Die Aufgabe der Gestaltpsychologie 9783110828245, 9783110018677

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Die Aufgabe der Gestaltpsychologie
 9783110828245, 9783110018677

Table of contents :
WOLFGANG KÖHLER, 1887–1967 – Einführung
DIE AUFGABE DER GESTALTPSYCHOLOGIE
I Die Anfänge der Gestaltpsychologie
II Gestaltpsychologie und Naturwissenschaft
III Der gegenwärtige Stand der Gestaltpsychologie
IV Was ist das Denken?
Quellennachweis zu den Abbildungen der Vorlesung III

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Wolfgang Köhler Die Aufgabe der Gestaltpsychologie

Wolfgang Köhler

Die Aufgabe der Gestaltpsychologie Mit einer Einführung von Carroll C. Pratt

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1971

Übersetzt aus dem Englischen von Hertha Kopfermann und Lili Köhler. Die Originalfassung erschien 1969 unter dem Titel „The Task of Gestalt Psychology" im Verlag Princeton University Press.

ISBN 3 1 1 0 0 1 8 6 7 5 © 1971 by Walter der Gruyter Si Co., vormals G. J . Gösdien'sAe Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Budi oder Teile daraus auf photomedianisdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Drude: T h o n r a n n & Goetsdi, 1 Berlin 44

ZU D E N HERBERT SIDNEY LANGFELD MEMORIAL LECTURES 1966

Es war naheliegend, daß Wolfgang Köhler zu den ersten gehören sollte, die eingeladen wurden, um die Herbert S. Langfeld Memorial Lectures zu halten. Langfeld und Köhler waren ihr Leben lang gute Freunde gewesen. Sie hatten in Berlin zusammen studiert und Examen gemacht, ihre wissenschaftlichen und politischen Interessen waren ähnlich, und bei vielen Gelegenheiten zeigte sich, daß in ihrer Beziehung über all die Jahre die gegenseitige große Sympathie sich erhalten hatte und nie nachließ. Als wir an jenem Novemberabend im Jahre 1966 Köhlers Sdilußvorlesung seiner Vorlesungsreihe hörten, hätte niemand von uns gedadit, daß der einzige noch lebende Große der Gestaltpsychologie aus seiner unvergleichlichen Erfahrung zum letzten Mal einen Gesamtüberblick gab. Zum Schluß zeigte Köhler den berühmten Affenfilm, den er vor mehr als fünfzig Jahren auf Teneriffa gemacht hatte, und er lachte zusammen mit seinem Auditorium über die Bewegungen der Schimpansen, durch die er die erste Anregung zu seiner Theorie der Einsicht gewonnen hatte. Als das Licht wieder anging, erhoben sich die Zuhörer und huldigten dem großen Gelehrten mit einem lang anhaltenden Applaus. Köhler starb, bevor er die Vorträge überarbeitet hatte, so daß die letzte Form fehlt, die nur er ihnen hätte geben können. Aber zum Glück für uns wie für die zukünftige Psychologie haben sich einige seiner Freunde und Anhänger, die ihm geistig und persönlich eng verbunden waren, kurz nach seinem Tode zusammengetan, um das Manuskript, das für den Vortrag vor dem Princetoner

Auditorium vorbereitet war, so zu bearbeiten, daß es gedruckt werden kann. Dieser Gruppe — Solomon Asch, Mary Henle und Edwin Newman — sind wir alle, die wir mit den Langfeld Lectures zu tun haben, zu tiefem Dank verpflichtet. Den Anforderungen des gedruckten Wortes gerecht zu werden, ohne bei dieser kritischen Durchsicht Köhlers charakteristische Ausdrucksweise anzutasten, war eine große Kunst. Das für die Vorlesungsreihen verantwortliche Komitee — J. L. Kennedy, J. M. Notterman, C. C. Pratt und der Unterzeichnete — war in der glücklichen Lage, zu seinen eigenen Mitgliedern einen Mann zu zählen, der Wolfgang Köhlers Werk und Persönlichkeit in ausgezeichneter Weise würdigen konnte. In der Einführung von Pratt findet sich eine Erörterung eines Kapitels der Geschichte der Psychologie, wie sie sonst noch nirgends vorliegt. Pratts Kollegen im Komitee bezeugen ihm hiermit ihre Anerkennung. Für das Komitee der Herbert S. Langfeld Memorial Lectures Frank A. Geldard, Vorsitzender

INHALTSVERZEICHNIS

WOLFGANG KÖHLER, 1 8 8 7 — 1 9 6 7

— Einführung

von Carroll C. Pratt

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D I E A U F G A B E DER GESTALTPSYCHOLOGIE

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I Die Anfänge der Gestaltpsychologie

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II Gestaltpsychologie und Naturwissenschaft III Der gegenwärtige Stand der Gestaltpsychologie IV Was ist das Denken? Quellennachweis zu den Abbildungen der Vorlesung III

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WOLFGANG KÖHLER, 1887-1967

Wolfgang Köhler, 1887-1967 Der erste Satz im Vorwort von Köhlers „The Place of Value in a World of Facts" erhebt den kühnen Anspruch, das Buch habe ein philosophisches Thema. Es ist Ralph Barton Perry gewidmet und wagt sich weit auf Gebiete vor, die in Angriff zu nehmen damals die meisten amerikanischen Psychologen gesdieut hätten, sei es, weil sie in ihrer Studienzeit der Autorität von Titcheners Proklamation, Wissenschaft habe nichts mit Werten zu tun, erlegen sein mochten, sei es, daß sie unter den Einfluß der Behavioristen in ihrem energischen Beharren, es ginge nur um Tatsachen, nichts als Tatsachen, geraten waren. Zwanzig Jahre vorher hatte Köhler sein Buch „Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand" (1920) veröffentlicht, das er Carl Stumpf widmete, ein glänzendes Werk, in dem eine Fülle neuer Tatsachen dargestellt war, die er, Wertheimer und Koffka — das „Triumvirat" —, und ihre Schüler gerade ans Lidit brachten, und die er in Beziehung setzte zu einem festen Rahmen physikalischer Feldtheorie. Die Gestaltpsychologie war schon auf dem Wege, Gestalttheorie zu werden; sein Leben lang bestand Köhler darauf, daß die phänomenale Welt für die Wissenschaft die einzige Welt sei, über die der Zugang zur Erkenntnis möglich ist, und daß die Ausgangsgegebenheiten dieser Welt Gestalten seien, unabhängig von dem Blickwinkel oder dem Zweig der Wissenschaft, von dem aus sie aufgenommen werden. Es muß für Köhler in seinen letzten Lebensjahren eine Quelle der Genugtuung gewesen sein zu sehen, wie seine Betrachtungsweise sich durchgesetzt hat, und zwar nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im praktischen Bereich: Ärzte, National3

Ökonomen, Ökologen, Landschaftspfleger und -planer, jedenfalls einige von ihnen, sdieinen mehr und mehr einzusehen, daß ein Vorgehen von einem Punkt aus oft unsinnig ist, da jeder Punkt zu einem größeren Bereich gehören kann, in dem diese Methode unter Umständen zu unerwarteten und manchmal verhängnisvollen Ergebnissen führt. Diese beiden Bücher sind wie alles sonst, was Köhler tat und sagte und schrieb, ein überzeugender Beweis eines aktiven und originalen Geistes, der mehr als ein halbes Jahrhundert lang alle Arten von Fragen in Angriff nahm, die über die gewohnten Grenzen und Interessen eines Experimentalpsychologen hinausgingen. Köhler war Philosoph, Psychologe, Physiologe, Physiker, Humanist, ein großer Freund der Natur, von Reisen und Kunst, insbesondere von Musik, und ein Mann, dessen Interesse am politischen Leben es ihm ermöglichte, audi wenn es unangenehm war, von dem Elfenbeinturm der Wissenschaft herabzusteigen, wann immer und wo immer er fühlte, daß er helfen könne. Die beiden Veröffentlichungen „Die physischen Gestalten..." und das frühere Werk „Intelligenzprüfungen an Anthropoiden" (1917), welches bald sehr populär werden sollte, trugen unzweifelhaft dazu bei, Köhlers Berufung an die Universität Berlin als Direktor des Psychologischen Instituts (1921) durchzusetzen. Dort hatte Köhler die beherrschende Position bis 1935, als er sich entschloß, Deutschland für immer zu verlassen. Sein Verhalten den Kollegen und Studenten gegenüber erschien damals sehr zurückhaltend, manchmal sogar ablehnend. Diejenigen jedodi, die eng mit ihm zusammenarbeiteten, verehrten ihn tief, und viele andere, die ihn näher kennen lernten, gewannen die Uberzeugung, daß seine zurückhaltende Art eine große Schüchternheit verbarg, die seine Beziehungen zu den Menschen schwierig werden ließ. In seinen späteren Jahren in den USA blieb dieser Untergrund von Schüchternheit, doch traten jetzt seine vornehme Natur und seine große Liebenswürdigkeit immer offener zutage. Mit dem Tode von Wundt im Jahre 1920 hörte die Rivalität der Schulen von Berlin und Leipzig auf. Berlin überflügelte Leipzig jetzt in weitem Abstand als das unbezweifelte Mekka für 4

Studenten aus Europa, Amerika und Asien, die wissen wollten, was im Nachkriegsdeutschland in der Psychologie vor sich ging. Köhlers Institut befand sich in einem Teil des ehemaligen kaiserlichen Schlosses, und von dort veröffentlichten er und seine Kollegen und Studenten in einer eigenen Zeitschrift „Psychologische Forschung" eine erstaunliche Zahl von Arbeiten, weitgehend auf dem Gebiet der Wahrnehmung, die es in kurzer Zeit in der ganzen Welt für Professoren und fortgeschrittene Studenten der Psychologie und verwandter Gebiete notwendig machten, zu lernen, wie man mit Verstand, wenn auch nicht immer mit Sympathie, über Gestaltpsychologie zu reden habe. Köhler trug glänzend vor; die Studenten kamen in großer Zahl zu seinen allgemeinen Vorlesungen. Die Vorlesungen waren sorgfältig vorbereitet, und die Studenten waren fasziniert von dem glücklichen Zusammentreffen so vieler reizvoller Gaben in einem Menschen: von Köhlers gutem Aussehen und seiner eindrucksvollen Erscheinung, von seiner auffallend markanten Stimme und dem Fluß seiner Rede, die durch ein für Klang und Nuance empfindliches Ohr geleitet wurde, von seinem Sinn für Gliederung und Darstellung, und seiner Fähigkeit, ein Thema abzuhandeln, als ob es eine Fuge wäre, die sich unaufhaltsam auf einen unerbittlichen Schluß hin bewegt. Nachdem Köhler im Herbst 1934 an der Harvard-Universität die William-James-Vorlesungen, die den Hauptteil von „The Place of V a l u e . . . " bilden, gehalten hatte, konnte er eine schmerzliche Entscheidung nicht länger herausschieben: sollte er ins HitlerDeutschland zurückkehren oder nicht? Schon vor der Machtübernahme durch Hitler und auch später hatte Köhler wiederholt seine Landsleute und vor allem seine Kollegen von der Universität vor den Gefahren des Nationalsozialismus gewarnt. Er benutzte alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel, um den Warnruf zu verbreiten; zum Beispiel veröffentlichte er in der Deutschen Allgemeinen Zeitung einen langen heftigen Angriff gegen das Regime, der so großes Interesse und so starke Erregung hervorrief, daß Extrablätter davon in den Straßen verteilt wurden. Als er sich einmal, nachdem Studenten in 5

SA-Uniform in seinem Institut herumspioniert und sein Seminar gestört hatten, beschwerte, gab er dem verantwortlichen Beamten eine solche Lektion, daß dieser zusammenschreckte und verdutzt sein Erstaunen und seine Bewunderung ausdrückte, daß ein Professor es wage, so aufzutreten. Jedoch, als er seine Fassung wiedergewonnen hatte, sagte er: „Ich habe keine Lust, etwas für Sie zu tun." und ging mit dem Hitlergruß weg. Köhlers Freunde bewunderten seinen Mut, fürchteten aber gleichzeitig, daß er eines Tages still und unbemerkt vom Schauplatz verschwinden könne. Jedoch nichts geschah; aber auch innerhalb der Universität geschah nichts von Bedeutung, dort, wo Köhler gehofft hatte, seine Kollegen zu irgend einer gemeinsamen Aktion bewegen zu können. Hier traf er in seinem Bemühen nur auf Schwäche und Versagen. Die meisten Professoren taten die Nazis als eine Bande von Verbrechern ab, die niemals die politische Maschinerie des fortgeschrittensten Staates der Welt in die Hand bekommen würden; oder sie weigerten sich, als Gelehrte, in Dinge verwickelt zu werden, die nicht zu ihrem Fach gehörten oder außerhalb ihrer eigentlichen Einflußsphäre lagen. So kam es 1934 zu einem kritischen Wendepunkt in Köhlers Leben. Zu dieser Zeit beherrschten die Nazis schon praktisch alle Bereiche, und es erschien höchst unwahrscheinlich, daß etwas geschehen könne, um sie noch herauszudrängen. In dieser feindlichen und zerstörerischen Atmosphäre, die ihn umgab, konnte Köhler — das wußte er — seine Arbeit nicht fortsetzen. So beschloß er, voll Kummer und Zorn, als Chef des Instituts zurückzutreten und sein Land zu verlassen. Er kehrte noch einmal für kurze Zeit nach Berlin zurück, um dort endgültig abzuschließen, und nahm zum Herbst 1935 eine Einladung von Mr. Aydelotte an, research professor am Swarthmore College zu werden, in dessen von Freundschaftlichkeit erfüllter Gemeinschaft er praktisch ohne Unterbrechung die Art von Forschen und Schreiben wieder aufnehmen konnte, die für seinen Seelenfrieden nötig war. Den Sommer 1937 verbrachte er mit seiner Frau und seiner Tochter Karin auf Monhegan, einer Insel vor der Küste von Maine, wo er mit Hilfe von Robert MacLeod die letzte Überarbeitung von „The Place of 6

V a l u e . . . " vornahm. Einige Jahre darauf kauften Köhlers eine Farm in der Nähe von Dartmouth, in den Bergen von New Hampshire, wo sie nach seiner Emeritierung immer den schönen Teil des Jahres verbrachten. Wertheimer und Koffka waren inzwischen auch nach den USA emigriert, und das „Triumvirat" verbreitete mit unermüdlichem Eifer die Lehre von der Gestaltpsychologie. Sie fanden ihre amerikanischen Kollegen tief in die Sünden der subjektivistischen Analyse oder des Behaviorismus verstrickt, jedoch schien es Grund zur Hoffnung zu geben — oder Köhler glaubte es wenigstens —, weil diese Sünden hauptsächlich Unterlassungssünden waren. Sowohl das Material der Selbstbeobachtung wie das des äußeren Verhaltens sind Bestandteile der phänomenalen Welt und als solche der Wissenschaft zugänglich; aber wenn man Empfindungen und Reflexe durch eine überfeinerte und künstliche Analyse isolierte und dann sich fast ausschließlich auf diese konzentrierte, so hatten die Vertreter beider Richtungen die wichtigsten Charakteristika von Verhalten und Bewußtsein — die Geschlossenheit ihrer Strukturen, die Gestalten — übersehen oder ausgelassen, die gerade das eigentliche Wesen des seelisch-geistigen Lebens ausmachen und nicht der Summe soundsovieler Empfindungen und Reflexe gleichgesetzt werden können. Dieses Thema wird in einem großen Teil von Köhlers 1929 erschienenem Buch „Gestaltpsychologie" behandelt, das für die amerikanischen Psychologen sozusagen eine Vorankündigung für die Art des Feldzuges war, den das „Triumvirat" in seiner neuen Heimat führte. Ein Satz, den man häufig in Zusammenhang bringt mit den besonderen Eigenschaften in sich organisierter Ganzheiten, wurde, obwohl er von den Gestaltpsychologen eigentlich nie benutzt wurde, eine Ursache dauernden Ärgers für sie: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile." Viele amerikanische Psychologen waren geneigt, diesen Satz als das Hauptthema der Gestaltpsychologie anzusehen, und hörten nicht auf, ihn als den Inbegriff der Absurdität anzugreifen. Köhler sagte oft, es sei bedauerlich, daß seine Gegner nicht behalten hätten, was er wirklich

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gesagt habe, nämlich, daß das Ganze verschieden sei von der Summe seiner Teile. Wenn die Töne c und g zusammen erklingen, so entsteht eine Qualität, die in der Musik Quinte heißt. Die Qualität liegt weder in dem Ton c noch in dem Ton g, noch hängt sie von diesen bestimmten Tönen ab. Jedes Paar von Tönen mit dem Schwingungsverhältnis 2 :3 kann unmittelbar als Quinte erkannt werden, unabhängig davon, in welchem Bereich der Tonleiter es gespielt wird. Die Quinte ist eine „Gestalt", die unterschieden ist von den beiden sie bildenden Teilen, und das genaueste Wissen um die isolierten Teile vermag nicht den geringsten Hinweis zu geben, was eine Quinte ist. Solvitur audiendo. Wenn in der „Gestaltpsychologie" von 1929 ein bestimmter Zusammenhang ausführlicher und deutlicher behandelt worden wäre, wäre dadurch vielleicht eine auffallende Haltung des „Triumvirats" verständlicher gewesen, über die man sich oft wunderte, nämlich der ungewöhnliche Eifer, mit dem die drei fast alle Probleme aufgriffen, die unter den amerikanischen Psychologen diskutiert wurden. Sie schienen den Kampf zu suchen, und es gab in Amerika hinreichend Meinungsverschiedenheiten in der akademischen Welt, daß sie genug zu tun bekamen, insbesondere Köhler, der überall als Redner aufzutreten gebeten wurde und der von den dreien bei weitem am besten verstand, in Kontroversen den beiden streitenden Parteien den Weg zu zeigen, wie die Irrtümer ihrer jeweiligen Position sich durch die Einsichten der Gestaltpsychologie korrigieren ließen. Die erbittertste Kontroverse in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren bestand zwischen den klassischen Psychologen (den Nachfolgern von Wundt und Titchener) und den Behavioristen. Die heutigen jüngeren Psychologen können sich von der Heftigkeit dieser Kontroverse und besonders von der bissigen Weise, in der sie ausgetragen wurde, wohl kaum mehr eine Vorstellung machen. Die einen sahen die anderen oft an, als wären sie total schwachsinnig, mit ihrem leeren Gerede über den Gegenstand der Psychologie. Köhler stand über den Parteien. Er griff die Fehler an, die auf beiden Seiten gemacht wurden, besonders 8

die atomistische Auffassung von Empfindungen und Reflexen, mischte sich aber nie direkt in den Kampf zwischen beiden ein. Welches war der Grund zu diesem Verhalten? Die Antwort war schon in der „Gestaltpsychologie" (besonders in Kapitel III) angedeutet, aber da sie oft übersehen wurde, verdeutlichte Köhler seine Stellung in dieser Sache viel ausdrücklicher in späteren Seminaren und Vorlesungen. Ein Teil der Antwort war ganz klar durch Köhlers beharrliche Behauptung, daß sowohl die aus der Verhaltensweise wie die aus der Selbstbeobachtung gewonnenen Daten phänomenale Zusammenhänge seien und daß jede (angenommene) Differenz zwischen ihnen zu einem unlösbaren metaphysischen Rätsel, dem Leib-Seele-Problem, führen müsse, oder, mit größerer Wahrscheinlichkeit, reiner Hokuspokus wäre. Aber es gab einen triftigeren Grund dafür, daß er sich nicht einmischte. Phänomenale Gegebenheiten sind in jeder Wissenschaft Ausgangspunkte, Bausteine für das zu errichtende begriffliche Gebäude, in das sie passen müssen. Einzeln betrachtet sind sie nicht von besonderem Interesse oder besonderer Bedeutung. Sie werden erst in dem Maße wichtig, wie sie zur Prüfung einer Hypothese dienen, eine Theorie bestätigen, weitere Spekulationen möglich machen oder zu einer mathematischen Formulierung führen können oder dergleichen. Hypothesen und Theorien sind logische Gebäude, keine Beobachtungen, obwohl Beobachtungsmaterial für ihre Formulierung die Voraussetzung ist. Die moderne Physik zum Beispiel ist weit von der phänomenalen Welt abgerückt, die ihr Ausgangspunkt war, auf die sie aber immer wieder zurückkommen können muß. Die phänomenale Welt ist die eine Welt, in der wir leben: Häuser, Tische, Stühle, Autos, Felsen, Berge, Flüsse, Seen usw.; aber die Welt der Physik ist eine ganz andere; sie hat sich schon seit Galilei und Newton in stetiger Entwicklung von der Anschauung entfernt, bis sie vielleicht eines Tages hauptsächlich in mathematischen Formeln bestehen wird. Ebenso ist es in der Psychologie. Die phänomenale Welt ist dieselbe wie die, auf die die Physiker immer wieder zurückkommen müssen, um ihre Formeln zu verifizieren; aber für den Psy9

chologen ist sie der Ausgangspunkt für seine Hypothese über das, was innerhalb des lebenden Organismus vor sich geht. Die Weise, wie Menschen denken, fühlen, sich verhalten, wahrnehmen, sich erinnern, Probleme lösen, usw. hängt offenbar zum Teil von Nervenprozessen ab, von denen man die meisten zur Zeit leider noch nicht genau kennt, die durch Beobachtung der phänomenalen Gegebenheiten von Selbstbeobachtung und Verhaltensweise näher zu erforschen aber die Aufgabe der Psychologie ist. Diese Gegebenheiten können Angaben über die scheinbare Größe von Gegenständen, Fehler bei der Reproduktion von Reihen sinnloser Silben, die Zahl der Fehler, die eine Ratte bei einem Labyrinthversuch macht, oder zahllose andere Erscheinungen sein, die sich am lebenden Organismus zeigen. Da sie selbst nur wichtig sind für die Rolle, die sie beim Aufstellen physiologisdier Hypothesen spielen, betrifft der Streit, welches die geeigneten Objekte für die Psychologie seien, die Sadie eigentlich gar nicht; alles ist geeignet, was dazu beiträgt, eine Hypothese zu gewinnen. Es ist hier ähnlich wie bei dem Verhältnis zwischen den Symptomen, die ein Kranker aufzählt, und der Diagnose, die der Arzt stellt. Der Arzt interessiert sich nicht für die Schmerzen, für Kurzatmigkeit, Übelkeit und andere Krankheitserscheinungen als solche. Diese Symptome sind nur Anhaltspunkte, die ihm helfen, eine Diagnose darüber zu stellen, was mit dem Organismus des Patienten nicht in Ordnung ist. Wenn die Fakten der Psychologie und überhaupt jeder Wissenschaft in dieser Weise als Anhaltspunkte angesehen werden müssen, so ist es gleichgültig, ob sie objektiv oder subjektiv, seelisch oder physisch, allgemein oder individuell sind, was auch immer diese Worte bedeuten mögen. Das ist der Grund, warum die große Kontroverse der Zwanziger- und Dreißigerjahre in der amerikanischen Psychologie so wenig Interesse bei Köhler auslöste. Der Gesichtspunkt, die Daten einer Wissenschaft zu übersetzen in die Sprache einer älteren und höher entwickelten anderen Wissenschaft und sie in ihr darzustellen, bedeutet eine methodisdie Vorgehensweise, gegen die sich recht viele amerikanische Psychologen wehren. Sie argumentieren, daß in der Psychologie unge10

heuer viel noch zu erforschen sei und man keine Zeit mit unnützen Spekulationen über physiologische Hypothesen verlieren solle. Im Gegensatz zu dieser puristischen Haltung war Köhler überzeugt, daß es um „einiges mehr" ginge. Er fand, daß die psychologischen Phänomene eigentlidi schon recht ausführlidi durchforscht seien und daß kein wirklicher Fortschritt erzielt werden kann, wenn die Psychologen nicht anfingen, andere Dinge miteinzubeziehen. Die Vorgehensweise von Köhler, wo er sidi auf das Gebiet physiologischer Hypothesen begab, sieht man sehr scliön in seiner berühmten Abhandlung über den Zeitfehler (Psychologische Forschung, 1923). Fechner hatte vor mehr als 60 Jahren den Zeitfehler richtig erkannt und von ihm stammt audi der Name, aber seither hatte man nicht viel mehr damit angefangen, als daß man das Ganze als eine Täuschung ansah und versuchte, davon loszukommen, entweder indem man die Reihenfolge der Reizdarbietungen umkehrte, oder das Übergewicht der Urteile „aufsteigend" (negativer Zeitfehler) abschwächte durdi Weglassen von einem oder zwei Reizen in dem Bereich, wo die Verschiebung am stärksten ist. Köhlers Idee war, die Erscheinung nicht als Täuschung anzusehen, sondern vielmehr als Anhaltspunkt, um eine Erklärung physiologischer Mechanismen zu gewinnen. Ein oder zwei Jahre vorher hatte Borak die Vermutung ausgesprochen, daß der negative Zeitfehler auf die Verstärkung des Eindruckes des zweiten Reizes durch die physiologische Nadierregung, die von dem ersten Reiz herrührt, zurückzuführen sei. Köhler kam auf die andere Vermutung, daß als Nachwirkung des ersten Reizes eine unabhängige absinkende Spur erhalten bliebe, und daß aufgrunddessen der zweite Reiz häufiger im Sinne der „aufsteigenden" Richtung beurteilt würde. In seinen Überlegungen hatte Köhler die glücklidie Idee, daß nach diesen beiden Hypothesen einander gerade entgegengesetzte Resultate erwartet werden müßten, wenn als zeitlicher Abstand zwischen den Reizen anstelle der üblichen 4 Sekunden 8, 12, 16, 20, usw. Sekunden genommen würde. Nach Boraks Hypothese würde mit den größeren Zeitabständen die Verstärkung des zweiten Eindrucks geringer werden, d.h. der negative ZeitIi

fehler also zunehmend kleiner werden müssen, während nach Köhlers Hypothese der Zeitfehler ansteigen müßte. Die ausführlichen Versuche, die in Köhlers langer Abhandlung beschrieben werden, waren keineswegs bloß eine neue Variante der Untersuchung eines wohlbekannten Phänomens. Sie waren ausdrücklich als experimentum crucis für zwei physiologische Hypothesen geplant. Die Ergebnisse waren eindeutig. In allen den Serien mit mehreren, verschiedenartigen Reizen stieg der negative Zeitfehler mit jeder Vergrößerung des Zeitabstandes zwischen den Reizen an. Köhlers Hypothese schien also die wahrscheinlichere Annahme hinsichtlich des physiologischen Mechanismus oder der dabei auftretenden Gedächtnisspur. Köhlers Kurve, die den Verlauf der absinkenden Spur zeigen sollte, fand bald den Weg in die Literatur der Theorie des Gedächtnisses und der Psychophysik, wo man sie auch heute noch oft findet, obwohl Lauenstein zehn Jahre später nachwies, daß die Kurve durch eine Reihe von Kurven ersetzt werden und völlig anders interpretiert werden müsse, und Köhler dem ohne Vorbehalt zustimmte. Otto von Lauenstein war einer der von Köhler am meisten geschätzten jungen Psychologen im Berliner Institut. 1937 ging er nach England und wollte 1939 von da aus eine Stellung an der Rutgers University in den USA annehmen. Vorher kehrte er noch einmal nach Deutschland zurück, und als der Krieg im September ausbrach, telegraphierte er an die amerikanische Universität, daß er nicht über die Grenze kommen könne. Er wurde eingezogen und schwer verwundet. Trotzdem wurde er in den letzten Tagen des Krieges noch einmal an die Front geschickt und gehört zu den Vermißten, von denen man nie wieder etwas gehört hat. 1932 hatte Lauenstein einen Artikel in der „Psychologischen Forschung" veröffentlicht, in dem er die Meinung äußerte, daß Köhlers Vorstellung von der absinkenden Spur vom Gesichtspunkt der Gestaltpsychologie her unbefriedigend sei. Die Spur könne unmöglich einfach wegfallen; das wäre ein schlimmer Rückfall in überholte Denkvorstellungen. Die Spur muß absinken, weil irgend etwas sie auf ein niedrigeres Niveau herunterdrückt; und wenn sie heruntergedrückt werden kann, so muß sie auch 12

durch Einschaltung eines Reizhintergrundes, der merklich über den zu beurteilenden Reizen liegt, her aufgedrückt werden können (positiver Zeitfehler). Genau dies versuchte Lauenstein in vielen Experimenten, und er konnte schließlich zeigen, daß der Zeitfehler je nach den Niveaus des eingeschalteten Reizhintergrundes positiv oder negativ ausfallen kann. Er führte deshalb den Begriff der physiologischen Assimilation ein; eines Mechanismus, durch den sich am besten jede Art des Zeitfehlers erklären ließe. Etwa um die gleiche Zeit sowie in den darauf folgenden Jahren wurden viele Experimente in den USA herausgebracht, die durchaus in dieselbe Richtung wiesen. Sie wurden zusammen mit ähnlichen Untersuchungen sehr detailliert später in den ersten Abschnitten von Helsons bedeutendem Buch „ Adaption-level Theory" (1964) behandelt. Köhler gefiel Lauensteins Arbeit, besonders die Weise, wie er gezeigt hatte, daß der Herr Professor selbst im Sinne der Gestalttheorie bei der Auslegung des Zeitfehlers vorbeiinterpretiert habe. In den USA wies Köhler gelegentlich mit einem gewissen Lächeln auf Lauensteins Arbeit hin, die ein Beweis sei, daß die deutschen Studenten wenigstens in seinem Institut nicht intellektuelle Sklaven der Gedanken ihres Lehrers gewesen waren; denn hatte nidit einer von seinen eigenen Schülern aufgezeigt, daß der Gestalttheoretiker bei der Anwendung seiner Theorie selber einen Schnitzer gemacht hatte? Von einer Reihe von Wissenschaftlern wurde Köhler wegen seiner Arbeit über den Zeitfehler, wie auch wegen anderer Untersuchungen angegriffen, nicht so sehr hinsichtlich der aufgezeigten Tatbestände, sondern vielmehr, weil es ihnen völlig unnötig schien, in der Gehirnphysiologie, oder, wie sie oft spöttisch sagten, Gehirnmythologie herumzupfuschen. Im Fall des Zeitfehlers war eine der Versuchsvariablen die Zeitspanne zwischen der Darbietung des ersten Reizes und eines zweiten Vergleichsreizes. Warum, so fragten sie, war mehr als ein halbes Jahrhundert kein Psychophysiker auf die Idee gekommen, ausfindig zu machen, welcher Effekt durch die Vergrößerung der Zeitspanne herauskommen würde? Insofern sie der schon erwähnten puristischen Ein13

Stellung zuneigten, hielten sie es für ganz klar, daß kein Bezug und keine Berufung auf die Physiologie nötig sei, um diesen Schritt zu tun, oder sich überhaupt auf irgendeinem Gebiet der Psychologie auf neue Vorgehensweisen oder Beobachtungen einzulassen. Sie argumentierten, daß die Einführung physiologischer Begriffe wahrscheinlich nichts anderes wäre als das Abwickeln von Zirkelschlüssen, indem die Eigenschaften, die dem Nervensystem zugeschrieben werden, gerade von den Beobachtungen abgeleitet würden, die die Begriffe erklären sollen. Ohne sich von diesen Argumenten beirren zu lassen, antwortete Köhler den Kritikern in seinem Buch „Dynamics in Psychology" (1940, insbesondere S. 115—126), sowie auch in einer Reihe von späteren Artikeln, und in seinen letzten Lebensjahren suchte er geduldig weitere Belege, um den Isomorphismus zu stützen: die Theorie, die in Wertheimers Arbeit über das phi-Phänomen aus dem Jahre 1912 konzipiert und in Köhlers „Die physischen Gestalten . . im einzelnen ausgearbeitet war. Bedauerlicherweise haben weder Köhler, noch Wertheimer noch Koffka eine eingehendere Abhandlung über die Philosophie und Psychologie der Kunst geschrieben. Ein Artikel von Koffka wurde in dem Bryn Mawr Symposion on Art (1940) veröffentlicht, aber viele Fragen sind darin nur angeschnitten. Jeder von ihnen hätte einen dicken Band über diesen Gegenstand schreiben können; sie alle drei liebten Kunst und wußten viel darüber, wie sidi in ihren Unterhaltungen, Vorlesungen und Schriften gezeigt hat. Die Vorstellungen, die sie in der Gestaltpsychologie entwickelt haben, waren, mit geringer Verschiebung in der Akzentuierung und hinsichtlich des Beweismaterials, direkt anzuwenden auf einige der zentralen Probleme in der Ästhetik. Köhlers Vorliebe galt der Musik, obwohl auch die anderen Künste ihn sehr interessieren konnten. Musik vermochte ihn zu beruhigen und auch zu begeistern. Wenn er Stimmungen unterworfen war und manchmal trotz seiner höflichen und liebenswürdigen Art mißmutig erschien, so vermochte mehr als alles andere Musik ihn zu bewegen, wieder zu lächeln und seinen frohen Gesichtsausdruck wiederzugewinnen. Er war ein guter Klavierspieler 14

und liebte die „klassische" Musik, zu der er allerdings die Musik Wagners nicht zählte. Köhlers Schriften wie die Koffkas nehmen an so vielen Stellen Bezug auf das Wesen der Kunst, daß von da aus, auf der Basis der Gestalttheorie, eine richtungweisende Orientierung für die ästhetische Theorie von einigen Philosophen und einzelnen Psychologen entwickelt werden konnte. Diese Entwicklung ist weniger bekannt unter den Studenten der allgemeinen Experimentalpsychologie, aber man muß sie anführen, wenn es darum geht, sich den weiten Einfluß von Köhlers Schriften zu vergegenwärtigen. Seine Ideen gewannen Einfluß zu einer Zeit, als in den USA durch ein rasches und erstaunlich starkes Ansteigen des Interesses für Kunst auch zugleich eine neue und lebhafte Beschäftigung mit Ästhetik, Kunstgeschichte, Musikgeschichte etc. einsetzte. In der Weise der Behandlung der Wahrnehmung ist einer der entscheidenden Gegensätze zwischen der Gestaltpsydiologie und der klassischen Psydiologie zu sehen. Bei Titchener ist die Wahrnehmung behandelt als ein Zusammentreffen von Empfindungen, und als etwas, dessen Bedeutung sich stets aus vorhergehender Erfahrung ableitet. Die Wahrnehmung der optischen Tiefe zum Beispiel müsse offenbar das Ergebnis von Lern Vorgängen sein; da die Retina zweidimensional angelegt ist, könne sidi auf ihr keine Reizlage für Tiefenwahrnehmung und daher auch diese selbst sich nicht ergeben. Trotzdem scheinen wir ganz spontan und unmittelbar Tiefe zu sehen, wie Titchener feststellte (A Beginnens Psychology, 1918, S. 117). Wie kommt das zustande? Man kann es nur so verstehen, daß ein Zusammenhang kinästhetischer und visueller Empfindungen und Vorstellungen sich auf das zweidimensionale Grundgerüst überträgt und so die Bedeutung der optischen Tiefe entstehen läßt. Das Auge allein kann Tiefe nicht wahrnehmen; da aber Tiefe in beträchtlichem Umfang erscheinen kann, ist die Tiefenwahrnehmung also eine erlernte Vorstellung. In den Wahrnehmungsuntersuchungen wird den Empfindungen und der Bedeutung von der Gestaltpsychologie eine geringere Rolle zugeschrieben; den Empfindungen, weil sie mehr oder weniger künstliche Abstraktionen darstellen, die selten der Beobachtung in rei15

ner Form zugänglich sind, und der Bedeutung, weil man sie gewissermaßen wie einen Papierkorb benutzen kann, um alles, was nicht genau in das Schema von Vorstellung und Empfindung paßt, hineinzuwerfen und verschwinden zu lassen. In gewisser Hinsicht bedeutet die Gestaltpsychologie eine kritische Neuformulierung des Nativismus, insofern sie z.B. darauf besteht, daß zur Erklärung psychologischer Phänomene kein Zurückgreifen auf vergangene Erfahrung erlaubt ist, bevor nicht alle anderen Möglichkeiten bis ins letzte untersucht worden sind. Die wesentlichen und auffallendsten Verhältnisse der Wahrnehmung sind: Räumlichkeit, Krümmungen, Bewegung, Richtungen, Gruppierungen, Formen jeder Art, Umrisse, die verschiedenen Konstanzerscheinungen, Akkorde, Melodien, Tempo, Rhythmus, Diminuendos, Crescendos usw. Diese Phänomene sind Gestalten, nicht Empfindungen, und sie haben ihre besonderen Gesetze und erfordern Untersuchungsmethoden, die wenig zu tun haben mit den Prinzipien und Vorgehensweisen der klassischen Psychologie. Abgesehen von diesen spezifischen Größen der Wahrnehmung fällt aber in vielen Fällen ein besonderer Zug auf, der widitiger sein kann als all dieses, nämlich, daß es einen Gesamteindrudi gibt, der behalten wird, lange nachdem Einzelheiten aus dem Gedächtnis verschwunden sein können, falls sie überhaupt je bemerkt wurden. Man kann sich leichter an die Freundlichkeit eines Gesichts erinnern als an die Größe der Nase, den Augenabstand, den Scheitel, die Lippenform, die Größe der Ohren, ja sogar als an die Farbe der Augen. Freundlichkeit des Gesichtsausdrucks gehört, ebenso wie unzählige andere, entsprechende Qualitäten in der Wahrnehmung zu den sogenannten Tertiärqualitäten, die sich am besten mit Worten bezeichnen lassen, wie man sie auch für Stimmungen gebraucht. Ein Zimmer ersdieint düster und unbehaglich, das Meer aufgewühlt, die Stimme aus dem Radio gedrückt und monoton, das Gesicht unseres Nachbarkindes frisch und fröhlich, das Gebaren des Redners herrisch, usw. Die Natur der Tertiärqualitäten und ihre Bedingungen aufgewiesen 16

zu haben, ist einer der wichtigsten Beiträge der Gestaltpsychologie zur Ästhetik. In Kunstwerken treten Tertiärqualitäten am häufigsten und eindrucksvollsten in Erscheinung und werden von vielen Fachleuten gerade als der Grund für die Anziehungskraft und nachhaltige Wirkung der Kunst angesehen, die sie immer und überall gehabt hat. Beethovens Musik ist oft gewaltig, ja titanisch, obwohl — wie bei Michelangelos Plastiken — viele Beispiele besonderer Zartheit vorkommen; das Antlitz von Renaissancemadonnen mag wehmütig, ja traurig sein, Mozarts Musik tragisch trotz des Glanzes ihrer äußeren Erscheinung, die Fenster von Chartres strahlen in großer Farbenpracht, viele Stellen bei Reger sind von romantischer Inbrunst, usw. Wie kommen diese Qualitäten zustande? In der klassischen Psychologie hätte man sie wohl, sofern sie überhaupt beachtet und nicht einfach übergangen wurden, als einen Fall von „Bedeutung" angesehen, als eine irgendwie zustandegekommene Assoziation, die man meistens irrtümlich auf das Zusammenwirken visueller und akustischer Eindrücke zurückführen würde. Äußere Gegenstände jedoch enthalten keine Stimmungen oder Gefühle; Stimmungen und Gefühle müßten innerhalb der Person liegen, die sie hat, nicht außerhalb. In den Theorien von Lipps und Santayana, die um die Jahrhundertwende allgemein bekannt zu werden begannen, war eine ähnliche Antwort auf die umstrittene Frage der ästhetischen Bedeutsamkeit enthalten. Ihre klaren und einfachen Argumente waren wie ein Geschenk des Himmels für die klassischen Psychologen wie auch für die Philosophen jener Zeit, die an dem Problem der Empfindung in der Kunst interessiert waren. Lipps* Lehre von der Einfühlung wurde bekannter, zum Teil wohl darum, weil sie sehr detailliert für den Gebrauch in der allgemeinen Psychologie, besonders für die Interpretation der sogenannten optischen Täuschungen ausgearbeitet worden war, bevor der Verfasser sie in die Ästhetik übertrug. Eine Landschaft kann friedlich, ein Berg majestätisch, eine Melodie traurig wirken, weil in dem Beschauer oder Zuhörer ein Gefühl angeregt und nun fälschlicherweise in 17

die Modalitäten des Gehörten oder Gesehenen projiziert wird. Die Melodie selbst kann natürlich nidit traurig sein, aber der Hörer nennt sie so, weil ihm nicht bewußt ist, daß die Traurigkeit aus seinem eigenen Inneren kommt. Er überträgt das, was er fühlt, in das, was er hört. Das Wort „Einfühlung" ist ein guter Ausdrude für die Lipps'sche Idee, besser als das englische Wort „empathy". Seine Lehre schien die ideale Lösung des Geheimnisses zu sein, wie die subjektiven Zustände, Gefühl und Empfindung, ihren Weg in die Kunstwerke finden, und sie schien der gewichtigen alten Behauptung einen guten Sinn zu geben, daß Kunst die Objektivierung des Subjektiven sei. Diese Lehre wurde zum ersten Mal ernsthaft angefochten, als Köhler und Koffka sie 40 Jahre nach ihrem Entstehen ihrer Kritik unterzogen. Santayanas berühmte These, Schönheit sei Freude, angesehen als eine Eigenschaft des Gegenstandes, enthielt ein dem der Einfühlung sehr ähnliches Prinzip. Die eine Seite der Kunst sind sinnliches Material und Form; die andere umfaßt Stimmungen, Gefühle, Assoziationen, die durch sinnliches Material und Formen erweckt werden. Im ästhetischen Erlebnis müssen sich die beiden Seiten so verbinden, daß die letzteren als ein integraler Bestandteil des Kunstgegenstandes erscheinen. Die Freude ist in dem Gegenstand, nicht in der Person, oder so scheint es wenigstens. Der Angriff gegen die Einfühlungstheorie, wie er in seinem vollen Umfang von Köhler geführt wurde, zielte in verschiedene Richtungen. Köhlers Haupteinwand war, daß sie überhaupt kein Problem löse, sondern es nur irgendwohin zurückschiebe. Wenn in ihrem eigenen Bereich Seh- und Gehöreindrücke keine Tertiärqualitäten haben sollen, wie könne es dann geschehen, daß kinästhetische, viscerale und ähnliche Modalitäten sie in so hohem Maß besitzen? Köhlers einfache, aber weitreichende Antwort gründete sidi wieder auf das Grundprinzip der Gestaltpsychologie. Phänomenale Erfahrung, unabhängig woher sie kommt, besteht aus Gestalten, und es gibt Tertiärqualitäten bei visuellen und akustischen Eindrücken genau so wie bei den anderen Modalitäten. Es geschieht da keine Übertragung von einem zum andern; das wäre unmöglich. Ein hörbarer Rhythmus liegt als solcher natürlich 18

im Hörbaren; aber derselbe Rhythmus — die Gestalt — kann auch ins Visuelle oder Taktile fallen. Der graziöse Schwung eines Walzerrhythmus zum Beispiel — eine Tertiärqualität — kann in allen drei Modalitäten erscheinen. Für Gestalten und ihre Tertiärqualitäten gibt es unendlich viele bildlidhe Beziehungen und Ähnlichkeiten durch alle Modalitäten hindurch. Darin ist die besondere Möglichkeit der Kunst begründet: menschliche Stimmungen und Gefühle vermögen in bildhafter Verkörperung durch visuelle und hörbare Formen dargestellt zu werden, und zwar offensichtlich viel direkter und wirksamer als in einer symbolisdien Darstellung; Schöpfungen dieser Art, von Genies hervorgebracht, werden so die Meisterwerke in Malerei, Musik, Plastik, Ballett und Architektur. Für die Einfühlungstheorie gibt es wenig faktische Beweise, die sie stützen könnten, während die Ansätze gegen sie sich schon in Wertheimers früher Arbeit über das phi-Phänomen finden lassen. Die Scheinbewegung entsteht nicht aus der Verschmelzung der kinästhetischen Empfindlichkeit des Auges und visueller Qualität. Das phi-Phänomen läuft schneller ab, als das Auge sich bewegen kann, und man kann es sogar so einrichten, daß es gleichzeitig in mehreren Richtungen läuft, was das Auge sicher nicht kann. Das phi-Phänomen ist eine rein visuelle Qualität sui generis. Wenn das Auge sich, wie zum Beispiel beim Lesen, bewegt, so macht es ruckweise Bewegungen, gleichgültig, wie der Inhalt des visuellen Feldes beschaffen sein mag. Den Unterschied zwischen einer, sagen wir, schön geschwungenen und einer krakeligen Linie kann man daher kaum auf durch Einfühlung bewirkte Projektionen von Augenbewegungen zurückführen. In diesem Sinne, würde Köhler sagen, wäre es auch schwierig, die Freude an den graziösen Bewegungen eines Balletts, zum Beispiel bei der Pawlowa, zurückzuführen auf ähnliche Möglichkeiten in einem selbst, wo dodi gewiß überhaupt nur wenige solcher Bewegungen fähig sind. Die Ausbrüche von Jubel in Beethovens 9. Symphonie oder die religiöse Innigkeit in Bachs H-Moll-Messe gehen weit über die alltägliche Erfahrung der meisten Menschen hinaus. Dennoch sind unzählige Menschen durch solche Meisterwerke über sich selbst 19

hinausgehoben worden. Die Erkenntnis der entscheidenden Bedeutung der Tertiärqualitäten gibt dem Künstler seine Vorrangstellung unter den Großen der Menschheit zurück, eine Stellung, die man ihm nach den Theorien von Lipps und Santayana nicht zubilligen kann. Im Begriff der Einfühlung liegt es, daß das, was der Mensch in den Kunstwerken liebt und bewundert, Qualitäten seien, die letztlidi Projektionen seines eigenen Idi sind, und nicht durch den Künstler geschaffene Verkörperungen. Wenn das Interesse für die ästhetische Theorie weiterhin zunimmt, so ist es höchst wahrscheinlich, daß die Gestaltpsychologie in dieser Richtung noch stärkeren Einfluß ausüben wird. Die Theorien von Köhler und Koffka scheinen in einem Sinn entworfen zu sein, daß ein Forschungsbereich dadurch neues Leben gewonnen hat, der Jahrhunderte lang die Gelehrten fasziniert hat, der aber bis vor kurzem ohne Phantasie oder neue Gedanken bearbeitet worden ist. Lipps und Santayana lähmten das Denken der Studenten mit ihren Ideen, die für die Lösung alter Probleme die Meisterlösung zu sein schienen. Die Gestaltpsychologie war eine Herausforderung und zeigte neue Wege. Wenn die Größe eines Kunstwerks in seiner eigenen formalen Struktur enthalten ist, wie es nadi der Lehre von den Tertiärqualitäten der Fall sein muß, so ist es die Aufgabe einer umfassenden Psychophysik, zu erforschen, welches die Reizbedingungen sind, die diese Qualitäten hervorbringen, und was der Künstler wirklich mit den Tönen und Farben tut, wenn er ihnen den Klang der Freude oder das Aussehen des Erhabenen gibt. Im Studium der Ästhetik ergibt sich für eine weite Zukunft viel zu tun und zu denken. Köhlers Einfluß auf dem generellen Gebiet der Psychologie ist gegenwärtig sdiwer, wenn nicht unmöglich zu übersehen. Bei einer Vorlesung in Europa im Jahre 1949 sagte Langfeld, die hauptsächlichen Beobachtungen, Fragen und Prinzipien der Gestaltpsychologie seien Bestandteil des wissenschaftlichen Denkens jedes amerikanischen Psychologen geworden, und schon im Jahre 1929 schrieb Boring, daß es wenig Dinge von weitem Horizont gäbe, die nidit durch die Gestaltpsychologie beeinflußt seien, und in der Experimentalpsychologie kaum ein Problem, das nicht in 20

den Bereich dieser Betrachtensweise gerückt sei. Köhler selbst war nicht so optimistisch. In seiner Ansprache als Präsident der American Psychological Association im Jahre 1959 wies er auf eine Anzahl von Strömungen hin, wo man die Erfahrungen der Gestaltpsychologie nicht berücksichtige. Aber er Schloß mit einer optimistischen Wendung. Es sei Zeit, daß es aufhöre mit den Schulen in der Psychologie, und nach seinem Eindruck bestünde die Aussicht, daß die Zusammenarbeit zwischen den Forschern audi von verschiedener Überzeugung immer besser würde; eine Aussicht, zu der er selbst viel beigetragen hat, seit er nach den USA kam. Zu den vielen Ehrungen, die Köhler zuteil wurden, zählen u.a. Ehrendoktorate von amerikanischen und europäischen Universitäten. Kurz bevor er am 11.6.1967 in seinem Landhaus in New Hampshire starb, war er in Schweden gewesen, wo ihm der Ehrendoktor der Universität Uppsala verliehen wurde. Aus Anlaß seines 75. Geburtstages am 21. Januar 1962 trafen sich viele seiner Freunde bei Edwin B. Newman in Cambridge, Mass., um ihm eine Festschrift zu überreichen, zu der Bewunderer aus aller Welt Beiträge geliefert hatten. 1958 erhielt er eine Einladung an die Universität Edinburgh, um die Gifford Lectures zu halten, eine Auszeichnung, die seit vielen Jahren den berühmtesten Gelehrten zuteil wurde. Einige Jahre später verlieh ihm die Freie Universität Berlin die Würde eines Ehrenbürgers, die sie bisher an nur zwei andere Amerikaner, an Paul Hindemith und John F. Kennedy, vergeben hat. Carroll C. Pratt Pennington, N. J.

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DIE AUFGABE DER GESTALTPSYCHOLOGIE

I

Die Anfänge der Gestaltpsychologie Ich bin eingeladen worden, im Rahmen der Herbert Langfeld Lectures zu Ihnen über Gestaltpsychologie zu sprechen. Es wird oft angenommen, diese Bezeichnung beziehe sich nicht auf einen Teil der allgemeinen Psychologie, sondern eher auf eine besondere Schule oder gar Clique innerhalb dieser Wissenschaft; Sie werden bald sehen, was es damit auf sidi hat, und audi, warum diese Auffassung völlig irreführend ist. Da nicht alle von Ihnen Fachpsychologen sind, will ich nicht mit einer Diskussion sehr spezieller, technischer Dinge anfangen, sondern mit sehr einfachen psychologischen Fragen und Beobachtungen. Als die Psychologie sidi vor etwa 100 Jahren zu einer neuen Wissenschaft zu entwickeln begann, war natürlich die Wahrnehmung der ihr am leichtesten zugängliche Gegenstand; auch diejenigen Wissenschaftler, die wir heute die Gestaltpsychologen nennen, machten ihre ersten Arbeiten auf diesem Gebiet. Daher will idi jetzt darüber sprechen, wie sich die Erforschung der Wahrnehmung in diesen ihren Untersuchungen entwickelte. Fast von Anfang an gingen ihre Forschungen in einer Richtung, die die meisten anderen Psychologen nicht billigten. Die Art, in der die Gestaltpsychologen vorgingen, schien ihnen unvereinbar mit einem Grundprinzip von Wissenschaftlichkeit. Eine junge Wissenschaft, meinte man, müsse zuerst die einfachsten Fakten auf ihrem Gebiet in Betracht ziehen. Sobald diese bekannt sind, dürfe sidi der Wissenschaftler allmählich komplizierteren Verhältnissen zuwenden und erforschen, wie sie als Kombination der einfachen, schon 25

bekannten Elemente verstanden werden können. Angewandt auf das Wahrnehmungsmaterial, das von den frühen Gestaltpsydiologen untersucht wurde, mag das speziell etwa folgendermaßen formuliert werden: untersucht man die Wahrnehmung, so muß man zunächst die einfachsten lokalen Empfindungen betrachten, aus denen das Wahrnehmungsgebiet, sagen wir etwa, das visuelle, besteht, und muß von allen sekundären Bestandteilen und Störungen absehen, die die wahre einfache Natur dieser Elemente verschleiern können. Die frühen Gestaltpsychologen kümmerten sidi nicht um diese Regel. Sie schlugen einen anderen Weg ein, weil sie nicht an jenen „einfachen Elementen", den sogenannten lokalen Empfindungen bzw. „Einzelreizen" (local sensations) interessiert waren. Zuerst, sagten sie, müssen wir den visuellen Vorgang ganz unvoreingenommen betrachten, wir müssen versudien, darin Fakten ausfindig zu machen, die uns besonders bemerkenswert vorkommen, und, wenn möglich, ihre Natur erklären, sie mit anderen bemerkenswerten Fakten vergleichen, und sehen, ob wir in dieser Weise allmählich allgemeine Gesetze entdecken, die für viele Phänomene gültig sind. In diesem methodischen Programm kommen offenbar die „einfachen Elemente" oder lokale Empfindungen nicht vor. Aus diesen und anderen Gründen gerieten die Gestaltpsychologen bald in den Verdacht, „Mystiker" zu sein. Wir wollen jetzt sehen, was durch diesen „Mystizismus" zustandegebracht worden ist. Der erste Psychologe, der in dieser Weise arbeitete und deshalb als erster Gestaltpsychologe anzusehen ist, war Max Wertheimer. Sein Hauptinteresse galt zunächst einem besonderen Phänomen, der sogenannten stroboskopisdien oder „Sdheinbewegung". Andere Psychologen, denen es bekannt war, waren nidit imstande gewesen, es produktiv psychologisdi auszuwerten. Das Phänomen als solches ist ganz einfach: wenn ein visueller Gegenstand, ζ. B. eine Linie, an einer Stelle kurz gezeigt wird und unmittelbar danach ein zweiter Gegenstand, d.h. in unserem Fall eine zweite Linie, an einer anderen, nicht zu weit entfernten Stelle, so sieht der Beobachter nicht zwei Gegenstände in schneller 26

Folge an zwei verschiedenen Stellen, sondern vielmehr ein Objekt, das sich schnell von einer Stelle zur anderen bewegt. Stroboskopische oder Scheinbewegung kann in sehr einfadier Weise gezeigt werden. Hinter einem durchsichtigen Schirm stelle man zwei elektrische Lampen auf und zwischen sie und den Schirm in der Mittellinie, näher am Sdiirm als an den Lampen, einen ge-

L1, L 2 - L a m p e n 1,2 DS- Doppelschalter

Abb. 1

raden vertikalen Stab (Abb. 1). Mit einem Doppelschalter ist es möglich, die beiden Lampen in schneller Folge alternierend einund auszuschalten. Wenn die eine Lampe eingeschaltet ist, erscheint der Schatten des Stabes an einer Stelle des Schirmes, während die 27

andere Lampe einen entsprechenden Schatten an einer anderen Stelle wirft. Physikalisch gesehen, verschwindet einfach beim Ausschalten einer Lampe der entsprechende Schatten. Also, physikalisch gesehen: wenn eine Lampe eingeschaltet und dann ausgeschaltet und danach die andere eingeschaltet wird, kann nichts anderes geschehen, als daß der erste Schatten an einer Stelle erscheint und dann wieder verschwindet und darauf dasselbe mit dem zweiten Schatten an einer anderen Stelle geschieht. Ganz gewiß gibt es keine physikalische Bewegung von einer Stelle zur anderen. Aber der Tatbestand ist der: wenn man die Schatten in schneller Folge erscheinen und verschwinden läßt, so sieht man einen einzigen, sich auf dem Schirm hin und her bewegenden Schatten. Wertheimer untersuchte die besonderen Bedingungen, unter denen dieses Phänomen erscheint. Andere Psychologen hatten das nicht getan, weil sie glaubten, daß die Scheinbewegung eine Täuschung sei, nicht nur, weil sie nicht mit den physikalischen Tatsachen übereinstimmte, sondern weil sie in Widerspruch stand zu der These, daß Wahrnehmungsfakten sich aus unabhängigen Einzelreizen zusammensetzen. Was war mit dem Ausdruck „Täuschung" gemeint? Er bedeutete, daß stroboskopische Bewegung gar nicht als Wahrnehmungstatsache anerkannt, sondern als Ergebnis eines Irrtums des Beobachters betrachtet wurde. Man sagte, daß zwei in so schneller Folge dargebotene Wahrnehmungen von dem Beobachter irrtümlicherweise identifiziert würden und dies zu der Illusion führe, daß ein einziges Objekt sich von einer Stelle zur anderen bewegt. Da niemand herauszufinden versuchte, ob dies die richtige Erklärung der Scheinbewegung sei, blieb die Erklärung eine bloße Ausrede, ein weg-Erklären dieser störenden Beobachtung. Das weg-Erklären wurde immer wieder von Wissenschaftlern versucht, die die Beobachtungen der Gestaltpsychologen nicht leiden konnten, noch auch ähnliche Tatsachen, die den Glauben an die Zusammensetzung des Wahrnehmungsfeldes aus selbständigen lokalen Empfindungen als den eigentlichen Inhalt desselben bedrohten. Diese Kunst des weg-Erklärens ist auch heute nicht ganz aus der Psychologie verschwunden und madit wahrscheinlich diese junge Wissenschaft konservativer und we28

niger produktiv, als sie sein würde, wenn überraschende Fakten mehr Interesse erweckten und dadurch zu genauerer Beobachtung führen würden anstatt zu Versuchen, die Störelemente loszuwerden. Wertheimer machte diesen Fehler nicht. Er studierte in aller Ruhe die Scheinbewegung in vielen Versuchen. Erlauben Sie mir, wenigstens eines seiner Ergebnisse zu erwähnen, das mir völlig unvereinbar mit der Annahme zu sein scheint, daß Scheinbewegung nichts anderes sei als eine oberflächlich zustandegekommene Urteilstäuschung. Wenn eine reale Bewegung immer wieder in einem Teil des Sehfeldes stattgefunden hat, so sieht ein Beobachter, der diese wiederholten Veränderungen eine Zeitlang angesehen hat und dann mit dem Blick überwechselt auf einen anderen, in Ruhe befindlichen Ausschnitt, eine Bewegung in der entgegengesetzten Richtung. Man nennt dies ein negatives Nachbild der vorher gesehenen Bewegung. Wertheimer, und unabhängig von ihm auch der Physiologe Exner, kamen auf folgende Problemstellung: unter optimalen Umständen sehen sich eine sogenannte Scheinbewegung und eine entsprechende reale Bewegung genau gleich; wenn die beiden Bewegungen nebeneinander gezeigt werden, kann man nicht entscheiden, welches die „bloß scheinbare" Bewegung und welches die „wirkliche" Bewegung ist; deshalb müßte die längere Beobachtung einer Scheinbewegung ein negatives Nachbild auch von ihr hervorrufen. Ein entsprechendes Experiment wurde sowohl von Wertheimer, wie von Exner gemacht und war ein ganzer Erfolg. Der Scheinbewegung folgte visuell eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung. Entsprechend diesem Experiment ist die sogenannte Scheinbewegung als eine Wahrnehmungstatsache genau so wirklich wie die sogenannte reale Bewegung. Heutzutage wird niemand, der häufig ins Kino geht, über das eben Gesagte erstaunt sein. Sehr viele von Ihnen wissen, daß die Gegenstände im Film sich nicht bewegen, während die einzelnen Bilder des Films auf der Leinwand erscheinen, sondern daß vielmehr ein Bild schnell durch ein anderes ersetzt wird und zwischen den einzelnen Bildern kein Licht ist. So besteht ein Film aus einer physikalischen Folge von vielen verschiedenen ruhenden Bildern. 29

Die Bewegungen, welche die Zuschauer sehen, sind also alle Scheinbewegungen. Es würde schwerfallen, die Zuschauer davon zu überzeugen, daß tatsächlich niemals eine Bewegung auf der Leinwand geschieht, sondern vielmehr die Bewegungen, die sie zu sehen scheinen, das Ergebnis von Tausenden von Fehlurteilen in wenigen Minuten seien. Wenn also Scheinbewegung wahrnehmungsmäßig real ist, so ist dies ein Beweis dafür, daß, wenn bestimmte Reize an verschiedenen Stellen unter gewissen zeitlichen Verhältnissen ausgeübt werden, die entsprechenden visuellen Prozesse keineswegs lokalisierte Einzelvorgänge sind, sondern daß diese Prozesse in gegenseitiger Wechselwirkung stehen; und daß folglich das traditionelle Axiom der selbständigen Einzelreize aufgegeben werden muß. Dies war die Anschauung, wie Wertheimer sie klar formuliert hat. Leider war es damals nicht möglich, konkret zu sagen, um welche Art von Wedhiselwirkung es sich handelte. Darum blieb die Sdieinbewegung in einem gewissen Sinn weiterhin etwas Mysteriöses. Ich habe die Sdieinbewegung als ein gutes erstes Beispiel dafür genannt, was die Gestaltpsychologen interessierte und wie sie vorgingen. Von nun an können wir uns in der Diskussion ihrer weiteren Untersuchungen viel kürzer fassen. Die Gestaltpsychologen fingen nun an, eine Anzahl anderer Probleme zu untersuchen. Eine solche Untersuchung, welche im Institut von Kurt Koffka gemacht wurde, hatte ein weiteres Rätsel auf dem Gebiet visueller Bewegung zum Gegenstand, die sogenannte Gamma-Bewegung: wenn im Versuch ein Gegenstand plötzlich im Sehfeld erscheint, dehnt er sich schnell aus, und wenn er plötzlich verschwindet, zieht er sich zusammen. Ähnlich liegt es, wenn nidit nur ein Gegenstand, sondern eine Gruppe von Gegenständen plötzlidi gezeigt wird. Dann bewegen sich die Bestandteile dieser Gruppe schnell voneinander fort, so daß sich die ganze Gruppe ausdehnt. Hier fragen wir uns wieder: wenn die einzelnen Bestandteile unabhängige Einzelgegebenheiten sind, wie kann man dann die Ausdehnung der Gruppe erklären? Weshalb bewegen sich die einzelnen Bestandteile dieser Gruppe voneinander fort? 30

Wieder haben wir es mit einer Wechselwirkung zu tun, aber jetzt mit einer Wechselwirkung, die den Charakter einer gegenseitigen Abstoßung der einzelnen Bestandteile voneinander hat. Noch einmal, diese Tatsache ist unvereinbar mit der Anschauung, daß Einzelfakten im Wahrnehmungsfeld als solche unabhängig davon seien, was in ihrer Umgebung erscheint. Was aber bedeutet es nun, daß in unserem Fall, dem der Gamma-Bewegung, die Wechselwirkung den Charakter der Abstoßung der einzelnen Bestandteile voneinander hat? Natürlich war es damals unmöglidi, diese Frage zu beantworten. Erst heute, viele Jahre später, fangen wir an, die Beobachtungen zu verstehen. Die nächste Frage, die sich die Gestaltpsychologen stellten, war, ob diese Art von Wechselwirkung nur im Fall von Bewegung vorkommt. Kennt man auch Beobachtungen, die die Abhängigkeit von Einzelgegebenheiten von Bedingungen in ihrer Umgebung zeigen, wenn die beobachteten Wahrnehmungsgegenstände in Ruhe sind? Die Antwort auf diese Frage war außerordentlich einfach; dazu waren keine neuen Entdeckungen nötig; solche Tatsachen waren seit langem bekannt. Denken Sie z.B. an das Farbensehen: vergleicht man einen grauen Gegenstand auf einer weißen Fläche mit einem physikalisch gleich grauen Gegenstand auf einer schwarzen Fläche, so sieht der graue Gegenstand auf der weißen Fläche dunkler aus als der auf der schwarzen Fläche. Ähnliche Wirkungen der Umgebungsfarbe kennen wir auch, wenn die Umgebungsfarbe rot, gelb, grün oder blau ist. In einer roten Umgebung ζ. B. hat ein grauer Gegenstand eine Tendenz ins Grüne, usw. Obwohl diese Beispiele von Helligkeits- und Farbenkontrast wohl bekannt waren, wurden sie, genau so wie die Scheinbewegung, oft wegerklärt als lediglich auf Fehlurteilen beruhend, weil auch sie mit der These unvereinbar waren, daß visuelle Einzelreize unabhängig voneinander seien. Wenn jetzt die Psychologen allmählich erkannten, daß ein solches weg-Erklären von unbezweifelbaren Wahrnehmungsphänomenen nicht länger als ein zulässiges Vorgehen angenommen werden durfte, mußte natürlich der Farbenkontrast als weiterer Beweis dafür angesehen werden, daß die Eigenschaften der lokalen Empfindungselemente durch die in ihrer Umgebung 31

bestehenden Bedingungen beeinflußt werden — mit anderen Worten, daß Wechselwirkung im Wahrnehmungsfeld stattfindet. Ich wende mich nun einer anderen Reihe von Tatsadien zu, welche dasselbe beweisen, nämlich den sogenannten „optischen Täuschungen", durdiaus häufig vorkommenden Verzerrungen visueller Figuren unter dem Einfluß anderer Figuren in ihrer Umgebung. Sie kennen wohl alle bestimmte Phänomene solcher Art. Ich will deshalb nur zwei besonders schöne Beispiele aus einem

Abb. 2

alten Band des „British Journal of Psychology"1 vorführen. Die Zeichnungen enthalten Kreise, die ganz exakt ausgeführt sind, die aber von anderen Figuren überlagert sind; das Ergebnis ist, daß die objektiv vorhandenen Kreise in der Wahrnehmung nicht mehr als solche aufgefaßt werden. In Abb. 2 ζ. B. ersdieint der 1

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British Journal of Psychology, 1908, 2, S. 307—320 (J. A. Fräser, A new visual illusion of direction).

Kreis fast wie ein Viereck; Abb. 3, die geometrisch aus mehreren konzentrischen Kreisen besteht, erscheint als Spirale. Aber dies spiralenähnliche Gebilde besteht faktisch aus geschlossenen Kurven, wie man leicht feststellt, wenn man mit einem Bleistift bzw. einem Zeigestock entlangfährt.

Abb. 3

Sie werden nun nidit überrascht sein zu hören, daß auch solche immerhin erstaunlichen Phänomene im allgemeinen als Folge bloßer Fehlurteile betrachtet wurden, indem nämlich der Beobachter durch die Figuren im Hintergrund in seiner Interpretation des Gesehenen irregeführt würde. Und weshalb? Die wirklichen Wahrnehmungstatsachen mußten ja aus unabhängigen Einzelreizen bestehen und 33

ihre räumliche Anordnung mußte durch die geometrische Anordnung der entsprechenden physikalischen Tatbestände bestimmt werden. Wenn eine Beobachtung nicht mit dieser Uberzeugung übereinstimmte, so mußte diese Diskrepanz weg-erklärt werden, so wie ich vorhin ausgeführt habe. Die frühen Gestaltpsychologen schenkten aus irgendwelchen Gründen diesen Täuschungen als solchen und der recht phantastischen Deutung als bloßen Fehlurteilen wenig Aufmerksamkeit. Aber sie hätten es tun sollen, denn solche optischen Täuschungen demonstrieren ausgezeichnet, daß bestimmte Muster, die in einem Sehfeld zusammen dargeboten werden, in der Wahrnehmung durch sehr starke Wechselwirkung verzerrt werden können. Dies bedeutet natürlich, daß sie von Anfang an, wenn sie die Geschehnisse im Wahrnehmungsfeld verstehen wollten, recht große Einheiten, in denen solche verzerrenden Wechselwirkungen vorkommen, hätten beobachten müssen. Aber keine Rede davon! H. Ebbinghaus, der als erster Psychologe zeigte, wie gewisse Lernvorgänge in einfachen Versuchen untersucht werden können, macht die folgende überraschende Bemerkung: „Ich bin nidit sicher, ob psycho logische Tatsachen nichts anderes sind als Komplexbildungen aus psychologischen Atomen. Aber da wir Wissenschaftler sind, müssen wir vorgehen, als wäre dies so." Was für eine traurige Bemerkung! Sie zeigt, daß gewisse vermeintliche Gesetze wissenschaftlichen Vorgehens anscheinend wichtiger seien als die Natur der Tatsachen, die wir untersuchen, was zur Folge hat, daß wir solche Tatsachen würden ignorieren dürfen, die mit diesen „wissenschaftlichen Gesetzen" nicht übereinzustimmen scheinen. Schon einige Jahre vorher stand ein anderer Psychologe, Christian von Ehrenfels, vor derselben Schwierigkeit. Er war noch nicht an der Frage interessiert, ob bestimmte psychologische Tatsachen als Folge von Wechselwirkungen zwischen Teilen des Wahrnehmungsfeldes angesehen werden müssen. Immerhin lenkte er unsere Aufmerksamkeit auf fast überall vorhandene Eigenschaften der Gegenstände in diesen Feldern — Eigenschaften, die völlig ohne Beziehung zu den Eigenschaften der geforderten elementaren Einzelreize und -empfindungen zu sein scheinen. Un34

sere Wahrnehmungsfelder, sagte er, können viele einfache Empfindungen enthalten, die alle spezifischen Einzelreizen entsprechen und deshalb voneinander unabhängige Elemente dieser Felder sind. Aber, fügte er hinzu, es gibt andere Eigenschaften in denselben Feldern, die nicht in dieses einfache Schema passen. Denken wir ζ. B. an eine Melodie oder einen Akkord. Eine Melodie bleibt praktisch als Melodie, wie wir sie hören, unverändert, wenn die objektiven Tonhöhen nach oben oder unten verschoben werden, sofern nur ihre intervallischen Beziehungen unverändert bleiben. Dies gilt auch für Akkorde. Aber vielleicht sind die überzeugendsten Beispiele die Figuren, die im Sehfeld vorkommen. Diese können verkleinert oder vergrößert werden; sie können in diesem oder in jenem Teil des Sehfeldes gezeigt werden; ihre Farbe kann verändert werden; alle diese Veränderungen beeinflussen kaum den Wahrnehmungscharakter der Figuren als soldier, d.h. hier entsprechend wie vorhin, solange die räumlichen Beziehungen unter ihren Teilen dieselben bleiben. Für diesen Zusammenhang gibt es das Wort „Gestalt", und von Ehrenfels führte, indem er nach dem einleuchtendsten Beispiel alle Charakteristika solcher Art benannte, den Ausdrude „Gestaltqualitäten" in die Psychologie ein. Gestaltqualitäten kommen in diesem Sinne überall bei der Wahrnehmung vor. Sogar ein ganzes Gesichtsfeld kann z . B . „ruhig" und ein anderes fast „chaotisch" aussehen, und was vielleicht nodi wichtiger ist: die Bewegungen eines Menschen sehen „gelassen", die eines anderen „abrupt" aus; das Gesicht einiger Menschen kommt uns „entspannt", das von anderen „gespannt" oder „energisch" oder „leer" oder „sanft" vor, usw. Einige solcher Gestaltqualitäten spielen eine sehr wichtige Rolle in der ästhetischen Auffassung unserer Wahrnehmungswelt und — natürlich — audi in den Kunstwerken. Auch von Ehrenfels fand es störend, daß seine Gestaltqualitäten nicht in das traditionelle Schema der wissenschaftlichen Denkweise hineinpaßten, demzufolge man zuerst den ganzen Wahrnehmungsvorgang analysieren müßte, um seine Elemente und damit seine wahre Natur zu erkennen. Einige der Gestaltqualitäten, die ich eben erwähnt habe, würde von Ehrenfels 35

wahrscheinlich nicht als Wahrnehmungstatsachen anerkannt haben. Aber er hatte keine Zweifel, was die Natur der charakteristischen Gestalten im Sehfeld, oder die faszinierenden Eigenschaften von Melodien und Akkorden anbelangt. Daß die charakteristischen Eigenschaften des Wahrnehmungsfeldes vielmehr von den Beziehungen zwischen den Einzelreizen abhängen, nicht so sehr von den isoliert betrachteten Reizen, schien evident und konnte unmöglich geleugnet werden; und der Atomismus, der in der Psychologie für notwendig erachtet wurde, erwies sich so wieder als Fehlinterpretation. Obwohl dies eine richtige Feststellung ist, ist sie leider nur eine negative. Sie besagt nur, daß eine bestimmte Interpretation der Wahrnehmungsfelder viele auffallende Eigenschaften in der Wahrnehmung nicht erklären kann. Aber in der damaligen Zeit konnten die Gestaltpsychologen keine bessere Erklärung finden. Sie werden sich erinnern, daß, als wir andere Wahrnehmungstatsachen, für die die Gestaltpsychologen sich interessierten, besprachen, das Ergebnis ihrer Forschung immer dasselbe war: es war unvereinbar mit der atomistischen Auffassung der anderen Psychologen, aber sie brachten kein positives Erklärungsprinzip, weder im Fall der Scheinbewegung, noch in dem der Gamma-Bewegung, noch für den Farbenkontrast, noch im Falle von optischen Täuschungen. Nun, haben wir für die Wissenschaft genug getan, wenn wir gewisse Tatsachen hödist interessant finden, aber nur sagen, daß eine gegebene weit verbreitete Auffassung sie nidit erklären kann? Die Gestaltpsychologen waren offensichtlich von ihren bemerkenswerten Resultaten fasziniert; sie fanden sie viel interessanter, als die Einzelreize zu studieren, die traditionsgemäß als das wahre Wahrnehmungsmaterial angesehen wurden. Aber waren die Gestaltpsychologen vielleicht auch von der Tatsache fasziniert, daß niemand diese Resultate erklären konnte und daß deshalb ihre Beobachtungen sozusagen ein Mysterium blieben? Einmal sagte der verstorbene Karl Lashley, einer der bedeutendsten Psychologen dieser Zeit, im Gesprädi ganz ruhig zu mir: „Herr Köhler, die Forschung der Gestaltpsychologen ist gewiß sehr interessant. Aber mandimal kann idi das Gefühl nicht los werden, 36

daß Sie es heimlich auf eine neue Religion abgesehen haben." Ich weiß nicht, ob freudige Erregung von Forschern, wenn sie merken, daß sie an einem entscheidenden Punkt angekommen sind, einem religiösen Gefühl gleichkommt. Jedenfalls ist es Tatsache, daß die Gestaltpsychologen in aller Sachlichkeit ihre Versuche weiterführten, um genau herauszufinden, welche Prozesse ihren beachtlichen Phänomenen zugrundeliegen. Aber als dann die wahre Natur dieser Prozesse allmählich bekannt wurde, waren natürlich Wertheimer, KofFka und der Vortragende einfach erfreut über das, was erreicht war. Diese Entwicklung hatte aber noch nicht begonnen, als die Gestaltpsychologie den entscheidenden neuen Schritt tat, welcher den anderen Psychologen noch verwirrender erschien. Bis dahin waren die Gestaltpsychologen an einigen ausgefallenen Wahrnehmungserfahrungen interessiert gewesen, jetzt aber wandte sich Wertheimer Wahrnehmungstatsachen zu, die praktisch immer im Sehfeld vorhanden sind und deshalb von jedermann für selbstverständlich genommen wurden. Er zeigte, daß diese vertrauten Tatsachen genau so unerklärt und bemerkenswert waren wie die Scheinbewegung, die Gestaltqualitäten usw. Für seine Gegner bedeutete dies natürlich, daß sie von nun an praktisch alles in der Wahrnehmung als ein „Mysterium" anzusehen hätten. Wertheimer stellte die folgende Frage: wenn man schon annimmt, daß das Sehfeld aus Einzelelementen der Wahrnehmung besteht, wo sind dann diese Einzelelemente? Hat jemand uns je erzählt, daß für ihn das Sehfeld als ein Mosaik aus soldien kleinen Stückchen erscheint? Wenn wir niemals solche Aussagen hören, was ist dann die empirische Grundlage der atomistischen These in unserer Wissenschaft? Was Menschen tatsächlich anführen, wenn sie sich über ihre visuelle Umgebung äußern, sind fast immer visuelle Gegenstände: Gläser, Teller, Tische, Stühle, Häuser, andere Menschen, Hunde, Katzen usw. Alle diese Gegenstände sind Teile des Sehfeldes, aber weit davon entfernt, kleine Elemente zu sein, sind sie vielmehr meistens ziemlich große Einheiten oder „Ganzheiten". Würde es nicht, wenn man anfangen will, die Wahrnehmung zu studieren, ein mehr der Empirie entsprechendes Vorgehen sein, mit diesen naheliegenden visuellen Fakten zu beginnen, als mit 37

dem hypothetischen Mosaik von Einzelempfindungen? Die Gegner mochten das Wort „Ganzheiten" wiederum nicht hören. „Mystifizieren Sie nicht so sehr", sagten sie etwa, „es wäre interessanter zu wissen, wie Sie die Existenz dieser Ihrer Ganzheiten erklären. Wir leugnen nicht, daß von solchen Gegenständen gesprochen wird. Aber wir haben eine einfache Erklärung dafür, daß dies allgemein geschieht. Von früher Kindheit auf erfährt der Mensch, daß gewisse Aussdinitte des Wahrnehmungsmosaiks sich zusammenhängend bewegen, daß sie wie Einheiten aufgefaßt werden können und daß sie in diesem praktischen Sinn sich ganz so verhalten, als ob sie Ganzheiten wären. Solche praktischen Erfahrungen haben sich dem kindlichen Gedächtnis eingeprägt, und später, wenn dieselben Teile des Mosaiks wieder vorkommen, werden die früheren Erfahrungen ihres ganzheitlichen Verhaltens wieder wadi und diese Gebiete sehen nun aus, als wären sie geschlossene Wahrnehmungsganzheiten." Wertheimer war sich der Tatsache bewußt, daß manchmal frühere Erfahrungen die Art, wie ein Sehfeld erscheint, beeinflussen. Aber aus guten Gründen weigerte er sich, diese Tatsache zur Erklärung für die generelle Wahrnehmung von ganzheitlidien Gegenständen oder „Dingen" so zu benutzen, wie es seine Gegner taten. Seine Gründe waren die folgenden. Wir sehen öfters uns fremde Wahrnehmungseinheiten, welche uns nicht bekannt sind, welche wir nicht klar erkennen, die wir also nicht gelernt haben können als geschlossene Einheiten zu betrachten. Das ist z . B . der Fall, wenn wir uns in einem Zimmer

Η Abb. 4

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Abb. 5

oder in einer Landschaft befinden, die nur schwach beleuchtet sind. „Was ist das für ein merkwürdiger dunkler Gegenstand da drüben?" sagen wir etwa; und dabei wird dieser unbekannte Teil des Sehfeldes zweifellos in sich zusammengeschlossen als Einheit gesehen. Dies ist aber noch nicht der einzige Weg zu zeigen, daß frühere Erfahrung nicht der Hauptfaktor ist, der uns einheitliche Objekte oder Dinge sehen läßt. Abb. 4, besonders wenn sie kurz gezeigt wird, macht gewöhnlich den Eindruck einer ganz unbekannten Figur. Aber sie enthält einen Teil, den wir alle gut kennen. Dieser Teil ist in Abb. 5 zu sehen. Was beweist dies nun? Es zeigt, daß die Kräfte, auf denen die visuellen Einheiten in Wirklichkeit beruhen, auch in einer Weise wirken können, die wohlbekannte Gegenstände zum Verschwinden bringt, weil sie von völlig unbekannten größeren Einheiten, welche wir tatsächlich sehen, nicht visuell getrennt sind. Es folgt also, daß die Prinzipien, nach denen die visuellen Gegenstände sich konstituieren, sich von denjenigen Prozessen unterscheiden, die die empirisdie Erklärung durch Lernvorgänge erwarten läßt. Abb. 6 zeigt dasselbe; sie erscheint zuerst als ein unbekanntes Gesamtmuster, das vielleicht als horizontale Reihe von herzähnlichen Figuren beschrieben werden könnte. Aber dies Muster enthält ein einfaches und sehr bekanntes Wort, das nicht gleich aufgefaßt wird, das Wort „men". Hier ist einfach dem Wort „men" als dem oberen Teil der Figur sein Spiegelbild als unterer Teil hinzugefügt. Die Prozesse, die für die Konstituierung visueller Gegenstände verantwortlich sind, tendieren also dahin, eher geschlossene Figuren denn bloße Linienzüge zu bilden. Hier wird z.B. eine Reihe weniger bekannter geschlossener Figuren spontan

Abb. 6

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aufgefaßt, die auf diese Weise die eigentlichen Linien des Wortes verschluckt und es so ganz verschwinden läßt. Man kann leicht Hunderte von Mustern konstruieren, wo dasselbe geschieht: wohlbekannte Objekte werden nicht gesehen, weil die Prozesse, die die Bildung visueller Einheiten tatsächlich bewirken, oft gegen das Erscheinen der bekannten Dinge wirken. Die Tatsachen, die wir eben besprochen haben, beweisen nicht nur, daß frühere Erfahrung nicht der Hauptfaktor sein kann, der für das Erscheinen von Gegenständen im Sehfeld verantwortlich ist. Unsere Beobachtungen zeigen auch, daß, wenn man sich über solche Gegenstände äußert, man sie nicht einfach „Ganzheiten" nennen sollte. Sie sind allerdings Ganzheiten und nidit nur Gebiete in einem allgemeinen Mosaik aus Einzelempfindungen. Aber wir sollten immer ein Adjektiv hinzufügen, wie „abgetrennte" oder „abgegrenzte" Ganzheiten. Denn wir haben eben gesehen, daß Gegenstände nur dann im Sehfeld auftreten, wenn ihre Grenzen visuell erhalten sind. Folglich sind die Prozesse, die Gegenstände im Sehfeld hervortreten lassen, ebensosehr Prozesse, durch die Trennungen geschaffen werden, Trennungen von visuellen Einheiten, wie sie zugleich Gegenstände zu einheitlichen Ganzen machen. Dieser Sachverhalt, das, was wir jetzt „Wahrnehmungsorganisation" nennen, wurde in der frühen Gestaltpsydiologie nidit immer genügend betont. Ich fahre nun mit der Besprechung von Wertheimers Arbeit fort. Er wußte wohl, daß es ausgedehnte Einheiten nicht nur in ruhenden Sehfeldern gibt, sondern auch in Abfolgen von Wahrnehmungsgeschehnissen. Auch Worte, Sätze und Melodien z.B., die wir hören, sind solche ausgedehnten Ganzheiten. Weiter erkannte Wertheimer, daß die Gestaltqualitäten, von denen von Ehrenfels gesprochen hatte, zum größten Teil Charakteristika von speziellen Wahrnehmungsganzheiten sind. Dies trifft ganz offensichtlich für visuelle Formen zu, aber ebenso bei Gestaltqualitäten in der Musik. So beziehen sich die Gestaltqualitäten, die die Musiker „Dur" und „Moll" nennen, mehr auf die musikalischen Phrasen, nidit auf die einzelnen Töne. Das Problem, das von Ehrenfels aufgeworfen hatte, war daher ein Teil eines allge-

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meineren Problems: weshalb gibt es sowohl im Raum wie in der Zeit soldie geschlossenen Einheiten? Dies war das Problem, das Wertheimer zu lösen versuchte. Neben den von Ehrenfelsschen Gestaltqualitäten finden wir übrigens bedeutsame Sadiverhalte bei „abgegrenzten" Ganzheiten, weldie nur bei diesen auftaudien; ich will sie „abhängige Teilqualitäten" nennen, weil sie ihr Auftreten der Rolle verdanken, die sie in solchen Einheiten spielen. In einer Melodie z.B. wird ein bestimmter Ton der Grundton genannt. Man hört ihn als eine Art ruhenden Pol in der Melodie. Diese Eigenschaft eines Tones hängt natürlich von seiner Stellung innerhalb der Melodie ab. Denn wenn eine Melodie transponiert wird, ergibt sich für sie ein anderer Grundton und der frühere Grundton verliert seinen Charakter als ruhender Pol. Andere abhängige Teilqualitäten kommen ganz elementar in der visuellen Wahrnehmung vor. Betrachten wir z.B. ein geschlossenes Gebilde wie ein Viereck, so haben vier Punkte in der Begrenzung dieser Figur den Charakter, „Ecken" zu sein. Genau dieselben Punkte an derselben Stelle würden diesen besonderen Charakter nicht haben, wenn sie Punkte in der Begrenzung eines Kreises wären. Eine Ecke zu sein, ist also nicht eine Eigenschaft, die diese Punkte als solche haben; vielmehr ist es eine Eigenschaft, die sie innerhalb eines besonderen größeren Zusammenhanges erwerben. Der dänische Psychologe E. Rubin, der zur selben Zeit wie die frühen Gestaltpsychologen arbeitete, machte auf ein weiteres Phänomen aufmerksam, das die Abtrennung eines visuellen Gegenstandes von seiner Umgebung begleitet. Er konnte sogar zeigen, daß ein völlig flacher Gegenstand, der sich in derselben Ebene wie seine Umgebung befindet, etwas abgehoben wahrgenommen wird, daß er vor seine Umgebung lokalisiert wird. Rubin konnte damals die Bedeutung dieser Beobachtung nicht ermessen, aber gegenwärtig scheint sie für unser Verständnis des Tiefensehens im allgemeinen sehr wichtig zu werden. Inzwischen hatte Wertheimer seine Beobachtungen in einer sehr radikalen Weise fortgesetzt. Im Sehraum (aber auch in anderen Wahrnehmungsfeldern) werden oft individuelle einheitliche 41

Gegenstände Teile von größeren Wahrnehmungseinheiten, die gewöhnlich „Gruppen" genannt werden. Wenn dies eintritt, beobachtet man ähnliche Wirkungen auf dieser neuen höheren Ebene des Zusammenschlusses wie diejenigen, die ich erwähnte, als ich vorhin die Eigenschaften von Einzelobjekten besprach. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: wenn man eine große Zahl kleiner Kreise passend an die entsprechenden Stellen setzt, so erscheinen diese als ein Quadrat; mit anderen Worten: eine der von Ehrenfelsschen Gestaltqualitäten wird jetzt eine Eigenschaft der ganzen Gruppe von räumlich getrennten Gegenständen. Außerdem bekommen wieder innerhalb dieser Gruppe gewisse Glieder „abhängige Teilqualitäten", Qualitäten, die sie ihrer Stellung innerhalb der größeren Einheit verdanken. So werden von den kleinen Kreisen jetzt vier als „Ecken" der Quadratgruppe gesehen. Obwohl solche Tatsachen dem Laien trivial vorkommen mögen, haben sie sich in der weiteren Entwicklung der Gestaltpsychologie als recht wichtig erwiesen, besonders nachdem Wertheimer viele verschiedene Gruppierungsexperimente gemacht hatte. Die Bildung von größeren einheitlichen Verbänden, den Gruppen, aus individuellen abgetrennten Einheiten, sowie das Auftreten von Gestaltqualitäten und von abhängigen Teilqualitäten in solchen Gruppen mag vielleicht wieder als ein „Mysterium" erscheinen in dem Sinne, wie man von den angeblich seltsamen Bestrebungen der frühen Gestaltpsychologen annahm. Es erhebt sich die Frage, wie so etwas sein kann, wo doch die Elemente einer Gruppe oft erhebliche Abstände voneinander haben. Welche Prozesse können solche erstaunlichen Effekte hervorrufen? Zunächst jedoch fand Wertheimer es leichter, einfache deskriptive Prinzipien zu formulieren, denen die Bildung von Gruppen aus getrennten Elementen unterliegt, als solche Prinzipien für den Fall zusammenhängender Gegenstände aufzudecken. Ein erstes Prinzip. Obwohl Gruppenbildung vorkommen kann, wenn die Abstände zwischen den individuellen Elementen groß sind, ergibt sie sich leichter bei kleineren Entfernungen. Wenn aber bei einer Anzahl von individuellen Elementen der Abstand untereinander kleiner ist als der Abstand zu anderen Gegenstän42

den in der Umgebung, so besteht eine Tendenz, daß nicht eine, sondern zwei Gruppen sich bilden, so wie in Abb. 7. Ein zweites Prinzip. Ähnlichkeit der individuellen Gegenstände in bezug auf Form und Farbe oder beides erleichtert ihr Erscheinen als Gruppe. Aber wenn wiederum einige der individuellen Gegenstände in dieser Weise ähnlich oder gleich sind und ο

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Abb. 7

andere Gegenstände, die untereinander ähnlich oder gleich sind, andere Formen oder Farben haben, dann tendiert die ganze Anordnung dazu, sich aufzuspalten und als Kombination zweier Untergruppen zu erscheinen (Abb. 8).

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Abb. 8

Ein drittes Prinzip. Wenn individuelle Gegenstände Gruppen oder Untergruppen bilden, so tendieren diese dahin, als Gruppe jeweils besonders einfach, symmetrisch und abgerundet zu erscheinen. Man ist versucht zu sagen, daß die Art der Gruppen43

bildung bei solchen Beispielen die gleiche ist, wie sie oft in ganz elementarer Ästhetik erkennbar zu sein scheint. Übrigens entdeckte Wertheimer, daß dieses Prinzip nicht nur im Fall der Gruppenbildung, sondern manchmal auch für die Formierung von einfacheren individuellen zusammenhängenden Wahrnehmungsgegenständen gilt. Es scheint auch in höchst überzeugender Weise zu wirken, wenn Scheinbewegungen und ähnliche Phänomene wiederholt an ein und derselben Stelle dargeboten werden: oft kann sich dann die Form der Bewegung und die Gestalt der sich bewegenden Gegenstände verändern, und diese Veränderungen scheinen immer in die Richtung der größten Einfachheit und Regelmäßigkeit zu gehen. Ist dies wirklich das allergrößte Geheimnis, das bei einer Vorgehensweise ausgesprochen wurde, die den Anspruch erhebt, eine Wissenschaft zu sein? Wir sind jetzt an einem wichtigen Punkt in unserer Betrachtung der Wahrnehmungstatsachen angekommen. Es handelt sich ganz und gar nicht um ein Geheimnis. Wertheimers drittes Prinzip, das zuerst so seltsam geklungen haben mag, ist praktisch identisch mit Feststellungen, die wiederholt von bekannten Physikern gemacht wurden, die sich natürlich zu jener Zeit nicht auf psychologische Tatsachen, sondern nur auf rein physikalische Beobachtungen bezogen. Solche Feststellungen wurden z.B. von Pierre Curie und Ernst Mach gemacht. Mach stellte ζ. B. folgende Frage: wenn ein physikalisches System sich einem Gleichgewichtszustand oder einem stabilen Zustand annähert, warum wird dieser Vorgang so oft durch zunehmende Regelmäßigkeit, Symmetrie und Einfachheit in der Verteilung des Materials und der Kräfte innerhalb des Systems charakterisiert? Ich will versuchen, darauf eine einfache Antwort zu geben. Wenn solche gleichmäßigen Verteilungen eintreten, so müssen wohl wahrscheinlich mehr und mehr Komponenten der wirkenden Kräfte sich gegenseitig ausbalancieren, was wiederum bedeutet, daß Gleichgewicht oder ein stabiler Zustand schnell oder langsam erreicht werden müssen. Nun wirkt aber in einem geschlossenen System das Kräftespiel wirklich in Richtung auf Gleichgewicht oder einen stabilen Zustand. Daher ist es nicht überraschend, daß im Laufe 44

eines solchen Vorganges die Verteilungen innerhalb des Systems zunehmend regelmäßig, symmetrisch und einfach werden. Dies ist eine stark vereinfachte Erklärung für die Tendenz zu Symmetrie und Regelmäßigkeit, die so oft in physikalischen Systemen vorkommt, während sie sich einem ruhenden Zustand annähern. Ernst Mach* hat eine viel genauere Erklärung in etwas abstrakteren, aber exakten Begriffen gegeben. So gingen also offenbar die frühen Gestaltpsychologen nicht fehl, wenn sie ihren Beobachtungen trauten, die den anderen Psychologen so mysteriös vorkamen. Denn jetzt entdeckten sie, daß ihr Vorgehen sie in die Nachbarschaft der fortgeschrittensten Naturwissenschaft, der Physik, brachte. Aber dies war nicht alles. Einige Jahre später erfuhr ich, daß einige große Physiker mit dem wissenschaftlichen Vorgehen der Gestaltpsychologen in einem viel allgemeineren Sinn übereinstimmten. In der Zeit studierte ich die Schriften von Clark Maxwell, dem bedeutendsten Physiker in der Entwicklung der Feldphysik, und von Max Planck, dem Physiker, der als erster den Begriff des Quantums in die Physik einführte. In der Einleitung zu seinem „Treatise on Electricity and Magnetism" vergleicht Maxwell die Methoden von Faraday mit denjenigen, die in der mathematischen Physik damals üblich waren. Die Methoden Faradays, so erklärte Maxwell, ähnelten denjenigen, in denen man mit einem gegebenen „Ganzen" beginnt und zu den Teilen dann nur durch Analyse kommt, während das gewöhnliche Vorgehen sich auf das Prinzip gründet, mit den Teilen zu beginnen und die Ganzen durch Synthese aufzubauen 8 . Maxwell drückte klar aus, daß er die Methode von Faraday bevorzugte, diejenige, von den gegebenen Einheiten zu den Teilen zu gelangen. In derselben Abhandlung bemerkt er weiter: „Wir sind gewöhnt, das Universum als aus Teilen aufgebaut zu betrachten, und die Mathematiker fangen gewöhnlich damit an, ein einziges * Vgl. E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwickelung, 3. Auflage 1897, S. 389 bis 390. 8 J. C. Maxwell, A Treatise on Electricity and Magnetism, Oxford 1873, Bd. 1, S. Χ — X I .

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Teilchen zu betrachten und dann seine Beziehung zu einem zweiten Teilchen vorzustellen usw. Dies hat man im allgemeinen als die natürlichste Methode angesehen. Sich ein Teilchen vorzustellen, erfordert jedoch einen Prozeß der Abstraktion, da alle unsere Wahrnehmungen sich auf ausgedehnte Körper beziehen; so, daß der Begriff der Gesamtheit alles dessen, was zu einem gegebenen Augenblick in unserem Bewußtsein ist, vielleicht ein ebenso ursprünglicher Begriff ist wie der jedes einzelnen Dinges." Als Maxwell diese Feststellungen machte, war er natürlich von keinem Gestaltpsychologen beeinfiußt. Die Bemerkung, die ich gerade zitierte, wurde 1873 geschrieben, fast 40 Jahre vor dem Beginn der Gestaltpsychologie4. Kurz darauf las ich Max Plancks Vorlesungen, die er 1909 in New York gehalten hat. In einer dieser Vorlesungen behandelt er den Begriff des irreversiblen Prozesses, einen Begriff, der eine zentrale Rolle spielt in dem, was die Physiker den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nennen. In diesem Zusammenhang macht Planck die folgende Feststellung: „Wir sind in der Physik gewöhnt, die Erklärung für einen Naturvorgang zu suchen auf dem Wege einer Zerlegung des Vorganges in die Elemente. Wir betrachten jeden verwickelten Prozeß als zusammengesetzt aus einfachen Elementarprozessen . . i n d e m wir uns das Ganze als Summe der Teile denken. Diese Methode hat aber zur Voraussetzung, daß durch diese Teilung der Charakter des Ganzen nicht verändert wird . . . Zerlegen wir nämlich einen irreversiblen Prozeß in seine Elementarbestandteile, so schwindet die Unordnung und mit ihr die Irreversibilität uns sozusagen unter den Händen fort; ein irreversibler Prozeß muß also jedem unverständlich bleiben, der von dem Grundsatz ausgeht, daß alle Eigenschaften des Ganzen audi in den Teilen nachweisbar sein müssen." Planck fügt folgenden außerordentlichen Satz hinzu: „Mir scheint, als ob eine ähnliche Schwierigkeit bei den meisten Problemen des geistigen Lebens vorliegt."5 Ich zitiere ferner A. S. Eddington: „Es gibt ein Ideal der 4 5

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A . a . O . , Bd. 2, S. 163. M. Planck, Acht Vorlesungen über Theoretische Physik, Leipzig S. 96—97.

1910,

wissenschaftlichen Betrachtung, nach dem man der Reihe nach auf jeden winzigen Raumteil blicken soll, um festzustellen, was er enthält, damit auf diese Art ein vollständiges Inventar der Welt zustandekommt. Aber dabei werden alle Eigenschaften der Welt übersehen, die nicht in solchen kleinsten Raumteilen anzutreffen sind."6 Ich hoffe, daß alle diese Zitate klar gemacht haben, daß die frühen Gestaltpsychologen, die damals noch nicht mit diesen bemerkenswerten Aussagen großer Naturwissenschaftler vertraut waren, fern von Phantastik, fast naiv in einer Richtung arbeiteten, die völlig mit Tendenzen übereinstimmte, die sich in der Naturwissenschaft herausgebildet hatten. Unter diesen Umständen wird es für Sie nicht verwunderlich sein, wenn ich das nächste Mal Grundbegriffe der Naturwissenschaft, und zwar nicht nur der Physik, sondern auch der Biologie bespreche. Denn einige Begriffe der Physik und der Biologie müssen klar sein, wenn schwerwiegende Mißverständnisse vermieden werden sollen.

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Vgl. A. S. Eddington, The Nature of the Physical World, N e w York und Cambridge 1929, S. 103.

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II. Gestaltpsychologie und Naturwissenschaft In der vorigen Vorlesung sagte ich, daß bis ungefähr 1920 die Gestaltpsychologen in der Regel bei den psychologischen Beobachtungen, die sich auf interessante Tatsachen in der Wahrnehmung bezogen, verblieben; ich sagte auch, daß sie nicht in der Lage waren zu erklären, was sie auf diesem Gebiet entdeckt hatten. Auch ζ. B. die Tatsache, daß, unter bestimmten Umständen, schon die Aufeinanderfolge zweier Gegenstände, die an verschiedenen Stellen gezeigt werden, umgesetzt wird in die Bewegung eines einzigen Gegenstandes — über den Zwischenraum hin —, sagt dem Beobachter noch nichts darüber, warum dies so ist. Entsprechend sieht man bei drastischen optischen Täuschungen nur erstaunliche Verzerrungen, aber man sieht nicht, warum die Wahrnehmung gegebener einfacher Muster grundlegend verändert wird durch andere Muster in ihrer Umgebung, usw. Die Gestaltpsychologen vermuteten, daß diese Phänomene durch Wechselwirkungen verursacht würden, aber sie konnten nodi nicht sagen, weshalb solche Wechselwirkungen eintreten, d. h. welche Kräfte oder Prozesse daran beteiligt sind. Die Wahrnehmung zeigte nur die Wirkung solcher hypothetischer Ursachen, aber gab dem Beobachter keinen Aufschluß über deren Natur. Die Kräfte und Prozesse, die solchen Wahrnehmungstatsachen zugrundeliegen, sind einfach in der phänomenalen, der wahrgenommenen Welt nicht vertreten. Es lag dann für die Gestaltpsychologen nahe anzunehmen, daß die unbekannten Vorgänge, die für solche eigenartigen Wechselwirkungen in den Wahrnehmungsfeldern verantwortlidi sind, 48

Prozesse in den entsprechenden Teilen des menschlichen Gehirns sind — hauptsächlich in der grauen Außenschicht, der Hirnrinde —, da das Gehirn der einzige Komplex ist, dessen Prozesse in engster Verbindung mit den Wahrnehmungserfahrungen des Menschen stehen und das deshalb den Charakter dieser Erfahrungen bestimmen mag. Man weiß von pathologischen Fällen her und auch aufgrund anderer Ergebnisse, wo im Gehirn die Prozesse, die direkt mit dem Sehen verbunden sind, stattfinden, ebenso auch, wo die physiologischen Korrelate des Hörens und die des Tastsinns lokalisiert sind, usw. Aber unsere Hauptfrage ist natürlich, welche physiologischen Prozesse an diesen Stellen vor sich gehen, wenn Menschen Wahrnehmungen der einen oder anderen Art haben. Wilhelm Wundt — der Psydiologe, der oft als Begründer der Experimentalpsychologie angesehen wird — gab hierauf folgende radikale Antwort: Gehirnprozesse und korrespondierende psychologische Tatsachen sind völlig verschieden, was die Natur sowohl ihrer Elemente als auch die der Verbindungen zwischen diesen Elementen angeht. Wenn wir nun an die vorige Vorlesung denken, so werden wir wohl diese Äußerung von Wundt zumindest etwas übertrieben finden. Wir werden uns z.B. erinnern, daß, wie von mehreren Physikern entwickelt und dargestellt worden ist, die Verteilung von Stoffen und Prozessen in physikalischen Systemen dazu tendiert, regelmäßig, einfach und oft auch symmetrisch zu werden, sobald die Systeme sich einem Gleichgewichtszustand oder einem stationären Zustand nähern. Aber ohne von diesem Verhalten physikalischer Systeme zu wissen, entdeckten die frühen Gestaltpsychologen, daß dieselbe Gesetzmäßigkeit audi für die Abläufe in der menschlichen Wahrnehmung gilt. Weshalb sollte eine solche Ähnlichkeit des Verhaltens psychologisdier und physikalischer Tatsachen unmöglich sein, wenn die in Frage stehenden physikalischen Tatsadien zufällig physiologische Prozesse im Gehirn sind? Ich brauche keine weiteren Beispiele zu nennen, welche gleichfalls darauf hinweisen, daß manchmal das Verhalten physikalischer Prozesse demjenigen psychologischer Geschehnisse ähnelt. Freilich enthält die menschliche Wahrnehmung viele Tatsachen, wie sie in der physikalischen Welt niemals vorkommen. 49

Nehmen Sie z.B. die Sinnesqualitäten wie blau, grau, gelb, grün und rot. In ihrer Welt finden die Physiker nichts, was diesen Qualitäten ähnelt, und niemand erwartet, daß die physiologischen Prozesse in der Sehrinde solche Charakteristika haben. Aber wir daditen nicht an die Sinnesqualitäten, als im Anfang die Vermutung bei uns aufkam, daß gewisse Eigenschaften von Wahrnehmungsfeldern denjenigen kortikaler Prozesse, denen sie zugeordnet sind, ähnlich sind. Die Eigenschaften, an die wir dachten, waren Struktureigenschaften. Wenn z.B. unter bestimmten Bedingungen Wahrnehmungsprozesse eine Tendenz zu besonders regelmäßigen und einfachen Formen zeigen, und wenn wir vermuten, daß unter denselben Bedingungen entsprechende Prozesse im Gehirn dieselbe Tendenz aufweisen, dann kommen wir zu dem, was ich eben Struktureigenschaften nannte. Und es sind nur solche strukturellen Charakteristika, die, nicht nur in diesem Fall, sondern auch in vielen anderen, Wahrnehmungstatsachen und die entsprechenden Gehirnprozesse gemeinsam haben können. Im Jahre 1920 formulierten die Gestaltpsychologen diese Annahme in der Form folgender allgemeiner Hypothese: Psychologische Tatsachen und die zugrundeliegenden Gehirnvorgänge sind sich in allen ihren Strukturcharakteristika ähnlich. Heutzutage wird dies die Hypothese vom psychophysischen Isomorphismus genannt. Ich wiederhole: dies ist eine Hypothese. Offenbar kann sie nur geprüft werden, wenn wir zusätzlich genau angeben, welche physikalischen Prozesse wir als im Gehirn des Menschen ablaufend voraussetzen, wenn er bestimmte strukturierte Wahrnehmungen macht. Im Prinzip war es nicht allzu schwierig gewesen, die Natur dieser Prozesse ausfindig zu machen. Aber es besteht noch immer die Schwierigkeit, daß wir leicht ernstliche Fehler madien, wenn wir versuchen, unsere allgemeine Hypothese des Isomorphismus auf spezifische Phänomene in der psychologischen Welt anzuwenden. Aus diesem Grund will ich mich nun der Biologie zuwenden und einige Grundprobleme in dieser Wissenschaft diskutieren, die wir kennen müssen, wenn wir unserer Hypothese einen präziseren Inhalt geben wollen. 50

Diese Grundprobleme lassen sich vielleicht am klarsten sehen im Zusammenhang mit den Vorstellungen, wie sie schon von einem großen Philosophen ausgedrückt worden sind, von Rene Descartes, der, vor 300 Jahren, ebenfalls versuchte, die Funktionen des Nervensystems zu erklären. In einer Hinsicht ähneln bestimmte moderne Vorstellungsweisen vom Nervensystem immer noch der von Descartes, der damit ernstlich im Irrtum war. Es wird unsere erste Aufgabe sein, diesen Irrtum zu diskutieren. Descartes war, wie Sie wissen werden, ein strenger Dualist. Nadi seiner Ansicht hat die Seele ihr eigentümliche Eigenschaften und Gesetze, und ebenso der Körper; die Eigenschaften und Gesetze des Körpers sind von denen der Seele völlig verschieden. Nun haben manche Philosophen aus verschiedenen Gründen streng dualistische Ansichten vertreten. Aber meist erschienen ihnen seelische Prozesse gegenüber den in der Natur vorkommenden in solchem Maße erhaben, daß nach ihrer Vorstellung dieser fundamentale Unterschied stets betont werden mußte. Diese Philosophen waren Dualisten um der Sache der Seele willen. Sehr wahrscheinlich war dies auch der Fall bei Descartes. Vor Descartes wurden psychologische Begriffe keineswegs immer als nur psychologisch betrachtet. Vielmehr spielten einige solche Begriffe auch eine große Rolle in der frühen Biologie, weil gewisse biologische Tatsachen so aussahen, als würden sie wahrscheinlich von ähnlichen Prinzipien bestimmt wie psychologische Geschehnisse. Mit solchen Gesichtspunkten hatte Descartes keine Geduld. Ihm zufolge war der Körper eine Maschine, und deshalb mußten psychologische Begriffe aus dem Spiel gelassen werden, wenn diese bloße Maschine untersucht werden sollte. Nun wird dieses alles nicht so klar in Descartes' eigenen Schriften gesagt. Zu seiner Zeit mußte ein Philosoph, der ihm wichtige Forschungen ohne Störungen von außen durchführen wollte, recht vorsichtig sein; waren doch gerade direkt vor den Toren von Paris kürzlich die Schriften von Harvey, dem Entdecker des Blutkreislaufs, öffentlich verbrannt worden. Nach der traditionellen Ansicht konnte ein Wesen von so hoher Würde wie der Mensch unmöglich als Gefäß dauernder Unruhe wie der des 51

Blutkreislaufs angesehen werden. Wirklich Gutes, so dachte man, ist immer in sich ruhend und fest. Ferner war Galilei großen Widerwärtigkeiten ausgesetzt gewesen wegen seiner astronomischen Theorien. Indem er sein neues Teleskop bei der Beobachtung der Planeten und der Sonne benutzte, hatte er herausgefunden, daß auch in diesem Bereich allerlei Kompliziertheit und Veränderung herrscht, während die Autoritäten es für sicher hielten, daß in der erhabenen Sphäre jenseits des Mondes alles stetig, einfach und harmonisch verlaufen würde. Übrigens war tatsächlich ein anderer Philosoph, Giordano Bruno, wegen seiner unpopulären Ansichten über das Universum sogar auf dem Sdieiterhaufen verbrannt worden. So hielt Descartes eine Zeitlang einige seiner Manuskripte versteckt, und er beschreibt oft seine Meinungen so, als wären sie jemandes Phantasie und nicht seine eigenen Uberzeugungen. Die Interpretation des menschlichen Organismus als eine Maschine war natürlich weiterhin ein unerhörtes Unternehmen. Deshalb tarnte Descartes seine Ansichten, indem er sagte, er interessiere sich lediglich für eine Art Roboter, der dem menschlichen Körper auf eine höchst ungewöhnliche Weise ähneln würde. Ich darf einige Paragraphen aus seiner Abhandlung „Uber den Menschen" („De l'Homme") sowie aus „Die Leidenschaften der Seele" („Les Passions de l'Äme") heranziehen. In meiner Übersetzung habe ich einige der komplizierten Satzgefüge von Descartes umgeformt in jeweils mehrere kürzere Sätze; nirgends jedoch habe ich den Sinn von Descartes' eigenen Sätzen verändert. Descartes wendet sich ζ. B. an den Leser folgendermaßen: „Ich möchte Ihnen gern verständlich machen, daß alle Funktionen, die ich dieser meiner Masdiine zuordne, sich ganz natürlich aus der Weise ergeben, in welcher ihre ,Organe* angeordnet und verbunden sind — ebenso wie die Bewegungen einer Uhr oder eines anderen automatischen Mechanismus durch die Anordnung gewisser Gewidite und Räder bestimmt sind. Dies entscheidet die Weise, in welcher unsere Maschine verdaut, in welcher ihr Herz und ihre Adern schlagen, in welcher sie atmet, wacht oder schläft; es entscheidet die Reizung der äußeren Sinnesorgane durch Licht, Schall, 52

Geruch, Geschmack, Wärme und dergleichen, das Bewahren solcher Eindrücke im Gedächtnis, sowie auch die inneren Erregungen, die wir Triebe und Leidenschaften nennen. Schließlich gilt dasselbe ebenso auch für die äußeren Bewegungen der Glieder. In so hohem Maße sind diese Bewegungen der Maschine abgestimmt auf die möglichen Reize von außen, auf die Leidenschaften sowie auf die im Gedächtnis aufbewahrten Eindrücke, daß diese ,Nachahmung eines wirklichen lebendigen Menschen' so vollkommen ist wie sie nur sein kann. Augenscheinlich ist es, um die Maschine zu verstehen, nicht notwendig, ein spezielles vegetatives oder ein sensitives Prinzip, wie das einer Seele, anzunehmen. Wir müssen uns nur auf das Blut und die animalischen Lebensgeister („les esprits animaux") beziehen, die durch die ständige Wärme im Herzen in Gang gehalten werden, und diese Wärme ist natürlich von genau derselben Art wie die, die man in allen unbeseelten Dingen findet."1 Übrigens waren die vegetativen und sensitiven Prinzipien einer Seele, welche von Descartes erwähnt und abgelehnt wurden, Hauptbegriffe in der Biologie einiger griechischer Philosophen und später einiger scholastischer Schulen; und mit den „esprits animaux", die Descartes übernommen hatte, war auch nichts Seelisch-Geistiges gemeint. Sie spielen bei ihm nur die Rolle einer sehr dünnen Flüssigkeit oder eines Gases, die vom Herzen erwärmt werden. Descartes betrachtet weiterhin das Nervensystem. Hier, sagt er, haben wir ein System von Hohlräumen und Röhren, in denen diese Flüssigkeit, die „esprits animaux", aufgespeichert ist und zirkuliert. Wo sind diese Hohlräume? Als Antwort auf diese Frage entwickelt Descartes eine höchst ungewöhnliche Theorie. Während wir das Gehirngewebe als das Wesentlichste ansehen, konstituiert dieses für Descartes in der Hauptsache die Wände um die wirklich entscheidenden Hohlräume; diese Hohlräume sind das, was wir Ventrikeln nennen, gewisse Höhlungen, die von Gehirngewebe umgeben und tatsächlich mit Gehirnflüssigkeit 1

Rene Descartes, Traite de l'Homme, Abschnitt 106 (Zählung nach der Ausgabe von Clerselier, 1664).

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gefüllt sind. Diese Ventrikeln nun sind in Descartes' Neurologie von höchster Wichtigkeit, weil sie die „esprits animaux" enthalten, das Material, welches die menschliche Maschine sich bewegen läßt. Idi zitiere wieder: „Es gibt Poren in den Wänden der Hohlräume des Gehirns, durch die die esprits animaux in die Nerven gelangen können; und je nachdem, durch welche Poren und durch welche Nerven sie jeweils hindurchgehen, können sie dann die Form der Muskeln, in denen die Nerven enden, verändern, so daß die Glieder der Maschine sich bewegen2, genau wie die Luft in einem Ballon ihn ausdehnt und prall macht." Nach dieser überraschenden aerodynamischen Interpretation der Muskelbewegung macht Descartes die folgende Bemerkung: „Solche Dinge sind Ihnen von den künstlichen Grotten und Wasserspielen in unseren königlichen Gärten her wohlbekannt, wo die bloße Kraft des Wassers, so wie es aus der Quelle kommt, genügt, um irgendwelche Dinge in Bewegung zu setzen oder sogar eine Mechanik dazu zu bringen, Musik zu spielen oder einige Worte sprechen zu lassen — ganz so, wie es der Anordnung der Röhren entspricht, die die Verbindung mit der Quelle herstellen3. Zweifellos kann man die Nerven unserer Maschine vergleichen mit den Röhren in solchen künstlichen Wasserspielen und ihre Muskeln und Sehnen mit dem medianischen Getriebe und die esprits animaux mit dem Wasser selbst. Weiterhin: die Reize von außen, die in unserer Masdiine auf die Sinnesorgane einwirken und so indirekt Muskelbewegungen auslösen... sie sind genau wie Besucher, die sich zufällig einer dieser Grotten oder Wasserspiele nähern und plötzlich auf verborgene Platten treten, woraufhin die Statue einer Diana, die sich gerade für ein Bad richtet, sich schnell in die Gebüsche zurückzieht, und wenn sie ihr dann folgen wollen und nun auf eine andere Platte treten, ein Neptun mit seinem Dreizack drohend auf sie zukommt oder ein Meeresungeheuer ihnen Wasser ins Gesicht speit. Wenn eine mit Vernunft begabte Seele einen Platz in unserer Maschine, in der Mitte ihres 2 3 4

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A. a. O., Abschnitt 15. A. a. O., Abschnitt 15. A. a. O., Abschnitt 16.

Gehirns, angewiesen bekäme, so würde sie dort natürlich die Rolle des Mannes spielen, der für die Wasserspiele verantwortlidi ist und daher genau in ihrem Zentrum bleiben muß, der Stelle, von wo die verschiedenen Röhren zu den Mechaniken, die ich eben erwähnt habe, ausgehen."4 Noch ein weiterer Punkt, und wir wissen genug über Descartes' Neurologie. Er nimmt nicht an, daß die Übertragung in den Nerven ausschließlich eine Angelegenheit der „esprits animaux" sei, die in den röhrenähnlichen Leitungen entlangwandern. Dieses, glaubt er, geschieht nur, wenn unsere Muskeln in Gang gesetzt werden, d. h. wenn die Nervenübertragung nach der Peripherie zu geschieht. Übertragung in der entgegengesetzten Riditung, die durch periphere Reize verursacht wird, folgt einem anderen Prinzip. Mitten durch jedes Nervenröhrdien geht ein Faden, der sich von einem Sinnesorgan zu dem zentralen Ende der Röhre im Gehirn erstreckt. Eine Reizung irgendwo in einem Sinnesorgan bedeutet, daß ein solcher Faden leicht angezogen wird, daß dieser Zug am Faden entlang zum Gehirn übertragen wird und daß als Ergebnis eine bestimmte Pore in der Ventrikelwand sich zeitweilig öffnet. Damit entweichen einige der „esprits animaux" in das Röhrchen, bewegen sich in der entgegengesetzten Richtung fort und blasen einen Muskel auf, so daß man das erhalt, was man heutzutage Reflexbewegung nennt, z.B. automatisches Zurückziehen des Fußes, wenn er zu nahe ans Feuer kommt5. Sonderbarerweise wurde dieses recht seltsame Bild der Nerventätigkeit fast 150 Jahre lang allgemein hingenommen, d.h. bis in das späte 18. Jahrhundert hinein. Die Hauptidee jedoch bei Descartes war, den Organismus und spezieller gesagt das Nervensystem als Maschine aufzufassen; und in diesem wesentlichen Punkt sind gegenwärtige Anschauungen oft fast so cartesianisch, als ob der Philosoph noch unter uns lebte und nur moderne Einzelheiten statt derjenigen eingesetzt hätte, die ganz offenbar in seiner ursprünglichen Fassung verkehrt waren. Wenden wir uns 5

A. a. O., Abschnitt 26.

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nun dem Begriff der Maschine zu und prüfen vom Standpunkt der Physik aus, was dieser Begriff bedeutet, so begeben wir uns in eine Erörterung, die die gegenwärtige Zeit ebenso angeht, wie die Anschauungen einer speziellen historischen Periode und eines bestimmten Mannes. Was ist eine Maschine? Dieser Begriff wird von verschiedenen Autoren in verschiedenem Sinne gebraucht. Alle Systeme, in denen Prozesse durch gegebene Ursachen determiniert werden, werden manchmal „Maschinen" genannt. Sogar das Universum als Ganzes hat man so bezeichnet, einfach in der Annahme, daß alle Geschehnisse darin auf diese Weise bestimmt sind. Aber das Wort Masdiine hat auch eine viel spezifischere Bedeutung, und eben in dieser spezifischen Bedeutung ist der Maschinenbegriff so außerordentlich wichtig in der Biologie geworden. Deshalb muß ich versuchen zu verdeutlichen, daß Maschinen in diesem Sinne, wie auch Descartes ihn meint, etwas höchst Spezielles sind. Der Unterschied zwischen typischen Maschinen und anderen Systemen in der Natur ist vollkommen klar in der Physik. Wir wollen daher sehr einfache Systeme aus der unbelebten Welt betrachten. Wenn solche Systeme sich nicht in einem Gleichgewichtszustand befinden, werden zum Beispiel ihre Teile durch gegenseitige Wechselwirkung verschoben. Diese Wechselwirkung und ihre Auswirkungen wollen wir die Dynamik des Systems nennen. Für unseren gegenwärtigen Zweck wollen wir in diese Kategorie der Dynamik Vorgänge einschließen wie Schwerkraft, elektrische und magnetische Anziehung und Abstoßung, elektrische Ströme, Wärmeleitung, Diffusionsströme, chemische Reaktionen, u. s. f. Solange wir es nicht mit dem atomaren Geschehen in der Natur, sondern nur mit größeren oder sogenannten makroskopischen Systemen zu tun haben, sind die allgemeinen Gesetze der Dynamik wohl bekannt. So weit ist also alles ganz elementar, und daher wird unser nächster Schritt entsprechend einfach sein. Ein System kann stabile Teile enthalten, welche so starr und fest fixiert sind, daß sie durch dynamische Geschehnisse im Innern weder verschoben, deformiert noch zerstört werden können. Solche Teile werden durch keine dynamischen Vorgänge ernstlich betroffen. Diese un56

veränderlichen Teile beeinflussen aber das, was im System geschieht. Denn nicht alle Verschiebungen, die vorkommen würden, wenn die Dynamik allein entscheidend wäre, können jetzt wirklich stattfinden. Starre Teile, die für gewisse Verschiebungen im Wege sind, machen diese Verschiebungen entweder unmöglich oder sie erlauben nur, daß solche Komponenten der Dynamik verwirklicht werden, die mit der Lage und Richtung dieser starren Teile vereinbar sind. Idi will diese starren Teile des Systems „Schranken" nennen. Ein Beispiel: ein Gegenstand, den wir einfach fallen lassen, wird auf einer geraden vertikalen Linie zu Boden fallen. Dies ist ein Fall von Dynamik ungehindert von Schranken, ein Fall von freier Dynamik. Aber wenn wir ihn auf eine glatte harte Ebene, die sdiief zur Erde steht, legen, kann er nicht mehr einfach der Richtung der Schwerkraft folgen. An jedem Punkt ist jetzt die Gravitationskomponente, die senkrecht zu der schiefen Ebene wirkt, ausgeschaltet und nur die Komponente, die parallel zu ihr ist, bleibt übrig; mit anderen Worten, der Gegenstand folgt jetzt der Richtung der Ebene. Jede feste Röhre, in der Wasser fließt, ist ein weiteres Beispiel für eine Schranke, weil ihre starren Wände alle Bewegungen des Wassers senkrecht zu ihnen verhindern. Wenn wir der Röhre eine andere Form geben, wird natürlich die strömende Flüssigkeit gezwungen, diese als ihre eigene Form anzunehmen. Alle anderen Möglichkeiten sind wieder ausgeschlossen. Der Grad, in dem die Dynamik eines Systems durch Schranken begrenzt ist, kann sehr stark variieren. Komponenten freier Dynamik können an nur wenigen Stellen ausgeschaltet sein, oder die Ausschaltung kann außerordentlich weit gehen. Der extreme Fall würde derjenige eines Systems sein, in dem überall Schranken alle Komponenten der Dynamik ausschließen, ausgenommen eine einzige. Unter dieser Bedingung wird die Art der Wirkung im System vollständig durch die Schranken vorgeschrieben. Jede Abweichung von dieser Form ist durch die Ausschaltung derjenigen Komponenten unmöglich gemacht, die diese Abweichung verursachen könnten. Wenn dieses Extrem erreicht ist, ist das System ganz genau eine Maschine; es stellt gerade den idealen Typ „Maschine" dar. Maschinen in diesem Sinn sind höchst nütz57

liehe Systeme oder wenigstens können sie nützlich sein, wenn ihre Schranken riditig gewählt werden. Wann immer eine besondere Form dynamischer Wirkung erreicht und jede andere Form ausgeschlossen werden soll, wird eine richtig konstruierte Maschine dies leisten. Gerade durch die Einführung von Schranken zwingen die verschiedenen Industrien die Natur, nicht das zu tun, was ihre freie Dynamik tun würde, sondern vielmehr das, was dem Menschen zu einem bestimmten Zweck dienen kann. Sicherlich sind nicht alle in der Industrie benutzten Maschinen ideale Maschinen in dem von uns jetzt benutzten theoretisdien Sinn, d.h. Maschinen mit nur einem einzigen Freiheitsgrad. Bei manchen Maschinen wird die Möglichkeit für mehr als nur eine Wirkungsform offen gelassen, z . B . bei Dampfmaschinen, die etwa zwei mögliche Wirkungsformen besitzen können. Gewöhnlidi verwendet man den Begriff Maschine recht frei und wendet ihn audi auf derartige Systeme an, solange sie eine nützliche Verwendung haben. Jedenfalls gibt es zwischen dem theoretisch idealen Typ einer Maschine und Systemen ohne jede Schranke eine kontinuierliche Reihe von dazwischenliegenden Systemen. An dieser Stelle ist es sehr wichtig, sich daran zu erinnern, daß alle Systeme, sowohl die Maschinen wie auch alle anderen den allgemeinen Gesetzen der Physik und Chemie folgen; in jedem System führen vorgegebene Bedingungen zu dynamischen Wirkungen, die von dem Wissenschaftler vorausgesagt werden können. Ein System, das keine Maschine ist, kann nur frei genannt werden, insofern es frei von Schranken ist. Fehlen diese, so hat es lediglich die Freiheit, denjenigen Prinzipien zu folgen, die einzig in seiner eigenen Dynamik liegen. Andererseits würde sogar eine Maschine im strengen Sinn überhaupt nicht funktionieren, wenn gar keine Komponente der Dynamik zur Wirkung kommen dürfte. Schranken als solche rufen überhaupt keine Wirkungen hervor; sie schließen lediglich gewisse Wirkungen aus. Wir können jetzt zu Descartes1 Deutung der Funktionen des menschlidien Organismus zurückkehren und insbesondere zu seiner seltsamen Neurologie. Ich nannte diese Neurologie eine Maschinentheorie, weil Descartes offensichtlich geordnete Wir58

kungsformen des Nervensystems gänzlich von anatomischen Anordnungen im menschlichen Körper ableitet, die keine anderen Wirkungsformen zulassen. Diese anatomischen Bedingungen sollten im Organismus dieselbe Rolle spielen wie die starren Schranken in unseren mechanischen Vorrichtungen. Es kam Descartes nie in den Sinn, daß geordnete und nützliche Geschehnisse an Tendenzen der Dynamik als solcher liegen könnten. Wir haben gesehen, daß die gegenwärtige Neurologie sich von der Descartesschen in sehr vielen anderen Zügen unterscheidet, aber immer noch ist die Hauptvoraussetzung vielen neurologischen Denkens, daß der wahre geordnete Ablauf von Nervenprozessen völlig durch anatomische Anordnungen vorbestimmt sei, d. h. durch Schranken. Nun, ist der menschliche Körper wirklich eine Maschine in dem ganz strengen Sinn, daß alle seine Funktionen durch entsprechende anatomische Schranken bestimmte Verläufe zu nehmen gezwungen werden? Die Versuchung anzunehmen, daß dies so sein muß, ist gewiß sehr groß. Wenigstens ist dies die Art von Erklärung, an die unser Denken weitgehendst gewöhnt ist. Ich gestehe gern, daß dies keineswegs nur an menschlichem Vorurteil liegt. Viele anatomische Tatsachen sind einfach von solcher Art, daß ihre Rolle als zweckmäßige Schranken, durch welche Funktionen sich ordnen und bestimmen, von jedem objektiven Beobachter wahrgenommen werden muß. Trotzdem würde ich vorschlagen, daß wir hier recht vorsichtig vorgehen wollen; denn eine solche Weise der begrifflichen Erklärung geordneter Funktionen ist sicher nicht auf alle biologischen Verhältnisse anwendbar, und ich bezweifle, daß sie je eine vollständige Erklärung dessen, was geschieht, geben kann. Wir nähern uns jetzt allmählich Problemen, die für den Psychologen ebenso wichtig sind, wie sie es für den Biologen notwendigerweise sind. Ich mache in der Tat die folgenden Bemerkungen über bestimmte biologische Tatsachen hauptsächlich darum, weil sie uns zu wesentlichen Beobachtungen und Fragen in der Psychologie führen werden. Zwei bekannte Tatsachen, die für das Leben aller höheren Organismen wichtig sind, können sicherlich nicht in Begriffen spe59

zieller Maschinenbedingungen erklärt werden. Erstens: die Verteilung bestimmter Stoffe im Organismus wird durch soldie Bedingungen nicht vollständig geregelt, z.B. muß die Gewebeflüssigkeit, die wir in allen die Zellen umgebenden Geweben finden, und welche darum das Medium ist, in dem diese leben müssen, die richtige Verteilung haben, wenn diese Zellen überleben sollen. Aber es gibt kaum irgendwelche speziellen histologischen Anordnungen, durch die die richtige Verteilung der Gewebeflüssigkeit erzwungen wird. Wenn trotzdem die Tendenz besteht, daß die richtigen Bedingungen erhalten bleiben (wie es tatsächlich der Fall ist), so muß dies eher aufgrund der vorhin vorgestellten reinen Dynamik geschehen als wegen der anatomischen Schranken, welche die richtige Verteilung der Flüssigkeit erzwingen würden. Zweitens: was eben über die Gewebeflüssigkeit gesagt wurde, gilt in gewissem Sinn audi für das Blut. Das Blut enthält sehr viele Chemikalien, deren Zuführung an eine bestimmte Stelle für das Bestehen des betreffenden Gewebes sowie für das des ganzen Organismus wesentlich ist. Aber in den Adern gibt es keine speziellen Leiter für die verschiedenen Chemikalien. Trotzdem kommen sie unter normalen Bedingungen an und wirken an der richtigen Stelle. Dies muß so sein, wenn das Leben fortbestehen soll. Aber wiederum: wenn dies so ist, muß es hauptsächlich aus Gründen, die in der Dynamik liegen, geschehen, insbesondere der chemischen Dynamik. Was hat es nun eigentlich auf sich mit einer Dynamik ohne Schranken, daß diese in dieser besonderen so höchst selektiven Weise wirksam sein kann? Idi fürdite sehr, an diesem Punkt mißverstanden zu werden. Darf ich deshalb noch einmal wiederholen. Wenn ich sage, daß bestimmte biologische Tatsadien nicht mit Begriffen spezieller anatomischer Anordnungen, d. h. durdi den Begriff der Maschine, erklärt werden können, so liegt mir fern zu sagen, daß solche Tatsachen nicht in naturwissenschaftlichen Begriffen erklärt werden könnten. Was ich gegenüberstelle, ist nicht: beseelte und unbeseelte Natur (was immer das sein mag), sondern: die fundamentalen Kräfte und Prozesse der Natur, wenn sie frei ihren eigenen, dynamischen, kausalbestimmten Ablauf bestimmen, und dieselben 60

Kräfte und Prozesse, wenn sie teilweise oder ganz durch Schranken bestimmte Abläufe anzunehmen gezwungen werden. Beispielsweise zwingt keine Schranke einen Planeten, sich auf seiner bestimmten Bahn um die Sonne zu bewegen; seine Bewegung ist ein Beispiel dafür, was ich freie Dynamik genannt habe. Nur das Gravitationsfeld zwischen ihm und der Sonne bestimmt die Bewegung. Ich wende mich jetzt einem Problem zu, das fast noch grundsätzlicher für unsere Hauptfrage ist. Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen dem Organismus und (soweit ich sehen kann) allen von Menschen hergestellten Maschinen. Kaum eine anatomische Anordnung oder Schranke stellt einen Gegenstand dar in dem Sinn, in dem die Schranken unserer Maschinen feste Gegenstände oder Dinge sind. Die festen Bestandteile in den Maschinen bestehen aus vorgegebenem Material, wie ein Felsen oder ein Stück Eisen das gleiche feste Material — Tag für Tag oder mit größerer Wahrscheinlichkeit Jahr für Jahr — behält. Es ist gerade diese Beständigkeit des festen Materials bestimmter Gegenstände, auf die wir uns beim Bau der Schranken unserer Maschinen verlassen. Sobald Anzeichen dafür auftreten, daß das Material der Schranken nicht mehr ganz zuverlässig dasselbe ist wie vorher, schalten wir entweder die ganze Maschine aus oder ersetzen die betreffenden Schranken durch neue Teile. Aber nochmals, kaum ein Teil des Organismus, kaum eine der anatomischen Strukturen stellt einen festen Gegenstand oder ein Ding in diesem Sinne dar. Bei genauer Betrachtung erweisen sich alle diese Strukturen als Prozesse — sogenannte stationäre Zustände —, deren Material durch den Stoffwechsel langsam allmählich abgebaut und gleichzeitig wieder ersetzt wird. Nur die Strukturen, die Formen dieser Gewebe und die allgemeine Zusammensetzung ihres Materials ändern sich nicht. Die einzelnen Moleküle, aus denen sie bestehen, zerfallen und verschwinden, während andere von derselben Substanz an ihre Stelle treten, so daß die histologischen Formstrukturen erhalten bleiben. Trotz dieses dauernden Materialwechsels, trotz der Tatsache nun, daß anatomische Strukturen keine festen Gegenstände von Dauer darstellen, sind diese stationären 61

Zustände oft so stabil und widerstandsfähig, daß sie als Schranken dienen können, durch welche mehr vorübergehende dynamische Gesdiehnisse im Organismus gezwungen werden, in bestimmten Bahnen abzulaufen. Folglich ist der Organismus in der Lage, an bestimmten Stellen so zu funktionieren, als ob er eine Maschine wäre. Aber selbst dann noch ist es eine sehr bemerkenswerte Tatsache, daß es, genau gesprodien, kaum irgendwelche Gegenstände im Organismus gibt, sondern daß er fast völlig aus Prozessen besteht. Denn jetzt erhebt sich die Frage, warum die verschiedenen Teile eines Organismus über beachtliche Zeitabschnitte hin als bestimmte Formen erhalten bleiben trotz der Tatsache, daß sie in Wahrheit stetige Prozesse sind. Ich wende mich nun weiterhin dem Prinzip der Evolution zu, weil man annimmt, daß dieses die Weise erklärt, in welcher die verschiedenen Arten ihre charakteristische Anatomie und deren entsprechende Funktionen erworben haben. Hier scheint keine Schwierigkeit vorzuliegen. Wenn es einerseits kleine Organismen mit Genen in ihren Zellen gibt und wir andererseits wissen, daß Gene und Gensysteme zu Mutationen tendieren, so können wir die bekannte Darwinsche Vorstellungsweise — vielleicht mit einigen modernen Modifikationen — bei der Erklärung des Ursprungs der verschiedenen Arten in einem freieren Sinn beibehalten. Aber wir wollen sehen, was die Evolution geleistet, und was sie sicher nicht geleistet haben kann, wenn wir die Grundforderung der modernen Evolutionstheorie annehmen. Das Postulat ist folgendes: alle biologischen Tatsachen und Geschehnisse können nach den Gesetzen verstanden werden, die für Tatsachen und Geschehnisse in der unbelebten Welt gelten. In dieser Hinsicht ist das Evolutionsprinzip eher ein Prinzip strenger Invarianz als ein Prinzip von Veränderlichkeit. Sobald man völlig neue Gesetze, neue elementare Kräfte und neue elementare Prozeßarten in die Evolutionstheorie einführt, können wir nicht länger von eigentlicher Evolution sprechen. Gerade die Unveränderlichkeit in diesen Bedingungen kennzeichnet das eigentliche Ziel des evolutionären Denkens und macht das Evolutionsprinzip so anziehend für den Wissenschaftler. 62

Wenn die Gesetze, Kräfte und Elementarprozesse der unbelebten Natur audi die der lebenden Systeme sein sollen, weldie Veränderungen kann dann die Evolution hervorgerufen haben? Vom Standpunkt des Physikers aus, der hier audi der unsrige sein muß, kann es nur eine Antwort auf diese Frage geben: auf dem Wege über Situationen zwischen Genen, über die daraus folgenden Veränderungen in morphogenetisdien Entwicklungen und über entsprechendes selektives Verhalten der Umgebung muß die Evolution besondere anatomische Schranken eingeführt haben. Erinnern wir uns daran, daß Schranken selbst nicht dynamische Geschehnisse hervorbringen können; sie sdiließen nur bestimmte dynamische Komponenten aus, die ohne sie wirksam sein würden. Dies muß natürlich nicht nur für unbelebte Systeme zutreffen, sondern auch bei Organismen. Aber wenn in diesen die Ausschaltung bestimmter dynamischer Komponenten durch Schranken Wirkungsformen verursacht, die zu der Umgebung gerade besser passen, dann werden die so ausgestatteten Organismen länger überleben und sich daher stärker vermehren als andere, usw. Kein Physiker wird, hoffe ich, gegen diese Interpretation der Evolution etwas einzuwenden haben, besonders nicht gegen die darin mitenthaltene Annahme, daß Prozesse in der Natur durch ihren eigenen Ablauf Schranken sdiaffen. Zweifellos können Schranken als direkte Ergebnisse dynamischer Abläufe entstehen. Zum Beispiel werden in bestimmten Gleichrichtern durch einen elektrolytischen Strom an einer Elektrode bestimmte Chemikalien niedergeschlagen, die sofort mit dem Material dieser Elektrode reagieren und auf ihr eine Isolierschidit bilden. Auf diese Weise schafft der Strom selbst eine neue Schranke, die ihn dann zwingt, in einer anderen räumlichen Verteilung zu fließen. Ganz ähnlich kann ein physischer Prozeß, der z.B. in einem sich gerade entwickelnden Keim oder Embryo stattfindet, dort eine Schranke ausbilden, die dann denselben oder einen anderen Prozeß zwingt, einen etwas veränderten Ablauf zu nehmen. Solche biologischen Annahmen bleiben natürlich völlig vereinbar mit den Gesetzen der Physik. Weiterhin gehorchen audi die veränderten Prozesse, die jetzt eintreten müssen, wie ich schon gesagt habe, diesen 63

selben Gesetzen. Auch wenn eine neue Schranke entstanden ist, gelten diese Gesetze immer noch für die anderen dynamischen Geschehnisse. Dies muß als eine stark abgekürzte und grobe Beschreibung dessen genügen, was die Physik und das Evolutionsprinzip einem Anhänger der Evolutionstheorie zu fordern erlaubt und was nicht. Keine neuen Gesetze, Kräfte oder Elementarprozesse dürfen in seinem Denken verwendet werden. Wir wollen jetzt die verschiedenen Geschehnisse in lebendigen Systemen aufzählen, für die eben dieses Schema erforderlich ist: „Dynamik genau wie in der unbelebten Welt, plus durch diese Dynamik selbst hervorgerufene Schranken". Abgesehen von den Entwicklungen, die die ersten primitiven lebendigen Systeme geschaffen haben müssen, sind die Geschehnisse, die wir zu betrachten haben, hauptsächlich Mutationen in Genen und Gensystemen, morphogenetisdie Entwicklungen, d.h. die Prozesse, durch welche individuelle Organismen aus Keimzellen mit bestimmten Genen entstehen, und schließlich die Prozesse, die „Funktionen" genannt werden, welche schließlich auftreten, wenn die Morphogenese mehr oder weniger vollendet ist. Diese letzte Klasse ist diejenige, die audi die Funktionen des Nervensystems enthält. Insofern als es sich bei allen eben aufgezählten Fällen um Prozesse, also um dynamische Geschehnisse handelt, gilt für sie alle die in dem Evolutionsprinzip enthaltene Unveränderlichkeit der Dynamik. Mutationsveränderungen in Genen müssen also physikalischen Gesetzen folgen; trotz ihres unerhört komplizierten Charakters muß auch die Morphogenese denselben Gesetzen gehorchen, die für unbelebte Systeme gelten; alle Funktionen eines voll entwickelten Individuums müssen in dieser Weise bestimmt sein; und schließlich muß dies auch für alle Nervenprozesse gelten, z.B. für diejenigen, die direkt psychologischen Tatsachen zugeordnet sind. Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, kann Leben mit Recht eine gewaltige Ausweitung von Physik und Chemie genannt werden. Und sie muß erfüllt sein, wenn die Evolutionstheorie ihren Namen verdienen will. Aber dann folgt unmittelbar, daß, entsprechend dieser Theorie selbst, viele Lebensvorgänge als solche niemals durch die 64

während der Evolution eingeführten Veränderungen beeinflußt worden sein können. Es hat tatsächlich solche Veränderungen gegeben, etwa die Entwicklung von zahllosen neuen histologisdien Schranken und die jeweilige entsprechende Ausschaltung bestimmter dynamischer Komponenten; aber die Vorgänge, die verbleiben, müssen immer noch nach den Gesetzen der unbelebten Welt ablaufen, nach der Welt der Physik, nach der allem zugrundeliegenden Dynamik. Dies mag zunächst wie ein trivialer Schluß erscheinen. Aber ist es das wirklich? Ich las einmal, vor Jahren, einige weit verbreitete Büdier über die Evolution. Die Autoren begannen meist mit der Feststellung, daß, nach dem Prinzip der Evolution, die Gesetze der unbelebten Natur für die ganze Biologie gälten und auch ausreichen würden, um die Anatomie und die Funktionen aller Lebewesen einschließlich des Menschen zu erklären. Damit ist natürlich das Prinzip der Unveränderlichkeit in der Evolution gemeint. Dann aber hören wir nur noch von Mutationen und natürlicher Auswahl, während die Grundvoraussetzung der Evolutionstheorie, das Postulat der Invarianz, niemals mehr von den Autoren erwähnt wird. Mit anderen Worten: die Folgerung, zu der wir gerade gekommen sind, spielt in ihrem weiteren Denken über Einzelheiten in der Evolution keine Rolle. Heutzutage wird, wie ich schon angedeutet habe, die Evolutionstheorie oft in einer Art freien Übertragung auf psychologische Tatsachen und die Gehirnprozesse, die sie begleiten, angewendet. Nun erscheinen einige psychologische Tatbestände als Ergebnisse von Lern Vorgängen; zum Beispiel könnten wir nicht lesen, ohne es gelernt zu haben. Andererseits gibt es psychologische Tatsachen, die praktisch nichts mit Lernen zu tun haben. Zum Beispiel ist die Empfindung der Freude als solche nicht das Ergebnis von Lernvorgängen, obwohl gewisse Lernerfahrungen sie mit besonderen Situationen in Zusammenhang bringen mögen. Es ist ganz allgemein im Sprachgebrauch üblich geworden, bei den Sachverhalten der ersteren Art von „erworben" oder „erlernt" und bei denjenigen der zweiten Art von „vererbt" oder „angeboren" zu sprechen. Im ersten Fall habe ich nichts gegen die Bezeichnung einzuwenden, aber im 65

zweiten Fall ist die Bezeichnung „vererbt" nicht nur zweideutig, sondern oft völlig irreführend. Denn ganz abgesehen von der Frage, ob diese beiden Klassen wirklich so streng getrennt werden können, was meinen wir genau, wenn wir vererbt oder angeboren sagen? Wir haben recht, von Vererbung zu sprechen im Falle, daß ein Mensch blaue oder braune Augen hat. Und man kann auch im instinktiven Verhalten mancher Tiere einiges finden, was man sicher als vererbt bezeichnen kann. Aber was hat es mit der folgenden Tatsadie auf sich? Wenn die Konzentration einer bestimmten Chemikalie aus irgendeinem Grund in einem Teil der Gewebeflüssigkeit eine andere ist als in den umgebenden Teilen, so beginnt sofort eine Diffusion, um die Konzentrationen abzugleichen. Dies ist Dynamik — derselbe Prozeß würde unter entsprechenden Bedingungen überall in der unbelebten Natur eintreten. Was haben die Gene damit zu tun? Und was die Vererbung? Nodi einmal: folgen Prozesse in unserem Nervensystem den Naturgesetzen, weil einige Gene dies erzwingen? Und würden ohne diese Gene andere Gesetze befolgt werden? Offenbar sollte von solchen Begriffen wie Gen, vererbt und angeboren niemals die Rede sein, wenn wir uns auf den grundlegenden rein dynamischen Teil von Prozessen in Nervensystemen beziehen. Denn wenn wir diese Begriffe in dem gegenwärtigen Zusammenhang anwenden, so verstoßen wir damit schon gegen die Hauptvoraussetzung der Evolutionstheorie, nämlich, daß Evolution, Gene, Vererbung usw. niemals die Dynamik als solche wirklich verändern können. Durch die bloße Nebeneinanderstellung der Ausdrücke „erlernt" und „vererbt", als ob diese Worte ein „Entweder-Oder" bezeichnen würden, begehen wir denselben Fehler. Durdi drei Faktoren werden Vorgänge in Organismen und also auch in Nervensystemen allgemein bestimmt. Erstens durch die unveränderlichen Prinzipien und Kräfte der allgemeinen Dynamik, zweitens durch anatomische Schranken, die durch die Evolution eingeführt worden sind, und drittens durch Lernen. Unter keinen Umständen sollten wir vergessen, daß alle Gehirnprozesse, einschließlich derjenigen, die mit psychologischen Tatsachen einhergehen, als Prozesse Verwirklichungen von universalen dynamischen Gesetzen und so 66

weit ganz unabhängig von Evolution und Vererbung sein müssen. Ich wiederhole, dies folgt aus dem Prinzip der Evolution selbst. Warum so viel über Vererbung und so viel über Lernen reden, aber kaum ein Wort über die unveränderliche Dynamik? Hält doch gerade diese, zwar eingeschränkt durch histologische Anordnungen, die Organismen und ihr Nervensystem in Gang. Wie ein bekanntes Wort sagt: man kann den Hamlet nicht aufführen ohne den Prinzen von Dänemark. Warum aber versuchen wir dieses dauernd auf unserer Bühne? Wir werden sofort sehen, daß diese Kritik bestimmter Denkweisen in der Biologie für unsere Hauptaufgabe von Bedeutung ist. Es war unsere Absicht herauszufinden, welche Prozesse im Nervensystem sich auf die strukturellen Charakteristika der menschlichen Wahrnehmung beziehen lassen. Die Hypothese des psydiophysischen Isomorphismus fordert, daß die Struktureigenschaften dieser Prozesse dieselben seien wie die der entsprechenden Wahrnehmungstatsachen. Diese Forderung ist aber nur dann annehmbar, wenn wir wirklich spezifische physikalische Prozesse finden können, deren Verhalten eine Struktur in diesem Sinn überhaupt haben kann. Wenigstens in einigen Fällen muß dies möglich sein. Es läßt sich ein Beispiel anführen — und jetzt wiederhole ich, was ich zu Beginn dieser Vorlesung sagte: in meiner ersten Vorlesung erwähnte ich, daß man früh in der Geschichte der Gestaltpsychologie entdeckte, daß Wahrnehmungsmuster unter bestimmten Bedingungen eine Tendenz aufweisen, besonders einfädle und regelmäßige Strukturen anzunehmen. Außerdem sagte ich, daß, wie einige Physiker gefunden haben, in physikalischen Systemen, die sich stationären Zuständen oder Gleichgewiditszuständen nähern, die Verteilungen des Materials und der Vorgänge dieselbe Tendenz zeigen. Es legt sich der Schluß nahe, daß, wenn die Wahrnehmung in ihrer Aufgliederung solche regelmäßigen und einfachen Strukturen annimmt, dasselbe in der Verteilung der entsprechenden Gehirnprozesse vor sich geht, oder anders gesagt, daß die Wahrnehmungstatsachen diese Tendenz zeigen, wenn die zugrundeliegenden physiologischen Prozesse im Gehirn sich so verhalten. Dies wäre ein spezifischer Fall von Isomorphismus. 67

In den von den Physikern angeführten Beispielen gehen die Abläufe in Richtung auf zunehmende Einfachheit und Regelmäßigkeit aus rein dynamischen Gründen vor sich. Es gibt keine speziellen Schranken in solchen physikalischen Systemen, die die in Frage kommenden dynamischen Verhältnisse zwingen würden, sich derart zu verhalten. Es wäre ein merkwürdiger Zufall, wenn dieses in der Physik gelten würde, während im Gehirn physiologische Geschehnisse denselben Ablauf nur aufgrund von speziellen Schranken nehmen könnten, Schranken, die immer genau so angeordnet wären, daß sie die Gehirnprozesse diesen Ablauf zu nehmen zwingen. Deshalb ist es unsere Hauptaufgabe, physikalische Prozesse zu finden, welche im Gehirn vor sich gehen und die ohne Schranken dahin tendieren, regelmäßige und einfache Verteilungen anzunehmen, wenn die entsprechenden Formen der Wahrnehmung diese Tendenz zeigen. Bevor wir an diese Aufgabe gehen, scheint eine weitere Bemerkung über das, was ich Strukturen physikalischer Geschehnisse genannt habe, angebracht zu sein. Manchmal wird der Ausdruck „Struktur" in einem rein geometrischen Sinn gebraucht. Aber wenn ich den Ausdruck in unserem Zusammenhang benutze, so bezieht er sich auf eine funktionelle Seite von Prozessen, auf die Verteilung solcher Prozesse, eine Verteilung, welche sie annehmen (und auch beibehalten können) als Folge der dynamischen Beziehungen oder Wechselwirkungen zwischen ihren Teilen. Hier muß ich Sie an eine Feststellung von Max Planck erinnern, die ich schon erwähnt habe. Die Natur irreversibler Prozesse, so sagte er, kann nur verstanden werden, wenn wir physikalische Gegebenheiten als Ganzheiten betrachten und nicht als Summe ihrer einzelnen Teile. Unglücklicherweise stammt Plancks Beispiel aus einem recht schwierigen Gebiet der Physik. Deshalb scheint es mir, daß andere Beispiele jetzt vorzuziehen wären. Nehmen Sie irgendwelche Fälle von Gleichgewichtsoder stationären Zuständen in der Physik, z.B. die Verteilung einer elektrischen Ladung auf einem isolierten Leiter, etwa einem metallischen Ellipsoid. Ganz kurz nachdem die elektrische Ladung auf diesem dreidimensionalen Körper angekommen ist, hat sie sich auf seiner Oberfläche verteilt, und diese funktionelle 68

Verteilung über die ganze Oberfläche bestimmt sich so, daß keine Kräfte übrig bleiben, die weitere Veränderungen hervorrufen können: es ist eine Gleichgewichtsverteilung. Kann man unter diesen Umständen verstehen, warum ein einzelner Punkt auf der Oberfläche gerade diese oder jene Ladung hat, wenn man ihn als einzelnen betrachtet? Dies ist völlig unmöglich, denn innerhalb des Gleichgewichts hat der Punkt diese besondere Ladung nur insofern, als alle anderen Punkte auf der Oberfläche ihre besondere geeignete Ladung haben, und zwar alle von ihnen zusammen gerade in der Weise, daß die Verteilung als Ganzes ausbalanciert ist. Genau dasselbe gilt für die stationären Zustände, die ein Strom annimmt, wenn er in einem Leitungsnetz oder audi in größeren leitenden Medien fließt. Überall in dem System ist die Stärke und Richtung des Stoms jeweils so, daß die gesamte Verteilung aufrecht erhalten bleibt. Deshalb muß man wieder sagen, daß man nicht verstehen kann, was in einem Teil des Leitungssystems geschieht, ohne die Verteilung als ein Ganzes zu betrachten. Planck war sehr erfreut, als ich einmal sagte, daß nicht nur sein Beispiel der Irreversibilität, sondern auch viele andere einfachere Sachverhalte in der Physik klar zeigten, daß wir die dynamischen Strukturen ganzer Prozesse oder Zustände betrachten müssen, wenn wir verstehen wollen, was in solchen physikalischen Systemen geschieht. Ich habe diese Beispiele aus einem sehr einfachen Grund genannt. Was sie uns zeigen, müssen wir auf diejenigen dynamischen Strukturen der physiologischen Prozesse im Gehirn anwenden, die der visuellen Warnehmungsorganisation direkt entsprechen. Diese Strukturen müssen, in Maxwells, in Plancks und auch in meinem Sinn funktionale Strukturganzheiten sein.

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III.

Der gegenwärtige Stand der Gestaltpsychologie In meiner ersten Vorlesung sprach ich über die von den anderen Psychologen so bezeichneten „Mysterien", die von den frühen Gestaltpsychologen untersucht worden waren; die Gestaltpsychologen konnten allerdings damals noch nicht erklären, was sie beobachtet hatten. Aber dann stellte sich überraschenderweise heraus, daß das Hauptkennzeichen solcher „Mysterien" einzelnen hervorragenden Physikern, welche einige Probleme auf ihrem eigenen Gebiet mit ganz ähnlichen Begriffen behandelt hatten wie die Gestaltpsychologen, wohl vertraut war. Physiker unter Ihnen werden keine ernsten Schwierigkeiten gehabt haben, den Ausführungen meiner zweiten Vorlesung zu folgen, die sich mit einigen Grundbegriffen der Naturwissenschaft beschäftigte; aber NichtNaturwissenschaftlern mögen diese Ausführungen recht abstrakt erschienen sein. Ich wollte versuchen, meine Zuhörer auf das vorzubereiten, was ich im ersten Teil dieser dritten Vorlesung ausführen werde. Zu diesem Zweck sprach ich von den allgemeinen Eigenschaften, die alle Gehirnprozesse haben müssen, welche der strukturierten menschlichen Wahrnehmung entsprechen; aber dabei habe ich noch nicht gesagt, welche spezifischen Prozesse mit solchen Eigenschaften nach meiner Vorstellung im Gehirn wirklich stattfinden, wenn eine bestimmte Situation wahrgenommen wird. Man begann mit Spekulationen über die Natur dieser Prozesse schon ziemlich früh in der Gestaltpsychologie, im Jahre 1920 1 . 1

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W. Köhler, Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand, Braunschweig 1920.

Ich war schon früher auf den Gedanken gekommen, diese Prozesse könnten elektrische Ströme sein, die sich im Gehirngewebe als einem kontinuierlichen oder Volumenleiter ausbreiten. Aber damals arbeitete ich in Afrika und katte keine Möglichkeit, einige wichtige neue Ergebnisse über die Anatomie des Gehirns zu erfahren. In einem 18 Jahre später veröffentlichten Buch griff ich dasselbe Problem wieder auf und kam zu derselben Schlußfolgerung2. Aber dies war immer nodi Spekulation, und erst nachdem eine ganze Gruppe von neuen psychologischen Tatsachen gründlich untersucht wurde, konnte unsere Frage in konkreten Begriffen und daher viel überzeugender beantwortet werden. Die neu herausgefundenen Tatsachen nennt man jetzt „figurata Nachwirkungen". In den frühen Dreißigerjahren entdeckte James Gibson, daß, wenn man längere Zeit auf eine Kurve sieht, die geometrisch ein Stück eines ziemlich großen Kreises ist, sie allmählich flacher erscheint, d. h. sich in ihrer Erscheinung einer Geraden annähert. Wenn danach eine Linie, die geometrisch die Tangente an die vorherige Kurve in der Mitte der Figur ist, also objektiv eine gerade Linie, angesehen wird, so erscheint sie jetzt in der entgegengesetzten Richtung wie die erste Kurve gekrümmt (Abb. 9). Gibson probierte noch andere Figuren aus und fand wieder, daß, bei längerem Ansehen, auch diese dahin tendieren, genau wie jene Kurve sich zu „begradigen". Später stellte sich heraus, daß ähnliche Beobachtungen auch gelegentlich von anderen Forschern gemadit worden waren. Aber während diese die beobachteten Veränderungen als bloße Kuriositäten betrachtet hatten, erkannte Gibson, daß es sich damit um wichtige Tatsachen handeln könnte, und machte einige wertvolle Experimente auf dem Gebiet. Er machte audi sogar solche Beobachtungen für den Bereich einer anderen Sinneswahrnehmung, nämlich der Kinästhetik — der Wahrnehmung des Individuums von seinen eigenen Bewegungen —, und die Ergebnisse waren die gleichen. Es ist offenbar, 2

W.Köhler, The Place of Value in a World of Facts, New York 1938; deutsche Übersetzung: Werte und Tatsachen, Berlin, Heidelberg, New York 1969.

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daß Gibsons Beobachtungen mit denjenigen, die früher von den Gestaltpsychologen und — auf ihrem Gebiet — von einigen Physikern gemacht wurden, eine Eigenschaft gemeinsam haben: wenn bei physikalischen Systemen oder der menschlichen Wahrnehmung die geeigneten Bedingungen gegeben sind und genügend Zeit gelassen wird, so verändern sie sich in Richtung auf größere Einfachheit oder Regelmäßigkeit hin. Dies geschah eben auch unter den entsprechenden Bedingungen bei Gibsons Beobachtungen.

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/ Abb. 9

Einige Jahre später begannen Wallach und ich mit einer Untersuchung, die zuerst überhaupt nicht so aussah, als ob sie etwas mit Gibsons Arbeit zu tun hätte. Wir interessierten uns für die sogenannten Kippfiguren. Wenn man den Mittelpunkt eines einfachen Musters wie in Abb. 10 eine Zeitlang fixiert, so geschieht es, daß der Teil des Musters, der zuerst als „Figur" (im Rubinschen Sinn) aufgefaßt wird, nämlich die drei spitzen Winkel, plötzlidi nicht mehr gesehen wird und dafür der andere Teil des Musters, der aus den drei stumpfen Winkeln besteht, zur „Figur" wird. 72

Nach kurzer Zeit nimmt die erste Figur wieder den Platz der zweiten ein, usf. Es schien uns sehr möglich, daß der Gehirnprozeß, der der Figur entspridit, die jeweils gesehen wird, in jeder Lage seiner eigenen Fortdauer ein Hindernis errichtet und so sidi selbst schwächt, bis er — als Folge davon — plötzlich überwechselt von der gegebenen Stelle auf das andere mögliche Gebiet, usf.

Diese Annahme hatte weit allgemeinere Bedeutung, als wir uns zuerst klargemacht hatten. Wenn der in Frage stehende Prozeß sich selbst schwächte — oder seine eigene Bahn blockierte — bei einem Muster, in dem eine andere Verteilung des Prozesses möglich war, so kam es zu einem „Kippen". Aber es gab keinen Grund, warum die erste dieser Bedingungen, das Sich-selbst-Schwächen des Prozesses, nur bei Mustern vorkommen sollte, die erlaubten, daß er auf einen anderen Teil des Musters überwechselte. Aufgrunddessen mußten wir schließen, daß der jedem visuellen Gegenstand zugrundeliegende Prozeß ein lokales Hindernis in seinem Medium hervorruft und dadurch eine Veränderung in seiner eigenen Verteilung, selbst wenn die Veränderung kein plötzliches Umschlagen, d.h. ein Ubergang zu einem ganz verschiedenen Ort sein konnte. Wallach und ich prüften diese Sdilußfolgerung durch Experimente mit einer großen Zahl optischer Figuren aller Art. Nach einer Weile wurde es deutlich, daß nicht nur jede Figur oder überhaupt jeder visuelle Gegenstand sich allmählich verändern, wenn sie eine 73

Zeitlang betrachtet werden, sondern daß die Veränderung auch bestimmten festen Gesetzen folgt. Außerdem fanden wir, daß, ganz abgesehen von der Veränderung des betrachteten Gegenstandes selbst, andere Gegenstände, die später an derselben Stelle oder in ihrer Nähe gezeigt werden, oft auch betroffen werden. Der am häufigsten beobachtete Effekt dieser Art war eine Verschiebung dieser anderen Gegenstände, und zwar eine Verschiebung weg von dem Felde, in dem der ursprünglich betrachtete Gegenstand sich befunden hatte, und zwar noch genauer, weg von dessen Begrenzung. Abb. 11 zeigt eine Versuchsfigur, Abb. 12 die Testfigur eines typischen Versuchs. Erstere — die Figur, die das Hindernis hervorrufen soll — wird eine Zeitlang fixiert und dann durch letztere ersetzt. Wenn die längere Betrachtung des Rechtecks auf der linken Seite des Fixationspunktes in Abb. 11 ein Hindernis hervorruft, dann müßten die beiden Quadrate der Testfigur auf derselben Seite

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Abb. 11







Abb. 12

jetzt weiter entfernt voneinander erscheinen als die Quadrate auf der anderen Seite. Denn die Quadrate auf der linken Seite müßten von dem Gebiet zwischen ihnen, in dem vorher das eine Rechteck eine Zeitlang zu sehen gewesen war, abgerückt sein, das eine nach oben und das andere nach unten. Auf der anderen Seite der Testfigur müßten die Quadrate ebenfalls abgerückt sein, eins von dem oberen Rechteck der (vorher gesehenen) Versudisfigur, das andere 74

von der unteren; sodaß die Quadrate jetzt näher beieinander gesehen würden. Was gewöhnlich gesehen wird, ist die Kombination dieser beiden Effekte. Diese Erscheinung ist für manche Beobachter äußerst eindrucksvoll, für andere weniger. Nachdem wir viele Beobachtungen auf diesem Gebiet gemacht hatten und daher wußten, wie „figurale Nachwirkungen" sich verhalten, wurde uns klar, daß es sich bei Gibsons Versuchen um Spezialfälle der allgemeineren Gruppe der figuralen Nachwirkungen handelte. Seitdem haben viele Psychologen figurale Nachwirkungen untersudit, nicht nur in den USA, sondern auch in anderen Ländern, vor allem in Japan. Die Resultate stimmten im ganzen gut mit unseren eigenen Ergebnissen überein. In einer Hinsicht fanden unsere japanischen Kollegen, daß die von Wallach und mir gemachten Feststellungen zu konservativ waren. Wir hatten herausgefunden, daß die Zeit, während der der erste Gegenstand gezeigt werden mußte, damit sich ein Hinderniseffekt einstellen konnte, nicht lang zu sein brauchte. Unsere Freunde in Japan entdeckten, daß sogar ein kleiner Bruchteil einer Sekunde oft ausreicht für einen wenigstens kurz andauernden Effekt. Dies ist eine höchst wichtige Entdeckung. Denn sie zeigt, daß sogar, wenn wir im täglichen Leben nur für einen Augenblick auf einen Gegenstand sehen, die Wahrnehmung dieses Gegenstandes schon durdi das Hindernis beeinflußt werden kann. Wallach und ich hatten nun angenommen, daß der Prozeß, der das Hindernis hervorruft, derjenige Gehirnprozeß ist, der dem betreffenden Gegenstand selbst entspricht. Folglich mußten die Gesetze, die diese figuralen Nachwirkungen in der visuellen Wahrnehmung bestimmen, auch die Gesetze sein, die die physiologischen Geschehnisse, die der gewöhnlichen Wahrnehmung von Gegenständen zugrundeliegen, charakterisieren. 1. Der Gehirnprozeß muß so beschaffen sein, daß sein Ablauf im Gehirn fast sofort in dem Gewebe, durch das er hindurchgeht, ein Hindernis zu verursachen beginnt. 2. Der Prozeß muß für die Begrenzung und die ihr benadi75

harten Gebiete stärker sein als für das Innere der Gegenstände, denn Testgegenstände, die innerhalb der Begrenzung gezeigt werden, weichen von dieser Begrenzung zurück in Richtung auf das Innere des Primärgegenstandes. 3. Der Prozeß kann nicht auf die kortikale Zone begrenzt sein, die genau dem visuellen Gegenstand entspricht, denn oft weichen Gegenstände, die in einer beträchtlichen Entfernung von dem Primärgegenstand gezeigt werden, audi noch aus. Diese Gesetze genügen, den Prozeß physikalisch zu identifizieren. Wir wissen heutzutage genug über das Gehirn, um aus diesem Wissen eine Aufstellung derjenigen Prozesse zu gewinnen, die dort überhaupt vorkommen können. Es sind nicht sehr viele. Wenn wir diese Aufstellung vollständig vor uns haben, vergleichen wir die darin aufgeführten Punkte und deren funktionale Eigenschaften mit den Gesetzen, die ich eben formulierte. Dabei kommen wir zu einem einfachen Resultat. Ein Punkt nach dem anderen muß ausgeschlossen werden, weil er zu dem einen oder anderen dieser Gesetze nicht paßt. Schließlich bleibt nur ein Punkt übrig; aber dieser genügt allen Bedingungen, die aus den drei Gesetzen folgen: elektrische Ströme, die im Gehirngewebe als kontinuierlichem oder Volumenleiter entstehen und sich ausbreiten, bleiben als die einzige und auch befriedigendste Möglichkeit übrig. Wie könnten soldie Ströme entstehen? Da wir nidit viel Zeit zur Verfügung haben, will ich nur den einfachsten Fall besprechen, wenn wir etwa einen Gegenstand haben, der eine bestimmte Farbe hat, die sich von der seiner Umgebung unterscheidet; diese beiden Farben können z.B. zwei verschiedene Helligkeitsgrade haben. Einen Physiologen wird es nicht überrasdien, wenn ich sage, daß in diesem Fall ein einfacher quasistationärer Strom zu fließen beginnt, der durch das Gegenstandsgebiet und das Umgebungsgebiet, mehr oder weniger rechtwinklig zur Gehirnrinde im visuellen Zentrum, geht, und zwar innerhalb des einen Gebietes in entgegengesetzter Richtung wie in dem anderen; zu diesen beiden Teilen des Stromes muß ein weiterer Strom hinzukommen, der rings in der betroffenen Kortikalzone auf der Grenze zwischen Gegenstands76

gebiet und Umgebungsgebiet herumläuft. Der Strom, der innerhalb und außerhalb dieser Grenze in entgegengesetzter Richtung fließt, erzeugt eine hödist drastische Trennung des Gegenstandes von seiner Umgebung, was die Begrenzung zu einer funktionalen Begrenzung madit. Aus dem Verhalten des Stromes läßt sich auf diese Weise die Abtrennung des visuellen Gegenstandes von seinem Hintergrund erklären, eine der Tatsachen, die wir bei meiner ersten Vorlesung nicht verstehen konnten. Ich komme jetzt wieder auf die Gesetze zurück, die aus der Untersuchung der figuralen Nachwirkungen abgeleitet wurden. Nach dem ersten Gesetz muß der Prozeß, der einem visuellen Gegenstand entspricht, selber ein Hindernis in dem kortikalen Medium hervorrufen können. Ist dies nun bei einem kortikalen Strom wirklich der Fall? Ja, zweifellos. Seit ungefähr 100 Jahren wissen die Physiologen, daß ein elektrischer Strom, wenn er durch Zelloberflächen im Nervensystem hindurchgeht, sofort ein Hindernis hervorruft, wo er in die Zellen eintritt. Natürlich ist das Hindernis jeweils dort stärker oder schwächer, wo der Strom stärker oder schwächer ist. Es hat zwei Komponenten, eine physikalische im gewöhnlichen Sinn des Wortes, und eine zweite, die eine biologische Reaktion der Zelle auf den eintretenden Strom ist. Da wir keine Zeit für Einzelheiten haben, möchte ich lediglich erwähnen, daß die biologische Komponente des Hindernisses oft beträchtlich länger andauert als der Strom selbst. In der Neurophysiologie läuft das Hindernis unter der Bezeichnung „Elektrotonus", eine Bezeichnung, die schon von Faraday in einer etwas anderen Bedeutung benutzt wurde. Jeder, der mit elementarer Physik vertraut ist, weiß, daß das durch den Strom entstandene Hindernis diesen zwingt, seine Verteilung im Gewebe zu verändern; der Strom wird schwächer, wo das Hindernis besonders stark ist, und hat eine verhältnismäßig größere Stromstärke in Gebieten, wo ein schwächeres Hindernis sich gebildet hat. Da das Hindernis teilweise fortdauert, wenn der anfängliche Strom verschwunden ist, werden audi noch Gegenstandsströme davon beeinflußt, wenn der erste Gegenstand gar nicht mehr da ist, sondern andere Gegenstände in ungefähr demselben Gebiet erscheinen. 77

Abb. 13

Dies ist im großen Ganzen die Erklärung der figuralen Nachwirkungen. Ich möchte Ihnen gern erzählen, was passierte, als ich einmal die Gelegenheit hatte, dem großen englischen Neurophysiologen Adrian einige figurale Nachwirkungen zu zeigen. Adrian hatte niemals vorher figurale Nachwirkungen gesehen, und ich hatte ihm nicht gesagt, wie wir diese Phänomene erklärten. Bei den ersten Versuchen machte er dieselben Aussagen, wie sie von anderen Versuchspersonen gemacht wurden; nach dem vierten oder fünften Versuch wandte er sich zu mir und sagte lächelnd: „Schöne Demonstrationen für Elektrotonus, nicht wahr, Köhler?" Ich freute mich sehr, daß von einem großen Wissenschaftler diese Phänomene nach nur wenigen Versuchen genau so verstanden wurden, wie wir sie erklärt hatten. Der Gegenstandsstrom, so sagte ich, verursacht das größte Hindernis bzw. den größten „Elektrotonus", wo seine Stromstärke am größten ist. Wo muß denn nun der Strom am stärksten sein? Diese Frage führt uns auf das zweite Gesetz, dem ein dem Gegenstand entsprechender Prozeß gehorchen muß. In Abb. 13 ist der Strom, der von einem Gegenstandsgebiet im Gehirn zu dem Umgebungsgebiet fließt, in der üblichen Weise der Physik schematisch dargestellt. Der Strom ist dargestellt durch sogenannte Strömungslinien, deren Richtung die Richtung des Stromes in den verschiedenen Teilen des Mediums angibt, während die Dichte der Linien je78

weils die Stromstärke anzeigt. Diese Stromstärke hängt von der Länge der Schleife ab, in der der Strom fließt, indem er von einem Punkt im Gegenstandsgebiet zu einem Punkt in dem Umgebungsgebiet und dann wieder zurück geht, denn diese Länge ist ein Maß für den entsprechenden Widerstand. Nur etwas mehr als die Hälfte jeder Schleife ist in dieser Figur eingezeichnet. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Bögen der Strömungslinien zu Sdileifen unterhalb der Grundlinie der Figur zu vervollständigen sind. Offenbar sind die Schleifen in der Nähe der Abgrenzung kürzer als die Schleifen, die weiter innen im Gegenstandsgebiet beginnen. Folglich ist der Strom dichter im Gebiet der kürzeren Schleifen, wie man auch der Figur aufgrund der geringeren Abstände der Strömungslinien voneinander in der Nähe der Abgrenzung entnimmt. Dasselbe gilt auch für das Umgebungsgebiet: audi hier ist der Abstand zwischen den Strömungslinien am geringsten in der Nähe der Abgrenzung. Es fließt also sowohl innen wie außen der stärkste Strom in dem Gebiet an der Abgrenzung. Daraus folgt, daß unser zweites Gesetz bzw. unsere zweite Bedingung für den Gehirnprozeß erfüllt ist, wenn dieser Prozeß ein Strom ist, der das Gegenstandsgebiet mit dem Umgebungsgebiet verbindet. Es bleibt hinzuzufügen, daß ein kortikaler Strom auch der dritten Bedingung genügt, nämlich daß er als kortikaler Prozeß nicht auf das kortikale Gegenstandsgebiet begrenzt ist. Gerade die Entstehungsweise und Beschaffenheit der Ströme, die wir betrachten, bedingt, daß sie ebenso durch Teile des Umgebungsgebietes gehen, wie durch das Objektgebiet selbst. Als wir zu diesen Schlüssen gekommen waren, konnten unsere weiteren Untersuchungen in zwei verschiedenen Richtungen gehen. Wir konnten entweder versuchen, herauszufinden, ob die Eigenschaften von kortikalen Strömen auch solche Wahrnehmungstatsachen wie Scheinbewegung, optische Täuschungen, Gammabewegung usw. erklären konnten; oder wir konnten versuchen, direkter zu entscheiden, ob die visuelle Wahrnehmung tatsächlich von solchen Strömen begleitet ist. Die erste Möglichkeit hätte eine ungeheure Anstrengung erfordert, die wir deshalb noch nicht bereit waren, auf uns zu nehmen, weil wir noch nidit ganz sicher 79

sein konnten, daß solche Ströme wirklich existieren. Wir beschlossen deshalb, zuerst zu versuchen, die Existenz von kortikalen Strömen in direkten physiologischen Versuchen zu erweisen. Soweit wir wußten, hatte bisher niemand ihre Existenz gezeigt. Und es war uns klar, daß dies keineswegs eine leichte Aufgabe sein würde. Zum Beispiel kann man natürlich beim Menschen Ströme im Gehirn selbst nicht messen. So bleibt nur die Möglichkeit, daß wenigstens ein schwacher Teil des Gehirnstromes durch den Schädel und die Kopfhaut geht und daher von der Oberfläche aus festgestellt werden kann, ohne den Kopf zu besdiädigen. Andere Schwierigkeiten betrafen die zu verwendenden Apparate, z.B. den Verstärker, der notwendig war, um die Größe der natürlich schwadien Potentialdifferenzen auf der Oberfläche des Kopfes zu verstärken, um so einen äußeren Strom zu erhalten, der stark genug war, um durch die registrierenden Apparate aufgezeichnet zu werden. Es traten auch unerwartete Schwierigkeiten auf, die wir nur allmählich erkannten und die wir eine nach der andern bewältigen mußten. Unsere ersten Versuche machten wir in Princeton, ich glaube, im Jahre 1947. Die Ergebnisse waren recht wenig ermutigend, weil wir damals nur langsam mit einigen der Hindernisse vertraut wurden, die wir zu überwinden hatten. Die ersten voll zufriedenstellenden Versuche wurden in Swarthmore College gemacht, wo ich die unschätzbare Hilfe meines damaligen Assistenten Richard Held hatte. Kurz einiges über die Stellen am Kopfe, wo die Elektroden angesetzt wurden. Die Gehirnrinde des visuellen Zentrums kann als ungefähres Abbild der Netzhaut des Auges angesehen werden. Die Fovea, der Mittelpunkt des Sehfeldes und die Stelle des schärfsten Sehens, hat ihre Entsprechung in der Gehirnrinde hinten im Kopf direkt unter dem Schädelknochen. Die Netzhautteile rechts und links von der Fovea haben ihre kortikalen Entsprechungen weiter im Innern des Gehirns; je peripherer die in Betracht kommenden Netzhautgebiete sind, desto weiter entfernt von der kortikalen Fovea und desto tiefer im Kopf sind ihre kortikalen Entsprechungen lokalisiert. Die eine Elektrode, die die Physiologen die aktive Elektrode nen80

nen, wurde hinten am Kopf, dort, wo die kortikale Fovea liegt, angesetzt, die andere weiter vorne, an einer recht weit vom Sehzentrum entfernten Stelle. Wir fanden bald heraus, daß es viel leichter ist, klare Ergebnisse zu bekommen, wenn der von der Versuchsperson gesehene Gegenstand sich langsam bewegt, als wenn er in Ruhe ist. Es wird bald klar werden, warum dies der Fall ist. Daß wir bestimmte wichtige Bedingungen noch nidit kannten, zeigte sich uns, als wir einmal visuelle Verhältnisse wählten, von denen wir erwarteten, daß sie alle positiven Resultate verhindern würden. Richard Held war an diesem Tage der Experimentator und ich die Versuchsperson. Eine vertikale Linie bewegte sich langsam viermal hintereinander durch das Sehfeld, während ich eine schwache Markierung in der Mitte des Feldes fixierte. Ich konnte weder sehen noch hören, was der registrierende Stift auf dem Streifen aufzeichnete. Nach einer ersten Folge der vier vorüber wandernden Linien fragte Held midi, ob wir dieselbe Folge noch einmal versuchen könnten. Mir war es recht. Nach der nächsten Folge pfiff Held leise. Wir machten insgesamt drei oder vier Versuche unter denselben Bedingungen, und dann fragte Held mich plötzlich, ob er mir etwas zeigen dürfe. Er riß einen Teil des Registrierstreifens von der Trommel, kam zu mir herüber und zeigte mir die aufgezeichneten Kurven. Reaktionen auf alle die einzelnen Darbietungen waren deutlich zu erkennen. Abb. 14 und 15 sind Beispiele soldier Aufzeichnungen. Weil wir bis dahin aus bestimmten praktischen und statistischen Gründen immer vier oder fünf aufeinanderfolgende Darbietungen in einem Versuch gegeben hatten, war es notwendig gewesen, den Registrierstreifen sehr langsam zu bewegen. Denn die erforderliche Zeit, um vier Darbietungen in einer Reihe zu geben, belief sich auf eine halbe Minute. Was innerhalb dieser Zeit geschah, mußte deshalb auf ein sehr kurzes Stück auf dem Streifen zusammengedrängt werden. So wurde die aufgezeichnete kortikale Reaktion auf eine Darbietung audi zeitlich zusammengedrängt, so daß es aussah, als ob sie zeitlich ganz kurz sei. Aber diese Raktionen waren vom Standpunkt des Neurophysiologen 81

Abb. 14

Abb. 15

gar nicht kurz. Die Reaktionen, die in Abb. 14 und 15 aufgezeichnet sind, haben eine Länge von 3 bis 6 Sekunden, was neurologisch gesehen eine sehr lange Zeit ist. Natürlich könnten Einzelheiten der Reaktionen deutlicher gesehen werden und die Reaktionen würden nicht den Eindruck von kurzen Wellen machen, wenn nur eine einzige Reaktion auf einem Streifen bei geeigneterer Geschwindigkeit aufgezeichnet würde. Wie muß die Reaktion unter solchen verbesserten Bedingungen aussehen? Wenn der Wahrnehmungsgegenstand in der Peripherie der Netzhaut und des Seh82

Abb. 17

feldes erscheint, so muß der kortikale Strom um eine Stelle zentriert sein, die von der kortikalen Fovea und deshalb auch von der aktiven Elektrode weit entfernt ist. Folglich muß der registrierte 83

Strom zuerst schwach sein. Aber wenn der Gegenstand sich jetzt allmählich auf der Netzhaut gegen die Fovea zu bewegt, so bewegt sich im Gehirn seine kortikale Entsprechung auf die kortikale Fovea und damit auf die aktive Elektrode zu. Also muß der registrierte Strom jetzt stärker werden, und muß seine maximale Stärke erreichen, wenn die kortikale Fovea und die Elektrode erreidit sind. Danach muß dieser Prozeß umgekehrt stattfinden, weil dann der Gegenstand der Elektrode fernrückt, indem er sich der anderen Peripherie des Sehfeldes nähert. Dieses können Sie in den beiden Abbildungen sehen: Abb. 16 und 17 zeigen, daß das, was ich eben gefolgert habe, genau das ist, was eingetreten ist. Die figuralen Nachwirkungen waren jene psychologischen Tatbestände, die es in hohem Maße wahrscheinlich machten, daß der Gehirnprozeß, der visuellen Gegenständen zugeordnet ist, ein stationärer Strom sei. Sie ließen vermuten, daß solche Prozesse innerhalb und in der Umgebung des Gegenstandsgebietes ein Hindernis hervorrufen. Es war deshalb unsere nächste Aufgabe, herauszufinden, ob die registrierten Ströme aus der Sehrinde tatsächlich solche Hindernisse aufbauen. Daß dies der Fall ist, wurde sehr wahrscheinlich, als wir fanden, daß langsam sich bewegende Gegenstände deutlidiere Ströme erzeugten als Gegenstände, die in Ruhe gezeigt wurden. Denn wenn die Gegenstände sich bewegten, hätten sie für jede Stelle im Gehirn weniger Zeit, ein stärkeres Hindernis aufzurichten und so sich zu schwächen. Natürlich wollten wir beweisen, daß dieses Argument richtig war. Deshalb machten wir gelegentlich Versuche, bei denen der Gegenstand sich wiederum langsam der Fovea näherte, aber dann plötzlich angehalten wurde und sich erst nach einigen Sekunden auf seinem Wege weiterbewegte. Das nädiste Bild zeigt, wie der Strom sich unter diesen Umständen verhält (Abb. 18). Am Anfang, wenn der Gegenstand gerade an der Peripherie erschienen ist, haben wir den gewöhnlichen Ausschlag nach unten, während der Gegenstand sich auf die Fovea hinbewegt. Aber dieser Vorgang wird in dem Augenblick unterbrochen, wenn die Bewegung unterbrochen wird, und die Stromstärke beginnt sofort abzusinken und geht herunter auf einen viel niedrigeren Wert, auf dem sie, solange die Unterbrechung der 84

Bewegung dauert, bleibt. Wenn die Bewegung wieder aufgenommen wird, wird der Strom wieder stärker, bis er, wie zu erwarten ist, noch einmal wieder abnimmt, wenn der Gegenstand sich dann auf die andere Peripherie zu bewegt. Wir machten wiederholt diese Experimente, und sie zeigten immer diesen gleichen Effekt durdi den Übergang des Gegenstands von Bewegung zu Ruhe: den, wie man sagt, elektrotonischen Effekt.

Abb. 18 Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß alle Aufzeichnungen, die von einem während der ganzen Expositionszeit in Ruhe befindlichen Gegenstand gemacht wurden, schwächere Reaktionen zei-

Abb. 19 gen als diejenigen von dem Gegenstand in Bewegung. Das kann man an Abb. 19 sehen. Hier bewegte sich der Gegenstand, der im Gebiet der Fovea gezeigt wurde, überhaupt nicht, als die Aufzeich85

nung gemacht wurde. Daher ist die zackige Form der in den vorangehenden Figuren gezeigten Kurven jetzt verschwunden, und was wir sehen, ist eine einfache Kurve mit einigen schwadi ausgeprägten verschieden hohen Buckeln. Zum Vergleich zeige ich Ihnen noch zwei Aufzeichnungen von Strömen in der Hörrinde des Menschen, die durch Geräusche verursadit wurden. In Abb. 20 war das Geräusch ein Pfiff des Ver-

Abb. 21

suchsleiters, in Abb. 21 das harte Schnarren eines Summers. Man kann daraus sehen, daß diese Kurven, aufgenommen von der Hörrinde, genau die negative Polarität von Gehirnströmen zeigen. 86

Abb. 23

Als wir Katzen zu den Versuchen nahmen, konnten wir die Elektroden einfach am Gehirn der Tiere anbringen. Unter diesen Bedingungen waren die aufgezeichneten Reaktionen meistens beträchtlich stärker, wie zu erwarten war. Abb. 22 zeigt den Gehirnstrom einer Katze, als ein helles Rechteck; vor ihren Augen erschien; und in Abb. 23 haben wir den Hörstrom einer Katze, als ein lauter Ton von einer Frequenz von 4000 Hz als Reiz gegeben wurde. Der Ton scheint ein starkes elektrotonisches Hindernis hervorzurufen, die Stärke des Stromes nimmt ab, während der Ton noch andauert. 87

Entsprechen diese Ströme nun wirklich Wahrnehmungstatsachen? Aller Wahrscheinlichkeit nach. Als wir versuchten, solche Aufzeichnungen von Strömen aus dem Gehirn von Katzen, die sich unter der Einwirkung eines starken Betäubungsmittels befanden oder, als Nachwirkung der Narkose, in tiefem Schlaf waren, zu machen, erhielten wir niemals Aufzeichnungen von kortikalen Strömen. Verschiedene Male, als die Katze nur noch schlief und keine Ströme auf dem Registrierstreifen registriert wurden, brauchten wir das Ohr des Tieres nur etwas zu zwicken und einige Sekunden später erzeugte derselbe Reiz, der vorher keine Wirkung gehabt hatte, eine vollkommen klare Reaktion. Ein Experimentator freut sich natürlich über solche Beobachtungen. Jetzt genug von Gehirnströmen. Der Nachweis ihrer tatsächlichen Existenz ist ein großer Schritt vorwärts in unserer Untersuchung der Beziehung zwischen psychologischen Tatbeständen und den zugrundeliegenden Gehirnprozessen. Wichtig ist es auch zu wissen, daß die Hindernisse, die bei den figuralen Nachwirkungen beobachtet worden sind, nun mit Sicherheit als elektrotonisdie Effekte, die durch solche Gehirnströme erzeugt werden, betrachtet werden können. Außerdem wissen wir nun auch, daß, insofern es sich um Ströme handelt, die in einem Volumenleiter fließen, diese Ströme als Prozesse dem einst von Maxwell und Planck formulierten Prinzip folgen: die Ströme müssen als funktionale Ganzheiten betrachtet werden. Denn wenn Ströme sich in einem kontinuierlichen Medium ausbreiten, so hängt der Strom an jeder einzelnen Stelle immer von der Gesamtverteilung des Stromes als eines Ganzen ab. Leider können wir für solche Wahrnehmungstatbestände wie Scheinbewegung oder optische Täuschungen noch keine klare Deutung von den Gehirnströmen her geben. Das ist aus einfachen technischen Gründen nicht möglich. Um in einer solchen Richtung weiterzukommen, müßte man Aufzeichnungen der Gesamtverteilung der kortikalen Ströme innerhalb des Gehirns haben, sowie der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen solcher Ströme, usw. Mit den heutzutage verfügbaren Methoden kann man solche Aufzeichnungen nicht machen. Natürlich kann eine 88

einzige Elektrode, die am Kopf oder dem Gehirn über einem Teil der aktiven Region angebracht ist, uns keinen Aufschluß darüber geben, wie die vorhandenen Gehirnströme sich im Gewebe als Ganzem verhalten. Sicherlidi gibt es eine Eigenschaft etwa von Sehströmen, über die kein Zweifel besteht. Sie werden sich erinnern, daß beim ersten Auftauchen eines Gegenstandes in der Peripherie des Sehfeldes ein sdiwacher Strom sofort auf dem Registrierstreifen erscheint, wenn die aktive Elektrode über der kortikalen Fovea angesetzt ist, obwohl in dem Augenblick eine große Entfernung die Stelle des kortikalen Gegenstandes, d.h. die Quelle des Stromes von dieser Elektrode trennt. Es ist nun nicht mehr verwunderlich, daß die visuelle Wahrnehmung oft eine Wechselwirkung über beträchtliche visuelle Entfernungen hin aufweist. Die Ströme breiten sich in der Tat beträchtlich weit aus. Daß ein Reiz stationäre Ströme in anderen Teilen des Nervensystems hervorruft, ist wiederholt von Adrian 3 und von Barron und Matthews4 in England gezeigt worden. Aber diese Forscher haben keine Gehirnströme aufgenommen. Als wir in den USA gerade unsere ersten Aufzeichnungen von Sehströmen am menschlichen Kopf gemacht hatten, nahmen Goldring und O'Leary auch gerade Ströme aus dem Gehirn von Kaninchen bei peripherer Reizung auf 5 . Da sie jedoch keine Psychologen waren, wußten sie nicht, wie gut ihre Ergebnisse mit vielen Tatsachen der Wahrnehmung zusammenstimmten, und deshalb entschieden sie, daß ihre Resultate wohl kaum etwas mit Wahrnehmung überhaupt zu tun haben könnten. Man glaubte damals eben weitgehend — und tut es noch —, daß Wahrnehmung eine Angelegenheit von lokal streng begrenzten Prozessen sei. Was sollen unter diesen Be3

4

5

E. D. Adrian, General principles of nervous activity, Brain 70 (1947), S. 1—17. D. H. Barron und Β. Η. C. Matthews, The interpretation of potential changes in the spinal cord, J. Physiol. 92 (1938), S. 276—321. S. Goldring und J. L. O'Leary, Experimentally derived correlates between EEG and steady cortical potential, J. Neurophysiol. 14 (1951), S. 275—288; sowie: S. Goldring und J. L. O'Leary: Summation of certain enduring sequelae of cortical activation in the rabbit, EEG Clin. Neurophysiol. 3 (1951), S. 329—340.

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dingungen frei sich ausbreitende Ströme mit Wahrnehmung zu tun haben? Der alte Glaube an die primäre Bedeutung rein lokaler Tatsachen ist immer noch sehr lebendig. Er wird jetzt sogar noch bekräftigt durch die Erfindung neuer Hilfsmittel, der Mikroelektroden, die dem Psychologen ermöglichen, Aufzeichnungen aus einzelnen Zellen im Nervensystem abzunehmen. Man kann gegen den Gebrauch solcher Hilfsmittel natürlich nichts einwenden. Einige Fragen, weldie die Elemente des Nervensystems betreffen, können jetzt mit ihrer Hilfe beantwortet werden. Aber sie tragen wenig bei zu unserer Kenntnis molarer, makroskopischer Gehirnprozesse, die für unser Verständnis psychologischer Tatsachen weit wichtiger ist. Maxwells und Plancks Worte sind, so scheint es, nicht gehört worden. Aber muß man der Gestaltpsychologie nicht den Vorwurf machen, selbst etwas einseitig ausgerichtet zu sein? Bis jetzt habe ich in der Tat nur über Wahrnehmung und über die dazu gehörigen Gehirnprozesse gesprochen. Sind denn die Gestaltpsychologen an anderen Teilen ihrer Wissenschaft nicht interessiert? Dodi, sie sind es — und zwar schon eine ganze Zeit. Denn sie haben auch Probleme des Gedächtnisses, der Reproduktion, des Denkens und auch solche aus dem Gebiet der Motivation untersucht. Über Denkvorgänge werde ich in der nächsten Vorlesung sprechen. Uber Motivation (der Kurt Lewins Hauptinteresse galt) will ich nichts sagen, weil wir noch nicht wissen, wie Lewins bedeutende Arbeit sich zur Gestaltpsychologie, dem Thema meiner Vorlesungen, verhält. Aber ich will Ihnen jetzt unsere Untersuchungen auf dem Gebiet des Gedächtnisses darlegen. Sie werden bald sehen, daß sie viel mit dem zu tun haben, was ich bisher gesagt habe. Das Wort Gedächtnis wird oft in einem sehr allgemeinen Sinn gebraucht. Wir wollen unterscheiden zwischen „Einprägen", als einem Prozeß, der Spuren im Nervensystem verursacht, und diesen Spuren selbst, welche die Grundlage für das Gedächtnis in einem engeren Sinne bilden. Und beides muß unterschieden werden von solchen Tatsachen wie dem eigentlichen Sich-Erinnern, was entweder Reproduzieren oder Wiedererkennen bedeuten 90

kann, wobei dies beides offensichtlich Wirkungen von Spuren auf gerade stattfindende psychologische Prozesse sind. Zuerst, als wir anfingen, uns für diese Gruppe von Tatsachen zu interessieren, schienen alle damit zusammenhängenden Fragen von denjenigen Problemen verschieden zu sein, mit denen wir in unserem Studium der Wahrnehmung bekannt geworden waren. In dieser Hinsicht waren wir im Irrtum, wie wir bald merkten. Denn einige der Probleme auf dem neuen Gebiet erwiesen sich als eng zusammenhängend mit uns aus dem Studium der Wahrnehmung vertraut gewordenen Begriffen. Nehmen Sie z.B. die Weise des Sich-Erinnerns, die man Wiedererkennen nennt. Ein Gegenstand erscheint vor uns und wird sofort als etwas aufgefaßt, das mit dieser oder jener früheren Erfahrung übereinstimmt. Dies ist ein höchst häufiger Vorgang und ist uns so vertraut, daß man selten Fragen darüber stellt. Aber sobald wir begannen, Fragen zu stellen, entdeckten wir, daß wir es wenigstens in einer Hinsicht wieder mit einem Fall solcher Wechselwirkungen zu tun hatten wie, als wir die Wahrnehmung studierten. Was bedeutet Wiedererkennen? Es bedeutet, daß ein gegenwärtiger Tatbestand, gewöhnlich aus der Wahrnehmung, mit einer entsprechenden Tatsache im Gedächtnis zusammengebracht wird, d. h. mit einer Spur; diese Verbindung verleiht der gegenwärtigen Wahrnehmung den Charakter, bekannt oder vertraut zu sein. Aber das Gedächtnis enthält eine ungeheure Zahl von Spuren, die alle frühere Erfahrungen vertreten und die durch diejenigen Prozesse entstanden sein müssen, die diese begleitet haben. Wie kommt es nun zu der erstaunlichen Leistung, daß die gegenwärtige Wahrnehmung sich mit der Spur gerade der richtigen früheren Erfahrung verbindet? Niemand scheint zu bezweifeln, daß die Auswahl durch die Ähnlichkeit der gegenwärtigen Wahrnehmungserfahrung mit der Erfahrung des entsprechenden früheren Tatbestandes zustandekommt. Aber da diese frühere Erfahrung als solche nicht gegenwärtig ist, müssen wir annehmen, daß die Spur der vergangenen Erfahrung der jetzigen Erfahrung ähnelt und daß gerade die Ähnlichkeit unserer gegenwärtigen Erfahrung oder des entsprechenden kortikalen Prozesses mit der Spur die Auswahl möglich macht. Diese Erörterung 91

des Wiedererkennens führt zu einer radikalen Konsequenz, daß nämlich eine enge Beziehung zwischen der Tatsache des Wiedererkennens und den physiologischen Tatsachen, die ich vorhin besprochen habe, hergestellt wird. Versuche haben gezeigt, daß genaues visuelles Wiedererkennen auch dann vorkommen kann, wenn die ursprüngliche Erfahrung stattfand in einem bestimmten Teil des Sehfeldes und der Hirnrinde, die neue Erfahrung jedoch in einem ganz anderen Teil, der sogar oft weit entfernt sein konnte von der Lokalisierung der ursprünglichen Erfahrung und ihrer Spur. Wir stehen also wieder vor einem neuen Beispiel von Wechselwirkung, und zwar einer rapiden Wechselwirkung, die quer durch das Gehirn über sehr große Entfernungen hin wirkt. Dies scheint zu bedeuten, daß ein Prozeß, der sich unmittelbar auf die gegenwärtige visuelle Erfahrung bezieht, d.h. der ihr entsprechende kortikale Strom sidi von seiner Ausgangsstelle weit in ein entferntes Gebiet, das Gebiet der Spur, ausbreitet. In der Tat scheint Wiedererkennen eine Feldwirkung zu sein, von derselben Art, wie es in einigen Fällen in der Wahrnehmung angenommen werden mußte. Dies ist nun wohl keine überraschende Schlußfolgerung mehr; denn wir haben gesehen, daß Gehirnströme, die am menschlichen Kopf registriert werden, sidi in der Tat weit über ihren Ursprung hinaus ausbreiten. Unsere frühesten psychologischen Versuche auf dem Gebiet des Gedächtnisses betrafen einen etwas anderen Sachverhalt. Meine Assistentin, Hedwig von Restorff, und idi überlegten folgendes Problem. Wenn Versuchspersonen eine Serie von Dingen sich einprägen, so wird die Wirkung dieses Einprägens gestört, wenn die Versuchspersonen zwischen dem Einprägen und der Reproduktion sich mit Dingen von ähnlicher Art befassen müssen. Stört eine derartige Ähnlichkeit das Einprägen audi, wenn sie in der Reihe der Dinge selbst, wenn man sie sich einzuprägen hat, vorkommt? Wir untersuchten dies Problem in mehreren Gruppen von Versuchen. In einer solchen Gruppe wurden den Versuchspersonen drei Serien von Dingen gezeigt, wobei die drei Serien jeweils durch einen zeitlichen Abstand von mehreren Tagen getrennt waren. Alle drei Serien enthielten 8 Paare von Dingen; 92

jedes Paar wurde immer gleichzeitig gezeigt. Sechs Paare der Serien waren alle von einer, ein siebtes Paar von einer zweiten und ein achtes Paar von einer dritten Art. In der ersten Serie bestanden die sechs ähnlichen Paare aus sinnlosen Silben, ein Paar aus sinnlosen Figuren und das letzte Paar aus zweistelligen Zahlen. In der zweiten Serie waren sechs Zahlenpaare zusammengestellt mit einem Silbenpaar und einem Figurenpaar, und die dritte Serie enthielt sechs Paar Figuren, ein Paar Silben und ein Paar Zahlen. Nimmt man diese drei Serien insgesamt zusammen, so besteht für alle drei Klassen von Dingen die gleiche Wahrscheinlichkeit, daß man sie, entweder als einzelne Paare, oder als Paare in einer Gruppe von sechs Paaren, sich einprägt und später reproduziert. Tabelle l e enthält die Ergebnisse der Tests. Bei allen drei Klassen ist hinsichtlich der Reproduzierbarkeit der Unterschied zwischen den gehäuft vorkommenden — oder, wie man sagt, „homogenen" — und den isolierten Paaren so groß, daß keine statistischen Tests notwendig sind, um zu zeigen, daß der Unterschied zuverlässig ist. „Assoziation", wie die Psychologen die Verbindung innerhalb der Paare, welche so getestet wurden, nennen, ist deutlich wirksamer bei den isolierten Paaren. Durchgängig erhielten andere Psychologen dasselbe Resultat, die später Versuche dieser Art machten. Was bedeutet dies? Sie werden sich an folgendes erinnern: Wenn eine Anzahl von Gegenständen gleichzeitig im Sehfeld gezeigt wird, können alle diese Gegenstände als Glieder einer großen Gruppe erscheinen oder als Glieder von zwei oder mehr einzelnen Untergruppen. Die Entfernungen zwischen den Gegenständen sowie größere oder geringere Ähnlichkeit der Gegenstände entscheiden, ob eine große oder mehrere kleine — oder eine große sowie einzelne kleinere — Gruppen sich bilden. Wenn in einem bestimmten Fall die Entfernung keine Rolle spielt dafür, welche Gruppen gebildet werden, wird die Ähnlichkeit der Gegenstände den Ausschlag geben für die Bildung größerer oder 6

Aus: H. von RestorfF, Über die Wirkung von Bereichsbildungen im Spurenfeld, Psychologische Forschung 18 (1933), S. 299—342 (dort Tabelle 4, S. 305).

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kleinerer Gruppen. Wenn wir also sechs Paare von Gegenständen einer Art, ein einzelnes Paar einer anderen Art und ein weiteres einzelnes Paar einer dritten Art zusammen zeigen, so würde die Gesamtheit der Paare in folgender Weise gegliedert gesehen werden: eine große einheitliche Gruppe von sechs gleichen Paaren einer Art und zwei kleinere Gruppen, die jede gerade ein Paar enthält. Offensichtlich würde die größere und die beiden kleineren Gruppen jede für sich funktionale Einheiten sein, die aber voneinander getrennt sind. So würden die Paare in der größeren Gruppe ihre Selbständigkeit verlieren, während die beiden kleinen Gruppen, welche je nur ein Paar enthalten, weder von der homogenen großen Gruppe noch von einander beeinflußt würden. Kommt Gruppenbildung dieser Art nur vor, wenn die in Rede stehenden Gegenstandspaare gleichzeitig dargeboten werden? Oder findet dieselbe Aufteilung auch statt, wenn sie, unter sonst gleichen Bedingungen, sukzessiv gezeigt werden? Sehr einfache Beobachtungen zeigen, daß bei der sukzessiven Darbietung derselben Paare (ungeachtet ihrer Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten) die Gesamtfolge immer noch dahin tendiert, sich zu organisieren und aufzuteilen; in dieser Weise entstehen wieder eine große Gruppe von Paaren der einen Art und zwei kleine Gruppen aus je einem Paar (von einer zweiten und dritten Art). Die Wechselwirkung innerhalb der großen Gruppe wäre wieder stark und die Paare dieser Gruppe würden sich deshalb miteinander verbinden, d.h. ihre Selbständigkeit verlieren, aber dieser Einfluß würde sich nicht auf die beiden einzelnen Paare erstrecken, und diese würden sich audi untereinander nicht sehr beeinflussen. Angenommen, daß eine richtige Reproduktion eines Paares leichter vor sich geht, wenn dieses Paar selbständig bleibt, als wenn es ein Glied einer großen Gruppe von Paaren wird (deren Ähnlichkeit die einzelnen Glieder ihre speziellen Charakteristika in beträchtlichem Ausmaß verlieren läßt), dann könnten die Resultate unseres Versuchs so interpretiert werden, daß sie durch Organisation und Aufgliederung innerhalb der Serie, und zwar der Serie als einem Ganzen, verursacht seien. In der Tat machten wir diesen hypothetischen Schritt von der 94

Organisation in der simultanen Wahrnehmung zu der Organisation und Aufgliederung von sukzessiv dargebotenen Paaren, um die Befunde von Tabelle 1 erklären zu können. Tabelle 1 Erinnern von gehäuften oder „homogenen" (h) und isolierten (i) Dingen. Silben H I 13 27%

41 85%

Figuren H I

Zahlen H I

8.7 18%

15 31%

43 90%

Gesamt H I 41 85%

36.7 25%

125 87%

Dieses Vorgehen störte in hohem Maße einige Psychologen, die es nicht mochten, daß Begriffe wie Organisation und Aufgliederung damit sogar in das Gebiet von Einprägen und Gedäditnis eindrangen. Einer von ihnen, L. Postman, machte Versuche, die unsere Resultate prüfen sollten, aber seine experimentellen Bedingungen waren ganz verschieden von denen unserer Untersuchung7. Nichts klappte. Aber ich wundere mich nicht über sein negatives Ergebnis, weil seine Beobachtungen klar zeigten, daß in seinen andersartigen Experimentierreihen und unter den von ihm gewählten Bedingungen Aufgliederung oder Isolierung im Sinne der Wahrnehmung einfach nicht eintreten konnte. Dennodi, sagte unser freundlicher Gegner, hätten die Ergebnisse, die Restorff und Köhler erhalten haben, nichts mit solchen Gestaltbegriffen wie Organisation und Aufgliederung zu tun. Denn sie könnten leicht in einfacheren Begriffen erklärt werden, mit denen jeder Psychologe vertraut ist: in Serien von Dingen die die Versuchspersonen sich einprägen sollen, gibt es immer eine starke Tendenz aller einzelnen Dinge (oder Paare von Dingen), das Einprägen der anderen Dinge in der Serie zu stören — und zwar durch konkurrierende Reproduktionstendenzen, die sich 7

L. Postman und L. W. Phillips, Studies in incidental learning: I. The effects of crowding and isolation, Journal of Experimental Psychology 48 (1954), S. 48—56. 95

über die ganze Serie erstrecken. Diese Störtendenz ist größer, wenn die Dinge einander ähnlich sind als wenn sie unähnlich sind. Folglich werden die sogenannten isolierten Dinge oder Paare, die den anderen Dingen oder Paaren der Köhlerschen Serie weniger ähneln, durch solche falschen Reproduktionstendenzen weniger gestört. Darum kann man den Isoliereffekt in einfachen Begriffen erklären und braucht solche mysteriösen Begriffe wie Organisation und Aufteilung überhaupt nicht heranzuziehen. Aber nicht immer sind die einfachsten Zusammenhänge in unserem Denken auch zugleich diejenigen, die der Natur des untersuchten Materials am angemessensten sind. Ich setzte die Untersuchung des Isoliereffektes in einer anderen Vorgehensweise fort. Ich will nicht versuchen, diese neuen Experimente zu beschreiben, von denen einige erst kürzlidi abgeschlossen wurden. Der Hauptpunkt ist dieser: man kann Versuchsreihen so konstruieren, daß man nach der gegnerischen Erklärung des Isoliereffektes ein bestimmtes Resultat erwarten muß und vom Gesichtspunkt der Organisation und Aufteilung her genau das entgegengesetzte. Die Resultate, die wir erhielten, waren vollkommen klar und statistisch eindeutig. Der Isoliereffekt hängt ab von der Aufgliederung im Sinne der Organisation, nicht von der Zahl und Größe individueller Ähnlichkeiten in der Serie8. Warum verwendet man so viel Zeit auf den Isoliereffekt, ein so spezielles Problem in der Psychologie des Einprägens? Meine Antwort darauf wäre: vom theoretischen Gesichtspunkt aus ist dies sicher nicht ein sehr spezielles Problem. Denn bei genauerem Nachdenken sieht man, daß es um etwas Allgemeineres, Prinzipielles geht. Die eigentliche Frage dabei ist: können Begriffe, die aus der Untersuchung der Wahrnehmung abgeleitet sind, tatsächlich auf Probleme aus dem Bereich des Gedächtnisses angewendet werden? Wenn dies im Fall des Isoliereffektes eindeutig so ist, so kann man dann an diesem Punkt aus folgendem Grund kaum Halt machen: Wenn ein einzelnes Paar von Dingen sich absondert oder isoliert, so wird es, wie ich eben dargestellt habe, un8

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Anmerkung der Herausgeber: Es handelt sich um Experimente, die Köhler durchgeführt, jedoch noch nidit zur Veröffentlichung gebracht hatte.

abhängig von der Masse der anderen Dinge in der Serie; wir haben gesehen, daß in diesem Fall die Wirksamkeit der Assoziation und entsprechend die Reproduktion innerhalb des Paares nicht durch eine Absorption des Paares in der Serie als ganzer gestört wird. Aber was hat es mit der Assoziation innerhalb des isolierten Paares selbst auf sich? Gewiß gibt es eine Wechselwirkung zwischen den Gliedern des Paares selbst. Was sonst bedeutet der Ausdruck „Assoziation"? Gerade diese Wechselwirkung innerhalb des Paares, die Assoziation, wird eben nicht gestört, wenn das Paar isoliert wird. Diese Art der Wechselwirkung innerhalb des Paares, die Assoziation, können wir daher einen positiven Effekt nennen. Ist sie notwendigerweise verschieden von der Art von Wechselwirkung, die durch die Isolierung gehindert wird, nämlich der Wechselwirkung zwischen entfernten Paaren oder Dingen und dem in Rede stehenden Paar? Eine Wechselwirkung mit solchen außerhalb liegenden Dingen würde störend, ein negativer Effekt sein. Aber wenn nun dieselbe Art von Wechselwirkung nur zwischen den beiden Gliedern des in Frage kommenden Paares selbst stattfände, würde ihre Wirkung auch dann noch störend sein? Was meine ich, wenn ich von derselben Art bzw. von verschiedenen Arten von Wechselwirkung rede? Das läßt sich einfach sagen. Die störende Wechselwirkung, die durch die Isolierung gehindert wird, hängt offenbar ab von den Ähnlichkeiten unter den infragekommenden Dingen oder Paaren. Gilt auch dasselbe bei der „bewährten" Wechselwirkung innerhalb des Paares, die wir Assoziation nennen? Am einfachsten würde man mit der Hypothese auskommen, daß die positive und die negative Wirkung grundsätzlich von derselben Art sind, woraus dann folgen würde, daß die Assoziation der beiden Glieder des Paares auch stärker wird, wenn diese sich ähneln. Wenn das so ist, würde der zentrale Begriff auf dem Gebiet des Gedächtnisses, der Begriff der Assoziation, in sehr nahe Beziehung zu den elementaren Tatsachen der Wahrnehmung treten. Betrachten wir ein einfaches Paar von Gegenständen im Sehfeld. Wir erinnern uns daran, daß die Bildung eines Paares als einheitliche Wahrnehmungsgruppe erleichtert wird, wenn die beiden Gegenstände einander ähnlich sind. Wenn Ähnlichkeit in der 97

Wahrnehmung zweier Gegenstände dazu beiträgt, sie zu einem Paar zu vereinigen, würde dann nicht diese Zusammenfassung in der Wahrnehmung begleitet sein von der Bildung eines entsprechend zusammengefaßten Paares als einer Gedächtnisspur? Wenn diese Zusammenfassung gerade dasselbe wäre, was wir gewöhnlich eine „Assoziation" nennen, so würde natürlich folgen, daß die Ähnlichkeit zweier Gegenstände, die assoziiert werden sollen, ihre tatsächliche Assoziation erleichtert. Diese vorläufige Interpretation des Begriffs der Assoziation wird recht plausibel, wenn wir die folgende Überlegung anschließen. Man sagt oft, daß Assoziation eine Sache der Nähe sei, was Nachbarschaft zweier Gegenstände in Raum oder Zeit oder in beiden bedeuten soll. Wir wissen, daß gerade diese Bedingung, nämlich eine kurze Entfernung zwischen den Wahrnehmungsgegenständen, ihren „Zusammenschluß" in der Wahrnehmung begünstigt. Wenn diese Bedingung der Wahrnehmungsorganisation, enge Nachbarschaft, die Bildung eines Wahrnehmungspaares begünstigt, dann würde das Bewahren dieses Zusammenschlusses im Bereich der entsprechenden Gedächtnisspur eine Erklärung des traditionellen Begriffes der „Assoziation durch Nähe" ergeben. Nun, gibt es irgend einen Grund, warum es nur eine Bedingung, welche den Zusammenschluß in der Wahrnehmung erleichtert, geben soll, die bei einer Assoziation so wirksam wird? Wie steht es mit der Ähnlichkeit zwischen den Gegenständen? Wenn die Wirkung von Nachbarschaft oder Nähe bei der Paarbildung in der Wahrnehmung später im Gedächtnis wieder auftritt, dann wird sicherlich wohl auch die Wirkung anderer Wahrnehmungsbedingungen, die den Zusammenschluß begünstigen, im Gedächtnis erhalten bleiben müssen und bewirken, daß auch sie „Assoziation" und entsprechende Reproduktion begünstigen. Dies würde also für Ähnlichkeit und jede weitere Bedingung gelten, die Paarbildung in der Wahrnehmung begünstigt. In unserem Zusammenhang sind wir besonders daran interessiert, welche Rolle die Ähnlichkeit beim Zusammenschluß in der Wahrnehmung spielt. Wenn wir zeigen können, daß Assoziationen von zwei ähnlichen Gegenständen leichter Zustandekommen, 98

d.h. bessere Reproduktion ergeben als Assoziationen von unähnlichen Gegenständen, dann würde unsere Annahme, daß die Assoziation eine Nachwirkung von Paarbildung in der ursprünglichen Erfahrung, d. h. etwa in der Wahrnehmung, ist, gestützt. "Wir versuchten schon in einfachen Experimenten zu entscheiden, ob die Darbietung ähnlidier Gegenstände eine stärkere Assoziation hervorruft als die Darbietung unähnlicher Gegenstände. Die Ergebnisse waren eindeutig positiv. Es scheint wirklich "wahr zu sein, daß die Prinzipien der Wahrnehmungsorganisation ohne wesentliche Modifikation auch für das Gedächtnis gelten. Postman wehrt sich gegen die Tatsache, daß auf diese Weise der alte Begriff der „Assoziation auf Grund bloßer Nähe" bedroht wird durch das Eindringen gestalttheoretischer Gedanken und argumentiert energisch gegen dieses Eindringen und gegen unsere Experimente". Die Versuche, so will ich offen sagen, sind vielleicht noch nicht ganz schlüssig. Aber ich bin Postman dankbar; denn seinen Argumenten kann ich entnehmen, welche weiteren Versudie gemacht werden müssen, um eine klare Entscheidung zu erreichen10. Manchmal ist die Arbeit in der Psychologie wirklich eine sehr lebendige Sache.

* Vgl. L. Postman und D. A. Riley, A critique of Köhler's theory of association, Psychological Review 64 (1957), S. 61—72. 10 Anmerkung der Herausgeber: Diese Versudie befanden sich zu der Zeit, als der Autor starb, nur erst im Stadium der Planung.

99

IV.

Was ist das Denken? Was meinen wir, wenn wir „Denken" sagen? Der allgemeine Sprachgebrauch ist nicht besonders sorgfältig in der Verwendung psychologischer Ausdrücke. Der Ausdruck „Denken" selbst ist ein Beispiel dafür. Wie wird er in Wirklichkeit verwendet? Manchmal in der Weise, daß jemand einfach gewisse Zusammenhänge oder Geschehnisse aus seiner Vergangenheit betrachtet. „Woran denkst Du denn?" fragen wir einen Freund, wenn er gerade einen zerstreuten Eindruck macht. Und er antwortet: „Oh, ich dachte gerade an die schöne Landschaft bei Amalfi in Italien, wo ich im vorigen Jahr ein paar Tage war." In diesem Fall bedeutet „Denken" offenbar nicht mehr als ein Verweilen bei früheren Erinnerungen. Oder: jemand fragt uns: „Haben Sie jenen Brief geschrieben?" Und wir antworten: „Ich dachte, ich würde es nach dem Essen tun, aber dann wurde ich durch etwas anderes abgelenkt." In diesem Fall ist „Denken" praktisch synonym mit „eine Absicht haben". In beiden Fällen ist das „Denken", um das es sich handelt, keine besondere Leistung. Der Ausdruck bezieht sich nur darauf, daß Bewußtseinsinhalte im Spiel sind, während jedoch entsprechende Wahrnehmungsgegenstände oder Handlungen fehlen. Aber derselbe Ausdruck wird auch gebraucht, wenn Denken als eine wirkliche Leistung gemeint ist, wenn es sich um produktives Denken handelt. Dies ist der Fall, wenn es unsere geistige Umwelt verändert, indem es Probleme löst, die diese Umwelt stellt. Damit haben wir natürlich etwas völlig anderes vor uns. Der Bereich solcher Leistungen ist sehr groß. Er erstreckt sich von 100

der Lösung sehr einfacher Probleme im täglichen Leben bis zu bedeutenden geistigen Veränderungen, etwa wie sie sich manchmal im Geist großer Wissenschaftler abspielen und dann für immer das Leben aller Menschen danach beeinflussen. Mit Denken in diesem Sinn, mit produktivem Denken, will ich mich hier beschäftigen. Dabei will ich zunächst so vorgehen, daß ich einige konkrete Beispiele gebe, die alle hödist einfach sind, aber doch typisch für das, was immer dann zu geschehen scheint, wenn wir Probleme lösen. Ich hoffe, daß meine einfachen Beispiele nidit zu einfach sind. Zunächst: wenn wir ein Problem vor uns haben, so beschäftigen wir uns immer mit einem bestimmten Material bzw. einer bestimmten Situation, worin dieses Problem enthalten ist. Die fragliche Situation kann in der gewöhnlichen Wahrnehmung gegeben sein oder in der Form eines mathematischen Ausdrucks, den wir vor uns haben, oder in dem, was wir eine geistige Vorstellung bestimmter Sachverhalte nennen können. Irgendetwas soll in Hinsicht auf eine solche Situation geleistet werden; aber so, wie die Situation gegeben ist, kann dies nicht erreicht werden. Wie müssen wir die Situation ändern, damit die Schwierigkeiten verschwinden und unser Problem gelöst wird? Es ist dabei folgendes zu bemerken hinsichtlich dessen, was ich eben „gegebenes Material" genannt habe. Was bedeutet hier „gegeben"? In vielen Fällen ist es nicht einfach für alle zugänglich. Denn, generell gesagt, ist das Material so, daß nur jemand, der mit bestimmten anderen Tatsachen vertraut ist (abgesehen von denen, die wirklich „gegeben" sind), die Natur dieses Materials und damit das darin enthaltene Problem völlig verstehen kann. Mit anderen Worten, oft sind früher erworbene Kenntnisse notwendig, nicht nur, um das Problem zu lösen, sondern es audi als solches zu verstehen. Nehmen wir folgendes Beispiel, das in einem interessanten Buch von Karl Duncker 1 erwähnt wird. Um 1910 wurde eine für die Medizin höchst wichtige Möglichkeit bekannt. Ein Tumor 1

K . Duncker, Zur Psychologie des produktiven Denkens, Berlin 1935 und 1963.

101

im menschlichen Organismus kann zerstört werden (oder sein Wachstum verhindert werden), indem man das Gewebe der Strahlung einer radioaktiven Substanz aussetzt. Wenn der Tumor nahe an der Oberfläche des Organismus liegt, tritt natürlich keine besondere Schwierigkeit auf. Die Strahlen werden vorsichtig auf den kranken Teil gerichtet. Aber wie steht es mit einem Tumor, der weit unter der Oberfläche liegt, wie es so oft der Fall ist? Wenn der Arzt hier die Strahlen auf den Tumor richtet, werden sie zuerst auf das gesunde Gewebe zwischen der Oberfläche und dem Tumor wirken und es möglicherweise zerstören — was unter keinen Umständen geschehen soll. So sieht das Problem aus. Und welches ist die Lösung? Der Arzt teilt das radioaktive Material in viele kleinere Teile, welche entsprechend kleinere Mengen der Strahlung aussenden. Er verteilt diese kleineren Dosen um den Körperteil des Kranken in einer Weise, daß alle Öffnungen der Behälter, aus denen die Strahlung kommt, auf den Tumor gerichtet sind. Wenn dies richtig gemacht wird, gehen schwache Strahlungen, die wenig Schaden anrichten können, von mehreren Orten aus durch das gesunde Gewebe des Kranken zwischen der Oberfläche und dem Tumor hindurch; aber wo die schwachen Strahlen sich treffen, d.h. genau an der Stelle des Tumors, addieren sie sich zu einer starken Strahlung und können so die gefährliche Geschwulst zerstören. Nun, ganz abgesehen von dieser besonderen Lösung des Problems, einem Beispiel produktiven Denkens, was können wir über die sogenannte „gegebene" Situation in diesem Fall und über das darin enthaltene Problem sagen? Nur jemand, der bestimmte physikalische und anatomische Kenntnisse hat, kann diese Situation und das Problem so klar sehen, daß er beides versteht, und nur von ihm kann man deshalb erwarten, daß er den richtigen Weg wählt. Natürlich hatte derjenige, der zuerst die Lösung fand, die erforderlichen Kenntnisse. Was ich die „gegebene Situation" genannt habe, ist also in diesem Fall nicht nur eine bloße Angelegenheit der gerade vorliegenden Tatbestände, sondern vielmehr der Durchdringung dieser Tatsachen aufgrund vorhandener Kenntnisse. 102

Ich gebe ein weiteres Beispiel aus einem völlig anderen Gebiet. Jemand sagt uns, daß alle Zahlen, die die Form abcabc haben, durch 13 dividiert werden können. Unsere Aufgabe wäre, zu zeigen, daß dies ohne Ausnahme richtig ist. Aber hier liegt aus folgendem Grund ein Problem vor: was hat das Symbol abcabc überhaupt mit irgendeiner bestimmten Zahl zu tun? Diejenigen, die mit mathematischen Symbolen nicht vertraut sind, werden freilich nicht imstande sein können, dies zu erklären. Und in diesem Fall ist der Symbolismus besonders schwer zu fassen. Man muß die bloße Stellung in einer Folge von Zahlen so auffassen, daß durch sie bestimmte Klassen von Zahlen repräsentiert werden; durch die erste Stelle auf der rechten Seite die Klasse der Zahlen 0 bis 9, durch die nächste Stelle die Vielfachen von 10, usw. Außerdem sieht man aus dem Symbol abcabc, daß die drei Zahlen auf der linken Seite dieselben sind wie die drei Zahlen auf der rechten Seite. Selbst wenn wir jetzt hören, daß jede Zahl von der Form abcabc beispielsweise 326326 oder 985985 oder jede sechsstellige Zahl, bei der die ersten drei Zahlen und die letzten drei identisch sind, bedeuten soll, sogar dann können wir nicht gleich sehen, was 13 damit zu tun hat. Es ist natürlich nicht gemeint, daß wir nun alle einzelnen Kombinationen von der Form abcabc ausredinen sollen (es gibt ungefähr 1000 solche), vielmehr sollen wir zeigen, weshalb es gerade an dieser Form des Symbols liegt, daß Zahlen, die diese Form haben, ein Vielfaches von 13 sein müssen. Sobald man die Lösung hat, wird sie ziemlich selbstverständlich erscheinen. Aber bevor das Problem gelöst ist, wird ebenso mancher ernste Schwierigkeiten haben, und er mag nicht einmal sehen, wie er an die Lösung des Problems herankommen soll. Die Lösung ist folgende: wie ich erwähnt habe, haben die sechs Stellungen für die Zahlen a, b und c eine numerische Bedeutung. Auf der linken Seite bedeutet a so und so viel mal 100000, b (auf der linken Seite) bedeutet so und so viel mal 10 000 usw. Folglich ist das ganze Symbol gleich abc000 + abc oder gleich abc (1000 + 1), gerade sowie (in dem einen meiner Beispiele) 326326 selbstverständlich gleich 326 0 0 0 + 3 2 6 oder gleich 326 ( 1 0 0 0 + 1 ) oder gleich 326 · 1001 ist. Es gibt also eine konkrete Zahl 103

1001, die in allen Zahlen der Form abcabc steckt. Da dies ein konstanter Faktor in allen Zahlen abcabc ist, was audi immer a und b und c sein mögen, so muß dieser konstante Faktor ein Vielfaches von 13 sein, wenn es wirklich wahr ist, daß alle Zahlen von der Form abcabc durch 13 dividiert werden können. Man kann sofort sehen, daß in der Tat 1001 gleich 13 mal 77 ist; folglich können Zahlen von der Form abcabc nicht nur durch 13, die eben erwähnte Zahl in unserem Problem, dividiert werden, sondern auch durch 7 und 11. Sie werden gesehen haben, daß wir in der Tat nur von Mensdien, die mit dem Symbolismus der Algebra bekannt sind, erwarten können, daß sie solche Probleme schnell lösen. Im allgemeinen hilft es nidit viel, wenn wir beim Darstellen des Problems eine Erklärung darüber geben, was abcabc in der Algebra bedeutet. Wenn Menschen, die dies Problem lösen sollen, sich zugleich dabei noch an diese ziemlich abstrakten Definitionen erinnern müssen, würde ihre psychologische Situation so kompliziert werden, daß sie kaum die Lösung fänden. Diejenigen, die in Algebra ausgebildet sind, brauchen diese Erklärung natürlich nicht, denn für sie ist die Bedeutung eines Symbols wie abcabc praktisch mit der Wahrnehmung von abcabc selbst verschmolzen — eine wichtige Form des Gedächtnisses, die vor vielen Jahren von englischen Psychologen „Assimilation" genannt worden ist. Die „Assimilation" spielt eine außerordentlich wichtige Rolle in unseren Denkprozessen. Der Ausdruck bedeutet, daß, wenn bestimmte Wahrnehmungstatsachen immer wieder von anderen wichtigen Tatsachen begleitet worden sind, die Charakteristika der letzteren nicht mehr getrennt erinnert werden; vielmehr sind allmählich diese Charakteristika in die Wahrnehmungstatsachen selbst eingedrungen, so daß jetzt diese Wahrnehmungstatsachen mit solchen Eigenschaften, d. h. aber, mit Bedeutung durditränkt sind. Ein Beispiel dafür ist etwa das wahrgenommene „Rot" oder „Grün" der Verkehrslichter an einer Straßenkreuzung. Glücklicherweise brauchen wir nicht mehr über die Bedeutung des Symbols rot nachzudenken, wenn „rot" bei einer Straßenkreuzung vor uns erscheint. Seit langem ist ein rotes Zeichen 104

an soldi einer Stelle mit der Bedeutung „halt" verbunden, ebenso wie ein grünes Zeichen mit der Bedeutung „frei" oder „weiterfahren". So etwas erleichtert offensichtlich unser Verhalten in vielen Lagen. In der Mathematik ist dieselbe psychologische Tatsache, die Assimilation, ständig wirksam. Wenn wir das Kreuz zwischen Zahlen sehen, sagt es uns sofort, daß es sich um Addition handelt; es sieht einfach so aus — wie willkürlich auch die Wahl des Symbols für die Addition einmal gewesen sein mag. Mit anderen Worten, das Kreuz in einem solchen Zusammenhang hat die Bedeutung von Addition assimiliert. Daß Tatsachen mit einer Bedeutung versehen werden, ist natürlich nicht die einzige Weise, in der das Gedächtnis für das produktive Denken wesentlich ist. Nehmen wir z . B . die bekannte Erfahrung, daß die Lösung eines Problems oft beträchtliche Zeit dauert; daß wir mehrere Schritte nacheinander machen müssen, bevor die Lösung erreicht ist. Wenn wir uns an die ersten Schritte nicht erinnern könnten, wenn die weiteren Schritte gemacht werden müssen, wie wäre es möglich, diese späteren Schritte richtig zu wählen? Außerdem findet sich die Lösung manchmal nicht, wenn wir nicht andere Tatsachen, die eben nicht gegenwärtig sind, heranziehen, die uns aber, wenn sie mit dem gegebenen Material zusammen betrachtet werden, sofort die richtige Vorgehensweise erkennen lassen. N u r das Gedächtnis oder die darauf aufbauende Reproduktion können solches hilfreiche Zusatzmaterial liefern, wenn es gerade nötig ist. Wir wollen aber nicht zu weit gehen. Einige Psychologen meinen, daß die Lösung von Problemen immer nur eine Sache von vorausgegangenem Lernen und entsprechender Reproduktion ist. Ich stimme mit dieser Ansicht nicht überein. Sicher wird es jemandem helfen, ein Problem zu losen, wenn etwa ein Teil der Lösung oder ein Schritt in dem Verfahren ihm schon bekannt ist. Aber diese Tatsache sagt uns nichts über das, was eben zu der früheren Zeit vor sich ging, als der erste Schritt erfolgte und auf diese Weise vertraut wurde. Mit anderen Worten, eine solche Aussage schiebt einfach alle Fragen in Bezug auf produktives Denken in die Vergangenheit; sie beantwortet sie nicht. Wir sollten auch 105

nicht vergessen, daß oft in der Geschichte der Wissenschaft Probleme nur von Menschen gelöst werden konnten, die imstande waren, den Einfluß von gewohnten Begriffen zu überwinden, d. h. von Denkweisen, die sich auf vorangehendes Lernen gründeten. Gedächtnis kann in dieser Hinsicht sowohl ein Hindernis wie eine Hilfe sein. Leider zeigen diejenigen Psydiologen, die sich auf vorangehendes Lernen beziehen, sobald sie vor neuen und deshalb besonders interessanten psychologischen Phänomenen stehen, wenig Interesse an diesen Phänomenen als solchen. In der Tat haben vage Hinweise auf vorangehendes Lernen vor allem die Wirkung gehabt, daß sehr wichtige Tatsachen beiseite geschoben wurden. Infolgedessen sind einige Gesichtspunkte über produktives Denken von denen niemals erwähnt, für die „vorangehendes Lernen" die Antwort auf fast jede psychologische Frage wurde. Wir wollen diesen Fehler nicht machen. Vielmehr wollen wir jetzt zu unserer Analyse der verschiedenen Prozesse zurückkehren, die wirklich bei der Lösung von Problemen eine Rolle spielen. Wir wollen zunächst eine psychologische Tatsache betrachten, die eine zentrale Rolle im produktiven Denken spielt. Dies ist das Gewahrwerden von Beziehungen. Erkennen von Beziehungen ist ein merkwürdiges Phänomen. Ich sagte schon öfters, daß viele Menschen dazu neigen, mit einem gewissen Vorurteil an psychologisdie Situationen heranzugehen. Solche Situationen bestehen ihrer Meinung nach ursprünglich aus vielen voneinander unabhängigen Teilen. Diese Teile, so sagen sie, können sich durch solche Prozesse wie Assoziation oder Gewöhnung verbinden. Aber, abgesehen von solchen sekundären Verbindungen, bestehe der Inhalt des Bewußtseins aus einzelnen lokalen Tatsachen; wenn diese einzelnen Tatsachen sich verbunden haben, und dann dazu tendieren, zusammen zu erscheinen, so sei es eine rein äußerliche Verbindung, die diese Wirkung hat. Dies ist nun allerdings ein ganz falsches Bild vom geistigen Leben. Einige Bewußtseinstatsadien sind einfach aus diesem Bilde fortgelassen. Was fehlt, ist zum Beispiel unser Gewahrwerden von Beziehungen. Wenn wir zwei parallele Linien wie in Abb. 24 sehen, so können wir diese Linien nicht nur 106

als zwei visuelle Einheiten gewahr werden, sondern auch, daß die auf der linken Seite länger ist als die auf der rechten Seite. Dies ist das Wahrnehmen einer bestimmten Beziehung. In ähnlidier Weise können wir zwei Flächen, von denen eine grau und die andere weiß ist, nicht nur als zwei voneinander unabhängige Teile des Sehfeldes erkennen, sondern auch, daß die eine heller ist als die andere, usw. Ich sagte: solche Beziehungen können auftreten. In einem gewöhnlichen Sehfeld können Hunderte soldier Beziehun-

Abb. 24

gen auftreten, sobald wir anfangen, uns für sie zu interessieren und die Paare von Gegebenheiten auszuwählen, die die entsprechenden Beziehungen aufweisen. Allgemein gesprochen, besondere Beziehungen treten nur dann auf, wenn unsere Aufmerksamkeit in die entsprechende Richtung geht. Aber wenn wir einer Beziehung bewußt sind, wie verträgt sidi diese Tatsache mit der These, daß Situationen im Bewußtsein, abgesehen von sekundären Assoziationen, aus streng getrennten Teilen bestehen? Können Beziehungen, deren wir bewußt werden, weiter selbständige Teile oder Elemente in diesem Sinne genannt werden? Sicherlich können sie das nicht. Wenn wir eine der beiden Linien in Abb. 24 107

als länger als die andere erkennen, dann ist diese Beziehung keineswegs eine selbständige dritte Tatsache oder überhaupt etwas Selbständiges. Wir nehmen diese Beziehung wahr als abhängig von den Eigenschaften der beiden Linien, oder als Folge dieser Eigenschaften. Mit anderen Worten, wenn wir eine Beziehung erfassen, so haben wir Einsicht in ihre Abhängigkeit von der Natur der in Beziehung stehenden Gegebenheiten. Der nächste Schritt, den wir machen müssen, ist der folgende. Wir müssen erkennen, daß wahrscheinlich alle Probleme, vor die wir gestellt werden können, und auch die Lösung dieser Probleme, eine Frage der Beziehungen sind. Solange Probleme Probleme sind, weist das in Frage stehende Material gewiß wenigstens einige Beziehungen auf; diese speziellen Beziehungen jedoch enthalten noch Schwierigkeiten. Aber wir können jetzt andere Beziehungen in dem Material entdecken, die die Schwierigkeiten verschwinden lassen. In einigen Fällen ist es zunächst überhaupt schwer, irgendwelche Beziehungen im Material zu finden, die für unsere Aufgabe in Betracht kommen. Dann müssen wir die gegebene Situation so lange untersuchen, bis sich schließlich Beziehungen herausstellen, von denen man eine Lösung ableiten kann. Folglich hängt unser Verständnis eines Problems nicht nur davon ab, daß wir bestimmte Beziehungen kennen, sondern wir können ein Problem auch nicht lösen, ohne neue Beziehungen zu entdecken. Meistens sind solche Beziehungen nicht ganz so einfach und unmittelbar zugänglich wie die Beziehungen von Größe oder Helligkeit in den von mir genannten Beispielen. Oft sind sie von einer weit abstrakteren oder mehr begrifflichen Art; und fast immer haben wir es mit nicht nur einer, sondern vielmehr mit ganzen Komplexen von ihnen zu tun und damit mit Beziehungen zwischen Beziehungen. Ich komme auf mein erstes Beispiel eines Problems und seine Lösung zurück. Worum handelte es sich? Beim Versuch, einen Tumor im Körper eines Patienten zu zerstören, wurde den Medizinern bald klar, daß, da die Strahlung sich allmählich abschwächt, wenn sie durch ein Medium wie menschliches Gewebe hindurchgeht, die zerstörende Wirkung der Strahlung maximal an und 108

in der Nähe der gesunden Oberfläche ist und nicht am Tumor selbst, wo sie maximal sein sollte. Das Problem ist deutlich eine Frage von geometrischen Beziehungen sowie von physischen Beziehungen, die von den ersteren abhängen. Und worin bestand die eigentliche Lösung? Sie bestand in einer neuen Anordnung des Strahlungsmaterials um den Körper herum, d. h. in einer Veränderung der geometrischen Beziehungen in der Weise, daß das Gewebe an und nahe der Oberfläche nicht mehr sehr verletzt wurde, während die Wirkung an der Stelle des Tumors so stark blieb wie vorher. Es wurden also geometrische Beziehungen verändert, um befriedigende physische Beziehungen herzustellen. In dem zweiten Beispiel, das ich erwähnte, demjenigen, das die Zahlen von der Form abcabc und die Zahl 13 betraf, schien das Problem zuerst unlösbar, weil wir überhaupt keine Beziehung zwischen dem abstrakten Symbol abcabc und der speziellen Zahl 13 entdeckten. Die Lösung ergab sich, als wir merkten, daß alle Zahlen des Typs abcabc durch bestimmte Beziehungen charakterisiert sind, und daß sie infolgedessen einen besonderen numerischen Faktor, nämlich 1001, enthalten, eine Tatsache, die es uns ermöglichte, eine einfache Beziehung zwischen dem abstrakten Symbol und der Zahl 13 herzustellen. Noch ein einfaches Beispiel, nur um zu zeigen, daß die Lösung von Problemen immer eine Sache des Erkennens bestimmter neuer Beziehungen zu sein scheint. Nehmen wir einen Fall aus der elementaren Geometrie. Gegeben ist ein Kreis mit dem Radius r, und in diesem Kreis konstruiere ich ein Rechteck wie in Abb. 25. Das Problem ist das folgende: wenn ich jetzt die Linie 1 in dem Rechteck ziehe, wie lang ist dann diese Linie? Nicht jeder wird sofort die richtige Antwort geben können. Und doch ist die Antwort außerordentlich einfach. Genau wie in vielen anderen Fällen finden wir die Lösung, indem wir etwas zu dem vorhandenen Material hinzugeben, in unserem besonderen Fall, indem wir gerade eine Linie hinzufügen. Die gegebene Linie 1 ist eine Diagonale des gegebenen Redltecks. Nun haben aber Rechtecke zwei Diagonalen. Wenn wir die zweite hinzufügen, was finden wir dann? Die zweite Diagonale geht vom Mittelpunkt des Kreises 109

zur Peripherie, ist also ein Radius. Da nun die beiden Diagonalen eines Rechtecks aus einfachen Symmetriegründen immer gleich lang sind, muß unsere Linie 1 notwendig auch die Länge r haben, die Länge des Radius, welche Form audi immer das Rechteck

Abb. 25

haben mag. Noch einmal, die Lösung des Problems hängt von dem Auffinden einer Beziehung ab, in diesem Fall sicherlich einer Beziehung, die man erst sieht, nachdem die zweite Diagonale in die vorhandene Figur eingezeichnet worden ist. Wenn dies einmal geschehen ist, erkennen wir natürlich, warum das Hinzufügen der zweiten Diagonale und die entsprechende neue Beziehung die Lösung gebracht haben. Mit anderen Worten, wenn das Material einmal geeignet verändert worden ist, verstehen wir vollkommen, weshalb das Hinzufügen der zweiten Diagonalen uns die gesuchte Antwort gibt. Eben diesen Vorgang nennen wir Einsicht im Denken. Veränderungen in gegebenen Situationen, die die entscheidenden Beziehungen herbeiführen, sind nicht immer bloßes Hin110

zufügen. Oft ist der entscheidende Schritt derjenige Vorgang, den wir Umstrukturieren des gegebenen Materials nennen können. Hier ein weiteres Beispiel aus der elementaren Mathematik, und zwar aus dem Gebiet der sogenannten unendlichen Folgen und Reihen. Betrachten wir die Folge der ganzen Zahlen, die eine unendliche Folge darstellt; sie kann ins Unendliche fortgesetzt werden. Dies gilt audi für eine sogenannte geometrische Folge, wie z.B. 1, V2> V4> V8 · · ·> wo jedes Glied aus dem vorherigen entsteht, indem man dieses mit 1/2 multipliziert. Einige solche unendliche Folgen haben nun die bemerkenswerte Eigenschaft, daß, wieviele Glieder der Folge man auch nimmt, ihre Summe niemals über eine bestimmte Grenze hinausgeht. Bei dieser Summenbildung spricht man dann von einer Reihe. So wird z.B. die Summe der Reihe 1+V2 + 1 / 4 · · · niemals größer als 2, ganz unabhängig davon, wieviele Glieder wir hinzufügen. Lassen Sie uns jetzt eine etwas kompliziertere Reihe betrachten: 1 —V 2 + 1 h— 1 A + 75..., wobei + und — sich im Lauf der Reihe abwechseln. Unser Problem ist das folgende: bleibt die Summe der Glieder in dieser Reihe endlich, oder wird sie mit der wachsenden Reihe unendlich? Diese Reihe kann umstrukturiert werden, ohne sie zu verändern, indem man ihre Glieder folgendermaßen paarweise zusammenfaßt: 1

(V2

V3)

(V4

V5)— · · ·

Sie sehen, daß dies immer noch genau dieselbe Reihe ist, nur in einer anderen Form geschrieben. Das Ergebnis dieses Vorgangs ist nun ganz klar. In jeder Klammer wird eine kleinere Zahl von einer größeren abgezogen; in der ersten z.B. 1fs von V2, in der zweiten 1/s von V4> · · · Folglidi enthalten alle Klammern jeweils positive Zahlen, und alle diese Zahlen müssen von 1 abgezogen werden. Wir sehen sofort, daß das Ergebnis, wie lang auch die Reihe sein mag, eine Zahl sein muß, die kleiner als 1 ist. Ist dies alles, was man über sie sagen kann? Keineswegs. Jetzt nehme ich eine andere Umgruppierung vor: (l—V«)+(V3-1/4)+(Vs-Ve) + · · · 111

In jeder Klammer ist die zweite Zahl, welche abgezogen werden soll, wieder kleiner als die erste. Die Klammern enthalten also alle positive Zahlen. Und da diese positiven Zahlen zu der ersten, die 1—1/2 = 1/2 ist, addiert werden sollen, muß die Summe aller Klammern eine Zahl ergeben, die größer ist als V 2 : die Summe der Glieder der ganzen Reihe muß deshalb größer als V 2 sein. Diese Summe kann, wie wir festgestellt haben, niemals größer als 1 werden, und nun haben wir herausgefunden, daß die Summe nicht kleiner als V 2 sein kann. Folglich liegt sie zwischen V 2 und 1. Wie sind wir zu dieser Lösung gekommen? Zuerst haben wir die Glieder in einer bestimmten Weise angeordnet und haben eine Beziehung für die Summe gefunden: sie ist kleiner als 1. Dann haben wir die Glieder in einer anderen Art angeordnet und fanden eine zweite Beziehung für dieselbe Summe 2 : sie ist größer als V 2 · Auf diese Weise ist die Summe zwischen zwei Grenzen festgelegt. Allgemeiner gesprochen: beide Gruppierungen haben zu der Entdeckung wichtiger Beziehungen geführt, und wir haben so ein Ergebnis erhalten, dessen logische Notwendigkeit wir klar verstehen. Sie sehen, daß ich die Begriffe „Einsicht" und „Verstehen" als Bezeichnung für dieselbe psychologische Tatsache benutze. Diese Begriffe sind in der Psychologie nicht immer beliebt gewesen; z . B . wurde das Wort „Einsicht" jahrelang in Anführungsstriche gesetzt, als ob es sich um etwas Kurioses oder Mysteriöses handele. U m zu zeigen, daß die Begriffe Einsicht und Verstehen ganz offensichtlichen menschlichen Erfahrungsverhältnissen entsprechen, will ich jetzt eine sehr einfache Situation beschreiben, in der klares Verstehen bestimmter Beziehungen, also Einsicht, zunächst dem Fehlen von Verstehen und Einsicht in einer anderen Hinsicht gegenübergestellt ist. In der folgenden Aufstellung von Zahlen kann man die ersten beiden Zahlen leicht verstehen. s

Anmerkung der Herausgeber: Beide Umgruppierungen unterscheiden sidi darin, daß bei der ersten das letzte berücksiditigte Glied der ursprünglichen Reihe der reziproke Wert einer ungeraden Zahl, bei der zweiten der einer geraden Zahl ist. Die Überlegungen gelten, wie man sich leicht klar madit, auch dann nodi genau so, wenn noch ein weiteres Glied der ursprünglichen Reihe dazukommt. Die Summe ist also tatsächlich „dieselbe" Summe.

112

0 0

1

2 1

3 4

9

4 5 6 7 8 16 25 36 49 64 11

13

15

In der ersten steht, mit 0 beginnend, der Anfang der Folge der ganzen Zahlen und in der zweiten jeweils deren Quadrate. Was hat es mit der dritten Zeile auf sich? Offenbar habe ich jede Quadratzahl von der auf sie folgenden abgezogen. Aber was ist dieses mein Subtraktionsergebnis, wenn ich es als eine Folge betrachte? Es ist identisch mit der Folge der ungeraden Zahlen. Und dies kann man nicht sofort verstehen. Ist es ein Zufall, daß die Folge in der dritten Zeile die Folge der ungeraden Zahlen ist? Solange wir es nicht wissen, können wir nicht voraussagen, ob, wenn unsere drei Zeilen fortgesetzt werden, die weiteren Glieder in der dritten Zeile auch ungerade Zahlen sein werden. Ohne Einsicht in das, was da bisher eigentlich geschieht, können wir nichts voraussagen. Und vielleicht gibt es von dem aus, was wir bisher gemacht haben, ja auch keine Möglichkeit für eine solche Einsicht. Es war leicht, alles einzusehen und zu verfolgen bis zu den einzelnen Subtraktionen. Aber als die Ergebnisse der einzelnen Subtraktionen, soweit wir sie vorgenommen haben, identisch mit der Reihe der ungeraden Zahlen wurden, wurde es für viele unmöglich, dies zu verstehen. Idi hoffe, daß der Unterschied ganz klar ist, und daß es infolgedessen auch klar ist, daß wir uns mit den Bezeichnungen wie Verstehen und Einsicht auf keine kuriosen oder mysteriösen Dinge beziehen. Wir vermuten natürlich, daß es für das Auftreten der ungeraden Zahlen in der dritten Zeile einen guten Grund gibt; aber wir können noch nicht sicher sein. Tatsächlich gibt es einen Grund dafür. Denn in der zweiten Zeile haben wir die Folge der Quadrate der ganzen Zahlen. Nun sind die ganzen Zahlen selbst abwechselnd ungerade und gerade Zahlen. Wenn wir eine ungerade Zahl ins Quadrat erheben, so bedeutet dies ja, daß wir diese ungerade Zahl mit sich selbst multiplizieren, d. h. mit einer ungeraden Zahl, was wiederum eine ungerade Zahl ergeben muß. Wenn 113

wir andererseits eine gerade Zahl ins Quadrat erheben, so bedeutet dies, daß wir diese gerade Zahl auch mit sich selbst multiplizieren, d. h. mit einer geraden Zahl, was uns wieder eine gerade Zahl liefert. In der Folge der Quadratzahlen müssen also ungerade und gerade Zahlen abwechselnd aufeinander folgen, was sie, wie die zweite Zeile zeigt, audi tatsächlich tun. Und nun subtrahierte ich in der dritten Zeile jede Quadratzahl von der nächsten Quadratzahl, was offensichtlich bedeutet, daß ich abwechselnd eine ungerade Zahl von einer geraden Zahl und eine gerade von einer ungeraden subtrahierte. Also, wenn wir eine gerade Zahl von einer ungeraden subtrahieren oder eine ungerade Zahl von einer geraden, muß das Ergebnis wieder eine ungerade Zahl sein. Folglich kann die dritte Zeile, in der das Ergebnis dieser Subtraktionen steht, nur ungerade Zahlen enthalten. Man könnte außerdem zeigen, warum die Subtraktionen nicht einfach irgendwelche ungeraden Zahlen sind, sondern alle ungeraden Zahlen in ihrer natürlichen Reihenfolge. Da wir nun Einsicht und das Nichtvorhandensein von Einsicht nebeneinander gesehen haben, so wird es verständlich, warum einige europäische Psychologen immer die wichtige Rolle betont haben, die die Einsicht bei der Lösung von Problemen spielt. Aber wir müssen vorsichtig sein, damit wir nicht übertreiben. Jene europäischen Psychologen, zu denen auch ich früher gehörte, gingen manchmal etwas zu weit. Unter dem Eindruck der wichtigen Rolle der Einsicht im produktiven Denken sagten sie oft, daß die Lösung von Problemen durch Einsicht zustandekomme — als ob nichts anderes zahlen würde. Diese Aussage ist nun aus folgendem Grund nicht völlig richtig. Einsicht ist Einsicht in Beziehungen, die auftaudien, wenn bestimmte Teile einer gegebenen Situation betrachtet werden. Wenn wir die Situation, wie sie sich uns zuerst darstellt, betrachten, kann Einsicht in bestimmte Beziehungen eine verhältnismäßig einfache Leistung sein. Es kann auch noch einfach sein, zu erkennen, daß die in Frage stehenden Beziehungen ein Problem ergeben, das wir lösen müssen. Aber wie geschieht die Lösung selbst? Bei der Lösung eines Problems, sagte ich, werden wir uns plötzlidi neuer Beziehungen bewußt, aber 114

diese neuen Beziehungen stellen sich erst ein, nachdem wir das gegebene Material gedanklich verändert, erweitert oder umstrukturiert haben. So war in dem Beispiel mit der Diagonale in dem Rechteck, das wir in einem Kreis konstruierten (Abb. 25), alles klar, sobald wir die zweite Diagonale gezogen hatten, die dann ein Radius des Kreises war. Aber weshalb kamen wir, nachdem wir die Situation so, wie sie uns zuerst erschien, betrachtet hatten, überhaupt auf den Gedanken, neue Linien zu ziehen und insbesondere gerade diese spezielle Linie, die zweite Diagonale? Oder als wir die unendliche Reihe 1—1/2 + 1 /3— 1 /i... betrachteten und uns fragten, ob wir etwas über die Summe ihrer Glieder aussagen könnten, wie kamen wir darauf, diese Glieder paarweise zusammenzufassen? Zweifellos, als wir dies taten, wurden uns bestimmte Beziehungen klar, die uns die Lösung und die entsprechende Einsicht brachten. Aber noch einmal, weldies war der Grund, daß wir die Glieder der Reihe in Paaren durch Klammern zusammenfaßten? Nachdem wir das gemacht hatten, verstanden wir natürlich, daß dies das richtige Vorgehen war. Aber wir konnten dies nicht erkennen, bis die Klammerung gemacht war. Was also veranlaßte uns, diese besondere Strukturierung oder Gruppierung vorzunehmen, zu einem Zeitpunkt, als wir ihre Konsequenzen noch nicht kannten? Dies finden wir anscheinend überall, jedenfalls in den meisten Fällen bei produktivem Denken. Es ist nidit verwunderlich, daß Menschen, die das Glück haben, Probleme dieser Art (oder weit wichtigere) zu lösen, ohne Ausnahme überrascht sind von ihren eigenen Leistungen. Offenbar entstehen die richtigen neuen Beziehungen und die entsprechende Einsicht erst dann, wenn etwas anderes vorausgegangen ist. Immer, seitdem Mensdxen sidi für die Prozesse interessieren, die zur Lösung von Problemen führen — seien es Mathematiker oder andere —, hat gerade diese Seite des produktiven Denkens höchstes Erstaunen hervorgerufen. Da wir meistens solche plötzlich erscheinenden Strukturierungen nicht absichtlich hervorbringen, sondern sie plötzlich vor uns auftauchen, müssen wir den Schluß ziehen, daß — unter dem Zwang unseres Wunsches, ein bestimmtes Problem zu lösen, und nach genauer Betrachtung verschiedener Teile des 115

gegebenen Materials — manchmal Gehirnprozesse neue Formen oder Strukturen annehmen, die, wenn sie bewußt werden, uns plötzlich neue Beziehungen sehen lassen, und uns so neue Einsichten bringen, die zur Lösung führen. Gibt es Zusammenhänge, bei denen die Rolle dieser plötzlichen Umstrukturierungen im Denken weniger augenfällig ist? Was geschieht, wenn wir jemandem zeigen, wie ein bestimmtes Problem gelöst wird, und ihn dann bitten, zu wiederholen, was ihm eben, überspitzt ausgedrückt, scheinbar fertig auf dem Präsentierteller gezeigt worden ist? Wenn wir hier Tests machen, finden wir zu unserer Überraschung, daß diese Überspitzung ganz irreführend sein kann. Gewiß können Versuchspersonen oft wiederholen, was man ihnen gezeigt hat, wenn die Darbietung mit erklärenden Worten verbunden war. Die Sprache eignet sich vorzüglich, auf vielerlei Weise auszudrücken, welche Beziehungen hauptsächlich bei der Lösung eines Problems eine Rolle spielen. Aber wenn die Lösung nur in Handlungen besteht, die ohne begleitende Bemerkungen vor jemandem vorgeführt werden, dann kann die Aufgabe, diese Handlungen zu wiederholen, sehr schwierig werden, besonders wenn die wesentlichen Beziehungen in der Abfolge der Handlungen zahlreich und kompliziert sind. Um dies zu illustrieren, will ich beschreiben, wie sich in einer solchen Lage ein Schimpanse verhielt. Einige Aspekte des Lösens eines Problems zeigen sich viel deutlicher beim Schimpansen als beim Menschen. Der Grund dafür ist einfach der, daß Aufgaben, die wir ausführen können, ohne uns irgendwelcher Schwierigkeiten dabei bewußt zu sein, für den Affen sehr sdiwierig sein können, besonders, wenn es sich um ein wenig intelligentes Tier handelt. Wenn die Affen, mit denen ich damals in Teneriffa. Versuche machte, vor bestimmte Probleme gestellt wurden, die sie lösen sollten, kamen sie oft auf eine Art einfacher Erfindungen, mit denen sie sich halfen. Aber ich konnte auch merken, daß, wenn ein besonders intelligenter Affe so etwas herausgefunden hatte, andere Affen, die offensichtlich weniger intelligent waren, oft völlig außerstande waren, die Leistungen zu wiederholen, die das intelligentere Tier gerade eben vor ihren Augen vollführt hatte. 116

Ich erzähle Ihnen als Beispiel, wie Sultan, der ein intelligentes Tier war, sich in einer solchen Situation verhielt. Ihm war die Lösung folgenden Problems ganz geläufig. Eine Banane wird oben ins Drahtgitterdach des Spielplatzes gehängt, viel zu hodi, um selbst im Sprung von einem Schimpansen erreicht werden zu können. Einige Meter von dieser Stelle entfernt befindet sidi eine Kiste von beträchtlicher Größe. Hier zögerte Sultan niemals; er schleppte die Kiste so weit, bis sie gerade unter der Banane stand, kletterte herauf, sprang von hier aus in die Höhe und erreichte die Banane ohne die geringste Mühe. Man sollte denken, daß jeder andere Schimpanse, der dabei ist und sieht, was geschieht, in der Lage sein müßte, diese einfache Handlung nachzumachen, wenn eine neue Banane an die Decke gehängt und die Kiste wieder an ihren alten Platz gestellt wird. „Nachahmung" in diesem Sinne hat man oft als eine Leistung betrachtet, die gerade den Affenarten besonders liegt. Aber dies ist, wie ich bald sehen mußte, eine Sage. Es kann gewiß geschehen, daß ein Schimpanse wiederholt, was andere gerade in seiner Gegenwart getan haben — allerdings immer unter der Voraussetzung, daß er sich genügend für diese besondere Tätigkeit interessiert und daß er genügend intelligent ist, um zu verstehen, was er gesehen hat. Ein Schimpanse aber, der besonders wenig intelligent ist, kann völlig unfähig sein, so etwas zu wiederholen, einfach, weil ihm bestimmte Beziehungen entgangen sind, die bei der Vorführung des anderen wesentlich waren. Ich will Ihnen jetzt das Versuchstier Rana vorstellen3; ihr Name bedeutet im Spanischen genau wie im Lateinischen „Frosch"; unsere spanischen Nachbarn hatten ihr diesen Namen gegeben, weil ihre plumpen Bewegungen denen eines Frosches glichen. Sie ist umseitig abgebildet. Zu unserem Glück war Rana zwar unintelligent, aber besonders eifrig, überall mitzumachen und konnte so unmittelbar einem Beobachter zeigen, wo es ihr an Verständnis in einer bestimmten Situation fehlte. Es stellte sich heraus, daß Rana einfach nicht nachahmen konnte, was Sultan gerade mit der Kiste gemacht 3

Anmerkung der Übersetzer: Zu dem Vortrag wurde ein Film vorgeführt.

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Als die Aufnahme gemacht wurde, fühlte Rana sich nicht ganz wohl, und ihr Gesicht zeigt diesen Zustand an. Keineswegs darf man ihren Gesichtsausdruck als Lachen oder Lächeln verstehen; Schimpansen lachen niemals, und ihr Lächeln, das ziemlich häufig ist, unterscheidet sich ganz deutlich von Ranas Gesichtsausdruck auf dem Bild.

hatte. Zweifellos hatte sie gemerkt, daß die Kiste sehr wichtig war, denn sie sprang nun wiederholt auf der Kiste nach oben, aber ohne sie vorher an die richtige Stelle gebradit zu haben. Einmal stand sie auf der Kiste, in einer Stellung, als wenn sie zu einer ganz gewaltigen Anstrengung ansetzen würde, sprang dann schnell auf den Boden, lief zu dem Platz unter der Banane und sprang hier so hoch wie sie konnte, natürlich vergeblich. Für den Beobachter ergab sich höchst überzeugend der Eindruck, daß sie durch bloße 118

Schnelligkeit versuchte, eine Verbindung zwischen Kiste und Banane herzustellen. In mehreren Versuchen war kein Fortschritt zu merken, so daß Sultan schließlich noch einmal zeigen mußte, wie er es machte. Danach kam die Reihe wieder an Rana. Und jetzt zeigte es sich deutlich, daß ihr der entscheidende Teil von Sultans Handlung völlig entging. Wieder näherte sie sich der Kiste, bewegte sie auch und zwar mit großer Energie in dieser und jener Richtung, nur nicht in der richtigen, bis sie es schließlich aufgab und auf der Kiste sitzend traurig nach der weit entfernten Banane guckte. Sie konnte offensichtlich die wichtigste Beziehung in Sultans Vorführung nicht erkennen, eine Beziehung, die, in unserem Fall, sich erstreckt von früheren Teilen der Vorführung zu späteren. Wenn Sultan anfängt, die Kiste zu bewegen, so bewegt er sie schon in Richtung auf die Banane. Aber für die einfältige Rana gibt es keinen zwingenden Grund, den Anfang der Bewegung in Beziehung zu setzen zu der Stelle, wo die Kiste dann dazu dienen kann, den Abstand zwischen dem Boden und der Frucht zu verringern. Rana mag der Anfang der Bewegung vielleicht als eine einfache Form von Spiel erscheinen. Schimpansen schieben in der Tat oft einfach die Kisten herum, wenn sie spielen. Oder sie mag den Anfang der Bewegung als eine Bewegung fort von der ursprünglichen Stelle der Kiste ansehen, was eine weitere Beziehung wäre, aber wiederum nicht die geforderte. Die Bewegung könnte ferner als eine Bewegung parallel zu einer der Wände angesehen werden oder dergleichen. Warum sollte dann die arme Rana die Kiste gerade in der richtigen Richtung schieben? Wenn die Kiste einmal an dem richtigen Platz ist, erkennt sie natürlich ihre Bedeutung an dieser Stelle. Aber dies kommt in Sultans Vorführung später vor, und zu diesem späteren Zeitpunkt denkt sie kaum an das zurück, was vorher gesdiah, um nun rückblickend die richtige Beziehung herzustellen: die Beziehung zwischen der anfänglichen Bewegung und der sdiließlidien Stellung der Kiste unter der Banane. Das richtige In-BeziehungSetzen von Tatsachen über zeitliche Zwischenräume ist eine außerordentlich schwierige Leistung für die Ranas dieser Welt. Das bloße Sehen allein garantiert nicht, daß aufeinander folgende 119

Schritte in einer ablaufenden Handlung richtig miteinander in Beziehung gebracht werden. Ich kehre jetzt zu der Rolle zurück, die die Einsicht bei Entdeckungen auf geistigem Gebiet spielt, die selbständig gemacht werden. Daß der entscheidende Anstoß außerhalb der intellektuellen Sphäre sich einzustellen neigt, und daß nur das Resultat sich im Bereich des Denkens selbst zeigt, dies kann überzeugend belegt werden durch immer wiederkehrende Beobachtungen von Wissenschaftlern, die wichtige Probleme gelöst haben. Sie stimmen alle in einem Punkt überein. Wenn man lange aktiv versucht hat, ein Problem zu lösen, aber es einem nicht gelungen ist, geschieht es oft, daß plötzlich die richtige Beziehung der Zusammenhänge und damit die Lösung sich in Augenblicken äußerster geistiger Passivität einstellt. Ein bedeutender Chemiker z.B. fand die Lösung eines grundlegenden Problems in der organischen Chemie, nachdem er beim Warten auf die Straßenbahn mit einem Freund über gleichgültige Sachen gesprochen hatte. Er stieg die Stufen des Wagens herauf und winkte seinem Freund zu, und plötzlich stand ihm eine völlig neue Möglichkeit, die Atome in einem Molekül anzuordnen, vor Augen. Bis zu diesem Augenblick war ihm jeder Versuch, die Struktur dieser Moleküle, die ihr Verhalten erklären könnten, zu finden, fehlgeschlagen. Aufgrund dieser Entdeckung begann sich die organische Chemie in einer völlig neuen Richtung zu entwickeln. Eine Erfahrung dieser Art machte audi der österreichische Physiologe Loewy. Er wußte, daß Physiologen in England befaßt waren mit einer neuen Idee, wie die Nervenimpulse, wenn sie im Herzmuskel ankommen, seinen Schlag beschleunigen. Zu jener Zeit war es üblich anzunehmen, daß Nervenimpulse, die man hauptsächlich als elektrische Vorgänge kannte, das Herz auf elektrischem Wege beeinflußten. Aber die englischen Wissenschaftler glaubten Gründe für die Annahme gefunden zu haben, daß die Nervenimpulse von sehr geringen chemischen Reaktionen begleitet sind, und daß die Impulse gerade durch solche chemischen Reaktionen den Rhythmus des Herzes beschleunigen könnten. Loewy, der sich völlig klar darüber war, daß die in Frage kommenden 120

chemischen Mengen äußerst klein sein müßten, und daß die Entdeckung solcher kleinen Mengen durch chemischen Nachweis über die Möglichkeiten der damals zur Verfügung stehenden Methoden gehen würde, fing an intensiv über andere Möglichkeiten nachzudenken, wo diese Schwierigkeit nicht auftreten würde. Es ging nicht; er konnte sein Problem nicht lösen bis zu einer bestimmten Nacht, als er gerade zu Bett gegangen war. Als er das Licht ausgemacht hatte und schon beinahe schlief, kam ihm plötzlich die richtige Antwort. Die Sache wäre allerdings fast schief gegangen. D a Loewy ein vorsichtiger Mann war, dachte er, er würde besser das Wesentliche dieser phantastischen Lösung aufschreiben. Er nahm im Dunkeln einen alten Briefumschlag und einen Bleistift, die auf seinem Nachttisch lagen, und machte einige Notizen. Am nächsten Morgen wachte er mit dem glücklichen Gefühl auf, daß er jetzt die Lösung seines Problems hätte. Aber wie war sie eigentlich? D a er sich erinnerte, sie auf den Umschlag geschrieben zu haben, konnte er ihrer sicher sein. Er nahm den Umschlag und sah auf seine Notizen. Aber er konnte überhaupt nichts entziffern. Schon fast im Schlaf, und in der Dunkelheit hatte er etwas hingekritzelt, worin er mit aller Anstrengung keinen Sinn erkennen konnte. Er konnte sich an nichts erinnern. Einige Zeit war er ziemlich unglücklich; jedoch kam ihm genau dieselbe Erleuchtung noch einmal, und zwar wieder gerade, als er am Einschlafen war. Dieses Mal machte er nicht nur alle Lichter an, sondern ging sofort in sein Institut, mitten in der Nacht, um das Experiment zu machen, welches ihm zweimal beim Einschlafen eingefallen war. In den Versuchen zeigte sich auf Anhieb und ohne Zweifel, daß der Herzschlag beschleunigt wird durch chemische Reaktionen, die von bestimmten Nervenimpulsen, wenn sie im Herz ankommen, ausgelöst werden. Übrigens bekam Loewy für diese Leistung den Nobelpreis. Auch mir selbst ist die Beobachtung dieser beiden großen Wissenschaftler geläufig, daß nämlich oft die Lösung von Problemen uns plötzlich einfällt, wenn wir uns nicht aktiv mit ihnen beschäftigen. Mir kommen neue, auch weniger wichtige Einsichten immer, wenn ich besonders inaktiv bin, wenn ich z . B . am Morgen bade oder mich rasiere, in Situationen also, wo 121

meine Arbeitslust außerordentlich gering ist. Ein bekannter Physiker aus Schottland erzählte mir einmal, daß man diese Erscheinung bei den englischen Physikern ganz allgemein kenne. „Wir sprechen oft von den drei B's", sagte er, „dem Bus, dem Bad und dem Bett. Dort werden die großen Entdeckungen in unserer Wissenschaft gemacht." Wir haben jetzt wiederholt gesehen, daß bestimmte hervorragende Leistungen der geistigen Welt nicht Leistungen eben dieser Welt allein zu sein scheinen. Als wir den Begriff der Organisation in der Wahrnehmung betrachteten, fanden wir, daß zum großen Teil die Organisation als ein dynamischer Prozeß sich nicht im Bereich des Bewußtseins selbst abspielt; nur das Endergebnis des Organisationsprozesses wird gewöhnlich bemerkt. Nun sehen wir, daß dasselbe auch bei bestimmten bedeutenden geistigen Leistungen der Fall ist. Diese Leistungen kommen oft durch eine plötzliche Umorganisierung des gegebenen Materials zustande, d.h. durdi eine fundamentale Veränderung, deren Ergebnis sich mit einem Mal fertig in unserem Bewußtsein einstellt. Von woher kommt sie? Wo findet diese Veränderung als solche statt? Sie kann sich abspielen nur in jenem erstaunlichsten System, dem Gehirn: in ihm scheint die Möglichkeit dazu eher vorhanden zu sein als im aktiven Ich; aber immer nur dann, wie schon gesagt, wenn das Material, auf das es ankommt, zuerst gründlich untersucht und in aktiver geistiger Tätigkeit bearbeitet worden ist. Warum tendieren solche fundamentalen Veränderungen, die im Gehirn einzelner Menschen vor sich gehen, dazu, gerade die richtigen fundamentalen Veränderungen zu sein? Dies ist dieselbe Frage, die wir schon früher gestellt haben: warum tendieren Gehirnprozesse dazu, Wahrnehmungsorganisationen mit bemerkenswert klaren Strukturen hervorzubringen? Wenigstens dieser Teil der Natur, das menschliche Gehirn, scheint sich sehr selektiv, sehr geordnet zu verhalten. Es ist die Gerichtetheit seiner Operationen, die wahrhaft bemerkenswert ist.

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Quellennachweis zu den Abbildungen der Vorlesung III. Abb. 10.

Aus Dynamics in Psychology von Wolfgang Köhler. Mit Genehmigung von Liveright Publ. Corp.

Abb. 13.

Aus W. Köhler, R. Held und D. N. O'Connell. An investigation of cortical currents. Erschienen in Proceedings of the American Philosophical Society 96 (1952): S. 310.

Abb. 14.

Aus Science 110 (Okt. 21, 1949): S. 415.

Abb. 15.

Aus Proceedings of the American Philosophical Society 96 (1952): S. 306.

Abb. 16.

Aus Proceedings of the American Philosophical Society 96 (1952): S. 298.

Abb. 17.

Aus Cerebral Mechanisms in Behavior. Mit Genehmigung von John Wiley and Sons, Inc.

Abb. 18.

Aus Proceedings of the American Philosophical Society 96 (1952): S. 316.

Abb. 19.

Aus Proceedings of the American Philosophical Society 96 (1952): S. 319.

Abb. 20.

Aufzeichnung 12, W. Köhler und J. Wegener, Journal of Cellular and Comparative Physiology 45 (1955) Suppl. I: S. 35.

Abb. 21.

Aufzeichnung 11, W. Köhler und J. Wegener, Journal of Cellular and Comparative Physiology 45 (1955) Suppl. I: S. 35.

Abb. 22.

Aufzeichnung 8, W. Köhler und D. Ν. O'Connell, Journal of Cellular and Comparative Physiology 49 (1957) Suppl. 2: S. 8.

Abb. 23.

Aufzeichnung 18, W. Köhler, W. D. Neff und J. Wegener, Journal of Cellular and Comparative Physiology 45 (1955) Suppl. I : S. 13.