines Landes ausreicht, um Konzessionen auszuhandeln, die dann auch von allen anderen beansprucht werden, kann beim Mehrheitsprinzip ein einzelnes Land leicht in die unbeachtete Minderheitsposition geraten. Es muß nun Verbündete suchen. Das wird dann gelingen, wenn auf der Mehrheitsseite Ratsmitglieder zu finden sind, die nur als schwache Befürworter der Gemeinschaftsentscheidung gelten und die durch entsprechende Konzessionen jetzt oder später für die Minderheitskoalition gewonnen werden können. Das setzt jedoch eine gewisse wirtschaftliche und politische Macht und auch ein gewisses Stimmengewicht der Minderheit voraus, die für Konzessionen eingetauscht werden können. Weil bei der Anwendung der qualifizierten Mehrheitsregel die Verhandlungsmacht aller Ratsmitglieder vermindert wird, ist zu vermuten, daß der Spielraum für integrationshemmende und zeitraubende Prozeduren merklich eingeengt wird. Jedenfalls sollten die in der Einstimmigkeitsregel angelegten Auswüchse, daß Minister Maximalforderungen stellen, um sie sich dann nach der Prozedur des Kuhhandels gegen Kompensationen abhandeln zu lassen, beschnitten werden (zu solchen Praktiken in der Agrarpolitik vgl. Schmitt, 1984). Als weiterer Vorteil der qualifizierten Mehrheitsregel ist die Beschleunigung der Entscheidungsprozeduren zu verbuchen, die auch durch die im Verfahren der Zusammenarbeit vorgesehene zweite Lesung des 'Gemeinsamen Standpunktes' durch das Europäische Parlament nicht beeinträchtigt werden sollte. Dafür spricht, daß die zweite Lesung des Parlaments auf 3 Monate begrenzt ist und auch die Beschlußfassung des

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Rates nach dieser zweiten Lesung zeitlich limitiert ist. Wenn die Kommission allerdings die Änderungsvorschläge des Parlaments übernimmt, der Rat den 'Gemeinsamen Standpunkt' jedoch mit qualifizierter Mehrheit beschlossen hat, dann dürfte die Einigung im Rat über den Änderungsvorschlag schwierig sein. Die Kommission muß daher dafür sorgen, daß die Unstimmigkeiten zwischen Rat und Parlament möglichst nach der ersten Lesung ihrer Vorschläge ausgeräumt werden. 4.

Empirische Daten zu den Ergebnissen der institionellen Reformen Die skizzierten relativen Vorzüge der qualifizierten Mehrheits- gegenüber der Ein-

stimmigkeitsregel werden durch die empirische Studie von Engel und Borrmann (1992, 5. 109 ff.) bestätigt. Die statistischen Daten basieren auf der Analyse von Binnenmarktentscheidungen gemäB dem Weißbuch der Kommission von 1985. Insgesamt wurden 356 Verfahren untersucht, von denen 216 bis Ende 1989 abgeschlossen waren. Die durchschnittliche Entscheidungsdauer zwischen der Präsentation der Kommissionsvorschläge, die in den hier berücksichtigten Fällen teilweise bereits Anfang der 70er Jahre erfolgte, bis zu der endgültigen Beschlußfassung im Rat lag im Zeitraum 19711989 bei 862 Tagen, also bei knapp zweieinhalb Jahren. Unterschieden nach der Rechtsform, beanspruchte die Verabschiedung von Richtlinien durchschnittlich 930 Tage, von Verordnungen 1047 Tage und von Entscheidungen 447 Tage. Die zeitlichen Unterschiede in der Entscheidungsprozedur bei Richtlinien und Verordnungen sind also gering. Betrachtet man nur die im Zeitraum zwischen 1986-89 präsentierten 130 Vorschläge, so verkürzt sich die durchschnittliche Entscheidungsdauer auf 492 Tage, zwischen 1987-89 sogar auf 415 Tage. Das deutet an, daß die Beschlußfassung für die Kommissionsvorschläge, die nach den neuen Regeln und Verfahren der EEA erfolgten, erheblich beschleunigt werden konnte3. Einen weiteren Indikator für die beschleunigte Beschlußfassung im Rat liefert die Zeitdauer zwischen der ersten Lesung eines Vorschlags im Parlament und dem endgültigen Ratsbeschluß, die sich in den Jahren 1971-1989 für die Gesamtheit der Fälle auf durchschnittlich 533 Tage belief und im Zeitraum 1986-1989 auf durchschnittlich 320 Tage reduziert wurde. Die Beschleunigung fällt noch deutlicher bei den Maßnahmen aus, die im Rahmen des Verfahrens der Zusammenarbeit mit der Möglichkeit zur Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit abgewickelt wurden. Der Zusammenhang zwischen Mehrheitsregel und Zeitdauer läßt sich nicht exakt ermitteln, weil die Abstimmungen des Rates bekanntlich geheim getroffen werden. Von der Gesamtheit der 216 3

Vgl. Engel und Borrmann, 1992, S. 115 f.; vgl, auch Corbett und Schmuck, 1992, S. 38 f.; Wessels, 1991 und 1992a, bei denen die Daten von Engel und Borrmann teilweise detaillierter ausgewertet werden.

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Fälle mußten aufgrund der Vertragsbestimmungen 45 einstimmig entschieden werden. Von den verbleibenden 171 Fällen, die mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt weiden konnten, waren 104 gemäß den Verfahren der Zusammenarbeit und 67 gemäß dem traditionellen Konsultationsverfahren zu erledigen. Wieviele davon, insbesondere von den 104 Fällen, mit qualifizierter Mehrheit beschlossen wurden, ist nicht genau bekannt. Nach einer Anfrage des Europäischen Parlaments war vom Rat zu hören, daß zwischen dem 1.07.1987 (Inkrafttreten der EEA) und Mai 1988 (Antwort des Rates) mehr als 70 Mehrheitsbeschlüsse stattfanden. Im Jahre 1989 sollen es 61 gewesen sein, von denen 18 nach förmlichen Mehrheitsentscheidungen, 17 ohne förmliche Abstimmung, also durch einfache Feststellung der Mehrheit bzw. Einstimmigkeit, zustande kamen und 26 als sog. A-Punkte, d. h. als Punkte, in denen vorher im Ausschuß der Ständigen Vertreter Konsens bestand und die vom Rat ohne Beratung angenommen wurden4. Engel und Borrmann (1992, S. 146 f.) vermuten, daß der Rat bei der Großzahl der Rechtsakte, bei denen de jure die qualifizierte Mehrheitsabstimmung möglich war, dennoch einstimmige Beschlüsse faßte. Das sollte jedoch nicht dazu verleiten, die Bedeutung der qualifizierten Mehrheitsregel abzuwerten. Allein die potentielle und daher zu antizipierende Möglichkeit der Anwendung dieser Regel fördert die Konsensbereitschaft, um eine Überstimmung und damit eine Minderheitsposition zu vermeiden. Die Mehrheitsregel bleibt ein wirksames Mittel, das jedoch sparsam eingesetzt werden sollte. Dafür spricht das Demokratie- und Legitimitätsdefizit der Gemeinschaft, das die Akzeptanz der externen Kosten von Mehrheitsentscheidungen gefährdet (vgl. V.). Das Verfahren der Zusammenarbeit hat das angesprochene Demokratiedefizit nicht wesentlich behoben. Es hat aber auch nicht zur anfanglich befürchteten Lähmung der Entscheidungsprozedur geführt. Für die Gesamtheit der bis Ende 1989 beschlossenen 216 Fälle sowie eine weitere Zahl von 1989 noch nicht abgeschlossenen Verfahren benötigte das Europäische Parlament für die erste Lesung durchschnittlich 333 Tage. Im Zeitraum 1986-1989 reduzierte sich diese Zeitdauer auf durchschnittlich 249 Tage. Dabei sind zwischen dem traditionellen Konsultations- und dem neuen Kooperationsverfahren keine merklichen Zeitunterschiede feststellbar. Für die im Kooperationsverfahren verlangten zweiten Lesungen benötigte das Parlament durchschnittlich 82 Tage. Es blieb dabei innerhalb der Frist von 3 Monaten, wobei es durchgängig der geforderten absoluten Mehrheit in der zweiten Lesung genügen konnte. Umstrittene Richtlinien, die mit Stimmenenthaltung oder Ablehnung der 'Gemeinsamen Standpunkte' oder Ratsbeschlüsse seitens einzelner Linder zustande kamen, waren beispielsweise die 'Maschinen-Richtlinie', 'Abgasemmissions-Richtlinie für Kleinwagen', 'Richtlinien zur Kennzeichnung des Nährwertgehalts von Lebensmitteln', 'FernsehRichtlinie', 'Benzol-Richtlinie' oder die 'Richtlinien zur Etikettiening von Tabakerzeugnissen' .

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Im Rahmen des Verfahrens der Zusammenarbeit hat das Parlament in der ersten Lesung von 160 Kommissionsvorschlägen im Zeitraum zwischen 1985-1989 drei Vorschläge abgelehnt, 24 gebilligt und 133 Änderungen vorgeschlagen. Im Durchschnitt betrafen diese Änderungen in der ersten Lesung pro Vorschlag 13-14 Änderungspunkte, in der zweiten Lesung nur noch 5-6 Punkte. Das deutet an, daß Meinungsunterschiede zwischen Parlament, Kommission und Rat zwischen der ersten und zweiten Lesung weitgehend beigelegt werden konnten. Insgesamt hat also die dem Parlament im Verfahren der Zusammenarbeit konzedierte Mitgestaltungsfunktion bei der Rechtssetzung nicht zur Verzögerung, sondern sogar zur Beschleunigung der Entscheidungsbildung geführt. Nach Engel und Borrmann (1992, S. 263) hat sich infolge der neuen EG-Entscheidungsverfahren auch ein neues Beziehungsgeflecht zwischen den EG-Organen herausgebildet, das alle Organe gestärkt habe. Der Einfluß des Rates sei durch die schnellere und effizientere Entscheidungsfindung gewachsen, die Rolle des Parlaments durch die verbesserte Mitgestaltung aufgewertet und die Stellung der Kommission als Initiativund Vermittlungsorgan gestärkt worden. Ihr Fazit lautet daher: "Im Hinblick auf die Effizienz der Entscheidungsfindung kann die Anwendung der neuen Verfahrensvorschriften als äußerst erfolgreich gewertet werden" (ebenda, S. 266). Die Tatsache, daß die im Weißbuch der Kommission aufgelisteten rd. 300 Maßnahmen zur Beseitigung der materiellen, technischen und steuerlichen Schranken des Binnenmarktes bis Ende 1992 zu ca. 95 vH beschlossen werden konnten, unterstreicht diese Bewertung. Die positive Bilanz wird durch einige Versäumnisse getrübt. So sind bis Anfang 1993 nur 75 vH der EG-Regelungen in nationales Recht umgesetzt worden. Die Liberalisierung wichtiger Bereiche, so der Verkehrs- und Versicherungsmärkte, mußte auf Mitte 1994 verschoben werden. Auch die angestrebte Angleichung der nationalen Steuersätze, insbesondere der Mehrwert- und Verbrauchssteuern, und die Einigung auf das Ursprungslandprinzip scheiterten, wahrscheinlich nicht zuletzt an der dafür verlangten Einstimmigkeitsregel. Die insgesamt dennoch positive Bilanz des Binnenmarktprojektes ist nicht nur durch die neuen Entscheidungsregeln und -verfahren, sondern auch durch die Methode, die Politiker und EG-Bürokratie durch verbindliche Zeitvorgaben unter Druck zu setzen, sowie nicht zuletzt durch den Verzicht der Kommission auf die Strategie der umfassenden ex-ante-Harmonisierung und die Akzeptanz des Ursprunglandsprinzips begünstigt worden. Den entscheidenden Anstoß für die Abkehr von dem umfassenden Harmonisierungsvorhaben hat das berühmte 'Cassis de Dijon-Urteil' des Europäischen Gerichtshofes von 1979 geliefert. Hinzu kam die Einsicht, daß die detaillierte Harmonisierung nationaler Regelungen unter der Herrschaft der Einstimmigkeitsregel den Rat und die

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Kommission hoffnungslos überfordern würde. Die Akzeptanz der Mehrheitsregel, des Äquivalenzprinzips und auch der Fristenvorgabe ist daher eine Reaktion auf die systembedingten Unvollkommenheiten der EG. Diese Einsicht signalisiert zugleich die Notwendigkeit weitergehender Reformen der Europäischen Verfassung. Die ausschlaggebende Ursache dafür läßt sich auf das vielbeklagte 'Demokratie- und Legitimitätsdefizit' der EG reduzieren. Die abschließenden Bemerkungen gelten diesem Defizit sowie den Optionen und Grenzen für dessen Linderung. V. 1.

Reformoptionen und Restriktionen Das Demokratie- und Legitimitätsdefizit der EG Die EG hat im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr Kompetenzen erhalten. Den damit einhergehenden Einbußen an nationaler Souveränität und demokratischer Legitimität sind auf der EG-Ebene keine äquivalenten demokratisch legitimierten Institutionen und Kompetenzen zugewachsen. Das Ungleichgewicht hat Lepsius (1991, S. 22) mit der Metapher auf den Punkt gebracht, daß die Bürger der EG einerseits der 'Souverän' der Nationalstaaten sind, andererseits aber der 'Untertan' der EG geblieben seien. Die demokratischen Defizite gelten für alle EG-Organe. Das Europäische Parlament ist zwar in den Änderungsverträgen aufgewertet worden, die klassischen Befugnisse der demokratischen nationalen Parlamente blieben ihm jedoch versagt. Gemäß den Verfahren der Zusammenarbeit kann es an der Rechtssetzung dahingehend mitwirken, daß es Vorschläge verändern oder verhindern, nicht jedoch selbstverantwortlich beschließen kann. Ein wirkliches Mitentscheidungsrecht hat es lediglich bei Assoziierungs- und Beitrittsabkommen. Das unbestrittene Entscheidungs- und Gesetzgebungszentrum der EG bleibt der Rat, der seine Entscheidungen im Stile der 'klassischen Kabinettspolitik' hinter verschlossenen Türen trifft. Die Vollmacht der Vertreter ist zwar in nationalen demokratischen Wahlen erworben. Die Gemeinschaftspolitik spielt dabei jedoch eher eine zweitrangige Rolle. Zudem bleibt dem Wähler unklar, wem Ratsbeschlüsse zurechenbar sind. Bei einstimmigen Ratsentscheidungen ließe sich noch am ehesten eine mittelbare gesamteuropäische Legitimität konstruieren. Wie gezeigt, ist dafür jedoch ein hoher Preis in Gestalt einer weitgehenden Entscheidungsunfähigkeit zu zahlen. Mehrheitsentscheidungen, wenn auch nur gemäß der qualifizierten Mehrheit, verbessern die Effizienz, vermindern jedoch die Legitimität. Die unterlegene Minderheit, die eine beträchtliche Zahl betroffener Bürger repräsentieren kann, wird solche Entscheidungen als fremdbestimmte Lasten empfinden und nur widerwillig oder überhaupt nicht akzeptieren wollen. Die Kommission schließlich führt ein Zwitterdasein zwischen dem von den nationalen Regierungen zugewiesenen Auftrag einerseits und bürokratischer Eigenmacht ande-

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rerseits. Die Kommissare und der Präsident werden 'im gegenseitigen Einvernehmen' von den Regierungen der Mitgliedsländer ernannt. Da die Arbeit der Kommission keiner wirksamen demokratischen Kontrolle unterliegt, entwickelt sie ein Eigenleben, das weitgehend von nationalem und bürokratischem Proporzdenken beherrscht wird. Der Zuwachs an Befugnissen ging daher folgerichtig mit einem übelproportionalen Wachstum des Verwaltungsapparates einher. Im Zeitraum 1960-1990 betrug die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des EG-Haushaltes 21,7 vH, die des Personalbestandes 7,6 vH (vgl. Vaubel, 1992, S. 50). Anfang der 90er Jahre verwaltet die Kommission einen Haushalt, der die EG-Bürger 130 Mrd. DM kostet. Daneben verfügt sie über weit größere Geldmittel, deren Einsatz weder von den Wählern, den Parlamenten, den Regierungen noch von den Rechnungshöfen wirksam kontrolliert wird. Allein die Europäische Investitionsbank wirtschaftet mit einem Kreditvolumen von 120 Mrd. DM. Der europäische Entwicklungsfonds zur Finanzierung der Entwicklungshilfe ist mit 20 Mrd. DM ausgestattet. Die Verwendung der Haushalts- und diversen Fondsmittel ist das Ergebnis wenig durchschaubarer und kaum zurechenbarer politischer Kompromisse, bürokratischer Eigenmächtigkeit und verbandspolitischer Einflußnahme. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, daß die Kommission innerhalb eines Verantwortungsvakuums arbeitet. 2.

Schlußfolgerungen aus immanenten Reformrestriktionen Die knappe Mängelliste soll die keineswegs neue Einsicht erhärten, daß die Verfassung der EG reformbedürftig ist. Dazu existieren eine Reihe von Vorschlägen, die in diesem Beitrag nicht dargestellt werden können (vgl. Wieland, 1991 und 1992; Bernholz, 1990; Möschel, 1992). Bei den verschiedenen Reformen, egal ob sie auf die Herbeiführung einer politischen Union mit einem europäischen Bundesstaat, auf die Verbesserung des 'status quo' oder auf die Rückentwicklung in Richtung Freihandelszone gerichtet sind, gilt es das Spannungsverhältnis zwischen Konsens und Effizienz zu berücksichtigen. Bezogen auf die Entscheidungskompetenzen und -regeln der EG, geht es dabei um die Wahl zwischen Einstimmigkeits- und Mehrheitsregel. Wie die Analyse gezeigt hat, kann die Einstimmigkeitsregel keine sinnvolle Reformoption sein. Die EG läßt sich entweder nur mit der Mehrheitsregel oder aber überhaupt nicht reformieren. Die Organe, die dieser Forderung zu genügen haben, sind der Rat und das Europäische Parlament, wie immer auch deren Kompetenzen im Detail ausgestattet werden. Die Geltung des Mehrheits- oder Demokratieprinzips stößt jedoch auf Grenzen, deren gemeinsame Ursache die mangelnde europäische Identität ist. Mit dieser Kategorie ist das europäische Gemeinschaftsbewußtsein der Bürger und seiner Repräsentanten angesprochen (vgl. LOcherbach, 1983; Kielmansegg, 1992). Identität ist innerhalb jeder Ge-

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meinschaft das knappe, aber unverzichtbare Gut für den Aufbau und Bestand einer Ordnung. Innerhalb anonymer und arbeitsteiliger Großgesellschaften läßt sich das grundlegende Ordnungsproblem nur dann bewältigen, wenn erstens das Gemeinschaftsbewußtsein gewachsen und im Alltagsleben hinreichend verankert ist und wenn es zweitens institutionell abgesichert und von einer legitimen, mit dem Macht- und letztlich dem Gewaltmonopol ausgestatteten Zentralinstanz durchgesetzt wird. Die Identität verkörpert dabei gleichsam den Zement, der den gewachsenen Unterbau mit dem rechtlich-politischen Überbau verbindet und zusammenhält. In der EG ist es vorstellbar und auch leichter realisierbar, die zweite Bedingung zu erfüllen. Die wahrscheinlich wichtigste Gemeinsamkeit der Europa zurechenbaren Länder besteht in der rechtsstaatlichen Tradition, weshalb Europa seit dem Mittelalter am ehesten eine Rechtsgemeinschaft repräsentiert. Das zentrale Knappheitsproblem besteht bei der ersten Bedingung, also dem gewachsenen und verinnerlichten Gemeinschaftsund Kooperationsbewußtsein. Dieses Bewußtsein kann nur allmählich und als Ergebnis gemeinsam empfundener Herausforderungen und positiver Erfahrungen wachsen. Das Aufkommen bleibt jedenfalls auf absehbare Zeit hinter dem Bedarf zurück. Der vorhandene Vorrat an europäischer Identität ist deshalb gering, weil Europa weder eine Erfahrungs- noch eine Kommunikationsgemeinschaft war und ist. Die geschichtlichen Erfahrungen über die Gemeinschaft oder Gegnerschaft wurden und werden in Europa über die Institution der Nation vermittelt und verinnerlicht. Es gibt so gut wie keine gesamteuropäischen Erfahrungen. Europa war stets durch eine Vielzahl von Völkern und Nationen gekennzeichnet, die sich nur dann und das selten genug einig waren (oder sind), wenn es gegen etwas, aber sich kaum einigen konnten, wenn es für etwas ging. Es gibt kluge Arbeiten, die gerade darin die Gründe für das 'Wunder Europas' sehen (vgl. Jones, 1981). Europa war und ist auch keine wirkliche Kommunikationsgemeinschaft. Es kennt mehr als 20 Sprachen ohne die Dialekte. Allein die jetzige EG muß mit 9 Amtssprachen auskommen. Diese Vielsprachigkeit ist wahrscheinlich das wichtigste Hindernis für das Aufkommen einer europäischen Indentität. Die Kommunikationsschwierigkeiten behindern die Herausbildung einer öffentlichen Meinung und eines akzeptierten Systems von intermediären Vermittlungsinstanzen zwischen Gesamt- und Individualinteressen. Ohne öffentliche Meinung und intermediäre Vermittlungsinstanzen kann es jedoch auch keinen verträglichen Interessenausgleich und damit auch keine oder nur eine geringe Akzeptanz kollektiv getroffener Mehrheitsentscheidungen seitens der betroffenen Minderheiten geben. Da politische Entscheidungen häufig dem Muster von Nullsummenspielen entsprechen, bei denen es Gewinner und Verlierer gibt, werden überstimmte Minderheiten die Mehrheitsentscheidungen im Rahmen der Gemeinschaftspolitik mit großer Wahrscheinlichkeit als illegi-

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time und nichtakzeptable Fremdentscheidungen empfinden. Mit Kielmansegg (1992, S. 35) ist darin das zentrale Problem für die verstärkte Anwendung des Mehrheits- und Demokratieprinzips innerhalb der EG zu sehen. Dieses Problem läßt sich nicht durch die Konstruktion eines ausgedachten politisch-rechtlichen Überbaus lösen, der eines gewachsenen und im Alltagsbewußtsein der betroffenen Bürger verinnerlichten Unterbaus entbehrt. Das Problem wird durch die inhärente Tendenz verschärft, daß die Politikintegration zur Zentralisierung der Entscheidungen und zur Angleichung der Politik der EGStaaten fuhrt und damit für die Wähler die Zahl der Alternativen reduziert. "Politikintegration mindert den Wettbewerbsdruck, unter dem Politiker handeln, und damit ihre Abhängigkeit von Loyalität und Konsens der Regierten. Sie schwächt damit ein Motiv, die Wünsche und Erwartungen der Bürger zu berücksichtigen und bedeutet, soweit dies eintritt, Entdemokratisierung" (Kammler, 1992, S. 24). Das Spannungsverhältnis zwischen Konsens und Effizienz wird also verschärft, mit der Folge zunehmender Entscheidungskosten einerseits und abnehmender Akzeptanz der externen Kosten von Gemeinschaftsentscheidungen durch betroffene Minderheiten andererseits. Der in Maastricht eingeschlagene Marsch in Richtung auf mehr Politikintegration droht, dieses bisher noch tolerierte Spannungsverhältnis endgültig zu überdehnen. Den erfolgsträchtigeren Ausweg für Europa weist die Konzeption einer 'Europäischen Minimalgemeinschaft' (MOschel, in diesem Band) auf, verbunden mit der Intensivierung des politischen und institutionellen Wettbewerbs zwischen den EG-Staaten. Dies liefe auf die Stärkung der nationalen Parlamente und Regierungen hinaus. Auf diesem Weg wäre ein Teil der gewachsenen Kompetenzen der EG in die Mitgliedsstaaten sowie deren Länder und Regionen zurückzuverlagern, weil hier die öffentlichen Angelegenheiten bürgernah entschieden und von überstimmten Minderheiten am ehesten akzeptiert werden können. Die Bürgernähe und die Minderheitenrechte ließen sich durch den Wettbewerb der EG-Staaten zusätzlich stärken. Der politische und institutionelle Wettbewerb funktioniert analog zu dem Wettbewerb auf Gütermärkten, sofern der freie und grenzüberschreitende Verkehr von Personen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Die aktuelle oder auch nur potentielle Mobilität der Faktoren diszipliniert die Regierungen zu einer attraktiven und effizienten Politik mit akzeptablen Belastungen für die Bürger. Darüber hinaus eröffnen sich für die dennoch unzufriedenen Minderheiten Freiräume, ihre Interessen durch Abstimmung mit den Füßen zu wahren und somit als freie Marktbürger ihre Position als Staatsbürger zu stärken (vgl. Prosi, 1991; Sinn, 1992).

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Natürlich verlangt der Wettbewerb der Mitgliedsstaaten für die betroffenen Regierungen und Bürger ebenfalls einen Verzicht auf Souveränität. Dessen Akzeptanz dürfte jedoch im Vergleich zur institutionellen und politischen Integration leichter fallen, weil der EG weniger Kompetenzen abzutreten wären und weil der Ausgleich von Interessen und die Angleichung von Regeln und Gewohnheiten in größerem Umfang den unmittelbar betroffenen Marktbürgern übertragen würde. Der EG blieben bei einer Intensivierung des politischen und institutionellen Wettbewerbs noch Aufgaben, die einer einheitlichen europäischen Regelung bedürften. One Hauptaufgabe wäre die des Wächters über die Regeln des gemeinsamen Marktes. Weitere Aufgaben, etwa im Bereich der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, sind denkbar. Europas Stärke und Einmaligkeit war und ist die Vielfalt. Die EG repräsentiert nur einen Teil der zu Europa gehörenden Länder und Völker. Die Erweiterung hin zur umfassenden Europäischen Gemeinschaft dürfte nur dann eine realistische Chance haben, wenn diese Vielfalt an nationalen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Besonderheiten akzeptiert wird und erhalten bleibt.

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I. Zollunion und gemeinsame Handelspolitik

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n . Die EG als Machtfaktor im GATT-System

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DI. Das Gewicht der EG im Welthandel

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IV. Mögliche Auswirkungen der faktischen EG-Außenhandelspolitik auf die Welthandelsordnung

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V. Möglichkeiten der EG zur normengestaltenden Einflußnahme auf die Welthandelsordnung VI. EG-Außenhandelspolitik und GATT-System 1. Einflüsse der EG-Außenhandelspolitik auf das GATT-System bis Anfang der siebziger Jahre 2. Die protektionistische Schlagseite der EG-Außenhandelspolitik nach 1973

83 87 87 90

Tabelle: Tabelle 1: Welthandelsanteile der EG, der USA und Japans

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Der Beitrag entstand im Rahmen der interdisziplinären DFG-Forschergruppe "Europäische und internationale Wirtschaftsordnung aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland" an der Universität Tübingen.

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I.

Zollunion und gemeinsame Handelspolitik Von allen möglichen Formen der ökonomischen Integration haben sich die Väter des Römischen Vertrages für die Zollunion als Grundlage eines gemeinsamen Marktes und einer Wirtschaftsgemeinschaft entschieden. Art. 9 EWG-Vertrag schreibt vor: "Grundlage der Gemeinschaft ist eine Zollunion, die sich auf den gesamten Warenaustausch erstreckt; sie umfaßt das Verbot, zwischen den Mitgliedstaaten Ein- und Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher Wirkung zu erheben, sowie die Einführung eines Gemeinsamen Zolltarifs gegenüber dritten Ländern." Die Schaffung einer regionalen exklusiven Handelszone in Europa und nicht die Verwirklichung einer universellen marktwirtschaftlichen Integration oder der einseitige Abbau von Handelshemmnissen war erklärtes Ziel der Gründerstaaten, obwohl die Theorie der internationalen Wirtschaftsintegration die Zollunion1 hinsichtlich der allokativen Effizienz für die 'Second best'-Lösung im Vergleich zur nichtdiskriminierenden Liberalisierung des Außenhandels hält2. Der in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen allgegenwärtige merkantilistische Gedanke der Reziprozität, der politische Wille der Gründerstaaten, eine Zone der engeren Zusammenarbeit und eine 'Interessengemeinschaft' zu etablieren, sowie historische, geographische und kulturelle Bindungen waren für die Wahl der Integrationsform 'Zollunion' ausschlaggebend. Die Zollunion sollte nicht nur die allokative Effizienz durch die Liberalisierung des Handels in den Mitgliedstaaten fördern. Sie sollte ebenfalls den Rahmen für die angestrebte ökonomische und politische Union, die letzte Etappe des Integrationsprozesses, bilden. Nach dem Schema der Zollunion verpflichten sich ihre Mitglieder, untereinander alle tarifären und nicht-tarifären Handelsbeschränkungen abzuschaffen und gegenüber Drittländern eine gemeinsame Außenhandelspolitik (z.B. Zölle, Quoten, AntidumpingMaßnahmen) zu betreiben. Unabhängig davon, ob die Elemente der negativen oder der positiven Integration in einer Zollunion überwiegen (eine Frage, die mit den ordnungspolitischen Konzeptionen der sich zusammenschließenden Staaten zusammenhängt), konstituiert eine gemeinsame Außenhandelspolitik eine Form - sui generis - der positiven Integration (vgl. Pelkmans, 1986a, S. 321; Pelkmans, 1987, S. 430 ff.). Die gemeinsame Außenhandelspolitik stellt eine "Politik nach zwei Seiten" dar (Deubner, 1985, S. 36). Sie steht in direktem funktionalem Zusammenhang einerseits mit integrationspolitischen und politischen Prozessen innerhalb der Zollunion, anderer1 2

Im folgenden wird der in der Handelstheorie übliche Begriff 'Zollunion' für die EG verwendet, obwohl die EG-Integrationfibereine reine Zollunion hinausgeht. Vgl. Cooper und Masseil, 1965; El-Agraa, 1982, S. 26; Pelkmans, 1984, S. 6 ff.; Pomfret, 1986, S. 439 ff.

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seits auch mit entsprechenden Prozessen im Bereich der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Die binnengerichtete Seite der gemeinsamen Handelspolitik umfaßt all jene Funktionen, die mit dem Prozeß der negativen und positiven Integration innerhalb der Zollunion zusammenhängen: - Eine gemeinsame Handelspolitik gegenüber den Drittlandseinfuhren ist eine unabdingbare Voraussetzung fur die Bewahrung der 'Gemeinschaftspräferenz' im intraregionalen Handel und fur den Abbau der Zollgrenzkontrollen im Binnengüterverkehr: integrationspolitische Funktion (vgl. Ernst und Beseler, 1983, S. 1883; EGKommission, 1980, S. 7). - Integrationsprozesse über die Vergemeinschaftung von Wirtschaftspolitiken (z.B. Agrarpolitik, Entwicklungspolitik, Industriepolitik) setzen oft den flankierenden Einsatz der gemeinsamen Handelspolitik voraus: Wirtschaft«;politische oder instrumentale Funktion (EG-Kommission, 1980, S. 18 f.; Pelkmans, 1983, S. 97 ff.). - Die Übertragung von nationalen handelspolitischen Kompetenzen auf die Gemeinschaft und die Etablierung von verbindlichen Regeln für das Verhalten der Mitgliedstaaten im Bereich der Außenwirtschaft haben wichtige Implikationen für die politische Ökonomie der Zollunion: innenpolitische Funktion. Die binnengerichtete Seite der gemeinsamen Handelspolitik ist nicht Gegenstand dieses Beitrags (vgl. dazu Kotios, 1993, S. 74 ff.). Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die außengerichteten Aspekte der gemeinsamen Handelspolitik, also jene Funktionen der gemeinsamen Außenhandelspolitik, die die Außenbeziehungen der Integrationszone betreffen. Die Gründung einer Zollunion hat per se eine diskriminierende Wirkung. Die positive und negative Diskriminierung liegt im Wesen jeder regionalen Integration und ist ihre 'raison d'être': diskriminierende Funktion der gemeinsamen Handelspolitik (Molsberger, 1983, S. 185; Pomfret, 1985, S. 49 ff.). Die Wechselbeziehung zwischen der Diskriminierung nach außen und der Präferenzierung nach innen wird im wesentlichen von der ordnungspolitischen Ausgestaltung der gemeinsamen Außenhandelspolitik geprägt. Von ihrer freihändlerischen oder protektionistischen Ausrichtung hängt die Intensität der mit der Gründung der Zollunion verbundenen handelsumlenkenden Effekte ab. Je niedriger z.B. der Außenschutz der Zollunion ist, desto geringer fallen diese Effekte aus und desto mehr nähert sich die regionale Integration dem Freihandelsideal. Art. XXIV GATT, der die Schaffung von Zollunionen und Freihandelszonen völkerrechtlich legitimiert und verbindliche Regeln für das Verhalten der sich zusammenschließenden Vertragsparteien vorschreibt, versucht die Dimension der Handelsumlen-

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kung zu begrenzen. Art. XXIV:5a GATT knüpft die Ausnahmeerlaubnis für die Gründung einer Zollunion an die Bedingung, "daß die bei der Bildung der Union oder beim Abschluß der vorläufigen Vereinbarung eingeführten Zölle und Handelsvorschriften für den Handel mit den an der Union oder Vereinbarung nicht teilnehmenden Vertragsparteien in ihrer Gesamtheit nicht höher oder einschränkender sind als die allgemeine Belastung durch Zölle und Handelsvorschriften, die in den teilnehmenden Gebieten vor der Bildung der Union oder dem Abschluß der vorläufigen Vereinbarung bestand". Durch Art. XXIV:5a des GATT wird nicht beabsichtigt, die durch die Zollunion entstehende Diskriminierung dritter Länder ganz zu beseitigen. Es wird lediglich versucht, eine Erhöhung des Protektionsniveaus des neuen Zollgebiets zu vermeiden3. Die Gründung einer Zollunion beeinflußt nicht nur die internationalen Gütertransaktionen. Sie wirkt auch auf die internationalen Machtverhältnisse ein und kann eine Verhaltensänderung der Mitgliedstaaten bezüglich der Ordnung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen bewirken. Durch die Blockbildung in der Weltwirtschaft erhöht sich die ökonomische und politische Macht der Mitglieder der Zollunion und damit die Möglichkeit, sich durch die autonome Verfolgung eigener außenwirtschaftlicher Ziele regelwidrig zu verhalten oder die Weltwirtschaftsordnung nach eigenen Vorstellungen normativ mitzugestalten: machtpolitische Funktion der gemeinsamen Handelspolitik (vgl. Waelbroeck, 1984, S. 105). Die Frage, ob und wie die Gründung einer Zollunion das Verhalten der sich zusammenschließenden Staaten in ihren Außenbeziehungen beeinflußt, war in den fünfziger Jahren, als die Integrationstheorie entwickelt wurde, umstritten. Einige Autoren wie Viner, Meade oder Tinbergen gingen in ihren Analysen der potentiellen Wohlstandseffekte der Zollunion von einem unveränderten Verhalten der Mitgliedsländer in der gemeinsamen Außenhandelspolitik der Zollunion aus und erwarteten daher eine Wohlstandssteigerung für die Welt. Andere Autoren wie Röpke, Duncan oder Hawtrey waren weniger optimistisch und erwarteten aus der Gründung einer Zollunion wohlstandsmindernde Effekte für die Welt, bedingt durch eine protektionistische Machtpolitik des neuen Handelsgebietes (vgl. Balassa, 1961, S. 35 ff.). Die ordnungspolitische Orientierung der Zollunion nach außen ist allerdings a priori offen. In der Frage der Gründung einer Zollunion vertritt Art. XXIV GATT eine eher naive Position, indem davon ausgegangen wird, daß die Außenprotektion der Union nur aus Zöllen bestehe (vgl. Pelkmans, 1986a, S. 326). Zur potentiellen Addition der nationalen nicht-tarifären Protektionsmaßnahmen auf der Ebene der Zollunion und ihrer Inzidenz bezieht Art. XXIV GATT keine klare Stellung. In der gegenwärtigen Welt der 'mixed économies' wäre eine pure Zollunion von begrenzter praktischer Bedeutung. Die wachsende Zahl der nichttarifären Handelshemmnisse erfordert eine umfassendere Behandlung der Gesamtprotektion der Zollunion (Pelkmans, 1986a, S. 326). Ähnliche Einwände gelten auch für die traditionelle Theorie der Wirtschaftsintegration, die sehr stark zollorientiert ist.

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So könnte sich z.B. innerhalb der Zollunion ein Besitzstandsdenken verfestigen, in dessen Folge die Wahrung der 'Gemeinscbaftspr&ferenz' in den Wirtschaftsbeziehungen der Mitgliedstaaten vor der Öffnung nach außen Priorität genießt (vgl. Molsberger, 1983, S. 187). Ist dies der Fall, dann könnten die Protektionsinteressen der Mitgliedstaaten "... für isolationistische Rücksichtslosigkeit nach außen sorgen" (Willgerodt, 1987, S. 24). Auch könnten die Mitglieder der Zollunion durch die gemeinsame handelspolitische Diplomatie eine Machtpolitik betreiben. Diese Möglichkeit hängt allerdings von der Größe und der wirtschaftlichen Potenz des neuen Handelsgebietes sowie von der neu entstehenden Struktur der außenwirtschaftlichen Interdependenzen ab. Die Begründung für die Ausnutzung des machtpolitischen Faktors liefert das 'Terms of trade'-Argument (vgl. Balassa, 1961, S. 62 ff.; Porrtfret, 1988, S. 118 ff.). Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, daß die Entstehung einer neuen internationalen Handelsmacht die Bemühungen um eine Liberalisierung des internationalen Handels und die Funktionsfähigkeit der Welthandelsordnung positiv beeinflussen könnte. Dies würde beispielsweise der Fall sein, wenn die Zollunion ihre Handelsmacht im Rahmen multilateraler oder bilateraler Verhandlungen erfolgreich dazu einsetzt, auf der Basis der Meistbegünstigung und der Reziprozität den eigenen Markt und die Märkte anderer Handelsgebiete zu öffnen. In diesem Fall wäre die Zollunion als Produzent des öffentlichen Guts 'Freihandel' zu betrachten. Das Auftreten einer neuen wirtschaftlich und politisch potenten Zollunion in einem durch eine hegemoniale Macht beherrschten Welthandelsregime kann auch die Machtstruktur dieses Regimes ändern, und zwar in Richtung einer bipolaren Kooperation (vgl. Keohane und Nye, 198S). Die Existenz von interdependenten, gleichgewichtigen Wirtschafts- und Machtbeziehungen in der Weltwirtschaft kann ein Abschreckungspotential darstellen, das sich systemstabilisierend auswirken könnte. n.

Die EG a b Machtfaktor Im GATT-System Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft durch den Zusammenschluß der zunächst sechs nationalen Handelsgebiete hat in den internationalen Handelsbeziehungen, die sich bis zu Beginn der sechziger Jahre unter einem spürbaren Einfluß der USA befanden, eine neue Größe geschaffen, welche die Struktur des internationalen Handelsregimes veränderte: Erstens, weil dadurch ein eigenständiger, mächtiger Handelsblock als die vielleicht wichtigste Ausnahme vom GATT-Grundsatz der Nicht-Diskriminierung entstanden ist, dessen quantitative und qualitative (politisch-diplomatische) Bedeutung zur Gestaltung der internationalen Rahmenbedingungen zunahm; zweitens, weil sich durch die Gründung der europäischen Zollunion der Ansatz der regionalen Liberalisierung zu Lasten des GATT-Ansatzes der multilateralen, auf der Meistbegün-

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stigung basierenden Liberalisierung des internationalen Handels durchsetzte. Weitere Regimeveränderungen lösten die Reaktionen der EG-Handelspartner aus. Auf die mit der Schaffung des EG-Handelsblocks einhergehende Diskriminierung nach außen reagierten die EG-Handelspartner unterschiedlich. So gründeten die restlichen westeuropäischen Industriestaaten (ohne Spanien) unter der Führung Großbritanniens eine Freihandelszone als Antipode zur EG, was wiederum zu einer Verstärkung der regionalistischen diskriminierenden Elemente in der GATT-Ordnung führte. Andere kleinere Staaten im Mittelmeerraum und im frankophonen Afrika, die durch die Gründung der EG eine Schädigung ihrer Exportinteressen befürchteten, drängten auf eine Intensivierung ihrer Handelsbeziehungen mit der Gemeinschaft zunächst auf Reziprozitätsund später auf präferenzieller Basis. Die USA, welche die Gründung der EG als GATT-konform und als Instrument zur Stärkung der westlichen Allianz akzeptierten, sahen frühzeitig die Gefahr einer Zunahme der Diskriminierung in Europa und versuchten daher, sie im Rahmen des GATT durch eine globale multilaterale Liberalisierungsstrategie zu mildern. Auch die übrigen westlichen Industrieländer (einschließlich der EFTA bis zu Beginn der siebziger Jahre) regelten ihre Beziehungen zur EG im Rahmen des GATT. Die COMECON-Staaten, die in der EG einen verlängerten Arm der NATO und ein Instrument des Monopolkapitalismus sahen, bevorzugten (bis etwa Mitte der achtziger Jahre) die Fortsetzung bilateraler Beziehungen zu einzelnen EGMitgliedsländern und behinderten dadurch die Formulierung einer einheitlichen EGAußenhandelspolitik gegenüber Osteuropa (vgl. Oppermarm, 1991, S. 670 f., Rdnr. 1780 ff.; Lippen, 1990, S. 111 ff.). Neben diesen Veränderungen in den internationalen Handelsbeziehungen, welche die Gründung der EG passiv auslöste, und neben dem Abschied vom Grundsatz der Meistbegünstigung zugunsten der regionalen Liberalisierung bewirkte die Schaffung der Gemeinschaft eine Änderung des internationalen Machtgefüges im Bereich der Handelspolitik. Bis zu Beginn der sechziger Jahre galten die USA im internationalen Handelssystem der nichtkommunistischen Staaten als die führende Macht, welche zur Durchsetzung ihrer Präferenzen die notwendigen positiven Anreize in Form der einseitigen Liberalisierung, der Finanzhilfe und der Tolerierung der Diskriminierung anbot. Durch die EG-Gründung wurde diese amerikanische Vormachtstellung gebrochen. Die neue Konstellation wurde als 'Bigemony' oder als bipolare Kooperation bezeichnet (vgl. dazu Pelkmans, 1986b, S. 86; Agarwal et al., 1985, S. 31). Die ideologische Verwandtschaft zwischen den USA und den EG-Ländern, die marktwirtschaftliche Grundstruktur ihrer Wirtschaftssysteme, die symmetrische Interdependenzstruktur in ihren Handelsbeziehungen, der vorwiegend intraindustrielle bilaterale Handel und die Gemeinsamkeit politisch-strategischer Interessen haben eine ef-

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fektive Basis für diese bipolare Kooperation geschaffen, welche - trotz periodischer Handelskonflikte und einiger 'Handelskriege' im Bereich des Agrarhandels - zentral für die Entwicklung der internationalen Handelszusammenarbeit ist. Zu betonen ist auch, daß ein großer Teil der transatlantischen handelspolitischen Kooperation oder/und Konfliktbereinigung im Rahmen des GATT stattfindet (vgl. Pelkmans, 1986b). m . Das Gewicht der EG im Welthandel Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und die Einführung der gemeinsamen Außenhandelspolitik steigerte das Gewicht der sechs ursprünglichen Mitgliedstaaten im Welthandel und ihre außenhandelspolitische Macht. Die quantitative Bedeutung des neuen Handelsgebiets für den Welthandel nahm infolge der Expansion der Wirtschaft der Mitgliedstaaten und der EG-Erweiterungen ständig zu. Heute ist die EG mit etwa einem Fünftel der Weltexporte wichtigste Exportregion (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Welthandelsanteile der EG, der USA und Japans Anteile an Weltimporten (ohne Intra-EG-Handel) Handelsgebiet Jahr

1980 1986 1990

Anteile an Weltexporten (ohne Intra-EG-Handel)

EG

USA

JAPAN

EG

USA

JAPAN

24 20 22

22 23 19

12 7 9

26 20 20

20 12 15

11 13 11

Quelle: Eigene Berechnungen nach GATT, 1987, Tabellen AI, A4, A6 und A7, S. 155 ff., sowie GATT, 1992, Tabellen Al, A10, A12 und AI7, S. 77 ff.

Zu Ende der Tokio-Runde war die Gemeinschaft der wichtigste Weltimporteur (24 vH der Weltimporte im Jahre 1980). Im Jahre 1986 war der Anteil der EG an den Weltimporten mit 20 vH niedriger als der Weltimportanteil der USA, deren Importnachfrage infolge einer expansiven Fiskalpolitik und eines überbewerteten Dollar sehr stark gestiegen war. Im Jahre 1990 hatte die EG mit 22 vH wiederum den größten Weltimportanteil vor den USA. Die Bedeutung Japans als Welthandelspartner ist weit geringer; vor allem seine Weltimportanteile, die wichtig für die Ausübung von Handelsmacht sind, liegen beträchtlich unter den Importanteilen der USA und der EG. Die handelspolitische Macht der EG beruht primär auf den überwiegend asymmetrischen Interdependenzstrukturen ihrer Außenhandelsbeziehungen. Dabei stellt die EG den wichtigsten Exportmarkt für viele Länder dar. So war die Gemeinschaft der wichtigste Markt für die USA, die EFTA-Länder, Australien, Neuseeland, Südafrika, für die Länder des Mittleren Ostens, Afrikas sowie für die Staatshandelsländer (vgl., auch zum folgenden, GATT, 1987, Tabelle A4 ff., S. 1S9 ff.). Besonders abhängig vom EG-Markt sind die EFTA-Länder und die afrikanischen Länder, die mehr als die Hälfte

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ihrer Exporte in die EG senden. Von großer Bedeutung ist dabei die Tatsache, daß diese Länder und Regionen viel abhängiger vom EG-Markt sind als umgekehrt. Dies begründet auch die asymmetrischen Machtverhältnisse (vgl. Hirschman, 1969, S. 17 ff.; Krasner, 1976, S. 317 ff.). Der EG-Außenhandel (genauso wie der US-Außenhandel) ist dagegen regional symmetrischer verteilt als der der meisten ihrer Außenhandelspartner. Dies bedeutet, daß im Falle eines bilateralen handelspolitischen Krieges die Verluste ihrer Handelspartner höher ausfallen würden als die der EG. Ein eher ausgeglichenes Verhältnis herrscht im EG-Handel mit den USA. Jedes Handelsgebiet ist für das andere der wichtigste Handelspartner, und die bilateralen Exportanteile betragen über 20 vH. Diese symmetrische Interdependenzstruktur ist für das Verhältnis der Beziehungen zwischen USA und EG von entscheidender Bedeutung. Sie zwingt zu mehr bilateraler Kooperation, zu möglichst schneller Beilegung von Konflikten und zu mehr gegenseitiger Rücksichtnahme bei der Formulierung der Außenhandelspolitik. Die Handelsbeziehungen der EG und der USA zu dritten Ländern begründen ihre führende Rolle in der internationalen Handelsordnung. Der Weltimportanteil dieser beiden Handelsgebiete zusammen betrug im Jahre 1986 ca. 43 vH. Ihre Bedeutung für die Exporte einzelner Länder war jedoch oft höher als dieser Durchschnitt, so z.B. für Kanada 84 vH, Japan 54 vH, EFTA 62 vH, Lateinamerika 59 vH, Südostasien 45 vH und Afrika 72 vH (vgl. GATT, 1987, Tabelle A5, A6, A8, A13, S. 161 ff.). Gering war dagegen ihre Bedeutung für den Außenhandel der ehemaligen COMECONStaaten. Im Gefolge der Westorientierung der reformierten osteuropäischen Länder ist nun mit einer Zunahme ihrer Abhängigkeit von der EG-Wirtschaft zu rechnen. Die dominierende Bedeutung der EG und der USA im Welthandel zeigt auch ihre sektorale Handelsstruktur. Besonders hoch sind ihre Exportanteile bei wissensintensiven Exportgütern und niedrig bei Primärgütern und arbeitsintensiven Exportgütern (vgl. GATT, 1987, Tabelle A4 und A7, S. 159 ff.). Als besonders groß ist ihre 'Nachfragemacht' anzusehen. Bei den meisten Produktkategorien weisen die zwei Handelsriesen einen Importanteil von mehr als 40 vH der gesamten Weltimporte auf. Japan und andere erfolgreiche Exportländer sind stark abhängig von den zwei Handelsriesen und verfügen deshalb nur über geringe Machtpotentiale, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Besonders charakteristisch ist die regionale Außenhandelsstruktur Japans. Japan ist asymmetrisch abhängig von den meisten Ländern der Welt, wie die enormen Leistungsbilanzüberschüsse zeigen. Die USA nahmen im Jahre 1986 etwa 39 vH der japanischen Exporte auf, während der EG-Anteil etwa 15 vH betrug (vgl. GATT, 1987, Tabelle A6, S. 163 f.). Die Tatsache, daß es sich hier um Industriegüterexporte handelt, deren Substitutionselastizität in den Importländern als hoch eingeschätzt werden darf, zeigt die große Verletzbarkeit Japans gegenüber den USA und der EG. Dies ist

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auch der Grund, warum nicht von einem echten Trilateralismus in der internationalen Handelspolitik die Rede sein kann. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß die EG-Länder aufgrund ihrer Machtposition eine extreme eurozentristische Handelspolitik ohne erhebliche Kosten betreiben könnten. Fast 43 vH der EG-Exporte im Jahre 1986 flössen in Drittländer (vgl. GATT, 1987, Tabelle A7, S. 165 f.). Für einige Mitgliedstaaten wie Dänemark, Großbritannien, Deutschland und Italien besitzt der Handel mit Drittstaaten trotz des ständigen Wachstums des intragemeinschaftlichen Handels einen sehr hohen Stellenwert. IV. Mögliche Auswirkungen der faktischen EG-Außenhandelspolitik auf die Welthandelsordnung Die gewichtige Position der EG, die sich aus ihren hohen Welthandelsanteilen, ihrem großen Binnenmarkt und ihren reichlichen politischen und wirtschaftsdiplomatischen Ressourcen ergibt, bedingt auch ihre Möglichkeiten, Struktur und Entwicklung der internationalen Handelsordnung zu beeinflussen. Dabei kann zwischen-dem faktischen und dem normengestaltenden (s. Kap. V.) Einfluß der EG auf die internationale Handelsordnung unterschieden werden. Bei dem faktischen Einfluß handelt es sich um die Auswirkungen der von der EG autonom praktizierten Außenhandelspolitik auf die internationale handelspolitische Ordnungswirklichkeit. Die faktische Struktur der internationalen Handelsordnung wird nicht nur durch das vorhandene institutionalisierte Regelwerk bestimmt, sondern auch durch die faktisch betriebene - unter Umständen regelwidrige - Außenhandelspolitik. Eine gewisse Diskrepanz zwischen Soll- und Ist-Zustand kann dadurch entstehen, daß die internationalen Akteure die Prinzipien, Normen und Regeln der internationalen Handelsordnung nicht konsequent anwenden oder daß sie handelspolitische Maßnahmen ergreifen, welche im Konflikt zum herrschenden Ordnungsrahmen stehen. Durch die faktische Suspendierung, Verdrängung oder Substitution der vereinbarten Verhaltensnormen wird die Struktur der internationalen Handelsordnung transformiert. Die Tatsache, daß die faktische EG-Außenhandelspolitik eine wichtige Determinante der internationalen Ordnungswirklichkeit darstellt, ergibt sich aus ihrer großen quantitativen Bedeutung und der damit verbundenen Machtposition, die den EG-Organen einen breiten Spielraum bei der Verfolgung eigener handelspolitischer Ziele gewährleistet. Geht man davon aus, daß die faktische Welthandelsordnung die Summe aller realen nationalen Handelsordnungen ist, und berücksichtigt den hohen EG-Welthandelsanteil, so läßt sich der starke Einfluß der EG auf die internationale Ordnungsrealität ableiten. Neben diesen direkten Auswirkungen kann die praktizierte EG-Außenhandelspolitik auch über indirekte Kanäle das Funktionieren der Welthandelsordnung beein-

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Aussen. So ist z.B. denkbar, daß in einer durch den Reziprozitätsgedanken geprägten Welt die Politik der EG durch andere Handelspartner imitiert wird. Darüber hinaus verursachen handelspolitische Maßnahmen der EG Änderungen in den internationalen Handelstransaktionen (z.B. Handelsverlagerungen und daher Anpassungsprobleme), welche wiederum die Handelspolitiker in den betroffenen Drittländern herausfordern, ähnliche Maßnahmen zu ergreifen. Aus diesen Gründen kann angenommen werden, daß die ordnungspolitische Ausrichtung der von der EG praktizierten Außenhandelspolitik die reale Welthandelsordnung stark prägt. Verfolgt die Gemeinschaft eine protektionistische oder liberale Außenhandelspolitik, so kann mit größter Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, daß das ganze Welthandelssystem protektionistischer oder liberaler wird (vgl. Wo(f, 1983, S. 151 f.; Bäuudttü., 1984, S. 57). Die Gemeinschaft ist nicht nur in der Lage, durch autonome handelspolitische Entscheidungen die Welthandelsordnung zu beeinflussen, sie kann aufgrund ihrer starken Machtposition gegenüber ihren Handelspartnern (außer USA) auch auf die verfolgte Außenhandelspolitik im Ausland einwirken, indem sie im Rahmen von bilateralen Verträgen oder bilateralen Konfliktbeilegungsverfahren ihre Vorstellungen durchsetzt. Die überragende Machtstellung der EG ist für das Funktionieren der Welthandelsordnung mit Chancen und Risiken verbunden. Sie kann z.B. die EG-Staaten zu einer introvertierten, eurozentrisch-egoistischen Außenhandelspolitik verleiten. Die Gemeinschaft kann auch asymmetrische Interdependenzstrukturen in ihren Außenhandelsbeziehungen auf verschiedene Weise ausnutzen (vgl. Kotios, 1993, S. 282 f.; Verreydt und Waeibroeck, 1982, S. 392). Sie kann z.B. bilaterale Vereinbarungen durchsetzen, die einen deutlich diskriminierenden, protektionistischen Charakter aufweisen. Darüber hinaus können einzelne EG-Länder ihre EG-Mitgliedschaft dazu ausnutzen, ihre nationalegoistische Handelsvorstellung anderen Drittstaaten im Alleingang zu oktroyieren. Einzelstaatliche Selbstbeschränkungsabkommen und nationale Importkontingente belegen deutlich diese These. Andererseits verfugt die Gemeinschaft über die Mittel ('carrots' and 'sticks'), um eine freihändlerische Orientierung der Außenhandelspolitik ihrer Handelspartner zu bewirken (vgl. Kotios, 1993, S. 290 f.). Dies kann z.B. sowohl multilateral als auch regional bzw. bilateral auf der Basis der Reziprozität erreicht werden. Das setzt allerdings die Bereitschaft der EG zur Öffnung des eigenen Marktes voraus.

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V.

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Möglichkeiten der EG zur normengestattenden Einflußnahme auf die Welthandelsordnung Die Gemeinschaft agiert nicht nur als autonomer Gestalter ihrer eigenen Handelspolitik und beeinflußt damit faktisch Natur, Stringenz und Reichweite der internationalen Handelsordnung. Sie bringt ihre Vorstellungen auch als Vorschläge in internationalen Verhandlungen (GATT, UNCTAD, OECD usw.) ein und nimmt somit nicht nur durch ihre handelspolitische Praxis, sondern auch über die Gestaltung der Normen auf die Weltwirtschaftsordnung Einfluß. Die Fähigkeit der EG, Struktur und Entwicklung des normativen Rahmenwerks der Welthandelsbeziehungen mitzuformen, ist wiederum darauf zurückzuführen, daß die Gemeinschaft aufgrund ihrer beschriebenen überragenden Stellung in der Weltwirtschaft einer der wichtigsten wirtschaftsdiplomatischen Akteure auf der internationalen handelspolitischen Ebene ist (vgl. Keohane, 1984, S. 49 ff.; Haas, 1980, S. 363). Auf internationalen Konferenzen verfügt sie somit über gewisse Möglichkeiten, eigene ordnungspolitische Vorstellungen in konkrete völkerrechtliche Normen und Regeln umzusetzen. Darüber hinaus kann sie Vorschläge von Drittstaaten zur Etablierung neuer Ordnungsformen effektiv blockieren und dadurch den Status der internationalen Handelsordnung konservieren. Zur Durchsetzung eigener Vorstellungen kann die Gemeinschaft ihren Partnern bestimmte Anreize offerieren. Die Existenz asymmetrischer Interdependenzstrukturen im Handel der Gemeinschaft mit ihren Handelspartnern (ohne USA) erhöht die Wirksamkeit ihrer positiven oder negativen Anreize (vgl. Hirschman, 1969, S. 27 f.). Positive Anreize können die Form der reziproken oder einseitigen Marktöffnung, des direkten Transfers von Ressourcen, der Erleichterung von Investitionen usw. annehmen. Das Umgekehrte gilt für den Fall einer Vergeltungspolitik. Trotz der weitgehenden Liberalisierung im EG-Außenhandel in den letzten Jahrzehnten hat die weitere 'Marktöffnung' als verhandlungstaktisches Instrument nicht an Bedeutung verloren. Das Vorhandensein der immer noch erheblichen nominalen und effektiven Zolleskalation, der Ausbau des sektoralen nicht-tarifären Protektionismus der letzten Jahre sowie die noch vorhandenen Zutrittsbarrieren bei manchen Dienstleistungsmärkten bieten den Verhandlungspartnern der EG ausreichende Motive, mit ihr eine handelsliberalisierende Vereinbarung einzugehen. Dies gilt auch für sehr viele Länder der Dritten Welt, deren Exporte in den EG-Markt auf verschiedene Hemmnisse treffen. Die Gemeinschaft hat also viele Möglichkeiten, in internationalen Verhandlungen die notwendigen 'Trade-off zwischen diversen Interessenfeldern zu realisieren. Hier muß jedoch beachtet werden, daß in einer Welt souveräner Nationen, charakterisiert durch unterschiedliche nationale politische und ökonomische Strukturen, eine voll-

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ständige Durchsetzung nationaler ordnungspolitischer Vorstellungen unmöglich ist. Einflußreiche Akteure können aber auf den zu erreichenden Kompromiß einen größeren Einfluß nehmen als kleine und schwache Handelsnationen (vgl. Jackson, 1980, S. 48). Einen weiteren normativen Einfluß kann die EG dadurch gewinnen, daß sie über qualifiziertes Verhandlungspersonal verfügt. Insbesondere bei 'technischen' Verhandlungsthemen ist die Verfügbarkeit und Auswertung von vielen und komplexen Informationen ein deutlicher Vorteil. Die EG mit ihrer umfangreichen und gut ausgebildeten Bürokratie, unterstützt durch die nationalen Bürokratien, dürfte in dieser Hinsicht gegenüber vielen Verhandlungspartnern einen deutlichen Vorsprung besitzen. Der normengestaltende Einfluß der EG auf die internationale Handelsordnung umfaßt nicht nur die Einführung neuer Normen und Regeln. Die EG verfügt bei internationalen Verhandlungen auch über ein faktisches Vetorecht, dessen Handhabung sehr wichtig für die Fortentwicklung der internationalen handelspolitischen Rahmenbedingungen ist (vgl. Jackson, 1979, S. 454; Patterson, 1986, S. 185). So kann die EG ordnungspolitische Forderungen anderer Verhandlungspartner ablehnen (oder modifizieren), wenn sie von ihren Vorstellungen abweichen. Die Bereitschaft zum Kompromiß dürfte bei einem Handelsriesen wie der EG als gering einzuschätzen sein. Durch ihr faktisches Vetorecht kann also die EG die Entwicklung der internationalen Handelsordnung zusätzlich defensiv beeinflussen. A priori kann allerdings nicht gesagt werden, ob eine solche defensive Funktion der EG zur Erhaltung der Prinzipien des vorhandenen Ordnungsrahmens beiträgt oder ob dadurch notwendige Reformen zur Stärkung und zum Ausbau der Welthandelsordnung behindert werden. Die Möglichkeiten der EG, die Welthandelsordnung normativ zu prägen, müssen allerdings aus verschiedenen Gründen relativiert werden. Die EG hat nicht die Qualitäten eines offensiven, konstruktiven 'Leader' in den internationalen Handelsbeziehungen und kann daher nicht als ein Systemführer betrachtet werden (vgl. Wolf, 1983, S. 163). Für die fehlenden 'Leader'-Qualitäten der EG sind weniger die vorherrschenden Handelsverflechtungen und die im wesentlichen bipolare Machtstruktur der internationalen Handelsordnung ursächlich: Vielmehr haben einige Konstanten der EG-Außenhandelspolitik, die sowohl durch den supranationalen Charakter dieser Politik4 als auch durch die vielen dirigistischen Elemente des Binnenmarktes (Willgerodt, 1987, S. 27) bedingt sind, die Entwicklung der EG zu einem konstruktiven Systemführer im internationalen Handelssystem behindert. Die Heterogenität der EG-Länder, d.h. ihre unterschiedlichen Außenwirtschaftsstrukturen und Produktivitätsentwicklungen, sowie ihre divergierenden ordnungspolitischen Philosophien erschweren oft die Formulierung und 4

Vgl. Winham, 1986, S. 318 ff.; Patterson, 1983, S. 224; Wolf, 1983, S. 163; Pelkmcms, 1986b, S. 97 ff.

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Verfolgung konkreter ordnungspolitischer Konzeptionen auf internationaler Ebene. Der ordnungspolitische Dissens im Entscheidungsbildungsprozeß der EG tangiert sowohl die sektorale und regionale Ausrichtung der gemeinsamen Außenhandelspolitik als auch weitere wirtschaftspolitische Bereiche mit deutlicher außenwirtschaftlicher Orientierung, wie z.B. Industrie-, Forschungs- und Wettbewerbspolitik (vgl. Kotios und Molsberger, 1992, S. 286 ff.). Koordinationsprobleme im Bereich der EG-Außenhandelspolitik existieren seit der Gründung der Gemeinschaft (vgl. Molsberger, 1990, S. 140 ff.). Die Folge davon ist, daß die EG nicht eine ordnungspolitisch in sich geschlossene Konzeption zur Gestaltung der internationalen Beziehungen formulieren kann (vgl. Wolf, 1983, S.1S7; Hine, 1985, S. 54 f.). Der Zwang zum inneren Kompromiß führt oft zu Positionen, die ökonomisch suboptimal sind. Der Ausgleich unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen hat zur Folge, daß häufig ein mittlerer Weg eingeschlagen wird, d.h. sich im Rahmen von gegenseitigen Konzessionen teils liberale, teils protektionistische Forderungen durchsetzen. Die Folgen dieser 'pragmatischen' Lösungen sind ordnungspolitische Ambivalenz, ordnungspolitischer Pluralismus und ein ständiges 'Muddling through' (vgl. Molsberger, 1990, S. 143 ff.). Aus diesem Grund ist zu erwarten, daß die EG eher einen punktuellen und ambivalenten Einfluß auf die Welthandelsordnung ausübt. Die drei Erweiterungen der EG haben ohne Zweifel ihr handelspolitisches Gewicht und damit ihre faktischen Einflußmöglichkeiten auf internationaler Ebene erhöht. Diese Erweiterungen haben jedoch zu einer Zunahme der Heterogenität in der EG gefuhrt und damit zu einer Verschärfung des ordnungspolitischen Dissens in der Außenhandelspolitik (vgl. Molsberger, 1990, S. 144 f.). Dieser Faktor hat gewiß die Formulierung einer konsistenten handelspolitischen Ordnungsphilosophie weiter erschwert. Eine weitere Konstante der gemeinsamen Außenhandelspolitik stellt die Nichtvergemeinschaftung der einzelstaatlichen Handelspolitiken dar. Handelspolitische Alleingänge der Mitgliedstaaten, die immer noch als Lösung zur Überwindung von Koordinationsproblemen zugelassen sind, führen zu einer Spaltung der EG-Außenhandelspolitik (vgl. Molsberger, 1990, S. 141 f.). Dies verhindert die Formulierung einer gemeinsamen homogenen Position der EG-Länder in allen Bereichen und schwächt somit die Durchsetzungsfähigkeit der EG in internationalen handelspolitischen Verhandlungen. Darüber hinaus wird durch diese Alleingänge die Implementierung einer von der EG ausgehandelten Handelsvereinbarung umgangen. Aufgrund des intragemeinschaftlichen Koordinationsproblems wird nicht nur die Formulierung gemeinsamer Positionen erschwert und unter Umständen unmöglich gemacht. Die Tatsache, daß oft der unter den gegebenen Bedingungen erreichte Kompromiß die einzige akzeptable Lösung darstellt, ist ein sehr wichtiger Grund für die Inflexibilität der Haltung der EG bei internationalen

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Verhandlungen. Diese Inflexibilität kann dazu führen, daß eine internationale Handelsvereinbarung erschwert wird oder nur unter sehr großem zeitlichem und materiellem Aufwand abgeschlossen werden kann. Eine Änderung der EG-Position bei internationalen Verhandlungen setzt in der Regel neue Abstimmungsgespräche zwischen den EG-Ländem in Gang, bis ein neuer, von allen getragener Kompromiß erreicht ist. Diese Gespräche können bei internationalen Verhandlungen am Verhandlungsort unter den Vertretern der nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten (Ausschuß nach Art. 113) stattfinden, nachdem den Landesvertretungen der Verhandlungsentwurf der Kommission (VerhandlungsfQhrerin) bekannt wurde. Bei wichtigen Fragen werden jedoch die Hauptstädte der Mitgliedstaaten eingeschaltet, da die Kompetenzen der Mitglieder des Ausschusses nach Art. 113 beschränkt sind. Nicht selten kommt dem Rat oder dem Europäischen Rat die Aufgabe zu, eine neue gemeinsame Verhandlungsposition zu formulieren (vgl. Ernst und Beseler, 1983, Art. 113, Rdnr. 9 und 13). Die Tatsache, daß die Kommission als VerhandlungsfQhrerin auf konsensual formulierte Leitlinien des Rates angewiesen ist, hat andererseits den Vorteil, daß das auf der Basis dieser Leitlinien erreichte Verhandlungsergebnis von den Mitgliedstaaten akzeptiert wird. Dagegen ist die US-Exekutive im allgemeinen auf die Ratifizierung des Verhandlungsergebnisses durch den US-Kongreß angewiesen, die nicht gesichert ist. Ein weiterer Faktor, der einer effektiven EG-Politik auf der Ebene der Welthandelsbeziehungen im Wege steht, ist die faktisch mangelnde Kompetenz der Gemeinschaft in wichtigen Wirtschaftsbereichen (Verkehr, Energie, Finanzdienstleistungen) und ihre Schwäche, vereinbarte Handelsabkommen konsequent zu implementieren. Dies beschränkt die Handlungsspielräume der EG-Außenwirtschaftspolitik und trägt zur Erhaltung der internationalen ordnungspolitischen Defizite bei. Im Rahmen einer umfassenden Liberalisierungs- und Deregulierungsstrategie, die bereits mit dem Programm der Kommission zur Vollendung des Binnenmarktes begonnen hat, könnte die EG als Nebenprodukt die notwendige größere außenwirtschaftspolitische Kompetenz gewinnen. Eine weitere Konstante der EG-Außenhandelspolitik stellt die mosaikartige Struktur der gemeinschaftlichen regionalen Handelsbeziehungen dar (vgl. Hine, 1985, S. 10, 95 ff.). Versucht die EG, die Schichtung der von ihr geschaffenen Pyramide von Privilegien zu erhalten, so werden automatisch die Grenzen ihrer Handlungsspielräume in multilateralen Verhandlungen sichtbar. Ein einflußreicher handelspolitischer Akteur, der seine Handelspartner diskriminierend behandelt, kann gewiß nicht in die Rolle des glaubwürdigen 'Leader' eines liberalen Handelssystems hineinwachsen. Zusammenfassend kann man sagen, daß die EG die gegebenen Möglichkeiten zur normengestaltenden Einflußnahme auf die GATT-Ordnung faktisch nur begrenzt wahr-

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genommen hat. Seit Beginn der sechziger Jahre gehört die EG zwar zu den Akteuren, welche am stärksten die Entwicklung des normativen GATT-Systems beeinflußt haben. Sie hat sich sogar zu einer der zwei Säulen des bipolar strukturierten GATT-Entscheidungsbildungsprozesses entwickelt. Sie war jedoch kein 'Leader', der den Gedanken der multilateralen Nichtdiskriminierung und des weltwirtschaftlichen Liberalismus durch feine offensive Strategie verwirklichen wollte. Vielmehr überlief) sie solche Initiativen den USA, und nur im Laufe der multilateralen Verhandlungen konnte sie - bei einer grundsätzlich defensiven Haltung - sporadische Kompromißvorschläge unterbreiten. Offensichtlich ist dies auf die strukturelle und ordnungspolitische Heterogenität ihrer Mitgliedstaaten und die daraus resultierende Komplexität und Rigidität ihres Entscheidungsprozesses zurückzuführen. VI. EG-Außenhandelspolitik und GATT-System Im folgenden werden einige Schwerpunkte der gemeinsamen handelspolitischen Praxis der EG-Länder, die für die Entwicklung der Welthandelsordnung relevant waren, skizziert. Dabei werden auch handelspolitische Reaktionen von Drittstaaten berücksichtigt, welche die EG-Gründung ausgelöst haben. Die Verhandlungen in der laufenden Uruguay-Runde des GATT bleiben hier ausgespart, da die endgültigen Ergebnisse noch offen sind und die Verbindlichkeit auch der bisher erzielten Zwischenergebnisse noch fragwürdig bleibt. 1.

Einflüsse der EG-Außenhandelspolitik auf das GATT-System bis Anfang der siebziger Jahre Die Gemeinschaft hat von ihrer Gründung an bis Anfang der siebziger Jahre wesentliche positive Beiträge zum Prozeß der internationalen Handelsliberalisierung geleistet (vgl. Molsberger, 1992). Dafür sprechen vor allem folgende Argumente: Erstens hat die Gründung der EG per se einen Impetus zu mehr Liberalisierungsund Kooperationsangeboten im Ausland ausgelöst (vgl. Hine, 1985, S. 4 ff.). Die Furcht vor einer 'tarieren Festung Europa' war besonders verbreitet in den Ländern West- und Südeuropas und in den USA. Abgesehen von einigen Staaten (z.B. Griechenland und Türkei), die in der Assoziierung ein Mittel zur Öffnung des EG-Marktes sahen, versuchten die USA und die Länder Westeuropas, potentiellen Diskriminierungseffekten durch eine multilaterale Handelsliberalisierung entgegenzutreten. Die Schaffung der EG hat ferner den Anstoß zur Entstehung der europäischen Freihandelszone (EFTA) gegeben. Dadurch kam es zu zwei großen Freihandelsräumen in Europa, die trotz immanenter Diskriminierungswirkungen nach außen die regionale Marktintegration begünstigten.

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Die USA haben ihre außenhandelspolitische Strategie anpassen müssen, da die Länder Westeuropas ihrjn wichtigsten Exportmarkt darstellten. Die Einleitung der Dillonund /fennerfy-Runden des GATT durch die USA sollte primär dazu dienen, den befürchteten Diskriminierungseffekt in Europa ex ante zu bekämpfen. Zweitens hat die Gemeinschaft auf die Liberalisierungs- und Kooperationsofferten des Auslandes in sehr vielen Fällen positiv reagiert. Es gibt Anzeichen, daß die nicht eingetretene Abschließung der EG nicht ausschließlich von der externen Liberalisierungsoffensive abhing. Eine grundsätzliche Bereitschaft für die reziproke Liberalisierung des Industriegüterhandels war in allen Gründerstaaten vorhanden, obwohl einige Differenzen über Ausmaß und Methode der Öffnung nach außen in den einzelnen Mitgliedstaaten existierten (vgl. Franzmeyer, 1984; Deubner, 1985). Insgesamt läßt sich sagen, daß die günstige wirtschaftliche Entwicklung in den sechziger Jahren, die Verbesserung der Zahlungsbedingungen und der Zahlungsbilanzen, die Zunahme des Handels mit Drittstaaten, die enge politische Kooperation mit den übrigen westlichen Ländern usw. wichtige Voraussetzungen für einen Abbau der Handelshemmnisse in der EG und in den anderen Handelsgebieten des Westens geschaffen hatten. Diese Faktoren erklären die Bereitschaft der EG, im Rahmen der Dillon- und Kennedy-Runde Liberalisierungsvereinbarungen zu schließen. Die D/7/on-Runde hat jedoch gezeigt, daß die Formulierung einer gemeinsamen Position durch die EG-Staaten ein sehr komplexer und konfliktträchtiger Prozeß ist. Die Binnenmarktorientierung Frankreichs und Italiens ließen damals die Grenzen der Öffnung nach außen erkennen. Beide Länder haben im Jahre 1959 die Akzeleration der intragemeinschaftlichen Liberalisierung vorgeschlagen (vgl. Curzon und Curzon Price, 1976, S. 174). Die anderen Mitgliedsländer akzeptierten dies unter der Bedingung, daß die EG nach außen ihre Zölle unilateral abbauen sollte. Aus den zwei gegensätzlichen Positionen ergab sich als Kompromiß der Vorschlag der EG zu Liberalisierungsverhandlungen auf Reziprozitätsbasis. Die Dillon-Runde hat auch gezeigt, daß die 'item by item*-Verhandlungsmethode für einen Staatenverband wie die EG ungeeignet ist (vgl. Curzon und Curzon Price, 1976, S. 175). In der Kennedy-Runde ist die EG - insbesondere nach dem Luxemburger Kompromiß im Jahre 1966 - geschlossener aufgetreten. Obwohl die EG-Länder nicht in der Lage waren, eine globale Liberalisierungsoffensive einzuleiten, konnten sie ihre Vorstellungen für einen großen Teil des Industriegüterhandels untereinander harmonisieren. Im Rahmen der Verhandlungen hauptsächlich mit den USA, Kanada, Großbritannien, Japan und den nordischen Ländern konnten erhebliche Zollsenkungen auf Reziprozitätsbasis vereinbart werden (vgl. Senti, 1986, S. 80). Die Unterschiedlichkeit der Handelsinteressen der EG-Länder fand ihren Ausdruck in einer umfangreichen Ausnahme-

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liste von Gutem (Negativliste), die von der Liberalisierung ausgenommen werden sollten (vgl. Curzon und Curzon Price, 1976, S. 187). Die Aufstellung einer gemeinsamen Negativliste bedeutete, daß es in der Gemeinschaft zu einer Addition nationaler Protektionismen kam. Drittens hat die Gemeinschaft einen relativ liberalen Ansatz auf regionaler Basis verfolgt. Eine halbreziproke, halbunilaterale Marktöffnung praktizierte sie in ihrem Handel mit den meisten Ländern Afrikas, den überseeischen Gebieten und einigen Ländern des Mittelmeerraums. Auf strengerer Reziprozitätsbasis vereinbarte die EG mit der EFTA die Schaffung einer Freihandelszone für den Industriegüterhandel. Im Jahre 1973 fand die erste Erweiterung der EG mit dem Beitritt Groflbritanniens, Irlands und Dänemarks statt. Dadurch entstand in Westeuropa eine dynamische Wirtschaftszone, deren Hauptcharakteristikum der intensivere Güteraustausch im Industriegüterbereich ist (vgl. Hine, 1985, S. 114 ff.). Viertens hat die EG im Zuge der Vergemeinschaftung der nationalen Außenhandelspolitiken ihre gemeinsame Einfuhrregelung eingeführt, d.h. sie hat den erzielten Liberalisierungsstand der Mitgliedstaaten weitgehend konsolidiert. Für viele Produkte galten jedoch immer noch einzelstaatliche Mengenkontingente. Fünftens kam es während dieser Phase nicht zu einem systematischen Einsatz der Außenhandelspolitik, um industriepolitische Zwecke zu verfolgen. Bei den meisten protektionistischen Maßnahmen (ausgenommen der Agrarhandelspolitik) ging es um ad hoc-Interventionen zum Schutz wettbewerbsschwacher Industrien. Auch andere Maßnahmen, wie Subventionen, stellten während der Betrachtungsperiode kein gravierendes Problem dar. Die hohe Auslastung der Kapazitäten, das Fehlen 'destabilisierender' externer Schocks und das Wachstum der Investitionen ließen die Einführung industriepolitischer Prioritäten auf Gemeinschaftsebene überflüssig erscheinen (vgl. Curzon Price, 1990, S. 168 f.). Die beschriebenen, als liberal zu charakterisierenden Einflüsse der EG stellen nur die eine Seite der Medaille dar, denn während des Betrachtungszeitraumes kann die Rolle der EG in den Welthandelsbeziehungen insgesamt als defensiv charakterisiert werden. Die Gemeinschaft tonnte aufgrund ihrer internen Integrationsbemühungen, der mangelnden Vergemeinschaftung der Außenhandelspolitik und der divergierenden nationalen Interessen nicht in die Rolle eines konstruktiven 'Leader' in der internationalen handelspolitischen Szene hineinwachsen. Sie hat sich wegen der genannten Probleme auf Reaktionen beschränkt, die nicht immer mit dem Prinzip der Liberalisierung in Einklang standen. Sektorspezifische Schutzinteressen führten dazu, daß die EG in der Kennedy-RmAt die längste Ausnahmeliste aller Verhandlungsparteien vorlegte. Viele nationale Protektionismen, die nicht auf EG-Ebene übertragen werden konnten, blieben

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in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Der Grundsatz der freien Einfuhr galt also in der EG nur beschränkt. Ferner ist zu betonen, daß die EG ihre Liberalisierungspolitik auch in regionaler Hinsicht deutlich differenzierte (vgl. Hine, 1985, S. 97 ff.). Die Forcierung des regionalen Ansatzes ist zu einer Konstanten der EG-Außenhandelspolitik geworden. Die Senkung des Gemeinsamen Zolltarifs hielt jedoch die handelsumlenkenden Effekte dieser Entwicklung in Grenzen. Als absolut liberalisierungsfeindlich kann die Einführung der Agrarhandelspolitik der EG in den sechziger Jahren bezeichnet werden. Der Protektionismus im Agrarbereich war ein integraler Bestandteil der Gesamtregelung der Agrarwirtschaft, die über Mindestpreise und Interventionsgarantien eine Umverteilungsstrategie großen Stils realisieren sollte. Darüber hinaus hat die EG zur Bekämpfung von ' Marktzerrüttungen ' im Stahlbereich im Jahre 1963 die Stahleinfuhren aus Staatshandelsländern berschränkt, deren Höhe je nach Marktlage jährlich neu festgelegt wurde (vgl. EG-Kommission, 1970, S. 407 und 416). Zusammenfassend läßt sich der Schluß ziehen, daß der Einfluß der EG auf die ordnungspolitische Gestaltung der internationalen Handelsordnung bis Anfang der siebziger Jahre trotz einer grundsätzlich liberalen Tendenz ambivalent war. Diese Ambivalenz bezieht sich hauptsächlich auf drei Aspekte: erstens auf die Erhaltung alter Protektionismen durch die Mitgliedstaaten, zweitens auf die Einführung neuer Hindernisse auf Gemeinschaftsebene und drittens auf die Regionalisierung des Liberalisierungsprinzips. 2.

Die protektionistische Schlagseite der EG-Außenhandelspolitik nach 1973 Die Erweiterungen der EG seit 1973 führten dazu, daß die Gemeinschaft das größte Handelsgebiet der Welt wurde. Dieser quantitative Aspekt besagt jedoch nicht viel über die Qualität eines 'Leader'. Denn trotz ihrer zunehmenden quantitativen Bedeutung ist es der Gemeinschaft nicht gelungen, eine führende aktive Rolle im Bereich der Welthandelsbeziehungen zu spielen. Die qualitative Bedeutung der EG im GATT-System ist in dem Maße zurückgegangen, wie die quantitative durch die Erweiterungen der EG gestiegen ist. Ursächlich dafür waren vor allem die Heterogenitäten innerhalb der Gemeinschaft, die durch die Erweiterungen deutlich zunahmen und die Formulierung einer kohärenten und konsistenten Außenhandelspolitik erschwerten. Insbesondere die Süderweiterung der EG brachte eine eindeutige Verschiebung der Kräfteverhältnisse im handelspolitischen Entscheidungsbildungsprozeß zugunsten der Protektionisten. Die Verschlechterung der Wirtschaftslage nach dem ersten Ölpreisschock 1973/74 hatte zur Folge, daß die Auslastung der Kapazitäten in vielen Wirtschaftsbereichen und die Beschäftigung zurückgingen. Die Verschlechterung der 'Terms of trade' führte in

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den meisten EG-Ländern nicht zu einer Reduzierung der inländischen Absorption, welche die wichtigste Voraussetzung des Zahlungsbilanzausgleichs darstellt. Das Dilemma zwischen realwirtschaftlicher Anpassung und Finanzierung wurde zugunsten der letzteren gelöst. Die wirtschaftliche Rezession hatte auch zur Folge, daß es zu zunehmenden Eingriffen der Staaten in den Wirtschaftsprozeß kam, z.B. zu einem stärkeren Einsatz der Nachfragepolitik (mit Inkaufnahme höherer Budgetdefizite), der sozialpolitischen Instrumente, der Subventionen und des Handelsprotektionismus. Letzterem kam die Aufgabe zu, externe Schocks abzufangen und dadurch die Wirksamkeit der binnenwirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Instrumente zu erhöhen. Mehr Protektion verlangten auch die von der Rezession und dem verstärkten internationalen Wettbewerb betroffenen Wirtschaftsbereiche. Alle diese Entwicklungen erschwerten den gemeinschaftlichen Integrationsprozeß. Im Bereich der Außenhandelspolitik nahmen die protektionistischen Forderungen einiger Mitgliedstaaten zu. Auch die Renationalisierungstendenzen in diesem Bereich verstärkten sich, und zwar dort, wo eine gemeinsame Intervention nicht durchführbar war. Außerdem erhöhten sich die Zahl und Intensität von binnenwirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Steuerung des Handels sowohl mit EG-Partnerstaaten als auch mit Drittstaaten. Im folgenden wird kurz auf diejenigen Entwicklungen der EG-Außenhandelspolitik eingegangen, welche einen deutlichen Einfluß auf die Natur der Welthandelsordnung hatten. Erstens kam es nach 1974 zu einer Zunahme der nicht-tarifaren Handelshemmnisse, die von der EG oder von Mitgliedstaaten angewandt wurden. Dazu zählen insbesondere Selbstbeschränkungsabkommen, 'Orderly Marketing Arrangements' und Mindestpreisvorschriften. Diese Maßnahmen sind selektiv, diskriminierend und insgesamt wohlstandsmindemd. Obwohl sie im allgemeinen mit dem betroffenen Exportland bzw. den betroffenen Exportunternehmen ausgehandelt werden, verstoßen sie gegen die vereinbarten Ordnungsregeln für den Welthandel und behindern das Funktionieren des internationalen Marktmechanismus. Durch die Verbreitung dieser Maßnahmen wird das ordnungspolitische Regelwerk des GATT faktisch außer Kraft gesetzt. Zusätzlich führen sie dazu, daß es im Ausland zu Kartellvereinbarungen zwischen den betroffenen Exporteuren kommt. Solche Kartelle kommen oft nur dadurch zustande, daß die Regierung des Exportlandes politischen und rechtlichen Druck ausübt (vgl. Matsushita, 1988). Die EG und ihre Mitgliedsländer haben wie keine andere GATT-Vertragspartei von diesen Instrumenten Gebrauch gemacht und dadurch zur Erosion des Freihandelsprinzips beigetragen (vgl. Hirn, 1985, S. 259 ff.)..

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Zweitens nahm in den letzten Jahren die Anwendung der sog. 'administrativen' Protektion zu. Zum Beispiel weist die Anti-Dumping-Politik der EG deutliche protektionistische Züge auf. Die Folge davon ist, daß ein durchaus berechtigtes Instrument gegen wettbewerbsverzerrende Praktiken ausländischer Unternehmen den internationalen Austausch und die effiziente Allokation der Ressourcen behindert (vgl. Hindley, 1988, S. 445 ff.; Kotios, 1993, S. 154 ff.). Drittens nahm in der Gemeinschaft die Zahl binnenwirtschaftspolitischer Maßnahmen (wie Subventionen, diskriminierende Staatskäufe und technische Handelshemmnisse) zum Schutz bestimmter Wirtschaftsbereiche zu. Die Maßnahmen, die fiberwiegend auf nationaler Ebene getroffen worden sind und deren quantitative Bedeutung schwer zu ermitteln ist, behindern sowohl den Handel mit Drittstaaten als auch mit anderen EG-Handelspartnern (vgl. Kotios, 1993, S. 135 ff.; Kotios und Molsberger, 1992, S. 280 ff.). Nationale Egoismen und festgefahrene Positionen verhindern dabei ihre effektive Eindämmung. Um den binnenmarktspaltenden Effekt einiger dieser Instrumente zu beschränken, entwickelte die Gemeinschaft ansatzweise eine Harmonisierungsstrategie, d.h. eine Vereinheitlichung der Interventionsbedingungen (z.B. Höchstbeträge für Subventionen in den Bereichen Schiffbau und Regionalpolitik). In anderen Bereichen wird zwar die Liberalisierung angestrebt (z.B. öffentliches Beschaffungswesen), ihre Implementierung ist jedoch unter den gegenwärtig herrschenden Bedingungen sehr schwer durchzusetzen. Darüber hinaus konnte die Gemeinschaft im Bereich der nicht-tarifären Protektion die GATT-Kodices nicht effektiv durchsetzen. Viertens sind während dieser Phase die Folgen des Agrarprotektionismus sowohl für die EG-Konsumenten und Steuerzahler als auch für die Agrarproduzenten im Ausland schmerzhafter geworden. Ständig steigende Überschüsse und Preise erhöhen die Interventionskosten und führen zu verstärkten Exportsubventionen. Durch die Exportsubventionierung werden effiziente Exporteure vom Weltmarkt verdrängt. Fünftens hat auch die Gemeinschaft in den letzten Jahren begonnen, industriepolitische Ansätze zur künstlichen Gestaltung der komparativen Vorteile anzuwenden. Dennoch kann von einer globalen Konzeption der EG in diesem Bereich noch keine Rede sein (vgl. Hine, 1985, S. 262 ff.). Wichtigste gemeinschaftliche Instrumente der Industriepolitik stellen die Forschungs- und Technologiepolitik, die Wettbewerbspolitik (Stärkung der Untemehmenskooperationen aus technologiepolitischen Gründen) und die Handelspolitik (Protektionismus zur Förderung der Produktion bestimmter Produkte und zur Förderung der Direktinvestitionen in der EG) dar. Die Politik der Technologieförderung verstößt nicht gegen das GATT, da die Subventionierung binnenwirtschaftlicher Projekte zugelassen ist. Sie verstößt jedoch gegen den Geist einer auf Effizienz und marktwirtschaftliche Dynamik gestützten Welthandelsordnung.

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Infolge dieser Entwicklungen nahmen in den letzten zwei Jahrzehnten die protektionistischen Elemente in der EG-Außenhandelsordnung zu. Dies implizierte eine Stärkung des Protektionismus auf internationaler Ebene, da die Gemeinschaft einen sehr hohen Welthandelsanteil aufweist. Die faktische Außenhandelspolitik der EG begünstigte ferner auf indirekten Wegen den internationalen Protektionismus. So führten z.B. ihre Exportsubventionen im Agrarbereich dazu, daß die USA Importschutzinstrumente einführten und ebenfalls ihre Ausfuhren subventionierten. Die Beschränkung der Einfuhren in die EG hat wahrscheinlich auch dazu geführt, daß die Importe in anderen Ländern gestiegen sind, was wiederum die Beschränkung der Importe in diesen Drittstaaten hervorgerufen hat. Die vorhandenen empirischen Daten reichen jedoch nicht aus, um diese These exakt zu belegen. Diese Entwicklungen dürfen jedoch nicht zu dem Schluß verleiten, daß der Protektionismus in der EG den gesamten Außenhandel tangiert. Der gemeinschaftliche Protektionismus stellt trotz allem nicht das dominierende Prinzip der EG-Außenhandelsordnung dar. Außerdem ist sicherlich die EG nicht viel protektionistischer als viele ihrer Handelspartner. Der Hinweis auf den Protektionismus anderer kann jedoch nicht die destruktive Außenhandelspolitik in einigen Wirtschaftsbereichen rechtfertigen (so z.B. Hqferkamp, 1983, S. 6 f.; Rhein, 1985, S. 69 ff.): erstens weil die Auswirkungen des EG-Protektionismus für viele Länder, die überwiegend in die EG exportieren, eminent sind, zweitens weil der Protektionismus auch innerhalb der EG wohlstandsmindernde Effekte auslöst und drittens weil die EG als bedeutende Handelsmacht eine besondere Verantwortung für das GATT-System hat. Einige Entwicklungen in der laufenden Uruguay-Runde deuten darauf hin, daß die EG sich dieser Verantwortung - allerdings nur unter stärkstem Verhandlungsdruck - allmählich bewußt wird.

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Monetäre Integration: Vom EWS zur Währungsunion Heinz-Dieter Smeets, Düsseldorf

I. Integrationspolitische Grundlagen

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n . Das Europäische Währungssystem (EWS) 1. Koordinationswirkungen 2. Stabilitätswirkungen a. Internationale Wettbewerbsfähigkeit b. Risikoprämien c. Interventionswirkungen 3. Gesamtbewertung

101 102 104 104 105 106 109

III. Der weitere Ausbau 1. Konvergenzindikatoren 2. Der Verzicht auf das Wechselkursinstrument 3. Das Europäische Währungsinstitut

112 113 122 127

IV. Die institutionelle Ausgestaltung der Endstufe

128

V. Ausblick

132

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Heim-Dieter Smeets

Abbildungen: Übersicht 1: DM - Interventionen im EWS

108

Übersicht 2: Der Weg zur Europäischen Währungsunion

113

Übersicht 3: Schocks

124

Übersicht 4: Konjunkturzusammenhang im EWS

125

Übersicht 5: Drei-Monats-Anlagen in D-Mark

142

Übersicht 6: Drei-Monats-Anlagen in holländischen Gulden

142

Übersicht 7: Drei-Monats-Anlagen in französischen Franc

143

Übersicht 8: Drei-Monats-Anlagen in italienischer Lira

143

Übersicht 9: Drei-Monats-Anlagen in belgischen Franc

144

Übersicht 10: Drei-Monats-Anlagen in dänischen Kronen

144

Übersicht 11: Drei-Monats-Anlagen in irischen Pfund

145

Übersicht 12: Drei-Monats-Anlagen in spanischen Peseten

145

Monetäre integration: Vom EWS zur Wahrungsunion

•99-

I.

Integrationspolitische Grundlagen Bis zum Beginn der siebziger Jahre waren die währungspolitischen Integrationsbemühungen der EG nicht sonderlich intensiv. Hierfür waren zwei Gründe ausschlaggebend: Erstens waren alle westeuropäischen Länder Mitglied des weltweiten Fix-KursSystems von Bretton-Woods, das - solange es funktionierte - eine europäische währungspolitische Integration überflüssig zu machen schien. Zweitens hatten die Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft in den Römischen Verträgen explizit auf eine währungspolitische Zusammenarbeit verzichtet, weil damit ein Souveränitätsverzicht in bezug auf die nationale Konjunkturpolitik verbunden gewesen wäre. Zwar wurden im EWG-Vertrag (EWGV) die Konjunkturpolitik und die Wechselkurspolitik als "Angelegenheit von gemeinsamen Interessen" deklariert (Art. 103 bzw. 107 EWGV). Eine Koordinierung der nationalen Währungspolitiken sollte allerdings nur in dem Maße erfolgen, wie sie für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich war (Art. 105 EWGV). Faktisch reduzierten sich die konjunktur- und währungspolitischen Integrationsbemühungen der EWG auf die Gründung gemeinsamer Ausschüsse (Währungs-, Zentralbankpräsidenten- und Haushaltsausschuß), in denen die Mitglieder vor wichtigen währungs- und fiskalpolitischen Beschlüssen konsultiert werden sollten. Erst die zunehmenden Zahlungsbilanzdefizite wichtiger Mitgliedsländer, die die 1968 vollendete Zollunion und den gemeinsamen Agrarmarkt in ihrem Bestand zu gefährden schienen, sowie die immer häufigeren Krisen des Bretton-Woods-Systems förderten die währungspolitische Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Ergebnis dieser Bemühungen war schließlich die Gründung des Europäischen Wechselkursverbundes im April 1972. Seine Etablierung geht auf den Beschluß des EG-Ministerrates von 1971 zurück, in der dieser der Empfehlung des luxemburgischen Ministerpräsidenten Werner folgte, "ein eigenständiges Wechselkurssystem der Gemeinschaft zu schaffen und die Bandbreiten für die Wechselkursschwankungen zwischen den EWG-Währungen schrittweise zu beseitigen" (Deutsche Bundesbank, 1976, S. 23). Gedacht war der Wechselkursverbund als erste Stufe zu einer Währungsunion1. Wähningsunionen sind dabei durch zweierlei gekennzeichnet: - Einen unwiderruflich fixierten Wechselkurs ohne Schwankungsmargen oder eine gemeinsame Währung und - die Konvertibilität der Währungen, also den unbeschränkten Kapitalverkehr zwischen den beteiligten Ländern. Vgl. zur Diskussion über alternative Wege zur Währungsunion etwa Neidner (1988, S.261-283). Die grundsätzlichen Problembereiche einer europäischen Währungsunion werden bereits bei GrOner (1971) angesprochen.

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Die Stufenstrategie des Werner-Plans sah zunächst den Versuch vor, "durch eine abgestimmte Aktion gegenüber dem Dollar die Wechselkursschwankungen zwischen Währungen der Mitgliedsstaaten schon zu Beginn der ersten Stufe versuchsweise innerhalb engerer Bandbreiten zu halten, als sie sich aus der Anwendung der für den USDollar geltenden Bandbreiten ergaben" (Deutsche Bundesbank, 1976, S. 23). Die Umsetzung dieser Empfehlung im April 1972 gilt als Grundstein des Europäischen Wechselkursverbundes, der auch als 'Schlange im Tunnel' oder später - nach Aufgabe des Blockfloatings gegenüber dem Dollar im Frühjahr 1973 - als 'Europäische Währungsschlange' bezeichnet wurde. Im weiteren Verlauf kam es jedoch zu immer häufigeren Abwertungen sowie zu Austritten wichtiger Teilnehmerländer zu denen insbesondere Großbritannien (1972) und Frankreich (1974 und 1976) gehörten. In der Folge etablierte sich bis zur Gründung des Europäischen Währungssystems (EWS) faktisch ein DM-Block, dem auch Länder angehörten, die nicht Mitglied der EG waren. Den Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen stellen einige grundlegende Zusammenhänge dar, die den Rahmen der gesamten Diskussion bilden. Im Mittelpunkt stehen dabei die Probleme eines Festkurssystems, um das es sich im Grundsatz sowohl beim EWS als auch bei einer Währungsunion handelt. Auf der Basis der Kaufkraftparität ergibt sich - bei Vernachlässigung realer Faktoren - die langfristige Veränderungsrate des Wechselkurses (6) aus der Differenz zwischen der heimischen ($) und der ausländischen Inflationsrate (P*). A -A. (1) 6 = P - P* Fixiert man nun den Wechselkurs (6 = 0), so ergibt sich daraus unzweideutig, daß zumindest längerfristig ein Inflationsgleichschritt zwischen dem In- und Ausland erfolgen muß - es kommt also zu einer automatischen Koordination der Geldpolitik in den beteiligten Ländern. Diese Koordination kommt entweder dadurch zustande, daß die beteiligten Länder ihre Geldpolitik 'freiwillig' aufeinander abstimmen oder aber über Interventionen und die damit einhergehenden Rückwirkungen auf die Geldmengen. (2)

6= 0



p = p* = ?

Die zuvor geschilderte Situation läßt sich in dem bekannten Mundell-Flemming-Modell als Entwicklung bei vollkommener Kapitalimmobilität interpretieren. Internationale Anpassungsprozesse vollziehen sich ausschließlich über den Güterverkehr. Mit zunehmender internationaler Kapitalmobilität steigt aber auch der Koordinierungszwang in der kurzen Frist, bis bei vollkommener Integration der Kapitalmärkte und festen Wechselkursen die Geldpolitik der beteiligten Länder zu keinem Zeitpunkt voneinander abweichen kann.

Monetäre Integration: Vom EWS zur Wahrungsunion

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Damit ist aber nicht zugleich auch garantiert, daß sich ein solches Festkurssystem zu •A A einer Stabilitätsgemeinschaft (P = P = 0) entwickelt. Ferner läßt diese allgemeine Beziehung offen, welches der beteiligten Länder seine Stabilitätspräferenzen und damit seine nationale Geldpolitik durchsetzen kann. Diese Frage erübrigt sich erst nach dem Übergang zur Einheitswährung, die durch eine zentrale Geldpolitik der europäischen Notenbank (MEu) und die - bei Vollbeschäftigung und längerfristig konstanter Umlaufgeschwindigkeit - hierüber determinierte einheitliche Inflationsrate (PEU) gekennzeichnet ist. A y\ A /\ (3) M e u = P e u = P = P* Die weiteren Überlegungen befassen sich mit der Umsetzung der zuvor erläuterten Grundsatzfragen im Rahmen der europäischen Währungsintegration, wobei die Entwicklung seit 1979 im Vordergrund steht. II.

Das Europäische Währungssystem (EWS) Als im Jahre 1979 das EWS eingeführt wurde, haben viele Ökonomen aufgrund der früheren Erfahrungen mit Festkurssystemen (System von Bretten Woods; Europäische Währungsschlange) vor den stabilitätspolitischen Gefahren gewarnt und dem EWS nur eine begrenzte Lebensdauer eingeräumt. Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildeten hohe und stark divergierende Inflationsraten während der siebziger Jahre. Die Kritiker setzten folglich an den Voraussetzungen für feste Wechselkurse an und lassen sich daher als Vertreter der 'Krönungstheorie' (Ökonomisten) auffassen. Die Verfechter des EWS sahen das System dagegen in erster Linie als ein Koordinierungsinstrument, mit dessen Hilfe eine 'Zone monetärer Stabilität' errichtet werden sollte. Sie sind somit als Anhänger der 'Schrittmachertheorie' ('Monetaristen') einzuordnen. Nachfolgende spieltheoretische Ansätze (Canzoneri und Gray, 1985; Melitz, 1985; Canzoneri und Henderson, 1988) haben diese Sichtweise theoretisch fundiert und formalisiert. 'Spillover'-Effekte zwischen den Ländern lassen demnach eine Koordination grundsätzlich sinnvoll, d.h. für alle wohlfahrtsförderlich, erscheinen. Als problematisch hat es sich dabei jedoch herausgestellt, anreizkompatible Kooperationsregeln zu finden. Aus diesem Grunde kann man das Festkurssystem EWS als eine 'second-best'Regel ansehen, die leicht zu kontrollieren ist und - obgleich nicht optimal - zumindest einen Teil der Koordinationsvorteile auszuschöpfen vermag. Bei diesen Überlegungen stehen symmetrische exogene Schocks im Vordergrund, auf die die beteiligten Länder dann bei festen Wechselkursen in gleicher geldpolitischer Weise reagieren müssen. Als Folge hiervon stellt sich wiederum eine gleichgerichtete Inflationsentwicklung ein. Resultiert der überwiegende Teil der Schocks hingegen aus unterschiedlichen, nicht ko-

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ordinierten Aktionen einzelner Länder, würde daraus ein zusätzliches Argument für das EWS und die damit verbundene implizite Abstimmung erwachsen. Aus diesem Grund kann man vom EWS auch als einem "schock-absorber" sprechen {Fratianm und von Hagen, 1990, S. 285). Betrachtet man vor diesem Hintergrund die empirische Evidenz2, scheinen sich die Erwartungen der EWS-Anhänger auf den ersten Blick durchaus bestätigt zu haben. So sank die kurzfristige Variabilität der nominalen und realen Wechselkurse innerhalb des EWS und die Mitgliedsländer wiesen seit 1982 eine steigende Konvergenz der Inflationsraten auf, deren Niveau zugleich zunehmend sank. Dem läßt sich allerdings entgegenhalten, daß die verminderte Variabilität der Wechselkurse innerhalb des EWS zumindest teilweise durch eine erhöhte Variabilität gegenüber Drittwährungen erkauft wurde. Ferner blieben die Erfolge bei der Inflationsbekämpfung im EWS zumindest bis 1986 hinter denjenigen zurück, die für die restlichen OECD-Länder beobachtet werden konnten. Hinzu kamen höhere Arbeitslosenraten sowie ein geringeres Wachstum der Investitionen und des BIP in dm EWS-Mitgliedsländem im Vergleich zu den restlichen OECD-Ländern. Unklar bleibt mithin, ob die (positiven) Entwicklungen auf das EWS selbst zurückgehen, also systemimmanent sind, oder auf externe Faktoren. Die Funktionsweise und die damit verbundenen Wirkungen des EWS sollen daher nachfolgend eingehender untersucht werden. Hierbei geht es insbesondere um die Frage, ob das EWS eine deflationäre 'Schlagseite' aufweist, die den Schwachwährungsländem höhere Anpassungslasten auferlegt und ob eine solche asymmetrische Funktionsweise von vornherein im EWS bewußt angelegt war.

1.

KoordinationsWirkungen

Grundlage der Koordination sind entweder Interventionen am Devisenmarkt und deren Rückwirkungen auf die nationalen Geldmengen und/oder eine aufeinander abgestimmte Geldpolitik. Der Koordinationsdruck steigt dabei insbesondere mit zunehmender Fixierung der Wechselkurse, mit einer Verengung der Bandbreiten und mit einem verminderten Rückgriff auf Kapitalverkehrskontrollen. Aus diesem Grund sollen im folgenden drei Phasen des EWS unterschieden werden, die sich an den Paritätsanpassungen (Realignments) orientieren: - Während der ersten Jahre des EWS kam es zu häufigen Realignments (7), die zudem ein beträchtliches Ausmafi aufwiesen. Die durchschnittliche nominale Aufwertungsrate der DM gegenüber allen Mitgliedsländern betrug in der Zeit von März 1979 bis Vgl. zur empirischen Bewertung des EWS ausführlich etwa: Ungerer et al. (1986), Fratianni (1988), Wegner (1989); Dahel, Goodwin und Willett (1990) sowie Ungerer et al. (1990).

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einschließlich Mäiz 1983 insgesamt 23 vH3. - Nachfolgend sank dann sowohl die Zahl (4) als auch das Ausmaß der Realignments. Die durchschnittliche nominale Aufwertungsrate der DM verminderte sich in der Zeit von April 1983 bis einschließlich Januar 1987 auf insgesamt 7,7 vH 4 . - In der Zeit von Februar 1987 bis einschließlich August 1992 wurde kein Realignment durchgeführt. Für die Zunahme nicht nur der absoluten Inflationsraten sondern auch deren Divergenz während der ersten Jahre des EWS, waren primär unterschiedliche Stabilitätspräferenzen der Mitgliedsländer verantwortlich, die durch Wechselkursanpassungen insbesondere gegenüber der DM sowie durch Kapitalverkehrskontrollen ermöglicht wurden. In dieser Phase übte das EWS nur in Einzelfällen einen Koordinationsdruck aus. Mit dem zunehmenden Verzicht auf die wechselkursgestützten Alleingänge einzelner Mitgliedsländer erhöhte sich dieser Druck jedoch im Laufe der Zeit. So war die 1987 begonnene dritte Phase des EWS durch eine fast sechs Jahre andauernde Stabilität der nominalen Wechselkurse gekennzeichnet. Während dieser Zeit hätte den obigen Überlegungen zufolge der Konvergenzdruck auf die Mitgliedsländer am stärksten ausfallen müssen. Für die während der gesamten Periode mit einer Bandbreite von +/- 2,25 vH beteiligten Länder läßt sich diese Aussage durchaus empirisch nachvollziehen. Die Standardabweichung ihrer Inflationsraten sank mit 0,4 vH im Jahre 1991 auf den niedrigsten Wert während der gesamten EWS-Zeit. Der gleichzeitige Anstieg der durchschnittlichen Inflationsrate ist dabei nicht zuletzt auf die Bitwicklung in der Bundesrepublik Deutschland zurückzuführen. Andere Länder wie Italien, Spanien und Großbritannien, die dem EWS erst zu einem späteren Zeitpunkt beitraten oder zur normalen Bandbreite von +/- 2,25 vH übergingen, 'nutzten' diesen Spielraum, um ihre weniger erfolgreiche Stabilitätspolitik abzufedern. Dabei waren es gerade die nun weitgehend Iiberalisierten Kapitalbewegungen, die - statt den erwarteten Stabilitätsdruck auszuüben die inflationäre Entwicklung und die damit in aller Regel einhergehenden Leistungsbilanzdefizite stützten. Die seit Anfang 1987 unveränderten Paritäten führten nämlich im Laufe der Zeit zu einem zunehmenden Vertrauen in diese Fixierung, so daß sich die internationalen Kapitalbewegungen primär an den Nominalzinsdifferenzen orientierten (Giovannini, 1990, S. 6 ff.). Länder wie Italien und Spanien sahen sich aus diesem Grunde trotz höherer Inflationsraten im Vergleich zur Bundesrepublik Kapitalimporten ausgesetzt, die keinen Druck von außen erzeugten, sondern vielmehr die StabilitätsbeDabei wies die italienische Lira mit 33,6 vH die höchste, der holländische Gulden mit 3,9 vH die niedrigste Abwertungsrate auf. Die Abwertungsspanne belief sich in diesem Zeitraum zwischen 14,7 vH für das irische Pfund und null vH für den hollandischen Gulden.

• 104-

Heinz-Dieter Smeets

mühungen im Inneren zu unterlaufen drohten. Zugleich kam es in diesen Ländern trotz der Fixierung des Wechselkurses und der Verminderung der Bandbreiten im Falle Italiens zu in der Summe erheblichen Abweichungen vom deutschen Inflationsniveau, auch wenn die jährlichen Abweichungen im Laufe der Zeit eher abnahmen. Der hierin zum Ausdruck kommende reale Wechselkursänderungsbedarf sollte allerdings auf keinen Fall durch Anpassungen des nominalen Kurses befriedigt weiden. Hierbei stand insbesondere die Furcht vor abwertungsbedingten Preissteigerungen und deren Rückwirkung auf die angestrebte Stabilitätspolitik im Vordergrund. Angesichts dieser Entwicklung war es aber keineswegs verwunderlich, daß der auf diese Weise aufgelaufene Anpassungsstau im September 1992 zum Ausbruch kam. Hierin drückt sich aber keineswegs - wie manche Kritiker meinten - ein 'Marktversagen1 aus, sondern vielmehr die vom Markt zu Recht erzwungene Durchführung des längst überfälligen Realignments. Dabei spielten zwar die erwartungsbedingten Kapitalbewegungen letztlich die auslösende Rolle, die entsprechenden Erwartungen selbst bildeten sich aber vor dem Hintergrund des zunehmend aufgelaufenen Anpassungsbedarfs.

2. a.

Stabilitätswirkungen Internationale Wettbewerbsfähigkeit

Ein erstes Argument für einen systemimmanenten Stabilitätszwang basiert auf der Annahme, trotz häufiger und beträchtlicher Anpassungen des Wechselkurses im Rahmen der Realignments sei es zu einem Verlust an internationaler (Preis-) Wettbewerbsfähigkeit der Schwachwährungsländer gekommen. Die reale Überbewertung der entspechenden Währungen habe dann zu Nachfrageausfällen geführt, denen man nur durch eine konsequente Stabilitätspolitik begegnen konnte. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Entwicklung der realen (effektiven) Wechselkurse auf der Basis des Jahres 1979, so scheinen die vorliegenden empirischen Untersuchungen in der Mehrzahl der Fälle das oben erläuterte Argument zu stützen. Wie bei all diesen Fragen ist aber auch hier das Ergebnis eng mit der Wahl des Basisjahres und der Preisindices verbunden. Berücksichtigt man nämlich zusätzlich die Jahre der Europäischen Währungsschlange, so verlieren diese Überlegungen wesentlich an Überzeugungskraft (Collins, 1988 und 1990; Kugler und Lenz, 1993). Doch selbst wenn man auf der Basis des Jahres 1979 dieses Argument akzeptiert, bedarf es femer des Beweises, daß man bewußt keine größeren Paritätsanpassungen erlaubt hat, um Stabilitätszwänge auszuüben. Somit stellt sich auch hier die Frage, ob das EWS wirklich eine Schrittmacherfunktion hatte oder aber lediglich in dem Maße auf Wechselkursanpassungen verzichten konnte, wie man Konvergenz bei den wirtschaftspolitischen Zielen und Instrumenten realisierte.

Monetäre Integration: Vom EWS zur WOhrungsurüon

• 105

b.

Risikoprämien Ferner entstehen asymmetrische Wirkungen im EWS durch die unterschiedliche Glaubwürdigkeit der nationalen Geldpolitiken. Geht man einmal davon aus, daß die Kaufkraftparität zu jedem Zeitpunkt (t) gilt, dann entspricht die erwartete WechselA kursänderungsrate (&*) der Differenz aus den erwarteten Inflationsraten des In- (P**) und Auslands (P4*). Die Zinsparität i' = i*' + ' fie ^...' i*i == Nominalzins Nominalzins des des Inlands; Auslands läßt sich dann wie folgt umformulieren: A _ A. (5) i, - P«t = it* - P \ Unter der oben genannten Annahme kommt es zu einer Gleichheit der realen Zinssätze (r; r*). Die Unterscheidung und Bestimmung der realen Zinssätze geht auf Fischer (1930) zurück. Die ex-ante Formulierung des realen Zinssatzes entspricht demnach für das Inland (6)

r, = i, - P®,

Häufig findet man aber auch eine ex-post Formulierung dieser Beziehung: (7)

rt = i t - P ,

Fehlt es nun (noch) an Vertrauen in die Geldpolitik eines Landes, so wird die erA A AA wartete Inflationsrate (P®t; P^t) die tatsächliche Inflationsrate (Pt;Pt j übersteigen. Beziehung (S) impliziert dann aber auch, daß dieses mangelnde Vertrauen - selbst bei gleich hohen aktuellen Inflationsraten - durch einen höheren Zinssatz kompensiert werden muß. So lange solche Vertrauensdivergenzen auftreten, müssen (frühere) Schwachwährungsländer folglich unter sonst gleichen Bedingungen eine restriktivere Geldpolitik verfolgen als vertrauenswürdigere Länder. Aus der Sicht dieser Länder kann ein solcherart erhöhtes Zinsniveau wiederum zu Beschäftigungs- und Wachstumseinbußen führen. Einen Ausweg aus ihrem Dilemma würde eine möglichst frühzeitige glaubwürdige Fixierung der Wechelkurse oder gar der Übergang zu einer Einheitswährung eröffnen. Solche auch im EWS zu beobachtenden Situationen gehen aber zurück auf die von vielen Mitgliedsländern in der Vergangenheit praktizierte Inflationspolitik und nicht auf die jeweils aktuelle Wirtschaftspolitik. Hierin spiegelt sich die Risikoprämie wider, die die Märkte (immer noch) für Aktiva früherer Weichwährungsländer fordern - und zwar so lange, bis das Vertrauen in eine neue Wirtschaftspolitik gefestigt ist. Längerfristig werden sich aber alle Zinsraten dem Niveau des nachhaltig preisstabilsten Landes angleichen. Diese zum Teil zweifellos schmerzhafte Anpassung der Erwartungen in den Mitgliedsländern darf allerdings nicht durch ein Unterlaufen der deutschen Stabilitäts-

•106-

Heinz-Dieter Smeets

politik - etwa durch veränderte Interventionsregeln - abgemildert werden, da ein Vertrauensverlust in die deutsche Stabilitätspolitik letztlich die Probleme für die Gesamtunion nur vergrößern würde (Smeets, 1990, S. 48 f.). c.

Interventionswirkungen Das EWS war - nach kontroversen Diskussionen - als symmetrisches Währungssystem konzipiert worden. Ausschlaggebend für Interventionsverpflichtungen ist daher auch das bilateral orientierte Paritätengitter und nicht die Korb-ECU. Bei obligatorischen Interventionen erreichen somit stets zwei Währungen ihre Bandgrenze. Im Schwachwährungsland muß es zu einem Ankauf der heimischen Währung kommen, wodurch dort eine kontraktive Wirkung auf die internationale Komponente der Geldbasis ausgeübt wird. Auf der anderen Seite bedarf es im Hartwährungsland eines Verkaufs der heimischen Währung gegen Devisen, was wiederum zu einer expansiven Wirkung auf die internationale Komponente der Geldbasis in diesem Land führt5. Wälzen sich diese Effekte über die Geldmengen bis zu den Preisniveaus fort, so kommt es zu einem Ausgleich der Inflationsraten. Eine solche symmetrische Interventionsverpflichtung kann allerdings dann asymmetrische Wirkungen nach sich ziehen, wenn man Sterilisationspolitiken in diese Überlegungen einbezieht. Hierbei handelt es sich um den Versuch, die interventionsbedingten Effekte auf die internationale Komponente der Geldbasis durch entgegengerichtete Einflußnahme auf die nationalen Komponenten auszugleichen und somit die Geldmengenentwicklung an heimischen Zielen zu orientieren. Gelingt eine solche Sterilisationspolitik, so resultiert daraus für das Schwachwährungsland ein fortlaufender und vielleicht sogar ein sich beschleunigender Abfluß an Währungsreserven, während es im stabilitätsorientierten Land zu einer Anhäufung von Währungsreserven kommt. Damit sind aber auch bereits die Grenzen einer solchen Politik aufgezeigt, denen sich etwa Frankreich im Jahre 1982 gegenübersah. Die zunehmende Inflationsdifferenz zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland reduzierte den Bestand an Währungsreserven in Frankreich zunehmend und zwang letztlich zu einer Umkehr in der Wirtschaftspolitik. Eine solche durch den Bestand an Währungsreserven vorgegebene Grenze der Sterilisationspolitik existiert hingegen in Hartwährungsländem nicht. Dort wird die Grenze eher durch das Ausmaß der Geldzuflüsse determiniert, das wiederum entscheidend von der internationalen Kapitalmobilität abhängt. Da es gerade die internationalen Kapitalbewegungen sind, die bereits kurzfristig und in großem Ausmaß 5

Zu dauerhaften Geldbasiseffekten kommt es allerdings nur dann, wenn die Interventionskredite nicht in der ausgeliehenen Währung zurückgezahlt werden. In allen anderen Fällen werden die primären Interventionswirkungen durch den Saldenausgleich wieder kompensiert.

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•107-

auf unterschiedliche Wirtschaftspolitiken reagieren6, sinkt die Sterilisationsmöglichkeit mit zunehmender Kapitalmobilität. In diesem Sinne war letztlich auch die Bundesrepublik Deutschland Nutznießer der Kapitalverkehrskontrollen anderer Mitgliedsländer. Hierdurch wurde nämlich nicht nur der GeldabfluB aus den Schwachwährungsländem, sondern auch der Geldzufluß in die Bundesrepublik Deutschland begrenzt und damit die Sterilisationspolitik erleichtert. Schon bald stellte sich jedoch heraus, daß nicht die im Vertragswerk vorgesehenen obligatorischen Interventionen dominierten, sondern vielmehr intramarginale Interventionen (vgl. Übersicht I). Diese Interventionen setzen bereits vor dem Erreichen der Bandgrenzen ein, um dem Markt ein deutliches (Abwehr-) Signal zu geben. Diesen Interventionen liegt bereits eine asymmetrische Verpflichtung zugrunde. So ist zum Beispiel bekannt, welches Land seine schwache Währung anzukaufen hat; offen ist hingegen, welche (Mitglieds-) Währung im Gegenzug dafür verkauft werden soll. Die Interventionswirkung hängt in diesem Falle in erster Linie von der Finanzierung der Interventionen ab. Sie kann grundsätzlich aus dem eigenen Bestand an Währungsreserven erfolgen, durch eine Kreditaufnahme an internationalen Finanzmärkten und/oder durch Zentralbankkredite des Starkwährungslandes. Nur in diesem letzten Fall kommt es aber auch zu einer expansiven geldpolitischen Wirkung im nicht intervenierenden Hartwährungsland und damit zu einer symmetrischen Wirkung. Die beiden ersten Finanzierungsalternativen fuhren hingegen nur im intervenierenden Schwachwährungsland zu einer kontraktiven Politik und damit zu asymmetrischen Wirkungen. Da das Vertragswerk des EWS intramarginale Interventionen zunächst nicht vorsah, war auch die Möglichkeit einer Finanzierung durch Zentralbankkredite im Rahmen der Beistandsmechanismen - abgesehen von freiwilliger Kreditgewährung - grundsätzlich ausgeschlossen. Dies hatte somit stets auch eine asymmetrische Interventionswirkung zur Folge, die eine einseitige Anpassung an die Stabilitätspolitik der Bundesrepublik Deutschland erforderte. Auf Druck der Schwachwährungsländer wurde diese Regelung durch die im September 1987 getroffenen währungspolitischen Beschlüsse von Basel und Nyborg zumindest teilweise revidiert (Deutsche Bundesbank, 1987, S. 60 ff.). Fortan war es möglich, auch intramarginale Interventionen teilweise durch Zentralbankkredite zu finanzieren, was die Asymmetrie mildern sollte. Ein solcher Effekt kommt aber auch unter diesen neuen Bedingungen nur dann zustande, wenn das Hartwährungsland eine Ausweitung der internationalen Komponente der Geldbasis nicht sterilisieren will oder kann.

Hesse (1983, S. 132) spricht in diesem Zusammenhang von einer ' Aufpasserfunktion'.

Heinz-Dieter Smeets

108

Übersicht 1:

DM - Interventionen im EWS

Jahr

Gesamtinterventionen in Mrd. DM (= 100 vH)

davon obligatorisch in vH

davon intramarginal in vH

1979

14,4

25,0

75,0

9,0

9,2

1980

12,8

46,1

53,9

-10,8

-10,5

1981

40,5

48,4

51,6

19,7

13,7

1982

25,2

11,9

88,1

6,4

3,6

1983

57,0

43,9

56,1

-14,5

-7,8

1984

41,2

11,4

88,6

-16,6

1,4

1985

60,2

0,7

99,3

2,0

-0,2

1986

130,7

17,7

82,3

25,5

-8,4

1987

124,6

12,0

88,0

28,9

18,1

1988

43,1

100,0

-10,5

-6,1

1989

34,0

14,7

85,3

-6,8

1990

46,4

3,2

96,8

-21,8

1991

36,6

13,0

1992

329,0

176,2

-

InterWirkung ventionsauf die saldo Geldbasis in Mrd.DM in Mrd. DM

-

-1,6 -

59,4

Quelle: Deutsche Bundesbank, 1990, S. 65; 1993, S. 22. Damit bildet die Sterilisation einen entscheidenden Punkt in den zuvor abgeleiteten Wirkungsmechanismen. Empirische Untersuchungen hierzu haben ergeben, daß die Bundesrepublik Deutschland zumindest während der achtziger Jahre in der Tat in erheblich stärkerem Maße Veränderungen der Nettoauslandsposition sterilisiert hat als die schwächeren Mitgliedsländer des EWS (Mastropasqua, Micossi und Rinaldi, 1988, S. 274 ff.; Boßnger, 1988, S. 322 ff.). Übersicht 1 zeigt darüber hinaus, daß der Wegfall von Kapitalverkehrskontrollen zu wesentlich höheren Liquiditätswirkungen in der Bundesrepublik Deutschland geführt hat, als dies in irgendeiner früheren Phase des EWS der Fall war. Obgleich man die Geldbasiswirkung von Seiten der Deutschen Bundesbank weitgehend sterilisieren konnte, blieb - zumindest vorerst - eine erhebliche Ausweitung der Geldmenge als Saldo erhalten (Deutsche Bundesbank, 1993). Möglicherweise deutet diese Entwicklung auf die bereits 1987 erhoffte stärkere Symmetrie im EWS hin. Damit bliebe zwar bei fixierten Paritäten der Koordinationsdruck des EWS erhalten, es entfiele allerdings der Stabilitätsdruck.

Monetäre Integration: Vom EWS zur Wahrungsunion

3.

• 109

Gesamtbewertung Insgesamt gesehen kam es während der EWS-Zeit zweifelsohne zu beachtlichen Koordinations- und Stabilitätserfolgen. Diese lassen sich aber kaum unmittelbar auf die zuvor erläuterte Wirkungsweise des EWS zurückführen und damit als systemimmanent interpretieren. Die Rahmenbedingungen waren nämlich nicht in der Form gestaltet, daß hiervon eine Schrittmacherfunktion hätte ausgehen können. Ausschlagebend für die weiteren Überlegungen ist daher die Frage, warum man sich seit etwa 1983 - im Gegensatz zu den Anfangsjahren - einem erhöhten Koordinations- und Stabilitätszwang unterworfen hat, indem man zunehmend auf Paritätsanpassungen und Kapitalverkehrsbeschränkungen verzichtete. Während der Abbau von Kapitalverkehrsbeschränkungen in erster Linie auf das Binnenmarktprojekt zurückgeht, lassen sich für den verminderten Rückgriff auf Paritätsanpassungen insbesondere folgende Gründe anführen, die nicht unabhängig voneinander zu sehen sind: - Es kam zu einer neuen Bewertung des Ziels Preisniveaustabilität durch die Mitgliedsländer. - Mit der Wechselkursfixierung versucht man, Vertrauen in die eigene Wirtschaftspolitik zu importieren. - Mit Wechselkursabwertungen verbindet man negative Nebenwirkungen wie - Preisniveausteigerungen und - einen Prestigeverlust für das abwertende Land. Die meiste Aufmerksamkeit hat in diesem Zusammenhang das Argument des Vertrauensimports erfahren. Gemäfi dieser Hypothese, haben die stärker inflationierenden Länder die festen Wechselkurse des EWS genutzt, um ihre monetäre Autonomie auf die Bundesbank zu übertragen ('tying one's hands') und damit ihre Neubewertung des Ziels Preisniveaustabilität zu signalisieren. Da bei festen Wechselkursen streng genommen das in- und ausländische Preisniveau nicht voneinander abweichen können, orientieren sich die Inländer bei ihrer Erwartungsbildung unmittelbar am ausländischen Preisniveau, so daß die Kosten der Inflationsbekämpfung in Form von Produktions- und Beschäftigungseinbußen vermindert werden oder ganz entfallen. Dies mag eine Erklärung dafür sein, warum sich im europäischen Kontext 'große' Länder wie Frankreich und Italien (fester) an die deutsche Stabilitätspolitik gebunden haben. Von der Bundesrepublik Deutschland wurde diese Politik aber nur deshalb mitgetragen, weil die asymmetrische Wirkungsweise ihr eine weitgehende Unabhängigkeitsposition einräumte. Hätten sich hingegen die Kosten der Koordination in Form zunehmender Gefahren für die innere Stabilität (Inflationsübertragung) erhöht, wären von deutscher Seite sicherlich

110

Heinz-Dieter Smeets

Paritätsänderungen gefordert worden, um diesem Koordinationsdruck zu entgehen (Schlüter, 1988, S. 30). Die Stellung der D-Mark im EWS und damit dessen allgemeine Funktionsweise bilden den Gegenstand zahlreicher empirischer Studien7. Auf einen längeren Zeitraum bezogen, läßt sich die deutsche Position als Ergebnis dieser Studien eher mit "langfristiger Unabhängigkeit" statt mit "Dominanz" beschreiben (Fratianni und von Hagen, 1989b). Zwischen den Realignments hat die deutsche Geldpolitik zwar in vielen Fällen einen signifikanten Einfluß auf die Geldpolitik der Mitgliedsländer ausgeübt. Längerfristig läßt sich ein gemeinsamer Trend der Geldpolitik aber nur zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden nachweisen. Ein Abkoppeln von der deutschen Geldpolitik wurde dabei mit Hilfe von Wechselkursanpassungen, Devisenund Kapitalverkehrskontrollen ermöglicht. Der Einsatz und die Wirkung von Kapitalverkehrskontrollen lassen sich durch einen Vergleich der nationalen Zinssätze mit denjenigen an den unregulierten Euromärkten ablesen. Die Übersichten S bis 12 am Ende dieses Beitrags verdeutlichen, daß Kapitalverkehrsbeschränkungen insbesondere für Frankreich und Italien während der ersten Phase des EWS eine bedeutende Rolle gespielt haben. Ihre Wirkung haben sie primär in Zeiten hoher Wechselkursänderungserwartungen entfaltet und so den vom Markt ausgehenden Aufwärtsdruck auf die heimischen Zinssätze abgefedert. Gerade in Ländern mit sehr hohen Nominalzinsen (Italien, Spanien) lassen sich in spekulationsfreien Phasen des EWS aber auch Situationen ablesen, in denen der nationale Zins deutlich oberhalb des Eurozinses lag. Für eine solche - den oben vorgenommenen Überlegungen scheinbar widersprechende - Entwicklung können einmal Kapitalimportkontrollen verantwortlich sein, die ein Unterlaufen der nationalen Stabilitätsbemühungen verhindern sollen (Giavazzi und Giovannini, 1989, S. 179). Zum anderen kann hierin aber auch eine Risikoprämie für Inlandsanlagen zum Ausdruck kommen, die auf die Gefahr der (Wieder-) Einführung oder Verschärfung von Kapitalverkehrskontrollen zurückgeht (Weniger, 1988, S. 121 ff). Dieses zuletzt angeführte Argument scheint gerade während der Krise im Herbst 1992 relevant gewesen zu sein. Nach dem grundsätzlichen Abbau der Kapitalverkehrskontrollen läßt sich nämlich bei allen unter Druck geratenden Ländern ein mehr oder weniger starker Anstieg der nationalen Zinsen über das Niveau der Eurozinsen beobachten. Die hierin wohl zum Ausdruck kommenden Befürchtungen eines erneuten Rückgriffs auf Kapitalverkehrsbeschränkungen haben sich dann letztlich für Irland und Spanien auch bestätigt.

7

Vgl hierzu etwa Smeets (1989); Weber (1990) sowie Herz und ROger (1992).

Monetäre Integration: Vom EWS zur Währungsumon

-111-

Ferner bieten selbst die engen Bandbreiten von +/- 2,25 vH einen gewissen Freiraum für geldpolitische Alleingänge - ganz zu schweigen von der erweiterten Bandbreite in Höhe von +/- 6 vH (Svensson, 1992). Dieser Freiraum wurde allerdings bis 1987 nur sehr begrenzt genutzt8. So bewegten sich die Wechselkursausschläge des französischen Franc gegenüber der DM in diesem Zeitraum in etwa 72 vH aller Fälle in einem Bereich von +/- 0,75 vH um die jeweilige Parität. Bei der italienischen Lira fallen etwa 71 vH aller Wechselkursänderungen gegenüber der DM in einen Bereich von +/- 2 vH. In der Folgezeit wurden die Bandbreiten dann allerdings stärker genutzt. So fielen ab Herbst 1987 nur noch etwa 27 vH der Wechselkursbewegungen des französischen Franc in den engen Bereich von +/- 0,75 vH, etwa 53 vH fielen in den Bereich von 0,75 bis 1,50 vH und rund 20 vH in den Bereich von 1,50 bis 2,25 vH. Bei der italienischen Lira fielen noch circa 44 vH der Wechselkursbewegungen in den Bereich von +/- 2 vH, etwa 56 vH hingegen umfaßten nun den Bereich von 2,0 bis 4,0 vH (Domínguez und Kenen, 1992). Faßt man die zuvor angestellten Überlegungen zusammen, so muß man wohl den Schluß ziehen, daß die zweifelsohne während der EWS-Zeit zu verzeichnenden Koordinations- und Stabilitätserfolge bestenfalls indirekt auf das System selbst zurückzuführen sind. So ging der Koordinationsdruck auf die beteiligten Länder von einem zunehmenden Verzicht auf Paritätsänderungen und Kapitalverkehrsbeschränkungen, also von exogenen Faktoren, aus. Gerade die von seinen Anhängern stets betonte 'Flexibilität' des Systems (VOR Ypersele, 1979) erlaubte nämlich (zunächst) Inflationsniveaus, die den nationalen Präferenzen entsprachen. Damit blieb die Entscheidung über die durchschnittliche Inflationsrate der Union den einzelnen Mitgliedsländern überlassen. Daß der Koordinationsdruck zugleich auch einen Stabilitätsdruck auslöste, geht jedoch auf die asymmetrische Wirkungsweise des Systems selbst zurück. Diese Wirkungen waren aber, da sie in erster Linie von intramarginalen Interventionen ausgingen, nicht geplant. Sie kamen vielmehr dadurch zustande, daß man sich gerade nicht an die ursprünglich festgelegten Regeln in Form obligatorischer Interventionen hielt. Faktisch hat die DM über weite Strecken des EWS die Funktion eines 'nominellen Ankers' übernommen. Die Bundesrepublik war somit dasjenige Land, das seine Geldpolitik und damit seine Stabilitätspräferenzen autonom durchsetzen konnte. Diese Funktion basiert jedoch nicht auf administrativen Entscheidungen, sondern wurde der DM von den (Devisen-) Märkten aufgrund ihrer Stabilität zuerkannt. Diese Ankerrolle ist nicht an die DM gebunden, sondern kann von jeder anderen Mitgliedswährung wahrgenommen werden, Diese Entwicklung mag auf die währungspol ¡tischen Beschlüsse von Basel und Nyborg im Herbst 1987 zurückgehen, wo neben einer Neuordnung der Interventionsfinanzierung auch eine stärkere Nutzung der Bandbreite vereinbart wurde.

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Heinz-Dieter Smeets

wenn sie sich aufgrund (nachhaltiger) Stabilitätserfolge in den Augen der Märkte dafür qualifiziert (Ohr, 1990). Im Gefolge der letzten Währungskrise tauchen allerdings grundsätzliche Zweifel an der asymmetrischen Wirkung von Interventionen auf. in. Der weitere Ausbau Die (scheinbaren) Erfolge des EWS haben dazu geführt, daß man nun eine Währungsunion anstrebt, die bis zum Ende dieses Jahrzehnts verwirklicht werden soll. Dabei orientiert man sich gegenwärtig an dem in Übersicht 2 erläuterten Zeitplan. Offiziell betreten hat man den Weg zur Währungsunion am 1. Juli 1990. Die damit begonnene erste Stufe ist zunächst durch einen weitgehenden Abbau von verbliebenen Kapitalverkehrsbeschränkungen gekennzeichnet. In der ersten und zweiten Phase soll darüber hinaus die notwendige Konvergenz zwischen den Mitgliedsstaaten herbeigeführt werden, die es nachfolgend erlaubt, den Wechselkursvorbehalt vollkommen aufzugeben - also die Wechselkurse unverbrüchlich zu fixieren. Ende 1996 soll dann erstmals ein Übertritt in die Endstufe geprüft werden. Diese Prüfung nehmen zunächst die Finanzminister mit qualifizierter Mehrheit vor. Die letztinstanzliche Entscheidung obliegt dann aber dem Europäischen Rat - also den Staats- und Regierungschefs selbst - und damit einer absolut politischen Instanz. Erfüllen zu diesem Zeitpunkt mindestens sieben Länder die Anforderungen, so soll dieser 'harte Kern' frühestens zum 1.1.1997 in die Endstufe eintreten. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, so soll die Endstufe zum 1.1.1999 beginnen - und zwar auch dann, wenn die Zahl der potentiellen Mitgliedsländer unter sieben liegt. Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang auf Artikel 109j Abs. 3 EG-Vertrag verwiesen, in dem es heißt: "... bestimmt [der Rat] den Zeitpunkt für den Beginn der dritten Stufe". Hieraus versucht man die Möglichkeit abzuleiten, den Beginn der dritten Stufe auch über den 1.1.1999 hinaus zu verschieben. Hierbei übersieht man jedoch, daß die Prüfkriterien logisch aufeinander aufbauen. Nur wenn "eine Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllt", bedarf es der Entscheidung darüber, "ob es für die Gemeinschaft zweckmäßig ist, in die dritte Stufe einzutreten". "Sofern dies der Fall ist", und nur dann, bestimmt der Rat "den Zeitpunkt für den Beginn der dritten Stufe." Erfüllt jedoch eine Mehrheit die Voraussetzungen, so kann man sich kaum vorstellen, daß der Beginn der dritten Stufe (lange) aufgeschoben wird. Kommt hingegen keine Mehrheit zustande, dann ist auch kein Zeitpunkt für den Beginn der dritten Stufe zu bestimmen. Sie beginnt dann automatisch zum 1.1.1999 - natürlich nur, soweit sich mindestens zwei Länder qualifizieren. Die Endstufe ist insbesondere gekennzeichnet durch die Errichtung einer Europäischen Zentralbank (EZB).

113 -

Monetäre Integration: Vom EWS zur Wahrungsunion

Übersicht 2:

Der Weg zur Europäischen Währungsunion

1. Stufe • Abbau aller Kapitalverkehrsbeschränkungen • Erstellen von Konvergenzprogrammen • Teilnahme aller EG-Mitgliedsländer am EWS mit Bandbreiten vom maximal ± 2,25 vH

1.7.1990

2. Stufe • Errichtung eines Europäischen Währungsinstituts • Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken

1,1.1994 Prüfung der Konvergenzen twicklung

I

Ende 1996 3. Stufe (Endstufe) • Errichtung einer Europäischen Zentralbank 3a: Unverbrfichlich feste Wechselkurse 3b: Einheitswährung

1.

Festlegung des Zeitpunktes (fruhestens 1.1.1997)

Erstmalige Entscheidung über die Aufnahme jedes einzelnen Landes _Js_

spätestens am 1.1.1999 auch mit weniger als 7 Mitgliedsländern

Konvergenzindikatoren Einen zentralen Punkt bei der Beurteilung des zuvor grob erläuterten Stufenplans bilden die Konvagenzindikatoren, auf deren Grundlage über die Aufnahme eines Landes in die Währungsunion (Endstufe) entschieden werden soll. Die Konvergenzindikatoren sollen eine ähnliche Ausgangssituation bei Eintritt in die Endphase gewährleisten, um bei einer stabilitätsorientierten Geldpoliitk der Europäischen Zentralbank Spannungen im System nach Möglichkeit zu vermeiden (Tietmeyer, 1992, S. 440). Man geht folglich davon aus, daB mit zunehmender Homogenität der Mitgliedsländer die Kosten der Währungsunion sinken. Die Konvergenzindikatoren umfassen gegenwärtig die folgenden vier Kriterien:

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Heinz-Dieter Smeets

- Die Inflationsrate eines Landes darf um maximal 1,5 Prozentpunkte Gber der Rate der - höchstens - drei preisstabilsten Mitgliedsländer liegen. - Der langfristige Zinssatz eines Landes darf um maximal 2 Prozentpunkte über dem Satz der - höchstens - drei Länder mit den niedrigsten langfristigen Zinssätzen liegen. - Ein Land muß erfolgreich am Wechselkursmechanismus des EWS teilgenommen haben; d.h. es dürfen keine 'starken Spannungen' über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren vor der Prüfung bei normaler Bandbreite und insbesondere keine Abwertung des bilateralen Wechselkurses auf eigenen Vorschlag zu verzeichnen gewesen sein. - Es muß Haushaltsdisziplin vorliegen; d.h. die jährliche Neuverschuldung eines Mitgliedslandes soll 3 vH des BIP, der Schuldenstand 60 vH des BIP nicht übersteigen. Die Bedeutung der Inflationsraten wurde eingangs bereits erläutert. Feste Wechselkurse erfordern demnach längerfristig zwar einen Inflationsgleichschritt unter den Mitgliedsländern, der aber mit jedem denkbaren Inflationsniveau vereinbar ist. Und hier ergibt sich auch der erste Anlaß zur Skepsis: Beim Inflationskriterium9 wurde nicht absolute Preisniveaustabilität - also eine Inflationsrate von null vH - als Maßstab gewählt, sondern vielmehr ein relativer Maßstab. Im Vordergrund steht daher die Garantie fester Wechselkurse und nicht das Ziel 'Preisniveaustabilität'. Fordert nun aber deijenige, der - statt dieses relativen Stabilitätsmaßstabs - absolute Preisniveaustabilität will, mehr für Europa, als bisher in Deutschland oder irgendeinem anderen Land Maßstab ist (Lipp, Ramm und Walter, 1992, S. 1)? Ich denke nein! Ziel, also Maßstab der deutschen Geldpolitik war und ist es, absolute Preisniveaustabilität zu erreichen 10 . Daß dieses Ziel auch bei uns nicht durchgängig realisiert werden konnte, steht hingegen auf einem ganz anderen Blatt. Erkennt man in diesem Zusammenhang Schwachpunkte, wie zum Beispiel die politische Einflußnahme im Rahmen des deutschen Einigungsprozesses, so besteht kein Grund, diese auf europäischer Ebene fortzuführen. Daß dieses Ziel absoluter Preisniveaustabilität in den anderen Mitgliedsländern in der Tat nicht als Maßstab dient, offenbart gerade die Risiken, die mit einer solchen Formulierung einhergehen. Hinzu kommt, daß dieser relative Maßstab keineswegs eindeutig ist. Die " . . . Rate der - höchstens - drei preisstabilsten Mitgliedsländer ..." wird durchweg als der durchschnittliche Inflationssatz dieser drei Länder interpretiert. Es verwundert aber kaum, daß zum Beispiel in italienischen Medien auch die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, diese Rate als die schlechteste der drei preisstabilsten Mitgliedsländer auszulegen 9 10

Zu den Definitionsproblemen vgl. Willms (1990, S. 96 ff.). Vgl. hierzu auch die Zieldefinition der BIZ (1990, S. 196 ff.) und die Warnungen vor einer Relativierung.

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(San Paolo, 1992, S. S). Solche Interpretationsdifferenzen ermöglichen eine weitere Aufweichung dieses Kriteriums, und zwar ohne die Geschäftsgrundlage für die Maastricht-Beschlüsse zu verlassen. Kriterium zwei, der langfristige Zinssatz, spiegelt in gewissem Umfang die Inflationserwartungen der Wirtschaftssubjekte wider. Dabei greift man auf die Überlegung zurück, daß sich der nominale Zinssatz zusammensetzt aus dem realen Zinssatz und der erwarteten Inflationsrate. Selbst wenn die aktuellen Inflationsraten übereinstimmen und damit das erste Konvergenzkriterium erfüllt wäre, könnte gleichwohl das Vertrauen in die zukünftige Politik fehlen, was in einer entsprechenden Divergenz der langfristigen Zinsen zum Ausdruck käme. Durch die analoge Formulierung des Referenzwertes ergeben sich hier allerdings ähnliche Interpretationsspielräume wie bei den Inflationsraten, auf die jedoch nicht erneut eingegangen werden soll. Je näher man dem Übertrittszeitpunkt kommt und je glaubwürdiger eine dauerhafte Wechselkursfixierung erscheint, desto eher müßte sich dieses Kriterium allerdings automatisch erfüllen und damit seinen eigenständigen Wert verlieren. Kriterium drei, die erfolgreiche Teilnahme am Wechselkursmechanismus, zielt in erster Linie ab auf einen dauerhaften Konvergenzprozeß. Entscheidend ist dabei, daß nachhaltige Wechselkursstabilität einen erfolgreichen Anpassungsprozeß in der Wirtschaftspolitik eines Mitgliedslandes signalisiert. Ob für eine solche Feststellung allerdings ein Zeitraum von zwei Jahren ausreicht, sei dahingestellt. Zudem bestehen auch hier Umgehungsmöglichkeiten, indem etwa notwendige Wechselkursanpassungen als Aufwertungen der stabileren Mitgliedswährungen deklariert werden. Was sich ansonsten hinter dem Terminus "ohne starke Spannungen" verbirgt, bleibt hingegen weitgehend offen. Nicht geeignet, eine solche Situation zu beschreiben, scheint auf jeden Fall der Abweichungsindikator, da er ein fundamentales Ungleichgewicht gegenüber allen anderen Währungen anzeigt und nicht bilateral orientiert ist. Es kann daher vorkommen, daß eine Währung die bilaterale Bandgrenze gegenüber einer anderen Währung erreicht, ohne daß zugleich auch der Abweichungsindikator ausgelöst wird (Smeets, 1979, S. 173 ff.). Spannungen könnten hingegen an der Interventionstätigkeit von Notenbanken abgelesen werden. Dabei würde sich aber sofort die Frage stellen, ob bereits intramarginale Interventionen - also in gewissem Sinne freiwillige Interventionen vor Erreichung der Bandgrenzen - oder erst obligatorische - also vertraglich notwendige Interventionen 'Spannungen' widerspiegeln. Einen weiteren Indikator für 'Spannungen' könnte auch der Terminkurs darstellen, der nicht an die Bandgrenzen des jeweiligen Kassakurses gebunden ist. Bei Paritätsänderungserwartungen wird der Terminkurs nach oben oder unten aus diesem Band austreten.

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Die Berücksichtigung fiskalischer Konvergenzindikatoren und ihre Ausformulierung in den Maastrichter Verträgen wird besonders kontrovers diskutiert. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund 11 : - Warum soll Haushaltsdisziplin erzwungen werden? - Wie soll Haushaltsdisziplin erzwungen werden? - An welchen Indikatoren kann man Haushaltsdisziplin messen? Argumente für die angestrebte Haushaltsdisziplin setzen gewöhnlich an den Wirkungen fiskalischer Defizite an. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen dem laufenden Finanzierungssaldo (der Stromgröße) und dem Schulden stand (der Bestandsgröße). So können Finanzierungssalden einzelner Mitgliedsländer zu negativen externen Effekten für die Gesamtgemeinschaft führen. Einzelnen Ländern steht nämlich die Möglichkeit offen, sich auf dem gemeinsamen Kapitalmarkt zu verschulden, also auf die Ersparnis der gesamten Union zurückzugreifen. Damit ist zunächst einmal der Zusammenhang zwischen steigender Neuverschuldung und höheren Realzinsen gelockert, weil sich die zusätzliche Kreditnachfrage auf das gesamte Währungsgebiet verteilt. Eine unsolide Haushaltspolitik in einem hinreichend großen Land kann bei stabilitätsorientierter Geldpolitik das Zinsniveau erhöhen. Damit steigen die Kosten der Defizitfinanzierung auch für andere Staaten der Union. Höhere Zinsen verdrängen private Kreditnachfrage, was wiederum negative Auswirkungen auf Investitionen, Wachstum und Beschäftigung in allen Mitgliedsstaat«! hat. Mit dem Schuldenstand gehen demgegenüber primär erwartungsbedingte 'crowdingout'-Effekte einher. Sie haben ihren Ursprung einmal in der zunehmenden Staatsquote und den damit einhergehenden negativen Allokatíonseffekten. Andererseits verbinden die Wirtschaftssubjekte mit zunehmendem Schuldenstand für die Zukunft Finanzierungseffekte entweder in Form höherer Steuern oder steigender Inflation, um den Realwert der Schuld zu senken. Läßt sich nun - zumindest - ein Teil dieser Finanzierungslast auf die anderen Mitgliedsländer abwälzen, so entsteht ein zusätzlicher Anreiz, Staatsdefizite einzugehen. Diese zuvor beschriebenen Wirkungen haben zu der Befürchtung geführt, staatliche Defizite könnten zu politischem Druck entweder auf die Europäische Zentralbank oder aber auf die anderen Mitgliedsländer führen. Direkte Finanzierung oder Milderung des Zinsanstiegs über eine expansive Geldpolitik würde das Ziel der Preisniveaustabilität - und in der Übergangsphase das der festen Wechselkurse - unterlaufen. Eine Solidarhaftung der anderen Mitgliedsländer würde dort wiederum zu negativen externen Effekten etwa in Form von Steuererhöhungen führen. 11

Vgl. hierzu ausführlich die Beiträge von Hamacher und Klein (in diesem Band); Berthold (in diesem Band) sowie Hasse (1992b).

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Gegen diese Befürchtungen wird einmal angeführt, daß mit der Neuverschuldung eines Mitgliedslandes nicht nur negative, sondern auch positive externe Effekte einhergehen. Diese werden in erster Linie in den zusätzlichen Nachfrageeffekten gesehen, die auch den anderen Unionsländern zugute kommen (Lokomotivwirkungen). Doch selbst wenn man davon ausgeht, daß sich die positiven und negativen externen Effekte unionsweit ausgleichen, bleibt die Frage, ob es nicht zu einer differenzierten regionalen Verteilung dieser Effekte kommt, woraus dann gleichwohl die Notwendigkeit einer Beschränkung staatlicher Defizite erwächst. Zum anderen spricht man sich gegen eine Begrenzung der Fiskalpolitik aus, um auf diese Weise asymmetrischen Schocks in einer Währungsunion begegnen zu können. Dieses Argument nimmt an Bedeutung zu, je gewichtiger solche asymmetrischen Schocks sind und je weniger es bei unverbrüchlich festen Wechselkursen und einer einheitlichen Geldpolitik auf europäischer Ebene gelingt, den notwendigen Anpassungsbedarf über flexible Preise und Löhne zu decken. Dieses Argument wird durch die Beobachtung gestützt, dafi existierende Währungsunionen mit föderativer Struktur über eingebaute Finanzausgleichssysteme verfügen (De Grauwe, 1990a). Sala-i-Martin und Sachs (1991) zeigen zudem, daß die Zentralregierung der USA Einzelstaaten in einem beachtlichen Ausmaß vor asymmetrischen regionalen Einkommensschocks schützen kann. Dies geschieht automatisch über ein progressives Steuersystem in Kombination mit antizyklischen intenegionalen Transfers. Damit ist aber keineswegs auch bewiesen, daß diese Einkommenswirkungen zugleich auch einen ursachenadäquaten Abbau der Schocks garantieren. Dies setzt nämlich voraus, daß eine nachfrageorientierte Fiskalpolitik überhaupt geeignet ist, den oben angesprochenen Schocks wirksam entgegenzutreten - sei es nun in Form einer diskretionären Ausgabenpolitik oder über automatische Stabilisatoren. Zweifel bestehen einmal aufgrund der schwerfalligen, fiskalpolitischen Entscheidungsfindung und zum anderen aufgrund der Tatsache, daß es sich bei asymmetrischen Schocks häufig um angebotsseitige Datenänderungen handelt. Ferner ist zu berücksichtigen, daß mit dem Fortschreiten der europäischen Integration etwa in Form des Binnenmarktes die marginalen Importneigungen und damit auch die Sickerverluste einer nachfrageorientierten Fiskalpolitik steigen werden. Die nationale fiskalische Stabilisierung verliert dadurch (weiter) an Effizienz. Akzeptiert man die Notwendigkeit, Budgetdefizite zu begrenzen, dann stellt sich im zweiten Schritt die Frage nach den hierfür zur Verfügung stehenden Mitteln. Eine Möglichkeit, Haushaltsdisziplin zu gewährleisten, stellen die Marktkräfte dar. Diese Disziplinierung erklärt sich zum einen aus einer strengen Budgetrestriktion, mit der die Länder einer Währungsunion konfrontiert werden. Sie ist darin zu erblicken, "daß man Zinsen bezahlen und Schulden tilgen muß mit Geld, das man nicht selbst herstellen

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kann ...." (Wissenschaftlicher Beirat, 1989a, S. 22). Wenn öffentliche Ausgaben eine geringere Rentabilität als die Marktrate «zielen, bedeuten ständig steigende Schulden unter den oben genannten Voraussetzungen für ein Land, daß ein immer größerer Anteil der Steuereinnahmen für den Schuldendienst eingesetzt werden muß. Dies schränkt nicht nur den Ausgabenspielraum beträchtlich ein, sondern führt auch zu einem Mißverhältnis zwischen Steuerbelastung und Angebot von staatlichen Leistungen, was längerfristig ein Abwandern von Produktionsfaktoren zur Folge hat (Wissenschaftlicher Beirat, 1989a). Dieser Mechanismus kann seine Wirkung allerdings nur dann uneingeschränkt entfalten, wenn keine Mobilitätshemmnisse vorliegen. Während man beim Faktor Kapital bereits von einer hohen Mobilität ausgehen kann, ist der Faktor Arbeit trotz des Binnenmarktes wohl eher als immobil einzustufen. Damit bleiben aber auch Zweifel an der Wirksamkeit dieses Disziplinierungsinstruments. Zum anderen schlägt sich eine steigende Verschuldung und eine damit verbundene abnehmende Kreditwürdigkeit eines Landes bei funktionierenden Kapitalmärkten automatisch in Risikozuschlägen bei den Zinsen nieder. Doch auch dieses Disziplinierungsinstrument, das über die Verteuerung der Kreditaufnahme wirkt, greift nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen (Frenkel und Goldstein, 1990): - Es müssen genaue und umfassende Informationen über den Umfang und die Zusammensetzung der Schuld vorliegen. - Die Übernahme der Schulden durch Dritte muß glaubhaft ausgeschlossen sein. Insbesondere die Erfahrungen mit der Schuldenkrise Anfang der achtziger Jahre haben gezeigt, daß die Kapitalmärkte Länderrisiken nicht in jedem Fall adäquat widerspiegeln (Gibson, 1989; Goodhart, 1992b). Dieses Marktversagen mag unter anderem dadurch begründet sein, daß Marktteilnehmer davon ausgegangen sind, daß die entwickelten Länder nicht tatenlos zusehen würden, wie ihr Bankensystem kollabiert. Angesichts der hohen externen Kosten eines solchen Zusammenbruchs bestand wohl die Meinung, daß Regierungen und Zentralbanken als 'lender of last resort' einspringen würden (Gibson, 1989). Im Kontext einer Europäischen Währungsunion stellt sich daher die Frage, ob die EG tatenlos zusehen wird, wenn eines ihrer Mitglieder in eine Schuldenkrise gerät. Oder mit anderen Worten: Ist der in Art. 104b enthaltene Ausschluß einer gemeinsamen Haftung für Schulden einzelner Mitgliedsstaaten ('no bail-out'-Klausel) glaubwürdig? Gehen die Kreditgeber hingegen von einer Solidarhaftung aus, so büßt die Risikoprämie ihre Funktion als Disziplinierungsinstrument ein, weil die Kreditwürdigkeit der Gesamtgemeinschaft die Grundlage des Länderrisikos bildet. Neben der direkten Schuldenübemahme sieht man jedoch häufig in einem indirekten 'bailout' eine weit größere Gefahrenquelle. So könnten hoch verschuldete Länder stei-

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gende Zuweisungen aus dem Struktur- oder Kohäsionsfonds erhalten und auf diese Art und Weise Unterstützung finden, bevor es zu einer offenen Finanzkrise käme (Issing, 1993a, S. 186 f.). Eine solche zu Lasten anderer Mitgliedsländer durchgeführte Sanierung wird mit dem weiteren Ausbau der politischen Union zunehmend wahrscheinlicher, da in einem solchen Rahmen zusätzliche Instrumente des Finanzausgleichs im weitesten Sinne zu erwarten sind. Damit läßt sich die faktische Schuldenübernahme durch Dritte aber kaum noch glaubhaft ausschließen. - Ein Schuldner darf nicht 'too large to fail' sein. Eine weitere Integration der europäischen Kapitalmärkte bedeutet auch, dafl sich die Zusammensetzung der Portfolios von Banken und privaten Investoren weiter diversifizieren ('europäisieren') wird. Das heißt, Zahlungseinstellungen eines Mitgliedsstaates führen in zunehmendem Maße zu Vermögensverlusten bei Wirtschaftssubjekten in anderen Mitgliedsstaaten. Ferner können wegen der engen Verbindung der Banken Kettenreaktionen ausgelöst werden. Angesichts solcher Kosten kann ein hoch verschuldetes Land geneigt sein, die Androhung seiner Zahlungsunfähigkeit als Instrument einzusetzen, um eine monetäre Finanzierung seiner Schulden oder Transferzahlungen zu erzwingen (Begg et al., 1991). - Es darf keine Finanzierung der Schuld durch die Zentralbank erfolgen. Artikel 104 und 104a des Maastrichter Vertrages verbieten eine Kreditaufnahme von Mitgliedsstaaten bei der Europäischen Zentralbank (EZB). Damit ist eine direkte Alimentierung von Haushaltsdefiziten durch die EZB ausgeschlossen. Die Verpflichtung der EZB zur Preisniveaustabilität (Art. 105 EGV) zusammen mit der Unabhängigkeit der EZB (Art. 107 EGV) sollen ferner verhindern, daß Haushaltsdefizite indirekt durch eine expansive Geldpolitik akkommodiert weiden. Diese indirekte Finanzierungsmöglichkeit ließe sich noch strikter beschneiden, indem der EZB jeglicher Erwerb staatlich» Schuldtitel verboten würde. Die zuvor erläuterte Voraussetzung stellt eine notwendige Bedingung dar, um während des Übergangs zur Währungsunion feste Wechselkurse und in der Endphase selbst Preisniveaustabilität zu gewährleisten. Zu diesem Ergebnis gelangt auch de Graut» (1990b) aufgrund eines empirischen Vergleichs der fiskalischen Aktivitäten in Frankreich, Belgien und den Niederlanden während der achtziger Jahre. Er weist ferner darauf hin, daß von der Art der Fiskalpolitik möglicherweise Erwartungseffekte ausgehen können. Er führt diese Effekte zurück auf Veränderungen der Leistungsbilanz, die während der von ihm betrachteten Zeitperiode bei diskretionären Nachfrageeffekten stärker ausfielen als bei automatischer Stabilisierung über das Steuersystem und Transfers. Wahrscheinlicher ist allerdings, daß auch die Leistungsbilanzreaktion und damit die Glaubwürdigkeit in die Stabilität der Wechselkurse von

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der Finanzierungsart abhängen. Die von de Grauwe angeführten Beispiele Belgien und Niederlande machen darüber hinaus deutlich, daß trotz stabilitätsorientierter Geldpolitik und fester Wechselkurse im Verhältnis zur DM der Schuldenstand dieser Länder ständig anstieg und mittlerweile ein beträchtliches Ausmaß erreicht hat. Damit läßt sich zwar über die Finanzierungsart der Defizite Pieisniveaustabilität gewährleisten. Nicht ausgeschlossen wird aber das-Problem einer späteren Solidarhaftung und die damit einhergehenden negativen externen Effekte für die anderen Mitgliedsländer. Gelingt es den zuvor erläuterten Marktmechanismen aufgrund der Rahmenbedingungen nicht, einen hinreichenden Druck auszuüben, so muß man die fiskalischen Aktivitäten zusätzlich - wie im Maastrichter Vertrag geschehen - über verbindliche Richtlinien begrenzen. "Übermäßige öffentliche Defizite" bestehen gemäß Art. 104c dann, wenn das Verhältnis des geplanten oder tatsächlichen öffentlichen Defizits zum Bruttoinlandsprodukt den Referenzwert von 3 vH und/oder das Verhältnis des öffentlichen Schuldenstands zum Bruttoinlandsprodukt 60 vH überschreitet. Von den Referenzwerten wird als Kriterium abgesehen, wenn die Defizite "erheblich" und "laufend" zurückgegangen sind, der Referenzwert nur "ausnahmsweise" überschritten wurde oder die Schuldenstände "hinreichend rückläufig" sind. Werden die Kriterien gleichwohl nicht vollständig erfüllt, erstellt die Kommission einen Bericht, der die Wirtschafts- und Haushaltslage des betreffenden Landes noch einmal gründlich analysiert. Besondere Berücksichtigung soll hierbei das Verhältnis des öffentlichen Defizits zu den öffentlichen Investitionen finden. Diese Bestimmungen verleihen dem Regelwerk eine erhebliche Flexibilität, um möglichst allen vorher genannten Argumenten gerecht zu werden. Die oben beschriebenen Referenzwerte stoßen allerdings überwiegend auf Ablehnung (Frenkel und Klein, 1991a; Gackle, 1992; Goodhart, 1992b; Utzig, 1991). Es wird argumentiert, sie seien willkürlich und damit fragwürdig, weil den Obergrenzen eine theoretische Fundierung fehle. Grundlage waren wohl Überlegungen heuristischer Art, also eine Orientierung an den existierenden Haushaltsdefiziten bzw. Schuldenständen der Mitgliedsstaaten. Es fällt auf, daß die Obergrenzen ungefähr dem EG-Durchschnitt entsprechen. Gegen die Berücksichtigung der Schuldenstände wird femer eingewandt, daß sich hierin Vergangenheitsentscheidungen und nicht die aktuellen fiskalpolitischen Maßnahmen widerspiegeln. In engem Zusammenhang damit steht auch der Vorschlag, statt des Finanzierungsdefizits das Primärdefizit als Indikator zu verwenden. Bei dieser Größe sind die Zinszahlungen für bestehende Schulden ausgenommen, so daß Konsolidierungsanstrengungen in Form von Ausgabenkürzungen bzw. Steuererhöhungen deutlicher sichtbar würden (Goodhart, 1992b).

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Verbindliche Regeln - wie immer sie konkret aussehen - machen aber nur dann einen Sinn, wenn bei Nichteinhaltung angemessene Sanktionen verhängt werden können. Diese Sanktionen müssen - neben und/oder mit den Marktkräften - Anreiz genug bieten, um das "übermäßige Defizit" abzubauen. Während die Höhe möglicher Strafen angemessen erscheint, hält man das Verfahren selbst eher für ineffizient. Insbesondere die Zeitverzögerung, mit der die Sanktionen wirksam werden, ist Gegenstand der Kritik. Verantwortlich hierfür sind vor allem Informationsasymmetrien über die jeweilige Haushaltssituation. Staaten haben die Möglichkeit, die Regeln zu umgehen, indem ein Teil der Schulden auf Schattenhaushalte oder staatliche Agenturen übertragen wird (Begg et al., 1991). Femer bedarf die Feststellung, ob Defizite "erheblich" und "laufend" zurückgehen oder nur "vorübergehend" sind bzw. ob die Schuldenstände "hinreichend rückläufig" sind, eines mehljährigen Beobachtungszeitraums. Letztlich entscheidet der Rat auf Empfehlung der Kommission, ob ein übermäßiges Defizit besteht. Diese Abstimmung dürfte allerdings von strategischem Verhalten gekennzeichnet sein, bei dem Allianzen zwischen Ländern mit unsoliden Haushaltspolitiken die Feststellung eines übermäßigen Defizits verhindern könnten (Utzig, 1991). Faßt man die zuvor angestellten Überlegungen zusammen, so scheint zunächst eine grundsätzliche Beschränkung der Budgetdefizite sinnvoll. Ob die Marktkräfte diese Aufgabe allein erfüllen können oder ob es zusätzlicher (administrativer) Regeln bedarf, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Für Wechselkurs- und Preisniveaustabilität ist dies so lange unerheblich, wie die Unabhängigkeit der EZB und deren Verpflichtung auf Preisniveaustabilität glaubhaft garantiert werden kann. Darüber hinaus schließt der Vertrag zwar ein direktes 'bail-out' aus, nicht jedoch indirekte Formen der Solidarhaftung. Diese Lücke könnte das Wirken der Marktkräfte über differenzierende Zinssätze behindern oder gar unterbinden. Die im Vertrag von Maastricht festgelegten fiskalischen Konvergenzkriterien ließen sich daher als zusätzlicher Vertrauensschutz für die Nicht-Monetisierung und den Ausschluß jeglicher Solidarhaftung interpretieren. Die großzügige Formulierung dieser Kriterien kann aber auch ins Gegenteil umschlagen (Bern, 1992, S. 47). Hinzu kommt, daß eine solch weiche Formulierung die Hoffnung nähren könnte, auch die anderen Eintrittskriterien würden nicht ernsthaft geprüft. Betrachtet man die vier, ausdrücklich im Vertrag erwähnten, Konvergenzindikatoren: aktuelle Inflationsiate, langfristiger Zins, Finanzierungsdefizit und staatlicher Schuldenstand sowie erfolgreiche Teilnahme am Wechselkursmechanismus, so erfüllt gegenwärtig (April 1993) bei strenger Auslegung lediglich Luxemburg alle Kriterien. Die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Dänemark haben realistische Chancen, selbst die strengen budgetpolitischen Anforderungen bis spätestens 1999 ebenfalls zu erfüllen und damit allen Anforderungen zu genügen. In Italien, Bei-

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gien, Griechenland und Irland bedürfte es jedoch in den nächsten Jahren eines BudgetÜberschusses von zum Teil mehr als 1 vH des Bruttosozialprodukts, um auch nur bis 1999 die strengen Budgetanforderungen erfüllen zu können. 2.

Der Verzicht auf das Wechselkursinstrument Die im Vertrag von Maastricht enthaltenen Konvergenzkriterien mögen notwendige Voraussetzungen für eine Währungsunion darstellen, hinreichend sind sie aber auf keinen Fall. Wie Übersicht 3 verdeutlicht12, ist der Verlust des Wechselkursinstruments am ehesten dann zu verschmerzen, wenn symmetrische Schocks in einer Währungsunion dominieren. Kommt es hingegen zu asymmetrischen Schocks, so muß der hierdurch hervorgerufene länderspezifische Anpassungsbedarf primär über Faktoranpassungen und/oder Finanzierungsmaßnahmen abgebaut werden. Bevor wir jedoch auf die Wirksamkeit und die Probleme dieser Anpassungskanäle eingehen, sollen zunächst die Schocks selbst untersucht werden. Schocks werden gewöhnlich als die nicht vorhergesehene Entwicklung einer Variablen definiert. Ökonometrisch gesprochen handelt es sich dabei um die Residuen einer Schätzgleichung. Da diese Residuen jedoch modellabhängig variieren, greift man gewöhnlich auf die ursprünglichen Datenreihen zurück. Aufgrund mangelnder Vergleichbarkeit der Datenänderungen (Schocks) selbst beurteilt man sie in aller Regel nach ihren Wirkungen auf makroökonomische Aggregate wie zum Beispiel die Geldmenge oder das BSP. Eine in der Literatur häufig anzutreffende Methode, auf der Basis solcher Datenreihen symmetrische und asymmetrische Schocks zu separieren, stellt die sogenannte AOKI-Faktorisierung dar (Cohen und Wyplosz, 1989). Sie setzt letzlich positive Korrelationskoeffizienten zwischen Variablen zweier Länder mit symmetrischen Schocks gleich, negative Koeffizienten mit asymmetrischen Schocks (EG-Kommission, 1990, S. 158). Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob das Vorzeichen der Korrelationskoeffizienten allein einen aussagefähigen Indikator bereitstellt. Ein vollkommener Gleichlauf der Variablen liegt nämlich schon dann nicht mehr vor, wenn der Koeffizient unter +1 sinkt. Bei einem Wert von null besteht keine Beziehung mehr zwischen den Variablen, bei negativen Vorzeichen eine entgegengesetzte Entwicklung, die bei -1 erneut die engste Beziehung aufweist. Aus diesem Grunde sollte man nur dann von Symmetrie sprechen, wenn die Korrelationskoeffizienten in der Nähe von +1 liegen. Eine exakte Trennungslinie zur Asymmetrie läßt sich dabei allerdings nicht ziehen. Gründe für das Entstehen asymmetrischer Schocks im EWS leitet man insbesondere aus folgenden Überlegungen ab: 12

In Anlehnung an EG-Kommission (1990, S. 153).

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- Einheitliche Schocks richten sich nur auf einen spezifischen Sektor der Union. Da die Mitgliedsländer des EWS immer noch erhebliche strukturelle Unterschiede aufweisen, werden sie asymmetrisch von solchen Datenänderungen getroffen, die sich dann zum Beispiel in unterschiedlichen Wachstumsraten des Bruttosozialproduktes niederschlagen. Eine solche Entwicklung erwartet man in erster Linie, wenn zwischen den Ländern inter-industrieller Handel dominiert. Mit zunehmendem intra-industriellen Handel hingegen rechnet man mit einer stärkeren symmetrischen Entwicklung. Dabei wird allerdings übersehen, daß die Indices der Handelsverflechtungen keinerlei Rückschlüsse auf die sektorale Struktur einer Volkswirtschaft zulassen. - Die einzelnen Mitgliedsländer reagieren unterschiedlich auf eine einheitliche Geldpolitik. Eine einheitliche Geldpolitik durch die EZB wirkt in jedem Fall zunächst auf alle Länder in gleicher Weise. Dies schließt zwar die Geldpolitik selbst als Instrument zur Bekämpfung asymmetrischer Schocks aus, nicht aber die Möglichkeit, daß die Mitgliedsländer monetäre Schocks unterschiedlich verarbeiten und damit länderspezifische Wirkungen auftreten. - Die Mitgliedsländer befinden sich in unterschiedlichen Ausgangssituationen. - Ein unterschiedliches Lohnverhalten der Mitgliedsländer kann angesichts gleichartiger Schocks die Ursache asymmetrischer Effekte insbesondere hinsichtlich der Inflationsentwicklung und der Arbeitslosigkeit bilden. Untersuchungen zeigen, daß die Reallohnstarrheit in den Mitgliedsländern im Verhältnis etwa zu den USA und Japan stärker ausgeprägt ist und zudem erhebliche Divergenzen aufweist (EG-Kommission, 1990, S. 161 f.). - Die Mitgliedsländer reagieren unterschiedlich auf Veränderungen des Dollar-Kurses. Bei diesem Argument stellt man insbesondere auf die Rolle der DM als Reservewährung und die damit verbundene 'Konkurrenzsituation' zum US-$ ab, die sich bei Kursänderungen in entsprechenden Portfolioumschichtungen niederschlagen. Ein 'schwacher' US-$ wird daher häufig mit einer 'starken' DM gleichgesetzt, wodurch wiederum Spannungen im EWS ausgelöst werden können. - Die deutsch-deutsche Vereinigung wird auf längere Sicht einseitige Anpassungslasten für die Bundesrepublik Deutschland begründen. - Die Integration mittel- und osteuropäischer Staaten in das westliche Handelssystem trifft die Mitgliedsländer des EWS in unterschiedlicher Weise und Stärke.

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Übersicht 3:

Schocks I Schocks

global oder sektorspezifisch

asymmetrische Schocks (realer WechselkursAnderungsbedarf)

I

I

Anpassung des nominellen Wechselkurses*

3

Makroökonomische Stabilität durch nationale Geldpolitik

symmetrische Schocks (kein realer Wechselkurs-Änderungsbedarf)

Faktoranpassung

Kosten(Lohn-) Flexibilität

* Dieser Anpassungskanal steht bei festen Wechselkursen nicht langer zur Verfügung.

Makroökonomische Stabilität durch (einheitliche) Geldpolitik

Finanzierung

/\

Mobilität

Private Kapitalbewegungen

öffentliche

nationale Staatshaushalte (Fiskalpolitik) I

I

l

L

Zentrale Transfers

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Übersicht 4:

Koi\junkturzusammenhang im EWS DEU

DEU FRA ITA NL BEL UK DEN

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FRA 0,27 0,16

DEN

NL

0,65 -0,01

0,70 0,62

0,53 0,47

0,30 -0,33

0,36 0,00

0,51 0,79

0,14 0,53

0,49 0,59

0,50 0,61

-0,01 -0,25

0,25 0,08

0,62 0,49

0,38 0,85

0,12 -0,15

0,47 0,96

0,31 -0,09

0,35 -0,07

0,43 0,79

0,31 0,54

-

-

-

BEL

UK

ITA

-

0,29 -0,06 -

79:1 -91:4 87:1 - 9 1 : 4 Die Berechnungen basieren auf vierteljährlichen Daten des realen BSP, die den EUROSTAT entnommen wurden. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die konjunkturelle Entwicklung13 in einigen ausgewählten Mitgliedsländern des EWS, so zeigen die in Übersicht 4 zusammengestellten Korrelationskoeffizienten ein sehr differenziertes Bild. Dabei fallt insbesondere die asymmetrische Beziehung zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland auf, die sich in den letzten Jahren noch verstärkt hat. Möglicherweise ist hier der Grund dafür zu suchen, daß gerade von französischer Seite die dominante Stellung der DM im EWS am schärfsten kritisiert wurde, da eine zunehmend von außen vorgegebene Geldpolitik kaum auf nationale Erfordernisse Rücksicht nehmen konnte. Auch wenn diese globale Betrachtung keinen Aufschluß darüber gibt, durch welche Effekte eventuell nachgewiesene Asymmetrien hervorgerufen wurden, so vermag sie doch gewisse Hinweise auf mögliche Anpassungserfordemisse zu geben. Da ein länderspezifischer Anpassungsbedarf auch in Zukunft keineswegs ausgeschlossen werden kann, stellt sich abschließend die Frage nach der Wirksamkeit der in einer Währungsunion verbleibenden Anpassungskanäle. 13

Konjunktur wird hier als relative Abweichungen des Bruttosozialproduktes von einem variablen Trend interpretiert. Die Aufgliederung in den Trend und die zyklische Entwicklung geschieht auf der Basis eines von Hodrick und Prescott vorgeschlagenen Verfahrens. Zu Einzelheiten vgl. Smeets (1992).

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Mundell (1961) stellte bei seinen Überlegungen zu optimalen Währungsräumen den Anpassungskanal 'Flexibilität des Faktors Arbeit' in den Mittelpunkt, mit dessen Hilfe asymmetrische Schocks (Präferenzverlagerungen) überwunden werden können. Bei festen Wechselkursen und (gemeinsamer) stabilitätsorientierter Geldpolitik läßt sich nämlich nur dann Vollbeschäftigung realisieren, wenn sich die Entwicklung der Nominallöhne - und hierzu gehören auch die Lohnnebenkosten etwa in Form von Sozialleistungen - am Differential der Arbeitsproduktivitäten orientiert. Kommt es hingegen zu einer Angleichung der Nominallohnentwicklung ohne Rücksicht auf noch bestehende Produktivitätsdifferenzen, wie dies etwa in den neuen Bundesländern teilweise zu beobachten ist, dann läßt sich die Anpassung unter den oben genannten Bedingungen nur noch über die Verminderung der nachgefragten Arbeitsmenge vollziehen. Für die Beschäftigungssituation in der Union ist dieses Ergebnis aber nur dann von Nachteil, wenn der Faktor Arbeit nicht hinreichend mobil ist, um in Gebiete mit erhöhter Arbeitsnachfrage zu wandern. Diese Wanderung bewirkt, daß ein neues Gleichgewicht zu den ursprünglichen Preisen und Löhnen erreicht wird. Obwohl mit der Vollendung des Binnenmarktes ein gemeinsamer europäischer Aibeitsmarkt entsteht, werden auf absehbare Zeit insbesondere Sprachbarrieren und kulturelle Barrieren insgesamt eine nur mäßige Mobilität des Faktors Arbeit zulassen. Unklar ist hingegen, ob die fortschreitende Integration der europäischen Güter- und Faktormärkte die Preis- und Lohnflexibilität nachhaltig erhöhen wird (Vinals, 1990). Im allgemeinen geht man jedoch auch für die Zukunft von einer nur unzureichenden kurz- bis mittelfristigen Anpassung der Preise aus (Wyplosz, 1991). Da eine nachfrageorientierte Fiskalpolitik kaum eine ursachenadäquate Bekämpfung solcher Schocks zu leisten vermag, bleiben als einziger Ausweg Transferzahlungen auf nationaler oder Gemeinschafts-Ebene. Zentrale Transfers - etwa aus einem Kohäsionsfonds - bedeuten aber, zusätzliche finanzielle Verpflichtungen zu übernehmen und die ökonomischen Beziehungen auf den Kopf zu stellen! Erscheinen diese Finanzierungspflichten - auch vor dem Hintergrund der angestrebten Haushaltskonsolidierung - nicht tragbar, so bliebe nur eine inflationistische europäische Vollbeschäftigungspolitik, um die unvermeidlich als Folge einer solchen Lohnpolitik auftretende Arbeitslosigkeit zu verhindern. Diese Entwicklung würde noch gefördert, wenn man - wie vorgeschlagen Transferzahlungen an die Zahl der Arbeitslosen bindet. Hierdurch wird lohnpolitisches Fehlverhalten geradezu herausgefordert. Neben der Auswahl und der teilweise unscharfen Formulierung der Konvergenzindikatoren, birgt der vorgegebene Zeitplan möglicherweise weitere Risiken in sich. Vor dem Hintergrund der zuvor angestellten Überlegungen kann man nur hoffen, daß über eine laxe Auslegung der Konvergenzkriterien nicht versucht wird, möglichst frühzeitig

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und mit möglichst vielen Ländern in die Endstufe einzutreten. Man sollte vielmehr eine Begrenzung des Teilnehmerkreises auf diejenigen Länder anstreben, die ökonomisch zur Teilnahme an einem einheitlichen Währungsraum in der Lage sind und den Kreis nachfolgend in dem MaBe erweitern, wie sich das Unternehmen bewährt und wie sich weitere Länder qualifizieren. Es gilt, die erstmals offiziell in einem Vertrag enthaltene Möglichkeit eines Europa der mehreren Geschwindigkeiten auch zu nutzen (Tietmeyer, 1992, S. 440). Vielleicht ist hierin sogar der größte Gewinn des Maastrichter Vertrages über eine Europäische Währungsunion zu sehen. In diesem Zusammenhang sei auch darauf verwiesen, daß es sich bei den im Protokoll zu Artikel 109j des EGV aufgeführten und zuvor diskutierten Konvergenzkriterien keineswegs um die endgültige Formulierung handeln muß. Artikel 6 dieses Protokolls besagt nämlich, daß der Rat "auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des EWI bzw. der EZB sowie des in Artikel 109c genannten Ausschusses einstimmig geeignete Vorschriften zur Festlegeung der Einzelheiten der in Artikel 109j dieses Vertrages genannten Konvergenzkriterien [erläßt], die dann an die Stelle dieses Protokolls treten." Auf diesem Wege wäre es durchaus möglich, die jetzigen Konvergenzkriterien (weiter) aufzuweichen. 3.

Das Europäische Währungsinstitut Zu Beginn der zweiten Stufe wird das Europäische Währungsinstitut (EWI) gemäß Artikel 109f errichtet und nachfolgend seine Arbeit aufnehmen. Entgegen den vagen Formulierungen im Deton-Report wurde nun allerdings die Rolle des EWI klarer formuliert: Sie besteht hauptsächlich darin, die Funktionsweise des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) mit der EZB an der Spitze in der dritten Stufe zu planen (Artikel 109f Abs. 3 EGV). Hierzu gehören insbesondere die Ausgestaltung der Geldpolitik etwa in Form von Offenmarktoperationen und Mindestreservevorschriften sowie Fragen der Bankenregulierung durch die EZB (Goodhart, 1992a, S. 12 ff.). Darüber hinaus hat das EWI in erster Linie eine beratende und überwachende Funktion, deren Bedeutung allerdings nicht unterschätzt werden sollte. Tritt das EWI nämlich mit wirtschaftspolitischen Empfehlungen - zum Beispiel hinsichtlich der deutschen Geldpolitik an die Öffentlichkeit, so wird diesen Äußerungen ein weit höheres Gewicht zukommen, als den altbekannten Klagen einzelner Mitgliedsländer des EWS. Da Artikel 109f Absatz 5 EGV eher eine Grundsatzentscheidung hinsichtlich der Veröffentlichung von Stellungnahmen und Empfehlungen zu beinhalten scheint, eröffnet auch das Einstimmigkeitserfordernis - wenn man sich einmal für die Veröffentlichung entschieden hat kaum einen Ausweg aus diesem öffentlichen Druck. Im Protokoll über die Satzung des EWI ist ferner im Artikel 6 (6.2) niedergelegt, daß das EWI von nationalen Zentralban-

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ken Währungsreserven entgegennehmen kann. Damit ist aber zugleich eine frühzeitige, zwangsweise Vergemeinschaftung der Währungsreserven ausgeschlossen14, die nichts anderes dargestellt hätte als ein monetäres 'bail-out', das wenig stabilitätsförderlich gewesen wäre. Gleiches gilt für die immer wieder geforderten zusätzlichen Interventionskredite. Das EWI soll femer die Verwendung der ECU erleichtern (Artikel 109f, Abs. 2 EGV). Diese Aufgabe ist so lange unbedenklich, wie man nicht versucht, sie durch marktinkonforme Maßnahmen zu realisieren. Damit wäre dann der letzte, stärker institutionelle Gesichtspunkt in diesem Zusammenhang anzusprechen. Das EWI wird von einem Präsidenten und den nationalen Zentralbankpräsidenten geleitet und verwaltet. So lange sich aber nicht alle Mitgliedsländer dazu entschließen können, ihre nationalen Zentralbanken in die Unabhängigkeit zu entlassen, verbleibt das EWI (bewußt) in politischer Abhängigkeit. Das hiermit verbundene Glaubwürdigkeitsproblem könnte gegebenenfalls durch einen alternativen institutionellen Rahmen aufgefangen werden (Hasse, 1993; analog Willms, 1990, S. 94 ff.). Hasse (1993, S. 3 ff.) schlägt hierzu vor, ein "Direktorium Europäischer Zentralbankräte" zu gründen. IV. Die institutionelle Ausgestaltung der Endstufe Nach Prüfung der entsprechenden Kriterien will man dann spätestens 1999 - in welchem Kreise auch immer - in die Endstufe eintreten. In deren Mittelpunkt steht die Errichtung einer Europäischen Zentralbank, die allein für die Geldpolitik in Europa verantwortlich sein wird. Damit rückt aber auch die institutionelle Ausgestaltung dieser EZB in den Mittelpunkt der Betrachtung (Weifens, 1991, S 41 ff.). Zahlreiche Studien haben gezeigt, daß es durchaus Gründe dafür geben kann, daß einzelne Regierungen dem Ziel der Preisniveaustabilität temporär oder sogar fortdauernd nicht die entsprechende Priorität einräumen (Hesse, 1991, S. 8 ff.; Berthold, 1992, S. 178 ff.). Steuerwirkung, Verminderung des Realwertes der Staatsschuld und eine auf kurzfristige Phil/i/u-Kurven-Überlegungen basierende Beschäftigungspolitik haben ihren vordergründigen Reiz wohl nicht verloren. Daraus folgt für die Ordnungspolitik, die Verantwortung für die Preisniveaustabilität einer anderen Institution, der Notenbank, anzuvertrauen und die Zielrealisierung verläßlich abzusichern. Die Problematik einer EZB beginnt bereits bei der Vorgabe eines eindeutigen Ziels. Dazu heißt es in den Maastrichter Beschlüssen: "Das vorrangige Ziel des ESZB ist es, die Preisstabilität aufrecht zu erhalten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisniveaustabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik 14

Der Delors-Report sah in diesem Zusammenhang einen Reservefonds vor, dessen Kompetenzen allerdings unklar blieben. Vgl. hierzu Kloten (1989).

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in der Gemeinschaft ... Diese Formulierung orientiert sich weitgehend an den entsprechenden Bestimmungen im Gesetz über die Deutsche Bundesbank - sie ist zum Teil sogar präziser und enger gefaßt. Eine eindeutige Zielvorgabe ist nicht zuletzt deshalb notwendig, um eine zeitinkonsistente Geldpolitik der EZB auszuschließen. Gleichwohl kann von einem allgemeinen Stabilitätskonsens auf der politischen Ebene bisher keinesfalls die Rede sein. An dieser Einschätzung ändert auch der gegenwärtige relative Stabilitätserfolg einiger EWS-Länder wenig. Wie sonst sollte man den Beschluß interpretieren, daß die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken erst bis zum Ende der zweiten Phase und nicht bereits bei deren Beginn 1994 verwirklicht sein muß. Diese Entscheidung legt vielmehr die Befürchtung nahe, daß man sich von politischer Seite so lange den Einfluß auf die jeweilige nationale Geldpolitik erhalten möchte, bis man in der dritten Stufe - quasi als Ersatz - Einfluß auf die gemeinsame Geldpolitik der Europäischen Zentralbank auszuüben vermag. Dieser Eindruck wird noch durch die unterschiedlichen Pläne im Vorfeld der Maastrichter Beschlüsse gestützt. Dabei waren es insbesondere Frankreich, Italien und die Kommission, die eine möglichst schnelle Verwirklichung der Währungsunion ohne große Vorbedingungen forderten. Diese Haltung spiegelt wohl den Versuch wider, die Geldpolitik der Deutschen Bundesbank zu unterlaufen und auf diese Weise lästige Disziplinierungszwänge des bestehenden EWS abzustreifen. Scheinbar haben die Politiker trotz aller Erfahrungen in der Vergangenheit auch weiterhin Interesse an der Inflation. Der für eine effektive Stabilitätspolitik notwendige Konsens von Geld-, Finanz- und Lohnpolitik läßt sich zwar nicht in einem nationalen oder internationalen Vertrag festschreiben (Lipp, Ramm und Walter, 1992). Mit Hilfe entsprechender institutioneller Regelungen kann man jedoch verhindern, daß ein Konflikt stets zu Lasten der Geldpolitik und damit der Preisniveaustabilität ausgeht. Damit stellt sich dann aber das Problem der Ziel-Realisierung selbst15. Hierzu müssen der EZB auf der einen Seite die technischen Möglichkeiten bereitgestellt werden, auf der anderen Seite gilt es aber auch, die Bereitschaft zur Ziel-Realisierung zu gewährleisten. Die Fähigkeit der Zielrealisierung wird gewöhnlich mit funktioneller Unabhängigkeit umschrieben. Wenn man davon ausgeht, daß Inflation stets ein monetäres Phänomen ist, dann setzt dies insbesondere voraus, daß die Geldpolitik der EZB nicht von dritter Seite unterlaufen werden kann. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Wechselkurspolitik und die Fiskalpolitik. Während nämlich die Geldpolitik auf die EZB übertragen wird, soll die Wechselkurspolitik gemäß Artikel 3a EGV weiterhin in der Hand des Ministerrats bleiben. Das Vorrecht, das Wechselkurs15

Im Mittelpunkt dieser Diskussion steht die Unabhängigkeit der EZB. Vgl. hierzu etwa Kösters (1991); Burdekin, Wihlborg und Willett (1992) und Issing (1993b).

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system gegenüber Drittländern und damit insbesondere gegenüber den USA und Japan zu bestimmen, mag zumindest gegenwärtig von nachrangiger Bedeutung sein, da man sich ein Fixkurssystem zwischen diesen drei Blöcken im Moment kaum vorstellen kann. Aber das Recht, mit qualifiziert» Mehrheit allgemeine Orientierungen für die Wechselkurspolitik (Zielzonen) vorzugeben, denen die Zentralbank dann mit ihrer Interventionspolitik nachkommen muß, bedeutet, daB die Zentralbank ihre Herrschaft über die internationale Komponente der Geldversorgung verliert 16 . Diese Politik ermöglicht es, die Geldpolitik konjunkturpolitischen Zwecken unterzuordnen und die Unabhängigkeit der EZB massiv zu unterlaufen (Goodhart, 1992a, S. 26). Eine zweite grundsätzliche Gefahrenquelle bildet die Möglichkeit nationaler Regierungen und EG-Instanzen, Budgetdefizite unmittelbar durch Kredite bei der EZB decken zu können. Da eine solche direkte Alimentierung fiskalischer Defizite in den Artikeln 104 und 104a des Vertragswerks jedoch ausdrücklich ausgeschlossen wurde, wird die fiskalische Komponente der Geldversorgung ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland auch im europäischen Kontext keine bedeutende Rolle spielen. Die Bereitschaft, das vorgegebene Ziel zu realisieren, wird im Gegensatz zu den vorherigen Überlegungen gewöhnlich mit Hilfe der personellen Unabhängigkeit umzusetzen versucht. Hierbei geht es in erster Linie darum, die Entscheidungsträger von politischer Einflußnahme freizuhalten. In diesem Zusammenhang kommt es insbesondere auf den Wahlmodus und die Amtszeit, für die Entscheidungsträger sowie auf die Regelung des Stimmrechts an. Dabei besteht allerdings keineswegs Einigkeit darüber, ob eine möglichst lange oder eher eine kurze Amtszeit gegebenenfalls mit der Möglichkeit zur Wiederwahl, die Unabhängigkeit erhöht. Auch der Wahlmodus und die Verteilung der Stimmrechte werden kontrovers diskutiert (Willms, 1990; Loef, 1990; Woll 1989). Vor diesem Hintergrund sind auch die in Maastricht getroffenen Regelungen zu sehen: Danach sollen dem Rat der EZB bis zu sechs Mitglieder des Direktoriums der EZB und zwölf - von den jeweiligen Regierungen zu bestellende - Gouverneure der nationalen Zentralbanken angehören. Diese Personal sind ausdrücklich weisungsungebunden. Die Mitglieder des Direktoriums sollen dabei einmalige Verträge für die Dauer von acht Jahren erhalten. Die Amtszeit der nationalen Gouverneure beträgt mindestens fünf Jahre, wobei eine vorzeitige Abberufung ausgeschlossen ist. Damit läßt sich aber politische Einflußnahme kaum wirksam ausschließen (Neumann, 1992). Personelle Unabhängigkeit stellt aber nur dann eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Sicherung der Geldwertstabilität dar, wenn unabhängige Zentralbanker ausschließlich im Interesse des Gemeinwohls handelten. Hieran hatte aber schon 16

Hasse (1992a, S. 8 ff.) weist in diesem Zusammenhang auch auf die Bedeutung von Kapitalverkehrskontrollen im Rahmen der Ausweichklausel des Artikels 73 f EGV hin.

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Walter Eucken (1990, S. 257) Zweifel: "....die Erfahrung zeigt, daß eine Währungsverfassung, die den Leitern der Geldpolitik freie Hand läßt, diesen mehr zutraut als ihnen im allgemeinen zugetraut werden kann. Unkenntnis, Schwäche gegenüber Interessengruppen und der öffentlichen Meinung, falsche Theorien, alles das beeinflußt diese Leiter sehr zum Schaden der ihnen anvertrauten Aufgabe". Will man sich hingegen nicht auf solche Regelungen verlassen, besteht statt dessen die Möglichkeit, die Geldpolitik einer Regelbindung zu unterwerfen. Damit wären den Entscheidungsträgern - weitgehend - die Hände gebunden, und man könnte sich auf die Verfolgung des vorgegebenen Ziels verlassen. Doch auch diese Stringenz besteht nur auf den ersten Blick. So lange nämlich die geldpolitsche Regel keinen Gesetzescharakter aufweist, besteht keineswegs die Gewähr der Einhaltung. Es bedarf in jedem Fall zusätzlicher Anreiz- bzw. Sanktionsmechanismen, um das vorgegebene Ziel zu verfolgen oder die Regel einzuhalten und so die Glaubwürdigkeit der Wirtschaftspolitik zu gewährleisten. Hierzu wurde auf der einen Seite die Zahlung von Erfolgsprämien an die Entscheidungsträger vorgeschlagen, als das andere Extrem aber auch die Entlassung der Entscheidungsträger, wenn diese das vorgegebene Ziel nachhaltig verfehlen (Vaubel, 1989; Neumann, 1991). Obgleich der letzte Vorschlag häufig als unrealistisch belächelt wurde, hat er mittlerweile Eingang in das Notenbankgesetz Neuseelands gefunden (Goodhart, 1992a, S. 32 f.). Faßt man die vorgesehene institutionelle Ausgestaltung der EZB zusammen, so zeigen sich deutliche Parallelen zur Deutschen Bundesbank. Damit bleibt aber die Frage, ob eine an den rechtlichen Grundlagen der Deutschen Bundesbank orientierte EZB allein schon die Preisniveaustabilität auf europäischer Ebene garantiert (vgl. hierzu ausführlich etwa Caesar, 1990). Diese Frage muß man wohl verneinen, denn derartige Hoffnungen verkennen folgendes: - Die Autonomie der Deutschen Bundesbank hat weder de jure Verfassungsrang, noch reicht sie aus, um den Stabilitätserfolg zu erklären. Es war und ist vielmehr der gesellschaftliche Konsens, der - vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit zwei Hyperinflationen - dem Ziel Preisniveaustabilität erste Priorität einräumt. Ein solcher Konsois der Öffentlichkeit ist aber in Europa gegenwärtig (noch) nicht vorhanden. - Auf europäischer Ebene hat es selbst eine autonome Notenbank schwieriger, weil die Zunahme struktureller Unterschiede die Einwände gegen eine unabhängige Geldpolitik verstärken werden. - Eine EZB muß sich die Reputation der Deutschen Bundesbank erst einmal über einen längeren Zeitraum selbst erarbeiten. - Es kann zu Einschränkungen der Autonomie aus dem internationalen Bereich kommen, und zwar wegen des weltwirtschaftlichen Gewichts einer EZB.

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V.

Ausblick Die jüngste Krise im EWS hat eindrucksvoll belegt, daß sich der Raum für Stabilitätsinseln in Europa drastisch verengt hat. Ein einheitlicher Finanzmarkt ohne jegliche Kapitalverkehrskontrollen in Europa führt bei festen Wechselkursen zu einem ständig steigenden Kooperationszwang, der eine individuelle Wirtschaftspolitik unmöglich macht. Resultiert daraus aber zugleich auch - wie häufig angeführt wird - notgedrungen ein Zwang, die europäische Währungsunion möglichst schnell zu verwirklichen? Ich denke nein! Die europäische Währungsunion ist nur ein Weg, um diesem Dilemma zu entgehen. Dieser Weg ist aber, wie die vorangegangenen Überlegungen gezeigt haben, mit erheblichen Risiken verbunden, ohne daß zugleich signifikante (Zusatz-) Nutzen durch einen solchen Schritt zu erwarten sind. Alle in diesem Zusammenhang vorgenommenen Rechtfertigungsversuche sind wenig tragflhig. Hierzu gehören insbesondere die folgenden Argumente (Hesse, 1992, S. 9): - Der Wegfall der 'Währungskosten' im weitesten Sinne führt zu Kosteneinsparungen beim grenzüberschreitenden Güterverkehr und damit verbunden zu einer Unterstützung der Binnenmarktwirkung. Dieser Kostenaspekt ist aber für sich allein genommen von vergleichsweise geringer Bedeutung. Darüber hinaus erscheint es keineswegs einleuchtend, warum die Kosten einer eventuell notwendigen Kurssicherung über die Fixierung des Wechselkurses vom Staat und nicht von den privaten Nutznießern selbst getragen werden sollen. Für den internationalen Handel sind stabile nationale Währungen wichtiger als ein stabiler Wechselkurs. - Deutschland behält freien Zutritt zu den wichtigen EG-Auslandsmärkten, in die 55 vH der deutschen Exporte gehen. Dieses Argument bezieht sich auf die Wirtschaftsunion in Form des Binnenmarktes, steht aber in keinem Zusammenhang zur Währungsunion. - Deutschland steht bei der wirtschaftlichen Unterstützung Osteuropas nicht allein, sondern kann auf die EG-Solidarität hoffen. Diese Entwicklung erscheint sowohl von der Sache her als auch von der ökonomischen Relevanz höchst zweifelhaft. - Die EG bildet einen gestärkten Verhandlungspartner in supranationalen Gremien. Dieses Argument zielt zum einen Teil auf die politische Union. Zum anderen steht aber auch zu befürchten, daß das erhöhte wirtschaftliche Gewicht Europas im Gegenzug den internationalen Druck erhöhen wird. Welche Alternativen stehen aber neben dem zuvor erläuterten offiziellen Weg zu einer europäischen Währungsunion zur Verfügung17? Die Risiken des oben aufgezeigten Weges können zunächst einmal erheblich gemindert werden, indem man die gegenwärtig im Vertrag enthaltenen Terminvorgaben aufgibt. Dies bedeutet nicht von vomher17

Vgl. hierzu auch Weifens (1992, S. 33 ff.).

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ein, auf die europäische Währungsunion und ihre zweifelhaften (Zusatz-) Nutzen für immer zu verzichten. Ein solches Vorgehen vermindert aber den politischen Druck, zu bestimmten Terminen Länder in die Union aufzunehmen, die von ihrer wirtschaftlichen Situation her zu diesem Schritt noch nicht geeignet sind. Gleichzeitig erfordert der zunehmende Kooperationszwang im EWS Rahmenbedingungen, die während der Übergangsphase Preisniveaustabilität in allen Mitgliedsländern ermöglichen. Dies läßt sich durch die Beibehaltung des Wechselkursvorbehalts und/ oder eine Stärkung der asymmetrischen Wirkungsweise erzielen. Der Wechselkursvorbehalt bringt dabei insbesondere folgende Vorteile mit sich: - Wechselkursänderungserwartungen schlagen sich in den Zinsdifferenzen nieder und führen somit zu einer Disziplinierung. - Abwertungen stellen nationale Regierungen an den 'Pranger'. Mit festen Wechselkursen versucht man nämlich das Fieberthermometer abzuschaffen, das die laxe Politik anzeigt. Daher muß die Möglichkeit zur Paritätsanpassung auch keineswegs zu einer Veränderung des wirtschaftspolitischen Verhaltens in Form zunehmender Inflation führen ('moral hazard'). - Es kommt zu einer Konkurrenz der Systeme zwischen den nationalen Notenbanken, und zwar nicht nur gegenüber Drittländern, sondern auch innerhalb des EWS. Die Monopollösung auf europäischer Ebene entfällt zunächst (Willeke, 1992). Notwendige Voraussetzung, um Preisniveaustabilität insbesondere in den stabilitätsbewußten Mitgliedsländern zu ermöglichen, ist in diesem Zusammenhang allerdings, daß Paritätsanpassungen rechtzeitig erfolgen und nicht - wie die Krise im letzten Herbst gezeigt hat - über längere Zeit verschleppt werden. Lassen sich frühzeitige Paritätsanpassungen allerdings nicht gewährleisten, dann bedarf es einer (zusätzlichen) Stärkung der asymmetrischen Wirkungsweise (Herz, 1992). Sie könnte durch folgende Maßnahmen erzielt werden: - Einer Interventionspflicht unterliegen nur abwertungsverdächtige Länder. Zugleich werden Interventionskredite ausgeschlossen, da sie einem monetären 'bail-out' gleichkommen. Diese Maßnahmen - so radikal sie auf den ersten Blick erscheinen mögen - übertragen lediglich die faktische Funktionsweise des EWS bis 1987 auf die heutigen Verhältnisse. - Kapitalverkehrskontrollen sind in jedem Fall verboten. - Es werden keine zentralen Transfers bereitgestellt, da hiervon eine indirekte Solidarhaftung ('bail-out') für Haushaltsdefizite ausgehen kann. Diese Maßnahme würde die Marktkräfte stärken. Ferner sollten die Konvergenzindikatoren erweitert werden, um die Gefahren einer Währungsunion - wenn man sie denn eingeht - so gering wie möglich zu halten. An-

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satzpunkte hierfür könnten sein: - Die Berücksichtigung der Arbeitsproduktivität analog etwa zum Inflationskriterium, um die Wirksamkeit und Gefahren alternativer Anpassungskanäle zu erfassen. Auch hier ergibt sich allerdings das Problem des Schwellenwertes und einer eventuellen Streuungsmarge. - Die Berücksichtigung der Arbeitslosenrate, um eine weitgehend einheitliche Basis für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik zu schaffen. Die zuvor angesprochenen Schwierigkeiten, einen entsprechenden Schwellenwert zu bestimmen, treten hier in analoger Weise auf. - Die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken muß über einen längeren Zeitraum hinweg nachgewiesen werden, um das 'Verständnis' für eine unabhängige EZB zu legen oder zu festigen. Ferner sollten die nationalen Zentralbanken die Kompetenz über die Wechselkurspolitik erhalten. Es ist allerdings zweifelhaft, ob diese Maßnahme zugleich auch rechtzeitige Wechselkursanpassungen hervorbringen wird, da insbesondere die Furcht vor abwertungsbedingten Preissteigerungen die Notenbanken in einen (scheinbaren) Konflikt bringt; mit der Folge, daß sie vor einer solchen Maßnahme zurückschrecken könnten. Insbesondere eine Stärkung der Asymmetrie würde diejenige Gruppe von Ländern herausfiltern, unter denen ein auch längerfristig tragfähiger Stabilitätskonsens besteht. Unter den dann herrschenden Rahmenbedingungen verbleibt den Teilnehmerländern des EWS nämlich nur noch die Alternative zwischen einer wirtschaftspolitischen Kopplung an das stabilitätsbewußteste Land - wer immer dies sein mag - und einer Abwertung bzw. einem Austritt aus dem System. Neben dieser ersten Alternative (Aufschub unter verschärften Bedingungen) ergibt sich als weitere Möglichkeit die frühzeitige Bildung einer 'kleinen Währungsunion' zwischen solchen Ländern, bei denen man auch heute bereits die Voraussetzungen für einen optimalen (stabilitätsorientierten) Währungsraum als (weitgehend) erfüllt ansieht. Dies würde jedoch zu einem Zusammenschluß von Ländern wie etwa Deutschland, den Benelux-Staaten, Österreich und eventuell der Schweiz führen. Diese Möglichkeit ist insbesondere mit einer Erweiterung der EG zu sehen. Sie wirft aber in noch weit stärkerem Maße die Frage nach den (Zusatz-) Nutzen einer solchen Union im Verhältnis zur gegenwärtigen Lösung auf. Bei der oben genannten Zusammensetzung scheinen die Argumente für eine Währungsunion noch weniger zu greifen als im Rahmen des Gesamt-EWS. Diese Kemgruppe könnte dann im Laufe der Zeit durch weitere Länder ergänzt werden. Als Qualifizierungsmaßstab bieten sich wiederum die oben erläuterten Konvergenzindikatoren in der erweiterten Fassung an.

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Mit dem Vertragswerk von Maastricht wurde der Ausbau des EWS zu einer Europäischen Währungsunion klar vorgezeichnet. Doch sowohl der eingeschlagene Weg selbst als auch die Geschwindigkeit haben in Fachkreisen und in der Öffentlichkeit zu heftigen Kontroversen geführt. Hinzu kommt, daß die währungspolitischen Ereignisse seit dem Herbst 1992 die Glaubwürdigkeit in den Währungsverbund des EWS und damit auch in die angestrebte Währungsunion stark belastet haben. Wie die zuvor angestellten Überlegungen gezeigt haben, ist "mit den Regelungen des Maastrichter Vertrages die finanz- und wirtschaftspolitische Disziplin der Partnerländer nur sehr schwach gesichert. Im wesentlichen setzt der Vertrag hier auf das Prinzip Hoffnung" (Jochimsen, 1993, S.4). Aus diesem Grunde sollte zunächst das Vertrauen in das EWS durch die oben angeführten Maßnahmen wieder gestärkt und nachfolend eine Währungsunion zu einem nicht vorgegebenen Zeitpunkt von denjenigen Ländern eingegangen werden, die die hier vorgeschlagenen erweiterten Konvergenzkriterien erfüllen. Gute Politik erfordert es nämlich, "die Risiken im Vergleich zu den Chancen möglichst klein zu halten - und zwar für alle Länder Europas" (Tietmeyer, 1992, S. 445). Literatur Baum, Thomas, 1991, Institutionelle Grenzen für die Staatsverschuldung in Europa, Die Sparkasse, Jg. 108, S. 69-71. Bayoumi, Tarnim, 1992, The Effect of the ERM on Participating Economies, IMF Staff Papers, Bd. 39, S. 330-356. Bean, Charles, 1992, Economic and Monetary Union in Europe, Journal of Economic Perspectives, Bd. 6, S. 31-52.

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Monetäre Integration: Vom EWS zur Währungsunion

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Übersicht 5:

Heinz-Dieter Smeets

Drei-Monats-Anlagen in D-Mark

Jahr

Übersicht 6:

Drei-Monats-Anlagen in holländischen Gulden

Jahr

Monetäre Integration: Vom EWS zur Wahrungsunion

Übersicht 7:

Drei-Monats-Anlagen in französischen Franc

Jahr

Übersicht 8:

Drei-Monats-Anlagen in italienischer Lira

Jahr

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Heinz-Dieter Smeets

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Übersicht 9:

Drei-Monats-Anlagen in belgischen Franc

Jahr

Übersicht 10:

Drei-Monats-Anlagen in dänischen Kronen

Jahr

Monetäre Integration: Vom EWS zur Währmgsumon

Übersicht 11:

Drei-Monats-Anlagen in irischen Pfund

Jahr

Übersicht 12:

Drei-Monats-Anlagen in spanischen Peseten

Jahr

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'Fiscal FederaJism' in Europa: Voraussetzungfiir eine erfolgreiche Wirtschqfts- und Währungsunion?* Norbert Berthold, Würzburg

I. Einleitende Bemerkungen II. Weshalb kann es in einer Wirtschafts- und Währungsunion Oberhaupt zu wirtschaftlichen Fehlentwicklungen kommen? 1. Wovon hängt es grundsätzlich ab, ob Volkswirtschaften makroökonomisch instabil sind? 2. Wie verändern sich die makroökonomischen Instabilitäten in einer Wirtschafts- und Währungsunion? III. Wie sollte man wirtschaftliche Fehlentwicklungen in einer Währungsunion angehen? 1. Helfen fiskalpolitische Aktivitäten, besser mit temporären Schocks fertig zu werden? 2. Verhindern fiskalpolitische Aktivitäten 'hysteretische' Entwicklungen? IV. Auf welcher Ebene sollten stabilitätspolitische Aktivitäten in einer Währungsunion erfolgen? V. Einige Bemerkungen zum Schluß

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* Dieser Beitrag entstand während eines Aufenthaltes im Research Department des Internationalen Währungsfonds. Für hilfreiche Hinweise möchte ich Peter Clark und Thomas Krüger, vor allem aber meinen Mitarbeitern Andreas Brandt, Michael GrOnüing und Wolfgang Modery danken.

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I.

Norbert Berthold

Einleitende Bemerkungen Die gegenwärtige Entwicklung in Europa könnte gegensätzlicher nicht sein: Während die Länder in Osteuropa endlich eine Chance sehen, das zentralistische Joch abzuschütteln, beschreiten vor allem die Länder der EG den umgekehrten "Weg in die Knechtschaft" (von Hayek) zentraler Instanzen. Das Nein der Dänen im Sommer 1992 gegen die Verträge von Maastricht ist somit wohl auch ein Votum gegen mehr Entscheidungskompetenzen der 'Eurokraten' in Brüssel und gegen offenkundige zentralistische Tendenzen in der EG. Das Ergebnis der dänischen Volksabstimmung verstörte zwar viele politische Entscheidungsträger - Politiker und Bürokraten - auf nationaler und europäischer Ebene, löste aber in allen Mitgliedsländern der EG eine längst fallige Diskussion darüber aus, wer denn nun in einer Wirtschafts- und Währungsunion das wirtschaftspolitische Sagen haben sollte. Die kritische Auseinandersetzung mit dieser Frage überraschte zwar offenkundig die politischen Entscheidungsträger in Europa, die Zunft der Ökonomen scheint aber mit der Theorie des 'fiscal federalism' seit langem adäquate Antworten auf diese Frage zu haben (,Musgrave, 1961; Oates, 1991). Danach kann es in einem Bundesstaat unter gewissen Bedingungen nicht nur aus allokativen, sondern auch aus verteilungs- und stabilitätspolitischen Gründen sinnvoll sein, gewisse wirtschaftspolitische Kompetenzen an eine zentrale Instanz abzutreten (Walsh, 1992). Dies ist immer dann der Fall, wenn der marktliche Koordinationsmechanismus bestimmte Aufgaben in diesen drei Bereichen nicht befriedigend erfüllt und auch eine realistische Chance besteht, daß zwar die Aktivitäten einer zentralen staatlichen Instanz, nicht aber die untergeordneter Gebietskörperschaften zu besseren Ergebnissen fuhren. Diese Überlegungen gelten zwar grundsätzlich für politische Unionen, sie können aber auch für die Diskussion um das Subsidiaritätsprinzip in der EG nützlich sein. Es ist zwar richtig, dafl wir in der EG - trotz oder gerade wegen einiger nur unverbindlicher Absichtserklärungen in den Verträgen von Maastricht - noch meilenweit von einer politischen Union entfernt sind. Dennoch können wir aber der Frage, wer in einer Wirtschafts- und Währungsunion welche wirtschaftspolitischen Kompetenzen erhält, schon heute nicht mehr ausweichen. Dabei geht es in diesem Beitrag weniger um allokative und auch nicht vorrangig um distributive Aspekte (Berthold, 1993), sondern vor allem um die Frage, ob eine Wirtschafts- und Währungsunion in Europa wirklich nur dann funktionsfähig ist, wenn es gelingt, die stabilitätspolitischen Aktivitäten zu zentralisieren. Die Theoretiker des 'fiscal federalism' bejahen sie. Bevor man nun aber versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden, muß erst klar sein, welche Probleme man mit stabilitätspolitischen Aktivitäten lösen will. Eine erste Aufgabe besteht sicherlich darin, für ein möglichst stabiles allgemeines Preisniveau zu

'Fiscal Federalism' in Europa

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sorgen. Die sonst recht kontroverse Diskussion um die Verträge von Maastricht zeigt, daB in Europa offensichtlich die Meinung vorherrscht, diese Aufgabe einer von politischem Druck möglichst unabhängigen Europäischen Zentralbank zu übertragen. Ob diese Strategie, den (Währungs)wettbewerb innnerhalb Europas auszuschalten, allerdings aufgeht, wird sich erst noch erweisen müssen. Ein zweites Aufgabenfeld tut sich für stabilitätspolitische Aktivitäten auf, wenn es darum geht, die realen Einkommen über den konjunkturellen Verlauf hinweg zu glätten. Es entspricht deshalb einer weitverbreiteten Meinung, wenn von der Stabilitätspolitik grundsätzlich auch gefordert wird, die Beschäftigung zu stabilisieren. Auf die heftig umstrittene Frage, wer diese Aufgabe in einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion übernehmen soll, wird deshalb im folgenden versucht, eine Antwort zu finden. Dabei soll so vorgegangen werden, daß in einem ersten Schritt gefragt wird, wann in einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, die den Prinzipien einer marktwirtschaftlichen Ordnung verpflichtet ist, überhaupt stabilitätspolitische Aktivitäten gefragt sind. Wenn sich herausstellt, daß unter ganz bestimmten Bedingungen makropolitische Eingriffe angebracht sein können, muß man sich zunächst in einem zweiten Schritt überlegen, welche Aktivitäten ergriffen werden müssen, um dann in einem dritten Schritt zu fragen, auf welcher Ebene diese Aktivitäten angesiedelt werden sollten. Es geht also auch im Falle der stabilitätspolitischen Aktivitäten darum, wie man ein richtig verstandenes Subsidiaritätsprinzip ausgestaltet: Zunächst muß entschieden werden, welche stabilitätspolitischen Aufgaben vom Markt und welche vom Staat übernommen werden müssen. Danach bleibt zu entscheiden, welche der staatlichen stabilitätspolitischen Aufgaben auf zentraler Ebene - EG - und welche auf dezentraler Ebene - Länder und Regionen - erfüllt werden können. II. 1.

Weshalb kann es in einer Wirtschafts- und Währungsunion überhaupt zu wirtschaftlichen Fehlentwicklungen kommen?

Wovon hängt es grundsätzlich ab, ob Volkswirtschaften makroökonomisch instabil sind? Mit makroökonomischen Instabilitäten ist in Volkswirtschaften immer dann zu rechnen, wenn sie von Schocks getroffen werden, darauf aber nur ungenügend vorbereitet sind. Alle Volkswirtschaften werden dauernd mit Datenänderungen konfrontiert, nicht nur, weil sich die Präferenzen der Wirtschaftssubjekte, die angewandte Produktionstechnologie oder der Umfang und die Qualität der Produktionsfaktoren ändern (Eucken, 1990), sondern auch, weil die politischen Entscheidungsträger selbst permanent solche Schocks verursachen, indem sie monetäre und reale makro-politische Aktivitäten entfalten. Es ist nun aber nicht allein der Umfang dieser originären und politisch verur-

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Norbert Berthold

sachten Datenänderungen, sondern auch die Qualität dieser Schocks, die Probleme aufwerfen. Haben die Schocks nur temporären Charakter oder verteilen sie sich über einen gewissen Zeitraum, dann sind sie möglicherweise leichter zu verarbeiten, als wenn sie permanent sind und konzentriert auftreten. Diese Datenänderungen lösen zwar zunächst Ungleichgewichte auf Güter- und Faktormärkten aus, destabilisieren die wirtschaftliche Entwicklung aber selbst bei adversen Schocks solange nicht, wie die privaten wirtschaftlichen Akteure bereit sind, die realen Lasten, die aus solchen Schocks resultieren können, auch tatsächlich zu tragen. Dies ist immer dann der Fall, wenn die relativen Preise flexibel und die Produktionsfaktoren mobil sind. Der marktliche Koordinationsmechanismus kann unter diesen Bedingungen seine stabilisierende Aufgabe zufriedenstellend erfüllen. Tatsächlich ist aber die Anpassungskapazität allgemein wesentlich geringer. Der Mechanismus der relativen Preise spielt nicht so, wie es notwendig wäre, um die wirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren, und die Produktionsfaktoren sind nicht so mobil, daB sie die eingetretenen Ungleichgewichte effizient beseitigen könnten. Die Folge ist nicht nur ein Anstieg der 'mismatch'-Arbeitslosigkeit, sondern auch der gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosenquote. Vor allem die Ausprägung der gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosigkeit hängt wohl ganz entscheidend davon ab, welche Güter- und Faktormärkte stärker unvollkommen sind (Berthold, 1987; 1988). Bei der gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosigkeit unterscheidet man traditionell zwischen keynesianischer und klassischer Unterbeschäftigung. Dabei begünstigen vor allem unvollkommene Kapital- und Gütermärkte die keynesianische Komponente der Arbeitslosigkeit (Berthold, 1987; Greenwald und Stiglitz, 1988; 1990). Wenn die realen Zinssätze und relativen Güterpreise nach adversen Schocks nach unten nicht ausreichend flexibel sind oder die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nur unzureichend auf sinkende Zinsen und Güterpreise reagiert, besteht die Gefahr, daß es zu Arbeitslosigkeit kommt, weil eine einmal entstandene Nachfragelücke nicht geschlossen werden kann. Die Gründe für diese marktlichen Unvollkommenheiten werden nicht nur in asymmetrischen Informationen auf Finanzmärkten, unvollkommener Konkurrenz auf Gütermärkten, sondern auch in regulierenden staatlichen Eingriffen auf Kapital- und Gütermärkten gesehen. Mit der klassischen Spielart der gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosigkeit ist demgegenüber immer dann zu rechnen, wenn vor allem die Arbeitsmärkte unvollkommen sind. Sind die Akteure auf den Arbeitsmärkten nach adversen Schocks nicht bereit, auf reale Einkommensteile zu verzichten, dann ist Arbeitslosigkeit unvermeidlich. Wer den Einkommensverzicht leistet - Arbeitnehmer oder Unternehmer - ist grundsätzlich egal, wichtig ist nur, daß ihn jemand erbringt. Da die Unternehmer aber nicht gezwungen

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werden können, ihr Kapital zu investieren, sofern sie dafür nicht einen für sie adäquaten Ertrag erhalten, weiden wohl die Arbeitnehmer den Verzicht leisten müssen. Tatsächlich gelingt es denen aber, sich dem zumindest temporär zu entziehen. Dies ist nicht nur der Fall, weil die 'insider' wegen gewisser Transaktionskosten - Kosten der Einstellung, Überwachung und Entlassung - eine gewisse Macht im Prozeß der Lohnfindung haben, sondern auch, weil regulierende staatliche Eingriffe auf den Arbeitsmärkten diese Kosten weiter erhöhen und so die Machtposition der weiter beschäftigten 'insider' zu Lasten der arbeitslosen 'outsider' stärken (Lindbeck und Snower, 1988; Berthold, 1992a). Es ist somit offensichtlich, daß unvollkommene Güter- und Faktormärkte verhindern, daß die nach adversen Schocks eingetretene gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit - keynesianischer oder klassischer Provenienz - rasch wieder abgebaut wird. Dies führt nun aber dazu, daß sich die bestehende Unterbeschäftigung verfestigt, selbst wenn die relativen Preise mit einiger zeitlicher Verzögerung auf die eingetretenen Ungleichgewichte reagieren. Diese 'hysteretischen' oder zumindest persistenten Züge der Arbeitslosigkeit werden nicht nur auf einen obsolet gewordenen Realkapital-, sondern vor allem auch auf einen sich entwertenden Humankapitalstock der Arbeitnehmer zurückgeführt (Franz, 1987; Cross, 1988). Damit erhält aber gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit eine ganz andere Qualität: Wenn es nicht gelingt, die nach adversen Schocks eingetretenen Ungleichgewichte möglichst schnell wieder zu beseitigen, besteht die Gefahr, daß sie sich später kaum oder nur sehr schwer wieder beseitigen lassen. Die Pfadabhängigkeit der Arbeitslosigkeit verstärkt somit die Bedeutung flexibler relativer Preise. Damit sind aber Volkswirtschaften um so weniger makroökonomisch instabil, je funktionsfähiger die Güter- und Faktormärkte sind. 2.

Wie verändern sich die makroökonomischen Instabilitäten in einer Wirtschafts- und Währungsunion? Wie stabil eine Volkswirtschaft makroökonomisch ist, hängt offensichtlich entscheidend davon ab, wie groß und schwer die Datenänderungen sind, mit der sie konfrontiert wird, und inwieweit sie in der Lage ist, diese Schocks effizient zu verarbeiten. Damit sind aber mögliche wirtschaftliche Fehlentwicklungen in einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion nicht unabhängig davon, wie eine solche Institution die Anpassungslasten und die Anpassungskapazität der beteiligten Volkswirtschaften beeinflußt (auch schon: Grüner, 1967, 231ff). Eine Wirtschafts- und Währungsunion macht deshalb nur dann Sinn, wenn sie so konstruiert wird, daß sie die politisch verursachten Datenänderungen verringert und die Fähigkeit der Volkswirtschaften, sich an neue wirtschaftliche Gegebenheiten anzupassen, unzweifelhaft erhöht.

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Es ist weitgehend unstrittig, daß eine Wirtschaftsunion in dieser Hinsicht einen positiven Beitrag leistet. Der Abbau von Behinderungen und Hemmnissen auf Güter- und Faktormärkten intensiviert nicht nur den Wettbeweib und macht die relativen Preise flexibler und die Produktionsfaktoren mobiler, er beschränkt auch die diskretionären Handlungsspielräume der politischen Entscheidungsträger und verringert so die politisch verursachten Anpassungslasten. Demgegenüber gehen allerdings die Meinungen darüber, wie sich eine Währungsunion auf diese Faktoren auswirkt, beträchtlich auseinander. Es besteht allerdings weitgehend Einigkeit darüber, daß ein solches währungspolitisches Arrangement nur dann die beteiligten Volkswirtschaften makroökonomisch nicht instabiler macht, wenn es 'optimal' im Sinne der Theorie des optimalen Währungsgebietes ist {Ingram, 19S9; Mundeil, 1961; Kenen, 1969). Wegen der Schwierigkeiten dieses Ansatzes könnte man immer dann von einer optimalen Währungsunion sprechen, wenn eine Mitgliedschaft nicht dazu führt, daß die Mitgliedsländer wegen höherer Anpassungslasten und geringerer Anpassungskapazitäten verstärkt ihr stabilitätspolitisches Instrumentarium nutzen müssen, um die wirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren. Dies scheint aber wohl nur dann der Fall zu sein, wenn sich nur die Volkswirtschaften, deren politische und ökonomische Märkte ähnlich gut funktionieren, zu einer Währungsunion zusammenschließen {Berthold, 1992b). Wenn nur solche Volkswirtschaften, deren politische Märkte ähnlich gut funktionieren, eine Währungsunion in Europa bilden, bestehen gute Chancen, daß sich zumindest für die Mitglieder die ohnehin schon beträchtlichen Anpassungslasten nicht noch weiter erhöhen und die schon relativ geringe Anpassungskapazität aller europäischen Volkswirtschaften nicht noch stärker zurückgeht. Die politischen Märkte funktionieren um so besser, je stärker die politischen Entscheidungsträger gezwungen werden, die Güter anzubieten, die den 'wahren' Präferenzen der Wähler entsprechen. Damit verringern sich aber die Anreize der Regierungen und Bürokraten, ökonomisch wenig effiziente wirtschaftspolitische Aktivitäten zu entfalten, wenn es gelingt, die politischen Märkte funktionsfähiger zu gestalten. Es reicht nun aber nicht aus, wenn man die Anpassungslasten in einer Währungsunion in Grenzen halten will, daß sich nur solche Länder zusammentun, deren politische Märkte ähnlich gut funktionieren. Notwendig ist daneben auch, daß sich die Mitgliedsländer in ihren Präferenzen für die staatlich angebotenen Güter, vor allem wohl für die Güter 'Sicherheit' und 'Gerechtigkeit' {Courchene, 1992; Berthold, 1993), nicht erheblich unterscheiden. Wenn somit in einer solchen Währungsunion die politischen Märkte nicht weniger funktionsfähig sind als vorher, wird auch der politische Druck auf die Europäische Zentralbank, eine inflationäre Geldpolitik zu betreiben, nicht höher ausfallen. Damit erhöhen sich weder die monetären makropolitischen Störungen, noch verschlechtert

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sich die Anpassungskapazität wegen inflationsbedingter allokativer Verzerrungen. Die relativen Preise werden in einer solchen Situation auch nicht starrer und die Produktionsfaktoren immobiler, weil sich die 'rent-seeking' Aktivitäten der zahlreichen Interessengruppen allein durch das neue währungspolitische Arrangement nicht erhöhen. Damit nehmen aber auch die regulierenden staatlichen Eingriffe in die Güter- und Faktormärkte - zumindest währungsunionsbedingt - nicht weiter zu. Die Anpassungskapazität der beteiligten Volkswirtschaften muß sich somit nicht weiter verschlechtem. Die Gefahr, daß sich die Anpassungslasten erhöhen und die Anpassungskapazität sinkt, verringert sich in einer Währungsunion weiter, wenn sich nur die Volkswirtschaften entschließen, eine enge währungspolitische Bindung einzugehen, deren ökonomische Märkte ähnlich gut funktionieren und die von ähnlichen Schocks getroffen werden. Die Anpassungslasten müssen sich nicht wesentlich erhöhen, wenn sich solche Länder zusammentun, deren Produktions- und damit wohl auch Exportstrukturen beträchtlich diversifiziert sind (Ketten, 1969). In diesem Falle ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, daß sich sektorspezifische Schocks nicht notwendigerweise auch zu länderspezifischen Schocks auswachsen, weil sie sich zumindest teilweise gegenseitig neutralisieren. Ein Anpassungsbedarf ist aber selbst in diesem Falle gegeben. Er äußert sich nun aber vor allem in einem verstärkten strukturellen Wandel, der nur dann erfolgreich abläuft, wenn nicht nur die relativen Preise auf intersektorale Unterschiede reagieren, sondern auch die Produktionsfaktoren intersektoral ausreichend mobil sind. Daneben wären aber vor allem auch die Länder in Europa mögliche Kandidaten für eine Währungsunion, die von ganz ähnlichen - symmetrischen - und nicht von unterschiedlichen - asymmetrischen - Schocks getroffen werden. In diesem Falle lassen sich nämlich die gemeinsamen Schocks mit einheitlichen monetären und fiskalischen makropolitischen oder wechselkurspolitischen Aktivitäten gegenüber Drittländern wesentlich besser als die länderspezifischen verarbeiten. Berücksichtigt man beide Aspekte - Diversifikationsgrad und Gemeinsamkeiten bei Schocks - dann eignen sich vor allem Länder, die schon jetzt über einen ausgeprägten intra-industriellen Handel miteinander verbunden sind, für eine Währungsunion. Es verwundert deshalb auch nicht, wenn neuere empirische Untersuchungen zum Ergebnis kommen, daß die europäischen Länder ganz unterschiedlich sowohl von Angebots- als auch Nachfrageschocks getroffen werden (Bayoumi und Eichengreen, 1992). Die angebotsseitigen Schocks in den 'Kernländern' der EG - Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten - fallen kleiner aus und sind auch stärker miteinander korreliert, als dies in den peripheren Ländern - Großbritannien, Italien, Spanien, Portugal, Irland und Griechenland - der Fall ist. Für nachfrageseitige Schocks gilt ganz ähnliches, obwohl die Unterschiede zwischen den Ländergruppen nicht so dramatisch

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wie bei angebotsseitigen Schocks sind. Diese empirischen Ergebnisse verstärken somit die Forderung nach einem Europa der 'zwei Geschwindigkeiten'. Die Kritiker dieser Vorstellung von einem optimalen Währungsgebiet wenden nun aber ein, daß das 'Binnenmarktprojekt 1992' die EG-Länder einander immer ähnlicher werden läßt. Der Ausbau einer Wirtschaftsunion in Europa trage dazu bei, daß der intra-industrielle Handel in der EG den interindustriellen immer stärker dominiert. Damit sei aber auch damit zu rechnen, daß die zukünftigen Schocks in einer Währungsunion wohl eher symmetrisch als asymmetrisch ausfallen (Cohen und Wyplosz, 1989). Es ist nun aber mehr als fraglich, daß in einem Gebiet, das so groß, kulturell so stark diversifiziert und geographisch so unterschiedlich ist wie das der EG, zukünftig nicht mehr mit beträchtlichen asymmetrischen Schocks zu rechnen ist (Goodhart und Smith, 1992). Dies ist allein schon deshalb wenig wahrscheinlich, weil selbst in einem Europa völlig freier Güter- und Faktormärkte eine Reihe von Gütern und Diensten nach wie vor 'non tradables' sind (Bean, 1992). Damit wirken sich aber selbst symmetrische Schocks länderspezifisch unterschiedlich aus. Die Gefahr instabiler makroökonomischer Entwicklungen in einer Währungsunion ließe sich weiter vermindern, wenn sich nur die Länder auf eine gemeinsame Währung einigen würden, die ähnlich gut in der Lage sind, sich an neue wirtschaftliche Gegebenheiten anzupassen. Da aber die relativen Preise nur dann ausreichend flexibel und auch die Produktionsfaktoren genügend mobil sind, wenn auf Güter- und Faktormärkten ein intensiver Wettbewerb herrscht, scheint es sinnvoll, daß sich nur die Länder in Europa währungspolitisch eng aneinander binden, die auch in der eminent wichtigen ordnungspolitischen Frage, wie man es denn mit dem Wettbewerb hält, weitgehend übereinstimmen. Die kontroverse Diskussion um die Rolle der Industriepolitik in Europa zeigt, daß sich in diesem Punkt selbst die 'Kernländer' der EG nicht einig sind. Nur die Benelux-Länder und mit Abstrichen auch die Bundesrepublik Deutschland scheinen überhaupt bereit, industriepolitischen Aktivitäten abzuschwören. Solange man sich aber in der EG nicht ohne 'Wenn und Aber' für den Wettbewerb entscheidet, macht es wenig Sinn, eine Währungsunion zu schaffen. Damit erhöht man die gegenwärtig unzureichende Anpassungskapazität, die sich in relativ inflexiblen Reallöhnen (iLayard, Nickeil und Jackman, 1991) und wenig mobilen Produktionsfaktoren (Ermish, 1991; Dooley, Frankel und Mathieson, 1987) zeigt, in den EG-Ländern nicht. Dies wäre aber, wenn man etwa die Vereinigten Staaten, in denen sich die Regionen wegen flexiblerer relativer Preise auf den Arbeitsmärkten und eines vor allem mobileren Produktionsfaktors Arbeit schneller als die EG-Länder an Schocks anpassen (Bayoumi und Eichengreen, 1992), als Referenzgröße ansieht, aber unbedingt erforderlich, wenn eine Währungsunion ohne größere staatliche Eingriffe funktionieren soll.

'Fiscal Federalism' in Europa

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Dagegen wird nun aber eingewandt, daß eine hohe Anpassungskapazität gar nicht vorausgesetzt werden muß, um das Ausmaß instabiler makroökonomischer Entwicklungen in einer Währungsunion zu begrenzen. Die Akteure auf den Arbeitsmärkten würden bei einer gemeinsamen Währung viel stärker als bisher gezwungen, auf eingetretene Ungleichgewichte mit den Löhnen zu reagieren. Dies sei einmal deshalb der Fall, weil in einer Währungsunion die monetären Aktivitäten der Europäischen Zentralbank glaubwürdiger als die nationaler Notenbanken wären. Damit würden aber auch Inflationserwartungen abgebaut (Horn und Persson, 1988) und damit die Möglichkeiten beschränkt, die negativen beschäftigungspolitischen Folgen übertriebener lohnpolitischer Aktivitäten über inflationäre Entwicklungen zu externalisieren. Daneben würden bei einer glaubwürdigen Verständigung über einen 'no bail-out'* auch die fiskalpolitischen Aktivitäten in der EG glaubwürdiger. Dies trüge mit dazu bei, daß die Arbeitnehmer in den Regionen, die mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, eher zu moderaten Lohnabschlüssen bereit seien (EG-Kommission, 1990), da es auch in diesem Falle nicht mehr ohne weiteres gelingt, die negativen beschäftigungspolitischen Folgen lohnpolitischen Tuns auf den Staat abzuwälzen. Schließlich verringerten die stärker integrierten Gütermärkte die unternehmerische Marktmacht. Damit würde aber auch die Arbeitsnachfrage elastischer und die Lohnpolitik gezwungen, stärker auf veränderte Marktbedingungen zu reagieren (Marsden, 1989). In der währungspolitischen Diskussion wurden nun aber alle drei Thesen in Frage gestellt. Es wurde darauf hingewiesen, daß sich selbst eine von politischem Druck weitgehend unabhängige Europäische Zentralbank - ganz im Gegensatz zur Deutschen Bundesbank - die geldpolitische Glaubwürdigkeit erst noch erarbeiten muß, die Gefahr eines 'bail-out' durch fiskalische Konvergenzkriterien, wie sie im Vertrag von Maastricht vereinbart wurden, nicht wirklich gebannt werden kann und die Arbeitsnachfragekurve wohl nur dann elastischer wird, wenn Europa nicht zu einer 'Festung' verkommt. Von Bedeutung ist nun aber auch, daß die vor allem von den ärmeren EGLändern immer öfter geäußerte Forderung nach einer stärkeren sozialen Kohäsion der Differenzierung und Flexibilität der Lohneinkommen gewisse Grenzen setzt. Damit *

Eine 'bail-out'-Option in den vertraglichen Vereinbarungen zwischen den souveränen Mitgliedsländern einer Europäischen Währungsunion würde bedeuten, daß diejenigen Staaten der Währungsunion, die sich fiskalpolitisch übernommen und auf dem internationalen Kapitalmarkt übermäßig verschuldet haben, nicht Gefahr laufen, in ihrer Bonität herabgestuft zu werden und über kurz oder lang in eine nationale Schuldenkrise zu stürzen. Das garantiert die vertraglich vereinbarte Möglichkeit dieser Länder, in einem solchen Fall auf die finanzielle Unterstützung der anderen Teilnehmerstaaten zurückgreifen zu können. Eine 'no bail-out'-Klausel ist daher eine unverzichtbare Voraussetzung, ungezügelte fiskalpolitische Aktivitäten in einer Währungsunion zu disziplinieren und das Ziel der Preisniveaustabilität nicht zu gefährden.

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wird es aber - wie in Wohlfahrtsstaaten üblich - wahrscheinlich, daB großzügige und fortgesetzte fiskalische Aktivitäten - Quasi-Vollbeschäftigungsganuitie, staatliche Beschäftigung, Existenz einer umlagefinanzierten Arbeitslosenversicherung - den Druck auf die wirtschaftlichen Akteure verringern, sich über die relativen Preise und die Produktionsfaktoren anzupassen. Gleichzeitig demaskiert der Wegfall der Währungen die nationalen Löhne und läßt die Unterschiede in den Lohneinkommen offensichtlich werden. Damit werden aber, wie das Beispiel Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung zeigte, sogenannte 'Lohndemonstrationseffekte' wahrscheinlicher, die vor allem dann die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit in die Tat umsetzen, wenn es den Gewerkschaften gelingt, die Lohnverhandlungen nicht mehr auf nationaler, sondern auf EG-Ebene zu führen. Die eingangs gestellte Frage, ob die Volkswirtschaften in einer Währungsunion makroökonomisch instabiler werden, läßt sich somit leicht beantworten: Wenn sich nur solche Länder zusammentun, die über ähnlich gut funktionierende politische und ökonomische Märkte verfügen, ist die Gefahr geringer, daß die Anpassungslasten steigen und sich die Anpassungskapazität verschlechtert. Tatsächlich steht aber wohl zu befürchten, daß sich ein Europa mit mehreren währungspolitischen Geschwindigkeiten im politischen Prozeß nicht durchsetzen wird. Damit werden aber die wirtschaftlichen Fehlentwicklungen in Europa in Zukunft nicht geringer, sie steigen eher noch an. Diese Entwicklung würde noch verstärkt, wenn man - wie geplant - den Weg hin zu einer politischen Union in Europa weiter geht (Berthold, 1993). In diesem Falle würden wohlfahrtsstaatliche Aktivitäten an Gewicht gewinnen, die erreichten Fortschritte einer Wirtschaftsunion wieder in Frage gestellt, die politisch verursachten Anpassungslasten zunehmen, die marktliche Flexibilität durch staatliche Regulierungen weiter eingeschränkt und damit die Verletzlichkeit für reale Schocks erhöht. in.

Wie sollte man wirtschaftliche Fehlentwicklungen in einer Währungsunion angehen? Die bisherigen nationalen Ratifizierungsverfahren der Verträge von Maastricht haben wieder einmal gezeigt, daß ökonomische und politische Rationalität in der Regel auseinanderfallen. Es steht somit zu befürchten, daß eine Währungsunion in Europa nicht 'optimal' gestaltet werden wird. Da die relativen Preise in einer solchen Union aber eher inflexibler und die Produktionsfaktoren nicht mobiler werden, verstärken Datenänderungen makroökonomisch instabile Entwicklungen. Da aber in einer Währungsunion weder die Geld- noch die Wechselkurspolitik eingesetzt werden kann, um mit länderspezifischen Schocks fertig zu werden, wird vielfach die Meinung vertreten, den (zentralen) politischen Entscheidungsträgem müßte ein schlagkräftiges fiskalpolitisches In-

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strument zur Verfügung gestellt werden. Nur so könnte es gelingen, die wirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren. Eine monetäre Integration ist nach diesen Vorstellungen nur erfolgreich, wenn die Länder, die von adversen Schocks getroffen werden, (automatisch) finanzielle Transfers erhalten (De Grauwe, 1992), um in typisch keynesianischer Manier die wirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren. 1.

Helfen fiskalpolitische Aktivitäten, besser mit temporaren Schocks fertig zu werden? Wenn es nun aber richtig ist, daß auch in einer Währungsunion instabile makroökonomische Entwicklungen das Ergebnis des Zusammenspiels von Anpassungslasten und Anpassungskapazität sind, wird sehr schnell klar, daß man mit einer traditionellen keynesianischen Nachfragepolitik, die allein versucht, das nominelle Volkseinkommen zu stabilisieren, wohl nur unter ganz bestimmten Bedingungen erfolgreich sein wird. Eine solche Politik macht aber möglicherweise dann Sinn, wenn die adversen Schocks nicht permanent, sondern nur temporär sind. Bei solchen Schocks müssen sich die wirtschaftlichen Akteure real nicht anpassen. Es reicht aus, wenn sie in der Lage sind, die eingetretenen Ungleichgewichte solange zu finanzieren, bis sich die adversen Schocks wieder zurückgebildet haben. Während sich die Eigentümer von physischem Kapital gegen adverse Schocks einfach dadurch absichern können, indem sie ihr Portfolio interregional oder international diversifizieren, ist dies bei den Eigentümern von Humankapital in dieser Form wohl nicht möglich, verfügen sie doch im allgemeinen weder über die Fähigkeit der Bilozität, noch lassen sich wegen der Probleme der 'adverse selecüon* und des 'moral hazard' effiziente Verträge zwischen Individuen unterschiedlicher Regionen realisieren (.Eichengreen, 1990). Diese Individuen könnten aber dennoch die Risiken regionenspezifischer Schocks diversifizieren, indem sie finanzielle Aktiva erwerben, deren Ertragsquellen nicht oder nur unvollkommen mit den regionenspezifischen Quellen der Arbeits- und Kapitaleinkommen korreliert sind. Tatsächlich funktioniert aber diese Art von Risikendiversifikation wohl deshalb nicht, weil die meisten Arbeitnehmer neben dem wenig diversifizierbaren, illiquiden Humankapital entweder kaum über finanzielles Vermögen verfugen oder es aber vor allem in kaum teilbarem, regionenspezifischem Immobilienvermögen angelegt haben. Das bedeutet nun aber noch nicht, daß sich die Arbeitnehmer überhaupt nicht gegen temporäre Schocks absichern können. Wenn solche Schocks nicht zu groß ausfallen, die Kapitalmärkte vollkommen sind und die Individuen nur lange genug leben, lassen sich die individuellen realen Einkommen über den konjunkturellen Verlauf hinweg glätten, indem man den Kapitalmarkt zuhilfe nimmt und das individuelle Einkommen intertem-

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poral umschichtet. Tatsächlich sind aber alle diese Bedingungen im allgemeinen nicht erfüllt, so daß es den meisten Arbeitnehmern auch bei temporären Schocks kaum gelingen dürfte, die eingetretenen Ungleichgewichte zu finanzieren. Damit scheinen aber instabile makroökonomische Entwicklungen unausweichlich. Wenn aber wegen unvollkommener Kapitalmärkte ein effizienter Versicherungsschutz auf privaten Märkten für die meisten Arbeitnehmer wohl nicht möglich ist, wirken sich kompensierende fiskalische Aktivitäten - diskretionäre oder regelgebundene (automatische) fiskalpolitische Maßnahmen - allerdings nur dann wohlfahrtssteigernd aus, wenn für die politischen Entscheidungsträger der Zugang zu den Kapitalmärkten leichter als für die Arbeitnehmer ist und sie ihn auch billiger in Anspruch nehmen können. Das 'Binnenmarktprojekt 1992' integriert zwar die Kapitalmärkte in der EG und macht es somit für private Wirtschaftssubjekte leichter möglich, sich gegen temporäre Schwankungen ihres realen Einkommens zu versichern. Dennoch wird man wohl davon ausgehen müssen, daß auch noch auf absehbare Zeit eine effiziente individuelle Absicherung gegen die materiellen Folgen adverser temporärer Schocks auf privaten Märkten nicht möglich sein wird. Damit scheinen aber fiskalpolitische Aktivitäten auch in einer Währungsunion angezeigt. Dies müssen nun allerdings nicht nur diskretionäre expansive fiskalpolitische Maßnahmen sein, auch automatische Stabilisatoren, wie etwa eine zwangsweise, staatlich organisierte umlagefinanzierte Arbeitslosenversicherung können diesem Zweck dienen. Dieses positive Urteil über fiskalpolitische Maßnahmen muß aber vielleicht revidiert werden, wenn man berücksichtigt, daß es nicht nur schwer ist, temporäre und permanente Schocks auseinanderzuhalten, sondern die privaten wirtschaftlichen Akteure möglicherweise auch einen immer längeren Planungshorizont aufweisen und der Prozeß der politischen Willensbildung in Demokratien erfolgreiche fiskalpolitische Aktivitäten erschwert. (1) Wenn es aber den staatlichen Instanzen nicht gelingt, temporäre von permanenten adversen Schocks zu unterscheiden, wirken sich expansive fiskalische Maßnahmen wohlfahrtsmindernd aus, sofern die Schocks nicht temporär, sondern dauerhaft sind. Bei permanenten Schocks kann es nämlich kontraproduktiv sein, die eingetretenen Ungleichgewichte nur zu finanzieren. Es ist vielmehr notwendig, daß sich die privaten wirtschaftlichen Akteure nicht nur über veränderte relative Preise, sondern auch über regional bewegliche Produktionsfaktoren an die neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten anpassen. Die Anpassungskapazität wird aber bei expansiven fiskalpolitischen Aktivitäten im allgemeinen geschwächt, weil man es den privaten Wirtschaftssubjekten ermöglicht, sich zumindest temporär vor der letztlich doch unumgänglichen Anpassung zu drücken. Die Folge sind weniger flexible relative

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Preise und immobilere Produktionsfaktoren. (2) Es ist nun aber auch denkbar, daß kreditfinanzierte fiskalpolitische Aktivitäten selbst bei temporären Schocks ihre Aufgabe nicht lösen können. Dies ist grundsätzlich immer dann der Fall, wenn die privaten Wirtschaftssubjekte 'ultra-rational' handeln (Barro, 1974). Wenn nämlich die Steuerzahler erkennen, daß die heutigen staatlichen Defizite später letztlich doch durch Überschüsse finanziert werden müssen, dann antizipieren sie die höheren Steuern von morgen und verringern ihre Ausgaben schon heute zumindest immer dann, wenn ihnen die materielle Situation ihrer Kinder und Kindeskinder nicht vollkommen egal ist. Damit würde zwar die staatliche Nachfrage ansteigen, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage aber dennoch nicht zunehmen, weil die private Nachfrage im selben Umfang zurückgeht. Es ist nun allerdings schwierig - von der allgemeinen Kritik am neoricardianischen Äquivalenztheorem einmal ganz abgesehen - sich eine Welt vorzustellen, in der die relativen Preise - wie in einer europäischen Währungsunion - zwar vergleichsweise inflexibel sind, dieses Theorem aber dennoch gilt. (3) Aber selbst dann, wenn expansive fiskalpolitische Aktivitäten bei adversen temporären Schocks nicht grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sind, kann ihr Erfolg in Demokratien doch stark eingeschränkt sein. Es ist zwar möglich, daß staatliche Haushaltsdefizite die gesamtwirtschaftliche Nachfrage erhöhen. Die Eigenheiten des demokratischen Prozesses können es aber unmöglich machen, sie für Zwecke der kurzfristigen Stabilisierung einzusetzen (Berthold und KOlp, 1989; Persson, 1992). Eine Reihe seit langem bekannter 'dme-lags' (Friedman, 1953) tragen mit dazu bei, daß es weder den politischen Entscheidungsträgern gelingt, unmittelbar nachdem Datenänderungen eingetreten sind, wirtschaftspolitisch tätig zu werden, noch die ergriffenen fiskalpolitischen Maßnahmen unverzüglich wirken. Wenn man demgegenüber auf automatische Stabilisatoren setzt, können sich zwar die 'insidelags', nicht aber die 'outside-lags' verringern. Damit ist aber die Gefahr, daß fiskalpolitischen Aktivitäten prozyklisch wirken, nicht von der Hand zu weisen. 2.

Verhindern fiskalpolitische Aktivitäten 'hysteretische' Entwicklungen? Auch wenn es nach alledem fraglich ist, ob expansive fiskalpolitische Aktivitäten wirklich helfen können, besser mit temporären Schocks fertig zu werden, wird es vielfach als sinnvoll angesehen, solche Aktivitäten zu ergreifen, um 'hysteretische' Entwicklungen zu verhindern. Wenn sich die Volkswirtschaften wegen einer unbefriedigenden Anpassungskapazität nur sehr träge an permanente Schocks anpassen, besteht die Gefahr, daß die erst einmal eingetretene Arbeitslosigkeit - unabhängig davon, ob sie keynesianische oder klassische Ursachen hat - 'hysteretische' oder zumindest persistente

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Züge annimmt. Es wird deshalb vielfach gefordert, expansive fiskalpolitische Aktivitäten zu ergreifen, um die mögliche Pfadabhängigkeit der Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Diesen Maßnahmen käme eine gewissen 'Brückenfunktion' zu, weil sie nach Datenänderungen den Übergang zu einem neuen langfristigen gleichgewichtigen Zustand erleichtern. Dies ist im übrigen auch der Grund, weshalb der Wegfall des wechselkurspolitischen Instrumentes in einer Währungsunion einen beachtlichen Verlust darstellt (Berthold, 1991). Es ist zwar klar, daß eine Anpassung der Wechselkurse es den privaten Wirtschaftssubjekten längerfristig nicht wirklich erspart, sich real an die neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. In der kurzen Frist können aber veränderte nominelle Wechselkurse helfen, die befürchtete Pfadabhängigkeit zu verhindern. Dies ist immer dann der Fall, wenn die nominellen Preise nicht vollständig flexibel sind oder bei starren Reallöhnen für die Arbeitnehmer nicht nur das reale Einkommen, sondern auch die Stellung in der Lohnhierarchie (Keynes, 1936; Gylfason und Lindbeck, 1984) von Bedeutung ist. Damit erhöhen aber veränderte Wechselkurse zumindest kurzfristig die Anpassungskapazität und tragen mit dazu bei, daß die Volkswirtschaft nicht in einem ungünstigen neuen Gleichgewicht landet, in dem das reale Einkommen relativ gering und die Arbeitslosigkeit hoch ist. Im Gegensatz zu einer Anpassung der Wechselkurse besteht allerdings bei den traditionellen fiskalpolitischen Maßnahmen grundsätzlich die Gefahr, daß sie für die privaten wirtschaftlichen Akteure gewisse Anreize setzen, die letztlich unumgängliche reale Anpassung immer weiter hinauszuschieben. Wenn die staatlichen Instanzen - diskretionäre oder auch regelgebundene - fiskalpolitische Aktivitäten ergreifen, wird auch die Arbeitsnachfragekurve unelastischer (Calmfors und Horn, 1985; Begg, 1991; Calmfors, 1992). Damit geht aber nicht nur die Bereitschaft der nach Datenänderungen noch beschäftigten Arbeitnehmer - 'insider' - zu Lohnzugeständnissen zurück, auch die Chancen der erst einmal arbeitslos gewordenen - 'outsider' - sinken, wieder eine Beschäftigung zu finden. Den 'insider' gelingt es offensichtlich, einen beachtlichen Teil der gesamtwirtschaftlich möglichen Erträge fiskalpolitischer Aktivitäten abzuschöpfen und sich so einer realen Anpassung weitgehend zu entziehen. Die negativen Sekundärwirkungen fiskalpolitischer Aktivitäten wären geringer, wenn sie mit dazu beitragen würden, die Anpassungskapazität zu stärken. Die traditionelle keynesianische Politik, die nur versucht, das nominelle Einkommen zu stabilisieren, ist wenig effizient, weil sie die Märkte inflexibler macht. Damit machen aber fiskalpolitische Aktivitäten bei permanenten Schocks nur Sinn, wenn sie helfen würden, die relativen Preise flexibler (Agell und Dillin, 1991) und die Produktionsfaktoren mobiler zu machen. Es ist deshalb notwendig über 'neue' fiskalpolitische Maßnahmen nachzuden-

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ken, die, wie etwa die Vorschläge zur 'tax based income policy1, die unterbreitet wurden, um inflationäre Entwicklungen zu bekämpfen, helfen können, die Anpassungskapazität zu stärken. Es bleibt nun aber im allgemeinen nicht bei fiskalpolitischen Aktivitäten traditioneller keynesianischer Prägung. Die staatlichen Instanzen entwickeln sich bei anhaltenden Ungleichgewichten auf den Arbeitsmärkten immer mehr zum 'employer of last resort'. Die steigende Beschäftigung im öffentlichen Dienst beseitigt aber die Arbeitslosigkeit nicht wirklich, sie 'versteckt' sie bloß, verzögert die notwendige reale Anpassung und schlägt sich notwendigerweise in einer niedrigeren Wachstumsrate der Volkswirtschaft und schließlich doch in einer hohen offenen Arbeitslosenquote nieder (Lindbeck, 1990; Cabnfors, 1992). In einer solchen unbefriedigenden Situation wächst schließlich im allgemeinen auch der politische Druck auf die Notenbank, die Geldpolitik zu lockern. Dieser Druck nimmt zu, wenn man sich in einer Währungsunion entschließen sollte, die fiskalpolitischen Aktivitäten zentral auf EG-Ebene zu handhaben, weil dann die realen gegenüber den monetären makropolitischen Aktivitäten an Gewicht gewinnen CBuiter, 1992). Nach alledem scheinen stabilitätspolitische Aktivitäten keynesianischer Prägung auch in einer Währungsunion bestenfalls 'second-best'. Eine ursachenadäquate Therapie bestünde darin, die bestehenden Unvollkommenheiten auf Güter- und Faktormärkten zu verringern. Damit sind aber weniger prozeßpolitische Aktivitäten, sondern vor allem adäquate ordnungspolitische Maßnahmen gefragt, die mit dazu beitragen, die ökonomischen Märkte funktionsfähiger zu gestalten. Die Unvollkommenheiten auf ökonomischen Märkten in Europa würden sicherlich verringert, wenn es gelänge, das 'Binnenmarktprojekt 1992' ordnungspolitisch adäquat zu vollenden, auf allen Märkten eine konsequente Wettbewerbspolitik zu verfolgen und industriepolitische Aktivitäten zu vermeiden. Es steht allerdings zu befurchten, daß mit zunehmender politischer Integration in Europa auch wieder neue implizite Schranken aufgebaut werden (Purvis, 1991). Die beabsichtigte Währungsunion destabilisiert wohl die makroökonomische Entwicklung in Europa von Anfang an, weil sie aus politischen Gründen 'suboptimal' ausfallen wird. Damit nimmt aber auch die 'Notwendigkeit' stabilitätspolitischer Aktivitäten in Europa zu, weil der Druck auf die politischen Entscheidungsträger ansteigt. Wenn man aber fiskalpolitische Aktivitäten schon nicht verhindern kann, stellt sich die Frage, auf welcher Ebene sie angesiedelt werden sollten, damit sie möglichst wenig Schaden anrichten.

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IV. Auf welcher Ebene sollten stabilitätspolitische Aktivitäten in einer Währungsunion erfolgen? Der Streit darüber, ob fiskalpolitische Aktivitäten in einer Währungsunion zentral oder dezentral organisiert weiden sollten, ist nicht neu. Während die Verfechter einer Fiskalpolitik auf EG-Ebene vor allem wegen externer Effekte stabilitätspolitischer Aktivitäten seit langem ein zentrales Budget fordern (Meade, 1957; Scitovsky, 19S7; Lundberg, 1972; McDougall-Ileport, 1977), um mit instabilen makroökonomischen Entwicklungen adäquat fertig zu werden, sind die Gegner einer solchen zentralen Lösung ebenfalls seit langem der Meinung, daß nationale Volkswirtschaften sehr wohl allein in der Lage sind, diese stabilitätspolitischen Probleme adäquat zu meistern, indem sie auf nationale und internationale Kapitalmärkte zurückgreifen (Ingram, 1959; Triffin, 1972; Lutz, 1972). In jüngster Zeit ist ein neues Argument hinzugekommen: Es wird darauf hingewiesen, daß ein staatliches Angebot einer interregionalen Versicherung sinnvoll ist, um instabile makroökonomische Entwicklungen zu verhindern (Sala-iMartin und Sachs, 1992). 1. Es wird immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daß die nationalen politischen Entscheidungsträger bei adversen symmetrischen Schocks in Europa nicht in ausreichendem Maße expansive fiskalpolitische Aktivitäten ergreifen. Es besteht für sie ein Anreiz, sich als stabilitätspolitischer 'Trittbrettfahrer' zu verhalten. Während nämlich die Kosten expansiver fiskalpolitischer Maßnahmen - höhere Steuern und reale Zinsen - vor allem in dem Land anfallen, das diese Aktivitäten ergreift, kommen die möglichen Erträge in offenen Volkswirtschaften wie den EG-Ländern auch anderen zugute. Damit besteht aber die Gefahr, daß die fiskalpolitischen Aktivitäten grundsätzlich zu gering ausfallen. Es liegt deshalb nahe, für die EG zu fordern, die fiskalpolitischen Aktivitäten direkt auf zentraler Ebene anzusiedeln oder sie zumindest auf Gemeinschaftsebene zu koordinieren (Giovannini und Spaverua, 1990; Wyplosz, 1991; Masson und Militz, 1991). Diese Sicht der Dinge überzeugt nun aber aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht wirklich: (1) Die lange und intensive Diskussion um das Mundell-Flemming-Modell hat ergeben, daß sich expansive fiskalpolitische Aktivitäten eines Landes sowohl positiv als auch negativ auf andere Länder auswirken können. Welche Form diese makroökonomischen externen Effekte tatsächlich annehmen, hängt in einer Währungsunion neben der relativen Größe eines Landes und des Sektors handelbarer Güter auch ganz entscheidend von der Anpassungskapazität - Flexibilität der relativen Preise; Mobilität der Produktionsfaktoren - der beteiligten Volkswirtschaften ab (Boughton, Haas und Masson, 1989).

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(2) Es verwundert deshalb auch nicht, wenn verschiedentlich festgestellt wurde, daß sich national expansive fiskalpolitische Aktivitäten in einer Währungsunion auch negativ auf die anderen Mitglieder auswirken können (Roubini, 1989; Masson und Meredith, 1990). Der Grund ist einfach: Zum einen wirken sich höhere Zinsen auch negativ auf die anderen Mitgliedsländer aus; zum anderen wertet sich die gemeinsame Währung gegenüber Drittländern temporär auf und verringert damit die Nettoexporte auch der übrigen Mitgliedsländer. (3) Verschiedene Simulationsstudien haben nun aber ergdien, dafi sich expansive fiskalpolitische Aktivitäten vor allem in dem Land auswirken, das sie ergreift (Masson und Taylor, 1992). Die externen Effekte fiskalpolitischer Aktivitäten sind nun aber möglicherweise nicht nur relativ gering, sie sind auch wirtschaftspolitisch irrelevant. Da es sich bei diesen Effekten nämlich nicht um technologische, sondern um pekuniäre externe Effekte handelt (Buiter, 1992), besteht auch kein fiskalpolitischer Handlungsbedarf. 2. Die Verfechter der These, wonach bei nach wie vor nicht vollkommenen Kapitalmärkten und unvollkommenen oder möglicherweise sogar fehlenden privaten Versicherungsmärkten in der EG expansive fiskalpolitische Aktivitäten notwendig sind, um nach adversen temporären und permanenten Schocks die realen Einkommen zu stabilisieren, fordern nun auch, die stabilitätspolitische Funktion nicht nur bei symmetrischen, sondern vor allem bei asymmetrischen Schocks zu zentralisieren. Sie sind aus unterschiedlichen Gründen der Meinung, daß es nationalen Regierungen nicht gelingen wird, die Entwicklung der realen Einkommen zu glätten, indem sie sich antizyklisch verschulden. (1) Es sei grundsätzlich durchaus denkbar, daß zwar auf regionaler (nationaler), nicht aber auf der Ebene der EG das neoricaidianische Äquivalenztheorem gelte (Sala-iMartin und Sachs, 1992). Bei einem fiskalischen Arrangement auf EG-Ebene verteilen sich die Steuerzahlungen und Transferleistungen so zwischen den Regionen (Nationen), daß die finanziell begünstigt werden, die auch negativ von länderspezifischen Schocks getroffen werden. Die niedrigeren Steuerzahlungen von den Regionen (Länder) und die höheren Transfers in den Zeiten, in denen diese mit einer instabilen makroökonomischen Entwicklung zu kämpfen haben, führen nun aber nicht dazu, daß diese Regionen (Länder) zu einem späteren Zeitpunkt für diese Hilfe bezahlen müssen, indem sie entsprechend höhere Steuern zu entrichten haben. Die höheren Steuern müssen nicht allein von diesen Regionen (Länder), sondern von allen Mitgliedern der Währungsunion aufgebracht werden. Das eigentliche Problem mit diesem Argument besteht nun aber - wie an früherer Stelle schon diskutiert - darin, daß in einer Welt, in der die relativen Preise eher starr sind, das

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neoricardianische Äquivalenztheorem wohl auf keiner Ebene gilt. Dann ist es allerdings - zumindest aus diesem Grund - weder notwendig noch sinnvoll, die fiskalischen stabilitätspolitischen Aktivitäten auf die Ebene der EG zu verlagern. (2) Daneben wird darauf hingewiesen, daß alle regionalen (nationalen) Versuche, die realen Einkommen bei asymmetrischen Schocks über die konjunkturdien Verlauf hinweg zu glätten, fehlschlagen müssen, wenn die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sehr mobil sind (Eichengreen, 1990; Sala-i-Martin und Sachs, 1992). Wenn sich die Regierungen der Regionen (Linder), die von adversen asymmetrischen Schocks gäroffen werden, auf den Kapitalmärkten stärker verschulden, wird in Zukunft auch die steuerliche Belastung für die privaten wirtschaftlichen Akteure ansteigen. Damit nehmen aber auch die Anreize für die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital (Unternehmungen) zu, in Gebiete mit niedrigerer steuerlicher Belastung abzuwandern. Die Steuerbasis dieser Regionen (Länder) wird sich verringern. Damit ist aber auch nicht mehr auszuschließen, daß sich der wirtschaftliche Niedergang in dieser(m) Region (Land) weiter verstärkt, von manchen wird sogar befürchtet, daß sich ganze Regionen entvölkern. Da die regionalen (nationalen) Regierungen vor einer solchen Entwicklung aber Angst haben, werden sie sich weniger stark als eigentlich notwendig verschulden. Damit gelingt es ihnen aber nur noch sehr bedingt, die wirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren. Die Fähigkeit, die realen Einkommen auf regionaler (nationaler) Ebene zu glätten, ist geringer als auf der Ebene der EG, da die Faktoren auf dieser Ebene sicher mobiler sind als auf EG-Ebene. Es erscheint deshalb nur folgerichtig zu fordern, die fiskalischen Aktivitäten zu zentralisieren. Diese These, wonach auf regionaler (nationaler) Ebene eine erfolgreiche Fiskalpolitik nicht möglich ist, steht und fällt mit der Mobilität der Produktionsfaktoren. Es ist allerdings schwierig, sich vorzustellen, daß der Faktor Arbeit trotz regionaler Unterschiede in den Einkommen und der Beschäftigung in Europa nicht nur auf EG-Ebene (Ermish, 1991), sondern selbst auf nationaler Ebene noch relativ immobil ist, die Faktoren Arbeit und Kapital aber sehr sensibel auf nationale Unterschiede in der Besteuerung reagieren sollen. Vor allem die relativ geringe Mobilität des Faktors Arbeit ermöglicht es den Volkswirtschaften zumindest auf nationaler Ebene auch weiterhin, unabhängige fiskalpolitische Aktivitäten zu entfalten, die nicht durch eine Abwanderung der Faktoren begrenzt wird. Denkt man diesen Gedanken konsequent zu Ende, ist es allerdings auch notwendig, daß nicht bestimmte institutionelle Regeln, wie etwa die fiskalischen Konvergenzkriterien in den Verträgen von Maastricht, die nationale fiskalpolitische Handlungsfähigkeit in einer Währungsunion beschränken (Buiter, 1992). Wenn es aber richtig ist, daß fiskalpoliti-

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sehe Aktivitäten im allgemeinen wohl kaum in der Lage sind, instabile makroökonomische Entwicklungen zu stabilisieren und die Eigenheiten des demokratischen Wahlprozesses dazu beitragen, daß die staatliche Verschuldung in Demokratien grundsätzlich zu hoch ausfällt (von Weizsäcker, 1992), erschienen diese Obergrenzen der staatlichen Verschuldung in einem ganz anderen Licht. Sie wären dann möglicherweise ein mehr oder weniger taugliches Mittel, die negativen Auswirkungen unvollkommener politischer Märkte zu begrenzen (Issing, 1992; Giovannini, 1992; Kenen, 1992). (3) Die Forderung, die stabilitätspolitischen fiskalischen Aktivitäten in einer Währungsunion zu zentralisieren, wird schließlich auch noch damit begründet, daß auf der Ebene der Länder gewisse 'moral hazard'-Probleme ausreichend expansive fiskalpolitische Aktivitäten bei adversen länderspezifischen Schocks verhindern können (Eichengreen, 1990). Wenn in einer Währungsunion keine glaubwürdige 'no bail-out'-Klausel existiert, haben die Mitgliedsländer immer gewisse Anreize, die aufgenommenen Kredite nicht oder zumindest nicht vollständig zurückzuzahlen. Die staatliche Kreditnahme, mit der nicht nur stabilitätspolitische, sondern vor allem allokative und distributive staatliche Aufgaben finanziert werden, fällt somit grundsätzlich 'zu hoch' aus. Damit sehen sich aber die Länder, die relativ hoch verschuldet sind, einer steilen Angebotskurve für finanzielle Mittel gegenüber. Die Gefahr, daß sie auf den Kapitalmärkten rationiert werden, ist somit nicht mehr auszuschließen. Diese Länder sind dann in Phasen rezessiver wirtschaftlicher Entwicklung möglicherweise nicht mehr in der Lage, die schwankenden Einkommen zu glätten. Daraus nun allerdings die Forderung abzuleiten, die fiskalpolitischen Aktivitäten auf die EG-Ebene zu transferieren, scheint voreilig. Die sinnvollere, weil einfachere und billigere Lösung besteht darin, in einer europäischen Währungsunion für eine wirklich glaubwürdige 'no bail-out'-Klausel zu sorgen. 3. Obwohl es nur wenig gute Gründe für fiskalpolitische Aktivitäten und eigentlich gar keine für eine zentrale Lösung der fiskalischen stabilitätspolitischen Aufgabe in einer europäischen Währungsunion gibt, wird immer wieder betont, daß die Währungsunion in den Vereinigten Staaten vor allem deshalb so gut funktioniert, weil ein System des 'fiscal federalism' existiert (Sala-i-Martin und Sachs, 1992). Das bundesstaatliche Steuer- und Transfersystem, das als automatischer Stabilisator arbeitet, sei ein wichtiger 'shock absorber'. Auf diese Weise würden über ein Drittel der negativen Effekte regionenspezifischer Schocks auf das verfügbare Einkommen kompensiert. Wenn das Einkommen in einem Staat ein Dollar niedriger liegt, wird es mit 35-44 Cents über fiskalpolitische Aktivitäten aufgestockt. Der größere Teil - 33-37 Cents kommt über geringere Abführung von Steuern an die Bundesregierung, der geringere

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Teil -1-8 Cents - über finanzielle Transfers von der Bundesregierung zustande. (1) Die These, wonach das amerikanische System des 'fiscal federalism' schwankende regionale Einkommen stabilisiert, ist nun allerdings nicht unwidersprochen geblieben. Wenn es richtig ist, daß sich bei stabilisierenden staatlichen Aktivitäten die Steuern und staatlichen Ausgaben mit dem Volkseinkommen verändern, bei umverteilungspolitischen Maßnahmen allerdings die Höhe der steuerlichen Belastungen und staatlichen Ausgaben von der Höhe des Volkseinkommens abhängt, ist das fiskalische System in den Vereinigten Staaten nur sehr begrenzt in der Lage, die regionale wirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren. Es trägt in allererster Linie dazu bei, in einem beachtlichen Umfang finanzielle Mittel von den reichen zu den armen Staaten umzuverteilen {von Hagen, 1991). Wenn sich das Einkommen in Bundesstaaten um 1 Dollar verringert, werden nur 10 Cents über fiskalpolitische Aktivitäten kompensiert. Dabei stammen 8 Cents von den geringeren Steuerzahlungen an den Bund und 2 Cents aus finanziellen Transfers vom Bund. Das Beispiel der Vereinigten Staaten zeigt somit eher, daB auch in einer Währungsunion eine zentrale Stabilisierung gar nicht notwendig ist. (2) Neben dieser fundamentalen Kritik am System des 'fiscal federalism' der Vereinigten Staaten scheint es aber auch denkbar, daß das System der fiskalpolitischen Aktivitäten in den Ländern der EG besser als das der automatischen Stabilisatoren in den Vereinigten Staaten funktioniert (Giovannini, 1992). Obwohl auf EG-Ebene keine zentrale fiskalische Instanz besteht, existiert in Europa schon heute ein System, das wie ein automatischer Stabilisator wirkt. Während allerdings in den Vereinigten Staaten die Steuern und Transfers über die Bundesregierung abgewickelt werden, verläßt man sich in Europa auf einen marktlichen Mechanismus. Werden die Länder der EG von adversen Schocks betroffen, können sie sich auch auf dem europäischen Kapitalmarkt verschulden. Die finanziellen Mittel werden durch Überschüsse der Länder bereitgestellt, die von positiven oder zumindest nicht von negativen Schocks betroffen werden. Es verwundert deshalb auch nicht, wenn die fiskalischen Defizite in Europa einen ganz ähnlichen Versicherungsschutz gegen asymmetrische Schocks wie das fiskalische Budget der Bundesregierung in den Vereinigten Staaten bieten (Atkeson und Bayoumi, 1991). Das europäische System ist dem amerikanischen nun aber möglicherweise überlegen, weil es durch die Marktkräfte diszipliniert wird, während die finanziellen Beziehungen zwischen den Staaten in den Vereinigten Staaten wenig transparent und nur der Kontrolle der Bundesregierung unterworfen sind. Das bisherige System in Europa zwingt die Länder, die von adversen Schocks betroffen sind, dafür zu sorgen, daß die aufgenommenen finanziellen Mittel auch wieder zurückgezahlt wer-

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den. Sie müssen somit permanent zwischen der realen Anpassung an adverse Schocks und der bloßen Finanzierung dieser Schocks entscheiden. Das ist in einem System des 'fiscal federalism', wo diese Entscheidung wegen des 'Umlageverfahrens' leicht vermieden werden kann, nicht der Fall. Da ein solches System einen Bias zugunsten der Finanzierung aufweist, besteht aber immer die Gefahr der 'Transferabhängigkeit' der einzelnen Staaten (Courchene, 1992).

V.

Einige Bemerkungen zum Schluß

Die Frage, ob in der EG zentrale fiskalpolitische Aktivitäten unumgänglich sind, wenn eine europäische Währungsunion funktionieren soll, läßt sich ganz eindeutig verneinen. Wenn die Gründe für instabile makroökonomische Entwicklungen in unvollkommenen nationalen ökonomischen und politischen Märkten zu suchen sind, die nicht nur die Anpassungskapazität von Volkswirtschaften verringern, sondern auch mit dazu beitragen, daß sich die Anpassungslasten erhöhen, macht es wenig Sinn, auf Schocks mit zentralen prozeßpolitischen Aktivitäten zu antworten. Eine ursachenadäquate Therapie besteht vielmehr darin, effiziente ordnungspolitische Maßnahmen zu ergreifen, die helfen, die Verletzlichkeit gegenüber Schocks zu verringern und das Ausmaß und die Schwere von Schocks selbst zu senken. Es ist deshalb nicht nur notwendig, zunächst einmal das 'Binnenmarktprojekt 1992' ordnungspolitisch anständig zu Ende zu bringen. Genau so wichtig ist es aber auch dann, zumindest die gröbsten ordnungspolitischen Fehler bei der Gestaltung einer Währungsunion zu vermeiden. Es macht keinen Sinn, daß sich Länder währungspolitisch eng aneinander binden, die schon jetzt enorme Schwierigkeiten haben, mit Schocks adäquat fertig werden. Dies sind aber auch die Länder, die das Ordnungsprinzip des Marktes nur widerwillig akzeptieren und starke Präferenzen für umverteilungspolitische Aktivitäten haben. Es sollten sich in einer späteren Phase deshalb nur Länder zu einer Währungsunion zusammentun, deren ökonomische und politische Märkte ähnlich gut funktionieren.

Literatur Agell, Jonas und Mats Dillin, 1991, Macroeconomic Externalities: Are Pigovian Taxes the Answer? Institute for International Economic Studies, Seminar Paper, Nr. 487, Stockholm. Atkeson, Andrew und Tamin A. Bayoumi, 1991, Do Private Capital Markets Insure Against Risk in a Common Currency Area? Evidence from the United States, mimeo, University of Chicago und IMF.

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Finanz- und geldpolUische Implikationen der Vollendung des europäischen Binnenmarktes und der Schaffung der Wirtschqfts- und Währungsunion Stefanie Hamacher und Werner Klein, K51n

I. Einleitung II. Der Delors-Bericht und die Verträge von Maastricht zur Budgetpolitik 1. Der Delors-Bericht 2. Die Maastrichter Verträge 3. Rahmenbedingungen der Finanzpolitik III. Theoretische Grundlagen für eine Kontrolle der Finanzpolitik 1. Gefährdung des Stabilitätsziels a. Der Konflikt zwischen Regierung und Zentralbank b. Auswirkungen der EWU auf Budgetbeschränkungen und Budgetdisziplin 2. Intemalisierung externer Effekte a. Transmissionseffekte b. Die Auswirkungen der Währungsunion auf die Transmission 3. Schocks und die Flexibilität der Finanzpolitik IV. Institutionelle Konsequenzen V. Implikationen der Maastrichter Verträge für den Gemeinschaftshaushalt

174 174 175 175 177 178 178 178 181 183 183 185 185 187 191

Tabellen und Abbildungen: Tabelle 1: Entwicklung der Schuldenquote in den EG-Ländern in vH des Bruttoinlandsprodukts (BIP) 176 Tabelle 2: Fiskalische Indikatoren in den EG-Ländern (in vH des BIP)

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Tabelle 3: Erträge aus dem Notenbankmonopol (in vH des BIP)

181

Abbildung 1: Die Erreichung der Maastrichter Verschuldungsquote (bei laufendem Defizit von 3 vH des BIP)

188

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Stefanie Hamacher und Werner Klein

I.

Einleitung Mit dem Weißbuch der Europäischen Gemeinschaften aus dem Jahre 1985 wurde jener Prozeß initiiert, der letztlich zur, wenn auch nicht in allen Details, vollzogenen Vollendung des europäischen Binnenmarktes zum 1. Januar 1993 führte. Damit wurde eines der zentralen Ziele der Römischen Verträge, das der wirtschaftlichen Integration, verwirklicht. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß trotz der institutionellen Regelungen des seit 1979 vereinbarten Europäischen Währungssystems (EWS) die bestehenden Wechselkursrisiken auch infolge des nunmehr freien grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs und der damit verbundenen Integration der Finanzmärkte noch deutlicher hervortraten. Die Etablierung der Wirtschafts- und Währungsunion, wie sie bereits in der Einheitlichen Europäischen Akte aus dem Jahre 1986 als Zielstellung weiterer europäischer Integrationsbemühungen formuliert wurde, soll dazu dienen, Wechselkursrisiken zu beseitigen und weitere ökonomische Voraussetzungen auf dem Wege zu einer Europäischen Union zu schaffen. Eine Konkretisierung dieses Vorhabens findet sich nunmehr, angeregt durch den sogenannten Deiorc-Bericht aus dem Jahre 1989, in Form eines Stufenplanes zur Errichtung einer Europäischen Zentralbank (EZB). Dies soll der institutionellen Etablierung der Europäischen Währungsunion (EWU) dienen. Damit würden - gemäß der den Delors-Phn konkretisierenden Maastrichter Verträge - die geldpolitischen Kompetenzen der nationalen Notenbanken beziehungsweise Regierungen der Mitgliedsstaaten auf eine Europäische Zentralbank übergehen. Weitgehend unberücksichtigt hierbei bleiben, trotz der in den Maastrichter Verträgen vereinbarten Budgetrestriktionen, allerdings die Verantwortlichkeiten der jeweiligen nationalen Finanzpolitiken in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EG. Mögliche Konfliktfelder zwischen europäischer Geldpolitik einerseits und einzelstaatlicher Finanzpolitik andererseits sowie deren ökonomische Konsequenzen sind Gegenstand der folgenden Überlegungen. n.

Der Delors-Bericht und die Verträge von Maastricht zur Budgetpolitik Die Verträge von Rom, nunmehr in ihrer Fassung als Einheitliche Europäische Akte (EEA), enthalten keine expliziten Regelungen zu den Finanzpolitiken der Mitgliedsländer. Zwar wurden in den 60er und 70er Jahren verschiedene Institutionen eingerichtet, die die Koordination der nationalen Wirtschaftspolitiken und auch der Budgetpolitiken verbessern sollten, jedoch wurden in keinem Fall verbindliche Regelungen festgelegt1. Der De/ore-Bericht eröffnete dann 1989 auf breiter Ebene die Diskussion um die BeEs handelt sich hierbei um den Ecofin-Rat, das 'Economic Policy Committee' und die sogenannte 'Coordination Group' (vgl. Caesar, 1990, S. 337).

Finanz- und geldpolitische Implikationen des Binnenmarktes

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deutung der Finanzpolitik für die Europäische Währungsunion. Die Verträge von Maastricht vom Dezember 1991 greifen die Grundidee des De/ors-Berichts, Obergrenzen für die Budgetdefizite der Mitgliedsländer zu fordern, auf und präzisieren diese. Beide Vorstellungen sollen im folgenden kurz dargestellt werden.

1.

Der Delors-Bericht

Grundlegend für die Forderung nach Obergrenzen für die Budgetausgaben im Defors-Bericht ist die Vorstellung, daß eine stabilitätswidrige Finanzpolitik in den Mitgliedsländern eine Gefahr für die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank darstellen könnte. Im Gegensatz zur Geldpolitik ist, wie der Bericht feststellt, hinsichtlich der Finanzpolitik keine bzw. nur eine geringe Konvergenz unter den Mitgliedsländern zu beobachten2. Bei zunehmender Aversion gegen Wechselkursrealignments konnten die negativen Auswirkungen stabilitätswidriger Finanzpolitik auf die Stabilität des Europäischen Währungssystems bisher noch zum Teil durch Kapitalverkehrskontrollen aufgefangen werden. Da bei der geplanten vollständigen Liberalisierung des Kapitalverkehrs diese 'Option' nicht mehr besteht, fordert der Delors-Report aktive Maßnahmen, um im Bereich der Budgetpolitik mehr Konvergenz zu erreichen. Explizit werden folgende Regelungen vorgeschlagen: (1) Obergrenzen für die nationalen Budgetdefizite; (2) Definition der allgemeinen Finanzpolitik für die mittlere Frist, insbesondere des Umfangs und der Finanzierungsart der aggregierten Budgetposition (vgl. DelorsBericht, 1989, S. 28). Der Defo/s-Bericht fordert damit nicht 'nur', wie vielfach dargestellt, Obergrenzen für die Budgetpolitik, sondern auch zusätzlich diskretionäre Maßnahmen zur Koordination der Finanzpolitiken. Dem Markt als disziplinierendem Faktor für die Finanzpolitik wird deutlich mißtraut3.

2.

Die Maastrichter Verträge

In den Maastrichter Verträgen wird der Vorschlag des De/o/s-Berichts, fiskalische Obergrenzen festzulegen, aufgegriffen und spezifiziert: Die wesentlichen Bestimmungen finden sich in Art. 104c EEA und dem 'Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit' (Lûitfer, 1992). Als Kriterien für die budgetäre Disziplin legen die Verträge ein Stromgrößen- und ein Bestandsgrößenkriterium fest4: Die meisten EG-Mitgliedsl9nder erhöhten in den siebziger und achtziger Jahren ihre Budgetdefizite; zudem stieg die Differenz der relativen Defizite (siehe Tabelle 1). Implizit wird mit dieser Forderung auch der Disziplinierungsfunktion einer unabhängigen Zentralbank mißtraut. Dies wird im folgenden noch deutlicher werden. Jeweils bezogen auf ein Jahr.

Stefanie Hamacher und Werner Klein

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(1) Das Verhältnis von (geplantem oder tatsächlichem) Budgetdefizit zum Bruttoinlandsprodukt darf den Wert von 3 vH nicht überschreiten (Stromgrößenkriterium). (2) Das Verhältnis von Staatsschuld zum BIP darf maximal 60 vH betragen (Bestandsgrößenkriterium). Für den Beitritt zur Europäischen Währungsunion werden beide Kriterien jedoch abgeschwächt. Es genügt, wenn jeweils eine substanzielle und kontinuierliche Annäherung an den Referenzwert erkennbar bzw. eine vorliegende Abweichung nur temporärer Natur ist5. Tabelle 1: Entwicklung der Schuldenquote in den EG-Ländern in vH des Bruttoinlandsprodukts (BIP) 1983 B 107,0 DK 74,3 D 40,9 F 29,5 GR 44,3 I 72,0 IRL 97,4 LUX 14,8 NL 62,0 P 56,0 E 36,3 UK 59,1

1984 112,3 78,0 41,8 31,8 53,2 77,2 102,4 15,0 66,1 61,4 42,8 60,4

1985 119,5 74,6 42,5 33,2 62,5 84,0 104,7 14,0 69,7 69,5 47,6 59,0

1986 123,7 67,2 42,7 34,2 65,3 88,5 115,7 13,8 71,7 68,4 48,5 58,1

1987 131,3 63,9 43,8 34,9 71,5 92,9 118,5 12,0 75,3 71,6 48,7 56,1

1988 132,2 64,0 44,5 35,9 79,7 96,1 115,4 10,2 77,4 74,0 44,5 51,0

1989 129,9 63,3 43,6 36,0 85,1 98,9 104,7 8,8 77,6 71,5 45,2 45,7

1990 129,4 62,8 43,7 36,1 89,5 100,9 101,4 7,8 77,8 67,8 44,7 43,0

1991 129,4 63,3 45,2 36,1 94,3 102,9 99,4 6,8 78,5 64,7 42,6 41,8

Quelle: Gückle, 1992b, S. 12. Die Sanktionsmechanismen, die der Kommission bzw. dem Rat zur Verfügung gestellt werden, falls ein Mitgliedsland nach Eintritt in die EWU die Kriterien verletzt, zeichnen sich insbesondere durch einen langen und komplizierten Implementierungsweg aus. Einer Feststellung durch den Rat, daß ein Land ein übermäßiges Defizit aufweist, folgen zunächst 'Empfehlungen' zur Abwendung; danach können Maßnahmen zur Beseitigung durch den Rat vorgeschrieben werden. Erst dann können, kommt eine ZweiDrittel-Mehrheit der (gewogenen) Stimmen zustande, Sanktionen verhängt werden, wozu eine Verschärfung der Veröffentlichung von Informationen vor der Emission von Schuldverschreibungen und anderen Wertpapieren durch das betroffene Mitgliedsland sowie eine Überprüfung der Darlehenspolitik durch die Europäische Investitionsbank zählen. Am Ende des Sanktionskatalogs können dem betroffenen Mitglied die Einrichtung eines Bardepots bei der Gemeinschaft sowie die Zahlung einer Strafe auferlegt In den Maastrichter Verträgen gelten folgende Definitionen: Defizit = Nettofinanzierungssaldo; Schuldenstand = Brutto-Gesamtschuldenstand zum Nominalwert am Jahresende nach Konsolidierung innerhalb und zwischen den einzelnen Bereichen des Staatssektors.

Finanz- und geldpolitische Implikationen des Binnenmarktes

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werden. Bereits aber die Entscheidung des Rates, ob tatsächlich ein Defizit 'übermäßig' ist, beinhaltet die Abstimmung der Mitgliedsländer. Hierbei können durch strategisches Verhalten und Kooperation zwischen den Ländern mit hohen Defiziten eine Feststellung und damit die Einleitung von Sanktionen verhindert werden (vgl. Gäckle, 1992a, S. 269). Auch nach dem Beitritt gibt es die Möglichkeit, von den Referenzwerten abzuweichen, wenn die Werte nur "ausnahmsweise und vorübergehend überschritten" werden und das "Verhältnis in der Nähe des Referenzwertes bleibt" (Art. 104c EEA). Außerdem soll bei der Überwachung die 'goldene Regel' berücksichtigt werden, wonach das öffentliche Defizit die Staatsausgaben für Investitionen nicht überschreiten sollte (Art. 104c EEA)6. 3.

Rahmenbedingungen der Finanzpolitik Für eine Behandlung der Frage der Finanzpolitiken müssen auch die Rahmenbedingungen, die auf anderen Gebieten durch eine Wirtschafts- und Währungsunion festgelegt werden, berücksichtigt werden. Insbesondere folgende Regelungen sind von Bedeutung, wobei diese Regelungen sowohl den De/ors-Bericht als auch die Maastrichter Verträge betreffen: (1) Mit der Vollendung des Binnenmarktes und der Währungsunion soll die Liberalisierung des Kapitalverkehrs abgeschlossen werden (Art. 67 EEA). (2) Wesentliches Element der Währungsunion ist die Errichtung einer unabhängigen, auf das Ziel der Preisstabilität verpflichteten Europäischen Zentralbank. Allerdings soll die EZB die allgemeine Wirtschaftspolitik der EG unterstützen (Art. 105 EEA). (3) Direkte Kredite durch die EZB an nationale Regierungen oder die Gemeinschaft werden ausgeschlossen, d.h. eine Monetisierung von Budgetdefiziten soll unterbunden werden. Offenmarktgeschäfte der EZB sind von dieser Regelung ausgenommen (Art. 104 EEA). (4) Es soll kein 'bail-out' stattfinden, d.h. die Gemeinschaft oder ein einzelnes Mitgliedsland sollen nicht für die finanziellen Verpflichtungen einer nationalen Regierung einstehen (Art. 104b EEA). (5) Die Wechselkurspolitik gegenüber Drittländern liegt in der Verantwortung des EuFragt man nach der Begründung für die speziellen Größen, so muß für das Bestandskriterium schlicht auf den Gemeinschaftsdurchschnitt verwiesen werden. Der Stromgröße liegt das Ziel der Stabilisierung der Schuldenquote zugrunde: Soll die Schuldenquote nicht weiter steigen, so darf die Neuverschuldung das Wachstum des realen BIP nicht übersteigen. Bei einem durchschnittlich angenommenen Wachstum des nominalen BIP von 5 vH und einer durchschnittlich angenommenen Inflationsrate von 2 vH ergibt sich eine Wachstunisrate von 3 vH für das reale BIP.

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ropäisehen Rates (Art. 109 EEA) 7 . Im Gegensatz zum Delors-Bericht und den Maastrichter Verträgen wandte sich der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft gegen die geforderten Obergrenzen und Koordinierungsvorschläge. Unter der Bedingung, da£ kein 'bail-out' stattfindet und daß keine Monetarisierung von nationalen oder gemeinschaftlichen Schulden erfolgt, würde der Markt eine aureichende Disziplinierung der Finanzpolitik erreichen (vgl. Wissenschaftlicher Beirat, 1989, S. 22). III. Theoretische Grundlagen für eine Kontrolle der Finanzpolitik Die Befürchtung, daß unbegrenzte und unabhängige nationale Finanzpolitiken mit den Zielen der EWU nicht vereinbar seien, sind theoretisch auf zwei Ebenen anzusiedeln. Zum einen wird befürchtet, daß nichtkontrollierte Finanzpolitiken das Stabilitätsziel der EZB gefährden könnten, zum anderen werden aus der Transmission finanzpolitischer Impulse eines Mitgliedslandes negative Effekte für andere erwartet. Zwar ist die Grenze zwischen beiden Aspekten fließend, sie sollen aber dennoch im folgenden separat behandelt werden. Vorab sei darauf hingewiesen, daß in der gesamten Diskussion implizit angenommen wird, daß eine Tendenz zu 'übermäßigen' Budgetdefiziten besteht. Theoretische Untersuchungen, insbesondere im Rahmen der 'Public Choice'-Theorie, legen nahe, daß in repräsentativen Demokratien aufgrund wahltaktischer Überlegungen eine Tendenz zur Steigerung von Budgetdefiziten besteht. Dieses Ergebnis wird auch den folgenden Analysen zugrunde gelegt (vgl. u.a. von Weizsäcker, 1992). 1. a.

Gefährdung des Stabilitätsziels Der Konflikt zwischen Regierung und Zentralbank Das Verhältnis zwischen Geld- und Finanzpolitik und dessen Konsequenz für die

Geldwertstabilität haben bereits Sargent und Wallace (1981) in ihrem grundlegenden Artikel "Some Unpleasant Monetarist Arithmetic" dargestellt. Wie die beiden Autoren zeigen, kann eine Zentralbank selbst in einer monetaristischen Ökonomie ihre Fähigkeit verlieren, die Inflationsrate zu kontrollieren8. Das Problem läßt sich anhand der beSpeziell gilt: "Besteht gegenüber einer oder mehreren Drittlandswahrungen kein Wechselkurssystem nach Absatz 1 [gemeint sind förmliche Vereinbarungen Aber ein Wechselkurssystem, d. Verf.], so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit entweder auf Empfehlung der Kommission und nach Anhörung der EZB oder auf Empfehlung der EZB allgemeine Orientierungen für die Wechselkurspolitik gegenüber diesen Wahrungen aufstellen. Diese allgemeinen Orientierungen dürfen das vorrangige Ziel der EZB, die Preisstabiiitat zu gewährleisten, nicht beeinträchtigen." (Art. 109 EEA). Eine monetaristische Ökonomie kann durch zwei Elemente charakterisiert werden: (1) Geldbasis und Preisniveau sind eng miteinander verbunden. (2) Die Zentralbank ist in der Lage, 'Seigniorage' (s. Fn. 9) zu erzeugen.

Finanz- und geldpolitische Implikationen des Binnenmarktes

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kannten Solvenzbeschränkung für den Staat verdeutlichen: db/dt mit:

b db/dt r n p s

= (r - n)b - p - s = = = = =

Verschuldung im Verhältnis zum realen Sozialprodukt (Schuldenquote) Wachstumsrate der Verschuldung im Verhältnis zum realen Sozialprodukt realer Zinssatz Wachstumsrate des realen Sozialprodukts Primärsaldo des Staatsbudgets (gesamter Finanzieningssaldo ohne Zinszahlungen) im Verhältnis zum realen Sozialprodukt = 'Seigniorage'9 im Verhältnis zum realen Sozialprodukt

Die Wachstumsrate des Budgetdefizites ist folglich ceteris paribus um so größer, je größer die Diskrepanz zwischen realem Zinssatz und Wachstumsrate des realen Sozialprodukts ist. Weiterhin verdeutlicht die Gleichung, daß budgetpolitischer Spielraum nur beim Primärsaldo besteht. In einem institutionellen Arrangement, das von einer Dominanz der finanzpolitischen Autorität über die geldpolitische Instanz gekennzeichnet ist, bestimmt die finanzpolitische Autorität unabhängig ihr Budget und damit den Gesamtbedarf an Verkäufen von Staatspapieren und die Größe der Seigniorage. Die Möglichkeit der Regierung, ihre Staatsausgaben über die Emission von Staatspapieren zu finanzieren, ist jedoch begrenzt, da der Privatsektor annahmegemäß zum einen eine Obergrenze für den realen Bestand an Staatspapieren im Verhältnis zum Sozialprodukt setzt und zum anderen einen bestimmten Zinssatz auf die Papiere verlangt. Die Zentralbank ist in einem solchen institutionellen Arrangement in der Regel nicht mehr in der Lage, die Inflationsrate zu kontrollieren. Dies ist insbesondere abhängig vom Ausmaß der Schuldenquote (b) und dem Verhältnis von n und r zueinander. Wie empirische Studien zeigen, ist die Konstellation r > n heute der Regelfall (vgl. Geschäftsbericht der Deutschen Bundesbank, 1991, S. 8)10. 9

10

Mit 'Seigniorage' werden die Einnahmen aus der Emission von Zentralbankgeld bezeichnet. Die monetäre Autorität erhält für die Hergabe von unverzinslichem Zentralbankgeld verzinsliche Aktiva. Die Einnahmen aus dem Notenemissionsmonopol können gesteigert werden, wenn das Publikum mehr Zentralbankgeld halten will. Dies ist dann der Fall, wenn das Transaktionsvolumen real wächst oder wenn bei steigender Inflation die Privaten einen bestimmten Realkassenbestand halten wollen. Werden die Einnahmen der monetären Instanz durch eine bewußt durch diese herbeigeführte Inflation erhöht, so spricht man auch von einer Inflationssteuer. Im folgenden soll allgemein von Seigniorage gesprochen werden (vgl. Gackle, 1992b, S. 134 ff.). Für einige Länder, insbesondere Italien, Irland, Griechenland und Portugal, galt zum Teil noch bis in die letzten Jahre eine 'günstigere' Konstellation für das Verhältnis von Verzinsung und Wachstum, so daß sie ihre Staatsausgaben stark erhöhen konnten, ohne daß die Verschuldungsquote im gleichen Ausmaß stieg. Dies konnte aber im wesentlichen nur durch die Anwendung von Kapitalverkehrskontrollen und Maßnahmen der Kreditrationierung erreicht werden, die die inländischen Anleger daran hinderten, auf rentablere ausländische Anlagen auszuweichen (vgl. Gackle, 1992b, S. 182).

180

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Tabelle 2:

Fiskalische Indikatoren in den EG-Ländern (in vH des BIP)

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Finanz- und geldpolitische Implikationen des Binnenmarktes

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Intuitiv läßt sich dieser Zusammenhang folgendermaßen erklären: Wenn die Regierung die Staatsausgaben erhöht, so muß die Zentralbank, um die Inflationsrate konstant halten zu können, die Wachstumsrate der Geldmenge konstant halten. Damit muß zur Finanzierung der Staatsausgaben der Verkauf von Staatstiteln an den Privatsektor steigen. Zur Finanzierung der Zinsen auf die Papiere und der Tilgung muß der Verkauf noch zusätzlich erhöht weiden. Bei einem Zinssatz auf Staatstitel, der größer ist als die Wachstumsrate des realen Sozialprodukts (r>n), steigt der reale Bestand an Staatstiteln stärker als das reale Bruttosozialprodukt. Wird nun aber die vom Privatsektor gesetzte Obergrenze für den Bestand an Staatstiteln erreicht, so können die Zinsen auf die bereits verkauften Staatspapiere und deren Tilgung nur noch über eine Erhöhung der Seigniorage und damit eine Erhöhung der Wachstumsrate der Geldmenge erreicht werden, vorausgesetzt, die finanzpolitische Autorität ist auch zu diesem Zeitpunkt nicht willens oder in der Lage, den Primärsaldo zu verändern. Tabelle 3: Erträge aus dem NotenBetrachtet man die Situation der einbankmonopol (in vH des BIP) zelnen EG-Mitgliedsländer hinsichtlich 1974-78 1979-83 1984-88 der Solvenzbeschränkung, so zeigt sich, daß einige Länder von einer StabilisieB 0,19 0,76 0,13 DK 0,35 0,25 0,45 rung der Schuldenquote (db/dt = 0) weit D 0,65 0,20 0,61 entfernt sind. Die Spalte 'Normativ sta0,21 F 0,37 0,75 IRL 2,59 0,95 0,62 bilisierender Primärsaldo' in Tabelle 2 I 3,53 1,96 1,58 gibt hierbei an, in welcher Höhe das einNL 0,57 0,47 0,51 E 4,17 1,92 2,10 zelne Mitgliedsland einen positiven PriP 4,52 1,67 4,91 märsaldo erreichen müßte, um die BeGR 3,14 3,17 3,75 dingung der Stabilisierung zu erfüllen. Quelle: Gäckle, 1992b, S. 144. Zu bedenken ist hierbei noch, daß eine hohe Schuldenquote wesentlich schwerer zu stabilisieren ist als eine niedrige, da mit steigender Schuldenquote ein immer größerer Anteil des Steueraufkommens für die Zinszahlungen aufgewendet werden muß. Tabelle 3 zeigt, in welchem Ausmaß einzelne Länder auf Seigniorage zurückgegriffen haben. b.

Auswirkungen der EWU auf Budgetbeschränkungen und Budgetdisziplin Zu fragen ist nun, ob innerhalb einer Währungsunion der Konflikt zwischen der Zentralbank und den Regierungen verschärft würde, d.h. insbesondere, ob die EWU bzw. die EZB die Solvenzbeschränkungen der Mitgliedsländer zu beeinflussen vermag. In einer Währungsunion mit einer geldpolitischen Instanz hat diese die Möglichkeit, auf die Solvenzgleichung über mehrere Punkte einzuwirken (vgl. Bovenberg et al., 1991):

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(1) Für die einzelnen Mitgliedsländer impliziert die EWU zunächst einen Verlust an Seigniorage. Zwar wird auch die EZB Seigniorage erzeugen, doch ist vorab nicht geklärt, ob jedes Mitgliedsland hieraus den gleichen Betrag durch Umverteilung erhält. Zu vermuten bzw. zu erhoffen ist, daß der Gesamtbetrag dann sinken wird, wenn die EZB tatsächlich strikte monetäre Disziplin Abt. Allerdings ist zu bedenken, daß das Ausmaß der Seignioragefinanzierung in nur vier EG-Ländern wirklich nennenswert ist. Dies konnte hier zum Teil nur erreicht werden, weil den Banken hohe Mindestreservesätze auferlegt wurden. Durch den unabhängig von der Währungsunion angestrebten gemeinsamen Finanzmarkt wird dieser Spielraum eingeengt, so daß bereits hieraus eine Begrenzung der Seigniorage erwartet wird (vgl. Bean, 1992, S. 34). (2) Bei zu erwartender hoher Güter- und insbesondere Kapitalmobilität wird die Steuerbasis sensibler werden, so daß große Intra-EG-Unterschiede im Steuersatz nicht mehr in dem Maße möglich sein werden wie bisher; damit wird die Einnahmeseite des Budgets berührt. Dies hat den Effekt, daß ein positiver Primärsaldo schwerer zu erreichen sein wird (vgl. Wyplosz, 1991, S. 175; de Haan, Sterks und de Kam, 1992, S. II). (3) Aufgrund des entfallenden Währungsrisikos werden die Staatstitel der Mitgliedsländer bei freiem Kapitalverkehr stärkere Substitute. Damit ergeben sich für die Zinsen auf staatliche Titel und die Möglichkeit der Emission zwei gegenläufige Effekte: Zum einen eröffnet sich für das einzelne Mitgliedsland ein größerer Markt an Nachfragern, so daß unter Umständen zu einem geringeren Zins mehr Papiere emittiert werden können. Zum anderen könnte aber der vom Privatsektor verlangte Zins auf Staatstitel steigen, eben weil die Inländer auch auf Emissionen anderer Länder Zugriff haben. Der sich jeweils einstellende Effekt wird u.a. von der Bonität eines Landes abhängen, wobei davon auszugehen ist: Je höher ein Staat bereits verschuldet ist, desto größer werden das Bonitätsrisiko und der entsprechende Zinsaufschlag sein. Auch die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte hinsichtlich eines 'bail-out' des vergleichsweise hochverschuldeten Mitgliedslandes durch die übrigen Staaten der Gemeinschaft beeinflussen das Zinsniveau. Nimmt die Bonität eines Landes aufgrund steigender Verschuldung ab, so verlangt der Markt einen Zinsaufschlag zum Ausgleich für das Risiko eines Forderungsausfalls oder einer Währungsabwertung11. In einer Währungsunion verschwindet aber dieser Abwertungsdruck und damit auch der Risikoaufschlag hierfür. Scheide und Trapp (1991, S. 435) weisen dagegen darauf hin, daß in einer Währungsunion die Signal11

Im bisherigen EWS mußten Länder mit hohen Inflationsraten zum Teil sehr hohe auf Abwertungserwartungen beruhende Zinsaufschläge zahlen (vgl. Duwendag, 1991, S. 227).

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funktion des Marktes hinsichtlich der Bonität noch verstärkt würde. Da es in einer Währungsunion mit einer einheitlichen Zentralbank keine Unterschiede in den nationalen Inflationsraten geben kann, können sich hieraus keine Zinsdifferenzen ergeben. Damit weiden die Zinsen nicht durch Änderungen der nationalen Geldpolitik berührt; die Zinsdifferenzen spiegeln dann allein die unterschiedliche Bonität, d.h. das Risiko eines Forderungsausfalls, wider. Ob der Markt eine Risikoprämie für einen Forderungsausfall verlangt, wird wesentlich von den Erwartungen hinsichtlich eines 'bail-out' abhängen. Rechnen nämlich die privaten Wirtschaftssubjekte hiermit, dann wird der Markt keine Risikoprämie mehr auf die Staatstitel eines hochverschuldeten Landes fordern. Zwar schließen die Vereinbarungen von Maastricht ein direktes 'bail-out' aus, aber über die Struktur- und Kohäsionsfonds könnte durchaus ein indirektes stattfinden. Je integrierter die Europäische Gemeinschaft ist - und dies ist das erklärte Ziel desto eher wird ein solches indirektes 'bail-out' wahrscheinlich12. Inwieweit wirtschaftspolitische Bedingungen, die mit einer solchen Hilfe verbunden werden können - zu vergleichen mit der Konditionalität der Kreditvergabe des Internationalen Währungsfonds -, den Effekt auf die Risikoprämie ändern können, wird in Kapitel IV näher behandelt. Insgesamt könnte also zumindest für einige Länder durchaus mit Verwirklichung der EWU die Solvenzbeschränkung enger werden. Damit würde der Konflikt zwischen einigen Regierungen und der Zentralbank verstärkt, d.h. der Druck auf die EZB, höhere Seigniorage zu erzeugen, könnte durchaus steigen. Falls die EZB dem Druck nicht nachgeben würde, stiegen die Zinsen mit eventuell negativen Auswirkungen für das Wachstum. 2.

Internalisierung externer Effekte Die Begründung für eine internationale Koordination der Finanzpolitiken beruht auf der Existenz fiskalischer Extemalitäten oder 'spillovers'. Würden durch die Währungsunion diese Transmissionseffekte begründet oder verstärkt, so könnte über eine Koordination eine Internalisierung dieser Extemalitäten erreicht werden13, a. Trananlssionseffekte Zur Analyse der Transmissionseffekte wird in der Regel auf das Mundell-FlemingModell zurückgegriffen (vgl. die aktuelle Rezension von Frenkel und Razin, 1987). 12

13

Wie Hagen und Fratianni (1991, S. 242) feststellen, erhöht eine steigende Solidarität unter den Mitgliedsstaaten die Gefahr eines 'bail-out'. Zwar fuhrt eine Währungsunion zu höherer Solidarität, aber dennoch sei es nicht korrekt, die EWU ursächlich für die Gefahr eines 'bail-out' anzuführen. Unter einer Koordination der Wirtschaftspolitik ist die Festlegung wechselseitig konsistenter Zielwerte und die darauf nach Dauer und Umfang abgestimmte Anwendung der Instrumente zu verstehen (vgl. Gackle, 1992b, S. 122).

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Unter der Bedingung vollkommener Kapitalmobilität und freier bzw. widerruflich fester Wechselkurse induziert eine expansive Finanzpolitik eines Landes zunächst höhere Zinsen aufgrund der gestiegenen Kreditnachfrage. Dies wiederum führt zu Kapitalimporten und einem Aufwertungsdruck, der die Notenbank zu Interventionen am Devisenmarkt zwingt, was damit zur Erhöhung der Inflationsrate in diesem Land beiträgt. Dies hat eine disziplinierende Wirkung auf die Finanzpolitik zur Folge. In einer Währungsunion mit einer gemeinsamen Währung entfällt dagegen der Druck auf die Wechselkurse. Der Zinsanstieg bleibt nicht auf das 'expansive' Land beschränkt, sondern verteilt sich auf alle Mitgliedsländer14. Durch den Zinsanstieg wird zum einen das Wachstum negativ beeinflußt, zum anderen findet ein finanzielles 'crowding out' statt, wenn der Zinsanstieg die zinsempfindliche private Kreditnachfrage zugunsten der als zinsrobust angenommenen Kreditnachfrage des Staates verdrängt. Letzteres ist primär ein Effekt des hohen Schuldenstandes. Damit würde durch den 'spillover' -Effekt der nationalen Verschuldungspolitik ein negativer externer Effekt begründet. Würde die gemeinsame Geldpolitik die expansive nationale Finanzpolitik einzelner Staaten und den damit induzierten Zinsanstieg erleichtern, so verteilt sich auch der hieraus resultierende Inflationsanstieg wieder auf alle Länder. In jedem Fall entfällt der Disziplinierungszwang für das betroffene Land, seinen finanzpolitischen Kurs zu än-

dern (vgl. Scheide und Trapp, 1991, S. 431; Frenkel und Klein, 1992, S. 15). In den bisherigen Ausführungen wurde implizit die Währungsunion gleichgesetzt mit dem Ersatz nationaler Währungen durch eine Einheitswährung und der Etablierung einer einheitlichen Zentralbank. Grundsätzlich kann eine Währungsunion jedoch bereits durch ein System unwiderruflich fixierter Wechselkurse der Währungen der teilnehmenden Länder begründet werden, wie dies gemäß dem Delors-Bericht und den Maastrichter Verträgen für die Übergangsphase vorgesehen ist. Dies entspricht der Verengung der Bandbreiten im EWS auf null. Bei vollkommen freiem Kapitalverkehr werden in diesem Fall jedoch nationale monetäre Impulse unmittelbar auf andere Länder übertragen, und spekulative Attacken aufgrund von Wechselkursänderungserwartungen können zu extrem hohen Kapitalbewegungen führen. Gleichzeitig werden die durch den Interventionsmechanismus bewirkten Asymmetrien verstärkt (vgl. Smeets, in diesem Band). Letztlich ist eine 'unwiderrufliche' Fixierung der Wechselkurse wohl nur dann glaubhaft, wenn eine gemeinsame Währung eingeführt wird (vgl. Bean, 1992, S. 39). Somit würde durch eine 'Nur-Fixierung' der Wechselkurse das Endziel einer einheitlichen Währung eher gefährdet. Im folgenden soll daher weiterhin von einer gemeinsamen Währung als Ziel der EWU ausgegangen werden. 14

Das Zinsniveau steigt zum einen aufgrund der höheren Nachfrage auf den Kapitalmärkten und zum anderen u.U. aufgrund eines allgemein höheren Risikoaufschlags auf Staatstitel.

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b.

Die Auswirkungen der Währungsunion auf die Transmission Es ist nun wiederum zu fragen, ob durch eine Währungsunion der Anreiz, eine expansive Finanzpolitik zu betreiben, verstärkt wird, was dann zu den beschriebenen Transmissionseffekten führt. Zunächst wird durch die angestrebte und zum großen Teil verwirklichte Liberalisierung des Güter- und Kapitalverkehrs der 'spillover'-Effekt nationaler Politiken erheblich verstärkt, wohingegen die direkte Wirkung auf nationale Größen sinkt. Jedoch ist das Ziel der Güter- und Kapitalverkehrsfreiheit nicht an die Währungsunion gebunden. Schließlich wird, wie bereits angeklungen, durch die EWU die Internalisierung der Kosten von Budgetdefiziten unter Umständen herabgesetzt: (1) Eine Wechselkursanpassung als Disziplinierungsfaktor entfällt. (2) Der induzierte (nominale) Zinsanstieg fällt geringer aus, weil er sich auf alle anderen Länder verteilt. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß für das betroffene Land die realen Kreditkosten dann nicht sinken, wenn die EZB keine akkomodierende Geldpolitik betreibt. (3) Kommt es EG-weit zu einer Inflationserhöhung, so fallt auch diese für das betroffene Land vergleichsweise geringer aus, da alle Länder hiervon betroffen werden. (4) Die zu zahlende Risikoprämie sinkt unter Umständen (wie bereits oben dargelegt). Aus der Existenz negativer externer Effekte wird die Notwendigkeit einer Koordination der Finanzpolitiken abgeleitet, um eine Über- oder Unterversorgung mit öffentlichen Gutem zu verhindern. Zwar ist grundsätzlich zunächst zu untersuchen, ob es sich um pekuniäre oder technologische Externalitäten handelt, denn nur letztere können Grundlage für eine Koordination sein. Da aber in einer Ökonomie mit Informationsasymmetrien der Unterschied zwischen beiden Formen externer Effekte aufgehoben ist, soll im folgenden auf diese Unterscheidung nicht weiter eingegangen werden15. 3.

Schocks und die Flexibilität der Finanzpolitik Zur Begründung gegen eine Begrenzung der nationalen finanzpolitischen Unabhängigkeit wird in der Literatur auf die Existenz realer Schocks verwiesen16. In einer 15

16

Eine Zinserhöhung aufgrund einer expansiven Finanzpolitik stellt eine internationale pekuniäre Externalität dar, die zunächst keine Effizienzwirkungen hat. Wird jedoch ein Zinsaufschlag aufgrund eines Forderungsausfalls-Risikos verlangt und überträgt sich dieses, verbunden mit einer allgemeinen Kreditrationierung, auf andere Länder (aufgrund asymmetrischer Informationen auf dem Kapitalmarkt), dann liegt eine technologische Externalität vor. Selbst wenn es aber bei pekuniären Externalitäten bleibt, dann können diese bei unvollständigen Güter- und Faktormärkten negative Wohlfahrtseffekte bewirken und somit ordnungspolitischen Handlungsbedarf induzieren (vgl. zu letzterem Beitrag Berthold, in diesem Band). Asymmetrische monetäre Schocks können in einer Währungsunion aufgrund der einheidichen Geldpolitik nicht mehr auftreten; asymmetrische finanzpolitische Schocks - dies betrifft die Fragen derfinanzpolitischenTransmission - wurden bereits oben behandelt.

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Währungsunion entfällt die Wechselkurspolitik als Anpassungsinstrumentarium. Insbesondere, wenn temporäre asymmetrische Schocks auftreten, die durch eine gemeinsame Geldpolitik nicht aufgefangen werden können, könnte eine flexible Finanzpolitik gefordert sein, um regional unterschiedliche Fluktuationen bei Produktion und Beschäftigung aufzufangen. Grundsätzlich käme auch eine Anpassung über die Preise oder über Arbeitskräftewanderung infrage (vgl. Mundeil, 1961). Aufgrund der bestehenden mentalen, kulturellen und sprachlichen Unterschiede sowie der hiermit verknüpften regionalen Bindungen ist aber weder jetzt noch in Zukunft eine wesentlich flexiblere Anpassung über steigende Faktormobilität zu erwarten. Wichtig sind dann die Fragen, wie wahrscheinlich asymmetrische reale Schocks und wie bedeutend die nominalen Rigiditäten sind. Hinsichtlich der ersten Frage wird in der Literatur insbesondere auf die Unterscheidung zwischen intra- und inter-industriellem Handel hingewiesen. Intra-industrieller Handel beruht auf der Ausnutzung von 'economies of scale', inter-industrieller Handel dagegen auf einer Spezialisierung durch komparative Vorteile. Bei einer zu erwartenden Zunahme des bereits jetzt dominierenden intra-industriellen Handels innerhalb der EG werden gemeinsame Schocks zunehmend symmetrisch auf die EG-Mitgliedsländer wirken, d.h. sektorspezifische Schocks werden kaum zu länderspezifischen. Bei dieser Argumentation bleibt jedoch das Ausmaß der Handelsbeziehungen unberücksichtigt, so daß auch in Zukunft mit länderspezifischen Schocks gerechnet werden muß (vgl. Bern, 1992, S. 35). Andere Ursachen für das Auftreten asymmetrischer Schocks stellen die möglichen unterschiedlichen Wirkungen einer gemeinsamen Geldpolitik, verschiedene Ausgangssituationen (vgl. Masson und Melitz, 1990), unterschiedliches Lohnverhalten der Mitgliedsländer sowie unterschiedliche Reaktionen auf Veränderungen des DollarKurses und der Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa dar (vgl. Beitrag Smeets, in diesem Band). Was die Frage der Nominalrigiditäten betrifft, so lassen die empirischen Ergebnisse bzw. die Prognosen keine eindeutigen Aussagen zu. Einerseits scheinen die Nominallöhne innerhalb der EG bisher relativ flexibel zu sein (vgl. Bean, 1992, S. 37), andererseits könnte mit zunehmender Integration eine Tendenz zu stärkerer Nominallohnangleichung ohne Rücksicht auf Produktivitätsunterschiede einsetzen. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß Wechselkursanpassungen keine Lösung bei permanenten länderspezifischen Schocks, wie beispielsweise einer dauerhaften Nachfrageverschiebung, darstellen. Statt dessen müßte die Absorptionsfähigkeit von Schocks durch die nationalen Volkswirtschaften durch entsprechende ordnungspolitische Maßnahmen erhöht werden (vgl. Beitrag Berthold, in diesem Band).

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IV. Institutionelle Konsequenzen Es ist nun nach den institutionellen Konsequenzen aus der obigen Analyse zu fragen. Grundsätzlich geht es darum, ob ein aktiver Eingriff in die nationale Budgetpolitik in der Form einer direkten Koordination der Finanzpolitiken oder in der Form von Obergrenzen für die Budgetdefizite stattfinden oder ob die Disziplinierung dem Markt überlassen werden soll. Die Forderung nach einer Koordination der Finanzpolitiken wird insbesondere mit dem Argument negativer externer Effekte begründet. Die Kosten einer expansiven Finanzpolitik könnten, wie gezeigt, für das entsprechende Land sinken, was wesentlich vom Verhalten der EZB und der Glaubwürdigkeit der 'no bail-out'-Klausel abhängt. Selbst wenn die Internalisierung herabgesetzt wird, müssen die Kosten einer Implementierung der Koordination untersucht werden. Sowohl die theoretischen Analysen zur Koordination der Makropolitik und ihrer Wohlfahrtseffekte als auch die empirischen Ergebnisse - verwiesen sei hier insbesondere auf die 'Lokomotivtheorie' der 70er Jahre - lassen Zweifel an der Nützlichkeit einer koordinierten Finanzpolitik aufkommen. Bereits auf nationaler Ebene ist eine diskretionäre Budgetpolitik, insbesondere wenn sie der finanzpolitischen Feinabstimmung dienen soll, kritisch zu beurteilen. Zum einen bereitet die empirische Erfassung der Multiplikatorwirkungen der Budgetpolitik erhebliche Schwierigkeiten, so daß die Dosierung finanzpolitischer Maßnahmen willkürlich wird; zum anderen müßten Staatsausgaben und Steuereinnahmen als Instrumente flexibel, d.h. insbesondere auch nach unten variabel, gestaltet werden können. Da dies erfahrungsgemäß nicht der Fall ist, besteht die Gefahr, daß aus temporären Budgetdefiziten strukturelle werden. Die antizyklische Finanzpolitik ist mittlerweile weitgehend diskreditiert. Unabhängig davon, in welche Richtung und mit welcher Stärke sie auf nationale volkswirtschaftliche Größen wirkt, wird diese Wirkung in einer Währungsunion noch vermindert, da sich der Effekt auch auf andere Länder verteilt. Dennoch ist es fraglich, ob die Mitgliedsländer diesen Souveränitätsverzicht leisten würden, der mit einer (prozeßpolitischen) Koordination verbunden ist (vgl. Frenkel und Klein, 1992, S. 113 f.). Die kritische Einschätzung einer diskretionären Finanzpolitik schwächt allerdings auch den Verweis auf asymmetrische Schocks durch die Gegner einer Begrenzung der Finanzpolitiken ab. Zudem ist hierbei auch fraglich, ob durch eine nachfrageorientierte Finanzpolitik den in der Regel angebotsseitigen Schocks begegnet werden kann (vgl. Beitrag Smeets, in diesem Band). Wie in Abschnitt III. dargestellt, könnte die Solvenzbeschränkung für einige Länder den Konflikt zwischen der Zentralbank und der finanzpolitischen Autorität verschärfen. Auch hier spielen das Verhalten der EZB und die Erwartungen hinsichtlich eines 'bail-

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out' eine entscheidende Rolle. Zu fragen ist dann, ob budgetpolitische Beschränkungen in der Form von Obergrenzen für die Neuverschuldung eine effektive Disziplinierung der Finanzpolitik erreichen können. Betrachtet man die in den Maastricht«- Verträgen festgelegten Budgetkriterien, so ist zunächst festzustellen, daß das Bestandskriterium - staatliche Gesamtverschuldung im Verhältnis zum BIP, das dem EG-Durchschnitt entspricht - nur geringe Aussagefähigkeit besitzt. Der Schuldenstand ist Ausfluß historischer Entwicklung und liefert keine Informationen über den aktuellen Entwicklungsstand eines Landes. Würde von allen Ländern das Erreichen dieses Wertes als Eintrittsbedingung für die EWU verlangt, so wären Belgien, Griechenland, Irland und Italien a priori von einem Eintritt 1999 ausgeschlossen. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich, würde ein Erreichen der 60 vH-Grenze bei Einhaltung des Stromgrößenkriteriums und den unterstellten Standardgrößen (S vH für das Wachstum des nominalen BIP und 2 vH für die Inflationsrate) in einigen Ländern Jahrzehnte dauern. Abbildung 1:

Die Erreichung der Maastrichter Verschuldungsquote (bei laufendem Defizit von 3 vH des BIP)

Jahre

Quelle: Matthes, 1992, S. 410.

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Größere Aussagefähigkeit besitzt hingegen die Stromgröße der Schuldenquote. Unter der gegebenen Konstellation wäre es sinnvoller, nur deren Stabilisierung zu verlangen. Aus der Sicht der 'Public Choice'-Theorie liegt die Vermutung nahe, daß Politiker Möglichkeiten finden werden, die Beschränkungen zu umgehen17. Auch das Argument, daß durch die Budgetregeln die Nicht-Monetisierungs-Klausel und die Vorgabe des 'no bail-out' glaubwürdiger wären, kann, berücksichtigt man die Diskretion, die mit ihrer Durchsetzung verbunden ist, nicht überzeugen (vgl. Bean, 1992, S. 47). Ob der Markt eine ausreichende Disziplinierung der nationalen Finanzpolitiken erreichen kann, hängt wesentlich davon ab, ob diejenigen Faktoren, die in Abschnitt II.3. unter den Rahmenbedingungen der Finanzpolitik behandelt wurden, d.h. insbesondere die Etablierung einer unabhängigen EZB18 und deren Verpflichtung zu monetärer Stabilisierungspolitik, das Verbot der Monetisierung von Budgetdefiziten und die 'no bailout'-Klausel, durchgesetzt werden19. Bei konsequenter Einhaltung dieser Vorgaben wird die Dominanz der geldpolitischen über die finanzpolitischen Instanzen der Mitgliedsländer gestärkt und ein möglicher Konflikt zwischen beiden Autoritäten zugunsten der EZB beeinflußt. Damit wären die nationalen Regierungen gezwungen, über eine Konsolidierung ihrer Staatshaushalte und gegebenenfalls eine Reform des Steuersystems ihren budgetpolitischen Spielraum zu erweitern. Um insbesondere die 'no bail-out'Klausel zu stützen, sollte jegliche finanzielle Hilfe an ein 'Krisenland' mit wirtschaftspolitischen Bedingungen verknüpft werden. Auf diese Weise würde dem Markt eine Chance gegeben, und gleichzeitig verbleibt eine Interventionsoption in Krisenzeiten20. Weiterhin könnte gegenüber den Finanzintermediären eine Begrenzung hinsichtlich des Anteils an Staatspapieren eines Landes in ihrem Portfolio eingeführt werden (vgl. Bean, 1992, S. 47 f.), um dem 'too large to fail'-Argument und damit einer 'bail-out'Vermutung entgegenzutreten. Gegen das Argument, Budgetbeschränkungen seien insbesondere im Hinblick auf exogene reale Schocks zu restriktiv, wurde vielfach eingewendet, daß gemäß den 17

18 19 20

Empirische Untersuchungen zur Effektivität von Budgetbeschränkungen in US-Bundesstaaten kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Vgl. Hagen und Fratianni (1991, S. 245), die keinen Nachweis fur die Effektivität von Budgetbeschränkungen finden, und im Gegensatz hierzu GOckle (1992b, S. 174). Vgl. zu den Bedingungen für eine unabhängige Zentralbank u.a. Neumann (1992). Kritisch ist in diesem Zusammenhang die in Maastricht durchgesetzte Regelung zu sehen, die Wechselkurspolitik in die Hand des Europäischen Rates zu legen. Wie Mussa (1992, S. 254) betont, ist gerade die sporadische Intervention wichtig: "...the proclivity for some international civil servants to run about yelling 'the sky is falling' when there is barely evidence of a cloud on the horizon does not provide a plausible and politically effective rational for significant alterations in the fiscal policies of national governments. Any effort to leverage the possible need to deal with occasional financial crises into a general rational for frequent interference in the fiscal affairs of national governments is doomed to ignominious failure."

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Maastrichter Verträgen bei der Durchsetzung der Obergrenzen Spielraum vorhanden sei (vgl. Bofinger, 1992, S. 460). Dies läßt aber dann Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Regeln aufkommen. Betrachtet man die Entwicklung der Finanzpolitik über die Zeit, so zeigt sich zudem, daß zwar bis 1987 in fast allen EG-Ländern die Schuldenquote erheblich gestiegen, aber mit Ausnahme der Länder Italien und Griechenland ab diesem Zeitpunkt zumindest eine Stabilisierung gelungen ist (vgl. Tabelle 1). Dies erfolgte ohne explizite Auflagen der EG 21 . Es fragt sich allerdings, ob nicht ein den Markt ergänzendes disziplinierendes Arrangement implementiert werden kann, das insbesondere in den 'Problemländem' im Übergang zur EWU einen Regimewechsel voranzutreiben vermag. Ein solches institutionelles Arrangement stellt die Errichtung einer unabhängigen Zentralbank dar. Konsequenterweise müfite von den Mitgliedsländern als Eintrittsvoraussetzung die sofortige Schaffung der Unabhängigkeit der Notenbank der betroffenen Länder und deren Verpflichtung zur Geldwertstabilisierung verlangt werden. Neuere Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Inflation, Budgetdefiziten und politischer Ordnung legen nahe, daß das politische System eine wesentliche Determinante für die Höhe der Verschuldung und der Inflation ist. Im Mittelpunkt dieser verschiedenen Ansätze, die sich unter dem Begriff der 'rationalen Partisanentheorie' zusammenfassen lassen, steht das strategische Verhalten politischer Parteien. Je höher der Grad der politischen Polarisierung und je geringer die politische Stabilität eines Systems sind, desto höher sind die Staatsausgaben und desto ineffizienter ist das Steuersystem 22 . Alesina und Tabellini (1990) fordern entsprechend, daß eine Regierung nicht vollkommene Diskretion über die Höhe der Staatsausgaben haben sollte. Sie schlagen vor, daß die verschiedenen Parteien sich auf einen Katalog von Ereignissen einigen sollten, deren Eintreten es der Regierung erlaubt, von einem ausgeglichenen Budget abzuweichen. Ein ähnlicher Gedanke wurde von Issing entwickelt23. Doch auch hier stellt sich wieder das Problem der Identifikation der Ausnahmesituationen und der Überwa21

22

23

"Those endeavors of a 'fiscal consolidation' have, however, certainly not resulted frora a deliberate strain for fiscal coordination but from a growing awareness of the disadvantages of public debt." (Caesar, 1990, S. 338). Intuitiv läßt sich dieser Zusammenhang folgendermaßen erklären: Je geringer die Wahrscheinlichkeit einer Wiederwahl für eine Regierungspartei und je großer die Präferenzunterschiede zwischen den Parteien sind, desto weniger internalisiert die regierende Partei die Kosten einer hohen Staatsverschuldung und desto eher versucht sie, über die Schuldenquote und ein ineffizientes Steuersystem eine Nachfolgepartei in ihrer Handlungsfreiheit zu begrenzen (vgl. Alesina und Tabellini, 1990; Cukierman, Edwards und Tabellini, 1992). Issing (1992, S. 4) schlägt vor, "die Fiskalregeln [sollten] im Idealfall auf die jeweilige Situation abgestellt sein, also bedingten Charakter haben. Hierbei ist jedoch zwingend nötig, ex ante relativ exakt zu definieren, in welchen ökonomischen Situationen und bei welchen exogenen Schocks eine bestimmte Defizitobergrenze 'ausgeschöpft' werden darf".

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chung der ergriffenen finanzpolitischen Maßnahmen. Wie die Erfahrungen in der Bundesrepublik mit Art. IIS GG zeigen, sind Begriffe wie 'normale Konjunkturlage' und 'investitionsüberschreitende Kreditaufnahme', also auch die gemäß den Maastrichter Verträgen zu berücksichtigende 'goldene Regel', nicht 'justitiabel' (vgl. Duwendag, 1991, S. 225; von Weizsäcker, 1992, S. 61). Die von außen an die Mitgliedsländer herangetragene Forderung nach sofortiger Implementierung einer unabhängigen nationalen Zentralbank vor Eintritt in die EWU könnte, wo notwendig, einen Regimewechsel in den betroffenen Ländern bewirken, die dann gezwungen wären, ein effizientes Steuersystem zu implementieren und ihre Staatsausgaben zu begrenzen. V.

Implikationen der Maastrichter Verträge für den Gemeinschaftshaushalt Die Verträge von Maastricht haben auch unmittelbare Auswirkungen auf die Finanzplanung der Gemeinschaft, die sich im Kommissionsvorschlag zum Finanzplan 19931997, dem sog. 'Delors-U-Paket', niederschlagen. Die Kommission forderte eine Erhöhung der Eigenmittel-Obergrenze von 1,2 vH auf 1,38 vH des Bruttosozialprodukts (BSP) für den Zeitraum 1993-1997. Auf dem nachfolgenden Gipfel von Edinburgh (Dezember 1992) wurde dann jedoch vereinbart, den Finanzrahmen um 2 Jahre zu strecken, die Belastung der Mitgliedsländer für 2 Jahre bei 1,2 vH des BSP zu belassen und erst ab 1995 die Obergrenze schrittweise auf 1,27 vH des BSP steigen zu lassen. Die Kommission nennt im Deforr-II-Bericht drei Schwerpunktthemen für die Aufgaben der Gemeinschaft: erstens Maßnahmen im Außenbereich, insbesondere eine zunehmende Beanspruchung durch Hilfen für die Länder Ost- und Mitteleuropas, zweitens Maßnahmen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und schließlich drittens als größten Posten den Bereich der Maßnahmen zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts24. Auch hier wurde jedoch auf dem Gipfel von Edinburgh eine Kürzung vorgenommen: Der Strukturfonds für die vier weniger wohlhabenden Länder Griechenland, Irland, Portugal und Spanien wird nach sieben Jahren verdoppelt, im Gegensatz zu einer ursprünglich geforderten 2/3-Aufstockung nach 5 Jahren. Der neu zu schaffende Kohäsionsfonds, gültig für die Mitgliedsländer, deren BIP pro Kopf unter 90 vH des Gemeinschaftsdurchschnitts liegt, soll mit 15 Mrd. ECU ausgestattet werden, allerdings erst bis 1999. Zwar wurden allgemein auf dem Edinburgh-Gipfel die Forderungen der Kommission zurückgedrängt. Dies deutet aber auf mögliche Konflikte in der Zukunft hin. Es kann 24

Gefordert wird jeweils eine Erhöhung der Mittel um 3,5 Milliarden ECU für die ersten beiden Schwerpunktthemen und 11 Milliarden ECU für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt.

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vermutet werden, daß insbesondere die 'ärmeren' Länder mit Verweis auf ihre Anstrengungen zur Erreichung der Budgetkriterien auf eine Erhöhung der Struktur- und Kohäsionsfonds drängen werden, insbesondere wenn sie sich einer Anpassung über höhere Lohnflexibilität entziehen wollen. Damit besteht die Gefahr, daß über diese Fonds ein indirektes 'bail-out' stattfinden könnte, dessen Konsequenzen bereits geschildert wurden. Aus diesem Grunde wäre eine Berücksichtigung von Produktivitätsunterschieden als zusätzliches Konvergenzkriterium zu fordern.

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Der Arbeitsmarkt im europäischen Integrationsprozieß Egon Görgens, Bayreuth

I. Makroökonomische Beschäftigungswirkungen des Binnenmarktes 1. Handelsströme und Beschäftigung 2. Beschäftigungswirkungen der Wachstumsbeschleunigung 3. Reduktion von Beschäftigungsschwellen a. Kürzere Arbeitszeiten b. Änderungen der Produktionsstruktur c. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen II. Von regionalen Teilarbeitsmärkten zum europäischen Arbeitsmarkt? 1. Unterschiedliche Ausgangsbedingungen 2. Freizügigkeit und Arbeitskräftewanderungen 3. Kapitalmobilität durch Direktinvestitionen III. Internationalisierung der EG-Arbeitsmärkte durch die Wirtschafts- und Währungsunion

199 200 203 205 208 209 211 213 214 219 221 227

Tabellen und Abbildungen: Tabelle 1: Beschäftigungsschwellen in der EG

206

Tabelle 2: Wirtschaftswachstum (Y) und Beschäftigung (B) in der EG (1961-91)

207

Tabelle 3: Löhne, Arbeitsproduktivität und Lohnstückkosten in der Europäischen Gemeinschaft (1987)

215

Tabelle 4: Ausländische Arbeitnehmer in vH der Erwerbstätigen insgesamt.... 220 Tabelle 5: Erwerb und Verkauf von Unternehmen (1988/89) und Direktinvestitionen (1975-1983) in der EG (Mio. ECU)

223

Tabelle 6: Entwicklung der Lohnstückkosten in der EG

228

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Egon Görgew

Mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1987 war die Vollendung eine& alle zwölf Mitgliedsländer umfassenden, voll integrierten Wirtschaftsraums bis zum Ende des Jahres 1992 vereinbart worden. In dem dieser Akte zugrunde liegenden Weißbuch der EG-Kommission von 198S, das die konkreten Schritte zu diesem Ziel auflistet, wird der Europäische Binnenmarkt charakterisiert als "eine Wirtschaftsregion ohne interne Grenzen, in welcher der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen, Kapital und Personen gewährleistet ist." Weitergehende programmatische Aussagen, die Arbeitsmärkte und Arbeitskräfte unmittelbar beträfen, finden sich hingegen nicht, weshalb insbesondere von gewerkschaftlicher Seite der Vorwurf eines einseitigen Wirtschaftsliberalismus (vgl. Adamy, 1989, S. 550; Lang, 1992, S. 99) erhoben wurde. Diese Kritik läßt sich freilich auch umkehren, daß nämlich eine gezielte Liberalisierung der Arbeitsmärkte in der Programmatik des 'Binnenmarktes 92' ausgespart wurde. Selbstverständlich schließt diese 'Neutralität' nicht aus, daß mit der Stärkung der Wirtschaftskraft als Folge der Markterweiterung und der Beseitigung von Marktzugangsbarrieren auch gewichtigte Arbeitsmarktwirkungen ausgelöst werden könnten, wie dies beispielsweise in der Form von Beschäftigungseffekten in dem im Auftrag der EG-Kommission erstellten ' Cecchini-BerichV (Cecchini etal., 1988) erwartet wird. Auch nach dem in Maastricht geschlossenen "Vertrag über die Europäische Union" (1992) ändert sich an dieser Sachlage grundsätzlich nichts. Vorrangig wird wiederum die "Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen" (Art. B) herausgestellt. Neu ist die Vereinbarung über die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) mit der (längerfristigen) Zielsetzung einer einheitlichen Währung. Von einer 'Sozialunion' ist nicht die Rede; spezifische Arbeitsmarktprobleme dürften sich jedoch aus den mit der WWU verbundenen Restriktionen für die nationale Wirtschaftspolitik ergeben. Konkrete Anhaltspunkte für direkte Beeinflussungen der Arbeitsmärkte bieten ebensowenig die Ergänzungen des Unionsvertrags wie das "Protokoll über die Sozialpolitik" und das daran anknüpfende 'Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ... über die Sozialpolitik'. Diese Vereinbarungen verstehen sich ausdrücklich als Fortführung der Grundsätze der Europäischen Sozialcharta von 1989. In allen Fällen handelt es sich vornehmlich um vage Absichtserklärungen. - Eine deutliche Ausnahme bildet lediglich die Übereinkunft, den Grundsatz "des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit" (Art. 6 Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ... über die Sozialpolitik) -. Die Bedeutung dieser rudimentären Ansätze europäischer Sozialpolitik ist schwer einzuschätzen. Einerseits bleiben die arbeitsmarktpolitisch zentralen Regelungen über Arbeitsentgelt, Koalitionsrecht, Streik- und Aussperrungsrecht ausdrücklich in nationaler Zuständigkeit (Art. 2, Abs. 6 'Abkommen'). In ergänzenden Erklärungen der Mit-

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gliedstaaten zum 'Abkommen' wird zudem festgehalten, daß Vereinbarungen der Sozialpartner auf EG-Ebene die Mitgliedsländer nicht binden. Die 'Gefahren' dieser Vereinbarungen könnten darin bestehen, daß sie einmal sozialpolitische Initiativen der EGKommission auslösen1 und/oder daß europaweite Vereinbarungen der Sozialpartner, die für die Mitgliedstaaten zwar rechtlich nicht verbindlich sind, jedoch präjudizierende Wirkungen haben könnten (vgl. Kotios und Schäfers, 1990, S. 204). Die Einführung - und wahrscheinlich weitere Aufstockung - der Kohäsionsfonds kann in diesem Sinne interpretiert werden. Jedenfalls ging Großbritannien bereits diese Art europäischer Sozialpolitik zu weit und verweigerte - wie bereits bei der Sozialcharta - seine Unterschrift. Wichtige Konsequenzen für die europäischen Arbeitsmärkte dürften sich primär als mittelbare Wirkung des Integrationsprozesses ergeben, und zwar einmal allgemein als Folge verstärkter internationaler Arbeitsteilung und zum anderen als Folge der angesichts sehr unterschiedlicher Ausgangsbedingungen in den Mitgliedsländern erforderlichen Anpassungsprozesse. Die unvermeidlichen Anpassungsschwierigkeiten wiederum könnten bei den Betroffenen oder den Tarifparteien Reaktionen auslösen, die wegen der zu erwartenden, grundsätzlich defensiven Ausrichtung in Unterstützungsforderungen einmünden. Schließlich ist zu bedenken, daß mit der Realisierung der in den sog. Maastrichter Beschlüssen programmierten WWU Freiheitsgrade nationaler Wirtschaftsund Beschäftigungspolitik drastisch beschnitten werden, wodurch zusätzlich Anpassungsprobleme auf den Arbeitsmärkten hervorgerufen werden können. I.

Makroökonomische Beschäftigungswirkungen des Binnenmarktes Der 'Cecchini-Bericht' kommt u.a. zu dem Ergebnis, daß die Beseitigung aller Hemmnisse im Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr - je nach Expansionsgrad der Wirtschaftspolitik - auf EG-Ebene zur Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts zwischen 4,5 vH und 7 vH und zu einer Zunahme der Arbeitsplätze zwischen 1,8 und 5 Millionen führen könnte. Deutlich darunter liegen die Schätzungen von Prognos (1990) mit 4,2 Prozent für das Wirtschaftswachstum und 2,2 Millionen zusätzliche Beschäftigte. Diese Quantifizierungen sollen nicht näher erörtert werden; ihre Beurteilung in der Literatur bewegt sich zwischen mehr oder weniger deutlicher Überschätzung und möglicher Unterschätzung (zu dieser Diskussion siehe etwa Franzmeyer, 1989; Grimm, Schatz und Trapp, 1989; Sperling, 1989). Da das Binnenmarktkonzept 1

Man denke etwa an die von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften eingesetzte internationale Expertengruppe zur Ermittlung eines 'gerechten' (Min-dest-)Lohnes in Europa (s. Schäfer, 1991, S. 711 ff.) oder den - anscheinend ruhenden - Richtlinienvorschlag zur Schaffung von Euro-Betriebsräten mit Informations- und Konsultationsbefugnissen (s. Franken, 1992, S. 13).

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vielfältige qualitative Änderungen bezweckt oder bewirkt, sind Prognosefehler besonderns wahrscheinlich. Statt dessen sollen einige wichtige Begründungselemente für den Zusammenhang zwischen Integration und Beschäftigung erörtert und - so weit möglich - ihre theoretische und empirische Gültigkeit2 kontrolliert werden. Zunächst sind drei beschäftigungsrelevante, interdependente Problemkomplexe angesprochen, die durch den gemeinsamen Wirtschaftsraum beeinflußt werden: Handelsausdehnung, Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsintensivierung. Während hier die Wirkung auf die Arbeitsmärkte gewissermaßen angehängt wird, z.B. an die Änderung der Handelsströme, sind in einem weiteren Problemkomplex die Arbeitsmärkte direkt betroffen, und zwar durch den Fortfall von (noch verbliebenen) Schranken zwischen den nationalen, in ihren Ausgangsbedingungen sehr heterogenen Arbeitsmärkten. 1.

Handelsströme und Beschäftigung Im Vordergrund möglicher Beschäftigungseffekte des Binnenmarktes stehen die durch den weiteren Abbau EG-interner Handelshemmnisse mögliche Ausweitung und Verlagerung von Handelsströmen. Zur theoretischen Basis genügt der Hinweis auf die traditionelle Außenhandelstheorie, wonach durch Abbau von tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnissen über die verstärkte Einbindung der nationalen Güter- und Faktormärkte in den internationalen Wettbewerb in größerem Umfang komparative Kostenvorteile genutzt und die internationale Arbeitsteilung ausgeweitet werden. Ob mit der Intensivierung des EG-Binnenhandels auch die erwarteten positiven Beschäftigungswirkungen verbunden sind, ist jedoch keineswegs sicher. Einmal ist der EG-interne Saldo zwischen positiven und negativen Beschäftigungswirkungen der Ausweitung und Verlagerung von Handelsströmen a priori keineswegs klar. Zum anderen könnten den möglichen positiven Beschäftigungseffekten verstärkten EG-Binnenhandels negative Beschäftigungswirkungen infolge protektionistischer Praktiken gegenüber Drittländern entgegenstehen. So versucht Schumacher (1990) anhand von Simulationsrechnungen eine seiner Meinung nach zu optimistische Einschätzung der Beschäftigungswirkungen durch die EGKommission zu belegen. Er geht vom 'Arbeitskräftegehalt' der Exporte und Importe innerhalb der Gemeinschaft und den Spezialisierungsmustem der Mitgliedsländer im Jahre 1985 aus. Die in der Cecc/u/u-Studie aufgrund von Befragungen ermittelten Umsatzerwartungen werden in Produktionserhöhungen umgerechnet und hiervon - über Export-/Importstrukturen der Mitgliedsländer und den spezifischen Arbeitskoeffizienten Hierbei wird gelegentlich auf die zweite Hälfte der achtziger Jahre als Testfair in der Annahme zurückgegriffen, daß bereits in diesem Zeitraum antizipierende Anpassungen an den 'Binnenmarkt 92' stattfanden.

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die Beschäftigungsbedeutung abgeschätzt. Schumacher kommt zu dem Ergebnis, daß mögliche Beschäftigungserhöhungen auf Gemeinschaftsebene (bei Gewinnern und Verlieren innerhalb der EG) wesentlich geringer ausfallen als von der EG-Kommission angenommen. Da zudem in einer Reihe von Branchen nach seinen Berechnungen zum Teil gewichtige absolute Beschäftigungsrückgänge zu erwarten sind, ergäben sich zusätzliche Strukturanpassungsprobleme, die ihrerseits beschäftigungsdämpfend wirken könnten. Es ist sicher nützlich, über die (vorherrschenden) Analysen der strukturellen Konsequenzen für einzelne Länder (z.B. Sperling, 1989, S. 323 ff.; Konle-Seidl, Ulimann und Walwei, 1990, S. 205 ff.) hinauszugehen und auf der Grundlage bestimmter Handelsströme und Spezialisierungsmuster die Beschäftigungswirkungen für die EG insgesamt abzuschätzen, weil hierdurch immerhin die unterschiedlichen Effekte in den einzelnen Mitgliedsländern im Gesamtzusammenhang abgebildet werden. Zugleich verdeutlichen die Berechnungen aber auch die Problematik solcher Quantifizierungsversuche. Die Abschätzung von Beschäftigungswirkungen auf der Basis der bisherigen Spezialisierungsmuster erscheint sehr fragwürdig, denn die verschiedenen Branchen sind durch Handelshemmnisse nicht gleichmäßig betroffen (s. Buigues et al., 1990, S. 24), so daß gerade die Liberalisierung via Preiswirkungen und Entscheidungsänderungen auf mikroökonomischer Ebene Änderungen in den EG-internen Export-/Importstrukturen hervorrufen dürfte. Dies bedeutet nicht, daß Schumacher nun seinerseits die Beschäftigungswirkungen unterschätzen müßte. Kurz- und mittelfristig könnte sogar das Gegenteil eintreten, wenn die These zutreffen sollte, daß der politische Stellenwert der Sicherung einheimischer Arbeitsplätze auch für die tatsächliche Höhe der Protektion eine wichtige Rolle spielt (vgl. Belker, 1991, S. 81 f.) und deshalb arbeitsintensive Branchen vom Fortfall der Schutzmaßnahmen besonders betroffen sind. Wie groß die Handelsausdehnung durch Schaffung des Binnenmarktes und dadurch ausgelöste Beschäftigungserhöhungen in isolierter Betrachtung auch immer sein mögen, gegengerechnet werden müßten stets längerfristige Beschäftigungseinbußen infolge von, möglicherweise auf Absperrungsmaßnahmen beruhenden Handelsumlenkungen gegenüber Drittländern3. Für die Vermutung verstärkter Protektionsbemühungen nach außen sprechen sowohl Initiativen zur Marktabschottung bei bestimmten Agrarprodukten aus 3

Ein empirisches Indiz hieriOr ist die sehr unterschiedliche Entwicklung von innergemeinschafUichen Einfuhren und der Einfuhr aus Drittländern. Seit den sechziger Jahren stiegen die Importanteile am BIP kontinuierlich an und betrugen 1981 für den innergemeinschaftlichen Handel 12,1 vH und gegenüber Drittländern 12,9 vH. Danach ist eine gegenläufige Entwicklung beobachtbar: Die innergemeinschaftliche Quote stieg bis zum Jahre 1990 ziemlich gleichmäßig auf 14 vH, der Anteil der EG-Importe aus Drittländern hingegen sank sukzessive auf 9,7 vH (s. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 272 f.).

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Lateinamerika oder die Herausnahme der 'sensiblen' Bereiche (Agrarprodukte, Stahl, Kohle, Textilien) aus den Assoziierungsabkommen mit Polen, Ungarn und CSFR wie auch die im Art. 130 des Vertrags über die Europäische Union verankerte europäische Industriepolitik. Zwar werden bekanntlich solche Maßnahmen zumindest auch mit beschäftigungspolitischen Notwendigkeiten zu rechtfertigen versucht, doch selbst wenn in der betroffenen Branche die Beschäftigungssicherung für einen längeren Zeitraum gelingen sollte, dürfte die gesamtwirtschaftliche (Beschäftigungs-) Schädlichkeit unstrittig sein (vgl. Görgens, 1983). Zu einer grundlegenden Revision dieser traditionellen Sicht geben wohl auch die Modelle der 'strategischen Handespolitik' wenig Anlaß. Aus der logischen Möglichkeit, daß durch Importschutz oder gezielte Subventionen für bestimmte Branchen in einzelnen Ländern oder Ländergruppen beispielsweise Skalenerträge realisiert werden, weil die höhere Binnenproduktion eine Fixkostendegression und/oder raschere Lerneffekte erlaubt, kann noch nicht geschlossen werden, daß sich solche Erfolge bei wirtschaftspolitischer Umsetzung auch tatsächlich einstellen (s. etwa Kösters, 1992, S. 53 ff.). Ob überhaupt in nennenswertem Umfang in den einzelnen EG-Ländem eine protektionsbedingt zu geringe Marktgröße die Ausschöpfung von Skalenerträgen verhindert, mag bezweifelt werden (vgl. Grimm, Schatz und Trapp, 1989, S. 16). Es ist schwer vorstellbar, daß es im industriellen Sektor häufig Fälle innergemeinschaftlicher Handelshemmnisse gibt, deren Kosten mögliche Skalenerträge übersteigen. Der gemeinsame Binnenmarkt dürfte dann - entgegen der Cecc/um-Studie - aus diesem Grunde keine bedeutenden Wachstums- und Beschäftigungswirkungen erzeugen. Eine gruppenmäßige Abschottung der EG im Sinne einer strategischen Handelspolitik macht in diesem Falle erst recht keinen Sinn. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, daß in Einzelfällen Protektionismus dem Freihandel überlegen sein könnte. Dann stellt sich jedoch das praktisch nicht lösbare Problem der Ex ante-Identifikation der zu schützenden Bereiche und der Abschätzung der Höhe der 'Gewinne' (zur Illustration der Probleme s. Kösters, 1992, S. 55 f.). Selbst wenn die potentiellen Vorteile bekannt wären, stellen sie sich möglicherweise wegen protektionsbedingter Verhaltensänderungen nicht ein, so daß erhoffte positive externe Effekte für andere Bereiche zumindest beschnitten werden. Wenn tatsächlich eine strategische Industrie identifiziert worden sein sollte, werden wahrscheinlich andere Länder nachziehen, was im Extremfall zu einem die Gesamtheit schlechter stellenden Handelskrieg führen kann. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß bei solchen Förderungsmaßnahmen immer Ressourcen aus produktiven Verwendungen abgezogen werden müssen. Bedenkt man nicht zuletzt, daß Entscheidungen über die Förderungswürdigkeit bestimmter Bereiche in politisch-ökonomischen Prozessen getroffen werden, ist

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die Vermutung nicht abwegig, daß nicht ökonomische Effizienzüberlegungen, sondern nationale Interessengruppen die handelspolitischen Entscheidungen dominieren (vgl. Berthold, 1992b, S. 54). Insgesamt wird man die kurzfristigen Beschäftigungseffekte der Schaffung des Binnenmarktes gering veranschlagen müssen. Wenn arbeitsintensive Bereiche vorrangig beschäftigungspolitisch motivierte Protektion genießen, wird hier die Liberalisierung kurzfristig auch die größeren - beschäftigungsdämpfenden - Anpassungsprobleme mit sich bringen (zu möglichen EG-internen Verlagerungen siehe Abschnitt II.). Verstärkte Abschirmungsmaßnahmen gegenüber Drittländern können allenfalls temporär den Anpassungdruck lindern. 2.

Beschäftigungswirkungen der Wachstumsbeschleunigung Optimistischer können die Beschäftigungskonsequenzen aus der (längerfristigen) Wachstumsperspektive eingeschätzt werden. Es ist ein bekanntes Phänomen, daß ordnungspolitische Änderungen im Sinne vermehrter ökonomischer Freizügigkeit vorher nicht erwartete Expansionseffekte auszulösen vermögen. Bekannte Beispiele sind etwa die 'industrielle Revolution', der ökonomische Aufstieg Japans nach der 'Meji-Restauration' gegen Ende des 19. Jahrhunderts, das deutsche 'Wirtschaftswunder' nach der Währungsreform von 1948 oder die gewaltigen Produktionssteigerungen im Agrarsektor infolge von Liberalisierungsmaßnahmen in China seit Ende der siebziger Jahre. Auch wenn mit dem EG-Binnenmarkt nicht derart radikale ordnungspolitische Kehrtwendungen verbunden sind, wird man gleichwohl tendenziell ähnliche dynamische Wachstums- und möglicherweise auch Beschäftigungseffekte nicht ausschließen können. Die Entfaltung dynamischer Aktivitäten ergibt sich vornehmlich aus den erweiterten Handlungsmöglichkeiten und der Wettbewerbsintensivierung. In der Regel fallen beide zusammen, da ein erleichterter Marktzugang auch den (latenten) Wettbewerbsdruck erhöht. Die Wachstumswirkungen des Binnenmarktes können zum einen aus der Handelsausdehnung resultieren; sie können jedoch auch losgelöst davon auf der freien Beweglichkeit von Ressourcen und Ideen basieren. Aus wettbewerbspolitischer Sicht kommt der allgemeinen Freizügigkeit auf Güter- und Faktormärkten innerhalb des Binnenmarktes ein besonderer Stellenwert zu, weil - von der Beseitigung prohibitiver nationaler Regulierungen abgesehen - nur auf diesem Wege eine Wettbewerbsintensivierung hinreichend verläßlich erwartet werden kann. Intensiver Wettbewerb läßt sich nicht befehlen, und mit wettbewerbsrechtlichen Vorschriften können in der Regel nur Wettbewerbsbeschränkungen vermieden werden. Mit dem Fortfall von Barrieren im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr treten hingegen neue Konkurrenten auf, die sich

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tendenziell aggressiver verhalten als einheimische Unternehmer, die vielfältigen nationalen 'Bindungen' unterworfen sind. Als Indizien für die Wettbewerbsintensivierung können die umfangreichen grenzüberschreitenden Fusionen angesehen werden. Ihre wettbewerbspolitische Bewertung ist a priori ambivalent: Einerseits können die Fusionen als Abwehr des (erwarteten) erhöhten Wettbewerbsdrucks interpretiert werden; andererseits können solche Fusionen die Schaffung einer Startposition bedeuten, die intensiven Wettbewerb erlaubt. Die Wirkungskanäle zwischen wettbewerblichen Aktivitäten und Wirtschaftswachstum können mannigfaltig sein. Naheliegend ist die Wirkungsrichtung von verstärktem Preiswettbewerb über Realeinkommens- und Nachfrageerhöhungen zur Wachstumsbeschleunigung. Die Realisierungsmöglichkeiten von Skalenerträgen setzen hier jedoch Grenzen. Vermutlich wichtiger sind die Impulse, die vom Wettbewerb auf die Entstehung und Verwertung von Wissen ausgehen. Im Vordergrund dürfte hierbei die beschleunigte Verwertung marktrelevanten Wissens über Produkte, Verfahren, Organisationsformen und dergleichen im Binnenmarkt stehen. Auch auf die Entstehung von Wissen ist ein belebender Einfluß zu erwarten, da aus dem Prozeß rascherer Verbreitung und Nutzung vorhandenen Wissens durchaus vermehrt Anstöße für 'neue Kombinationen' erwachsen können. Ergebnisse theoretischer und empirischer Untersuchungen sprechen für die Vermutung eines positiven Zusammenhangs zwischen Wettbewerbsintensität und Wachstumsgeschwindigkeit auch auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene (vgl. Neumann, 1968; Görgens, 1978; Odagiri, 1982). Zwar läßt sich ein Wettbewerbsintensitätszuwachs etwa infolge von Liberalisierungsmaßnahmen ebensowenig exakt quantifizieren wie etwa eine Wettbewerbselastizität des Wirtschaftswachstums; die empirischen Befunde stützen jedoch immerhin die Hypothese, daß eine auf intensiveren Wettbewerb ausgerichtete Wirtschaftspolitik mit steigenden Wachstumsraten des realen Sozialprodukts verbunden ist. Die Wachstumswirkung des Wettbewerbs scheint sich hierbei weniger aus verstärkter Investitionstätigkeit, sondern dominant aus der erhöhten Kapitalproduktivität zu ergeben (vgl. Görgens, 1978, S. 411 f.). Geht man davon aus, daß mit der Erweiterung der Gemeinschaft und Liberalisierungsmaßnahmen im Verlaufe der achtziger Jahre insgesamt eine Wettbewerbsintensivierung verbunden war, widersprechen die ökonomischen Entwicklungsdaten dem oben skizzierten Zusammenhang nicht: Im Zeitraum von 1974 bis 1983 betrug die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts in den heutigen zwölf Mitgliedsländern der EG 1,9 vH; bei einer durchschnittlichen Bruttoinvestitionsquote von 21,6 vH ergibt sich für diesen Zeitraum ein marginaler Kapitalkoeffizient von 11,4. In der anschließenden, etwas kürzeren Periode von 1984 bis 1991 stieg

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die Wachstumsrate auf 2,7 vH bei einer leicht rückläufigen Investitionsquote von 20,2 vH. Die Wachstumsbeschleunigung in der zweiten Phase ist also nicht auf relativ verstärkte Investitionstätigkeit, sondern auf die gestiegene marginale Kapitalproduktivität, die im gesunkenen marginalen Kapitalkoeffizienten von 11,4 auf 7,3 zum Ausdruck kommt, zurückzuführen4 - ein Resultat, daß losgelöst vom Wettbewerb als möglicher unabhängigen Variablen allgemeine Gültigkeit beanspruchen zu können scheint (s. Dürr, 1977, S. 49 ff.). Sieht man einmal davon ab, daß die Wettbewerbsintensivierung durch den Binnenmarkt die Arbeitsmärkte insoweit direkt betreffen könnte, als beispielsweise mit grenzüberschreitenden Markteintritten 'Insider'-Positionen zugunsten von 'Outsidern' geschwächt werden dürften oder etwa daß die - zu erwartende - Beseitigung von Arbeitsvermittlungsmonopolen zugunsten von konkurrierenden Vermittlungsinstitutionen beschäftigungsgünstige Anpassungserleichterungen schafft, ist für den vorliegenden Zusammenhang die entscheidende Frage, ob und inwieweit ein möglicherweise berechtigter Wachstumsoptimismus auf die Beschäftigtenentwicklung ausgedehnt werden kann. Einfache Korrelationsrechnungen zwischen Wirtschaftswachstum und Beschäftigtenentwicklung mahnen zur Vorsicht. Zwar sind die Koeffizienten durchwegs positiv und vielfach auch statistisch signifikant, doch scheint - analog zur Kapitalproduktivität - die Arbeitsproduktivität in deutlich engerem Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum zu stehen (vgl. Dürr, 1977, S. 67 ff.). Bei der Einschätzung solcher Korrelationsanalysen ist allerdings die Kausalitätsproblematik zu beachten. Wahrscheinlich wird man die Beschäftigtenentwicklung vornehmlich als abhängige Variable des Wirtschaftswachstums ansehen müssen (vgl. Dürr, 1985, S. 84 f.), was jedoch nicht ausschließt, daß die Kausalität dergestalt umspringen kann, daß Arbeitskräfteknappheit wie im Verlauf der sechziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland zum Wachstumsengpaß wird. Die wechselnden Kausalitäten sind freilich Niederschlag der bekannten Inflexibilitäten auf Arbeitsmärkten. 3.

Reduktion von Beschäftigungsschwellen Folgt man der angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in Europa wohl dominierenden Kausalität mit der Beschäftigung als abhängiger Variablen des Wirtschaftswachstums, so besagt ein eventuell enger Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Beschäftigung noch nichts über das Ausmaß wachstumsbedingter Beschäftigungswirkungen. Einen empirischen Anhaltspunkt für diesen Zusammenhang könnten die Schätzungen sog. Beschäftigungsschwellen liefern, wie sie jüngst die EG-Kommission (1991) 4

Eigene Berechnungen anhand der Daten in: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 288.

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vorgelegt hat (Tabelle 1). Tabelle 1:

Beschäftigungsschwellen in der EG

Land

1961-73

1973-79

Belgien Dänemark Deutschland Griechenland Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande Portugal Spanien Vereinigtes Königreich

4,5 2,4 4,0 8,1 4,9 4,3 5,5 3,2 2,5 7,0 7,5 3,0

2,2 0,8») 2,8 2,4 2,1 4,4 -0,7») 1,6») 3,6 3,6 4,3 1,4

EG 12

4,4 (3,8)0

1979-85

1985-91

1,8 1,4 1,5 2,1 2,0 2,7 0,6») 1,9») 1,5 2,4 1,8 1,7

1,3 1,3 1,5 0,8») 2,0 3,2 2,6 1,3 1,8») 4,0 2,6 1,5

2,2

1,9

1,6»»)

(1,5)

(2,0)

(0,8)

a) Statistisch nicht gesichert. b) Eigene Kontrollrechnungen ergaben einen Wert von 1,4. c) Beschäftigungsschwellen bei Verwendung der Schätzfunktionen in Tabelle 2. Quelle: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1991, Tabelle 3, S. 146. Das Wachstum des BIP wird in Abhängigkeit von der Beschäftigungsentwicklung geschätzt und die Regressionskonstante als die Gröfie interpretiert, die angibt, wie hoch die Wachstumsrate des BIP sein muß, ab der der Beschäftigungsmotor anspringt. Wenn auch - vielleicht infolge des sehr geringen Stichprobenumfangs - die Entwicklung nicht in allen Ländern gleichmäßig verläuft und einige Werte statistisch unzuverlässig sind, so wird doch die sinkende Tendenz der so definierten Beschäftigungsschwellen deutlich. Dies gilt insbesondere für das Aggregat der zwölf Mitgliedsländer, das ländermäßige Spezifika - oder auch statistische Fehler - in den Einzelreihen glättet. Während nach diesen Schätzungen in den sechziger Jahren erst jenseits einer Wachstumsrate des BIP von über 4 vH die Beschäftigung anstieg, ist in den siebziger und achtziger Jahren diese Schwelle sukzessive auf 1,6 vH gesunken. Welche Faktoren für diese Entwicklung im einzelnen auch verantwortlich sein mögen, der empirische Befund mahnt zunächst nachdrücklich zur Vorsicht gegenüber verbreiteten simplen Beschäftigungsprognosen, die frühere Zuwachsraten der Arbeitsproduktivität einfach fortschreiben. Dieser grundsätzliche Vorbehalt gilt freilich auch gegenüber dem in dieser EG-Studie mit dem Sinken der Beschäftigungsschwellen verbundenen Beschäftigungsoptimismus für den Gemeinsamen Markt. Die Beschäftigungsschwellen besagen nämlich nicht

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viel über die Beschäftigungswirkung des Wirtschaftswachstums. Zum einen erscheint das Rechenverfahren nicht unproblematisch. In der EG-Studie werden die Beschäftigungsschwellen ausdrücklich als Maß für die Beschäftigungswirksamkeit des Wirtschaftswachstums bezeichnet; der gewählte Regressionsansatz stellt diese Kausalität jedoch auf den Kopf. Bei adäquaten Regressionsfunktionen (Tabelle 2) sind die fallenden Tendenzen der Beschäftigungsschwellen für die einzelnen Teilperioden keineswegs mehr so eindeutig, wenn auch für den Gesamtzeitraum die Richtung erhalten bleibt. Vergleicht man die etwa gleich langen Zeiträume 1961-73 und 1979-91, ergeben sich als kritische Wachstumsraten Werte von 3,8 und 1,6 (nach dem Berechungsverfahren in der EG-Studie ergeben sich Werte von 4,4 und 1,7). Tabelle 2:

Wirtschaftswachstum (Y) und Beschäftigung (B) in der EG (1961-91)

Zeitraum*)

B

1961-73 1973-79 1979-85 1985-91 1973-91 1979-91 1961-91

B B B B B B B

= —

= = = = =

=

a -1,9 -0,6 -1,2 -0,4 -0,6 -1,1 -0,4

+ b

Y

r2

+ + + + + + +

Y Y Y Y Y Y Y

0,59 0,72 0,76 0,69 0,59 0,77 0,26

0,5 0,3 0,6 0,5 0,4 0,7 0,2

a

) Den Regressionen liegen jeweils prozentuale Zuwachsraten für B und Y zugrunde.

Quelle: Kommission der Europäi sehen Gemeinschaften, 1991, S. 233 und 244 (eigene Berechnungen).

Der Informationswert der Beschäftigungsschwellen ist auch dadurch begrenzt, daß sie nichts über die Wachstumselastizitäten der Beschäftigung besagen. So könnten niedrige Beschäftigungsschwellen mit geringeren Wachstumselastizitäten der Beschäftigung verbunden sein als höhere Beschäftigungsschwellen. Für eine 'Kompensation' niedrigerer Beschäftigungsschwellen durch kleinere Regressionskoeffizienten gibt es jedoch keine systematischen Anhaltspunkte. Man wird deshalb tatsächlich konstatieren können, daß seit Anfang der siebziger Jahre die (statistische) Reaktion der Beschäftigung auf das Wirtschaftswachstum stärker geworden ist. Daß hier ein drastischer Wandel wohl auch in den Kausalitäten vorliegt, zeigt der Vergleich der Subperioden mit der Schätzung für den Gesamtzeitraum (1961-91). Zwar ist auch das Ergebnis für den Gesamtzeitraum statistisch signifikant, doch bei einem Bestimmtheitsmaß von 0,26, wenn also 74 vH der Beschäftigungsänderungen - statistisch - nicht mit Wachstumsänderungen zu erklären sind, kann langfristig allenfalls von einem sehr lockeren Zusammenhang gesprochen werden. Freilich handelt es sich hier zunächst nur um statistische Beziehungen und nicht um ökonomische Erklärungen. Könnte man die empirischen Befunde als verläßlich einstufen, wären die Konsequenzen für den europäischen Arbeitsmarkt beachtlich. Eine Wachstumsrate des realen BIP von etwa 4 vH, die in den sechziger Jahren ohne Beschäftigungserhöhung geblieben war, würde bei zukünftiger Gültigkeit der aktuellen

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Bedingungen (1985-91) zu einer Wachstumsrate der Gesamtbeschäftigung von mehr als 1,5 vH führen. Ob ein derartiger Beschäftigungsoptimismus angebracht ist, hängt davon ab, ob die Faktoren, die das Sinken der Beschäftigungsschwellen verursacht haben könnten, auch in absehbarer Zukunft wirksam sind. Drei Ursachenkomplexe, die auch in der EG-Studie erörtert weiden, bieten sich als plausible Erklärungsmöglichkeiten an: (1) Arbeitszeitänderungen; (2) Änderungen der Produktionsstruktur; (3) arbeitsmarktpolitische Maßnahmen.

a.

Kürzere Arbeitszeiten

Geht man von einem festen Zusammenhang zwischen Arbeitsvolumen und Produktionsniveau aus, fuhrt eine Reduktion der Arbeitszeit zur Erhöhung der Zahl der Arbeitskräfte. Für diesen rechnerischen Beschäftigungseffekt ist es im Prinzip gleichgültig, ob etwa Wochenarbeitszeiten verringert oder ob etwa durch vermehrte Teilzeitbeschäftigung ein bestimmtes Arbeitsvolumen auf mehr Personen verteilt wird. Proportionale Beziehungen zwischen Arbeitszeitverkürzungen und Erhöhungen der Beschäftigtenzahl sind gewiß unzutreffend. Die umfangreiche Diskussion speziell zur Frage von Wochenarbeitszeitverkürzungen als beschäftigungsstimulierendes Instrument soll hier jedoch nicht wiedergegeben werden. Als Ergebnis der wissenschaftlichen Diskussion wird man festhalten können, daß allenfalls ein geringer Nettoeffekt zu erwarten ist (s. Layard, Nickell und Jacknum, 1991, S. 502 ff.). Die Skepsis wird auch nicht widerlegt, wenn man die Entwicklung in der EG (wegen Datenmangel ohne Portugal und Spanien) verfolgt. In der Zeit von 1983-89 ist die effektive Wochenarbeitszeit zwar insgesamt um 1,8 vH gesunken und die Beschäftigung um rund 6 vH gestiegen, so daß die Arbeitszeitverkürzung als partieller Beschäftigungsbeitrag interpretiert werden könnte. Betrachtet man jedoch die länderindividuelle Entwicklung, so bestehen keine systematischen Beziehungen. Für die 10 Mitgliedsländer ergibt sich zwischen Wochenarbeitszeitverkürzungen und Beschäftigtenentwicklung ein Korrelationskoeffizient von null (i 2 =0,01). Korreliert man die länderindividuellen Beschäftigungsschwellen (1985-91) und die Arbeitszeitverkürzungen (1983-89), ergibt sich ein - nicht signifikanter - Koeffizient von r 2 = 0,08, wobei der zugehörige Regressionskoeffizient immerhin das 'richtige* Vorzeichen aufweist5. Selbst wenn durch den Binnenmarkt ein verstärkter Druck auf Anpassung der Arbeitszeiten nach unten entstehen sollte, erscheint ein so verursachter Beschäftigungsschub nicht greifbar. Sinngemäß gelten die vorstehenden Ausführungen auch für die Teilzeitbeschäftigung. Sie ist in der EG sogar wesentlich stärker gestiegen als die Gesamtbeschäftigung 5

Zu den statistischen Ausgangsdaten vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 146 und 233.

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(s. OECD, 1990, S. 22 ff.). Da mit weiterhin steigender Frauenerwerbstätigkeit zu rechnen ist - wobei Verstärkungseffekte durch den Binnenmarkt nicht auszuschließen sind -, wird auch die Teilzeitbeschäftigung, die zu beinahe neunzig vH auf Frauen entfällt, zunehmen. Hochrechnungen bisheriger Entwicklungen sind jedoch nicht zuletzt deshalb problematisch, weil Wunsch und Wirklichkeit bei Teilzeitbeschäftigung stark auseinanderzugehen scheinen. Eine Befragung von Unternehmen und Arbeitnehmern auf EG-Ebene im Jahre 1989 ergab, daß 22 vH der Vollzeitbeschäftigten lieber eine Teilzeitbeschäftigung und 37 vH der Teilzeitbeschäftigten lieber eine Vollzeitbeschäftigung ausüben würden (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 148). In absolute Zahlen umgerechnet, bedeutet dies für die EG, daß 19 der 88 Millionen Vollzeitbeschäftigten zur Teilzeitbeschäftigung und 16 der 42 Millionen Teilzeitbeschäftigten zur Vollzeitbeschäftigung überwechseln möchten. Die tatsächlichen - und mutmaßlichen - Entwicklungen in der Europäischen Gemeinschaft sind das statistische Resultat sehr unterschiedlicher Verläufe in den einzelnen Mitgliedsländern. Statistische Tests des Zusammenhangs internationaler Unterschiede der Veränderung der Teilzeitbeschäftigung einerseits und der Änderung der Gesamtbeschäftigung und der unterschiedlichen Beschäftigungsschwellen andererseits ergaben zwar immer die 'richtigen' Vorzeichen, waren jedoch weit von den üblichen Signifikanzgrenzen entfernt. b.

Änderungen der Produktionsstruktur Beschäftigungserhöhungen als Folge von Änderungen der Produktionsstruktur werden seit geraumer Zeit im Zusammenhang mit der sog. Drei-Sektoren-Hypothese behauptet, wonach im Zuge des wirtschaftlichen Wachstums ein quantitativer Bedeutungswandel vom landwirtschaftlichen über den industriellen zum Dienstleistungssektor stattfinden soll. Auf die einzelnen Begründungselemente dieser insbesondere mit dem Namen Fourastii verbundenen Hypothese soll hier nicht eingegangen werden. Ihre besondere Beschäftigungsrelevanz ergibt sich daraus, daß wegen der vermuteten hohen Einkommenselastizität der Nachfrage nach Dienstleistungen dieser Sektor besondere Nachfrageimpulse bei gesamtwirtschaftlichen Einkommenssteigerungen erhält und andererseits wegen des als unterdurchschnittlich angesehenen Spielraums für Produktivitätssteigerungen die nachfragebedingte Produktionsexpansion mit kräftiger Beschäftigungserhöhung verbunden wäre. Jedenfalls würden in den fortgeschrittenen Industrieländern die im Verlauf des sektoralen Strukturwandels unvermeidlichen Arbeitsplatzverluste speziell im sekundären Sektor überkompensiert durch Arbeitsplatzvermehrungen im tertiären Sektor. Der durch die Drei-Sektoren-Hypothese vorgezeichnete Strukturwandel erscheint

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Egon Görgens

nicht selten als beschäftigungspolitischer Hoffnungsträger (vgl. Krupp, 1988; Dönges, Schmidt et al., 1988), und auch in der EG-Studie (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 148) wird der Verlagerung zum Dienstleistungssektor eine ausschlaggebende Rolle für das Wachstum der Gesamtbeschäftigung von 1983-90 zugewiesen. Als empirischer Beleg dient die Erhöhung der Gesamtbeschäftigung und der Anteilsgewinn des Dienstleistungssektors6. Beschränkt man die Drei-Sektoren-Hpothese auf die populäre Version des Anteilsgewinns des Dienstleistungssektors zu Lasten des Agrar- und insbesondere des Industriesektors, so ist sie bislang zweifellos richtig. Bezieht man die Behauptung einer systematischen Beziehung zwischen Dienstleistungsentwicklung und Wirtschafts- bzw. Einkommenswachstum in die Kontrolle ein, sind erhebliche Vorbehalte am Platze. So haben zwar die relativ einkommensschwachen Länder (Spanien, Portugal, Griechenland, Irland) wegen des höheren Agrarsektors (nicht Industriesektors!)7 geringere Dienstleistungsanteile als die restlichen Mitgliedsländer. Innerhalb der Gruppe der fortgeschritteneren Länder besteht jedoch keinerlei Zusammenhang zwischen Einkommensniveau und relativer Gröfie des Dienstleistungssektors. Mögliche Ursachen hierfür reichen vom unterschiedlichen Ausmaß der Verselbständigung von Dienstleistungen bzw. ihrer Integration im sekundären Sektor bis hin zu sektoral differenziert wirkender Subventionierung und Protektion. Wichtiger ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch die Frage der Beschäftigungskonsequenzen. Empirische Untersuchungen zeigen, daß entgegen verbreiteten Vorstellungen im internationalen Vergleich keineswegs die Länder mit den größten Anteilsgewinnen des Dienstleistungssektors auch die größten Beschäftigungserhöhungen aufweisen; mehrheitlich ist eher das Gegenteil der Fall (s. Görgens, 1992, S. SOS f.). Ein wichtiger Grund hierfür ist, daß die Annahme einer generell besonders hohen Arbeitsintensität von Dienstleistungen problematisch ist. Da die Arbeitsintensitäten vielmehr erheblich differieren und im internationalen Vergleich die Dienstleistungssektoren sehr unterschiedlich zusammengesetzt sind, kann die Erhöhung der Dienstleistungsproduktion deshalb mit erheblich abweichenden Beschäftigungskonsequenzen verbunden sein. Es empfiehlt sich, zwischen produktionsbezogenen Dienstleistungen (z.B. Transport-, Verkehrs-, Finanz- und Kommunikationsdienstleistungen) einerseits und verbraucherbezogenen Dienstleistungen (z.B. des Gesundheits- und Bildungswesens, Hotelund Gaststättengewerbes) andererseits zu unterscheiden. Letztere Gruppe ist sehr be6

7

Wahrscheinlich werden die Beschäftigungseffekte im Sinne der Drei-Sektoren-Hypothese in nicht geringem Umfang auch deshalb systematisch überschätzt, weil gerade im Dienstleistungssektor die Teilzeitbeschäftigung besonders zugenommen hat (vgl. Maier, 1991). Diese Länder scheinen die Phase mit einem 'normalen' Industrieanteil von etwa 50 vH zu überspringen.

Der Arbeitsmarkt im europäischen Integrationsprozeß

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schäftigungsintensiv, während die produktionsbezogenen Dienstleistungen eine Arbeitsproduktivität aufweisen, die über dem Durchschnitt des industriellen Sektors liegt (s. Görgens, 1992, S. 508). Zur Gruppe der produktionsbezogenen Dienstleistungen zählen aber gerade jene, auf die Deregulierungsmaßnahmen im Rahmen der Schaffung des Binnenmarktes vornehmlich abstellen: Dienstleistungen der Banken, Versicherungen und des Verkehrsgewerbes. Die Liberalisierung mag in diesen Dienstleistungsbereichen - regional unterschiedlich - Wachstumskräfte freisetzen; die mit der Ausdehnung des Dienstleistungssektors verbundenen Beschäftigungserwartungen werden jedoch nicht erfüllt. Hinsichtlich der verbraucherbezogenen Dienstleistungen ist die Erwartung besonderer Beschäftigungswirksamkeit plausibel. Ob durch den Binnenmarkt eine beschleunigte Ausdehnung der personalintensiven Dienstleistungen erwartet werden kann, ist ungewiß. Da für diese Dienstleistungen wegen der unterdurchschnittlichen Arbeitsproduktivität mit überdurchschnittlichen Kosten- und Preissteigerungen gerechnet werden müßte, hängt die faktische Entwicklung davon ab, ob und inwieweit diese eingebaute Expansions- und Beschäftigungsbremse überwunden wird. Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten: Die Kostenbelastungen werden durch (relative) Lohnsenkungen aufgefangen, oder der Staat springt finanziell bzw. als Nachfrager in die Bresche. Die bisherigen Erfahrungen lassen Lohnflexibilität nach unten eher als Ausnahme (in Japan und USA) erscheinen. Der Binnenmarkt könnte jedoch durch einen verstärkten Wettbewerb auch auf den Arbeitsmärkten einen Beitrag zu diesem Lösungsweg leisten. Ein verstärktes staatliches Engagement im Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich setzt entsprechende politische Entscheidungen voraus. Da die Finanzierung kaum ohne Steuererhöhungen zu bewerkstelligen sein dürfte, markieren die zu erwartenden Widerstände entscheidende Expansionsschranken. c.

Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen Das Sinken der Beschäftigungsschwellen könnte durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wie Umschulung, Fortbildung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Lohnsubventionierungen bedingt sein. Der empirische Befund, daß in jüngerer Zeit bereits bei niedrigeren Wachstumsraten des BIP die Beschäftigung steigt, beinhaltet dann keine (geänderte) Wachstumswirkung, sondern beruht einfach darauf, daß hohe Arbeitslosigkeit und niedriges Wirtschaftswachstum eine Intensivierung der Arbeitsmarktpolitik veranlaßten. Folgt man Darstellungen von Mitarbeitern des Insituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, so scheinen mit solchen Maßnahmen erhebliche Beschäftigungseffekte erzielt zu werden - wenn man die Wirksamkeit an der Zahl der von den Maßnahmen be-

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Egon Görgens

troffenen Personen mißt (s. Kühl, 1987, S. 362 ff.). In wissenschaftlichen Analysen dominieren jedoch die Zweifel an der beschäftigungspolitischen Durchschlagskraft, weil in erheblichem Umfang mit Substitutions- und Mitnahmeeffekten gerechnet werden muß (s. z.B. Lampert, 1982, S. 129 f.). Mißt man das Ausmaß aktiver Arbeitsmarktpolitik8 am durchschnittlichen (1986-89) Ausgabenanteil am BIP und stellt diese Quote den entsprechenden Beschäftigungszuwächsen bzw. Beschäftigungsschwellen gegenüber, so ergeben sich für den EG-internen Vergleich keinerlei systematische Zusammenhänge. Dies muß nicht unbedingt ein Beleg für die Wirkungslosigkeit der Arbeitsmarktpolitik sein, sondern hypothesenkonforme Fälle könnten durch solche überlagert worden sein, wo (drohende) Beschäftigungsrückgänge durch relativ hohe Ausgaben für arbeitsmarktpolitische Zwecke aufzufangen versucht wurden. - So hatte Irland im Beobachtungszeitraum die höchste Ausgabenquote für aktive Arbeitsmarktpolitik und zugleich den stärksten Beschäftigungsrückgang in der EG. - Zugunsten der Erfolgswirksamkeit der Arbeitsmarktpolitik sprechen diese Ergebnisse freilich auch nicht. Befriedigen können die verschiedenen Erklärungsversuche der gestiegenen Beschäftigungswirksamkeit des Wirtschaftswachstums im Lichte der erwähnten empirischen Indizien nicht. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Beschäftigungserhöhungen auch auf Faktoren wie Teilzeitarbeit, Strukturverschiebungen und dgl., jedoch in von Land zu Land verschiedenen Bündelungen, zurückzuführen sind. Gleichwohl ist zu bedenken, daß - von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen abgesehen - diese Faktoren auch in den sechziger bis Anfang der siebziger Jahre wirksam gewesen sein dürften. Einleuchtender erscheint deshalb die Deutung; daß in den früheren Phasen (1964-73) bei einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 2,4 vH in größerem Umfang Engpässe auf den Arbeitsmärkten wirksam wurden9. In den anschließenden Phasen 197379, 1979-85 und 1985-91 änderte sich, gemessen an den Arbeitslosenquoten von 4,3 vH, 8,5 vH und 9,6 vH, die Situation grundlegend. Auf makroökonomischer Ebene standen nun möglichen Nachfrageerhöhungen auf den Arbeitsmärkten keine Angebotsrestriktionen mehr gegenüber. Nun wird man den Umschlag von einem absoluten Beschäftigungsrückgang (197985) zum höchsten Beschäftigtenzuwachs seit Anfang der sechziger Jahre von insgesamt rd. 7 vH (1985-91) bei einer Beschleunigung der jährlichen Wachstumsrate des realen BIP von knapp 2 vH auf 3 vH angesichts der fortdauernd hohen Arbeitslosenquoten Öffentliche Finanzierung von Arbeitsmarktprogrammen ohne Zahlungen für Arbeitslose und vorzeitigen Ruhestand (s. OECD, 1991, S. 238 ff.). Für den Vergleichszeitraum 1961-73 ist nur eine EG-durchschnittliche Arbeitslosenquote ohne Griechenland, Portugal und Spanien verfügbar; sie betrug 2,2 vH.

Der Arbeitsmarkt im europäischen Integrationsprozeß

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nicht auf den Fortfall von Angebotsengpässen auf den Arbeitsmärkten zurückführen können. Möglicherweise haben die wirtschaftlichen Schocks Mitte der siebziger Jahre und Anfang der achtziger Jahre zu einem Attentismus bei der Arbeitskräftenachfrage geführt, der im Verlauf der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, nachdem auch die vorher gebildete versteckte Arbeitslosigkeit weitgehend beseitigt gewesen sein dürfte, durch den anhaltenden Aufschwung abgebaut wurde. Die Erhöhung der Arbeitskräftenachfrage dürfte jedoch nicht das beobachtete Ausmaß angenommen haben, wenn sich nicht zugleich die Angebotsbedingungen beschäftigungsgünstig entwickelt hätten. Die in den achtziger Jahren im EG-Durchschnitt gesunkenen realen Lohnstückkosten bei gleichzeitigem starken Anstieg der langfristigen realen Zinssätze - von praktisch null in den siebziger auf knapp 7 vH in den achtziger Jahren - haben die Faktorpreisrelationen zugunsten des Faktors Arbeit entscheidend verändert. Als vorläufiges Fazit kann festgehalten werden, daß durch den Binnenmarkt zusätzliche Wachstumsimpulse zu erwarten sind 10 . Fraglich erscheint jedoch, ob die im Verhältnis zum Wirtschaftswachstum beschleunigte Beschäftigungserhöhung in den achtziger Jahren auf die oben diskutierten, von der EG-Kommission in den Vordergrund gerückten nachfrageseitigen Faktoren zurückzuführen sind und einen Beschäftigungsoptimismus begründen. Bedeutsamer für die jüngere Entwicklung erscheinen vielmehr die zuletzt erwähnten EinfluSgrößen auf die Angebotsbedingungen, wobei den realen Lohnkosten (i.w.S.) besonderer Stellenwert zukommt. Inwieweit von der Schaffung des Binnenmarktes und durch die Realisierung weitergehender Zielsetzungen des Vertrages über die Europäische Union Einflüsse auf die Angebotsbedingungen ausgehen und anhaltende Beschäftigungseffekte freigesetzt werden, hängt maßgeblich von im einzelnen schwer voraussagbaren Reaktionen beispielsweise der Gewerkschaften sowie der nationalen und supranationalen Institutionen ab 1 1 . Angesichts der zumindest teilweise akzidentellen Faktoren (Abbau versteckter Arbeitslosigkeit, drastische Veränderung der Faktorpreisrelationen) wird man jedoch mit einem Anstieg der Beschäftigungsschwellen rechnen müssen.

II.

Von regionalen Teilarbeitsmärkten zum europäischen Arbeitsmarkt? Während EG-Kommission und Regierungen der Mitgliedsländer mehr oder weniger

10 Da Lander wie Österreich und Schweden mit einer EG-Mitgliedschaft kaum besondere Umverteilungsziele zu Lasten von Struktur- und Kohäsionsfonds anstreben dürften, sind diese Wachstumserwartungen wohl als wesentliches Beitrittsmotiv anzusehen. Dem widerspricht auch nicht das mögliche Motiv, bei einer möglichen 'Festung Europa' nicht draußen stehen zu wollen. 11 Zu einer Übersicht Aber verschiedene -durchwegs wettbewerbsaverse- Positionen s. Vogler-Ludwig, 1989, S. 16 ff.

•214-

Egon Görgens

große Beschäftigungseffektc durch die Verwirklichung des Binnenmarktes betonen, werden von gewerkschaftlicher Seite speziell in den fortgeschritteneren Mitgliedsländern Arbeitsplatzverluste und/oder ein Absinken der bisherigen 'sozialen Errungenschaften' befürchtet. Genährt wird diese Befürchtung durch die (erweiterte) Freizügigkeit für die Faktormobilität einerseits und die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen auf den national«! Aibeitsmärkten andererseits. Wenn auch die rechtlichen Voraussetzungen für die Freizügigkeit von Arbeitnehmern bereits Ende der sechziger Jahre geschaffen wurden, blieben immer noch Hindemisse etwa durch Nichtanerkennung von Diplomen und Prüfungszeugnissen sowie durch vornehmlich den Dienstleistungsverkehr betreffende Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit12. Die erweiterten Möglichkeiten interregionaler Mobilität begünstigen insbesondere die grenzüberschreitende Betätigung von Freiberuflern und bilden insoweit einen wichtigen Beitrag zur stärkeren Integration der Arbeitsmärkte. 1.

Unterschiedliche Ausgangsbedingungen Im Zentrum der Befürchtungen stehen die unterschiedlichen Löhne und Soziallei-

stungen innerhalb der EG, die Faktorwanderungen und darüber einen Druck auf den Beschäftigungsstand und die Sozialstandards in den fortgeschritteneren EG-Ländern auslösen würden. Um diesem Problem Herr zu werden, reichen die Vorschläge von Exante-Harmonisierung über Allgemeinveibindlichkeitserklärungen bis zu kompensierender Arbeitsmarktpolitik. Lösgelöst von der Stichhaltigkeit der einzelnen Argumente ist zunächst zu berücksichtigen, daß in diesen Befürchtungen und Vorschlägen nur mögliche Verlagerungen innerhalb der EG und nicht Niveaueffekte für die EG insgesamt angesprochen werden. Die Wirkungen der (behaupteten) Faktorwanderungen auf das Beschäftigungsniveau in der EG sind a priori zumindest offen 13 . Bei verstärkten Direktinvestitionen im 'Süden' steht den dortigen neuen Arbeitsplätzen möglicherweise ein Rückgang von Arbeitsplätzen im 'Norden' gegenüber. Auch bei der Wanderung von Arbeitskräften von 'Süd' nach 'Nord' kann auf Anhieb kein deutlicher positiver oder negativer Saldo ausgemacht werden. Zwar könnte durch den tendenziellen Lohndruck nach unten eine allgemeine Belebung der Arbeitskräftenachfrage einsetzen, doch der gleichzeitige Preisdruck auf den Gütermärkten infolge der Wettbewerbsintensivierung steht Reallohnsenkungen entgegen. 12 13

Zur differenzierten rechtlichen Behandlung der Freizügigkeit in bezug auf geographische und berufliche Mobilität sowie soziale Integration s. Ketelsen, 1991. Davon unbenommen sind selbstverständlich die Produktivitäts- und Wohlfahrtseffekte, die für die Zu- und Abwanderungsländer bei Wanderungen von (weniger produktiven) Niedriglohn- in (produktivere) Hochlohnregionen entstehen.

•215 •

Der Arbeitsmarkt im europäischen Integrationsprozeß

Bevor über mögliche Niveaueffekte durch verstärkte Faktorwanderungen spekuliert wird, erscheint es zunächst sinnvoller, die Eintrittswahrscheinlichkeit der AusgangsTabelle 3:

Löhne, Arbeitsproduktivität und Lohnstückkosten in der Europäischen Gemeinschaft (1987) •s

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Egon Görgens

rung der Standortkosten jedoch mit verstärkter vertikaler Integration zu rechnen 20 . Eingehendere Analysen wären für den vorliegenden Zusammenhang insbesondere auch deshalb erforderlich, um Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, ob und inwieweit die verstärkte Direktinvestitionstätigkeit mit zusätzlichen Sachinvestitionen und darüber möglicherweise mit der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze verbunden ist. Unser empirisches Wissen über die Zusammenhänge ist sehr dürftig. Plausibilitätserwägungen (s. etwa Belker, 1991, S. 104 ff.) schließen keine logischen Möglichkeiten aus. Direktinvestitionen können reine Verlagerungen zwischen 'Export-' und 'Importland' darstellen. Sie können jedoch ebenfalls der längerfristigen Sicherung der verbliebenen Kapazitäten und Arbeitsplätze im 'Exportland' dienen. Im 'Importland' wiederum können Substitutionseffekte entstehen, indem weniger leistungsfähige inländische durch ausländische Unternehmen verdrängt werden. In diesem Falle wie auch bei Unternehmensübemahmen, die unmittelbar weder zusätzliche Kapazitäten noch Arbeitsplätze schaffen, bleibt freilich die Verwendung der finanziellen Mittel zu klären. Welche Effekte in der EG im Verlauf der achtziger Jahre überwogen bzw. zukünftig durchschlagen werden, dürfte kaum abzuschätzen sein. Auf der makroökonomischen Ebene gibt es angesichts der Übernahmewelle einerseits und der leicht rückläufigen Investitionsquote in der EG andererseits keine Anhaltspunkte für eine positive Einschätzung. Möglicherweise sind allgemeine Aussagen nicht möglich, weil von Fall zu Fall sehr unterschiedliche Effekte auftreten. Eine Untersuchung von 19 Direktinvestitionen deutscher, englischer und französischer Unternehmen in der Automobilindustrie, der Chemie und dem Maschinenbau in Griechenland, Portugal und Spanien (vgl. Buckley und Artisten, 1987, S. 224 ff.) ergab bis auf wenige Ausnahmen in den Importländern positive Beschäftigungswirkungen. In den Herkunftsländern hingegen dominieren negative Beschäftigungskonsequenzen, weil die Direktinvestitionen meist mit Exportrückgängen verbunden waren. Die Autoren gelangen zwar für die Mehrzahl der Fälle zum Ergebnis eines positiven Beschäftigungssaldos, doch handelt es sich hierbei um Richtungsaussagen mit naturgemäß großem Unschärfebereich. Abgesehen von den schwer einschätzbaren Arbeitsmarktkonsequenzen auf Gemeinschaftsebene, auch bei isolierter Betrachtung der 'Importländer', sind die Folgen keineswegs klar. Wenn Lohnkostenunterschiede ein wichtiger Bestimmungsgrund für Direktinvestitionen sein sollten, müßten sie generell in den südlichen Mitgliedsländern stark gestiegen sein und zugleich eine Konzentration auf die Bereiche mit hohem Lohn20

Diese Hypothese kollidiert jedoch mit dem empirischen Befund der Autoren; denn nur in einem der von ihnen erfaßten 19 Fälle liegt eine vertikale und in zwei weiteren eine kombiniert horizontal-vertikale Integration vor. Zwar war im Befragungszeitraum der europäische Binnenmarkt noch nicht realisiert, aber eine schlagartige Verhaltensänderung nach dem 1.1.1993 ist wenig wahrscheinlich.

Der Arbeitsmarkt im europäischen Integrationsprozeß

•225-

kostenanteil an den gesamten Produktionskosten aufweisen. Weiterhin wäre eine Konzentration auf die Industriezweige zu erwarten, wo der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften und hochentwickelten Technologien relativ gering ist. Nach 1986 haben sich die ausländischen Direktinvestitionen in Spanien und Portugal gegenüber der ersten Hälfte der achtziger Jahre verdrei- bis vervierfacht, wobei der weitaus größte Teil der Investoren aus den EG-Ländem kommt. In Griechenland hingegen stagnierten die ausländischen Direktinvestitionen auf niedrigem Niveau. Ist die pauschale Aussage einer Beschleunigung also bereits einzuschränken und vom Vorliegen zusätzlicher Bedingungen abhängig zu machen, so ist die angedeutete strukturelle Differenzierung noch schwieriger identifizierbar. Dies liegt weniger daran, daß wegen branchenmäßig unterschiedlichen Gewichts nichttarifarer Handelshemmnisse deren Beseitigung auch entsprechende strukturelle Konsequenzen erwarten ließe, die von denen abweichen, die durch strukturbestimmende Faktoren wie z.B. Lohnkostengewicht und Qualifikationsanforderung geprägt wären. Die höchsten nichttarifären Handelshemmnisse - und überwiegend auch größten innergemeinschaftlichen Preisunterschiede - bestehen in mit dem öffentlichen Beschaffungswesen verbundenen Industriezweigen des Hochtechnologiebereichs (z.B. Femmeldewesen, Regeltechnik, medizinische Geräte) und traditionellen Bereichen wie pharmazeutische Produkte, Schienenfahrzeuge, Schiffbau, Elektroausrüstungen21. Produktionsverlagerungen dieser Industriezweige in die südlichen Länder dürften eher die Ausnahme sein. Insbesondere in den Hochtechnologiebereichen ist zu erwarten, daß die nördlichen Mitgliedsländer ihre komparativen Vorteile auszubauen trachten. Verlagerungen könnten eher erwartet werden bei den Industriezweigen mit durchschnittlichen nichttarifären Handelshemmnissen. Hierzu zählen Verbrauchsgüterindustrien (z.B. Bekleidung, Textilien, Schuhe), Investitionsgüterindustrien (z.B. Maschinenbau, Fahrzeugbau) ebenso wie Produktionsmittelindustrien (z.B. Wollindustrie, Chemie, Glas). In dieser Gruppe befinden sich nach Buigues et al. (1990, S. 104) die Industriezweige, die in Bezug auf das (relative) Gewicht der Lohnkosten sowie geringen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften und an hochentwickelten Technologien für eine Standortverlagerung prädestiniert wären, und zwar Textilien, Bekleidung, Schuhe, Keramik, Spielzeug. Empirische Anhaltspunkte für Spanien - für die anderen südlichen Mitgliedsländer liegen keine vergleichbaren Untersuchungen vor - widersprechen dieser Erwartung jedoch deutlich. Eine Erhebung für den Zeitraum von 1986-88 (wiedergegeben bei Buigues et al., 1990, S. 89) zeigt, daß ausländische Investitionen bevorzugt in die Branchen Chemie (30 vH), Lebensmittel- (16 vH) Papier- (14 vH) und Automobilindu21

Zur detaillierten Auflistung der 'hoch' und 'durchschnittlich' von nichttarifären Handelshemmnissen betroffenen 40 Industriezweige s. Buigues et al., 1990, S. 24.

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strie (14 vH) flössen. Von der Lebensmittelbranche abgesehen, belief sich in dieser Gruppe der Anteil der Auslandsinvestitionen an den Gesamtinvestitionen auf mehr als zwei Drittel. In die 'prädestinierten' Branchen wie Textilien, Bekleidung, Schuhe flössen hingegen nicht mehr als 1 vH aller ausländischen Direktinvestitionen. Naheliegende Erklärungen dürften zum einen sein, daß das Lohngefalle zwischen nördlichen und südlichen Mitgliedsländern von untergeordneter Bedeutung ist, und zwar aus zwei Gründen: Wie bereits erwähnt, müssen die Lohnunterschiede um die Arbeitsproduktivitätsunterschiede korrigert werden; zum anderen handelt es sich bei den erwähnten Konsumgüterindustrien um Branchen, die auch in den südlichen EG-Ländern bereits verstärktem Wettbewerbsdruck der Entwicklungsländer ausgesetzt sind 22 . Statt der Nutzung eines vielleicht kurzfristig noch möglichen Lohnvorteils werden eher die längerfristigen Absatzmöglichkeiten die Investitionsentscheidung bestimmen. In Spanien jedenfalls konzentrierten sich 1986-88 die Direktinvestitionen auf Industriezweige mit durchschnittlicher und starker Nachfrage. In die Zweige mit geringer Nachfragesteigerung gelangten lediglich 11 vH der gesamten Auslandsinvestitionen (vgl. Buigues et al., 1990, S. 89). Wenn mit Direktinvestitionen der nördlichen Länder weniger eine Verlagerung in südliche Mitgliedsländer, sondern eher ein Einsteigen in wachsende Märkte verfolgt wird, müßten sich die vielfach befürchteten negativen Beschäftigungswirkungen infolge von Exportverlusten in engen Grenzen halten. Als 'sichere' Arbeitsmarktkonsequenz kann wohl nur erwartet werden, daß sie einen positiven direkten Wachstumsbeitrag in den Zielländern und darüber indirekt auch in der Gemeinschaft leisten, der seinerseits die Beschäftigungsmöglichkeiten allgemein erweitert 23 . Ein weiterer Punkt kommt hinzu. Für das Ausmaß und die Richtung der Kapitalströme dürften auch unterschiedliche Arbeitskosten in der Form von Arbeitsmarktregulierungen, die in den statistisch ausgewiesenen Lohnstückkosten nur höchst unvollkommen zum Ausdruck kommen, bedeutsam sein. Die mit dem Binnenmarkt verbundene Intensivierung des Standortwettbewerbs - welche Branchen immer betroffen sein mögen - könnte auf die nationalen Arbeitsmarktregulierungen durchschlagen. Im Sinne der 'Insider/Outsider'-Theorie würden sich dadurch die Beschäftigungsmöglichkeiten speziell der 'Outsider' verbessern. 22

23

So betragt der Stundenlohn in Pakistan nur ein Viertel des portugiesischen (vgl. Buigues et al., 1990, S. 105). Eine ökonomisch sinnvolle Alternative zu möglichen Produktionsverlagerungen kann in Grenzregionen in der Vergabe von Lohnaufträgen bestehen. Dies wird in größerem Umfang zwischen dem ostbayerischen Raum und dem tschechischen Grenzland praktiziert, wo die Löhne 10 bis 20 vH des westdeutschen Niveaus betragen. Im Ergebnis deckt sich dies mit der Schlußfolgerung von Gerstenberger (1990, S. 177 f.) in bezug auf die BeschSftigungswirkungen des Binnenmarktes in Deutschland. Aufgrund der von Unternehmern bekundeten Strategien gelangt Gerstenberger zu einem vorsichtigen Beschäftigungsoptimismus für die deutsche Industrie.

Der Arbeitsmarkt im europäischen Integrationsprozeß

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III. Internationalisierung der EG-Arbeitsmärkte durch die Wirtschafte- und Währungsunion Bislang wurde von den mit dem 'Binnenmarkt 92' verknüpften - und im Vertrag von Maastricht näher bestimmten - Zielen der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) abgesehen. Bereits die vertraglichen Liberalisierungen bedeuten Einschränkungen nationaler Wirtschaftspolitik mit - wenn auch nicht gravierenden - wettbewerbsintensivierenden RQckkoppelungen auf die europäischen Arbeitsmärkte. Dieser Souveränitätsverzicht würde durch die WWU wesentlich erweitert, da eigenständige Geld- und Wechselkurspolitiken der Mitgliedsländer entfallen. Es ist überraschend, daß bislang von gewerkschaftlicher Seite angesichts der Konsequenzen, die sich für die nationale Lohn- und Sozialpolitik und damit für die Beziehungen zwischen den europäischen Arbeitsmärkten ergeben dürften, keine vehemente Kritik am Vertrag von Maastricht zu vernehmen ist. Eine Ausnahme bildet der Beitrag von Busch (1992), nach dessen Meinung aus der gewerkschaftlichen Interessenlage die WWU nicht zuletzt wegen der tarifpolitischen Konsequenzen für die Hochlohnländer dezidiert abzulehnen ist24. Der entscheidende Punkt ist selbstverständlich, daß beim Wegfall des Instruments der Veränderung von nominalen Wechselkursen und die Preisniveaustabilität sichernden monetären Bedingungen nominale Änderungen der Arbeitskosten zugleich reale sind25. Es entfällt nun die Möglichkeit, Lohnstückkosten in die Höhe treibende Tariflohnvereinbarungen ebenso wie expansive Arbeitsmarktprogramme durch eine (nachträgliche) geldpolitische Alimentation inflatorisch abzufedern und deren negative Konsequenzen für die internationale Wettbewerbsposition wiederum durch Wechselkursanpassungen aufzufangen. Daß von diesem Instrument in erheblichem Umfang Gerbrauch gemacht wurde, zeigt ein Vergleich der Entwicklung der Lohnstückkosten in nationaler Währung mit der auf ECU-Basis. In den achtziger Jahren (und Subperioden) wird die Streuung der Lohnstückkostenentwicklung zwischen den EG-Ländern durch Wechselkursänderungen (als Folge des EWS?) nahezu halbiert. Die Länder mit den stärksten Wechselkursanpassungen im Sinne einer Abwertung ihrer Währungen gegenüber dem ECU waren Griechenland und Portugal, gefolgt - allerdings mit sehr großem Abstand - von Italien und Spanien (Tabelle 6).

24 25

Zur deutlichen Distanzierung von Büschs Thesen von gewerkschaftlicher Seite s. jedoch Wehner (1992, S. 759) sowie Heise und Küchle (1992, S. 762). Hieran vermag auch Rieses (1986, S. 9 (f.) einen zutreffenden Kern enthaltender, stabilisierungspol¡tisch gleichwohl irreführender Hinweis nichts zu ändern, die Tarifparteien handelten Nominalgrößen aus, über deren realen Wert in Marktprozessen entschieden würde. So weit darf man die Bedeutung monetärer Bedingungen wohl nicht herunterspielen.

Egon Görgens

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Tabelle 6: Entwicklung der Lohnstückkosten in der EG Jährliche Veränderung der nominalen Lohnstückkosten (vH) in nationaler Währung1) in ECUb) 1980-85 1986-90 1980-90 1980-85 1986-90 1980-90 Belgien Dänemark Deutschland Frankreich Griechenland Italien Irland Luxemburg Niederlande Portugal Spanien Vereinigtes Königreich

4,7 6,5 2,8 9,4 21,6 14,8 10,1 5,1 1,6 19,7 9,7

1,7 3,5 1,6 2,2 14,7 6,5 2,7 3,8 0,8 11,8 5,8

3,3 5,1 2,3 6,1 18,5 11,0 6,7 4,5 1,2 16,1 7,9

4,2 6,3 3,2 8,1 12,1 12,1 9,5 4,6 1,8 10,4 7,5

1,8 3,6 1,7 2,2 7,6 6,2 2,5 4,0 0,9 8,5 5,8

3,1 5,1 2,5 5,4 10,1 9,4 6,3 4,3 1,4 9,5 6,7

8,4

7,1

7,8

8,5

5,9

7,3

EG 12

8,6

4,4

6,7

8,6

4,4

6,7

Standardabweichung

6,3

4,3

5,3

3,4

2,5

2,8

") Quelle: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 102. Zuwachsraten in nationaler Währung, korrigiert um die Paritätsänderung gegenüber dem ECU.

Busch (1992) plädiert nicht gegen eine WWU, weil auch die Lohn- und Sozialpolitik dem 'Stabilitätsdiktat' unterworfen wäre. Er befürchtet vielmehr für die nationale Tarifpolitik nicht hinnehmbare Zwänge, die von unterschiedlichen Produktivitätsentwicklungen in den Mitgliedsländern ausgingen (S. 269 f.). Er nimmt an, daß "in den schwächer entwickelten Mitgliedsstaaten wesentlich höhere Produktivitätszuwachsraten erreicht werden als in den entwickelteren Staaten". Dies führe "- selbst wenn sich die Lohnzuwachsraten streng an die jeweiligen Produktivitätszuwachsraten halten - zu deutlichen Marktanteilsverschiebungen zugunsten der 'ärmeren' Mitgliedsstaaten". Warum dies so sein soll, wenn sich alle Länder an den Produktivitätskalkül halten und die Lohnstückkosten mithin überall konstant bleiben, sagt Busch nicht. Zugunsten des Arguments sei eine stärkere Verbesserung der Kapitalrentabilität in den ärmeren Ländern unterstellt. Da die drohende Marktanteilsverschiebung zu Lasten der reicheren Länder nicht mehr durch 'Paritätsänderungen akkomodiert' (soll wohl heißen: Abwertungen der reicheren gegenüber den ärmeren Ländern) werden könne, bleibe nur die - für Gewerkschaften der 'Hochlohnländer' inakzeptable - Möglichkeit der Lohnstück-

Der Arbeitsmarkt im europäischen Integrationsprozeß

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kostensenkung, also die Produktivitätszuwachsraten nicht voll in Lohnerhöhungen einzufangen. In die gleiche Richtung zielt ein zweites Argument von Busch. Da Länder wie Spanien, Portugal, Italien und Griechenland eine stark restriktive Politik betreiben müßten, um die Einstiegsvoraussetzungen (Inflationsrate, langfristiger Zins, Finanzlage der öffentlichen Hand) für die Endphase der WWU zu erfüllen, sei angesichts der in diesen Ländern sehr schwachen Gewerkschaften mit überdurchschnittlich sinkenden Lohnstückkosten zu rechnen. "Die preislichen Wettbewerbsvorteile, die die 'ärmeren' Länder gegenüber den 'reicheren' Mitgliedsstaaten unter diesen Voraussetzungen aufwiesen, würden immer stärker werden", und es "entstünde in den entwickelteren Mitgliedsstaaten ein erheblicher ökonomischer und sozialer Anpassungsdruck" (Busch, 1992, S. 272). Wieso eine Reduktion der Inflationsrate in diesen Ländern auf das niedrigere Niveau der reicheren Länder bei konstanten Wechselkursen für letztere einen preislichen Nachteil bringen soll im Vergleich zu einer Situation, wo unterschiedliche Inflationsraten über Wechselkursänderungen angeglichen werden, ist nicht recht einsichtig. Abgesehen von der fehlenden Stichhaltigkeit einzelner Argumente, hegt Busch offenbar die - nicht abwegige - Befürchtung, unter den Bedingungen einer WWU könnten komparative Kostenvorteile der 'ärmeren' Länder auch zu einer Wettbewerbsintensivierung auf den Arbeitsmärkten führen und den lohnpolitischen Spielraum der Gewerkschaften in den 'reicheren' Ländern einengen. Um dem zu begegnen, schlägt er Branchenverhandlungen auf europäischer Ebene zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften vor, die richtungsweisend für die nationalen Tarifabschlüsse sein sollen. Lediglich in Mitgliedsländern, "die größere regionale Disparitäten aufweisen (z.B. Italien und Spanien), könnten die Tarifabschlüsse ... eine regionale Differenzierungskomponente enthalten" (S. 270). Auf die Erörterung weiterer Einzelheiten, insbesondere der konkreten Umsetzung dieses europaweiten Konditionenkartells zwecks Abschirmung der 'Schwachlohnländer' verzichtet Busch; vermutlich, weil er seinen Vorschlag angesichts der unterschiedlichen Gewerkschaftsstrukturen in den einzelnen Mitgliedsstaaten für "in hohem Maße illusorisch" (S. 272) hält 26 . Die sehr unterschiedliche Rolle von Gewerkschaften in der EG kommt nicht nur in 26

Dies deckt sich auch mit Äußerungen verschiedener Gewerkschaftsvertreter auf einer internationalen Tagung der Sozialakademie Dortmund (s. Böhm, 1992): Die Europäisierung der Lohn- und Sozialpolitik wurde zwar weithin gefordert, jedoch zugleich als vorläufig nicht realisierbar bezeichnet. Möglicherweise spielen hier auch Dezentralisierungstendenzen bei den Tarifverhandlungen eine Rolle. Jedenfalls glaubt Vaughn-Whitehead (1990), in jüngerer Zeit in den EG-Ländern eine Orientierung zur Unternehmensebene hin bei verstärkter Diversifizierung der Arbeitsvergütungen beobachten zu können.

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Egon Görgens

Organisationsgraden zum Ausdruck, die sich zwischen 10 vH (Spanien) und 80 vH (Dänemark) bewegen. Für die Realisierbarkeit einer europaweiten Tarifpolitik ist auch zu berücksichtigen, dafi in einigen Mitgliedsländern nur die Hälfte der organisierten Beschäftigten Gewerkschaften angehören, die zugleich Mitglied des Europäischen Gewerkschaftsbundes sind (Busch, 1992, S. 272). Dies liegt vor allem an ideologischen Differenzen, so etwa bei der Abstinenz der kommunistisch-sozialistischen Gewerkschaften Portugals und Frankreichs. Eine europäische Konzertierung behindern dürften weiterhin die Unterschiede in den Lohnfindungsprozessen. Zwar rangieren die meisten EG-Länder zwischen den Polen sehr hoher Zentralisierungsgrade in Österreich und Schweden einerseits und dezentralen, vorwiegend auf betrieblicher Ebene sich vollziehenden Tarifverhandlungen wie etwa in Japan und den USA andererseits - eine mittlere Position, die Reallohnrigiditäten zu begünstigen scheint (vgl. Berthold, 1992a, S. 60 f.; 1992 b, S. 26 f.). Die EG-Länder zeigen zwar nahezu einheitlich das höchste Maß marktwidriger Reallohnentwicklung, die Streubreite mehr oder weniger korporativistischer Lohnfindungsprozesse ist jedoch erheblich. Freilich muß man in der derzeitigen Aussichtslosigkeit einer europäischen Konzertierung in der Lohn- und Sozialpolitik keinen Ablehnungsgrund der WWU sehen. Sievert (1992) sieht hierin geradezu einen besonderen Vorzug, weil "die europäische Währungsunion (...) die nationalen Arbeitsmärkte im Verhältnis zueinander zu echten Wettbewerbsmärkten machen" wird. Er betont den ordnungspolitischen Rang der Währungsunion, die auf Verhaltensänderungen im Sinne der Vermeidung von Fehlverhalten anstatt nachträglicher Korrektur hinwirke. Nach seiner Meinung sei es jeder Gewerkschaft in Europa klar, daß sie weder die Macht besitzt, die Europäische Zentralbank zu veranlassen, Lohnfehler zu heilen, noch könne sie in der Öffentlichkeit - anders als im nationalen Rahmen - die Europäische Zentralbank für die Beschäftigungskonsequenzen einer nicht permissiven Geldpolitik verantwortlich machen. Die Versuche einer Härtung des EWS im Verlauf der achtziger Jahre und die deutlich sinkende Nominallohnentwicklung bei rückläufiger innereuropäischer Streuung in der zweiten gegenüber der ersten Hälfte der achtziger Jahre (Tabelle 6) sind mit dieser Hypothese vereinbar27. Unter den Bedingungen einer Währungsunion, einer konsequenten Stabilitätspolitik und der Unmöglichkeit eines alle Mitgliedstaaten umfassenden Lohnkartells wird man tatsächlich mit einer Eindämmung destabilisierender Verteilungskämpfe rechnen kön27

Während sich die Zuwachsraten der nominalen Lohnstückkosten im EG-Durchschnitt halbierten, sanken die realen Lohnstückkosten in den Zeiträumen 1980-83 und 1986-90 gleichbleibend mit 0,6 vH (s. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 109).

Der Arbeitsmarkt im europäischen Integrationsprozeß

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nen. Grenzüberschreitend Interessenpositionen durchzusetzen, ist weitaus schwieriger als auf nationaler Ebene. Wettbewerb auf den europäischen Arbeitsmärkten zu beschränken wird um so schwieriger sein, je mehr EG-Mitgliedsstaaten der Währungsunion angehören. "Optimal ist ein Währungsraum, der nennenswert größer, möglichst mehrfach größer ist als der Raum, für den sich ein wirksames Lohnkartell etablieren läßt" (Sievert, 1992, S. 13). Unter diesen Bedingungen könnte tatsächlich statt eines vereinheitlichten hohen Regulierungsniveaus ein Deregulierungswettbewerb die Folge sein. Da es jedoch vermutlich einige Mitgliedsländer gibt, die eine mit Stabilität unvereinbare Lohn- und Sozialpolitik tolerieren zu müssen glauben und mithin nicht Mitglied der Währungsunion sein können, ist eine erfolgreiche lohn- und sozialpolitische Konzertierung bei trendmäßiger Angleichung an die höchste Regulierungsdichte innerhalb der kleineren Gruppe nicht mehr so unwahrscheinlich. Jedenfalls könnte mit größeren Erfolgsaussichten auf die geldpolitischen und wechselkurspolitischen Entscheidungsgremien eingewirkt werden, um Abfederungen gegenüber Drittländern zu erreichen. In diese Richtung könnte auch das von gewerkschaftlicher Seite vorgetragene Argument zielen (Handelsblatt, 1992), wonach wegen der unterschiedlichen wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen eine massive Aufstockung des Kohäsions-Fonds (zugunsten der ärmeren Mitgliedsländer) erforderlich sei, dies aber in den anderen Mitgliedsländern an die Grenze der Akzeptanz stoße. Ökonomisch ist dieses Argument nicht stichhaltig (vgl. Kronberger Kreis, 1992, S. 49), es sei denn, daß durch Wegharmonisierung der komparativen Kostenvorteile in den südlichen Ländern ein 'Subventionsbedarf erzeugt wurde. Nicht überzeugend sind auch die psychologischen Argumente, daß mit der Währungsunion die Einkommensunterschiede bewußter würden und deshalb zum einen die Tarifpolitik in Bedrängnis bringende ArbeitskräfteWanderungen einsetzten sowie zum anderen wie in der deutsch-deutschen Währungsunion sozial- und verbandspolitische Gründe große Einkommensdifferenzen über längere Zeit nicht zuließen28. Daß regionale Nominallohnunterschiede von mehr als 50 vH in einer Währungsunion bei relativ hoher Arbeitskräftemobilität bestehen können, zeigt die Situation in den USA (vgl. Bofinger, 1992, S. 461). Speziell für die EG zu unterstellen, die bislang geringen Arbeitskräftewanderungen beruhten auf fehlenden Informationen über Einkommensunterschiede, dürfte nur ausnahmsweise zulässig sein. Ebensowenig darf man 28

Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings ein politisches Argument, daß für die über ökonomische Zielsetzungen hinausgehende Politische Union möglicherweise ein politischer Preis in der Form beschleunigter Einkommensangleichungen gezahlt werden muß (vgl. Flassbeck, 1992, S. 15). Über den Produktivitätsfortschritt hinausgehende Lohnerhöhungen 'müssen' dann zur Vermeidung der Beschäftigungskonsequenzen mit Aufstockungen des Kohäsionsfonds bezahlt werden. Oder auch umgekehrt: Die (erwartete) Rückgriffsmöglichkeit auf Kohäsionsfonds schafft Spielraum für eine stabilitätsinkonforme Lohnpolitik.

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Egon Görgens

wohl die Gewerkschaftslandschaft in Deutschland und sich daraus möglicherweise ergebende verbandsinterne Zwänge auf die europäische Gewerkschaftslandschaft übertragen. Möglicherweise ist aus gewerkschaftlicher Sicht gewichtiger, daß die Instrumente zur Beeinflussung des Arbeitsmarktgeschehens nach dem Vertrag von Maastricht zwar ausdrücklich in nationaler Kompetenz belassen werden, de facto aber diese Souveränität mit der Realisierung einer WWU im Sinne einer Niveausteuerung beseitigt ist. Die Souveränitätsaufgabe mündet jedoch - einstweilen - nicht in eine auf europäischer Ebene koordinierten freiwilligen Strategie, sondern sie könnte zugunsten wettbewerblicher Marktprozesse erfolgen müssen. Aus beschäftigungspolitischer Sicht wäre die damit verbundene Schwächung der 'Insider'-Bastion zugunsten der 'Outsider' freilich positiv einzuschätzen. Doch dürfte in diesen Konsequenzen gerade einer der Gründe für die geringe Eintrittswahrscheinlichkeit einer WWU als Stabilitätsgemeinschaft zu sehen sein. Literatur Adamy, Wilhelm, 1989, Soziale Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, WSI Mitteilungen, 42 Jg., S. 550-557. Belker, Otmar, 1991, Beschäftigungseffekte des Binnenmarktes, Freiburg i.Br. Berthold, Norbert, 1990, Wirtschaftliche Integration in Europa - Sind wir auf dem richtigen Weg? in: Erhard Kantzenbach und Otto G. Mayer (Hrsg.), Probleme der Vollendung des Binnenmarktes in Europa nach 1992, Berlin, S. 33-66. Berthold, Norbert, 1992a, Arbeitslosigkeit in Europa - Ein schwer lösbares Rätsel? in: Erhard Kantzenbach und Otto G. Mayer (Hrsg.), Beschäftigungsentwicklung und Aibeitsmarktpolitik, Berlin, S. 51-87. Berthold, Norbert, 1992b, Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft - Gefahr im Verzug? Berlin. Beyfiiß, Jörg, 1987, Direktinvestionen im Ausland, Exportkonkurrenz oder Marktsicherung, Köln. Bofinger, Peter, 1992, Europäische Zentralbank versus Europäisches Währungssystem, Wirtschaftsdienst, 72 Jg., S. 457-463. Böhm, Wolfgang (Hrsg.), 1992, Europa 1993, Supermarkt oder Sozialraum? Berlin. Buckley, Peter J. und Patrick Artisten, 1987, Policy issues of intra-EC direct investment: British, French and German multinationals in Greece, Portugal and Spain, with special reference to employment effects, Journal of Common Market Studies, Vol. XXVI, S. 207-230. Buigues, Pierre, Fabienne llzkovitz und Jean-F. Lebrun, 1990, Industrieller Strukturwandel im europäischen Binnenmarkt: Anpassungsbedarf in den Mitgliedstaaten,

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Egon Görgens

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Finanzmärkte im europäischen Integrationsprozeß Karlheinz Kratz und H. Jörg Thieme, Düsseldorf

I. Integration europäischer Finanzmärkte: Empirische Analyse 1. Internationale Kapitalbewegungen 2. Internationale Renditedifferenzen

240 240 244

II. Allokationseffekte der Finanzmarktintegration 1. Wohlfahrtseffekte der Integration nationaler Finanzmärkte 2. Funktionsprobleme im Integrationsprozeß a. Regulierungsunterschiede b. Informationsdefizite

249 249 250 2S0 252

III. Perspektiven der Finanzmarktintegration: Wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf?

256

•238-

Karlheinz Kratz und H. Jörg Thieme

Tabellen: Tabelle 1: Entwicklung internationaler Finanzmarkttransaktionen in Mrd. US-$

240

Tabelle 2: Entwicklung grenzüberschreitender Wertpapiertransaktionen der EG mit den übrigen OECD-Ländern

241

Tabelle 3: Entwicklung grenzüberschreitender Anleihetransaktionen in ausgewählten Ländern der EG in Mrd. US-Dollar

242

Tabelle 4: Korrelation kurzfristiger Zinssätze 1973:1-1979:4 und 1980:1-1991:4

245

Tabelle 5: Korrelation langfristiger Zinssätze 1973:1-1979:4 und 1980:1-1991:4

247

Tabelle 6: Korrelation der Änderungen kurzfristiger Zinssätze 1973:1-1979:4 und 1980:1 1991:4

248

Tabelle 7: Korrelation der Änderungen langfristiger Zinssätze 1973:1-1979:4 und 1980:1 1991:4

248

Tabelle 8: Bankenaktiva und -passiva auf den 'Off-Shore'-Märkten (Mrd. US-$)

250

Finanzmärkte im europäischen Integrationsprozeß

•239-

Seit Mitte der siebziger Jahre sind tiefgreifende Veränderungen in den Beziehungen der nationalen Finanzmärkte zu beobachten. Verbesserte Informationstechniken, der Abbau von institutionellen Hemmnissen für internationale Kapitalbewegungen, veränderte Präferenzen und dramatisch ansteigende Kreditvolumina haben dazu geführt, daß der AußenWirtschaftsverkehr zunehmend durch internationale Kapitalströme beeinflußt wird, die weit über den außenhandelsbedingten Bedarf hinausgehen. Zusätzlich erlauben neue handelbare Finanzinstrumente ('Securitization', Finanzinnovationen) einen kostengünstigeren Marktzugang und ermöglichen eine effiziente Absicherung gegen Wechselkurs- und Zinsänderungsrisiken. Konsequenz dieser Veränderungen ist das Zusammenrücken der nationalen Finanzmärkte. Der Grad der Finanzmarktintegration wird dabei bestimmt durch die Kapitalmobilität und durch die Substitutionsverhältnisse der Forderungstitel, die auf den nationalen Finanzmärkten gehandelt werden. Die Finanzmärkte haben die Aufgabe, eine optimale Allokation finanzieller Mittel zu gewährleisten. Dies setzt voraus, daß rational agierende Marktteilnehmer ihre Entscheidungen an relativen Preisen in nationaler sowie internationaler Hinsicht orientieren. Die Preise dienen dabei als Informationsübermittler für Rendite und Risiko von Investitionen. Eine internationale Integration von Finanzmärkten beeinfußt die Allokation knapper Faktoren und damit den Prozeß der Informationsbeschaffung und -Verarbeitung in einer Volkswirtschaft. Gleichzeitig hat eine solche Entwicklung Konsequenzen für die Übertragung von wirtschaftspolitischen Impulsen aus dem Ausland und somit für die Erreichung stabilitätspolitischer Ziele im Inland. In der kontroversen wissenschaftlichen Diskussion hat sich eindeutig ein Schwergewicht zugunsten der Analyse stabilitätspolitischer Probleme einer verstärkten Finanzmarktintegration herausgebildet (vgl. Überblick bei Thieme und Vollmer, 1990). Insbesondere die Frage der optimalen Strategie der internationalen Koordination wirtschaftspolitischer Aktionen dominiert diese Auseinandersetzung. Die Allokationsaspekte hingegen werden nur vereinzelt im Zusammenhang mit der Deregulation finanzieller Märkte betrachtet und darüber hinaus zumeist getrennt von der Integrationsproblematik untersucht. Der Integrationsprozeß läßt sich jedoch kaum von der weltweiten Deregulation der nationalen Finanzmärkte trennen, denn zum einen hat der Abbau von Kapitalverkehrsschranken die Integration erst ermöglicht, und zum anderen hat die Finanzmarktintegration selbst wieder Deregulationen aufgrund des intensiveren internationalen Wettbewerbs im Bereich der finanziellen Dienstleistungen ausgelöst. Eine Untersuchung allokativer Aspekte verlangt daher eine Verknüpfung von Integration und Deregulation. Der Integrationsprozeß umfaßt nicht nur den Dollar-Finanzraum, sondern dominiert auch die Entwicklung auf den Finanzmärkten in Europa. Mit dem am 7. Februar 1992

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Karlheinz Kratz und H. Jörg Thieme

in Maastricht unterzeichneten "Vertrag über die Europäische Union", der Anfang 1993 in Kraft getreten ist, haben die Länder der Europäischen Gemeinschaft einen Terminplan für eine Wirtschafts- und Währungsunion festgelegt. Dieser Tatbestand soll zum Anlaß genommen werden, zunächst eine Bestandsaufnahme der Integration der Finanzmärkte und deren Entwicklung in Europa in den letzten 20 Jahren vorzunehmen (I.) und anschließend die Allokationseffekte dieses Prozesses zu analysieren (II.). Daraus werden schließlich einige wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen gezogen (in.). I.

Integration europftischer Finanzmärkte: Empirische Analyse Es gibt verschiedene Indikatoren des Integrationsprozesses der nationalen Finanzmärkte, wobei grundsätzlich zwischen der Analyse von internationalen Kapitalbewegungen einerseits und dem internationalen Renditevergleich andererseits unterschieden wird. Anhand der internationalen Finanzmarkttransaktionen wird im folgenden die wachsende weltweite Verflechtung deutlich gemacht, der Anteil Europas an dieser Entwicklung herausgestellt und am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland die Verknüpfung der Finanzmärkte innerhalb Europas untersucht. Danach werden die renditebezogenen Meßkonzepte dargestellt und die mit ihnen ermittelten Ergebnisse der empirischen Literatur zusammengefaßt. Abschließend wird eine Korrelationsanalyse kurzund langfristiger Zinsen ausgewählter Länder der Europäischen Gemeinschaft vorgenommen. 1.

Internationale Kapitalbewegungen Die Auslandspositionen von Kreditinstituten in den OECD-Ländern (Tabelle 1) verdeutlichen die weltweite Verflechtung der nationalen Finanzmarktaktivitäten. Sie belegen eindeutig die im Vergleich zum Betrag der realen Güterbewegungen - gemessen am Weltexportvolumen - erheblich angestiegenen internationalen Finanzmarkttransaktionen. Insbesondere der zügige Abbau von nationalen Kapitalverkehrskontrollen hat diese Zunahme des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs ermöglicht (BIZ, 1992, S. 175). Tabelle 1: Entwicklung internationaler Finanzmarkttransaktionen in Mrd. US-$ Bankenauslandsaktiva Bankenauslandspassiva Internationale Nettofinanzierung Weltexportvolumen

1980

1984

1988

1990

1482 1545 180 1910

1977 2023 145 1810

3864 3993 350 2694

5476 5699 550 3310

Quelle: IMF, versch. Jge., Zeilen 1, 2 und 4; BIZ, versch. Jge., Zeile 3: absolute Veränderungen gegenüber dem Vorjahr.

Finanzmärkte im europäischen Integrationsprozeß

•241 •

Diesem weltweiten Integrationsprozeß entspricht auch die Entwicklung auf den Finanzmärkten in Europa. Die Finanzströme Europas innerhalb der OECD-Staaten können in Tabelle 2 an den internationalen Wertpapiertransaktionen der EG mit den übrigen Ländern der OECD gemessen werden. Sie haben im Zeitraum von 197S bis 1991 erheblich zugenommen, wie der drastische Anstieg des Volumens der Anleihe- und Aktienhandel umfassenden internationalen Wertpapiertransaktionen zeigt. Tabelle 2: Entwicklung grenzüberschreitender Wertpapiertransaktionen der EG mit den übrigen OECD-Ländern 19751979

19801984

19851989

1990

1991

Wertpapiererwerb1) 2

Wertpapiererwerb )

3,8 (31%)

18,9 (45%)

62,6 (35%)

79,8 (53%)

144,0 (52%)

Wertpapierverkauf1) Wertpapierverkauf2)

8,5 (34%)

17,7 (31%)

70,4 (38%)

94,4 (59%)

173,7 (47%)

D in Mrd. US-Dollar Quelle: BIZ versch. Jge.; 1975-1985 Jahresdurch) Anteile an OECDschnitte; Werte für 1991 teilweise geschätzt; Transaktionen eigene Berechnungen. Der Handel mit festverzinslichen Wertpapieren dominiert die expansive Entwicklung der Transaktionsvolumina. Auch Portefeuilleanlagen in Aktien sowie Wandelschuldverschreibungen und Optionsanleihen haben erheblich zugenommen. Die bedeutsame Rolle der Länder der Europäischen Gemeinschaft im internationalen Handel mit Wertpapieren wird durch die erheblich gestiegenen Anteile solcher Transaktionen am Gesamtvolumen in der OECD bestätigt. Die Schwankungen der Anteile sind dabei Ausdruck ständiger Strukturverschiebungen auf den internationalen Finanzmärkten. Mittlerweile machen diese Kapitalbewegungen bereits mehr als die Hälfte aller OECDWertpapiertransaktionen aus. Die Ausweitung des grenzüberschreitenden Handels von Wertpapieren kann allerdings nicht isoliert auf den Abbau von Kapitalverkehrskontrollen zurückgeführt werden. Vielmehr sind insbesondere das hohe Staatshaushaltsdefizit in den USA in der ersten Hälfte der achtziger Jahre und die hohe Nachfrage nach in Dollar denominierten Wertpapiertiteln durch die Japaner für die hohen Zuwachsraten verantwortlich (Turner, 1991). 2

Steigende internationale Wertpapiertransaktionen werden auch durch die Zahlen in Tabelle 3 bestätigt, in der die Volumina grenzüberschreitender Anleihetransaktionen einiger ausgewählter Länder der Europäischen Gemeinschaft erfaßt sind.

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Karlheinz Kratz und H. Jörg Thieme

Tabelle 3: Entwicklung grenzüberschreitender Anleihetransaktionen in ausgewählten Ländern der EG in Mrd. US-Dollar

Bundesrepublik Deutschland

Kapitalexport Kapitalimport

1,4 1,6

3,8 0,2

16,7 0,6

Frankreich

Kapitalexport Kapitalimport

0,9 1,3

1,2 5,2

6,9 13,2

Italien

Kapitalexport Kapitalimport

-0,2

0,3

4,2

Belgien/ Luxemburg

Kapitalexport Kapitalimport

o o t-'vO

Jahresdurchschnitt 1975-1979 1980-1984 1985-1989

2,6 0,1

8,0 4,1

Großbritannien

Kapitalexport Kapitalimport

5,4 0,1

15,7 6,1

-

Quelle: Turner (1991), S. 59; eigene Berechnungen. Ein Minus beim Kapitalexport indiziert Nettoverkäufe von Wertpapieren in den Händen von Inländern. Frankreich: Aktien- und Anleihetransaktionen. Insbesondere fallt dabei die starke Zunahme des durchschnittlichen Kapitalexports der Bundesrepublik Deutschland auf. Demgegenüber ist es in Frankreich der durchschnittliche Kapitalimport, der eine vergleichbare expansive Entwicklung aufweist. Auch die in den achtziger Jahren beobachtbare erhebliche Zunahme des Anteils ausländischer Wertpapiere in den Portefeuilles institutioneller Investoren ist ein weiterer Beleg für eine verstärkte Integration der Wertpapiermärkte. In der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise hat dieser Anteil bei Investmentgesellschaften von ca 11 vH in 1980 auf fast 60 vH in 1990 zugenommen. In Großbritannien hat sich im gleichen Zeitraum dieser Anteil bei den Pensionsgesellschaften von ca. 10 vH auf über 20 vH mehr als verdoppelt. Diese Entwicklung ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer höheren Neigung zur internationalen Diversifikation, sondern geht auch auf die Disintermediation und den drastischen Anstieg der Preise von Vermögensaktiva zurück. Nach Schätzungen Uedas (1990) für Japan erklärt der Vermögenszuwachs über 30 vH der internationalen Kapitalbewegungen. Allerdings läßt sich belegen, daß die nationalen Wertpapiertransaktionen weitaus geringer gewachsen sind als der internationale Handel in Bonds und Aktien. Die finanziellen Verflechtungen der Bundesrepublik Deutschland mit den Staaten der Europäischen Gemeinschaft zeigt sich in einer erheblichen Zunahme der Volumina internationaler Kapitalbewegungen und Bestände an Auslandsforderungen und -Verbindlichkeiten. So überstiegen beispielsweise die Auslandsforderungen der inländischen Kreditinstitute (ohne Deutsche Bundesbank) an die Länder der Europäischen Gemein-

Finanzmärkte im europäischen Integrationsprozeß

•243'

schaft das Niveau von 1980 um mehr als das Dreißigfache. Die Auslandsverbindlichkeiten haben sich im gleichen Zeitraum vervierfacht. Diese Entwicklung hatte zur Folge, daß sich die 1980 noch negative Nettoauslandsposition bis 1991 auf über +104 Mrd. DM erhöht hat. Entgegen der reinen Volumenbetrachtung messen Feldstein und Horioka (1980) die internationale Finanzmarktintegration, indem sie die Korrelation von Spar- und Investitionsverhalten auf nationaler Ebene untersuchen. Eine niedrige Korrelation interpretieren sie als Indiz für eine hohe Kapitalmobilität und damit für die internationale Integration von Finanzmärkten, weil die Unternehmer ihre Kreditnachfrage nicht allein an der inländischen Sparsumme ausrichten, sondern'verstärkt auf internationalen Kreditmärkten als Kreditnachfrager auftreten. Die empirischen Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, daß die Korrelation zwar relativ hoch ist, jedoch in den letzten Jahren abgenommen hat1. Eine hohe Korrelation ist allerdings nicht gleichbedeutend mit einer geringen Kapitalmobilität, weil auch andere Faktoren die Korrelation beeinflussen können (Artis und Bayoumi, 1991; Cooper, 1991). Beispielsweise kann ein zusätzlicher Finanzierungsbedarf für Investitionen eines großen Landes auf den internationalen Finanzmärkten zu einem Anstieg des Weltzinsniveaus führen, das wiederum Rückwirkungen auf die internationale Kreditnachfrage und die Investitionen hat. Darüber hinaus können Bevölkerungswachstum und Produktivitätsveränderungen eine hohe Korrelation von Spar- und Investitionssumme begründen. Artis und Bayoumi (1991) machen die Fiskalpolitik für die Korrelationsergebnisse verantwortlich, denn die Kompensation von Zahlungsbilanzungleichgewichten durch fiskalpolitische Maßnahmen reduziert die Notwendigkeit internationaler Kapitalbewegungen zum Ausgleich nationaler Divergenzen von Sparen und Investition. Entsprechend müssen auch intertemporale Veränderungen des Indikators mit Vorsicht interpretiert werden. Die Resultate dieser Mengenbetrachtungen weisen auf eine höhere Verflechtung der internationalen Finanzmärkte hin. Kapitalflußänderungen können aber auch dominant durch Faktoren beeinflußt werden, die nicht Ausdruck von veränderten Substitutionsverhältnissen in- und ausländischer Vermögensaktiva sind oder auf eine Veränderung der Kapitalmobilität zurückgehen. Die bislang betrachteten Indikatoren sind daher nicht oder nur begrenzt geeignet, den Grad der internationalen Finanzmarktintegration zu messen, denn auch segmentierte Märkte schließen steigende Transaktionsvolumina nicht aus (Stulz, 1986). Andere empirische Untersuchungen konzentrieren sich daher weitgehend auf Preis- bzw. Zinsvergleiche.

1

Siehe: Artis und Bayoumi, 1991; Blundell-Wignall und Browne, 1991; Bayoumi, 1990; Frankel, 1989; Feldstein und Bacchetta, 1989; Obstfeld, 1986.

•244-

Karlheinz Kratz und H. Jörg Thieme

2.

Internationale Rendltediflerenzen Das Gesetz des einheitlichen Preises begründet - auf die Finanzmärkte fibertragen den Ausgleich von Renditen homogener Finanzaktiva, die sich lediglich in der Währung und im Emissionsort unterscheiden. Ob und inwieweit sich die Renditen bereits tatsächlich angeglichen haben, wird in der Literatur mit unterschiedlichen Meßkonzepten überprüft. Die nominalen Renditen kommen nur dann zum Ausgleich, wenn die betrachteten Aktiva vollkommen substituierbar sind und die Kapitalmobilität nicht beschränkt ist (Aliber, 1978). Die gedeckte Zinsparität ist dann gegeben, wenn die Differenz zwischen der Rendite in- und ausländischer Wertpapiere, die sich lediglich in der Währung unterscheiden, den Kosten für eine Absicherung des Wechselkursrisikos entspricht. Abweichungen davon sind Hinweise auf Kapitalverkehrsbeschränkungen. Die Gültigkeit einer gedeckten Zinsparität kann durch den Vergleich von Euromarktrenditen und inländischen Renditen überprüft werden. Zinsdifferenzen können als Indiz für Kapitalverkehrsbeschränkungen gewertet werden, weil die zu betrachtenden homogenen Finanzinstrumente lediglich unterschiedlichen politischen Jurisdiktionen unterliegen (Argy und Hodgera, 1973). Signifikante Differenzen zu den Euromarktsätzen bestanden für die Bundesrepublik Deutschland bis 1974 (Frankel, 1989). Die systematisch niedrigeren Euromarktrenditen sind Ausdruck von Beschränkungen des Kapitalimports. Deutlichere Divergenzen sind erst wieder in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre beobachtet worden. Auslöser hierfür war der mit der im Oktober 1987 angekündigten und im Januar 1989 eingeführten Quellensteuer einsetzende verstärkte Kapitalexport. Die Differenzen verschwanden weitgehend nach der Ankündigung der Aufhebung der Quellensteuervorschriften vom April 1989. Verbleibende Unterschiede sind in der Qualität der Kredite begründet. Das Konzept der ungedeckten (nicht-kursgesicherten) Zinsparität stellt auf die Wechselkurserwartungen ab und indiziert bei unterstellter vollständiger Kapitalmobilität vollkommene Kapitalsubstitutionalität, wenn die Zinsdifferenz zweier Finanzierungsinstrumente, die sich lediglich in der Währung unterscheiden, den Erwartungen über die Wechselkursentwicklung entspricht. Abweichungen davon können aber nicht nur auf unvollkommene Substitutionsverhältnisse zurückgeführt werden, die sich in einer Risikoprämie äußern, sondern auch auf Erwartungsfehler der Privaten in bezug auf die Wechselkursentwicklung. Die realen Zinsen kommen zum Ausgleich, wenn sowohl die Kapital- als auch die Gütermärkte vollständig integriert sind (gedeckte und ungedeckte Zinsparität gelten) und die Wechselkurse stets der Kaufkraftparität entsprechen (Frankel und MacArthur, 1988). In der kurzen Frist bestehen allerdings ex-post Realzinsdifferenzen, weil Abwei-

Finanzmarkte im europäischen Integrationsprozeß

•245-

chungen von der Kaufkraftparität existieren und die Gütermärkte nur unvollkommen integriert sind. Die empirischen Ergebnisse bestätigen für die siebziger Jahre signifikante Unterschiede in den Realzinsen (Cumby und Obstfeld, 1984), die in den achtziger Jahnen leicht zurückgehen (Fukao und Hanazaki, 1987). Andere empirische Analysen versuchen den Integrationsgrad der nationalen Aktienmärkte durch Renditekorrelation zu ermitteln. Die Ergebnisse sind unterschiedlich, weil verschiedene (Unternehmens-, branchen- und konjunkturspezifische) Faktoren für die nationalen Aktíenrenditebewegungen verantwortlich sind, bestätigen jedoch zumeist einen verstärkten Zusammenhang der Renditen in den achtziger Jahren 2 . Hinzuweisen ist darauf, daß alle bislang vorgelegten empirischen Analysen über die Integration nationaler Finanzmärkte nicht direkt die dominanten Ursachen der Marktintegration separieren können, weil der Einfluß von Finanzmarktderegulierungen einerseits und der Angleichung nationaler Stabilitätspolitiken der betrachteten Länder andererseits nicht vollständig isolierbar ist. Dies gilt auch für die folgende deskriptive Analyse der Korrelation von Renditen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, die allerdings den Vorteil hat, auf weniger restriktiven Voraussetzungen zu beruhen als die traditionell«! Regressionsanalysen. Tabelle 4:

Korrelation kurzfristiger Zinssätze 1973:1-1979:4 und 1980:1-1991:4

1973:1 - 1979:4 Bundesrepublik 1980:1 -1991:4 Deutschland Bundesrepublik Deutschland

-

Frank- Italien reich 0,57

Belgien

Irland

0,02

0,15

0,64

0,25

0,42

0,63

0,32

0,40

0,36

0,00

0,00

0,78

0,72

Frankreich

0,72

Italien

0,61

0,95

Belgien

0,79

0,92

0,85

Großbritannien

0,66

0,36

0,24

0,55

Irland

0,53

0,82

0,76

0,86

-

Großbritannien

-

-

-

0,42

0,98 -

Quelle: OECD-Statistics, Paris: Bundesrepublik Deutschland, Drei-Monats-FIBOR; Frankreich, Drei-Monats-PIBOR; Italien, Bankschuldverschreibungen von Kreditinstituten (Laufzeit: keine Angabe) 1975:1-1991:4; Belgien, Drei-MonatsTreasury Certificates; Großbritannien, Drei-Monats-Interbankkredite 1975:11991:4; Irland, Drei-Monats-Treasury (Exchequer) Bills; eigene Berechnungen. Den Berechnungen liegen Quartalsdaten kurz- und langfristiger Nominalzinsen der OECD für die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Großbritannien und Irland zugrunde. Tabelle 4 zeigt die Korrelationen kurzfristiger Nominalzin2

Siehe z.B.: Taylor und Tonics, 1989; Bhandarl und Genberg, 1989; Goodhart, 1988.

•246-

Karlheinz Kratz und H. Jörg Thieme

sen ausgewählter europäischer Länder für die Zeiträume 1973:1 bis 1979:4 (oberhalb der Diagonale) und 1980:1 bis 1991:4 (unterhalb der Diagonale). Danach haben die Zinskorrelationen in den achtziger Jahren zwischen nahezu allen betrachteten Ländern erheblich zugenommen. Die Berechnungen werden bestätigt durch die Ergebnisse von Ragnitz (1989), der für die G7-Länder die entsprechenden Korrelationen bis zum vierten Quartal 1987 berechnet. Die Ursache für diese zunehmende Parallelität kann sowohl ein erhöhter Integrationsgrad als auch eine grundsätzlich ähnlich ausgerichtete Stabilitätspolitik in den einzelnen Ländern sein, die die erwarteten Wechselkursänderungen reduziert. Die Relevanz von erwarteten Paritätsverschiebungen ergibt sich vor allem für jene Länder, für die eine erweiterte Bandbreite des Wechselkurses im EWS gilt. Insbesondere vor den Realignments innerhalb des EWS sind massive Kapitalbewegungen die Konsequenz solcher Änderungserwartungen. Entsprechend sind gerade in Zeiten der Wechselkursanpassung Kapitalmobilitätsbarrieren bedeutsam (Smeets, in diesem Band). Welcher Faktor letztlich dominant war, läBt sich anhand der vorliegenden Ergebnisse nicht eindeutig aufzeigen. Auf der einen Seite sind angesichts der verstärkten Bemühungen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zur internationalen Politikkoordination prozeßpolitische Einflüsse relevant, auf der anderen Seite haben die ordnungspolitischen Maßnahmen zur Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs Wirkungen gehabt. Die empirisch orientierte Literatur zeigt, daß bis auf Frankreich und Italien die meisten Industriestaaten bereits zum Ende der siebziger Jahre die Kapitalmobilität kaum mehr beschränkt hatten. Daraus läßt sich eine stärkere Gewichtung der stabilitätspolitischen Konsequenzen ableiten. Eine Analyse der monetären Politik in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich und Italien belegt, daß sich die Stabilitätspolitik dieser Länder in den achtziger Jahren angeglichen hat (Thieme, 1991). Im Gegensatz dazu war die Geldpolitik in Großbritannien, trotz der öffentlich verkündeten Verstetigungsabsicht, durch erhebliche Schwankungen der Geldmengenänderungen und deutliche Verfehlungen des jährlichen Geldmengenziels gekennzeichnet. Die relativ geringe Zunahme der Korrelation der kurzfristigen Zinsen Großbritanniens mit den kurzfristigen Zinsen in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich und Italien in den letzten zwölf Jahren unterstützen diese stabilitätspolitische Interpretation. Korrelationsanalysen der langfristigen Zinsen sind verhältnismäßig selten, weil die Ergebnisse insbesondere durch die Inflationserwartungen beeinflußt werden. Insofern weist eine steigende Korrelation eher auf einen Zusammenhang der Stabilitätspolitik als auf eine zunehmende Integration. Tabelle 5 zeigt die Korrelationen langfristiger Nominalzinsen über die bereits genannten Zeiträume.

•247'

Finanzmärkte im europäischen Integrationsprozeß

Tabelle 5: Korrelation langfristiger Zinssätze 1973:1-1979:4 und 1980:1-1991:4 1973:1 - 1979:4 Bundesrepublik 1980:1 - 1991:4 Deutschland Bundesrepublik Deutschland

-

Frank- Italien reich -0,12

Belgien

Irland

-0,65

-0,15

0,71

0,11

0,47

0,74

-0,08

0,70

0,27

-0,30

-0,05

0,21

0,85

Frankreich

0,73

Italien

0,68

0,96

Belgien

0,81

0,96

0,93

Großbritannien

0,78

0,83

0,74

0,83

Irland

0,59

0,92

0,86

0,87

-

Großbritannien

-

-

-

0,85

0,63 -

Quelle: OECD-Statistics, Paris: Bundesrepublik Deutschland, Öffentliche Anleihen mit einer Laufzeit von 7-15 Jahren; Frankreich, langfristige Staatsanleihen (garantiert); Italien, Treasury Bonds mit einer durchschnittlichen Laufzeit von 6 Jahren 1975:1 1991:4; Belgien, Central Government Bonds mit einer Laufzeit von mehr als 5 Jahren; Großbritannien, Central Government Bonds mit einer Laufzeit von 20 Jahren 1975:1 1991:4; Irland, Central Government Bonds mit einer Laufzeit von 15 Jahren; eigene Berechnungen. Der Zinszusammenhang zwischen den betrachteten ausgewählten europäischen Ländern hat - gemessen an den Korrelationen langfristiger Nominalzinsen - in den achtziger gegenüber den siebziger Jahren ebenso zugenommen. Die Reduktion des Geldmengenwachstums im längerfristigen Trend hat in Italien und Frankreich einen deutlichen Abbau der Inflationsrate bewirkt, wodurch die erhebliche Zunahme der Korrelation der langfristigen Zinsen nicht allein durch die Aufhebung von Kapitalverkehrskontrollen erklärbar ist. Der überraschend hohe Anstieg der Korrelation des langfristigen Zinsniveaus in Großbritannien mit dem der anderen Ländern resultiert im wesentlichen aus dem geldpolitischen Restriktionskurs der Bank of England Anfang der achtziger Jahre. Dadurch wurde die Inflationsrate drastisch abgebaut und bis Mitte der achtziger Jahre eine Parallelentwicklung zu den Inflationsraten in der Bundesrepublik Deutschland, Italien und Frankreich begründet. Einen Beleg für die Korrelationseigebnisse findet sich ebenso bei Ragnitz (1989). In Tabelle 6 und 7 sind die Korrelationskoeffizienten für die Zinsänderungen beredinet worden. Die ersten Differenzen sind geeignet, den kurzfristigen Zusammenhang zwischen den Zinsen aufzuzeigen. Wie die Betrachtung der Niveaugrößen für den langfristigen Zusammenhang, zeigen auch die Zinsänderungen in den achtziger Jahren eine erhöhte Parallelität. Nur wenige Ausnahmen davon lassen sich bei den Änderungen der kurzfristigen Zinsen feststellen. Die Stabilitätspolitiküberlegungen sind damit auch hier relevant. Ähnliche Resultate erhalten Kneeshaw und Van den Bergh (1985) in

•248-

Karlheinz Kratz und H. Jörg Thieme

einer Regressionsanalyse. Tabelle 6: Korrelation der Änderungen* kurzfristiger Zinssätze 1973:1-1979:4 und 1980:11991:4 1973:1 - 1979:4 Bundesrepublik 1980:1 - 1991:4 Deutschland Bundesrepublik Deutschland

Frank- Italien reich 0,42

-

Belgien

Irland

0,39

0,35

-0,28

0,17

0,37

0,71

-0,16

0,40

0,31

-0,54

-0,01

0,03

0,41

Frankreich

0,54

Italien

0,45

0,59

Belgien

0,55

0,68

0,36

Großbritannien

0,09

0,16

-0,02

0,33

Irland

0,18

0,44

0,15

0,55

-

Großbritannien

-

-

-

0,57

0,48 -

* Quartalsmäßige absolute Veränderung. Quelle: vgl. Tabelle 4. Tabelle 7: Korrelation der Änderungen* langfristiger Zinssätze 1973:1-1979:4 und 1980:1 1991:4 1973:1 - 1979:4 Bundesrepuplik 1980:1 - 1991:4 Deutschland Bundesrepublik Deutschland

Frank- Italien reich

Belgien

0,08

0,43

0,40

0,50

0,28

0,48

0,25

0,50

0,32

0,27

0,25

0,37

0,37

-

0,29

Frankreich

0,60

Italien

0,34

0,50

Belgien

0,59

0,71

0,48

Großbritannien

0,56

0,37

0,30

0,40

Irland

0,50

0,38

0,23

0,40

-

-

-

Großbritannien

-

0,71

Irland

0,84 -

* Quartalsmäßige absolute Veränderung. Quelle: vgl. Tabelle 5. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse der empirischen Literatur läßt sich zusammenfassend feststellen, daß die Korrelationsanalyse der These eines angestiegenen Grades der internationalen Verflechtung der europäischen Finanzmärkte nicht widerspricht. Allerdings läßt sich angesichts der stabilitätspolitischen Effekte der Einfluß der deregulierungsbedingten Integration auf den internationalen Zinszusammenhang anhand der Korrelationen nicht herausfiltern. Dies wäre lediglich dann möglich gewesen,

Finanzmärkte im europäischen Integrationsprozeß

•249-

wenn bereits in den siebziger Jahren in den einzelnen Ländern eine gleichgerichtete Stabilitätspolitik verfolgt worden wäre. n. 1.

Allokationseffekte der Finanzmarktintegration Wohlfahrtseffekte der Integration nationaler Finanzmfirkte Eine zunehmende Integration nationaler Finanzmärkte läßt erwarten, daß sich die realen Renditen auf physisches Sachkapital international angleichen, da Renditeunterschiede Kapitalbewegungen auslösen. Solche Kapitalbewegungen begründen positive Wohlfahrtseffekte (Überblick bei Smeets, 1989; Thieme und Vollmer, 1990). Wird in einem Zwei-Länder-Fall von durch Kapitalverkehrsbeschränkungen separierten nationalen Finanzmärkten und voneinander abweichenden Realzinssätzen ausgegangen, induziert die Aufhebung von Kapitalverkehrsbeschränkungen internationale Kapitalbewegungen. Dadurch nähern sich die Renditen international an. Ein vollständiger Renditeausgleich ist dann nicht zu erwarten, - wenn Unterschiede in den nationalen Rechtsvorschriften ('Regulationsgefälle') die Renditen beeinflussen, und - wenn unterschiedliche nationale Risiken bei Kapitalangebot und -nachfrage existieren. Wird ein Kapitalexport als risikoreich angesehen, verlangen Kreditanbieter eine Prämie für die Inkaufnahme des Risikos; beispielweise wird die internationale Kapitalallokation durch gesamtwirtschaftliche Instabilitäten oder Rechtsunsicherheit verzerrt. Die unter restriktiven Modellannahmen ableitbaren Vorteile der Finanzmarktintegration können dadurch reduziert werden oder sogar in negative Wohlfahrtseffekte umschlagen. Darüber hinaus werden die potentiellen Wohlfahrtsgewinne dann geringer, wenn in der Renditeentwicklung berücksichtigte (falsche) Informationen systematische Fehlallokationen bewirken. Zu bedenken ist auch, daß entgegen der in komparativ-statischen Modellen eindeutig abgeleiteten Richtung der Nettokapitalströme infolge einer Aufhebung von Kapitalverkehrsbeschränkungen in dynamischen, zeitliche Anpassungskosten berücksichtigenden Modellen auch ein Richtungswechsel der Nettokapitalströme im Zeitablauf möglich ist (Bacchetta, 1992, S. 471): Die Aufhebung von Kapitalexportbeschränkungen führt dann nicht zu einem Nettokapitalexport, wenn durch eine gleichzeitige Deregulation der nationalen Finanzmärkte der Anreiz zur Investition im Inland gesteigert wird. Infolge des dadurch zunächst ausgelösten Nettokapitalimports steigt der inländische Kapitalstock und sinkt die Grenzproduktivität des Kapitaleinsatzes. Dies führt schließlich zu Nettokapitalexporten.

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Karlheinz Kratz und H. Jörg Thieme

2. a.

Funktionsproblerne im Integrationsprozeß Regulierungsunterschiede Mit dem Entschluß zur Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes wird die Notwendigkeit eines Abbaus von bislang bestehenden wettbewerbsverzerrenden Unterschieden in den Rechtsvorschriften in Europa anerkannt. Solche nationalen Unterschiede haben zu einer erheblichen Ausweitung von Geschäften am Euromarkt geführt. Der Euromarkt ist Synonym für solche Märkte, auf dem Kredite in einer Währung außerhalb des Geltungsbereiches nachgefragt und angeboten werden, in dem die jeweilige Währung allgemeines Zahlungsmittel ist. Der Begriff umfaßt daher auch die 'Off-Shore'Finanzplätze (Bahamas, Cayman Inseln, Hongkong etc.). Die Entwicklung dieser Märkte wird anhand der folgenden Tabelle 8 deutlich, in der die Volumina von Aktiva und Passiva der Depositenbanken auf den 'Off-Shore'-Märkten erfaßt sind: Tabelle 8: Bankenaktiva und -passiva auf den 'OfT-Shore'-Märkten (Mrd. US-$) 1970

1975

1980

1985

1990

Bankenaktiva

8,34

72,04

304,13

582,4

1260,05

Bankenpassiva

7,79

72,75

301,52

570,27

1208,51

Quelle: IMF, versch. Jge. Danach ist das Volumen der bilanziell erfaßten Tätigkeiten der Banken mittlerweile über 150 mal höher als zu Beginn der siebziger Jahre. Der europäische Finanzmarkt ist in das Konzept des Binnenmarktes integriert und insbesondere durch drei Ziele gekennzeichnet, deren Verwirklichung zu einem 'level playing field' für die international agierenden Wettbewerber auf den Finanzmärkten innerhalb Europas führen sollen: (1) Vollständige Aufhebung aller Kapitalmobilitätsbarrieren: Die am 1. Juli 1990 in Kraft getretene Kapitalverkehrsrichtlinie läßt Kapitalverkehrsbeschränkungen nur in einigen wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten bis spätestens Ende 1995 zu. Bislang ist allerdings im Bereich der Besteuerung der Kapitalerträge noch keine Einigung erzielt worden, die von der Deutschen Bundesbank bis Ende 1993 (Ausnahme: Griechenland) erwartet wird. Darüber hinaus haben die umfangreichen Kapitalbewegungen im Zusammenhang mit den Realignments am 13. und 17. September 1992 und dem Austritt des Pfundes sowie der Lira aus dem Wechselkursverbund bereits einige Länder veranlaßt, im Rahmen der Ausnahmeregelung zumindest temporär auf neue Beschränkungen des Kapitalverkehrs zurückzugreifen (Spanien, Portugal, Irland). (2) Rechtsangleichung im Bankensektor und Versicherungsbereich: Die zentralen Richtlinien zur Koordinierung des Bankenrechts sollten bis Ende 1992 in nationales Recht umgesetzt werden. In der Bundesrepublik ist dies im Rahmen der 4. Novelle des

Finanzmärkte im europaischen Integrationsprozeß

•251 •

Kreditwesengesetzes erfolgt (vgl. Überblick bei Deutsche Bundesbank, 1993). Insbesondere der Eigenmittelbegriff wurde dabei in bezug auf die - begrenzte - Zulassung von Neubewertungsreserven sehr kontrovers diskutiert (Wiebke, 1992; 1993). Der Kompromiß in dieser Frage sieht vor, bis zu 1,4 Prozentpunkte an Neubewertungsrücklagen zuzulassen, wenn das Kernkapital mindestens 4,45 Prozentpunkte beträgt. Bereits seit Oktober 1990 sind die Grundsätze I und Ia Ober die Eigenkapitalunterlegung der Geschäfte von Kreditinstituten erweitert worden, um Risiken aus Aktivitäten auf den Terminmärkten, bei 'Swaps' und 'Off-Balance-Sheet'-Geschäften Rechnung zu tragen. Zu den zentralen Aspekten der 2. EG-Bankenrichtlinie vom Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute gehören insbesondere folgende Prinzipien: - Durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung wird die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit garantiert; - die Bankenaufsicht wird grundsätzlich vom Herkunftsland geregelt; - in jedem Mitgliedstaat muß ein Einlagensicherungssystem existieren. Im Versicherungssektor sind die Maßnahmen zur Aufhebung von Marktzutrittsbeschränkungen und zur Harmonisierung von Aufsichts- und Schutzbestimmungen bis Mitte 1994 in die nationale Rechtsprechung zu übertragen, wobei in diesem Bereich besonders schwierige Anpassungsprozesse zu erwarten sind. (3) Harmonisierung der Wertpapiermarktregulierung: Obwohl bereits seit Oktober 1989 der Vertrieb von Investmentanteilen einheitlichen Rechtsregeln in Europa unterliegt und auch Richtlinien über Wertpapierdienstleistungen sowie ergänzende Regelungen zur Kapitalausstattung von speziellen Wertpapierfirmen und Kreditinstituten in naher Zukunft verabschiedet werden, bestehen noch erhebliche Disparitäten bei den Vorschriften zur Börsenzulassung. Die aus diesen Rechtsvereinbarungen resultierenden Konsequenzen für das Bankgewerbe sind in der Literatur bereits ausführlich - vor allem unter mikroökonomischen Aspekten - diskutiert worden (z.B.: Duwendag, 1988; Giovannini und Mayer, 1991). Thematisiert werden vor allem die verstärkte Bankenkonzentration und der damit verbundene potentielle Abbau von Überkapazitäten, die Preisentwicklung für Finanzdienstleistungen sowie neue Vertriebswege im Rahmen der Allfinanzüberlegungen. Die Folgen der Reaktion der Kreditinstitute auf diese erhöhten Anforderungen lassen sich - angesichts der Preisgestaltung im Kreditgewerbe über Nicht-Preiskomponenten - nicht notwendigerweise an international sich angleichenden Preisen für finanzielle Dienstleistungen ablesen, wenn auch Strukturveränderungen Auswirkungen auf die Preise der Finanzdienstleistungen haben (Besanko und Thakor, 1992). Darüber hinaus kann eine

•252-

Karlheinz Kratz und H. Jörg Thieme

potentielle Reduktion der Kapitalkosten nur schwer gemessen werden. Diese Schwierigkeiten bei der Schätzung von Wohlfahrtsgewinnen erklären die bislang nur relativ geringe Zahl empirischer Analysen zur Messung von Effizienzwirkungen der Deregulation finanzieller Dienstleistungen. Die bislang vorliegenden Simulationsstudien belegen die positiven Wohlfahrtseffekte der Deregulierungen (z. B.: Viaene, 1993). b.

Informationsdefizite Die bereits in der Vergangenheit beobachteten weltweiten Liberalisierungstendenzen haben auch die Probleme deutlich gemacht, die mit geringeren Informations- und Veränderungskosten auf den internationalen Finanzmärkten verbunden sind. Dies hat dazu beigetragen, daß der Deregulationsprozeß faktisch als Kombination von Liberalisierung und Aufbau eines neuen europaweit anzuwendenden Regulationssystems angesehen werden kann (King, 1990). Darüber hinaus sind bereits wieder Diskussionen entstanden, die eine (Re-)Regulation bestimmter Bereiche zum Inhalt haben (Heri, 1989, S. 31 f.). Die Konsequenzen der zunehmenden Finanzmarktintegration durch Deregulation stehen dabei im Zentrum: wachsende Krisenanfälligkeit der Finanzmärkte (1), erhöhte Kursschwankungen durch Marktineffizienz (2), erschwerte Erwartungsbildung durch steigende Informationskosten (3). (1) Vertreter der 'Financial Fragility'-Position befürchten, daß die leichtere Schuldenaufnahmemöglichkeit für die privaten Wirtschaftssubjekte angesichts verbesserter Zugangsbedingungen zu den internationalen Finanzmärkten dazu führt, daß erhöhte Zinsänderungsrisiken (Fehlallokation) eingegangen werden und somit die Folgen von Zinsänderungen drastischer ausfallen als bei eingeschränkter Nutzung internationaler Finanzmärkte3. Darüber hinaus führe der Abbau von Regulationen im finanziellen Sektor zu einer Wettbewerbszunahme mit der Folge einer erhöhten Risikoinkaufnahme durch die in diesem Prozeß stehenden Akteure (Melitz und Bordes, 1991; Kindleberger, 1978). Als Beleg hierfür wird auf die Ausweitung der 'Off-Balance-Sheet'-Geschäfte der Kreditinstitute verwiesen. Im Zusammenhang mit der deutlichen Zunahme der Kursbewegungen vor allem auf Aktien- und Devisenmärkten wird eine höhere 'Krisenanfälligkeit' der Wirtschaft konstatiert. Konjunkturelle Aufschwünge werden nach dieser Vorstellung durch einen exogenen (monetären) Impuls ausgelöst, der zu günstigeren Investitionsmöglichkeiten führt (vgl. hierzu bereits Fisher, 1932). Die Zunahme der Investitionen wird dabei primär über Bankkredite finanziert, die wiederum die Bankeneinlagen erhöhen und somit endogen 3

Vgl. zur Verknüpfung der Finanzierungsstruktur mit 'Real Business Cycle'-Ansätzen z.B.:

Gertler, 1988; Gertler und Hubbard, 1988.

Finanzmarkte im europäischen Integrationsprozeß

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einen Anstieg der Geldmenge bewirken. Steigende Güterpreise im Konjunkturaufschwung begründen zusätzliche Kreditnachfrage. Dadurch entsteht ein sehr hoher Verschuldungsgrad, der mit einem entsprechend hohen 'Leverage'-Risiko verknüpft ist. Bei Zahlungsproblemen kann es zu einem drastischen Konjunktureinbruch kommen, der durch eine hohe Insolvenzrate und einen möglichen 'Banken-Run' oder 'Credit-Crunch' gekennzeichnet ist4. Minsky (1982) erweitert die Überlegungen Fisher's, indem er das Konzept der Fragilität berücksichtigt. Die potentielle finanzielle Instabilität wird danach dominant beeinflußt durch die Art der Finanzierung und das Ausmaß des 'Hedgings' von zukünftigen Zahlungsverpflichtungen. Als Ausdruck solcher von den Finanzmärkten ausgehenden Instabilitäten gelten die Bitwicklungen auf den amerikanischen Märkten für 'Junk Bonds' und die Finanzierung von 'Leverage Buy Out's' durch die Kreditinstitute. In Europa wird die expansive Kreditfinanzierung z.B. in Großbritannien in den achtziger Jahren als Beleg für die wachsende Fragilität der Finanzmärkte angesehen. Die Fremdfinanzierungsquote ist sowohl in den USA und Japan als auch in Großbritannien in den letzten zehn Jahren erheblich angestiegen. Gleichzeitig hat sich auch die Sparquote in diesen Ländern deutlich reduziert; in den USA (1981: 9,1 vH; 1989: 4,1 vH ) und Großbritannien (1981: 12,6 vH; 1989: 6,6 vH) hat sie sich in diesem Zeitraum ungefähr halbiert. Wenn auch diese Entwicklungen die These 'zerbrechlicher' Finanzmärkte zu stützen scheinen, ist bei gesamtwirtschaftlicher Betrachtung kaum eine sensitivere Entwicklung des realen Sektors gegenüber den Kursbewegungen auf den Finanzmärkten zu beobachten. Vielmehr haben sich die Schwankungen der Änderungsraten der Bruttoinlandsprodukte trotz der für die achtziger Jahre diagnostizierbaren Zunahme der Volatilität der Aktien- und Devisenkurse nicht erhöht (Smeets, 1992, S. 528). Blundell-Wignall und Browne (1991) untersuchen den Einfluß der Aktienkursvolatilität auf die Industrieproduktion in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich, Großbritannien, den USA und Japan. Die Instabilitäten auf dem Aktienmarkt haben noch in den siebziger Jahren einen signifikanten Einfluß auf die Industrieproduktion in Großbritannien, den USA und Japan ausgeübt. In den folgenden zehn Jahren kann jedoch für keines der untersuchten Länder eine signifikante Beziehung zur Industrieproduktion nachgewiesen werden. Damit stellt sich die Frage, ob die Gütermärkte im Zeitablauf robuster geworden sind gegenüber Störungen auf den internationalen Finanzmärkten oder ob die Schockabsorptionsfähigkeit der Finanzmärkte im Zeitablauf zugenommen hat. Auch kann für die Bundesrepublik Deutschland keine unverhältnismäßig hohe Ausweitung der Kreditfinanzierung festgestellt werden; die Verschuldungsquote von Haushalten und 4

Siehe: Bordo, 1989; Blinder und Stiglitz, 1983; Diamond und Dybvig, 1983.

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Unternehmen blieb nahezu unverändert. Letztlich implizieren die Thesen im Rahmen der finanziellen Fragilität jene Argumente, die eine Sonderstellung des finanziellen Sektors und eine besondere Regulation begründen: Dazu gehören negative Extemalitäten und asymmetrische Informationsverteilung zwischen Finanzintermediären und Kunden5. Die bislang nur auf nationaler Ebene geführte Diskussion über die rechdichen (Sonder-)Rahmenbedingungen für alle Akteure auf den Finanzmärkten wird nunmehr internationalisiert. (2) Die Finanzmärkte erfüllen bei angeglichenen Rechtsvorschriften nur dann ihre Funktionen optimal, wenn die Ertragssätze und Preise alle für die Ressourcenallokation relevanten Informationen unverzerrt enthalten. Die Kursschwankungen auf den internationalen Finanzmärkten sind daher per se nicht als negativ zu beurteilen. Vielmehr wird darin die Chance-Risiko-Position von Finanztiteln deutlich. Die mit der Liberalisierung der Finanzmärkte und der erheblich verbesserten Informationstechnologie einhergehende Zunahme der Kursschwankungen hat Zweifel über die Gültigkeit der traditionellen Erklärungsansätze im Rahmen des Paradigmas informationseffizienter Märkte entstehen lassen (Shleifer und Summers, 1990). Zahlreiche empirische Untersuchungen bestätigen systematische Abweichungen der tastächlichen Kursbewegung von der durch fundamentale Faktoren begründeten Entwicklung (vgl. Überblick bei Scott, 1991). Ungeachtet der kontrovers geführten Diskussion um die Angemessenheit der verwendeten empirischen Testansätze können solche Abweichungen von der Hypothese effizienter Märkte durch sich ständig verändernde Unsicherheiten auf den Vermögensmärkten begründet sein, die sich bei rationalen Erwartungen in der Höhe der in den Renditen berücksichtigten Risikoprämien widerspiegeln. Neben den 'Bubble'- und 'Fad'-Ansätzen versuchen verschiedene neuere Arbeiten ('Noise-Trader'-Ansätze) Kursbewegungen, die nach Ansicht dieser Autoren nicht auf fundamentale Marktenwicklungen zurückführbar sind, durch destabilisierende Spekulation der Marktteilnehmer zu erklären (Cutler, Poterba und Summers, 1990a; 1990b; DeLong et al., 1990). Damit wird die bereits in den fünfziger Jahren durch Friedman (1956) und Baumol (1957) ausgelöste Diskussion über die Bedeutung der Spekulation auf Finanzmärkten weitergeführt. Die neuen Ansätze gehen grundsätzlich von asymmetrischer Informationsverteilung aus. Die marginalen Informationskosten sind danach nicht für alle Wirtschaftssubjekte gleich hoch. Dies impliziert unterschiedliche Erwartungsbildungskonzepte. Zusätzlich begründet die Annahme einer unvollständigen Arbitrage, daß jene Wirtschaftssubjekte, die rationale Erwartungen bilden, die Abweichungen der tatsächlichen Kursbewegung von dem nach der Hypothese effizienter Märkte 5

Siehe z.B.: King, 1990; zur Übetragung auf Non-Bank-IntermediSre vgl. Carosio, 1990, S. 582 ff.)

FinanzmäHae im europäischen Integrationsprozeß

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gerechtfertigten Kurs nicht vollständig eliminieren können. Das Modellergebnis bei Informationseffizienz ergibt sich - bei Annahme von marginalen Veränderungskosten von null - für den Spezialfall, in dem alle Wirtschaftssubjekte rationale Erwartungen bilden. Welcher Faktor letztlich für den emprischen Befund maßgeblich ist, kann bislang - vor allem aufgrund der problematischen Hypothesenüberprüfung - nicht abschließend beurteilt werden. Vor allem die Aufteilung der Marktakteure in 'Noise Trader' und rational agierende Marktteilnehmer verursacht erhebliche Probleme bei einer empirischen Analyse. Plausibilitätsüberlegungen über den Anteil an 'Noise Tradern' auf der Basis der Unterscheidung institutioneller und nicht-institutioneller Marktteilnehmer sind kein geeignetes Trennungskriterium. Diese Erklärungsansätze begründen letztlich die Notwendigkeit von Interventionen auf den Finanzmärkten, weil destabilisierenden Spekulationen von staatlicher Seite entgegenzutreten sei. Angesichts der Schwierigkeiten, spekulativ begründete Kursbewegungen zu identifizieren und deren makroökonomische Relevanz einzuschätzen, sind die empfohlenen Regulationsmaßnahmen äußerst kritisch zu bewerten (z. B.: Frenkel und Goldstein, 1988; Härdouvelis, 1988). (3) Intertemporale Entscheidungsprozesse der Wirtschaftssubjekte werden dominant durch Erwartungen bestimmt. Die Höhe der Grenzerträge der Information auf der einen Seite und der Grenzkosten der Informationsbeschaffung und -Verarbeitung auf der anderen Seite sind ausschlaggebend für die Informationsnutzung. Als Folge verbesserter Informationstechnologie leitet Heri (1989, S. 32) ein Informationsparadoxon ab, nachdem die wachsende Informationsfülle Probleme der Informationsselektion und -auswertung entstehen läßt, weil es schwieriger wird, relevante Informationen zu filtern. Diese quantitative Betrachtung vernachlässigt allerdings marginale Kosten und marginale Erträge der Informationsnutzung. Das Informationsparadoxon tritt nur dann auf, wenn der Anteil an zusätzlicher, nicht relevanter Information so hoch wäre, daß die Grenzkosten der Suche nach relevanten Informationen die Grenzerträge aus dieser Informationsnutzung übersteigen. Dies ist allerdings zu bezweifeln, weil Heri übersieht, daß gerade die verbesserte Informationstechnologie die Informationsbeschaffung kostengünstiger und die Informationsverarbeitung auch effizienter gestaltet (Schäfer, 1991). Darüber hinaus wird in modelltheoretischen Analysen üblicherweise von der Annahme einer inversen Beziehung von Risiken und Informationen ausgegangen. Damit begründen Zusatzinformationen indirekte Erträge durch eine Reduktion von Risiken. Mit dem Problem der Informationsfülle verknüpft ist die Frage, inwieweit in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedliche Formen der Erwartungsbildung relevant sind. Mit unterschiedlich hohen marginalen Informationskosten werden nicht nur die Bedingungen für eine optimale Ressourcenallokation, sondern auch die einzelwirt-

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schaftlichen Reaktionen auf wirtschaftspolitische Impulse beeinflußt. Solche Divergenzen hätten zur Folge, daß auch die Gewinne aus dem IntegrationsprozeB sehr unterschiedlich ausfallen. Im Integrationsprozeß kommt es daher entscheidend darauf an, inwieweit in den einzelnen Ländern die Informationskosten angeglichen werden. III. Perspektiven der Flnanzmarktintejjration: Wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf? Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft standen in den vergangenen Jahren vor der noch nicht vollständig gelösten Aufgabe, ähnliche Rahmenbedingungen für die sehr unterschiedlich regulierten Finanzmärkte herzustellen. Die mit dem IntegrationsprozeB verknüpfte Deregulation nationaler Finanzmärkte droht allerdings zum Teil zurückgenommen zu werden, weil durch die drastisch gestiegenen Transaktionsvolumina auf den internationalen Finanzmärkten und der Zunahme von gleichlaufenden Renditeschwankungen erneut eine Diskussion um die Regulation 'spekulativer' Märkte ausgelöst wurde. Mit Hilfe der empirischen Analyse konnten die Effekte des Abbaus von Kapitalverkehrskontrollen nicht isoliert werden. Bei der Korrelationsanalyse wurde der Einfluß nationaler Stabilitätspolitiken deutlich, aus deren internationaler Koordination auch ein verstärkter Gleichlauf der Nominalzinssätze resultiert. Nicht die nationale Deregulation der Finanzmärkte begründet Instabilitäten, sondern zyklenverstärkende international aufeinander abgestimmte stabilisierungspolitische Maßnahmen. Sollen die Allokationseffekte der zunehmenden Finanzmarktintegration beurteilt werden, sind insbesondere die im Verflechtungsprozeß entstehenden Auswirkungen auf die Information- und Veränderungskosten zu analysieren. Die Effizienz der Finanzmärkte wird dominant bestimmt durch die Höhe dieser Kosten. Eine Reduktion der Veränderungskosten verlangt einerseits eine konsequente Umsetzung der beabsichtigten Deregulation, wobei die internationale Harmonisierung als Chance zur Reduktion von Veränderungskosten genutzt werden müßte. Eine Orientierung an regulativen Mindeststandards scheint ein geeigneter Ansatz. Bei der internationalen Festlegung von Ordnungsbedingungen wirkt eine Kooperation wohlfahrtsfördernd (Neumann, 1991). Gleichzeitig sind die Rahmenbedingungen für einen möglichst hohen Informationsstand herzustellen. So wird eine Informationsverbesserung über Politikabsichten die marginalen Informationskosten reduzieren. Dadurch werden auch Risikoprämien in den Preisen auf den Finanzmärkten abgebaut. Zu bedenken ist femer, daß verbesserte Informationstechniken bei gleichzeitiger Deregulation Anpassungsprozesse auf Finanzmärkten auslösen, die transitorisch zu einer höheren Ertragssatz- und Preisvariabilität führen, die geradezu Ausdruck der Absorp-

Finanzmarkte im europäischen Integrationsprozeß

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tions- und Anpassungsfähigkeit der Marktakteure sind. Aus dieser Sicht sind die beobachteten Effekte erwünscht und keineswegs ein brauchbares Argument für eine Re-Regulation der zusammenwachsenden, bislang nationalen und damit separierten Finanzmärkte. Die Wirtschaftspolitik sollte daher die Fähigkeit der Privaten nicht beschränken, mit neuen Finanzierungsinstrumenten auf veränderte Risiken zu reagieren.

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Der Bodenmarkt zwischen Freizügigkeit und lokaler Identitätsbewahrung: Einige möglicherweise gar nicht so ketzerischen Überlegungen Gerhard Schwarz, Zürich

I. Der Boden - ein Gut (fast) wie jedes andere

262

1. Soziologische Besonderheiten

262

2. Ökonomische Besonderheiten

263

II. Der Boden - ein reguliertes Gut

263

1. Die Beschränkung des Erwerbs von Grundstücken für Ausländer

263

2. Das Beispiel der schweizerischen Gesetzgebung (Lex Friedrich)

264

III. Die Unvereinbarkeit einer Ausländerdiskriminierung auf dem Bodenmarkt mit den 'Freiheiten' der EG

265

IV. Argumente für ein Recht auf nur selektive Offenheit

266

1. Argument 'Identitätserhaltung'

267

2. Argument 'Vereinsvermögen'

269

V. Antikritische Sicherung

270

1. 'Überfremdung* nur durch Grundstückserwerb?

270

2. 'Überfremdung' nur durch Fremde?

271

3. Läßt sich die 'Überfremdung' mit dem Markt bremsen?

272

VI. Diskriminierungsfreie Abschirmung

274

1. Enge und schutzwürdige Interessen

274

2. Eindämmung von Zweitwohnungen

275

3. Eindämmung von 'Altersparadiesen'

275

VII. SchluBbemerkungen

276

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Gerhard Schwarz

I.

Der Boden - ein Gut (fast) wie jedes andere Zu kaum einem Gut bzw. Produktionsfaktor weist die liberale Ökonomie solche Berührungsängste auf wie zum Boden. Viele liberale Theoretiker dieses Jahrhunderts machen um die Bodenfrage einen großen Bogen. Friedrich August von Hayek (1983) widmet ihr beispielsweise in seinem SOOseitigen, umfassenden Werk 'Die Verfassung der Freiheit' keinerlei besondere Aufmerksamkeit, sondern erwähnt sie lediglich im Kapitel "Wohnwesen und Stadtplanung" (S. 426 ff.) in nicht sehr systematischer Weise. Auch in Walter Euckens "Grundsätzen" (1990), bei Ludwig Erhard (1988 und 1990) oder in den "Grundtexten zur sozialen Marktwirtschaft" (1981) finden sich in den Sachregistern unter 'Boden' oder ähnlichen Stichwörtern fast keinerlei Hinweise. Das kommt nicht von ungefähr1, denn der Boden weist gewisse Besonderheiten auf, die ihn von anderen Gütern unterscheiden, wenn auch die These, daß der Boden als besonderes Gut wesentlich interventionistischer zu behandeln sei als andere Güter, fragwürdig und gefährlich ist. 1.

Soziologische Besonderheiten Zu den wichtigsten Besonderheiten des Gutes 'Boden' zählt nicht etwa seine angebliche Nichtvermehrbarkeit - im Raumschiff Erde sind letztlich alle Güter endlich und knapp -, sondern schon eher seine fehlende Homogenität, vor allem aber seine Immobilität (vgl. Schwarz, 1991, S. 812). Sie ist für unser Thema von zentraler Bedeutung. So kann man diese Habe - etwa im Kriegsfall - nicht mitnehmen, man kann sie bestenfalls verteidigen. Sie ist deshalb mit Seßhaftigkeit und Heimatverbundenheit, vielleicht auch mit einem gewissen Konservatismus verbunden. Der Boden ist auch der im wahrsten Sinn des Wortes grundlegende Produktionsfaktor der Landwirtschaft, und schließlich sind Umweltschutz und Landschaftspflege ganz entscheidend mit dem Boden und seiner Nutzung verbunden. Dementsprechend wird dem Privateigentum an Grund und Boden noch mehr als dem Privateigentum insgesamt eine ganze Fülle von außerökonomischen, eher 'soziologischen' Wirkungen zugeschrieben, etwa die Stärkung des Verantwortungs- und Rechtsbewußtseins, die Förderung des Engagements für das Gemeinwesen, eine gewisse Entproletarisierung oder die Stärkung der Autonomie und Handlungsfreiheit jedes einzelnen, insbesondere eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber dem Staat. All das mag zusammen mit den feudalen Wurzeln jeder Industriegesellschaft erklären, weshalb der Bodenmarkt nicht die gleiche Freiheit genießt wie etwa der Kapitalmarkt oder der Markt für die meisten 'mobilen' Güter. Zum Teil hat es auch damit zu tun, daß der Boden als Produktivfaktor in der modernen Industriegesellschaft eine untergeordnete Rolle spielt. Das dürfte indessen nicht der Hauptgrund sein.

Der Bodenmaria im europaischen Integrationsprozeß

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2.

ökonomische Besonderheiten Neben den 'soziologischen' Charakteristika weist der Boden auch noch eine ökonomische Besonderheit auf. Die Nutzung des Bodens erfolgt nicht privat, gewissermaßen im stillen Kämmerlein, sondern sie ist mit außerordentlich vielen externen Effekten verbunden (vgl. Frey, 1990, S. 105). Im Bereich der Bodennutzung gilt also wohl noch beschränkter als in vielen andern Bereichen, daß das, "was ein Besitzer mit seinem Eigentum macht, nur ihn und keinen andern berührt" (Hayek, 1983, S. 427). Die Vermeidung externer Effekte durch Regulierung oder die Internalisierung durch Abgaben und privatrechtliche Lösungen bzw. die Stärkung der Eigentumsrechte sind deshalb verständliche Reaktionen. Selbst von einem so konsequenten Liberalen wie Hayek (1983, S. 435 ff. und S. 441 ff.) wird daher die Notwendigkeit der Raumplanung bzw. von Bauvorschriften grundsätzlich anerkannt. In Verbindung mit der Immobilität des Bodens und mit seinen soziologischen Aspekten hat auch noch der 'pekuniäre externe Effekt' (vgl. Luckenbach, 1980, S. 138) einige Bedeutung. Wenn nämlich die Nachfrage nach Grund und Boden in einem relativ kleinen und homogenen Raum, in einem Dorf oder einem Tal, von außen her stark zunimmt, kann dies die Preise in einem Ausmaß in die Höhe treiben, welches nicht nur einem Teil der einheimischen Wohnbevölkerung den Zugang zum Grundeigentum völlig verwehrt, sondern diesen unter Umständen durch hohe Wohnkosten aus seiner Heimat 'vertreiben' kann. II. 1.

Der Boden - ein reguliertes Gut Die Beschränkung des Erwerbs von Grundstücken für Ausländer Während die ökonomischen Aspekte der Bodennutzung zu einer starken Regulierung des Bodenmarktes sowie des Bauens geführt haben, ließ das, was wir im Bewußtsein um die Schwammigkeit des Begriffes die 'soziologischen' Aspekte nannten, die meisten Nationalstaaten seit jeher den Erwerb und Besitz von Grundeigentum durch Fremde massiv beschränken und erschweren (vgl. Willgerodt, 1993, S. 174 f.). Das trifft selbst auf ein Land wie die Schweiz zu, die etwa in Sachen Kapitalverkehr oder Handel von industriellen Gütern gewiß nicht zu den unliberalsten in Europa zählte - und immer noch zählt. So weisen etwa auch Griechenland, Dänemark und Österreich ähnliche Gesetzgebungen wie die Schweiz auf. Das Hauptmotiv ist die Angst vor dem 'Ausverkauf der Heimat' - weil eben Grundeigentum und Heimat eine enge Verbindung aufweisen und vor der Überfremdung des heimischen Bodens. Dazu kommt - vor allem in kleineren Ländern - jeweils auch die Sorge, eine starke Nachfrage aus dem Ausland treibe die Bodenpreise und damit letztlich die Wohn- und Mietkosten in unakzeptablem Ausmaß

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Gerhard Schwarz

in die Höhe. Daraus wird ersichtlich, daß in der Regel geweiblich genutzter Boden2 ein weniger großes Problem darstellt als Wohnungen und Einfamilienhäuser und daB unter diesen wiederum die Zweit- und Ferienwohnungen besonders umstritten sind. Auf sie konzentrieren sich denn auch die meisten der hier angestellten Überlegungen, was es mit sich bringt, dafi die touristischen Gebiete stark im Vordergrund stehen. 2.

Das Beispiel der schweizerischen Gesetzgebung (Lex Friedrich) Die Geschichte der schweizerischen Gesetzgebung, wie sie im folgenden kurz dargestellt wird (vgl. dazu ausführlich Althaus, 1992, S. 5 ff.), ist symptomatisch für die Entwicklung auch in anderen Ländern. Es geht also hier nicht - gerade nach dem Nein der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vom 6. Dezember 1992 muß das betont werden - um ein Plädoyer für die Abschottung der Schweiz, sondern um das prinzipielle Recht jeglicher Gemeinschaft, das Ausmaß und Tempo der Öffnung und Veränderung selbst zu bestimmen. Der Erwerb von Grundstücken durch Ausländer setzte in der Schweiz im wesentlichen in den fünfziger Jahren ein. Der Immobilienmarkt florierte. Ausländische Käufer waren - vor allem im Tessin - bereit, einen beträchtlich höheren Preis für Grundstücke zu bezahlen als Schweizer. Als Reaktion auf die Sensibilisierung der öffentlichen Meinung unterstellte die Lex von Moos - ein auf dem Dringlichkeitsweg befristet erlassener Bundesbeschluß - dann den Grundstückerwerb durch Ausländer der Bewilligungspflicht; als Voraussetzung der Bewilligung wurde postuliert, daß der Erwerber ein berechtigtes Interesse habe. Man meinte, der Erwerb von Ferienhäusern durch Ausländer treibe die Nachfrage massiv nach oben. Daher zielte man mit dem Bundesbeschluß auf diese Kategorie von Erwerbern. Wegen einer (zu?) großzügigen Auslegung des Gesetzes stieg indessen die Zahl von Immobilienkäufen durch Ausländer trotzdem weiter an. Die sogenannten Lex Celio und Lex Furgler brachten deshalb Verschärfungen, konnten aber die öffentliche Kritik, welche in der Volksinitiative der Nationalen Aktion 'Ausverkauf der Heimat' kulminierten, nicht besänftigen.3 Die Volksinitiative sah rigorose Einschränkungen sowie ein totales Verbot für Ausländer vor, Ferien- und Zweitwohnungen zu erwerben. Sie wurde 1984 nur knapp verworfen. Der Gegenvorschlag des Bundesrates (Lex Friedrich) in Form des noch heute geltenden Bundesgesetzes über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland (BewG), verbunden mit der ent-

Natürlich besteht auch für die Wirtschaft die Angst vor dem 'Ausverkauf der Heimat', doch gilt sie mehr der Kontrolle von Unternehmen als dem Boden als solchem. Man schätzt, daß sich 1989 etwa 7% des Gebäudewerts des gesamtschweizerischen Gebäudebestandes oder rund SO Mia. Fr. und etwa 5% des gesamten Bodenvermögens (ebenfalls fast SO Mia. Fr.) in ausländischen Händen befanden (vgl. Muggli, 1991, S. 87).

Der Bodenmarkt im europaischen Iruegrationsprozeß

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sprechenden Verordnung (BewV), wurde angenommen; beide traten am 1. Januar 1985 in Kraft. Der Zweckartikel (Art. 1) hält fest: "Dieses Gesetz beschränkt den Erwerb von Grundstöcken durch Personen im Ausland, um die Überfremdung des einheimischen Bodens zu verhindern." Zielsetzungen der Konjunktur- oder Währungspolitik, der Raumplanung, des Natur-, Heimat- oder Landschaftsschutzes werden darin nicht explizit erwähnt. Das Gesetz wirkt sich aber selbstverständlich indirekt auf diese und andere Ziele aus. Es versucht, den Umfang des ausländischen Grundeigentums auf einem tragbaren MaB zu stabilisieren, ohne ausländisches Immobilieneigentum völlig zu verbieten. Gründe dafür waren die Angst, eine starke ausländische Nachfrage nach Grundstücken beeinflusse maßgeblich die Entwicklung der Bodenpreise, und höhere Bodenpreise könnten indirekt auch zu höheren Mieten führen. Im Meinungsbildungsprozeß wurde auch die Tatsache hervorgehoben, daß in der Schweiz die nutzbare Fläche im Vergleich zu den meisten europäischen Staaten deutlich knapper ist. Schließlich will die Lex Friedrich Überfremdung im Sinne von örtlichen und lokalen Mißverhältnissen zwischen ausländischem und einheimischem Grundeigentum, wie sie in verschiedenen Fremdenverkehrsgebieten vorkommen, verhindern. Das Gesetz unterstellt den Übergang des Eigentumsrechtes (oder eines dem Eigentum gleichgestellten Rechts) an einem Grundstück der Bewilligungspflicht. Das Rechtsgeschäft wird erst wirksam, wenn eine rechtskräftige Bewilligung erteilt worden ist. Gewährt wird diese Bewilligung von der kantonalen Behörde, und zwar nur für Gründe, die das Gesetz explizit vorsieht. Für Ferienwohnungen und Wohnungen in Apparthotels setzt der Bundesrat die kantonalen Bewilligungskontingente im Rahmen einer gesamtschweizerischen Höchstzahl fest. Typisch schweizerisch erstreckt sich die Lex Friedrich auf zwei Ebenen, auf die kantonale und auf die eidgenössische: Damit eine Bewilligung erteilt wird, muß ein Bewilligungsgrund vorhanden sein, und es darf ihm kein Verweigerungs- oder Beschränkungsgrund entgegenstehen. In seiner abschließenden Auflistung aller Bewilligungsgründe unterscheidet das Gesetz zwischen jenen allgemeiner Natur und zusätzlichen kantonalen. Ähnlich wurden die zwingenden Verweigerungsgründe durch weitergehende kantonale ergänzt. TO. Die Unvereinbarkeit einer Ausländerdiskriminierung auf dem Bodenmarkt mit den 'Freiheiten1 der EG Mit Blick auf das Gemeinschaftsrecht der EG sind Regelungen wie die schweizerische - aber eben auch jene anderer Länder - unter Beschuß geraten. In der Schweiz wurde im Vorfeld der EWR-Abstimmung auch die Frage des Anpassungsbedarfs in Sachen Bodenrecht diskutiert (vgl. z.B. NZZ, Nr. 270 vom 19. 11. 1992). Das Thema

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war für das Nein sicher nicht ausschlaggebend, aber vermutlich auch nicht irrelevant. Den Schweizer Unterhändlern gelang es zwar, relativ lange Anpassungsfiristen (fünf Jahre) auszuhandeln, aber danach hätte das schweizerische Recht voll dem Diskriminierungsverbot der Gemeinschaft entsprechen müssen. Eine unterschiedliche Behandlung allein wegen der Staatsangehörigkeit wäre also, so wie in der EG schon heute, nicht mehr möglich gewesen. Die Lex Friedrich in ihrer heutigen Form steht nämlich zu einer ganzen Reihe von EG-Bestimmungen, die den Grunderwerb betreffen, in Widerspruch: - Von der Kapitalverkehrsfreiheit gemäß EG wird sowohl der Kauf an Boden zu persönlichen Zwecken als auch zu wirtschaftlichen (Erwerbs-)Zwecken geschützt. Das Ziel der Lex Friedrich, gewisse Immobilieninvestitionen von Ausländern zu verhindern, widerspricht eindeutig dieser Idee der Kapitalverkehrsfreiheit. - Die Lex Friedrich steht aber auch im Gegensatz zur Freizügigkeit, die gemäfi EG (etwa Art. 9 der Verordnung 1612/68) das Recht beinhaltet, sich in einem Mitgliedstaat zu denselben Bedingungen aufzuhalten wie die inländischen Arbeitnehmer. Dazu zählt auch das Recht, 'Eigentümer seiner Wohnung zu sein'. - Die Niederlassungsfreiheit ist praktisch das Pendant für Selbständigerwerbende zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Sie setzt den freien Zugang zum Bodenmarkt voraus. Die Lex Friedrich verhindert diesen indessen, sie behindert das erstmalige FuBfassen ausländischer Personen und Finnen mit dem Zwecke einer selbständigen Tätigkeit. - Am wenigsten stehen Beschränkungen des Erwerbs von Grundstücken durch Ausländer im Konflikt mit der Dienstleistungsfireiheit, denn die Dienstleistungsfreiheit zielt ja auf das temporäre Überschreiten der Landesgrenzen zwecks Erbringung einer Dienstleistung. Grundeigentum dürfte dazu eher selten notwendig sein. Hingegen schützt die Dienstleistungsfreiheit auch die Vermittlertätigkeit im Immobilienhandel, für welche die Möglichkeit des Erwerbs von Grundstücken unabdingbare Voraussetzung ist. Auch dem steht die Lex Friedrich entgegen. IV. Argumente für ein Recht auf nur selektive Offenheit So stellt sich also die Situation dar: auf der einen Seite das Gemeinschaftsrecht bzw. die für den Ordnungspolitiker viel wichtigere, ihm zugrunde liegende Philosophie der vier Freiheiten, die auch beim Grundstückserwerb jegliche nationale Diskriminierung ausschließt4, auf der anderen Seite die Angst vieler Länder, vor allem kleinerer, klima4

Allerdings sollte man nicht übersehen, daß, solange das Stimm- und Wahlrecht national ist, doch eine 'Diskriminierung' vorliegt, denn die politischen Rechte erlauben es, Ober viele für den Eigentümer relevanten Sachfragen zu entscheiden. Von diesen Entscheiden bleibt der ausländische Eigentümer ausgeschlossen.

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tisch oder anderweitig begünstigter Länder, vor dem Nachfragedruck aus dem Ausland. Die Argumente für die Freiheit auch des Grundstückserwerbs sind einleuchtend, sie liegen auf der Hand. Der freie Wettbewerb führt nicht nur dazu, daß der Boden zum 'besten Wirt' kommt; er verhindert auch, daß Regierungen die Bodeneigentümer in ihrer Handlungsfreiheit durch Steuern und andere Beschränkungen einengen, weil die Eigentümer im Sinne des Wettbewerbs der Systeme (vgl. Sinn, 1992, S. 177 ff. und Schwarz, 1992, S. 31 f.) ihr Vermögen relativ leicht dorthin verlagern können, wo es am besten behandelt wird. Ist Grundstückserwerb in anderen Ländern nicht möglich, sind die Menschen in freiheits- und effizienzschädigender Weise an ihr Herkunftsland gebunden (vgl. Willgerodt, 1993, S. 175). Dennoch muß die Frage gestellt werden, ob es nicht doch gute Gründe für eine gewisse Beschränkung, für eine bloß selektive Offenheit geben kann. Um diese Frage zu beantworten, muß der Sachverhalt wohl eher aus der Sicht des Landes, der Region, des Tals oder des Orts betrachtet werden, die sich - in einem gewissen und selektiven Sinne - abschließen möchten. Diese - nennen wir sie - Gebiete kann man mit einem Verein oder Klub vergleichen, der sich die Aufnahme neuer Mitglieder überlegt, wobei die 'Regierung' bzw. Gemeindeverwaltung der Vereinsleitung, dem Vorstand, entspricht (vgl. Sinn, 1992, S. 179; vgl. auch Rowley und Peacock, 1975). Würde man es einem solchen Klub übel nehmen, wenn er nicht für jeden Antrag offen wäre, wenn er die Kandidaten genau prüfte, sich sehr wählerisch gäbe und allenfalls einen hohen Eintrittspreis verlangte? Die Frage stellen, heißt, sie verneinen. Und auch die Argumente, die Motive, für eine nur selektive Offenheit sind ähnlich. Es geht dem Klub - und dem Gebiet - vor allem um zweierlei, um - Erhaltung der Identität und um - Sicherung des 'Klubvermögens'. Beide Anliegen sind wohl auch aus liberaler Sicht durchaus legitim (vgl. Rowley und Peacock, 1975, S. 120). Wer im übrigen meint, ein solches Recht auf Identitätsbewahrung stehe dem Wandel entgegen, wird sich täuschen. Der Wettbewerb der Dörfer und Gemeinden dürfte vielmehr zunehmend dafür sorgen, daß die permanente Suche nach besseren institutionellen Regeln und die Imitation der erfolgreichen Regeln für ständige Veränderungen sorgen. Argument 'Identitätserhaltung1 Wenn ein Klub seinen besondem Charakter, eben seine Identität, bewahren will, dürfte dies kaum zu Kontroversen Anlaß geben. Sobald aber die Erhaltung der Identität des Klubs als Ziel anerkannt ist, muß und darf der Vereinszweck das Ausschlußkriterium sein. Es ist also keine Diskriminierung, wenn ein Verein, dessen Zweck die Be1.

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Steigung der 8000er dieser Erde ist, gewisse Anforderungen an die Kondition und die bergsteigerischen Fähigkeiten von Aufnahmekandidaten stellt, wenn ein Spanisch-Konversationsklub keine Mitglieder aufnimmt, die kein Wort Spanisch sprechen oder wenn die Wiener Sängerknaben keine Mädchen aufnehmen. Ähnlich ist es mit den 'Vereinen', die sich Länder, Kantone oder Dörfer nennen. Allerdings kommt bei ihnen noch etwas erschwerend hinzu: Sie sind weitgehend immobil. Jedenfalls ist jener Teil ihres 'Vereinszweckes', der sich mit Identitätssicherung umschreiben ließe, stark an den Ort gebunden. Vertriebenenvereine sind kein Ersatz für Heimat. Wie erwähnt, gelten denn auch die größten Sorgen und Ängste dieser 'Vereine' mit Blick auf den Grundstücksverkehr dem Identitätsverlust, der Überflutung durch Ausländer, welche vor allem in den touristisch reizvollen Gebieten alles auf- und auskaufen. Eng mit der Angst vor dem Ausverkauf der Heimat verbunden ist auch die Befürchtung, die Wohnkosten für Einheimische könnten so stark steigen, daß sie viele Bewohner - jüngere und ältere - aus ihrer angestammten Heimat vertreiben. Die Bevölkerungszusammensetzung würde sich dadurch indirekt, durch die pekuniären externen Effekte des Grunderwerbs durch Ausländer, verändern. Schließlich wird auch das Ziel der Erhaltung des Orts- und Landschaftsbildes, der Verhinderung von Verstädterung und Zersiedlung, häufig unter dem Ziel der Identitätssicherung subsumiert; in der Tat kann sich Zugehörigkeits- und Heimatgefühl auch durch das Orts- und Landschaftsbild definieren. Nicht von ungefähr spricht man in der Schweiz in diesem Zusammenhang in der Regel von Heimatschutzs. Nun sind allerdings 'Identität' und 'Heimat' zugegebenermaßen wesentlich schwammigere Begriffe und Kriterien als die oben beispielhaft erwähnten Vereinszwecke von Sport- oder Kulturvereinen. Das macht ihre Anwendung schwierig, macht sie dem nüchternen Ökonomen suspekt. Dennoch sind es Realitäten, die nicht wegzudiskutieren sind. Die empirische Beobachtung zeigt, daß es offenbar irgendwo einen Punkt gibt, bei dem Quantität in Qualität umschlägt, bei dem die Integrationsfähigkeit einer sozialen Gemeinschaft aufhört. Wo diese Schwelle, bei der das System gewissermaßen kippt, genau liegt, wird wohl nur von Fall zu Fall herauszufinden sein. Daß sie indessen existiert, zeigt die Erfahrung immer wieder. Deswegen sind der völlig freie Verkehr von Menschen und in seinem Gefolge der freie Grundstückserweib auch meist solange kein Problem, als es nur um kleine Zahlen geht, um den 'courant normal'. Ein Ausländer in einem 500-Seelen-Dorf führt in der Regel noch nicht zum Untergang der 5

Ich möchte hier keinesfalls als Verteidiger eines romantisierenden Heimatstils mißverstanden werden. Doch neben Seldwyla scheint mir auch Babylon kein erstrebenswertes Ziel. Tatsache bleibt, daß die Grenze zwischen zeitgemäßer Identität und kultureller Regression schwierig zu ziehen ist - nicht nur in der Architektur (vgl. Centro Stefano Franscini,

1990).

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Tradition, ein moderner Bau kann zwar das Ortsbild beeinträchtigen, muß es aber noch nicht unbedingt zerstören. Wenn aber in einem Gebiet 30 Prozent bis 40 Prozent Fremde leben, kann nicht nur das Zusammenleben schwierig werden, sondern auch die Identität des Sozialgefüges in einem Ausmaß sich wandeln, wie es von der ursprünglichen Bevölkerung nicht gewollt war. Selbstverständlich ist Identitätsbewahrung nicht unproblematisch. Sie kann zur Bewahrung einer Idylle verkommen, kann als Blut- und Boden-Ideologie mißverstanden werden. Außerdem sind Identitäten ja nichts Statisches. Sie sind dem Wandel unterworfen. Und zu diesem Wandel können fremde Einflüsse beitragen. Darin kann sehr wohl etwas Positives liegen. Doch darf unsere Fragestellung nicht in einem anmaßenden Sinne lauten, ob etwas für eine Gemeinschaft gut ist oder nicht, sondern höchstens, ob dieser Gemeinschaft aus liberaler Sicht das Recht zusteht, den Wandel durch fremde Einflüsse zu kontrollieren, zu filtern oder gar weitgehend zu unterbinden. 2.

Argument 'Vereinsvermögen' Vereine haben ihr Vermögen. Die Mitglieder haben oft nicht nur finanzielle Opfer gebracht, sondern etwa auch in Fronarbeit ein Klubhaus erstellt. Es erscheint daher nur folgerichtig, wenn neue Mitglieder sich einkaufen müssen, wenn sie zusätzlich zum laufenden Vereinsbeitrag die Möglichkeit der Nutzung des Vereinsvermögens durch eine A-fonds-perdu-Leistung kompensieren müssen. Staaten, Regionen, Täler und Dörfer verfügen ebenfalls über ein Vermögen. Es ist zum Teil materieller Art - die physische Infrastruktur, die Sozialversicherung, Umverteilungsschemata -, zu einem großen Teil aber auch immaterieller Natur. Dazu gehören die Institutionen aller Art, vor allem die politischen Systeme, die kulturellen Traditionen, die sozialen Netze usw. Wer Zugang zu diesem 'Vereinsvermögen' erhält, das über weite Strecken ein öffentliches Gut darstellt, sollte das aus liberaler Sicht nicht gratis tun können. Für Gary Becker (1992) ist dieses Argument des Zugriffs auf das 'Vereinsvermögen' das zentrale Argument überhaupt gegen eine freie Wanderung, der er durch eine Kontingentierung und die Auktion von Zuwanderungsrechten begegnen möchte. Das Argument gilt außerdem heute viel stärker als früher. Mit dem Wachstum des modernen Sozialstaates, mit der Kollektivierung so vieler Leistungen, die einst auf privater Basis erbracht wurden, geht es heute um ganz andere Dimensionen. Im Kaufpreis für eine Liegenschaft steckt zwar sicher ein Element der Abgeltung für den Zugriff auf das 'Vereinsvermögen', eher jedenfalls als in den meist stark regulierten Mieten, doch dürfte kaum der gesamte Nutzen intemalisiert sein. Solange dies aber nicht der Fall ist, ist ein völlig freier Bodenmarkt höchst fragwürdig. Aufgehoben würde die Problematik nur bei einer Fusion aller Klubs, also einem politischen, aber auch kulturellen Einheits-

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brei, oder aber, wenn Grunderwerb und Anspruch auf das 1 Vereinsvermögen' völlig entkoppelt würden (vgl. Sinn, 1992, S. 193). V. 1.

Antikritische Sicherung 'Überfremdung' nur durch Grundstückserwerb? Der Hinweis auf die Migration hat bereits deutlich gemacht, daß mit Blick auf die Identitäts- und Vermögenssicherung nicht der Grundstückserweib im Vordergrund steht. Dauernde Wohnsitznahme durch Fremde kann die Identität nämlich ebensosehr tangieren wie der Kauf von Liegenschaften, sicher mehr jedenfalls als der Kauf von Liegenschaften, die dann gar nicht vom Käufer bewohnt werden. Ein hoher Anteil der ausländischen Bevölkerung kann das Gemeindeleben massiv verändern, den Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus, die Feste, die Art, die Feste zu feiern, das Angebot in den Läden usw. Bestenfalls verkommt dann viel traditionelles Kulturgut zur bloßen touristischen Attraktion, schlimmstenfalls wird es mit Modemismen völlig vermischt oder geht ganz verloren. Allerdings dürfte dies selbst dann weitgehend zutreffen, wenn alle 'Fremden' nur zur Miete leben. Dennoch: Eigentum ist etwas besonderes, es gibt mehr Verfügungsgewalt. So werden etwa von Eigentümern vermutlich eher Veränderungen an den Gebäuden vorgenommen, als von denen, die zur Miete leben. Anderseits kann Eigentum auch zu höherer Identifikation, zur stärkerer Integration führen. Wem ein Haus in einem Dorf gehört, dem ist es vielleicht plötzlich noch weniger gleich, ob die Zubringerstraße zu 'seinem' Dorf ausgebaut wird oder nicht. Das Gefühl, durch das Grundeigentum 'dazuzugehören', kann den Gegensatz zwischen Einheimischen und Fremden auch ein wenig aufheben, den Fremden zur Anpassung bewegen. Und es gibt Dinge, die nur die Eigentümer, nicht aber die Bewohner betreffen; auch das kann zusammenschweißen. Man wird also die Frage, ob Eigentum die Identität eines Raumes stärker gefährdet als bloße Wohnsitznahme, wohl nicht eindeutig beantworten können. Ähnliches gilt für den Zusammenhang von Grundeigentum und 'Vereinsvermögen'. Auch hier wird der Zugang, etwa zur Infrastruktur, zu den Institutionen, sicher in der Regel genauso durch die Wohnsitznahme geschaffen wie durch den Erwerb von Immobilien, ja vielleicht sogar noch mehr. Nicht nur der Grundstückserwerb schafft Probleme, sondern mindestens sosehr die Wohnsitznahme. Sie kann - bei genügend großer Zahl - die Identität gefährden, und sie gewährt weitgehend Zugang zum immateriellen und materiellen 'Vereinsvermögen'. Mit Blick auf das materielle 'Vereinsvermögen', jedenfalls jenen Teil, bei dem Ausschluß möglich ist, ließe sich dieses Problem allenfalls durch eine stärker gebührenorientierte, durch den Benützer voll abgegoltene Bereitstellung öffentlicher Güter beheben. Für das immaterielle 'Vereinsvermögen' und

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die Identität gibt es indessen vermutlich keine andere Lösung als die Kontrolle der Wohnsitznahme. Der Grundstückserwerb müßte davon insofern nicht notwendigerweise betroffen sein, als man allenfalls Eigentum und Wohnrecht entkoppeln könnte. Das stellte aber eine so außerordentliche Einschränkung des Rechts der freien Eigentumsnutzung dar, daß man sich fragt, ob denn nicht die Beschränkung des Erwerbs von Eigentum durch Fremde fast der schwächere Eingriff wäre. Sollte die Maßnahme nämlich nicht-diskriminierend sein, so müßte sie für alle gelten. Jeder 'Häuslebauer', ob einheimisch oder nicht, müßte eine Bewilligung einholen, um in seinem Haus auch wohnen zu können. Will man dies nicht, akzeptiert man vielmehr, daß Eigentum an Liegenschaften grundsätzlich auch das Wohnrecht gewährt, dann kommt man wohl nicht darum herum, gewisse Einschränkungen beim Eigentumserwerb zu akzeptieren. 'Überfremdung1 nur durch Fremde? Ein zweiter Einwand scheint gewichtiger. Er hat mit der Schwammigkeit der Begriffe 'Heimat' und 'Identität' zu tun. Wer ist fremd und wer ist einheimisch? So manches Tal, so manche Gemeinde, empfinden schon die Bewohner der nächsten Nachbarschaft als fremd. Ist das Nachbardorf, das nächste Tal schon ein fremder Einfluß? Ein Kollege erzählte mir unlängst von seinem Heimatdorf, Wangen, und dem Nachbardorf, Wiedlisbach, das jenseits der Aare liegt, aber unmittelbar an Wangen grenzt, nur durch einen Kanal getrennt. Trotzdem fand über die Jahrhunderte hinweg fast kein Kontakt miteinander statt, gingen die Beziehungen in völlig andere Richtungen, wurde nicht über die Aare hinweg geheiratet, ist der Stil der Häuser ganz anders usw. Der Grund scheint darin zu liegen, daß Wiedlisbach ursprünglich alemannisch besiedelt war - auch die Familiennamen zeigen dies -, Wangen dagegen burgundisch.

2.

Eines ist gewiß: Nationalität eignet sich kaum als Abgrenzungskriterium. In der Schweiz wird dies durch das Zusammenleben von verschiedenen Kulturen besonders deutlich. Die Deutschschweizer, die im Tessin ihre Rusticos erworben haben, sind dort sicher fremder als Norditaliener. (Höchstens die Motivation für den Zweitwohnsitz mag unterschiedlich sein. Die einen suchen die Sonne und das milde Klima, die andern vielleicht günstige steuerliche Rahmenbedingungen.) Dementsprechend empfinden denn auch die Tessiner vielfach "nicht die Ausländer, sondern die 'ausländischen' Inländer als Überfremdungsproblem" (Muggli, 1991, S. 20), was auch angesichts der Dimensionen nicht erstaunt. Eine Statistik der Netto-Übertragungen (Käufe minus Verkäufe) zeigt, daß in den achtziger Jahren (81-89) die Tessiner netto weit über 2 Mia. Fr. an Immobilieneigentum an andere Gruppen verloren haben, während die Ausländer netto für etwas über 600 Mio. Fr., die übrigen Schweizer aber für rund 1,9 Mia. Fr. Liegen-

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Schäften im Tessin erworben haben (Muggii, 1991, S. 21). Jedenfalls scheint das Kriterium der Beziehung zu einer Region für die Regelung des Grunderweibs sachgerechter als das der Nationalität. Wie eng - sachlich und geographisch - dann allerdings dieses Kriterium gezogen werden soll, mufi man wohl dem betroffenen Gemeinwesen überlassen. Verwandt damit ist das Problem, daß fremde Einflüsse nicht nur von Fremden, die sich in einem Gebiet niederlassen, stammen. Da gibt es die Touristen, die tage- oder wochenweise das Tal überfluten; es gibt die Einheimischen selbst, die auf Reisen gehen und neue Erfahrungen, Sitten und Bräuche mitbringen; und es gibt vor allem die Medien. Vieles davon wird eine Gemeinschaft weder unterbinden wollen noch sollen. Es scheint mir aber dennoch zulässig, wenn ein Gemeinwesen hier nicht konsequent ist, wenn es das eine akzeptiert, das andere aber - den freien Verkehr von Grundstücken unterbindet. 3.

Läßt sich die 'Überfremdung' mit dem Markt bremsen? Ein dritter Einwand ist wohl der gewichtigste. Er lautet, daß die Ziele der Identitätserhaltung und der Sicherung des Klubvermögens zwar akzeptabel seien, daß aber das Mittel des Eingriffs in den Bodenmarkt nicht zulässig sei. Gemeinschaften, die sich abschließen möchten, hätten deshalb liberale - und das heißt: marktwirtschaftliche - Instrumente zu suchen. Das würde bedeuten, daß die Anteile am Vereinsvermögen und die Identität als bloße externe Effekte interpretiert würden, die sich pekuniär abgelten ließen. Mit Blick auf das Vereinsvermögen ist dies auch, abgesehen von technischen Problemen der Bemessung, eine weitgehend sachgerechte Lösung. Das Pièce de résistance stellt vielmehr eindeutig die Identitätsbewahrung dar. Nicht nur läßt sich der Wert dessen, was wir Identität nennen, besonders schwer ermitteln, sondern dieser kann unter Umständen auch bereits durch einen einzigen 'Einbruch' in die Homogenität massiv in Mitleidenschaft gezogen werden. Nun könnte man natürlich auch hier für Abgabenlösungen oder - noch konsequenter gemäß reiner Lehre - für Entschädigungslösungen plädieren. Entweder entschädigt die Gemeinschaft das verkaufswillige Mitglied für den Nichtverkauf seines Grundstücks oder aber der Verkäufer liefert einen Teil seines Erlöses dem Gemeinwesen ab als Entschädigung für den zugefügten Schaden, ökonomisch effizient mögen im Sinne von Coase beide Zuteilungen von Ausgangsrechten sein. Nur ist-die Situation nicht symmetrisch: Wenn die Ausgangsrechte bei den einzelnen Eigentümern liegen, könnte dies mit der Zeit wohl zu einer finanziellen Ausblutung des Gemeinwesens führen. Selbst wenn die Auszahlung einer Entschädigung nur gegen ein längeres Stillhalten eines Verkaufs (z. B. zehn Jahre) erfolgte und selbst wenn es nur wenige wirklich Verkaufswillige

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gäbe, würde nämlich die 'Tragik der Allmende' wohl dazu führen, daß jedes Mitglied der Gemeinschaft sich die Entschädigung auch einmal 'verdienen' möchte. Wenn schon, denn schon müßte eine Entschädigungsregelung also doch so gestaltet sein, daß die Verkaufswilligen das Gemeinwesen entschädigen müßten und nicht umgekehrt. Das wäre, so lange dem das Konstrukt externer Effekte zugrunde liegt, eine auch für Liberale akzeptable Lösung. Die Freiheit des Eigentümers würde nicht grundsätzlich tangiert; Verkauf und Kauf wären wenigstens im Prinzip möglich, doch müßte das Recht der Identitätsverwässerung bzw. der Vorteil des Rechts der Teilhabe an einer klar umrissenen Identität entsprechend teuer erkauft werden. Letztlich zeigt sich beim Konflikt zwischen Identitätsbewahrung und Eingriff in das Eigentum des Einzelnen auch das klassische Hayeksche Dilemma zwischen Demokratie und Markt. Wer dem freien Markt die Lösung des Interessenkonflikts zwischen Identitätsbewahrung eines Kollektivs und den Eigentümerinteressen Einzelner überlassen will, muß sich von Beginn weg klar sein, daß er damit die Karten so verteilt, daß das Interesse des Einzelnen obsiegt. Identitätsbewahrung in einem enger verstandenen Sinn ist unter diesen Umständen im Extremfall nur möglich, wenn keiner, aber auch kein einziger, 'ausbricht'. Jedem Eigentümer in einer Region oder Gemeinde käme bei der Marktregel also quasi ein Vetorecht in Sachen Identitätserhaltung zu, ein Vetorecht, das ihm sein Eigentum in vielen anderen Fragen - zu Recht - nicht gewährt. Um das zu verhindern, um den Einfluß des Einzelnen auf ein gemeinschaftliches Gut, ein echtes Kollektivgut, nicht unermeßlich groß zu machen, können die Mitglieder des Gemeinwesens eine kollektive Selbstbindung vornehmen und einstimmig beschließen, sich in gewissen Fragen, etwa dem Grundverkehr mit Fremden der Mehrheitsregel zu unterwerfen. Die Situation ist damit ähnlich wie die von vier Freunden, die zusammen eine Bridgereise unternehmen. Wenn die vier Spieler kein anderes Spiel kennen bzw. spielen wollen, so besitzt jeder der Vier eine außerordentliche Macht, die Reise jederzeit platzen zu lassen. Um das zu verhindern, ist es sinnvoll, wenn sich die vier Spieler von Beginn weg formell und informell einig werden, daß sie spielen wollen, welches Spiel sie spielen wollen und ungefähr in welchem Ausmaß sie spielen wollen. Der jederzeitige Ausstieg, so sehr er ein fundamentales Recht darstellt, wird also sinnvollerweise zu Beginn eingeschränkt. Und vor allem unterwerfen sich die Teilnehmer in der Regel meist - wenn auch informell - einer Mehrheitsregel, sprich: dem sozialen Zwang. Wenn drei der vier Bridgefreunde jeden Abend spielen möchten, der vierte aber nicht, so wird sich dieser kaum permanent als Spielverderber gebärden. In einem ähnlichen Sinne ließe sich die Einstimmigkeitsregel auch in Sachen Identitätsbewahrung wegbedingen und durch eine - wie auch immer definierte - Mehrheitsre-

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gel ersetzen. Zwar wird es dabei nicht so sein, daß wirklich alle 'Klubmitglieder' explizit diese 'Statuten' akzeptieren, aber man kann eine traditionelle Gemeinde durchaus dahingehend interpretieren, daß sie in ihren Anfängen sehr homogen und abgrenzend war und daß diese impliziten Regeln mit der Vererbung des Eigentums an Grund und Boden bzw. mit dem Grunderwerb durch Kauf an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden. VI. Diskriminierungsfreie Abschirmung Wenn Identitätswahrung und Sicherung des 'Vereinsvermögens' nicht nur beobachtbare, sondern auch legitime Ziele von Gemeinwesen sind, wenn aber der Markt die Erfüllung dieser Ziele nicht gewährleisten kann, dann ist zu fragen, mit welchen zweitbesten, weil politisch allenfalls durchsetzbaren und technisch realisierbaren Instrumenten diese Ziele auf möglichst liberale und effiziente Weise zu erreichen sind6. Dabei ist Ausländerdiskriminierung - unabhängig von der EG - aus den dargelegten Gründen grundsätzlich keine überzeugende Lösung. Unmittelbar damit verknüpft ist, daß die Abschirmung nicht auf nationaler Ebene erfolgen sollte, sondern auf tieferer Stufe. In der Schweiz kann man sich die Kantone, aber eventuell auch kleinere Einheiten wie Talgemeinschaften oder Gemeinden als Vollzugsinstanzen vorstellen. Wichtig ist schließlich die Unterscheidung der einzelnen Immobilienkategorien. Praktisch unproblematisch scheinen ganzjährig genutzte Immobilien, ob Wohnungen oder Betriebsgebäude, die mit einer beruflichen Tätigkeit verbunden sind. Jedenfalls wäre hier die Hürde für Eingriffe wesentlich höher zu bauen. Grundsätzlich anders steht es dagegen bei Zweit- und Ferienwohnungen sowie ganzjährig von Rentnern oder Privatiers bewohnten Immobilien. 1.

Enge und schutzwürdige Interessen Für Zweitwohnungen hat die dänische Regelung, die von der EG (noch?) anerkannt ist, viel für sich. Dort dürfen solche Wohnungen nur von Personen erworben werden, die im Zeitpunkt des Erwerbs in Dänemark wohnen oder früher während mindestens fünf Jahren in Dänemark gelebt haben. Das scheint eine sinnvolle Form, um eine gewisse Beziehung zwischen Erwerber und Zweitwohnsitzland sicherzustellen, ohne nach Nationalität zu diskriminieren. Noch sachgerechter dürfte allerdings die Bestimmung der Lex Friedrich sein, wonach Erwerber von Zweitwohnungen zum Ort, in welchem sich diese befinden, enge Am einfachsten ist die Frage des Ortsbildschutzes zu lösen. Sie kann Ober Raumplanung und Bauvorschriften aufgefangen werden, denn es sind ja keineswegs nur Fremde, die das Ortsbild zerstören.

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und schutzwürdige Beziehungen unterhalten müssen. Sofern man diese Bestimmung auf In- und Ausländer gleichermaßen anwendet, wäre sie nicht nur nicht-diskriminierend, sondern würde auch berücksichtigen, daß der Paß eben wenig über die Überfremdung aussagt. Unter ' Public-choice' -Gesichtspunkten wäre jedoch eventuell das breite Ermessensspiel der Behörden zu kritisieren. 2.

Eindämmung von Zweitwohnungen Nicht diskriminierend, aber dem Ziel der Identitäts- und Ortsbilderhaltung forderlich wären auch sogenannte Erstwohnungsanteilpläne. Sie werden schon heute in verschiedenen touristischen Orten der Schweiz praktiziert (vgl. Muggli, 1991, S. 62; Althaus, 1992, S. 75). In der Regel besagen sie, daß ein bestimmter Prozentsatz der neugebauten Wohnflächen für Einheimische zur Verfügung stehen muß. Es bilden sich so zwei getrennte Märkte heraus. Mangelnde Nachfrage auf dem Erstwohnungsmarkt ist gemäß Rechtsprechung kein Grund, den Plan nicht einzuhalten. Durch die Maßnahme werden typische Feriensiedlungen, die den größten Teil des Jahres leer stehen, vermieden, Zweitwohnungen deutlich verteuert, und es wird für Einheimische genügend und relativ billiger Wohnraum geschaffen. Daß allerdings eine Marktverzerrung vorliegt ist klar. Ebenfalls praktiziert werden in verschiedenen Ländern Zweitwohnungsabgaben (Kärnten). Wenn sie nach Größe und Belegung abgestuft werden, verteuern sie das Leerlassen der Wohnungen und dämmen die Wohnungsgröße eher ein. Auch sie stellen Eingriffe in das Eigentum dar, wenn sie auch als relativ marktkonform angesehen werden können. Eindämmung von 'Attersparadiesen1 Eines der schwierigsten Probleme stellen die Alterswohnsitze dar. Hier wird das Identitätsargument wohl besonders stark durch das Argument 'Vereinsvermögen' ergänzt. Wo etwa soziale und medizinische Leistungen nicht kostendeckend erbracht werden, kann nämlich die Zuwanderung von Rentnern für ein Gemeinwesen ein denkbar 'schlechtes Geschäft' sein. Abgesehen davon, daß es keinen 'free lunch' geben sollte, schien es mir sinnvoll, auch bei ganzjährig bewohnten Objekten, die nicht mit einer beruflichen Tätigkeit verbunden sind - ob nun zur Miete oder durch Kauf -, die Bestimmung der 'schutzwürdigen Beziehungen' anzuwenden oder aber eine Kontingentierung vorzunehmen. 3.

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VII. Schlußbemerkungen Die wachsende Mobilität der Menschen stellt zwar eine enorme Bereicherung dar, sie schafft aber auch zusätzliche Probleme, Probleme des Identitätsverlustes und des Aufbrechens bewährter und aus der Sicht der Betroffenen oft erhaltenswerter Strukturen. Da die Abwehr dieser Mobilität auf der Basis des Nationalitätenkriteriums weder der Vorstellung eines offenen, integrierten Marktes entspricht, noch die Identitätsprobleme wirklich gezielt und wirksam bekämpft, müssen andere Instrumente gesucht werden. Sie stellen meist recht gravierende Eingriffe in die Eigentumsgarantie und in die Eigentumsfreiheit dar; das dürfte indessen - angesichts der praktischen Unmöglichkeit von Preis- und Auktionslösungen - der Preis sein, der für die Erhaltung der Identität bezahlt werden muß. Und diese 'anderen', auf den ersten Blick nur wenig befriedigenden Instrumente machen damit deutlich, daß die Freiheit von Güter-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr, welche die wirtschaftliche Entwicklung dort ermöglicht, wo sich die Menschen befinden, eine Art Gegenpol zur Freizügigkeit der Personen darstellt. Diese ist nicht unproblematisch, vor allem, wenn sie sich auf einen bereits besiedelten Raum richtet, weil der Freiheit der einen bekanntlich ihre Grenze in der Freiheit der anderen erwächst. Insofern sind gewisse Einschränkungen eines freien Bodenmarktes vielleicht die zweitbeste Lösung, die in einer realen Welt hingenommen werden muß.

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Zur Wettbewerbskonzeption im europäischen Wettbewerbsrecht Wolfgang Kerber, Freiburg

I. Problemstellung n . Der theoretische und normative Rahmen: Die Spannungsfelder zwischen verschiedenen Wettbewerbskonzeptionen III. Die Ziele der europäischen Wettbeweibspolitik

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IV. Ein Spezialproblem: Die integrationspolitische Komponente der EG-Wettbeweibspolitik 290 V. Die wettbewerbskonzeptionellen Grundlagen der Anwendungspraxis der europäischen Fusionskontrolle

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VI. Die Prüfung des Mißbrauchs marktbeherrschender Stellungen (Art. 86 EWGV)

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VII. Das Kartellverbot des Art. 85(1) EWGV und die Freistellungen nach Art. 85(3) EWGV 1. Die prinzipielle Regelung 2. Vertikale Vereinbarungen

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3. Horizontale Vereinbarungen

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4. Zusammenfassende Darstellung der wettbewerbskonzeptionellen Grundlagen der Auslegung von Art. 85 EWGV

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VIII. Zur Entwicklung der Wettbewerbskonzeption der Europäischen Gemeinschaft im Spannungsfeld verschiedener wettbewerbstheoretischer Ansätze

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I.

Problemstellung Die Wettbewerbsregeln der Art. 85 ff. EWGV sind eines der zentralen Standbeine des EG-Vertrages und mitkonstitutiv für die Wirtschaftsordnung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Die entscheidenden Regelungen des Art. 85 und 86 EWGV sind jedoch von unbestimmten Rechtsbegriffen geprägt, denen erst durch ihre inhaltliche Auslegung konkrete Bedeutung zukommt. Wie solche wettbewerbsrechtlichen Regelungen in der Praxis konkret umgesetzt werden, hängt somit wesentlich von der Wettbewerbskonzeption ab, von der die EG-Kommission und der Europäische Gerichtshof bei ihren Entscheidungen ausgehen. Insofern können bereits eingetretene oder sich abzeichnende Veränderungen dieser wettbeweibskonzeptionellen Vorstellungen langfristig erhebliche ordnungspolitische Weichenstellungen zur Folge haben, ohne daß es hierfür einer ausdrücklichen Veränderung des Wortlauts der Wettbewerbsregeln durch den Gesetzgeber bedürfte. Der innerhalb der europäischen Wettbewerbspolitik bestehende grundlegende Konflikt zwischen einer ausschließlich am Wettbeweib orientierten und einer auch industriepolitische Ziele einbeziehenden Konzeption ist seit langem bekannt. Aber die Frage, von welchen normativen und theoretischen Ansätzen die Wettbewerbspolitik ausgehen soll, stellt sich inzwischen auch zunehmend innerhalb jener heterogenen Gruppe von wettbewerbstheoretischen Konzepten, die prinzipiell darin einig sind, den Wettbewerb zur alleinigen Richtschnur wettbewerbspolitischer Überlegungen zu machen. Diesen unterschiedlichen Wettbewerbskonzeptionen steht mit dem europäischen Wettbewerbsrecht nun ein komplexes, heterogenes Rechtsgebiet mit vielen Verzweigungen und Verästelungen gegenüber, das als Ganzes kaum zu überblicken ist. Vor diesem Hintergrund soll in diesem Beitrag der Versuch unternommen werden, zumindest die Grundlinien der wettbewerbskonzeptionellen Vorstellungen der EGKommission und des Europäischen Gerichtshofs herauszuarbeiten und hierbei bereits abzusehende oder eventuell eintretende Entwicklungen aufzuzeigen1. n.

Der theoretische und normative Rahmen: Die Spannungsfelder zwischen verschiedenen Wettbewerbskonzeptionen Zunächst sollen mit Hilfe eines kurzen Abrisses gegenwärtig vorherrschender wettbewerbstheoretischer Ansätze die wichtigsten Konfliktfelder, auf denen die Auseinandersetzungen stattfinden, skizziert werden, um den normativen und theoretischen Rahmen abzustecken, von dem aus dann die konkrete Entscheidungspraxis des europäi1

Solche Untersuchungen existieren bisher nur sehr spürlich. Vgl. die Untersuchung von Väth (1987), der ausgehend von einer österreichischen Wettbewerbsauffassung die Rechtsprechung des EuGH analysiert, sowie die Ausführungen von Everling (1990) als ehemaligem Richter am EuGH.

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sehen Wettbewerbsrechts interpretiert werden kann. Bei dem folgenden kurzen Überblick über die teilweise sehr heterogenen theoretischen und normativen Ansätze können allerdings nur die wichtigsten Grundpositionen und die zwischen ihnen bestehenden Konflikte skizziert werden. Durch bewußte Pointierung und die gebotene Kürze werden so manche Darstellungen zu grob und undifferenziert ausfallen2. Die Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs3 ('workable competition': HarvardSchule), die in Deutschland auch als wohlfahrtsökonomischer Ansatz bezeichnet wird, geht von der Vorstellung aus, daß der Wettbewerb als Instrument zur Erreichung (letztlich politisch vorgegebener) gesamtwirtschaftlicher bzw. gesellschaftspolitischer Ziele anzusehen ist. In Deutschland postulierte Kantzenbach (1967) fünf verschiedene ökonomische Funktionen, die der Wettbewerb erfüllen soll. Theoretisch stützt sich dieser Ansatz auf das Struktur-Verhaltens-Ergebnis-Paradigma und die Marktmachtdoktrin. Ausgehend von bestimmten Marktstrukturen - insbesondere der Marktkonzentration und Marktzutrittsschranken im Sinne von Bain (1956) - glaubt dieser Ansatz, bestimmten Marktstmkturen ein bestimmtes Verhalten zuordnen und daraus wiederum bestimmte Marktergebnisse ableiten zu können, um ausgehend von aufgrund der vorgegebenen Ziele gewünschten Marktergebnissen auf die dafür günstigen ('optimalen') Marktstrukturen zurückzuschließen. Die statistisch ausgerichtete 'Industrial Organization'-Forschung soll hierfür die empirischen Grundlagen liefern (für einen neueren Überblick vgl. Schmalensee, 1989; Scherer und Ross, 1990). Die Konsequenz dieses Ansatzes war eine primär marktstrukturorientierte Wettbewerbspolitik, wie sie sich zum Beispiel in einer vor allem an Marktanteilen orientierten Zusammenschlußkontrolle zeigte. Die marktergebnisorientierte Ausrichtung schlug sich in der Preismißbrauchsaufsicht für marktbeherrschende Unternehmen nieder, die von der Vorstellung der Feststellbarkeit des 'richtigen' Preises bei funktionsfähigem Wettbewerb ausgeht. Vor allem in den sechziger und siebziger Jahren war dieser Ansatz von dem tiefen Mißtrauen geprägt, daß Zusammenschlüsse auch vertikaler und konglomerater Art sowie andere - insbesondere auch vertikale - Vereinbarungen zwischen Unternehmen nur dem Zweck der Vergrößerung von Marktmacht dienen und deshalb wettbewerbspolitisch zu bekämpfen seien. Später wurde von den Vertretern dieses Ansatzes ein Teil der massiven Kritik der Chicago-Schule akzeptiert und integriert. Dies führte zu einer Abschwächung dieser wettbewerbspolitischen Position, ohne daß aber norma-

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Viele Autoren werden fbiglich eher zwischen diesen Positionen einzuordnen sein oder vertreten eine Kombination von Elementen dieser verschiedenen Ansätze. Vgl. für USA insbesondere Clark; 1954; Bain, 1968; Shepherd, 1985 sowie First, Fox und Pitofeky, 1991; für Deutschland vgl. Kantzenbach, 1967, Kantzenbach und Kallfass, 1981 sowie neuerdings Zohinhöfer, 1991.

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tiv und theoretisch die grundsätzliche Ausrichtung aufgegeben wurde4. Die Chicago-Schule5 ist als Antwort auf den wettbewerbspolitischen Rigorismus der Harvard-Schule in den USA in den sechziger Jahren zu sehen. Normativ lehnt sie den Zielpluralismus der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs ab und möchte an dessen Stelle einzig die ökonomische Effizienz als alleiniges Ziel der Wettbewerbspolitik setzen. Dabei wird die Effizienz in den beiden Varianten allokativer und produktiver Effizienz strikt neoklassisch definiert, weshalb die Chicago-Schule ebenfalls von wohlfahrtsökonomischen Vorstellungen geprägt ist. Theoretisch geht die Chicago-Schule streng von der neoklassischen Preistheorie aus. Zwar bewertet sie das Bestehen von Marktmacht ebenfalls als negativ, weil aufgrund der überhöhten Preise allokative Effizienzverluste entstehen, im Gegensatz zur Harvard-Schule hält sie die tatsächliche Existenz solcher Marktstellungen jedoch empirisch für relativ selten gegeben. Denn zum einen hält die Chicago-Schule Oligopole für nicht stabil und damit dauerhafte Preiserhöhungen durch marktbeherrschende Oligopole für unwahrscheinlich. Zum anderen ist sie wesentlich optimistischer bezüglich der Möglichkeit von Marktzutritten6. In diesem Zusammenhang ist vor allem auch die Theorie der 'Contestable Markets' anzuführen, die den potentiellen Wettbewerb betont und das Fehlen von (irreversiblen) versunkenen Kosten und damit von Marktaustrittskosten als entscheidend für einen freien Markteintritt ansieht (Baumol, Panzar und Willig, 1982). Die Chicago-Schule bestreitet vehement das Struktur-Verhaltens-Ergebnis-Paradigma und möchte hohe Marktanteile und folglich hohe Marktkonzentration auf die höhere Effizienz dieser Unternehmen zurückführen. So würden sich die optimalen Unternehmensgrößen daran erkennen lassen, wer sich im Markt durchsetzt ('survivor-approach': Stigler, 1958). Zusammenschlüsse würden folglich nicht der Erhöhung der Marktmacht dienen, sondern seien lediglich Ausdruck der erhöhten Effizienz, die sich durch die Realisierung von steigenden Skalenerträgen erreichen läßt (vgl. das 'Trade off-Modell' von Williamson, 1968). Auf der effizienzorientierten Linie der Chicago-Schule liegt auch der transaktionskostentheoretische Ansatz von Williamson (1979; 1985). Er zeigt, daß sowohl die ver4

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Vgl. insbesondere Scherer, 198S. Neuere Weiterentwicklungen stellen insbesondere die auf spieltheoretischer Grundlage entwickelte Theorie der strategischen Markteintrittsbarrieren (vgl. zum Überblick Minderlein, 1989, S. 113 ff.; Tlrole, 1990, S. 305 ff.) und der Versuch dar, statistische Zusammenhänge zwischen den Gewinnen und den Marktanteilen einzelner Finnen nachzuweisen (vgl. beispielsweise Ravenscraft, 1983). Vgl. Bork, 1978; Posner, 1976; 1979; Demsetz, 1976; kritisch hierzu beispielsweise Schmidt und Rittaler, 1986), Shepherd, 1988 sowie Adams und Brock, 1991. Dies ist darauf zurückzuführen, daß sie durch eine andere Definition die Marktzutrittsschrankeneigenschaft verschiedener Sachverhalte (wie z.B. steigender Skalenerträge oder Produktdifferenzierung) bestreitet (Demsetz, 1982) und folglich kaum noch Marktzutrittsschranken sieht, wenn diese nicht staatlicherseits errichtet oder abgesichert sind.

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tikale Integration als auch eine Fülle anderer vertikaler Vereinbarungen als institutionelle Antworten auf spezifische Transaktionskostenprobleme zwischen den Vertragspartnern verstanden werden können. Vertikale Vereinbarungen seien folglich Ausdruck des Versuchs, Transaktionskosten zu senken. Sie seien somit als effiziente institutionelle Arrangements zu interpretieren und nicht als Versuche, die Marktmacht zu erhöhen, wie dies von der Harvard-Schule behauptet wurde. Mit diesen und anderen Argumenten ('Free rider'-Problem) plädiert die Chicago-Schule für eine weitgehende Unbedenklichkeit vertikaler Vereinbarungen und Zusammenschlüsse. Horizontale Zusammenschlüsse seien erst bei sehr hoher Konzentration bedenklich, und lediglich horizontale Kartelle, insbesondere bezüglich Preise und Gebietsschutz, seien stärker zu verfolgen. Der Einfluß der Chicago-Schule führte zu einer bedeutenden Wende in der amerikanischen Antitrustrechtspraxis. Den Gegenpol zur Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs stellt in der Bundesrepublik Deutschland das Konzept der Wettbewerbsfreiheit dar. Üblicherweise wird damit der auch als systemtheoretisch charakterisierte Ansatz von Hoppmann (1967) bezeichnet. Im folgenden soll jedoch der Versuch gemacht werden, zwischen einer ordoliberalen und einer österreichischen Variante des Konzepts der Wettbewerbsfreiheit zu unterscheiden. Es braucht kaum gesondert betont zu werden, daß diese Differenzierung - auch wegen ihrer bisherigen Unüblichkeit - eine besonders heikle und schwierige ist, die einer wesentlich ausfuhrlicheren und sorgfältigeren Begründung bedürfte, als sie hier möglich ist7. Das Ziel der ordoliberalen Wettbewerbspolitik besteht im Schutz der individuellen wirtschaftlichen Handlungsfreiheit, und zwar sowohl gegenüber der Macht des Staates als auch gegenüber der wirtschaftlichen Macht privater Wirtschaftssubjekte8. Während ersteres durch die Etablierung eines festen Ordnungsrahmens von allgemeinen Regeln gesichert werden soll, halten die Ordoliberalen zur Sicherung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit der Individuen gegenüber der Macht anderer Wirtschaftssubjekte eine aktive staatliche Wettbewerbspolitik für notwendig. Diese 'Wettbewerbsordnung' wird jedoch nicht als staatlich«' Eingriff in die Freiheit der Wirtschaftssubjekte angesehen, sondern sie wird gerade als immanent notwendig für die Aufrechterhaltung dieser Freiheit begriffen. Insofern sei das Wettbewerbsrecht auch als inhärenter Teil des Privatrechts und nicht als Teil des öffentlichen Rechts anzusehen. So sei ein Kartellverbot nur scheinbar ein Eingriff in die Privatautonomie und die Vertragsfreiheit, denn Kar7 8

Gerade deshalb soll hier auch nicht versucht werden, einzelne Autoren zuzuordnen, sondern lediglich Grundpositionen herauszuarbeiten. Vgl. zum folgenden insbesondere: Eucken, 1949; 19S2, S. 169 ff.; Böhm, 1960; 1966;

MestmOcker, 1973; 1980; Möschel, 1989.

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tellverträge würden einen Mißbrauch der Vertragsfireiheit darstellen zu dem Zweck, die auf Privatautonomie und Vertragsfreiheit beruhende Privatrechtsgesellschaft zu gefährden: "Zum Gedanken der Freiheit gehört es ebenso wie zur Idee der Ordnung, daß die Freiheit ihre Grenzen hat, und zwar da, wo die Ordnung selber durch sie bedroht wird" CEucken, 1952, S. 179). Insofern setzen sich die Ordoliberalen für eine aktive Wettbewerbspolitik ein, die sich gegen wirtschaftliche Macht richtet. Die Ordoliberalen, zu denen sowohl Juristen als auch Ökonomen gehören, haben dabei immer zugleich auf der (eher juristischen) Schiene des Schutzes von Freiheit und auf der (eher ökonomischen) Schiene der Bekämpfung wirtschaftlicher Macht argumentiert, wobei sie letzteres durchaus im Sinne einer traditionellen ökonomischen Marktmachtvorstellung verstanden. Von daher haben sie immer sowohl für ein allgemeines Kartellverbot (ohne Ausnahmen!) plädiert als sich auch für eine Zusammenschlußkontrolle zur Bekämpfung der Untemehmenskonzentration eingesetzt9. Für die faktische Umsetzung dieser Wettbewerbspolitik wird dabei durchaus marktstrukturorientiert gedacht. Ein wichtiger Aspekt der ordoliberalen Auffassung ist aber auch, daß sie bei Vereinbarungen zwischen Wirtschaftssubjekten, die zu einer horizontalen oder auch vertikalen Bindung von Aktionsparametern führen und deshalb als wettbewerbsbeschränkend angesehen wurden, nicht nur die negativen Auswirkungen dieser Verträge auf Dritte sahen, sondern die Einschränkung der Freiheit durch die sich vertraglich Bindenden selbst als Problem begriffen 10 . Theoretisch hatten sich bereits frühzeitig viele dem ordoliberalen Gedankengut nahestehenden Ökonomen (und Juristen) von dem ursprünglich sich an dem Modell der vollständigen Konkurrenz anlehnenden ordoliberalen Wettbewerbsmodell abgewandt und aufbauend auf grundlegende Gedanken von Schumpeter und Clark ein evolutionäres Wettbewerbskonzept entwickelt, das unter der Bezeichnung 'dynamischer Wettbewerb' in Deutschland einen großen Einfluß gewinnen konnte 11 . Es verstand Wettbewerb als einen permanenten rivalisierenden Prozeß, bei dem die Wettbewerber wechselseitig vorstoßen, nachziehen und sich überholen. Die treibende Kraft dieses Prozesses 9

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Zu dem Problem, ob die den Wettbewerb gefährdende hohe Unternehmenskonzentration von der modernen Technik (durch die Existenz steigender Skalenerträge) erzwungen wird, vgl. bereits dezidiert Eucken, 1950. Bei Eucken (19S2) hat dies eindeutige philosophische Wurzeln, die auf Kant zurückgehen: "Ohne Freiheit, ohne spontane Selbsttätigkeit ist der Mensch nicht 'Mensch'" (S. 176). Insofern darf der Mensch seine eigene Freiheit nicht selbst aufheben. Und (S. 178): "Niemand ist für seine eigene Person befugt, seine moralische Autonomie aufzugeben und sich zum bloßen Werkzeug machen zu lassen". Ohne diesen Hintergrund ist die weitgehende Kompromißlosigkeit, mit der die Ordoliberalen gegen horizontale und vertikale Vereinbarungen als Wettbewerbsbeschränkungen vorgehen wollten, schwer zu verstehen. Vgl. Schumpeter, 1952; Clark, 1954; 1961; Arndt, 1952; Heuss, 1965; 1980; Hoppmann 1977; Röpke, 1977; für einen Abriß dieser Entwicklung vgl. Kerber, 1992a und 1994.

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ist der kreative Unternehmer im Sinne von Schumpeter, der Neues durchsetzt. Wettbewerb wurde deshalb in erster Linie als ein Prozeß von Innovation und Imitation gesehen. Im Mittelpunkt dieses Wettbewerbsprozesses stehen die Schaffung, Durchsetzung und Verbreitung von technischem und wirtschaftlichem Fortschritt, weshalb dieser 'dynamische' Wettbewerb auch als die entscheidende Triebkraft für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen wird. Da in diesem Prozeß Neues geschaffen und verbreitet wird, handelt es sich um ein evolutorisches Konzept des Wettbewerbs. Wettbewerbspolitisch folgte hieraus zunächst, daß Marktstrukturen nicht als exogen gegeben unterstellt werden können, sondern sich erst im Wettbewerbsprozeß entwickeln und sich etwa im Laufe der Entwicklung eines Marktes durch mehrere Phasen (Heuss, 1965) verändern, was zu einer Relativierung des Struktur-Verhaltens-Ergebnis-Paradigmas führt. Aufgrund des laufenden Auf- und Abbaus von Marktmacht - in den aus Vor- und Nachstößen bestehenden Marktprozessen - dürfen zu einem bestimmten Zeitpunkt festgestellte Marktmachtpositionen nicht statisch gesehen werden, sondern können nur in ihrem prozeßhaften Ablauf beurteilt werden. Temporäre Marktmachtstellungen stellen folglich keine wettbewerbspolitischen Probleme dar. Dagegen kann eine zunehmende Konzentration aufgrund externen Unternehmenswachstums über eine Verringerung der Dezentralität von Entscheidungen zu einer Verringerung der Problemlösungsfähigkeit des Marktsystems führen {Röpke, 1990). Diese in Deutschland eigenständig entwickelte evolutorische Auffassung von Wettbewerb, die außerhalb Deutschlands weitgehend unbekannt ist, paßte gut zu den theoretischen Auffassungen sowohl von Hayeks als auch der (amerikanischen) 'Austrian Economics', die insbesondere von Hoppmann seit Ende der sechziger Jahre im deutschen Sprachraum verbreitet wurden12. Hayek verstand Wettbewerb als ein Entdeckungsverfahren, dessen Ergebnis per definitionem niemand vorher wissen kann. Mit der expliziten Thematisierung des Wissensproblems zeigte er, daß der Wettbewerb vor allem dem Finden neuen Wissens dient, zu dem man ohne Wettbewerb nicht gelangen würde. Folglich ist es prinzipiell nicht möglich, die Ergebnisse wettbewerblicher Marktprozesse vorherzusagen. Auch Kirzner als Hauptvertreter der 'Austrian Economics', der den Prozeßcharakter von Marktprozessen im Gegensatz zum neoklassischen Denken in Gleichgewichtszuständen betonte, stellte mit seiner Figur des 'findigen' Unternehmers auf die Entdeckung neuen Wissens in Marktprozessen ab. Diese und die folgenden Überlegungen können als österreichische Wettbewerbsauffassung bezeichnet werden. 12

Vgl. Hayek, 1952, 1968; Hoppmann, 1967, 1972, 1977, 1981a, 1981b; Kirzner, 1973, 1992; vgl. auch Clapham, 1981; Herdzina, 1988; Schmidtchen, 1983, 1988 sowie Eickhof, 1990. Für eine ausgeprägt österreichische Position vgl. VOth, 1987, der von diesem Standpunkt aus die Rechtsprechung des EuGH kritisch untersucht.

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In seinem Konzept der Wettbewerbsfreiheit lehnte Hoppmann die Instrumentalisierung des Wettbewerbs für ökonomische Ziele ab, sondern ging nur von dem Ziel der individuellen Freiheit aus. In der Wettbewerbspolitik wollte er deshalb lediglich darauf abstellen, ob die Wettbewerbsfreiheit der Wirtschaftsteilnehmer gesichert ist oder nicht. Wettbewerb sei vielmehr der Prozeß, der gerade aus der Wettbewerbsfreiheit der Wirtschaftssubjekte selbst entsteht. Bei Vorliegen von Wettbewerbsfreiheit würde das Marktsystem als Ganzes im Sinne eines Selbststeuerungssystems funktionieren. Dieser Prozeß würde gleichzeitig ökonomisch gute, allerdings im einzelnen nicht bekannte oder vorhersehbare Resultate hervorbringen. Aufgrund dieser Nichtvorhersehbarkeit spezifischer Marktergebnisse lehnte er Marktergebnistests ebenso ab wie eine marktstrukturorientierte Wettbewerbspolitik, da keine 'optimalen' Marktstrukturen festgestellt werden könnten. Ein zentrales Charakteristikum des österreichischen Ansatzes ist ein tiefes Mißtrauen gegenüber dem Staat. So sah Hoppmann schon bald die Einschränkung der Wettbewerbsfreiheit durch private wirtschaftliche Macht als ein relativ geringes Problem an im Vergleich zur Einschränkung der Wettbewerbsfreiheit durch den Staat13. Auch aus diesem Grund wollte er schon frühzeitig die Wettbewerbsfreiheit nur durch allgemeine (per se) Regeln sichern, die dem Staat keinen diskretionären Spielraum für Interventionen in die Marktprozesse an die Hand geben. Marktstrukturorientierte Wettbewerbspolitik wurde deshalb als 'Marktstrukturinterventionismus' angesehen. Im Laufe ihrer Entwicklung interpretierte die österreichische Wettbewerbsauffassung eine aktive Wettbewerbspolitik zunehmend als Ausdruck eines staatlichen Interventionismus14. Nach dem österreichischen Ansatz stellen folglich allgemeine Regeln, Rechtssicherheit und möglichst weitgehende Vertragsfreiheit die maßgeblichen Grundprinzipien dar is . Als letzte Gruppe von Konzeptionen können industriepolitische Ansätze angefühlt werden16. Gemeinsames Kennzeichen aller industriepolitischen Argumentationen ist die Überlegung, daß der Staat durch bestimmte Maßnahmen in den Markt einzugreifen 13 14 15

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Private wirtschaftliche Macht könne nur dann ein Problem darstellen, wenn sie sich entweder auf Ressourcenmonopole oder auf eine staatliche Absicherung stütze. Die 'Austrian Economics' in USA waren diesbezüglich schon immer eindeutig (vgl. z.B. O'Driscoll, 1982; High, 1984/85; Armemano, 1990; vgl. aber auch Hoppmann, 1981a). Es wäre genauer zu diskutieren, inwieweit diese Auffassung mit ordoliberalen Vorstellungen von den immanenten Grenzen der Vertragsfreiheit (z.B. bezüglich des Kartellverbots) in Konflikt geraten kann. In jedem Fall scheint sich ein prinzipieller Gegensatz zu zeigen zwischen der ordoliberalen Auffassung einer vom Staat zu schaffenden und aktiv zu verteidigenden Wettbewerbsordnung und der österreichischen Auffassung, nach der der Staat sich auch hier möglichst herauszuhalten habe. Wichtige weitere Unterschiede ließen sich vermutlich auch durch Analyse der verwendeten Freiheitsbegriffe herausarbeiten. Vgl. hierzu beispielsweise Seitz, 1991; Odagiri, 1986; Streit, 1987; MestmOcker, 1988; Bietschacher und ßodt, 1991; Berg, 1992; Geroski, 1993.

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habe, weil es den sich selbst Qberlassenen Wettbewerbsprozessen nicht gelinge, bestimmte gewünschte Marktergebnisse hervorzubringen. Industriepolitik beinhaltet somit zum einen die Aufstellung bestimmter zu erreichend» Ziele17. Zum anderen verbindet sich mit Industriepolitik die Vorstellung spezifischer, diskretionärer und oft sektorspezifischer Eingriffe durch den Staat18. Die theoretischen Begründungen für industriepolitische Konzepte sind unterschiedlich. Ein von der EG-Kommission seit langem vertretenes Argument lautet, daß nur entsprechend große Unternehmen aufgrund von steigenden Skalenerträgen auf den Weltmärkten konkurrenzfähig sind, wobei sowohl statische als auch dynamische Skalenerträge einbezogen werden können19. Weiterhin wird für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie die Notwendigkeit angeführt, Forschung und Entwicklung zu fördern20. Mit solchen Argumentationen wird zu begründen versucht, daß bestimmte Zusammenschlüsse oder auch Kartelle europäischer Unternehmen auch dann zuzulassen sind, wenn hierdurch der Wettbewerb beeinträchtigt wird 21 . Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um Zusammenschlüsse in als strategisch wichtig angesehenen Industrien handelt oder wenn es um Forschungs- und Entwicklungskooperationen zwischen Unternehmen geht, die als zentral für die europäische Forschungs- und Technologiepolitik angesehen werden. Entscheidend ist, daß solche industriepolitischen Argumentationen immer darauf hinauslaufen, daß man die Marktprozesse nicht alleine dem Wettbeweibsprinzip überantworten darf. Dies« kurze Abriß tonnte nur einen sehr vereinfachten und groben Eindruck von den verschiedenen Wettbewerbskonzeptionen geben. Aber es dürfte deutlich geworden sein, daß sich zwischen fast allen Konzepten erhebliche Gegensätze, aber auch Paralle17

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Innerhalb des Rahmens des europäischen Wettbewerbsrechts werden dabei insbesondere die Förderung des tedmischen und wirtschaftlichen Fortschritts und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie hervorgehoben. In ihrem Dokument 'Die europäische Industriepolitik für die neunziger Jahre" versucht die EG-Kommission den Begriff " Industriepolitik" - ganz im Gegensatz zu seiner bisherigen Verwendung - in Richtung auf eine Gestaltung von Rahmenbedingungen umzuinterpretieren, wobei sie sich beispielsweise von sektoralen Politiken distanziert (EG-Kommission, 1991, S. 10; vgl. zu diesem Konzept auch Frees, 1991). Von daher hat die EG-Kommission schon immer eine Politik der KonzentrationsfOrderung vertreten. Vgl. ausführlich MestmOcker, 1988, S. 353 ff. und die dort zitierten Dokumente der EG-Kommission. Neben der bekannten Argumentation von Arrow (1971; Unterinvestitionsthese) für eine staatliche Forschungsförderung, wird dies mit der zentralen Bedeutung von bestimmten 'High-Tech-' und Schlüsselindustrien begründet, deren positive Externalitäten auf die gesamte Volkswirtschaft ausstrahlen. Zu einem kurzen Oberblick vgl. Bietschacher und füodt (1991, S. 11 ff.); zur Theorie der strategischen Handelspolitik vgl. Brander und Spencer (1983); Bietschacher und Klodt (1991, S. 5 ff.). Vgl. hierzu die Argumentationen in Jacquemin, 1988; 1990; Jacquemin, Buigues und ¡Warnitz, 1989.

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litäten ergeben, je nachdem, von welcher konkreten Frage man ausgeht. Gleichzeitig zeigt sich, daß die theoretische Fundierung der Wettbeweibspolitik in den siebziger und achtziger Jahren zunehmend brüchig geworden ist. So wurden die Grundlagen der traditionellen Wettbewerbspolitik zwar von verschiedener Seite massiv und teilweise sehr erfolgreich angegriffen, ohne daß jedoch diese neuen theoretischen Ansätze eine allgemeine Akzeptanz gefunden hätten. III. Die Ziele der europäischen Wettbewerbspolitik Aus dem EG-Vertrag und der Praxis der EG-Kommission und des Europäischen Gerichtshofs sind eine Fülle von Zielen zu entnehmen, die bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln einbezogen werden. In Art. 3f EWGV wird "die Errichtung eines Systems, das den Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützt," als ein Ziel der Gemeinschaft festgelegt. Dies sah der Gerichtshof als so wesenüich an, daß "bei seinem Fehlen zahlreiche Vertragsvorschriften gegenstandslos wären" (EuGH - Continental Can, Rechtssache (Rs.) 6/72, Sammlung der Entscheidungen des EuGH (Slg.) 1972, S. 245). Der Wettbewerb gilt jedoch nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Erreichung der allgemeinen Vertragsziele (Art. 2 EWGV). Von zentraler Bedeutung ist dabei die Integration nationaler Märkte, also "die Verhinderung von Handelsschranken zwischen den Mitgliedstaaten, die durch Vereinbarungen oder Verhaltensweisen von Unternehmen herbeigeführt werden" (Everling, 1990, S. 1009). Damit stehen die Wettbewerbsregeln auch in unmittelbarer Beziehung zu den vier 'Grundfreiheiten' für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Folglich wird die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung und des Wettbewerbs zu einem Grundprinzip im Gemeinsamen Markt22. Allerdings wird auch eine Anzahl weiterer aus dem Vertrag folgender Ziele als berücksichtigbar angesehen, nämlich der technische und wirtschaftliche Fortschritt, die internationale Wettbewerbsfähigkeit und der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt in der Gemeinschaft. Deren Verhältnis zu einem System unverfälschten Wettbewerbs ist jedoch noch weitgehend ungeklärt23. In Metro/Saba I (Rs. 26/76, Slg. 1977, S. 1905) entschied der Europäische Gerichtshof, daß der unverfälschte Wettbewerb das Vorhandensein eines wirksamen Wett22

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Vgl. EuGH - Grundig/Consten, (Rs. 56 u. 58/64, Slg. 1966, S. 390 sowie Schröter, 1991, Vorbem. zu den Art. 85 bis 94, Rdnr. 13; Kapteyn und Verloren van Themaat, 1989, S. 501 f. Everling (1990, S. 1009) führt als eine der Leitlinien der Rechtsprechung des EuGH "die Sicherung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit der Unternehmen durch Untersagung schwerwiegender Beschränkungen" an. Dies gilt insbesondere auch für die Industriepolitik, die durch den Vertrag von Maastricht explizit in den EG-Vertrag aufgenommen wird (Titel XIII "Industrie", Art. 130). Zur Diskussion um den möglichen Stellenwert der Industriepolitik nach dem Vertrag von Maastricht vgl. Mestmäcker (1992b), Möschel (1992) und Streit (1992).

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bewerbs voraussetzt. Der 'wirksame Wettbewerb' ist folglich die Referenzgröße, an der der Wettbeweib zu messen ist. Was ist damit gemeint 24 ? Nach Auffassung der EGKommission soll der Wettbewerb zur bestmöglichen Nutzung der Produktionsfaktoren führen, die ständige Anpassung der Angebots- und Nachfiragestrukturen erleichtern und die Leistungsfähigkeit der Unternehmen verbessern. Insbesondere würde Wettbewerb die wirtschaftliche Aktivität stimulieren und den größtmöglichen Freiheitsspielraum für die Beteiligten sichern. Die EG-Kommission spricht auch von dem dynamischen, vorstoßenden Wettbewerb, der für Innovation und Imitation sorgt und somit die technische Entwicklung erleichtert 25 . Darüberhinaus werden jedoch auch noch weitere Ziele verfolgt, so z.B. die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen 26 , die Gewährleistung eines 'redlichen' Wettbewerbs 27 und die Gleichbehandlung aller EG-Bürger 28 . Weiterhin werden zum Teil auch Gerechtigkeitsüberlegungen miteinbezogen 29 . Bei der wettbewerbskonzeptionellen Einordnung dieser normativen Vorstellungen ergeben sich zwei Grundlinien. Das Aufstellen eines ganzen Bündels von teilweise recht heterogenen Zielen und die Vorstellung, daß der Wettbewerb zur Erfüllung dieser Ziele beizutragen habe, sind eindeutig Argumentationsmuster, die der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs zuzuordnen sind. Hierzu paßt auch die inhaltliche Ausfüllung, was wirksamer Wettbewerb konkret bewirken soll. Insofern liegt eine Nähe zum funktionsfähigen Wettbewerb und auch zu industriepolitischen Argumentationen vor. Dagegen ist damit die Auffassung der Chicago-Schule mit ihrer Forderung nach einem einzigen Ziel (Effizienz) nicht vereinbar. Auf der anderen Seite jedoch werden auch die Sicherung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit und das Recht des freien Zugangs zu den nationalen Märkten stark betont. Diese Zielvorstellung der Öffnung 24

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Die Gleichsetzung von 'wirksamem Wettbewerb' mit 'workable competition' durch den EuGH im Fall Metro/Saba ist insofern mißverständlich, als sich der EuGH damit nicht zur Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs bekennen wollte, sondern nur ausdrücken wollte, daß soviel Wettbewerb vorhanden sein müsse, damit die grundlegenden Forderungen des Vertrages «fallt werden (vgl. Everling, 1989, S. llSf; 1990, S. 1008). Vgl. im einzelnen EG-Kommission, 1962, S. 23 f.; 1972, S. 11; 1986, S. 11. Bellamy und Child (1987, S. 14) führen als eine der Funktionen der EG-Wettbewerbsregeln an, "to encourage efficiency, Innovation, and lower prices". Vgl. EG-Kommission, 1983, Tz. 25 ff.; 1987, Tz. 22 f.; Korah, 1990, S. 7; Bellamy und Child, 1987, S. 14 Fn. 96. Vgl. die Präambel des EWG-Vertrages sowie Schröter, 1991, Vorbem. zu den Art. 85 bis 94, Rdnr. 8. Ehlermann (1992, S. 6) spricht von einem "redlichen, am Leistungsprinzip ausgerichteten Wettbewerb". Im 15. Wettbewerbsbericht fuhrt die EG-Kommission (1986, S. 12) das "Prinzip eines leistungsorientierten, dynamischen Wettbewerbs" an; zum Leistungswettbewerb vgl. ausführlicher unten Abschnitt VI. Vgl. EG-Kommission, 1972, S. 13 f.; Schröter, 1991, Vorbem. zu Art. 85-94, Rdnr. 15. Dies geschieht beispielsweise in der Regelung der vertikalen Beziehungen zwischen Herstellern und Händlern oder Zulieferern und Abnehmern sowie im Rahmen der Mißbrauchsaufsicht (vgl. Bellamy und Child, 1987, S. 14 Fn. 96 u. S. 16, Fn. 6).

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von Märkten, die sich auch in den von der EG betriebenen Deregulierungen manifestiert, ist eng mit dem (ordoliberalen und österreichischen) Konzept der Wettbewerbsfreiheit verbunden.

IV. Ein Spezialprobfem: Die integrationspolitische Komponente der EG-Wettbewerbspolitik Die EG-Kommission und der Europäische Gerichtshof mögen in vielerlei Hinsicht in ihrer konkreten Entscheidungpraxis unsicher und mangels einer klaren Wettbeweibskonzeption auch inkonsistent sein, aber eine klare Leitlinie, an der beide konsequent festhalten, haben sie: das Ziel der Schaffung eines einheitlichen Marktes. "Der Gemeinsame Markt ist Ausgangspunkt aller Entwicklungen in der Gemeinschaft. ... Sicherung und Ausbau des Gemeinsamen Marktes ziehen sich deshalb wie ein roter Faden durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs" (Everling, 1990, S. 1000)30. Zentrale Leitlinie ist, daß nach Abbau nationaler Handelsschranken innerhalb des Gemeinsamen Marktes nicht erneut Schranken durch private Unternehmen aufgebaut werden. Dies entschied der EuGH 1966 im Fall Grundig/Consten (Rs. 56 u. 58/64, Slg. 1966, S. 388 ff.). Grundig schloß mit Consten einen Alleinvertriebsvertrag, der Consten einen exklusiven Vertrieb von Grundig-Erzeugnissen auf dem französischen Markt sicherte. Ein solcher absoluter Gebietsschutz würde laut EuGH eine Abriegelung des französischen Marktes bewirken, und die Wettbewerbsmöglichkeiten auf der Großhandelsstufe für Grundig-Erzeugnisse beseitigen, da Dritten, insbesondere Großhändlern aus anderen Mitgliedstaaten, untersagt wäre, Grundig-Erzeugnisse nach Frankreich einzuführen 31 . Seit dieser Entscheidung wird konsequent gegen alle Vereinbarungen zur Marktaufteilung vorgegangen. Dies betrifft ganz unterschiedliche Bereiche. Bezüglich Alleinvertriebsvereinbarungen haben die EG-Kommission und der EuGH "der Verhinderung nationaler Marktabschottungen vor 'Intrabrand'-Wettbewerb und der Förderung des Parallelhandels höchste Priorität eingeräumt"32. Dies kommt auch in 30

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Gegen Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Handels, ob durch einzelstaatliche Maßnahmen oder private Unternehmen bewirkt, wird konsequent vorgegangen. Neben der allgemeineren Cassis-de-Dijon Rechtsprechung gehört hierzu auf der Ebene der Wettbewerbsregeln zum Beispiel auch die Beihilfekontrolle nach Art. 92 f. EWGV (vgl. Immenga, 1992) sowie das Vorgehen gegenüber öffentlichen Unternehmen und nationalen Handels- und Dienstleistungsmonopolen. Vgl. Ehlermann, 1992, S. 12 ff. und EG-Kommission, 1992c, Teil III. "Der EWG-Vertrag, der nach seiner Präambel und seinem Inhalt darauf gerichtet ist, die Schranken zwischen den Staaten zu beseitigen, ..., kann nicht zulassen, daß die Unternehmen neue Hindernisse dieser Art schaffen. Art. 85 Abs. 1 verfolgt dieses Ziel, auch wenn es sich um Vereinbarungen zwischen Unternehmen verschiedener Wirtschaftsstufen handelt" (Rs. 56 u. 58/64, Slg. 1988, S. 388); vgl. auch EG-Kommission, 1987, S. 13 ff. Wiedemann, 1990, S. 7; aus der Sicht der Chicago-Schule kritisch hierzu Korah, 1986; 1990, S. 137 ff. sowie ausführlich Korah und Rothnie, 1992.

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der betreffenden Gruppenfreistellungsverordnung (GVO) 1983/83 zum Ausdruck (vgl. Wiedemann, 1990, S. 59 ff.). Zu einem absoluten Gebietsschutz darf es auch nicht bei der Verwertung von gewerblichen Schutzrechten kommen33: "Mit den ... Grundgedanken dieser Wettbewerbsordnung und mit ihrem Sinn ist es unvereinbar, daß die sich aus dem Warenzeichenrecht der verschiedenen Staaten ergebenden Ansprüche zu Zwecken mißbraucht werden, die dem Kartellrecht der Gemeinschaft zuwiderlaufen"34. Das Ziel der Schaffung eines einheitlichen Marktes kann zum einen im Sinne eines spezifischen Zieles gemäß der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs interpretiert werden. Der daraus abgeleitete Schutz des 'Intrabrand'35-Wettbewerbs und des Parallelhandels durch Einschränkungen der Vertragsfreiheit in Bezug auf vertikale Vertriebsverträge wird aber sowohl von der Chicago-Schule scharf kritisiert, weil nach ihr diese vertikalen Verträge effizient sind, als auch von der österreichischen Variante des Konzepts der Wettbewerbsfreiheit, weil es sich hierbei um einen Eingriff des Staates in die Vertragsfreiheit der Unternehmen handelt (Väth, 1987, S. 85 ff.) 36 . Das integrationspolitische Ziel der Öffnung nationaler Märkte kann zum anderen aber als Ausdruck eines der Freiheit zum Wettbeweib verpflichteten Konzepts gesehen werden. Allerdings muß es als unklar angesehen werden, inwieweit das durchaus konsequente Vorgehen gegen nationale Wettbewerbsbeschränkungen wirklich von dem Willen zur Durchsetzung des Wettbewerbsprinzips bestimmt ist oder nicht doch hauptsächlich von dem Willen zum Vorrang europäischer vor nationalen Regelungen geprägt ist 37 .

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Vgl. Koch, 1990, Art. 85, Rdnr. 195 ff.; sowie kritisch Korah, 1990, S. 172 ff. EuGH - Grundig/Consten (Rs. 56 u. 58/64, Slg. 1966, S. 394). Bezüglich der Lizenzierung von Patenten entschied der EuGH 1982 in Nungesser (Rs. 258/78, Slg. 1982, S. 2068 f.), "daß ein Verstoß gegen Art. 85 Abs.l EWGV vorliegt, wenn die Kombination einer Vereinbarung Aber die EinrSumung des ausschließlichen Rechts auf Verwertung eines gewerblichen Schutzrechts in einem bestimmten Gebiet zur Folge hat, daß dem Lizenznehmer durch die Verhinderung von Paralleleinfuhren ein absoluter Gebietsschutz gesichert wird" (Wiedemann, 1990, S. 209); vgl. auch Koch (1990, Art. 85, Rdnr. 254). Aufbauend auf diesem Grundsatz wurde die GVO 2349/84 (Patentlizenzvereinbarungen) erlassen (vgl. Koch, 1990, Art. 85, Rdnr. 195 ff.). Auch in GVO 418/85 (Vereinbarungen aber Forschung und Entwicklung) sind Vereinbarungen, die zu einem absoluten Gebietsschutz führen (Art. 6), nicht erlaubt (vgl. Wiedemann, 1989, S. 259 ff.). Zur Erläuterung s. Fußnote 66. Konsequent gedacht, dürfte es nach beiden Wettbewerbskonzeptionen für die Integration der Märkte ausreichend sein, wenn alle staatlichen Handelsbeschränkungen abgebaut würden. Insofern ist der (vorsichtigen) Einschätzung von Vath (1987, S. 232 ff.), daß das Urteil des EuGH in "British Telecomm" vom 20.3.1985 (Rs. 41/83, in: Wirtschaft und Wettbewerb, 1986, S. 229 ff.), in dem erstmals ein nationales Monopol in seine Schranken verwiesen wurde, eventuell Ausdruck eines veränderten (eher österreichischen) Wettbewerbsverständnisses sein könnte, mit großer Zurückhaltung zu begegnen, da es dem EuGH wohl mehr darum ging, den Vorrang des europäischen vor dem nationalen Recht durchzusetzen.

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V.

Die wettbewerbskonzeptionellen Grundlagen der Anwendungspraxis der europäischen Fusionskontrolle Seit dem 21.9.1990 ist die Fusionskontrollveroidnung (FKVO) 4064/89 in Kraft, mit der erstmals systematisch eine Fusionskontrolle innerhalb des EG-Wettbewerbsrechts betrieben werden kann 38 . Inzwischen liegt eine umfangreiche Entscheidungspraxis von über 120 Entscheidungen der EG-Kommission vor, aus der sich bereits wesentliche Grundlinien der europäischen Fusionskontrolle erkennen lassen 39 , die hinsichtlich ihrer wettbewerbskonzeptionelle Einordnung kurz skizziert werden sollen. Im Vorfeld der Verabschiedung dieser Verordnung wurde eine lange und zähe Auseinandersetzung um die Kriterien für die Beurteilung von Zusammenschlüssen geführt 40 . Während die eine Position für eine Fusionskontrolle nach ausschließlich wettbewerblichen Kriterien plädierte, trat die andere Seite dafür ein, auch Untemehmenszusammenschlüsse, die den Wettbewerb erheblich beeinträchtigen, zu genehmigen, wenn diese zur Erreichung anderer, außerwettbewerblicher Ziele wie beispielsweise dem technischen und wirtschaftlichen Fortschritt (analog dem Vorgehen in Art. 85(3) EWGV) beitragen. Faktisch wurde eine Übereinkunft erzielt, die ein klares Übergewicht wettbewerbsbezogener Kriterien erkennen läßt. So sind Zusammenschlüsse als mit dem Gemeinsamen Markt nicht vereinbar zu erklären, wenn sie eine beherrschende Stellung begründen oder verstärken, durch die wirksamer Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert wird (Art. 2(3) FKVO). Zwar wurde das Kriterium des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts in die Beurteilungskriterien aufgenommen, aber nur innerhalb des Rahmens der Feststellung einer beherrschenden Stellung, so daß eigentlich keine Abwägung zwischen wirksamem Wettbewerb und technischem Fortschritt möglich ist 41 . Zentrales Kriterium ist folglich, ob durch den Zusammenschluß eine beherrschende Stellung begründet oder verstärkt wird. Für diese Prüfung existiert bereits eine umfangreiche Entscheidungspraxis aus der Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen nach Art. 86 EWGV 42 , an die sich im wesentlichen auch die Fusionskon38 39 40 41 42

Zur Vorgeschichte s. Mestmäcker, 1992a, Vor §23, Rdnr. 79 ff. Erste Erfahrungsberichte mit der EG-Fusionskontrolle vgl. Siragusa und Subiotto, 1991; Montag und Heinemann, 1992; EG-Kommission, 1992c sowie Kerber, 1992b, S. 25-156. Vgl. Immenga, 1990, S. 377 f.; Mestmäcker, 1992a, Vor §23, Tz. 198; Brittan, 1990, S. 353; Kerber, 1992b, S. 36 ff. Diese Interpretation ist nicht unumstritten (vgl. Kerber, 1992b, S. 38 ff.). Nach dem EuGH liegt dann eine beherrschende Stellung vor, "wenn ein Unternehmen eine wirtschaftliche Machtstellung besitzt, die es in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmern und letztlich dem Verbraucher gegenüber in einem wesentlichen Umfang unabhängig zu verhalten" (EuGH - Hofftnann-LaRoche, Rs. 85/76, Slg. 1979, S. 520). Vgl. auch Schröter, 1991, Art. 86, Rdnr. 71 ff. und Koch, 1990, Art. 86, Rdnr. 33 ff.

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trollpraxis anlehnt und diese gleichzeitig weiterentwickelt. So sind zunächst die sachlichen und räumlichen Märkte abzugrenzen43 und anschließend auf diesen Märkten das Vorliegen einer beherrschenden Stellung anhand einer Anzahl von markt- und unternehmensstrukturellen Kriterien abzuprüfen (Art. 2(1) FKVO). In ihrer konkreten Fusionskontrollpraxis (vgl. zum folgenden Kerber, 1992b, S. 6999 u. S. 122 ff.) verwendet die EG-Kommission ein Marktbeherrschungskonzept, das von einem weitgehend traditionellen preistheoretischen Marktmachtkonzept ausgeht, indem sie insbesondere auf die Fähigkeit der betreffenden Unternehmen abstellt, Preise zu erhöhen, ohne Marktanteile zu verlieren. Feststellen möchte sie eine solche Marktposition mit einem eindeutig marktstrukturorientierten Konzept, bei dem die Marktanteile der sich zusammenschließenden Unternehmen im Mittelpunkt stehen. Allerdings können auch andere Kriterien wie insbesondere die Stärke der Mitwettbewerber, die Marktmacht der Marktgegenseite sowie der potentielle Wettbewerb eine sehr gewichtige Rolle spielen, so daß durch sie auch sehr hohe Marktanteile relativiert werden können. Insbesondere bei dem Kriterium des potentiellen Wettbewerbs fiel jedoch auf, daß die EG-Kommission bei der Frage der Marktbeherrschung relativ kurzfristig denkt, da sie darauf abstellt, ob bei einer Preiserhöhung bereits innerhalb kurzer Zeit und mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Marktzutritt erfolgt. Längerfristiger potentieller Wettbewerb im Sinne des Markteintritts neuer oder bereits bestehender Firmen aus anderen Bereichen wird damit kaum in die Beurteilung von Zusammenschlüssen einbezogen. Auf der anderen Seite hat sich die bisherige Fusionskontrolle aber ausschließlich an Wettbewerbskriterien orientiert und damit industriepolitischen Erwägungen eine Absage erteilt, auch wenn diese Frage als noch nicht abschließend geklärt angesehen werden muß. Als ein besonderes Problem hat sich jedoch die Gefahr der Politisierung von Fusionskontrollentscheidungen herausgestellt (Kerber, 1992b, S. 133 ff.). Die wettbewerbskonzeptionelle Einordnung der Fusionskontrollpraxis ist relativ eindeutig. Die europäische Fusionskontrolle entspricht mit ihrer marktstrukturorientierten Ausrichtung weitgehend der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs44 und der traditionellen ordoliberalen Position des Schutzes der Wettbewerbsfreiheit vor der Marktmacht der sich zusammenschließenden Unternehmen45. Der vielfältigen Kritik an dem Struktur-Verhaltens-Ergebnis-Paradigma - insbesondere durch die Chicago-Schule und 43 44

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Zur Praxis in Art. 86 EWGV vgl. Schröter (1991, Art. 86, Rdnr. 97 ff.) und Koch (1990, Art. 86, Rdnr. 33 ff.); für die Fusionskontrollpraxis vgl. Kerber (1992b, S. 45-68). Die von der EG-Kommission konkret verwendeten Kriterien weisen erhebliche Parallelen mit der Darstellung in ZoMnhOfer (1991) auf, der das Kantzenbachsche Konzept unter anderem um die Marktphasen, die potentielle Konkurrenz und die Marktmacht der Marktgegenseite erweitern möchte. Dies soll aber nicht bedeuten, daß die Vertreter dieser Ansätze mit der konkreten Anwendung der Fusionskontrolle einverstanden sind.

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das Konzept der Wettbewerbsfireiheit - schönt die EG-Kommission jedoch dadurch entgegenzukommen, daB sie wesentlich großzügigere Beurteilungsstandaids (Marktanteile etc.) verwendet als beispielweise das deutsche Bundeskartellamt. Vom Ansatz der Chicago-Schule ist die EG-Kommission jedoch weit entfernt, da sie das Einbeziehen der Effizienz von Zusammenschlüssen als Beurteilungskriterium ausdrücklich ablehnt. Gleiches gilt für die Berücksichtigung industriepolitischer Erwägungen. Es ist darauf hinzuweisen, daß sowohl die Chicago-Schule als auch industriepolitische Ansätze in der Fusionskontrolle gleichermaßen für ein Abwägungskriterium zwischen Wettbewerb und Effizienz eintreten würden ('efficiency defence'; analog Art. 85(3) EWGV). Aus evolutorischer Sicht muß die Wettbewerbskonzeption als zu verengt angesehen werden, da vor allem auf den Pieiswettbewerb abgestellt wird und die Notwendigkeit der langfristigen Aufrechterhaltung der Dezentralität der Suche nach Problemlösungen für die endogene Evolutionsfähigkeit und Anpassungsflexibilität des Marktsystems nicht berücksichtigt wird (Kerber, 1992b, S. 127 ff.). Aus österreichischer Sicht stellt sich dagegen die Frage, ob eine Zusammenschlußkontrolle überhaupt nötig ist 46 . Die Politisierung von Einzelentscheidungen in der Fusionskontrolle würden alle Ansätze mit Ausnahme von Vertretern der Industriepolitik eindeutig ablehnen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich die traditionell restriktive und ausschließlich an wettbewerblichen Kriterien orientierte deutsche Auffassung der Zusammenschlußkontrolle einer sehr heterogenen Koalition von Chicagoer, österreichischen und industriepolitischen Überlegungen gegenübersieht. VI. Die Prüfung des Mißbrauchs marktbeherrschender Stellungen (Art. 86 EWGV) Nach Art. 86 EWGV ist die mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung (s. Kap. V) mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar. Die Grundidee besteht darin, daß marktbeherrschende Unternehmen einer zusätzlichen Verhaltenskontrolle unterzogen werden, weil angenommen wird, daß sie aufgrund ihrer Marktmacht mehr Möglichkeiten hätten, den Wettbewerb zu beeinträchtigen oder ihre Handelspartner auszubeuten. Hierbei wird vor allem zwischen Ausbeutungs- und Behinderungsmißbrauch unterschieden47.

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Vgl. z.B. VOth (1987, S. 125-137), der eine Fusionskontrolle für überflüssig hält. Weiterhin ist der 'Marktstrukturmißbrauch' anzuführen, der einen unzureichenden Ersatz für die früher fehlende europäische Fusionskontrolle darstellte und auf die EuGH-Entscheidung Continental Can (Rs. 6/72, Slg. 1973, S. 246) zurückgeht. In der Literatur werden unterschiedliche Typologisierungen vorgeschlagen: vgl. Koch, 1990, Art. 86, Rdnr. 51 ff.; MestmOcker, 1974, S. 389 ff. u. 3% ff.; Bellamy und CWW, 1987, S. 186 ff.; Schröter, 1991, Art. 86, Rdnr. 136.

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Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs48 stellen unangemessen hohe Verkaufspreise einen Ausbeutungsmißbrauch dar, wobei die Angemessenheit des Preises nach seinem Verhältnis zum wirtschaftlichen Wert der Gegenleistung zu beurteilen ist (vgl. EuGH - General Motors Continental, Rs. 26/75, Slg. 1975, S. 1379). Zu dessen Feststellung kann nach Meinung des Europäischen Gerichtshofs sowohl das Vergleichsmarktkonzept als auch die absolute oder relative Höhe der Gewinnspanne herangezogen werden. Von einem marktbeherrschenden Unternehmen wird dabei gefordert, daß es sich so verhält, als wflrde.es im Wettbeweib stehen ('Als-ob-Wettbewerb')49Neben (außerökonomischen) Gerechtigkeitsüberlegungen steht hinter diesem Konzept die Vorstellung, daß der Wettbewerb zu bestimmten Marktergebnissen führen sollte und die Kartellbehörden bei Abweichungen von solchen als Referenzmaßstab angesehenen Wettbewerbsprozessen korrigierend einzugreifen hätten. Wie Hoppmann (1974, 1983) jedoch in seiner Kritik der ähnlich argumentierenden deutschen Preismißbrauchsaufsicht herausgearbeitet hat, ist es aufgrund der Unvoraussagbarkeit von Einzelmarktergebnissen in Wettbewerbsprozessen unmöglich, die Preise zu bestimmen, die sich bei funktionierendem Wettbewerb herausgebildet hätten. Eine solche Preismißbrauchsaufsicht wird somit aufgrund des evolutionären Charakters von Wettbewerbsprozessen von verschiedenen Ansätzen abgelehnt, insbesondere von den Österreichern und der Chicago-Schule (Korah, 1990, S. 79). Bei der Feststellung eines Behinderungsmißbrauchs möchte der Europäische Gerichtshof die aus dem deutschen Wettbewerbsrecht stammende Theorie des Leistungswettbewerbs verwenden, um wettbewerbliche von behindernden Verhaltensweisen abzugrenzen50. Entscheidend sei, ob das marktbeherrschende Unternehmen Verhaltensweisen anwendet, "welche von den Mitteln eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Marktbürger abweichen"51. Der Europäische Gerichtshof und die EG-Kommission haben eine ganze Anzahl von Verhaltensweisen als solchermaßen mißbräuchlich angesehen. Hierzu können beispielsweise bestimmte Kopplungsgeschäfte, vertragliche vertikale Handlungsbeschrän-

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Vgl. Korah, 1990, S. 77 ff.; Schröter, 1991, Art. 86, Rdnr. 142ff; Koch, 1990, Art. 86, Rdnr. 61. "Es ist also zu prüfen, ob der Inhaber einer solchen Stellung die sich daraus ergebenden Möglichkeiten benutzt hat, um geschäftliche Vorteile zu erhalten, die er bei einem normalen und hinreichend wirksamen Wettbewerb nicht erhalten hätte" (EuGH - United Brands, Rs. 27/76, Slg. 1978, S. 305). Die deutsche Herkunft dieses Konzepts wird auch von angelsächsischen Autoren wie beispielsweise Korah (1990, S. 69 u. 73) bestätigt ("competition based on Performance"). Hoffmann-LaRoche (Rs. 85/76, Slg. 1979, S. 541; Hervorhebung vom Verfasser); dies wurde 1991 in AKZO Chemie BV (Rs. C-62/86, Zeitschrift für Europäisches Wirtschaftsrecht, 1992, S. 25) erneut bestätigt.

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kungen sowie bestimmte Rabattsyteme gehören 52 . Insbesondere zählen hierzu jedoch auch gezielte Kampfpreisunterbietungen ('predatory pricing') 53 . Die hier angewendete Theorie des Leistungswettbewerbs weist eine Fülle von Problemen auf (vgl. zum folgenden ausführlich Kerber, 1989, S. 461 ff.). Ursprünglich kommt der Begriff des Leistungswettbewerbs aus der ordoliberalen Tradition, in der er dem rein heuristischen Zweck diente, Regeln zu finden, welche Verhaltensweisen als wettbewerbliche und welche als behindernde und damit nichtwettbewerbliche einzustufen seien 54 . Später wurde dieser Begriff in Deutschland jedoch in eine zunehmend andere Richtung interpretiert, mit der er bei der Anwendung des § 1 UWG, § 22(4) GWB und § 26(2) GWB zu einer Entwicklung beitrug, die eher bestimmte Wettbewerber vor Wettbewerb als den Wettbewerb schützte. Das Hauptproblem dieser 'Theorie des Leistungswettbewerbs'55 liegt darin, daB bei der Anwendung von ganz konkreten Vorstellungen ausgegangen wird, was als Verbesserung einer Leistung anzusehen sei. So haftet vielen Aktionsparametern, außer einem günstigen Preis, der aber auch nicht zu niedrig sein darf (predatory pricing'), und guter Qualität, das Odium des eventuell 'leistungsfremden' und deshalb mißbräuchlichen an 56 . Damit entsteht die Gefahr, daß viele an sich wettbewerbliche Verhaltensweisen 52

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Vgl. Koch, 1990, Art. 86, Rdnr. 69 ff.. So gilt für die Beurteilung von Rabattsystemen der Grundsatz, "ob der Rabatt darauf abzielt, dem Abnehmer durch die Gewährung eines Vorteils, der nicht auf einer ihn rechtfertigenden Leistung beruht, die Wahl zwischen mehreren Bezugsquellen unmöglich zu machen oder zu erschweren, den Konkurrenten den Zugang zum Markt zu verwehren" (EuGH - Michelin, Rs. 322/82, Slg. 1983, S. 3515). Hierzu ist 1991 im Fall AKZO Chemie BV die erste Entscheidung des EuGH ergangen (Rs. C-62/86, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 1992, S. 21 ff.). Dabei stellte der EuGH fest, daß es marktbeherrschenden Unternehmen verboten ist, "einen Mitwettbewerber zu verdrängen und auf diese Weise die eigene Stellung zu stärken, indem es zu anderen Mitteln als denjenigen des Leistungswettbewerbs greift. Unter diesem Gesichtspunkt kann nicht jeder Preiswettbewerb als zulässig angesehen werden" (ebenda, Tz. 70). Vgl. auch EG-Kommission, 1992c, 2.II.12; Schröter, 1991, Art. 86, Rdnr. 213 ff.; Korah, 1990, S. 77 f.; Ehlermann, 1991, S. 316 f. "Leistungswettbewerb ähnelt einem Wettlauf. In paralleler Anstrengung soll die Leistung des einzelnen gesteigert werden, und am Ziel sollten die Konsumenten entscheiden" (Eucken, 1952, S. 42). Die Methoden des Monopolkampfes dagegen "beruhen nicht auf dem Gedanken der Verbesserung der eigenen Leistung, sondern auf dem der Verschlechterung der Konkurrenzleistung; ihr Wirkungsmittel ist nicht das Anbieten von Vorteilen, sondern die Zufügung von Nachteilen" (Böhm, 1960, S. 29); vgl. auch Böhms bekanntes Buch "Wettbewerb und Monopolkampf" (1933, S. 250 ff.). Dieses Konzept wurde in allgemeiner Form hauptsächlich von Ulmer (1977) formuliert; vgl. hierzu kritisch unter anderem Gröner, 1982; MestMcker, 1984; Kerber, 1989, S. 462 ff. Vgl. beispielsweise van der Esch (1988, S. 573): "Die Rechtsprechung und die Verwaltungspraxis der EG-Kommission erkennen an, daß marktbeherrschende Unternehmen berechtigt sind, ihren eventuellen Vorsprang im Markt normal zur Geltung zu bringen, und daß günstiger Preis und gute Qualität die normalen Träger dieses Vorsprungs sind. Werden jedoch andere Methoden der Beeinflussung der Abnehmer benutzt, dann fängt die Gefahrenzone von Art. 86 an."

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als leistungsfremd eingestuft werden, und damit für marktbeherrschende Unternehmen die Möglichkeiten zum wettbewerblichen Handeln gegenüber ihren Wettbewerbern stark eingeschränkt werden S7 . Ausgehend von einem evolutionären oder österreichischen Verständnis von Wettbewerb dagegen schafft der Wettbewerb erst das Wissen darüber, wie die Bedürfhisse der Konsumenten besser oder billiger befriedigt werden können. Folglich kann 'Leistung' nicht vorab definiert werden, sondern es stellt sich erst in den Wettbewerbsprozessen selbst heraus, was die 'bessere Leistung' ist 58 . Die Mißbrauchsaufsicht hat viele Facetten. Die Grundidee, daß die Handlungsfreiheit der Handelspartner und Wettbewerber vor der Macht des marktbeherrschenden Unternehmens zu schützen seien, ist zweifellos auch ordoliberalen Ursprungs 59 . Geprägt ist die Mißbrauchsaufsicht jedoch hauptsächlich von den marktergebnisorientierten Vorstellungen der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs mit ihrer Idee, daß bei Abweichungen von den 'richtigen' Marktergebnissen korrigierend eingegriffen werden muß. Dies gilt vor allem für die Preismißbrauchsaufsicht, aber auch für die Frage, welches Wettbeweibsverhalten denn nun als mit dem Leistungswettbeweib vereinbar akzeptiert werden kann und welches nicht. Die österreichische Wettbewerbsauffassung lehnt beides ab: Marktergebniskorrekturen und die Vorabdefinition dessen, was Leistung ist. Trotzdem kommen wir nicht umhin, nach den Regeln zu fragen, unter denen Wettbewerbsprozesse ablaufen sollen. Sowohl für die österreichische Wettbewerbsauffassung als auch für die Chicago-Schule dürfte es aber zweifelhaft sein, ob überhaupt eine Mißbrauchsaufsicht für marktbeherrschende Unternehmen notwendig ist. Industriepolitische Erwägungen spielen dagegen bei der Mißbrauchsaufsicht keine Rolle.

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Vgl. auch Korah (1990, S. 87): "My fear is that the competition rules are not being used to enable efficient firms to expand at the expense of the less efficient, but to protect smaller and medium sized firms efficient or otherwise against larger." In diesen Marktprozessen setzen die Wettbewerber auch immer wieder neue Aktionsparameter oder alte auf eine neue Art ein. So wichtig es ist, daß der Wettbewerb innerhalb von Regeln stattfinden muß, die bestimmte Verhaltensweisen auch verbieten, so gefährlich ist es aber, einzelne Verhaltensweisen je nachdem zuzulassen oder zu verbieten, ob sie einer vorab definierten Vorstellung entsprechen, was als 'Leistung' und damit als 'normal' anzusehen ist. Neue wettbewerbliche Verhaltensweisen, wie etwa neue Verkaufsmähoden, sind zum Zeitpunkt der Einführung niemals 'normal' und ihr Leistungscharakter wird meist erst später, wenn sie sich allgemein durchgesetzt haben, von einer breiten Mehrheit anerkannt. Vgl. EG-Kommission (1962, S. 24): "Wettbewerb bedeutet Wahlmöglichkeit für Produzenten, Händler und Veibraucher. Aufgabe der Wettbewerbspolitik ist es, diese Wahlmöglichkeit sicherzustellen und darüber zu wachen, daß die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung nicht dazu mißbraucht wird, das gleiche Freiheitsrecht anderer zu beseitigen."

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VII. Das Kartellverbot des Art. 85(1) EWGV und die Freistellungen nach Art. 85(3) EWGV 1. Die prinzipielle Regelung Art. 85(1) EWGV verbietet alle (horizontalen und vertikalen) Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die zu einer Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs fuhren. Die entscheidende Frage bei der Prüfung von Art. 85(1) EWGV ist, wann eine Vereinbarung zwischen Unternehmen eine Wettbewerbsbeschränkung darstellt. Die EG-Kommission und der Europäische Gerichtshof stellen in der ganz überwiegenden Mehrheit ihrer Entscheidungen darauf ab, ob die Vereinbarung die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der beteiligten Unternehmen einschränkt und sich daraus die Wahlmöglichkeiten Dritter verringern (vgl. Koch, 1990, Art. 85, Rdnr. 58 ff.). Dieser Ansatz, das Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung an der Einschränkung der Entscheidungsautonomie der Marktteilnehmer beim Einsatz ihrer Wettbewerbsparameter festzumachen, und zwar selbst dann, wenn die Unternehmen diesen Beschränkungen durch Abschluß von Verträgen selbst zugestimmt haben, ist zentraler Grundgedanke des ordoliberalen Konzepts der Wettbewerbsfreiheit60. Korah (1986), die von einem an der Chicago-Schule orientierten Wettbewerbsverständnis ausgeht, sieht diese Praxis der EG-Kommission, "to hold that any restriction of conduct, likely to have perceptible effects on a market, infringes Article 85(1) and to attempt a realistic analysis only under Article 85(3)" (ebenda, S. 94) sehr kritisch, nämlich als Ausdruck eines legalistischen Formalismus ("legal formalism", ebenda, S. 95), der einer realistischen ökonomischen Beurteilung Platz machen sollte. So sollten z.B. Vereinbarungen, durch die erst die Erschließung eines Marktes möglich wird, nicht als wettbewerbsbeschränkend unter Art. 85(1) EWGV fallen. Vom Standpunkt der Chicago-Schule wird deshalb die bisher weitgehend betriebene 'Per se'-Rechtsprechung bei der Auslegung von Art. 85(1) EWGV abgelehnt und für eine 'Rule of Reason' plädiert. Dem könnten sich die Vertreter einer österreichischen Auffassung des Konzepts der Wettbewerbsfreiheit nicht anschließen, weil sie für strikte 'Per se'-Regeln eintreten; gleichzeitig haben sie aber ebenfalls Probleme mit der Einschränkung der 60

Vgl. hierzu ausführlich Koch (1990, Art. 85, Rdnr. 18-88, insbesondere Rdnr. 65ff), der eine gute und typische Darstellung einer auf ordoliberalen Grundauffassungen beruhenden Kommentierung des Art. 85 EWGV gibt. Ganz im Sinne dieses Konzepts könnte deshalb diese weite Auslegung von Art. 85(1) EWGV als eine Einschränkung der Vertragsfireiheit angesehen werden, die gerade diese Freiheit selbst vor Einschränkung oder Aufhebung bewahren will. Nach Auffassung von Koch (1990, Art. 85, Rdnr. 67) bezeichnet der EuGH "die Selbständigkeit der Unternehmenspolitik als den Grundgedanken der Wettbewerbsvorschriften des Vertrages ('Selbständigkeitspostulat')", wonach "jeder Unternehmer selbständig zu bestimmen hat, welche Politik er auf dem Gemeinsamen Markt betreiben und welche Bedingungen er seiner Kundschaft gewähren will" (EuGH - Suiker Unie, Rs. 40 usw./73, Slg. 1975, S. 1965).

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Vertragsfreiheit der Marktteilnehmer, die die bisherige Praxis zur Folge hat 61 . Bereits die Auslegung von Art. 85(1) EWGV weist somit erhebliche Probleme auf. Nun können unter bestimmten Bedingungen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen nach Art. 85(3) EWGV freigestellt werden, wenn diese zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -Verteilung 62 oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen 63 . Nach allgemeiner Auffassung wird damit nun die eindeutige Wettbewerbsorientierung des Art. 85(1) EWGV durchbrochen, und es können auch andere gesamtwirtschaftliche Vorteile von Kartellen in die Beurteilung eingehen (vgl. zum folgenden Schröter, 1991, Art. 85, Rdnr. 213 ff.; Koch, 1990, Art. 85, Rdnr. 162 ff.). Hierfür muß die Wettbewerbsbeschränkung "insbesondere spürbare objektive Vorteile mit sich bringen, die geeignet sind, die mit ihr verbundenen Nachteile für den Wettbewerb auszugleichen" (EuGH - Grundig/Consten, Rs. 56 u. 58/64, Slg. 1966, S. 397). Es handelt sich hierbei um typische industriepolitische Zielvorstellungen, so daß Art. 85(3) EWGV als eine Möglichkeit gesehen werden muß, wie industriepolitische Konzepte in die Praxis der europäischen Wettbewerbspolitik einfließen 64 . 2.

Vertikale Vereinbarungen Im Mittelpunkt der kartellrechtlichen Prüfung vertikaler Vereinbarungen stehen ver-

tikale Vertriebsverträge unterschiedlichster Art 6 5 . Kartellrechtlich stand bei der Beurteilung von vertikalen Vertriebsverträgen immer das Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit der Händler, ihre Aktionsparameter beim Verkauf von Waren frei zu wählen, und der Freiheit der Hersteller, ihre eigene Vertriebspolitik autonom zu bestimmen, im Mittelpunkt. Insofern stellte sich die Frage, inwieweit vertikale Vereinbarungen zwischen Herstellern und Händlern, die die Freiheit der Händler in ihrem Wettbewerb einschränken, zulässig sind. Ökonomisch gesehen geht es dabei darum, ob durch die 61

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Zu dem Konflikt (oder Mißverständnis) zwischen der ordoliberalen und österreichischen Auffassung von Vertragsfreiheit, vgl. Väth (1987, S. 254), der explizit die Auffassung von Eucken (1952, S. 278), daß Vertragsfreiheit nicht zu dem Zweck gewährt werden dürfe, um Vertrage zu schließen, die die Vertragsfreiheit beschränken oder beseitigen, ablehnt. Unter die einbeziehbaren Verbesserungen der Warenerzeugung oder -Verteilung fallen Rationalisierungsgewinne unterschiedlichster Art wie etwa die Optimierung der Größe und Auslastung von Kapazitäten, die Verbreiterung des Warenangebots, die Verbesserung der Qualität sowie Vorteile aus bestimmten Formen von Vertriebsbindungen. Weiterhin müssen die Verbraucher an dem entstehenden Gewinn angemessen beteiligt werden, dürfen keine Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerläßlich sind, und es dürfen keine Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten. Es sei daran erinnert, daß Art. 85(3) EWGV in den Verhandlungen über die Fusionskontrollverordnung gerade Vorbild für jene Entwürfe war, die auch industriepolitische Überlegungen in die Beurteilung von Zusammenschlüssen einfließen lassen wollten. Hierzu gehören insbesondere Alleinvertriebssysteme, selektive Vertriebssysteme und Franchisesysteme. Vgl. zur Definition dieser und weiterer Typen Kirchhoff (1990, S. 13 ff.).

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Wettbewerbsregeln eher der Intrabrand-Wettbewerb oder der Interbrand-Wettbewerb geschützt werden soll 66 . Vertikale Vertriebsverträge führen normalerweise zu einer mehr oder minder umfangreichen Einschränkung des Intrabrand-Wettbewerbs, weil den Händlern in diesen Vereinbarungen Beschränkungen bezüglich des Einsatzes ihrer Aktionsparameter auferlegt werden 67 . Auf der anderen Seite jedoch kann durch solche Distributionsformen der Wettbewerb zwischen den Hersteilem (Interbrand-Wettbewerb) verstärkt werden. Insbesondere die Chicago-Schule hat sich sehr ausführlich mit solchen vertikalen Beschränkungen beschäftigt und vertritt hierbei die Auffassung, daß diese ökonomisch effizient seien und folglich kartellrechtlich gerade kein Problem darstellten68. Denn gewinnmaximierende Hersteller, die im Wettbewerb mit anderen Herstellern stehen, werden ihre Händler nur insoweit binden, als dies zu einer Erhöhung der Effizienz beiträgt 69 . Entscheidend ist, daß nach Auffassung der Chicago-Schule bei einem funktionierenden Interbrand-Wettbewerb dem Intrabrand-Wettbewerb keine eigenständige Bedeutung mehr zukommt, weil das von den Herstellern kontrollierte Verhalten der Händler gewissermaßen vom Wettbewerb zwischen den Herstellern mitkontrolliert wird. Bereits im Fall Maschinenbau Ulm (Rs. 56/65, Slg. 1966, S. 304) verneinte der Europäische Gerichtshof eine spürbare Wettbewerbsstörung, "... wenn sich die Vereinbarung gerade für das Eindringen eines Unternehmens in ein Gebiet, in dem es bisher nicht tätig war, als notwendig erweist". Im Rahmen dieser sogenannten Markterschließungsdoktrin (vgl. Koch, 1990, Art. 85, Rdnr. 103 ff.) gewannen Argumentationen, die sich an Überlegungen der Chicago-Schule anlehnten, zunehmend an Bedeutung, auch wenn die eigentliche Chicago-Argumentation - insbesondere aufgrund ihrer aus66

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Unter dem Interbrand-Wettbewerb versteht man den Wettbewerb zwischen den Produkten unterschiedlicher Hersteller, während Intrabrand-Wettbewerb sich auf den Wettbewerb unterschiedlicher Händler mit den Produkten derselben Hersteller bezieht. Das deutlichste Beispiel ist die vertikale Preisbindung, die den Preiswettbewerb zwischen verschiedenen Händlern bezüglich desselben Produkts ausschaltet. Eine andere Möglichkeit der Beschränkung des Wettbewerbs zwischen Händlern besteht darin, daß die Hersteller nur an eine beschränkte Zahl von Händlern (selektiver Vertrieb) oder nur an einen einzigen Händler in einem bestimmten Gebiet (Gebietsschutz) liefern. Vgl. Bork, 1978, S. 280 ff.; Posner, 1976, S. 171 ff.; 1979; Easterbrook, 1984; Korah und Rothnie, 1992, S. 8 f f . ; Korah, 1986; Kirchhoff, 1990, S. 82 f f . Aus der Sicht der Hersteller kann die Beschränkung des Wettbewerbs zwischen ihren Händlern insofern Sinn machen, als diese eventuell erheblich in Verkaufsförderung und Werbung usw. investieren müssen, um das Produkt am Markt zu etablieren. Da es sich bei diesen Investitionen aber um versunkene Kosten handelt, kann es sein, daß sich die Händler nur dann darauf einlassen, wenn sie beispielsweise vor dem Wettbewerb anderer, erst später hinzukommender Händler geschützt werden ('Free rider'-Argument). Eine damit verwandte ebenfalls auf Effizienz abstellende Erklärung für vertikale Bindungen sieht deren Sinn in der Senkung von Transaktionskosten (vgl. Wüliamson, 1979; 198S, S. 85 ff.).

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schließlichen Effizienzorientierung - weder von der EG-Kommission noch dem Europäischen Gerichtshof akzeptiert wurde70. Im Fall Pronuptia (Rs. 161/84, Slg. 1986, S. 353 ff.; vgl. zu diesem Fall Kirchhoff, 1990, S. 294 ff.; Korah, 1990, S. 150 ff.) entschied der Europäische Gerichtshof erstmals über ein Vertriebsfranchisingsystem. Als äußerst bemerkenswert wurde angesehen, daß nach Auffassung des Gerichtshofs Bestimmungen, die 'unerläßlich' für die Funktionsfähigkeit eines Franchisevertrages sind, bereits nicht unter Art. 85(1) EWGV fallen71. Obwohl das vom Europäischen Gerichtshof vertretene Prinzip der Unerläßlichkeit nicht identisch ist mit einer 'Rule of Reason' im Sinne der amerikanischen Antitrustrechtsprechung72, hat der Gerichtshof mit dieser Entscheidung Spekulationen genährt, sich im Rahmen der Prüfung nach Art. 85(1) EWGV einer 'Rule of Reason1 anzunähern. Insbesondere britische Autoren wie Whish und Korah, die von der ChicagoSchule geprägt sind, befürworten eine solche Entwicklung (vgl. Korah, 1986; 1990, S. 224 ff.; Whish, 1989, S. 234; sowie Joliet, 1967), während demgegenüber deutsche Autoren dies eher ablehnen73. Allerdings hat Everling (1990, S. 1002 f.), der selbst als Richter an der Pronuptia-Entscheidung beteiligt war, vor vorschnellen Schlüssen gewarnt. Aber er hat klargestellt, daß der Gerichtshof bei Vereinbarungen komplexeren 70

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In verschiedenen Gruppenfreistellungsverordnungen entwickelte die EG-Kommission Kriterien, nach denen vertikale Verträge freigestellt werden (vgl. EG-Kommission, 1984, S. 35 ff.). In den Erwägungsgründen 5 und 6 der GVO 1983/83 (Alleinvertriebsvereinbarungen) wird explizit auf die ökonomischen Vorteile von Alleinvertriebssystemen in enger Anlehnung an die Argumentationen der Chicago-Schule Bezug genommen, und insbesondere auch auf die Verstärkung des Wettbewerbs zwischen den Herstellern verwiesen. Allerdings darf der Parallelwettbewerb nicht völlig ausgeschaltet werden (vgl. Wiedemarin, 1990, S. 5 ff.; Kirchhoff, 1990, S. 266 ff.). Auch die Gruppenfreistellungsverordnungen für Alleinbezugsvereinbarungen (GVO 1984/83) und Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (GVO 123/85) wurden mit ähnlichen ökonomischen Argumenten begründet. Hinzu gehören nach Auffassung des EuGH Bestimmungen, die unerläßlich sind, damit das vom Franchisegeber vermittelte Know-how nicht den Konkurrenten zugute kommt, und die zur Wahrung der Identität und des Ansehens der durch die Geschäftsbezeichnung symbolisierten Vertriebsorganisation unerläßlich sind. Marktaufteilungen und Preisfestlegungen sind allerdings nicht erlaubt (vgl. Pronuptia, Rs. 161/84, Slg. 1986, S. 385); anschließend wurde die GVO 4087/88 (Franchisevereinbarungen) erlassen, die weitgehend auf den Grundsätzen des Pronuptia-Urteils beruht. Das Kriterium der Unerläßlichkeit ist etwas anderes als eine Abwägung zwischen Intrabrand- und Interbrand-Wirkungen vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen, die durch die Sylvania-Entscheidung des Supreme Court die vorher bestehende 'Per se'-Doktrin im amerikanischen Antitrustrecht ablöste (vgl. hierzu ausführlich Kirchhoff, 1990, S. 70-107). Die Auflassung von Väth (1987, S. 256 ff.), daß es sich bei der Pronuptia-Entscheidung immer noch um eine, von ihm grundsätzlich abgelehnte 'Rule of Reason'-Rechtsprechung handelt, ist folglich zumindest mißverständlich. Nach allgemeiner Auffassung in der Literatur ist die Pronuptia-Entscheidung gerade die Abkehr von einer vorher bestehenden 'Per se'-Regelung. Vgl. Koch (1990, Art. 85, Rdnr. 103 ff.) mit weiterer Literatur sowie van der Esch (1988, S. 568 ff.); anderer Ansicht ist dagegen Wiedemann (1990, S. 7 ff.).

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Inhalts, besonders wenn sie auch wettbewerbsfördernde Elemente enthalten, auch auf die Marktverhältnisse abstellt und die Vorgänge in ihrem wirtschaftlichen Zusammenhang beurteilt. Letztendlich haben die EG-Kommission und der Europäische Gerichtshof keine klare Konzeption für die Beurteilung vertikaler Vereinbarungen. Auf der einen Seite wollen sie die Handlungsfreiheit der Händler schützen, was auf ordoliberale Gedankengänge hindeutet. Auf der anderen Seite können sie sich jedoch auch nicht den ökonomischen Argumenten über die Vorteilhaftigkeit vieler dieser vertikalen Vereinbarungen verschließen. Inhaltlich liegen hierbei die Chicago-Schule und die EG-Kommission prinzipiell nicht weit auseinander. Der Streit geht vielmehr darum, daß Vertreter der Chicago-Schule die meisten dieser vertikalen Vereinbarungen als nicht wettbewerbsbeschränkend schon gar nicht unter Art. 85(1) EWGV fallen lassen möchten, während die EG-Kommission diese erst unter Art. 83(3) EWGV - nach einer Abwägung zwischen der Effizienz von Vertriebssystemen einerseits und dem wirksamen, unverfälschten Wettbewerb andererseits (vgl. Ehlermann, 1992, S. 8) - freigeben möchten. Die Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs hat mit derartigen ökonomischen Beurteilungen ebenfalls keine prinzipiellen Probleme. Auf der anderen Seite aber war sie gegenüber solchen vertikalen Vereinbarungen traditionell eher negativ eingestellt, weil sie diese immer eher als Instrumente zur Erlangung und Absicherung von Marktmacht ansah 74 . Aus österreichischer Sicht stellt sich jedoch die Frage, ob nicht wettbewerbsrechtliche Verbote bestimmter vertikaler Vereinbarungen einen Verstoß gegen die Vertragsfreiheit der Marktteilnehmer darstellen und folglich solche Vereinbarungen per se erlaubt werden sollten. Horizontale Vereinbarungen Horizontale Vereinbarungen können eine Vielzahl von Sachverhalten betreffen. Nach Auffassung der EG-Kommission fallen insbesondere alle horizontalen Vereinbarungen über Preise, Quoten, Investitionen und geographische Marktaufteilungen unter Art. 85(1) EWGV und werden auch nicht nach Art. 85(3) EWGV freigestellt (vgl. Whish, 1989, S. 399 ff.; Korah, 1990, S. 119 ff.; Ehlermann, 1992, S. 7). Andererseits gibt es auch eine Anzahl von horizontalen Vereinbarungen, die nicht nur wettbewerbsbeschränkend wirken, sondern nach Meinung der EG-Kommission auch ökonomische Vorteile mit sich bringen und folglich über Art. 85(3) EWGV freigestellt werden können. Dies "zeigt sich vor allem in der großzügigen Freistellungspraxis von Verein3.

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Es war diese Marktmachtinterpretation von vertikalen Bindungen, gegen die die ChicagoSchule mit ihrer Effizienzargumentation immer kämpfte (vgl. zum Beispiel Posner, 1976, S. 171 ff. und Easterbrook, 1984).

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barungen über die Spezialisierung der Produktion, die überbetriebliche Zusammenarbeit auf den Gebieten der Forschung, Entwicklung und Ergebnisverwertung sowie bei kooperativen Gemeinschaftsunternehmen" (Ehlermann, 1992, S. 8). Im folgenden soll nur kurz auf horizontale Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung eingegangen werden75. Bereits in ihrer Kooperationsbekanntmachung von 1968 ging die EG-Kommission davon aus, daß reine F&E-Kooperationen bis zur Produktionsreife im allgemeinen keine Wettbewerbsbeschränkung darstellen76. In der Colgate/Henkel-Entscheidung von 1971 wurde dagegen eine Beschränkung des Innovationswettbewerbs auch bei einer bloßen gemeinsamen Forschung oder einem reinen Erfahrungs- und Ergebnisaustausch angenommen, da sich die Parteien verpflichteten, neben der gemeinsamen Forschung und Entwicklung keine individuelle F&E mehr zu betreiben. Seit Anfang der achtziger Jahre sind unter dem Eindruck einer verschärften weltweiten Konkurrenz ('technologische Lücke') industrie- und forschungspolitisch motivierte Bestrebungen zur Erleichterung von Kooperationen für Forschung und Entwicklung zu beobachten. So war das Hauptanliegen der EG-Kommission bei der Ausarbeitung der GVO 418/8S (Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen) die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie durch die Förderung von Forschung und Entwicklung77. Die EG-Kommission verweist jedoch auch auf die Notwendigkeit, dieses Ziel "mit dem grundsätzlichen Erfordernis der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Wettbewerbs in Einklang zu bringen"78. Die reine F&E-Kooperation bis zur Stufe der Produktionsreife stellt auch nach der GVO kein Problem dar. Geregelt ist vielmehr hauptsächlich die gemeinsame Verwertung der Forschungseigebnisse79. 75

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Zur Behandlung von Vereinbarungen Ober Forschung und Entwicklung im EG-Wettbewerbsrecht vgl. allgemein Fuchs, 1989, S. 1S9 ff.; Whish, 1989, S. 448 ff.; Drauz, 1991, Art. 85, Rdnr. 67 ff. sowie Ullrich, 1988, S. 103. Häufig beinhalten Forschungskooperationen jedoch auch die gemeinsame Verwertung der Ergebnisse oder eine noch weitergehendete Zusammenarbeit, beispielsweise in der Produktion oder im Vertrieb, undfidlendementsprechend unter Art. 85(1) EWGV. Vgl. Pressemitteilung der EG-Kommission vom 23.1.1984, EG-Kommission, 1984, S. 45; 1985, S. 41; Wiedemaim, 1989, S. 190 f.; Fuchs, 1989, S. 212; Möschel, 1985. Interessanterweise hat der US-amerikanische Gesetzgeber 1984 in ähnlicher Weise das US-Antitrustrecht modifiziert ("National Cooperation Research Act"; vgl. hinzu Fuchs, 1989, S. 92 ff.). EG-Kommission (1984, S. 45). So sieht sie es als eine Voraussetzung an, daß weiterhin Wettbewerb zwischen verschiedenen unabhängigen Forschungszentren besteht (vgl. EGKommission, 1985, S. 42). Handelt es sich bei den Vertragspartnern um keine aktuellen Wettbewerber, so ist sowohl die F&E-Kooperation als sich die gemeinsame Verwertung für die ersten fiinf Jahre nach dem Inverkehrbringen der Vertragserzeugnisse freigestellt (Art. 3(1)). Sind dagegen mindestens zwei der Vertragspartner aktuelle Wettbewerber, so gilt eine solche Freistellung nur dann, wenn die Unternehmen auf den entsprechenden Märkten keinen größeren Marktanteil als 20 vH besitzen (Art. 3(2)).

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Wichtiger jedoch ist die Praxis der über die GVO hinausgehenden Einzelfreistellungen 80 . Das Vorliegen einer Förderung des technischen Fortschritts durch eine Forschungskooperation wird von der EG-Kommission relativ leicht bejaht 81 . Auch die Voraussetzung der angemessenen Beteiligung der Verbraucher am Gewinn wirft für die EG-Kommission normalerweise keine Probleme auf. Ausführlich prüft die EG-Kommission dagegen, ob die wettbeweibsbeschränkenden Vereinbarungen unerläßlich sind, um die Kooperationsziele zu erreichen. Was die vierte Freistellungsvoraussetzung der Nichtausschaltung des Wettbewerbs betrifft, so hat die EG-Kommission "bei der Anwendung dieses Tatbestandsmerkmals eine sehr flexible und großzügige Einstellung gezeigt. Im Ergebnis hat sie keine F&E-Kooperation daran scheitern lassen"82. Dabei ließ die EG-Kommission auch die Kooperation zwischen großen Wettbewerbern zu. So wurde im Fall Olivetti/Canon die Kooperation zwischen zwei der größten Wettbewerber auf dem Markt für Kopiermaschinen freigestellt, weil dies Olivetti den Zugang zur japanischen Technologie von Canon auf einem schnell wachsenden Markt eröffnen würde (vgl. Whish, 1989, S. 456; EG-Kommission, 1988, Tz. 72; für weitere Fälle vgl. Emmerich, 1991, S. 568 f.). Dies verweist auf die Möglichkeiten der EG-Kommission, durch selektive Einzelfreistellungen im Bereich von Forschung und Entwicklung, die oft mit spezifischen Bedingungen und Auflagen verbunden werden, konkrete industrie- und forschungspolitische Zielvorstellungen zu verfolgen83. Die Grenze für die Freistellung von Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung soll erst erreicht sein, wenn die Kooperationspartner eine marktbeherrschende Stellung erlangen (Fuchs, 1989, S. 209). Die Förderung oder kartellrechtliche Zulassung von Forschungs- und Entwicklungskooperationen zwischen Unternehmen wird sowohl von industriepolitischen Konzepten als auch von Vertretern der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs als geeignetes 80 81

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Vgl. zum folgenden ausführlich: Fuchs, 1989, S. 194 ff.; Whish, 1989, S. 453 ff.; Korah, 1990, S. 197 ff. sowie Emmerich, 1991, S. 568 f. Die schnellere und leichtere Entwicklung neuer Produkte und Produktionsverfahren aufgrund von Kosteneinsparungen, die Zusammenführung komplementären technischen Know-hows oder die Erzielung von Spezialisierungsvorteilen genügen hierfür. Fuchs (1989, S. 207 mit weiterer Literatur). Dies bestätigt auch Whish (1989, S. 456): "In its zeal to encourage cooperation, the Commission has tended to adopt a fairly permissive attitude to the fourth requirement of Article 85(3), that there should not be a substantial elimination of competition." Bei der Beurteilung stellt sie auf die Marktstellung der Kooperationspartner und ihrer Wettbewerber, auf Umfang und Dauer der Wettbewerbsbeschränkung, auf die Wahrscheinlichkeit des Marktzutritts neuer Wettbewerber und auf den Substitutionswettbewerb ab. Im Fall Olivetti/Canon war es die technologiepolitisch gewünschte Förderung des Zugangs von EG-Unternehmen zu Technologien, die außerhalb des Gemeinsamen Marktes entwickelt wurden. Vgl. Whish, 1989, S. 456; Korah, 1987, S. 19 ff. und EG-Kommission, 1986, Tz. 77.

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Mittel für die Förderung des technischen Fortschritts angesehen. Kooperationen werden dann als positiv beurteilt, wenn die einzelnen Unternehmen alleine nicht in der Lage wären, die betreffenden Forschungen durchzuführen84, oder wenn hierbei Skalenvorteile auftreten. Üblicherweise wird dabei von einem Zielkonflikt zwischen der Förderung des technischen Fortschritts und der aus der Kooperation eventuell folgenden Wettbewerbsbeschränkung ausgegangen85. Vertreter der Chicago-Schule haben keine Probleme mit Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung, weil sie zur produktiven Effizienz beitragen würden86, und für die österreichische Wettbewerbskonzeption würde die Vertragsfreiheit im Mittelpunkt stehen. Die großzügige Zulassung von Forschungs- und Entwicklungskooperationen wird von den Anhängern einer dynamischevolutorischen Wettbewerbsauffassung als problematisch erachtet, weil es nach ihrer Auffassung der Wettbewerb ist, der neue Innovationen hervorbringt, während durch Kooperationen die Dezentralität der Suche nach neuen Problemlösungen vermindert und folglich die Evolutions- und Anpassungsfähigkeit des Marktsystems an neue Herausforderungen reduziert wird 87 . Hält man sich die Entwicklungen bei der Anwendung von Art. 85 EWGV auf horizontale Vereinbarungen vor Augen, so stellt man fest, dafl die EG-Kommission zwar gegen Kartelle, die sich auf Preise, Quoten sowie Marktaufteilungen beziehen, weiterhin konsequent vorgeht, aber gegenüber Vereinbarungen bei anderen Aktionsparametem eine zunehmend großzügigere Einstellung entwickelt. Dies zeigt sich nicht nur bei Einzelfreistellungen von Forschungskooperationen, sondern auch in Bezug auf Spezialisierungsvereinbarungen sowie in der wettbewerbsrechtlichen Behandlung von kooperativen Gemeinschaftsunternehmen, für die es einen neuen Entwurf der EG-Kommission für Leitlinien gibt, nach dem ihre Zulassung wesentlich erleichtert werden soll88. Dabei macht die EG-Kommission deutlich, daß für Einzelfreistellungen bei Gemeinschaftsun84

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In diesem Zusammenhang ist das von der EG-Kommission für die Beurteilung von Gemeinschaftsunternehmen 1983 eingeführte 'realistische Wirtschaftskonzept' anzuführen, mit dem die Frage beantwortet werden soll, wann zwischen Unternehmen potentieller Wettbewerb vorliegt (vgl. EG-Kommission, 1992a, S. 3; 1984, S. 51 ff.). Anhand verschiedener Fragen prüft die EG-Kommission hierbei, ob die beteiligten Unternehmen fähig wären, auch jeweils alleine die Entwicklung oder Produktion der betreffenden Güter durchzuführen. Weiterhin wird auf die größeren Anreize fOr Innovationen hingewiesen, weil sich nun die Vorteile aus der Verwertung der Forschungsergebnisse besser aneignen lassen, so daß sich das (von Arrow, 1971, aufgezeigte) Problem der Unterinvestition in Forschung und Entwicklung reduzieren würde (Marktversagen). Vgl. hierzu Jacquemin, 1988, S. SS3 ff. Vgl. Korah, 1987, S. 18 ff.); hier wird die weitgehende Parallelität von industriepolitischen Argumenten für die Zulassung von Forschungskooperationen für die Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit mit der Argumentation der Chicago-Schule deutlich. Vgl. hierzu insbesodere Röpke, 1990; kritisch zur Freistellungspraxis bei Forschungskooperationen MOschel, 1985, S. 261 f.; Ullrich, 1988, S. 125 ff. u. S. 144 f. Vgl. EG-Kommission, 1992a und 1992b.

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ternehmen erst die Marktbeherrschungsschwelle eine ernsthafte Grenze darstellt89 und auch Fälle jenseits dieser Grenze bei entsprechenden objektiven Vorteilen durchaus freistellungsfahig sind (EG-Kommission, 1992b, S. 18 f.)- Die EG-Kommission denkt auch daran, die Grenzen maximal zulässiger Marktanteile für eine Zusammenarbeit bei der Produktion bei verschiedenen Gruppen freistellungsverordnungen zu erhöhen und erstmals auch einen gemeinsamen Vertrieb (bis zu einem Marktanteil von zehn Prozent) zuzulassen (EG-Kommission, 1992b, S. 3). Durch diese Aufweichungen des Kartellverbots kommt es vor allem zu einer zunehmenden Einebnung des Unterschieds zwischen der wettbewerbsrechtlichen Behandlung von Konzentrations- und Kartelltatbeständen. Dieses relativ strikte Vorgehen gegenüber Preis-, Mengen- und Marktaufteilungskartellen mit der gleichzeitig großzügigen Zulassung von Kooperationen anderer Aktionsparameter spiegelt deutlich die Denkkategorien der Chicago-Schule wider, die Wettbewerbsbeschränkungen nur in Verhaltensweisen sehen kann, die zu Outputrestriktionen fuhren. Nicht berücksichtigt wird dabei, daß Wettbewerb mit allen Aktionsparametern geführt wird. Insbesondere wird hierdurch die ordoliberale Idee eines allgemeinen Kartellverbots weiter zurückgedrängt. 4.

Zusammenfassende Darstellung der wettbewerbskonzeptionellen Grundlagen der Auslegung von Art. 85 EWGV Mit dem Art. 85(3) EWGV war im europäischen Wettbewerbsrecht von Anfang an eine systematische Durchbrechung des allgemeinen Kartellverbots des Art. 85(1) EWGV bei Vorliegen ökonomischer Vorteile eingebaut. Zwar orientiert sich das europäische Wettbewerbsrecht bei der Auslegung von Art. 85(1) EWGV weiterhin grundsätzlich daran, ob durch Vereinbarungen die Handlungsfreiheit der Marktteilnehmer eingeschränkt wird, was ordoliberalen Überlegungen entspricht, aber die umfangreiche Freistellungspraxis wird zunehmend von ökonomischen Opportunitätsgesichtspunkten dominiert. Hierbei wird meist argumentiert, daß solche vertikalen oder horizontalen Vereinbarungen, die die (ordoliberal verstandene) Wettbewerbsfreiheit der betreffenden Unternehmen beschränken, notwendig seien, um bestimmte - offensichtlich als gewünscht bzw. effizient erkannte - Marktergebnisse zu realisieren. Im Hintergrund steht dabei immer die Vorstellung einer Abwägung zwischen bestimmten 'objektiven' Vorteilen und den Nachteilen für den Wettbewerb. Der große, diskretionäre Spielraum der EG-Kommission in Bezug auf Freistellungen

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Hierbei ist zu bedenken, daß nach der Entwicklung der Fallpraxis der europäischen Fusionskontrolle die Marktbeherrschungsschwelle wesentlich höher liegt als im deutschen Kartellrecht, wobei zusätzlich die EG-Kommission oft durchaus großzügig von gemeinschaftsweiten (und nicht nationalen) Märkten ausgeht.

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nach Art. 85(3) EWGV90 kann sowohl im Sinne der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs als auch mit industriepolitischen Überlegungen unterschiedlichster Art ausgefüllt werden. Einen industriepolitisch orientierten Einzelfallinterventionismus im Rahmen des Art. 85(3) EWGV würden alle wettbewerbsorientierten Ansätze problematisch finden. Als besonders kritisch wird dies jedoch von der ordoliberalen und österreichischen Variante des Konzepts der Wettbewerbsfreiheit gesehen, die beide allgemeine Regeln in den Mittelpunkt stellen und alle interventionistischen Eingriffe ablehnen91. Vertreter der Chicago-Schule möchten deshalb viele Sachverhalte, die im Augenblick von der EG-Kommission nach Art. 85(3) EWGV freigestellt werden, bereits als nicht unter Art. 85(1) EWGV fallend der Regulierungskompetenz der EG-Kommission entziehen. Mit ihrem Plädoyer, Vereinbarungen, die die Effizienz fördern, als nicht wettbewerbsbeschränkend im Rahmen einer 'Rule of Reason' gar nicht erst unter Art. 85(1) EWGV fallen zu lassen, würde es den Vertretern der Chicago-Schule zwar gelingen, die diskretionären Spielräume der EG-Kommission einzuschränken, aber auch dies würde keiner 'per se'-Regel entsprechen und den Trend zu einer zunehmenden Einbeziehung von ökonomischen Opportunitätsgesichtspunkten bei der Anwendung des Art. 85 EWGV noch weiter verstärken. VHI. Zur Entwicklung der Wettbewerbskonzeption der Europäischen Gemeinschaft im Spannungsfeld verschiedener wettbewerbstheoretischer Ansätze Die obigen Untersuchungen konnten nur einige Schlaglichter auf die wettbewerbskonzeptionellen Grundlagen des umfangreichen und komplexen Gebiets des europäischen Wettbewerbsrechts werfen. Trotzdem dürften etliche Entwicklungslinien deutlich geworden sein. Nicht überraschend ist zunächst, daß der Entscheidungspraxis des europäischen Wettbewerbsrechts kein einheitliches Wettbewerbskonzept zugrundeliegt, sondern daß die Einflüsse einer ganzen Anzahl unterschiedlicher Ansätze nachgewiesen werden können. Die Untersuchung der Ziele der europäischen Wettbewerbspolitik wies durch die starke Betonung offener Märkte zwar der Wettbewerbsfreiheit eine hohe Bedeutung zu. 90 91

Dieser ist auf die Rechtsprechung des EuGH zurückzuführen, durch die sehr viele Verhaltensweisen als nach Art. 85(1) EWGV wettbewerbsbeschränkend angesehen wurde. Insbesondere Vath hat aus österreichischer Sicht in seiner Untersuchung der Rechtsprechung des EuGH diesem vorgeworfen, mit seinen Urteilen "sich Interventionsspielräume anzueignen, die einer regelgebundenen Kontrolle entzogen sind" (VOth, 1987, S. 174). In Bezug auf die Beurteilung der Vertriebspolitik in der Metro/Saba-Entscheidung des EuGH: "Die Entlassung einer solchen Entscheidung in den Verantwortungsbereich der beteiligten Wirtschaftsakteure hätte die Richter folglich ihrer Interventionsmöglichkeiten beraubt und bei ähnlich gelagertem Sachverhalt eine Orientierung an der eigenen Zielfunktion 'funktionsfähigen' Wettbewerbs unmöglich gemacht" (ebenda, S. 182); ähnlich auch

Korah, 1990, S. 94.

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Durch das Verfolgen eines ganzen Bündels unterschiedlicher Ziele jedoch wird die europäische Wettbewerbspolitik stark von Argumentationsmustem der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs dominiert. Das Problem, daß sich eine, bisher allerdings noch kaum konkret eingetretene Tendenz herausbilden könnte, zunehmend allgemeine Vertragsziele bei der Auslegung der Wettbewerbsregeln einzubeziehen, wird sich durch den Vertrag von Maastricht mit seiner Aufblähung des Zielkatalogs weiter verstärken (zu den diesbezüglichen industriepolitischen Gefahren vgl. Streit, 1992; MOschel, 1992; Mestmäcker, 1992b). Die Schaffung eines einheitlichen Marktes war immer ein zentrales Ziel des Europäischen Gerichtshofs und der EG-Kommission. Insofern muß das Eintreten für die Öffnung nationaler Märkte auch (und vielleicht mehr) diesem integrationspolitischen Ziel als dem des Schutzes der Wettbewerbsfreiheit zugeschrieben werden. In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, daß der Europäische Gerichtshof zwar die Wettbewerbsregeln für den Kern der Wirtschaftsordnung der Gemeinschaft hält, aber bisher nicht entschieden hat, "daß diese politische Forderung rechtliche Qualität besitzt, daß also Gemeinschaftsregelungen rechtswidrig und damit nichtig sind, wenn sie dem 'effet utile' der Wettbewerbsregeln widersprechen" (Everling, 1990, S. 1007). Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zeige zwar eine "wettbewerbsorientierte, marktwirtschaftliche Tendenz, hat aber bisher nicht ein Stadium erreicht, in dem davon gesprochen werden könnte, daß sie eine bestimmte Wirtschaftsordnung für den Gemeinsamen Markt festlegt. Dies überläßt der Gerichtshof den politischen Organen, denen er nach seinem Selbstverständnis die politische Verantwortung weder abnehmen kann noch will" (ebenda)92. Ob der im Vertrag von Maastricht niedergelegte "Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbeweib" (Art. 3a(l) EWGV) an dieser Zurückhaltung des Europäischen Gerichtshofs etwas ändert, kann hier nicht beurteilt werden (zu der Diskussion um die europäische Wirtschaftsverfassung vgl. Mestmäcker, 1987; Basedow, 1992). Von der theoretischen Konzeption her beruht die Anwendungspraxis des europäischen Wettbewerbsrechts stark auf der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs, da sie sich immer noch sehr am Struktur-Verhaltens-Ergebnis-Paradigma orientiert. Andererseits können in der Fusionskontrolle auch sehr hohe Marktanteile durch andere Beurteilungskriterien relativiert werden, so daß die Schwelle für die Feststellung von marktbeherrschenden Stellungen eher zu steigen scheint. Zwar bleibt auf diese Weise immer noch die grundsätzliche Marktstrukturorientierung erhalten, aber die massive Kritik der Chicago-Schule und der Österreicher scheint in zunehmend großzügigeren 92

Vgl. ebenfalls Everling (1982, S. 311 ff.), wo er von "wirtschaftspolitischer Zurückhaltung" und "ordnungspolitischer Neutralität" des EuGH spricht.

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Beurteilungsstandards ihren pragmatischen Niederschlag zu finden. Dagegen ist die Mißbrauchsaufsicht immer noch stark von marktergebnisorientierten Vorstellungen geprägt (Ausbeutungsmißbrauch). Bei der Feststellung des Behinderungsmißbrauchs entsteht die Gefahr, vorschnell vorab zu normieren, was denn nun der 'normale' Wettbewerb sei, und damit auch prokompetitive, aber unerwünschte Verhaltensweisen als Verstoß gegen den 'Leistungswettbewerb' zu disqualifizieren. Bei der Anwendung des Kartellverbots von Art. 85 EWGV werden ordoliberale Argumentationen, die an den durch Vereinbarungen bewirkten Handlungsbeschränkungen der Marktteilnehmer ansetzen und sich für eine möglichst weitgehende Durchsetzung eines allgemeinen Kartellverbots einsetzen, immer weiter zurückgedrängt. Dies geschieht durch Argumentationen über die ökonomische Vorteilhaftigkeit solcher Vereinbarungen (Chicago-Schule) oder industriepolitische Erwägungen zur Erreichung bestimmter (Vertrags-)Ziele. Zusätzlich werden sie dabei indirekt von den auf strikter Vertragsfreiheit bestehenden Österreichern unterstützt. In jedem Fall jedoch führt die zunehmende Berücksichtigung ökonomischer und industriepolitischer Opportunitätsgesichtspunkte bei der wettbewerbsrechtlichen Behandlung von Kartellen zu einer Ausweitung des Spielraums für diskretionäre Eingriffe in die Wettbewerbsprozesse. Die Auseinandersetzung zwischen einer ausschließlich an Wettbewerb orientierten Wettbewerbspolitik und jenen Konzepten, die auch industriepolitische Erwägungen oder andere sonstige Vertragsziele bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln berücksichtigen wollen, wird weiter zunehmen. Gerade um diese Auseinandersetzung in der Wettbewerbspolitik aber adäquat führen zu können, ist es wichtig, sich klar vor Augen zu halten, daß der lange bestehende Konsens, was unter einer rein an Wettbewerbskriterien orientierten Wettbewerbspolitik zu verstehen ist und von welchen Kriterien und Standards sie ausgehen soll, zunehmend zu zerbrechen droht, da inzwischen erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Ansätzen innerhalb der Gruppe der rein wettbewerbsorientierten Konzeptionen bestehen. So konnten wir in mehreren Bereichen überraschende Koalitionen zwischen höchst unterschiedlichen Ansätzen feststellen. Beispielsweise plädieren im Rahmen der europäischen Fusionskontrolle sowohl die Chicago-Schule als auch industriepolitische Konzepte für Ausnahmen vom Zusammenschlußverbot jenseits der Marktbeherrschungsschwelle, wenn der Zusammenschluß bestimmte ökonomische Vorteile nach sich zieht, die die Nachteile für den Wettbewerb überwiegen. In ähnlicher Weise argumentieren beide Ansätze bei der wettbewerbsrechtlichen Behandlung von Kartellen. In allen diesen Fällen wird für eine weniger restriktive Praxis plädiert. Dies wird zusätzlich - wenn auch indirekt - von der österreichischen Wettbewerbsauffassung unterstützt, weil diese gegenüber wettbewerbsrechtlichen Eingriffen in die Vertragsfreiheit generell negativ

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eingestellt ist. Demgegenüber steht die vergleichsweise restriktive traditionelle deutsche Auffassung einer rein am Wettbeweib orientierten Wettbewerbspolitik, die immer noch stark geprägt ist sowohl von ordoliberalen Einflüssen als auch von der Marktstrukturorientierung der Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs. Die Diskussionsfronten auf den einzelnen Gebieten des Wettbewerbsrechts verlaufen somit oft weniger zwischen industriepolitischen und wettbewerbsorientierten Positionen, sondern kreuz und quer zwischen all diesen Ansätzen mit jeweils wechselnden Koalitionen. Da, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen, sowohl industriepolitische Ansätze einerseits als auch Argumentationen der Chicago-Schule und der Österreicher andererseits in der wissenschaftlichen Diskussion weiter an Gewicht zu gewinnen scheinen, ist eine weitere Zurückdrängung der eher restriktiven traditionellen deutschen wettbewerbspolitischen Position wahrscheinlich. Ob dies wettbeweibstheoretisch richtig oder falsch ist, ist eine Frage, die hier nicht erörtert werden kann. Es läßt sich jedoch vermuten, daß angesichts der Verminderung der Gemeinsamkeiten verschiedener wettbewerbskonzeptioneller Ansätze die bisher eher unter der Oberfläche schwelende Verunsicherung über die Grundlagen der Wettbewerbspolitik zunehmen wird. Es ist bei weitem nicht mehr so klar wie früher, was unter einer wettbewerbsorientierten Wettbewerbspolitik konkret zu verstehen ist. Berücksichtigt man zusätzlich den aufgrund der zunehmenden Politisierung schwer einschätzbaren industriepolitischen Einfluß durch den Vertrag von Maastricht, so muß für die zukünftige Entwicklung der europäischen Wettbewerbspolitik eine erhebliche und aus ordnungspolitischer Sicht gefahrliche Offenheit konstatiert werden. Die Tendenz des Europäischen Gerichtshofs, sich gerade nicht auf ein wettbeweibspolitisches Konzept festzulegen, sondern pragmatisch vorzugehen und sich offen zu halten für neue Entwicklungen (Everling, 1990, S. 1008), ist in diesem Zusammenhang nicht beruhigend.

Zur Wettbewerbskonzeption im europäischen Wettbewerbsrecht

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Unternehmensverfassung und europäische Integration Karl von Delhaes, Ulrich Fehl und Carsten Schreiter, Marburg

I. Problemstellung und Abgrenzung II. Der (vermeintliche) Regelungsbedarf aus dem Zielkatalog der Gemeinschaft

320 321

III. Die EG-Regelungen fündie Unternehmrasverfassung 1. Die Harmonisierungsaktivitäten 2. Rechtsvereinheitlichung durch Schaffung von Gesellschaftsformen auf der EG-Ebene a. Die Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung (EW1V) b. Die Societas Europaea (SE) 3. Schlußfolgerungen

324 324

IV. Der erforderliche Grad an Harmonisierung

332

V. Plädoyer für den zwischenstaatlichen Wettbeweib der Untemehmensverfassungen

335

Anhang:

Die Verwendungsmöglichkeiten der Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung

327 327 330 331

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Ulrich Fehl, Karl von Delhaes und Carsten Schreiter

I.

Problemstellung und Abgrenzung Unternehmensverfassungen sind integraler Bestandteil von Wirtschaftsordnungen. Auch wenn sie nicht für diese konstitutiv sind, so hängt dennoch die Qualität der ökonomischen Ergebnisse in nicht unerheblichem Umfang von der Ausgestaltung ihrer drei grundsätzlichen Merkmale ab, der Rechtsformen, der Formen der betrieblichen Willensbildung und der Formen der betrieblichen Ergebnisrechnung. Die Gesellschaftsformen beeinflussen die ökonomischen Handlungen, und sie bestimmen auch, wann eine Unternehmung Konkurs anmelden muß, wann sie aus dem Wettbewerbsprozeß als ausgeschieden zu gelten hat. Die Haftungsregelung, die insbesondere Eucken (1990, S. 279 ff.) thematisiert, wirkt sich sowohl auf die Güte der Entscheidungen als auch die Möglichkeiten der Konzentration durch Zusammenschlüsse aus. Die Qualität der Investitions- und Finanzierungsentscheidungen, die auch von den Haftungsregeln abhängt, hat wiederum Rückwirkungen auf den Kapitalmarkt und seine Verfassung. Dies wird offensichtlich, wenn man das Ausmaß des gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutzes in die Betrachtung einbezieht. Ferner regelt das Gesellschaftsrecht die Unternehmensverbindungen, die Kooperationsmöglichkeiten usw., wodurch Auswirkungen auf die Konzentration und die Wettbeweibsintensität ausgehen können. Hier findet sich daher ein wichtiger Berührungspunkt mit dem Wettbewerbsrecht. Unternehmensverfassungen werden bekanntlich auch durch die Formen der betrieblichen Willensbildung charakterisiert. Hier ergeben sich Verbindungen zum Arbeitsmarkt, zu seinen Institutionen (insbesondere den Gewerkschaften) und zur Mitbestimmungsproblematik. Andererseits spielt die betriebliche Willensbildung für die Anreizstrukturen eine wichtige Rolle und wirkt somit auf Qualität und Ausmaß der ökonomischen Leistungen und über die abgeleitete Nachfrage auf die Faktormärkte zurück. Beispielhaft sei hier an das Modell der Arbeiterselbstverwaltung erinnert, das heute allerdings keine besondere Relevanz mehr besitzt, obwohl immer wieder Versuche unternommen werden, auch Produktivgenossenschaften zu gründen. Damit ist zugleich auch das dritte Merkmal der Unternehmensverfassung angesprochen, die betriebliche Ergebnisrechnung. Auch von ihr gehen entsprechende Wirkungen auf die Anreizstrukturen aus, je nachdem ob es sich um das Gewinnerzielungs-, Kostendeckungs-, Einkommens- oder Planerfüllungsprinzip handel (vgl. Schüller, 1992, S. 8). Da es im folgenden um die Betrachtung von Marktwirtschaften geht, genauer, um die privatwirtschaftlichen Sektoren der EG-Länder, ist-das hier relevante Prinzip das der Gewinnerzielung. Dieser kurze Blick auf die vielfältigen Interdependenzen verdeutlicht nicht nur die Bedeutung der Unternehmensverfassung für die Ordnung der Wirtschaft. Es zeigt sich auch, daß Veränderungen des Ordnungsrahmens Auswirkungen auf die Unternehmens-

Unternehmensverfassung und europäische Integration

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Verfassung besitzen und daß auch umgekehrt die Qualität des Ordnungsrahmens von ersteren abhängt (vgl. Leipold und Schüller, 1986). Es sind diese Interdependenzen, die die Unternehmensverfassung in Beziehung zur europäischen Integration bringen. Denn erstens sind mit dem angestrebten Binnenmarkt Veränderungen des Ordnungsrahmens verbunden. Zweitens ist ein neuer oder modifizierter europäischer Ordnungsrahmen ggf. durch neue oder veränderte Unternehmensverfassungen auszufüllen. Damit schält sich die eigentliche Problemstellung dieses Beitrags heraus: Die EGKommission sieht auch im Bereich der Unternehmensverfassungen offenbar erheblichen ordnungspolitischen Handlungsbedarf, der sich in verschiedensten gesellschaftsrechtlichen Harmonisierungs- und sogar Vereinheitlichungsvorhaben manifestiert. Entsprechend der bislang wenig ausgeprägten föderativen Einstellung werden diese Vorhaben auf EG-Ebene realisiert, wofyei man sich des politischen Kompromißmechanismus bedient. Dieser administrative Aktivismus gibt allerdings einige Fragen auf. So ist zuerst zu fragen, weshalb die europäische Integration ordnungspolitischen Handlungsbedarf, konkreter: Harmonisierungsbedarf oder gar Bedarf zur Einführung von europäischen Gesellschaftsformen auslösen sollte. Des weiteren ist es interessant zu erfahren, in welchem Ausmaß derartige Angleichungsvorhaben durchgeführt werden sollten. Nicht zuletzt ist grundsätzlich in Frage zu stellen, ob die EG diese Vorhaben überhaupt durchführen sollte oder nicht besser den einzelnen EG-Mitgliedern die ordnungspolitische Verantwortung selbst überließe, d.h, diese dem zwischenstaatlichen Wettbewerb überantwortete. II.

Der (vermeintliche) Regelungsbedarf aus dem Zielkatalog der Gemeinschaft Das Ziel der EG besteht in der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes und damit in der Schaffung binnenmarktlicher Verhältnisse, d.h. in der Schaffung eines Marktes ohne Hindernisse, eben eines Wettbewerbsmarktes. Die Artikel 54 Abs. 3 Buchst, g, 100 und 100a des EWG-Vertrags betreffen die Unternehmensverfassung und legen dabei fest, daß Rechtsangleichungen dort zu betreiben sind, wo das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarktes (vgl. Art. 3 EWG-Vertrag) dies erfordert1. Da die Idee einer Totalharmonisierung aufgrund der mittlerweile gemachten Erfahrungen als nicht mehr wünschenswert, ja sogar als nachteilig erachtet wird, ist daher zwischen Bereichen zu unterscheiden, in denen eine Harmonisierung für unbedingt erforderlich gehalten wird, und solchen, in denen das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung Platz greifen soll.

Für eine geraffte Übersicht über die Artikel, die sich auf die europäische Rechtsangleichung beziehen, vgl. Schwartz (1988, S. 334 f.).

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Ulrich Fehl, Karl von Delhaes und Carsten Schreiter

Eine wesentliche Voraussetzung des Binnenmarktes ist zum einen die Beseitigung von Marktzutrittsschranken und zum anderen die Gewährung gleicher Handelnsmöglichkeiten in jedem der EG-Mitgliedsländer. Neben den Unterzielen des freien Warenund Faktorverkehrs innerhalb der EG soll durch die Gewährung der Niederlassungsfreiheit auch für Gesellschaften (Art. 58 EWG-Vertrag) deren unternehmerische Betätigung (Unternehmensgründung und -leitung, Agenturgründung, Gründung von Zweigniederlassungen, Filialen sowie Tochtergesellschaften) in allen EG-Staaten ungehindert möglich sein. Ohne diese Möglichkeiten müßten zwangsläufig die sich aus dem Gemeinsamen Markt ergebenden wirtschaftlichen Potentiale in ganz erheblichem Umfang ungenutzt bleiben. Die einzelnen EG-Mitgliedsstaaten weisen nun recht verschiedenartige Unternehmensverfassungen auf. Diese unterscheiden sich vornehmlich im Hinblick auf Merkmale der Rechtsformai und der betrieblichen Willensbildung und hier insbesondere der jeweiligen Mitbestimmungsregelungen. Im allgemeinen wird aus dieser Heterogenität anscheinend der Schluß gezogen, derartige Unterschiede verzerrten erstens den Wettbewerb im Binnenmarkt und brächten zweitens zu hohe Transaktionskosten einer EGweiten Unternehmertätigkeit mit sich, wodurch die Potentiale des Binnenmarktes nicht 'optimal' ausgenutzt werden könnten. Diese beiden Sachverhalte sind grundsätzlich zu unterscheiden, weil ein allgemein zu hoher Transaktionskostenpegel keine Verzerrungen des Wettbewerbs nach sich zieht. 1. Wettbewerbsverzerrungen: Wettbewerbsverzerrungen durch verschiedenartige, national gestaltete Regelungen bestehen in asymmetrischen Möglichkeiten der unternehmerischen Betätigung auf den heimischen wie EG-ausländischen Märkten. Man könnte sagen, es handle sich dabei um laufende asymmetrische Informations- bzw. Transaktionskosten, die Unternehmen bestimmter Nationen aufgrund ihrer Unternehmensverfassung im Wettbewerb begünstigen. Eine derartige Begünstigung könnte nämlich dazu führen, daß die Unternehmungen in dieses EG-Land ausweichen, um die dort angebotenen Rechtsformen zu nutzen. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich in einigen Branchen tatsächlich beobachten, z.B. das Ausweichen auf Billigflaggen im Reedereigeschäft. Hierbei sind allerdings die Ausweichmanöver nicht nur auf die Unternehmensverfassung zurückzuführen. Solche Reaktionen in größerem Stil hätten erhebliche Konsequenzen für die benachteiligten Mitgliedsländer. Da diese kaum tatenlos bleiben würden, wäre es durchaus denkbar, daß es zu einem ungezügelten Wettbewerb der Mitgliedsländer um die Schaffung der niedrigsten Standards kommt. Ein solcher Prozeß der 'adversen Selektion' hätte zweifellos erhebliche Konsequenzen für den Wohlstand Europas. Aus diesem Grund müßte deshalb, so könnte man meinen, eine Angleichung der Unternehmensverfassungen auf der Ebene der EG stattfinden, um derartige Fehlent-

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Wicklungen zu unterbinden. 2. Das Transaktionskostenargument: Es ist naheliegend davon auszugehen, daß eine grenzübergreifende unternehmerische Betätigung dann am besten gewährleistet wäre, wenn in allen National identische Unternehmensverfassungen vorlägen. Dann, so könnte man meinen, seien die Transaktionskosten der Betätigung im EG-Ausland am geringsten. Genaugenommen handelt es sich hier um ein etwas anders gelagertes Eingreifkriterium: Es geht hier nicht um das generelle Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, sondern um seine Funktionsverbesserung, was bereits andeutet, daß der aus den Artikeln des EWG-Vertrags ableitbare Handlungsbedarf recht weit ausgelegt wird. Und sollten die Rechtsformen hinsichtlich der sich durch den Binnenmarkt ergebenden unternehmerischen Möglichkeiten ungenügend sein, so ließen sich weitere geeignete Unternehmensformen zur Funktionsverbesserung auf der EG-Ebene einführen. Gerade diese letztere Möglichkeit könnte insbesondere geeignet sein, das Transaktionskostenniveau der grenzüberschreitenden unternehmerischen Betätigung zu senken. Aber auch diese These darf nicht ungeprüft übernommen werden. Eine Harmonisierung oder Vereinheitlichung muß natürlich nicht nur aus 'ehrenwerten' Gründen angestrebt werden. So ist es durchaus denkbar, daß die EG auch solche Unternehmensformen durchzusetzen versucht, die für industriepolitische Maßnahmen geeignet sind2. Hier bieten sich grenzüberschreitende Kooperations- bzw. Gesellschaftsformen geradezu an. Nicht selten liest man im Schrifttum über die EG-Regelungen, es sei wichtig, die Bildung international wettbewerbsfähiger Unternehmungen - insbesondere solcher, die den Amerikanern oder Japanern Paroli bieten könnten - zu unterstützen. In die gleiche Richtung scheinen auch die Argumente zu zielen, die eine Verbesserung der Innovationsaktivitäten anstreben und dabei die Schaffung von (insbesondere horizontalen) Kooperationsformen für eine wesentliche Unterstützung halten, was teilweise jedoch die Forderung wettbeweibsrechtlicher Ausnahmeregelungen (i.w.S.) impliziert (vgl. Jorde und Teece, 1991, S. 130 ff., 137 f.). Bevor die aufgeworfenen Thesen im einzelnen geprüft werden, erscheint es zweckmäßig, sich die Aktivitäten der EG-Kommission auf diesem Gebiet etwas näher anzuschauen. Um die Darstellung der gesellschaftsrechtlichen Regelungen übersichtlich zu halten, werden die durchgeführten oder geplanten Veränderungen der Unternehmensverfassungen des Finanzsektors ausgeklammert.

Das grundsätzliche Einfallstor für industriepol¡tische Aktivitäten der EG ist der Art. 130 n.F. nach Maastricht (vgl. MOschel, 1992).

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III. Die EG-Regelungen für die Unternehmensverfassung 1. Die Hannonisierungsaktivitäten Betrachten wir zuerst die von der EG als dringlich erachteten Regelungsbereiche. Diese werden vermutlich durch die bisher eingebrachten und teils bereits verabschiedeten Richtlinien indiziert, die im Zusammenhang mit der Behandlung gesellschaftsrechtlicher Unterschiede stehen. Ohne auf diese Richtlinien oder Richtlinienvorschläge inhaltlich näher eingehen zu können, sollen diese wenigstens kurz aufgelistet werden: A. In Kraft getretene gesellschaftsrechtliche Richtlinien (vgl. Neye, 1988, S. 134): - Erste Richtlinie (9.3.68) über die Publizitätspflichten von Kapitalgesellschaften. - Zweite Richtlinie (13.12.76) über die Gründung, Erhaltung und Änderung des Kapitals von Aktiengesellschaften. - Dritte Richtlinie (9.10.78) über die innerstaatliche Verschmelzung von Aktiengesellschaften. - Vierte Richtlinie (25.7.78) über die Bilanzierung bei Kapitalgesellschaften. - Sechste Richtlinie (17.12.82) über die Spaltung von Aktiengesellschaften. - Siebente Richtlinie (13.6.83) über die Konsolidierung von Bilanzen im Konzern. - Achte Richtlinie (10.4.84) betreffend die Qualifikation der Abschlußprüfer. B. Vorschläge: - Fünfte gesellschaftsrechtliche Richtlinie über die Verfassung (Struktur) von Aktiengesellschaften (erste Fassung von 1972, geändert 1983) (sog. Struktur-Richtlinie). - Neunte Richtlinie (sog. Konzemrechts-Richtlinie) von 1974/75 und überarbeiteter Entwurf von 1984. - Zehnte gesellschafitsrechtliche Richtlinie über die grenzüberschreitende Verschmelzung von Aktiengesellschaften. - Elfte Richtlinie über die Offenlegung von Zweigniederlassungen von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen. - Zwölfte Richtlinie über die Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter (Einpersonen-GmbH). - Dreizehnte Richtlinie betreffend öffentliche Übernahmeangebote (Take-overRichtlinien von 1989) Betrachtet man die bereits realisierten Richtlinien, so fällt auf, daß es sich dabei im wesentlichen um Harmonisierungen der Rechnungslegung handelt (l.,4.,7.,8. Richtlinie, vgl. Kuhn, 1991, S. 62), während die tatsächlichen Harmonisierungen der Unternehmensverfassungen bislang nicht über das Vorschlagsstadium hinausgekommen sind. Was die vorgeschlagenen Richtlinien angeht, so zeigen sich deren Umsetzungsprobleme vor allem in den national unterschiedlichen Mitbestimmungsgesetzen3. Es sei nur So. ergeben sich bei der grenzüberschreitenden Fusion durch Aufnahme Probleme mit der Mitbestimmung, wenn der Aufsichtsrat der aufgenommenen Gesellschaft verschwindet und das EG-Land der aufnehmenden Unternehmung entweder keinen Aufsichtsrat kennt (monistisches Modell) oder gänzlich andere Mitbestimmungsgesetze besitzt. Ebenso weist der Vorschlag einer fünften Richtlinie eindringlich auf die Abstimmungsprobleme hin, wenn sowohl das dualistische als auch das monistische System in den Mitgliedstaaten zur Auswahl gestellt werden soll sowie vier Mitbestimmungsmodelle (drei für das dualistische Modell) optional bereitgestellt werden, wobei es sich anscheinend um die ohnehin vorzufindenden europäischen Grundtypen handelt.

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am Rande darauf hingewiesen, daß dabei ein Hindernis die nach wie vor geltende Einstimmigkeitsregel ist, die u.a. im Falle der Berührung der nationalen Mitbestimmungsregeln bei der Beschlußfassung anzuwenden ist4. Exemplarisch sei hier die sog. Strukturrichtlinie (5. Richtlinie) skizziert, bei der es um die Angleichung der Struktur und der Mitbestimmung in der Aktiengesellschaft geht. Sie ist zudem deshalb interessant, weil parallel zu diesem Harmonisierungspaket an einer Verfassung für eine supranationale europäische Aktiengesellschaft gearbeitet wird. Die hier angestrebte Harmonisierung richtet sich auf Struktur und Mitbestimmung. Mit Struktur sind die Regeln und Pflichten der verschiedenen Gesellschaftsorgane und ihr Verhältnis zueinander gemeint (vgl. Di Marco, 1991, S. 10). So sind insbesondere die Hauptversammlung und ihre Rechte und Pflichten sowie die Verwaltungsstruktur der AG betroffen. Für letztere ist ursprünglich die dualistische Variante als Standard vorgeschlagen worden. Da dieser Vorschlag auf Widerstand gestoßen ist, sind nunmehr beide Varianten, die dualistische und monistische, optional. Die Harmonisierung habe, so das Ziel, den Aktionären einen gleichwertigen Schutz zu gewähren, so daß wegen der Gleichwertigkeit die Vereinheitlichung überflüssig wird. Die Richtlinie steht im Ruf der 'Überperfektion', weil sich die Vorschläge an den jeweils schärfsten Standards der EG-Mitglieder orientieren, so daß Kuhn (1991, S. 68) von einer "additiven Integration" spricht. Bereits aus diesem Grund, so die Einschätzungen, werde der Harmonisierung wenig Erfolg beschieden sein. Des weiteren wird von deutschen Juristen bedauert, daß aufgrund dieser additiven Praktik das deutsche Aktiengesetz nicht dereguliert werde (vgl. Lütter, 1988, S. 195 ff.). Was die Regelungsvorschläge zur Mitbestimmung angeht, so sollen die Mitgliedsländer zwischen drei Mitbestimmungsmodellen (in Kombination mit der dualistischen Struktur) wählen können. Dieser Vorschlag versucht, den Extrempositionen Deutschlands und Großbritanniens (nur tarifliche Mitbestimmung) gerecht zu werden, wobei die dritte Variante, das Kooptationsmodell, niederländischen Vorstellungen gerecht zu werden versucht (vgl. hierzu Chmielewicz, 1991, S. 34 ff.). Da die Vorschläge den Charakter von Mindestvorschriften besitzen, sind weitergehende nationale Regelungen zulässig. Insgesamt läßt sich feststellen, daß mit dieser Richtlinie - vielleicht mit Ausnahme einiger Details - keine Harmonisierung erreicht wird, sondern den EG-Mitgliedsländern lediglich die Regeln zur Wahl gestellt werden, die anscheinend ohnehin schon praktiziert werden. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte (Art. 100a) ist die qualifizierte Mehrheitsentscheidung auch auf Bereiche des Gemeinschaftsrechts ausgedehnt worden, für die bislang nach dem EWG-Vertrag die Einstimmigkeitsregel galt (vgl. Neye, 1988, S. 135).

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Die im Juli 1990 verabschiedet«! Richtlinien, die Mutter-Tochter- (90/435/EWG) und die Fusionsrichtlinie (90/434/EWG) sind nur auf den ersten Blick gesellschaftsrechtlich orientiert. Tatsächlich aber geht es in diesen Richtlinien um Ausweichmanöver vor den direkten Steuern, die bislang nicht harmonisiert worden sind (vgl. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft, 1990, Nr. L 22S/1-9). Trotz ihrer steuerrechtlichen Zuordnung besitzen die letztgenannten Richtlinien jedoch auch interessante Wirkungen auf die Struktur von Konzernen. Beide Richtlinien haben das Ziel, zur Errichtung binnenmarktähnlicher Verhältnisse dadurch beizutragen, daß sie die Besteuerungsnachteile der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von EG -Gesell Schäften beseitigen bzw. vermindern sollen. Die MutterTochter-Richtlinie Tegelt die Besteuerung von Gewinnausschüttungen zwischen inländischen Gesellschaften und ihren ausländischen Töchtern und zwischen inländischen Töchtern und Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten innerhalb der EG. Ziel ist die Abschaffung des Quellensteuerabzugs auf beispielsweise Ausschüttungen von EG-Tochtergesellschaften an inländische Muttergesellschaften und folglich die bislang damit verbundene Doppelbesteuerung. Dadurch wird es überflüssig, ausländische Töchter - wie bisher - möglichst direkt der inländischen Konzernmutter zu unterstellen, um die Quellensteuer gering zu halten. Die Fusionsrichtlinie bezieht sich nur auf Kapitalgesellschaften. Der Zweck dieser Richtlinie besteht darin, grenzüberschreitende Zusammenschlüsse und Umstrukturierungen von Kapitalgesellschaften steuerneutral zu ermöglichen, um so auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähige Unternehmen zu schaffen (vgl. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft, 1990, Nr. L 225/1 und Herzig, 1992, S. 7). Das heißt, die dazu erforderlichen Vorgänge sollen bei ihrer grenzüberschreitenden Anwendung die gleiche steuerliche Behandlung erfahren, als wären sie innerhalb eines Mitgliedslandes durchgeführt worden. Es handelt sich bei diesen Vorgängen um a) b) c) d)

grenzüberschreitende Fusionen, grenzüberschreitende Spaltungen, Einbringung von Teilbetrieben (Tausch von Betriebsteilen gegen Anteile), Einbringung von Anteilen (Anteilstausch). Obwohl auf die Details dieser Richtlinien hier nicht eingegangen werden kann, soll wenigstens noch festgehalten werden, daß neben dem Ziel der Schaffung einer einheitlichen Unternehmensleitung durch Verschiebung der divergierenden Interessen von der Geschäftsführungsebene auf die Ebene der Anteilseigner (insbesondere durch die Fusionsrichtlinie: Artikel I I I ) insbesondere die Möglichkeit der Umstrukturierung von

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und europäische

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Konzernen durch die Vorgänge c) und d) betont wird5. Damit sollen sich Konzerne 'optimal' anpassen können (vgl. Herzig, 1992, S. 7). Unter Erhalt der alten Gesellschaften, zumindest als Rechtsmäntel, lassen sie sich umstrukturieren oder ihre Betriebsteile neu ordnen, ohne daß das Problem der verschiedenen Mitbestimmungsregelungen aufgeworfen wird. 2.

Rechtsvereinheitlichung durch Schaffung von Gesellschaftsformen auf der EG-Ebene Bislang war die Rede von Harmonisierungsversuchen. Neben diesen existieren auch Bestrebungen, Unternehmensverfassungen durch Schaffimg zweier Gesellschaftsformen auf dem Verordnungswege den EG-Mitgliedsländern vorzugeben. Es handelt sich um die bereits realisierte Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) und die sich noch im Vorschlags- und Planungszustand befindliche Societas Europaea (SE). a.

Die Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) Die Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung besitzt ihren Ursprung in Frankreich. Dort ist 1967/68 zwischen die Handelsgesellschaft und die reine Kapitalgesellschaft die Rechtsform des Groupement d'intérêt économique (GIE), die als Ausgangspunkt der EWIV betrachtet wird, eingefugt worden (vgl. Blomeyer, 1987, S. 158, oder Ganske, 1988, S. 14). An der EWIV zeigt sich im Grunde genommen, daß eine Harmonisierung der nationalen Gesellschaftsvorschriften gar nicht unbedingt notwendig ist: Sie zielt nämlich nicht auf Rechtseinheitlichkeit (des vorhandenen Rechts), sondern soll nur ein Mittel sein, trotz eines relativ geringen Teils (neu hinzugefügter) rechtlicher Gemeinsamkeiten Kooperationen zu ermöglichen. Dies gelingt, weil sie so geregelt ist, daß Kollisionen mit den nationalen Mitbestimmungsgesetzen, Gesellschaftsformen und direkten Steuern umgangen werden. Den Weg hierzu zeigt die Zieldefinition dieser Gesellschaftsform: "(1) Die Vereinigung hat den Zweck, die wirtschaftliche Tätigkeit ihrer Mitglieder zu erleichtern oder zu entwickeln sowie die Ergebnisse dieser Tätigkeit zu verbessern oder zu steißern; sie hat nicht den Zweck, Gewinn für sich selbst zu erzielen. Ihre Tätigkeit, muß im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Tätigkeit ihrer Mitglieder stehen und darf nur eine Hilfstätigkeit hierzu bilden." (Art. 3). Dadurch, daß die EWIV keine Gewinne erwirtschaften soll, ergeben sich keine Probleme mit der unterschiedlichen Gewinnbesteuerung. Sollten tatsächlich Gewinne an-

Die Vorginge a) und b) sind faktisch noch nicht verfügbar, weil das Gesellschaftsrecht noch keine Regelungen für die dafür erforderliche, grenzüberschreitende Gesamtrechtsnachfolge kennt. Folglich lassen sich Kapitalgesellschaften nur 'auskernen' (vgl. hierzu ausführlich Herzig, 1992, S. 7).

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fallen 6 , so werden sie den Mitgliedern zugerechnet und bei diesen versteuert (Art. 21 Abs. 1 VO und Art. 40 VO). Die EWIV besitzt ferner reinen Hilfscharakter. Das kommt darin zum Ausdruck, daß die Zahl der Arbeitnehmer begrenzt ist (max. 500 7 ) - damit sich keine Großunternehmung in dieser Rechtsform bilden kann. Außerdem entstehen auf diese Weise keine Probleme mit den verschiedenen Mitbestimmungsgesetzen (vgl. Blomeyer, 1990, S. 95). Die EWIV kann von (mindestens zwei) juristischen oder natürlichen Personen8, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben und von denen mindestens ein Mitglied in einem anderen EG-Land ansässig sein muß, gegründet werden. Ein Gründungskapital ist nicht erforderlich. Weil die EWIV selbst Träger von Rechten und Pflichten ist, Verträge abschließen kann usw. und ihre Mitglieder gesamtschuldnerisch unbeschränkt haften, ähnelt sie der OHG 9 . Sie wird steuerlich als Personengesellschaft behandelt. Das oberste Organ der EWIV ist die Mitgliederversammlung. Beschlüsse über Dinge, die obligatorisch der Mitgliederversammlung zugewiesen werden, müssen einstimmig getroffen werden 10 . Der so installierte Individualschutz verhindert, daß z.B. über die Anhebung von Pflichtbeiträgen Mitglieder ausscheiden müssen und dadurch der Kooperationscharakter verlorengeht. Die Geschäftsführung kann durch die Mitglieder selbst oder durch Fremdorganschaft besorgt werden, wobei den Mitgliedern weitgehende Eingriffsrechte zustehen und in Deutschland zudem die Möglichkeit besteht, im Gründungsvertrag vorzusehen, daß die Geschäftsführer jederzeit abberufen werden können (vgl. Blomeyer, 1987, S. 156). Die EWIV ist also als grenzüberschreitende Kooperationsform gedacht, wobei die Ausgestaltung der Gesellschaftsform den genannten Restriktionen Rechnung zu tragen hat. Diese Gesellschaftsform soll es kleinen und mittleren Unternehmungen erlauben, sich durch Kooperationen zusammenzuschließen und so ein europaweites Engagement 6

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10

Das läßt sich aus abrechnungstechnischen Gründen eigentlich kaum vermeiden, wie Überlegungen zum genossenschaftlichen Preissetzungsproblem zeigen (vgl. Fehl und Zürcher, 1993). Im ersten Entwurf von 1984 ist ursprünglich eine Obergrenze von 250 Arbeitnehmern vorgesehen gewesen (vgl. Kolvenbach, 1991, S. 76; Neye, 1988, S. 137). Der EWIV ist der Zugang zu den öffentlichen Kapitalmärkten verwehrt. Vgl. Artikel 23 EGVO. Zu den Einzelheiten vgl. Blomeyer (1987, S. 156 f.) und Art. 4 Abs. 1 lit. a und b VO. Vgl. das Ausführungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 14.04.1988 (BGBl. I S. 514). Ob die EWIV als juristische Person behandelt wird oder als Personengesellschaft, ist den Einzelstaaten vom europäischen Gesetzgeber freigestellt worden (Art. 1 Abs. 2 und 3 VO). Dies wirkt sich auf die steuerliche Behandlung natürlich dann nicht aus, wenn die EWIV keinen Gewinn erwirtschaftet. Die Einstimmigkeitsregel ist also für bestimmte Entscheidungsbereiche zwingend vorgeschrieben, wodurch die EWIV gewisse genossenschaftliche Züge (im idealen Sinne) erhält. Daneben existieren auch Bereiche, in denen die einfache Mehrheit zur Beschlußfassung ausreicht. Hier spielt die im Gründungsvertrag festlegbare Stimmenverteilung unter den Mitgliedern eine Rolle. Dennoch darf kein Mitglied eine Stimmenmehrheit besitzen.

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zu entwickeln. Die EWIV ist für die Organisation einer gemeinsamen Forschung und Entwicklung, Einkaufs- oder Verkaufstätigkeit, Werbung, Produktion von Teilen oder des Vertriebs einer gemeinsamen Handelsmarke usw. zulässig (vgl. Ganske, 1988, S. 31 f. sowie die Übersicht im Anhang). Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig, erlauben aber keinen Zusammenschluß zu Gruppen Selbständiger (z.B. Sozietäten), weil die EWIV selbst keinen freien Beruf ausüben darf, sondern nur eine Hilfsfunktion erfüllen kann (vgl. Kuhn, 1991, S. 65). In gewisser Weise kann die EWIV die Funktion einer Konzentrationsbremse im Binnenmarkt ausüben, ähnlich wie die Genossenschaften auf den heimischen Märkten (vgl. Fehl und Schreiter, 1993). Sie eignet sich aber ebenso als Gesellschaftsform für industriepolitische Maßnahmen, denn auch juristische Personen des öffentlichen Rechts können Mitglied werden. Die starke Ähnlichkeit zu den deutschen Genossenschaften, die insbesondere von Blomeyer herausgehoben wird, ist besonders interessant. Tatsächlich wird dieser Aspekt insbesondere deshalb betont, weil bei dieser Form einer gemeinsamen Tätigkeit davon ausgegangen wird, daß insbesondere Unternehmungen einer Marktseite kooperieren werden, nicht aber Unternehmungen in vertikalen Marktbeziehungen. Diese - bislang noch nicht diskutierte - Möglichkeit hat allerdings wenig mit den traditionellen Genossenschaften zu tun, sondern ähnelt stärker der Bildung organisierter Märkte zwischen vertikalen Stufen. Die Kooperation über vertikale Marktstufen ist insbesondere in der neueren Innovationstheorie diskutiert worden. Dabei wird ein simultanes Innovationsmodell11 verwendet, so daß der zwischen den Marktstufen ablaufende wechselseitige Abstimmungs- oder Koordinationsprozeß herausgestellt wird. Sind mindestens zwei Marktstufen an dem Innovationsprozeß beteiligt, so ergeben sich aufgrund des gegenseitigen Abstimmungs- und Informationsaustauschbedarfs komplexe Koordinationsprobleme, die Innovationen bei fehlenden Organisationsmöglichkeiten behindern können. Unter diesem Gesichtspunkt bekäme die EWIV eine besondere Qualität hinsichtlich der damit realisierbaren Innovationspotentiale. Und gerade dieser Gesichtspunkt ist für die Vorteilsbilanz des Gemeinsamen Marktes natürlich viel wichtiger als irgendwelche Verbesserungen der statischen Allokation. Alls der betriebswirtschaftlichen und juristischen Einschätzung heraus bekommt die Konstruktion der EWIV allerdings keine guten Noten (vgl. Kuhn, 1991, S. 63 ff., S. 65). Erstens ist die EWIV mit erheblichen zusätzlichen Publizitätspflichten belastet 11

Das simultane Innovationsmodell behandelt den wechselseitigen Koordinationsprozeß zwischen den Marktstufen als einen Komplex, der die beteiligten Unternehmen, den in ihnen stattfindenden Abstimmungsprozeß sowie die Rückkopplungen erfaßt. Es werden eben nicht einzelne Stufen des Innovatioiisprozesses isoliert und seriell behandelt (vgl. Jorde und Teece, 1991, S. 128 ff.).

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(vgl. Ganske, 1988, S. 59). Zweitens ist die unbeschränkte gesamtschuldnerische Haftung nicht besonders attraktiv. Am gravierendsten ist drittens die Vorspiegelung einer Rechtseinheitlichkeit durch das europaweit identische Etikett, einer Einheitlichkeit, die aber tatsächlich gar nicht besteht. Aufgrund der nationalen Dispositionsspielräume besteht nämlich die Wahl zwischen EWIVs bestimmten nationalen Rechts, so daß die beabsichtigte Vereinfachung der grenzüberschreitenden mittelständischen Unternehmertätigkeit mit der EWIV eigentlich gar nicht erfolgt. b.

Die Societas Europaea (SE) Die SE ist im Gegensatz zur EWIV nicht für kleine und mittlere Unternehmungen

gedacht, sondern richtet sich von der Intention her auf die Schaffung großer Unternehmen (vgl. Neye, 1988, S. 139), von denen man annimmt, daß sie im internationalen Wettbeweib lebensfähig seien. Ihre Realisierung ist, obwohl schon seit den sechziger Jahren in der Diskussion, nach vielfältigen Entwürfen bislang noch nicht in Sicht. Ob die SE überhaupt jemals Realität wird, ist unsicher 12 . Sicher ist bislang lediglich, d.h. nach dem letzten Verordnungsvorschlag, daß sie kein europaeinheitliches Statut mehr darstellen wird. Abgesehen davon, daß die SE nur für Aktiengesellschaften gedacht ist und ein Gründungskapital von mindestens 100.000 ECU eingezahlt werden muß, ist nunmehr die monistische oder dualistische Verwaltungsstruktur wählbar, wobei allerdings dieses Wahlrecht national eingeschränkt werden kann, es also nicht allen europäischen Unternehmern gleichermaßen offen steht (vgl. Blomeyer, 1990, S. 96). Ebenso hat man die mitbestimmungsrechtlichen Teile aus der Verordnung herausgenommen, um das Mitbestimmungsproblem, für das die Einstimmigkeitsregel anzuwenden ist, in einer gesonderten Richtlinie zu behandeln13. Außerdem soll es - entgegen früherer Vorschläge - weder konzernrechtliche Bestimmungen noch Steueranreize geben. Ein Ansporn, die SE in einer früheren Fassung nochmals zu überdenken, soll von der Kommission ausgegangen sein, die in einem Memorandum die SE als geeignete Rechtsform ansieht, die es den Unternehmungen erlaube, international wettbewerbsfähig zu bleiben (vgl. Neye, 1988, S. 139). Es ist freilich nicht ohne weiteres einsichtig, weshalb so grandiose Auswirkungen von einem Kompromiß zu erwarten sein sollten, der anscheinend nichts weiter darstellt, als einen Hindernislauf im unwegsamen Gelände des Steuerrechts und der Mitbestimmung. Es ist eigentlich erstaunlich, daß die 12 13

Optimisten rechnen aufgrund der Abtrennung des Mitbestimmungsproblems mit einer baldigen Verabschiedung. Dieser Vorschlag stammt von 1989. Mittlerweile ist ein geänderter Vorschlag für eine Verordnung Ober das Statut der SE (16.5.1991) und ein geänderter Vorschlag bezüglich der Richtlinie über die Stellung der Arbeitnehmer (6.5.1991) in der Diskussion (vgl. Di Marco, 1991, S. 12).

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SE - trotz der propagierten Vorteile - von Anfang an umstritten gewesen ist (vgl. Hauschka, 1991, S. 97 ff.) und gemäß den aktuellen Vorschlägen offenbar so konzipiert ist, dafl sie das Ziel, eine echte, spezifisch europäische Gesellschaftsform darzustellen, keinesfalls erreicht. So wird bereits heute dieser Rechtsform keine große Zukunft bescheinigt (vgl. Kuhn, 1991, S. 67). Diese - insbesondere von Juristen kommenden - kritischen Stimmen sollten dabei besonders hellhörig werden lassen. Die Kritiker sehen zumindest aus deutscher Sicht keinerlei Vorteile und folglich keinen Bedarf für die SE. Das liegt zum einen an der Konstruktion dieser europäischen Rechtsform, die letztlich keine ist, weil hier wie bei der EWIV ein "Etikettenschwindel" (vgl. Lutter, 1991, S. 89) betrieben wird. Zum anderen scheint sie auch deshalb nicht notwendig zu sein, weil die Harmonisierung der aktienrechtlichen Struktur in Verbindung mit der Fusionsrichtlinie die SE eigentlich ersetzt. 3.

Schlußfolgerungen Aus der gerafften Zusammenstellung der die Unternehmensverfassung betreffenden

Regelungen bzw. Entwürfe wird unmittelbar ersichtlich, daß hier keinesfalls der Grundsatz beachtet wird, so wenig wie möglich auf der EG-Ebene zentral zu regeln, d.h. den Mitgliedsländern möglichst viel Kompetenzen zu belassen. Allerdings läßt sich auch erkennen, daß die EG bei ihren Vorhaben keinesfalls erfolgreich gewesen ist, so daß den Mitgliedern letztlich ein erheblicher Spielraum verbleibt. Harmonisiert worden ist im wesentlichen nur in den eher rechtstechnischen Bereichen (vgl. Kolvenbach, 1991, S. 75), was sicherlich auch sinnvoll ist, weil hier gewisse Standardisierungen im Bereich der Rechnungslegung dazu beitragen werden, die Rechtssicherheit und die steuerliche Gleichbehandlung zu erhöhen. Hingegen kann man die weitergehenden Bemühungen um die Harmonisierung der Unternehmensverfassungen im engeren Sinne als wenig erfolgreich, wenn nicht gar als gescheitert betrachten. Es sollte zu denken geben, wenn selbst Juristen wie beispielsweise Lutter hinsichtlich der SE oder der 5. Richtlinie ihr Unverständnis artikulieren14, weil unklar bleibt, weshalb hier überhaupt Regelungsbedarf von der EG gesehen wird 15 . Des weiteren ist die Harmonisierung an zwei großen Blöcken gescheitert: der Mitbestimmung und den direkten Steuern, bei denen sicherlich auch aufgrund des Er14

15

"Bei der Organisation von Unternehmen, also der Frage, wie und von welchen Organen und mit welchen Kompetenzen die Unternehmen geleitet werden, geht es meines Erachtens um etwas anderes. Hier verstehe ich nicht ganz, warum sich die Kommission der EG in diese Fragen einmischt." {Lutter, 1991, S. 87) Lutter rechnet damit, daß die 5. Richtlinie nur noch mit einigen Regeln zur Hauptversammlung verabschiedet wird. Die SE hält er nicht aus Gründen des Rechts für notwendig, sondern nur aus der Sicht des Marketings und evtl. als Ersatz für die Fusionsrichtlinie (vgl. Lutter, 1991, S. 87, 88 f.).

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fordernisses der Einstimmigkeit16 erst recht keine befriedigende Kompromißlösung zu erzielen sein dürfte. Es ist daher bislang versucht worden, um diese Blöcke herum zu harmonisieren. Aus dem Ergebnis läßt sich unschwer ablesen, daß sich die EG mit von ihr nicht zu bewältigenden Problemen belastet hat. In diesem Zusammenhang hält Lütter (1991, S. 87) es daher auch für das Beste, daß sich die EG unter der Strategie der Schadensbegrenzung aus diesen, die Aktiengesellschaft betreffenden Regelungsvorhaben wieder zurückzieht (vgl. ebenda, S. 87). Es ist ohnehin schwer verständlich, weshalb es sinnvoll sein sollte, EG-Richtlinien zu erlassen, die den Mitgliedsländern bereits praktizierte Regeln zur Wahl stellen. Des weiteren ist nicht verständlich, weshalb europäische Rechtsformen durchgesetzt werden sollen, die gar keine sind. Daß die eigentlich praktizierten Unternehmensverfassungen keineswegs optimal sind, ist sicherlich richtig. Verbesserungen von der EG zu erwarten, erscheint aber nach der gegebenen Übersicht als nahezu abenteuerlich. Nachfolgend sollen noch einige eher grundsätzliche Anmerkungen zu den eingangs aufgeworfenen Fragen gemacht werden. IV. Der erforderliche Grad an Harmonisierung Die Harmonisierungsbestrebungen der EG können kaum Maßstab für das anzustrebende (ökonomisch sinnvolle) Ausmaß der Harmonisierung sein, weil man hier ganz offensichtlich das Prinzip verfolgt, gerade so weit zu harmonisieren, wie es der politische Kompromißmechanismus zuläßt. Es bleibt also grundsätzlich zu klären, welche Bereiche überhaupt einem Harmonisierungsprozeß unterzogen werden sollen und welcher Angleichungsgrad anzustreben ist. Dabei ist grundsätzlich zu berücksichtigen, daß eine Umgestaltung der Teilordnungen teilweise substitutiven Charakter hat, so daß durch Harmonisierung z.B. der direkten Steuern bestimmte Harmonisierungsprojekte bezüglich der Untemehmensverfassung unterbleiben können. Ähnliches scheint auch für die Mitbestimmung zu gelten. Überlegungen zum EG-Binnenmarkt orientieren sich nicht selten an den USA mit ihrem Binnenmarkt, der anscheinend all das bereits verkörpert, was auch die EG zu erreichen trachtet. Nur zeigt sich gerade hier, daß sich die Untemehmensverfassungen der einzelnen Bundesstaaten in erheblichem Maße voneinander unterscheiden, ohne daß jemals die Rede von Harmonisierung besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Ganz offensichtlich funktioniert das transamerikanische Wirtschaften trotz dieser 16

Weitere Entscheidungsbereiche, die nach wie vor dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegen sind die Entscheidungen Aber Kapitalverkehrsbeschränkungen und über Eingriffe in die Berufsordnung (vgl. Busch, 1989, S. 7).

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Unterschiede, so daß man sich die Frage stellen muß, weshalb dies für Europa nicht auch der Fall sein sollte. Nun könnte man einwenden, man wolle es in Europa besser machen als in den USA. Wer garantiert denn, daß das, was ist, auch sein sollte? Rufen wir uns das zweite Argument für eine Harmonisierung, das Transaktionskostenpegelargument, in Erinnerung. Soweit der annahmegemäß zu hohe Pegel auf divergierende nationale Untemehmensverfassungen zurückzuführen ist, wäre eine Harmonisierung lohnend, solange die daraus resultierenden Erträge höher als die Kosten wären. Optimal wäre der Harmonisierungsgrad dann, wenn die Grenzkosten der Harmonisierung gleich ihren Grenzerträgen wären. Nun ist aber zu beachten, daß die Harmonisierung strenggenommen nicht auf die Schaffung wirklich neuer, überlegener Rechtsformen aus ist, sondern auf die Angleichung bereits bestehender, wobei freilich nicht bekannt ist, welche nationalen Rechtsformen jeweils überlegen sind. Damit ist also ein Selektionsproblem verbunden, und zwar im Hinblick auf gemeinsame Standards bzw. Standardbereiche. Letztlich geht es allerdings nicht nur um die Senkung von Transaktionskosten, die aus der Verschiedenartigkeit der nationalen Rechtsformen entstehen, sondern mindestens ebenso um die Auswahl der effizientesten Regelkombinationen. Eine Harmonisierung nach dem angeführten Begründungsmuster reicht daher nicht. Es ist nämlich durchaus denkbar, daß durch falsche Regelselektion zwar eine Harmonisierung erreicht wird, diese aber schlechtere Ergebnisse liefert als der unharmonisierte Zustand. In evolutorischen Welten gibt es freilich keinen sich durch Optimalität auszeichnenden Standard, nach dem sich Staatsleistungen mit der Marktleistung messend vergleichen lassen. Gleichwohl hat von Hayek (1969, S. 249 ff.) überzeugend dargelegt, daß der Wettbeweib als Entdeckungsverfahren mehr Informationen benutzt als es eine zentrale Planungsbehörde jemals könnte. Dieses Verfahren, das bessere Ergebnisse erwarten läßt, hat allerdings auch seinen Preis. Es arbeitet nämlich 'verschwenderisch', wie von Hayek bemerkt. Der entscheidende Punkt dieses Verfahrens liegt jedoch darin, daß es Verschiedenartigkeiten nutzt und unzählige Regelkombinationen im Wettbewerb überprüfen kann, so daß die Wahrscheinlichkeit einer Festschreibung schlechter Rechtsformen geringer ist, als wenn sich eine zentrale Instanz dieser Aufgabe annimmt. Gleichzeitig führt dieses Verfahren zu einer Diffusion überlegener Rechtsformen und dadurch zu einer Harmonisierung über Imitation, die jedenfalls tendenziell der relativen Überlegenheit folgt. Gleichzeitig generiert das Entdeckungsverfahren aber auch Neuerungen und damit wiederum zu prüfende und zu selektierende Regeln. Es schafft dabei durch das Experimentieren freilich wiederum neue Verschiedenartigkeit. Das entscheidende Argument hinsichtlich der Beurteilung des anzustrebenden Harmonisierungsgrades durch die EG läßt sich nun wie folgt fassen: Wenn die EG harmo-

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nisiert, so führt dies nicht zur Rechtsvereinheitlichung. Deshalb verbleibt ein bestimmter Spielraum für den zwischenstaatlichen Wettbewerb und damit für einen Mechanismus, der auf die Generierung neuer Verschiedenartigkeit programmiert ist. Dadurch, daß in diesem Rahmen überlegene Varianten in bestimmten Ländern entdeckt werden, werden die nationalen Gesetzgeber entweder dazu gezwungen, die von ihrer Klientel an sie herangetragenen Neuerungen im Interesse der bereits erreichten Harmonisierung zu ignorieren, oder sie in die gesetzlichen Regelungen zu übernehmen17. In letzterem Fall müBte dann ein permanenter Harmonisierungsproze8 auf der EG-Ebene stattfinden. Dieser Diffusionsprozeß orientiert sich erstens nicht an der Leistungsfähigkeit, und zweitens ist er auf die Reduzierung bestehender Vielfalt ausgerichtet, die eine Quelle neuer Entwicklungen ist. Da auf EG-Ebene der administrative Diffusionsprozeß außerdem sehr lange dauert, ist die Verfügbarkeit neuer Rechtsformen nicht gleichermaßen gewährleistet, als wenn jeweils die nationalen Gesetzgeber auf ihre Klientel reagieren würden18. Aus dieser Sicht staut sich die Vielfalt vor dem EG-Selektionsmechanismus gleichsam auf und kann nicht produktiv umgesetzt werden. Dies wird vor allem deshalb der Fall sein, weil die Mitgliedsländer keine Alleingänge vornehmen werden, wenn sie Richtlinien oder gar Verordnungen von der EG erwarten (vgl. Ganske, 1991, S. 92). Sollten die EG-Mitgliedsländer dennoch Alleingänge unternehmen, so müßte die EG permanent diesen harmonisierend hinterherarbeiten. Aus dem Gesagten sollte deshalb folgender Schluß gezogen werden: Der Wettbewerb zwischen den Mitgliedsländern hinsichtlich des Angebots von Untemehmensverfassungen führt zu einer evolutorischen und damit permanenten Harmonisierung, die vollkommen ausreichen dürfte und die Entdeckungspotentiale am wenigsten beeinträchtigte. Ein solches Verfahren erscheint in einer evolutorischen Welt, die auf dem Grundsatz von Verschiedenartigkeit und ihrer Reproduktion beruht, am geeignetsten zu sein. Man mag nun gegen die hier vertretene Antibürokratieeinstellung vorbringen, daß sich Institutionen pfadabhängig entwickelten und deshalb nur in bestimmten Grenzen im 17

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Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Argumentation ist auf zwei mögliche Bedeutungen des Harmonisierungsbegrifis hinzuweisen. Harmonisierung kann erstens eine Vereinheitlichung einer bestimmten Zahl von Merkmalen - hier der Unternehmensverfassungen - bedeuten, die in allen nationalen Unternehmensverfassungen verbindlich ausgehandelt werden und auch verbindlich bleiben sollen. Diese Form der Harmonisierung wirkt auf Veränderungen restriktiv oder führt zu dem im Text dargestellten neuen Harmonisierungsbedarf. Zweitens kann Harmonisierung auch die Vorgabe von einzuhaltenden Regeln bedeuten, die eine Kompatibilität der nationalen Gesetze gewährleisten. Eine solche Variante ist weniger restriktiv und läßt im Rahmen der gesetzten Spielregeln nationale Aktivitäten zu. Diese den Evolutionsprozeß weniger einengende Variante wird allerdings nicht von der EG angestrebt, so daß der obigen Argumentation der erste Harmonisierungbegriff zugrunde liegt. Der Wettbewerb der Interessengruppen um die Durchsetzung für sie günstiger Regelungen wirkt auf die Regierungen über den Wählerstimmenmarkt (vgl. Fehl, 1990, S. 17 ff.).

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Wettbewerb zu einander treten könnten, so daß diese im Prinzip verschieden effizient blieben (vgl. North, 1990, Kap. 11). Aus dieser Sicht könnte der Wettbewerb zwischen den Staaten keine Harmonisierung mit gleicheffizienten Institutionen herbeiführen, so daß die EG hier nachhelfen sollte. Dabei muß allerdings bedacht werden, daß der evolutorische Prozeß selbst für die dauerhafte zwischenstaatliche Koexistenz verschieden effizienter Institutionen verantwortlich ist, weil sich diese bekanntlich aus Vorstößen von Innovatoren ergibt und erst im Zuge der Diffusion wieder angeglichen wird. V.

Plädoyer für den zwischenstaatlichen Wettbewerb der Unternehmensverfassungen Aus der ordnungstheoretischen Perspektive benötigt jede Gesellschaft Institutionen. Institutionen existieren letztlich nur, weil die begrenzt rationalen Wirtschaftssubjekte unter echter19 Unsicherheit handeln müssen. Denn Institutionen reduzieren Unsicherheit, sei es durch Ausschluß bestimmter Ereignisse, sei es durch Regelhaftigkeit des durch sie erzeugten Verhaltens. Dies ist insbesondere in einer Privatrechtsordnung, in der die personenbezogene Unsicherheit bestehen bleibt, von großer Bedeutung. Die Individuen können im Rahmen dieser Ordnung frei agieren und interagieren und schliessen sich zu diesem Zweck auch zu Koalitionen zusammen, um die Handlungsrechte gemeinsam wahrzunehmen. Soweit dies nach den Regeln der Privatrechtsordnung geschieht, die auf dem Institut des vollentgeltlichen schuldrechtlichen Austauschvertrags beruht (vgl. Böhm, 1966, S. 95), gibt es für den Gesetzgeber eigentlich keinen Grund, diese Koalitionen explizit zu regeln. Die Notwendigkeit hierzu tritt erst mit dem Institut der beschränkten Haftung auf, das eigentlich nicht - genauer, nur unter engen Voraussetzungen - marktkonform ist (vgl. Eucken, 1990, S. 279 ff., insbesondere 281), sowie mit der Entstehung juristischer Personen, für die das Privatrecht nicht 'gemacht' worden ist. Erst der Staat machte die beschränkte Haftung durch zusätzliche, den Gläubigerschutz verbessernde Gesetze funktionsfähig. Als Folge dieser Gesetze sind die Informationskosten der Aktionäre sowie der Kunden und Lieferanten erheblich gesunken, wodurch sich im gleichen Zuge auch die Kapitalkosten der Aktiengesellschaften erheblich gesenkt haben. Durch die Installation von Sekundärmärkten ist nicht nur die Möglichkeit zur Risikoallokation, sondern auch zur Kompetenzallokation verbessert worden. Die Privatrechtsgesellschaft erlaubt zwar auch eine unternehmerische Betätigung ohne Eigentum, doch ergeben sich hier bei unbeschränkter Haftung nicht unerhebliche Hindemisse.

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'Echte' Unsicherheit kann nicht mit einer Wahrscheinlichkeitsverteilung erfaßt werden, weil die zukünftigen Umweltzustände ex ante nicht vollständig angegeben werden können.

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Als Folge der Entwicklung zur rechtlich institutionalisierten Aktiengesellschaft tritt die von Berle und Means (1932) problematisierte Trennung zwischen Eigentum und Kontrolle auf den Plan, die nicht zuletzt Eucken für sehr bedenklich hält. Auerbach (1988, S. 91, 100 ff.) weist allerdings darauf hin, daß bei dem Erscheinen der Arbeit von Berle und Means die angesprochenen Probleme in dieser Form gar nicht mehr bestanden haben, weil bereits zu dieser Zeit der Gesetzgeber in erheblichem Umfange den Gläubigerschutz ausgebaut habe. Die geschilderte Entwicklung zeigt, daß die Staaten in der Lage sind, funktionsfähige Gesellschaftsformen zu erzeugen und in den Ordnungsrahmen zu integrieren. Daß das Recht der Aktiengesellschaft in allen National kodifiziert worden ist, um Mißbräuche auszuschließen, zeigt dies deutlich. Die gesetzlichen Regelungen sind freilich in den einzelnen Staaten verschieden. Dies liegt nicht allein an unterschiedlichen Vorstellungen über das gewünschte Ausmaß an Schutz, sondern es liegt auch an den national unterschiedlichen Verfügungsrechten und informalen Regeln. Gerade diese Interdependenzen werden bei einer vergleichenden Betrachtung einzelner, isoliert herausgegriffener Regelungen übersehen. Es bedarf daher einer 'Totalanalyse', will man die Sicherheit oder Funktionsfähigkeit der national divergierenden Varianten eines einzelnen Rechtsformtyps vergleichend ermitteln. Dies mag die Schwierigkeiten andeuten, die auftreten, wenn die Mitgliedsstaaten einen EG-Kompromiß aushandeln sollen, bei dem es nur um Partialaspekte - wie beispielsweise der Verwaltungsstruktur der Aktiengesellschaft - geht, weil durchaus national recht unterschiedliche Wirkungen erzielt werden könnten, wenn nur einige Teilregeln verändert werden. Des weiteren unterscheiden sich die EG-Länder in der Durchsetzbarkeit des Rechts, so daß auch aus diesem Grund die Gesetze und das Mischungsverhältnis formaler und informaler Regeln variieren müssen. Wenn die unternehmerischen Gesellschaftsformen von der EG nicht harmonisiert werden, ändert sich auf den ersten Blick nichts gegenüber dem bisherigen Zustand, in dem die Mitgliedsländer für die Gesetzgebung selbst verantwortlich sind. Letztere bestimmen somit das Ausmaß des Gläubigerschutzes und die unternehmerischen Freiräume der rechtlichen Unternehmensgestaltung in eigener Regie. Eine solche Lösung behindert den freien Warenverkehr sicherlich nicht und ebensowenig die Niederlassungsfreiheit von Unternehmungen im EG-Ausland. Für diese Unternehmen gilt ganz einfach das Recht des Gastgeberlandes bei gleichzeitiger Anerkennung der ausländischen Unternehmen 20 . Gegen diese Regelung könnte sich der in der Harmonisierungs20

Für die gegenseitige Anerkennung von Unternehmungen ist ein Richtlinienvorschlag entworfen worden, der bislang nicht ratifiziert worden ist, während die Mitgliedsländer bereits nach diesem Prinzip verfahren (vgl. Neye, 1988, S. 145 f.).

Unternehmensverfassung und europäische Integration

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diskussion geläufige Einwand möglicher Wettbewerbsverzerrungen erheben. Damit wäre etwa die Vermutung angesprochen, das Land mit den niedrigsten gesellschaftsrechtlichen Anforderungen, z.B. hinsichtlich Haftung (vgl. Eucken, 1990, S. 279 ff.) und Publizität oder auch Arbeitnehmermitbestimmung, würde ceteris paribus das meiste Kapital anlocken. Die Reaktion der von der Abwanderung betroffenen Länder könne dann zu einem Deregulierungswettlauf führen. Ein solches Szenario ist aber unvollständig: Bezüglich der Aspekte Haftung und Publizität ist die Gegenbewegung in Betracht zu ziehen, die jede Änderung bei Lieferanten und Kunden, vor allem aber Anbietern von - nicht haftendem - Fremdkapital auslösen müßte. Auch gab es bislang keine Anzeichen, daß zwischenstaatlicher Wettbewerb im Bereich der Unternehmensverfassungen auf dem Rücken der Arbeitnehmer ausgetragen wird. Dies zeigt die Verbreitung der Arbeitnehmermitbestimmung.in den letzten Jahrzehnten in Europa. Hier wurden bereits im Vorfeld der Harmonisierungsdiskussion unterschiedliche Modelle entwickelt, so daß man nachgerade von einer spontanen, wettbewerblichen Harmonisierung sprechen könnte21. Im Gegensatz hierzu ist die Befürchtung einer Aushöhlung national erreichter Standards gerade durch europarechtliche Gesellschaftsformen (vgl. Ganske, 1991, S. 91) nicht ganz von der Hand zu weisen: Wenn Brüssel seinen Rechtsformen als zusätzlichem Angebot zum Durchbruch verhelfen will, muß es sie gegenüber den nationalen Mustern attraktiver machen. Eine Möglichkeit hierzu wäre die Ermäßigung der Standards. Ein Erfolg solcher Maßnahmen ist dann allerdings denselben Zweifeln ausgesetzt wie sie oben für den Länderwettbewerb dargelegt wurden. Daß 'Subventionen' dieser oder anderer Art 22 sich zu Lasten nationaler Rechtsformen überhaupt durchsetzen Hessen, ist bei dem derzeit gültigen Entscheidungsmodus in der EG freilich unwahrscheinlich. Bedenklicher wäre eine Konzeption, nach der EG-Regelungen an die Stelle nationaler Formen zu treten hätten. Hier läge eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner differierender Ausgangspositionen mit entsprechenden Folgen für die Rechtsstandards nahe. Der zwischenstaatliche Wettbewerb könnte dagegen ein 'ökonomischeres' Gesellschaftsrecht fördern, daß sich den Bedarfen von Unternehmern, Kapitaleignem und anderen Betroffenen besser anpaßt und sich im Konkurrenzprozeß vereinfacht und übersichtlicher wird. Ein solcher Prozeß würde weiter die Bildung von Institutionen begünstigen, die eine gewisse Rechtstransparenz herstellen und auf diese Weise zwischen den 21 Es scheint berechtigt, h i n die Frage zu stellen, ob das Recht dann als stärker harmonisiert gelten soll, wenn einige Länder noch Aber keine Regelung eines bestimmten Gebiets verfügen, oder wenn sie eine andere Regelung besitzen. 22 Auf weitere Möglichkeiten verweist ein - allerdings nicht mehr aktueller - Vorschlag zur besonderen steuerlichen Begünstigung der SE.

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Mitgliedsländern vermitteln könnten. Es ist sicherlich nicht falsch zu behaupten, daß das Recht in den einzelnen EG-Ländem heute bereits angeglichener ist als zur Zeit der Römischen Verträge. Aber dieses Verdienst kommt dabei wohl nur bedingt der EG-Kommission zu. Es ist bezeichnend, daß der Ausgangspunkt der EWG die Montanunion und der Agrarsektor gewesen sind, also zwei hochregulierte Beieiche, die auch heute noch als Beispiele für eine verfehlte Ordnungspolitik taugen. Es sollte daher gar nicht mehr verblüffen, wenn gerade in jenen Bereichen ein angemesseneres Zusammenwachsen der Märkte durch die unsichtbare Hand zu beobachten ist, derer sich die EG nicht unmittelbar angenommen hat. Hierin findet sich ein eindeutiger Hinweis darauf, daß man dem Wettbewertosmechanismus einen möglichst großen Spielraum einräumen sollte, so daß nicht nur der Grad der Angleichung, sondern auch die Selektion der Untemehmensverfassungen nach ökonomischen Erwägungen vollzogen wird, weil gerade hier bei der EG erhebliche Schwächen zu liegen scheinen. Folgt man in diesem Zusammenhang den Thesen von Eric L. Jones (1991, S. XVI, XXXIV f., Kap. 6, 7.), so ist das 'Wunder Europa' gerade auf den Umstand zurückzuführen, daß es in Europas Geschichte keine Dynasten gegeben hat und daß vielmehr die Konkurrenz - erst zwischen den Fürstentümern, dann zwischen den Nationalstaaten den Innovationsprozeß letztlich ununterdrückbar gemacht hat. Gerade die Konkurrenz und die Möglichkeit des Abwanderns immunisierten letzteren gewissermaßen gegenüber dem Einfluß einzelner Obrigkeiten. Es wäre bedauerlich, wenn vielleicht bereits nach weiteren 200 Jahren Historiker in Antwort auf die Frage nach dem 'Wunder Europa', diesmal allerdings nach seinem Niedergang, die Aufhebung zwischenstaatlicher Konkurrenz durch das 'Großreich' der EG als Hauptursache identifizierten. Auch wenn eine solche Vision etwas überzogen erscheinen mag, so sollte das darin enthaltene Körnchen Wahrheit doch ernst genommen werden.

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Anhang:

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Die Verwendungsmöglichkelten der Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung*)

Die Verwendungsmöglichkeiten der Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung:*) - Einrichtungen eines Büros zum Austausch über günstige Informations- und Bezugsquellen, über den Austausch von Daten und anderen Erkenntnissen, - Vereinigungen für Markt- und Meinungsforschung (Untersuchungen über das Marktverhalten, Konjunktur-, Standort- und Wirtschaftsstrukturanalysen), - Zusammenarbeit bei dem unternehmensextemen Informations- und Kommunikationswesen (Informationstechnik, Informationsnachfrage), - Einkaufsgemeinschaften sowohl auf der Herstella'- als auch Händlerebene, - Forschungs- und Produktionsentwicklungskooperationen, - Arbeitsgemeinschaften im Anlagen- und Gewerkebau, insbesondere aus verschiedenen Branchen und Wirtschaftszweigen zur Erstellung eines einheitlichen Gewerks, wie insbesondere bei industriellen Großaufträgen, - Kunden- und Reparaturdienstgemeinschaften, - Vertriebsgemeinschaften (gemeinsame Verkaufsstellen, gegenseitige Mitbenutzung von Verkaufsständen oder Gründung von gemeinsamen Niederlassungen), - Verkaufsständekooperationen (Spezialitätensupermarkt, Spezialitätenkaufhaus), - Versandhandelskooperationen (gemeinsame Herausgabe eines Versandkatalogs als Marketing- und Absatzinstrument), - Kooperationen in der Nutzung von Produktions- und Betriebsanlagen wie z.B. Produktionsstraßen, Fertigungsroboter oder sonstige anschaffungskostenintensive Spezialmaschinen oder Softwareprogramme, - Werbegemeinschaften, - Gütezeichengemeinschaften und Markengemeinschaften zur Nutzimg einer einheitlichen Marke oder eines einheitlichen Gütezeichens, - Transport- und Lagergemeinschaften, - Inkassogemeinschaften, - Kooperationen zum Zwecke des Sortimentsaustauschs etwa durch gegenseitige Belieferung, - Beratungsnachfragekooperationen, - Schulungs- und Fortbildungskooperationen auf dem Gebiet des Personalwesens, - gemeinsame Nutzung oder auch Anschaffung von Verkehrsmitteln (gemeinsamer Fuhrpark, gemeinsame Haltergemeinschaft). *) Quelle: Ganske, 1988, S. 32.

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Ulrich Fehl, Karl von Delhaes und Carsten Schreiter

Literatur Auerbach, Paul, 1988, Competition: The Economics of Industrial Change, Oxford und New York. Berle, Adolf A. und Gardiner C. Means, 1932, The Modem Corporation and Private Property, New York. Blomeyer, Wolfgang, 1987, Neue Impulse für den Genossenschaftsgedanken: Die Europäische wirtschaftliche InteressenVereinigung, Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen (ZfgG), Bd. 37, S. 144-160. Blomeyer, Wolfgang, 1990, Das Europäische Recht: Neue Anforderungen an die Leitung von Genossenschaften, Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen (ZfgG), Bd. 40, S. 85-97. Böhm, Franz, 1966, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO, Bd. 17, S. 75-151. Busch, Berthold, 1989, EG-Binnenmarkt. Herausforderungen für Unternehmen und Politik, Köln. Chmielewicz, Klaus, 1991, Harmonisierung der europäischen Unternehmensverfassung aus betriebswirtschaftlicher Sicht, in: Klaus Chmielewicz und Karl-Heinz Forster (Hrsg.), Unternehmensverfassung und Rechnungslegung in der EG, Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (zfbf), Sonderheft 29, S. 15-59. Di Marco, Giuseppe, 1991, Zum Stand des europäischen Gesellschaftsrechts - Angleichung des nationalen Rechts und Schaffung neuer europäischer Rechtsformen, in: Klaus Chmielewicz und Karl-Heinz Forster (Hrsg.), Untemehmensverfassung und Rechnungslegung in der EG, Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (zfbf), Sonderheft 29, S. 1-13. Eucken, Walter, 1990, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1952, 6. Auflage. Fehl, Ulrich und Carsten Schreiter, 1993, Fusion und Konzentration im Genossenschaftswesen, in engl. Übersetzung in: Eberhard Dülfer und Juhani Laurinkari (Hrsg.), International Handbook of Co-operative Organizations, Göttingen (im Druck). Fehl, Ulrich und Jürgen Zörcher, 1993, Genossenschaftliche Preispolitik, in engl. Übersetzung in: Eberhard Dülfer und Juhani Laurinkari (Hrsg.), International Handbook of Co-operative Organizations, Göttingen (im Druck). Fehl, Ulrich, 1990, Wachsende internationale Interdependenzen und Transmission von Effekten binnenwirtschaftlicher Politik auf das Ausland, in: Erhard Kantzenbach (Hrsg.), Probleme der internationalen Koordination der Wirtschaftspolitik, Berlin, S. 9-43.

Unternehmensverfassung und europaische Integration

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Ganske, Joachim, 1988, Das Recht der Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), Köln. Ganske, Joachim, 1991, Aktuelle Probleme der Rechtsangleichung, in: Klaus Chnüelewicz und Karl-Heinz Forster (Hrsg.), Unternehmensverfassung und Rechnungslegung in der EG, Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (zfbf), Sonderheft 29, S. 90-93. Hausebka, Christoph E., 1990, Entwicklungslinien und Integrationsfragen der gesellschaftsrechtlichen Akttypen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Die Aktiengesellschaft, Jg. 35, S. 85-103. Hayek, Friedrich A. von, 1969, Freiburger Studien, Tübingen. Herzig, Norbert, 1992, Konzernstrukturen im Binnenmarkt, Blick durch die Wirtschaft, Nr. 144 vom 29.7.1992, S. 7. Jones, EricL., 1991, Das Wunder Europa, Tübingen. Jorde, Thomas und David J. Teece, Antitrust Policy and Innovation: Taking Account of Performance Competition and Competitor Cooperation, Journal of Institutional and Theoretical Economics, Vol. 147, S. 118-144. Kolvenbach, Walter, 1991, Die gesellschaftsrechtlichen Richtlinien der EG und das Problem der Mitbestimmung, in: Klaus Chmielewicz und Karl-Heinz Forster (Hrsg.), Untemehmensverfassung und Rechnungslegung in der EG, Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (zfbf), Sonderheft 29, S. 74-86. Kuhn, Klaus, 1991, Harmonisierung der europäischen Untemehmensverfassung aus unternehmenspolitischer Sicht, in: Klaus Chmielewicz und Karl-Heinz Forster (Hrsg.), Untemehmensverfassung und Rechnungslegung in der EG, Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (zfbf), Sonderheft 29, S. 61-72. Leipold, Helmut und Alfred Schüller (Hrsg.), 1986, Zur Interdependenz von Unternehmens- und Wirtschaftsordnung, Stuttgart und New York. Lutter, Marcus, 1988, Die normative Umsetzung in das Drei-Stufen-Modell, in: Horst Albach, Christiane Corte, Rolf Friedeland, Marcus Lutter und Wolf Richter (Hrsg.), Deregulierung des Aktienrechts: Das Drei-Stufen-Modell, Gütersloh, S. 195-204. Lutter, Marcus, 1991, Sinn und Unsinn von Rechtsangleichungen im europäischen Raum, in: Klaus Chmielewicz und Karl-Heinz Forster (Hrsg.), Untemehmensverfassung und Rechnungslegung in der EG, Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (zfbf), Sonderheft 29, S. 86-90. MOschel, Wemhard, 1992, EG-Industriepolitik nach Maastricht, ORDO, Bd. 43, S. 415-421.

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Ulrich Fehl, Karl von Delhaes und Carsten Schreiter

Neye, Hans-Werner, 1988, Gesellschafts- und Handelsrecht: Pläne, Taten, Utopien, in: EG-Binnenmarkt '92, Freiburg i.Br., S. 133-153. North, Douglass C., 1990, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge und New York et al. Schüller, Alfred, 1992, Wirtschaftsordnung - Ordnungstheorie, in: Alfred Schüller und Hans-Günter Krüsselberg (Hrsg.), Grundbegriffe zur Ordnungstheorie und Politischen Ökonomik, Arbeitsberichte zum Systemvergleich, Nr. 7, Marburg, 3. Auflage, S. 1-10. Schwanz, Ivo E., 1988, 30 Jahre Rechtsangleichung, in: Ernst-Joachim Mestmäcker, Hans MOller und Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Eine Ordnungspolitik für Europa, Baden-Baden, S. 333-368.

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EG-Binnenmarkt und öffentliche Unternehmen Martin Seidel, Bonn

I. Die öffentliche Wirtschaft in der Rechtsordnung und in der Politik der EG n . öffentliche Unternehmen als wirtschafte- und gesellschaftspolitische Gestaltungsinstrumente der Mitgliedstaaten

344 345

m. Artikel 90 EWG-Vertrag

346

IV. Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf die öffentlichen Unternehmen

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V. Die Situation in der Versorgungswirtschaft VI. Beurteilung der Entwicklung aus der Sicht der deutschen Wirtschaftspolitik

354 358

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Martin Seidel

I.

Die öffentliche Wirtschaft in der Rechtsordnung und in der Politik der EG Wie die Jahre des Aufbaues des Gemeinsamen Marktes gezeigt haben, hat die Rechtsordnung und Politik der Europäischen Gemeinschaft in vielfältiger Weise Auswirkungen auf die öffentliche Wirtschaft in den Mitgliedstaaten. Zunächst gibt es rechtliche Vorgaben, die bereits seit Gründung der EG im Jahr 19S8 als unmittelbar geltendes Recht die Struktur der öffentlichen Wirtschaft beeinflussen. Nicht weniger bedeutsam sind die Auswirkungen, die von der Politikgestaltung der Gemeinschaft ausgehen; die Errichtung und Sicherung eines Gemeinsamen Markes, der neben der Verwirklichung der grenzüberschreitenden Freiheit des Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs eine Kartell- und Fusionsaufsicht, eine Subventionsaufsicht sowie die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten durch die Gemeinschaft umfafit, hat eine neue Grundlage für die öffentliche Wirtschaft der Mitgliedstaaten geschaffen. Die für 1993 angestrebte Vollendung des Binnenmarktes hat demgemäß Befürchtungen über möglicherweise unkontrollierbare Entwicklungen aufkommen lassen. Die Sorge, daß gewachsene Strukturen durch eine weniger effiziente Neuordnung abgelöst werden könnten, ist ebenso vernehmbar wie die Befürchtung, daß Recht und Politik der Gemeinschaft die öffentliche Wirtschaft in den Mitgliedstaaten ungleichgewichtig beeinflussen und Wettbeweibsverfälschungen hervorbringen könnten. Weit verbreitet ist die Vorstellung, daß die öffentliche Wirtschaft einzelnen Mitgliedstaaten als Instrument der Wirtschaftslenkung im Rahmen des Standort-, Systemund Politikwettbewerbs Vorteile verschafft. Die Auswirkungen des Integrationsprozesses auf die einzelnen Bereiche der öffentlichen Wirtschaft sind nämlich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat keineswegs einheitlich. Es gibt öffentliche Unternehmen, die als Träger staatlicher Infrastrukturdienstleistungen kaum Konkurrenz zu befürchten brauchen und daher der Entwicklung anders entgegensehen als diejenigen Bereiche der öffentlichen Wirtschaft, die im Wettbewerb nicht nur zur ausländischen, sondern auch zur inländischen Wirtschaft stehen. Letztere sind aufgrund der Regelungsvorgaben und der Politik der Gemeinschaft Anpassungszwängen infolge verstärkten Wettbewerbs aus dem Ausland und aus dem Inland ausgesetzt. Zu denken ist an den Fall, daß das europäische Gemeinschaftsrecht den Abbau einer Sonderstellung oder von Privilegien begründet. Die öffentliche Wirtschaft in der Bundesrepublik hegt ersichtlich die Befürchtung, daß sie im Hinblick auf ihre relativ größere Einbindung in die marktwirtschaftliche Ordnung einerseits aufgrund der Regelungsvorgaben, andererseits durch die Konkurrenz aus anderen Mitgliedstaaten benachteiligt ist. 'Gleiche Teilhabe' am Intregrationsprozeß, gleiche Vor- und Nachteile und gleichgewichtige Auswirkungen sind das ordnungspolitische Leitbild, auf das sich die Haltung gegenüber Europa auch in anderen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft gründet.

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n.

öffentliche Unternehmen als wirtschafte- und gesellschaftspolitische Gestaltungsinstruinente der Mitgliedstaaten 'Öffentliche Wirtschaft' heißt Beteiligung des Staates und seiner Organisationen am Wirtschaftsleben. Merkmal ihrer Definition sind dabei weniger ihre vielfältigen, echten oder vermeintlich öffentlichen Aufgaben als die besondere Organisation ihrer Träger, nämlich die sogenannten 'öffentlichen Unternehmen'. Durch diese grenzt sich die öffentliche Wirtschaft von der privaten Wirtschaft ab. Öffentliche Wirtschaft ist folglich ein breitgefächertes unternehmerisches Engagement des Staates am Wirtschaftsleben auf der Grundlage besonderer Organisationsformen, nämlich der öffentlichen Unternehmen und - wie das Gemeinschaftsrecht ergänzend hinzufügt - derjenigen privaten Unternehmen, denen der Staat besondere Rechte eingeräumt hat. Die öffentlichen Unternehmen werden in den Mitgliedstaaten unterschiedlich definiert. Für die Gemeinschaft ist dies nicht erheblich; soweit die öffentliche Wirtschaft der Mitgliedstaaten von der Rechtsordnung und Politik der Gemeinschaft erfaßt wird, gilt ein einheitlicher Begriff. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts und seine einheitliche Geltung in den Mitgliedstaaten drängen nationale Einstufungen zurück. Ebenso wie ihr Ausmaß variiert auch die Funktion der öffentlichen Wirtschaft von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Zum Teil ist die öffentliche Wirtschaft in den Mitgliedstaaten das Ergebnis einer wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung; ihr obliegen im Rahmen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik jeweils besondere Funktionen. Sie ist Träger des Infrastrukturangebots des Staates, erfüllt die verschiedensten gesellschaftspolitischen Aufgaben und hat in einzelnen Mitgliedstaaten Funktionen im Rahmen der sektoralen und regionalen wirtschaftlichen Strukturpolitik. Im letzten Fall konkurriert sie als Instrument mit anderen Formen der Beeinflussung der Wirtschaftsstruktur, insbesondere der offenen Subventionierung. Als politisches Gestaltungsinstrument unterliegt die öffentliche Wirtschaft allen Regelungen des Gemeinschaftsrechts, durch die die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten koordiniert und auf die Belange der Gemeinschaft ausgerichtet wird. Im folgendes gilt es daher, zum einen diejenigen Regelungen aufzuzeigen, die sich an die öffentlichen Unternehmen richten und deren Rechtstellung beeinflussen. Zum anderen ist aber auch der Regelungsrahmen des Gemeinschaftsrechts beachtlich, der die mitgliedstaatliche Wirtschaftspolitik erfaßt und unmittelbar die Stellung und Funktion der öffentlichen Wirtschaft beeinflußt. Beide Normenbereiche zusammen bilden die Grundlage für den Wandel, dem die öffentliche Wirtschaft - möglicherweise unterschiedlich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat und von Sektor zu Sektor - als Folge und Wirkung der Integration ausgesetzt ist.

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m . Artikel 90 EWG-Vertrag Das Gemeinschaftsrecht kennt ebensowenig wie das mitgliedstaatliche Recht eine allgemeine Definition der öffentlichen Wirtschaft. Es erfaßt die öffentliche Wirtschaft in Anlehnung an die Praxis in den Mitgliedstaaten über eine Definition der öffentlichen bzw. der mit besonderen oder ausschließlichen Rechten ausgestatteten privaten Unternehmen. Die maßgebliche Grundnorm ist Artikel 90 EWGV, dessen wirtschaftsrechtliche und ordnungspolitische Bedeutung hoch zu veranschlagen ist. Nach Art. 90 Abs. 1 EWGV wird den Mitgliedstaaten als rechtliche Verpflichtung auferlegt, in bezug auf öffentliche und mit besonderen oder ausschließlichen Rechten ausgestattete private Unternehmen keine dem Gemeinschaftsrecht widersprechenden Maßnahmen zu treffen. Ohne daß Art. 90 EWGV dies ausdrücklich sagt, ergibt sich aufgrund dieser Regelung, daß öffentliche und privilegierte private Unternehmen im Rahmen des Gemeinschaftsrechts den privaten Unternehmen gleichgestellt sind. Nur so erklärt sich die gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten, in bezug auf öffentliche Unternehmen alle dem Gemeinschaftsrecht widersprechenden Maßnahmen aufzuheben bzw. zu unterlassen. Sieht man einmal von der besonderen Fallgestaltung des Art. 90 Abs. 2 EWGV ab, hat die öffentliche Wirtschaft im Rahmen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere im Rahmen des Regelungssystems des Gemeinsamen Marktes, der Wettbewerbs- und der Subventionsaufsicht, aber auch in allen anderen Bereichen des Gemeinschaftsrechts folglich keinen Sonderstatus. Fraglich kann lediglich sein - die Frage war seinerzeit im Rahmen des Rechtsstreits über die sogenannte Transparenz-Richtlinie vor dem Europäischen Gerichtshof aufgetaucht -, ob die öffentliche Wirtschaft gegenüber der privaten Wirtschaft benachteiligt werden darf. Art. 90 EWGV ist Teil des Verfassungsrechts der Gemeinschaft und kann vom Gemeinschaftsgesetzgeber weder aufgehoben noch eingeschränkt noch sonstwie abgeändert werden. Der Grundsatz der uneingeschränkten Gleichstellung der öffentlichen Wirtschaft gilt jedoch gemäß Art. 90 Abs. 2 EWGV nur für diejenigen öffentlichen oder mit besonderen Rechten ausgestatteten privaten Unternehmen, die nicht mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben. Aufgrund dieser Ausnahmevorschrift sind öffentliche Unternehmen und privilegierte private Unternehmen, die Dienstleistungen dieser Art erbringen, von der Anwendung des Gemeinschaftsrechts so weit freigestellt, wie dessen Anwendung für die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich hinderlich ist. Die Freistellung von der Anwendung 'hinderlicher' Regelungen des Gemeinschaftsrechts darf nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 90 Abs. 2 EWGV jedoch nicht dem Interesse der Gemeinschaft zuwiderlaufen. Die Ausnahmeregelung des Art. 90 Abs. 2 EWGV beruht auf der Erkenntnis, daß

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bestimmte Bereiche der öffentlichen Wirtschaft Aufgaben wahrnehmen, deren Erfüllung unter den neuen Bedingungen der Einordnung der Wirtschaft in einen Gemeinsamen Markt und der Koordinierung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitik durch die Gemeinschaft nicht uneingeschränkt möglich ist. IV. Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf die öffentlichen Unternehmen Die Grundnorm des Art. 90 Abs. 1 EWGV bedingt verschiedene rechtliche Ordnungsvorgaben für die öffentliche Wirtschaft. Die erste Vorgabe folgt aus dem Begriff des 'öffentlichen Unternehmens'. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat sich darauf festgelegt - und zwar einerseits die Kommission beim Erlaß der sog. Transparenz-Richtlinie, andererseits der Rat bei der Harmonisierung der Regelungen über die öffentliche Auftragsvergabe daß 'öffentliche Unternehmen' alle wirtschaftlichen Betätigungen des Staates und seiner Unterorganisationen sind, die in der Rechtsform einer juristischen Person des öffentlichen Rechts oder in einer privatrechtlichen Rechtsform unter der Möglichkeit der Beeinflussung der Untemehmenspolitik durch den Staat erfolgen. Zu den Rechtsformen des öffentlichen Rechts gehören in der Bundesrepublik Deutschland die Körperschaften, die selbständigen und unselbständigen Anstalten sowie die Stiftungen des öffentlichen Rechts. Staatliche Regiebetriebe, beispielsweise die Deutsche Bundespost oder die Regiebetriebe der Gemeinden, sind als unselbständige Anstalten öffentliche Unternehmen. Privatrechtlich organisierte wirtschaftliche Betätigungen der öffentlichen Hand, wie sie beispielsweise in Form von Kapitalgesellschaften betrieben werden, sind öffentliche Unternehmen, wenn der Staat die Geschäfts- und Unternehmensführung als Folge einer ausreichenden kapitalmäßigen Beteiligung, aufgrund gesellschaftsvertraglicher Absprachen, der Statuten und in sonstiger Weise beeinflussen kann. Mehrfach-Stimmrechte der öffentlichen Hand, wie sie beispielsweise bei den deutschen Elektrizitätsversorgungsunternehmen bestehen, begründen gleichermaßen wie die Befugnis des Staates zur Bestellung einer bestimmten Anzahl von Vertretern in der Geschäftsführung oder im Aufsichtsrat den Status des 'öffentlichen Unternehmens'. Der fehlende Erwerbszweck steht nach dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft bekanntlich der Annahme eines 'Unternehmens' nicht entgegen; für öffentliche Unternehmen gilt nichts anderes. Die den öffentlichen Unternehmen gleichgestellten privaten Unternehmen, denen 'besondere oder ausschließliche Rechte' gewährt sind, lassen sich ebenfalls begrifflich erfassen. Entscheidendes Merkmal ihres Status ist, daß ihnen eine besondere Rechtstellung durch die öffentliche Hand eingeräumt ist. Die Unternehmen müssen aufgrund der Zubilligung des Sonderstatus gegenüber gleichartigen Unternehmen individuell begünstigt sein; allgemeine staatliche Regelungen, die den Wettbewerb zwischen Unter-

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nehmen beschränken, begründen keine individuelle Vorzugsstellung. Preisregulierungen und ähnliche allgemeine staatliche Eingriffe in die marktwirtschaftliche Ordnung sind nach der Rechtsprechung des EuGH indes aufgrund anderer Regelungen des Gemeinschaftsrechts angreifbar. Aus Art. 90 EWGV ergibt sich weder eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, öffentliche oder privilegierte private Unternehmen in die Privatwirtschaft zu überführen, noch kann aus Art. 90 EWGV hergeleitet werden, keine neuen öffentlichen Unternehmen zu gründen. Eine Verpflichtung zur Privatisierung der Staatswirtschaft hätte ausdrücklich in den Vertrag aufgenommen werden müssen; eine solche Verpflichtung inzidenter aus Art. 90 EWGV herzuleiten verbietet sich, weil unter Art. 90 Unternehmen fallen, die Träger staatlicher Infrastrukturleistungen sind. Nicht alle staatlichen Infrastrukturleistungen können staatsfrei durch die Privatwirtschaft erbracht werden. Ein gemeinschaftsrechtliches Verbot der Verstaatlichung hätte ebenfalls in Art. 90 EWGV ausdrücklich verankert werden müssen; der Vertrag hätte festschreiben müssen, daß neue öffentliche Unternehmen nicht gegründet und der Kreis der privilegierten privaten Unternehmen nicht erweitert werden dürfe. Gleichwohl ergeben sich als Folge der Gleichstellung der öffentlichen Wirtschaft für die Mitgliedstaaten Verpflichtungen und Zwänge, die sich als Einschränkung und Begrenzung der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand auswirken. Den weitestreichenden Umstellungszwang begründet Art. 37 EWGV für staatliche Handelsmonopole, die in einer Weise umgeformt werden müssen, daB eingeführte Produkte gleiche Absatzchancen haben. Die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 37 EWGV hat dazu geführt, daß sich die Umstellungsverpflichtung, die formal das Einfuhr- und Ausfuhrmonopol betrifft, mittelbar als Verpflichtung zur Beseitigung der Handelsmonopole in ihrer Gesamtheit auswirkt. In der Bundesrepublik Deutschland hat Art. 37 EWGV praktisch zur Aufhebung des Branntweinmonopols geführt, gleichermaßen hat die Deutsche Bundespost ihr Einfuhrmonopol für die Endgeräte der Telekommunikationsdienste aufheben müssen. Die EG-Kommission geht zur Zeit, gestützt auf Art. 37 EWGV, gegen diejenigen Mitgliedstaaten vor, in denen wie in Frankreich Handelsmonopole im Bereich der Elektrizitätswirtschaft bestehen. Für Dienstleistungsmonopole kennt das Gemeinschaftsrecht keine dem Art. 37 vergleichbare Regelung; der EuGH hat bestätigt, daß Art. 37 EWGV auf Dienstleistungsmonopole keine Anwendung findet. Gleichwohl sind auch Dienstleistungsmonopole nicht uneingeschränkt bestandsgesichert. Die Freiheit des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs wirkt sich dahin aus, daß mitgliedstaatliche Regelungen - also auch eine Monopolgesetzgebung - der Erbringung von Dienstleistungen aus dem EGAusland nur dann entgegengehalten werden können, wenn sie aus Gründen des öffentli-

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chen Interesses gerechtfertigt sind. Geschlossene Dienstleistungsmonopole, die für Inländer einen Anschluß- oder Abnahmezwang begründen, unterliegen mithin der gemeinschaftsrechtlichen Kontrolle. Der Anschluß- und Benutzungszwang stellt eine Beschränkung der Erbringung von Dienstleistungen aus dem EG-Ausland dar, so daß der übliche Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitstest auf ihn Anwendung findet. Erweist sich ein geschlossenes Dienstleistungsmonopol als Verstoß gegen die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs, unterliegt es der gleichen Umformungsfrist wie das Handelsmonopol. Anders als ein Handelsmonopol kann indes ein Dienstleistungsmonopol gemäß Art. 90 Abs. 2 EWGV aufrechterhalten bleiben, falls die Umformung oder Umgestaltung die Erfüllung der dem Dienstleistungsmonopol übertragenen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich erschwert. Gestützt auf ein Urteil des EuGH aus jüngster Zeit, geht eine Lehrmeinung des Schriftums inzwischen noch weiter. Nach dieser Auffassung, die voraussichtlich von der EG-Kommission übernommen wird, ergeben sich zusätzlich aufgrund der Niederlassungsfreiheit Auflösungszwänge. Dienstleistungs- und Produktionsmonopole unterliegen nach dieser Lehrmeinung der Aufhebung und Überführung in die Privatwirtschaft, wenn für ihre Beibehaltung keine anderen als wirtschaftliche Gründe sprechen. Produktions- und Dienstleistungsmonopole dürfen nur dann beibehalten werden, wenn nicht-wirtschaftliche Gründe dies erfordern. Selbst in diesen Fällen dürfen aber die Regelungen, die das Monopol bedingen, der Erbringung konkurrierender Dienstleistungen aus dem EG-Ausland nur entgegengehalten werden, wenn sie sich als verhältnismäßig und aus Gründen des öffentlichen Interesses unerläßlich erweisen. Sollte sich diese Lehrmeinung durchsetzen und vom EuGH übernommen werden, wäre die öffentliche Wirtschaft in beträchtlichem Ausmaß in die Privatwirtschaft zu überführen. Unabhängig von dieser Lehrmeinung ergibt sich indes bereits aufgrund der Gleichstellung der öffentlichen Unternehmen praktisch ein Zwang zur Überführung einiger Sektoren der öffentlichen Wirtschaft in die Privatwirtschaft; der Sonderstatus öffentlicher Unternehmen läßt sich in vielen Bereichen nur über die Ausnahmeklausel des Art. 90 Abs. 2 EWGV erhalten. Von den Regelungen, die auf öffentliche und ihnen gleichgestellte private Unternehmen Anwendung finden, fuhren vornehmlich die Vorschriften über die Wettbewerbsaufsicht und die Subventionsaufsicht dazu, daß die öffentliche Wirtschaft ihre öffentlichen Aufgaben nicht wahrnehmen kann. Die Kartell- und Fusionsaufsicht der Art. 85, 86 EWGV findet grundsätzlich auf alle Wirtschaftszweige Anwendung. Anders als nach deutschem Recht sind daher die öffentlichen Kreditinstitute, die öffentlichen Unternehmen der Versorgungswirtschaft und diejenigen der öffentlichen Verkehrswirtschaft einschließlich der Bundespost von der Wettbeweibsaufsicht nicht ausgenommen.

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Bereichsausnahmen können zwar vom Rat gemäß Art. 87 EWGV verfügt weiden, setzen aber einen Vorschlag der Kommission voraus; ohne Mitwirkung der Kommission, sei es in Form von Freistellungen oder von Vorschlägen über Bereichsausnahmen, ist eine Einschränkung der Kartell- und Fusionsaufsicht nicht möglich. Die Subventionsaufsicht der Gemeinschaft über öffentliche Unternehmen bedingt ähnliche Zwänge zu Lasten der öffentlichen Wirtschaft. Das Beihilfenaufsichtsrecht der Gemeinschaft erfaßt alle Formen der Förderung der Wirtschaft, neben der Subventionierung über die Ausgabenseite (Finanzhilfen) und die Einnahmenseite des Haushalts vor allem auch die versteckten Formen der Förderung. Der Verzicht auf eine angemessene Verzinsung des Haftungskapitals öffentlicher Unternehmen und der Verzicht auf die Verzinsung der Gewährträgerhaftung sind Formen der unter die Beihilfenaufsicht fallenden Subventionierung. Grundsätzlich ist den Mitgliedstaaten jegliche Subventionierung der öffentlichen Wirtschaft als Folge ihrer Gleichstellung verboten. Subventionen, die öffentlichen Unternehmen ohne Durchführung des Konsultations- und Genehmigungsverfahrens gewährt werden, sind nach der Rechtsprechung des EuGH rückforderungspflichtig. Die Kommission hat die Beihilfenaufsicht im Bereich der öffentlichen Wirtschaft bislang noch nicht vollständig aufgebaut; wie angedeutet hat sie aber, gestützt auf die Ermächtigung des Art. 90 Abs. 3 EWGV, 1980 eine Richtlinie erlassen, derzufolge die Mitgliedstaaten ihre finanziellen Beziehungen mit der öffentlichen Wirtschaft und die finanziellen Beziehungen der öffentlichen Unternehmen untereinander offenzulegen haben. Dadurch soll der EG-Kommission der Aufbau der Beihilfenaufsicht über die öffentliche Wirtschaft erleichtert werden. Die Anwendung der Wettbewerbs- und der Beihilfenaufsicht führt in den Bereichen, in denen öffentliche Unternehmen mit privaten Unternehmen konkurrieren, zur Gleichstellung im Wettbewerb. Die Sparkassen und sonstigen öffentlichen Kreditinstitute sind als Folge ihrer Einbindung in die Wettbewerbs- und Beihilfenaufsicht einem Anpassungsprozeß ausgesetzt. Ob die Bundesrepublik Deutschland unter Berufung auf die öffentlichen Aufgaben der öffentlichen Kreditinstitute von der Anwendung der Beihilfenaufsicht gemäß Art. 90 Abs. 2 EWGV freistellbar ist, bedarf einer Entscheidung des EuGH ; öffentliche Aufgaben erfordern nicht notwendig die Freistellung. Gleiches gilt von der Postbank, bezüglich derer die Bundesrepublik der Beihilfenaufsicht gleichermaßen unterliegt. Der Einsatz öffentlicher Unternehmen zu Zwecken der sektoralen oder regionalen Strukturförderung ist bei einer strikten Anwendung der Kartell- und Fusionsaufsicht bzw. der Subventionsaufsicht nicht möglich; er ist den Mitgliedstaaten als Instrument der Wirtschaftsförderung durch das Gemeinschaftsrecht aus der Hand genommen. Finanzielle Mittel, die staatliche Unternehmen zum Ausgleich für übernommene Förder-

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leistungen notwendigerweise erhalten, unterliegen als Subventionen der Beihilfenaufsicht, und zwar selbst dann, wenn sie über eine andere Sparte des Unternehmens erwirtschaftet werden. Eine der Auswirkungen der Subventionsaufsicht im Bereich der öffentlichen Wirtschaft besteht darin, daß sie die Quersubventionierung innerhalb öffentlicher Unternehmen mit umfaßt. Anwendbar im Bereich der öffentlichen Wirtschaft sind nicht nur die Wettbewerbsund die Subventionsaufsicht, sondern auch die Regelungen über die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten. Die Freiheit des Warenverkehrs hat in Form des Umstellungszwanges für Handelsmonopole, wie bereits gezeigt, weitreichende Auswirkungen. Gleichermaßen bedeutsam für die öffentliche Wirtschaft sind aber auch die gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über die Vergabe öffentlicher Liefer- und Leistungsaufträge. Sinn und Zweck der Harmonisierung der Vergaberegelungen durch die Gemeinschaft bestehen darin, indirekte Handels- und Dienstleistungsbeschränkungen zu beseitigen und dadurch die Freiheit des Waren- und des Dienstleistungsverkehrs zu sichern. Die bevorzugte Vergabe öffentlicher Liefer- und Leistungsaufträge an die Anbieter inländischer Erzeugnisse oder Dienstleistungen stellt eine verbotene 'Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung' bzw. 'Beschränkung des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs' dar. Gleichermaßen unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt sind unterschiedliche nationale Regelungen über die Vergabe öffentlicher Liefer- oder Leistungsaufträge und unterschiedliche technische Normen als deren Spezifikationen. Die von der Gemeinschaft erlassenen einheitlichen Regelungen über die Vergabe von Liefer- und Leistungsaufträgen der öffentlichen Hand gelten grundsätzlich für öffentliche Unternehmen; sie sind in jüngster Zeit durch einen gesonderten Rechtsakt des Rates auf bestimmte bislang ausgeschlossene Sektoren der öffentlichen Wirtschaft ausdrücklich erstreckt worden. Aufgrund dieses Rechtsaktes finden die Vergaberegelungen insbesondere auf die Unternehmen der Versorgungswirtschaft Anwendung. Liefer- und Leistungsaufträge der öffentlichen Wirtschaft müssen ab einer bestimmten Größenordnung im Amtsblatt der EG ausgeschrieben werden. Die Erstreckung der Vergaberegelungen der Gemeinschaft auf die gesamte öffentliche Wirtschaft ist problematisch. Die Regelungen über die Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs richten sich nämlich lediglich an die Mitgliedstaaten, ohne daß sie zugleich auch die private Wirtschaft erfassen. Das ergibt sich daraus, daß eine sogenannte 'Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung' begrifflich eine Maßnahme des Staates voraussetzt. Diskriminierende Vergabepraktiken der öffentlichen Wirtschaft können daher nur dann als 'Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen' angesehen werden, wenn die betreffenden Unter-

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nehmen in Ausübung öffentlicher Aufgaben tätig werden. Soweit öffentliche Unternehmen keine öffentlichen Aufgaben ausüben, ist ihre Vergabetätigkeit der Vergabetätigkeit der privaten Wirtschaft gleichzusetzen. Wenn private Bankinstitute keinem Vergaberecht unterliegen, brauchen auch öffentlich-rechtliche Kreditinstitute nicht dem öffentlichen Vergaberecht unterstellt zu werden. Eine diskriminierende Vergabepraxis der Privatwirtschaft ist als Folge der Zwänge und Wirkungen ausgeschlossen, die vom Wettbewerb ausgehen; die diskriminierende Auftragsvergabe marktbeherrschender Unternehmen wird über die MiBbrauchsaufsicht des Art. 86 EWGV erfaßt. Da die Mißbrauchsaufsicht auch gegenüber öffentlichen Unternehmen besteht, braucht die diskriminierende Auftragsvergabe durch öffentliche Unternehmen nicht notwendig dem öffentlichen Vergaberecht unterstellt zu sein. Die Gemeinschaft kann aber gleichermaßen wie jeder Mitgliedstaat auch private Unternehmen zur Komplettierung des Wettbewerbsrechts einem Vergaberecht unterstellen; dafür bedarf der Gemeinschaftsgesetzgeber allerdings einer besonderen Handlungsermächtigung und Legitimation. Die Gleichstellung der öffentlichen Wirtschaft wirft in einzelnen Bereichen die Frage auf, inwieweit die betroffenen Unternehmen aufgrund der Gleichstellung ihrerseits Rechte geltend machen können. Die deutschen Sparkassen z.B. sind nach deutschem Recht in ihrer Geschäftstätigkeit jeweils auf Regionen beschränkt. Das Gemeinschaftsrecht seinerseits ermöglicht es EG-ausländischen Kreditinstituten, grenzüberschreitend mit den Sparkassen in Wettbewerb zu treten, mit der Folge, daß es in grenznahen Regionen zu Einbrüchen in die Geschäftstätigkeit der Sparkassen kommen kann. Damit stellt sich die Frage, ob nicht die deutschen Sparkassen, ihrerseits gestützt auf das Gemeinschaftsrecht, die Freistellung von dem Regionalprinzip geltend machen können. Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH schließen die Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes und damit auch die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs die Gleichstellung inländischer Unternehmen nicht ein; das Verbot der Inländerbenachteiligung kann nur unter Berufung auf nationales Recht, insbesondere den Gleichheitsgrundsatz erwirkt weiden. Wenn aufgrund des Binnenmarktes Verfälschungen des Wettbewerbs zu Lasten inländischer Unternehmen entstehen sollten, wird sich indes in der Regel der nationale Gesetzgeber gefordert fühlen. Die Bundesbahn ist, wie der Gemeinschaftsgesetzgeber unlängst erneut bestätigt hat, ein öffentliches Unternehmen im Sinne des Gemeinschaftsrechts. Nach deutschem Recht ist die Bundesbahn als unselbständige Anstalt des öffentlichen Rechts ein staatlicher Regiebetrieb, der gemäß Art. 87 Grundgesetz (GG) in bundeseigener Verwaltung geführt wird. Die Neuorganisation der Bundesbahn, die im Einigungsvertrag als Folge der Fusion mit der Reichsbahn festgeschrieben ist, wirft Fragen nach den Auswirkun-

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gen des Gemeinschaftsrechts auf. Nach der Rechtsprechung des EuGH wird den Mitgliedstaaten als gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung auferlegt, das Kartellrecht nicht durch staatliche Maßnahmen zu konterkarieren oder einzuschränken. Hieraus läßt sich möglicherweise eine Verpflichtung der Bundesrepublik als Mitgliedstaat der Gemeinschaft zur Änderung des Art. 87 GG herleiten. Eine weitere Frage geht dahin, ob eine privatrechtlich organisierte Bundesbahn unter Berufung auf das Gemeinschaftsrecht die Freistellung von allen gesetzlichen Auflagen verlangen kann, die ihrer unternehmerischen Entfaltung entgegenstehen. Soweit die Bundesrepublik Deutschland unter Ausnutzung ihrer Eigentümer- und Trägerstellung das Unternehmen Bundesbahn zu Zwecken der regionalen oder der sektoralen Strukturförderung oder zu anderen gesellschaftspolitischen Zwecken einsetzt, stellt sich die Frage des Ausgleichs der damit verbundenen Belastungen sowohl aus nationaler als auch aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht. Die drei Unternehmen der Deutschen Bundespost unterliegen jeweils unterschiedlichen Umstellungszwängen. Für die Bundespost als solche gilt, daß aufgrund der Regelungen des Gemeinschaftsrechts die sogenannte Quersubventionierung, d. h. der Ausgleich von Verlusten eines Bereichs durch Gewinne aus einem anderen Bereich, Begrenzungen unterliegt. Alle drei Bereiche der Bundespost, vor allem auch Telekom, können sich im übrigen etwaigen Deregulierungszwängen des Gemeinschaftsrechts kaum entziehen. Aufgrund einer Richtlinie der Kommission hat die Bundespost bereits das Einfuhr- und Vertriebsmonopol für Endgeräte aufheben müssen; außerdem muß die Zulassung von Endgeräten als staatliche Verwaltungstätigkeit von einer von der Postverwaltung organisatorisch getrennten Verwaltungsbehörde wahrgenommen werden. Auch die Rundfunkanstalten sind, soweit sie - wie bei der Werbung - wirtschaftlich relevante Dienstleistungen erbringen, Unternehmen im Sinne des Gemeinschaftsrechts. Auch sie sind daher von den Regelungen des Gemeinschaftsrechts allenfalls gemäß Art. 90 Abs. 2 EWGV nur in dem Ausmaß freigestellt, wie die Wahrnehmung ihrer Aufgabe dies erfordert. Ihre Monopole sind im Prinzip gemeinschaftsrechtskonform, da sie auf nicht-wirtschaftlichen Gründen beruhen und im übrigen keinen Benutzungszwang begründen; bekanntlich gewährleistet das Grundgesetz den freien Zwang zu allen Informationsquellen, auch zu denen des Auslands. Da die Rundfunkanstalten gesellschaftspolitische Aufgaben wahrnehmen, unterliegen sie - selbst nach der neuen Lehrmeinung - nicht der Deregulierung; ausländische Rundfunkanstalten können ebensowenig wie inländische Wettbewerber, gestützt auf die Niederlassungsfreiheit, ein Senderecht beanspruchen. Unter Ausnutzung der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs kann indes aus dem EGAusland - durch öffentlich-rechtliche ausländische Rundfunkanstalten, aber auch durch private Rundfunkanstalten - in die Bundesrepublik Rundfunk, insbesondere Werbefunk,

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frei eingestrahlt werden. Das Rundfunkrecht als solches rechtfertigt keine Beschränkung der Einstrahlung; ein Tendenz-Rundfunk aus dem EG-Ausland kann allenfalls unter den engen Voraussetzungen der Störung der öffentlichen Ordnung unterbunden werden. Der EuGH hat jedoch anerkannt, daß inländische Wabebeschränkungen auch für eingestrahlten Rundfunk gelten; es obliegt dem Gemeinschaftsgesetzgeber, über den Erlaß einer gemeinschaftseinheitlichen Werberegelung unverfälschte Marktverhältnisse zu gestalten. Begünstigt durch die technologische Entwicklung, insbesondere den Satellitenfunk und die Verkabelungstechnik, hat die Anwendung der Regelungen des Gemeinschaftsrechts indes zur Umstrukturierung des Rundfunks beigetragen. Das Prinzip der nationalen Versorgung durch nationale Rundfunkanstalten ist praktisch aufgehoben. Auf längere Sicht wird sich in der Gemeinschaft eine Rundfunkstruktur herausbilden, die stärker durch Wettbewerb und Privatwirtschaft geprägt ist. Zweifelhaft ist, ob Hörfunk und Fernsehen im Rahmen der neuen Struktur ihre - nach deutschem Recht ihnen zugeschriebene - gesellschaftspolitische Funktion weiterhin werden erfüllen können. Die Verkrustung der nationalen Kommunikationsrahmen bilden indes ein wesentliches Hemmnis für Fortschritte bei der politischen Einigung Europas. Wenn sich die Gemeinschaft nicht zu einer echten Kommunikationsgemeinschaft fortentwickelt, kann sich eine europäische Nation nicht herausbilden. V.

Die Situation in der Versorgungswirtschaft Einen Einbruch in ihre Struktur haben auch die öffentlichen Unternehmen der Versorgungswirtschaft zu befürchten. Dabei kann dahinstehen, ob die Versorgung mit Gas, Wasser und vor allem Elektrizität als eine öffentliche Aufgabe anzusehen ist; der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf öffentliche Unternehmen steht nicht entgegen, daß die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand nach nationalem Recht als öffentliche Aufgabe eingestuft wird. Unerheblich ist ferner, ob die Versorgung mit Gas, Elektrizität und Wasser als Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltung garantiert ist. Die gemeindliche Selbstverwaltung ist nicht in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen gewährleistet; daher sind Zweifel berechtigt, ob der EuGH die kommunale Selbstverwaltung als eine Schranke für die Entfaltung des Gemeinschaftsrechts anerkennen würde. Die öffentliche Diskussion in der Gemeinschaft geht davon aus, daß im Bereich der Produktion, des Transports und der Verteilung von Elektrizität und Gas der Binnenmarkt zum Tragen gelangen soll. Die Meinungen gehen lediglich über Art und Ausmaß der Anwendung der Gemeinschaftsregelungen auseinander. Soweit die Versorgungswirtschaft durch Nachfrage nach Gütern und Leistungen am Wirtschaftsleben teilnimmt, wird die Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht in Frage gestellt. Die Regelungen über die öffentliche Vergabe von Liefer- und Leistungsaufträgen berühren in-

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des den besonderen Status der Versorgungsunternehmen nicht. Anders verhält es sich dagegen mit drei bernts im Jahr 1990 erlassenen Richtlinien des Rates, die auf eine Erleichterung des Energieaustausches und auf eine größere Preistransparenz abzielen. D a entscheidende Eingriff in die Organisation und Struktur der Versorgungswirtschaft ist jedoch von zwei zur Zeit dem Rat vorliegenden Richtlinien-Vorschlägen zu erwarten, nämlich der Richtlinie 'bezüglich gemeinsamer Vorschrift«! für den Elektrizitäts-Binnenmarkt* und der Richtlinie 'bezüglich gemeinsamer Vorschriften für den Erdgas-Binnenmarkt'. Die vorgeschlagenen Regelungen zielen zum einen auf die Beseitigung ausschließlicher Rechte bei der Erzeugung von Elektrizität und dem Bau von Leitungen sowie zum anderen auf die Liberalisierung des Zugangs bestimmter Elektrizitäts- oder Gasnachfrager zu den bestehenden Leitungssystemen ab. Die vorgeschlagene Neuregelung würde im Falle ihrer Verabschiedung eine Auflockerung, wenn nicht sogar die Aufhebung sowohl der Gebietsmonopole als auch der Durchleitungsmonopole der Versorgungsunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland zur Folge haben. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Neuordnung werden dabei verschieden gesehen: Während die Kommission Vorteile in dem Abbau von Preisunterschieden, in einer besseren Allokation der Ressourcen und letztlich in einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu erblicken glaubt, befürchtet man in der Bundesrepublik eine Beeinträchtigung der Versorgungssicherheit sowie eine Gefährdung bestimmter umweltpolitischer Zielsetzungen. Der zu erwartende stärkere Wettbeweib würde ausschließlich wenigen großen Stromverbrauchern zugute kommen; die Neuordnung habe unsoziale und mittelstandsfeindliche Auswirkungen. Nach dem derzeitigen Stand der Diskussion wird es wahrscheinlich nicht zu einer Verabschiedung der vorgeschlagenen Richtlinien kommen; die nach Art. 101a und Art. 57 EWGV erforderliche qualifizierte Mehrheit zeichnet sich nämlich im Rat nicht ab. Bei einem Scheitern der Richtlinien ist jedoch davon auszugehen, daß die Kommission zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen auf das ihr zur Verfügung stehende Instrumentarium zurückgreifen wird. Sie wird als Kartellaufsichtsbehörde gegenüber den Versorgungsunternehmen vorzugehen versuchen, vor allem aber auf das spezielle Instrumentarium zurückgreifen, das ihr Art. 90 Abs. 3 EWGV zur Verfügung stellt. Vermutlich wird sie sich dabei auf den Standpunkt stellen, daß die vertragsrechtlichen Regelungen, die für die Versorgungswirtschaft gelten, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs unmittelbare Geltung entfalten. Auch ohne einen besonderen Rechtsetzungsakt des Rates seien die Mitgliedstaaten gehalten, ihr innerstaatliches Recht gemäß den Regelungen der vorgeschlagenen Neuordnung auszurichten. Gestützt auf Art. 90 Abs. 3 EWGV kann die EG-Kommission den Mitgliedstaaten durch Richtlinien oder Entscheidungen vorschreiben, wie diese ihre Rechtsvorschriften

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in bezug auf öffentliche Unternehmen an das Gemeinschaftsrecht anzupassen haben. Der EuGH hat in dem Anfechtungsrechtsstreit über die Richtlinie für Telekommunikations-Endgeräte die Auffassung der Kommission über das Ausmaß ihrer Kompetenz gemäß Art. 90 Abs. 3 EWGV in vollem Ausmaß bestätigt. Gäbe es die Handlungsermächtigung des Art. 90 Abs. 3 EWGV nicht, wäre die Kommission darauf angewiesen, die Mitgliedstaaten gemäß Art. 169 EWGV notfalls unter Anrufung des EuGH zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts anzuhalten. Nach dem Verfahren der Rechtsaufsicht trägt die Kommission bei einer Auseinandersetzung mit einem Mitgliedstaat die Klagelast. Geht die Kommission dagegen, wie es für den Bereich der Versorgungswirtschaft zu erwarten ist, gegen einen Mitgliedstaat nach Art. 90 Abs. 3 EWGV vor, liegt die Klagelast bei dem Mitgliedstaat; die von ihr erlassene Entscheidung oder Richtlinie erhält nämlich Bestandskraft, wenn sie nicht innerhalb der vorgesehenen Frist von zwei Monaten vor dem EuGH von dem Mitgliedstaat im Wege einer Klage angefochten wird. Die Kommission wird wahrscheinlich den für sie günstigen Weg wählen, die Mitgliedstaaten durch Entscheidungen oder Richtlinien gemäß Art. 90 Abs. 3 EWGV zu einer Neuordnung der öffentlichen Versorgungswirtschaft anzuhalten. Sie wird dabei von einer sehr weiten Auslegung der Regelungen über die Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs ausgehen, so daß ihre Ordnungsvorstellungen voll abgedeckt sind. Die Auseinandersetzung mit der Kommission - sei es im Vorfeld des Erlasses von Richtlinien, oder später vor dem EuGH - wird sich daher rechtlich darauf konzentrieren, ob die Ausnahmeklausel des Art. 90 Abs. 2 EWGV zur Beibehaltung bestimmter Strukturen der öffentlichen Wirtschaft in Anspruch genommen werden kann. Wie bereits aufgezeigt, sind nach Art. 90 Abs. 2 EWGV Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, von der Anwendung deijenigen Regelungen des Gemeinschaftsrechts freigestellt, die ihnen die Erfüllung ihrer Aufgaben tatsächlich oder rechtlich unmöglich machen würden. Entgegen einer weitverbreiteten Auffassung setzt die Anwendung des Art. 90 Abs. 2 EWGV keinen besonderen, konstitutiven Freistellungsakt der Gemeinschaft voraus. Die Mitgliedstaaten können an sich die Ausnahmeklausel des Art. 90 Abs. 2 EWGV autonom in Anspruch nehmen; letztlich entscheidet allein der EuGH darüber, ob die Ausnahmeregelung zu Recht in Anspruch genommen worden ist. Die Inanspruchnahme des Art. 90 Abs. 2 EWGV durch einen Mitgliedstaat wird jedoch faktisch dadurch erschwert, daß ihr die Kommission jederzeit durch einen einschränkenden oder verbietenden Rechtsakt gemäß Art. 90 Abs. 3 EWGV zuvorkommen kann. Wenngleich eine solche Entscheidung keine konstitutive Wirkung hat, kommt der betroffene Mitgliedstaat gegebenenfalls nicht umhin, die Entscheidung der Kommission

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vorsorglich vor dem EuGH anzufechten. Mangels jeglicher Rechtsprechung läuft er nämlich Gefahr, daß der EuGH der Entscheidung später doch konstitutive Wirkung und infolge Ablaufs der Anfechtungsfrist Bestandskraft beimißt. Bislang gibt es auch keine Rechtsprechung des EuGH, aus der sich Grundsätze für die Beurteilung der einzelnen Sektoren der öffentlichen Wirtschaft im Hinblick auf Art. 90 Abs. 2 EWGV herleiten lassen. Im Schrifttum wird weitverbreitet die Auffassung vertreten, daß die Versorgung mit Elektrizität, Gas und Wasser eine Dienstleistung darstellt, die im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse von den damit betrauten Unternehmen zu erbringen ist. Mit dieser Einstufung der Versorgungsaufgabe ist aber nicht sichergestellt, daß auch die jeweilige Organisation der mit der Aufgabe betrauten Unternehmen vor dem Gemeinschaftsrecht Bestand hat. Nicht ausgeschlossen ist, daß der EuGH im Rahmen der Anwendung des Art. 90 Abs. 2 EWGV - vergleichbar seiner Rechtsprechung zu Art. 36 EWGV - die jeweilige nationale Organisation einem Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitstest unterzieht. Als Ergebnis einer gerichtlichen Auseinandersetzung könnte einem Mitgliedstaat aufgegeben werden, für die Wahrnehmung der Aufgabe eine Organisationsstruktur zu wählen, die das Gemeinschaftsrecht weniger beeinträchtigt. Die Anwendung des Art. 90 Abs. 2 EWGV führt dazu, daß andere Mitgliedstaaten die Freistellung ihrer Versorgungswirtschaft von der Subventionsaufsicht der Gemeinschaft mit der Begründung geltend machen können, daß ihre Versorgungswirtschaft die ihr überantworteten öffentlichen Aufgaben nur unter der Voraussetzung einer beträchtlichen staatlichen Subventionierung wahrnehm«! könne. Über Art. 90 Abs. 2 EWGV kann ein Mitgliedstaat von allen Regelungen des Gemeinschaftsrechts, im Prinzip also auch von der Beihilfenaufsicht der Gemeinschaft, freigestellt werden. Die Mitgliedstaaten sind daher gut beraten, anstelle einer Auseinandersetzung vor dem EuGH im Rahmen der Koordinierung ihrer Wirtschaftspolitik eine konsensfahige Konzeption für eine Neuordnung der öffentlichen Wirtschaft zu suchen. Ein Verzicht auf eine einvernehmliche Lösung führt zwangsläufig zu einer Konfrontation widerstreitender Forderungen der Mitgliedstaaten nach einer Anwendung des Art. 90 Abs. 2 EWGV vor dem EuGH. Der Gerichtshof wird bei der Auslegung der Ausnahmeklausel des Art. 90 Abs. 2 EWGV nicht allen mitgliedstaatlichen Forderungen Rechnung tragen können; bei der Suche nach einer Lösung wird er sich voraussichtlich an den Vorstellungen der Kommission orientieren und Art. 90 Abs. 2 EWGV eher eng und in einer Weise auslegen, die ungleichgewichtige Belastungen der einzelnen Mitgliedstaaten nicht ausschließt. Die Gestaltungsaufgabe, die dem Gerichtshof bei der Neuordnung der öffentlichen Wirtschaft zufallt, übersteigt an Bedeutung und Brisanz alle bislang ihm abverlangten Entscheidungen.

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VI. Beurteilung der Entwicklung aus der Sicht der deutschen Wirtschaftspolitik Aus der Sicht der Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik sind die Neuordnungszwänge, die vom Gemeinschaftsrecht und der Politikgestaltung der Gemeinschaft für die öffentliche Wirtschaft in den Mitgliedstaaten ausgehen, im Prinzip positiv zu bewerten. Die Gleichstellung der öffentlichen Unternehmen mit den Unternehmen der privaten Wirtschaft und die Einbindung der öffentlichen Wirtschaft in das Konzept des Binnenmarktes sind geltendes Gemeinschaftsrecht und liegen im Interesse der Gemeinschaft wie der Mitgliedstaaten. Die Wirtschafts- und Währungsunion, die mit dem Vertrag von Maastricht geschaffen worden ist, ist so konzipiert, daß die Wirtschaftspolitik auch in Zukunft ein Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten sein wird. Im Rahmen des Standort-, System- und Politikwettbeweibs der Mitgliedstaaten muß sichergestellt sein, daß die Mitgliedstaaten, insbesondere bei der Wirtschaftsförderung, ein marktwirtschaftskonformes Instrumentarium einsetzen. Der Einsatz der öffentlichen Wirtschaft zu Zwecken der sektoralen oder regionalen Strukturförderung stellt mangels ausreichender Transparenz kein marktwirtschaftskonformes Lenkungsinstrumentarium dar. Nicht zuletzt im Hinblick darauf, daß mit der Währungshoheit die Zins- und Kreditpolitik in gemeinschaftliche Zuständigkeit überführt wird, geht das Interesse der Bundesrepublik dahin, daß anderen Mitgliedstaaten der Rückgriff auf die öffentliche Wirtschaft als traditionelles Lenkungsinstrumentarium versagt bleibt. Die mit der Gleichstellung der öffentlichen Wirtschaft verbundene Deinstrumentalisierung der öffentlichen Wirtschaft bildet einen wichtigen Baustein des Binnenmarktes und der Wirtschaftsunion. Gleichermaßen aus ordnungspolitischer Sicht zu begrüßen ist die mit der Gleichstellung der öffentlichen Wirtschaft verbundene Tendenz zu ihrer Privatisierung. Der Staat sollte sich aus wirtschaftlichen Betätigungen heraushalten, die von der privaten Wirtschaft gleichermaßen erbracht werden können. Eine auf ihre unerläßlichen Aufgaben reduzierte öffentliche Wirtschaft ist Voraussetzung für einen echten Leistungswettbewerb und eine ausgewogene wirtschaftliche Entwicklung. Auf der Grundlage dieser allgemeinen Bewertung müssen die der öffentlichen Wirtschaft traditionell überantworteten besonderen Aufgaben neu überdacht und bewertet werden. Dabei ist jedoch alles andere als ein Vorgehen angezeigt, das unter einem falsch verstandenen Zeitdruck vertieften Erörterungen eine Absage erteilt. Die Belange der öffentlichen Wirtschaft sind, wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, zu vielgestaltig und zu bedeutsam, als daß sie durch ein übereiltes Vorgehen einer unsachgerechten Lösung zugeführt werden.

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Integration regulierter Märkte: Das Beispiel eines einheitlichen EG-Arzneimittelmarktes Wilfried Borocta und Dieter Cassel, Duisburg

I. Regulierte Märkte innerhalb der Europäischen Gemeinschaft

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II. Die wettbeweibliche Angleichung der Rahmenbedingungen nach dem neuen Integrationskonzept

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m . Staatliche Maßnahmen zur Regulierung des Arzneimittelmarktes

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IV. Die Integration der einzelstaatlichen EG-Arzneimittelmärkte

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V. Wirtschaftspolitisches Fazit zur Integration regulierter Märkte

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Abbildungen und Tabellen: Abbildung 1: Systematik der Regulierungen des Arzneimittelmarktes

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Abbildung 2: Preiskontroll- und Zuzahlungsregelungen in den EG-Mitgliedsländern

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Tabelle 1 :

Eckdaten der Arzneimittelnachfrage in den EG-Mitgliedsländern, 1988

Abbildung 3: Maßnahmen zur Schaffung eines einheitlichen EG-Arzneimittelmarktes

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Wilfried Boroch und Dieter Cassel

I.

Regulierte Märkte innerhalb der Europäischen Gemeinschaft Der EG-Binnenmarkt setzt sich aus einer Vielzahl nationaler Teilmärkte zusammen, die teilweise hochgradig reguliert sind und insoweit eine besondere integrationspolitische Herausforderung darstellen. Unter regulierten Märkten sind solche Märkte zu verstehen, auf denen staatliche Eingriffe in die Vertragsfreiheit der Wirtschaftsakteure erfolgen, die über das Maß der für alle Wirtschaftsbereiche geltenden Verhaltensregeln hinausgehen (vgl. Weizsäcker, 1982, S. 325 f.). Im Bereich des Dienstleistungsgewerbes zählen hierzu vor allem die Versicherungswirtschaft, die Kreditwirtschaft, die Telekommunikation, die Verkehrsbetriebe sowie die Dienste der Freiberufler, beim produzierenden Gewerbe u.a. die Energieversorgung und der Arzneimittelmarkt (vgl.

Dönges, 1989, S. 257). Die Möglichkeiten und Grenzen der Integration regulierter Märkte sollen im folgenden am Beispiel des Arzneimittelmarktes aufgezeigt werden. Hierzu wird das neue EGIntegrationskonzept zur Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes vorgestellt. Sodann stellt sich die Frage, inwieweit der Arzneimittelmarkt als Fallbeispiel für regulierte Märkte dienen kann. Insbesondere sind die verschiedenen Formen der Regulierung der einzelstaatlichen Arzneimittelmärkte herauszuarbeiten und die dadurch bedingte Heterogenität des EG-Arzneimittelmarktes herauszustellen. Daran schließt sich eine Synopse der EG-Maßnahmen zur Schaffung des einheitlichen Arzneimittelmarktes an. Abschließend werden einige verallgemeinernde Schlußfolgerungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Integration regulierter Märkte formuliert. II.

Die wettbewerbliche Angleichung der Rahmenbedingungen nach dem neuen Integrationskonzept Der EG-Binnenmarkt ermöglicht die Ausschöpfung gewinnbringender ökonomischer Potentiale (vgl. Economists Advisory Group, 1988; Cecchini, 1988; Generaldirektion für Wirtschaft und Finanzen, 1988, S. 158 ff.), die letztlich durch die Gewährleistung von Marktzutrittsrechten einerseits sowie den Abbau einzelstaatlicher Regulierungen andererseits realisiert werden soll. Zur Umsetzung des Binnenmarktprogramms wird seit 1985 eine geänderte Harmonisierungspolitik betrieben: Das neue Integrationskonzept beinhaltet neben der Verbesserung des EG-Entscheidungsverfahrens vor allem eine Hinwendung zur 'funktionalen Harmonisierung', worin sich die Ablösung des Bestimmungs- durch das Ursprungslandprinzip widerspiegelt. Damit wird dem Grundsatz der 'gegenseitigen Anerkennung' bzw. der 'regulativen Konkurrenz' Rechnung getragen. So gilt nun, daß jedes Produkt, das in einem Mitgliedsstaat regelmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht wird, grundsätzlich auch auf den nationalen Märkten der anderen Mitgliedsstaaten zugelassen ist. Dieser Grundsatz ist mit einer faktischen Anerken-

Integration regulierter Märkte: Der EG-Arzneimittelmarkt

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nung nationaler Zulassungsvorschriften und Normen gleichzusetzen (vgl. Harbrecht, 1988, S. 350 ff.; Curzon Price, 1988, S. 14 ff.; Joerges, 1991, S. 253 ff.). Die funktionale Harmonisierung zielt darauf, daß sich im Wettbewerb der Regeln und Systeme die effizientesten Lösungen durchsetzen. Alle Regulierungsformen, die die regulative Konkurrenz behindern, stehen der Schaffung des EG-Binnenmarktes somit entgegen und sind deshalb grundsätzlich in Frage zu stellen (vgl. Boroch, 1990, S. 14; Joerges, 1991, S. 251 ff.). Der allumfassenden Vorab-Angleichung der nationalen Rahmenbedingungen ('institutionelle Harmonisierung') nach dem zuvor gültigen Integrationskonzept und der damit verbundenen konstruktivistischen 'Anmaßung von Wissen' wird demzufolge im neuen EG-Konzept eine klare Absage erteilt. Dies kann allerdings nicht bedeuten, daß die Verwirklichung des einheitlichen Binnenmarktes gänzlich ohne die gestaltende Mitwirkung der EG-Gemeinschaftsorgane erreichbar wäre. So ist das Tätigwerden der verantwortlichen EG-Organe immer dann erforderlich, wenn eine Angleichung nationalen Rechts zur Gewährleistung des grenzüberschreitend«! innergemeinschaftlichen Marktzutritts und somit zur Gewährleistung der vier Grundfreiheiten unumgänglich ist, sowie dann, wenn positive oder negative externe Effekte intemalisiert werden sollen. Die funktionale Harmonisierung ist deshalb mit der Vorab-Festlegung gewisser Mindestregeln, die sich auf die 'grundlegenden Anforderungen' der Vereinheitlichung konzentrieren, durchaus vereinbar. Diese sind dann von allen Mitgliedsländern zu respektieren (vgl. Dönges, 1989, S. 264; Oberender, 1990, S. 19; Joerges, 1991, S. 247). Bei der Schaffung derartiger gemeinschaftlicher Mindestbefugnisse ist darauf zu achten, daß ein weiterer wichtiger Grundsatz des Integrationskonzepts, das 'Subsidaritätsprinzip', nicht verletzt wird. Dieses Prinzip besagt, daß erst dann, wenn die untere Handlungsebene, z.B. die einzelnen Mitgliedsstaaten oder ihre Gebietskörperschaften, keine effiziente Regelung finden, die nächst höhere Ebene (Gemeinschaftsebene) in Funktion tritt (vgl. Padoo-Schioppa et al., 1988, S. 58; KJepsch, 1993, S. 14 f.; Stihl, 1993, S. 29 ff.; Bohley, 1993, S. 36 f.). Ob und inwieweit das neue Integrationskonzept generell realisierbar ist, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht beantwortet werden und sei deshalb dahingestellt (Joerges, 1991, S. 255 ff.). Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich vielmehr auf die oft nur wenig beachtete Tatsache, daß der EG-Binnenmarkt kein homogener Markt ist, sondern als Konglomerat einer Vielzahl unterschiedlichster Teilmärkte verstanden werden muß. Dementsprechend kann das mit dem neuen Integrationskonzept vereinbare Mindestmaß an Vorab-Harmonisierung von Branche zu Branche differieren. Es ist zu vermuten, daß der institutionelle Angleichungsbedarf mit der Höhe des für eine Branche typischen Regulierungsgrades zunimmt. Der Arzneimittelmarkt vermag deshalb

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auch nur bedingt als exemplarisch für die Integrationsproblematik regulierter Märkte gelten: - Einerseits kann die Beschreibung der Möglichkeiten und Grenzen der Schaffung eines einheitlichen EG-Arzneimittelmarktes nicht losgelöst von den Besonderheiten dieses Wirtschaftszweiges erfolgen. Damit lassen sich die hier feststellbaren integrationsbedingten Konfliktpotentiale auch nur bedingt auf andere regulierte Märkte übertragen. - Andererseits ergibt sich gerade aufgrund der für diesen Markt typischen einzelstaatlichen Eingriffsvielfalt die Möglichkeit, die Probleme der Integration regulierter Märkte von verschiedenen Seiten her zu beleuchten und exemplarisch zu analysieren. III. Staatliche Maßnahmen zur Regulierung des Arzneimittelmarktes Die verschiedenen Formen der arzneimittelspezifischen Regulierungen lassen sich anhand der Abbildung 1 systematisieren. Oberstes Ziel der in den EG-Ländern praktizierten Gesundheitspolitik ist die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsleistungen im Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Finanzierbarkeit. Gesundheitspolitisch motivierte Regulierungen sollten deshalb im Dienste einer effizienten Arzneimittelversorgung stehen. Statt dessen hat sich die Gesundheitspolitik immer mehr in Richtung auf ein Management zur Kostendämpfung verlagert und damit den Weg für einen verstärkten Einsatz von regulierenden Eingriffen im Arzneimittelbereich freigemacht (vgl. Cassel, 1991, S. 12). Vornehmstes Ziel der Industriepolitik sollte es hingegen sein, für Rahmenbedingungen zu sorgen, in denen sich die Industrie eines Landes optimal entfalten kann. Industriepolitische Regulierungen hätten demnach vor allem zur Förderung der unternehmerischen Innovationsdynamik und Anpassungsflexibilität beizutragen. Gerade für forschungsintensive Branchen läßt sich daraus die Forderung ableiten, daß Industriepolitik vorrangig 'Innovationspolitik' sein muß (vgl. Cassel, 1991, S. 13). Es ist allerdings einzuräumen, daß der in den EG-Ländern traditionell verfolgte industriepolitische Kurs davon mitunter erheblich abweicht und verbreitet auch anders motivierte Aktivitäten umfaßt: Unter Industriepolitik fallen dann ebenfalls Maßnahmen zur Erhaltung und Gestaltung industrieller Strukturen sowie zum wirtschaftlichen Strukturwandel (vgl. Weiss, 1992, S. 3). Auch die Arzneimittelindustrie ist aufgrund der in ihr liegenden Möglichkeiten zur Realisierung von Wohlfahrtseffekten vielfach Gegenstand nationaler Erhaltungs- und Gestaltungseingriffe. Der Gesundheits- und Industriepolitik entspringen jeweils zwei umfangreiche Regulierungsbereiche (Abbildung 1):

Integration regulierter Märkte: Der EG-Arzneimittelmarkt

Abbildung 1:

Systematik der Regulierungen des Arzneimittelmarktes

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- Kostendämpfungsregelungen: Hierbei handelt es sich um staatliche Eingriffe, die zur Kontrolle und Einschränkung von Arzneimittelausgaben eingesetzt werden. Dazu gehören direkte Eingriffe in die Preisbildung von Arzneimitteln, Maßnahmen zur indirekten preis- und mengenorientierten Ausgabensteuerung sowie sonstige staatliche Eingriffe, die vornehmlich die Arzneimitteldistribution betreffen. Die verantwortlichen Behörden rechtfertigen ihre kostendämpfungspolitisehen Eingriffe regelmäßig mit dem Argument, daß (a) kein ausreichender Wettbewerb zwischen den Anbietern erstattungspflichtiger Arzneimittel bestehe, und daß (b) auf Seiten der Ärzte und Patienten kein Anreiz zu kostenbewußtem Handeln vorliege. Alle Kostendämpfungsregelungen werden aus gesundheitspolitischen Zielsetzungen abgeleitet: Während Art und Umfang entsprechender Maßnahmen in den Ländern der EG stark voneinander abweichen, besteht in bezug auf die Zielorientierung der Kostendämpfungspolitik weitgehend Einigkeit. So wird in der Mehrzahl der EG-Mitgliedsländer versucht, das jährliche Wachstum der Gesundheitsausgaben - und damit auch indirekt das der Arzneimittelausgaben - an das Wachstum des Bruttosozialprodukts zu koppeln (vgl. Burstall, 1990, S. 37). - Marktzulassungsregelungen: Hierunter fallen vor allem die Sicherheits- und Wirksamkeitskontrollen bei der Zulassung von Arzneimitteln. Sie sollen im wesentlichen dazu beitragen, daß Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit neu in den Handel gebrachter Substanzen gewährleistet sind. Sicherheits- und Wirksamkeitskontrollen lassen sich somit gleichfalls aus gesundheitspolitischen Seisetzungen ableiten. Die Notwendigkeit bestimmter Regulierungen in diesem Bereich ergibt sich aus den Besonderheiten von Arzneimitteln, d.h. dem Nebenwirkungsrisiko sowie der Tatsache, daß die Eigenschaften von Arzneimitteln oft wenig transparent sind und Arzneimittel somit 'Erfahrungsgüter', wenn nicht gar 'Vertrauensgüter', darstellen (vgl. Münnich, 1987, S. 26; Schellhaqß, 1985b, S. 398). - Wettbewerbs und handelsrelevante Regelungen. Diese Regelungen zielen auf die Förderung der heimischen Arzneimittelindustrie oder auf die Diskriminierung ausländischer Pharma-Anbieter und wirken in hohem Maße wettbewerbsverzerrend und handelsumlenkend. Sie umfassen die Durchsetzung von Zwangslizenzen, die Durchführung administrativer Preisdiskriminierungen gegenüber ausländischen Anbietern und anderes mehr. Damit sind diese Regelungen der Industriepolitik zuzuordnen. Als Rechtfertigung für derartige staatliche Eingriffe wird gegenwärtig vor allem auf die Theorie der strategischen Außenhandelspolitik Bezug genommen, wonach staatliche Interventionen zum strategischen einzelstaatlichen Nutzen insbesondere in Hightech-Bereichen und sonstigen Sektoren, die künftig hohe Gewinne erwarten lassen, zu befürworten sind. Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang immer die

Integration regulierter Märkte: Der EG-Arzneimittelmarkt

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Frage, ob es sich bei derartigen Regulierungen nicht um eine verschleierte Außenhandels-Protektion handelt. - Patentregelungen: Auf dem Arzneimittelmarkt ist der Patentschutz für neue Produkte von ganz besonderer Bedeutung. Er kann dabei, je nach Ausgestaltung des einzelstaatlichen Patentrechts, sowohl den Stoff und Verwendungsschutz als auch den Schutz für das Herstellungsverfahren einer neuen Substanz beinhalten. Außerdem stellt die rechtlich zugebilligte und effektiv nutzbare Patentlaufzeit eine wichtige Komponente des Patentschutzes dar. Denn der Sinn des Patentsystems liegt letztlich darin, dem Patentinhaber einen temporär befristeten wirtschaftlichen Anreiz zu Innovationen im Marktprozeß zu gewähren, ohne sein privatwirtschaftliches Risiko von vornherein auszuschließen (vgl. Hilken, 1989, S. 109). Mit Blick auf die pharmazeutische Industrie ist die Ausgestaltung des Patentrechts wegen der damit verbundenen Möglichkeit, innovationsfordemde oder auch -dämpfende Effekte zu erzielen, besonders wichtig. So sind die auf dem Arzneimittelmarkt agierenden forschenden Unternehmen aufgrund des hohen Empiriegrades der Arzneimittelforschung einem außerordentlich hohen finanziellen Risiko ausgesetzt (vgl. Hoppmann, 1983; Schellhaaß, 1985a, S. 268). Zudem bewirken die geringen Grenzkosten der Produktion von Arzneimitteln, daß beim Fehlen eines Patentschutzes der Ausschluß von Nachahmern kaum möglich wäre (vgl. Kaufer, 1976, S. 127): Denn anders als in Branchen mit hohen Grenzkosten der Produktion, wie beispielsweise dem Flugzeugbau, könnten im Arzneimittelbereich die Nachahmer mit relativ geringen finanziellen Mitteln neues therapeutisches Wissen in Produkte umsetzen, wenn für Arzneimittelinnovationen kein Patentschutz bestünde. Es ist nicht verwunderlich, daß bei der Vielfalt staatlicher Eingriffsmöglichkeiten auf dem Arzneimittelmarkt Überlagerungen der Regulierungsebenen und einzelner Maßnahmen keine Ausnahme darstellen. So erfordert eine auf dem Arzneimittelmarkt wirksame Regulierung nicht selten weitere staatliche Eingriffe mit der Folge, daß der theoretisch begründbare 'Regulierungsbedarf praktisch bei weitem überschritten wird. Dabei erhält dieser Mechanismus aufgrund der in der Mehrzahl aller EG-Mitgliedsländer bestehenden Finanzierungsproblematik für Gesundheitsleistungen eine Eigendynamik. Besonders bedenklich ist hierbei, daß die prädominante Verfolgung gesundheitspolitischer Ziele leicht mit den Erfordernissen einer innovationsorientierten Industriepolitik in Konflikt gerät (vgl. Cassel, 1991, S. 13 f.), was sich in einigen EG-Ländern wie z.B. Frankreich zeigt, in denen die Umsetzung gesundheitspolitischer Maßnahmen zur Einschränkung der Innovationsfähigkeit und damit auch der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ihrer nationalen Arzneimittelindustrie geführt hat.

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- Deckehmg pro Monat/Jahr/Verschreibung

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- Prozentuale Zuzahlung -davon abgestufte

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- Preisgenehmigungspflicht als Eretattungsvoraussetzung

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- Preisgenehmigungspflicht als Vermarictungsvoraussetzung

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I - Gewinnkootrolle

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Art der Regulierungen

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1 - Preiskontrolle

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I - Nationaler Gesundheitsdienst

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I - Feste Zuzahlunc plus variabler Anteil

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Preiskontroll- und Zuzahlungsregelungen in den EGMitgliedsländern

- Beeinflussung des ärztlichen Verschrribungsverhaltens

Abbildung 2:

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Integration regulierter Markte: Der EG-Arzneimittelmarkt

• 367 •

Tabelle 1: Eckdaten der Arzneimittelnachfrage in den EG-Mitgliedsländern, 1988 Gesamtausgaben,1 Mio. US-$

Pro-Kopfausgaben, US-$

Arzneimittel- Arzneimittel- Wachstum der Gesundheits- Arzneimittelausgabenausgabenausgaben quote,^ vH quote,3 vH (1970-88),4 vH

Belgien Dänemark Frankreich Deutschland Griechenland Irland Italien Niederlande

1.210 450 8.790 9.380

123 87 158 153

0,76 0,40 0,84 0,80

10,2 6,0 11,0 8,8

7 19 32 3

420 190 7.730 1.030

42 54 135 69

0,76 0,66 0,96 0,45

16,5 8,9 14,3 5,3

-3 0 37 41

Portugal Spanien GroBbritannien

600 2.470 5.410

57 63 89

1,11 0,73 0,67

16,9 14,5 10,2

37 -1 21

37.680

113

0,80

10,5

19

EG-Gesamt

Krankenhausmarkt, vH

Arztmarkt, vH

OTC-Markt, vH

Pro-KopfVerbrauch ,5 ÜS-S

Arzneimittelpreisindex,16

Belgien Dänemark Frankreich Deutschland

12 17 11 16

71 65 80 67

17 18 9 17

125 62 202 101

89 129 72 127

Griechenland Irland Italien Niederlande

15 13 13 15

70 77 81 72

15 10 6 12

52 36 136 47

74 132 79 133

Portugal Spanien GroBbritannien

10 12 15

85 76 69

5 12 16

65 76 66

68 73 117

EG-Gesamt

13

75

12

100

100

1 2 3 4 5 6

Herstellerpreise. Gesamte Arzneimittelausgaben in vH des Bruttosozialprodukts. Gesamte Arzneimittelausgaben in vH der gesamten Gesundheitsausgaben. Deflationiert mit dem Bruttoini andsprodukt-Deflator. Pro-Kopf-Konsum in US-$, dividiert durch den Preisindex; EG = 100. Apothekenabgabepreise in Indexförm; EG = 100, 1990.

Quelle: vgl. Diener, 1990, S. 14; Burstall, 1991, S. 158.

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Es ist somit festzuhalten, daß die Regulierung des Arzneimittelmarktes regelmäßig im Spannungsfeld zwischen Gesundheits- und Industriepolitik erfolgt, wobei sich unter den gegebenen Umständen die Frage nach der Kompatibilität der regulierenden Eingriffe stellt. Berücksichtigt man ferner, daß Art und Umfang der Regulierungen von EG-Land zu EG-Land sehr unterschiedlich sind, was sich in Abbildung 2 dokumentiert, und daß in den einzelnen Ländern zudem noch voneinander abweichende medizinische Traditionen, Schulen, Sicherheitsphilosophien und anderes mehr existieren, so wird deutlich, warum der EG-Arzneimittelmarkt als ein hochgradig heterogener Markt anzusehen ist, dessen einzelstaatliche Märkte voneinander stark segmentiert sind. Vor diesem Hintergrund sollten die in Tabelle 1 skizzierten nachfrageseitigen 'Pharma-Eckdaten' der Mitgliedsländer betrachtet werden. Hier lassen sich aus den Spalten 1-9 Hinweise auf die bestehenden einzelstaatlichen Unterschiede der Leistungsniveaus und -strukturen einerseits sowie der Verbrauchsniveaus und -strukturen andererseits entnehmen. Die Spalte 10 ist von besonderem Interesse, weil in ihr die nicht unbeträchtlichen Preisdifferenzen für Arzneimittel innerhalb der EG aufgezeigt werden. So betragen die Abweichungen zwischen dem Mitgliedsland mit dem höchsten (Niederlande) und dem geringsten Preisniveau (Portugal) immerhin 65 Indexpunkte (1990). Dies entspricht einem Preisdifferenzfaktor von 2,0. Auch in anderen Studien zum EG-Preisniveau für Arzneimittel werden die enormen Abweichungen problematisiert (vgl. Schell, 1991), worauf aber im weiteren nicht näher eingegangen zu werden braucht, da derartige Studien nur beschränkt vergleichbar sind. Insgesamt dürfte damit deutlich geworden sein, daß die Verwirklichung eines einheitlichen Arzneimittelmarktes eine umfassende integrationspolitische Aufgabe darstellt. Ob und inwieweit hierzu wettbewerbliche Integrationsprozesse von Relevanz sind und welche institutionellen Mindestangleichungen zu erfolgen haben, ist im weiteren zu thematisieren. IV. Die Integration der einzelstaatlichen EG-Arzneimittelmärkte Anders als in vielen anderen Sektoren spielt für den Arzneimittelbereich die VorabHarmonisierung auch im neuen Integrationskonzept eine wichtige Rolle. Allerdings lassen sich für eine derartige institutionelle Angleichung schon von vornherein bestimmte Grenzen abstecken. Denn solange die EG-Integration auf die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion ausgerichtet ist und nicht auf die Herbeiführung einer Sozial- und Politikunion, sind die verschiedenen einzelstaatlichen Sozialregulierungen generell dem Wettbeweib ausgesetzt. Dabei ist der Forderung Rechnung zu tragen, daß ein Minimum an garantierten sozialen Rechten verwirklicht und gesichert werden muß. Denn durchweg besteht Einigkeit darüber, daß der Binnenmarkt keinesfall zu einer Ni-

Integration regulierter Märkte: Der EG-Arzneimittelmarkt

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vellierung der Sozial rechte auf niedrigstem Niveau führen darf (vgl. u.a auch Art. 100a EWGV). Die gemeinschaftsrechtlichen Einflußmöglichkeiten auf diesen Prozeß sind jedoch äußerst bescheiden. Vom Grundsatz her ist die EG-Kommission nämlich lediglich dazu ermächtigt, die sozialpolitische Kooperation und Koordination zu verbessern. Zudem betreffen die EG-Sozialvorschriften und -bestimmungen (Art. 117 ff. EWGV) hauptsächlich die Gebiete der Arbeitsumwelt und Arbeitsbedingungen sowie der Förderung und Entwicklung der strukturellen Anpassung. Damit verbleibt die Gestaltungskompetenz für die sozialen Sicherungssysteme weitestgehend bei den einzelnen Mitgliedsstaaten (vgl. Deutsche Bundesbank, 1992, S. 227 f., 259 ff.; Miller, 1989, S. 219; Boroch, 1990, S. 14; Oberender, 1990, S. 8 f.; Joerges, 1991, S. 243.). Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Gestaltungskompetenz für die einzelstaatliche Gesundheitspolitik. Die EG-Angleichung der nationalen Regulierungsstrukturen der Arzneimittelmärkte orientiert sich maßgeblich an der Durchsetzung der vier Grundfreiheiten. Demzufolge spielt zum einen das generelle EG-Gemeinschaftsrecht eine wichtige Rolle und zum anderen das speziell auf diesen Wirtschaftszweig zugeschnittene binnenmarktorientierte Angleichungsprogramm. Zum sektorübergreifenden EG-Gemeinschaftsrecht, das für den Arzneimittelmarkt und die hier agierenden Wirtschaftsakteuren relevant ist, zählen (vgl. Bursiall, 1991, S.

161): - Der Art. 30 EWGV, der mengenmäßige Importbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedsländern untersagt. Diesem Artikel, der die sogenannte Verkehrsfreiheit einräumt, kommt im Rahmen des neuen Integrationskonzepts eine besondere Bedeutung zu. Die Verkehrsfreiheit findet allerdings ihre Grenzen in den Bestimmungen des Art. 36 EWGV. Danach lassen sich staatliche Eingriffe in den Handelsverkehr aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit sowie zum Schutze des gewerblichen und kommerziellen Eigentums rechtfertigen. - Gleichfalls kommt dem Art. 85 EWGV, der Wettbewerbs- oder handelsbehindemde Vereinbarungen oder Beschlüsse untersagt, sowie dem Art. 86 EWGV, der den Mißbrauch marktbeherrschender Stellungen verbietet, eine verstärkte Bedeutung zu. - Schließlich gewinnt noch der Art. 92 EWGV an Gewicht, in dem staatliche Beihilfen abgegrenzt werden, die mit dem Binnenmarkt vereinbar oder unvereinbar sind.

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Abbildung 3:

Wilfried Boroch und Dieter Cassel

Maßnahmen zur Schaffung eines einheitlichen EGArzneimittelmarktes

Integration regulierter Märkte: Der EG-Arzneimittelmarkt

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Dieses sektorübergreifende EG-Recht geht u.a. auch in das speziell auf den Arzneimittelmarkt zugeschnittene Angleichungsprogramm ein. Diesbezüglich sei auf Abbildung 3 verwiesen, die im Zusammenhang mit der Abbildung 1 zu sehen ist: Ausgehend von den vier nationalen Regulierungsbereichen - Kostendämpfungsregelungen, Zulassungsregelungen, Wettbewerbs- und handelsrelevante Regelungen sowie Patentregelungen - werden hier die wichtigsten primären und flankierenden Maßnahmen zur Schaffung des EG-Arzneimittelmarktes abgebildet. Diese sind anhand des Kriteriums 'abnehmende institutionelle Vereinheitlichungsintensität' wie folgt einzuordnen: - Die tiefgreifendste institutionelle Angleichung vollzieht sich im Regelungsbereich der nationalen Zulassungsbestimmungen. Dabei verfolgt die EG-Kommission im Grunde genommen eine kontinuierliche Weiterführung und Intensivierung der schon seit 1965 eingeleiteten Angleichungsversuche (vgl. Bundesverband der pharmazeutischen Industrie, 1988). Wegen der bisher nur mäßigen Erfolge der vergangenen Harmonisierungsanstrengungen wurde Anfang 1993 ein neues Gemeinschaftsverfahren zur Zulassung von Arzneimitteln eingeführt. Das neue Verfahren, das die Probleme der Mehrfachzulassungen - auf nationale Zulassungsverfahren zugeschnittene Dokumente, sprachliche und institutionelle Barrieren, Zeitaufwand und anderes mehr - beseitigen soll, ist dreistufig angelegt: Es umfaßt (a) das dezentrale Verfahren, das von seiner Funktionsweise her dém Prinzip der gegenseitigen Anerkennung der nationalen Zulassung folgt und für gängige, international vermarktete Medikamente relevant wird, (b) das zentrale Verfahren, das 'bedeutenden' Arzneimittelinnovationen obligatorisch den direkten Zugang zum gesamten EG-Markt erschließen soll, und (c) das nationale Verfahren, das der regional begrenzten Ausbietung von Arzneimitteln Rechnung trägt. Darüber hinaus ist die Etablierung einer zentralen europäischen Arzneimittelagentur geplant. Ihre Zuständigkeit würde sich auf Kontrollund Koordinationsfunktionen beschränken. Sie besäße somit keinerlei rechtliche Entscheidungsbefugnisse. Würden Meinungsunterschiede zwischen den Mitgliedern der Agentur auftreten, so müßten diese im Rahmen nationaler Verfahren und unter Berücksichtigung des EG-Zulassungsrechts ausgeräumt weiden. Folglich soll das Expertenwissen der Agentur unter politischer Kontrolle bleiben (vgl. Joerges, 1991, S. 259; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 116 ff.). - Auch im Bereich der einzelstaatlichen Maßnahmen, die in der Regel zur Wettbewerbsverzerrung und Umlenkung von Handels- und Kapitalströmen führen, gewinnen EG-Regelungen an Gewicht. Sie greifen im wesentlichen im Rahmen der Gewährleistung der vier Grundfreiheiten und damit im Zusammenhang mit den genannten sektorübergreifenden EG-Gemeinschaftsregelungen. Das maßgebliche Ziel liegt hierbei in der Förderung des Handelsverkehrs und des grenzüberschreitenden

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Wettbewerbs mit Arzneimitteln. Flankierend werden eine Anzahl weiterer Angleichungsmaßnahmen wie beispielsweise die Angleichung der Beipackzettel durchgeführt. Letztlich soll üb« den verstärkten grenzüberschreitenden Handelsverkehr ein zusätzlicher wettbewerblicher Angleichungsdruck auf die überkommenen einzelstaatlichen arzneimittelspezifischen Regulierungsstrukturen der Mitgliedsländer ausgeübt werden. Dies steht im Einklang mit den zuvor dargestellten Maßnahmen zur Schaffung einheitlicher EG-Zulassungsbedingungen. - Die Ebene der Patentregelungen unterliegt vom Grundsatz her weiterhin den nationalen Bestimmungen. Allerdings zeigt sich hier eine hohe Koordinations- und Kooperationsbereitschaft zwischen den EG-Mitgliedsländern. So hat die regional begrenzte Wirkungsweise der Patentgesetze, insbesondere die damit verbundene Einschränkung des grenzüberschreitenden Handels, schon sehr frühzeitig dazu beigetragen, daß mittels multilateraler Verträge eine weitreichende Harmonisierung der nationalen Patentregelungen einsetzte. Gegenwärtig besteht neben dem jeweiligen nationalen Patentgesetz ein selbständiges europäisches Patentrecht, das auf den Vereinbarungen der Münchener und Luxemburger Übereinkommen basiert (vgl. Hilken, 1989, S. 132). Wichtig erscheint dabei, daß mit der zunehmenden Angleichung der nationalen Patentbestimmungen eine wesentliche Voraussetzung für eine gemeinsame EG-Industriepolitik erfüllt wird. Daß der Wille zur verstärkten industriepolitischen Zusammenarbeit existiert, kommt in den gegenwärtigen Anstrengungen der EGKommission zur Schaffung eines europäischen Schutzzertifikats zum Ausdruck. Im Rahmen dieser Maßnahme geht es vor allem um die Wiederherstellung der effektiven Patentschutzlaufzeit für Arzneimittelinnovationen: Der Hersteller kann für ein innovatives Produkt beantragen, ihm nach Patentablauf eine zusätzliche Marktexklusivität von bis zu zehn Jahren zu gewähren (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1990). - Die geringsten Aussichten zur EG-übergreifenden Angleichung bestehen für die einzelstaatlichen Kostendämpfungsregelungen. So lassen sich hier noch nicht einmal die direkten interventionistischen Eingriffe in das Preisbildungssystem von Arzneimitteln abschaffen. Grundsätzlich besitzen einzelstaatliche Preis- und Rentabilitätsregelungen immer dann Gültigkeit, wenn sie aus Gründen gesundheitspolitischer Ziele festgelegt werden und wenn damit keine Diskriminierung gegenüber den Erzeugnissen der übrigen EG-Arzneimittelanbieter verbunden ist. Gleiches gilt für alle sonstigen ausgabenorientieren Regulierungen. Dies steht im Einklang mit der bereits erwähnten einzelstaatlichen Gestaltungskompetenz von Sozialregulierungen. Es ist somit offensichtlich, daß die Kostendämpfungsregelungen der wettbewerblichen Angleichung ausgesetzt werden. Darauf verweist auch die sogenannte Transparenzrichtlinie, die

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lediglich fordert, daß die nationalen Preis- und Erstattungsregelungen in Verbindung mit objektiven und nachvollziehbaren Kriterien transparent gemacht werden müssen (vgl. Kommission der Europäisch«! Gemeinschaften, 1989, S. 8 f f . ) . Auch die daran anschließende Ergänzungsrichtlinie vom Jahre 1992 geht nicht über Empfehlungen zur Gesundheitspolitik hinaus (vgl. o.V., 1992, S. S). Die Schaffung des EG-Arzneimittelmarktes vollzieht sich somit im Rahmen eines latenten Spannungsverhältnisses von einzelstaatlichen Kostendämpfungsregelungen der Gesundheitspolitik und binnenmarktorientierter Angleichungspolitik. Demnach sind alle zwingenden Maßnahmen zur Gewährleistung der vier Grundfreiheiten durchzufuhren, während sonstige einzelstaatliche gesundheitspolitische Regelungen dem Wettbewerb ausgesetzt werden. Ähnlich wie beim nationalen Spannungsverhältnis zwischen Gesundheits- und Industriepolitik stellt sich auch hier die Frage, wie eine Kompatibilität von nationaler Gesundheits- und supranationaler Integrationspolitik herbeigeführt werden kann. V.

Wirtschaftspolitisches Fazit zur Integration regulierter Märkte Unter den gegebenen konzeptionellen Integrationsvoraussetzungen ist die Schaffung eines 'echten' EG-Arzneimittelmarktes auf kurze oder mittlere Sicht nicht erreichbar. Dies gilt trotz der in diesem Sektor verstärkt instrumentalisierten Vorab-Harmonisierung. Die schon auf nationaler Ebene bestehende Problematik, daß die prädominante Verfolgung gesundheitspolitischer Ziele in Konflikt mit den industriepolitischen Zielen gerät, läßt sich auch durch die EG-Integration nicht beheben. Ganz im Gegenteil, die Schaffung des EG-Arzneimittelmarktes beinhaltet einige Unwägbarkeiten, die dazu beitragen können, daß die potentiellen Integrationsgewinne vermindert, wenn nicht gar zu Verlusten werden: - Die Existenz zwölf unterschiedlicher Gesundheitssicherungssysteme bei gleichzeitiger Förderung von Parallelimporten birgt die Gefahr, daß es zu einer grenzüberschreitenden Übertragung administrativer Mindestpreise für Arzneimittel kommt. Dies deshalb, weil unter den gegebenen EG-Integrationsbedingungen eine internationale Marktaufspaltung, wie sie bisher mittels Patent- und Warenzeichenrecht möglich war, künftig nur noch eingeschränkt durchführbar sein wird (vgl. Kirchner, 1975; Hilken, 1989, S. 180 ff.). Grundsätzlich wäre dies zwar begrüßenswert, jedoch nicht unbedingt im Falle der forschenden Arzneimittelindustrie. Denn unter den geltenden nationalstaatlichen Kostendämpfungsregelungen ist die internationale Vermarktung von Arzneimitteln wesentlich von der Möglichkeit zur untemehmensstrategischen Marktsegmentierung abhängig; nur so kann der ansonsten einsetzende Arbitragehandel, der zur besagten grenzüberschreitenden Übertragung administrati-

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ver Preise führt, unteniehmensseitig in Grenzen gehalten werden. Die internationale Marktaufteilung ist dementsprechend für die forschenden Unternehmen eine wichtige Voraussetzung, um preislich unterschiedlich regulierte Märkte zu beliefern, ohne daß damit eine weitreichende Erosion ihres Erfinderlohns verbunden ist. Fällt dieses unternehmensstrategische Instrument weg, so dürfte damit eine Schwächung der Innovationswilligkeit und -fahigkeit der forschenden EG-Arzneimittelindustrie verbunden sein. - Der Fortbestand der nationalen Gestaltungskompetenz im Bereich der Sozialregulierungen birgt darüber hinaus die Gefahr, daß insbesondere die ' Netto-Verliererländer' der Integration unter dem 'Deckmantel' der Gesundheitspolitik protektionistische Industriepolitik betreiben. Dies deshalb, weil die Möglichkeit einer ungleichen relativen Verteilung der Integrationsgewinne besteht, was u.a. auch in den vom CecchiniReport (vgl. Cecchim 1988, S. 17, 117 f., 124.) berechneten einzelstaatlichen Kosteneinsparungspotentialen zum Ausdruck kommt. Eine solche ungleiche relative Gewinnverteilung beinhaltet ein beträchtliches Konfliktpotential, da es im Interesse eines Landes liegen könnte, eine auf einseitig nationale Vorteile ausgerichtete Politik zu verfolgen. Dieses aus der 'strategischen Handelspolitik' bekannte Dilemma hätte wiederum zur Folge, daß eine Blockierung des Integrationprozesses droht. Schießlich ist zumindest theoretisch die Möglichkeit denkbar, daß mit der EG-Handelsliberalisierung eine Situation eintritt, in der letztlich alle Beteiligten schlechter dastehen als zuvor (Krugman, 1988, S. 119 f.). Dies macht den Fortbestand nationaler Gesundheitspolitik so bedeutungsvoll, denn 'verschleierte' einzelstaatliche Behinderungen lassen sich weiterhin nicht ausschließen und stellen folglich eine latente Bedrohung für die Integration des EG-Arzneimittelmarktes dar. Die vorliegenden Ergebnisse zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Arzneimittelmarktes werden von einigen branchenbedingten Besonderheiten geprägt. Trotzdem lassen sich daraus verschiedene Einsichten herleiten, die eine grundsätzliche Bedeutung für die Integration regulierter Märkte besitzen: - Der EG-Integrationsprozeß stößt vor allem dort auf Schwierigkeiten, wo er mit den einzelstaatlichen Sozialregulierungen in Konflikt gerät. Die Überwindung ökonomischer Regulierungen dürfte unter den gegebenen konzeptionellen Integrationsvoraussetzungen hingegen wesentlich leichter vonstatten gehen. Probleme ergeben sich hier immer dann, wenn 'exogene' Regulierungsziele, wie das der Verteilungsgerechtigkeit oder sonstige gesellschaftliche Anliegen, berührt werden (vgl. Meier-Schatz, 1989). - Ist die Integration regulierter Märkte nicht über eine Deregulierung durchsetzbar, so muß gegebenenfalls verstärkt auf das Konzept der Vorab-Harmonisierung zurückge-

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griffen werden. Dies zeigt sich nicht nur im Beräch des Arzneimittelmarktes, sondern auch im Bereich umweltpolitisch motivierter Produktregelungen, im Bereich des Lebensmittelrechts oder auch auf dem Banken- und Kapitalmarkt. Allerdings besteht hierbei das Problem, daß über das Zurückdrängen der funktionalistischen Harmonisierung der Weg zu einem verstärkten EG-Interventionismus freigemacht wird. Die EG-Integration ist demzufolge der Gefahr ordnungspolitischer Fehlentwicklungen ausgesetzt (vgl. GrOner, in diesem Band). - Gelten Regulierungen als unverzichtbar und betreffen sie eine international agierende Branche, so scheint die Etablierung einer europäischen Zentralinstanz die beste Möglichkeit zu sein, die binnenmarktpolitischen Integrationsziele zu erreichen. Wie das Beispiel des Arzneimittelmarktes zeigt, findet eine derartige Vorgehensweise durchaus Zustimmung bei der Industrie. Allerdings ist zu beachten, daß die Etablierung von europäischen Zentralinstanzen mit beträchtlichen rechtlichen, bürokratischen und machtpolitischen Problemen befrachtet ist (vgl. Joerges, 1991, S. 257). - Gerade für regulierte Märkte, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, dürfte eine gemeinsame innovationsorientierte EG-Industriepolitik von außerordentlicher Bedeutung sein. Eine ihrer dringlichsten Aufgaben wäre es, eine verstärkte Kooperation und Koordination industriepolitischer Ziele und Maßnahmen innerhalb der EG herbeizuführen und innovations- und anpassungsfördernde Rahmenbedingungen europaweit durchzusetzen. Dabei hat sich die rechtliche Grundlage für eine EGIndustriepolitik seit dem Vertrag zur Europäischen Union wesentlich verbessert. Dran hierin werden der Gemeinschaft neue vertragliche Kompetenzen zugesichert, die ihr die Möglichkeit gewähren, künftig verstärkt auf die Schaffung der Voraussetzungen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie einzuwirken (vgl. Deutsche Bundesbank, 1992, S. 256). Allerdings stellt sich auch hier das Problem, daß die EG-Industriepolitik ordnungspolitisch zweckentfremdet wird und möglicherweise als Instrument zur Durchsetzung interventionistischer Ziele und Maßnahmen dient. Für die internationale Integration regulierter Märkte gibt es offenbar kein generell gültiges Rezept. Soweit ein theoretisch begründbarer und politisch unabweisbarer Regulierungsbedarf besteht, ist die institutionelle Vorab-Harmonisierung eine notwendige Bedingung der Schaffung einheitlich regulierter Märkte in Europa. Darüber hinausgehende nationale Regulierungen sollten dem Prozeß der funktionalen Harmonisierung überantwortet werden, so daß es zu einer europaweiten Deregulierung oder zur Herausbildung optimaler Regulierungsgrade und -formen auf den betreffenden EG-Märkten kommt. Die Frage, wo die Grenze zwischen den notwendigen und verzichtbaren Regulierungen zu ziehen ist, bleibt freilich offen und muß von Fall zu Fall entschieden wer-

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den. Das macht die internationale Integration regulierter Märkte zu einer schwierigen und langwierigen Aufgabe, deren Lösung im konkreten Fall völlig offen ist. Auch hierfür bietet der EG-Arzneimittelmarkt ein ernüchterndes Beispiel.

Literatur Bohley, Peter, 1993, Europäische Einheit, föderatives Prinzip und Währungsunion: Wurde in Maastricht der richtige Weg beschritten?, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1/93, S. 34-45. Boroch, Wilfried, 1990, Nationale Gesundheitssysteme in der EG zwischen wettbewerblicher Anpassung und bürokratischer Harmonisierung, Diskussionsbeiträge des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft der Universität Duisburg-Gesamthochschule, Nr. 130, Duisburg. Bundesverband der pharmazeutischen Industrie, 1988, Pharma EG'92. Auf dem Weg in den Gemeinsamen Markt: Ein Überblick, Frankfurt a.M. Burstall, Michael L., 1991, Europe after 1992: Implications for Pharmaceuticals, Health Affairs, Bd. 10, S. 157-171. Burstall, Michael L., 1990, 1992 and the Regulation of the Pharmaceutical Industry, London. Cassel, Dieter, 1991, Arzneimittelinnovationen: Medizinische Notwendigkeit, unternehmerische Aufgabe und ordnungspolitisches Gestaltungsfeld, in: Dieter Cassel (Hrsg.), Arzneimittelentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland im Spannungsfeld von Gesundheits- und Innovationspolitik, Bonn, S. 7-21. Cecchini, Paolo, 1988, Europa'92: Der Vorteil des Binnenmarktes, Baden-Baden. Curzon Price, Victoria, 1988, Nineteen Hundred and Ninety-Two (1992): Europe's Last Chance? From Common Market to Single Market, Lancing, West Sussex. Deutsche Bundesbank, 1992, Internationale Organisationen und Gremien im Bereich von Währung und Wirtschaft, Frankfurt a.M. 1978, 4. Auflage. Diener, Frank, 1990, Arzneimittelpreise in der EG, Pharmazeutische Zeitung (PZ), Nr. 135, Heft 4, S. 9-16. Dönges, Jürgen B., 1989, Deregulierung als ordnungspolitische Aufgabe im EG-Binnenmarkt, LIST FORUM für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Bd. 15, S. 257-275. Economists Advisory Group Ltd, 1988, The 'Costs of Non-Europe' in the Pharmaceutical Industry, Luxembourg.

Integration regulierter Markte: Der EG-Arzneimittelmarkt

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Wiffried Boroch und Dieter Cassel

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Sozialpolitik und Sozialversicherung in der europäischen Integration Peter Oberender und Eva-Maria Reißmann, Bayreuth

I. Einfuhrung und Problemstellung II. Harmonisierung versus Wettbewerb der Systeme - eine ordnungspolitische Grundentscheidung m . Relevante Regelungen der EG bezüglich einer Sozialpolitik 1. Abstimmung der Sozialordnungen (Art. 117 EWGV)

380 380 381 381

2. System zur Sicherstellung der Ansprüche und Leistungen (Art. 51 EWGV)

382

3. Zusammenarbeit in sozialen Fragen (Art. 118 -127 EWGV)

382

4. Zur Rolle des EuGH

383

5. Zusammenfassung

384

IV. Auswirkung der EG-Normen auf Teilsysteme der sozialen Sicherung - eine ordnungspolitische Analyse

385

1. Sozialversicherung a. Krankenversicherung b. Arbeitslosenversicherung

385 385 390

2. Transferzahlungen

393

3. Territorialitätsprinzip als Hemmnis für einen Wettbeweib der Systeme

394

V. Zusammenfassung und Ausblick

395

Abbildungen: Abbildung 1: Die Krankenversicherung in der EG

387

Abbildung 2: Die Arbeitslosenversicherung in der EG

391

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Peter Oberender und Eva-Maria Reißmann

I.

Einführung und Problemstellung Eine europäische Sozialpolitik ist in den Verträgen zur europäischen Gemeinschaft nicht definiert. Jedoch sind supranationale sozialrechtliche Regelungen getroffen worden, die auf die Sozialrechtsordnungen der Mitgliedstaaten Einfluß haben. Darunter sind vor allem der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EWGV), die Verordnungen des Rates der Europäischen Gemeinschaften1 und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu subsumieren. Es existiert eine Fülle von Einzelregelungen, die begleitet werden von einem politischen Diskurs, welchen Stellenwert soziale Belange innerhalb der Tätigkeit der europäischen Gemeinschaft einnehmen sollen. Insbesondere wird diskutiert, wie die in der Präambel des EWG verankerten Ziele - Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, Sicherung des sozialen Fortschritts sowie Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts - erreicht werden sollen. Angesichts dieser Ziele geht es in diesem Beitrag um die Beantwortung folgender Fragen: - Welches stellt den ordnungspolitisch adäquaten Weg für die Erreichung der im EWGV verankerten Ziele dar? - Wie ist die Ausgestaltung der relevanten Regelungen der europäischen Gemeinschaft im Bereich der Sozialpolitik? - Welche Konsequenzen haben die EG-Normen auf Teilsysteme der sozialen Sicherung der Mitgliedstaaten und deren ordnungspolitische Grundentscheidung? - Welche Konsequenzen ergeben sich für eine adäquate ordnungspolitische Ausgestaltung? II.

Harmonisierung versus Wettbewerb der Systeme - eine ordnungspolitische Grundentscheidung

Der EWGV dient zur Errichtung eines gemeinsamen Marktes und soll die Grundfreiheiten im gemeinsamen Markt herstellen und sichern. Dabei enthält der EWGV als rechtliche Legitimation einer zunächst wirtschaftlichen Konföderation Ordnungsgrundsätze, auf denen diese Gemeinschaft aufgebaut werden soll. Als zentrale Planungs- und Lenkungsinstanz ist der Wettbewerb verankert; dies läßt auf eine marktwirtschaftliche Grundentscheidung schließen2. Der Wettbewerb als Suchund Entdeckungsverfahren ist allen anderen Methoden immer dann überlegen, wenn es gilt, komplexe Systeme zu koordinieren. Auch bei den Systemen sozialer Sicherung handelt es sich um ein komplexes Gefüge. Die sozialen Sicherungssysteme der Mit1 2

Einen guten Überblick über die Rechtsgrundlagen der EG gibt Heimich, 1990. Vgl. hierzu auch die Aussage des EuGH, daß mit dem EWGV eine Wettbewerbsordnung geschaffen worden sei; vgl. die Entscheidung 'Grundig-Consten' vom 13.7.1966, Gerichtshof der Europaischen Gemeinschaften, 1966, S. 321 ff.

Sozialpolitik und Sozialversicherung in der europäischen Integration

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gliedstaaten unterscheiden sich in Organisation, Ausgestaltung und Leistungshöhe vielfältig voneinander; jedes dieser Systeme ist von nationalen Besonderheiten gekennzeichnet, die auf jahrzehntelanger Entwicklung, Tradition sowie unterschiedlichen Auffassungen und Ideologien beruhen. Eine Vorab-Harmonisierung würde die Kenntnis eines 'optimalen Sicherungssystems' voraussetzen, die es in einer sich entwickelnden Umwelt nicht geben kann (Oberender, 1992). Voraussetzungen dafür, daß der Wettbewerb als Such- und Entdeckungsverfahren unter den unterschiedlichen Systemen wirken kann, sind die Gewährung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer sowie die Niederlassungsfireiheit. Hierbei ist zentrales Kriterium die formale Wahlfreiheit der Bürger der einzelnen Mitgliedstaaten, die Leistungen zu wählen, die ihren Präferenzen am nächsten kommen. Im folgenden sollen nun zunächst die Regelungen des EWGV dargestellt und auf ihre Ordnungskonformität hin überprüft werden. III. Relevante Regelungen der EG bezüglich einer Sozialpolitik Die Grundlage einer europäischen Sozialpolitik ist der EWGV, der in Verordnungen sowie Richtlinien konkretisiert wurde. Diese lassen sich in drei Gruppen differenzieren: - Allgemeine Ziele (Präambel Art. 117 und 130a EWGV), - Freizügigkeit der Arbeitnehmer sowie Verhinderung einer Beeinträchtigung der Freizügigkeit durch soziale Nachteile (Art. 51 EWGV), - Konkrete Einzelmaßnahmen (Art. 118 bis 127 EWGV). 1.

Abstimmung der Sozialordnungen (Art. 117 EWGV) Die in der Präambel festgelegten Ziele werden in Art. 117 und 130a EWGV aufgegriffen und bezüglich einer Zielerreichung konkretisiert. Die Ziele des EWGV sollen erreicht werden zum einen durch ein die Abstimmung der Sozialordnungen begünstigendes Wirken des gemeinsamen Marktes, durch die im Vertrag implementierten Verfahren sowie durch eine angestrebte Angleichung der Rechts- und Verhaltungsvorschriften. Art. 117 EWGV gibt nach Auffassung des EuGHs eine verbindliche Zielbestimmung, die bei Nichterreichung zur Tätigkeit (Richtlinienerlaß) der EG-Organe führen kann, jedoch gerichtlich weder einklagbar noch überprüfbar ist (vgl. Bleckmann, 1990, S. 736). Über diese allgemeine Zielformulierung hinaus enthält der EWGV in Art. 51 eine Norm, die maßgeblichen Einfluß auf die soziale Sicherung innerhalb der europäischen Gemeinschaft hat.

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Peter Obereruier und Eva-Maria Reiß/norm

2.

System zur Sicherstellung der Ansprüche und Leistungen (Art. 51 EWGV) Mit Art. 51 EWGV wird die Freizügigkeit der Arbeitnehmer explizit auf Regelungen der sozialen Sicherheit ausgedehnt. Intention dieser Regelung ist es, daß keine Benachteiligung einzelner EG-Bürger aufgrund von Wanderungsbewegungen zwischen den Mitgliedstaaten der EG in sozialen Belangen erfolgen sollen. Art. 51 EWGV enthält zwei wesentliche Bestandteile: die Zusammenrechnung der Versicherungszeiten und die Zahlung von Leistungen (Transfers) an Personen, die in anderen Mitgliedstaaten wohnen3. Umgesetzt wurde Art. 51 EWGV in der Verordnung des Rates über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Nr. 1408/71 EWG). Diese Verordnung regelt den Anspruch eines Arbeitnehmers in den Leistungsarten: Krankheit und Mutterschaft, Invalidität, Renten, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, Sterbegeld, Arbeitslosigkeit und Familienleistungen sowie Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern und Verwaisten. Ausgenommen sind hierbei die Fürsorge (Sozialhilfe), die Leistungssysteme für Opfer des Krieges und Sondersysteme für Beamte und ihnen gleichgestellte Personen (Schulte, 1982a, S. 364). In diesem Zusammenhang soll die Sozialversicherung in der Weise koordiniert werden, daß Ansprüche eines Arbeitnehmen nicht durch einen Wechsel zwischen Sozialversicherungssystemen erlöschen, jedoch ist auch keine Kumulierung von Leistungen möglich (Oppermann, 1991, S. 562f.). Die Verordnung löst zwischenstaatlich geschlossene Abkommen über die soziale Sicherheit ab, jedoch können nach Nr. 8 der Verordnung Verträge über die zwischenstaatliche Verrechnung von Ansprüchen geschlossen werden. 3.

Zusammenarbeit in sozialen Fragen (Art. 118 - 127 EWGV) Die europäischen Verträge enthalten eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen, die zur Erreichung der sozialen Ziele der EG dienen sollen. Darunter sind zu subsumieren: - Beschäftigung: Im Sinne der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit werden die Mitgliedstaaten zu einer Zusammenarbeit aufgerufen. Die Existenz zahlreicher Einzelmaßnahmen der EG, wie z. B. Aktionsprogramme zur Förderung des Beschäftigungswachstums oder die Verabschiedung einer Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften bei Massenentlassungen, bleibt die Beschäftigungspolitik im Rahmen der Wirtschaftspolitik dennoch in erster Linie in der Kompetenz der Mitgliedstaaten (vgl. Bleckmann, 1991, S. 600 f.) Zum sachlichen und persönlichen Geltungsbereich sowie zu den immanenten Grundsätzen

vgl. Grabitz, 1990, S. 6ff.

Sozialpolitik und Sozialversicherung in der europäischen Integration

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- Verbesserung der Arbeitsbedingungen und des Gesundheitsschutzes sowie Verhütung von Berufsunfàllen und Berufskrankheiten: Art. 118a EWGV ermöglicht den Erlaß von Mindestvorschriften in Gestalt von Richtlinien4. Kontrovers diskutiert wird in diesem Zusammenhang das Spannungsverhältnis zwischen nichttarifären Handelshemmnissen und Normen zum Gesundheits- und Arbeitnehmerschutz (vgl. Sachverständigenrat, 1990, S. 196). - Arbeits- und Koalitionsrecht: Die Bemühungen einer Angleichung konzentrieren sich auf die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Unternehmen, die im Rahmen einer Europäischen Aktiengesellschaft und der Rechtsangleichung im Gesellschafts- und Untemehmensrecht EG-weit geregelt werden soll. Die bisher ergangenen Vorschläge erhielten jedoch keine Zustimmung des Rates (vgl. Bleckmann, 1991, S. 606 ff.). - Gleichstellung von Mann jind Frau: Im Gegensatz zu den sonst sehr weichen Regelungen ist der Grundsatz des gleichen Entgeltes als eine unmittelbar geltende Gemeinschaftsnorm zu verstehen (vgl. Bleckmann, 1991, S. 608 f.). Im Rahmen des sekundären Gemeinschaftsrechts wurde Art. 119 EWGV auf eine allgemeine sozialpolitische Gleichstellung erweitert (vgl. Bleckmann, 1991, S. 610; Heinrich, 1990, S. 56 ff.). - Regelung zum Sozialfonds: Die zentrale Aufgabe wird - im Sinne des Art. 123 EWGV - in der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zur Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit gesehen (vgl. Bleckmann, 1991, S. 612 f.) 4.

Zur Rolle des EuGH Die Rechtsprechung des EuGH zielt auf die Durchsetzung von Gemeinschaftsrechten ab. In sozialen Angelegenheiten ist keine unmittelbare individuelle Klagemöglichkeit gegeben (Ewert, 1987, S. 32 f.). Das Tätigweiden des EuGH umfaßt Untätigkeitsklagen der EG-Kommission gegen Mitgliedstaaten5 und Vorabentscheidungen gemäß Art. 177 EWGV. Vorabentscheidungen entstehen durch Anrufen des EuGH von nationalen Gerichten zur Klärung von Angelegenheiten, in denen Gemeinschaftsrecht materielles Recht der Mitgliedstaaten abgelöst hat. Zielsetzung ist die Vereinheitlichung des Rechts innerhalb der Mitgliedstaaten und die Verhinderung unterschiedlicher Rechtsentwicklung in den Mitgliedstaaten (vgl. Ewert, 1987, S.14). Inhalte solcher Verfahren sind vor allem die Klärung des sachlichen und persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr.

Eine Übersicht Ober die zahlreich erlassenen Richtlinien gibt Heinrich, 1990, S. 69 ff. Angeführt sei hier eine Untätigkeitsklage der EG-Kommission gegen Großbritannien in bezug auf die Gleichstellung von Mann und Frau nach Art. 119 EWGV (vgl. Schulte, 1982a, S. 372 ff.). Zur Rechtsprechung des EuGH zum Grundsatz der Gleichbehandlung von M3nnern und Frauen vgl. Schulte, 1982b, S. 461 ff.

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Peter Oberender und Eva-Maia Reißmann

1408/71 und VO Nr. 574/72 (Vgl. Maydell, 1984, S. 767 ff.) 6 . In diesem Zusammenhang ist ein Urteil des EuGH zur Leistung bei Krankheit nach Art. 22 der VO Nr. 1408/71 zu erwähnen. Nach der Entscheidung des EuGH kann ein Versicherungsträger die Genehmigung für die Sachleistung in Form einer Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat nicht versagen, wenn der Arbeitnehmer diese Behandlung in seinem Wohnstaat nicht erhalten kann. Diese Regelung gilt auch dann, wenn der betreffende Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat eine wirksamere Behandlung erhalten kann (vgl. Schulte, 1982a, S. 369 f.). Sollte dies zur allgemeinen Norm werden, so erfährt mit dieser Entscheidung des EuGH die ursprüngliche Intention einer Koordinierung eine Tendenz auf eine Harmonisierung des Leistungsanspruchs nach dem Maximalprinzip, d.h. die höchste gewährte Leistung wird zur Richtschnur. Insgesamt läßt sich feststellen, daß der EuGH mit seinen Entscheidungen ein sekundäres Gemeinschaftsrecht aus der Zielsetzung des Art. 51 EWGV herleitet. Bei der Durchsetzung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer nimmt der EuGH sogar eine Besserstellung der Wanderarbeitnehmer gegenüber einheimischen Arbeitnehmern in Kauf (vgl. Schulte, 1982a, S. 374). 5.

Zusammenfassung Die europäische Gemeinschaft besitzt keine umfassende Regelungsbefugnis im Bereich der Sozialpolitik. Eine Kompetenz ergibt sich nur durch eine Übertragung (ausdrücklich oder stillschweigend) der Befugnisse der Nationalstaaten an die europäische Gemeinschaft. Es gilt das Prinzip der enumerativen Einzelermächtigung. Dies bedeutet, daß die Sozialpolitik primär die Aufgabe der EG-Mitgliedstaaten darstellt, die europäische Gemeinschaft besitzt nur eine koordinierende Funktion (Abstimmung der Sozialordnungen). Eine Gemeinschaftskompetenz besteht nur in direkt ausgewiesenen Punkten. Die EG verfügt damit über keine originäre Gemeinschaftssozialpolitik, sondern hat lediglich eine Rechtsangleichungskompetenz, deren Voraussetzung das Vorliegen nationaler Regelungen ist. Nach Art. 100 EWGV hat die EG eine Handlungsermächtigung für den Erlaß von Richtlinien für die Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des gemeinsamen Marktes auswirken. Damit ergibt sich kein genereller Ausschluß eines Wettbewerbs der sozialen Systeme durch den EWGV. In einigen Bereichen zeigt jedoch die-Rechtsprechung des EuGH die Tendenz zur Ausdehnung einer reinen Koordinierung hin zu einer Harmonisierung. 6

Als Beispiel für die KlSrung des persönlichen Geltungsbereich soll die Ausweitung des Begriffs 'Arbeitnehmer' durch den EuGH dienen (vgl. Streit, 1986, S. 105 f.). Der Versuch, Kriterien für die Abgrenzung von Sozialhilfe zu entwickeln, sei als ein Beispiel für die Regelung des sachlichen Geltungsbereichs zu verstehen (vgl. Schulte, 1982a, S. 364.).

Sozialpolitik und Sozialversicherung in der europäischen Integration

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Im folgenden Abschnitt sollen nun die Auswirkungen der EG-Normen auf die Teilsysteme der sozialen Sicherung betrachtet werden. Es stellt sich die Frage, inwieweit hier Wettbewerb der Systeme existiert oder gegenwärtig überhaupt möglich ist. IV. Auswirkung der EG-Normen auf Teilsysteme der sozialen Sicherung - eine ordnungspolitische Analyse Im folgenden wird zwischen Bereichen der in Deutschland traditionellen Sozialversicherung und den Transfers durch den Staat differenziert7. Unter die Sozialversicherung wird die Kranken-, Unfall, Renten- und Arbeitslosenversicherung subsumiert. Diese Zweige erfahren in allen Mitgliedstaaten der EG eine Regelung, die sich jedoch in der nationalen Ausgestaltung sehr unterschiedlich darstellen. Diese erheblichen Unterschiede in Finanzierung, Organisation, Leistungsanpruch veranlaßten die Organe der EG, bisher auf eine Harmonisierung im Bereich der Sozialversicherung zu verzichten. Die Kompetenzverteilung in der EG fuhrt, wie bereits oben angeführt, zu einer prinzipiellen Zuständigkeit der nationalen Regierungen für die Ausgestaltung der Sozialsysteme. Nur die Belange, welche die Mitgliedstaaten überschreiten, werden von der EGKommission und dem EuGH behandelt. Grundlage hierfür ist das Territorialitätsprinzip, welches der völkerrechtlichen Abgrenzung staatlicher Hoheitsgewalt dient. Der Hoheitsgewalt eines Staates unterliegen alle Personen und Sachen, die sich innerhalb seines Gebietes befinden (vgl. Klang, 1986, S. 23 f.). Im Sozialrecht erlangt es seine Bedeutung in der Regelung der Versicherungspflicht (vgl. Bleckmann, 1975, S. 175). Die Sozialversicherungspflicht erfaßt nur inländische Arbeitsverhältnisse, das Territorialprinzip schließt aber Zahlungen von Versicherungsleistungen in andere Mitgliedstaaten nicht aus (vgl. Bleckmann, 1972, S. 762; 1969/1970, S. 117)8. Damit bleibt die Ausgestaltung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit prima facie in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Die Auswirkungen dieser Regelungen auf Teilsysteme der sozialen Sicherheit sollen nun analysiert werden. 1. a.

Sozialversicherung Krankenversicherung In allen Mitgliedstaateh der EG sind Vorkehrungen getroffen, damit Kranke unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage behandelt werden können (vgl. Oberender, 1992, S. 187 ff.). Erwerbstätige haben femer generell einen Anspruch auf LohnfortDiese Unterscheidung gilt aus Sicht der deutschen Regelungen, da sich in anderen Mitgliedstaaten die Organisation der sozialen Absicherung anders gestalten kann. Vgl. hierzu zwei Urteile des Bundessozialgerichts, das die Leistungspflicht bei erworbenen Ansprachen bestätigt: Bundessozialgericht, 1971, S. 288 ff.; 1972, S. 280 ff.

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Peter Oberender und Eva-Maria Reißmann

Zahlung im Krankheitsfall. Trotz dieser Gemeinsamkeiten bestehen doch erhebliche Unterschiede in der konkreten nationalen Ausgestaltung (vgl. hierzu Abbildung 1). Hinsichtlich der Organisationsform existieren als Grundformen ein Krankenversicherungssystem und ein nationaler Gesundheitsdienst (Vgl. Smigiebki, 1989, S. 224). Für das Versicherungssystem ist es charakteristisch, daß die Leistungen zumindest überwiegend aus Beiträgen finanziert werden. Die Krankenkassen arbeiten nach dem Sachleistungs- oder Kostenerstattungsprinzip. Die Ärzte sind in der Regel freiberuflich tätig. In einem nationalen Gesundheitsdienst werden medizinische Leistungen unentgeltlich abgegeben und im wesentlichen aus Haushaltsmitteln finanziert. Ärzte sind in einem solchen System in der Regel staatliche Angestellte. Die Koordination der unterschiedlichen Systeme ist durch die VO 1408/71 EWG gegeben. Voraussetzung für Leistungsansprüche in einem anderen Mitgliedstaat sind entweder ein vorübergehender Auslandsaufenthalt, z.B. als Tourist, oder ein gewöhnlicher Aufenthalt, z.B. ein Rentner, der sich in südlichen EG-Staaten während des Winters aufhält. Im Krankheitsfall bestehen Ansprüche auf Sachleistungen im Wege der Leistungsaushilfe für Erkrankungen, die eine unverzügliche Behandlung erfordern und einen Aufschub bis zur Rückkehr in den Heimatstaat nicht zulassen (zum Dringlichkeitsprinzip vgl. Smigielski, 1989, S. 225; Neumann-Duesberg, 1990, S. 111 ff.). Art und Höhe des Leistungsanspruches richten sich dabei nach dem Recht des Aufenthaltsstaates. Die Kostenerstattung erfolgt durch den zuständigen Träger für Leistungsaushilfe CNeumann-Duesberg, 1990, S. 115). Für die Behandlung einer bereits bestehenden Erkrankung in einem anderen Mitgliedstaat ist die Genehmigung des Leistungsträgers einzuholen. Diese Genehmigung ist zu erteilen, wenn eine entsprechende Behandlung im Heimatstaat nicht oder eine wirksamere Behandlung in einem Mitgliedstaat möglich ist (vgl. hierzu auch die Rechtsprechung des EuGH, s. Kap. III.4.). Hierbei ist der Leistungsumfang der heimischen Versicherung medizinischen Gesichtspunkten unterzuordnen. Für den einzelnen Versicherten besteht in seinem Heimatstaat nicht nur Versicherungspflicht, sondern in der Regel auch ein Versicherungsartenzwang. Das bedeutet, daß der einzelne Bürger Versicherungsart und Leistungsumfang nicht nach seinen Präferenzen bestimmen kann, vielmehr wird dies für alle einheitlich festgelegt. Aufgrund des Territorialitätsprinzips, das die Kompetenzabgrenzung in sozialpolitischen Belangen auf das Hoheitsgebiet vornimmt, ist im derzeitigen System die Öffnung der Systeme der sozialen Sicherheit durch die Regierungen der Mitgliedstaaten erforderlich, soll dem Einzelnen eine Wahlfreiheit auch über die Grenzen des Heimatstaates hinaus ermöglicht werden.

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Krankenversicherungssystem

Ii 3 Karenztage.

50% de* beitragspflichtigen Entgelts für max. 3 Jahre. Bei 3 unterhaltsberechtigten Kindern ab 31. Tag Anstieg auf 2/3.

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für alle Arbeitnehmer: Nach 3 Jahren BetriebszugebSrigkeit 90% des Bruttolohns für 30 Tage, für weitere 30 Tage 2/3 des Lohns. Max. Fortzahlungsdauer 90 Tage. Viele Tarifverträge enthalten Verbesserungen, insbes. für Angestellte oft für die ersten 3 Monate volles Gehalt.

für Angestellte: 100% für 1 Woche; für Arbeiter: 90% des normalen Lohns für 1 Woche bis Höchstgrenze von 2339 dkr (1988). Bei Entgeltförtzahlung über 1 Woche hinaus hat der AG Rückerstattungsansprüche gegenüber Staat.

Max. 60% des Brattoentgelts für max. 1 Jahr, danach Erwerbsunfihigkeitsrente. Keine Karenztage.

1

in der europäischen

AN: 5.9% AG: 12,6% Beitragsbemessungsgrenze: keine SB: 30% bei Arzneimitteln (60% bei Bagatellarzneimitteln); 25% bei ambulanter und 20% bei stationärer Behandlung bei unter 30 tägigem Klinikaufenthalt Staat: Zuschuß zum Defizit

Sachleistungsprinzip

für Angestellte: 100% des Bnittogehalts für 1 Monat für Arbeiter: 100% des Lohns für 1 Woche. 60% des Lohns in der 2. Woche (gesetzlich) Bis zum 30. Tag Zuschuß in Höhe des Unterschieds zwischen Krankengeld und früherem Nettolohn (tariflich).

80% des Bruttoentgeltes bis zur Beitragsbemessungsgrenze; jedoch für ein und dieselbe Krankheit nicht länger als 78 Wochen innerhalb von 3 Jahren. Keine Karenztage.

Krankenversicherung (Krankengeld)

Geldleistungen

für alle Arbeitnehmer: 100% de Bnittoentgeltes für die ersten 6 Wochen

(Entgeltfortzahlung)

Arbeitgeber

Leistungen

und Sozialversicherung

Alle Arbeitnehmer

Iii Kostenerstattungsprinzip

M

AN: 1,85% des steuerpflichtigen Einkommens Beitragsbemessungsgrenze: keine SB: teilweise bei Arzneimitteln, ambulanter und stationärer Behandlung

Sachleistungen

± §'S

DK

AN und AG jeweils ca. 6,S% der Grundlohnsumme Beitragsbemessungsgrenze: 4575 DM monatl. SB: gering bei Krankenhauspflege, teilweise bei Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, S0% bei Zahnersatz.

AN: Arbeitnehmer AG: Arbeitgeber SB: Selbstbeteiligung der Patienten

Finanzierung

A b b i l d u n g 1:

AN: 3,7% AG: 6% Beitragsbemessungsgrenze: keine Staat: Zuschüsse für Witwen, Waisen und Rentner SB: max. 25% bei ambulanten Leistungen. Ausnahmen sind vorgesehen.

Alle Arbeitnehmer Krankenversicherungssystem

Organisationsform

Geltungsbereich

Sozialpolitik Integration • 387 •

D i e Krankenversicherung in der E G

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1

-

Nationaler Gesundheitsdienst

Alle Arbeiter

Nationaler Gesundheitsdienst

AN: 1,05% - AG: 1,06% Beitragsbemessungsgrenze: keine SB: 3000 Lit für jedes vom Hausarzt ausgestellte Rezept; bei Arzneimitteln 30% bis max. 20000 Lit pro Rezept; bei fachärztl. Untersuchungen und Analysen 30% bis max. 15000 Lit; 10000 Lit pro Krankenhaustag bis max. 200000 Lit p.a.; Ausnahmeregelungen für Amte, Sozialrentner und Pensionäre. Staat: Zuschüsse

AN, AG: Allgemeiner Nationalversicherungsbeitrag AN: 7,75% des Bruttoentgelts AG: 12,4% des Bruttoentgelts Beitragsbemessungsgrenze: zwischen 15.500 u. 16.200 Ir. £ p.a. SB: wie Dänemark Staat: größter Financier

Alle Beschäftigten über 16 Jahre

Nationaler Gesundheitsdienst

AG, AN: Allgemeiner Natiooalvereichenmgsbeitrag. AN: 5-9% vom Bruttoentgelt (je nach Einkommenshöhe von wöchentl. 41-305 £) AG: 5-10,45% vom Bruttoentgelt: keine Obergrenze. Beitragsbemessungsgrenze: für AN 305 £; SB: keine Staat: größter Financier

Alle Arbeitnehmer und Selbständigen

Sachleistungsprinzip

Sachleistungsprinzip

Sachleistungsprinzip

für Angestellte: je nach Betriebs Zugehörigkeit mindestens 3 Monatsgehälter (Gesetz) für Arbeiter: kein gesetzlicher Anspruch. Zahlreiche Tarifverträge sehen bei 3 Jahren Betriebszugehörigkeit 3 Monate vor. Krankengeld der Sozialversicherung wird angerechnet.

für alle Arbeitnehmer: Anspruch nur tariflicher oder einzelvertraglicher Basis. AG kann Krankengeld anrechnen.

für alle Arbeitnehmer: max. 28 Wochen gesetzliches Krankengeld. Höhe abhingig vom Bruttoentgelt. AG hat Erstattungsanspruch gegenüber staatlicher Versicherung. Fast alle AN durch Tarifverträge bessergestellt.

Krankenversicherung (Krankengeld)

Angestellte: kein Ansprach

3 Karenztage

Arbeiter: 50%; ab 21. Tag 2/3 des durchschnittlichen Tagesentgelts für max. 180 Tage p.a.

3 Karenztage.

Fester Gnmdbetng + Zuschlag für Unterhaltsberechtigte -l- entgeltbezogener Zuschlag.

3 Karenztage.

Fester Grundbetrag für max. 168 Tage, dann Invaliditätsrente.

S i* Jo e- «o Ii 4 isjlj 1 i-sli?

GB

für alle Arbeitnehmer: Je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit höchstens 50 * des Arbeitsentgelts für max. 1 Monat. Gesetzliches Krankengeld wird angerechnet.

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Nationaler Gesundheitsdienst

Leistungen

A

Sachleistungsprinzip

Sachleistungen 1

AN: 2,25« AG: 4,5% Beitragsbemessungsgrenze: monatl. 169.825 Dr. SB: keine Staat: Zuschuß zum Defizit

Finanzierung AN: Arbeitnehmer AG: Arbeitgeber SB: Selbstbeteiligung der Patienten 'S O

Alle Arbeitnehmer

Organisationsform

Geltungsbereich S ei c 3 Î5 'S

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•388-

Peter Oberender und Eva-Maria Reißmann

Organisationsform

Geltungsbereich

Krankenversiebefungssystem

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Land

AN: 6,1«-AG: 14,45« Beitragsbemessungsgrenze: 263 hfl pro Tag bei Sach- und Geldleistungen: 65.900 hfl (1989); bei Versicherung gegen schwere Krankheitsrisiken SB: bei über 6monatigen Aufenthalten in Pflegeheimen einkommensabhingige Zuzahlungen bei Erwachsenen Staat: Zuschüsse zur Versicherung für schwere Risiken

AG: 4,22« - AN: 4,22« SB: je 20« bei erstem Hausbesuch eines prakt. Arztes, bei gingigen Arzneien, bei Zahnersatz, sofern Pflichtuntersuchung versäumt wurde.

AN: Arbeitnehmer AG: Arbeitgeber SB: Selbstbeteiligung der Patienten

Finanzierung

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a. . Sachleistungsprinzip

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Einheitlicher Beitrag für Krankenversicherung, Mutterschaft, Invalidenversicherang, Alter und Familienbeihilfe. AN: 4,8« - AG: 24« 12 Beitragsbemessungsgrenzen nach Gehaltsklassen; die gängigste 155520 Pts. pro Monat, die höchste 275820 Pts. pro Monat (1989). SB: keine Staat: Zuschüsse

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Alle Arbeitnehmer im Industrie- und Dienstleistungsbereich Nationaler Gesundheitsdienst

Sachleistungsprinzip

Kostenerstattungsprinzip

Sachleistungen

1

70« des Tagesentgeltes (bis Beitragsbemessungsgrenze); max. 52 Wochen pro Krankheitsfall, dann Invalidenrente.

für alle Arbeitnehmer: je nach Betriebszugehörigkeit 100« des Lohns für 6 Wochen (gesetzlich). Oft tarifvertragliche Aufstockung oder Verlängerung

für alle Arbeitnehmer: kein gesetzlicher Anspruch, oft tarifvertraglicher Anspruch auf Differenz zwischen Lohn und Krankengeld.

Alle Arbeitnehmer: 1 Monat, jedoch nur, wenn kein Anspruch auf Versicheningsleistungen besteht.

n.v.

n.v.

3 Karenztage.

60« des Bruttolohns bis zur Beitragsbemessungsgrenze. 75« ab21. TagBrmax. 18 Monate, dann vorliufige Invalidität.

60« des Duichschnittsentgelts der beiden Monate vor der Erkrankung für max. 1095 Tage, dann Invalidenrente. Karenztage bei ambulanter Behandlung.

2 Kaienztage.

(Krankengeld)

Geldleistungen Krankenversicherung

Arbeitgeber (Entgeltfortzahlung)

Leistungen 1

Sozialpolitik und Sozialversicherung in der europäischen Integration •389-

U

Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (Hrsg.), 1989, Apotheken-Report 35, Frankfurt, S. 23-28. ^ ^

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Peter Oberender und Eva-Maria Reißmann

Während die Wahlfireiheit für den einzelnen Versicherungspflichtigen noch sehr eingeschränkt ist, wurde für die Leistungsanbieter die Dienst- und Niederlassungsfreiheit bereits weitgehend umgesetzt. So wurden Mindestanforderungen angesichts unterschiedlicher Ausbildungssysteme formuliert und werden die Diplome im allgemeinen gegenseitig anerkannt. Somit darf kein Leistungserbringer wegen der Zugehörigkeit zu einem anderen EG-Mitgliedstaat bei der Niederlassung diskriminiert werden. Mit der Niederlassung hat sich der betreffende Leistungserbringer jedoch dem Standesrecht des jeweiligen Mitgliedstaates unterzuordnen. Zusammenfassend läßt sich festhalten, dafi in der Krankenversicherung der Wettbewerb der Systeme nur durch eine Veränderung der Zugehörigkeit zu einem Mitgliedstaat ('voting by feet') möglich ist. Ursache dafür ist die fehlende formale Wahlfireiheit bezüglich der Versicherung im Heimatstaat auch nach Systemen anderer Mitgliedstaaten. Ferner kann ein Wettbewerb der Systeme nur stattfinden, wenn der vom Versicherten gewählte Leistungsumfang auch für die Behandlung im Krankheitsfall in anderen Mitgliedstaaten maßgeblich ist, also hier auch das Ursprungslandprinzip angewandt wird. b.

Arbeitslosenversicherung Eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ist auch in jedem Mitgliedstaat der EG gegeben. Eine Übersicht über die nationalen Regelungen gibt Abbildung 2. Voraussetzung für die Sicherung im Falle der Arbeitslosigkeit sind in allen Mitgliedstaaten eine vorangegangene Beschäftigung und die Leistung von Beitragszahlungen. Die Voraussetzungen (Mindestbeschäftigungszeiten) für eine Versicherungsleistung variieren innerhalb der EG jedoch erheblich. Der Erhalt von Arbeitslosengeld erfordert die Meldung beim Arbeitsamt als arbeitsuchend und die Bereitschaft, eine zumutbare Beschäftigung anzunehmen (Vermittelbarkeit). Im Falle der Arbeitslosigkeit bewirkt die Anwendung des Tenitorialitätsprinzips, daß ein Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedstaat den Inländern gleichgestellt ist. Das heißt, es besteht auch eine Leistungspflicht gegenüber einem Beschäftigten aus einem anderen Mitgliedstaat, wenn dieser Leistungsanprüche erworben hat und einen Wohnsitz im entsprechenden Land besitzt. Ein Arbeitsuchender muß sich noch vier Wochen im Staate seiner ehemaligen Beschäftigung aufhalten und der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen, danach kann er in sein Heimatland zurückkehren und die Leistung des Arbeitslosengeldes dennoch in Anspruch nehmen. Voraussetzung hierbei ist, daß er sich bei der dortigen Arbeitsvermittlungsbehörde als arbeitsuchend meldet.

Sozialpolitik

und Sozialversicherung

in der europäischen

Integration

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•392-

Peter Oberender und Eva-Maria Reißmann

Stand: 1988; In Ländern mit Allgemeinem Nationalversicherungsbeitrag deckt dieser auch die Leistungen anderer Systeme (z.B. Rentenversicherung) ab. Er läßt sich für die Arbeitslosenversicherung nicht gesondert ausweisen. Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), Informationsdienst der deutschen Wirtschaft (iwd), 1989, Jg. 15, Nr. 18 vom 4.5.1989, S. 5.

Sozialpolitik und Sozialversicherung in der europäischen Integration

•393-

Diese Regelung wird in der Öffentlichkeit stets kontrovers diskutiert. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erhebt in seinem Gutachten von 1989 Bedenken gegenüber dem Export von Sozialleistungen (vgl. Sachverständigenrat, 1989, S. 199). Dies« sieht das Primat der Wiederbeschäftigung dadurch gefährdet. Dieser Argumentation kann jedoch, soll die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten der EG verwirklicht werden, nicht zugestimmt werden. Ein Arbeitnehmer, der in einem Staat da- EG Ansprüche erworben hat, muß auch Leistungen erhalten können, wenn er sich in einem anderen EG-Staat arbeitsuchend meldet. Er genügt damit den Anforderungen, die auch an einheimische Arbeitslose gerichtet werden. Nur auf diese Weise ist es möglich, die Grenzen innerhalb des Binnenmarktes zu überwinden, was eine der wesentlichen Zielsetzungen des EWGV darstellt. Eine Abschottung der sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten voneinander verhindert einen Wettbeweib der sozialen Sicherungssysteme und damit eine Weiterentwicklung von Systemen, indem Impulse von außen und das Aufbrechen von starren Strukturen nicht zugelassen werden. 2.

Transferzahlungen Transferzahlungen werden vom Staat nach dem Wohnort- oder dem Beschäftigungslandprinzip vergeben. Bezüglich dieser Prinzipien müssen die Mitgliedstaaten grundsätzlich Wahlfreiheit haben, soll ein Wettbewerb der Systeme auch im Bereich der Transferzahlungen möglich sein. Bei Transferzahlungen nach dem Beschäftigungslandprinzip hat ein Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedstaat auch dann Anspruch auf eine Leistung, wenn er und/oder seine Familie im Heimatstaat wohnen. Werden im Heimatstaat Leistungen nach dem Wohnortprinzip gewährt, so entstehen keine Ansprüche auf Sozial transferleistungen des Beschäftigungslandes, wenn sich der Wohnort im Heimatstaat befindet. Diese Aussagen sollen am Beispiel des Kindergeldes verdeutlicht werden. Nach Art. 73 der VO Nr. 14708/71 hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf Kindergeld des Beschäftigungslandes, auch wenn die-Familie des Arbeitnehmers im Heimatstaat wohnhaft ist. Ist ein Teil der Familie im Heimatstaat beschäftigt und bestehen somit Ansprüche auf Kindergeld des Heimatstaates, so können die Ansprüche auf eine vergleichbare Leistung nicht kumuliert werden, d. h. die Ansprüche im Beschäftigungsstaat sind auszusetzen. Der EuGH hat diese Regelung insofern erweitert, daß der Differenzbetrag einer im Beschäftigungsstaat höhnen Leistung im Vergleich zu der des Heimatstaates dem Arbeitnehmer zu gewähren ist, um eine Diskriminierung des Wanderarbeitnehmers zu

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Peter Oberender und Eva-Maria Reißmann

verhindern (vgl. Schulte, 1982b, S. 457 f.). Diese Regelung wurde vom Sachverständigen rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung als Sozialleistungstransfer kritisiert. Das Kindergeld sei als ein Instrument des Familienlastenausgleichs zu betrachten, dessen Leistungshöhe sich an den Lebensverhältnissen des Landes orientieren müßte, in dem die Kinder des Arbeitnehmers lebten (Sachverständigenrat, 1989, S. 199). Wettbewerb der Systeme beinhaltet jedoch gleiche Gewährung von Leistungen bei gleichen Ansprüchen - auch von Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten, die dann in Konkurrenz zu anderen Leistungsregelungen treten. Soll ein Wettbeweib auch der Transferleistungssysteme stattfinden, so ist dem jeweiligen Mitlgliedstaat lediglich freizustellen, nach welchem Prinzip die Leistung gewährt werden soll, bei einem gleichzeitig verankerten Kumulationsverbot der Ansprüche des Einzelnen. 3.

Territorialitätsprinzip als Hemmnis für einen Wettbewerb der Systeme Wie aus den bisherigen Ausführungen deutlich wird, sind im System der sozialen Sicherung der EG Elemente eines Wettbewerbs der Systeme vorhanden, während andererseits das Bestimmungslandprinzip vorherrscht. Den Anforderungen eines Wettbewerbs der Systeme genügen die Ausgestaltung der Ansprüche für Transferzahlungen, z. B. Kindergeld, das unabhängig vom Wohnort der Angehörigen eines Arbeitnehmers bei Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen gewährt wird. Auch die Durchsetzung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfireiheit verwirklicht nur eine Teilvoraussetzung für einen Wettbewerb der Systeme. Einem Wettbewerb der Systeme steht das Territorialitätsprinzip in Belangen der individuellen Versicherungspflicht entgegen. Eine Wahlfreiheit des Einzelnen in bezug auf die Versicherungsmöglichkeit auch in anderen Systemen der EG ist bisher nicht gegeben. Das Territorialitätsprinzip ermöglicht den Regierungen der EG-Mitgliedstaaten, nicht nur die Versicherungspflicht, sondern auch einen Versicherungsartenzwang zu verankern. Die Durchsetzung eines Wettbewerbs der Systeme erfordert daher die Aufhebung des Territorialitätsprinzips. Hierzu ist die EG zur Einführung einer EG-weiten Versicherungspflicht und der Anwendung des Ursprungslandprinzips für Systeme der sozialen Sicherung zu ermächtigen. Dies hätte zur Folge, daß ein Teilsystem der sozialen Sicherung eines Mitgliedstaates in allen anderen Mitgliedstaaten zur Betätigung berechtigt ist, sobald es die Erlaubnis des Tätigwerdens in einem Mitgliedstaat besitzt. Zur vollen Wirkungsentfaltung eines Wettbewerbs der Systeme muß in einem weiteren Schritt das Bestimmungslandprinzip bei der Leistungspflicht aufgehoben werden. Ein Beispiel hierfür ist die Gewährung einer Behandlung im Krankheitsfall in einem

Sozialpolitik und Sozialversicherung in der europäischen Integration

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anderen Mitgliedstaat, auch wenn die Leistung nicht im Leistungskatalog des jeweiligen Versicherungsträgers enthalten ist. Hier ist der Konsumentensouveränität voll Rechnung zu tragen; der einzelne Bürger besitzt Wahlfreiheit bezüglich des Leistungsumfanges durch die Wahl eines seinen Präferenzen entsprechenden Versicherungssystems. Nach diesen im Vertrag festgelegten Bedingungen ist die Behandlung in allen Mitgliedstaaten der EG auszurichten. In den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten muß deshalb der Versicherungsartenzwang aufgehoben und Wahlfreiheit eingeführt werden. Erst unter diesen Bedingungen kann dann ein Wettbeweib der einzelnen sozialen Sicherungssysteme innerhalb der EG stattfinden. V.

Zusammenfassung und Ausblick In einer oidnungspolitischen Grundsatzentscheidung wurde der Wettbewerb der Systeme auch für die soziale Sicherung als eine mit dem EWGV konforme Strategie zur Erreichung der im EWGV verankerten Ziele ermittelt. Dieser läßt auch bei Vorliegen von komplexen Systemen ein Such- und Entdeckungsverfahren zu und ermöglicht das Aufbrechen erstarrter Strukturen sowie die Weiterentwicklung der einzelnen Systeme. Einem Wettbeweib der sozialen Sicherungssysteme steht jedoch gegenwärtig noch das Territorialitätsprinzip entgegen, welches eine direkte Konkurrenz der sozialen Sicherungssysteme der einzelnen Mitgliedstaaten um Versicherte nicht zuläßt. Nur durch die Einführung des Ursprungslandprinzips auch für Sozialversicherungssysteme vermag der Wettbeweib der Systeme voll in Kraft zu treten. Literatur Bleckmann, Albert, 1969/1970, Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1969-1970, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 32, S. 71-166. Bleckmann, Albert, 1972, Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1972, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 33, S. 757777. Bleckmann, Albert, 1975, Grundgesetz und Völkerrecht, Berlin. Bleckmann, Albert, 1990, Europarecht, Das Recht der Europäischen Gemeinschaft, S. Auflage, Köln et al. Bundessozialgericht, 1971, Urteil vom 28.8.1970, NJW, 24. Jg., S. 288-293. Bundessozialgericht, 1972, Urteil vom 21.12.1971, NJW, 25. Jg., S. 280-291. Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (Hrsg.), 1989, Apotheken-Report 35, Frankfurt.

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Peter Oberender und Eva-Maria Reißmann

Buttler, Friedrich, Ulrich Walwei und Heinz Werner, 1990, Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit: Anpassungsbedarf in der Bundesrepublik Deutschland durch den EG-Binnenmarkt, in: Wirtfried SchmOhi (Hrsg.), Soziale Sicherung im EG-Binnenmarkt: Aufgaben und Probleme aus deutscher Sicht, Baden-Baden, S. 159183. Ewert, Holm, 1987, Der Beitrag des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Entwicklung eines Europäischen Sozialrechts, dargestellt am Beispiel der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, München. Grabitz, Eberhard, 1990, Kommentar zum EWGV, München. Heinrich, Gerhard, 1990, Wie sozial ist die EG? Rechtsgrundlagen, Wien. Klang, Klaus A., 1986, Soziale Sicherheit und Freizügigkeit im EWG-Vertrag: Analyse der Grundsatzproblematik einer Nonninterpretation durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden. Maydell, Bernd v., 1984, Die sozialrechtliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, in: Georg Wannagat (Hrsg.), Entwicklung des Sozialrechts: Aufgabe der Rechtsprechung, Festgabe aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, Köln et al., S. 757-772. Neumann-Duesberg, Rüdiger, 1990, Gesetzliche Krankenversicherung im EG-Binnenmarkt, in: Wittfried Schmähl (Hrsg.), Soziale Sicherung im EG-Binnenmarkt: Aufgaben und Probleme aus deutsch«' Sicht, Baden-Baden, S. 105-122. Oberender, Peter, 1992, Zur Neuorientierung einer Harmonisierung der sozialen Sicherung im Krankheitsfalle in der Europäischen Gemeinschaft, in: Gérard GQfgen (Hrsg.), Systeme der Gesundheitssicherung im Wandel, Baden-Baden, S. 187207. Oppermann, Thomas, 1991, Europarecht: Ein Studienbuch, München. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 1989, Weichenstellungen für die neunziger Jahre, Jahresgutachten, Stuttgart. Schulte, Bernd, 1982a, Auf dem Weg zu einem europäischen Sozialrecht? Der Beitrag des EuGH zur Entwicklung des Sozialrechts in der Gemeinschaft, Europarecht, 17. Jg., S. 357-376. Schulte, Bernd, 1982b, Das Sozialrecht in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart, Bd. 6, S. 439-481. Smigielski, Edwin, 1989, EG-Binnenmarkt und Harmonisierung der europäischen Gesundheitssicherungssysteme, Arbeit und Sozialpolitik, 43. Jg., S. 224-226. Streil, Jochen, 1986, Der Beitrag des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Entwicklung des Sozialrechts in der Gemeinschaft, in: Hagen Lichtenberg (Hrsg.), Sozialpolitik in der EG, Baden-Baden, S. 95-116.

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FamiüenpoMk und europäische Integration Hans-Günter Krüsselberg und Rebecca Strätling1

I. Familienpolitik in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft n . Anmerkungen zum Thema 'Integration' in. Die 'familiale Dimension' in der EG-Diskussion 1. 2. 3. 4.

Familienpolitik und Recht im europäischen Integrationsprozeß Die 'soziale Dimension' der EG-Politik Die Familie im Zielkatalog der EG-Politik EG-Familienpolitik auf dem Verordnungsweg? a. Maßnahmen zur Förderung der sozialen Sicherung ausländischer EG-Bürger b. Der Europäische Gerichtshof und die Verordnung (EWG) 1408/71 5. Familienbezogene Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung und der Solidarität a. Die Richtlinie 79/7/EWG und die 'Neutralität' des Rates in bezug auf familienpolitische Fragen b. Die EG-Arbeitsmarktpolitik und das Problem der Kindelbetreuung 6. Vorschlag der Kommission zur Annäherung der nationalen Sozialpolitiken 7. Die Familienpolitik als Schwerpunkt von Untersuchungen EG-eigener Einrichtungen IV. Familienpolitik wozu? 1. Familie als Ort der Bildung und Erhaltung von Humanvermögen 2. Familienlastenausgleich als Verfassungsgebot 3. Ein Solidarsystem in der Drei-Generationen-Perspektive 4. Familie und Wirtschaft V. Europäische Familiencharta: ja - Ex ante-Harmonisierung: nein!

1

399 405 407 407 408 409 410 410 411 412 413 414 416 417 418 419 421 424 427 430

Abschnitt III dieses Beitrags basiert auf Vorarbeiten, die Rebecca Strätling durchführte. Beide Verfasser danken Ulrike EtzelmQIIer, Herwig Brendel, Thomas Gerhardt und Sven Ricks sehr herzlich für wichtige Ratschläge und umfassende Hilfe.

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Hans-Günter Krüsselberg und Rebecca Strütling

Abbildungen

Abbildung 1: Familie im Spannungsfeld der gesellschaftlichen Teilordnungen Übersicht 1: Leistungen bzw. Steuererleichterungen für Familien in der EG Übersicht 2: Kindergeld in Relation zum Stundenlohn der Industrie Abbildung 2: Existenzminimum nach geltendem Steuenecht und tatsächliches Existenzminimum Abbildung 3: Naturale Leistungsströme zwischen den Generationen und rechtliche Leistungsbilanz innerhalb einer Generation Abbildung 4: Zur Interdependenz von familialem und sozialökonomischem System - Bildung von Humanvermögen und gesellschaftliche Produktivität Übersicht 3: Kindergeld in Europa Übersicht 4: Mutterschutzfristen in der EG Übersicht 5: Erziehungsurlaub in der EG

401 403 404 423 424 428 439 440 442

Familienpolitik und europäische Integration

I.

•399-

Familienpolitik in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft Familienpolitik umfaßt die Gesamtheit von Maßnahmen, Aktivitäten und Entwicklungen, die geeignet sind, familiale Leistungen zu schützen, zu stärken und gesellschaftlich angemessen zu bewerten. Sie will der Besonderheit familialer Leistungspotentiale, Probleme und Bedürfnisse in modernen Industriegesellschaften Rechnung tragen. Die Notwendigkeit von Familienpolitik wird von vielen Sozialwissenschaftlern mit dem Hinweis auf Belastungen von Familien durch Prozesse des sozialen Wandels begründet, die die Handlungsgrundlagen von Familien tiefgreifend veränderten. So zerstörte der Industrialisierungsprozeß mit der für ihn repräsentativen außerhäuslichen Erwerbstätigkeit die Einheit von Arbeitsplatz und Wohnstätte: Er ließ neuartige Unsicherheiten hinsichtlich der Stetigkeit der Ernährung und Einkommen entstehen, trennte die Zeitmuster von Eltern und Kindern und schuf einen Handlungsbedarf für integrierende sozialpolitische Maßnahmen. Zunächst galten diese der Abwendung von Notlagen, später übernahmen sie unterstützende und schließlich (einkommens-) stabilisierende Aufgaben. Sie alle gehen von der Einsicht aus, daß es zwei Ansatzpunkte für eine familienorientierte Gesellschaftspolitik gibt. Einmal (siehe hierzu IV. 1.) müssen alle Familien in die Lage versetzt werden, ihren eigenständigen Beitrag zum Aufbau und zur Erhaltung menschlichen Handlungsvermögens (Humanvermögen) zu leisten. Schon Adam Smith forderte für den Familienhaushalt Handlungsbedingungen, die eine Gewähr dafür bieten, daß Kinder gut ernährt und umsorgt werden, und Unterstützung bei der familialen Vermittlung von gesellschaftlich bedeutsamen Werten und Wissensbeständen. Dazu ist für die 'security of property* bezüglich der Erzielung von Einkommen Sorge zu tragen - nicht zuletzt unter dem Aspekt, daß jede Gesellschaft die Interessen zukünftiger Generationen in ihr Regelwerk mit einzubeziehen habe (Krüsselberg, 1978, S. 240; 1991, S. 213 ff.). - Zum anderen ist das Problem des intertemporären Einkommensausgleichs zu lösen (siehe hierzu IV.3.). Schließlich zeigt sich, daß in der Industriegesellschaft das Einkommen der Menschen äußerst unstetig anfällt, obwohl es "für das ganze Leben ausreichen (muß), auch für die nicht einkommensträchtigen Jahre der Kindheit, der Ausbildungszeit, des Greisenalters" (Schreiber, 1992, S. 104). Diese zweite Aufgabe von Familienpolitik besteht darin, dafür Sorge zu tragen, daß sich das Lebenseinkommen in bedarfsgerechter Weise über alle Phasen eines Menschenlebens verteilt, eine Aufgabe, die in früheren Zeiten der Familien- und Haushaltsverband leistete. Daß diese Sicherungsfunktion in der Gegenwart von der in ihrer Größe auf die Kernfamilie (Eltern und Kinder) geschrumpften Familieneinheit übernommen werden kann, wird allgemein bezweifelt.

•400-

Hans-Günter Krüsselberg und Rebecca StrOtling

Gleichwohl bleibt der Leistungscharakter von Familie in der Gegenwart voll erhalten. Er gründet in der Institution der Familie als Ort der Geburt, der Pflege und der Erziehung von Kindern (Reproduktions- und Sozialisationsfunktion), als Ort der Daseinsvorsorge (Regenerations- und Haushaltsfunktion) sowie als Ausgangspunkt für den Weg in die gesellschaftlich möglichen Positionen, in die Stufen der sozialökonomischen Struktur (Plazierungsfunktion) (vgl. Krüsselberg, Auge und Hilzenbecher, 1986, S. 929). In erster Linie orientiert sich deshalb moderne Familienpolitik an der Eltern-KindBeziehung. "Kinder (zu) haben ist ... für jedes gesund denkende Eltempaar nicht nur Last, sondern auch eine Glücksquelle ersten Ranges ... Es ist daher durchaus angemessen, daß die Eltern für diesen immateriellen Nutzen ... Opfer bringen, Opfer an Zeit, Mühe, Verdruß, auch an Geld und Geldeswert. Nur soll dieses Opfer nicht so drückend sein, daß es die Ellern gegenüber Junggesellen und Kinderlosen deklassiert" (Schreiber, 1992, S. 110; Hervorhebung d. Verf.). Diese These will auf ein Grundproblem moderner Wirtschaftsgesellschaften verweisen. Sie erlangt deshalb besondere Bedeutung, weil entwickelte Industriegesellschaften Handlungschancen in der Form der Erzielung von Geldeinkommen sowie der Gewährung von sozialer Sicherung und gesellschaftlichem Status nahezu ausschließlich über Erwerbstätigkeit vermitteln. Familie ist kein gesellschaftlicher Tatbestand, der Ansprüche auf Lebenslagen begründet, die bezüglich der Einkommens- und Statussicherung auch nur einigermaßen gleichwertig sind. Wenn eine Gesellschaft, die überleben will, auf Familien und ihre Kinder angewiesen ist, entbehrt diese Ungleichbewertung gesellschaftlich notwendiger Leistungen, also die Ungleichbewertung von Erweibstätigkeit und Familientätigkeit, jeglicher Grundlage. Tatsache ist, daß ganz offensichtlich die Familie einer Bewertung unterliegt, die ihrer gesellschaftlichen Bedeutung eindeutig nicht entspricht (siehe hierzu IV.3.). Notwendig wird deshalb politische Gestaltung, die das Handlungspotential der Familien in ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu stärken sucht und durch die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen Familien besonderen Schutz gewährt. Dies gilt einmal für eine stärkere finanzielle Anerkennung der Leistungen der Familie für die Gesellschaft. Damit soll dar Tatsache Rechnung getragen werden, daß Familien durch die Übernahme der zeitlichen und monetären Verpflichtungen für die Erziehung und Ausbildung von Kindern gesellschaftspolitische Handlungsmöglichkeiten schaffen, die der Allgemeinheit, z.B. hinsichtlich der Stabilisierung des Systems der sozialen Sicherung, von Nutzen sind. Zum anderen geht es um Maßnahmen im Bereich der eigenständigen sozialen Sicherung für Frauen, der flexibleren Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen, um Wahlfreiheit für Frauen und Männer im Bereich von Familien- und Erwerbstätig-

Familienpolitik und europäische Integration

•401

keit zu begründen, der familiengerechteren Planung von Wohnumwelten und des Verkehrsnetzes. So gesehen ist Familienpolitik Teil einer umfassenden Gesellschaftspolitik (vgl. Wingert, 1989, S. 589) und nicht bloß ein Teilbereich der Sozialpolitik. Die Gesellschaft und die Familie stehen in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander (vgl. Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, 1975, S. 73). Auf der einen Seite beeinflussen die gesellschaftspolitischen Teilordnungen und Institutionen das Handlungspotential der Familien, auf der anderen Seite wirken sich die auf der Ebene der Familien gefällten Entscheidungen durchgängig auf eben diese Teilordnungen und Institutionen aus. Abbildung 1:

Familie im Spannungsfeid der gesellschaftlichen Teilordnungen

Soiialhilfa/Jugandhilfa/Altenhilfe

T arif vartragaracht Zivil- und Strafgarichtabarkait

\

Arbeit*- u n d Soiialgarichtabarkait

\

Finanz- u n d Varwaltungagerichtabarkeit

Watlbav* arba auf eicht

M i t w i r k u n g e r e c h t e dar Bürger

Sicherung wirtacheWicher Stabilillt Batriebe- u n d Unternehmenevecfeeeiaig Einkommana- und V » f m ö o « " a t " t d u n g Verwaltung ataatafraia R A u m a

S c h u l - und Hochechulayetem S y a t a m barutlichar Bildung Wohnumfald Varkahraayatama natürliche U m w e l t

Fortbildung '

Gleubenegemeinechaften

\

Theeter/Mueeen/Bibliotheken Liter atur/Mueik/bildende Künete Äf »entliehe u n d privata M e d i a n P i n « « - und Informetionaweeen

Quelle: Krüsselberg u.a., 1986, S. 17

•402-

Hans-Günter Krüsselberg und Rebecca Sträfling

Aus diesem Grund umfaßt Familienpolitik "arbeits- und sozialrechtliche Fragen ebenso wie Bereiche der Gesundheits-, der Bildungs- und der Wirtschaftspolitik. Die Sicherung der Arbeitsplätze gehört ebenso dazu wie die Wohnbauförderung und der Schutz der Umwelt. Familienpolitische Anliegen müssen daher ressortübergreifend behandelt werden" (FrOhlich-Sander, 1986, S. 15). Dazu bedarf es entweder eines hohen Maßes an Sensibilität in allen politischen Entscheidungsstellen gegenüber Fragen, die die Lebensverhältnisse von Familien betreffen, oder aber zentraler politischer Instanzen, welche über die Belange der Familien wachen. Gefordert ist zunächst nicht mehr als ein Nachteilsausgleich. Belastungen, die für Eltern und Kinder mit der Entscheidung für Familie verbunden sind, lassen sich vielfältig auflisten. Die wichtigsten sind - Deprivation der Eltern oder Alleinerziehenden durch Einkommensverluste und Versorgungsmängel einschließlich der Wohnungsversorgung; - Benachteiligung der Mütter durch die traditionelle Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern; - fehlende Betreuungseinrichtungen auf Zeit; - Nichtkoordinierbarkeit beruflicher und familialer Zeitplanungen und Verpflichtungen; - Isolierung von Eltern und Familien gegenüber ihrer Umwelt; - Diskriminierung von Eltern und Kindern durch Gruppen, die Kinder ablehnen; - Schwierigkeiten beim unmittelbaren Zugang zu Beratungsinstitutionen und Fachleuten in Notlagen; - Ungereimtheiten in der steuerlichen Belastung, die nur unzulänglich die familialen Budgetbeschränkungen bei Existenz von Kindern berücksichtigt, und - die Tatsache, daß Familientätigkeit bislang nur in Ansätzen zu einer eigenständigen sozialen Sicherung der Familienmitglieder, die diese Aufgabe übernehmen, führt. Zur Abmilderung solcher Belastungen haben die Länder der Europäischen Gemeinschaft (EG) den Familien Ausgleichs- und Hilfeleistungen gewährt - allerdings in sehr unterschiedlicher Form und mit oft stark divergierendem finanziellen Einsatz. Einige Länder setzen sich nachhaltig für die Verbesserung der Lebenslage von Familien ein. In anderen Ländern der EG entsteht erst allmählich ein Bewußtsein der Notwendigkeit, Familienbelange nachhaltig zu fördern. Für einige Länder kann ohne Zweifel davon ausgegangen werden, daß familienpolitische Modelle oder Konzeptionen existieren und eine intensive, oft allerdings kontroverse Diskussion über die Bedeutung von Familienpolitik stattfindet. In anderen Ländern lassen sich kaum ausgeprägte Initiativen zur Verbesserung der Lebenslage von Familien in Wissenschaft und Politik ausmachen (vgl. Neubauer u.a., 1992, S. 13, 22 ff.).

Famiüenpolitik und europäische Integration

Übersicht 1;

• 403

Leistungen bzw. Steuererleichterungen für Familien in der EG

Art der Maßnahme Rente bei Zusammenleben mit pflegebedürftigen Verwandten Anrechnung der Betreuungszeit von Angehörigen in Rentenversicherung Vaterschaftsurlaub, bezahlt

SP VK DK

Freistellung von Arbeit zur Beaufsichtigung des Schulerfolgs Besondere Vergünstigungen für kinderreiche Familien Wiedereingliederung nach der Familienphase Beihilfe für häusliche Kinderbetreuung

GR

Beihilfe für Alleinerziehende (unabhängig vom Einkommen) Möglichkeit der Reduzierung der Arbeitszeit Spezielle Leistungen für einkommensschwache Familien Beihilfe für Schüler

Anrechnung von Erziehungszeiten in Rentenversicherung Erziehungsgeld

• •

Sachleistungen

(D)

F

(SP)

B

(D)

LUX

P

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F

B

D

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I

SP

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1

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6

Leistungen bestehen

LUX (NL)

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B

SP

F

E (D)

VK P

F

(B)

Geburtszulage



(B)

(B)

Unterhaltsvorschußzahlungen



SP LUX

Hilfen zur Haushaltsgründung

Einkommensabhängige Beihilfe für Alleinerziehende Steuerentlastung in Hinblick auf zu versorgende Kinder Freistellung von Arbeit bei Krankheit des Kindes Leistungen/Steuervergünstigungen für pflegebedürftige Angehörige Leistungen an PflegepeTsonen bzw. Steuervergünstigungen Erziehungsurlaub (in Monaten) Sozialhilfe bzw. garantiertes Mindesteinkommen Kindergeld, steuerfrei (GR: nicht steuerfrei) Studienbeihilfen (einkommensabhängig) Leistungen für behinderte Kinder bzw. Steuerentlastung Mutterschutz mit Kündigungsschutz (in Wochen)

GR

(F)

P

SP

P

SP

SP

NL

p

LUX (NL)

6

-24

6

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VK SP

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P

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15

28

H

16

14/16

14/12

20

16

16

12

16

IS

Kostenlose Mitversicherung von (Ehe-)Partnern und unterhaltsberechtigten Kindern im jeweiligen Versichemngssystem Medizinische Versorgung bei Geburt eines Kindes Subventionierung von Kinderbetreuungseinrichtungen; d.h. Elternbeitrag ist nicht kostendeckend Gebührenfreiheit beim Besuch öffentlicher Schulen (zumindest während Pflichtschulzeit) Ermäßigung für Kinder bzw. Familien in öffentlichen Verkehrsmitteln

Anmerkungen: • Angaben in Klammern, wenn Maßnahme in diesen Ländern eingeschränkt ist * Das Vorhandensein von Maßnahmen enthält keine Bewertung

Quelle: Neubauer MA., 1992, Übersicht 13/1

Hans-Günter Krüsselberg und Rebecca SMUling

•404-

Inzwischen gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen über den Stand der Familienpolitik in den jeweiligen Ländern der EG2. Der Tenor der daran anschließenden Diskussion ist eindeutig: Es werden zwölf Wege der Familienpolitik beschritten. Durch Maßnahmenbündel, die sich nach und nach im Umfang anreicherten, entwickelten sich eigenständige Systeme, deren Qualitäten schwer zu vergleichen sind. In dieser Situation fällt der wissenschaftlichen Arbeit zunächst die Aufgabe zu, sich um eine Bestandsaufnahme einschlägiger Maßnahmen zu bemühen. Die relevante Leistungen für Familien in ihrer Verteilung auf die verschiedenen Länder der Europäischen Gemeinschaft sind in Übersicht 1 dargestellt. Wie sehr der materielle Umfang familienpolitischer Leistungen im Bereich der Europäischen Gemeinschaft divergiert, verdeutlichen die systematischen Übersichten über Kindergeld, Mutterschutzfristen und Erziehungsurlaub (siehe Anhang, Übersicht 3-5). Wie unterschiedlich sich das finanzielle Gewicht des Kindergeldes länderspezifisch darstellt, veranschaulicht Übersicht 2. Dort zeigen die Zahlen der Spalten 2 und 4 jeweils an, wieviel Lohnstunden in der Industrie gearbeitet werden müßten, soll ein Einkommen in Höhe des monatlichen Kindergeldes erzielt werden. Übersicht 2:

Kindergeld in Relation zum Stundenlohn der Industrie Hourly wage

w

Belgique-BelgiS (2) Danmark BR Deutschland (3) Hellas (4) España (6) France Ireland Italia (6) Luxembourg (5) Nederland (5) Portugal United Kingdom

7,55 11,48 9,42 3,31 (5,45) 6,21 6,73 (5,13) 8,15 7,94 1,65 7,13

Index: Ratio; Family Danmark allowances = 100 1 child/hourly wage in industty 6,89 5,38 2,59 1,21 (4,29) d.n.a. 3,06 (8,91) 5,61 3,44 5,33 7,21

128 100 48 23 (80) d.n.a. 57 (47) 104 85 99 134

Ratio: Family allowances 3 children/ hourly wage 38,95 16,15 13,47 9,15 (12,88) 32,08 9,18 (26,73) 37,73 12,09 18,73 19,86

Index: Danmark = 100 195 100 83 57 (80) 199 57 (47) 234 110 116 123

ill Average gross hourly earnings for workers in industiy (in ECU), dd. October 1989 (Eurostat, 1991). (2) Employed persons only. (3) Basic amounts. (4) Private sector only, third child allowance and large family allowance are not taken into account. However the figures refer to the highest amounts (for lower income groups). (5) For Luxembourg and for the Netherlands the amounts of family allowances have been rescalea in order to have amounts for one child of a specified 'rank' instead of amounts for a group of children. (In these two countries indeed, a first child receives more if he/she is followed by a second child, and even more if there is a third child, and so on.) These supplements have been allocated to the child who entities to the right. (6) Means tested.

Quelle: Dumon (Hrsg.), 1991a, S. 94. 2

Z.B. Institut der deutschen Wirtschaft, 1992; Dumon, 1992. Mit dem Hinweis auf die Dumon-Edition soll nachdrücklich auf die besondere Bedeutung der Veröffentlichungen des 'European Observatory of National Family Policies' für die Diskussion über Familienpolitik in Europa verwiesen werden.

Familienpolitik und europäische Integration

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ü.

Anmerkungen zum Thema 'Integration' Die Frage, wie in einem zusammenwachsenden Europa mit dieser Vielfalt und Unterschiedlichkeit familienpolitischer Leistungen in den Ländern der EG umzugehen sei, wird intensiv diskutiert. Ausgangspunkt ist oft die Erwägung, daß es gegenwärtig ziemlich aussichtslos sei, sich um eine Integration zu bemühen. Das ergäbe nur dann einen Sinn, wenn sich die Lebensverhältnisse in den EG-Ländern stärker angeglichen hätten. Möglicherweise könnte das heißen, daß gegenwärtig kein Versuch einer Angleichung bestehender familienpolitischer Maßnahmen stattfinden sollte, weil es keine gemeinsame Basis gibt, von der her eine Integration in Angriff genommen werden kann. Sollte deshalb überhaupt auf Integrationsversuche verzichtet werden? Offensichtlich muß in diesem Zusammenhang geklärt werden, was 'Integration' bedeutet. Wo 'Integration' aus dem Abbau von zwischenstaatlichen Beschränkungen des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs erwachsen soll, wird erwartet, daß durch Verstärkung des Wettbewerbs positive Allokations- und Wachstumswirkungen erzielt werden - als Schritt zur Verbesserung der Lebensverhältnisse in den betroffenen Ländern (Integration und Fortschritt durch höhere Funktionsfähigkeit der Märkte). Daran könnten familienpolitische Initiativen ansetzen. Neben dieser Variante von Integration steht eine andere Auffassung. Sie meint, es sollten Integrationsbemühungen darauf zielen, eine nicht integrierte (oder eine bislang vermeintlich nicht integrierte) Gesamtheit von Volkswirtschaften in ihren Politikfeldern zu vereinheitlichen. In dieser These steckt offensichtlich die Vorstellung, sich um Integration zu bemühen, müsse heißen, durch gesetzliche Maßnahmen auf die Angleichung der Lebensverhältnisse hinzuwirken; Integration sei dann das zwangsläufige Ergebnis solcher Ex ante-Harmonisierung. Erwartet wird, daß soziale Integration gesetzlich bewirkt werden kann. Eine derartige Schlußfolgerung verwischt allerdings völlig unzulässig die Grenze zwischen ökonomisch und sozial relevanten Tatbeständen. Sie erkennt nicht, daß sie einer zusätzlichen soziologischen Begründung bedarf. Im soziologischen Sprachsystem ist 'Integration' der Begriff für jene Phase historischer Entwicklung, die durch wachsende prozessuale Verbundenheit von an sich zum Teil recht heterogenen Handlungseinheiten gekennzeichnet ist. Kernpunkt dieses evolutorischen Prozesses (der Industrialisierung) ist die fortschreitende Differenzierung von Funktionen im Sinne einer sich vertiefenden wirtschaftlichen und sozialen Arbeitsteilung, der Weg von einem nahezu zusammenhanglosen Nebeneinander homogener Gruppen zu einem 'System kohärenter Heterogenität'. Ob dieser Prozeß gelingt, hängt entscheidend davon ab, ob ein gemeinsames Wert- und Normensystem entsteht als "Zentrum, an dem sich Menschen orientieren können" (siehe hierzu Peuckert, 1986, S. 138 ff.). Auf die ordnungstheoretische Relevanz solcher Denkansätze, nicht zuletzt im Hinblick auf die Notwendigkeit, alle Teil-

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Ordnungen als Glieder einer Gesamtoidnung anzusehen, also auf die Bedeutung von Verfassungen für die Funktionsfähigkeit von Gesellschaftsordnungen, ist anderweitig bereits deutlich aufmerksam gemacht worden (vgl. KrOsselberg, 1989, S. 102 ff., 112 ff.). Teilordnungen;Gesamtordnung;Gesellschaftsordnung; Dennoch ist es unerläßlich, in diesem Zusammenhang die Relevanz eines Grundtatbestandes der westlichen Wirtschaftsgesellschaften und zugleich eines zentralen Merkmals ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dynamik zu betonen: "Die Vereinigung höchst verschiedenartiger Elemente, ... die kulturelle Vielgestaltigkeit einer modernen Industriegesellschaft ..., hat nämlich sehr eigenartige kulturelle Konsequenzen; ... hier entstehen andauernd Spannungen und Konflikte zwischen den Gesamtinteressen der Gesellschaft und den Teilinteressen ihrer Untergruppen. Es ist unmöglich, diese Konflikte dadurch zu beseitigen, daß man die Vielfältigkeit unserer Gesellschaft zum Verschwinden bringt. Da diese Vielgestaltigkeit ein Strukturmerkmal der komplexen Gesellschaft ist, würde eine politische Vereinheitlichung, die die Existenz dieser Sonderinteressen mißachtet, die Gesellschaft strukturell vergewaltigen. Die totalitären politischen Systeme versuchen immer wieder, in dieser Weise den Pluralismus der komplexen Gesellschaft zum Verschwinden zu bringen, sie sind aber regelmäßig an dieser Komplexheit der Gesellschaft gescheitelt, oder sie haben auf die Dauer die Sonderexistenz der Einzelinteressen respektieren müssen. Aber auch hier ist der dauernde Konflikt zwischen verschieden gelagerten Interessen nicht nur negativ zu bewerten; denn aus dem freien Spiel der verschiedenen Kräfte erwachsen außerordentlich schöpferische Energien, die sowohl wirtschaftlich als auch politisch und kulturell den sozialen Wandel fördern und neue Kulturgestalten heraufbringen. So kann also letztlich selbst der Konflikt eine integrative Wirkung erreichen, und das gilt für die politische Sphäre wie für die Kultur" (König, 1965, S. 64, 65, 69 f.). Diese (soziologische) Perspektive moderner Industriegesellschaften und ihrer Merkmale führt unmittelbar zu einer Auffassung von Politik, in der Ex ante-Harmonisierungsideen keinen Platz finden. Wenn schon eine nationale Familiengesetzgebung sehr sorgfältig auf oft erhebliche Unterschiede in der "gesamten Lebensauffassung und Lebensweise" (König, 1965, S. 65 f., 70 f.) der Bevölkerung achten muß, dürfte dieser Tatbestand im übernationalen Feld nicht als eine zu vernachlässigende Größe bezeichnet werden. So ist zumindest darüber nachzudenken, ob sich nicht gerade in den national unterschiedlichen Aktivitäten zur Stärkung der Institution Familie heterogene Lebensmuster manifestieren, die auch aus kulturellen Gründen keiner Vereinheitlichung zu unterwerfen sind. Diese Vorstellung könnte sich unter anderem auf Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 berufen, der das Recht auf Achtung des Familienlebens als Abwehrrecht im Sinne des klassischen Grundrechtsverständnisses ausdrücklich verbürgt.

Familienpolitik und europäische Integration

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m . Die 'familiale Dimension' in der EG-Diskussion 1. Familienpolitik und Recht im europäischen Integrationsprozeß Bei der Betrachtung der Praxis des europäischen Integrationsprozesses fällt ein merkwürdiges Spannungsverhältnis auf. welches daraus erwächst, daß einmal die Gemeinschaft keine Zuständigkeiten für Familienpolitik besitzt, obwohl sie andererseits zahlreiche Verordnungen erlassen hat, deren Auswirkungen für das Leben in Familien oft sehr erheblich sind. Soll (und kann) aber europäische Familienpolitik auf dem Verordnungsweg entstehen (siehe m.4.)? Es ist sicherlich nicht zu übersehen, daß europäische Institutionen, nicht zuletzt der Europäische Gerichtshof (EuGH), immer wieder das Thema Familienpolitik aufgreifen und damit möglicherweise Anstöße zu Initiativen der Kommission geben. Umstritten bleibt, ob die Kommission dazu legitimiert ist. Was bis zur Gegenwart an Aktivitäten festzustellen ist, soll im folgenden dargestellt werden. Bereits 1979 hat der EuGH für Menschenrechte in einer grundlegenden Entscheidung den Staaten auferlegt, ihre Gesetzgebung so zu gestalten, daß "die Führung eines normalen Familienlebens" möglich wird (vgl. Neubauer u.a., 1992, S. 4, 13 f.). Darüber hinausgehend verlangte am 9. Juni 1983 das Europäische Parlament in einer Resolution, daß Familienpolitik zu einem "integralen Teil aller Gemeinschaftspolitiken" werden müsse. Nach dem Ziel- und Mittelkatalog für die Gemeinschaftspolitiken der EG-Mitgliedstaaten (Artikel 2, 3 und 3a des EG-Vertrags in seiner Fassung vom 7. Februar 19923) könnten jedoch allenfalls die Forderungen nach einem hohen Maß an sozialem Schutz, nach Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität auf die Situation von Familien bezogen werden. Die EG-Sozialpolitik umfaßt nach herrschender Ansicht neben den Fragen des Sozialrechts hauptsächlich die der Arbeitsbeziehungen und des Arbeitsrechts (vgl. Kaltenbach, 1990, S. 41). Der Katalog sogenannter 'sozialer Grundrechte' der EG4 ist nur auf die Bedürfnisse und Rechte der Arbeitnehmer zugeschnitten und zudem in erster Linie auf die wirtschaftliche Funktionsfähigkeit des angestrebten Gemeinsamen Marktes hin konstruiert. 3

4

Die Römischen Verträge' (1957), die Einheitliche Europäische Akte (1987) und die Maastrichter Verträge (1992) stellen ein aufeinander aufbauendes Vertragswerk dar. In Artikel G der Präambel der Maastrichter Verträge wurde festgelegt, daß die EG nicht nur eine wirtschaftliche Union, sondern auch eine politische Union sein soll. Demnach wird nach Ratifizierung der Maastrichter Verträge der Begriff "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" durch den der "Europäischen Gemeinschaft" ersetzt. Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 1992d, Artikel G, Abs. A.l. Dazu zählen: das Recht auf Freizügigkeit (Art. 48 f. EWGV) und auf Niederlassungsfteiheit (Art. 52 ff. EWGV), das Verbot der Diskriminierung auf Grund der Staatszugehörigkeit (Art. 7 EWGV), das System zur Sicherstellung von Sozialversicherungsansprachen von Wanderarbeitndunern (Art. 51 EWGV) sowie das Gebot des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (Art. 119 EWGV). Vgl. Borchardt, 1989, S. 65.

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Hans-Günter Krüsselberg und Rebecca Strätling

Lediglich über ein Verbot der Diskriminierung auf Grund der Staatsangehörigkeit (Art. 6 EWGV) und ein System zur Sicherstellung von Sozialversicherungsansprüchen von Wanderarbeitnehmern (Art. 51 EWGV) ergeben sich indirekte Bezüge zur familialen Situation. Seit 1975 hat der Rat zudem fünf Richtlinien zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen erlassen. Die 'soziale Dimension1 der EG-Politik Zu Beginn der 80er Jahre wurde das Thema 'soziale Dimension der EG-Politik' zu einem zentralen Diskussionspunkt auf allen Ebenen der Gemeinschaft. Die Erkenntnis, daß die Leistungsfähigkeit der Systeme der sozialen Sicherheit, aber auch die der übrigen Bereiche der Sozialpolitik, in wechselseitigem Zusammenhang mit den Leistungen der Volkswirtschaften stehen, führte innerhalb der EG zu einer Sprachregelung derart, daß wirtschaftlichen und sozialen Fragen die gleiche Bedeutung beizumessen sei und deshalb die wirtschaftliche Integration mit der sozialen an sich Hand in Hand zu gehen habe (vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaft, 1992b, S. 7). 1984 bekräftigte der Rat seinen politischen Willen, in der Sozialpolitik enger zusammenzuarbeiten (vgl. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 1984). Neben einer Intensivierung der bereits vorhandenen Koordination und Kooperation im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, der Beschäftigung, der Berufsberatung und Berufsausbildung, des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz, der Gleichstellung von Männern und Frauen und von Aktionen zugunsten benachteiligter Gruppen wurden auch Möglichkeiten erwogen, neue Initiativen im Bereich des sozialen Schutzes, der Bevölkerungs- und der Familienpolitik zu starten. Außerdem wurden Aktionsprogramme zugunsten von Wanderarbeitnehmem, arbeitslosen Jugendlichen und Frauen, Behinderten und armen Menschen initiiert (vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. De III/L(1)).

2.

Mit der Absicht, die Schaffung eines 'Europäischen Sozialraumes' voranzutreiben, der nicht nur durch einen Kodex sozialer Mindeststandards, sondern zugleich durch Bemühungen um eine Angleichung der Arbeits- und Lebensverhältnisse innerhalb der EG gekennzeichnet sein sollte, wurde 1987 die Einheitliche Europäische Akte verabschiedet. Sie erhob die Entwicklung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in der Gemeinschaft mit der Aufnahme der Artikel 130 a-e in den EG-Vertrag zu einem vorrangigen Ziel der gemeinsamen Politik (vgl. ebenda, S. De III/L(2)). Je näher die Verwirklichung des EG-Binnenmarktes5 rückte, um so stärker wurde 5

Ziel des EG-Binnenmarktes ist gemäß Art. 8a EWGV die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten: des freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und KapitalVerkehrs.

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die Sorge, daß Mitgliedsländer ihre sozialen Standaids absenken könnten, "um auf Kosten von Ländern mit einem höheren sozialen Standard Wettbewerbsvorteile zu erlangen" (Watwei, 1990, S. 46). Hier ist es interessant darauf hinzuweisen, daß die französische Regierung schon in der Gründungsphase der EWG eine Harmonisierung der Sozialleistungssysteme forderte, weil sie wegen des relativ hochentwickelten französischen Sozialleistungssystems Wettbewerbsnachteile für den Unternehmensstandort Frankreich befürchtete. Sie konnte sich damals jedoch mit dieser Forderung nicht durchsetzen, da die übrigen Vertragspartner die Auffassung vertraten, bei Sozialleistungen handele es sich um Kosten, von denen keine wettbewerbsverzerrenden Impulse ausgingen (vgl. Soziale Sicherheit in der EG, 1990, S. XV-XVI). Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Diskussion um die 'sozialen Grundrechte der EG' mit der Verabschiedung der 'Gemeinschaftscharta für die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer' (1992) durch elf der zwölf Mitgliedstaaten der EG6 1989 in Paris. Die Familie im Zielkatalog der EG-Politik Nach Aussage der verantwortlichen Mitglieder der Kommission besitzt die Gemeinschaft im Bereich der Familienpolitik keine besonderen Zuständigkeiten7. Der Begriff Familienpolitik taucht weder im allgemeinen Zielkatalog (Artikel 2 EWGV) noch im speziellen für die EG-Sozialpolitik (Artikel 117 ff. EWGV) auf. Allerdings meint die EG-Kommission (so Frau Papandreou8), sie sei beauftragt (siehe dazu m.7.), die (gegenwärtig) "tiefgreifenden Veränderungen" der Familien- und Bevölkerungsstrukturen zu beobachten und zu erfassen, da sie für die Politik-Entscheidungen in der EG offensichtlich von Belang sind. 3.

Obwohl die Kommission (vgl. o.V., 1991, S. 4) in ihrer Mehrheit und wohl auch ein Teil der nationalen Regierungen9 kein Interesse daran zu haben schienen, der EG familienpolitische Kompetenzen einzuräumen, forderte das Europäische Parlament - wie bereits erwähnt - in seiner Entschließung zur Familienpolitik in der EWG vom 9. Juni 198310 umfassende familienpolitische Kompetenzen für die EG. Ein weiterer Ent6 7

8

9

10

Die Ausnahme bildete das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland. Vgl. Schriftliche Anfrage Nr. 313/91 vom 19.04.1991 betreffend den Schutz der Familie sowie die Antwort von Frau PapandreoutanNamen der Kommission am 1S.0S.1991 (Amtsblatt der Europaischen Gemeinschaften, 1991a). Vasso Papandreou war als Mitglied der Kommission bis 1991 zuständig für die Bereiche: Beschäftigung, Arbeitsbeziehungen und soziale Angelegenheiten, Humanressourcen und allgemeine und berufliche Bildung. So hat sich z.B. der deutsche Bundesrat im November 1989 ausdrücklich gegen eine Ausdehnung der Kompetenzen der EG auf den familienpolitischen Bereich ausgesprochen. Vgl. Wolfram, 1990, S. 5. Vgl. Marquardt, 1986, S. 45; s. auch Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 1983.

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schließungsentwurf, der 1986 vom parlamentarischen Ausschuß für soziale Angelegenheiten und Beschäftigung erarbeitet wurde und konkrete Aktionen zugunsten von Eltern und Kindern fordert, wurde bislang jedoch nicht verabschiedet (vgl. Marquardt, 1986, S. 46 f.). Dafür hat der Ministerrat für Arbeits- und Sozial fragen in einer Erklärung am 18.12.1990 gefordert, daß die Familie in den EG-Verträgen "unter voll«' Achtung der Rechte und Freiheiten der Person als Gegenstand der Sozialpolitik der Gemeinschaft anerkannt werden" 11 sollte. Schließlich hat "die Politik der Gemeinschaft in verschiedenen Sektoren eindeutig Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Familie. Indirekt ist die Familie also doch Gegenstand politischer Maßnahmen der Gemeinschaft" (Rosenzveig, 1989, S. 11). Im folgenden werden die wichtigsten sozialpolitischen Maßnahmen der EG, welche einen offenkundigen Einfluß auf die Funktionsfähigkeit und Struktur von Familien haben, dargestellt. 4. a.

EG-Familienpolitik auf dem Verordnungsweg? Maßnahmen zur Förderung der sozialen Sicherung ausländischer EG-Bürger Einer der ersten Bereiche der Sozialpolitik, in dem der Rat nach seiner Gründung

gesetzgeberisch tätig wurde, ist der der sozialen Sicherung von EG-Wanderarbeitnehmern. 1958 wurde die Verordnung (EWG) Nr. 3 des Rates über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und 1960 die Verordnung (EWG) Nr. 4 des Rates zur Durchführung und Ergänzung der Verordnung Nr. 3 erlassen12. Sie bauen auf dem Diskriminierungsverbot der Artikel 6 und 48 EWGV und dem Artikel 51 EWGV auf, der dem Tatbestand Rechnung trägt, "daß die Freizügigkeit behindert würde, müßte ein Arbeitnehmer befürchten, bei der Wanderung von einem Mitgliedstaat in einen anderen aufgrund daraus resultierender Zugehörigkeit zu verschiedenen nationalen Systemen der sozialen Sicherheit bestimmte Sozialleistungen nicht zu erhalten oder bereits erworbene Ansprüche einzubüßen" (Soziale Sicherheit in der EG, 1990, S. XI). Ziel der Verordnungen ist es, die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften für soziale Sicherheit so zu koordinieren, daß die oben erwähnten Arbeitnehmer und ihre anspruchsberechtigten Ange11 12

Hütte, 1991, S. 4. Siehe zu diesem Thema u.a.: Hasinger, 1990, S. 4; Jans, 1992, S. 1; o.V., 1990, S. 1. Im Oktober 1972 wurde die Verordnung (EWG) Nr. 3 durch die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ersetzt. Anstelle der Verordnung (EWG) Nr. 4 trat die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates Ober die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in Kraft. Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 gilt nur für Arbeitnehmer, die europäische Bürger oder Flüchtlinge oder Staatenlose sind und in dem Gebiet eines EG-Mitgliedstaates wohnen, sowie für deren Familienangehörige. Vgl. dazu: Soziale Sicherheit in der EG, 1990, S. XI-XII; siehe auch: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1992, S. 92-97; Kaltenbach, 1990, S. 48.

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hörigen innerhalb der Gemeinschaft an ihrem jeweiligen Arbeits- und Wohnort wie Inländer behandelt werden und durch den Umzug von einem Land in ein anderes keine Anspruchsverluste auf Leistungen der sozialen Sicherheit erleiden. Sie umfassen "alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft, bei Invalidität, bei Alter, an Hinterbliebene, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, bei Arbeitslosigkeit sowie Familienleistungen und Sterbegeld betreffen" (Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1992, S. 92). Das so geschaffene Gemeinschaftssozialrecht ist von den nationalen Leistungsträgern anzuwenden13. Um die Integration der EG-Wanderarbeitnehmer in ihre Gastländer zu erleichtern, wurde 1974 durch eine Entschließung des Ministerrates ein Aktionsprogramm zugunsten der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien initiiert (vgl. Marquardt, 1986, S. 42; siehe auch: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft, 1974 sowie 1986). Ziel dieses fortlaufenden Programms ist es, die Wanderarbeitnehmer und ihre Familien dazu zu ermuntern, die ihnen zustehenden Rechte auch in Anspruch zu nehmen. Während die Situation der Familien natürlich von allen genannten Regelungen beeinflußt wird, ist jedoch nur eine Handvoll von ihnen familienspezifisch wirksam. Dazu zählen die Regelungen Ober Mutterschaftsschutz, Familienleistungen, Familiendarlehen, die Familienzusammenführung und in begrenztem Umfang die Hilfen für Behinderte sowie die Wohndarlehen. Spezifisch auf die Familien der Wanderarbeiter ausgerichtet ist auch die Richtlinie des Rates zur schulischen Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern von 1977, welche "einen kostenlosen Einführungsunterricht, insbesondere Unterricht in der Sprache des Gastlandes, der den spezifischen Bedürfnissen dieser Kinder angepaßt ist", vorsieht 0Marquardt, 1987, S. 809). b.

Der Europäische Gerichtshof und die Verordnung (EWG) 1408/71 Über 200 Urteile des EuGH beziehen sich auf die Verordnung (EWG) 1408/71 (Soziale Sicherheit in der EG, 1990, S. XIII). Damit stellt sich diese wahrscheinlich als diejenige Verordnung dar, welcher der EuGH bis heute seine größte Aufmerksamkeit geschenkt hat. Zu den strittigsten Entscheidungen zählen wohl die Urteile über den "Export von Familienzulagen", besonders im Bereich des Kindergeldes.

Auf Grund der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Gleichstellung von EGWanderarbritnehmern mit einheimischen Arbeitnehmern kam es 1971 zu einem EuGHUrteil in der Rechtssache Pinna gegen die Republik Frankreich. Entschieden wurde, daß Wanderarbeitnehmer, die Staatsbürger eines Mitgliedslandes sind, in dem Land, in dem sie arbeiten, vollen Anspruch auf Kindergeld haben, auch wenn die Kinder nicht 13

Die Gemeinschaft selbst verfügt Aber keine eigenen Leistungsträger.

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in diesem Land wohnen. Solange in dem Land, in dem die Kinder wohnen, kein Antrag auf Kindergeld gestellt wurde, war der volle Betrag des Kindergelds zu zahlen. Diese Entscheidung wurde durch die Urteile in den Rechtssachen Salzano 1984 und Kracht 1989 (beide jeweils gegen die Bundesrepublik Deutschland) bestätigt. Diese Urteile stießen vor allem bei den National mit relativ hohen Kindergeldleistungen auf Ablehnung. Dementsprechend wurde der Artikel 76 der Verordnung (EWG) 1408/71 ergänzt, um den sogenannten "Kindergeldexport" einzuschränken. Allerdings kann auch nach diesen Regelungen ein ausländischer Arbeitnehmer, der europäischer Bürger ist und in einem EG-Mitgliedsland arbeitet, weiterhin selbst dann von diesem Kindergeld bezidien, wenn seine Kinder in einem anderem Land leben. In diesem Fall jedoch muß der betreffende Staat nur noch die Differenz zwischen dem Betrag des Kindergeldes, den er normalerweise entrichten würde, und dem Betrag des Kindergeldes, auf das der Arbeitnehmer im Wohnland seiner Kinder einen Anspruch hat, zahlen. Dabei ist es ohne Belang, ob der Arbeitnehmer diese Leistungen in dem Land, in dem seine Kinder wohnen, tatsächlich beantragt hat oder nicht, wie durch die Urteile des EuGH in den Rechtssachen Ferraioli und Laterza zum Ausdruck kam (vgl. Reis und Wieland, 1990, S. 65-70; Reiter, 1991, S. 21). Dieselbe Regelung gilt für die Gewährung von Waisenrenten aus der Versicherung von Wanderarbeitnehmern (vgl. Reiter, 1991, S. 21). Zu den Kritikern dieser Urteile zählt der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. In seinem Jahresgutachten 1989/90 kommt er zu dem Schluß: "Das Kindergeld ist ein Instrument des Familienlastenausgleichs, die Leistungshöhe muß sich daher an den Kosten und Lebensverhältnissen des Landes orientieren, in dem die Kinder leben. Daher ist es auch nur gerechtfertigt, Kindergeld nach den Bestimmungen dieses Landes zu zahlen" (Sachverständigenrat, 1989, Ziff. 467). 5.

Familienbezogene Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung und der Solidarität Die meisten der sozialpolitischen Entscheidungen der EG, die sich direkt auf die Familien auswirken, werden im Bereich der Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern getroffen, zu denen alle Maßnahmen gehören, die es Frauen und Männern ermöglichen, ihre beruflichen und familiären Pflichten besser miteinander in Einklang zu bringen (vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 1992c, S. 22). Allerdings betreffen die fünf EG-Richtlinien zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern nicht ausschließlich die Fami-

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lim, sondern auch kinderlose Frauen und Männer14. a.

Die Richtlinie 79/7/EWG und die 'Neutralität' des Rates in bezug auf familienpolitische Firagen An der Richtlinie 79/7/EWG "zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit" ist bemerkenswert, daß sie in Bereichen, die wegen des Vorwurfs der Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt familienpolitisch sensibel sind, den Mitgliedstaaten gestattet, vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau in den Systemen der sozialen Sicherheit Ausnahmen zu machen. Die Mitgliedstaaten können vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließen - die Festlegung des Rentenalters, - die Vergünstigungen, welche Personen gewährt werden, die Kinder aufgezogen haben (Altersversicherung, Erwerb von Ansprüchen auf Leistungen im Anschluß an Zeiträume der Beschäftigungsunterbrechung), - die Gewährung von Ansprüchen auf Leistungen wegen Alter oder Invalidität aufgrund abgeleiteter Ansprüche der Ehefrau - sowie die Gewährung von Zuschlägen zu langfristigen Leistungen wegen Invalidität, Alter, Arbeitsunfall oder Berufskrankheit für die unterhaltsberechtigte Ehefrau (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1992, S. 170). Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß diese Freistellungsregelung der EG Regelungen von Mitgliedsländern toleriert, durch die ein ökonomischer Anreiz zu einer Verstärkung der geschlechtsspezifischen Rollenvateilung innerhalb der Familie gegeben wird. Das wäre ein Verstoß gegen jenes familienpolitische Prinzip, welches Wahlfreiheit zwischen Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit für Männer und Frauen gewährleistet wissen will. Der Ministerrat hat im Rahmen des ersten und des zweiten Aktionsprogramms der Gemeinschaft zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen zwar zwei Entschließungen13 verabschiedet, in denen den Mitgliedstaaten empfohlen wurde, Sensibilisierungs- und Informationsmaßnahmen durchzuführen, um ein "Umdenken in bezug auf die Rollenverteilung in Beruf, Familie und Gesellschaft" (Marquardt, 1986, S. 43) herbeizuführen und eine stärkere Beteiligung der Männer an der Erfüllung der elterlichen "Pflichten der Betreuung und Erziehung von Kindern" (Amtsblatt der Europäi14

15

Daß diese Richtlinien nicht nur "Frauenrechte" fördern, sondern auch die Interessen von Männern schützen, läßt sich vor allem anhand der Entscheidungen des EuGH zum Rentenrecht veranschaulichen. Siehe Clever, 1992, S. 1-3. Entschließung des Rates vom 12. Juli 1982 und Entschließung des Rates vom S. Juni 1986. Siehe Marquardt, 1986, S. 43.

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sehen Gemeinschaften, 1992) zu fördern. Der 1988 vorgelegte Richtlinienvorschlag der Kommission, der darauf abzielt, die Richtlinie 79/7/EWG dahingehend zu ergänzen, daß er die Ausnahmeregelungen aufhebt, wurde jedoch vom Ministerrat bislang nicht angenommen. Der Vorschlag sieht im einzelnen das Verbot geschlechtsspezifischer Diskriminierung vor in den Bereichen der Rentenleistungen (auch der abgeleiteten) und des Rentenalters, der Familienleistungen (z.B. Kindergeld, Geburts- oder Adoptionsbeihilfen) und der Vergünstigung«! und Ansprüche, welche Personen, die Kinder aufgezogen und deshalb ihre Tätigkeit unterbrochen haben, auf dem Gebiet der Alterssicherung gewährt werden (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschafken, 1992, S. 182 f.). b.

Die EG-Arbeitsmarktpolitik und das Problem der Kinderbetreuung In allen Mitgliedsländern der EG haben Eltern Probleme, während ihrer Arbeitsoder Ausbildungszeit die Betreuung ihrer Kinder sicherzustellen. Das 'Netzwerk Kinderbetreuung' hat festgestellt, dafl in allen EG-Staaten die Systeme der außerhäuslichen Kinderbetreuung in bezug auf den konkreten Bedarf unzulänglich sind. Das zeigt sich nicht nur an oft sehr langen Wartezeiten bis zur Aufnahme von Kindern in Betreuungsstätten, sondern auch an absolut fehlenden Betreuungsangeboten oder an Angeboten, bei denen der gewünschten Dauer der Betreuung nicht Rechnung getragen wird oder die Entfernung von der Wohnung zu groß ist (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1991b). Dies fuhrt insbesondere zu Belastungen von Eltern und anderen Familienangehörigen, die sich für Erweibstätigkeit entschieden haben. Aus diesem Grund verlangt Artikel 16 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer die Förderung von Maßnahmen, "die es Männern und Frauen ermöglichen, ihre beruflichen und familiären Pflichten besser miteinander in Einklang zu bringen" (vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaft, 1992b, S. 9). Des weiteren wurde im März 1992 im Rahmen des dritten Aktionsprogramms zur Chancengleichheit für Männer und Frauen eine Empfehlung des Rates zur Kindelbetreuung16 verabschiedet. Diese empfiehlt den Mitgliedsländern, - Kinderbetreuungsmöglichkeiten bereitzustellen, während die Eltern erwerbstätig, auf Arbeitssuche oder in Aus- oder Weiterbildung sind, - Urlaubsvereinbarungen auszuarbeiten, welche der Verantwortung für die Betreuung und Erziehung von Kindern Rechnung tragen, - eine Gestaltung der Umgebung, Struktur und Organisation der Arbeitsplätze zu för16

Das erste Aktionsprogramm zur Förderung der Chancengleichheit der Frauen lief von 1982 bis 1985, das zweite von 1986 bis 1990, das dritte begann 1991 und soll bis 199S laufen. Siehe Langguth, 1991, S. 3; Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 1992; siehe auch o.V., 1992, S. 3.

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dem, welche den Bedürfnissen der Betreuer von Kindern entsprechen, und - partnerschaftliche Teilung der familiären Pflichten zu propagieren, die sich aus Kinderbetreuung und -erziehung für die Eltern ergeben (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1991b, S. 4 f.; Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 1992). Wiederum taucht die Frage auf, inwieweit die Tatsache, daß die Kommission 1995 einen Bericht über die nationalen Maßnahmen zur Umsetzung dieser Empfehlung vorlegen soll, deren Kompetenzen überschreitet. Um die einzelnen Mitgliedstaaten zu veranlassen, hier tätig zu werden, müßte sie deren Verantwortlichkeit (nach dem Subsidiaritätsprinzip) an sich betonen. Soweit hier die EG Unterstützung geben will, könnte sie auf die Regelung der Verordnung (EWG) Nr 4235/88 über die Förderung transnationaler Maßnahmen zur Berufsbildung und Beschäftigungsförderung von Frauen zurückgreifen, in der festgelegt wurde, daß der EG-Strukturfonds die Entwicklung von Kindelbetreuungseinrichtungen in den förderungswürdigen Regionen der EG finanziell unterstützen kann. Diese Möglichkeit wurde anfangs nur äußerst spärlich genutzt, weshalb die EG in ihrem dritten Aktionsprogramm zur Chancengleichheit von Frauen noch einmal explizit darauf hinwies (vgl. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 1990; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1992, S. 48). Problem bleibt, daß diese Verordnung nur in den Regionen der EG greift, die durch den Strukturfonds gefördert werden dürfen, wiewohl in allen EG-Mitgliedstaaten Kinderbetreuungseinrichtungen fehlen. Doch nicht nur der Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen beeinträchtigt die Möglichkeit von Erwachsenen, ihr Arbeits- und Familienleben miteinander in Einklang zu bringen. Besonders jüngere Kinder stellen Ansprüche an die Zeit ihrer Eltern, ohne deren berufliche Verpflichtungen zu berücksichtigen. Nach Meinung der Kommission war es nicht zu vertreten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ganz zu Lasten von Kindern und Eltern zu realisieren. Deshalb erarbeitete sie 1983 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Elternurlaub und Urlaub aus familiären Gründen, der - in einer auf Antrag des Europäischen Parlaments leicht geänderten Fassung - seit 1984 dem Rat zur Entscheidung vorliegt, ohne daß dieser sich bis heute zu einer Verabschiedung entschließen konnte. Der Richtlinienvorschlag verlangt zum einen das Recht auf einen mindestens dreimonatigen Elternurlaub innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Geburt eines leiblichen Kindes oder nach der Adoption eines Kindes unter fünf Jahren für einen der beiden Eltemteile. Dieser sollte als zusammenhängender Voll- oder Teilzeiturlaub genommen werden können, für den Kündigungsschutz bestünde. Während des Eltemurlaubs sollten alle vorher ganz oder teilweise erworbenen Rechte bestehen bleiben. Femer sollten die Zeiten des Eltemurlaubs auf die Versicherungszeiten für

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Krankheit, Arbeitslosigkeit, Invalidität und Alter angerechnet werden. Zum anderen fordert der Vorschlag einen Anspruch der Arbeitnehmer auf eine nicht näher bezeichnete Mindestanzahl von Urlaubstagen im Jahr aus dringenden familiären Gründen. Diese Urlaubstage sollen hinsichtlich des Arbeitsentgelts, der Sozialversicherungsbeiträge und -leistungen sowie der Altersruhegeldansprüche dem bezahlten Urlaub gleichgestellt werden (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1992, S. 180f). 6.

Vorschlag der Kommission zur Annäherung der nationalen Sozialpolitiken Der Vorschlag der Kommission für eine Empfehlung des Rates zur Annäherung der Politik des sozialen Schutzes der Mitgliedsländer ist ein Versuch, eine schrittweise Angleichung der Lebensverhältnisse in der EG über den Weg der selektiven Harmonisierung der Leistungen der Systeme der sozialen Sicherheit herbeizuführen (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1991a; siehe auch Art. 117 EWGV). Neben den allgemeinen Empfehlungen, die an Nichterwerbstätige gewährten Leistungen der Systeme der sozialen Sicherheit regelmäßig dem Anstieg des Lebensstandards der erwerbstätigen Bevölkerung anzupassen und das Recht auf soziale Sicherheit als Individualrecht zu verankern, enthält der Vorschlag der Kommission auch Leitlinien, die sich speziell an die Belange von Familien richten. So werden die Übernahme der sich durch Schwangerschaft, Entbindung und ihre Folgen ergebenden medizinischen Kosten durch die Allgemeinheit und die Erweiterung der Leistungen an EinEltern-Familien (Alleinstehende mit Kindern) sowie an Familien mit behinderten Kindern gefordert. Femer soll Frauen in der Zeit des Mutterschutzes ein Einkommen garantiert werden. Die Mitgliedstaaten der EG sollen außerdem die Unterstützung der beruflichen (Re-) Integration von Eltern, die nach einer 'Familienphase' (wieder) berufstätig werden möchten, ausbauen. Abschließend schlägt die Kommission dem Rat vor, den Mitgliedsländern zu empfehlen, die Leistungen für benachteiligte Familien so zu verbessern, daß niemand durch unzureichende finanzielle Mittel davon abgehalten wird, Kinder zu bekommen. Insbesondere sollen die Leistungen für Ein-EltemFamilien sowie Familien, die ein behindertes Kind aufziehen, verbessert werden. Diese Empfehlungen stimmen unseres Erachtens nahezu deckungsgleich mit dem Katalog der sozialen Rechte im Sozialgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland und der Praxis ihrer Umsetzung überein. Was bislang davon europaweit konsensfähig ist, läßt sich schwerlich sagen. Einerseits verabschiedete der Rat bereits im Juni 1986 eine Entschließung, in der er den Mitgliedstaaten eine Individualisierung der Vorschriften des sozialen Schutzes und der sozialen Sicherheit nahelegte. Betrachtet man aber andererseits die Unterschiede, die es zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten im Ausmaß des Familienlastenausgleichs und der Bereitschaft gibt, familienfördernde Dienstleistungen

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einzurichten und/oder auszubauen sowie familienfreundliche Gesetze zu erlassen (vgl. Anhang, Übersicht 3-5), läßt sich nicht ausschließen, daß unkoordinierte Ex ante-Harmonisierungsbemühungen den Intentionen einer wohl bedachten Familienpolitik zuwiderlaufen. 7.

Die Familienpolitik ab Schwerpunkt von Untersuchungen EG-eigener Einrichtungen Obgleich die EG keine familienpolitischen Kompetenzen besitzt, ist sie seit einiger Zeit sehr stark an der Untersuchung der Lebensumstände von Familien in der Gemeinschaft interessiert. Dabei steht auffallend oft die Sorge über die demographische Entwicklung in den Mitgliedsländern im Vordergrund, was im Gegensatz zur Debatte in der Bundesrepublik Deutschland steht und eher der französischen Tradition von Familienpolitik entspricht. Bereits 1984 beauftragte das Präsidium des Wirtschafts- und Sozialausschusses (WSA) eine Studiengruppe, einen "Informationsbericht über die demographische Lage in der Gemeinschaft zu erstellen". Dieser Bericht versuchte, auf die Bedeutung der Familie für die Zukunft der Gemeinschaft aufmerksam zu machen, und beschäftigte sich, zumindest ansatzweise, mit Überlegungen über demographisch notwendige familienpolitische Maßnahmen (vgl. Wirtschafts- und Sozialausschuß, 1986, S. 26-30). Seine Bekanntheit verdankt dieser Bericht der Tatsache, daß sein Erscheinen zeitlich eng mit dem französischen Memorandum auf dem Gipfel des Europäischen Rates in Kopenhagen von 1987 (vgl. Rosenzveig, 1989, S. 8) zusammenfiel, in dem die französische Delegation auf die "besorgniserregende demographische Entwicklung in Europa" aufmerksam machte und betonte, "daß Europa seine politische, wirtschaftliche und kulturelle Stellung in der Welt nicht ohne eine Erneuerung seiner demographischen Kräfte behaupten könne" (Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1989, S. 3). Mit diesem Memorandum wurde die Kommission verpflichtet, die Bevölkerungsentwicklung in der EG fortlaufend zu beobachten und in ihren jährlichen Berichten zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Gemeinschaft darzustellen. Seit 198S forderte der WSA mehrfach eine stärkere Beachtung der Familie und der Kinder in Politik und Gesellschaft. Er vertritt die Ansicht, "die EG sollte sich bei ihrer Politik auf den Grundsatz stützen, daß alle Familien gleichermaßen die Möglichkeit der Teilhabe am gesellschaftlichem Geschehen haben sollten, wobei die Frage nach der Höhe der zur Verwirklichung dieses Ziels erforderlichen öffentlichen Aufwendungen je nach den privaten wirtschaftlichen und anderen Ressourcen der Familien geprüft werden sollten" (Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 1985, S. 23; 1992a, S. 56).

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Die familienpolitische Lobby des WSA setzt sich aus zwei von der COFACE17 bestimmten Mitgliedern und fünf Vertretern der französischen Familiendachorganisation (Union der französischen Familienorganisationen) zusammen. Die COFACE, der Bund der Familienorganisationen der Europäischen Gemeinschaften, bemüht sich, die Interessen von Familial und Kindern zu schützen und eine EG-Familienpolitik zu fordern, deren Ziel es ist, eine soziale, wirtschaftliche und kulturelle Umwelt zu schaffen, in der Familien ihre menschlichen und sozialen Verantwortungen erfüllen können. In dieser Eigenschaft arbeitet die COFACE eng mit dem Parlamentsausschuß für soziale Angelegenheiten und den Generaldirektionen für soziale Angelegenheiten und für Forschung, Wissenschaft und Bildung zusammen (vgl. Schwaiger und Kirchner, 1981, S. 107). Ihre größten Erfolge bei der Beeinflussung von EG-Politiken liegen allerdings auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes. IV. Familienpolitik wozu? Geht man von den in III.7. genannten Voten zugunsten von Familienpolitik aus, läßt sich die Notwendigkeit von Familienpolitik auf zweierlei Weise begründen: zum einen mit gesellschafts- und sozialpolitischen Zielsetzungen hinsichtlich des Ausgleichs von Unterschieden in "der wirtschaftlichen und sozialen Lebenslage der Individuen, die durch die Zugehörigkeit zu Familien unterschiedlicher Größe, Struktur und Schichtzugehörigkeit bedingt sind" (Lantpert, 1980, S. 358 f.), zum anderen durch den Hinweis auf eine Gefährdung der Erfüllung familialer Funktionen, an deren erfolgreicher Wahrnehmung die Gesellschaft ein begründetes Interesse hat. Wenn nun die in I. festgestellte Heterogenität der familienpolitischen Maßnahmen und die in II. erörtete Integrationsproblematik im Zusammenhang gesehen werden mit dem in III. 1. konstatierten Spannungsverhältnis zwischen der Nichtzuständigkeit der Gemeinschaft für Familienpolitik und der permanenten indirekten Intervention in familiale Lebensbereiche, muß dringend zumindest eine Orientierungshilfe für politisches Denken (und Handeln) angemahnt werden. Wenn dieser Orientierungshilfe hinreichendes Gewicht verliehen werden soll, müßte sie den Rang einer Europäischen Familiencharta erhalten (siehe V.). Sie muß zudem sorgfältig begründet werden durch einen Argumentationsstrang, der zumindest die Konturen einer konsistenten Theorie der Familienpolitik sichtbar macht. Wenn hierzu die nun folgenden Erörterungen, die sich vornehmlich, wenngleich nicht ausschließlich auf Denkansätze- der deutschen Theorie der Sozialpolitik stützen, beitragen könnten, wäre dies gewiß ein Schritt in Richtung 'Integration'. 17

COFACE ist eine Abkürzung für: Confédération des Organisations Familiales de la Communauté Européenne.

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1.

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Familie als Ort der Bildung und Erhaltung von Humanvermögen In vielfältigen Formen übernimmt die Familie zentrale Aufgaben der privaten und gesellschaftlichen Daseinsfürsorge. Dennoch kann davon ausgegangen werden, daß sich die besondere Bedeutung der Institution Familie für die Stabilität gesellschaftlicher Prozesse aus ihrem überragenden Beitrag zur Reproduktion des gesellschaftlich unverzichtbaren Humanvermögens ableitet. Sowohl in der individuellen als auch in der gesamtwirtschaftlichen Sicht rückt dabei die Bereitschaft zur Elternschaft und zur Übernahme von Familienpflichten, die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für die Sicherung der Versorgung, der Pflege, Erziehung und Ausbildung von Menschen, die in einem Familien- und Haushaltsverbund leben, ins Zentrum der Bewertung ihrer Leistung. Die Anforderungen, die die moderne Gesellschaft an das Wissen, die Verläßlichkeit, die Effizienz und Kreativität des Handelns ihrer Menschen stellt, sind in erster Linie Ansprüche an die Qualität der Bildung des Humanvermögens in den Familien. Zum Schlüsselbegriff modemer familienwissenschaftlicher und familienpolitischer Diskussion avanciert damit der Begriff des Humanvermögens - und zwar in seiner vollen Breite: Die Bildung von Humanvermögen umfaßt die Vermittlung von Befähigungen zur Bewältigung des Alltagslebens, das heißt: den Aufbau von Handlungsorientierungen und Werthaltungen in der Welt zwischenmenschlicher Beziehungen. Gefordert ist sowohl der Aufbau sozialer Daseinskompetenz (Vitalvermögen) als auch die Vermittlung von Befähigungen zur Lösung qualifizierter gesellschaftlicher Aufgaben in einer arbeitsteiligen Wirtschaftsgesellschaft, der Aufbau von Fachkompetenz (Arbeitsvermögen im weiten Sinne). Wie wesentlich hier die Bereitstellungsleistungen der Familien sind, wird in der Debatte über die Notwendigkeit von Familienpolitik oft übersehen. Gleichwohl ist dieser Aspekt von überragender gesellschaftlicher Bedeutung. Kernbereich der Familie ist stets eine Eltern-Kind-Beziehung, eine Beziehung, die zwar schwerpunktmäßig, nicht aber ausschließlich auf leiblicher Verwandtschaft beruht. Familie entfaltet sich in einem Prozeß, der ein hohes personelles Engagement in der Zeit erfordert, in einem Prozeß der permanenten Umwidmung persönlicher Zeit und persönlicher Verfügungsgewalt über Ressourcen in Hinwendung auf andere. In solchen familialen Beziehungen bilden sich die Persönlichkeitsmerkmale von Menschen in ihrer je individuellen Prägung aus. Dort vollzieht sich das Heranreifen von Kindern als "Aufbau der sozial-kulturellen Person" (R. König) in Phasen des Erlebens, des Erlernens und des Sich-Aneignens von Handlungspotentialen, im Erwerb der Fähigkeit, sich selbst in komplexe Felder sozialer Beziehungen einzuordnen und mit diesen gestaltend umzugehen.

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In einem familialen Austauschprozeß von Sorgeleistungen und Gefühlen erfährt der junge Mensch, was Menschsein bedeutet und worin seine eigene Identität besteht. Lange ist er zunächst nahezu ausschließlich auf die Kooperation und die Hilfe anderer angewiesen. Ein starkes zeitliches Engagement der Elton für ihre Kinder und eine betont emotionale Zuwendung sind die Faktoren, die dazu bätragen, daß der Sozialisationsprozeß des Maischen gelingt. Im Kooperationsfeld der Familie baut das Individuum Verhaltenssicherheit durch den Erwerb von Werthaltungen, Handlungsorientierungen und von seelischer sowie physischer Gesundheit auf und begründet damit seine je spezifische Persönlichkeit. Im 'inneren Milieu' ihrer Familie suchen und finden Kranke und Behinderte ebenso wie die gesunden Mitglieder vielfältig jenen Schutz, jene Hilfe und Geborgenheit, die aus Wertstrukturen erwachsen, die im Zeichen der Humanität, der Verantwortlichkeit für andere, der Elternliebe, der wechselseitigen Achtung und zwischenmenschlichen Solidarität stehen. Familie fordert von allen ihren Mitgliedern, insbesondere von Müttern und Vätern, grundsätzlich eine Fülle von Leistungen, die von ihnen als nahezu selbstverständlich erwartet werden. Dieser Tatbestand mag wesentlich dazu beigetragen haben, daß all diese Leistungen als 'Privatangelegenheit von Familie' betrachtet wurden und nicht als eine Aktivität von ungewöhnlich großem gesellschaftlichen Rang. Erst allmählich tritt die Erkenntnis wiederum ins Bewußtsein der Öffentlichkeit, daß in den Familienhaushalten jene werteschaffenden Leistungen erbracht werden, die nicht nur den privaten Lebensbereich des Menschen mit Inhalten erfüllen und dessen Lebensqualität und Sinngehalt bewirken, sondern zugleich das Fundament schaffen, auf das sich alle anderen Lebensbereiche der Gesellschaft gründen. In der Alltagserfahrung erlebt jeder Mensch Familie vor jeder anderen Lebensform. Ohne die Phase des Aufbaus der sozial-kulturellen Person in der Familie gibt es für ihn keine Grundlage zum Eintritt in weitere Prozesse der gesellschaftlichen Sozialisation. Der Erwerb der Befähigung zu gesellschaftlich relevanter Arbeit (in Form etwa der Arbeit in der Familie, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kunst und der Politik) setzt voraus, daß in Familien junge Menschen ihre Kreativität, Lernfähigkeit und Sittlichkeit erworben haben. Daß jene Leistungen nahezu selbstverständlich - ohne besondere Einkommensanreize - angeboten wurden, ließ den Eindruck aufkommen, sie erfolgten kostenlos. So ergab sich eine groteske Entwicklung: Alle Aufwendungen, die für die nachwachsende Generation und die Erhaltung der Schaffenskraft der produzierenden Generation und der häuslichen Pflege von Kranken und Behinderten erbracht wurden, verloren das Prädikat, gesellschaftlich wertvoll zu sein. Alle Leistungen zur Förderung der produktiven Kräfte einer Gesellschaft schienen unter diesem Aspekt mangelnder unmittelbarer Meß-

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barkeit zur 'Wertlosigkeit' zu entarten. Im Gegensatz dazu stieg Erwerbstätigkeit in den Rang eines allumfassenden Arbeitsbegriffs auf. Dazu reichte offensichtlich sowohl die Eigenschaft, solche Leistungen in ihrem Rang über den Maßstab der am Markt sichtbar werdenden Tauschwerte numerisch zu erfassen, als auch der deutlich höhere soziale Status dieser Variante gesellschaftlich relevanter Arbeit. Familientätigkeit zählte nicht zu den Aktivitäten, die zu Geldeinkommen fuhren; Familientätigkeit verlieh keine gesellschaftlich herausgehobene Statusposition. Familientätigkeit als Arbeit war lange Zeit kein Thema, dem in der Öffentlichkeit und auf Politikebene sonderliche Bedeutung zugemessen wurde. Auch in den entstehenden Systemen der sozialen Sicherung erhielt Erwerbsarbeit einen höheren Stellenwert für das Ausmaß der Alterssicherung des Einzelnen als dessen gesellschaftlich zumindest ebenso relevante Tätigkeit der konkreten Daseinsvorsorge für Kinder und andere Familienmitglieder. Obwohl unzählige Menschen Familie wünschen und Familie leben möchten, erfahren sie doch täglich, daß die Familie als Institution sowohl überfordert als auch ausgebeutet wird durch jene, die sich ihr verweigern, und andere, die die Leistungen der Familien, ohne Kostenausgleich zu bieten, dem eigenen Nutzen dienlich machen. Daraus resultiert eine Verantwortung der Gesellschaft für die Sicherung der Lage der Familie als Ort der Bildung und Erhaltung von Humanvermögen. Zu gewährleisten ist die Fähigkeit, Familie in unserer Gesellschaft zu leben, und die Möglichkeit, Familie leben zu können. Schließlich verknüpfen sich in der Familie die Lebenspotentiale aller Gesellschaftsmitglieder.

2.

Familienlastenausgleich als Verfassungsgebot

Offensichtlich haben Prozesse des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels, zum Teil durch politische Entscheidungen fundiert, die Verteilungsordnung in den westlichen Ländern entscheidend geändert. Innerhalb jeder Sozialklasse und Einkommensschicht sind die verfügbaren Einkommen und die Lebenschancen zwischen den familienmäßig Ungebundenen, den kinderlosen Ehen und Paaren und den Familien mit einem Kind oder mehreren höchst ungleich verteilt. Wer Gerechtigkeit in der Lastenverteilung zwischen diesen Gruppen anstrebt, muß die Tatsache anerkennen, daß die Familien über ihre Aufwendungen für die nachwachsende Generation für alle Mitglieder der Gesellschaft nichthonorierte Leistungen erbringen. Elternschaft bedeutet, persönlich ein gewichtiges Maß an Konsumverzicht auf sich zu nehmen, um eine Investition in das Humanvermögen der Gesellschaft leisten zu können. Die moderne Familienforschung ist deshalb inzwischen der Frage nachgegangen, wie hoch die tatsächliche volkswirtschaftliche Belastung der Eltern ist. Sie bezieht dazu die konkreten Aufwendungen an Zeit ein, die Eltern bei der Erziehung und Ver-

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sorgung ihrer Kinder erbringen. Sie fragt zudem, ob nicht durch solche Familientätigkeit sehr konkrete und bedeutsame gesellschaftliche Werte geschaffen werden. Im Zusammenhang mit solchen Studien stellt z.B. der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit fest, daß bereits im Jahr 1974 (allein für die Leistungen an Kinder bis zu 3 Jahren) rund 33 Milliarden DM aufzubringen gewesen wären, wenn bezahlte Kräfte diese Aufgabe übernommen hätten. - Für das Jahr 1974 stellte der Beirat fest, daß der Aufwand der Familien (einschließlich des bewerteten Zeitaufwandes) 74 vH der gesamten Aufwendungen für die nachwachsende Generation ausmachte (vgl. Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, 1979, S. 99-102; zur Fortschreibung und Neubewertung dieser Jahre mit der Basis 1985 siehe Albers, 1986, S. 45 f.). 1.

2.

3.

4.

Das macht einen Familienlastenausgleich erforderlich mit folgenden Komponenten: Sicherung des sozialkulturellen Mindestbedarfs für alle Kinder (Ziel A). Dabei geht es nicht nur um einen Abbau der auf die ökonomischen Lebensbedingungen zurückgehenden Ungleichheiten der Entwicklungschancen von Kindern; ihr darüber hinausgehender Anspruch auf gleiche Entwicklungschancen (einschließlich der Chancengleichheit im Sozialisationsprozeß - Erziehung und Ausbildung) ist stets zusätzlich zu beachten; Anpassung der Familienhaushaltseinkommen an den durch Kinder bedingten unterschiedlichen Bedarf (Ziel B): Je nach der Zahl der Kinder sind die Familien mit einem unterschiedlichen materiellen Aufwand für die Kinder belastet; diese Last ist gleichmäßiger auf alle Haushalte zu verteilen, um die Aufgabenerfüllung der Familien zu sichern; finanzieller Ausgleich für die gesellschaftlichen Leistungen der Familie, insbesondere für jene, die in der Erfüllung (der Haushalts- und) der Sozialisationsfunktion liegen (Ziel C): Im Vergleich zu Erwachsenen ohne Kinder übernehmen Eltern spezifische gesellschaftspolitische Funktionen; sie entlasten die Allgemeinheit von Kosten, die sonst diese zu tragen hätte; auf das individuelle Wohl aller Mitglieder von Familien bezogene gesellschaftliche Leistungen (Ziel D): Hier geht es zentral um die familienunterstützenden und familienergänzenden Leistungen der Gesellschaft im Bereich der Wohnungsumwelten, der Erwerbsarbeitsverhältnisse und der sozialen Infrastrukturen (von den Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, Pflegebedürftige und alte Menschen über Beratungsangebote bis hin zu familiengerechten Formen der sozialen Sicherung).

Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht Ungereimtheiten in der steuerlichen Belastung, die nur unzulänglich die familialen Budgetbeschränkungen bei Existenz von Kindern berücksichtigt, beanstandet. In seiner Entscheidung vom 25.9.1992 (BVerfG,

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1992b) wies es darauf hin, daB der steuerliche Zugriff auf die Einkommen stets unter Beachtung der prinzipiellen Steuerfreiheit des Existenzminimums zu erfolgen habe. Nach Feststellung des Bundesverfassungsgerichts wurden in den vergangen Jahren die steuerlichen Grundfreibeträge und die Kinderfreibeträge so niedrig angesetzt, daß das vom Gesetzgeber steuerfrei gestellte Existenzminimum nicht erreicht wurde. In Abbildung 2 wird für das Jahr 1990 ermittelt, inwieweit zur Zeit in der Bundesrepublik Deutschland eine Diskrepanz zwischen geltendem Steuerrecht und der gültigen Verfassungsnorm existiert. Wie bereits bei anderen Anlässen geschehen, wird wiederum der Gesetzgeber aufgerufen, sich um eine Revision dieser Ungerechtigkeit in der steuerlichen Belastung, einer Ungerechtigkeit, die insbesondere Familien stark trifft, nachdrücklich zu bemühen. Abbildung 2:

Existenzminimum nach geltendem Steuerrecht und tatsächliches Existenzminimum

• Tatsächliches Existenzminimum (in DM pro Jahr) D Existenzminimum nach geltendem SteueiTecht

38.000 32.500

27.000 21.500

23.328 20.304 17.280 14.256

mit 1 Kind

mit 2 Kindern

mit 3 Kindern

mit 4 Kindern

Arbeitnehmer, verheiratet SteuerfreiesExistenzminimum: Summe aus Grundfrei betrag und Kinderfreibeträgen; tatsächliches Existenzminimum: 5 .500 DM je Kind laut Ifo-Institut (1989) und 8.000 DM je Erwachsenen in Anlehnung an die Sätze der Sozialhilfe Ursprangsdaten: Statistisches Bundesamt, Ifo Quelle: iwd-Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft 16. Jg., Nr. 44 vom 1.11.1990, S. 7

Kindergeld ab 1. Juli 1990 1 2 3 4

für Kind Kinder Kinder Kinder

ungekürzt

600 2.160 4.800 7.680

voll gekürzt

600

1.440 3.120 4,800

voll gekürzt: abhängig von der Familiensituation, Beispiel: bei einer Familie mit drei Kindern wird ab einem Nettoeinkommen von 57.080 DM voll gekürzt.

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3.

Ein Solidarsystem in der Drei-Generationen-Perspektive Die Betrachtung von Familie in einer Drei-Generationen-Folge von Familie ist konstitutiv geworden für die kritische Analyse des aktuellen Systems der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Ausgangspunkt ist die Aussage Wilfrid Schreiben: "Das Königsrinkommen von heute ist das Arbeitseinkommen - Arbeit im weitesten Sinne verstanden. Das vitale Problem des Industrialismus ist daher die Verteilung des Lebaiseinkommens auf die drei Lebensphasen: Kindheit und Jugend, Arbeitsalter und Lebensabend" (1971, S. 295). Aufgabe einer modernen Theorie der Sozialpolitik müsse es sein, sich über die daraus folgenden Konsequenzen ein klares Bild zu verschaffen. Nur wenn eine gegebene Problemlage erkannt sei, könne sinnvolle Politik greifen. Nach Schreiber (1971, S. 291) erfordern die "Kriterien der sozialen Gerechtigkeit" eine Verteilung, die sowohl den Unterhalt der mittleren Generation als auch "die Aufzucht von Kindern und die Erhaltung der Alten ermöglicht". Abbildung 3:

Naturale Leistungsströme zwischen den Generationen und rechtliche Leistungsbilanz innerhalb einer Generation

Den damit gedachten gesellschaftlichen Zusammenhang veranschaulicht Abbildung 3. Den einfachsten Zugang findet man zu den hier enthaltenen Implikationen, wenn

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man die Lebenslinie der 2. Generation betrachtet. Dort zeigt sich, daß sie während der Kindheitsphase Leistungen von Seiten der dann im Erwerbsalter stehenden Elterngeneration (1. Generation) empfängt (Pfeil a). Dafür unterhält sie diese Elterngeneration in deren letzter Lebensphase (Pfeil b). Zudem gewährt sie während ihres Erwerbsalters den Kindern der 3. Generation Unterhalt (Pfeil c) und empfängt von dieser Generation ihren Alters-Unterhalt, sobald diese in das Erwerbsalter und sie selbst in die Phase des Lebensabends hineingewachsen sind (Pfeil d). Hier stellt sich zunächst ein Bild der realen Leistungsströme dar, das dem berühmt geworden«! Satz von G. Mackenroth (1952, S. 41) exakt entspricht, "daß aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muß". Das ist der Satz von der "Einheit des Sozialbudgets", dem finanzierungstechnisch das im System der dynamischen Rente verwendete Umlageverfahren entspricht. Dieses Bild der realen Leistungsströme wird jedoch von einem anderen Bild, dem der Rechte und Ansprüche, überlagert. So soll gemäß obiger Darstellung ein Recht auf Versorgung im Alter infolge der Vorleistungen während der Zeit der Erwerbstätigkeit begründet werden (siehe Schleife). Zugleich entsteht eine Verpflichtung, während der Zeit der Erwerbstätigkeit die Unterhaltsleistungen der Kindheitsphase rententechnisch abzugelten. Dieser Systemidee folgend, leistet Sozialpolitik einen intertemporalen Ausgleich der Lebenseinkommen in engeren sozialen Gruppen zum Zweck der Sicherung bestimmter Lebaisstandards oder Versorgungsniveaus (vgl. Liejmann-Keil, 1961). Bekanntlich sind diese Reformideen nur unvollkommen in das Gesetzgebungswerk der Rentenreform in der Bundesrepublik eingegangen. Die Idee der 'Kinderrenten' wurde nur als Annäherung in Form von Kindergeldzahlungen realisiert. Schreiben Vorstellung geht dahin, "daß jegliches, auch das heutige Kindergeldsystem in ökonomischer Sicht immer ein Geben und Nehmen ist, - ein Einkommenstransfer aus der Erwerbsphase vorgreifend in die Kindheit, eine Kindheitsrente, die man vorschußweise bekommt und später, nach Eintritt ins Erwerbsleben wieder abdeckt, mögen diese späteren Gegenleistungen nun Steuern oder Beiträge oder Tilgungsraten heißen" (Schreiber, 1992, S. 113). Von Anbeginn ist deshalb eine zentrale Voraussetzung eines Systems dynamischer Renten mißachtet worden, die nämlich, daß "das 'Geschäftsvolumen' einer Volksrentenanstalt nicht abnimmt, sondern eher zunimmt". Lediglich "bei einem stetig wachsenden Volk" gilt diese Voraussetzung als von vornherein gesichert (Schreiber, 1971, S. 288). Auch unter rententechnischen Gesichtspunkten wird die Sicherung eines bestimmten Bestandes an Humanvermögen konstitutiv für die Aufrechterhaltung eines (Sub-) Systems moderner Gesellschaft, dessen Existenzfähigkeit von den gerade regierenden Parteien stets als besonders verläßlich gepriesen wird. Ohne die Leistungen der Fami-

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lien für die nachwachsende Generation, die - wie in IV.2. gezeigt wurde - zu ca. zwei Dritteln aus individuell erbrachten Eltern- bzw. Familienaktivitäten bestehen, kann dieser Schlüsselbereich sozialer Sicherheit nicht überleben. Ein Altersaufbau, der einer zahlenmäßig schrumpfenden Erwerbsbevölkerung anteilig steigende Lasten für die Versorgung von Nichterwerbstätigen aufbürdet, könnte Anlaß zu Umverteilungskämpfen zwischen den Generationen bieten, zu einer Aufkündigung des Solidarvertrags durch die Erwerbsbevölkerung in Richtung auf die 'Kinder' und 'Alten'. So kann z.B. nicht ausgeschlossen werden, daß jene Mitglieder einer Generation, die sich von den Ansprüchen überfordert fühlen, welche tagtäglich mit der Erziehung und dem Unterhalt von Kindern verbunden sind, mit dem Verzicht auf Familie reagieren, d.h. ihre ohne Zweifel vorhandenen Kinderwünsche nicht realisieren. Vor diesem Hintergrund konnte es nicht verwundern, daß es kürzlich für all diejenigen, die das außerordentlich hohe Niveau der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland voraussetzungslos als gewährleistet ansahen, eine böse Überraschung gab. Wiederum wurde das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht, in Familiensachen tätig. In seinem Urteil vom 7. Juli 1992 verpflichtete es den Gesetzgeber ausdrücklich, "den Mangel des Rentenversicherungssystems, der in den durch Kindererziehung bedingten Nachteilen bei der Altersversorgung liegt, in weiterem Umfang als bisher auszugleichen" (BVerfG, 1992a, Leitsätze, S. 1, Abschnitt 2). Bisher seien zwar "erste Schritte zum Ausgleich bestehender Ungleichheiten" unternommen worden. Darüber hinausgehend habe allerdings der Gesetzgeber "sicherzustellen, daß sich mit jedem Reformschritt die Benachteiligung der Familie tatsächlich verringere" (BVerfG, 1992a, Leitsätze, S. 3, Abschnitt 3). Offensichtlich vertritt das Bundesverfassungsgericht die Auffassung, daß die gegenwärtige Rechtslage nicht den Forderungen entspricht, die aus dem Prinzip der Solidarität zwischen den Generationen, das weitgehend mit dem Familienprinzip korrespondiert, abzuleiten sind. In seinen Argumenten weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, daß Familienpolitik konstitutiver Teil einer Politik ist, die den Ansprüchen eines modernen demokratischen Rechtsstaats genügen will. Das heißt: Es ist zunächst davon auszugehen, daß in einem demokratischen Rechtsstaat die individuellen Grundrechte als Freiheitsrechte begründet sind, als Freiheiten des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft. Zugleich ist aber darauf aufmerksam zu machen, daß mit der Existenz von Familien als gesellschaftlicher Institution dem Einzelnen Pflichten zuwachsen. Mit der Übernahme von Familienfiinktionen begründen sich Pflichten, für andere Menschen Verantwortung zu übernehmen. Grundsätzlich werden Menschen in Familien hineingeboren. Familie zu haben, in Familien zu leben, erscheint dem Einzelnen als Selbstverständlichkeit. Ohne den Rück-

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griff auf Familie ist jegliche soziale Existenz undenkbar. - Es ist allerdings nicht selbstverständlich, daß auch eine Generationenfolge begründet wird. Eine gesellschaftlich sanktionierte Pflicht, Familien zu gründen, ist unvereinbar mit den Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaats und den damit verknüpften individuellen Grundrechten. Es ist exakt diese für Einzelne 'herstellbare' Asymmetrie zwischen Rechten und Pflichten in einem demokratischen Rechtsstaat, der in der gegebenen Form Alterssicherung garantiert, die eines Ausgleichs bedarf. Oft ist dieser Ausgleichsmechanismus über den Tatbestand der Solidarität gewährleistet. Er ist damit aber nicht zwingend etabliert. Wo immer Asymmetrien solcher Art denkbar oder spürbar werden ('Free rider'-Positionen nennt sie die Ökonomik), wird Familienpolitik zu einer Politik der Gewährleistung von Symmetrien zwischen Rechten und Pflichten im Zeichen einer sozialen Gerechtigkeit. Grundsätzlich ist - so zeigte sich durchgängig - Familienpolitik Familien-Lastenausgleichspolitik. Das gilt für jegliche moderne Industriegesellschaft und damit auch für die Europäische Gemeinschaft. 4.

Familie und Wirtschaft Mit dieser kritischen Analyse des sozialen Sicherungssystems wird zugleich die Fragwürdigkeit der These unterstrichen, allein die "Wirtschaftskraft" eines Systems bestimme die Niveaus der zu erbringenden Sozialleistungen. Ohne das Humanvermögenspotential gibt es keine 'Wirtschaftskraft'. Unübersehbar tritt hier die unaufhebbare Komplementarität zwischen Humanvermögen und Realvermögen ins Blickfeld. Das gilt dann auch für die Notwendigkeit der Verschränkung der Politikebenen. Oft heiBt es: Familienpolitik schade der Wirtschaftspolitik; sie mindere die wirtschaftliche Effizienz. Ihren Wohlstand verdanke die Gesellschaft der Wirtschaft, deshalb müsse sich die Sozialpolitik und mit ihr die Familienpolitik stets der Wirtschaftspolitik unterordnen. Unter dem oben genannten Gesichtspunkt empfiehlt es sich, diese These deutlich zu relativieren. Im Zeichen der Dominanz erwerbswirtschaftlichen Denkens in Industriegesellschaften ist es notwendig, ständig an eine grundlegende Tatsache zu erinnern. Im Lebenszyklus geht die familiale und schulische Sozialisation stets der Erwerbstätigkeit voraus. Nur mit dem Sozialisationserfolg von Familie und Schule wird effiziente Wirtschaft möglich. Eine intakte Welt der Familien ist als unverzichtbare Voraussetzung für die Schaffung einer effizienten Arbeitswelt anzusehen. Ohne einen tragfähigen Unterbau an humanem und geistigem Vermögen wird nicht nur die Hoffnung auf Wohlstandssteigerungen, sondern selbst die auf Wohlstandsbewahrung durch ein effizientes Wirtschaftssystem zu einer Illusion; ohne diese Basis an Humanvermögen unterbleibt auch jegliche Übertragung kultureller und moralischer Werte.

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Abbildung 4:

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Zur Interdependenz von familialem und sozialökonomischem System - Bildung von Humanvermögen und gesellschaftliche Produktivität

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Die bildungs- und entwicklungstheoretische Forschung berichtet über zentrale Zusammenhänge zwischen der Stabilität der Familien und der Arbeitsproduktivität der Wirtschaft. Nicht wenige Wissenschaftler meinen, sie sinke in verschiedenen Ländern vor allem deshalb, weil infolge der Schwächen in der Sozialisationsfähigkeit vieler Familien die nachwachsende Generation erhebliche Befahigungs- und Bildungsdefizite aufweist. Trotz Führungsleistungen in Forschung und Technologie seien z.B. die Firmen der USA im Alltag nicht in der Lage, die neuen bahnbrechenden Ideen im konkreten Produktionsprozeß wegen unzureichender Arbeitsqualifikation in Innovationen, d.h. in absatzfähige Produktneuerungen, umzusetzen. Amerikanische Kollegen prognostizieren, ihr Land setze seine wirtschaftliche und politische Stärke aufs Spiel, weil die Erkenntnis nicht greife, daß die Investition in den jungen Menschen die wichtigste aller Investitionen ist. 18 Eine Gesellschaft zerstöre sich selbst, wenn ihre Gesellschaftspolitik nicht grundlegend familienpolitischen Erfordernissen entspreche. Mit diesen Feststellungen bestätigt die heutige Wissenschaft lediglich die Relevanz der klassischen These von der Notwendigkeit der Solidarität einer Gesellschaft mit ihren Kindern. Die Basis für jene Makro-These ist die Einsicht, daß Familientätigkeit und Elternschaft entscheidend zur Schaffung jenes geistigen und humanen Vermögens beitragen, das die Überlebensfähigkeit einer Gesellschaft sichert. Man sollte nicht sagen, das sei für Europa kein Thema. Familienarmut muß nicht unbedingt mit einem Einkommensniveau unter dem Existenzminimum gleichgesetzt werden. Es geht hier um die Tatbestände der relativen Armut und der Diskriminierung. Das Problem, das sich hier stellt, ist für Europa weniger das der Ungleichverteilung zwischen reichen und armen Haushalten. Es ist vor allem ein Problem der Ungleichbelastung von Lebensgemeinschaften mit Kindern und ohne Kinder. Wird diese Ungleichbelastung als ungerecht und unsolidarisch betrachtet, droht eine (stillschweigende) Verweigerung gegenüber Familie oder ein (offener) Umverteilungskampf der Eltern gegen die Kinderlosen. Beides wird die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft nicht steigern. Grundlegende Ursache für die gesellschaftlich unzureichende Berücksichtigung der Belange der Familien ist eben eine törichte Unterbewertung ihrer gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Leistungen. 18

Über die Bedeutung solcher Investitionen in Humanvermögen urteilt Theodore W. Schultz: Der jeweilige Erfolg der Arbeit werde bestimmt durch die Fähigkeit der Akteure, Handlungspotentiale in einer Welt, in der sich die Rahmenbedingungen permanent verändern, so wahrzunehmen, daß ein angestrebtes Niveau der Lebenslage nicht nur erreicht, sondern in seiner Qualität eher überboten wird. Gemeint ist die Fähigkeit zu lernen, sinnvolle Arbeit zu verrichten, Neues zu schaffen und Ungleichgewichte zu bewältigen. Er betont damit, daß die Investition in Menschen und deren Wissenals entscheidender Faktor der Sicherung und Steigerung menschlicher Wohlfahrt anzusehen seien und daß diese Leistung wesentlich in den Familienhaushalten erbracht werde (vgl. Schultz 197S, S. 827-846; 1981).

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V.

Europäische Familiencharta: ja - Ex ante-Harmonisierung: nein! In den Abschnitten IV. 1. bis IV.4. wurden schwerpunktmäßig Makro-Fragen der Familienpolitik erörtert, Fragen, die die Mitgliedsländer der EG ebenso berühren wie die Bundesrepublik Deutschland (auf die allein in unseren Zahlenangaben abgestellt wurde). Offensichtlich ist es kein Zufall, daß sich diese Abgrenzung mit den einschlägigen Auffassungen der EG-Kommission deckt. So meint z.B. K.-H. Naijes (1988, S. 381 f.), daß sich "die sozialpolitischen Aufgaben der EG ... mit wenigen Zahlen veranschaulichen" lassen. Er nennt - die Relation zwischen Kindern und Jugendlichen bis zum 25. Lebensjahr (1984/83 in den zwölf Mitgliedstaaten: 122 Mio.) einerseits und Erwachsenen andererseits (200 Mio.) sowie - deren weitere Untergliederung in: erwerbstätig 38 vH, erwerbsfähig, aber arbeitslos S vH und "abhängig" vom sozialen Leistungssystem in Ruhestand oder Frühinvalidität 57 vH. "Die Zukunft Europas liegt auf den Schultern der 105 Mio. Jugendlichen, die heute noch Schulen, Hochschulen oder berufliche Ausbildung durchlaufen" markiert er den Aufgabenschwerpunkt für Sozialpolitik in der EG. Es fällt auf, daß er dann gleich über die Bedeutung von Bildungspolitik redet, die deren Weg in die Erwerbsarbeit besser vorzubereiten habe. Über den Stellenwert von Familie erfährt man in diesem Zusammenhang nichts. 'Familie' als Begriff erscheint lediglich in einer unstrukturierten Aufzählung der Bereiche 'sozialer Sicherheit'. - Gleichwohl verlautet abschließend zum Stichwort 'Perspektiven der Europäischen Sozialpolitik': "Die Verwirklichung der sozialen Kohäsion verbunden mit einer kooperativen Wachstumsstrategie sind der wesentliche Beitrag zur Sicherung des sozialen Gleichgewichts in der Gemeinschaft" (Narjes, 1988, S. 385). Vorher jedoch hatte der Autor notiert: "Der soziale Schutz der Wanderarbeitnehmer verdeutlicht bisher am besten den Ansatz einer kohärenten Sozialpolitik der Gemeinschaft" (S. 379). Aber: Ist es belanglos, daß - wie Naijes weiter feststellt - "die Familie ... in ihrer Kohäsion durch alle Formen der Wanderungen aufs schwerste erschüttert (wird)", daß auch dann, "wenn der Familienzusammenhang ... gewahrt bliebe", den Abgewanderten weit gefächerte Lebenswirklichkeiten der gegenseitigen Hilfe durch Sippen und Nachbarschaft, "von Spannung und Kooperation, also auch von Sicherheit", verlorengehen? Trifft hier nicht wiederum Achingers Feststellung zu, daß "die ganze ursprüngliche Konzeption der sozialen Sicherung ... durch eine ausgesprochene Familienfremdheit gekennzeichnet (erscheint)" (Achinger, 1958, S. 39, 41)? Kann außer acht gelassen werden, daß jedes System der sozialen Sicherung auf Familie und Arbeit rekurriert? Ist hier nicht grundsätzlich über eine Neuordnung der Sicherungssysteme im Sinne der

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Einheit der Lebensverhältnisse nachzudenken? Könnte nicht darin eine zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe zu sehen sein, die die EG zu lösen hat?19 Eindeutig ist unseres Erachtens nur eines: Jegliche Variante von Sozialpolitik hat zu beachten, daß keine ihrer Einrichtungen und Maßnahmen die Familie gefährden darf. Dieses Votum ist seit Mackenroths gewichtigem Monitum (1952) in der deutschen Theorie der Sozialpolitik als ständige Mahnung präsent (vgl. Krüsselberg, 1979, S. 160 ff.) und durchzieht nunmehr auch durchgängig die Grundaussagen des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Welche Aktivitäten im einzelnen gefordert sind, bedarf jedoch stets einer konkreten Analyse. Ansatzpunkte gibt es in großer Fülle; vielfach werden sie als Rechte für Familie bezeichnet, die durch eine Europäische Familiencharta zu schützen seien: - Wahrung und Förderung des natürlichen Rechts der Eltern, sich für Kinder zu entscheiden und sie zu erziehen. Das bedeutet einmal: Korrektur jener zahlreichen 'Anreize' im Steuer- und Sozial-(-versicherungs-)recht, auf Nachkommenschaft zu verzichten, zum anderen: 'Investitionshilfen' für die 'Aufbauphase' von Familien; - Sicherung des sozialen (Einkommens-) Existenzminimums für alle Familienmitglieder einschließlich einer angemessenen Altersversorgung bei Elternschaft; - Gewährleistung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch flexible Arbeitsverhältnisse und familienunterstützende Betreuungseinrichtungen; - Aufhebung jeglicher Diskriminierung von Kindern, Frauen und Familien im Alltag und Berufsleben (siehe etwa COFACE, 1989; Hasinger, 1991). Es wäre gewiß hilfreich, wenn die EG auf der Linie bereits vorliegender Anregungen eine Europäische Familiencharta entwerfen könnte. Davon würden nicht zuletzt die nationalen familienpolitischen Programme profitieren. Offen bleibt gleichwohl, ob gemeinschaftseinheitliche Regelungen erforderlich sind. Die damit geäußerte Skepsis geht vor allem darauf zurück, daß die sozialen Sicherungsnetze in Europa auf sehr unterschiedliche Leitbilder und Traditionen zurückzuführen sind: Zentralistische und föderative Staatskonzepte konkurrieren ebenso miteinander wie Ideen über staatsfreie Räume, Ansprüche auf Mitbestimmung und Selbstverwaltung sowie Möglichkeiten, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern (Gleichstellung, Gleichbehandlung, Geschlechterrivalität) neu zu ordnen. 19

In der Festschrift, die Heinrich Franke zum 65. Geburtstag gewidmet wurde, werden unter dem Titel: "Zusammenwachsende Arbeitsmärkte und Sozialräume" ausführliche Stellungnahmen über die "Arbeits- und Sozialpolitik auf dem Weg zum EG-Binnenmarkt" vorgelegt. Schwerpunktmäßig wird das Thema: Familienpolitik auf EG-Ebene nicht erörtert. Lediglich Rita SOßmuth verweist darauf, daß die Sozialpolitik in den nächsten Jahren noch einige "Hausaufgaben" zu erledigen habe - nicht zuletzt jene Nachbesserung des Familienlastenausgleichs, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12.6.1990 fordert (vgl. Buttler, Reiter et al„ 1993, S. 387).

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In diesem Zusammenhang wird - namentlich in der Bundesrepublik Deutschland Kritik bezüglich der Rechtsprechung des EuGH im Sozialbereich laut. Vorgeworfen wird dem EuGH "mangelhafte Rücksichtnahme auf den Gesamtzusammenhang nationaler Rechtsvorschriften" (O. Schlecht) - nicht zuletzt im Sinne einer "Entterritorialisierung von Sozialleistungen". Hier hat der EuGH z.B. ermöglicht, daß der 'Export' einer beitragsunabhängigen Sozialleistung ohne jeden Bezug zu einer anderen nationalen Sozialversicherungsleistung erstritten wurde. Das steht in eklatantem Gegensatz zur Forderung des Deutschen Bundestags, im Bereich der Gewährung von Sozialleistungen in der Regel nach dem Territorialitätsprinzip zu verfahren (siehe sowohl zur Verweisung auf Schlecht als auch zur Darstellung des Falles: Clever, 1992, S. 1 und 5). Hier kommt es zu Kollisionen im Bereich der Zuständigkeiten und zu Konflikten bezüglich der Zuständigkeitsordnungen. Das ist ein Konflikt zwischen ordnungspolitischen Grundsatzentscheidungen. In der deutschen Sozialpolitik ist diese Debatte vielfach geführt worden: Es ging um die Beziehungen zwischen Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip. Nicht immer hat sich das Subsidiaritätsprinzip gegenüber dem Solidaritätsprinzip behaupten können. Unter dem Aspekt der erforderlichen Solidarität ist häufig der Vorrang der Kollektiwerantwortlichkeit und wegen der Umverteilungskomponente in Einrichtungen sozialer Sicherung deren zentralistische Ausformung reklamiert worden. Ob dies dem verlangten hilfreichen Beistand förderlich sei, bezweifelt das Subsidiaritätsargument. Es plädiert für den Einsatz von Trägern, die den zu fördernden Handlungseinheiten näherstehen, ihre Probleme und Ressourcen besser zu beurteilen vermögen und deshalb zielgerichteter agieren können. Wenn das Subsidiaritätsprinzip im Sozialraum EG von Belang sein soll, müssen Einzelinitiativen im Feld der Familienpolitik eher ermutigt als (vor dem Hintergrund befürchteter politischer Konflikte) diskreditiert werden. Dazu eignet sich eine dezentrale Strategie eindeutig besser als eine zentrale, zumal wichtige Aufgaben von Familienpolitik unterhalb der Ebene nationaler Gesetzgebung in staatsfreien Räumen (Tarifautonomie) zu bewältigen sind. Wenn zu unterstellen ist, daß bei sinkender Bevölkerung zur Abwendung ernsthafter Produktivitätsverluste die Frauenerwerbstätigkeit zunehmen muß, dürfte - zumindest für die Bundesrepublik Deutschland - zu erwarten sein, daß familienpolitisch förderliche Maßnahmen in der Arbeitswelt durchsetzbar sind. Was Unternehmen, Tarifpartnern und unter Umständen auch Gemeinden möglich ist, darf der staatlichen Gesetzgebung nicht verwehrt sein. Familienpolitische Leistungen sind Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur; deren Ausbau ist eindeutig zu begrüßen, wenn die Argumente des Abschnitts IV. tragen. Natürlich können im EG-Bereich bei solchen Begünstigungen für Familien keine unterschiedlichen

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Behandlungen von EG-Staatsangehörigen zulässig sein. Unverzichtbar bleibt jedoch die Forderung, daß nicht wiederum "als erste Frucht der neuen Ära" - wie es bei sozialpolitischen Aktivitäten der Vergangenheit vielfach zu beobachten war - einer Verschärfung der "Trennung zwischen Familien- und Aibeitsleben" (Achinger, 1958, S. 40) Vorschub geleistet wird. Unter familienpolitischem Aspekt darf keine Differenzierung zwischen einem Beschäftigungslandprinzip und einem Wohnsitzlandprinzip vorgenommen werden. Ein 'Domizilprinzip' ist durchzusetzen, wenn soziale Verantwortlichkeit gegenüber Familie greifen will. Jede extreme Individualisierungsrechtsprechung birgt einen Verstoß gegen das Familienprinzip in sich. Hinzu kommt zudem, daß jeder gesetzliche Zwang, der "auf dem eigenen Staatsgebiet gewährte Leistungen bei dauerhaftem Wohnsitzwechsel in einen anderen Staat einer Exportpflicht unterwirft", die bereits genannten politischen Konflikte verschärft, weil (und solange) das Prinzip der nationalen Finanzierung gilt. Es ist nicht auszuschließen, daß damit all jenen, die familienpolitische Blockaden wünschen, in die Hand gearbeitet wird (vgl. Clever, 1992, S. 5). "Die Gemeinschaft steht vor weitreichenden Entscheidungen, die demokratische Legitimität zu stärken, sowie Exekutive und Legislative in ihrer Entscheidungsfähigkeit effizienter zu machen. Dies gebietet - vielleicht im Gegensatz zu den Anfangsjahren der EG, als sich der EuGH als Integrationsmotor verstehen und ohne Gefahr eines Akzeptanzverlustes auch als treibende Kraft agieren konnte - heute ein größeres Maß an Zurückhaltung gerade auf den für die Bürger besonders sensiblen Feldern des Arbeits- und Sozialrechts" (Clever, 1992, S. 6). Wenn unsere in II. dargestellte Auffassung über soziale Integration und gesellschaftliche Offenheit zutrifft, können solche "Entscheidungen, die demokratische Legitimität zu stärken", nur bedeuten, daß es gelingt, ein Bewußtsein zu wecken für ein gemeinsames Wert- und Normensystem. Nur dann kann das darauf fußende Recht Akzeptanz erwarten. Von einem konsensfähigen Wert- und Normensystem, auf das sich eine Verfassung Europas gründen könnte, die die Erweiterung von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Wirtschafts- und Sozialunion legitimiert, ist bislang (zu) wenig zu erkennen. Ein unentbehrlicher Schritt auf dem Weg dorthin ist, daß die Interdependenzen zwischen den wirtschaftlichen und sozialen Lebensbereichen hinreichend reflektiert und einem Integrationsmodell zugeordnet werden, dessen Dynamik aus Vielfalt erwächst. Das könnte auch eine Maxime Ar eine europäische Familienpolitik sein.

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Familienpolitik und europäische Integration

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Europäische

Aspekte

einer

Familienpolitik

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Familienpolitik und europäische Integration

Übersicht 3: Land

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Kindergeld in Europa Höhe/monatlich

Altersgrenze

Sonstiges

B

1. Kind: 2356 bft (114 DM) 2. Kind: 4359 bft (210 DM) 3. Kind: 6508 bfr (315 DM)

18 Jahre bei Ausbildung/ Studium: 21/25 J.

Für Kinder über 6 Jahre Zuschläge. Zusätzliche Beihilfe für behinderte Kinder bis 21 J.

D

1. Kind: 70 DM (1992) 2. Kind: 130 DM 3. Kind: 220 DM

16 Jahre bei Ausbildung/ Studium: 27 Jähre

Bei höherem Einkommen stufenweise Minderung. Für behinderte Kinder Zahlung ohne Altersgrenze

Jedes Kind bis 3 Jahre 567 dkr. (147 DM), jedes Kind von 4-18 Jahns 475 dkr (123 DM) '

18 Jahre

E

Jedes Kind: 250 Pts (4 DM)

18 Jahre

Kinderreiche Familien erhalten Zuschläge - je nach Anzahl der Kinder. Zuschlag für behinderte Kinder unbegrenzt

F

1. Kind: 2 Kinder: 615 FF (180 DM) 3 Kinder: 1402 FF (412 DM)

17 Jahre bei Ausbildung/ Studium: 20 Jahre

Beim 1. Kind einkommensabhängige Leistungen nur bei Bedürftigkeit. Bei Kindern über 10 Jahren oder bei mindestens 3 Kindern Zuschläge. Zusätzliche Beihilfen für behinderte Kinder

Pro Kind: 32,15 Pfund (93 DM)

16 Jahre bei Ausbildung/ Studium: 19 Jahre

1. Kind: 920 Dr (9 DM) 2. Kind: 3170 Dr (30 DM) 3. Kind: 6920 Dr (65 DM)

18 Jahre bei Ausbildung/ Studium: 22 Jahre

Bei höherem Einkommen stufenweise Minderung. Zuschlag für behinderte Kinder - unbegrenzt

Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner erhalten ein Familiengeld. 1. Familienangehöriger (FA): 60000 Lu (80 DM) 2. FA: 90000 Lit (120 DM) 3. FA: 160000 Lit (212 DM)

18 Jahre

Zu- und Abschläge je nach Einkommen. Ist ein Familienmitglied behindert, Erhöhung der Einkommensgrenze

Pro Kind 15,80 Pfund (41 DM)

16 Jahre bei Ausbildung/ Studium: 19 Jahre

1. Kind: 1847 1fr (90 DM) 2 Kinder: 5629 1fr (270 DM) 3 Kinder: 123841fr (600 DM)

18 Jahre An Familien mit 2 und mehr Kinbei Ausbildung/ dern Ober 6 Jahre wird einmal Studium: 25 Jahre jährlich eine Schülerbeihilfe gezahlt. Zuschlag für behinderte Kinder

Abhängig vom Alte der Kinder und Zahl der Familienmitglieder: Betrage pro Kind in Familien mit Kindern im Alter von 0-5 Jahre 1. Kind: 79 hfl (70 DM) 2 Kinder. 99 hfl (88 DM) 3 Kinder 105 hfl (93 DM) 6-11 Jahre 113 hfl (100 DM)/ 142 hfl (126 DM)/ 151 hfl (133 DM)

17 Jahre bei Ausbildung/ Studium: 27 Jahre

1. Kind: 1550 Esc (19 DM) 2. Kind: 1550 Esc (19 DM) 3. Kind: 2350 Esc (27 DM)

14 Jahre bei Ausbildung/ Studium: 25 Jahre

DK

GB GR

I

IRL L

NL

P

Bei Bedürftigkeit Erhöhung des Kindergeldes. Zeitlich begrenzter Zuschlag für behinderte Kinder

Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft (iwd), 1992, S. 7.

- 440 -

Hans-Günter Krüsselberg und Rebecca Sträfling

Übersicht 4: Land

Mutterschutzfristen in der EG

Mutterschutzfrist vor und nach der Entbindung

D

14 Wochen

B

14 Wochen

DK

28 Wochen (4 Wochen vor, 24 Wochen nach der Niederkunft, 6 Wochen können davon auf den Vater übertragen werden)

E

16 Wochen

F

16 Wochen (ab 3. Kind 18 Wochen)

GB

18 Wochen (4 weitere Wochen aus gesundheitlichen Gründen mit Attest)

Leistungen des Arbeitgebers

Leistungen der Krankenkasse

Kündigungsschutz Während Schwangerschaft und Erzichungsuriaub bzw. 4 Monatenach Entbindung

Aufstockung des Mutterschaftsgeldes auf 100% des Nettolohns Ar 14 Wochen

• Mutterschaftsgeld maximal 25 DM pro Tag, ffir 14 Wochen

• 100 Prozent des Verdienstes - für Arbeiterinnen 1 Woche - für Angestellte 1 Monat

• Nach Ende der AGLeistung 79,5 Prozent des Verdienstes 30 Tage, danach 75 % bis Höchstgrenze, 14 Wochen

Wahrend der Schwangerschaft bis einschließlich 1 Monat nach Erziehungsurlaub

• 90 Prozent des durchschnittlichen Verdienstes während der folgenden 15 Wochen für Arbeiterinnen (bis Höchstgrenze) • Angestellte: Pauschalsatz für weitere 10 Wochen

Während Mutterschutzfrist und Erziehungsurlaub

• 75 Prozent eines auf Grundlage der Sozialversicherungsbeiträge berechneten Grundlohnes für 16 Wochen

Während Schwangerschaft und Mutterschutzfrist

Zuschuß zum Krankengeld

• 84 Prozent des Tageslohnes bis zur Höchstgrenze plus Schwangerschaftshilfe

Während Schwangerschaft bis einschl. 1 Monat nach Erziehungsurlaub

• 90 Prozent des Normalverdienstes für 6 Wochen bei Betriebszugehörigkeit von mehr als 2 Jahren (Arbeitgeber kann später von Maternity Fund Erstattung verlangen)

• Pauschalsatz von 32,85 £ pro Woche während der anschließenden 12 Wochen • Pauschalsatz während 18 Wochen, wenn weniger als 2 Jahre beschäftigt

• 90 Prozent des durchschnittlichen Verdienstes während der letzten 4 Wochen vor der Mutterschutzfrist für Arbeiterinnen • Wenigstens SO Prozent des durchschnittlichen Gehalts bis zu 5 Monaten für Angestellte (Arbeitgeber kann Erstattung verlangen)

Während Mutterschutzfrist

Familienpolitik und europäische Integration

Obersicht 4;

-441

Mutterschutzfristen in der EG (Fortsetzung)

Luid

Mutterschutzfrist vor und nach der Entbindung

Leistungen des Arbeitgebers

Leistungen der Krankenkasse

Kündigungsschutz

GR

IS Wochen (6 Wochen vorder Niederkunft)

• 15-30 Tage Lohnfortzahlung abzügl. Leistung der Krenkonversicherung

• Pauschalsumme für Entbindungsgebühren • SO Prozent des Normallohnes für 98 Tage

Während Schwangerschaft bis Ende der Mutterschutzfrist

• 20 Prozent des Normallohn«

• 80 Prozent des NormalVerdienstes, 8 Wochen vor, 12 Wochen nach der Niederkunft

Während Schwangerschaft und anschlieBend bis t/i « w a Ct t 3 - 3d s ^ on

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Von der Transformation zur Integration

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- Erwerb der prinzipiellen Integrationsfähigkeit durch Abbau der innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Beschränkungen der individuellen Tauschfreiheit oder des Freihandels. Hierzu sind die quantitativen Lenkungs- und Bewirtschaftungsmethoden der Zentralverwaltungswirtschaft, die flankierenden staatlichen Preiskontrollen, der systematische Subventionsdirigismus und der staatliche Betriebs- und Außenwirtschaftsmonopolismus zu beseitigen. - Mit diesen Transformationsmaßnahmen entsteht die Voraussetzung für die Integrationsbereitschaft im Sinne einer 'Preis-, Tausch- und Zahlungsgemeinschaft' (Wilhelm Röpke). Gemeinschaft ist ein Ordnungsbegriff zur Beschreibung bestimmter sozialer Zustände zwischen den Menschen, im deutschen Recht z.B. jede privatrechtliche Verbindung von Personen mit bestimmten (gemeinsamen) Interessen. Marktintegration vermittelt wie jede Eingliederung in eine Gemeinschaft nicht nur einen Nutzen, sondern verursacht auch Kosten (Transaktionskosten). Diese setzen der Bereitschaft zur Marktintegration bei gegebenen Tauschvorteilen Grenzen. Je weitläufiger und anonymer die Tauschbeziehungen werden, desto größer wird der Spielraum für opportunistisches Verhalten, desto mehr hängt der Nutzen einer entsprechend erweiterten Marktintegration von Institutionen ab, die als gemeinsame Einrichtungen der Vertrauensgewinnung und -Sicherung geeignet sind, die steigenden Transaktionskosten als Ausdruck zunehmender Unsicherheit zu senken. Der Bereitschaft zur erweiterten Marktintegration geht insofern immer die institutionelle oder 'soziale Integration' (Wilhelm Röpke) voraus. Diese läßt sich als ein System von institutionellen Befestigungsringen um ein gemeinsames Preissystem auf nationaler und internationaler Ebene auffassen (siehe Abb. 1). Die Ringe mögen in ihrer zweckmäßigen inhaltlichen Zusammensetzung und Verknüpfung umstritten sein, in ihrer unterschiedlichen Kombination charakterisieren sie die Alternativen und zugleich die Hindemisse der Binnen- und Außenmarktintegration als Preis-, Tausch- und Zahlungsgemeinschaft. Von der Ausgestaltung und den Wechselwirkungen dieses komplexen Institutionengefüges hängt es ab, wie sich die Marktintegration im Transformationsprozeß vollzieht. Mangelt es an gemeinsamen Wertgrundlagen, gleichsam am 'moralischen Kitt' zwischen Binnen- und Außenintegration im Sinne des ersten institutionellen Befestigungsrings (siehe Abb. 1), bleibt der Erfolg von Transformations- und Integrationsbemühungen von Grund auf fraglich. Dieser strategisch entscheidende Befestigungsring unterstreicht den simultanen Charakter von Transformation und Integration in besonderer Weise. Deshalb korrespondieren auch die Institutionen, die wir mit beiden Vorgängen und den daraus resultierenden Marktergebnissen (Intensität der Tauschbeziehungen im Strom der Güter und Leistungen, Angleichung der Kosten-, Preis-, Produktions-,

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Handels- und Einkommensstrukturen) assoziieren. Es liegt nahe, für den Güter- und Leistungsstrom zwischen nationalem und weltwirtschaftlichem Preissystem das Bild eines komplex verzweigten Flußsystems mit zahllosen ineinandergreifenden und verflochtenen Flüssen, Bächen, toten Seitenarmen usw. zu bemühen (siehe hierzu von Hayek, 1984). Damit kommen wir zu den drei anderen Ausgangsfragen dieses Beitrags: 1. Wie sind die verschiedenen Wege 1 der Einbindung in den Güter- und Leistungsstrom im Hinblick auf wichtige Problemfelder der Transformationsaufgabe zu beurteilen? Die folgende Darstellung beschränkt sich auf das ordnungspolitische Problem, das handelspolitische und das währungspolitische Problem der Transformation. Bei diesen Fragen, die eng zusammenhängen, geht es darum, die vergleichsweise hohen Vertrauensgewinnungskosten, die Transformationsländern bei internationalen Kontakten entstehen, zu senken. Was leisten in dieser Hinsicht bei angenommenen Integrationswegen die verschiedenen Formen 2 (siehe Abb. 2) der Außenintegration? Stellt der Regionalismus im Transformationsprozeß eine besonders vorteilhafte (transformationsfördernde) Vorstufe zur Integration in die Weltwirtschaft dar? 2. Bislang hat man sich vor allem mit der Abhängigkeit der internationalen Ordnung von den ihr zugrundeliegenden nationalen Wirtschaftsordnungen beschäftigt. Gilt das Abhängigkeitsprinzip, nach dem die Außenintegration in erster Linie aus der Binnenintegration zu verstehen und aus dieser Logik zu verwirklichen ist, uneingeschränkt auch im Transformationsprozeß? Kann nicht umgekehrt die Außenintegration gleichsam die 'Vorzeichnung1 für die Binnenintegration liefern und bei eingeschränktem ordnungspolitischen Gesichtskreis der Reformer einen Gewinn an Formalität und Irreversibilität des erreichten Transformationskurses bringen? Es besteht kein Zweifel, daß die möglichen Abhängigkeiten der nationalen Ordnungen von der internationalen Ordnung immer noch unzureichend erforscht sind. 3. Hängen die verschiedenen Formen der Außenintegration im Transformationsprozeß von anderen als den üblichen Erfolgsbedingungen ab?

Infrage kommen folgende Integrationswege: wirtschaftliche Blockbildung von Transformationsländern, die Beteiligung an etablierten regionalen Bündnissen, der integrationspolitische Alleingang. Mit Formen sind gemeint: Freihandelszone, Zollunion, Gemeinsamer Markt, Wirtschaftsund Währungsunion, regionale und universelle Konstitutionalisierung der Wirtschaftspolitik bzw. Transformationspolitik.

Wl ! w

7

a

Integrationspolitischer Alleingang

Beitritt der TransformationslSnder zu etablierten (westlichen) WirtschaftsgemeinSchäften

B

c Eigener Weg zur Marktwirtschaft im Wettbewerb der Transformationswege bei prinzipieller Orientierung an klassischen Verfassungsdemokratien (GATT-Prinzipien der Integration mit der konzeptionellen Erweiterung der Uruguay-Runde)

• Ordnungspolitische Beobachtung und Beratung durch die EFTA mittels einer "gemeinsamen Erklärung" • Assoziienmgsabkommen mit Rechtshaimonisienmg (Beispiel: Europa-Abkommen der EG) • Regionale Kostitutionalisiemng der Transfomutionspolitik durch Beitritt zur EG oder zum Europaischen Wirtschaftsraum (EWR)

E

F

Direkte Annäherung an die Freihandelsprinzipien des GATT durch eine exportorientierte Transfoimationspolitik

• EWR mit handelspolitischem Ursprungslandprinzip

- Freihandelszone (EFTA) - Zollunion/Gemeinsamer Markt - EG: a) mit gemeinsamer Handelspolitik b) mit handelspolitischem Ursprungslandprinzip

G

«1 JB

I

• Einseitige Wechselkursanbindung an eine Wahrung oder einen Währungskorb (DM, J, ECU) - Flexibler Wechselkurs

- Mitgliedschaft im EWS - Mitgliedschaft in einer Europaischen Wahrungsunion

H

- Verrechnungsverkehr (Osteuropäische Zahlungsunion) - Osteuropäischer Wechselkursverbund (Osteuropäisches Wlhnmgssystem OEWS) - Currency Board-System - Osteuropaische Wahnmgsunion (Beispiel: Plan der tschechischslowakischen Wahnmgsunion)

«3

• Freihandelsvertrag (Beispiel: Visegrad- Staaten - CEFTA) • Zollunion - Gemeinsamer Markt • Wirtschafts- und Wahnmgsunion

D

Abbildung 2:

Wirtschaftsgemeinschaft derTransforroationsllnder

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A

M £ 2 t£ S £8 fi. E •*£ W £ MV e•»•5 JO 5 a SB 2 2 I -

Konstitutionalisierung der Ordnuncspolilik: - Konsultationen in Ordnungsfragen • Partielle Koordination der Ordnungspolitik - Umfassende Koordination: Bildung einer "Vonmion" zur Vereinheitlichung der Wirtschafts- und Sozialpolitik

(Herstellung einer Tausehgemelnichaft)

Das handelspolitische Problem a a

(Herstellung einer Prebgemeinschaft)

Das ordnungspolitische Problem

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Transformationsprobleme, Integrationswege und Integrationsformen

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Bei der Klärung dieser Fragen ist zu berücksichtigen, daß für den Systemwechsel eine Überschichtung von Denk- und Verhaltensweisen und Veränderungstrends der Marktintegration mit resistenten Elementen des alten Systems typisch ist, daß es also charakteristische transformationsbedingte Hindernisse der Außenintegration gibt.

II.

Transformationsbedingte Integrationshindernisse Ausmaß, zeitliche Folge und Tempo der Verwirklichung des institutionellen Arran-

gements der Binnenintegration sind in Abhängigkeit von der jeweiligen Lage, dem 'historischen Moment' (Walter Eucken), zu bestimmen. Das Konzept für die Transformationspolitik und damit für eine fortschreitende Marktintegration mag in sich noch so schlüssig sein. Trotzdem stößt die praktische Umsetzung auf erhebliche Widerstände. Hier sei nur auf folgende Restriktionen verwiesen:

1.

Auflösung vor Integration - Das territoriale Verteilungsproblem Überall dort, wo sich die politischen Autoritäten bisher nicht auf ein Minimum an

gemeinsamen Idealen, Wertsetzungen und kulturellen Traditionen der Bevölkerung berufen konnten, muß der Transformation und Integration die "Auflösung" eines Wirtschaftsraums vorausgehen. Andernfalls sind die Vertrauensgewinnungs- und -sicherungskosten zu hoch. Es kann weder binnen- noch außenwirtschaftlich zu bewährten Vertrauensverhältnissen für erweiterte Tauschbeziehungen kommen. Die UdSSR und der RGW, denen die meisten der heutigen Transformationsländer angehörten, waren Zwangsgemeinschaften. Die UdSSR hat nach 1945 bei der Neuordnung der Volkswirtschaften ihres Einflußbereichs die Zentralverwaltungswirtschaft als Unterwerfungs- und Beherrschungstechnik eingesetzt (von Delhaes, 1991, S. 44 ff.). National wie international ist diese Lenkungstechnik wie keine andere zur Ausübung von Fremdherrschaft geeignet, um - die Handlungsmöglichkeiten der Partner in jeder Hinsicht - auch über die formellen Verpflichtungen hinaus - durch vielfachen Druck einzuschränken, - föderative Strukturen zugunsten eines wirtschaftspolitischen Zentralismus, Protektionismus und Uniformismus auszuhöhlen, - im Wechselspiel der hierarchisch-bürokratischen Lenkungs- und Kontrolleinrichtungen den materiellen Spielraum für Wünsche individueller, lokaler und regionaler Art oder für die Entwicklung nationaler Minderheiten einzuengen. Die Geschichte des Niedergangs des RGW hat ihre Vorgeschichte - eine Art von 'Vorzeichnung' - im Niedergang der UdSSR. Das Zerfallsmuster der UdSSR und Rußlands (RSFSR) ist beinahe identisch. Es ist vom Verlust der Kraft geprägt, die beide Organisationen expandieren ließ - eine Ideologie, gepanzert mit Macht- und Gewaltan-

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wendung (siehe hierzu Saizew, 1992, S. 7). Gemeinschaften wie Rußland (RSFSR) oder die GUS stehen bei den meisten ehemaligen RGW-Ländern im Verdacht, als Instrument der Restauration zu dienen. Es ist daher nicht verwunderlich, daB in den wichtigen Fragen, in denen Rußland und die GUS aktiv werden könnten (Konstitutionalisierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit etwa im Hinblick auf die Währungs- und Finanzordnung, Bewältigung von Altlasten und Gestaltung der Eigentumsordnung, der Infrastruktur, des Binnen- und Außenhandels), bisher keine verläßlichen Lösungen vereinbart werden konnten. Der andauernde Streit um die nationalstaatliche Ordnung Rußlands und das Beharren auf dem russischen Zentralismus schließen verläßliche Aussagen über die Zukunft dieses Landes oder gar der GUS-Staaten als Wirtschaftsraum aus (siehe Csaba, 1992). Auch der Plan einer 'Freihandelszone Königsberg' und deren Anbindung an Westeuropa steht auf dem Papier, solange der Verwaltung in Königsberg keine Kompetenzen auf den Gebieten Währung, Steuern, Zöllen und anderen Selbstverwaltungsrechten eingeräumt werden. 2.

Das Problem der Lastenverteilung Die Transformation erfordert die Finanzierung und Verteilung von erheblichen Ko-

sten der politischen und wirtschaftlichen Strukturbereinigung und Neugestaltung. Hierbei ist es das schwierigste Problem, den Staat durch die mit der Umstrukturierung der Ausgaben- und Einnahmenseite entstehenden Finanzierungsengpässe unter Vermeidung von Inflation und Illiquidität hindurchzusteuern. Die Entscheidung über die Verteilung der Anpassungslasten ist vor allem dann schwierig, ja unmöglich, wenn in einem Wirtschaftsraum die Voraussetzungen für einen gesellschaftlichen Minimalkonsens im Sinne des ersten institutionellen Befestigungsrings fehlen (Abb. 1). Was die Konsensfindung in zentralen Fragen der Binnenmarktintegration erschwert oder unmöglich macht, wird sich erst recht bei der Außenintegration negativ bemerkbar machen. 3.

Starke Protektionsneigung Mehr als sonst im Wirtschaftsgeschehen konkurrieren im Transformationsprozeß

nicht nur Unternehmen, sondern auch Regierungen mit einer schwerfalligen, unzuverlässigen und insgesamt extrem aufwendigen staatlichen Bürokratie. Diese schützt sich mit 'Papiermauern' (de Soto, 1992, S. 43) und anderen Barrieren, die geeignet sind, den Transformationsweg unnötig wechselhaft und undurchsichtig zu machen. Bereits vorhandene vertrauensbildende Marktinstitutionen sind deshalb immer wieder gefährdet. Die hohen Transaktionskosten der formalen Marktintegration begründen die starke Expansion des informellen Sektors. Die mit dem Systemwechsel unvermeidlich verbundenen nationalen (Verteilungs-)Konflikte werden dadurch verschärft. Dies wiederum

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verstärkt die Protektionsneigung im Bereich der Außenintegration. Dieser nachzugeben wird dadurch erleichtert, daß die Regierungen je nach dem Stand der Transformationsbemühungen über ein mehr oder weniger weitreichendes protektionistisches Rüstzeug, vor allem auch der versteckten Art verfügen. Der Versuch, die Bürger mit Emotionen gegen die Auslandskonkurrenz an die Regierung zu binden, liegt nahe. Bei dieser Bemühung ist zu berücksichtigen, daß die grenzüberschreitende Tauschfreiheit den Spielraum der nationalen Wirtschaftspolitik beträchtlich vermindert. Können nämlich Menschen, Dienstleistungen, Güter und Kapital die Grenzen frei passieren, haben Regierungen keine Chance, etwa die Preise nach bestimmten wählerwirksam eingeschätzten Vorstellungen der Verteilungsgerechtigkeit zu regulieren. Je nach dem Abstand zwischen freien und regulierten Preisen wird sich in einer offenen Volkswirtschaft der Versorgungsspielraum zusätzlich verengen. Ausländische Nachfrager werden nämlich zu den niedrigen Stopppreisen stärker als bisher mit den einheimischen Käufern um das ohnehin verkürzte inländische Angebot konkurrieren. Die Versorgungslücke wird noch größer, wenn nicht ein Exportverbot verhängt wird. Zugleich werden ausländische Anbieter die preisgestoppten Märkte meiden und dorthin ausweichen, wo günstigere Absatzmöglichkeiten bestehen. Damit wird die Versorgungslücke auch von dieser Seite her vergrößert. Im Falle einer ressourcenbedingt geringen einheimischen Produktion können so ganze Märkte austrocknen. Soll trotzdem eine binnenwirtschaftliche Mindestversorgung mit den entsprechenden wirtschaftlichen Gütern gesichert werden, so müßte - soweit dies überhaupt möglich ist - durch staatliche Intervention eine Produktion aufgebaut werden, die bisherige und potentielle Importe ersetzen kann. Denkt man die daraus entstehende Kette von Folgeinterventionen zu Ende, ist eine Devisenbewirtschaftung mit einer staatlichen Lenkung der Außenwirtschaftsbeziehungen schließlich unvermeidbar. Der wechselseitige Binnen- und Außenprotektionismus wird sich vor allem dort hochschaukeln, wo bestimmte Gruppen der Bevölkerung - wie in Rußland die in den Staatsbetrieben Beschäftigten - mit Hilfe ihrer Funktionäre die politische Arena dominieren und mit der Unterstützung reformfeindlicher Bestrebungen drohen können, um ihre autonomen wirtschaftlichen Interessen vor der Konkurrenz aus dem In- und Ausland zu schützen. III. Integration im Dienste der Transformation: Das ordnungspolitische Problem Geht man davon aus, daß es das Kernproblem der Transformationspolitik ist, ein funktionsfähiges Preissystem herzustellen, dann erfordert dies im Hinblick auf die Transaktionskosten, die mit erweiterten preisgesteuerten Tauschbeziehungen entstehen, eine institutionelle Ummantelung des Preissystems (siehe Abb. 1), die es ermöglicht,

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die Kosten der Vertrauensgewinnung und -Sicherung zu senken. Was können die verschiedenen Integrationswege und -formen (siehe Abb. 2) zu dieser Aufgabe beitragen? 1.

Abgestimmte Ordnungspolitik zwischen Transformationsländern Zwischen Ländern mit moralischem Kitt, also mit positiven Perspektiven für die Befestigungsringe 1 bis 5 (siehe Abb. 1 und Feld A der Abb. 2), könnte eine abgestimmte Vorgehensweise in der Ordnungspolitik naheliegen. Die Vorteile von Formen eines ordnungspolitischen Gleichschritts liegen im wechselseitigen Gewinn an Formalität und Irreversibilität des Transformationsweges: Hierzu bedarf es keiner 'Aufnahmekosten' in eine bestehende Integrationsgemeinschaft. Verschiedene Formen der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Transaktionskosten sind möglich: - Erstens die Einigung auf organisierte Informationsverfahren (Konsultationen) mit dem Ziel, Erfahrungen und Erkenntnisse über die Gestaltung der Ringe 2 bis S auszutauschen. Der Zweck kann darin bestehen, die nationalen Wirkungen der Transformationspolitik (Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung) gleichzeitig im größeren Raum zur Entfaltung kommen zu lassen. Diese vertrauensbildende Maßnahme, die wie eine 'Vorzeichnung' von ordnungspolitischer Konvergenz wirken kann, verursacht im wesentlichen nur Informationskosten. - Zweitens eine Koordination der Ordnungspolitik auf ausgewählten Gebieten, etwa hinsichtlich der Produktion gemeinsam benutzbarer (Infrastruktur-)Einrichtungen. Bei dieser Form der Zusammenarbeit fallen insbesondere für die Aushandlung und Kontrolle der gemeinsamen Einrichtungen Kosten an, die ohne Gewährleistung der Befestigungsringe 1 und 2 prohibitiv hoch sein dürften. - Drittens eine umfassende Koordination, in der es um die Einhaltung vereinbarter Prinzipien und Handlungsregeln geht. Ein Beispiel - vielleicht auf die baltischen Staaten anwendbar - ist die 1949 als erster Schritt zur Wirtschaftsunion beschlossene 'Vorunion' zwischen Belgien, Luxemburg und den Niederlanden. Die Vorunion sah u. a. die Vereinheitlichung der Wirtschafts- und Sozialpolitik vor. 1958 wurde dann die Wirtschaftsunion vollzogen. Ein anderes Beispiel könnte in der Vereinbarung einer 'Konstitutionalisierung der Wirtschaftspolitik' bestehen, wie sie dem am 2.Mai 1992 von der EWG, der EGKS den zwölf EG-Staaten und sieben EFTA-Staaten unterzeichneten Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zugrunde liegt (siehe hierzu Petersmann, 1992, S. 307 ff.). Eine solche Form der Zusammenarbeit ist ohne Gewährleistung der Befestigungsringe 1, 2 und 3 nicht erreichbar. Aus den oben (II.l.) dargelegten Gründen dürften die negativen Erfahrungen aus der Mitgliedschaft in einer ordnungspolitischen Zwangsgemeinschaft bei vielen Transfor-

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mationsländern nachwirken. Denn in der UdSSR und im sowjetzentrierten RGW konnte sich keine positiv empfundene Erfahrungsgemeinschaft auf der Grundlage eines Minimums an gemeinsamen Wertsetzungen herausbilden. Deshalb wird in aller Regel nach Befreiung von der 'Blockmentalität' der entscheidende Impuls in ordnungspolitischer Hinsicht zunächst aus dem jeweiligen Interesse an einem eigenen Weg zur Marktwirtschaft kommen, erst später dann vielleicht aus Konsultations- und Koordinationseinrichtungen. Frühzeitige Mehrheitsentscheidungen in Gemeinschaftseinrichtungen (supranationale Organisationen) über grundlegende Ordnungsfragen sind gar der Gefahr ausgesetzt, die nationale Transformationspolitik in Akzeptanzkrisen zu stürzen, weil in den unterlegenen Ländern darin eine Art von Fremdbestimmung gesehen werden könnte. Eine Kombination von regionaler Marktintegration und Politikintegration, wie sie für den Gemeinsamen Markt oder gar für eine Wirtschafts- und Währungsunion typisch ist, setzt eine sehr hohe Integrationsbereitschaft voraus. Diese dürfte selbst in fortgeschrittenen Phasen des Transformationsprozesses kaum zu erwarten sein. 2.

Ordnungspolitische Regelbindung durch Mitgliedschaft in etablierten Wirtschaftsgemeinschaften Das wirtschaftliche Verhalten der Menschen wird bekanntlich entscheidend durch die Regeln der Verfassung beeinflußt. Die Verständigung auf eine nationale Verfassung, die einer offenen Marktintegration (Binnen- und Außenintegration) angemessen ist (Ring 2), bedarf im Transformationsprozeß der glaubwürdigen Absicherung. Diese Aufgabe ist durch die genannten transformationsspezifischen Verteilungskonflikte erschwert. Machtvolle Interessengruppen werden versuchen, die Anpassungen, die zu ihren Lasten gehen, im politischen Entscheidungsprozeß zu behindern und damit die konstitutionellen Ausgangsbedingungen und den Fortgang der Transformation zu erschweren. Die Frage ist, wie die Entstehung kostspieliger Transformationsblockaden verhindert werden kann, wenn noch keine einflußreichen integrationsbereiten Interessenvereinigungen existieren? Länder, die an die westliche (abendländische) Verfassungstradition mit gemeinsamen Werten anknüpfen können, müssen nicht auf die Herausbildung und Entwicklung von Regeln und Gesetzen einer 'Verfassung der Freiheit' (von Hayek) als Ergebnis der kulturellen Evolution warten. Die damit verbundenen höheren Vertrauensgewinnungskosten können eingespart werden, wenn die positiven Erfahrungen klassischer Verfassungsdemokratien berücksichtigt werden. Daher liegt es für entsprechende Länder nahe, sich gleichsam unter eine entsprechende ' Überverfassung' zu stellen und durch Übernahme des Rings 2 von außen einen sonst nicht erreichbaren Gewinn an Formalität und Irreversibilität des eingeschlagenen Weges zu erzielen (siehe Abb. 2, Feld B).

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Dieser Ansatz der "internationalen Integration über Gesetzgebung und Rechtsprechung" (Tumlir, 1979, S. 13) liegt zum Beispiel für Länder nahe, die - wie die tschechische und slowakische Republik, Polen und Ungarn sowie die baltischen Staaten - in einem EG-Beitritt den 'Königsweg' für die Rückkehr nach Europa (Grüner und Smeets, 1991, S. 395) erblicken. Demzufolge sehen die "Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedschaften einerseits und den Republiken Polen, Ungarn und der CSFR andererseits" gemeinsam in Art. 68 "die Angleichung der bestehenden und künftigen Rechtsvorschriften (der genannten Länder, d.V.) an das Gemeinschaftsrecht" vor. Hierbei geht es um alle wichtigen Bereiche der Rechtsharmonisierung: Zollrecht, Gesellschaftsrecht, Bankenrecht, Rechnungslegung der Unternehmen und Steuern, geistiges Eigentum, Schutz der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz, Finanzdienstleistungen, Wettbewerbsregeln, Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen, Verbraucherschutz, indirekte Steuern, technische Vorschriften und Normen, Verkehr und Umwelt. Prinzipiell könnte die EG mit dem 'Export' des Gemeinschaftsrechts eine Instanz sein, um antiprotektionistischen Absichten und Vereinbarungen der Transformationsländer die notwendige Transparenz, Glaubwürdigkeit und Durchsetzungskraft zu verleihen. Dies gilt vor allem für die Bestimmungen über die Wettbewerbsordnung der Gemeinschaft mit den Ordnungsprinzipien offener Märkte und unverfälschten Wettbewerbs (siehe GrOner und Schüller, 1990, S. 78 ff.). Tatsächlich sehen die genannten Europa-Abkommen in Art. 63 vor, daß die Wettbewerbsregeln des EWG-Vertrages unmittelbar Bestandteil der Rechtssysteme der Transformationsländer werden. Ihr Schutz - etwa im Hinblick auf die Verpflichtung zur Demonopolisierung, Liberalisierung und Deregulierung sowie zum verläßlichen Abbau von Beihilfen (Subventionen) dürfte aus eigener Kraft zunächst nur unzulänglich organisierbar sein. Dafür fehlt (noch) eine verläßliche, jahrzehntelang eingeübte Aufsichtspraxis und Gerichtsbarkeit. Die EG-Gesetzgebung und -Rechtsprechung könnte deshalb eine eingebaute Sicherung gegen eine Verschleppung wichtiger Transformationsaufgaben (Demonopolisierung, Liberalisierung, Subventionsabbau) und vor allem gegen einen ordnungspolitischen Rückschlag im Transformationsprozeß darstellen. Das Problem dieses integrationspolitischen Ansatzes liegt in der Realisierung: Die Wettbewerbsordnung der Zwölfergemeinschaft ist durch Ausnahmebereiche (Montanund Agrarsektor) und durch Rücksichtnahme auf industriepolitische Ziele aufgeweicht. Aus diesem Spielraum für staatlichen Dirigismus resultieren typische Integrationshindernisse. Deren Übernahme kann die Transformationsländer dazu verleiten, im Hinblick auf die EG-Kompatibilität dieser Punkte den transformationspolitischen Kurs zu

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beschränken. Auch enthält der EWG-Vertrag etwa in Art. 90 keine Verpflichtung zur Privatisierung, und Dienstleistungsmonopole des Staates sind faktisch in einem beträchtlichen Maße absicherbar (siehe Seidel, in diesem Band). Auch ist fraglich, ob das Beihilfeaufsichtsrecht der Gemeinschaft gegenüber den osteuropäischen Beitrittsländem durchgesetzt werden kann, ohne Gefahr zu laufen, sich mit einer rechtsstaatlich bedenklichen Grobkontrolle begnügen zu müssen. Ein weiteres Problem ist: Auf welchem Niveau sollen die oben genannten Rechtsbereiche angeglichen werden? Ein hoher Angleichungsanspruch dürfte für lange Zeit die potentiellen Mitglieder aus dem RGW-Raum fiberfordern, faktisch aber nicht daran hindern, dem Unionsvertrag rasch beizutreten, wohlwissend, daß erheblicher Spielraum für nationale Sonderregelungen bleibt. Auch ist bei unvermeidlichem Vollzug der Angleichungsvorschriften durch nationale Instanzen die Effizienz der externen Durchführungskontrolle zweifelhaft. Läßt sich das nationale Interesse an extensiven Sonderregelungen unterdrücken? Werden sich die Regierungen angesichts des gesamten Konfliktpotentials, das im Transformationsprozeß zu bewältigen ist, nicht auf die Angleichungsaufgaben konzentrieren, die besonderen (tages-)politischen Gewinn versprechen? Wie kann den neuen Demokratien im Osten Europas zugemutet werden, den gesamten 'Acquis Communautaire' zu übernehmen, wenn Großbritannien und Dänemark legale und Italien oder Griechenland faktische Ausnahmen machen? (siehe o.V., 1993, S. 11). Für eine selektive Angleichungspolitik im Sinne einer Übernahme von EG-weiten Regeln der Wettbewerbsbeschränkung bieten z. B. die bereits zitierten 'Europa-Abkommen' beachtliche Ansatzpunkte, etwa im Rahmen der interventionistischen Montanund Agrar-Union. Auch im Anschluß an Art. 130 EWG-Vertrag in der Fassung der Maastrichter Beschlüsse, der der Europäischen Gemeinschaft für die Mitgliedstaaten industriepolitische Gestaltungsmöglichkeiten einräumt, stellt sich die Frage nach der Reichweite dieser neuen Bestimmung für einen wettbewerbspolitischen Mißbrauch, der im Gegensatz zum System unverfälschten Wettbewerbs steht. MOschel (1992, S. 415 ff.) vermutet, daß die Kommission und die dahinterstehende Bürokratie einen 'natürlichen Ehrgeiz' entwickeln könnten, ein vorhandenes industriepolitisches Mandat auch tatsächlich zu nutzen. Dies könnte auch gegenüber den assoziierten Mitgliedern - erst recht gegenüber Vollmitgliedern - aus dem ehemaligen RGW-Raum naheliegend sein. Art. 72 der Europa-Abkommen läßt dies jedenfalls erkennen. Mit der Zusammenarbeit sollen unter anderem die Umstrukturierung einzelner Wirtschaftszweige und die Gründung neuer Unternehmen in potentiellen Wachstumsbereichen gefördert werden. Die Kommission glaubt, diese strategischen Bereiche zu kennen und zu wissen, wie die Unternehmen die hierfür erforderliche Wettbewerbsfähigkeit erlangen können. Die zu erwartenden Mißerfolge werden dazu verleiten, die Industriepolitik für die Beitrittsländer

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umfassender, also mit mehr Mitteln und (vermeintlich) verbesserten Koordinationsmethoden auszubauen. Die vielfach für Ostdeutschland empfohlene Industriepolitik könnte der EG-Kommission als Alibi dienen. Auch ist nicht auszuschließen, daß das ordnungspolitische Interesse der ehemaligen RGW-Länder an einer EG-Mitgliedschaft von verteilungspolitischen Erwartungen überlagert ist. Verlockend könnte etwa die Aussicht sein, am supranationalen Kartell der Mindestpreissicherung im Agrarbereich und der Investitionslenkung der EGKS teilzunehmen sowie an anderen Umstrukturierungs- und Umverteilungseinrichtungen (Mittel der Kohäsionsfonds, Sozialfonds, Regionalfonds, der Europäischen Investitionsbank, der Osteuropa-Bank - siehe hierzu Hasse, 1992, S. 180 ff.) beteiligt zu werden und sog. 'Binnenmarktpräferenzen' für bestimmte industrielle Güter und Dienstleistungen zu erhalten. Der Vorteil ist jedoch problematisch; denn ein freierer Handel mit der EG wird dann gegen einen geringeren Handel mit der übrigen Welt eingetauscht (Willgerodt, 1992, S. 105). Auch die in den Europa-Abkommen erklärte Bereitschaft der Gemeinschaft, "umfangreiche Unterstützung bei der Durchführung der Reform zu leisten und .... zu helfen, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Strukturanpassung zu bewältigen" 3 , könnte sich wegen der leicht prognostizierbaren finanziellen Konsequenzen von selbst entwerten. Denn gerade die industrie- und verteilungspolitischen Vorteile, die potentielle Beitrittsländer von einer Anbindung an die EG erwarten, könnten zugleich das Niveau der gemeinschaftsinternen Verteilungskonflikte in einem Maße anheben, daß die Osterweiterung auf der Grundlage einer Vollmitgliedschaft und bei unveränderter Verfassung der EG kaum durchsetzbar sein dürfte.

3.

Der ordnungspolitische Alleingang Bereits in der Gemeinschaft der Zwölf ist von einer unübersehbaren Fülle von histo-

risch-kulturellen,

sprachlichen und ökonomisch-sozialen Unterschieden mit einer ent-

sprechenden Vielfalt der politischen Interessen auszugehen (siehe auch Leipold, in diesem Band. Die Diskussion um die Vertiefung der EG im Anschluß an die Maastrichter Verträge vom 7.Februar 1992 zeigt, daß es in diesem Raum noch lange Zeit an jenem hinreichenden gesellschaftlichen Zusammenhalt mangeln dürfte, der notwendig ist, um dem Anspruch zu genügen, wichtige Rechtsvorschriften auf einem hohen Niveau zu harmonisieren und auf diese Weise ökonomisch effiziente und politisch tragfähige Einigungsergebnisse auf Dauer zu erzielen. Wenn schon für die Zwölfergemeinschaft umstritten ist, ob es sich um einen optimalen Raum für gleiche Rechtsvorschriften und für 3

Hierbei handelt es sich um eine verkürzte Formulierung der Neubestimmung des Art. 123 EG-Vertrag, nach der der Europäische Sozialfonds auch einer "Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse und an Veränderungen der Produktionssysteme" dienen kann (siehe Möschel, in diesem Band).

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"kooperative makropolitische Leistungen" (Berthold, 1990, S. 33 f.) für die Wirtschaft handelt, um so mehr dürften die potentiellen Mitglied» aus dem ehemaligen RGWRaum mit Einheitslösungen überfordert sein. Der Gewinn, den die importierte Formalität verspricht, kann wegen der Verschiedenheit der Ausgangsbedingungen, Traditionen und Präferenzen der potentiellen Beitrittsländer so teuer erkauft sein, daß es für die von einem schematischen Ordnungsimport betroffenen Wirtschaftssubjekte billiger erscheinen mag, informelle Beziehungen zu bevorzugen und über diese ungewollt eine evolutionäre Institutionenbildung herbeizuführen. Der integrationspolitische Alleingang (siehe Abb. 2, Feld C) erscheint vor allem für die Transformationsländer besonders vorteilhaft zu sein, die sich zutrauen, den Übergang zur Marktwirtschaft schneller als andere Länder zu schaffen. Indikatoren für schnelleres Vorankommen sind unter anderem - das Ausmaß der Bereiche der Wirtschaft, die mittels echter Knappheitspreise und privater Eigentumsrechte in die Umwandlung der Wirtschaftsordnung einbezogen werden, - die Schnelligkeit, mit der es nach Marktöffnung gelingt, den Geldwert zu stabilisieren, den informellen Sektor aufzulösen, die Beschäftigung zu verbessern und im freien Wettbewerb den früheren Staatshandel durch marktwirtschaftliche Austauschbeziehungen zu ersetzen und dementsprechend in dieser Richtung die grenzüberschreitende Integration mit wachsender Preis- und Einkommensangleichung voranzutreiben, - das Ausmaß an Nettokapitalimporten und der Stabilisierung realistischer Wechselkurse. Tatsächlich scheinen einige Länder wie die tschechische Republik, Polen und Ungarn bei der Gestaltung der Ringe 1 bis S vergleichsweise schneller voranzukommen. Ein wichtiger Grund mag darin liegen, daß hier bisher schon wichtige Einrichtungen der Erziehung, Bildung und Wissenschaft, der Literatur, Religion und Kultur Spielraum für enge Kontakte zur Werteordnung der westlichen Zivilrechtsgesellschaft gelassen haben. Auf wirtschaftspolitischem Gebiet ermöglichte die ordnungsgestaltende Kraft der Erinnerung an bewährte Traditionen und des ständigen kritischen Vergleichs mit dem, was ist und sein könnte, eine relativ intensive ordnungstheoretische Diskussion und Forschung in diesen Ländern. Dieser Erkenntnisstand kann den Versuch nahelegen, bei der Binnenintegration (etwa der Privatisierung und der Stabilisierung des Geldwerts) so große Fortschritte zu machen, daß man auf die ordnungspolitische 'Vorzeichnung' durch die Außenintegration nicht mehr angewiesen ist. Was Friedrich A. von Hayek (1969, S. 260 f.) mit Blick auf Entwicklungsländer feststellt, verdient auch für Länder im Übergang zur Marktwirtschaft Beachtung: Es ist

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ein Hauptproblem herauszufinden, welche menschlichen und materiellen Produktivkräfte vorhanden sind und wie sie zur höchsten Produktivität gebracht werden können. Und weil es in den Transformationsländern mehr als in etablierten Marktwirtschaften zu entdecken gibt, kommt es dort vor allem auf größtmögliche Freiheit auch des Wettbewerbs um situationsgerechte Institutionen der Binnen- und Außenintegration an, zumal die bisher durch das zentralverwaltungswirtschaftliche System geprägten Gewohnheiten nur dann rasch und effektiv geändert werden können, wenn initiative Unternehmer einen weiten Handlungsspielraum erhalten, um breite Schneisen für potentielle Imitatoren zu schlagen und der großen Schar risikoscheuer Menschen die erwarteten günstigen Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten zu bieten. Den wirtschaftlichen Vorsprung des Westens beschleunigt aufzuholen, ist deshalb als ordnungspolitische Aufgabe zu deuten, das Entdeckungsverfahren des Wettbewerbs in den Transformationsländern flexibler wirken zu lassen, als dies etwa in der EG mit ihrer Neigung zum institutionellen Zentralismus und Uniformismus möglich ist. Diese Vorstellung steht nicht im Widerspruch zur Zweckmäßigkeit einer Entscheidung für eine prinzipielle Angleichung der nationalen Wirtschaftsverfassung an die Grundprinzipien der Europäischen Wirtschaftsverfassung im Sinne des EWR-Rechts (siehe Kap. IV.2.) und der damit gebotenen Möglichkeit einer Konstitutionalisierung der Transformationspolitik. Ein ordnungspolitischer Vorsprung dürfte die Zuwanderung von solchen Unternehmern und qualifizierten Fachkräften aus dem westlichen Ausland begünstigen, die im RGW-Raum nach dem Zerfall der Arbeitsteilung dazu beitragen können, das an ökonomisch begründeter internationaler Arbeitsteilung nachzuholen, was über Jahrzehnte unterbunden war. Je mehr Faktoren in Richtung Osten wandern, desto schneller können die Lücken, die durch den Verfall des RGW-spezifischen Ergänzungshandels (für den überwiegend politische und technische Kriterien entscheidend waren) entstanden sind, vergessen werden. Im übrigen vermag die Transformationsländer auf ihrem Weg in die Marktwirtschaft ordnungspolitisch nichts mehr zu disziplinieren als ihre handelspolitische Öffnung unter den Bedingungen der Währungskonvertibilität (siehe Kap. V.); denn damit wird die nationale Ordnungspolitik einer internationalen Wettbewerbskontrolle unterstellt. Der Erfolg der marktwirtschaftlichen Neuorientierung des Außenhandels der ehemaligen RGW-Länder hängt auch von der Entwicklung der internationalen Ordnung ab. Gemeint ist eine Ordnung, bei der nicht mehr allein der Zollabbau und die Beseitigung mengenmäßiger Handelsschranken im Mittelpunkt stehen (also die Handelspolitik im traditionellen Sinne); vielmehr geht es um die Entwicklung eines Integrationskonzepts, das - wie die Uruguay-Runde - eine austauschbegünstigende Regelbindung aller Mitgliedsländer des GATT zum Gegenstand hat und damit darauf hinwirkt, die gegenwär-

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tigen ordnungspolitischen Defizite des Welthandelsabkommens zu beseitigen (Molsberger und Kotios, 1990, S. 93 ff.), und insoweit auf eine universelle "Konstitutionalisierung der Wirtschaftspolitik durch völkerrechtliche Bindungen" (Petersmann, 1992, S. 303 ff.) hinausläuft. Im Interesse einer erleichterten Integration von Transformationsländern in die Weltwirtschaft ist auch an einen Vorschlag von TUmlir (1979, S. 17; hierzu neuerdings auch Voigt, 1992, S. 189 ff.) zu erinnern. Danach hindert nichts die Regierungen, "die unablässig ihren Wunsch nach internationaler Disziplin verkünden, sich in zunehmendem Maße jenes Rechtsinstruments zu bedienen, das als Vertragsklausel mit Selbstvollzug" bekannt ist. Damit würden Privatpersonen unmittelbar das Recht erhalten, gegen ihre Regierung wegen Verletzung eingegangener Regelbindungen (z. B. Liberalisierungsverpflichtungen) zu klagen. Dieser Schutz grundrechtsähnlicher Marktfreiheiten, wie er prinzipiell dem EWR-Vertrag zugrunde liegt (Petersmann, 1992, S. 308 f.), setzt allerdings die Existenz entsprechender Regelbindungen und nationaler Gerichte voraus, die bereit sind, internationales Recht explizit zu einer Angelegenheit des nationalen Rechts zu machen. Die Aussichten für eine entsprechende Stärkung der internationalen Ordnungsprinzipien, wie sie dem GATT vom ursprünglichen Anspruch her zugrunde liegen, sind danach zu beurteilen, ob die Regierungen der dominierenden Handelspartner der Welt bereit sind, die Pionierrolle für eine entsprechende konstitutionelle Selbstbindung zu übernehmen. Hierfür gibt es bisher keine Vorbilder. Vielmehr ist ein verstärkter Trend festzustellen, die internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu regionalisieren (de Melo und Panagariya, 1992, S. 37 ff.). Ihm droht das GATT mit seinen Ordnungsprinzipien für eine internationale Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs mehr und mehr zum Opfer zu fallen. Damit dürften auch die Chancen, im Wettbewerb der Transformationsländer mit einem ordnungspolitischen Vorsprung Vorteile bei der Eingliederung in die internationale Arbeitsteilung zu erzielen, verschlechtert werden. Dazu trägt auch der Umstand bei, daß der zahlenmäßig größte Teil der Mitglieder des GATT, die Entwicklungsländer, von der Meistbegünstigungs- und Reziprozitätsverpflichtung freigestellt ist. Diese erlaubte Regelverletzung durch Länder, die sich ebenfalls erst relativ spät um die Eingliederung in die internationale Arbeitsteilung bemühen, dürfte vor allem die Transformationsländer benachteiligen, die im Alleingang die Integration in die Weltwirtschaft anstreben. Im 19. Jahrhundert, als international zeitweilig eine einheitliche Wirtschaftsordnung vorherrschte, hätte es Transformationsländern wahrscheinlich weniger Mühe gemacht, sich unmittelbar in die Weltwirtschaft zu integrieren.

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IV. Integration im Dienste der Transformation: Das handelspolitische Problem Bei der handelspolitischen Aufgabenstellung der Transformation geht es um den Abbau der zwischenstaatlichen Beschränkungen der Tauschfreiheit. Diese haben im RGW zu Austauschbeziehungen geführt, die aus der Perspektive der Individuen nicht als nützlich eingeschätzt werden konnten. Der dadurch entstandene Zustand der handelspolitischen Desintegration ist im Kontext der Maßnahmen der Binnen- und Außenmarktintegration (siehe Abb. 1) zu überwinden. Angesichts dieser Aufgabe liegt es mehr noch als bei den üblichen "großen Schwierigkeiten, Volkswirtschaften auf eine gemeinsame Grundlage zurückzuführen" (Heuss, 1959, S. 113), nahe, mit bescheidenen Zielen und Methoden der Integration zu beginnen, nachdem in den Transformationsländern Zölle als prinzipiell marktkonformer Außenhandelsschutz eingeführt worden sind. 1.

Die Bildung handelspolitischer Präferenzräume durch die Transfonnationsländer Die in Frage kommenden Integrationsformen reichen prinzipiell von der Freihandelszone, über die Zollunion, den Gemeinsamen Markt bis hin zur Wirtschaftsund Währungsunion (siehe Abb. 2, Feld D). Der Freihandelszone (siehe Abb. 1, Ring II) liegt das Prinzip einer (allmählichen) Handelsliberalisierung der beteiligten Länder zugrunde. Die Integrationspolitik bezieht sich also - so scheint es zunächst - nur auf einen Teilaspekt der Transformationsaufgabe. Der Außenhandel zwischen den beteiligten Ländern soll verstärkt und die Arbeitsteilung zwischen ihnen verbessert werden. Um die Kosten der Vertrauensgewinnung zu senken, müssen die ¡Zollkonzessionen unwiderrufbar und die gemeinsamen Liberalisierungslisten endgültig sein. Gegenüber Drittländern behalten die Mitglieder ihre zollpolitische Autonomie. Der institutionelle Aufwand ist im Vergleich zu den anderen Integrationsformen sehr viel geringer. Die Freihandelszone - als Mittel der schnellen handelspolitischen Öffnung - liegt vor allem bei geographisch benachbarten Staaten nahe, die künftig eine verstärkte regionale Verflechtung erwarten und darüber hinaus durch Gegenmachtbildung daran interessiert sein können, die EG zur Öffnung und handelspolitischen Mäßigung zu bewegen. Von dieser Erkenntnis mag der Freihandelsvertrag zwischen Ungarn, Polen und der slowakischen sowie der tschechischen Republik (den sog. ' Visegrad-Staaten') bestimmt sein. Dieser Vertrag sollte am 1. März 1993 als 'Central European Free Trade Area' (CEFTA) in Kraft treten. Ob in der CEFTA der geplante zügige Abbau von Handelsbeschränkungen mit dem erwarteten Vertrauensgewinn für die Mitgliedsländer zustande kommt, wird letztlich von der Handhabung des handelspolitischen Instrumentariums abhängen. Hierauf wird das Ausmaß der Angleichung der inneren Ordnungspolitik der Mitgliedsländer wesentlichen Einfluß haben. Denn Zölle und Kontingente sind unter

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den Bedingungen der Transformationsländer unter Umständen gar nicht das wichtigste Hindernis gegen eine Verbesserung der internationalen Arbeitsteilung. Protektionistischer können staatliche Subventionen und behördliche Preisregulierungen (einschließlich Devisenbewirtschaftung) sowie der staatliche Schutz vor Konkurs wirken. Unter diesen Ordnungsbedingungen sind zahlreiche versteckte Formen des Protektionismus möglich. Ein ständiges Mißtrauen mit handelsbeschränkenden Diskriminierungs- und Vergeltungspraktiken wird die Folge sein. Ein entschlossener Übergang zu freien Preisen, zur Konvertibilität und zu den Bedingungen eines unverfälschten Wettbewerbs auf der Ebene der Betriebe ist also erforderlich. Ohne Erledigung der entsprechenden 'Hausaufgaben' in den Ringen 3 bis 5 (Abb. 1) wird auch eine Freihandelszone nicht funktionieren. Handelsliberalisierung ist also eine notwendige Bedingung der Außenintegration, aber keineswegs eine hinreichende. Aber auch die Handelsliberalisierung kann nur in dem Maße zwischen geographisch benachbarten Ländern zu einer engen Tausch- und Preisgemeinschaft führen, in dem die unter dem Einfluß des sowjetischen Lenkungsmodells entstandenen Investitions-, Produktions- und Handelsstrukturen im preisgesteuerten Rechnungszusammenhang neu bestimmt werden. Hierbei ist je nach der Art der Transformationspolitik mit unterschiedlichen makroökonomischen Instabilitäten zu rechnen. Die Frage ist: Wird die mit der Freihandelszone bezweckte Erweiterung und Stabilisierung des Handels in der Region nicht diesen Instabilitäten zum Opfer fallen oder zu Lasten einer Verbesserung der Arbeitsteilung gerade mit den Drittländern gehen, die für die Aufgabe, eine Wettbewerbsordnung in den beteiligten Volkswirtschaften aufzubauen, besonders wichtig sind? Diese Fragen drängen sich auf, wenn man folgendes berücksichtigt: - Bei Instabilitäten (Arbeitslosigkeit, Inflation, außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten) ist davon auszugehen, daß nach Tumlir (1983) in regionalen Wirtschaftsgemeinschaften Konsumenteninteressen schwieriger zu verteidigen sind als auf nationaler Ebene, während für Produzenteninteressen das Umgekehrte gilt. Vaubel (1986) bekräftigt diese Auffassung mit dem Hinweis auf das Bestreben nationaler Politiker, die Organe der Wirtschaftsgemeinschaften zu veranlassen, die Wünsche nationaler Interessengruppen in einer für die Wähler weniger durchsichtigen Weise zu befriedigen. Aus diesen und anderen protektionistischen 'Türchen und Hintertürchen' von regionalen Wirtschaftsgemeinschaften (siehe hierzu allgemein: Hoekman und Leidy, 1992, S. 332) läßt sich eine Tendenz zum Gleichschritt bei der Errichtung von Transformationsblockaden ableiten. - Erst durch Zulassung der Konkurrenz aus Drittländern können monopolistische Positionen, die in den Transformationsländern vielfach noch vorherrschen, zügig geräumt werden. Dagegen vollziehen sich unter den Bedingungen vermachteter Ange-

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botsstrukturen mit fortschreitender Marktintegration strukturelle Anpassungen innerhalb der Freihandelszone, die für längere Zeit Art und Ausmaß der Arbeitsteilung in diesem Präferenzraum bestimmen. Je stärker die Präferenzvorteile sind, die sich die Mitglieder gewähren, und je länger es dauert, bis die Diskriminierung der Drittländer abgebaut ist, desto schwieriger wird der Prozeß des Anschlusses an den globalen internationalen Wettbewerb verlaufen. Diese und andere Gründe haben die Regierung der tschechischen Republik schon vor dem Inkrafttreten des Freihandelsvertrages veranlaßt, aus dem 'Visegrad-Geleitzug' (siehe Ludwig, 1993) auszuscheren und - um den ordnungspolitischen Vorsprung nicht frühzeitig einer Geleitzug-Solidarität opfem zu müssen - den Alleingang in die westeuropäische Integration (siehe Feld E, Abb. 2) zu versuchen. Unter dem Gesichtspunkt der transformationspolitischen Bremseffekte ist eine Stollunion als Präferenzraum mit gemeinsamem Außenzolltarif und der hierzu erforderlichen gemeinsamen Handelspolitik (Ring II, Abb. 1) noch kritischer zu beurteilen. Dies vor allem dann, wenn es zutrifft, daß sich in Freihandelszonen die beteiligten Länder an den Zolltarif mit dem niedrigsten Zollniveau gegenüber dritten Staaten annähern (siehe hierzu Curzon, 1974, S. 253 ff.). Damit ist vor allem bei weit auseinanderliegenden Tarifstrukturen zu rechnen. In diesem Falle drohen nämlich erhebliche Handelsumlenkungen. Diese können auch mit Ursprungsregeln nur notdürftig ausgeschlossen werden. Deshalb geben in Freihandelszonen die vergleichsweise liberalen Länder normalerweise den Ton an. Dagegen besteht bei der für die Zollunion notwendigen gemeinsamen Gestaltung der Außenhandelspolitik zumindest in der Ausgangslage die Neigung, die Zollsätze der Mitgliedsländer mit einer Tendenz nach oben zu mittein. Dabei ist zu berücksichtigen, daß im Transformationsverlauf - vor allem bei zögerlicher Privatisierung der Staatsbetriebe und bei meist unvermeidlichen makroökonomischen Instabilitäten - die Interessengruppen nicht isoliert, sondern als Koalitionen in Aktion treten: - Die Manager und Beschäftigten der Staatsbetriebe, die mit Hilfe ihrer 'Interessenverbände' und der Ministerialbürokratie Schutz vor Auslandskonkurrenz anstreben, um ihre Property Rights an den angestammten Arbeitsplätzen und Verwaltungsobjekten zu sichern. - Die Politiker, die einem 'weichen' Privatisierungskonzept den Vorzug geben und davon ausgehen, daß viele Betriebe erst saniert werden müssen, ehe sie - wenn überhaupt - offen privatisiert werden können. Das 'Ansanieren' von Staatsbetrieben, das über die Aufgabe der Altlastenbeseitigung hinausgeht, ist ein höchst problematisches Vorhaben (Hamm, 1991, S. 65). Um die mit der Politik der 'weichen' Privatisierung verbundenen Budgetbelastungen mit ungünstigen Folgen auf dem Wählerstimmenmarkt in Grenzen zu halten, liegt es nahe, im politischen Entscheidungsprozeß

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bei schwacher Repräsentanz der Konsumenten dem Begehren der Manager, der Beschäftigten der Staatsbetriebe und der Ministerialbürokratie nach einer Handelspolitik nachzugeben, die der eigenen (Monopol-)Erzeugung den Inlandsmarkt möglichst bis zur Grenze der Kapazitätsausnutzung reserviert. Die gemeinschaftlich organisierten Importrestriktionen dienen hier der Schonung des Staatsbudgets. In den Transformationsländern herrscht in extremer Form eine Konstellation vor, die üblicherweise dem Handelsprotektionismus Vorschub leistet: Wenige Anbieter in einem von günstigen Importmöglichkeiten bedrängten Bereich, geringe internationale Orientierung dieser Betriebe, eine große Zahl von Arbeitnehmern, die vergleichsweise schlecht bezahlt sind {Frey, 1991, S. 495). Eine Zollunion steht deshalb - nach dem 'Gesetz des Geleitzuges' (Wilhelm Röpke) ungleich mehr als eine Freihandelszone im Verdacht, von den im Transformationsverlauf nachhinkenden Mitgliedsländern für einen Solidarschutz gegenüber den Drittländern und für eine handelspolitisch geschlossene Form der Integration mißbraucht zu werden, dadurch monopolistische Verhaltensweise zu stärken und überkommene Angebotsstrukturen zu konservieren. Eine besondere Art von Protektionslobby stellen westliche 'Experten' dar, die von einer 'strukturellen' Unterlegenheit der Transformationsländer im internationalen Wettbewerb ausgehen. Diese These steht allerdings im Widerspruch zu der Beobachtung, daß nach dem Zusammenbruch des RGW die Länder mit einer entschiedenen Wendung zur Marktwirtschaft ihren Westhandel in kurzer Zeit ausdehnen konnten und in den Bereichen, in denen sie über beachtliche Produktionskapazitäten und Wettbewerbsvorteile verfügen, nur durch hartnäckige westliche Einfuhrhindernisse an größeren Exporterfolgen gehindert werden. Den Stempel 'westliche Konkurrenzangst' tragen auch die genannten Europa-Abkommen, die als Vorstufe zur EG-Mitgliedschaft gedacht sind. Was für die Zollunion zutrifft, nämlich ein starker Verdacht des Mißbrauchs dieser Integrationsform für protektionistische Zwecke, dürfte erst recht für die höhergradigen Integrationsformen gelten. Die Abschließungstendenzen würden - über den protektionsverstärkenden Mechanismus der gemeinsamen Gestaltung der Außenhandelspolitik hinaus - wegen der Aufgabe verschärft, die vielfältigen nationalen Transformationskonflikte im Bereich der überkommenen Staatswirtschaften zu bewältigen. Man wird nicht erwarten können, daß das, was etwa die Treuhandanstalt in Deutschland macht, in einem Gemeinsamen Markt oder in einer Wirtschafts- und Währungsunion akzeptiert würde, die sich aus vielen verschiedenen Völkern zusammensetzt. Die Bereitschaft, Lasten zu verteilen, wird erheblich durch das Ausmaß begrenzt, das von gemeinsamen Idealen und Wertsetzungen (vom 'moralischen Kitt'; siehe Ring 1, Abb. 1) bestimmt ist: "Es ist klar, daß eine solche Übereinstimmung beschränkt sein wird im umgekehr-

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ten Verhältnis zur Homogenität und Ähnlichkeit der Ansichten und der Tradition eines Gebietes" (vonHayek, 1976, S. 335). Im TransformationsprozeB entstehen gewollt oder spontan vielfältige ordnungspolitische Zwitterformen. Diese halbsozialistischen Binnenzustände lösen bekanntlich auch in etablierten Marktwirtschaften einen starken Hang zum Protektionismus aus. Soweit sich in den westlichen Marktwirtschaften solche Konstellationen, meist mit dem Charakter hoheitlicher Wettbewerbsbeschränkungen, erhalten haben, bestehen immerhin Aussichten, daß diese bei offenen Handels- und Währungsgrenzen in Schach gehalten und im internationalen Wettbewerb mehr oder weniger spürbar sanktioniert werden. Im Falle des handelspolitischen Regionalismus besteht allerdings die Gefahr, daß diese außenwirtschaftliche Kontrollinstanz an Einfluß verliert. Man wird daher die These 'Je mehr Integration nach innen, desto mehr Abschluß nach außen' (Wilhelm Röpke) sehr viel mehr noch für Länder in Betracht zu ziehen haben, die sich als Transformationsländer über Freihandelszonen hinaus um eine handelspolitische Blockbildung bemühen. 2.

Handelspolitischer Anschluß an westliche Integrationseinrichtungen Im Hinblick auf das große ungenutzte Austauschpotential und die Aussicht auf entsprechende Integrationsgewinne im Osten scheint die beschleunigte handelspolitische Erschließung dieses Raums in enger Verbindung mit den etablierten westeuropäischen Integrationseinrichtungen eine naheliegende Strategie zu sein (siehe Feld E, Abb. 2). So versucht die EFTA, mit einer Reihe von ehemaligen RGW-Ländern gleichsam vor der Haustür ein "Netz von Freihandelszonen" zu knüpfen (o.V., 1992a, S. 16). Tatsächlich dürfte der gesamteuropäische Integrationsprozeß rascher über die Aufnahme von ehemaligen RGW-Staaten in die EFTA und mit diesen zusammen in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Umstände der Beitrittsländer zu organisieren sein. Dafür sprechen nicht nur die niedrigeren Anforderungen an die Integrationsfähigkeit und -bereitschaft, sondern auch der Umstand, daß die EFTA keine der EG entsprechenden politischen Ambitionen hat. Allerdings stellt sich für die Freihandelspolitik der EFTA gegenüber ehemaligen RGW-Ländern das bereits in Kap. IV. 1. behandelte Problem, daß die Liberalisierung des Handels eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ist. Erst in Verbindung mit dem Vollzug der entscheidenden Schritte zur Marktwirtschaft (rechtsstaatlich-demokratische Verfassung, diversiflzierte Eigentumsformen, vorwiegend freie Preise, Währungskonvertibilität als Voraussetzung für ein marktwirtschaftliches System des Zahlungsbilanzausgleichs) sind die Grundlagen für eine knappheitsorientierte Wirtschaftsrechnung und Standortwahl gegeben. Auf die Einhaltung dieser ordnungspolitischen Mindestbedingungen kann auch die EFTA aus den genannten Gründen nicht verzichten. Sie schaltet

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deshalb unter der Bezeichnung 'gemeinsame Erklärung' den eigentlichen Freihandelsabkommen eine Phase der ordnungspolitischen Beobachtung und Beratung vor. Tatsächlich scheinen aber die seit jeher westlich orientierten ehemaligen RGW-Länder mehr als eine enge handelspolitische Verwandtschaft zu Westeuropa anzustreben. Es geht ihnen offenbar darum, ohne große Umwege in die EG zu gelangen. In dieser erwarten sie statt Anti-Dumping-Verfahren und anderen handelspolitischen Diskriminierungen eine bevorzugte Behandlung und vielfaltige Hilfe. In der EG sehen die potentiellen Beitrittsländer des Ostens ein integrationspolitisches Gravitationszentrum. Von diesem erwarten sie nicht nur positive ökonomische Größeneffekte, sondern auch Schutz vor politisch negativ eingeschätzten externen Effekten. Dieses Integrationsmotiv hat - mit Blick auf die 'Gefahr aus dem Osten' - bekanntlich ursprünglich auch den westeuropäischen Zusammenschluß beflügelt. Der von der EG nach dem Maastricht-Vertrag eingeschlagene Weg zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion hat allerdings Zweifel aufkommen lassen, ob das Ausmaß an Lastenverteilung, das von den neuen Mitgliedern im Hinblick auf die verheißene 'Gemeinschaftssolidarität' oder 'Kohäsion' erwartet wird, zu verkraften sein wird. Wenn es zutrifft, daß das Ausmaß an Lasten Verteilung, das in einem Wirtschaftsraum zu bewältigen ist, durch die Reichweite gemeinsamer Ideale und Wertsetzungen, also die Bindungskraft des Rings 1 in Abb. 1, begrenzt ist (siehe von Hayek, 1976), dann stellt sich angesichts der Heterogenität und Vielfalt der Traditionen und Präferenzen der Völker Europas die Frage: Ist die EG auf dem richtigen Weg? Sieht man die Mitgliedsländer mit ihren jeweiligen Interessen als Konkurrenten im innergemeinschaftlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß an, so stehen Rat und Kommission der EG in folgender Situation: Sie können angesichts beschränkter Möglichkeiten der zentralen Informationsbeschaffung und -Verarbeitung immer nur eine begrenzte, häufig nur punktuelle Problemlösungsfähigkeit entwickeln. Dabei werden Rat und Kommission der EG vorrangig bemüht sein, den inneren Bestand der Gemeinschaft zu sichern. Dies wird auf Dauer nur einigermaßen konfliktfrei gelingen, wenn die Mitglieder einen als angemessen empfundenen Gegenwert für ihren Beitrag erhalten. Die Aufgabe, Anreize und Beiträge insgesamt im Gleichgewicht zu halten, wird in dem Maße erschwert, in dem unter Berufung auf beliebig begründbare Normen der 'Gemeinschaftssolidarität' und 'Kohäsion' steigende Umverteilungserwartungen zu befriedigen sind. Um die innergemeinschaftlichen Verteilungskämpfe zu entschärfen und das AnreizBeitrags-Verhältnis notdürftig im Gleichgewicht zu halten, liegt es nahe, zumindest einen Teil der Kosten der inneren Konfliktbewältigung zu externalisieren, indem der stets vorhandenen Nachfrage nach handelspolitischer Protektion nachgegeben und damit

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versucht wird, die von der Konkurrenz der Drittländer ausgehenden Unsicherheiten zu vermindern. In Verbindung damit verdient die gemeinsame Handelspolitik der EG besondere Beachtung. Sie ist schon heute ein Musterbeispiel für die Methode, Kohäsionspolitik auf Kosten Dritter zu betreiben. Die bestehende EG-Praxis der Vergemeinschaftung eines umfangreichen nationalen Einfuhrschutzes (einschließlich einer wettbewerbsfeindlichen Anti-Dumping-Politik) steht im Widerspruch zum Anspruch eines offenen Regionalismus. Bei der Vergemeinschaftung der nationalen Schutzwünsche erweisen sich am ehesten solche Maßnahmen als konsensflhig, die eine betonte Rücksichtnahme auf die Mitglieder mit den weitestgehenden Interessen an einfuhrbeschränkenden Maßnahmen erlauben. Hierbei werden die Länder, die an sich eine liberale Einfuhrregelung anstreben, aus Gründen der 'Gemeinschaftssolidarität' oder in Erwartung anderweitiger Zugeständnisse dem beharrlich zum Protektionismus neigenden Mitgliedern nachgeben. So erklärt sich auch, daß die handelspolitische Neuorientierung der ehemaligen RGW-Länder von der EG trotz der wohlklingenden 'Europa-Abkommen' massiv behindert wird. Es wird geschätzt, daß Polen, Ungarn und die tschechische Republik 75% der Exporterlöse gerade bei den Produkten (Stahl, Kohle, Textilien, Agrarprodukte) erzielen, gegen deren Importe sich die EG am meisten schützt. Über diese Art von Harmonisierung wird der von den einzelnen Ländern angestrebte Firmen- oder Branchenschutz zum Solidarschutz für den betreffenden Wirtschaftszweig in der gesamten EG erhoben. Die gemeinsame Handelspolitik (als additiver nationaler Protektionismus) steht angesichts erhöhter Umverteilungserwartungen und der Anpassungszwänge, unter denen die potentiellen Beitrittsländer des ehemaligen RGW stehen, in einer besonderen Gefahr des Mißbrauchs für eine Festigung der protektionistischen Mehrheit in der EG (mit Griechenland, Portugal, Italien, Frankreich). Das außenwirtschaftliche Ventil für die Entschärfung des inneren Konfliktpotentials könnte vermieden werden, würde auch die Außenhandelspolitik der EG nach dem Ursprungslandprinzip gestaltet. Werden nämlich nationale Rechtsregeln nur im Hinblick auf bestimmte marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen und Mindeststandards (zur Vermeidung von ansteckenden Krankheiten, zur Sicherung des Lebens im Verkehr, zum Schutz der Umwelt) vereinheitlicht, so kann im übrigen das Ausmaß der Harmonisierung als Ergebnis von Marktprozessen nach dem wettbewerblichen Verfahren des Vorstoßes und der Nachahmung ermittelt werden. Die Kombination der vier Grundfreiheiten mit dem Ursprungslandprinzip könnte konstitutionell durch den EWR-Vertrag verankert werden. Dieser Vertrag sieht - anders als der EWG-Vertrag - keine Zollunion, keine Steuerharmonisierung, keinen vollständigen Verzicht auf Grenzkontrollen, keine gemeinsame Agrar- und Handelspolitik, keine Übertragung souveränitätsbe-

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schränkender Gesetzgebungsbefugnisse und auch keine Beteiligung am Maastricht Abkommen über eine Europäische Union und Wirtschafte- und Währungsunion vor (Petersmann, 1992, S. 318). Der wichtigste Beitrag des EWR-Rechts mit seinen Freiheitsgarantien, dem Diskriminierungsverbot, den Wettbewerbsregeln und den Gerichtsschutzgarantien besteht nach Petersmann (1992, S. 319) in der "Stärkung der Grundrechtsbindung des Wirtschaftsgesetzgebers und in der rechtsstaatlichen Beschränkung wirtschaftspolitischer Regulierungen auf transparente, nicht diskriminierende und verhältnismäßige Instrumente". Der EWR-Vertrag könne insofern als verfassungsrechtliche Grundlage für eine umfassende 'Europäisierung der Innenpolitik' angesehen werden. Eine Kombination dieser Europäischen Wirtschaftsverfassung mit dem handelspolitischen Ursprungslandprinzip könnte ohne großen Verhandlungsaufwand nicht nur der Vertiefung, sondern auch der Erweiterung der EG beträchtliche Chancen eröffnen: 1. Die Käufer können frei zwischen in- und ausländischen Produkten und Leistungen wählen. Dadurch wird der Standortwettbewerb für Unternehmen und Arbeitsplätze innerhalb der Gemeinschaft verschärft, Vermachtungserscheinungen wird vorgebeugt. 2. Das Ursprungslandprinzip unterwirft die nationale Außenhandelspolitik im freien Binnenmarkt dem Wettbewerb. Davon profitieren handelspolitisch die Länder mit den niedrigsten Protektionsraten. Es kommt zu einem europäischen Gleichschritt in Richtung Liberalisierung der Märkte. Die Marktintegration gewinnt dadurch an wettbewerblicher Dynamik, vor allem dann, wenn es zutrifft, daß der stärkste Wettbewerbsdruck in der EG ohnehin von außen kommt (siehe Jacquemin und Sapir, 1991, S. 166 ff.). Die verstärkte Verflechtung des europäischen Binnenmarktes mit der Welt wirkt schon für sich wie eine Vergrößerung der Mitgliederzahl. Die Übertragung des Ursprungslandprinzips auf die Handelspolitik der EG ermöglicht es also, der Tendenz zur Blockbildung entgegenzuwirken. Im handelspolitischen Ursprungslandprinzip kann deshalb die Schlüsselfrage der Osterweiterung der EG gesehen werden. Durch Anwendung dieses Prinzips könnte Westeuropa ähnlich wie in den fünfziger und sechziger Jahren die Rolle einer Integrationslokomotive übernehmen, jetzt unter Einbeziehung der neuen Bundesländer und der in Frage stehenden ehemaligen RGW-Länder (siehe auch Lorenz, 1992, S. 85). Die Anwendung des Ursprungslandprinzips auf die Außenhandelspolitik der EG würde indirekt auch den Staat als Anbieter von unterschiedlichen Regulierungssystemen und Leistungen der Daseinsvorsorge der Qualitäts- und Kostenkontrolle des internationalen Wettbewerbs unterstellen. Aus der Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs für private Güter und Leistungen würde eine Verfassung des Wettbewerbs für das privatwirtschaftlich und das staatlich erstellte Güter- und Leistungsangebot. Das handelspolitische

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Ursprungslandprinzip würde bei zunehmender Größe und Heterogenität der Gemeinschaft genau das erzwingen, was nach der Methode der Harmonisierung nicht zu erreichen sein dürfte, nämlich verstärkte Deregulierung, Differenzierung und Intensivierung des Wettbewerbs auch im Innern der EG. 3.

Der handelspolitische Alleingang Wenn die EG durch die neuen Demokratien in Osteuropa erweitert werden soll, so müßte sie ihre Konzeption nach dem Grundsatz ändern 'Mehr Marktintegration, weniger Politikintegration'. Hierzu müßte man sich in der EG einem Verständnis von Integration annähern, das nach Machlup (1977) in der Arbeitsteilung durch weltweiten Freihandel besteht. Die ökonomische Heterogenität Osteuropas, die Verschiedenheit der historischen, kulturellen und entwicklungsspezifischen Ausgangsbedingungen sowie der institutionellen Zustände, die die Transformationsländer kennzeichnen, sprechen in der Tat gegen anspruchsvolle Formen der Politikintegration, bei der das supranationale Prinzip der Regierungstätigkeit an die Stelle der nationalen Regierungsverantwortung tritt. Supranationalität bedeutet, daß Mehrheitsvoten die Gesetzgebung bestimmen, daß Amtsträger unabhängig von nationalen Weisungen entscheiden können und daß das supranationale Recht nationales Recht dominiert. Abgesehen von der oben dargestellten Zweckmäßigkeit der Einbeziehung derjenigen Länder des ehemaligen RGW-Raums in den EWR-Vertrag, die die grundlegenden Voraussetzungen hierfür mitbringen, sind die Transaktionskosten für darüber hinausgehende Einigungsprozesse und Aufsichtsverfahren wahrscheinlich außerordentlich hoch. Eine darauf hinzielende Politikintegration würde für das, was im Transformationsprozeß situationsabhängig zu leisten ist, zu schwerfällig sein. Die Anfälligkeit für wettbewerbsbeschränkende Kompromißlösungen wäre extrem hoch. Transformationsländer sind auf flexiblere Suchverfahren angewiesen, um den besonderen Anpassungserfordernissen bei der Ressourcenumwertung, der Beseitigung von Mobilitätshindernissen und der Lösung von Verteilungsproblemen Rechnung tragen zu können. Regelwerke mit speziellen (wohlfahrtsstaatlichen) Polsterungen und Verzierungen, wie sie sich hochentwickelte und seit Jahrzehnten etablierte Integrationseinrichtungen vielleicht leisten können, dürften hierfür weniger geeignet sein. Für den handelspolitischen Alleingang sprechen auch die Erfolge mit exportorientierten Entwicklungsstrategien. Denn die Länder, die den umgekehrten Weg eingeschlagen haben, konnten sich auch binnenwirtschaftlich weniger dynamisch entwickeln. Handelspolitische Alleingänge der Transformationsländer sind schließlich prinzipiell um so aussichtsreicher zu beurteilen, je mehr die Industrieländer ihre eigenen Struktur-

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Probleme marktgerecht bewältigen und hierbei auf eine aktive (wettbewerbsverfälschende) Industriepolitik, die Verletzung von GATT-Regeln - etwa durch diskriminierende Blockbildung - und den Aufbau von marktwidrigen distributiven Erwartungsstrukturen verzichten. Indem die Industrieländer innovationsfireudiger werden und sich von etablierten Märkten frühzeitig zurückziehen, schaffen sie mehr Spielraum für den internationalen Nachahmerwettbewerb. V.

Integration im Dienste der Transformation: Das währungspolitische Problem Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft wird die Integration der nationalen Wirtschaftsprozesse in die internationale Arbeitsteilung in Form eines offenen Multilateralismus angestrebt. Das währungspolitische Problem besteht darin, ein bislang auf den Binnenverkehr beschränktes Geld in eine international verwendbare Währung umzuwandeln. Damit aus der internationalen Tausch- und Preisgemeinschaft eine internationale Zahlungsgemeinschaft werden kann, ist die Konvertibilität der Währung herzustellen. Die internationale Zahlungsgemeinschaft ist wiederum Bedingung für die internationale Preis- und Tauschgemeinschaft. Diese Bedingtheiten ergeben sich daraus, daB internationale Handels- und Zahlungsbeschränkungen sich wechselseitig beeinflussen können (Willgerodt, 1962). Gerade in den sozialistischen Volkswirtschaften bildete die Devisenbewirtschaftung als Teil des Außenwirtschaftsmonopols ein wichtiges Instrument der Außenwirtschaftspolitik; und der staatliche Außenhandelsdirigismus stand unmittelbar im Dienste der Lenkung der Auslandszahlungen. Währungskonvertibilität bedeutet Freiheit des Umtausches und des Transfers von Währungen. Diese Freiheit kann formal per Federstrich gewährt werden. Umstritten ist aber, wie sie unter den besonderen Umständen der Transformation wirkt. Vielfach wird ein allmählicher Übergang zur vollständigen Konvertibilität empfohlen. Demgegenüber ist zu fragen, ob eine währungspolitische Ordnung, die einerseits die Binnenintegration fördern soll, andererseits aber mit Konvertibilitätsbeschränkungen einhergeht, nicht das Kernstück der Binnenintegration, also den Transformationsprozeß, behindert. Unstrittig ist meist die Vorteilhaftigkeit der sofortigen Einführung der 'Konvertibilität auf laufende Transaktionen'. Kontrovers ist der Kapitalverkehr. Letztlich geht es aber um die Frage nach dem für den Transformationsprozeß geeigneten Wechselkurssystem. Die Konvertibilitätsentscheidung ist also eng mit der Wechselkursfrage verknüpft. Zunächst sei aber im folgenden auf die Vorteile und Bedingungen der Konvertibilität verwiesen.

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1. a.

Vorteile und Bedingungen der Konvertibilität Vorteile der Konvertibilität Multilaterale Tauschbeziehungen sind auch ohne Konvertibilität erreichbar; doch weist das hierzu erforderliche Ersatzverfahren (der Verrechnungsverkehr) erhebliche Nachteile auf (siehe Kap. V.2.3.). Konvertibilität ist deshalb praktisch eine notwendige Bedingung für multilateralen Handel. Aus der Multilateralität der Tauschbeziehungen erwachsen vor allem folgende Vorteile: - Die Möglichkeit, Geld international frei zu verwenden, senkt die mit internationalen Tauschbeziehungen verbundenen Transaktionskosten, wirkt also ressourcensparend. - Es kann auf den billigsten Märkten gekauft und zu den höchsten Preisen verkauft werden. Damit wird ein wichtiger Beitrag zur Minderung des Knappheitsproblems geleistet. - Die Konvertibilität begünstigt die Wanderung des Faktors Arbeit zu den international produktivsten Standorten. Eine der Voraussetzungen für Gastarbeiterwanderungen ist das Recht, das Einkommen frei verwenden zu können, z. B. auch für Zahlungen an die Familie zu Hause. - Konvertibilität erleichtert den Zugang zum internationalen Kapitalverkehr und den für die Finanzierung des Transformationsprozesses wichtigen Nettokapitalimport. - Die Marktteilnehmer werden unter dem Einfluß der Weltmarktpreise4 in internationale Wettbewerbsprozesse integriert. Bereits die mit der Grenzöffnung verstärkte potentielle Konkurrenz erzeugt "virtuelle Multilateralität'' (Wilhelm Röpke). - Der internationale Wettbewerb erhöht den Druck zur ständigen Neuerung und Anpassung und verstärkt damit die Dynamik der Wettbewerbsprozesse. - Die Konvertibilität sichert die Freiheit des individuellen Reiseverkehrs. Dies ist für diejenigen Länder von besonderer Bedeutung, die ihren Bürgern politische Freiheitsrechte gewähren. - Währungskonvertibilität vermeidet die bürokratischen und moralischen Reibungsverluste bei Devisenbewirtschaftung und erhöht durch Unterbindung der Kapitalflucht das innere Sparaufkommen. b.

Bedingungen für vollständige Konvertibilität (1) Marktpreisgesteuerte Binnenwirtschaft: Der volkswirtschaftliche Nutzen der Konvertibilität hängt vom Grad der realistischen Knappheitsmessung, also von der Funktionsföhigkeit der Binnenwirtschaftsrechnung ab. Die tiefere Bedeutung von Röp4

Hierzu stellt Bomhoff (1991, S. 415) fest: "A very important advantage of currency convertibility is that the speed with which domestic relative prices adjust to conditions in the world market no longer depends on domestic political conditions but is imposed firom abroad".

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kes (1954a, S. 109) Feststellung "Convertibility begins at home" liegt in der Erkenntnis, daß die Lenkungsmechanik der Preise international nur in dem Maße wirksam werden kann, wie sie national funktioniert. (2) Marktpreisgesteuerte Außenwirtschaft: Der Übergang von der Binnen- zur Außenintegration setzt einen realistischen Wechselkurs voraus. Nur so ist es möglich, die innere und äußere Knappheitsanzeige zu synchronisieren und sicherzustellen, daß die komparativen Kosten- und Preisvorteile grenzüberschreitend erkannt und genutzt werden können. Für die Konvertibilitätsentscheidung ist deshalb die Frage nach den Bedingungen für realistische Wechselkurse zu prüfen. Angesichts dieser Bedingungen wird die Frage 'feste oder flexible Wechselkurse' zweitrangig. Der Einflußbereich preisgesteuerter Außenwirtschaftswirtschaftsbeziehungen wird durch "absolute Handelshemmnisse" (Röpke, 1958, S. 33 f.) eingeschränkt. Die Abschaffung von mengenmäßigen Handelshemmnissen und entsprechend wirkenden Formen der Devisenbewirtschaftung (siehe Kap. I) ist Bedingung für vollständige Konvertibilität. Die "relativen Handelshemmnisse" (Röpke, 1958, S. 33 f.), wie Zölle und Exportsubventionen, verzerren zwar den Preismechanismus und verhindern einen internationalen Preisausgleich, sie schalten die Preislenkung jedoch nicht gänzlich aus (vgl. Röpke, 1954b, S. 311). (3) Monetäre Stabilität: Sie erleichtert die Konvertibilitätsentscheidung erheblich. Erstens wird dadurch die Verzerrung der Wirtschaftsrechnung vermieden; allokativen Fehlentscheidungen wird vorgebeugt. Zweitens rufen relative Geldwertveränderungen selbst außenwirtschaftliche Anpassungsprozesse hervor. Die aus der Kaufkraftparitätentheorie bekannte Beziehung zwischen Inflationsentwicklung und Wechselkursänderung deutet darauf hin, daß Anpassungen auch vom Wechselkursmechanismus übernommen werden können. Wird der Wechselkurs aber von vornherein fixiert, ist die innere Geldwertstabilisierung notwendig, um nach Ausschöpfung von Maßnahmen der Kursstabilisierung eine Beschränkung der Konvertibilität zu vermeiden. Ist der Wechselkurs veränderlich, ruft eine vergleichsweise zum Ausland anhaltend stärkere Geldentwertung eine permanente Abwertung hervor. Ohne eine Korrektur der monetären Ursache droht auch hier früher oder später die Rückkehr zum nicht-marktmäßigen Zahlungsbilanzausgleich (Haberler, 1954, S. 31). Die entsprechenden Instrumente der Devisenbewirtschaftung sind automatisch konvertibilitätsbeschränkend. (4) Konvertibilität im Ausland: Die Einführung der Konvertibilität im Inland setzt voraus, daß das Ausland zumindest die Ausländerkonvertibilität gewährt (Lutz, 1954, S. 301 ff.). Daß dies bei einer Einführung der Inländerkonvertibilität im Inland gilt, folgt einfach daraus, daß die Inländer im Ausland Ausländer sind. Die Reichweite der Konvertibilität für Inländer wird daher von dem Maß an Konvertibilität abhängen, das den Inländern im Ausland eingeräumt wird. Aber auch für die Zubilligung der Auslän-

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derkonvertibilität im Inland muß das Ausland selbst die Ausländerkonvertibilität gewähren. Erzielt ein Land zum Beispiel gegenüber einem anderen Land einen Devisenüberschuß, kann dieser nur in beschränktem Ausmaß zum Ausgleich einer Verbindlichkeit gegenüber einem Drittland verwendet werden, wenn dieses Drittland keine Ausländerkonvertibilität zuläßt. Ist die Verwendungsmöglichkeit von Exportüberschüssen beschränkt, wird auch deren Entstehung hinfällig. 2.

Das währungspolitische Problem und der Übergang zur Marktwirtschaft Es wird vielfach empfohlen, die volle Konvertibilität erst dann einzuführen, wenn ihre Bedingungen erfüllt sind. Dies gilt besonders für die Länder, die sich im Übergang von der Zentralverwaltungswirtschaft zur Marktwirtschaft befinden und noch nicht über eine reife 'Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs' verfügen. Ihre Bemühungen sind darauf gerichtet, die für eine Marktwirtschaft konstituierenden Ordnungsprinzipien zu etablieren. Solange es dabei nicht gelingt, den Geldwert einigermaßen verläßlich zu stabilisieren, die Staatsbetriebe wettbewerbskonform zu organisieren, eine Privatrechtsordnung mit Gewerbe- und Vertragsfreiheit und anderes mehr zu begründen (vgl. Eucken, 1990, S. 254 ff.), können die Marktpreise ihr knappheitsgerechtes Lenkungspotential nicht voll entfalten. Daraus läßt sich folgender Teufelskreis konstruieren: Solange die Voraussetzungen der Konvertibilität nicht erfüllt sind, können ihre Vorteile nicht genutzt werden. Kann aber nicht zur Konvertibilität übergegangen werden, verharren die außenwirtschaftlichen Beziehungen im Bilateralismus. Dies wiederum erschwert die Schaffung der Voraussetzungen für die Konvertibilität. Was ist von dieser Auffassung zu halten? Die Reichweite der Bedingung 'funktionsfähiges Preissystem1 Der Übergang zur Konvertibilität erfordert selbstverständlich ein Vorauseilen der Binnenliberalisierung im Hinblick auf die Herstellung von Tauschfreiheit und anderer Ordnungsbedingungen, die die 'prinzipielle Integrationsfähigkeit' begründen (siehe Kap. I.). Hieraus kann sich zunächst nur - schon wegen der schwierigen Privatisierung und Demonopolisierung - ein grobmaschiger preisgesteuerter Rechnungszusammenhang entwickeln. Dieser kann rasch an 'Feinmaschigkeit' gewinnen, wenn die Verknüpfung mit dem internationalen Rechnungszusammenhang gesichert wird. Durch die damit entstehende grenzüberschreitende Preisinterdependenz gewinnen die Lenkungskraft der Weltmarktpreise und des Wettbewerbs unmittelbar Einfluß auf den Transformationsprozeß. In dessen Verlauf kann dann die allokative und motivationale Lenkungskraft der Preise in dem Maß an Verläßlichkeit und Genauigkeit gewinnen, wie die institutionelle Ummantelung des Preissystems voranschreitet. a.

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Bezogen auf die Konvertibilität für Leistungsbilanztransaktionen wird eine frühe handelspolitische Öffnung und Liberalisierung - insbesondere für kleine Länder mit geringer Autarkiebegabung - kaum kritisiert3. Für die Liberalisierung des Kapitalverkehrs wird dagegen empfohlen, solange abzuwarten, bis die institutionellen Bedingungen für funktionsfähige Kapitalmärkte geschaffen sind. Insbesondere aus Liberalisierungserfahrungen verschiedener Schwellenländer folgern z.B. Fischer und Reisen (1992a) eine hohe Kapitalflucht bei sofortigem Übergang zur vollständigen Konvertibilität. Die Kapitalflucht lieB sich durch ein stufenweises Vorgehen reduzieren. Am längsten soll dabei auf die Freigabe des kurzfristigen Kapitalverkehrs gewartet werden. Es ist aber zu beachten, daß Konvertibilitätsbeschränkungen selbst eine wesentliche Ursache für unerwünschte Kapitalexporte (Kapitalflucht) sind und zugleich den ZufluB von Auslandskapital behindern. Die Neigung zur Kapitalflucht wird in dem Maße verschwinden, in dem die Konvertibilitätszusage bei harter makroökonomischer Stabilisierungspolitik verläßlich ist. Zudem ist erfahrungsgemäß die Wirksamkeit von Kapitalverkehrskontrollen gering. Die Umgehungsmöglichkeiten und Schlupflöcher sind unvermeidlich. Zu beachten ist auch der Zusammenhang von Kapitalimporten und Transformationsfortschritten. Solange die Transformation in den Anfangen steckt, werden potentielle Kapitalexporteure das Risiko für ein Engagement als extrem hoch einschätzen. Dies gilt vor allem für langfristige Kredite, Direktinvestitionen und Joint Ventures. Bei großer Ungewißheit über die (spontane) Marktentwicklung von unten, über das Transformationsprogramm und bei Gefahr eines politischen 'roll back' ist, wie die Erfahrungen in der GUS zeigen, ein größeres Volumen längerfristiger privater Kredite oder gar von Direktinvestitionen eher unwahrscheinlich. Anzunehmen ist vielmehr, daß die Fristigkeit von internationalen privaten Krediten mit dem Fortschritt der Transformation zunimmt und zugleich - bei erfolgreicher Transformationspolitik - die Risikoprämien sinken. Eine anfängliche Verhinderung des kurzfristigen Kapitalverkehrs durch Konvertibilitätsbeschränkungen versperrt somit administrativ den Zugang zu möglichen internationalen Krediten und zu einem allmählichen Zugewinn an Kreditwürdigkeit bei wachsender Bindungszeit des Kapitalimports. Gegen eine kurzfristige Verschuldung an den internationalen Geld- und Kreditmärkten mag eingewendet werden, daß diese auch kurzfristig wieder rückgängig gemacht werden könne; dabei drohe ein Zwang zur Anpassung der Leistungsbilanz mit hohen Daß die Vollkonvertibilität umstritten ist, kann schon deshalb nicht überraschen, weil der Konvertibilitätsanspruch des Internationalen Währungsfonds (Art. VIII) bereits dann als erfüllt gilt, wenn ein Land die Ausländerkonveitibilität auf laufende Transaktionen gewährt.

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binnenwirtschaftlichen Kosten. Hierzu könnte auf Erfahrungen in Deutschland um 19296 und in Lateinamerika nach 1982 verwiesen werden. Die Nachteile einer kurzfristigen Verschuldung für langfristige Zwecke bestehen durchaus. Doch ist die Beachtung der Fristenkongruenz immer eine Bedingung für erfolgreiches Schuldenmanagement. Die Transformationsländer müssen bei der Inanspruchnahme von Krediten bemüht sein, bei den Kreditgebern Vertrauen für ihre Ziele zu erwerben und damit die Voraussetzung für eine Verlängerung der Fristen zu schaffen. Maßnahmen der Kapitalverkehrskontrolle dürften hingegen die Laufzeiten der zugänglichen Kapitalimporte verkürzen und zur Kapitalflucht beitragen, also eher dem Nettokapitalexport förderlich sein. b.

Währungspolitische Zusammenarbeit durch eine Osteuropäische Zahlungsunion? Eine notwendige Bedingung für Konvertibilität ist die Gewährung der Ausländerkonvertibilität durch das Ausland. Diese ist heute weitgehend erfüllt. 7 Anders ist dies beim Zahlungsverkehr zwischen den Transformationsländern. Hier bestehen zum Teil erhebliche Konvertibilitätsbeschränkungen. Da der Intra-RGW-Austausch den Außenhandel der ehemaligen Mitglieder dominierte, könnte zwischen ihnen eine spezielle Zahlungsgemeinschaft zweckmäßig erscheinen. Der Zweck könnte darin bestehen, allmählich zur Konvertibilität überzugehen (siehe Abb. 2, Feld G), ähnlich dem Fall der Europäischen Zahlungsunion (EZIJ). Die Länder Westeuropas haben Anfang der fünfziger Jahre den Umweg über die EZU gewählt, weil davon ein gegenseitiger Druck zur Härtung der Währungen erwartet wurde (Röpke, 195 lb, S. 290 f.). Diese Erwartung wurde dann ja auch bekanntlich nicht enttäuscht. Für Osteuropa könnte man sich eine entsprechende Venechnungseinrichtung (OZU) in drei Varianten vorstellen: OZU I (Zahlungsunion zwischen den ehemaligen RGW-Länder ohne GUS-Staaten): Für diesen Fall muß beachtet werden, daß der Intra-RGW-Handel stark auf die UdSSR konzentriert war. Dagegen fiel der Austausch zwischen den osteuropäischen RGW-Staaten verhältnismäßig gering aus (vgl. Weber, 1991). Aus der RGW-Vergangenheit folgt, daß diese Länder auf ihrem Konvertibilitätsweg keine zwingende Als Folge der kurzfristigen Umkehr der deutschen Kapitalbilanz im Jahre 1929 ergab sich die Leistungsbilanzumkehr durch eine Senkung der Exporte (!) und der Importe, zwangsläufig verbunden mit einer stärkeren Reduzierung des Importwertes. Sachlich gilt dies allerdings nur insoweit, als das Ausland gleichzeitig nicht die Warentransferabilität etwa durch Einfuhrzölle und andere handelspolitische Maßnahmen beschränkt. Protektionismus schließt zwar Konvertibilität nicht per se aus, doch stellt er so, wie ihn die Industrieländer im Bereich der Agrarpolitik, der Eisen- und Stahlindustrie und einigen anderen Branchen praktizieren, eine nicht unbedeutende Behinderung für Mittelund Osteuropa beim Ubergang zur Konvertibilität dar.

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Vorzeichnung für eine künftige währungspolitische Gemeinschaft aufweisen. Ihre Nachbarschaft legt zwar «ige Wirtschaftsbeziehungen nahe; diese bedürfen aber mit dem Aufbau eines neuen Kapitalstocks und einer neuen Produktionsstruktur der völligen Neubestimmung im internationalen Wettbewerb. Diejenigen, die für eine OZU eintreten, unterschätzen den politischen Charakter der bisherigen Konzeption der RGW-Spezialisierung und -kooperation. Sie übersehen die Aufgabe, die Außenhandelsströme unter völlig veränderten Ordnungsbedingungen neu zu bilden. Was dabei aus den früheren Beziehungen - vorübergehend vielleicht auch in Form von zwischenstaatlichen und zwischenbetrieblichen Kompensationsgeschäften - dauerhaft mitfließen kann, ist erst herauszufinden. Jedenfalls lohnt es sich dafür nicht, den Handel mit den entwickelten Marktwirtschaften zu diskriminieren. Dies wäre aber bei einer Verrechnungslösung ähnlich der EZU unvermeidlich. OZU II (Zahlungsunion zwischen den GUS-Staaten): Rußland büßt mit der Auflösung der 'sozialistischen Arbeitsteilung' in der ehemaligen UdSSR von seiner Autarkiebegabung ein. Deshalb könnte eine Zahlungsunion zwischen den GUS-Staaten zur Belebung des inneren Handels und zur Vermeidung der Gefahren des wirtschaftspolitischen Nationalismus in Erwägung gezogen werden. Allerdings lassen sich Überschüsse und Defizite in einem Kreis von Ländern mit zunächst weichen Währungen zentral über eine Clearingstelle mittels einer gemeinsamen Recheneinheit periodisch nur verrechnen, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind {Schaller, 1991a; 1992): (1) Die Guthaben müssen zum Ausgleich von Verpflichtungen gegenüber jedem beliebigen Mitgliedsland frei von quantitativen Ein- und Ausfuhrkontrollen verwendbar sein. (2) Neben der Handelsliberalisierung und Preisfreigabe in einem beträchtlichen Ausmaß sind nicht nur feste, sondern zugleich einigermaßen realistische Wechselkurse der am Clearing beteiligten Länder erforderlich. Dies setzt ihre gemeinsame Orientierung in den Grundfragen der Ordnungs- und Prozeßpolitik gemäß Abb. 2, Feld A voraus. (3) Im Schuldner-Gläubiger-Verhältnis sind strukturelle Bevorteilungen und Benachteiligungen zu vermeiden. Ein zur Erleichterung der Verrechnung erforderlicher Kreditmechanismus müßte so angelegt sein, daß die beteiligten Staaten im Sinne des 'Primats der Währungspolitik' dem Druck unterliegen, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht bei möglichst weitgehender Stabilität der Wechselkurse prinzipiell zu sichern. Ein Vergleich der EZU mit der Idee einer OZU zeigt, daß die heutige Situation der

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GUS-Staaten in wichtigen Punkten eine völlig andere ist: - Rußland ist trotz seiner verminderten Autarkiebegabung mehr als die übrigen GUS-Länder von der Versorgung mit wichtigen Importgütern unabhängig. Rußland steht daher weniger unter Liberalisierungsdruck, was für die Erfüllung der Bedingungen (1) und (2) ungünstig ist. - Bei hochentwickelten Finanzmärkten besteht heute eigentlich keine Notwendigkeit, zwischen den GUS-Ländern einen Sonderkreditschalter einzurichten. Letztlich bedürfen die Länder zwar des internationalen Kredits, aber sie brauchen ihn vor allem von außen und nicht voneinander (Kenen, 1991, S. 142). Die ursprüngliche Regelung der EZU-Verrechnung mit einem weitgehenden automatischen Kreditanspruch könnte man ohnehin nicht übernehmen. Ein Kreditmechanismus, der einseitig die Schuldnerländer bevorzugt, ist wenig geeignet, die für die Erfüllung der Funktionsbedingung (3) erforderliche nationale Bereitschaft zur monetären Stabilität und Verrechnungsdisziplin zu erzwingen. Es müßte ausgeschlossen werden, daß bestimmte Mitgliedsländer die Kreditmöglichkeiten ausschöpfen und dann aus 'Zahlungsbilanzgründen' in die Devisenbewirtschaftung ausweichen und den erreichten Stand der Liberalisierung zurücknehmen können. - Im Interesse der Zahlungsbilanzdisziplin müßte also sofort eine 'Härtung' der Zahlungsunion vereinbart werden. In der EZU bestand diese Härtung in der zunehmenden Pflicht, die Passivsalden durch Goldeinzahlung abzudecken. Erst mit dieser Art von Konvertibilisierung gelang es, den EZU-Kreditmechanismus vor zu großem Mißbrauch zu schützen und die genannten Funktionsbedingungen der Verrechnungsunion in einem Klima des Vertrauens zu erfüllen. - In den GUS-Staaten ist der binnenwirtschaftliche Konkurrenzdruck (noch) unzureichend. In absehbarer Zeit dürfte sich dieser Zustand nur beseitigen lassen, wenn es gelingt, den Wirtschaftsverkehr mit den westlichen Volkswirtschaften zu intensivieren. Dies ist ein zentrales ordnungspolitisches Anliegen im Sinne der Funktionsbedingungen (1) und (2). Dem würde eine EZU-Lösung mit ihrer regionalen Handelspräferenz und partiell fortbestehenden Devisenbewirtschaftung entgegenwirken. - Eine EZU-Lösung verleitet zum abgestimmten Protektionismus und behindert die für den Transformationsprozeß so außerordentlich wichtigen Kapitalimporte. Die Reichweite des Protektionismus dürfte von den transformationspolitischen Nachzüglern in der Union mit dem höchsten Schutzbegehren bestimmt werden. Unterschiedliche Handelsbarrieren der Verrechnungsländer gegenüber dem Hartwährungsraum bieten den Importeuren einen Anreiz, die begehrten Hartwährungsgüter bevorzugt über die vergleichsweise am wenigsten geschützten Verrechnungs-

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länder zu beziehen. Diese Gefahr eines Mißbrauchs der Venechungsunion ist um so größer, je mehr das Protektionsverhalten gegenüber dem Hartwährungsraum divergiert und je nachgiebiger die Geld- und Finanzpolitik einzelner Mitglieder ist. Die Gefahr da- Handelsumlenkung legt es im übrigen nahe, die Verrechnungsunion mit einer Zollunion zu kombinieren. Deren Nachteile für Transformationsländer wurden in Kap. IV. 1. aufgezeigt. - Im Interesse der Funktionsbedingung (3) müßte es einer möglichst großen Zahl von Mitgliedsländern gelingen, nennenswerte hartnäckige Verrechnungssalden zu vermeiden. Mit einem solchen Ergebnis ist aber nur in dem Maße zu rechnen, in dem weitergehende Fortschritte bei der Realisierung der Funktionsbedingungen (1) und (2), also bei der Aufgabe erzielt werden, ein funktionsfähiges Preissystem und realistische Wechselkurse herzustellen. Ohne diesen Erfolg kann die Verrechnungsstelle nicht zu einem befriedigenden Ergebnis führen. - Fraglich ist schließlich, ob die frühzeitige Wechselkursbindung der GUS-Währungen an eine Verrechnungseinheit wirklich geeignet ist, den Transformationsund Stabilisierungsdruck zu verstärken. Der Wechselkurs als 'Nagel an der Wand', an dem die Transformations- und Stabilisierungspolitik 'festgemacht' wird, setzt - um im Bilde zu bleiben - eine Wand mit einigermaßen solidem Fundament voraus. In dieser Hinsicht, aber auch im Hinblick auf ein notwendiges Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen, lassen nun aber die GUS-Länder viele Fragen offen. Deshalb kann in der aktuellen Situation einer extremen Ungewißheit im Bereich aller wichtigen volkswirtschaftlichen Daten die Entscheidung für feste Wechselkurse nur um den Preis unrealistischer Vorgaben, Fehlallokationen und eines ständigen Bedarfs an Realignments erkauft werden. Aus diesem Grunde stellen erst recht die in den Feldern G und H der Abb. 2 aufgeführten Formen der währungspolitischen Zusammenarbeit eine Überforderung der meisten der in Frage stehenden Länder dar. OZU m (Zahlungsunion zwischen den osteuropäischen Ländern unter Einbeziehung der GUS-Staaten): Eine OZU III setzt voraus, daß die relativ fortgeschrittenen Transformationsländer abwarten, bis in den GUS-Ländern die Entscheidung für eine eigenständige Währung gefallen ist. Dies ist zur Zeit nur in wenigen Ländern entgültig geschehen (vgl. Abb. 3). Eine Zahlungsunion setzt aber intensive Anstrengungen aller Länder beim Übergang zur Marktwirtschaft voraus. Die heterogene Struktur der RGWTeilnehmer oder der Nachfolgestaaten der UdSSR hinsichtlich ihrer Transformationsbereitschaft und -fähigkeit führt zu einer Selbstbehinderung der osteuropäischen

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Länder, die auf dem Weg zur Marktwirtschaft weiter fortgeschritten sind. Abbildung 3:

Währungen In den Nachfolgestaaten der UdSSR

Land/ Republik

Zur Zeit gflltige Wfthrung

Geplante Währung

Land/ Republik

Zur Zeit gültige Wahrung

Geplante Währung

Estland Lettland Litauen Armenien Aserbeidschan Georgien Kasachstan Kirgisien

Krone lett. Rublis Coupons/Li tas Rubel Rubel/Manat Coupons Rubel Som

_

Moldawien Rußland Tadschikistan Turkmenistan Ukraine Usbekistan Weißrußland

Rubel Rubel Rubel Rubel Kaibowanez Rubel Rubel/ zajciska (1:1)

Lei

Late Litas Dram Manat Lari Tanga

-

Somon Malat -

Sum Scheckhefte/Taler

(Stand: Mai 1993) Die vorherrschenden äußeren Umstände und die Aufgaben der Binnenintegration sprechen für eine sofortige weitgehende Liberalisierung des Handels- und Zahlungverkehrs und für den unverzüglichen Übergang zur Konvertibilität bei marktmäßiger Wechselkursbildung. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg, als wegen der im Ausland weithin vorherrschenden Devisenbewirtschaftung und Einfuhrkontingentierung ein isoliertes Vorgehen einzelner westeuropäischer Länder ein riskantes Spiel gewesen wäre, besteht in der Umwelt prinzipieller Handels- und Zahlungsfreiheit keine Notwendigkeit, eine Zwischenlösung ähnlich der EZU zu wählen. Da die Ursachen des Bilateralismus in der nationalen Politik begründet sind, gilt für die OZU das gleiche wie seinerzeits für die EZU: "Entweder sind die Bedingungen für die allgemeine Konvertibilität der Währungen erfüllt, dann brauchen wir die Union nicht (...) - oder jene Bedingungen sind nicht erfüllt, dann kann die Union zu keinem befriedigenden anderen Ergebnis führen" (Röpke, 1951b, S. 290). Die Idee einer OZU ist - wie auch Kenen (1991, S. 142) bemerkt - eine Lösung auf der Suche nach einem Problem. c.

Stabilisierung durch Wechselkursanbindung? Die Lösung der monetären Stabilitätsbedingung muß unzweifelhaft durch die nationale Geld- und Finanzpolitik erfolgen. Es fragt sich aber, ob nicht von einer Wechselkursanbindung - also einem irgendwie fixierten Wechselkurs - eine Förderung des Vertrauens der In- und Ausländer in die Transformationspolitik erwartet werden kann8? Dabei interessieren vor allem folgende Effekte: (1) Dem festen Wechselkurs, als nominellem Anker, wird eine dämpfende Wirkung auf das innere Preisklima zugeschrieben, speziell im Hinblick auf eine erleichterte Kalkulationsgrundlage für alle grenzüberschreitenden Aktivitäten. Davon wird ein Ver8

Siehe z.B. Bofinger, 1991; Bomhoff, 1991; Deutsche Bank, 1991; Fröhlich, 1992; Greene

und Isard, 1991.

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trauensgewinn für die Währung, eine verbesserte Handlungsfähigkeit der inländischen Unternehmen und für ausländische Kapitalanleger erwartet. (2) Bei einer Kursfreigabe ist eine Abwertung der Währung des Transformationslandes wahrscheinlich. Die damit verbundene Verteuerung der Importprodukte kann - sofern eine Weitergabe der Preiseffekte möglich ist - zum Inflationsimport führen und so die innere Stabilisierungspolitik gefährden. (3) Die Zentralbank kann schließlich durch eine Wechselkursfixierung auf eine nachhaltige Stabilisierungspolitik festgelegt weiden. Boftnger (1991, 122 ff.) sieht für den TransformationsprozeB gerade hierin Vorteile im Vergleich zu einer Wahl von Geldmengen- oder Zinszielen. Zur Vermeidung von Abwertungen müßte die Währungsbehörde die monetären Bedingungen an den gewünschten Wechselkurs anpassen. Durch eine strenge makroökonomische Stabilisierungspolitik müßten die Ursachen eines Abwertungsdrucks korrigiert werden, um das Wechselkursziel zu verteidigen. Fixiert die Transformationspolitik den Wechselkurs als Ziel, geht davon - so das Argument - ein Disziplinierungsdruck auf die inländische Geld- und Finanzpolitik aus. Eine Politik, die bestimmte Warenangebote subventionieren und weiche Budgetbeschränkungen für die Betriebe beibehalten will, ist dann gegen den exogenen Druck des Wechselkursziels nicht länger durchzuhalten. Die der Wechselkursbindung zugeschriebenen Vertrauens- und Stabilisierungseffekte scheinen besondere Vorteile für den Transformationsprozeß zu bieten; sie lassen den Verzicht auf den Wechselkursmechanismus als das kleinere Übel im Übergang erscheinen. Dem sind aber folgende Argumente entgegenzuhalten: (1) Feste Wechselkurse begünstigen die Transformationspolitik nur dann, wenn sie den Knappheitsverhältnissen auf dem Devisenmarkt entsprechen. Die Bedingungen für die Kongruenz von festen und realistischen Kursen sind aber bekanntlich sehr anspruchsvoll. Lutz (193S) hat diese Bedingungen in klassischer Form als Spielregeln der Goldwährung beschrieben: Verzicht auf autonome Konjunkturpolitik und Protektionismus, Flexibilität der Preise nach oben und unten und internationales Vertrauen in die Währungsordnung. Alle diese Anforderungen bereiten besonders den Transformationsländern wegen ihrer von der Zentralverwaltungswirtschaft vorgezeichneten Ausgangsbedingungen große Schwierigkeiten. Die oben geschilderte anfängliche Grobmaschigkeit des Preissystems dürfte je nach dem Ausmaß fortbestehender staatlicher Preisregulierungen eine begrenzte allokative Lenkungskraft zur Folge haben - mit entsprechenden Konsequenzen für den Geldmengen-Preis-Mechanismus im Anpassungsprozeß. Auch die Erwartung, ein nomineller Anker könne Vertrauen bilden, ist mit einem grundsätzlichen Problem konfrontiert: Die Wechselkursbindung setzt dieses Vertrauen voraus; es läßt sich im Nachlauf gewiß gewinnen - allerdings nur durch eine erfolg-

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reiche Politik der Stabilisierung des Geldwerts. Dies setzt voraus, daß die übrigen Ziele der Wirtschaftspolitik, insbesondere das Beschäftigungsziel, damit nicht in Konflikt geraten bzw. daß dieser Konflikt zugunsten der Geldwertstabilität entschieden wird. (2) Selten beachtet werden bei der Diskussion um die Vertrauenseffekte einer Wechselkursbindung die möglichen Vertrauenseffekte von flexiblen Wechselkursen. Unterstellt wird, daß die Freigabe der Wechselkurse einen Vertrauensverlust in der Bevölkerung auslösen müßte. Dies ist aber keine notwendige Folge flexibler Wechselkurse. Für die Wechselkurse gilt, daß nicht einfach ihre Fixierung Vertrauen bei den Inund Ausländern schafft. Dies muß vielmehr die zugrundeliegende Wirtschaftspolitik leisten. Bei einer Bestimmung des Wechselkurses über freie Märkte können die Devisenpreise die Bevölkerung wie eine 'öffentliche Anschlagtafel1 (von Hayek) über die Entwicklung der außenwirtschaftlichen Komponente des Transformationsprozesses informieren. Verfolgt die Regierung eine geldwertbewußte Transformationspolitik, können die Inländer dies rasch an der Entwicklung des Außenwertes ihrer Währung erkennen. Bei einer Transformationspolitik, bei der der innere Geldwert nicht gehalten werden kann, droht eine fortgesetzte Abwertung. Schon die Angst hiervor kann heilsam wirken und eine Politik der Geldwertstabilisierung nahelegen. Flexible Wechselkurse können somit das Präventiwerhalten der Transformationspolitiker anreizen und damit helfen, die Kosten der Vertrauensgewinnung und -Sicherung zu senken. Bei einer frühzeitigen Wechselkursbindung besteht hingegen die Gefahr, daß aus dem Paritätsversprechen ein politischer Preis gemacht wird, der, um Wort zu halten, notfalls mit Hilfe von konvertibilitätsbeschränkenden staatlichen Eingriffen verteidigt wird. In solchen diskriminierenden Interventionen finden Interessengruppen und Bürokratien einen vorzüglichen Nährboden für protektionistische Maßnahmen und expansive Aufgabenaspirationen. (3) Weitere Probleme einer Wechselkursfixierung resultieren aus der Wahl des Wechselkursniveaus, aus der nicht selten eine Prestigefrage gemacht wird. Eine Überoder Unterbewertung ist bereits zum Zeitpunkt der Fixierung nur zufällig vermeidbar. Die Wahl eines überbewerteten Wechselkurses erfordert Interventionsreserven, die auf Dauer nicht verfügbar sein dürften. Bei einer Unterbewertung werden Reserven zuströmen, die über die außenwirtschaftliche Komponente der Geldbasis expansiv wirken und so die monetäre Stabilisierung erschweren. Da sich im Transformationspiozeß aber zugleich das gesamte Ordnungssystem im Umbruch befindet, werden aus diesem Vorgang selbst Kräfte auf den Devisenmarkt einwirken, die Änderungen des Wechselkurses erfordern, die sich im voraus nicht beziffern lassen (vgl. Weber und Wentzel, 1991). Obwohl die Zulassung des Wechselkursmechanismus insgesamt deutliche Vorzüge im Übergang zur Konvertibilität und für einen marktpreisgesteuerten Außenwirtschaftsverkehr aufweist, versuchen die meisten Länder, die Kurse irgendwie zu fixieren. Ein

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Grund hierfür kann darin bestehen, daß man von den unbestreitbaren Vorzügen fester Wechselkurse her denkt, ihre unbequemen Bedingungen aber einfach ignoriert. Dies gilt vor allem für die Unternehmen, die häufig eine (vermeintlich) sichere Kalkulationsgrundlage mehr schätzen als eine realistische Knappheitsanzeige. Auch im Bereich der Wirtschaftspolitik dürfte das Eigeninteresse von Regierungen und internationalen Organisationen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Emil Küng vermutete bereits 1959 (S. 848), daB sich "zahlreiche planwirtschaftlich eingestellte Regierungen (finden), die meist auf den Anschein stabiler Kurse großen Wert legen."

d.

Realistische Wechselkurse bei währungspolitischem Alleingang

Feste Wechselkurse, die gleichzeitig die Marktkräfte auf den Devisenmärkten realistisch widerspiegeln, sind immer beweglichen Wechselkursen vorzuziehen. Bereits Friedrich A. Lutz (1954), Gottfried von Haberler (1954) und Emil Küng (1959) haben aber darauf hingewiesen, daß es auf dem Weg zur Konvertibilität vorteilhaft sein kann, vorübergehend die Wechselkurse freizugeben. Die Analysen basieren auf der Betrachtung alternativer Systeme des Zahlungsbilanzausgleichs. Diese Erkenntnis wird häufig mißachtet, wenn Einschränkungen der Konvertibilität empfohlen werden. Es geht beim Zahlungsbilanzausgleich nicht um einen einfachen zahlungstechnischen Ausgleich von Devisenangebot und -nachfrage, sondern um einen marktmäßigen Vorgang der Wechselkursbildung. Die Instrumente der Devisenbewirtschaftung, die nur eine zahlungstechnische Zwangsanpassung ermöglichen, sind für eine knappheitsorientierte Zusammensetzung des Außenwirtschaftsverkehrs gänzlich ungeeignet (vgl. Meyer und Willgerodt, 1978). Devisenmarktinterventionen der Zentralbank sind hingegen nur kurzfristig geeignet, eine marktmäßige Wechselkursänderung zu verhindern. Damit verbleiben für den Übergang zur Konvertibilität nur zwei Systeme des Zahlungsbilanzausgleichs: Der Wechselkursmechanismus und die inneren Mechanismen bei festen Wechselkursen. Verzichtet ein Land durch Fixierung des Wechselkurses bewußt auf den Wirkungsbereich des äußeren Preismechanismus und strebt insgesamt einen preisgesteuerten Außenwirtschaftsverkehr an, verbleibt nur die Anpassung im Inneren. Sind die Preise zum Teil noch reguliert, so muß die Anpassungslast um so mehr von den Bereichen mit freien Preisen getragen werden. Dies dürften aber überwiegend die Sektoren sein, in denen die neuen privatwirtschaftlichen Aktivitäten zur Entfaltung kommen, die für den Erfolg der Transformationspolitik in besonderer Weise ausschlaggebend sind. Kann der Marktpreismechanismus den Anpassungsbedarf nicht vollständig übernehmen, muß schließlich ein Teil der Zahlungsbilanzanpassung durch den Einkommensmechanismus bewältigt werden. Die hierzu erforderliche höhere Flexibilität der Einkommen und Mobilität der Faktoren ist allerdings im Transformationsprozeß kaum

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zu erwarten. Die drohende Überforderung der inneren Systeme des Zahlungsbilanzausgleichs lassen dann den Rückfall in Konvertibilitätsbeschrinkungen befürchten. Für den Wechselkursmechanismus spricht daher die mögliche Arbeitsteilung zwischen den Mechanismen des Zahlungsbilanzausgleichs. Marktpreis- und Wechselkursmechanismus stehen teils in einer komplementären, teils in einer substitutiven Beziehung zueinander. Solange die inneren Mechanismen des Zahlungsbilanzausgleichs noch nicht hinreichend flexibel sind, kann der Wechselkursmechanismus die Anpassungsprozesse und die Wirtschaftspolitik im Verlauf der Transformation entlasten (vgl. Weber und Wentzel, 1991). Die substitutive Beziehung der Mechanismen bedeutet, daß die Fixierung der Wechselkurse nicht automatisch eine höhere Sicherheit der Kalkulationsgrundlage bietet. Zwar liegen hierbei die Transaktionskosten eines Währungstauschs niedriger. Bleibt die Ursache für einen Anpassungsbedarf im Inland aber erhalten, muß dieser über die Veränderung der Binnenpreise gedeckt werden. Die hierbei anfallenden Transaktionskosten dürften nicht minder breit über die Volkswirtschaft verstreut anfallen, insgesamt also auch nicht niedriger sein. Weil keine Veranlassung besteht zu vermuten, daß die gesamten Transaktionskosten bei festen Wechselkursen niedriger sind als bei flexiblen, läßt sich der Wunsch nach Wechselkursfixierungen nur mit einer asymmetrischen Wahrnehmung von Transaktionskosten erklären. Die Transaktionskosten, die bei Fixierung des Wechselkurses eingespart werden, können von jedem direkt erkannt werden, da Kurssicherungskosten und Umtauschverluste bei Währungskonversionen entfallen. Es ist aber schwieriger zu erkennen, daß der Preis- und Einkommensmechanismus des Zahlungsbilanzausgleichs bei festen Wechselkursen ebenfalls mit erheblichen Transaktionskosten einhergeht, die aus den Preis- und Einkommensunsicherheiten resultieren. Politisch mag es daher opportun erscheinen, Wechselkurse zu fixieren, selbst wenn damit tatsächlich höhere Transaktionskosten anfallen. Beachtet man die Vorteile der Nutzung des Wechselkursmechanismus zur Entlastung der inneren Mechanismen des Zahlungsbilanzausgleichs, muß man mit GrOner und Smeets (1991, S. 381) zu dem Ergebnis kommen: "Somit mögen flexible Wechselkurse politisch unbequem sein, ökonomisch stellen sie jedoch die günstigste Lösung auf dem Weg zur Marktwirtschaft dar" (GrOner und Smeets, 1991, S. 381). Wird der Wechselkurs freigegeben und auch die Konvertibilität für den kurzfristigen Kapitalverkehr zugelassen, unterwirft die Regierung ihre Transformationspolitik der Bewertung durch die In- und Ausländer. Die größere Transparenz für die Beurteilung von Integrationsfortschritten schwächt zwar politische Souveränitätsansprüche, stärkt dafür aber die ökonomische Souveränität des Bürgers. Er kann an den Wechselkursänderungen sowie der Richtung und dem Volumen des Kapitalverkehrs erkennen, wie der

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TransformationsprozeA in wichtigen Teilaspekten verläuft. Emil Küng (19S9, S. 848) hat das Für und Wider in der Wechselkursfrage prägnant zusammengefaßt: "Halten wir uns vor Augen, wie schwer es fällt, bei stabilen Wechselkursen zur Ausländerkonvertibilität fiberzugehen, so muB es eigentlich erstaunen, daß diese Wendung selbst in schwierigen Fällen so einfach ist, sobald man sich nicht mehr auf die Kursstabilität versteift. Und da doch unzweifelhaft die Freiheit des Zahlungsverkehrs einen höheren Wert darstellt als diese Stabilität, ist es um so unverständlicher, daß man so selten auf dem Wege über die flexiblen Wechselkurse zum Zustand des Multilateralismus zu gelangen versucht". Und gerade im Hinblick auf die Situation vieler Transformationsländer ist besonders relevant, "daß selbst die 'eingefleischten Defizitländer' in die Ordnungsform des Multilateralismus eingegliedert werden könnten, falls sie sich entschließen w&rden, unstabile Wechselkurse in Kauf zu nehmen und dafür die Freiheit des internationalen Zahlungsverkehrs einzutauschen" (Küng, 1959, S. 848). Problematisch ist ein währungspolitischer Alleingang mit flexiblen Wechselkursen insofern, als damit die Inanspruchnahme von öffentlich subventionierten Zahlungsbilanzkrediten des IWF schwieriger begründbar wird. Ohnehin haben die internationalen Finanzorganisationen Vorbehalte gegen flexible Wechselkurse, die nicht ohne Eigeninteressen zu erklären sein dürften (vgl. hierzu Vaubel, 1991). So vermittelt die Auflagenpolitik des IWF den Eindruck, daß dieser seine Aufgabe 'to promote exchange stability' eher zugunsten von stabilen Wechselkursen als für die Freiheit des Zahlungsverkehrs auslegt. Ähnlich wie der handelspolitische Alleingang zwar die Verhandlungsmacht gegenüber den protektionistisch geschützten Sektoren und Regionen der industrialisierten Staaten schwächt, senkt der währungspolitische Alleingang die Möglichkeiten, subventionierte Kredite zu erhalten. Dennoch bleibt festzuhalten: "Wer monetäre Disziplin, Marktwirtschaft mit effektiver Staatstätigkeit, den Rechtsstaat und eine klug dosierte Entwicklungsstrategie wählt, wird den Erfolg sehen, auch wenn ihn internationale Organe dafür diskriminieren" (Willgerodt, 1978, S. 252).

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•493-

Zum Spannungsverhältnis von Migration, Transformation und Integration1 Dirk Wentzel, Marburg

I. Transformation und Migrationsprobleme

494

1. Die Ausgangslage

494

2. Migration als 'exit*

496

3. ' Voice, revolution and roll back'

501

II. Migration und Integration III. Integrationshemmnisse

503 508

1. Allgemeine Integrationshemmnisse

508

2. Integrationshemmnisse auf westlicher Seite

509

3. Integrationshemmnisse auf östlicher Seite

510

IV. Ansatzpunkte zur Beseitigung von Integrationshemmnissen

511

Abbildungen: Tabelle 1: Tabelle 2:

Asylbewerberzugang aus den Staaten des ehemaligen RGW sowie aus Jugoslawien und Albanien

497

Aussiedler nach Herkunftsgruppen und Altersgebieten in die Bundesrepublik Deutschland

Abbildung 1: Beispiel für eine regionale Integration von A und B

498 505

Abbildung 2: Beispiel für eine erweiterte regionale Integration von AB/CD .... 507

1

Der Autor dankt Herrn Dr. Karl von Delhaes für kritische Kommentare und Hinweise.

•494-

I.

DiHc Wentzel

Transformation und Migrationsprobleme "Eine Weltwirtschaftsordnung, die diesen Namen verdient, kann sich auf Dauer nicht nur auf den Güter- und Währungsbereich erstrecken. Sie muß auch den Wanderungsproblemen Rechnung tragen." Christian Watrin (1991, S. 112)

1.

Die Ausgangsläge "Es wird dem Westen auf Dauer nicht gut gehen, wenn es dem Osten schlecht geht". Diese vieldeutige Aussage des ehemaligen Bundesaußenministers Genscher bedarf sowohl vom ökonomischen als auch vom politischen Standpunkt einer genaueren Erörterung. Vom Standpunkt der ökonomischen Theorie ist nach dem Zusammenhang zwischen dem Wohlstandsniveau des Westens und dem des Ostens zu fragen. Ein erstes methodologisches Problem ergibt sich, wenn man, von einem individualistischen Ansatz ausgehend, versucht, die Lebenslagen 'des Westens' und 'des Ostens' zu vergleichen. Der 'Westen' wie auch der 'Osten' setzt sich aus sehr heterogenen Ländern zusammen, deren Interessen vielschichtig und zum Teil auch in sich widersprüchlich sind. Hinzu kommt das Faktum, daß die Interessen, die ein Land in internationalen Verhandlungen vertritt, keineswegs deckungsgleich mit den ökonomischen Interessen der Bevölkerung in ihrer Mehrheit sein müssen. Als aktuelles Beispiel mag hier die Position Frankreichs in der Uruguay-Runde des GATT dienen. Als Ökonom würde man vermuten, daß Frankreich als außenwirtschaftlich eng verflochtenes Land an der Liberalisierung des Welthandels, damit auch an der handelspolitischen Öffnung gegenüber Osteuropa, interessiert sein müßte. Im politischen Prozeß haben sich jedoch die Partikularinteressen der Landwirtschaft zu Lasten der Wohlfahrt der übrigen Wirtschaft durchgesetzt. Dieses Beispiel führt uns zu einem Phänomen, welches wir in der Realität beinahe täglich feststellen können: Zumindest kurzfristig muß ökonomische und politische Rationalität keineswegs deckungsgleich sein. Die Frage nach möglichen Schnittmengen zwischen ökonomischer und politischer Ratio ist seit Jahren ein Kernpunkt der Diskussion über den einzuschlagenden Integrationspfad in Westeuropa; aber auch bei der Analyse des Transformationsprozesses in Osteuropa und der Möglichkeit, diesen Vorgang zu unterstützen, spielt dieser Gesichtspunkt eine entscheidende Rolle. Der Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs hat zu einer Vernetzung beider Problemstellungen geführt und zwingt den Ökonomen, bei der Reflexion über den europäischen Integrationsprozeß zusätzliche Gesichtspunkte, wie z.B. mögliche Faktorwanderungen zwischen Ost- und Westeuropa, in die Analyse mit aufzunehmen. Ausgehend von einem Verständnis von einer Weltwirtschaftsordnung, welche den freien Verkehr von Gütern und Dienstleistungen zwischen Ländern fördert, aber auch dem Wanderungsproblem Rechnung trägt (Watrin, 1991, S. 112), sind die Bedingungen eingehend zu untersuchen, die einer solchen Freizügigkeit im neu entste-

Migration, Transformation und Integration

•495-

henden Europa im Spannungsverhältnis von Transformation und Integration entgegenstehen. Die Nachfrage nach Protektionismus oder nach Freihandel in einem Land ist ebenso wie die Nachfrage nach Zuzugsbeschränkungen für ausländische Arbeitskräfte ein äußerst komplexer und schwer zu prognostizierender Prozeß im Spannungsfeld gegenläufiger Interessen. Das Phänomen, warum z.B. in Deutschland und in anderen europäischen Ländern trotz aller verbalen Bekenntnisse der wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsträger zum Freihandel ein relativ breiter Sockel an protektionistischen Maßnahmen offensichtlich reformresistent ist (Smeets, 1989; Schmieding, 1989), gewinnt durch das 'Hochziehen des Eisernen Vorhangs' eine neue Dimension. Das Problem des Euro-Protektionismus, an dessen perverse Auswüchse man sich im Laufe der Jahrzehnte doch schon fast gewöhnt hatte, muß vor dem Hintergrund der Transformationsbemühungen Osteuropas im Lichte der veränderten Rahmenbedingungen diskutiert werden. Die allumfassenden Umwälzungen in den ehemals hermetisch abgeriegelten Volkswirtschaften Osteuropas erschüttern die im Besitzstandsdenken erstarrte 'Festung Europa', denn es geht, um mit Prosi (1992) zu sprechen, bei der Transformation mit dem Übergang von der Zentralverwaltungswirtschaft zur Marktwirtschaft zugleich um die Sanierung und Modernisierung von völlig heruntergewirtschafteten sozialistischen Volkswirtschaften. Die Oder-Neiße-Grenze ist mit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs zu einer Art von 'europäischem Rio Grande' geworden. Dem begegnet Europa gerade in den Bereichen mit Handelsschranken, in denen Osteuropa potentiell wettbewerbsfähig sein könnte. So beklagt Balcerowicz (1992) zu Recht die Marktzutrittsschranken der EG und verweist auf die Tatsache, daß der EG-Protektionismus z.B. von den polnischen Bauern als Vorbild für die eigenen Forderungen nach Protektionismus betrachtet wird. Balcerowicz kommt zu der These, daß "die Kosten...(des EG-Protektionismus, d.V.)...weit höher sind als das, was an westlicher Finanzhilfe an die einzelnen Staaten in Osteuropa fließt" {Balcerowicz, 1992). Basierend auf Weltbankzahlen präzisiert Siebert (1992) das Ausmaß des Wohlstandsgefälles. So ist z.B. das Verhältnis der Pro-Kopf-Einkommen zwischen Westdeutschland und Polen 11:1 2 , das Pro-Kopf-Einkommen Ungarns entspricht ungefähr der Hälfte des griechischen Niveaus, das Pro-Kopf-Einkommen Polens liegt bei ca. 40vH des portugiesischen Niveaus (Siebert, 1992, S. 56, S. 67). Die Gefahren, die aus einem so tiefen Wohlstandsgraben entstehen können, lassen sich in Abwandlung von Hirschman (1970) formulieren: 'exit, voice and roll back'. 2

Westdeutschland: 20440 US-$; Polen: 1790 US-$ (Siebert, 1992, S. 67).

Dirk Wentzel

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Migration kann ab einer gewissen Quantität als exogener Schock3, ebenso wie ein plötzlicher 'run' auf eine Bank, das Gleichgewicht innerhalb eines Systems gefährden (Watrin, 1991, S. 117). Solche unvermuteten Angebots- oder Nachfrageschocks werden, neben anderen Faktoren, durch ein 'Umkippen' von Erwartungen verursacht. Die zu klärende Frage ist, wie die Länder der EG im Spannungsfeld zwischen Transformation und Integration dem Problem der eventuellen massenhaften Migration begegnen. Dieses Problem verschärft sich angesichts der Tatsache, daß die EG zwar eine gemeinsame Handelspolitik verfolgt, sich in Fragen der Einwanderungspolitik allerdings noch nicht einmal auf gemeinsame Grundsätze einigen kann. 2.

Migration als 'extt' "The liberal demands that every person have the right to live wherever he wants." Ludwig von Mises (zitiert nach Watrin, 1991, S. 101) Die Wanderung von Produktionsfaktoren zwischen Volkswirtschaften ist, wenn sie

ökonomischen Knappheitssignalen und entsprechenden Erwartungen folgt, ein für Marktwirtschaften systemlogischer und sogar wünschenswerter Effekt. Tiebout (1956) spricht in diesem Zusammenhang von 'voting with the feet', und er vermutet, daß ein Pare/o-optimaler Zustand dann erreicht ist, wenn alle Individuen dort leben, wo das von ihnen gewünschte Bündel an öffentlichen Gütern angeboten und von den Nachfragern finanziert4 wird. Im ökonomischen Sinne kann man Migration als 'spontane Integration' der Arbeitskräfte in ein schon bestehendes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem bezeichnen. Aus mikroökonomischer Sicht stellt die Migration eine rationale Verhaltensweise dar. Der Einzelne bietet seine Arbeit dort an, wo sich unter gegebenen Umständen der höchste Ertrag realisieren läßt. Flexibilität und Mobilität des Faktors Arbeit bezüglich der regionalen Verfügbarkeit gelten gemeinhin als positives Qualitätsmerkmal. Allerdings ist zu konstatieren, daß im Gegensatz zu Wanderungsbewegungen im vorigen Jahrhundert die westeuropäischen Arbeitsmärkte aufgrund vielfältiger Verzerrungen und Lohnrigiditäten Signale aussenden, die kaum mit der realen Situation an den Aibeitsmärkten kompatibel sind und die die mikroökonomische Kalkulation der 3

4

Einen Gedanken Olsons (1982) aufgreifend könnte allerdings der 'exogene Schock' durch die Entwicklungen im Osten durchaus positive Effekte auf die verkrusteten Protektionsstrukturen Westeuropas haben. Denn die de facto-öfüiung Osteuropas stellt eine derart einschneidende Veränderung der Außenwirtschaftsbeziehungen dar, daß ein Aufbrechen der rentensuchenden Verteilungskoalitionen, welches Olson (1982, S. 140) im Extremfall nur unter revolutionären Umständen für möglich hält, zumindest wahrscheinlicher geworden ist. Die Finanzierungsfrage ist allerdings hier von entscheidender Bedeutung (vgl. hierzu die Ausführungen von Watrin 1991, S. 114).

.497.

Migration, Transformation und Integration

Wanderungswilligen fehlleiten können. Auch aus makroökonomischer Sicht stellt der Zuwachs an Arbeitsangebot langfristig eine Stimulierung des Wachstums dar, außerdem gewinnt das Einwanderungsland Vielfalt (.Sieben, 1992, S. 68). Gerade in Volkswirtschaften, in denen die Mortalität die Natalität übersteigt, ist eine gemäßigte Zuwanderung von Arbeitskräften wünschenswert und zur Erhaltung der nach dem Generationenvertrag konstruierten Sozialeinrichtungen notwendig9. Aber, um Paracelsus zu bemühen: "Es ist kein Gift außer in der Dosis". Das Problem der Migration liegt in der Zeitdimension, in der Quantität6, in der Qualität und darüber hinaus in der ungelösten Frage der Nutzung und Finanzierung von öffentlichen Gütern und Sozialleistungen. Einige Zahlen mögen dies verdeutlichen: Tabelle 1:

Asylbewerberzugang aus den Staaten des ehemaligen RGW sowie aus Jugoslawien und Albanien 1992 Herkunftsland 1990 1991 Bulgarien 8341 31540 12056 Polen 4212 9155 3448 Rumänien1 40504 103787 35345 2337 UdSSR 5690 10833 CSFR 2682 781 1546 Ungarn 439 396 1028 Estland 256 3 Lettland 36 493 Litauen 17 370 Summe 1 Albanien Jugoslawien Kroatien Slowenien Bosnien

56398

63696

155201

1032 22114

4227 74854

5957 115395 1024 50 6197

-

-

-

-

-

-

Summe 2

23146

79081

128623

Summe 1+2

79544

158162

283824

1 Bei den Zuwanderen aus Rumänien ist eine besonders hohe Zahl an Sinti und Roma festzustellen. Für diese Volksgruppen wird auch eine gelungene Transformation im Inland die Wanderungsmotive nur bedingt beeinflussen.

Quelle: Bundesministerium des Innern auf Anfrage des Verfassers. 5

6

Demoskopische Untersuchungen unterstreichen diesen Aspekt. Für Deutschland wird z.B. bis zum Jahr 2025 eine ca. zehnprozentige Schrumpfung der Bevölkerung bei verstärktem Anstieg des Durchschnittsalters prognostiziert (Statistisches Jahrbuch für das Ausland 1992, S. 218). Hier dringt sich die Parallele zur Bargeldnachfirage in einer Geschäftsbank auf: Wenn ein kontinuierlicher Anstieg der Geldnachfrage gegeben ist, dann kann die Bank diesem Effekt durch erhöhte Eigennachfrage nach Zentralbankgeld und durch Verteuerung des Geldangebots Rechnung tragen. Drängt sich jedoch die Bargeldnachfrage auf einen kurzen Zeitraum zusammen (sog. 'ran'), dann muß die Bank geschlossen werden.

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Dirk Wentzel

Tabelle 2:

Aussiedler nach Herkunftsgruppen und Altersgebieten in die Bundesrepublik Deutschland

g

> m esves«* ttoo < 5 j m r-Ci — CS-^C»> 0\0\ fl CS cs * cs^r-OO o— i-i oocso> < o »««Nnoopio-" fl ^ Tt M ^ tt ui«no cö W r~ o tr — ~ oo r-' •«(•' — esm —• \©** E« o cj — "»«oovr-r-oo-a- r» oo — i om Ä vtnq« Ö oöoöoö «cics»-" «O ooo\ cs §1 veso nr^Novn (5 1 es co© — s !C ?N O O o\ m 00 CS vo _ . _ oohinoomci o\ ? noo^ — o\ oo v> ces o> or> r—— es oo cn — oo P»'— rt r-' f-' T f es — a •» c erj « 1 0 o o o > « < r > © inninNON»« I sSl om m o oocso— r- o— -hoooooo nc» a\ o ««? t s s Sin es' t~ oo es"«sgi* •B e, £}.3 rfS o¡pesv o esc> tp~ominoo m oo co vo — v>» S• e t-es- ! Sco c«i w; t- 5 P -C es V ci od es' I i i s S5 i ' 3 » oeso — in o«— o < oO oOo— cs o^o 0cs t-A S> ?!o\>335~5!es < 0 — • gIOB 8 * — o o O vlnO OC Ml g| ä »ION O N t ^ n — fftoo CS moiS tj- rt oo es \D es vi:3 -O — cs — u. ec «S m •s ^ J gs I •1S 1=5 s -S 3 «fI I f. S. 8s aÜ § to o §,•2 e c = e •s c ~ off-S • yS o oo "i) ""> 13 u 5J , i i i s s l s ü jj-f&SäS'g §S-r 3 < 3Cicoommir ^ — CS •Ö 'S o-

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Migration, Transformation und Integration

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Die massenhafte Wanderung von Arbeitskräften in einem sehr kurzen Zeitraum stellt in vielerlei Hinsicht sowohl für das Einwanderungs- als auch für das Auswanderungsland ein Problem dar. Dem Auswanderungsland gehen in der Regel die jungen und mobilen Arbeitnehmer verloren, die sich von einem Ortswechsel materielle Verbesserungsmöglichkeiten versprechen. Allerdings kann kurzfristig im Abwanderungsland der positive Effekt auftreten, daß sich die Arbeitslosenquote verringert und damit das soziale Netz entlastet wird, was letztlich einer passiven Sanierung gleichkommt. Im Einwanderungsland sind diese Effekte spiegelbildlich zu betrachten. Der Zustrom kann zur Überlastung der öffentlichen Infrastruktur führen (Siebert, 1992, S. 68) und damit auch den sozialen Frieden gefährden. Dies ist insbesondere dann zu erwarten, wenn die Zuwanderer sofortigen Zugriff auf Sozialleistungen haben, zu deren Bereitstellung sie keinen Finanzierungsbeitrag geleistet haben. Bei zunehmendem Anteil von Nichtzahlem an der Nutzung des sozialen Netzes können die Grenzen der Finanzierbarkeit sehr rasch erreicht sein. Hinzu kommt, daß die durch die Einwanderer induzierte Nachfrage in einigen Sektoren der Volkswirtschaft auf ein sehr unelastisches Angebot trifft, was z.B. im Bereich der Wohnungswirtschaft zu steigenden Mieten und exorbitantem Mangel an Wohnraum im unteren Preisbereich führt. Von Gewerkschaftsseite wird zudem auf die mit dem unkontrollierten Zustrom von 'Billiganbietern' von Arbeit einhergehende Ausweitung der Schwarzarbeit hingewiesen, welche wiederum zu finanziellen Einbußen bei den ohnehin stark belasteten Sozialversicherungsträgern führt7. Bei der Zuwanderung und ihren Effekten empfiehlt es sich, aus der Sicht des Einwanderungslandes nach verschiedenen Wanderungstypen zu differenzieren: Typ I - Asylanten (im Sinne des Artikels 16 Grundgesetz): Hierbei handelt es sich um politisch Verfolgte und Kriegsflüchtlinge, die in erster Linie im Zufluchtsland Schutz suchen. Maßgeblich ist hier die Verfassung des Einwanderungslandes, die aus karitativen, humanitären, historischen und politischen Motiven die Zuwanderung legitimiert. Typ II - Flüchtlinge, die in erster Linie aus wirtschaftlichen Motiven zuwandern: Diese Menschen verlassen ihre Heimat, weil sie den wirtschaftlichen Unsicherheiten im Übergangsprozeß entgehen wollen. Sie tauschen unzureichende Lebensbedingungen und eine unsichere Zukunft im Heimatland gegen günstigere Einkommenserwartungen im Zuwanderungsland, und sei es nur die soziale Unterstützung. Typ III - Arbitrageure: Hierbei handelt es sich um Menschen, die über eine hinreichend gute Qualifikation verfügen, welche es ihnen grundsätzlich ermöglichen würde, in ihrem Heimatland im Verlauf des Übergangs in den Arbeitsprozeß inte7

Die Bundesanstalt für Arbeit schätzt die Zahl der illegalen Schwarzarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland auf ca. 600000. Hierbei dominieren Arbeitskräfte aus Osteuropa.

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griert zu werden; sie emigrieren in erster Linie aufgrund von Lohndifferenzen. Zu dieser Gruppe sind auch Pendler und kurzfristige Arbeitsanbieter zu zählen. Typ IV - Spezialisten: Menschen, die im ökonomischen Sinne hoch qualifiziert sind und die vom Einwanderungsland aufgrund ihres Expertenwissens abgeworben8 werden. Dies kann für das Auswanderungsland problematisch werden, wenn die freigewordenen Stell«) vakant bleiben. Vor dem Hintergrund der Typisierung ist es schwierig, das Wanderungspotential im TransformationsprozeB abzuschätzen, weil der wirtschaftliche Umbruch meist auch von politischen Neuordnungen und zum Teil von territorialen Auseinandersetzungen begleitet ist. Doch lassen sich aus dem Zahlenmaterial und den voranstehenden Ausführungen zwei Hypothesen formulieren: Hypothese I : Der Auswanderungsdruck in einem Land ist negativ mit dem Erfolg der Transformation bzw. den Erwartungen der Wirtschaftssubjekte bezüglich der Erfolgswahrscheinlichkeit der Transformation korreliert. Die Länder, die gemeinhin als Vorreiter der Transformation gelten, also Polen, die CSFR und Ungarn, haben einen vergleichsweise geringeren Bevölkerungsabgang zu verzeichnen. Die Länder hingegen, die noch sehr stark im alten System verfangen sind, erleben einen Massenexodus9. Hypothese 2: Bei trendmäßiger Fortschreibung der Zuwanderungszahlen können die Aufnahmeländer sehr schnell an ihre finanziellen und sozialen Kapazitätsgrenzen stoßen. Die Massenmigration (insbesondere von Typ I und II) kann in den Einwanderungsländern zu einer Gefahr für die Sozialordnung werden, die dann in ihrer Funktion als regulierender Schutzring um die konstitutiven Elemente der Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs verfälscht und in ihrer Leistungsfähigkeit behindert wird. Die Einkommensunterschiede zwischen den Marktwirtschaften und den Transformationsökonomien werden sich zumindest in der Anfangsphase der Transformation kaum verringern, wahrscheinlich sogar noch vergrößern (von Delhaes und Fehl, 1991, S. 445 ff.). Siebert (1992, S. 56) spricht in diesem Zusammenhang von der J-Kurve des 'Outputs'. Geht man davon aus, daß die meisten Länder die Talsohle beim Rückgang der Produktion noch nicht durchschritten haben, so würde dies, unter Berücksichtigung von Hypothese 1, bei gegebener Aufnahmebereitschaft der Einwanderungsländer zu einer tendenziellen Zunahme des Wanderungspotentials führen 10 . Welche Auswirkungen 8 9

10

Man spricht in diesem Zusammenhang von einem sog. 'brain drain'. Mit Vorsicht zu behandeln sind in diesem Zusammenhang die Aussiedlerzahlen, die ein speziell deutsches Problem darstellen. Vergleichbar ist wahrscheinlich nur die Auswanderung sowjetischer Juden nach Israel. Allerdings ist festzustellen, daß generelle Einkommensunterschiede allein noch keine notwendige Bedingung für Wanderung sind. Zwischen Portugal und Deutschland besteht ein Unterschied im Pro-Kopf-Einkommen von ca. 1 : 6, und dennoch ist keine ungezügelte Wanderungsbewegung in einer Richtung festzustellen.

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eine solche 'Androhung' der Massenmigration haben kann, mag ein Rückblick auf die jüngere deutsche Geschichte dokumentieren. Mit dem Slogan "Kommt die DM, bleiben wir; kommt sie nicht, gehen wir zu ihr" forcierten Hunderttausende 1989 auf den Montagsdemonstrationen durch die Androhung der Migration in den Westen den Niedergang der DDR und zwangen die westdeutsche Politik zur Wirtschafts- und Währungsunion. Trotz ihrer Einmaligkeit sollte diese Erfahrung den Ökonomen veranlassen, bei der Reflexion über die zukünftige Wirtschaftspolitik gegenüber Osteuropa das Argument der Massenmigration in die Analyse mit aufzunehmen11. Wenn es denn das Interesse des Westens ist, eben jene massenhafte Migration zu verhindern, dann müssen die wirtschaftspolitischen Maßnahmen konkret auf eine Förderung der Transformation und auf eine Steigerung der Erfolgswahrscheinlichkeit gerichtet sein. 3.

'Voke, revolution and roll back' Hirschman untersuchte als erster systematisch den Zusammenhang zwischen Abwan-

derung ('exit') und Widerspruch ('voice') 12 . Dabei stellte er fest, daB zwischen beiden Handlungsoptionen sowohl alternative als auch komplementäre Beziehungen bestehen: "...(es) wird jedoch sofort deutlich, daß die Entscheidung, ob abgewandert wird, häufig je nach den Erfolgschancen des Widerspruchs getroffen wird" (Hirschman, 1974, S. 25). Wenn wir Widerspruch als die Möglichkeit zum konstruktiven Diskurs über das gewünschte Angebot an öffentlichen Gütern interpretieren, dann gelangen wir sehr schnell zu den politischen Rahmenbedingungen, welche im Transformationsprozeß geschaffen werden müssen. Die Entwicklung des 'konstitutionellen Minimums an Ordnung' (vgl. Schüller und Weber, in diesem Band) wirkt auch und gerade für den wirtschaftlichen Prozeß fördernd, weil der Zuwachs an innerer und äußerer Stabilität die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte verstetigt und ihnen die 'Friedensdividende' des Buchananschen Gesellschaftsvertrages (ßuchanan, 1974) sichert. Die Entwicklung in Jugoslawien und in der ehemaligen UdSSR verdeutlicht, daß eben nicht mit dem Verschwinden des Sozialismus sofort Demokratie und damit die politische Rahmenbedingung für den konstruktiven Diskurs über den post-sozialistischen Gesellschaftsvertrag herrscht. Die Auseinandersetzung über die künftige Struktur der Gesellschaft wird im ehemaligen Jugoslawien mit Waffengewalt geführt. Ein solcher Rückfall in den HobbesscYten Urzustand kann nicht im Interesse der EG sein, da 11

12

Dies formuliert z.B. auch der polnische Staatspräsident Walesa in einem Interview mit dem Spiegel (Nr. 4/1992, S. 136 - 139): "Wir werden diese Menschen nicht aufhalten, dazu sind wir gar nicht in der Lage. Wir werden ihnen ein Ehrenspalier aufstellen und sie zu Ihnen (nach Deutschland, d.V.) schicken. Haben wir eine andere Lösung?" Das Original von Albert O. Hirschman erschien 1970 unter dem Titel 'Exit, Voice and Loyalty'. Wir arbeiten hier mit der deutschen Ausgabe von 1974, die unter dem Titel 'Abwanderung und Widerspruch' erschien.

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- über den "alternativen Wirkungszusammenhang" (Hirschman, 1974, S. 30 ff.) zwischen Abwanderung und Widerspruch das Migrationspotential erhöht wird, - die direkten Handelsbeziehungen zerstört werden, - indirekte Handelswege gestört werden und - die EG aller Wahrscheinlichkeit nach teilweise die Kriegsfolgekosten (Wideraufbaukosten) mittragen muß. Es ist jedoch keineswegs zwingend, daß der Widerspruch gegen die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft zu politischen Verwerfungen führen muß, wie wir sie derzeit auf dem Balkan erleben. Dies ist nur dann zu erwarten, wenn der Dialog über die konstitutionellen Rahmenbedingungen zu einer 'minimum winning coalition' führt, die von der Mehrheit zu einer rücksichtslosen Diskriminierung der Minderheit ausgenutzt wird. Im Extremfall kann der Minderheit folglich nur die Möglichkeit zur Auswanderung oder zur Revolution bleiben. Der revolutions-theoretische Ansatz von Tullock (1974) zeigt jedoch recht deutlich, daß bestimmte Grenzwerte überschritten sein müssen, bis es zu Revolution und Bürgerkrieg kommt. Der Diskurs über den post-sozialistischen Gesellschaftsvertrag ist prinzipiell offen, sowohl in den Umgangsformen als auch im Ergebnis. Wenn z.B. in Litauen die Kommunistische Partei als Sieger aus demokratischen Wahlen hervorgeht, dann mögen dies diejenigen begrüßen, die sich vom alten Regime mehr Vorteile versprechen. Die Erfolgsaussichten für das Gelingen der Transformation werden jedoch, trotz aller verbalen Bekundungen zur Reformwilligkeit, sehr gering einzuschätzen sein, so daß auch ein Teil deijenigen, die für die Kommunistische Partei votiert haben, eventuell auf die Option 'exit' setzen werden. Ein Rückfall in dirigistische Steuerungsgewohnheiten, zu denen die zentralverwaltungswirtschaftliche Lenkungstechnik gehört, wird nicht geeignet sein, das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West zu verringern und damit den Migrationsanreiz zu mildern. Zum gleichen Ergebnis gelangt auch Olson in einer Studie über Migration und die Gründe des Reichtums von Nationen: "Damit ist der Schluß erlaubt, daß die Institutionen und die ordnungspolitischen Regelungen in einem Land wahrscheinlich die Hauptdeterminanten für die Höhe des Pro-Kopf-Einkommens bilden" (Olson, 1991, S. 72). Ebenso scheint im Falle eines 'roll back' in die Zentralverwaltungswirtschaft das 'klassische Olson-Argument' für Wirtschaftswachstum, nämlich die Entmachtung von rentensuchenden Verteilungskoalitionen, nicht gegeben zu sein. Aufgrund der kurzen Bemerkungen lassen sich weitere Hypothesen formulieren: Hypothese 3: Der Erfolg der Transformation ist im direkten Interesse der Länder Westeuropas. Sowohl eine massenhafte Migration ('exit'), bürgerkriegsähnliche Zustände als auch ein Rückfall in die Zentralverwaltungswirtschaft ('roll back') wider-

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sprechen den ökonomischen und politischen Interessen Westeuropas. Hypothese 4: Aufgrund der strukturellen Veränderungen der Problemlage durch die Umwälzungen in Osteuropa sind die EG-Länder auch und gerade in ihrem eigenen Interesse gut beraten, ihre Protektionspraktiken gegenüber den Ländern Osteurops rasch aufzugeben. Zusámmenfassend könnte die Problematik auf den Kernsatz komprimiert werden: Entweder das Kapital geht zur Arbeit, oder die Arbeit kommt zum Kapital13. Dies mag bei gegebener marktwirtschaftlicher Grundordnung die Konsequenz eines rationalen mikroökonomischen Kalküls sein. II.

Migration und Integration Aus liberaler Sicht gibt es Gründe, die es den Westeuropäern erlauben, den unkontrollierten Zugang von ausländischen Arbeitskräften einzuschränken. Wenn man, der ökonomischen Theorie der Verfassung folgend, einen Staat als den freiwilligen Zusammenschluß von Individuen im Sinne eines N-Personenvertrages interpretiert, die sich auf ein bestimmtes Angebot an öffentlichen Gütern geeinigt haben und die dementsprechend auch zur Finanzierung dieses Güterbündels bereit sind, dann läßt sich durchaus das Recht der Individuen ableiten, den Zugriff von außenstehenden 'Nichtzahlern' durch Wanderungshemmnisse zu begrenzen. Die Theorie der Clubs kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Allerdings muß man, einem Argument Watrins (1991, S. 111) folgend, beachten, daß zwischen der Integration von Volkswirtschaften durch freien Handel und Kapitalverkehr auf der einen Seite sowie Migration im Sinne von Arbeitskräftemobilität auf der anderen Seite ein, wenngleich unvollständiges, Substitutionsverhältnis besteht. Die Gewährung von freiem Handel kann Wanderungshemmnisse teilweise kompensieren. Die Kumulation von beiden Faktorbeschränkungen, also von Protektionismus im Handelsbereich und von Wanderungshemmnissen bei den Arbeitskräften, ist jedoch ökonomisch schädlich sowie moralisch verwerflich (Watrin, 1991, S. 112). Wenn also aus ökonomischen Argumenten und aus politischen Notwendigkeiten eine unbegrenzte 'spontane Integration' der Arbeitskräfte durch 'voting with the feet' verhindert werden soll, dann sind die Bedingungen genau zu prüfen, die eine kontrollierte Integration der Volkswirtschaften fördern und die über eine Steigerung des Wohlstandes sowie über die Stabilisierung der politischen Rahmenbedingungen im Osten den Migrationsanreiz für die Osteuropäer vermindern. An dieser Stelle wird deutlich, daß das Problem der Migration direkt in das Problem der europäischen Integration übergeht. 13

Ähnlichformuliertes auch Straubhaar (1992, S. 563): "Maschinen zu den Menschen statt Menschen zu den Maschinen".

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Ein historischer Rückblick zeigt, daß die ökonomische und politische Integration ebenso wie die Zuwanderung von Arbeitskräften14 entscheidende Wachstumsfaktoren für Regionen sein können. Die Entwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert ist ein Beispiel. 300 selbständige Staatsgebiete, als Folge des Westfälischen Friedens entstanden, wurden zu einem politischen und wirtschaftlichen Raum zusammengefugt (Nipperdey, 1993, S. 358 ff.). Man schätzt, daß im Jahre 1780 in Deutschland etwa 1800 Zollgrenzen bestanden. Erst mit der Gründung des Deutschen Zollvereins 1834 wurden diese Handelsschranken schrittweise abgebaut. Mit der Reichsgründung 1871 war Deutschland ein gemeinsamer Wirtschaftsraum ohne tarifare Handelsschranken. 1871 wurde auch die Münzvielfalt beseitigt. Nicht nur aus historischem Interesse bemerkenswert ist die Rolle Preußens im Prozeß der Entstehung des Zollvereins. Die neben Österreich stärkste ökonomische und politische Macht in Deutschland zwang die deutschen Kleinstaaten durch ein beherztes Voranschreiten zum Nachziehen in der Zollpolitik und war damit der entscheidende Motor im deutschen Integrationsprozeß des 19. Jahrhunderts. Die Rolle Preußens könnte man im Lichte dieser historischen Erfahrungen durchaus als Indiz für die 'Hegemon-Theorie' (Voigt, 1992, S. 61 ff.) betrachten. Olson (1982, S. 120 ff.) analysiert den deutschen Integrationsprozeß und vergleicht ihn mit der Entwicklung in den USA. Dabei kommt er zu dem bemerkenswerten Ergebnis, daß nicht der Zollverein, sondern die Reichsgründung die entscheidende Determinante für die einsetzende Dynamik des Wirtschaftswachstums gewesen sei, ebenso wie in den USA die Verabschiedung der Verfassung wichtiger gewesen sei als die Zollunion zwischen den einzelnen Bundesstaaten. Olson spricht in diesem Zusammenhang von "jurisdictional integration" (Olson, 1982, S. 121). Dies bedeutet letztlich: Die Schaffung eines Rechtsrahmens im Sinne einer Zivilrechtsgesellschaft ist, wie auch Böhm (1966) feststellt, der grundlegende strategische Ansatzpunkt für Integrationsmaßnahmen. Ein zweiter Ansatzpunkt für Integration ist das Preissystem. Ein Integrationsprozeß ist ein Verfahren, das Preissystem eines Landes A mit dem eines Landes oder Wirtschaftsraumes B zu verknüpfen. Eine optimale Integration ist ein Zustand, bei dem die Preissysteme von A und B zu einem gemeinsamen Preissystem verschmolzen sind, die Allokation der Produktionsfaktoren zwischen A und B also ausschließlich aufgrund von Knappheitssignalen erfolgt. Bei Fortbestehen von nationalstaatlichen Grenzen wäre demnach der Freihandel als optimale Integration zu interpretieren. Mögen wir von diesem Idealfall in der Realität auch noch weit entfernt sein, so ist das Postulat vom Freihandel als der Pareto-opümalen Integration, als der 'first best'-Lösung, dennoch 14

Als Musterbeispiel für die positiven Effekte der Zuwanderung sei hier auf die Entwicklung in den USA hingewiesen.

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zweckmäßig, um eine Orientierung für die Analyse des 'second best' zu haben. Der Integrationsprozeß, verstanden als 'Brückenschlag' zwischen den Preissystemen von A und B (siehe Abbildung 1), kann durch verschiedene institutionelle Arrangements abgesichert werden. Die Brücke wird erweitert, bis im Endzustand ein gemeinsames Preissystem existiert. Abbildung 1:

Beispiel für eine regionale Integration von A und B

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Das Argument Olsom von der "jurisdictional integration"15 aufgreifend, ist die Erhöhung der Handelsintensität als Folge der Integration nicht unbedingt der entscheidende Wachstums- und wohlstandsfördernde Effekt. Vielmehr sieht Olson in dem integrationsbedingten Aufbrechen von Monopolstrukturen innerhalb eines Landes einen entscheidenden Ansatzpunkt zur Erklärung wirtschaftlicher Prosperität als Folge einer Integration zwischen A und B. In diesem Sinne sind also alle Integrationsmaßnahmen dahingehend zu untersuchen, ob sie geeignet sind, im Integrationsraum die Handelsintensität und die Wettbewerbsintensität zu erhöhen und damit zur Pare/o-Verbesserung der Gesamtwohlfahrt beizutragen. Über das Wettbewerbsargument gelangen wir demnach auch zu einem gemeinsamen Kern von Transformation und Integration; denn der 'Import' von Wettbewerb und Knappheitspreisen gilt als eines der zentralen Argumente für die forcierte außenwirtschaftliche Öffnung der Transformationsökonomien (Schüller und Wentzel, 1992). Eine grafische Illustration (Abbildung 2) mag geeignet erscheinen, diese grundlegenden strukturellen Bemerkungen nochmals zu verdeutlichen: Die regionale Integration zwischen Land A und B ist dann vorteilhaft, wenn die Wohlfahrtsgewinne durch Handels- und Wettbewerbsintensivierung ausschlußbedingte Wohlfahrtsverluste durch gesunkenen Handel mit Land C überkompensieren. Internationaler Handel ist kein Nullsummenspiel; Land C kann bei Wohlfahrtsverlusten entschädigt werden im Sinne des Xotor-ff/cto-Kompensationskriteriums, und es verbleibt noch immer ein Gewinn für A und B. Das Problem liegt in der Verhandlungsmacht von A und B, die sie zur Diskriminierung von C einsetzen können. In der Realität ist dies keine unplausible Annahme, wenn man sich z.B. das Verhalten von regionalen Integrationsblöcken gegenüber Drittländern oder kleineren Integrationsblöcken anschaut: - Das Verhalten der EG-Länder im Agrarbereich gegenüber den Entwicklungsländern muß in diesem Sinne interpretiert werden (Willgerodt, 1992, S. 105). - Das Verhalten der EG-Länder gegenüber den Ländern Osteuropas in den 'sensiblen Bereichen der EG' ist ebenfalls in diesem Sinne zu interpretieren (Balcerowicz, 1992). - Das Verhalten der EG-Länder gegenüber den USA, z.B. im 'Spaghettikrieg' zeigt, daß Protektionsverhalten offensichtlich nicht unabhängig von der 'countervailing power' der Gegenpartei ist. Wenn das Land C (hier die USA) sich wirksam zur Wehr setzen kann und auch über ein entsprechendes Drohpotential verfügt, dann kann der Integrationsblock AB zu gemäßigtem Protektionsverhalten veranlaßt werden.

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Olson (1982), insbesondere Kapitel 5: Jurisdictional Integration and Foreign Trade (S. 118-145).

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Abbildung 2:

Beispiel für eine erweiterte regionale Integration von AB/CD

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Aus diesen grundsätzlichen Überlegungen folgt, daß die regionale Integration von A und B gemäß dem Parg/o-Kriterium sinnvoll ist, wenn A und B Vorteile aus der Integration ziehen und Land C gleichzeitig nicht schlechter gestellt bzw. für seine möglichen Nachteile kompensiert wird. Doch gerade diese zweite Bedingung wird im verteilungsorientierten politischen Prozeß (Krüsselberg, 1991) nur zu selten erfüllt sein. Für Land C bestehen demnach zwei grundsätzliche Probleme: - C kann durch den Integrationsblock AB diskriminiert werden. - C muß sich, wenn es dem Integrationsblock AB beitreten will, den Regeln des schon bestehenden Integrationsblockes unterwerfen. Es kann demnach sinnvoll sein, wenn Land C sich einen Partner D sucht, mit diesem eine Integration vollzieht und dann, über entsprechende Verhandlungsmacht und Drohpotential verfügend, eine erweiterte regionale Integration AB/CD anstrebt. Diese Argumentation mag, von normativen Aspekten abstrahierend, eine positive Erklärung für den weltweit zu beobachtenden Regionalismus bieten. III. 1.

Integrationshemmnisse Allgemeine Integrationshemmnisse

In Anlehnung an das Grundverständnis von Integration kann man, bei gegebener Ordnung, als Integrationshemmnisse all die Tatbestände ansehen, die ein Verschmelzen der Preissysteme zweier Länder be- und verhindern. Hier sind in erster Linie zu nennen: - Unterschiedliche Werte und Normen bei der Gestaltung nationaler Wirtschaftspolitik: Freiheit und/oder ausgleichende Distributionsgerechtigkeit (Krüsselberg, 1991). - Nationale Verteilungskoalitionen mit dem Ziel der Ausschaltung von internationalem Wettbewerb zur Sicherung von Einkommens- und Vermögenspositionen (Olson, 1982). Die Reduzierung auf diese beiden Kernpunkte mag auf den ersten Eindruck stark simplifizierend erscheinen. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, daß sich fast alle Integrationshemmnisse auf die oben genannten Tatbestände reduzieren lassen. Willgerodt z.B. setzt sich mit dem von EG-Bürokraten häufig genannten Argument der 'unterschiedlichen Entwicklungsstadien' auseinander, die angeblich eine Integration Osteuropas in die EG verhindern, weil die Länder Osteuropas 'noch nicht reif seien. Dieses Argument sei jedoch "mit dem Hinweis auf die seit 200 Jahren unwiderlegte Theorie der komparativen Kosten und die Vorteile der Arbeitsteilung" (Willgerodt, 1992, S. 104 ff.) leicht zurückzuweisen. Die These von der Armut als handelspolitisches Integrationshindernis hält demnach einer tiefergehenden Analyse nicht stand.

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2.

Integrationshemmnisse auf westlicher Seite Werte und Normen sind letztlich die Grundvoraussetzung für die "jurisdictional integration" im Sinne von Olson. Auf westlicher Seite ist in zunehmendem Maße eine Dominanz der distributiven Normen über das Postulat der Freiheit zu konstatieren. Im Wohlfahrtsstaat moderner Prägung, der quasi jedes materielle Bedürfnis befriedigen will, gewinnt die Sicherung des Einkommens einen Vorrang vor der Erschließung neuer Einkommensquellen. Die mit der Wirkung des Markt-Preis-Mechanismus verbundenen Einkommensveränderungen empfinden viele Menschen als unzumutbar. Sie versuchen deshalb im politischen Prozeß in erster Linie mehr Einkommensicherheit auszuhandeln. Aus diesem Wirkungszusammenhang erklärt sich die Existenz von starken Interessengruppen (z.B. Agrarlobby, Staatsbedienstetenlobby, Bergbau und Montanbereich), denen es in geradezu klassischer Weise gelingt, nicht-marktliche Einkommen Ober Mindestpreise und -löhne sowie staatliche Subventionen zu erlangen16. Die Öffnung dieser wohlfahrtsstaatlichen Anspruchsgrundlage nach dem Prinzip 'to whom it may concern' erklärt zugleich, warum entsprechende Länder eine besondere Anziehungskraft auf die Wanderungstypen I und II ausüben. Zugleich aber bedürfen solche nationalen Ordnungsbedingungen der Absicherung gegenüber der internationalen Konkurrenz, weshalb die EG im Rahmen der gemeinsamen Handelspolitik über ein umfangreiches und ausgefeiltes Protektionsinstrumentarium verfügt. Für die Transformationsökonomien dürfte dabei problematisch sein, daß die Koalition der 'armen Länder' in der EG der Zwölf nicht bereit ist, auf finanzielle Zuwendungen17 aus dem Gemeinschaftstopf zugunsten Osteuropas zu verzichten18. Gerade im internationalen politischen Prozeß ist ein Zurück hinter einmal gewährte Subventionsstandards nur schwer zu bewerkstelligen. Dies wird aber, ein Argument Straubhaan (1992, S. 569 ff.) aufgreifend, die notwendige Angleichung der Faktorund Güterpreise verhindern und damit den Migrationsanreiz konservieren. Von besonderer Problematik für die Transformationsökonomien wird die geplante Bildung einer Wirtschafts- und Währungsunion der EG der Zwölf sein, da sie in besonderem Maße im Verdacht steht, Ausschlußeffekte herbeizuführen. Die Konvergenzkriterien, die im Vertrag von Maastricht ausgehandelt wurden, sind selbst in ihrer schwa16

17 18

Es sei an dieser Stelle auf das 'prophetische' Werk von Hayeks 'The Road to Seifdom' hingewiesen, in dem er nicht nur vor den Gefahren des Sozialismus, sondern auch vor denen des modernen Wohlfahrtsstaates warnte. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an das 'Magische Fünfeck' (einschließlich der 'Konvergenz des Lebensstandards'), auf die sich die ärmeren EG-Länder berufen. Hier drängt sich die Analogie zur Bundesrepublik nach der staatlichen Vereinigung auf: Die Regierungen der finanzschwachen Altbundesländer wehren sich vehement gegen die Einbeziehung der neuen Länder in den Länderfinanzausgleich (so kritisch man diesem auch gegenüberstehen mag), weil sich die Nettozuweisungen für sie aus dem gemeinsamen Topf drastisch reduzieren würden.

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chen, von vielen Wissenschaftlern als unzureichend kritisierten Form 19 von den meisten der Alt-EG-Ländem kaum zu erfüllen. Wieviel weniger wird dann von den Transformationsländern eine solche Konvergenz zu erwarten sein. 3.

Integrationshemmnisse auf östlicher Seile Die meisten östlichen Integrationshemmnisse sind aus der Aufgabe zu erklären, aus dem Bilateralismus der zentialverwaltungswirtschaftlichen Lenkungspraxis im RGW (von Delhaes, 1990) multilaterale Handelsbeziehungen zu entwickeln. Es erscheint zweckmäßig, die Integrationshemmnisse in den ehemaligen Zentralverwaltungswirtschaften nach den Produktionsfaktoren und nach Produkten zu systematisieren. Bezüglich des Bodens dominiert das Problem der fehlenden bzw. Undefinierten Eigentumsrechte. Die Aufgabe der Neuverteilung von Eigentumsrechten wird dadurch erschwert, daß durch eine jahrzehntelange Dominanz des Staatseigentums und zentraler Planung ein Grad von Staatsmonopolismus entstanden ist, den es in der übrigen Welt in vergleichbarer Form nicht gibt. Die Wettbewerbsintensität ist nach wie vor relativ niedrig, was sich auch mit dem fehlenden Mittelstand erklärt. Bezüglich des Kapitals ist festzustellen, daß in den meisten östlichen Ländern ein vollkommen veralteter Kapitalstock existiert. In Verbindung mit ungeklärten Eigentumsfragen, ökologischen Altlasten und unsicheren Währungsbeziehungen20 ergibt sich ein Ausmaß an Unsicherheit, welches sich äußerst negativ auf das Investitionsklima auswirkt. Beim Faktor Arbeit liegen die Integrationshemmnisse zum einen darin, daß sehr viele junge und mobile Arbeitnehmer ihre Arbeitskraft lieber im Westen anbieten (siehe Tabellen 1 und 2); der 'brain drain' ist angesichts des sehr dürftigen Lebensstandards und unsicherer Zukunftsperspektiven nach wie vor immens. Hinzu kommt, daß bei der Besetzung von Management-Führungspositionen nach wie vor Engpässe zu verzeichnen sind. Die Produktionspalette der Transformationsökonomien umfaßt eine Reihe von Gütern, für die sich nur wenige Abnehmer im Westen finden werden ('non-tradable goods'); das Verhältnis der 'tradables' zu den 'non-tradables' ist nach wie vor sehr ungünstig. Dies ist jedoch, wie auch Willgerodt (1992) feststellt, prinzipiell kein Handelshemmnis. Die inadäquate Produktionsstruktur gewinnt jedoch zusätzliche Brisanz durch das Faktum, daß die 'tradable goods' fast alle im sensiblen Bereich der EG angesiedelt sind, z.B. bei den landwirtschaftlichen Erzeugnissen (Siebert, 1992; auch Willgerodt, 1992). In der Qualität können die östlichen Länder nur selten mit den Produkten aus 19 20

Siehe hierzu das sog. 'Manifest der Sechzig', in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 134 vom 11.06.92, S. 15. Praktisch alle Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR planen eine eigene WShrung. In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens sind zum Teil schon eigene Währungen emitiert. In der Tschechischen und in der Slowakischen Republik stehen Währungsreformen an.

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westlichen Ländern konkurrieren, in der Preisdimension dürfen sie nicht mit den westlichen Ländern konkurrieren, weil diese ihren Protektionismus zumeist über direkte Preismanipulationen ausüben. Aus diesem Zusammenhang läßt sich eine besondere Anziehungskraft der EG auf die Wanderungstypen III und IV folgern. IV. Ansatzpunkte zur Beseitigung von Integrationshemmnissen Ausgehend vom Verständnis von Integrationshemmnissen als solchen Tatbeständen, die eine "jurisdictional integration" im Sinne Olsom verhindern, muß ein strategischer Ansatzpunkt die Verankerung von anti-protektionistischen Grundrechten in den Rechtsrahmen der EG-Länder sein. Die 'Hegemon'-Lösung, in Analogie zur Rolle Preußens im deutschen Integrationsprozeß im 19. Jahrhundert oder zur Rolle der USA im GATT nach dem Zweiten Weltkrieg, erscheint dabei wenig erfolgversprechend, da ein solcher voranschreitender 'Freihandelshegemon', der die anderen Länder zur Nachahmung animiert (oder indirekt zwingt), nicht in Sicht ist. Erneut zu überdenken wäre jedoch der Ansatz von Tumlir (1979, S. 16 ff.), der eine Verankerung von internationalen Freihandelsgrundsätzen in nationales Recht vorsieht. Wenngleich eine direkte Verankerung von Grundsätzen des GATT in nationales Recht bereits als 'Einmischung in innere Angelegenheiten' abgelehnt wurde, ist dennoch zu bedenken, ob sich nicht zumindest indirekt ein Druck auf die Regierungen der GATT-Unterzeichnerstaaten ausüben ließe. Hierbei drängt sich die Analogie zur KSZE21 auf, welche eigentlich ein Papiertiger war, sich jedoch in der politischen Praxis für die Diktaturen Osteuropas als sehr problematisch erwies, da man den eigenen Dissidenten quasi eine 'magna Charta* der Bürgerrechte in die Hand gegeben hatte. Der 7u/n/iV-Vorschlag könnte, trotz aller juristischen Bedenken, zu einer Art 'ökonomischer KSZE' werden, wenn die Protektionsgeschädigten die Regierungen der Unterzeichnerstaaten zumindest moralisch unter Druck setzen könnten. Ausgehend vom Verständnis von Integrationshemmnissen als solchen Tatbeständen, die eine Verschmelzung der nationalen Preissysteme zu einem internationalen Knappheitspreissystem be- oder verhindern, muß der Ansatzpunkt zur Beseitigung von Integrationshemmnissen dort gesehen werden, wo Zölle, Kontingente, tarifäre und nichttarifäre Handelshemmnisse den Preiszusammenhang lockern oder verzerren. Hierbei ist aus westeuropäischer Sicht in erster Linie die Bildung einer Wirtschaftsund Währungsunion, welche zu Ausschlußeffekten führt, zu nennen. Diese muß aufge21

Die KSZE wurde von der UdSSR ins Leben gerufen und diente unter anderem aus sowjetischer Sicht dem Zweck, den eigenen Einflußbereich gemäß der Brezhnev-Doktrin abzusichern. Die Eigendynamik des Prozesses, der letztlich auch zum 'Moskauer Frühling' der Perestroika beitrug, ist ein wunderschönes Beispiel für ein Ergebnis 'menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs' (von Hayek).

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schoben werden, wenn die EG der Zwölf sich nicht in einer Festung Europa einmauern will. Die EG muß den geänderten Rahmenbedingen und insbesondere der 'Migrationsdrohung' Rechnung tragen. Willgerodt (1992, S. 102) vermutet, daß der Binnenmarkt offensichtlich ohne Verbindung zum Weltmarkt gedacht sei. Dies würde zu direkten Ausschlußeffekten gegenüber Osteuropa führen, was unter den gegenwärtigen Bedingungen als der 'worst case' für die Transformationsökonomien angesehen werden muß. Die Westeuropäer müssen ihre sensiblen Bereiche öffnen, da der Marktzutritt die einzig sinnvolle Transformationsunterstützung ist (Balcerowicz, 1992). Ferner ist der substitutive Zusammenhang zwischen Wanderungsfreiheit und Handelsfreiheit zu beachten (Watrin, 1991). Wenn die Migration, den Hypothesen 3 und 4 folgend, aus ökonomischen Überlegungen und aus politischen Notwendigkeiten heraus, beschränkt werden soll, dann ist die Gewährung von Handelsmöglichkeiten unabdingbar. Dem ökonomisch deduzierten 'entweder - oder' stellen die Eurokraten bis heute jedoch ein trotziges 'weder - noch' entgegen. Die grundsätzliche Behinderung der Bewegungsfreiheit des Faktors Arbeit in Kombination mit Protektionismus im Güteibereich ist aber ökonomisch nicht sinnvoll und wird sich auf Dauer politisch nicht durchhalten lassen. Die osteuropäischen Nationen müssen die eigenen Handelsschranken abbauen und attraktive Investitionsbedingungen auch und gerade für ausländische Investoren schaffen. Die Attrahierung von Direktinvestitionen ist nach wie vor die beste Form von Kapitalimport. Im internationalen Wettbeweib um Investitionsstandorte müssen die Transformationsökonomien Ober westliche Standards, z.B. im Bereich der Unternehmensbesteuerung, hinausgehen und ihre eigenen komparativen Kostenvorteile zur Geltung bringen22. Die Schaffung von attraktiven Arbeitsplätzen via Direktinvestitionen ist ein zentraler Ansatzpunkt zur Milderung des Migrationsanreizes. Im politischen Bereich ist den osteuropäischen Staaten zu empfehlen, daß sie sich zusammenschließen, um die ökonomischen Vorteile der Aibeitsteilung untereinander zu nutzen, aber auch um politische Gegenmacht gegenüber der EG aufzubauen. Das Freihandelsabkommen der CSFR, Polens und Ungarns von 1992 deutet bereits in diese Richtung. Es ist jedoch mit größter Vorsicht darauf zu achten, daß die Transformationsökonomien in ihrem eigenen Interesse die Vorteile der Integration in die EG nicht mit Ausschlußeffekten gegenüber Nicht-EG-Ländern bezahlen müssen. Diese Ausschlußeffekte werden jedoch sowohl bei der Wirtschafts- und Währungsunion, beim Gemeinsamen Markt, aber auch bei der Zollunion auftreten. Lediglich die Freihandels22

Als Vorbild mag hier die Wirtschaftspolitik Spaniens und Portugals seit ihrem EG-Beitritt gelten. Obwohl sie zu den ärmeren Ländern zählen, haben sie teilweise spektakuläre wirtschaftliche Erfolge erzielt (Willgerodt, 1992, S. 99), welche auch auf ausländische Direktinvestitionen zurückzuführen ist.

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zone bietet die Möglichkeit, daß der neu entstehende Integrationsblock auch für kleinere und ärmere Länder, die nicht über eine 'countervailing power' verfügen, prinzipiell offen bleibt. Zurückgreifend auf die theoretischen Überlegungen in Kapitel II., würde dies jedoch von der EG verlangen, daß diese nicht von Neumitgliedem eine bedingungslose Unterwerfung unter die eigenen Spielregeln verlangt. Es müßten lediglich gemeinsame Mindeststandards vereinbart werden, die gleichsam das Terrain für einen möglichen ordnungspolitischen Wettbewerb abstecken. Die veränderten Rahmenbedingungen nach dem Zusammenbruch des RGW verlangen, daß die EG sich handelspolitisch gegenüber dem Osten öffnet, um den Transformationsökonomien durch Gewährung von Handelsfreiheit die Chance zur Anhebung des eigenen Lebensstandards zu geben. Wenn dies nicht geschieht, dann ist eine unkontrollierte Massenmigration, wie sowohl ökonomische als auch politische Überlegungen zeigen, eine fast zwangsläufige Konsequenz.

Literatur Balcerowicz, Leszek, 1992, In Polen ist die Privatisierung weit fortgeschritten, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 301 vom 29.12.92. Böhm, Franz, 1966, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO, Bd. 17, S. 75-151. Buchanan, James M., 1984, Die Grenzen der Freiheit: Zwischen Anarchie und Leviathan, Tübingen. Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), 1993, Zahlenmaterial zum Asylbewerberzuwachs, Bonn. Delhaes, Karl von, 1990, Autarkietendenzen versus "sozialistische Arbeitsteilung" in den Staaten des RGW, Berliner Geographische Abhandlungen, Heft 53, Berlin, S. 71-80. Delhaes, Karl von und Ulrich Fehl, 1991, Der Transformationsprozeß in der Zeit: Konsequenzen von Dauer und Reihung systemverändernder Maßnahmen, in: Karl-Hans Hartwig und H. Jörg Thieme (Hrsg.), 1991, S. 437-463. Euchen, Walter, 1990, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1952, 6. durchgesehene Auflage. Fehl, Ulrich, 1978, Abwanderung und Widerspruch: Bemerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Albert O. Hirschman, ORDO, Bd. 29, S. 402-412. Fischer, Wolfram (Hrsg.), 1989, Währungsreform und Soziale Marktwirtschaft: Erfahrungen und Perspektiven nach 40 Jahren, Berlin.

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Dil* Wentzel

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Osterweiterung der EG: Anpassungseifordernisse, Konvergenzprobleme und ordnungspolitischer Reformbedaif in Europa Faul J J. Weifens, Münster

I. Wirtschaftliche und ordnungspolitische Herausforderungen im neuen Europa II. Anpassungsprobleme 1. Ausgangsbedingungen einer Osterweiterung der EG 2. Wirtschaftliche Anpassungserfordernisse in Mittel- und Osteuropa: Nationale Transformations- und internationale Integrationsprobleme 3. Ökonomisch-technologische Konvergenzproblematik a. Ordnungspolitische Dilemma-These b. Erhöhung der Wettbewerbsintensität durch befristete selektive Zollprotektion? c. Internationale Integrationsprobleme 4. Wirkungen der Assoziierungsabkommen 5. Außenhandel und Direktinvestitionen als ordnungspolitische Impulsfaktoren IILOrdnungspolitischer Reformbedarf 1. Osteuropa: Überwindung ordnungspolitischer Defizite durch Wachstumspolitik 2. EG: Reform der Außenwirtschaft-, Arbeitsmarkt- und Fiskalpolitik 3. Gesamteuropäische Anpassungserfordernisse 4. Folgerung

519 522 522 526 527 529 532 535 538 540 543 543 544 545 547

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Paul J. J. Welfens

Abbildungen und Tabellen: Tabelle 1:

Protektion der EG gegenüber Ungarn im Vergleich zu Entwicklungsländern, 1986 Übersicht 1: Beschränkungsfaktoren der Wettbewerbsintensität Tabelle 2: Offenheitsgrad undregionaleHandelsorientierung der RGWLänder zu Beginn der Systemtransformation

524 ,533 536

Osterweiterung der EG

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I.

Wirtschaftliche und ordnungspolitische Herausforderungen im neuen Europa Nach der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft von 9 auf 12 Staaten in den achtziger Jahren erfolgte zu Beginn der neunziger Jahre mit der Einführung des EGBinnenmarktes und den Maastrichter Beschlüssen zur Wirtschafts- und Währungsunion eine deutliche EG-Vertiefung. Die hiervon erwarteten Wachstumseffekte sind teilweise bereits vor dem Beginn des Binnenmarktes (1.1.1993) wirksam geworden. Seither gibt es jedoch in der Gemeinschaft Anzeichen einer ökonomischen Stagnation. Hierzu mögen die Konflikte um die Ratifizierung des Maastrichter Vertrages bzw. die EWSSpannungen vom Herbst 1992 sowie die Diskussion um den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und die EFTA-Absorption - nach dem gescheiterten Schweizer EWR-Referendum - beigetragen haben. Stärker aber noch dürften sich die mit der Finanzierung der deutschen Einheit verbundenen Probleme und der auf die EG ausstrahlende Zerfall Osteuropas sowie die Konflikte in der GATT-Uruguay-Runde auswirken. Europa hat sich zu Ende der achtziger Jahre auf dramatische Weise verändert. Während die Integration in Westeuropa vorangeschritten ist, sieht man in Osteuropa Anzeichen von ökonomischer und politischer Desintegration. Rasch wie die Änderungen in Osteuropa kamen, war man in West- wie Osteuropa auf die damit einhergehenden Probleme und Chancen wirtschaftlich und wirtschaftspolitisch nur ungenügend vorbereitet. Dies gilt paradoxerweise auch für den Westen insgesamt, der immerhin seit 1945 auf eine Transformation zu Marktwirtschaft und Demokratie in Osteuropa gehofft und gedrängt und bei der Neuordnung der Weltwirtschaft 1944 bis 1949 stets betont hatte, wie sehr die fehlende Einbindung der osteuropäischen Staaten in eine Welthandelsordnung bzw. in das GATT und den IWF als Institution für die internationale Währungsordnung einen Mangel darstelle. Nachdem die Ex-RGW-Länder nun in der Tat plötzlich eine Transformation vollziehen, erweisen sich die alten Institutionen und Regeln der Weltwirtschaft selbst als überprüfungswürdig. Zudem ist unklar, wie für Osteuropa wirtschaftliche Prosperität und politische Stabilität sichergestellt werden können. Der ökonomische und politische Kollaps der RGW-Länder zu Ende der achtziger Jahre hat in Mittel- und Osteuropa einen komplizierten Transformationsprozeß hin zu marktwirtschaftlichen Ordnungen in Gang gesetzt, der mit internen und externen Anpassungen verbunden ist (Hartwig und Thieme, 1991; Weifens, 1992a; Berg und Sachs, 1992). Interne LiberalisierungsmaBnahmen im Zuge des Übergangs zur Marktpreisbildung, eine fortschreitende Privatisierung und außenwirtschaftliche LiberalisierungsmaBnahmen (einschließlich der Einführung von Weltmarktpreisen) haben zunächst zu einer Entwertung des Produktionspotentials und scharfen Einbrüchen bei der Industrieproduktion in den Transformationsländern geführt. Der osteuropäische Regionalhandel, der den Außenhandel aller RGW-Länder dominierte, ist im Zuge der Produktionsein-

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PaulJ.J. Weifens

brüche und dann beschleunigt mit der Auflösung des RGW 1991 zurückgegangen. Angesichts der RGW-Auflösung suchen die Staaten Mittel- und Osteuropas nach neuer handels- und wirtschaftspolitischer Orientierung. Dabei erweist sich für einige ExRGW-Länder die Idee einer Mitgliedschaft in der EG als attraktiv. Ökonomisch in den achtziger Jahren sichtbar erfolgreich - durch Süderweiterung, Wachstumsbeschleunigung mit Inflationsminderung sowie Projektierung von Binnenmarkt und Währungsunion -, als größter Nachbarmarkt bedeutsam und als finanzkräftiges Gebilde attraktiv, hat die EG für diese Länder eine besondere Anziehungskraft gewonnen. Neben ökonomischen Nutzenüberlegungen mag die Hoffnung auf politische Stabilisierungsimpulse für die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa die Annäherung an die EG motivieren, zumal sich Osteuropa den Unwägbarkeiten des UdSSRZerfalls ausgesetzt sieht. Wieviele Länder auch immer eine Osterweiterung neu in die EG einbeziehen mag, in jedem Fall wird die Komplexität des politischen Entscheidungs- und Abstimmungsprozesses in der EG weiter wachsen; gegenüber möglichen ökonomischen Vorteilen auf lange Sicht stehen im Fall einer Osterweiterung schon auf kurze Sicht auch politische Kosten, die neben ökonomischen Kosten wachsender EG-Transferbelastungen für eine größere Zahl relativ armer Staaten bei einer EG-Osterweiterung ins Kalkül einzubeziehen sind. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, daß sich Länder des Ex-RGW-Raums der EG weder direkt durch Mitgliedschaft noch indirekt durch Beitritt zum 1993 errichteten Europäischen Wirtschaftsraum (als erweitertem EG-Binnenmarkt, aber mit fortbestehenden Grenzkontrollen, 'Steuersatzautarkie' und Absenz von gemeinsamer Agrarmarkt- und Regionalpolitik) anschließen wollen, also der Schweiz und vermutlich auch Norwegen in dem Versuch folgen werden, ohne EG-Mitgliedschaft ihre Position zu optimieren. Die EG unterstützt den Transformationsprozeß der Ex-RGW-Länder mit einer Reihe von finanziellen und technischen Anpassungsprogrammen (z.B. Programme PHARE und TACIS) und indirekt durch die Unterstützung der Hilfsmaßnahmen der EBRD in London. Zudem wurde der Marktzugang für Ungarn, die CSFR und Polen durch die im November 1991 paraphierten drei Assoziierungsabkommen - die 'Europa-Abkommen' - erweitert, die im wesentlichen Freihandel für Industriewaren und Dienstleistungen sowie Kapitalverkehrsfreiheit bis zur Jahrtausendwende schaffen werden. Damit wird unter Ausschaltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit der Europäische Wirtschaftsraum de facto erweitert. Die EG hat 1992 auch mit Bulgarien und Rumänien Assoziierungsgespräche aufgenommen und strebt eine Unterzeichnung 1993 an. In den Europa-Abkommen mit Ungarn und Polen wird die künftige Möglichkeit eines EG-Beitritts explizit erwähnt, und

Osterweiterung der EG

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in der Tat ist mit Beitrittsersuchen zumindest einiger Ex-RGW-Länder (sowie Republiken des früheren Jugoslawien) in den neunziger Jahren zu rechnen. Die EG sähe sich nach der Süderweiterung der EG in den achtziger Jahren - Griechenland (1981), Spanien (1986) und Portugal (1986) - und einer zu erwartenden Erweiterung um Österreich und einige skandinavische Länder in den neunziger Jahren längerfristig mit der Herausforderung einer Osterweiterung konfrontiert. Streng genommen hat die Osterweiterung der EG mit der deutschen Wiedervereinigung bereits begonnen, denn die Ex-DDR ist nicht nur der Bundesrepublik Deutschland, sondern gleichzeitig der EG beigetreten. Die kostspieligen Anpassungserfordernisse in den neuen Bundesländern sind dabei auch durch die Notwendigkeit bedingt, EG-Richtlinien - etwa im Umweltbereich, bei der Subventionsvergabe und der Außenhandelspolitik - zu erfüllen; damit sind die Anpassungserfordernisse in der Ex-DDR verschärft und die westdeutschen Transferzahlungen zusätzlich erhöht worden. Eine EG-Mitgliedschaft mittel- und osteuropäischer Staaten wirft somit auch die Frage nach notwendigen Transferzahlungen für den ökonomischen Restrukturierungsprozeß in Osteuropa auf. An einer Osterweiterung sind zumindest einige EG-Länder aus politischen, aber auch aus ökonomischen Gründen interessiert. Die EG könnte auf globaler Ebene an Einfluß gewinnen, was für macht- und prestigebewußte Politiker und Bürokraten ein gewichtiger Aspekt sein mag. Einige EG-Länder - wie Großbritannien, Dänemark, Niederlande oder Deutschland - mögen sich neue Verbündete für ihre politischen und insbesondere wirtschaftsliberalen Positionen erhoffen. Der französische Staat (und manch anderer EG-Staat) wiederum, der die EG auch als Instrument nationaler Machtinteressen auffaßt, könnte sich aus Furcht vor sinkender EG-Kohäsion und effektiver EG-Schwächung gegen eine Osterweiterung stellen oder aber sich in der Hoffnung, neue EG-Verbündete für interventionistische Konzepte der Wirtschaftspolitik zu finden, für eine rasche Osterweiterung einsetzen. Deutschland, Italien, Großbritannien und die Beneluxländer (sowie Österreich, Schweden und Finnland) als Länder mit starken Handels- und Investitionsbeziehungen zu Ex-RGW-Ländem werden hingegen vermutlich besonders die wirtschaftlichen Expansionschancen einer EG-Osterweiterung sehen, aber auch die Kosten einer Nicht-Osterweiterung in Form erhöhten Zuwanderungsdrucks ins Kalkül einbeziehen. Anders als im Fall einer EG-Mitgliedschaft von Österreich sowie einer Norderweiterung (Schweden, Norwegen, Finnland), bei der es sich jeweils um Länder mit hohem Pro-Kopf-Einkommen handelt, schafft eine Osterweiterung besondere wirtschaftliche Probleme. Denn selbst Länder wie Polen, Ungarn und die Ex-CSFR erreichen nur 35 bis 45 vH des durchschnittlichen EG-Pro-Kopf-Einkommens, so daß unter dem Aspekt

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Paul J.J. Weifens

der Einkommensdivergenz eine zur Süderweiterung verwandte Problematik besteht. Allerdings dürfte angesichts der im Maastrichter Vertrag festgelegten finanzpolitischen Konvergenz- bzw. Konsolidierungserfordernisse die Bereitschaft in der EG in den neunziger Jahren - verglichen mit den achtziger Jahren der Süderweiterung - gering sein, erhebliche Finanztransfers zugunsten von Neumitgliedern vorzunehmen. Anders als im Fall der Süderweiterung müssen aber die mittel- und osteuropäischen Beitrittsaspiranten die ordnungspolitische Wende zur Marktwirtschaft erst noch vollziehen. Für die EG wäre wenig gewonnen, wenn eine wirtschaftlich erfolgreiche EG-Osterweiterung um einige Ex-RGW-Länder gelänge, während andere osteuropäische Länder politisch destabilisiert würden und ökonomisch in Stagnation verfielen. Von daher stellt sich in bezug auf Osteuropa nicht allein die Frage nach Drittlandswirkungen einer EG-Osterweiterung, sondern es gilt auch nach flankierenden Stabilisierungskonzepten für die Region insgesamt zu fragen. Nachfolgend werden zunächst die Anpassungsprobleme untersucht, wobei einige neue Überlegungen in die Debatte eingeführt werden. Dann wird der ordnungspolitische Reformbedarf in Europa analysiert und eine begrenzte EG-Osterweiterung im Rahmen einer auf vier Pfeilern ruhenden gesamteuropäischen Integration vorgeschlagen. II. 1.

Anpassungsprobleme Ausgangsbedingungen einer Osterweiterung der EG Transformationsbedingte Anpassungsprobleme werden in Mittel- und Osteuropa mit Erfordernissen zusammentreffen, die sich aus der Erfüllung des 'EG-Acquis' - des Bestands an Regeln im EG-Vertragswerk - ergeben; die Hürden sind hier durch die Vorgaben des Binnenmarktes und die monetäre Integration entsprechend dem Maastrichter Vertrag mit seinen Konvergenzkriterien zu Staatsverschuldung und Inflation weit höher, als dies bei der EG-Süderweiterung der Fall war. Eine EG-Osterweiterung wirft daher bei den Beitrittsaspiranten schwierige Anpassungsprobleme auf und dies bei politisch wenig gefestigten Systemen mit unerfahrenen politischen Akteuren. Dabei dürfen Drittlandswirkungen einer EG-Osterweiterung nicht übersehen werden. Eine Osterweiterung, die mit ähnlichem Mißerfolg verlaufen würde wie der Beitritt Griechenlands, der in den achtziger Jahren zehn Milliarden ECU an EG-Transfer kostete (und vermutlich noch höhere Beträge in den neunziger Jahren), dürfte rasch massive Widerstände auf supranationaler und nationaler EG-Ebene hervorrufen. Hingegen könnte eine den Entwicklungslinien Spaniens und Portugals folgende EG-Osterweiterung - basierend auf wachsenden Direktinvestitionen und einem Anstieg von Außenhandelsquoten und Pro-Kopf-Einkommen - breitere Akzeptanz finden. Damit stellt sich die Frage, inwieweit Ex-RGW-Länder erkennbar ein Potential zu einer außenorientier-

Osterweiterung der EG

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ten Wirtschaftsentwicklung haben und ob eine EG-Mitgliedschaft zur Erschließung positiver Handels-, Investitions- und Wachstumspotentiale beitragen könnte. Anders als im Fall der EG-Süderweiterung sind angesichts der enormen Umweltprobleme im ExRGW-Raum (Weyens, M., 1993) auch extreme ökologische Sanierungsprobleme zu lösen, die einerseits die Transformationskosten erhöhen, andererseits als Wachstumshemmnis wirken. Eine EG-Osterweiterung wirft die Frage auf, in welche Richtung sich die ordnungspolitische Orientierung der Gemeinschaft hin entwickeln wird: Abhängig vom Kreis der Beitrittsländer und der wirtschaftlichen Entwicklung in der Gemeinschaft insgesamt könnten sich die stärker interventionistischen Kräfte im Fall einer Wachstumsverlangsamung durchsetzen; doch könnten erfolgreiche osteuropäische Transformationsprozesse auch indirekt als EG-weite Liberalisierungsimpulse wirken. Eine EG-Osterweiterung bedeutet nicht nur einschneidenden institutionellen und gesetzgeberischen Anpassungsbedarf in osteuropäischen Beitrittsländern, sondern auch erhebliche Anpassungsprobleme auf Seiten der EG, die vermutlich um so größer wären, je weiter man den Kreis der Neumitglieder in Mittel- und Osteuropa ziehen wollte. Während für die osteuropäischen Länder bei Assoziierungsabkommen mit der EG die Handelsliberalisierung wie die Liberalisierung des Kapitalverkehrs - insbesondere der Direktinvestitionen - politisch und ökonomisch sensible Bereiche berühren, ist für die EG zunächst die Handelsliberalisierung gegenüber Ex-RGW-Ländem problematisch. Der Anteilswert der RGW-Länder an den Extra-EG-Importen und -Exporten machte in den achtziger Jahren zwar nur etwa 6 vH aus (mit rückläufiger Tendenz nach 1984), doch quantitative Importrestriktionen, Antidumping-Maßnahmen und Selbstbeschränkungsabkommen begrenzten die Exporte der sozialistischen Staaten {Brown und HaasWilson, 1990). Noch 1986 setzte die EG z.B. gegenüber Ungarn - und anderen RGWLändem - hohe tarifäre und nichttarifäre Handelshemmnisse ein, welche die Gemeinschaft stärker gegen ungarische Importe abschirmte als gegen Importe aus Entwicklungs- und Schwellenländern; auch im Vergleich zur gewichteten Protektionsrate gegenüber der EG-Außenwelt wurde Ungarn deutlich benachteiligt, wozu aus ungarischer Sicht die hohe Protektionsrate bei den im ungarischen Export wichtigen landwirtschaftlichen Produkten (Anteil am Export etwa 35 vH) als strukturell besonders ungünstig zu werten ist (Tovias, 1991)1.

1

Ungarn war schon 197S GATT-Mitglied geworden; allerdings gewahrte die EG Ungarn keinen vollen Status als GATT-Vertragspartei, soweit GATT-Artikel 13 (Quotenabschaffung) nicht angewandt wurde.

PaulJJ. Weifens

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Tabelle 1:

Protektion der EG gegenüber Ungarn im Vergleich zu Entwicklungsländern, 1986 Ungarn: gewichteter Zollsatz

Alle Güter Agrarprodukte Industriewaren

6,1 vH 7,6 vH 5,6 vH

Entwicklungsländer: Ungarn: NTBgewichteter Häufigkeit* Zollsatz 26,1 vH 42,0 vH 22,9 vH

* Anteil der Zollpositionen, die von mindestens einer nichttarifären Handelsbarriere (NTB) betroffen waren.

1,9 vH 3,2 vH 1,7 vH

Welt: gewichteter Zollsatz 2,9 vH 4,3 vH 2,8 vH

Quelle: Tovias (1991), S. 293 f.

Erst mit dem 1988 geschlossenen Handels- und Kooperationsabkommen der EG mit Ungarn, gefolgt von ähnlichen EG-Abkommen mit Polen und der UdSSR 1989 sowie der CSFR, der DDR, Rumänien und Bulgarien 1990, ergaben sich Neuansätze im OstWest-Handel: etwa durch das EG-Zugeständnis der GATT-Meistbegünstigungsklausel, den Abbau mengenmäßiger Importbeschränkungen und die Einbeziehung Osteuropas in das 'General System of Preferences'. Negative Handelsablenkungseffekte ergaben sich für landwirtschaftliche Exporte Ungarns und anderer RGW-Länder aus der EG-Süderweiterung um Spanien und Portugal, wobei infolge der Beitritts-Übergangsfristen bis Ende 1995 die Negativeffekte von freiem EG-Marktzutritt und Einbeziehung in die Gemeinschaftsagrarpolitik (Exportsubventionen, Preisgarantien, EG-Strukturfondsmittel) erst in den neunziger Jahren für Osteuropa voll spürbar werden. Ungarns 'Revealed Comparative Advantage' (RCA)2 zeigte für viele Produkte ähnlich strukturierte internationale Wettbeweibsvorteile - im Sinne branchenmäßig überdurchschnittlicher Nettoexportpositionen - wie einige EG-Länder mit relativ niedrigem Lohnniveau. Es zeigt sich eine starke Überlappung mit Portugal und Spanien in den aus EG-Sicht sensitiven Bereichen Landwirtschaft, Textil und Bekleidung, und ähnliches dürfte für andere Niedriglohnländer des Ex-RGW-Raums im Verhältnis zur iberischen Halbinsel, Griechenland und zum Teil Italien gelten; die strukturellen Anpassungsprobleme der Etablierung des EG-Binnenmarktes sind im übrigen mit Blick auf osteuropäische Niedriglohnländer ähnlich wie jene, die sich in Südostasien zeigen (Han, 1992). Von daher würden aus den letztgenannten EG-Ländern vermutlich die stärksten Widerstände gegen eine Osterweiterung der EG zu erwarten sein. Technologisch wenig anspruchsvolle und daher leicht imitierbare Produkte - insbesondere mit hohem Lohnanteil an den Herstellungskosten in EG-Ländern - dürften bei einer EG-Osterweiterung 2

RCAj: = 100[(Xi-Mj)/(Xj+Mj)]/[E(Xj-Mj)/E(Xj + Mj)] mit: X = Exporte, M = Importe; j = alle Branchen außer Branche i.

Osterweiterung der EG

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(und schon im Vorfeld dazu) massiv in die osteuropäischen EG-Aspiranten verlagert werden. Mit Blick auf die EG-Exportposition außerhalb Europas könnte sich aus dem für EG-Produzenten leichten Zugriff auf preiswerte Vorprodukte arbeitsintensiver Industrien auch ein Wettbewerbsvorteil ergeben, wie ihn bislang Japan mit den benachbarten asiatischen Niedriglohnländern einerseits und die USA mit den Niedriglohnländern Lateinamerikas andererseits haben. Allerdings kann dieser potentielle Vorteil nur bei erhöhtem Tempo des sektoralen und regionalen Strukturwandels genutzt werden. Ganze Industriebereiche in der EG sehen sich schon mit dem durch die EuropaVerträge erfolgenden Übergang zum Freihandel bei Industriewaren vor massive Anpassungsprobleme gestellt, da die osteuropäischen Exporte zum Teil zweistellige jährliche Wachstumsraten verzeichnen, allerdings von einer niedrigen Basis aus. Noch nie waren EG-Produzenten massiv von Billiglohnimporten aus Nachbarländern betroffen. Die in den siebziger Jahren aufgekommene Importwelle aus den Niedriglohnländern Südostasiens hat den EG-Ländern bekanntlich beträchtlich zu schaffen gemacht, obwohl die asiatische Exportwelle vermutlich nur Zwergengestalt im Vergleich zu vorstellbaren Exportfluten aus Osteuropa hatte. Demnach würde eine Liberalisierung der 'sensiblen Bereiche' in den Europa-Verträgen zu möglicherweise großen Konflikten zwischen der EG und osteuropäischen Ländern führen. Ein Streit über die Aufteilung einer auf Osteuropa bezogenen EG-Importquote könnte indirekt auch die regionale osteuropäische Zusammenarbeit weiter schwächen und als Folge isolierter Transformationsanstrengungen zu politischen und ökonomischen Konflikten fuhren. Aus EG-Sicht das entscheidende Problem aber könnte der unter dem Eindruck eines hohen strukturellen Wandlungsdrucks weiter ausufernde strukturpolitische Interventionismus mit Defensivorientierung sein; statt längerfristig ohnehin unvermeidliche Anpassungen aktiv durch F&E-Politik und Untemehmensneugründungen zu fördern, könnten auf Strukturerhaltung ausgerichtete Beihilfen und Wettbewerbsbeschränkungen den Wandel verlangsamen und zugleich die Exportchancen Osteuropas abbremsen. Damit aber hätten osteuropäische Länder infolge der Zahlungsbilanzrestriktion verminderte Möglichkeiten zum Import moderner Kapitalgüter aus Westeuropa und mithin reduzierte Chancen für ein hohes Wirtschaftswachstum einerseits und eine Liquiditätsvorsorge für die Bedienung von Auslandsschulden andererseits; der Weg Osteuropas hin zu erneutem Interventionismus und möglicherweise auf lateinamerikanische KrisenSzenarien wäre damit vorgezeichnet. Ordnungspolitische Fehlorientierungen in der EG würden damit indirekt ordnungspolitische Fehlschaltungen in der besonders kritischen Transformationsphase der osteuropäischen Reformländer hervorrufen.

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2.

Paul J.J. Weifens

Wirtschaftliche Anpassungserfordernisse in Mittel- und Osteuropa: Nationale Transformations- und internationale Integrationsprobleme

Die mittel- und osteuropäischen Staaten sehen sich in den neunziger Jahren außerordentlichen Anpassungserfordernissen gegenüber. Neben dem in jeder Marktwirtschaft zu verarbeitenden 'normalen' Strukturwandel sind die besonderen Anpassungsprobleme zu bewältigen, die einerseits mit der Transformation der Zentralplanwirtschaft hin zur Marktwirtschaft - insbesondere mit der Privatisierung, der Einführung der Wettbewerbspolitik und einer marktkonformen Staatsstrukturreform (Dezentralisierung, Deregulierung etc.) - verbunden sind; andererseits sind außenwirtschaftliche Liberalisierungsprobleme zu lösen, die einen Strukturwandel in Übereinstimmung mit den komparativen Vorteilen der jeweiligen Länder verlangen. Eine künftige EG-Mitgliedschaft verlangt eine zügige und dauerhafte Systemtransformation, zugleich aber ist die Integration in die Weltwirtschaft notwendig, um in einer Zeit fortschreitender Internationalisierung der Wirtschaft die Wachstumspotentiale für einen erfolgreichen Ost-West-Aufholprozeß beim Pro-Kopf-Einkommen zu erschließen. Zumindest legen die technologischen und ökonomischen Aufholprozesse der südostasiatischen Schwellenländer (ANICs) die Vermutung nahe, daß man nur mittels außen- bzw. exportorientierter Konzeptionen der Wirtschaftspolitik - wie in den ANICs (Pascha, 1990; Krueger, 1990; 1992) und auf der iberischen Halbinsel (Bentolila und Blanchard, 1990; Larre und Torres, 1991) realisiert - einen ökonomisch rasanten Aufholprozeß erzielen kann. Ein wesentliches Kennzeichen ökonomischer Aufholprozesse in den ANICs (Collins, 1990) sowie in Spanien und Portugal waren zudem positive Realzinssätze als Basis für effiziente Investitionsentscheidungen, hohe Gewinnquoten als Grundlage für hohe Investitionsquoten und eine schrittweise Rückführung und Modernisierung des Staatssektors. Die Transformation einer sozialistischen Planwirtschaft schafft eine Reihe wirtschaftlicher Anpassungsprobleme, die auch von grundlegender ordnungspolitischer Bedeutung sind. Nicht anders als bei Strukturkrisen in OECD-Ländern drohen auch in den mittel- und osteuropäischen Ländern wirtschaftspolitische Weichenstellungen auf selektiven Interventionismus, Strukturerhaltungssubventionen und Außenprotektionismus hin. Die bisherigen Privatisierungserfolge in Polen, Ungarn und der CSFR waren relativ bescheiden, da zu Ende 1992 immer noch mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes in staatlichen Unternehmen erbracht wurde. Man mag angesichts der zeitaufwendigen Vorbereitungen für die Privatisierung von Großunternehmen zwar erwarten, daß 1993/94 eine Beschleunigung der Privatisierungsprogramme in Mittel- und Osteuropa erfolgt, doch sind die Widerstände gegen eine Privatisierung gerade in der Großindustrie beträchtlich. Dies gilt zumal deshalb, weil in den sozialistischen Staaten

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Großbetriebe dominieren, während in Westeuropa die Mehrheit der Beschäftigten in Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten arbeitet. Es fehlt den mittel- und osteuropäischen Wirtschaften jenes wichtige Innovationsund Flexibilitätspotential, das in westeuropäischen Staaten durch die Vielzahl kleiner und mittlerer Unternehmen repräsentiert wird. Dieser Mangel an kleinen und mittleren Unternehmen könnte nur durch gezielte Entflechtung einerseits und Förderung von Unternehmensneugründungen andererseits behoben werden. Zur Entflechtung wird in vielen Ländern aber vermutlich die politische Kraft fehlen, denn es gibt in Ex-RGWLändern bislang keine stabilen Regierungen mit ausreichendem PopularitätsüberschuB, die konfliktreiche Entflechtungsprogramme umsetzen könnten; aus Sicht der Neuen Politischen Ökonomie sind Popularitätsüberschüsse im Sinne von Sicherheitsreserven bezüglich zu erwartender Mehrheiten bei Wahlen eine notwendige Bedingung dafür, daß Maßnahmen gegen regional konzentrierte Beschäftigten- und Wählerinteressen durchgesetzt werden können. Es droht angesichts dünner Mehrheiten und instabiler politischer Systeme die Gefahr, daß die im sozialistischen System privilegierten Altindustrien Stahl, Kohle und Schwermaschinenbau den Expansionsprozeß der Gesamtwirtschaft hemmen. Denn letztere werden mit ihren Forderungen nach Steuervergünstigungen, Subventionen und bevorzugter Kreditvergabe die staatlichen Finanzierungsspielräume zur Förderung neuer Unternehmen nachhaltig einengen. 3.

Ökonomisch-technologische Konvergenzproblematik Ein ökonomischer Aufholprozeß von osteuropäischen EG-Aspiranten ist Voraussetzung dafür, daß eine EG-Osterweiterung nicht zu massiv erhöhten Finanztransfers zugunsten der Neumitglieder führt und es im Gefolge steigender Forderungen auch seitens ärmerer Regionen der EG12-Gemeinschaft nicht zu insgesamt erhöhten Transfers und ordnungspolitisch fragwürdigem Interventionismus kommt. Neben der Verhinderung eines wachsenden Zuwanderungsdrucks liegt aus EG-Sicht die Bedeutung eines erfolgreichen ökonomischen Aufholprozesses in Osteuropa eben darin, in potentiellen Beitrittsländern eine liberale Konzeption der Wirtschaftspolitik zu ermöglichen. Ein langfristig angelegter, ökonomisch erfolgreicher Aufholprozeß ist an eine Reihe von klar identifizierbaren Erfolgsvoraussetzungen geknüpft: hohe Investitionsquoten, eine für effiziente Investitionen erforderliche positive Realverzinsung, monetäre Stabilität bzw. Konvertibilität zur Erhaltung der Informationsfunktion der relativen Preise und politische Stabilität als Basis für hohe Investitionen von In- und Ausländern. Direktinvestitionen spielen für den Aufholprozeß insofern eine besonders wichtige Rolle, weil der technische Fortschritt in westlichen Marktwirtschaften etwa ein Drittel des Wirtschaftswachstums erklärt, internationaler Technologiehandel aber dominant als In-

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tra-Firmenhandel stattfindet oder aber sich in der Form von 'Cross-licensing' zwischen technologisch führenden Unternehmen vollzieht; zudem ist etwa ein Drittel des OECDWaren-Handels Intra-Firmen-Handel, so daß bei Fehlen von Direktinvestitionen auch ein Teil des Außenhandelspotentials fehlt, der gerade auch Handel mit technologieintensiven Vorprodukten umfassen könnte (UNCTC, 1988; 1992). Hohe Gewinnquoten im Rahmen funktionsfähiger Wettbewerbsprozesse dürften in den meisten Ex-RGW-Ländern aus drei Gründen kaum ohne weiteres realisierbar sein: (1) Traditionelle sozialistische Neidkomplexe lassen eine geringe Akzeptanz sehr hoher Einkommen von Kapitaleignern gerade in einer Phase rückläufigen Sozialproduktes bzw. schwachen Wachstums erwarten. Scharf progressive Einkommenssteuern in Osteuropa sind ein diesbezüglich beredtes Indiz. Statt über offene Märkte und hohen Wettbewerbsdruck transitorisch hohe Differentialeinkommen zu vermindern, wird mit dem Rasiermesser der Steuerprogression zum Teil verhindert, daß hohe Einkommenszuwächse für eine unternehmerische Minderheit kurzfristig und die Bevölkerungsmehrheit langfristig überhaupt entstehen. (2) Viele Unternehmen dürften angesichts anhaltender Management-Engpässe, zu großer Betriebsgrößen, ineffizienter Produktionsmethoden und hoher Restrukturieningskosten kaum hohe Renditen erwirtschaften. Dies gilt zumal deshalb, weil die Gewerkschaften relativ stark sind und für hohe Lohnkosten sorgen werden. (3) Positive Realzinssätze als Basis für effiziente Investitionsentscheidungen und damit als Element für den ökonomischen Wachstums- und Aufholprozeß sind insofern nur bedingt zu erwarten, als hohe Inflationsraten bei fehlendem Wettbewerb und unvollständiger Privatisierung im Bankensektor für tendenziell negative oder doch sehr geringe Realzinssätze sorgen werden; hinzu kommt, daß die Kapitalrenditen durch staatliche Erhaltungssubventionen und Vergünstigungen verzerrt werden. Zu bedenken ist, daß der Staat infolge hoher impliziter Staatsverschuldungsquoten ein Interesse an künstlich niedrigen Realzinssätzen hat. Zwar sind mit Ausnahme von Ungarn die Relationen von Staatsschuldenbestand zu Bruttosozialprodukt bislang weit niedriger als in Westeuropa, doch dürfte nach Abschluß der Privatisierung das Bild in Polen, der Slowakei, Rußland und der Ukraine gänzlich anders aussehen; denn die dort aufgelaufene hohe Verschuldung zwischen den Unternehmen muß mit der Privatisierung im wesentlichen vom Staat als Staatsschuld übernommen werden. Im übrigen haben naturgemäß auch noch nicht privatisierte Staatsbetriebe mit geringer Liquidität ein Interesse, die Realzinssätze gering zu halten. Hier käme einer politisch unabhängigen, auf das Ziel niedriger Inflationsraten verpflichteten Notenbank nicht nur eine ordnungspolitische Funktion, sondern gerade auch eine allokations- und wachstumspolitische Schlüsselrolle zu.

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Ordnungspolitische Dilemma-These Die Systemtransformation vollzieht sich nicht auf einem leeren Schachbrett, sondern hat als Ausgangskonstellation die wirtschaftlichen, verhaltensmäßigen und institutionellen Verwerfungen und Überreste der sozialistischen Wirtschaftsordnung in Rechnung zu stellen. Ob ein Einfügen in die internationale Arbeitsteilung unter derartig verzerrten Ausgangsbedingungen statischen Betrachtungen komparativer Vorteile folgen sollte, ist fraglich. Der ökonomisch-technologische Aufholprozeß von Japan, Korea und Taiwan hat sich keineswegs nur unter freihändlerischen Zeichen vollzogen, sondern war vom phasenweisen Protektionismus mit wachstumspolitischer Stoßrichtung und weltmarktorientierter Strategie geprägt. In technologisch und ökonomisch zurückhängenden Ländern können Unternehmensneugründungen und die Akkumulation einer kritischen Mindestmasse an Produktions-, Markt- und Exporterfahrung möglicherweise nur auf Dauer gedeihen, wenn eine 'Infant-industry'-Protektion gewährt und parallel eine Exportförderung verankert wird. Eine Exportförderung in Verbindung mit technologieorientierten Importschutzmaßnahmen hat sich bei den asiatischen Schwellenländern - im Gegensatz zu dauerhaften Strategien der Importsubstitution - offenkundig im Aufholprozeß bewährt. Es ist immerhin bezeichnend, daß die Republik Korea Ende der sechziger Jahre eine effektive Protektionsrate von 15,1 vH, 1978 von 29,9 vH und 1982 von 38,4 vH aufwies (UNIDO, 1987). Korea wie Taiwan wiesen auch keineswegs Preisniveaustabilität in der Zeit hoher Wachstumsraten von 7 vH und mehr auf, vielmehr setzte die Wirtschaftspolitik (bei sicher vorhandenen Fehlinterventionen) konsequent auf Wachstumsorientierung bei geeigneten makroökonomischen Nebenbedingungen, nämlich positiven Realzinssätzen, großer Arbeitsmarktflexibilität und hohen Investitionen in die Humankapitalbildung. Nachfolgend wird eine Hypothese zur Erklärung der paradoxen Aufwärtsentwicklung der NICs formuliert, die den scheinbaren Widerspruch des NIC-Aufholmodells mit der etablierten Textbuchweisheit 'Freihandel ist optimal' erklärt; Freihandel wäre demnach erst nach weitgehend vollzogener Systemtransformation und einem gewissen ökonomisch-technologischen Aufholprozeß optimal. Insbesondere müßten funktionsfähige firmeninterne und firmenexterne Kapitalmärkte bei Wettbewerb entstanden sein, und zumindest ein Teil der Unternehmen, Banken und Finanzmärkte müßte im Zeitablauf - durch praktizierte Erfolge - eine informationskostensenkende Reputation erworben haben. Im übrigen zeigt das Beispiel Korea (Song, 1990, S. 108), daß staatliche Impulse für das Überspringen von traditionell im Entwicklungsprozeß als nächste Schritte angesehenen Industrien letztlich sinnvoll waren.

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Wachstumspolitik und Reputation der wirtschaftspolitischen Akteure Hohes Wirtschaftswachstum könnte in Europa die Verteilungsspielräume und politischen Gestaltungsspielräume eröffnen, die für Stabilität und Prosperität Voraussetzung sind. Zwar mag man unter 'normalen Bedingungen' aus einer liberalen Position einer aktiven Wachstumspolitik skeptisch gegenüberstehen, da Wachstum die nicht vorhersehbare gesamtwirtschaftliche Resultante individueller Optimierungskalküle ist. Jedoch v

könnte sich für die kritische Transformations- und Aufholphase Osteuropas eine vorübergehend andere Sichtweise anbieten: Eine aktive Wachstumspolitik schafft erst die Voraussetzungen dafür, daß längerfristig marktwirtschaftlicher Wettbeweib, Stabilität, Prosperität und internationale Arbeitsteilung politisch durchsetzungsfahig bleiben. Da in Mittel- und Osteuropa positive Erfahrungen mit marktwirtschaftlichen Allokationsund Wachstumsprozessen weitgehend fehlen und deshalb neu gewonnen werden müssen, sind sichtbare Wachstumserfolge nach einer ersten Phase unvermeidlicher Produktionseinbrüche psychologisch wichtig. Eine glaubwürdige ordnungspolitische Verankerung der Wirtschaftspolitik, auf marktwirtschaftliche Allokationsgrundsätze verpflichtet, kann selbst wachstumsfordernd sein, indem politische Risiken und Instabilitäten eingegrenzt und der künftige Kurs der Wirtschaftspolitik im Grundsatz vorhersehbarer wird. Häufige Richtungswechsel der Politik dürften der Akkumulation von Reputationskapital der neuen Träger der Wirtschaftspolitik entgegenstehen. Akteure mit hohem Reputationskapital genießen relativ große Glaubwürdigkeit, so daß schon die Ankündigung von Maßnahmen über veränderte Erwartungen der privaten Wirtschaftssubjekte im politisch gewünschten Sinne wirken kann, womit die Maßnahmen selbst geringer dosiert werden können als bei fehlender Glaubwürdigkeit. Da wiederholte und stark dosierte Ad-hoc-Interventionen und häufige Kurswechsel der Politik ökonomisch destabilisierend und infolge erhöhter Unsicherheit auch wachstumsabschwächend wirken, kommt der Akkumulation von Reputationskapital und mithin einer durchhaltbaren - d.h. auch nicht überambitionierten Wirtschaftspolitik hohes Gewicht zu. Wenn aus wachstumspolitischen Gründen bestimmte zeitweise Ausnahmen von marktwirtschaftlichen Allokationsgrundsätzen, wie interner Wettbewerb und Freihandel, notwendig erscheinen, so wären solche Ausnahmen im Interesse der Glaubwürdigkeit der Politik rechtzeitig und für einen befristeten Zeitraum anzukündigen. Eine Reputationsaspekte berücksichtigende Wachstumspelitik, die marktwirtschaftliche ordnungspolitische Grundsätze im Einzelfall bewußt, aber zeitlich begrenzt und mit expliziter Begründung vorübergehend aufgibt, ist möglicherweise in der Realität der Königsweg der Systemtransformation, auch wenn er nicht zugleich der Pfad der ordnungspolitischen Tugend ist. Importschranken wären dabei nur insoweit in Mittel- und

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Osteuropa zu vertreten, wie hierdurch rasche Privatisierung und zunehmender interner Wettbewerb bei gleichzeitig wachsender Exportorientierung zu erwarten sind. Unter dem Aspekt der Informationskosten bzw. der Minimierung von Anpassungskosten gilt es hierbei zu bedenken, daß Wissen über Anpassungskosten und -alternativen lokal bei den jeweiligen Unternehmen und Individuen in Mittel- und Osteuropa vorhanden ist; von daher kann auf internen Wettbewerb als Such- und Entdeckungsverfahren, das internes Wissen kombiniert und Informationen aufgreift und erzeugt sowie Anpassungskosten einzel- und gesamtwirtschaftlich minimiert, zunächst in der Transformationsphase weniger verzichtet werden als auf Freihandel, über den man die insgesamt bekannten relativen Preise für handelsfähige Güter quasi importieren kann. (2)

Lexikographische Technologieleiter Eine ordnungspolitische Dilemma-These für die Transformation ist keineswegs unabweisbar, aber ihre Geltung ist auch nicht a priori auszuschließen, und zwar insbesondere dann nicht, wenn Einkommens- und Technologieaufholprozesse in Mittel- und Osteuropa nicht auf beliebigen Trajektorien bzw. 'Entwicklungslinien' möglich sind, sondern es eine lexikographische Ordnung zu beachten gilt Man stelle sich hierzu alle Technologien, dem Technikniveau nach geordnet, vor, und zwar - wie im Alphabet - von A bis Z: Wer am Weltmarkt vielleicht mit hohen Renteneinkommensbestandteilen absetzbare Elektronikprodukte oder Softwarespezialitäten - 'Y-Produkte bzw. Y-Technologien' - verkaufen will, dessen ökonomisch optimaler Technologieaufstiegspfad führt über Entwickeln, Produzieren und Verkaufen von A, B, C....W, X zu Produkt Y. Hierbei sind vorübergehende verlustreiche Produktionen von z.B. C-Technologien unter dem Aspekt der Aufwärtsentwicklung unvermeidlich und sinnvoll, auch dann, wenn die Produktion mit Verlusten verbunden ist und es bei Exporten zu Dumping-Vorwürfen kommen könnte. Damit eine bestimmte, partiell lexikographische Technologiefolge erfolgreich durchlaufen werden kann, könnte Protektionismus insofern erforderlich sein, als bei freiem internationalen Wettbewerb z.B. die Produktion von C-Gütern, die annahmegemäß für eine künftige Y-Produktion unerläßlich sei, sonst nicht zustande käme. Aus dieser Sicht könnten im Bereich der internationalen Ordnungspolitik zeitlich befristete Ausnahmen für Transformationsländer in GATT-relevanten Einzelbereichen vorübergehend notwendig sein. Allerdings besteht die Gefahr, daß auch Länder mit nichtexportorientierten Aufholstrategien und fehlendem Willen zur Realisierung von internem Wettbewerb auf solche Ausnahmen drängen, wobei insgesamt eine Aufweichung der Welthandelsordnung zustande kommen könnte. Von daher wären Ausnahmen in der internationalen Handelsordnung zugunsten von Tiansformationsländern nur bei deutlich exportorientierter und intern zunehmend wett-

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bewerbsorientierter Transformationspolitik sinnvoll. Länder mit Importsubstitutionsstrategien und stagnierender Privatisierungs- und Wettbewerbspolitik könnten von daher nicht auf OECD-seitige Ausnahmeregeln in der Transformationsphase hoffen. Ein technologisch-lexikographisches Protektionsargument ist naturgemäß problematisch, da viele Industrien und Firmen auf eine derartige strategische Bedeutung ihrer Produkte bei der Forderung nach Zollschutz hinweisen könnten. Wenn allerdings die durchschnittlichen Zollsätze durch internationale Verträge festgelegt und von vorherein zeitlich degressiv angelegt wären, so bliebe es den mittel- und osteuropäischen Ländern selbst überlassen, eine begrenzte Zahl von Finnen bzw. Industrien zeitweise zu schützen. Würde man einen von der Wachstumsrate des Landes positiv abhängigen Verzögerungsfaktor in die zeitliche Zollsatz-Reduktionskurve einbauen, so würde man konsistente Anreize setzen. Länder, die unzweckmäßigerweise bzw. im Durchschnitt ungeeignete Kandidaten als strategische Sektoren und Firmen identifiziert hätten, müßten schneller zum Freihandel und dem Ende industriepolitischer Experimente übergehen als Länder, in denen Wissen, Information und Ressourcen wachstumsstrategisch erfolgreich gebündelt worden wären. Dies schließt bei anhaltend hohem Wachstum einen vorfristigen Übergang zu Freihandel naturgemäß nicht aus. b.

Erhöhung der Wettbewerbsintensität durch befristete selektive Zollprotektion? Aus theoretischen Überlegungen wie aus praktischen Erfahrungen westlicher industrialisierter Marktwirtschaften ergibt sich, daß Wettbewerb für eine effiziente Allokation und mithin auch für hohe Realeinkommen unabdingbar ist. Dies gilt nicht nur in statischer Betrachtung, sondern mehr noch in dynamischer Sicht - mit Blick auf die Entwicklung von Prozeß- und Produktinnovationen -, wie insbesondere von von Hayek (1968) und Audretsch und Acs (1991) betont wurde. Neben einem wettbewerbserhaltenden und -fördernden Ordnungsrahmen ist für eine hohe Intensität des Wettbewerbs ein verbreiteter und akzeptierter 'spirit of competition' erforderlich. Wenn man die Wettbewerbsintensität in offenen industrialisierten Wirtschaften erfassen will (Übersicht 1), so wäre hierbei neben der Verbreitung des 'spirit of competition' an folgende Faktoren zu denken: A) Wettbewerbshemmnisse, die in Form von Staatsunternehmen, Importschranken und Exportbeschränkungen zu sehen sind; B) Markteintrittsbarrieren, die technologisch etwa durch die Relevanz von 'Economies of Scale' und hohe Fixkosten bzw. 'Sunk Costs' von Produktion oder Marketing einerseits und durch unternehmensstrategische Marktzutrittsschranken in Form hoher F&E-Intensität und hoher Werbungsintensität andererseits gegeben sein könnten. Hieraus ergibt sich die indirekt wettbewerbsfordernde Wirkung einer staatlichen F&E-Politik, welche

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in technologieintensiven Industrien die Markteintrittsschranken indirekt für Newcomer in Osteuropa reduzieren könnte. Eine präferentielle öffentliche Auftragsvergabe wäre zumindest im Verhältnis der Reformländer Osteuropas untereinander abzuschaffen, so daß sich eine effiziente regionale Spezialisierung herausbilden könnte und zudem ein teilweiser Vorgriff auf EG-Recht erfolgen würde. Allerdings steht solchen Regelungen der ökonomische Nationalismus in Osteuropa entgegen. Übersicht 1: Beschränkungsfaktoren der WettbewerbsinlensitSt A) Wettbewerbshemmnisse 1) Staatsunternehmen 2) Importschranken 3) Exportschranken

C) 'Horizontbeschränkung' Ineffizienz der Kapitalmärkte und politische Instabilität

B) Markteintrittsbarrieren 1) Relevanz von Economies of Scale 2) Fixkostenbedeutung 3) F&E-Intensität und Werbe-Intensität als Marktzugangshindemis 4) Präferenzen bei öffentlichen Ausschreibungen D) Marktaustrittsbarrieren 1) hochkonzentrierte Großbetriebe 2) Subventionen für Staatsbetriebe

E) Einstellungsdefizit Mangel an 'Spirit of Competition' Wenn die Ex-RGW-Länder sich entschließen könnten, eine weitergehende Privatisierung als in EG-Ländern, also z.B. Verzicht auf Staatsuntemehmen in der Energie- und Wasserwirtschaft und im Telekombereich, zu realisieren, so könnten in technologiestrategisch und für 'Terms of trade'-Verbesserung wichtigen Bereichen zeitweilige Importbarrieren errichtet werden, ohne daß man im Durchschnitt eine geringere Wettbewerbsintensität als die EG-Staaten aufweisen würde. Investitions- und Innovationsentscheidungen werden bei langem Zeithorizont der Wirtschaftssubjekte tendenziell eine größere Altemativenzahl an Projekten ins Blickfeld ziehen und in diesem Sinne eine Wettbewerbsintensivierung bedeuten, verglichen mit kurzen Zeithorizonten. Letztere ergeben sich erfahrungsgemäß dann, wenn die Kapitalmärkte ungenügend ausgebaut und nicht optimal gestaltet sind sowie im Fall einer instabilen - insbesondere auch inflationären - Wirtschaftspolitik, die zu einem Rückgang der durchschnittlichen Laufzeiten am Kapitalmarkt (als Proxy für die zeitliche Tiefe der Investitionsentscheidungen) führen. Eine stabilitätsorientierte und relativ stetige Politik läßt sich vermutlich nur durchführen, wenn hinreichend positive Wachstumserwartungen zustande kommen. Hierfür wären neben einer hohen Investitionsquote und einem positiven Realzinssatz insbesondere auch eine im Durchschnitt hohe Wettbewerbsintensität notwendig. Mit letzterer sind hohe Markteintrittsbarrieren ebenso wenig zu vereinbaren wie hohe Marktaustrittsbarrieren.

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Wenn man sich die großen Schwierigkeiten etwa der Bundesrepublik Deutschland vor Augen führt, etablierte Staatsunternehmen wie Bundesbahn, Post/Telekom und Energieversorgungsuntemehmen zu privatisieren, so wären Importzölle in bestimmten osteuropäischen Ländern wohl unter dem Aspekt der Allokationseffizienz vertretbar, wenn dadurch zugleich die Privatisierung wachstumspolitischer und ökologischer Schlüsselindustrien wie Telekom sowie Energie- und Wasserversorgung gelänge. Preiswerte Energiebereitstellung und Telekomleistungen sind ähnlich wie die Verfügbarkeit bestimmter 'Diagonaltechnologien' (Elektronik, Chipanwendung) in praktisch allen Industriebranchen geeignet, zu Kostensenkungen und damit zu verschärftem Wettbewerb um die kaufkräftige Nachfrage zu führen. Eine allgemeine Schutzzollpolitik ist naturgemäß wenig sinnvoll, da sie den Import von preiswerten Vorleistungen und von Endprodukten verhindert, bei denen auch auf lange Sicht keinerlei komparative Vorteile osteuropäischer Staaten zu erwarten sind. Im übrigen ergibt sich aus der Optimalzoll-Theorie, wonach der optimale Zollsatz gleich dem Kehrwert der Importangebotselastizität ist, daß kleine Länder des Ex-RGW-Raums ohne Einfluß auf den Weltmarktpreis auch eine selektive Zollpolitik kaum mit Aussicht auf 'Terms of trade'-Gewinne und verbesserte Wachstumsaussichten betreiben können. Staaten wie Polen, die Ukraine oder Rußland könnten allerdings durchaus durch eine Kombination von rigoroser Privatisiemngspolitik und selektivem Zollschutz profitieren; dies gilt am ehesten bei festen Wechselkursen, die eine monetäre Stabilitätspolitik erforderlich machen, weil sonst die durch Zollprotektion bedingte Verbesserung der Han. delsbilanz rasch zu einer Aufwertung und damit einem Umkehreffekt, nämlich steigenden Importen und sinkenden Exporten, führt. Eine selektive Schutzzollpolitik hätte demnach neben einer rigorosen internen Privatisierungs- bzw. Wettbewerbspolitik zur Voraussetzung, daß eine Antiinflationspolitik dauerhaft durchgesetzt werden kann. Damit kommt einer stabilitätsorientierten Geldund Währungsordnung eine doppelte ordnungspolitische Schlüsselfunktion zu. Allerdings gilt bei festen Kursen, daß durch Handelsbilanzaktivierung entstehende Angebotsüberschüsse über Devisenankäufe der Notenbank bzw. eine Geldmengenausweitung und nachfolgende Preisniveauerhöhungen eine reale Aufwertung - wenn auch wohl langsamer als im Fall flexibler Kurse - zustande kommt, womit unter diesem Aspekt selektiver Protektionismus längerfristig als Ausfuhrhemmnis wirkt. Im übrigen erfordert eine konkurrenzfähige Exportwirtschaft liberalisierte Importmöglichkeiten für Vorprodukte. Zumindest ein Autor plädiert in der Literatur ebenfalls für zeitweise tarifäre Handelsschranken als Element einer optimalen Liberalisierungsstrategie. McKinnon (1991) argumentierte auf Basis der Liberalisierungserfahrungen von Entwicklungsländern, daß

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in Osteuropa zunächst eine effektive Kontrolle der Fiskalpolitik und mithin eine Härtung der Budgetrestriktion des Staates notwendig sei; darauf solle die Liberalisierung des inländischen Finanzsektors - insbesondere mit Blick auf die Erzielung positiver Realzinssätze und Härtung der Budgetrestriktion der Unternehmen - folgen. Im Außenwirtschaftsbereich plädiert McKinnon dafür, zunächst einen einheitlichen Wechselkurs einzuführen (bevor zentrale Kompetenzen des Außenhandelsmonopols aufgehoben werden) sowie quantitative Handelsbeschränkungen abzubauen und durch allmählich sich vermindernde Zollsätze zu ersetzen. Erst langfristig wäre eine Kapitalverkehrsliberalisierung sinnvoll. Schließlich bleibt anzumerken, daß eine selektive Zollpolitik nicht ohne Risiken für die ordnungspolitische Gesamtausrichtung ist, denn eine solche Politik kann insgesamt den Ruf nach protektionistischen und interventionistischen Maßnahmen verstärken. Damit würde das Grundziel einer durchschnittlich gegenüber Westeuropa erhöhten Wettbewerbsintensität mit wachstumspolitischer Ausrichtung verfehlt. Im Zuge eines fortschreitenden Transformationsprozesses und eines ökonomischen Aufholprozesses gegenüber Westeuropa wären dann im Zeitablauf die selektiven Protektionsmaßnahmen vollständig abzubauen; zweckmäßigerweise könnte man frühzeitig einen auf zehn bis fünfzehn Jahre angelegten Reduktionsfahrplan für die Bereiche der selektiven Zollprotektion politisch festlegen. Aus der hier vertretenen Perspektive heraus erscheint eine transformations- bzw. entwicklungsabhängige Ordnungspolitik mit progressiver Liberalisierung im Zeitablauf als für Osteuropa insgesamt problemadäquat. Wenn osteuropäische Länder im ersten Jahrzehnt des nächsten Jahrtausends EG-Vollmitglieder würden, so könnten sie bei einer erfolgreichen Realisierung der skizzierten Strategie als liberalisierte Wirtschaften mit geringem Staatssektor den durchschnittlichen Liberalisierungsgrad der EG erhöhen. c.

Internationale Integrationsprobleme Die Ex-RGW-Staaten waren Jahrzehnte lang von der Weltwirtschaft relativ abge-

schlossen. Die Handelsströme waren primär Intra-RGW-Austauschbeziehungen in Form des Handels mit Produkten von hochspezialisierten Großunternehmen; die Konzeption der 'sozialistischen Arbeitsteilung' förderte eine starke produktmäßige und regionale Spezialisierung, die statische Massenproduktionsvorteile zum Nutzen aller RGW-Partner und der Investitionsgüterbedürfhisse der UdSSR realisieren sollte. Die Rolle komparativer Kosten für die interregionale Arbeitsteilung wurde erst spät erkannt und zu keiner Zeit politisch-ökonomisch im RGW umgesetzt, was sich aus den schon national divergenten Verhandlungs-, Administrations- und Vorzugspreisen für dasselbe Gut sowie dem Fehlen marktdeterminierter Wechselkurse ergab. Während man sich bei

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Tabelle 2: Offenheitsgrad und regionale Handelsorientierung der RGW-Länder zu Beginn der Systemtransformation (Exportquote X/Y und Anteile für Im-/Exporte in vH), 1989/90

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